Willensmängel beim Rechtsmittelverzicht des Angeklagten im Strafverfahren: Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Absprachenproblematik [1 ed.] 9783428511471, 9783428111473

Thema der vorliegenden Arbeit sind die Behandlung von Willensmängeln des Angeklagten beim Rechtsmittelverzicht im Strafv

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Willensmängel beim Rechtsmittelverzicht des Angeklagten im Strafverfahren: Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Absprachenproblematik [1 ed.]
 9783428511471, 9783428111473

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FRANK

MEYER

Willensmängel beim Rechtsmittelverzicht des Angeklagten im Strafverfahren

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser ( t ) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 153

Willensmängel beim Rechtsmittelverzicht des Angeklagten im Strafverfahren Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Absprachenproblematik

Von

Frank Meyer

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Gerhard Fezer, Hamburg Der Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Wintersemester 2002/2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-11147-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ

Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2002/2003 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten bis einschließlich Dezember 2002 berücksichtigt werden. Größter Dank gebührt an erster Stelle meinem verehrten Lehrer Herrn Professor Dr. Gerhard Fezer. Er hat mich hervorragend betreut, war jederzeit bereit, sich mit meinen Überlegungen auseinander zu setzen, und hat mir durch seine feinen wie kritischen Anregungen neue Perspektiven eröffnet. A l l dies hat das Gelingen der vorliegenden Arbeit unschätzbar befördert und meinen wissenschaftlichen Horizont maßgeblich erweitert. Mein Dank gilt weiter Herrn Professor Dr. Rainer Keller, der in kürzester Zeit das Zweitgutachten erstellt hat und damit erheblich zur Beschleunigung des Promotionsverfahrens beitrug, sowie Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Friedrich-Christian Schroeder für die Aufnahme der Arbeit in die vorliegende Schriftenreihe. Der Dr.-Carl-Böse-Stiftung danke ich für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Aufrichtig danken möchte ich Frau Marina Schmidt, die mir jederzeit zur Seite stand, Launen ertrug, Rückhalt und Aufmunterung spendete sowie die Bürde ständigen Korrekturlesens klaglos auf sich nahm. Ohne sie hätte die Arbeit in der vorliegenden Form nicht entstehen können. Weiter möchte ich Frau Dr. Miriam Tenorth für die kritischen und lebhaften Diskussionen sowohl über Aufbau und Inhalte dieser Arbeit als auch Nichtjuristisches danken. Von Herzen dankbar bin ich meinen Eltern, die mir das Studium der Rechtswissenschaft ermöglicht und meinen Werdegang stets unterstützt haben. Widmen möchte ich diese Arbeit dennoch zwei Herren, die mich in besonderer Weise geprägt haben: meinen Großvätern.

Hamburg, i m Januar 2003

Frank Meyer

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

17

Teil 1

Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand A. Überprüfung der methodologischen Zulässigkeit der Untersuchung I. Möglichkeit einer Verantwortungsverteilung

29 29 29

II. Wirksamkeit eines erklärten Rechtsmittelverzichts und Existenz eines Ausnahmevorbehalts

32

1. Überprüfung des „Wirksamkeitsdogmas"

33

2. Auslegung des § 302 I StPO

34

a) Grammatikalische Auslegung

34

b) Systematische Auslegung

35

c) Weitere systematische Erwägungen

38

d) Historisch-genetische Auslegung

38

e) Teleologische Auslegung

39

f) Verfassungskonforme Auslegung

40

g) Zwischenergebnis

41

3. Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung

42

4. Ergebnis

45

B. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes I. Bedeutung und Erforderlichkeit einer Eingrenzung II. Die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Prozesshandlung

46 46 47

1. Verhandlungsfähigkeit

47

2. Zeitlicher Anwendungsbereich

48

3. Form

50

Inhaltsverzeichnis

8 4. Zugang

51

5. Unbedingtheit, Eindeutigkeit

51

a) Auslegungsmaßstab

53

b) Mehrdeutige Erklärungen

55

( 1 ) Die sog. Annahmeerklärung

55

(2) Die sog. Erklärungseinheit

57

c) Erkennbare Willensmängel

60

d) Fehlendes Erklärungsbewusstsein

63

e) Unüberlegter/übereilter Verzicht f) Geheimer Vorbehalt (Mentalreservation),

63 Scherzerklärung,

Scheinge-

schäft

64

III. Fazit

65

Teil 2

Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

67

A. Einleitung

67

B. Die Prozessrolle des Angeklagten als eigenständiges Verfahrenssubjekt

68

I. Erklärungs-und Inhaltsirrtum II. Fehlendes Erklärungsbewusstsein

71 74

III. Scherzerklärung, Mentalreservation

74

IV. Motivirrtum

75

1. Irrtum über den Inhalt des Urteils

75

2. Irrtum über die prozessuale Rechtslage

77

3. Irrtum über die Auswirkungen des Urteils

80

a) Irrtümer infolge ausdrücklicher Erklärungen zur Sach- und Rechtslage durch Gericht oder StA b) Beispielsfälle für die Beeinflussung durch ausdrückliche Erklärungen in der Rechtsprechung

81 81

c) Behandlung der Beispielsfälle auf der Grundlage des Untersuchungsansatzes C. Willensmängel infolge objektiver Irreleitung und Drohung I. Objektive Irreleitung und Drohung durch Strafverfolgungsorgane

84 87 88

1. § 136a StPO in direkter oder entsprechender Anwendung als Maßstab der VerantwortungsVerteilung

91

Inhaltsverzeichnis 2. Die Grundgedanken des § 136a StPO als Maßstab der Verantwortungsverteilung

93

3. Der fair trial-Grundsatz als Maßstab

96

a) Herleitung des fair trial-Grundsatzes

97

b) Dogmatische Bedeutung und Konkretisierung

97

4. Eignung als Maßstab 5. Objektive Irreleitung

101 104

a) Grundlagen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzgrundsatzes

106

b) Zusagen und Auskünfte einer Behörde

109

(1) Vertrauensgrundlage

109

(a) Fehlerhafte Vertrauensgrundlage

110

(b) Nichtige Vertrauensgrundlage

111

(2) Vertrauen des Bürgers

112

(a) Wegfall des guten Glaubens bei nichtiger Vertrauensgrundlage ..

113

(b) Unzuständigkeit der Behörde

113

(c) Besondere Schutzwürdigkeit des Bürgers

114

(3) Vertrauensbetätigung

115

(4) Rechtsfolge / Interessenabwägung

116

c) Übertragung auf den Strafprozess

119

(1) Vertrauensgrundlage

119

(2) Vertrauen und Vertrauensbetätigung

120

(a) Grenzen der Schutzwürdigkeit

120

(b) Gesteigerte staatliche Verantwortung

123

(3) Interessenabwägung und Rechtsfolge

125

(a) Der Hinweis auf das Abweichen als Rechtsfolge des Vertrauensschutzes?

125

(b) Konkrete Auswirkungen auf bereits erfolgten Rechtsmittelverzicht als Disposition

128

d) Ergebnis 6. Drohung a) Betroffene fair trial-Elemente b) Konkretisierung des Maßstabs

129 130 130 131

(1) Rechtswidrigkeit der angedrohten Maßnahme

138

(2) Bestehen effektiver Rechtsschutzmöglichkeiten

139

(a) Die sog. Haftbefehlsfälle

140

(b) Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Drohungen des Gerichts mit unzulässigen prozessualen Mitteln

141

(c) Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Drohungen des Gerichts mit sonstigen Mitteln

143

Inhaltsverzeichnis

10

(3) Beeinträchtigung des Kernbereichs

144

(a) Art. 1 I G G

144

(b)Art. 2 I G G

145

(c) Art. 211 1,2 G G

146

c) Ergebnis

147

7. Fazit

147

II. Objektive Irreleitung und Drohung durch den Verteidiger

148

1. Einleitung

148

2. Objektive Irreführung

149

a) Tatsächliche Erscheinungsformen

149

b) Bisherige Behandlung der objektiven Irreleitung durch den Verteidiger in Rechtsprechung und Literatur

151

c) Zwischenergebnis d) Eigener Lösungsansatz auf der Grundlage einer

156 Verantwortungsab-

schichtung

156

( 1 ) Der fair trial-Grundsatz als Maßstab der Verantwortungsverteilung ..

158

(2) Typus der Verteidigung als Maßstab der Verantwortungsverteilung ..

159

(3) Stellung und Funktion des Verteidigers i m Strafverfahren als Maßstab

161

(4) Funktion und Stellung des Verteidigers i m Innenverhältnis als Maßstab der Verantwortungsverteilung

163

(a) Existenz eines eigenen Verantwortungsbereichs des Verteidigers

164

(b) Die konkrete Ausgestaltung des Innenverhältnisses Rechtsmittelentscheidung

167

bei der

(5) Vornahme der Verantwortungsverteilung

168

(a) Konkretisierung der Funktion des Verteidigers i m Innen Verhältnis bei der Rechtsmittelentscheidung

169

(b) Zwischenergebnis

172

(c) Erforderlichkeit einer Modifikation des Maßstabs entsprechend der Wertung, die § 44 StPO enthält?

173

(d) Zwischenergebnis

176

(e) Erforderlichkeit einer Modifikation des Maßstabs entsprechend dem Grundgedanken, den § 297 StPO enthält?

176

(f) Zwischenergebnis

178

e) Ergebnis 3. Drohung durch den Strafverteidiger a) Tatsächliches Erscheinungsbild

179 179 179

Inhaltsverzeichnis b) Behandlung des Willensmangels

180

(1) Bisherige Behandlung des Willensmangels

180

(2) Eigener Lösungsansatz

180

(a) Möglichkeit einer Verantwortungsverlagerung

180

(b) Funktion des Verteidigers bei der Rechtsmittelentscheidung als Maßstab der Verantwortungsverteilung

181

(c) Konkretisierung des Maßstabs durch das Kriterium der Zumutbarkeit

183

(aa) Nutzung effektiver Abwehrmittel gegenüber den Drohungen des Verteidigers

183

(bb) Zwischenergebnis

184

(d) Die Besonderheit nicht-verteidigungsspezifischer Drohungen . . . c) Ergebnis

185 186

III. Objektive Irreleitung und Drohung durch außerprozessuale Dritte

186

1. Bisherige Behandlung dieser Fallgruppe in Schrifttum und Rechtsprechung

189

2. Eigener Lösungsansatz

192

a) Möglichkeit einer Verantwortungsverlagerung

192

b) Ergebnis

194

c) Das Solidaritätsprinzip als Legitimationsgrundlage

196

d) Zwischenergebnis

198

e) Konkretisierung des Maßstabs

199

(1) Objektive Irreleitung

200

(2) Drohung

201

(a) Die Bestimmung der Mindeststandards

201

(b) Maßstab des § 34 StGB

202

(c) Zwischenergebnis zur Maßstabseignung

205

(d) Bestimmung der Mindeststandards nach Maßgabe des § 34 StGB

205

(aa) Nicht anders abwendbar

206

(bb) Wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses

207

(cc) Angemessenheit 3. Ergebnis D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht I. Die gerichtliche Fürsorgepflicht als Maßstab der Verantwortungsverteilung

211 213 214 218

1. Herleitung der gerichtlichen Fürsorgepflicht

218

2. Inhalt und Konkretisierung der Fürsorgepflicht

222

12

Inhaltsverzeichnis II. Vornahme der Verantwortungsverteilung 1. Unüberlegtheit und Übereilung a) Der sog. „herausgefragte" Rechtsmittelverzicht (1) Die prozessuale Gesamtsituation als Auslöser der Fürsorgepflicht . . .

229 230 232 233

(2) Einschränkende Auslegung des § 302 StPO als Lösungsalternative ..

236

(3) Zwischenergebnis

237

(4) Die Frage nach dem Rechtsmittelverzicht als Auslöser der Fürsorgepflicht

237

(a) Automatische Unwirksamkeit des Verzichts infolge der Veranlassung?

238

(b) Überprüfung der Typizität der Gefahrenlage

240

b) Ergebnis 2. Die nicht erfolgte Bestellung des notwendigen Verteidigers a) Typisierung der Gefahrenlage (1) Die Wertung des § 140 StPO (2) Vorrang der Selbstverteidigung b) Ergebnis 3. Verhandlung in Abwesenheit des gewählten oder bestellten Verteidigers a) Typisierung der Gefahrensituation b) Ergebnis 4. Verhinderung der Beratung mit dem anwesenden Verteidiger

244 245 250 251 254 255 255 258 262 263

a) Typisierung der Gefahrenlage

265

b) Ergebnis

266

5. Beratung durch einen „unfähigen" Verteidiger

267

a) Bestehen einer gerichtlichen Fürsorgepflicht zur Gewährleistung ordnungsgemäßer Beratung b) Bestehen gesetzlich vorgesehener Kontrollmöglichkeiten (1) §§ 138a ff. StPO

269 270 270

(2) § 143 StPO

270

(3) § 145 I S . 1 StPO

271

(4) §§ 140, 141 I , I V StPO

272

c) Zwischenergebnis

273

d) Bestehen einer gerichtlichen Fürsorgepflicht zur Gewährleistung der Eigenkontrolle e) Ergebnis

275 276

6. Belehrung über Rechtsschutzmöglichkeiten gegenüber Drohungen der Strafverfolgungsbehörden

277

III. Nachweis eines Willensmangels

278

IV. Gesamtergebnis Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

280

Inhaltsverzeichnis E. Unzulässige Absprache

281

I. Begriffsbestimmung

281

1. Obergerichtliche Rechtsprechung zu den Zulässigkeitsgrenzen einer Absprache

282

2. Zwischenergebnis

287

II. Inhaltliche Fehler

288

1. Erscheinungsformen und ihre Auswirkungen auf den Willen des Erklärenden

288

2. Verantwortung für die Entstehung des Motivirrtums

290

a) Vertrauensschutzgrundsatz als Maßstab (1) Begrenzung Absprache

des Vertrauensschutzes

291 durch die Zulässigkeit

der 293

(2) Protokollierung als Voraussetzung für die Entstehung einer Vertrauensgrundlage?

293

(3) Zwischenergebnis

296

b) Die Rechtsprechung des BGH zum Vertrauensschutz bei fehlerhaften Zusagen im Rahmen verfahrensbeendender Absprachen

297

(1 ) Überprüfung der Rechtsprechung auf der Grundlage des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzgedankens

300

(2) Ergebnis

303

3. Gedankliche Kontrolle des gefundenen Ergebnisses

303

4. Fazit zur Eigenständigkeit dieser Fallgruppe

305

III. Verfahrensfehler 1. Die Rechtsprechung der einzelnen Senate

305 308

a) Entscheidungen des 2. Strafsenats

308

b) Entscheidungen des 1. Strafsenats

312

c) Entscheidungen des 5. Strafsenats

314

d) Entscheidungen des 3. Strafsenats

316

e) Entscheidungen des 4. Strafsenats

317

(1) Analyse von BGHSt 45, 227

320

(2) Der fehlende Nachweis eines Willensmangels

322

f) Zwischenergebnis

324

2. Die Bewertung der Rechtsprechung im Schrifttum

325

3. Versuch einer eigenen Lösung

328

a) Tatsächliches Vorliegen eines Willensmangels

328

b) Verantwortlichkeit für diesen Willensmangel

332

c) Konkreter Kausalitätsnachweis

334

14

Inhaltsverzeichnis 4. Die sog. qualifizierte Belehrung als alternativer Lösungsansatz und Verantwortungsverteilungsmaßstab

338

a) Eignung der qualifizierten Belehrung als Verantwortungsverteilungsmaßstab

339

(1) Vorherige Leistungsgewährung

344

(2) Nachträgliche Leistungsgewährung

345

(a) Vorliegen eines Willensmangels trotz qualifizierter Belehrung .. (b) Verantwortlichkeit für die Entstehung dieses Willensmangels . . . b) Zwischenergebnis zur qualifizierten Belehrung IV. Gesamtergebnis „unzulässige Absprache" V. Lösung der Problematik durch den Gesetzgeber?

345 346 347 349 350

1. Mögliche Formen und Auswirkungen einer gesetzlichen Festschreibung des Verbots der Vorabzusage

351

2. Zwischenergebnis

353

Teil 3

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§ 44 ff. StPO A. Allgemeines

354 354

B. Zusammenhang von Wiedereinsetzung und Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts C. Wiedereinsetzung und willensmangelbehafteter Rechtsmittelverzicht I. Widerruflichkeit

354 355 356

II. Entsprechende Anwendung der zivilrechtlichen Anfechtungsregeln, § § 1 1 9 ff. BGB

357

III. Entsprechende Anwendung der §§ 44 ff. StPO

357

IV. Modifizierte Wiedereinsetzungslösung nach Dencker

359

V. Unwirksamkeit D. Die einzelnen Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand I. Fristversäumnis (direkte Anwendbarkeit der § § 4 4 ff. StPO) II. Fehlendes Verschulden des Angeklagten III. Wochenfrist

361 363 363 364 365

1. Das Hindernis bei Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts

366

2. Das Hindernis beim abgesprochenen Rechtsmittelverzicht

367

3. Ergebnis

371

IV. Nachholung der versäumten Handlung, § 45 I I 2 StPO

371

Inhaltsverzeichnis E. Die Bedeutung der Wiedereinsetzung i m Zusammenhang mit unzulässigen Absprachen

371

I. Kontrollmittel gegen unzulässige Absprachen II. Die besondere Bedeutung der gescheiterten Absprache

371 373

1. Mängel beim „Vertragsschluss"

373

2. Leistungsstörung bei Abwicklung der Absprache

374

III. Auswirkungen eines Wandels der Absprachenpraxis auf die Tauglichkeit als Kontrollmittel

375

IV. Funktionale Beschränkung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand V. Ergebnis

377 380

Teil 4 Schlussbetrachtung und Ausblick

381

A. Gesamtergebnis

381

B. Vorteile und Nachteile des Verzichts für die Verfahrensbeteiligten

383

C. Ausblick

387

Literaturverzeichnis

390

Sachwortverzeichnis

404

Einleitung Der Rechtsmittelverzicht aller Anfechtungsberechtigten führt die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung noch vor Ablauf der Rechtsmittelfrist herbei. Inhaltlich ist der Verzicht die Preisgabe der gesetzlich eingeräumten Anfechtungsmöglichkeit einer Entscheidung. Er führt zum unwiederbringlichen Verlust der Anfechtungsmöglichkeit. 1 Prozessdogmatisch ist diese Möglichkeit eine Selbstverständlichkeit, die sich auch in anderen Verfahrensordnungen findet. 2 In der Strafprozessordnung ist der Rechtsmittel verzieht in § 302 StPO zusammen mit der Rechtsmittelrücknahme geregelt. Die gesetzgeberische Motivation zur Einführung des § 302 StPO bestand in der Absicht, einen schnelleren Eintritt der Rechtskraft zu ermöglichen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird der Rechtsmittelverzicht von der ganz h. M . auch für unwiderruflich und unanfechtbar gehalten. 3 I m Schrifttum wird zutreffend darauf hingewiesen, dass die ratio der Vorschrift auf Praktikabilitätserwägungen beruht 4 , die vor allem den Gerichten einen Rechtsmittelverzicht vorteilhaft erscheinen lassen 5 . So eröffnet der Verzicht die Möglichkeit der Abkürzung der schriftlichen Urteilsgründe gem. § 267 I V StPO 6 Zudem bringt er rechtliche Klarheit und verhindert eine potenzielle Korrektur der Entscheidung in der Rechtsmittelinstanz. 7 Dem Angeklagten bringt der Verzicht dagegen seit Einführung des § 51 StGB keine nennenswerten Vorteile mehr 8 , sondern

ι BGH wistra 89, 67, 68; SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 4. 2 SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 1; z. B. §§ 514, 515, 566 ZPO. I m Verwaltungsgerichtsverfahren gelangt § 514 ZPO über die Verweisungsnorm des § 173 V w G O zur Anwendung; vgl. auch historisch Friedlaender GerS 1901, 401. 3 BGHSt 10, 245, 247; BGH G A 68, 86; 69, 281; wistra 92, 309, 310; 94, 30; NStZ 96, 202; BGH NStZ-RR 2002, 101; KMR-Sax, Einl. X Rn 21; K / M - G , Einl. 116; H K / S t P O Rautenberg, § 302 Rn 3; Pfeiffer, § 302 Rn 4; G. Fezer, Strafprozessrecht, 19/39. 4 LR-Hanack, § 302 Rn 1; vgl. auch Jähnke ZRP 2001, 574, 575, 576. 5 Man kann insofern auch von einem „second code" der Gerichte sprechen, vgl. auch Plötz, S. 171 - „Arbeitserleichterung" sowie Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 24. 6 Bis zur Änderung des § 267 I V StPO durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 bestand diese Möglichkeit dagegen nicht beim passiven Verzicht durch schlichtes Verstreichen lassen der Frist. Die nunmehr gültige Fassung des § 267 I V StPO behandelt passiven und aktiven Verzicht gleich. 7 Hinweis bei Müller-Christmann JuS 99, 677, 680. Die Praxis reagiert damit auch auf den grundlegenden Wandel der Revision von einem M i t t e l zur Überprüfung der Rechtsanwendung des Tatrichters zu einem umfassenden Kontrollinstrument der Sachverhaltsfeststellung, der Beweiswürdigung und der Rechtsfolgenbestimmung, Rönnau, Absprache, S. 50.

2 Meyer

Einleitung

18

vielmehr das Erlöschen eines äußerst bedeutsamen prozessualen Rechts. Dieser Verlust der Rechtsmittelbefugnis wiegt für den Angeklagten umso schwerer, wenn die Verzichtserklärung mit einem Willensmangel behaftet war. Die ganz h. M . geht auch in solchen Fällen von der unbedingten Wirksamkeit der Verzichtserklärung aus. Liegen Willensmängel vor, so sei dies grundsätzlich unbeachtlich. 9 Eine analoge Anwendung der zivilrechtlichen Anfechtungsregeln scheide aus. 1 0 Der Angeklagte könne sich in keinem Fall mehr von seiner Erklärung lösen. 1 1 Begründet wird dies mit der öffentlich-rechtlichen Natur des Strafverfahrens, die nach Rechtssicherheit verlange. 1 2 Die Auffassung der unbedingten Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts weckt Bedenken. Der Entwurf der RStPO von 1873 und die Beratungen zum Entwurf der Strafprozessnovelle von 1895 zeigen, dass die Zwangslage des Angeklagten und die Gefahr der Übereilung schon früher erkannt wurden. 1 3 So enthielt § 238 I I des Entwurfs der RStPO von 1873 eine Widerrufsmöglichkeit 1 4 , die ausgeübt werden konnte, solange die Rechtsmittelfrist lief, doch wurde dieser Gedanke nicht ins Gesetz aufgenommen 15 . Dem Interesse des Verzichtenden, sich i m Falle eines Willensmangels von seiner Erklärung zu lösen, sucht die h. M . dadurch Rechnung zu tragen, dass sie diesem Bedürfnis in Ausnahmefällen aus überwiegenden Gründen der Gerechtigkeit den Vorrang gegenüber der Rechtssicherheit einräumt. 1 6 Man spricht dann vom aus8

Zu den geringen denkbaren Vorteilen siehe unten Teil 4 B.

9 RGSt 57, 83; 63, 302; BGHSt 5, 338, 341; 10, 245, 247; 14, 192; BGH NJW 97, 2691, 2692; K / M - G , § 302 Rn 21; KK-Ruß, § 302 Rn 15. •o RGSt 57, 83; Eb. Schmidt, L K I, Rn 186; KMR-Sax, Einl. X Rn 24; HK/StPO-Rautenberg, § 302 Rn 2; Volk, § 15 Rn 5. 11 Hanack kritisiert, dass die Konsequenzen dieser Sichtweise dem Schutzzweck des § 302 StPO angesichts seiner Tragweite nicht gerecht würden, LR-Hanack, § 302 Rn 1,2. 12 RGSt 57, 83. I m Hinblick auf die i m Text zum Ausdruck gelangte Entstehungsgeschichte zustimmend, allerdings in einem größeren Umfang für Ausnahmen, S K / S t P O Frisch, § 302 Rn 55. 13 Zwar sollte i m Interesse eines schnellen Strafantritts ein Verzicht möglich sein, doch dürfe dies nicht auf Kosten einer Verkürzung der zur Einlegung von Rechtsmitteln offen gehaltenen Fristen geschehen, Motive zu dem Entwurf einer Deutschen Strafprozeßordnung, 1872, S. 212. 14

Vgl. Dahrmann, S. 13. Vgl. auch Übersicht über die Regelungen in historischen Verfahrensordnungen bei Plötz, S. 293 Fn 247. !5 Die aus der Zwangslage des Angeklagten resultierenden Nachteile wurden zu Gunsten der Rechtssicherheit in Kauf genommen, und es wurde versucht, den schwersten Nachteil durch Anrechnung der Untersuchungshaft zu mildern, Protokolle der Kommission für die Reform des Strafprozesses, 1905, Band I, S. 363 f. BGHSt 17, 14, 18; vgl. auch BGH wistra 94, 30 m. w. N.; Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 21, sieht in dem Rückgriff auf das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit kein verlässliches Abgrenzungskriterium, sondern das Einfallstor für die Fortführung der bisherigen Einzelfallrechtsprechung. Der Gerechtigkeitsbegriff selbst sei kein inhaltlich fassbarer Begriff, S. 21. Auch Bleckmann sieht keine Definitionsmöglichkeit, Rn 587 - Man könne höchstens

Einleitung

19

nahmsweise beachtlichen Willensmangel, der zur Unwirksamkeit des Verzichts führt. 1 7 In einer jüngeren Entscheidung hat der BGH drei Ausnahmefallgruppen benannt 1 8 : schwerwiegende Willensmängel 1 9 , unzulässige Absprachen und sonstige Umstände der Art und Weise des Zustandekommens des Verzichts. Nicht gelungen ist es der h. M., klare übersichtliche Grundsätze für das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalles herauszuarbeiten. 20 Statt durch dogmatisch tragfähige und in der Gerichtspraxis brauchbare Leitsätze ist die Behandlung der Willensmängel beim Rechtsmittelverzicht von der Einzelfallrechtsprechung des BGH und der OLGe2X geprägt. 2 2 Dieser Mangel diente bereits mehreren Monografien und Aufsätzen als Ansatzpunkt für Untersuchungen, die dessen Beseitigung zum Ziel hatten. Diese Arbeiten erschienen zumeist Anfang der siebziger Jahre und enthielten eine Fülle von Anregungen und Lösungsvorschlägen, mit deren Hilfe ein ausgewogenes System zur Abgrenzung von Beachtlichkeit und Unbeachtlichkeit des Willensmangels zu entwickeln sein sollte. 2 3 Man wollte verhindern, dass das Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit einseitig zu Lasten des Angeklagten aufgelöst wird. So nimmt Dahrmann 24 eine Einzelfallprüfung vor, mit der das Verhältnis von Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit in der speziellen Situation für den konkreten Willensmangel ermittelt werden soll. Berücksichtigung finden dabei die Gründe und Umstände des Zustandekommens, um mit Hilfe dessen bestimmen zu können, welchem Zweck in der konkreten Situation der Vorrang einzuräumen ist. Von der h. M . unterscheidet sich sein Ansatz dadurch, dass er der Rechtssicherheit keinen generellen Vorrang gegenüber der materiellen Gerechtigkeit einräumt 2 5 und bei der „Berücksichtigung von Irrtümern die Unbeachtlichfeststellen, dass bei bestimmten Fallkonstellationen das Gerechtigkeitsgefühl angesprochen wird; a.A. KMR-Sax, Einl. X Rn 29, 30. 17

Dies darf konstruktiv nicht als Ausnahme vom Grundsatz der Unwiderruflichkeit und Unanfechtbarkeit missverstanden werden. Es tritt anfängliche Unwirksamkeit ein, was billig, aber dogmatisch nicht begründet sei, Müller-Christmann JuS 2002, 63, 66. is BGHSt 45, 51, 53. 19 Kühne spricht von der Intensität des Willensmangels, deren Bestimmung als Voraussetzung für eine Anfechtbarkeit strittig ist, Rn 680. 20

Roxin, StPO, § 51 Rn 27, weist darauf hin, dass die Abgrenzung der entwickelten Ausnahmen sehr strittig ist; ähnlich Rogali StV 98, 643. Exemplarisch BGH wistra 92, 309; BGH NStZ 96, 202; OLG Hamburg OLG Stuttgart NJW 90, 1494; OLG München StV 2000, 188.

StV 98, 641;

22 LR-Hanack, § 302 Rn 2; AK-Achenbach, § 302 Rn 22; Müller-Christmann JuS 2002, 63, 66; Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 21, merkt an, dass die Rechtsprechung ihrer Verpflichtung , klare übersichtliche Grundsätze herauszuarbeiten, nicht gerecht wird. 23 Für das schweizerische Strafverfahrensrecht hat Knecht eine Bearbeitung dieser Problematik vorgenommen, deren Verfahren und Ergebnisse sich wegen der unterschiedlichen Rechtslage in Deutschland und der Schweiz, vgl. S. 39 ff., 65 ff., nicht übertragen lassen. 24

2*

Dahrmann,

S. 54, 55, 65.

Einleitung

20

keit nicht der Grundsatz und die Beachtlichkeit nicht die Ausnahme s e i " 2 6 . Auch H. Müller w i l l Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit abwägen 2 7 , wobei der Vertrauensschutzgrundsatz und die konkreten Umstände der Verursachung beachtet werden sollen 2 8 . Dencker und auch Frisch versuchen eine Lösung zu finden, indem sie dem Rechtsmittelverzicht neben der Herbeiführung der Rechtskraft einen weiteren Zweck zu Grunde legen. Dieser müsse zwingend erfüllt sein, damit der Verzicht Wirksamkeit erlangen kann. Es handelt sich dabei um den Zweck des erhöhten Rechtsfriedens. 29 Dem positiven Anerkenntnisakt soll eine erhöhte Rechtsbefriedungsfunktion gegenüber dem Verstreichen lassen der Frist zukommen. 3 0 Liegt ein Willensmangel vor, fehle es an der vollen Zustimmung zum Urteil und damit an den notwendigen Wirksamkeitsvoraussetzungen für das Zustandekommen des Verzichts. Von einer rechtsbefriedenden Disposition des Angeklagten könne man nicht sprechen. 31 Der Rechtsverlust allein bewirke keinen Rechtsfrieden. 32 Die Einführung eines solchen Zwecks, der weder i m Normtext noch in der Gesetzesbegründung genannt ist, erscheint freilich problematisch. 33 Die Herstellung und Erhaltung von Rechtsfrieden ist das oberste Ziel des Strafverfahrens. 34 Das Strafverfahren in seiner Gesamtheit, vor allem die justizförmige, gerechte Realisierung des materiellen Strafrechts, soll Rechtsfrieden erzeugen. 35 Etwaige W i l 25 Dahrmann, S. 59, 62, 63. Das Grundgesetz lege keinem der beiden Grundsätze eine prinzipielle Wertüberlegenheit bei. Sie stünden grundsätzlich in einem ausgewogenen Gleichgewicht zueinander. Zur Sicherstellung dieser Ausgewogenheit bedürfe es einer den besonderen Umständen angemessenen Entscheidung. Dahrmann verkennt damit das Verhältnis von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, das der Gesetzgeber für den Verzicht vorentschieden hat, vgl. unten Teil 1 II. 2.f). 26

Dahrmann, S. 79.

27

H. Müller, S. 19.

2

« H. Müller, S. 45 ff.

29

Dencker, Willensfehler, S. 37 ff.; SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 26.

30 Vgl. Dencker, Willensfehler, S. 41. Diese Ansicht stützt Dencker allerdings auf § 267 I V a.F. StPO, den er als gesetzliches Indiz für die Rechtsfriedensfunktion des Verzichts wertet. Da § 267 I V n.F. StPO die Urteilsabkürzung auch bei bloßem Fristablauf ermöglicht, verliert diese Argumentation weit gehend seine Berechtigung. 31 SK/StPO-FmcVi, § 302 Rn 26; für vorzugswürdig hält diesen Ansatz auch MüllerChristmann JuS 2002, 63, 66. 32 Frisch bemüht sich zwar um eine nähere Umschreibung der Wirksamkeitsvoraussetzungen aus materialer Sicht, siehe S K / S t P O , § 302 Rn 2 7 - 3 1 . Dabei orientiert er sich aber maßgeblich an der Rechtsfriedensfunktion.

33 Ablehnend bereits Eb. Schmidt, Strafprozess, S. 2 7 8 - 2 8 0 , vgl. auch Schulze, S. 184, 186; Des Weiteren kritisiert Schulze zu Recht, dass diesem Lösungsansatz jegliches Verschuldenselement fehlt, S. 187. Dies ist i m Interesse der Rechtssicherheit nicht hinnehmbar. 34 LR-Rieß, Einl. Abschn. Β Rn 4; Müller-Dietz ZStW 93 (1981) 1177, 1204, 1205; Däubler-Gmelin StV 2001, 359, 360 sowie Weigend ZStW 113 (2002), 271, 277 mit eigener und überzeugender Interpretation des Begriffs „Rechtsfrieden". 35 LR-Rieß, Einl. Abschn. Β Rn 4.

Einleitung lensmängel beim Rechtsmittelverzicht des Angeklagten haben auf die Verwirklichung dieses Ziels nur sehr begrenzten Einfluss. Es erscheint nicht sinnvoll, dies zu ändern, indem man einer einzelnen Prozesshandlung einen zusätzlichen Zweck beimisst, der gerade das Verfahrensziel des gesamten Strafverfahrens ist. Denn Willensmängel, die zu einer Verfehlung dieses Zwecks führen, würden jeden Rechtsmittelverzicht grundsätzlich unwirksam machen 3 6 - eine kaum hinnehmbare Folge. Joachim prüft die Beachtlichkeit von Willensmängeln, die von staatlicher Seite verursacht wurden, anhand der Grundgedanken von § 136a StPO. 3 7 Die Beachtlichkeit sonstiger Willensmängel klärt er über eine analoge Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. 3 8 Diesen Rückgriff bezeichnet Schulze als inkonsequent. 39 Die Grundgedanken des § 136a StPO würden allein keine Lösung tragen. Bereits die Herleitung sei problematisch. Schulze sucht die Lösung daher für alle Willensmängel in der analogen Anwendung der Wiedereinsetzungsvorschriften 40 , wobei Wiedereinsetzung gewährt werden soll, wenn der Willensmangel unverschuldet 41 war 4 2 Wann Verschulden vorliegt, ist nach Auffassung Schulzes durch Wertung den einzelnen Fallkonstellationen zu entnehmen, wobei ein subjektiver Maßstab und die besonderen Umstände des Einzelfalles maßgeblich sein sollen. 4 3 Diesen Maßstab entlehnt Schulze konsequent den Wiedereinsetzungsvorschriften 4 4 Eine solche Verallgemeinerung des Verschuldensmaßsta-

36

In diesem Sinne zumindest Dencker, Willensfehler, S. 57. Dem ist allerdings nur zuzustimmen, wenn der Willensmangel innerhalb der Einlegungsfrist für das Rechtsmittel geltend gemacht wird; denn insoweit ist das Rechtssicherheitsinteresse durch die Befristung in hinreichendem Maße gewahrt, so Roxin, StPO, § 51 Rn 27. 37 Joachim, S. 140 ff., S. 162 ff., zur Anwendung des allgemeinen Rechtsgedankens des § 136a StPO auf die einzelnen Willensmängel siehe S. 179 ff. 38 Joachim, S. 217 ff. I m Anschluss prüft Joachim die Berücksichtigung nicht erfasster Willensmängel durch Rückgriff auf allgemeine prozessuale Gesichtspunkte, S. 234 ff. 39

Schulze, S. 148, 149.

40

Schulze prüft das Vorliegen der Analogievoraussetzungen ausführlich auf den S. 163 ff.

41 Z u m Zeitpunkt der Einreichung der Arbeit von Schulze galt § 44 a.F. mit dem Kriterium des unabwendbaren Zufalls. Das Kriterium „fehlendes Verschulden" war lediglich i m Entwurf der Bundesregierung eines 1. Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts enthalten, vgl. Schulze, S. 201 ff. Insofern war bereits das Abstellen auf ein Verschuldenselement ein erster Konkretisierungsschritt. Verschulden ist dabei nach Auffassung von Schulze als Verschulden i m prozessualen Sinne, also Verschulden gegen sich selbst, zu verstehen, S. 204. 42 Schulze weist hinsichtlich der vorgenannten Arbeiten darauf hin, dass eine konsequente Untersuchung unter dem Gesichtspunkt des Verschuldensprinzips noch nicht vorgenommen wurde, S. 82. Zwar nehmen sowohl Dencker als auch Dahrmann und Joachim auf die Wiedereinsetzungsvorschriften Bezug, doch seien ihre Lösungen weit gehend von anderen Kriterien abhängig als der Schuldfrage, S. 81, 82. 43 44

Schulze, S. 203, 206.

L R -Wendisch, § 44 Rn 23 - Für die Frage des Verschuldens sind unter Beachtung der Eigenschaften und Verhältnisse des Säumigen und der allgemeinen Umstände die Anforderungen und die Sorgfalt zu ermitteln, die dem Handelnden gerechter Weise zuzumuten sind.

22

Einleitung

bes der singulären Situation der Fristversäumung 45 muss indessen Bedenken wecken 4 6 Ein subjektiver Maßstab - wie der des § 44 StPO - kann nur dort gelten, wo keine entgegenstehende objektive Regelung 4 7 existiert. 4 8 Durchsetzen konnte sich keiner dieser Vorschläge. Auch eine gesetzliche Änderung des § 302 StPO scheiterte. Der Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen von 1975 - i m Folgenden als DER bezeichnet - enthielt zwar weit reichende Modifizierungen. 4 9 So sollte ein Verzicht i m Anschluss an die Urteilsverkündung nur zulässig sein, wenn der Angeklagte vorher über die Folgen des Verzichts, insbesondere dessen Unwiderruflichkeit belehrt und ihm Gelegenheit gegeben worden sei, seinen Verteidiger zu befragen. Bei Verhängung von Freiheitsstrafen von über einem Jahr sollte die Verzichtserklärung frühestens am nächsten Tag erfolgen können. 5 0 Angenommen wurde der Reform Vorschlag jedoch nicht. 5 1 Das Fazit liefert Plötz: „Nach wie vor fehlt jeder Konsens darüber, welche Gesichtspunkte für die Beachtlichkeit eines Willensmangels gelten sollen, und wie eine dogmatische Grundlegung zu erfolgen hat 4 ' 5 2 . Die h. M . beharrte auf ihrem Standpunkt, vorrangig Rechtssicherheit zu gewährleisten, während die Diskussion weit gehend zum Stillstand kam, ohne die bestehenden Probleme gelöst zu haben. Zwar fanden sich weiterhin kritische Kommentierungen 5 3 , an der Akzeptanz der grundsätzlichen Unbeachtlichkeit änderte dies nichts. In der obergerichtlichen Rechtsprechung spielte der Rechtsmittel verzieht faktisch ohnehin nur eine untergeordnete Rolle. Dies hat sich durch die aktuelle Diskussion um den Rechtsmittel verzieht als Bestandteil einer Absprache geändert. 54 Für die Strafverfolgungsorgane ist der

45 Die Sorgfaltsanforderungen sind in Relation zur wahrzunehmenden Verfahrenshandlung zu bestimmen, vgl. L R -Wendisch, § 44 Rn 23. 46

Die Analogie zu § 44 StPO enthebt nicht von dem Erfordernis, die Verantwortlichkeit des Gerichts und den Umfang der Sorgfaltslast des Erklärenden herauszuarbeiten. Das könne aber nur unter Berücksichtigung außerhalb des § 44 StPO liegender Gesichtspunkte geschehen, Plötz, S. 292, 293; kritisch auch Grünst, S. 328. 47 Schulze muss seinen Ansatz auch für die Fälle der Drohung mit normativ zulässigem Verhalten relativieren, S. 221 ff., da es in solchen Fällen allein auf die objektive prozessrechtliche Zulässigkeit der angedrohten Maßnahme ankommen kann. 48

Eine solche wäre auch die objektive Verantwortungsverteilung im Prozess, deren Darlegung Ziel dieser Arbeit ist. 49 Vgl. Entwurfsbegründung, DER, S. 69 f. 50 Vgl. Entwurfstext, DER, S. 9. 51 Die Mehrheit der Arbeitsgruppe war der Auffassung, dass die starke Einschränkung des Rechtsmittelverzichts i m Interesse der Justiz nicht geboten ist und den berechtigten Dispositionsbefugnissen des Angeklagten nicht entspreche, DER, S. 71. 52 Plötz, (1980), S. 290,291. 53 SK-StPO-Frisch, § 302 Rn 1 ff.; LR-Hanack, § 302 Rn 1 ff. 54 Dass der Rechtsmittelverzicht regelmäßig Bestandteil einer Absprache ist, bestätigt eine Vielzahl von Arbeiten, u. a. Rönnau, Absprache, S. 49; Gerlach, S. 36 ff.; Janke, S. 48 ff.

Einleitung Rechtsmittelverzicht aus Gründen der Ersparnis von Kosten und Aufwand maßgeblicher Inhalt einer verfahrensbeendenden Absprache. 55 Zugleich schließt der Verzicht eine obergerichtliche Kontrolle der Absprache aus. 5 6 Die sog. Vorabzusage eines späteren Rechtsmittelverzichts i m Rahmen der Verständigungsgespräche ist daher regelmäßig Voraussetzung für deren erfolgreichen Abschluss. 5 7 In seinem Grundsatzurteil BGHSt 43, 195 machte der 4. Senat hingegen deutlich, dass ein i m Voraus vereinbarter Rechtsmittelverzicht bezüglich des laufenden Verfahrens als Bestandteil einer Absprache unzulässig ist. Von diesem Urteil unbeeindruckt wurde die gängige Praxis der Vorabzusage eines Verzichts jedoch fortgesetzt 5 8 , hatte der 2. Senat doch bereits in seinem Beschluss vom 20. 06. 1997, und damit zeitlich vor BGHSt 43, 195, festgestellt, dass die Unzulässigkeit einer Absprache nicht die Wirksamkeit eines absprachegemäß erklärten Rechtsmittelverzichts berührt 5 9 . A u f Grund der Diskrepanz zwischen tatgerichtlicher Praxis und dem Verbot eben dieser Praxis durch die Rechtsprechung des BGH war absehbar, dass die Obergerichte sich erneut mit der Frage würden befassen müssen, ob ein Rechtsmittelverzicht unwirksam ist, der in Erfüllung einer Vorabzusage erklärt wurde. Tatsächlich beschäftigten sich seit BGHSt 43, 195 ff. diverse Entscheidungen mit diesem Problem 6 0 Dabei ist zwischen den einzelnen BGH-Senaten bislang ungeklärt, ob die Vorabzusage einen beachtlichen Willensmangel begründet, der den späteren Verzicht unwirksam macht. Der 2. Senat lehnt einen Automatismus zwischen unzulässiger Vorabzusage und Unwirksamkeit des Verzichts weiterhin ab. Der Verzicht erfolge zeitlich nachgelagert und unabhängig von der Vorabzusage und sei daher grundsätzlich wirksam. 6 1 Etwas anderes gelte nur dann, wenn die Gründe, die zur Unzulässigkeit der Absprache führen, zugleich zur rechtlichen Missbilligung der Wirksamkeit des späteren Verzichts führen. I m Schrifttum wird dieser Ausnahmetatbestand als „doppelt wirkender Verfahrensfehler" bezeichnet 62 , da derselbe Verfahrensfehler sich sowohl vor als auch nach dem Urteil auswirkt. Wäh55 Sinner, S. 194 - Vor diesem Hintergrund erkläre sich auch, warum die Unzulässigkeit der Vorabzusage nicht die Wirksamkeit des Verzichts berühren darf.

56 Satzger JuS 2000, 1157, 1158. 57 Dies dokumentiert die wesentliche Funktion, die dem Rechtsmittelverzicht i m Zusammenhang mit Urteilsabsprachen zukommt, Satzger JuS 2000, 1157, 1158. Rieß, FS MeyerGoßner, S. 645, 646, spricht von Alltagspraxis; Weider, FS Lüderssen, S. 773, 775 - „conditio sina qua non". 58 Weider, StV 2000, 540, spricht sogar von einem Schulterschluss von Staatsanwälten, Richtern und Verteidigern, die dem B G H offen die Gefolgschaft verweigern. Die Berufsjuristen würden in einer merkwürdig anmutenden Allianz alle Hemmungen über Bord werfen. 59 BGH NJW 97, 2691. 60 U. a. BGHSt 45, 227; BGH NStZ 2000, 386, 387; OLG München StV 2000, 188. Die Rechtsprechung des BGH wird später einer eingehenden Analyse unterzogen. 61 BGH NJW 97, 2691; BGH 2 StR 2 2 3 / 0 1 - Beschluss ν. 11. 06. 2001 ( L G Fulda); zustimmend Landau/Eschelbach NJW 99, 321, 326; KK-Laufhütte, Vor § 137 Rn 7. 62 Vgl. Weigend StV 2000, 63, 64 Fn 20.

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Einleitung

rend der 1. Senat sich der Auffassung des 2. Senats angeschlossen h a t 6 3 , bejaht der 4. Senat ausdrücklich die Unwirksamkeit eines absprachegemäß erklärten Verzichts 6 4 , wobei deutlich das Bemühen i m Vordergrund stand, eine effektive Durchsetzung der vom selben Senat aufgestellten Verfahrensregeln aus BGHSt 43, 195 ff. zu sichern. Das infolge dieser Divergenz eigentlich notwendige Vorlage verfahren zum Großen Senat gem. § 132 I I I G V G vermied der 4. Senat 6 5 , indem er zusätzlich den Ausnahmetatbestand eines „doppelt wirkenden Verfahrensfehlers" begründet e 6 6 . Konsequenz dieser alternativen Begründung der Unwirksamkeit, mit welcher der 4. Senat zumindest dem ersten Anschein nach eine Übereinstimmung seiner Entscheidung mit der Rechtsprechung der anderen Senate erzeugt, ist, dass deren Kernaussage, wonach eine Vorabzusage zur Unwirksamkeit des späteren Verzichts führt, zum obiter dictum herabgestuft wird. Dies ist in mehreren Anmerkungen und Aufsätzen kritisiert worden. 6 7 Doch auch diese Stellungnahmen lösen die Problematik der Vorabzusage nicht einheitlich. 6 8 Ob und gegebenenfalls wie der Gesetzgeber sich der Problematik im Rahmen einer Positivierung der Absprache annehmen wird, bleibt gegenwärtig abzuwarten. 69 Die an dieser Stelle nur skizzierte aktuelle Diskussion 7 0 gibt in zweifacher Hinsicht Anlass zur Kritik: Zum einen wird die Prüfung des tatsächlichen Vorliegens eines Willensmangels bei einer absprachegemäß erfolgenden Rechtsmittelverzichtserklärung vernachlässigt. Der Rechtsmittelverzicht erfolgt erst zu einem späteren Zeitpunkt als die unzulässige Verzichtszusage. Das Vorliegen eines Willensmangels zu diesem späteren Zeitpunkt ist daher nicht zwingend. Während der 4. Senat aber ohne Begründung stets einen Willensmangel zu unterstellen scheint 7 1 , sehen der 1. und der 2. Senat in vergleichbaren Situationen nicht einmal Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der Willensfreiheit, was ebenfalls nicht begründet w i r d 7 2 . Zum anderen wird in dogmatischer Hinsicht offenbar, dass es der Recht-

63 BGH NStZ 2000, 386, 387. 64 BGHSt 45, 227, 228; noch offengelassen in NStZ 99, 364. 65 Rieß NStZ 2000, 98, 99. 66 Besser: zu begründen versuchte, denn der 4. Senat überdehnt den Vorbehalt des 2. Senats inhaltlich, Satzger JuS 2000, 1157, 1160. Der 4. Senat begründet lediglich einen „Doppelfehler", nämlich einen mehrfachen Verstoß gegen die Regeln von BGHSt 43, 195 ff. 6v V.a. Rieß NStZ 2000, 98, 99; Weigend StV 2000, 63, 64. 68 Hierauf wird später einzugehen sein. 69 Das Eckpunktepapier der Bundesregierung, Stand 1. 4. 2001, abgedruckt in StV 2001, 314 ff., sieht eine Normierung der Absprachen entsprechend der in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vor. Kritisch und ausführlich äußerte sich jüngst Schünemann zu den geplanten Positivierungen, ZStW 114 (2002), 1, 55 ff. 70 Ausführlich dazu unten Teil 2 E. III. 71 Eine ausführliche Analyse der Entscheidung erfolgt später i m Rahmen dieser Arbeit unter Teil 2 E. III. 1 .e)( 1); ähnlich auch Kölbel - Das Gericht darf sich ein solches Versprechen nicht geben lassen, weshalb der Verzicht unwirksam wäre, NStZ 2002, 74, 75. 72 Vgl. dazu Teil 2 E. III.3.a).

Einleitung sprechung immer noch an befriedigenden Regeln zur Feststellung beachtlicher Willensmängel entbehrt. Die vorliegende Untersuchung hat nicht das Ziel, eine Sonderlösung für die Situation des vor Urteilsverkündung abgesprochenen Rechtsmittelverzichts zu konzipieren. Vielmehr wird die aktuelle Diskussion zum Anlass genommen, die grundsätzliche Problematik des willensfehlerhaften Verzichts und seiner Behandlung in den Vordergrund zu rücken. 7 3 In dem Bestreben, nicht bei der Erörterung dieser einen - sicherlich besonders bedeutsamen und häufig vorkommenden - Fallgruppe stehen zu bleiben, soll der Versuch unternommen werden, ein insgesamt ausgewogenes, klares und in der Gerichtspraxis brauchbares System zu etablieren, das sowohl dem Rechtssicherheitsinteresse der Rechtspflege als auch dem Interesse des Angeklagten gerecht wird. Die vorliegende Arbeit w i l l einen auch in der Praxis gangbaren Weg der abstrakten Herleitung und Abgrenzung ausnahmsweise beachtlicher Willensmängel aufzeigen 7 4 und damit einen Beitrag zur Wiederbelebung der Diskussion leisten 7 5 . Grundlage des hier vorgeschlagenen Lösungsansatzes ist eine Verantwortungsabschichtung zwischen den Prozessbeteiligten in Bezug auf das Vorhandensein von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht. 76 Der Angeklagte soll nicht an seine willensfehlerhafte Erklärung gebunden sein, wenn festgestellt werden kann, dass die Entstehung des Willensmangels nicht in seinen Verantwortungsbereich fällt. 7 7 Der Willensmangel ist dann beachtlich. Dieser Ansatz basiert dabei auf der

73

M i t dieser Intention äußerte sich auch kürzlich Erb, G A 2000, 511 ff.

74

Erb sieht eine weiter gehende Typisierung der Unwirksamkeitsgründe als zwingend an. Seiner Auffassung nach müssen die Wirksamkeitsvoraussetzungen des Verzichts abstrakt festgelegt werden. Dabei soll bereits die Existenz einer abstrakten Gefahr für die Willensfreiheit der Wirksamkeit des Verzichts entgegen stehen, ohne dass es ihrer Realisierung bedürfte, G A 2000,511,524. 75 Einen solchen Beitrag leistete jüngst auch Grünst mit ihrem Lösungsansatz, S. 338 ff. Danach sei eine fehlerfreie Rechtsmittelentscheidung Voraussetzung für rechtsbefriedende Rechtssicherheit. Diese trete stets ein, wenn der Angeklagte kein Rechtsmittel einlegt. Die Gemeinschaft beruhige sich dann über den Rechtsbruch. Der Rechtsmittel verzieht müsse daher unter Bedingungen zustande kommen, welche die gleiche befriedende Funktion haben. Bei der Klärung der Frage, wann dies der Fall ist, müsse allerdings, um Widersprüche mit dem geltenden Recht zu vermeiden, auf allgemeine bzw. vergleichbare Wertungen in der StPO zurückgegriffen werden. Dabei biete sich die Heranziehung der Risikoverteilung an, die bei Nichteinlegung eines Rechtsmittels gilt, so dass ein Willensmangel grundsätzlich nur innerhalb der Rechtsmittelfrist erheblich sein kann, sowie darüber hinaus, wenn der Willensmangel zu einer Wiedereinsetzung berechtigen würde. Innerhalb der Rechtsmittelfrist seien vor allem Willensmängel zu berücksichtigen, die auf eine staatliche Einflussnahme (Grünst benennt vier Kategorien, S. 340 ff.) zurückgehen. Diese müssten für eine fehlerfreie Entscheidung neutralisiert werden, S. 342. 76 Nur dem Prozessrecht kann entnommen werden, wann eine Prozesshandlung unbeachtlich ist oder beseitigt werden kann, KMR-Sax, Einl. X Rn 24. 77 Frisch vertritt einen ähnlichen Ansatz. Er bemüht die Verantwortungsverteilung als Kriterium zur Herausarbeitung materialer Wirksamkeitsvoraussetzungen für einen rechtsbefrie-

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Einleitung

Grundannahme, dass eine solche Verantwortungsabschichtung i m Strafprozess möglich ist. Des Weiteren setzt eine Untersuchung, die der Ermittlung beachtlicher Willensmängel dient, voraus, dass ein Rechtsmittelverzicht trotz des Vorliegens eines Willensmangels grundsätzlich wirksam ist. Würde jeder Willensmangel die Beseitigung der Bindung an die Verzichtserklärung ermöglichen, gäbe es von vornherein nur beachtliche Willensmängel. I m 1. Teil der vorliegenden Arbeit, welcher der methodologischen Grundlegung und der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes dient 7 8 , gilt es daher zunächst das Vorliegen dieser beiden Grundvoraussetzungen des Untersuchungsansatzes, also die Möglichkeit einer Verantwortungsverteilung und die grundsätzliche Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts mit Ausnahmevorbehalt für beachtliche Willensmängel, zu verifizieren. I m Anschluss ist der Gegenstand der Untersuchung zu konkretisieren. Da der Rechtsmittelverzicht eine Prozesshandlung ist, muss die konkrete Verzichtserklärung auch deren allgemeine Wirksamkeitsvoraussetzungen erfüllen. Mängel in diesem Bereich führen unabhängig von etwaigen Willensmängeln unmittelbar zur Unwirksamkeit der Prozesshandlung und zählen nicht zum Gegenstand der Untersuchung. Es gilt daher vor deren Durchführung alle Fälle auszusondern, in denen der Rechtsmittelverzicht bereits die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Prozesshandlung nicht erfüllt. Darauf aufbauend erfolgt i m 2. Teil der Arbeit die konkrete Vornahme der Verantwortungsabschichtung. Als Willensmängel, deren Beachtlichkeit es zu überprüfen gilt, sind Inhaltsirrtum, Erklärungsirrtum, fehlendes Erklärungsbewusstsein, Motivirrtum und sonstige Willensmängel, die durch objektive Irreleitung / Drohung 7 9 , Übereilung / Unüberlegtheit 8 0 , Verhinderung der Beratung mit dem Vertei-

denden Verzicht, SK/StPO-Fmc/z, § 302 Rn 30. Ähnlich argumentiert KMR-Sax, Einl. X Rn 29 ff., der als Maßstab für den Interessenausgleich von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit danach fragt, welcher Sphäre der willensbeeinträchtigende Einfluss entstammt. 78

Einer solchen Grundlegung entbehrt die Arbeit von Grünst (siehe oben Fn 75). Es erfolgt weder ein hinreichender Nachweis, dass der Rechtsmittelverzicht rechtsbefriedende Wirkung haben muss, noch wird die Zulässigkeit einer entsprechenden Heranziehung der Risikoverteilung, die für Willensmängel des Angeklagten bei Nichteinlegung des Rechtsmittels gilt, begründet. Zudem fehlt es an rechtlich und methodisch fundierten Maßstäben für die Bewertung, wann von einer staatlichen Einflussnahme auf den Angeklagten zu sprechen ist, deren Gefahren zur Gewährleistung einer fehlerfreien Rechtsmittelentscheidung neutralisiert werden müssen. 79 Bei einem durch Drohung hervorgerufenem Verzicht weiß der Angeklagte regelmäßig, dass er auf seine Rechtsmittelmöglichkeiten verzichtet. Ein Irrtum liegt nicht vor, dennoch ist die Willensbildung fehlerhaft, denn das Erklärungsmotiv ist die unrechtmäßige Einflussnahme. Bei der Täuschung wird in der Regel ein Motivirrtum vorliegen, so auch Dahrmann, S. 88. 80

Plötz sieht in Übereilung und Unüberlegtheit sog. Willensfehler, die nicht dem klassischen Bereich der Willensmängel zuzurechnen sind, S. 338. Dahrmann, Schulze gehen davon aus, dass in den meisten Fällen ein Motivirrtum und damit ein klassischer Willensmangel vorliegt.

Einleitung diger, nicht erfolgte Bestellung eines notwendigen Verteidigers 81 , Beratung durch einen sog. „unfähigen" Verteidiger oder die Beteiligung an einer unzulässigen Absprache entstanden sind, einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. 82 A u f Grund der Vielgestaltigkeit der Willensmängel erscheint es dabei geboten, die Verantwortungsabschichtung für jeden Willensmangel gesondert vorzunehmen. Zudem hängt auch das Auffinden des richtigen Maßstabes für die Verantwortungsverteilung maßgeblich von den Besonderheiten der einzelnen Willensmängel ab. 8 3 Als ein solcher Maßstab, der Aufschluss über die Verantwortlichkeit für vorliegende Willensmängel gewähren soll, kommen vor allem einschlägige Normen, die prozessualen Rollen der Verfahrensbeteiligten und ihre innerprozessuale Aufgabenverteilung, gesetzliche Wertungen, der fair trial-Grundsatz und sonstige Besonderheiten der jeweiligen Fallgruppe in Betracht. Führt die Überprüfung der Verzichtssituation anhand dieser Gesichtspunkte zur Verneinung der Verantwortlichkeit des Angeklagten für das Vorliegen eines W i l lensmangels, so darf er nicht an seinem Verzicht festgehalten werden. 8 4 Nur diese Abstraktheit des Untersuchungsansatzes trägt der Rechtssicherheit Rechnung, nicht hingegen eine Ausrichtung an den konkreten Umständen des Einzelfalles. 85 Besondere Interessen sind nur zu berücksichtigen, soweit sie in einer Norm Niederschlag gefunden haben. Darüber hinaus dürfen auch schutzwürdige Interessen keinen Einfluss auf die Verantwortungsabschichtung haben. 8 6 Die Normen der StPO und ihre Prinzipien sind zwingend und eindeutig. Sie sind selbst Ausfluss einer Abwägung und damit einer weiteren Relativierung durch erneute Abwägung nicht zugänglich. 8 7 81

Schulze zufolge liegt meist ein Motivirrtum vor, S. 235; anders Dencker, Willensfehler, S. 69, 70, 71, der von einer nachträglichen Willensänderung und einem ausnahmsweise zulässigen Widerruf ausgeht. 82 Zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Willensmängel vergleiche auch Schulze, S. 2 0 5 - 2 4 7 und Dencker, Willensfehler, S. 5 7 - 6 8 . 83

In diese Richtung bereits Peters, § 34 II.

84

Vom Grundansatz her findet sich dieser Gedanke bereits bei Oetker JW 29, 49, 51 : Zwar erfordere eine wirksame Prozesserklärung nur Erklärungswillen, doch sei eine Wiedereinsetzung zu ermöglichen, soweit die Erklärung auf Grund eines unverschuldeten Irrtums erfolgte. 85 So aber die Arbeiten von Dahrmann, H. Müller, Joachim, Schulze, s. o.; Dencker bestreitet die Möglichkeit eines derartigen Lösungsansatzes, weil die Bandbreite der denkbaren Mängel zu groß sei, um eine Lösung über allgemeine Grundsätze zuzulassen. Es komme auf die Interessenlage im Einzelfall an, Willensfehler, S. 36. Durch allgemeine Kriterien drohe Verwässerung; ähnlich Schulze, S. 203, 206. 86 Gerade das Praktizieren mit dem Grundsatz der „Interessen- und Güterabwägung" ablehnend Eb. Schmidt, Strafprozess, S. 282, 283. Solche schutzwürdigen Interessen können allenfalls Appellfunktion entfalten und den Gesetzgeber zum Tätigwerden veranlassen. 87

In diese Richtung schon Eb. Schmidt, Strafprozess, S. 275 - Die prozessualen Bewertungskategorien müssen rein materiellen Erwägungen vorgehen. Eine abwägungs- bzw. interessenorientierte Lösung wird durch eine an abstrakten Kriterien ausgerichtete Vorgehensweise vermieden.

28

Einleitung

Gelingt die Abgrenzung nach Verantwortungsbereichen, kann also eine eindeutige Zuordnung der jeweiligen Willensmängel zu den (festzustellenden) Verantwortungskreisen der Prozessbeteiligten erfolgen, so weist dies i m Vergleich zur Einzelfallorientierung der h. M . erhebliche Vorteile auf. Die wichtigsten wären eine verbesserte Berücksichtigung der Belange des Angeklagten und der grundsätzliche Gewinn an Rechtssicherheit. A u f der Grundlage des nachfolgend zu erläuternden Konzepts muss das Rechtsmittelgericht die Behauptung, dass der jeweils geltend gemachte Willensmangel bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts vorlag, lediglich auf ihre Glaubhaftigkeit prüfen und den nachgewiesenen Willensmangel zutreffend in die zuvor ermittelten Verantwortungsbereiche einordnen. Einer Einzelfallprüfung und einer Abwägung zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit i m Einzelfall bedarf es nicht, da die Aspekte Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit schon wertend bei der Verantwortungsabschichtung berücksichtigt werden. Die damit verbundene höhere Entscheidungssicherheit bürgt zugleich für eine höhere Entscheidungsqualität. Denn grundsätzlich ist zu bedenken, dass die Rechtssicherheit weniger durch die Anerkennung eines beachtlichen Willensmangels leidet, als durch die Anzahl der Einzelfallprüfungen, welche die Gerichte vornehmen müssen, bevor sie über die Beachtlichkeit des Willensmangels befinden können. 8 8 Anschließend ist dann i m 3. Teil zu untersuchen, wie ein ausnahmsweise beachtlicher Willensmangel prozessual umgesetzt wird. Dabei wird die Frage i m Vordergrund stehen, welche Mittel die StPO für die Geltendmachung eines Willensmangels beim Rechtsmittelverzicht zur Verfügung stellt und welche Voraussetzungen der Angeklagte bei der Nutzung dieser Möglichkeiten zu beachten hat. Zum Abschluss der vorliegenden Arbeit sind dann im 4. Teil vor dem Hintergrund der Erkenntnisse dieser Arbeit und einer Analyse der Vor- und Nachteile, die ein Rechtsmittelverzicht für die Verfahrensbeteiligten mit sich bringt, mögliche Änderungen des § 302 StPO de lege ferenda kritisch zu würdigen.

8« Vgl. dazu Erb G A 2000, 511, 522.

Teil 1

Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand A. Überprüfung der methodologischen Zulässigkeit der Untersuchung Zu Beginn der Untersuchung müssen die Grundpfeiler des Untersuchungsansatzes - also dessen methodologische Zulässigkeit - verifiziert werden. I m Folgenden sind daher die Möglichkeit einer Verantwortungsverteilung i m Strafprozess, die grundsätzliche Wirksamkeit der Verzichtserklärung trotz Willensmangels sowie die Existenz eines Ausnahmevorbehalts für beachtliche Willensmängel abstrakt herzuleiten.

I. Möglichkeit einer Verantwortungsverteilung I m Strafprozess gilt der Amtsaufklärungsgrundsatz. 1 Der Beschuldigte ist auf Grund des nemo-tenetur-Grundsatzes nicht verpflichtet, zur Wahrheitserforschung beizutragen. Es ist ihm nicht einmal generell untersagt, diese zu erschweren. 2 Die Pflicht zu der - nach der jeweiligen Sachlage - erforderlichen Wahrheitserforschung obliegt allein dem Gericht. A n das Prozessverhalten, den Sachverhalts vortrag oder benannte Beweismittel der anderen Prozessbeteiligten ist das Gericht nicht gebunden. 3 Als Korrelat gibt es keine Behauptungslast. 4 Die übrigen Verfahrensbeteiligten haben lediglich ein Mitwirkungsrecht, durch das sie in Form von Beweisanträgen und sonstigen Anregungen auf das Verfahren - insbesondere die Beweisaufnahme - Einfluss nehmen können. 5 Die in § 244 I I StPO normierte gerichtliche Aufklärungspflicht umfasst dabei grundsätzlich auch das prozessuale Geschehen. 6 Die Gerichte könnten daher von 1 G. Fezer, Strafprozessrecht, 1 2 / 4 4 ; lassen sich bestimmte Tatsachen nicht zur vollen Gewissheit feststellen, greift der Grundsatz in dubio pro reo ein, vgl. Eb. Schmidt, L K I, Rn 302, 303.

2 LR-Rieß, Einl. Abschn. G Rn 50. 3 LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 32. 4 Eb. Schmidt, L K I , R n 3 0 1 . 5

G. Fezer, Strafprozessrecht, 12/44.

6 LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 40.

30

Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

Amts wegen verpflichtet sein, das Vorliegen von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht, dessen Erklärung als prozessuales Geschehen einzuordnen ist, nachzuprüfen. Eine solche Ermittlungspflicht stünde einer Verantwortungsabschichtung zwischen dem Gericht und dem Angeklagten hinsichtlich des Vorliegens von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht grundsätzlich entgegen, denn für eine individuelle Verantwortlichkeit des Angeklagten bleibt bei einem vollumfänglich geltenden Amtsaufklärungsgrundsatz kein Raum. Der Amtsaufklärungsgrundsatz gilt allerdings nicht unbegrenzt. Seine Reichweite ist unmittelbar durch seine Funktion beschränkt. Der Amtsermittlungsgrundsatz soll eine sachgerechte Entscheidungsfindung sichern und reicht nicht weiter, als es für eine verfahrensabschließende Entscheidung erforderlich ist. 7 Deshalb unterliegt prozessuales Geschehen dem Amtsaufklärungsgrundsatz nur, solange und soweit es für die zu treffende Entscheidung von Bedeutung ist. Da das Urteil - als zu treffende Entscheidung - in der jeweiligen Instanz verfahrensabschließend ist, wird mit der Verkündung des Urteils die äußerste zeitliche Grenze der Anwendbarkeit des Amtsaufklärungsgrundsatzes in der jeweiligen Instanz erreicht. Der Rechtsmittelverzicht, welcher der Entscheidung zwingend nachfolgt, wird somit als prozessuales Geschehen nicht mehr vom Amtsaufklärungsgrundsatz erfasst. Die Möglichkeit einer Verantwortungsverteilung ist also nicht von vornherein ausgeschlossen. Vielmehr scheint ein anderer Gesichtspunkt gerade für eine solche Möglichkeit zu sprechen: Die Befugnis, einen Rechtsmittelverzicht zu erklären, ist nämlich dem Dispositionsgrundsatz zuzuordnen, der eine Rechtswahrnehmung in das Belieben des Berechtigten stellt. Die Rechtsmittelbefugnis, die der Gesetzgeber in den §§ 296 ff. StPO eröffnet hat und der sich der Verzichtende begibt, dient zur Förderung einer richtigen Entscheidung i m Einzelfall. 8 Dies basiert auf der Einsicht, dass auch richterliche Entscheidungen der Gefahr der Fehlerhaftigkeit ausgesetzt sind. 9 Geht es aber um die Korrektur gerichtlicher Fehler, muss der Gebrauch der Rechtsmittel den übrigen Prozessbeteiligten i. S. d. Dispositionsgrundsatzes überantwortet werden 1 0 , was vor allem aus zwei Gründen sinnvoll ist: Zum einen hat das Gericht in Form des Urteils schon seine Sicht der Dinge kundgetan. Dies impliziert, dass das Gericht selbst keinen Korrekturbedarf sieht. Zum anderen wird sich der Rechtsmittelberechtigte des Regulativs nur in kritischen Fällen bedienen, wenn er also glaubt, in seinen Rechten verletzt zu sein. 11 Die Verantwortung für die Entscheidung über die Anrufung des Rechtsmittelgerichts trifft daher mit Recht den Rechtsmittelberechtigten. Das Gleiche muss für den Rechtsmittelverzicht als Kehrseite der Rechtsmitteleinlegung gelten. Der Angeklagte ist zur eigenverantwortlichen Ent7 LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 39. 8 SK/StPO-Frisch, Vor § 296 Rn 2. 9 LR-Hanack, Vor § 296 Rn 5. •o M. Wolf,

S. 311 ; ähnlich LR-Hanack, Vor § 296 Rn 5.

•ι LR-Hanack, Vor § 296 Rn 5.

Α. Überprüfung der methodologischen Zulässigkeit der Untersuchung

31

Scheidung nicht nur über die Einlegung des Rechtsmittels, sondern auch über den Verzicht berechtigt. Als Konsequenz aus der Dispositionsfreiheit fallen jedoch die Entscheidung über die Ausübung der Rechtsmittelbefugnis sowie entsprechende Erklärungen in den Verantwortungsbereich des Angeklagten. Das Gericht ist i m Rahmen der Rechtsmittelentscheidung nicht verpflichtet, das Vorliegen von Willensmängeln nachzuprüfen. 12 Gleichwohl trägt der Angeklagte die Verantwortung für die Fehlerfreiheit von Willensbildung und -erklärung beim Rechtsmittelverzicht nur, solange er seine Dispositionsbefugnis ungestört wahrnehmen kann. Ist dies nicht der Fall, kommt eine Verlagerung der Verantwortung auf denjenigen in Betracht, der die Dispositionsfreiheit des Angeklagten beeinträchtigt hat. Aus der Geltung der Dispositionsmaxime bei der Rechtsmittelwahrnehmung ergibt sich somit die Möglichkeit einer Verantwortungsabschichtung zwischen den Prozessbeteiligten. Die Untersuchung bedient sich mit der Vornahme einer Verantwortungsverteilung auch keines Instrumentariums, welches dem Strafprozessrecht fremd und schon aus diesem Grunde berechtigten Bedenken ausgesetzt wäre. Ausprägungen des Gedankens einer Verantwortungsverteilung finden sich an vielen Stellen in der StPO. So findet sich eine Zuweisung bestimmter Verantwortungsbereiche ζ. B. beim Ausbleiben des Zeugen trotz ordnungsgemäßer Ladung. § 51 StPO geht von einem Verschulden des Nicht-Erscheinens aus. M i t der Ladung wird die Verantwortung des Zeugen begründet, für sein Erscheinen oder eine rechtzeitige Entschuldigung Sorge zu tragen. 13 Die widerlegbare Verschuldensvermutung kann er durch Glaubhaftmachung eines Entschuldigungsgrundes entkräften 14 . Klassische Zuweisungsnormen sind auch die Belehrungsvorschriften, die den staatlichen Strafverfolgungsorganen die Verantwortung auferlegen, den Beschuldigten oder Angeklagten über seine Rechte zu informieren 1 5 . Diesen Gesichtspunkt veranschaulicht § 44 S. 2 StPO, der die Folgen des Verstreichens der Rechtsmittelfrist bei fehlender Belehrung nicht dem Angeklagten aufbürdet, indem er die unwiderlegliche Vermutung aufstellt, dass der Angeklagte die Versäumung nicht verschul-

12 Der Dispositionsgrundsatz gilt zwar nur für die Rechtsmittelentscheidung - also das „ O b " des Rechtsmittelverfahrens - , während i m Rechtsmittelverfahren selbst wieder der Amtsaufklärungsgrundsatz gilt, doch ist nur dieser Ausschnitt für die zu untersuchende Frage von Belang.

Für den Angeklagten hingegen enthalten §§ 230 ff. keinen derartigen Sphärengedanken. Die Eigenmächtigkeit des Sich-Entfernens bzw. das unentschuldigte Ausbleiben muss vom Gericht i m Freibeweis verfahren nachgewiesen werden, SK/StPO-Schlächter, § 230 Rn 11; K / M - G , § 230 Rn 16 sowie § 231 Rn 10. Gleiches gilt für das Ausbleiben des Angeklagten i m Berufungs- und i m Strafbefehlsverfahren, vgl. K / M - G , § 329 Rn 19 sowie § 412 Rn 6. 14 Es reicht aus, dass das Gericht keinen Anlass zu Zweifeln sieht, K / M - G , § 51 Rn 10. Strenger KK-Senge, § 51 Rn 15, der volle Überzeugung des Gerichts von der Richtigkeit der Entschuldigung verlangt.

15 Vgl. zur Terminologie: § 157 StPO.

32

Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

det hat. 1 6 Das für die Belehrung verantwortliche Gericht muss die Wiedereinsetzung akzeptieren, wenn der Angeklagte zumindest behauptet, die Rechtsmittelfrist nicht gekannt zu haben. 1 7 Abschließend kann daher festgestellt werden, dass die Möglichkeit einer Verantwortungsverteilung hinsichtlich der Willensbildung und -äußerung bei der Rechtsmittelentscheidung eröffnet ist. Damit ist zugleich der erste Grundpfeiler des Untersuchungsansatzes belegt. Die vorliegende Untersuchung basiert darüber hinaus auf der Annahme einer grundsätzlichen Wirksamkeit der Verzichtserklärung mit Ausnahmevorbehalt für beachtliche Willensmängel. Die Zulässigkeit dieser Annahme gilt es nunmehr zu überprüfen.

I I . Wirksamkeit eines erklärten Rechtsmittelverzichts und Existenz eines Ausnahmevorbehalts Ein Untersuchungsansatz, welcher der Ermittlung beachtlicher Willensmängel durch die Vornahme einer Verantwortungsabschichtung dienen soll, setzt voraus, dass ein Rechtsmittelverzicht trotz des Vorliegens eines Willensmangels grundsätzlich wirksam ist. Bei freier Rücknehmbarkeit des Verzichts könnte der Betroffene die Bindung stets beseitigen, sogar unabhängig von einem Willensmangel. Eine Unterscheidung in beachtliche und unbeachtliche Willensmängel beruhend auf einer prozessualen Verantwortungsabschichtung wäre nicht erforderlich. Es ist daher zunächst der Nachweis zu erbringen, dass ein eindeutig erklärter Rechtsmittelverzicht grundsätzlich wirksam ist. Des Weiteren gilt es zu belegen, dass es zulässig ist, Ausnahmen vom Grundsatz der Wirksamkeit des Verzichts zu gewähren. Der BGH, dessen Rechtsprechung sich auf dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis gründet, hat es bisher nicht für notwendig erachtet, die methodologische Zulässigkeit seines von ihm als selbstverständlich angesehenen Konzepts zu begründen. 18 Lässt sich dieser Nachweis führen, stehen der Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die konkreten Willensmängel keine Bedenken mehr entgegen.

16 L R -Wendisch, § 44 Rn 63. Die gesetzliche Vermutung erstreckt sich nur auf das Schuldelement; auf den Begriff der Verhinderung ist die Vermutung dagegen ohne Einfluss. Die Wiedereinsetzung ist danach nur dann gerechtfertigt, wenn die Nichtkenntnis für die Verhinderung ursächlich war. 17 L R -Wendisch, § 44 Rn 65. Dieser Fall ähnelt dem zu untersuchenden. Es geht gerade um die Frage, wer normativ die Verantwortung für den ungewollten Eintritt der Rechtskraft trägt. 18 BGHSt 17, 14, 18 betont lediglich, dass es erforderlich ist, in Ausnahmefällen überwiegenden Gründen der Gerechtigkeit den Vorrang gegenüber der Rechtssicherheit einzuräumen.

Α. Überprüfung der methodologischen Zulässigkeit der Untersuchung

33

1. Überprüfung des „Wirksamkeitsdogmas" Wurde bisher in Rechtsprechung und Literatur die Frage nach der Wirksamkeit eines erklärten Rechtsmittelverzichts aufgeworfen, fand man diese meist mit dem pauschalen wie apodiktischen Satz beantwortet, dass die öffentlich-rechtliche Natur des Strafprozesses und die i m öffentlichen Interesse zu fordernde Sicherstellung eines geordneten Verfahrens den zweifelsfreien Bestand von Prozesshandlungen und die Vermeidung jeglicher Unklarheiten und Unsicherheiten gebieten. 19 Der mit einer freien Widerruflichkeit einhergehende Schwebezustand bis zum Ablauf der Rechtsmittelfristen würde diesem Postulat zuwiderlaufen. 2 0 So bliebe unklar, ob eine Entscheidung bereits vollstreckbar ist. 2 1 Vielmehr müsse wegen der prozessbeendenden Wirkung des Rechtsmittelverzichts eine freie Widerruflichkeit ausscheiden. 22 Sicherheit und Ordnung des Verfahrens würden ansonsten gefährdet. 2 3 Als weiteres Argument wird neben Rechtsklarheit, Rechtssicherheit und öffentlich-rechtlicher Natur des Strafprozesses teilweise auch der Wortlaut des § 3021 StPO genannt 24 . Eine abstrakte Erörterung und Überprüfung dieser Argumente 2 5 erscheint allerdings methodisch weder geboten noch mit besonderem Erkenntnisgewinn verbunden. Vielmehr gilt es, den Blick auf die einschlägige Norm zu richten. 2 6 Die Antwort auf die oben aufgeworfene Frage lässt sich allein anhand des normativen Sinns des Gesetzes ermitteln, also unmittelbar aus § 302 I StPO i m Wege grammatikalischer, systematischer, historisch-genetischer und teleologischer Auslegung. 2 7

19 RGSt 57, 83; 60, 355, 356; 66, 265, 267; BGHSt 5, 183, 184; OLG Nürnberg, § 302 StPO, S. 15, 16; H.W. Schmidt NJW 65, 1210; R. Schmidt JuS 67, 158, 159.

OLGSt,

20 RGSt 57, 83. 21 Feldmann NJW 60, 210, 211 - Ein Bedürfnis, die Anfechtung solcher Prozesshandlungen zuzulassen, sei daher nicht anzuerkennen; KK-Ruß, § 302 Rn 15. 22 BGH NStZ 97, 148; Beulke, StPO, Rn 300. 23 Henkel, S.241. 24 Rogali StV 98, 643; Aufzählung bei Dencker, Willensfehler, S. 14 ff. sowie S K / S t P O Frisch, § 302 Rn 54, wobei letzterer zutreffend feststellt, dass einige dieser Argumente zu global und undifferenziert seien, Rn 55. 25 Eine solche findet man häufiger, ζ. B. bei Dencker, Willensfehler, S. 14 ff.; Schulze, S. 104 ff. 26 Dieses Erfordernis betont auch Ranft, S. 297. 27 Diese „herkömmlichen" Auslegungsregeln können nicht als selbstständige Methoden vereinzelt werden. Vielmehr erweisen sie sich i m Vorgang der Konkretisierung nicht nur als ergänzend und abstützend, sondern als jeweils schon vom Ansatz her sachlich ineinander verflochten, so F. Müller, S. 244 Rn 359, S. 248 Rn 363. Larenz spricht von leitenden Gesichtspunkten, denen unterschiedliches Gewicht zukommt. Ausgangspunkt ist stets der Wortlaut. Eröffnet dessen Auslegung mehrere Bedeutungsvarianten, so gibt das Zusammenspiel der übrigen Kriterien den Ausschlag für die Variante, welche den angemessensten Ausgleich schafft, Larenz, S. 343, 344, 345. 3 Meyer

34

Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

2. Auslegung des § 3021 StPO a) Grammatikalische

Auslegung

Ausgangspunkt und Basis jeder Gesetzesauslegung als argumentativem Auswahl· und Entscheidungsprozess ist die Ausdrucksweise des Gesetzgebers. 28 Aus der sprachlichen Fassung des Gesetzestextes ist auf den Norminhalt zu schließen. Neben dem konventionellen Wortsinn sind an dieser Stelle auch logische Elemente, namentlich der syntaktische Zusammenhang einzelner Wörter des Rechtssatzes zu beachten. 29 § 302 I StPO lautet: „ D i e Zurücknahme eines Rechtsmittels sowie der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels kann auch vor Ablauf der Frist zu seiner Einlegung wirksam erfolgen. Ein von der Staatsanwaltschaft zugunsten des Beschuldigten eingelegtes Rechtsmittel kann jedoch ohne dessen Zustimmung nicht zurückgenommen werden."

Bereits durch die Verwendung des Wortes „wirksam" werden die Folgen des Rechtsmittel Verzichts deutlich erkennbar gemacht. 3 0 Der Wortlaut sieht keinen „Schwebezustand" vor. 3 1 Willensmängel oder sogar eine freie Widerruflichkeit finden keine Erwähnung. Zwar spricht der Wortlaut von „ . . . kann . . . wirksam erfolgen . . . " , doch bezieht sich dieses „Können" auf die Dispositionsmöglichkeit des Rechtsmittelberechtigten. Eine Wahlmöglichkeit ist nur für die Entscheidung zwischen Einlegung des Rechtsmittels oder Nicht-Einlegung bzw. Verzicht oder Nicht-Verzicht vorgesehen. Das Wort „kann" lässt keine Deutung dahin gehend zu, dass dem Angeklagten eine Dispositionsbefugnis über die Wirksamkeit eines tatsächlich erfolgten Rechtsmittelverzichts eröffnet wäre. Ein (rechtssatzinterner) syntaktischer Zusammenhang, der eine andere Deutung der Wirksamkeitsfrage zuließe, ist mithin nicht feststellbar. Eine solche Deutungsmöglichkeit wird ebenso wenig durch die Verwendung des Wortes „auch" eröffnet. Dieses bezieht sich lediglich auf den zeitlichen Anwendungsbereich der Vorschrift 3 2 , also die Frage, ab und bis zu welchem Zeitpunkt ein Rechtsmittelverzicht erklärt werden kann. Es relativiert nicht die Bedeutung des

28 Vgl. Larenz, S. 322; Zippelius, S. 59 ff. 29 Zippelius, S. 45, 46; allgemeiner Larenz, S. 320 ff. 30 Rogali StV 98, 643; Eb. Schmidt ist hingegen der Ansicht, dass sich ein eindeutiger Sinn des Wortes „wirksam" im Zivilrecht wie i m Prozessrecht bisher nicht ergeben habe, L K I, Rn 210. Damit wendete sich Eb. Schmidt jedoch nur gegen die Verwendung dieser Ausdrucksweise bei der Bewertung von Bewirkungshandlungen schlechthin; Bewirkungshandlungen seien allein beachtlich oder unbeachtlich. Die Äußerung kann daher nicht als Argument gegen die hier vorgenommene grammatikalische Auslegung verstanden werden. 3 3

· So auch Roxin, StPO, § 51 Rn 28.

2 Vgl. BGHSt 25, 234, 235; AK-Achenbach, § 302 Rn 16 f.; SKI StVO-Frisch, Rn 33.

§ 302

Α. Überprüfung der methodologischen Zulässigkeit der Untersuchung

35

Wortes „wirksam" in der Weise, dass eine Verzichtserklärung bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist widerrufen werden könne, der Verzicht aber „auch" schon vorher wirksam sei, solange der Widerruf ausbleibt. Der Wortlaut des § 302 I StPO ist vielmehr eindeutig und ein klarer Beleg für die Wirksamkeit und Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts. Weiteren Aufschluss über den normativen Sinn des § 302 I StPO und eine Bestätigung der Wortlautinterpretation könnte auch die Systematik des Gesetzes gewähren.

b) Systematische Auslegung § 302 StPO ist Teil der allgemeinen Vorschriften des Rechtsmittelrechts. Aus dieser Stellung i m Gesetz lässt sich jedoch nur schließen, dass der Rechtsmittelverzicht Auswirkungen auf die Rechtskraft des Urteils haben soll, nicht aber auf dessen unbedingte Wirksamkeit. Letzteres könnte sich hingegen aus der Struktur der Norm selbst ergeben, ist doch ausschließlich die Rücknahmemöglichkeit eines bereits eingelegten Rechtsmittels geregelt, nicht jedoch die Rücknehmbarkeit von Verzicht und Rücknahme selbst. 33 Vielmehr soll auch diese wie der Verzicht unwiderruflich sein. 3 4 Aus der speziellen Regelung der Rechtsmittelrücknahme in § 302 StPO ließe sich also der systematische Umkehrschluss ziehen, dass im Übrigen eine freie Rücknehmbarkeit nicht besteht. 35 Dieser Umkehrschluss scheint durch die nur partiellen Regelungen des Widerrufs einer Prozesshandlung in der StPO gestützt zu werden. 3 6 So regelt das Gesetz die Widerruflichkeit ausdrücklich für die Zurücknahme des Strafantrags, § 77d StPO, der Anklage, §§ 153d, 156, 411 I I I StPO, der Privatklage, § 391 StPO, der Rechtsmittel, § 302 StPO, und des Einspruchs gegen den Strafbefehl, § 411 I I I StPO. 3 7 Aus dem Mangel an einer gegenteiligen Regelung folgerte bereits das RG,

33 Eine Argumentation dahin gehend, dass § 302 StPO selbst die Rücknahme der Rechtsmitteleinlegung als Prozesshandlung vorsieht und die bloße Existenz des § 302 daher nicht als Argument für die Unzulässigkeit eines Widerrufs angeführt werden kann, ginge insofern fehl. 3 4 BGH StV 2001, 556; Erfolgt die Rücknahme vor Ablauf der Rechtsmittelfrist, ist durch Auslegung zu ermitteln, ob in der Rücknahme auch ein Verzicht enthalten war oder der Berechtigte erneut ein Rechtsmittel einlegen kann, LR-Hanack, § 302 Rn 28, 29. M i t der Rücknahme vor Fristablauf ist kein automatischer Rechtsmittelverzicht verbunden; anders die h. Μ . ; ζ. B. BGHSt 10, 245, 247; OLG Karlsruhe NJW 70, 1697. Ist die Frist hingegen verstrichen, so entfaltet auch die Rücknahme prozessbeendende Wirkung und ist analog dem Verzicht zu behandeln. 35

In diesem Sinne wohl auch Roxin, StPO, § 51 Rn 26.

36

Anders, wenn die partiellen Regelungen Ausprägungen eines allgemeinen Rechtsgedankens sind. Dann bestünde ein Widerspruch zwischen systematischer und grammatikalischer Interpretation. Da beide Interpretationshilfen normtextorientiert sind, bereitet die Behandlung einer solchen Konstellation erhebliche Schwierigkeiten, vgl. F. Müller, S. 299 Rn 446. 3

3*

? K / M - G , Einl. Rn 116.

36

Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

dass zumindest prozesstragende Erklärungen unwiderruflich sind. 3 8 Diese Folgerung ist allerdings nur dann zulässig, wenn die ausdrücklich geregelten Widerrufsmöglichkeiten nicht die Ausprägung eines allgemeinen Rechtsgedanken, sondern eng auszulegende, nicht analogiefähige Sonderregelungen sind. 3 9 Dessen ungeachtet kann sich die Unwiderruflichkeit aber bereits unmittelbar aus der Natur des Rechtsmittelverzichts ergeben. 40 Allein auf dieser Grundlage lässt sich eine systematische Aussage über die Widerruflichkeit des Rechtsmittelverzichts treffen. 41 Der „öffentlich-rechtlichen Natur des Strafprozesses" 42 als solcher kommt dabei - ungeachtet der inhaltlichen Unbestimmtheit dieser Formel, die bereits aus diesem Grunde angreifbar wäre 4 3 - keine Bedeutung zu. W i l l man die Natur des Strafprozesses als öffentlich-rechtlich etikettieren, dann rechtfertigt sich dies allein aus einer wertenden Gesamtbetrachtung der Summe der Handlungen der Prozesssubjekte und der zu Grunde liegenden Verfahrensfunktion. Für die Bewertung der Natur der einzelnen Prozesshandlung als Bestandteil dieser Summe lässt sich aus der Gesamtbetrachtung nichts herleiten. Der Rechtsmittelverzicht selbst wird nun als Prozesshandlung klassifiziert 4 4 , wobei über eine genaue Begriffsdefinition der Prozesshandlung keine Einigkeit besteht 4 5 . Die h. M . versteht hierunter alle prozessual relevanten Betätigungen gleich welcher A r t 4 6 Gleichwohl werden auch andere Ansätze vertreten. So seien nach einer Auffassung nur solche Erklärungen als Prozesshandlung einzustufen, die wil38 RGSt 63, 302, 303; OLG Nürnberg, OLGSt, § 302 StPO, S. 15, 16; nicht tragende W i l lenserklärungen sind dagegen frei widerruflich, Peters, § 34 I 2. 39 Larenz weist darauf hin, dass bereits die Feststellung des Ausnahmecharakters einer Norm problematisch sei. Die Formulierung der einzelnen Rechtssätze i m Gesetz entscheide keineswegs über diese Frage. Vielmehr komme es auf die Normvorstellungen des Gesetzgebers und den Ausnahmecharakter auch der Sache nach an, S. 355, 356. 40 Urteile und urteilsähnliche Entscheidungen sind kraft Natur der Sache unwiderruflich, Beulke, StPO, Rn 300. Einzelne Vertreter der Lehre wollen den Ausschluss der freien Widerruflichkeit aus der Rechtsnatur des Rechtsmittelverzichts herleiten, u. a. Henkel, S. 241; Peters, § 34 II; Siegert, Prozesshandlungen, S. 108 ff. Ein Überblick über die i m älteren Schrifttum vertretenen Auffassungen bezüglich der Widerruflichkeit von Prozesshandlungen findet sich bei Peters, § 34 I 2. 41 Auch Rieß betont, dass eine einheitliche Beurteilung aller Prozesshandlungen insoweit nicht möglich ist, LR-Rieß, Einl. Abschn. J Rn 23.

42 Von RGSt 57, 83; 66, 265, 267; 60, 355, 356 als Argument für die Unwiderruflichkeit verwendet. 43

Dencker, Willensfehler, S. 49, sieht darin eine schlichte Leerformel, einen Argumenter-

satz. 44 LR-Hanack, § 302 Rn 6. Über die Sinnhaftigkeit eines solchen Etiketts ließe sich allerdings streiten. Laut Volk, § 15 Rn 1, braucht man den Begriff i m Strafverfahrensrecht nicht. Rieß weist darauf hin, dass Tragweite und Bedeutung des Begriffs nicht überdehnt werden sollten, LR-Rieß, Einl. Abschn. J Rn 8. 45 Ausführlicher Überblick zum Begriff der Prozesshandlung bei Grünst, S. 117 ff.; L R Rieß, Einl. Abschn. J Rn 9; Beulke, StPO, Rn 296. 4

6 K / M - G , Einl. Rn 95; Ranft, S. 295.

Α. Überprüfung der methodologischen Zulässigkeit der Untersuchung

37

lensmäßig eine Rechtsfolge i m Prozess auslösen sollen. 4 7 Derartige Differenzierungen spielen bei der Lösung konkreter prozessrechtlicher Probleme aber keine Rolle. Ob man letztlich der Definition der h. M . folgt, ist für die Frage der Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts irrelevant. Vielmehr muss nach der Funktion und Wirkungsweise der jeweils in Rede stehenden Prozesshandlung unterschieden werden. Die h. M . teilt Prozesshandlungen in die Kategorien „Erwirkungshandlung" und „Bewirkungshandlung" ein 4 8 Bewirkungshandlungen lassen die Rechtsfolge unmittelbar eintreten, während Erwirkungshandlungen darauf gerichtet sind, einen anderen Verfahrensbeteiligten - regelmäßig den Richter - zu einem bestimmten Prozessverhalten zu veranlassen 4 9 Der Rechtsmittelverzicht ist daher als Bewirkungshandlung anzusehen. 50 Doch auch an diese Differenzierung sind keine zwingenden rechtlichen Konsequenzen geknüpft. 5 1 Vielmehr muss ein weiteres Unterscheidungskriterium eingeführt werden: die Rechtskraft herbeiführende und somit prozessbeendende Wirkung des Verzichts. I m Gegensatz zu den oben genannten Prozesshandlungen, für die eine Widerrufsmöglichkeit gesetzlich vorgesehen ist, führt der Rechtsmittelverzicht aller Anfechtungsberechtigten Rechtskraft herbei. Rückt man diese unterschiedliche Wirkung in den Vordergrund, verliert der Hinweis auf die Widerrufsmöglichkeiten bei anderen Bewirkungshandlungen seine Berechtigung als Argument sowohl für als auch gegen die Widerruflichkeit des Rechtsmittel Verzichts. Die eingangs aufgeworfene Frage, ob die gesetzlich geregelten Widerrufsmöglichkeiten nicht-analogiefähige Sondervorschriften oder Verkörperungen eines allgemeinen Rechtsgedankens sind, ist daher im Hinblick auf die Auslegung des prozessbeendenden Rechtsmittelverzichts ohne Belang 5 2 , da es grundsätzlich an der Vergleichbarkeit der Konstellationen mangelt. Eine gesetzlich geregelte Widerrufsmöglichkeit für eine prozessbeendende Prozesshandlung findet sich in der StPO nicht. 5 3

47 Roxin, StPO, § 22 Rn 1. 48 Grundlegend Goldschmidt,

S. 364 ff.; Eb. Schmidt, L K I , Rn 1 9 0 - 194; Ranft, S. 295.

49 Beulte, StPO, Rn 296. so OLG Karlsruhe NJW 70, 1697, 1698; SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 5; Grünst, S. 269.

§ 302 Rn 3; KMR-Paulus,

51 LR-Rieß, Einl. Abschn. J Rn 13. 52 Dencker, Willensfehler, S. 15, kritisiert den Schluss von der prozessbeendenden Wirkung auf die Wirksamkeit als zirkulär. Die durch den Verzicht geschaffene unverrückbare Lage, die als Argument für die fehlende Vergleichbarkeit mit anderen Prozesshandlungen angeführt wird, ergebe sich erst aus der Verneinung der Widerruflichkeit. Indessen sind auch Wortlaut und Intention des Gesetzgebers auf die Wirksamkeit des Verzichts und damit auf Prozessbeendigung gerichtet. Dieser bereits vorliegende Befund der Auslegung ist auch i m Rahmen der systematischen Deutung zu beachten. Schließlich ergänzen sich die Kriterien wechselseitig. Die Berücksichtigung des bisherigen, eindeutigen Auslegungsergebnisses ist nicht zirkelhaft. 53 Ähnlich Dahrmann, S. 53 - Außer dem Rechtsmittelverzicht gebe es keine Bewirkungshandlung, die den Prozess für den Verzichtenden beendet.

38

Teil 1: Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

Gleichwohl lässt sich aus der Natur des Rechtsmittelverzichts als einer Prozesshandlung, die auf die Beendigung des Prozesses ausgerichtet ist, und dem Umkehrschluss aus der speziellen Rücknahmemöglichkeit des § 302 I StPO ein systematisches Argument für die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts gewinnen. 5 4

c) Weitere systematische Erwägungen Ein zusätzliches systematisches Argument für die Unwiderruflichkeit des Verzichts ergibt sich aus § 267 I V StPO. Dieser eröffnet dem Gericht die Möglichkeit eines abgekürzten Urteils, soweit die Rechtskraft durch den Rechtsmittelverzicht aller Rechtsmittelberechtigten oder das Verstreichen lassen der Rechtsmittelfrist eintritt. Der Ablauf der Rechtsmittelfrist erzeugt materielle und formelle Rechtskraft. Die Rechtsmittelbefugnis erlischt unwiederbringlich. Die Gleichsetzung des Fristablaufs mit dem Rechtsmittelverzicht in § 267 I V StPO impliziert, dass beide dieselbe Rechtswirkung hervorrufen sollen. 5 5 Der Rechtsmittelverzicht muss nach dieser Maßgabe somit als unwiderruflich gelten. Die gesetzliche Einräumung einer Möglichkeit, das Urteil arbeitsökonomisch abzukürzen, macht auch nur dann Sinn, wenn das Gericht nach der Verzichtserklärung nicht mehr mit einem Widerruf rechnen muss. Dass der Rechtsmittelverzicht ebenso endgültig wirken soll wie der Fristablauf, lässt sich auch der Regelung des § 450 StPO entnehmen. Unbesehen der Tatsache, dass § 450 StPO durch § 51 StGB obsolet wurde, wird in dieser Vorschrift die Anrechnung von Untersuchungshaft und Führerscheinentziehung auf eine zu vollstreckende Freiheitsstrafe bzw. auf ein Fahrverbot gem. § 44 StGB angeordnet, die der Angeklagte nach der Erklärung eines Rechtsmittelverzichts oder nach Ablauf der Rechtsmittelfrist erlitten hat. Auch i m Rahmen dieser Norm werden der passive und der aktive Verzicht auf Rechtsmittel - in Bezug auf die ausgelöste Rechtsfolge - gleichgestellt. Die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts lässt sich daher auch auf die Systematik des Gesetzes stützen.

d) Historisch-genetische

Auslegung

Bei der Norminterpretation sind auch Vorläufernormen (historische Auslegung) und Gesetzgebungsmaterialien (genetische Auslegung) heranzuziehen. 56 Die geschichtliche Entwicklung kann an dieser Stelle als weiteres Argument für die Wirksamkeit trotz Willensmangels ins Feld geführt werden. Ging das frühere Par54 Auch die Rechtsmittelrücknahme in § 302 I StPO ermöglicht nur den Widerruf einer Prozesserklärung, die den Fortgang des Verfahrens zum Inhalt hat.

55 SarstedtIHamm,

S. 62 Rn 130.

56 Grammatikalische und systematische Auslegung gehen diesen nicht normtextorientierten Elementen grundsätzlich vor, vgl. F. Müller, S. 295 Rn 440.

Α. Überprüfung der methodologischen Zulässigkeit der Untersuchung

39

tikularrecht teilweise sogar ausdrücklich von einer freien Widerruflichkeit aus 5 7 , hat der (RStPO-)Gesetzgeber (von 1877) bei der endgültigen Fassung der StPO auf die freie Widerruflichkeit verzichtet. Die Motive zu § 288 (nunmehr § 302) StPO lassen erkennen, dass der Rechtsmittelverzicht die gleiche Wirkung wie der Ablauf der Rechtsmittelfrist haben sollte. 5 8 Zwar ist der rein subjektive (historische) gesetzgeberische W i l l e 5 9 grundsätzlich unbeachtlich, doch wächst ihm Bedeutung zu, wenn er sich objektiv in der Norm manifestiert hat. 6 0 In § 302 StPO ist als Ausdruck dieser gesetzgeberischen Intention der Terminus „wirksam" verwendet worden, so dass von einer grundsätzlichen Bindung auszugehen ist. Auflockerungen, die der Diskussionsentwurf zum Rechtsmittelgesetz von 1975 vorsah 6 1 , hat der Gesetzgeber bewusst nicht vorgenommen.

e) Teleologische Auslegung Die teleologische Auslegung darf nicht als besondere Auslegungsmethode neben den zuvor genannten Elementen verstanden werden. Vielmehr ist die Zweckgebundenheit ein durchgängiges Strukturprinzip des Rechts. 6 2 Der Zweck einer Norm lässt sich nicht unabhängig von den zuvor geprüften Elementen bestimmen, so dass grammatikalische, systematische und historisch-genetische Auslegung nichts anderes als Aspekte der teleologischen Auslegung sind 6 3 Die bisherige Auslegung hat ergeben, dass der Rechtsmittelverzicht die gleiche, endgültige Wirkung wie der Fristablauf haben und dadurch zum unwiederbringlichen Verlust der Rechtsmittelbefugnis führen soll. Dieser Zweck wird am effektivsten verwirklicht, wenn der einmal erfolgte Verzicht stets wirksam und unwiderruflich ist. Auch die teleologische - objektiv sachgerechte - Auslegung spricht somit gegen eine Widerruflichkeit. Die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts ergibt sich also bereits unmittelbar aus § 302 I StPO. 6 4 Über die Spezifika des geregelten Sachbereichs hinaus müssen i m Rahmen der teleologischen Auslegung aber zugleich rechtsethische Prinzipien stets berücksichtigt werden. 6 5 Eine Norm ist nach Möglichkeit - also i m Rahmen des möglichen 57

Vergleiche Ausführungen bei Dencker, Willensfehler, S. 14.

58

Motive zu dem Entwurf einer Deutschen Strafprozeßordnung, 1872, S. 212.

59 Kritisch zur Konkretisierung dieses Begriffes, Larenz, S. 318, 319, 328, 329; ähnlich F. Müller, S. 298 Rn 443, der den Willen des Gesetzgebers als Chimäre bezeichnet.

60 Larenz, S. 328, 329. 61 DER, S. 69, 70, 71. 62 E. Stein, S. 14; Der „teleologischen Auslegung" komme daher nur Hilfsfunktion bei der Konkretisierung der übrigen Elemente zu, F. Müller, S. 248 Rn 363, 364. 63 E. Stein, S. 14. 64 Es trifft daher nicht zu, dass das Gesetz keine Erklärung für Unanfechtbarkeit und Unwiderruflichkeit gibt, wie von Landau ! Eschelbach, NJW 99, 321, 323, behauptet. 65 Larenz spricht insofern von objektiv-teleologischen Kriterien, S. 333.

40

Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

Wortsinns und des Bedeutungszusammenhangs - so auszulegen, dass sie nicht in einen logischen Widerspruch zu höherrangigen Grundsätzen t r i t t 6 6 , deren Verwirklichung bei der Schaffung jeder Rechtsnorm zu sichern ist. 6 7 Kommt den einschlägigen Prinzipien Verfassungsrang zu, handelt es sich um einen Unterfall der verfassungskonformen Auslegung 6 8 Zu diesen Rechtsprinzipien mit Verfassungsrang zählt auch der Gedanke der materiellen Gerechtigkeit 6 9 , der in den bisher von der Rspr. anerkannten Fällen beachtlicher Willensmängel die rechtliche Grundlage bildete, wenn eine Ausnahme von der grundsätzlichen Wirksamkeit des Verzichts gewährt wurde 7 0 .

f) Verfassungskonforme

Auslegung

Die verfassungskonforme Auslegung kommt zum Zuge, wenn der Wortlaut einer einfach-gesetzlichen Norm verfassungsrechtlich bedenklich ist. I m Wege der verfassungskonformen Auslegung ist die Norm auf den Inhalt zu begrenzen, der verfassungsrechtlich unbedenklich ist. 7 1 In diesem Rahmen ist die konkrete Norm gültig. Verfassungskonformität wird auf diese Weise zum Auslegungskriterium. 7 2 Vorliegend wäre also eine Auslegung zu wählen, bei der das Verfassungsprinzip der materiellen Gerechtigkeit hinreichend verwirklicht w i r d . 7 3 In der von § 302 StPO geregelten Konstellation kollidiert der allgemeine Gerechtigkeitsgedanke jedoch mit dem Gedanken der Rechtssicherheit als einem anderen rechtsethischen Prinzip mit Verfassungsrang 74 , so dass das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit von vornherein

66

Zippelius, S. 53.

67

Zippelius, S. 54, 55 - Die Gesetzesauslegung muss sich in den rechtsethischen Kontext einfügen. Z u m rechtsethischen Kontext gehören insbesondere allgemeine Rechtsprinzipien. 68 Die Verfassungsprinzipien sind auch bei der Auslegung einfachen Rechts zu berücksichtigen, Bydlinski, S. 455. 69 BVerfGE 3, 225, 232; 7, 194, 196; 15, 313, 319; 74, 129, 152. Das BVerfG leitet sowohl den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit als auch den Grundsatz der Rechtssicherheit aus dem Rechtsstaatsprinzip ab; Bleckmann, Rn 651; v. Münch, Rn 443. 70 Gleichwohl ist die materiale Grundlage der gewährten Ausnahmen nicht unstreitig, siehe Ausführungen bei Frisch, S K / S t P O , § 302 Rn 25. So werden auch eine Anlehnung an § 123 B G B und § 136a StPO in analoger Anwendung als Grundlage angesehen. 7

1 E. Stein, S. 71.

72 F. Müller, S. 254 Rn 377. 73 Bydlinski weist allerdings darauf hin, dass der Grundsatz der Gerechtigkeit unmittelbar kaum als Auslegungskriterium geeignet ist. Die verfassungskonforme Auslegung setze eine bestimmte Verfassungsnorm mit einem unmittelbar feststellbaren Inhalt voraus, S. 456. 74

BVerfG NJW 97, 929, 930, 931; Bydlinski, S. 486. Radbruch, S. 168 f.; Sobota, S. 154; kritisch M/D-Herzog, Art 20 V I I . Abschnitt Rn 61 - Bereits die Zugehörigkeit der Rechtssicherheit zur Verfassungsebene erscheine fraglich. In jedem Fall bestehe dann aber Gleichwertigkeit mit der „Einzelfallgerechtigkeit".

Α. Überprüfung der methodologischen Zulässigkeit der Untersuchung

41

keine unbeschränkte Berücksichtigung finden kann. 7 5 Zwar gebührt keinem der beiden kollidierenden Prinzipien grundsätzlich der Vorrang, vielmehr sind widerstreitende Prinzipien grundsätzlich zu einem schonenden Ausgleich zu bringen 7 6 , doch darf die verfassungskonforme Auslegung den Zweck des Gesetzes und die Intention des Gesetzgebers nicht unbeachtet lassen 77 . I m Widerstreit zwischen der Rechtssicherheit mit der Gerechtigkeit ist es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers, sich für die eine oder die andere Seite zu entscheiden. 78 Die Anwendung der vorgenannten Auslegungskriterien auf § 302 I StPO hat gezeigt, dass Wortlaut, Bedeutungszusammenhang, Zweck und historischer Wille unbedingte Wirksamkeit und damit ein Maximum an Rechtssicherheit fordern. Andererseits kann es Fälle geben, bei denen es nach der Art des Zustandekommens des Verzichts oder gewisser Mängel der Willensbildung auch unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Rechtssicherheit nicht gerechtfertigt erscheint, den Erklärenden an seiner Erklärung festzuhalten. 79 Eine Berücksichtigung dieser Fälle im Wege der Auslegung ist aber durch die eindeutige Fassung der Norm versperrt. Der mögliche Wortsinn ist nicht nur Ausgangsbasis, sondern auch Grenze der Auslegung. 8 0 Ist der Wortlaut eindeutig, scheidet die Möglichkeit einer über den Wortlaut hinausgehenden verfassungskonformen Auslegung aus. 8 1 Die gesetzgeberische Entscheidung ist verbindlich und die Berücksichtigung von Gerechtigkeitserwägungen bei der Gesetzesinterpretation somit vorentschieden.

g) Zwischenergebnis Der erklärte Rechtsmittelverzicht ist stets wirksam. Die Auslegung des § 302 StPO bestätigt damit eine wesentliche Grundannahme der Untersuchung. Das Ergebnis der Auslegung fördert allerdings auch eine weitere bedeutsame Erkenntnis zu Tage: Die Gewährung etwaiger Ausnahmen von der Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts, wie es der Untersuchungsansatz beim Vorliegen eines beachtlichen Willensmangels vorsieht, lässt sich i m Wege der Auslegung nicht realisieren.

75 Rechtssicherheit und Gerechtigkeit können sich in gewissem Umfang gegenseitig einschränken, Sobota, S. 178. 76

Bei Bestehen eines solchen Zielkonflikts gilt grundsätzlich ein Optimierungsgebot, Zippelius, S. 60, es sei denn, dies widerspricht eindeutig den erkennbaren Ziel Vorstellungen des Gesetzgebers, Zippelius, S. 62. 77

Larenz, S. 340.

78

v. Münch , Rn 443.

79

SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 55.

80 Und zwar eine rechtliche; methodisch ließe sich ein Ergebnis erzielen, das nicht mehr vom möglichen Wortsinn gedeckt ist, denn methodische Regeln haben keinen normativen Rang, F. Müller, S. 221 Rn 311; den möglichen Wortsinn als Auslegungsgrenze bestätigend BVerfGEli, 108, 115; 87, 209, 224. 8

1 Hesse, Rn 77; E. Stein, S. 72.

42

Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, soweit der Regelungsinhalt der Norm nicht gegen das Willkürverbot verstößt. 82 Die ausschließliche Belastung des Angeklagten mit den Folgen von Willensmängeln, auch schwerwiegenden, insbesondere von staatlichen Organen verursachten, erscheint jedoch willkürlich, denn das gegenseitige Gewicht der Interessen wird trotz des breiten Beurteilungsspielraums des Gesetzgebers evident verfehlt, wenn die Rechtssicherheit auch in derartigen Ausnahmefällen stets vorrangig sein soll. 8 3 Daraus darf nun aber nicht auf einen zur Verfassungswidrigkeit der Norm führenden Verstoß gegen Verfassungsrecht geschlossen werden. Der äußerste denkbare Wortsinn markiert nicht nur die Grenze der Auslegung, sondern auch die Grenze zur Rechtsfortbildung. 84 Das Gebot materieller Gerechtigkeit ist daher i m Wege verfassungskonformer, das Gesetz ergänzender oder umbildender Rechtsfortbildung zu verwirklichen. 8 5

3. Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung Richterliche Rechtsfortbildung ist allerdings nicht unbegrenzt legitim. Sie erfolgt zwar extra legem, aber intra ius, also i m Rahmen der Gesamtrechtsordnung und der ihr zu Grunde liegenden Rechtsprinzipien 86 . Grenzen einer Rechtsfortbildung bilden z. B. das Analogieverbot und der Gewaltenteilungsgrundsatz. 87 Lässt ein Gesetz eine planwidrige Wertungslücke, so kann der Richter diese durch produktive Kritik feststellen und ausfüllen. 88 Dabei hat er sich an den konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen 89 zu orientieren, da der eigentlich legitimierende Grund für die Rechtsfortbildung in der Gerechtigkeitsfunktion des Rechts l i e g t 9 0 . Zwar unterwirft Art. 97 I GG den Richter „nur dem Gesetz", doch bindet Art. 20 I I I GG die Gerichte neben dem „Gesetz" 9 1 auch an das „Recht", «2 BVerfGE

25, 269, 290 f. - Erst dann dürfe das BVerfG eingreifen.

«3 Z u m Maßstab vgl. Bleckmann, Rn 588, 593. 84 Larenz, S. 323; Die Rechtsfortbildung dient als Konkretisierung der Verfassung, E. Stein, S. 72. 85 Als Ergänzungsrecht ist Richterrecht nicht nur legitim, sondern auch unentbehrlich, Ossenbühl D Ö V 72, 25, 34; Der Gedanke der Gerechtigkeit fungiert somit auch als Prüfstein für die Ergänzungsbedürftigkeit, Zippelius, S. 11; kritisch F. Müller, S. 121, 122 - Die Gerechtigkeitsvorstellungen seien in einer pluralistischen Gesellschaft nicht hinreichend homogen. Die Gerechtigkeit tauge nicht als Lückenfüller für juristische Methodik. 86 Larenz, S. 414. 87 Larenz, S. 427. 88 Zippelius, S. 84. 89 Zippelius, S. 16. 90 Zippelius, S. 84, 85. 91 M/D-Herzog, Art. 20 V I . Abschnitt Rn 49 ff.: Gesetz i. S. d. Art 20 I I I GG sind das förmliche Gesetz, sonstiges geschriebenes Recht sowie Gewohnheitsrecht.

Α. Überprüfung der methodologischen Zulässigkeit der Untersuchung

43

sog. Dichotomie von Gesetz und Recht 9 2 . „Recht" ist Ausdruck eines allgemeinen, überpositiven Gerechtigkeitsgedankens und umfasst die Gesamtheit der allgemeinen fundamentalen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft 93 . Das GG bekennt sich dadurch ausdrücklich zu überpositiven Rechtsgrundsätzen und verpflichtet das gesamte Staatshandeln auf das Ziel materieller Gerechtigkeit als Rechtsprinzip. 94 Recht und Gesetz stehen grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander. 95 Gewisse Widersprüche erscheinen aber unlösbar 9 6 , so dass i m Widerspruch zur Gerechtigkeit stehendes positives Recht erst dann als unrichtiges Recht weichen muss, wenn es elementaren Grundsätzen der Gerechtigkeit widerspricht 9 7 . In der Situation des § 302 StPO kollidieren, wie bereits ausgeführt, der allgemeine Gerechtigkeitsgedanke mit dem Gedanken der Rechtssicherheit. 98 U m dem Konkretisierungsprimat des Gesetzgebers Rechnung zu tragen, ist das Spannungsverhältnis so weit zu Gunsten der gesetzgeberischen Intention aufzulösen, wie dies verfassungsrechtlich zulässig erscheint. Dies gebietet der Grundsatz der Gewaltenteilung als Grenze zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung. Die Autorität des Gesetzgebers ist zu wahren. 9 9 Mithin ist ein erhebliches Maß an Ungerechtigkeit i m Interesse von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit hinzunehmen, doch verliert dieser Gedanke ab einem gewissen Ausmaß seine Tragfähigkeit. Rechtsicherheit würde dann materiell zur Unrechtssicherheit. 100 Eine Norm, die selbst bei eklatanten Verstößen gegen allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen daraus resultierenden Willensmängeln die Beachtlichkeit versagt, muss demnach korrigiert werden. 1 0 1 Die Berücksichtigung 92 Das BVerfG sieht in Art. 20 I I I GG die verfassungsrechtliche Grundlage der Rechtsfortbildung, BVerfGE 34, 269, 286, 287, 288 - „ D i e Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch i m allgemeinen, aber nicht notwendig immer decken". 93

Dreier-Schulze-Fielitz,

Art. 20 (Rechtsstaat) Rn 85.

94

Dreier-Schulze-Fielitz,

Art. 20 (Rechtsstaat) Rn 48.

95 M/D-Herzog, Art 20 V I . Abschnitt Rn 53. Die sog. Hauptprinzipien stehen nebeneinander und sind gleichrangig anwendbar, Reimer, S. 295. 9

6 So auch Μ/D-Herzog,

97

Art 20 V I . Abschnitt Rn 54.

Dies entspricht im wesentlichen der Radbruch-Formel, Radbruch, S. 353. 98

Rechtsphilosophie,

Siehe oben A.II.2.0.

99

Die Gerichte würden ansonsten die Funktionenteilung des Staates negieren. Bei der Steuerung sozialer Prozesse kommt dem Gesetzgeber ein zu respektierendes Regelungsermessen zu, Zippelius, S. 49, 50. 100 So Bydlinski, S. 351. 101

So ausdrücklich für erhebliche Willensmängel beim Rechtsmittel verzieht BGH wistra 94, 30 m. w. N.; ähnlich Dahrmann, S. 53 - Eine Bindung an den Verzicht unter allen Umständen verfehle das prozessuale Ziel der Erfüllung der Rechtsschutzpflicht. M i t h i n müsse auch das Zustandekommen der Erklärung und deren Basis gewissen Mindestanforderungen entsprechen. Eine positive Umschreibung scheitere allein an den praktischen Schwierigkeiten, SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 21.

44

Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

von Rechtssouveränität und Sicherheit des Rechts können einen solchen Willensmangel nicht aufwiegen. Rechtssouveränität darf nicht Selbstzweck werden. Würde man die Rechtssicherheit gänzlich vom Prinzip der materiellen Gerechtigkeit abkoppeln, entzöge sie sich selbst ihren Geltungsanspruch. 102 In äußersten Fällen muss daher die Möglichkeit gegeben sein, den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit höher zu bewerten als den der Rechtssicherheit, wie er in der Geltung des positiven Gesetzes zum Ausdruck k o m m t . 1 0 3 Soll ein Fundamentalprinzip wie die Gerechtigkeit nicht allein zur Legitimation gesetzgeberischer Tätigkeit dienen, sondern wie i m vorliegenden Fall als unmittelbar wirkender Rechtsgrundsatz - nämlich als rechtliche Grundlage für den Ausnahmevorbehalt - , so kann dies nur funktionieren, wenn man diesen Rechtsgrundsatz hinreichend konkretisieren und nachprüfbar machen k a n n . 1 0 4 Methodologisch bedient man sich dazu vor allem der sog. „Ähnlichkeitsprüfung". 1 0 5 Gemeint ist damit, dass die einem bereits gesetzlich geregelten Fall zu Grunde liegende Wertung auch den nicht geregelten Fall erfassen m u s s . 1 0 6 Eine mit dieser gesetzlichen Werttendenz übereinstimmende Rechtsfortbildung wäre dann zulässig. 1 0 7 Durch die Institute der Wiederaufnahme des Verfahrens, § 359 StPO, und der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, § 44 StPO, hat der Gesetzgeber den Gedanken der materiellen Gerechtigkeit in der StPO konkretisiert. 1 0 8 Sowohl § 44 102 Der Staat erstrebt, durch den Justizgewährungsanspruch das wahre Recht zu verwirklichen, KMR-Sax, Einl. X Rn 9. M i t diesem Zweck geriete die Bindungswirkung des Verzichts bei unzumutbarer Härte in Widerspruch, Dahrmann, S. 51. Dieser Widerspruch könne nur in erträglicher Weise gelöst werden, wenn Willensmängeln bei der Erklärung nicht von vornherein jede Wirkung abgesprochen wird, S. 55.

103 So fast wörtlich BVerfGE 3, 225, 232. Die Formulierung des BGH in BGHSt 17, 14, 18 ist ersichtlich daran angelehnt. Dies verkennt Grünst, S. 329, 330, die materielle Gerechtigkeit allein i m Sinne von materieller Wahrheit versteht. Versteht man Gerechtigkeit aber als prozessuale Gerechtigkeit, so trägt dieser Begriff der Gerechtigkeit nach Auffassung von Grünst schon die Beschränkung durch die Rechtssicherheit in sich. Dies ist, wie zuvor nachgewiesen werden konnte, aber gerade nicht der Fall. Gusy, StV 2002, 153, 154, betont ausdrücklich, dass ein rechtsstaatliches Verfahren ein Grundelement der Gerechtigkeit ist. Rechtssicherheit und Gerechtigkeit - auch die lediglich prozessual verstandene! - stehen stets in einem Spannungsverhältnis. 104 Bydlinski, S. 490. Dreier-Schulze-Fielitz, Art 20 (Rechtsstaat) Rn 85, gibt zu Bedenken, dass die Verpflichtung auf das Prinzip der Gerechtigkeit keine Ermächtigung zur gesetzesunabhängigen Rechtsanwendung ist, sondern primär Aufruf zur verfassungskonformen Auslegung und Erwirkung verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Auch die richterliche Rechtsfortbildung muss sich daher in den Schranken der positiven Gesetze bewegen. 105 Bydlinski,

S. 485.

106 Bydlinski,

S. 485.

107 Bydlinski, S. 485. 108 Waßmer Jura 2002, 454; Frisch orientiert seine Lösung für die Rechtsmittelrücknahme „an dem den Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit beispielhaft lösenden Gewicht der Wiederaufnahmegründe", SK/StPO-Fn'jr/z, § 302 Rn 32. Er legt damit einen strengeren Maßstab an als beim Rechtsmittelverzicht. Frisch rechtfertigt dies mit der stärkeren Beeinträchtigung der Rechtssicherheit bei unwirksamer Rücknahme. Trotz unwirksamen

Α. Überprüfung der methodologischen Zulässigkeit der Untersuchung

45

StPO als auch § 359 StPO eröffnet die Möglichkeit, einen Zielkonflikt zwischen den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit durch die Durchbrechung der Rechtskraft zu lösen. 1 0 9 Allerdings wird auch bei diesen Instituten die Beständigkeit als Regel und die Beschränkung zugunsten der Gerechtigkeit als Ausnahme belassen. 110 Den Tatbeständen ist indiziell zu entnehmen, ab welcher Intensität eines Verstoßes der Gesetzgeber elementare Grundsätze der Gerechtigkeit gefährdet sieht und ihnen daher ausnahmsweise den Vorrang gegenüber der Rechtssicherheit einräumt. 1 1 1 Sie enthalten vertypte Fälle der materiellen Gerechtigkeit. 1 1 2 Ihr Anwendungsbereich beschränkt sich i m Interesse der Rechtssicherheit allerdings auf solche Fälle, in denen die Fehlerhaftigkeit des Urteils ein unerträgliches Maß erreicht. 1 1 3 Der Ausgleich zwischen den vorliegend kollidierenden rechtsethischen Prinzipien kann an diese partiell geregelten „ähnlichen" Fälle der §§ 44, 359 StPO angelehnt werden. Die Ähnlichkeitsprüfung belegt somit die Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung zur Gewährung von Ausnahmen von der grundsätzlichen Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts und bestätigt damit zugleich die zweite wesentliche Grundannahme, auf welcher der vorliegende Untersuchungsansatz aufbaut.

4. Ergebnis Die Auslegung des § 302 I StPO hat ergeben, dass der Rechtsmittelverzicht grundsätzlich wirksam ist. Ausnahmen von diesem Grundsatz können jedoch i m Wege richterlicher Rechtsfortbildung gewährt werden, wenn andernfalls elementare Grundsätze der Gerechtigkeit gefährdet würden. Dies entspricht der heute herrschenden Auffassung zur Behandlung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverz i c h t . 1 1 4 Die h. M . hat eine i m Gesetz konkretisierte Auflösung des SpannungsverVerzichts tritt nach Fristablauf Rechtskraft ein, dies gilt für die Rücknahme nicht, denn das Verfahren bliebe in der Rechtsmittelinstanz anhängig. 109 K / M - G , Vorbem. § 359 Rn 1; L R -Wendisch, § 46 Rn 11. Die genannten Vorschriften beeinträchtigen mithin die Rechtssicherheit, und zwar in einer vom Gesetzgeber intendierten Weise. no KK-Schmidt, Vorbem. § 359 Rn 4. i n KK-Schmidt, § 359 Rn 5; Schulze, S. 159, 167. 112 KK-Schmidt,

Vor § 359 Rn 5 ; KK-Maul, § 44 Rn 1; Dahrmann,

113

S. 62.

KK-Schmidt, Vor § 359 Rn 5. Für die Wiedereinsetzung wohl großzügiger BVerfG NJW 91, 351 sowie KK-Maul, § 44 Rn 1. Das Institut der Wiedereinsetzung sei Ausfluss der Billigkeit als Ausgleich für die formale Strenge i m Prozessrecht, Schulze, S. 169. Schulze sieht einen Unterschied zwischen Wiederaufnahme und Wiedereinsetzung darin, dass § 359 die materielle Gerechtigkeit (Richtigkeit des Urteils) und § 44 die prozessuale Gerechtigkeit verwirklicht, S. 171, 172. 114 Vgl. LR-Hanack, § 302 Rn 46, 47, 49 ff. m. w. N.

Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

46

hältnisses zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit in methodisch zulässiger Weise i m Wege der Rechtsfortbildung für den Rechtsmittelverzicht übernommen. Das eigentliche Problem dieser herrschenden Auffassung liegt nun darin, den Begriff der materiellen Gerechtigkeit als unbestimmtes Richtmaß und Optimierungsgebot handhabbar zu machen. 1 1 5 Die Gerichte, welchen es als Rechtsanwendern obliegt, den allgemeinen Rechtsgrundsatz im Rechtsalltag zu konkretisieren und die Fälle herauszuarbeiten, in denen ein Verstoß gegen die materielle Gerechtigkeit vorliegt, sind ihrer Verpflichtung bisher nicht hinreichend nachgek o m m e n 1 1 6 . Ein Ansatz zur Konkretisierung soll mit der vorliegenden Untersuchung aufgezeigt werden. Dieser Ansatz beruht auf der Erwägung, dass Rechtssouveränität und Sicherheit des Rechts einen Willensmangel dann nicht mehr aufwiegen können, wenn der Angeklagte durch das Festhalten an der Unbeachtlichkeit des Willensmangels zu einem bloßen Verfahrensobjekt herabgesetzt würde. Es widerspräche daher elementaren Grundsätzen der materiellen Gerechtigkeit, dem Angeklagten die Folgen eines Willensmangels aufzubürden, dessen Entstehung nicht in seinen Verantwortungsbereich f ä l l t . 1 1 7 Die nach erfolgtem Nachweis der methodologischen Zulässigkeit des Untersuchungsansatzes nunmehr vorzunehmende Verantwortungsabschichtung gewährt somit Aufschluss darüber, wann ein Rechtsmittelverzicht i m Wege richterlicher Rechtsfortbildung als unwirksam zu behandeln ist. Zuvor bedarf es allerdings noch der Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes.

B. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes I. Bedeutung und Erforderlichkeit einer Eingrenzung Der Rechtsmittelverzicht wird als Prozesshandlung klassifiziert. Die Schwierigkeiten, die der Versuch einer Begriffsdefinition auf Grund der Vielgestaltigkeit von Wirkung und Inhalt der prozessualen Betätigungen bereitet 1 1 8 , wirken sich praktisch nicht aus, da die Voraussetzungen einer wirksamen Prozesshandlung unabhängig von der Begriffsdefinition klar umrissen s i n d 1 1 9 . Erforderlich sind Verhand-

115 Zippelius, S. 17. Unmittelbar in Bezug auf § 302 StPO gibt auch Frisch zu bedenken, dass der Hinweis auf Gebote der Gerechtigkeit zu unspezifisch sei, S K / S t P O , § 302 Rn 26, ähnlich KMR-Sax, Einl. X Rn 29. 116

So schon oben Einleitung.

117

Ähnlich KMR-Sax, Einl. X Rn 29, 30, der eine Konkretisierung des Gerechtigkeitsbegriffs durch Ausrichtung an fassbaren Leitgesichtspunkten für möglich hält. Als Leitgesichtspunkte benennt er die Beherrschung bestimmter Bereiche des prozessualen Geschehens sowie die Sphäre, aus welcher der willensbeeinträchtigende Einfluss stammt. us Vgl. oben A.II.2.b). 119 Beulke, StPO, Rn 296.

Β. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

47

lungsfähigkeit, zulässiger zeitlicher Anwendungsbereich, korrekte Form, Zugang, Eindeutigkeit und Bestimmtheit. Mängel in diesem Bereich sind nicht Gegenstand der Untersuchung. Sie führen unabhängig von etwaigen Willensmängeln unmittelbar zur Unwirksamkeit der Prozesshandlung. Es fehlt in einem solchen Fall somit schon an einem tauglichen Untersuchungsgegenstand, denn die vorliegende Arbeit befasst sich ausschließlich mit der Behandlung von Willensmängeln beim eindeutigen, bestimmten, formgerechten Verzicht eines verhandlungsfähigen Angeklagten. Dies impliziert, dass nur eine solche Verzichtserklärung Gegenstand der Untersuchung sein kann, welche die allgemeinen Voraussetzungen erfüllt, die an das Vorliegen einer Prozesshandlung gestellt werden. 1 2 0 I m Folgenden gilt es daher, diese Voraussetzungen in Kürze darzustellen, um die Verzichtserklärungen, die Mängel in diesem Bereich aufweisen, von denen unterscheiden zu können, die den Gegenstand der Untersuchung ausmachen.

I I . Die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Prozesshandlung 1. Verhandlungsfähigkeit Zunächst einmal muss der Angeklagte als derjenige, der eine wirksame Prozesserklärung, den Rechtsmittel verzieht, abgeben will, überhaupt verhandlungsfähig sein. Verhandlungsfähig im Sinne des Strafverfahrensrechts ist, wer seine Interessen vernünftig wahrnehmen, sich verständig und verständlich verteidigen sowie Prozesserklärungen abgeben und entgegennehmen k a n n . 1 2 1 Der Angeklagte muss sich deshalb zum Zeitpunkt der relevanten Erklärung in einem solchen Zustand geistiger Klarheit und Freiheit befinden, so dass mit ihm strafrechtlich verhandelt werden kann. Er muss insbesondere in der Lage sein, die Bedeutung der abgegebenen Prozesserklärung zu erkennen. 1 2 2 Ausgeschlossen ist diese Fähigkeit meist nur bei schweren körperlichen und seelischen M ä n g e l n . 1 2 3 Ob ein derartiger Fall vorliegt, ist i m Freibeweisverfahren von Amts wegen zu k l ä r e n . 1 2 4 Der Grundsatz „ i n dubio pro reo" gilt hier n i c h t . 1 2 5 •20 Vgl. SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 21. Frisch weist darauf hin, dass hinsichtlich des Zustandekommens keine positiven Wirksamkeitsvoraussetzungen existieren, was er dem Umstand zuschreibt, dass es leichter sei, Unwirksamkeitstatbestände zu umschreiben als positive Wirksamkeitsvoraussetzungen. Es gehe dabei aber der Sache nach um Sachverhalte, bei denen der Verzichtswille vorhanden gewesen und klar zum Ausdruck gekommen sei. 121 SK / StPO-Frisch,

§ 302 Rn 14.

122 KK-Ruß, § 302 Rn 2. Die Steuerungsfähigkeit gem. §§ 20, 21 StGB bemisst sich allerdings nach anderen Grundsätzen, BGH NStZ-RR 2002, 101, 102. 123 BGH wistra 94, 197. 124 BGH NStZ-RR 2002, 101, 102; KK-Ruß, § 302 Rn 2. 125 K / M - G , § 261 Rn 34; BGH NStZ 88,213.

48

Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

Besondere Aufmerksamkeit ist dabei z. B. beim Rechtsmittelverzicht eines Jugendlichen geboten, wenn diesem mit Rücksicht auf seine geistige Entwicklung die genügende Einsicht in die Bedeutung und Tragweite seines Verhaltens f e h l t . 1 2 6 Bei der Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit sind auch Schockzustände und starke Erregung zu berücksichtigen. Die erste Schockwirkung nach einem Urteil oder die Erregung über die Höhe der Strafe beeinträchtigen die Verhandlungsfähigkeit aber regelmäßig n i c h t . 1 2 7 Sie führen allenfalls zu einem Willensmangel. 1 2 8 Zivilrechtliche Geschäftsfähigkeit ist nicht erforderlich. 1 2 9 Die in §§ 104 ff. BGB geregelte fehlende Geschäftsfähigkeit begründet zwar eine besondere Schutzbedürftigkeit und Fürsorgepflicht, doch betrifft dies den Privatrechtsverkehr. Die Übertragbarkeit dieses Grundsatzes als allgemeine Regel auf den Strafprozess begegnet daher berechtigten Zweifeln. Den Erfordernissen des Strafverfahrensrechts genügt die Prozesshandlungsfähigkeit als eigenständige Voraussetzung. Die Geschäftsfähigkeit hat in der StPO keine Bedeutung. Dass diese Begriffe vor allem nicht synonym sind, ergibt sich bereits aus der eigenen Rechtsmittelbefugnis des gesetzlichen Vertreters in § 298 StPO. Die Rechtsmittelbefugnis des Verurteilten wird daneben als selbstverständlich bestehend vorausgesetzt. Das Gesetz geht mithin selbst davon aus, dass der Angeklagte trotz fehlender Geschäftsfähigkeit dennoch in der Lage sein kann, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen. 1 3 0

2. Zeitlicher Anwendungsbereich Eine weitere Voraussetzung ist, dass der Rechtsmittelverzicht in einem zulässigen Zeitpunkt erklärt wurde. Der Zeitraum, in dem ein Rechtsmittelverzicht erfol126 OLG Düsseldorf JZ 85, 960 - I m entschiedenen Fall lag ein solcher Ausnahmefall aber nicht vor. 127 Schock und Erregung sind unbeachtlich, HK/StPO-Rautenberg, StPO, § 5 1 Rn 26.

§ 302 Rn 5; Roxin,

128 Ein Inhaltsirrtum läge vor, wenn der Angeklagte infolge seiner Erregung nicht wusste, dass seine Erklärung objektiv als Rechtsmittel verzieht verstanden wird und zum Verlust der Rechtsmittelbefugnis führt. Einem Motivirrtum unterliegt der Angeklagte, wenn er Sinn und Nutzen eines Rechtsmittels infolge des Schocks falsch einschätzt. Ein solcher lag BGH NStZ 97, 148 zu Grunde - Der verteidigte Angeklagte behauptete, sich der Tragweite der Entscheidung nicht bewusst gewesen zu sein. Er habe sich in einem Schockzustand befunden und nur auf Grund einer unkontrollierten Gefühlsregung den Verzicht erklärt. Zur Verantwortungsverteilung bei Inhalts- und Motivirrtümern siehe Teil 2 B.I., IV.

' 2 9 RGSt 64, 14; K / M - G , Einl. Rn 97; Eb. Schmidt, L K II, § 302 Rn 1. Teilweise wird die fehlende Geschäftsfähigkeit sogar als Willensmangel eingeordnet, z. B. von Dencker, W i l lensfehler, S. 65 ff. 130 Schlösse die mangelnde Geschäftsfähigkeit die Prozesshandlungsfähigkeit aus, dürfte der nicht geschäftsfähige Verurteilte gar keine eigene Rechtsmittelbefugnis haben, sondern müsste diese durch den gesetzlichen Vertreter ausüben lassen, für dessen eigene zusätzliche Befugnis dann die Begründung entfiele.

Β. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

49

gen kann, ist jedoch gesetzlich nicht f i x i e r t . 1 3 1 § 302 I S. 1 StPO stellt lediglich klar, dass ein Verzicht auch vor Ablauf der Rechtsmitteleinlegungsfrist erfolgen kann. Dies ist eine Selbstverständlichkeit, da nach Fristablauf jedes Rechtsmittel unzulässig wäre. Für einen Verzicht, der gerade einen früheren Eintritt der Rechtskraft bewirken würde, bestünde dann angesichts der in Rechtskraft erwachsenen Entscheidung kein Bedürfnis. Der Zweck des Verzichts kann nur und nicht „auch" vor Ablauf der Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels als äußerster zeitlicher Grenze verwirklicht werden. Zu klären bleibt der frühestmögliche Verzichtszeitpunkt. Da sich der Verzicht, anders als die Rücknahme, nicht an einem bereits eingelegten Rechtsmittel orientieren kann, muss die mit Rechtsmitteln angreifbare Entscheidung Ausgangspunkt der Überlegungen s e i n . 1 3 2 Nach dem Zweck des § 302 StPO muss der Verzichtende vom Inhalt der Entscheidung Kenntnis erlangt haben. Andernfalls kann diese nicht anerkannt werden. 1 3 3 Die Möglichkeit zum Verzicht beginnt daher spätestens mit dem Zeitpunkt, in dem die Rechtsmittelfrist zu laufen beginnt. 1 3 4 Dies setzt Verkündung bzw. bei Abwesenheit des Angeklagten die Zustellung des Urteils voraus, vgl. §§ 314, 341 StPO. Doch auch bei Abwesenheit während der Verkündung muss die Zustellung nicht abgewartet werden. Ein Verzicht ist zulässig, soweit der Angeklagte vor Zustellung die Gelegenheit hatte, sich zuverlässig über den Inhalt der verkündeten Urteilsgründe zu unterrichten. 1 3 5 Eine Rechtsmittelbelehrung ist folglich nicht Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts. 1 3 6 Ein noch früherer Zeitpunkt ist indessen nur in sehr seltenen Ausnahmefällen zuzulassen. 1 3 7 Der Zweck des § 302 StPO kann sonst nicht erreicht werden. Vor Erlass der Entscheidung ist ein etwaiger Verzicht unzulässig und unwirksam. 1 3 8 131

Zu den zeitlichen Grenzen des Verzichts vgl. AK-Achenbach, § 302 Rn 16 f.

132

Zum Schutz des Angeklagten vor den Folgen nicht überschaubarer Erklärungen wird eine bereits erlassene Entscheidung gefordert, BayObLGSt 63, 135, 137. 133 Neben der Kenntnis des Urteilsspruchs ist auch die Kenntnis der Gründe zu fordern, SK/StPO-Fnsc/z, § 302 Rn 39. 134 Ein Rechtsmittel verzieht für ein künftiges Urteil ist wirkungslos, Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 663. 135 BGHSt 25, 234, 236, NStZ 86, 208; KK-Ruß, § 302 Rn 6; Schlüchter, Rn 646; Roxin, StPO, § 51 Rn 23. Der BGH lässt die zuverlässige Kenntnisnahme vom Inhalt der Entscheidung genügen. Die förmliche Zustellung ist nach seiner Ansicht nicht erforderlich, so auch LR-Hanack, § 302 Rn 9. Diese Auffassung begegnet aber Bedenken, Sarstedt ! Hamm, S. 61 Rn 132. Die Urteilszustellung bzw. -verkündung dürfe wegen des Aspekts der Rechtssicherheit einzig relevanter Fristbeginn für den Verzicht sein, Peters JR 74, 249, 250; S K / S t P O Frisch, § 302 Rn 41; AK-Achenbach, § 302 Rn 17 (so auch die frühere Rspr.: RGSt 2, 78; LG Frankfurt NJW 63, 1936, 1937).

136 BGH NStZ 84, 181; 99, 364; Roxin, StPO, § 51 Rn 23. 13 7 Vgl. SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 40, ζ. B. wenn die Entscheidung keiner Begründung bedarf und sich der Betroffene deshalb nicht mit den Gründen auseinandersetzen muss, OLG Hamm, OLGSt, § 302 StPO 39, 40.

!38 KK-Ruß, § 302 Rn 6; LR-Hanack, § 302 Rn 10; die sog. „Vorabzusage" ist kein Verzicht, sondern lediglich das Versprechen einer Verzichtserklärung nach Urteilsverkündung. 4 Meyer

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Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

3. Form Überdies muss der Verzicht in der korrekten Form erfolgt sein. Das Gesetz schreibt zwar keine bestimmte Form für den Verzicht v o r 1 3 9 , doch ist allgemein anerkannt, dass analog §§ 306, 314, 341 StPO für den Verzicht dieselben Formanforderungen gelten wie für die Rechtsmitteleinlegung 1 4 0 . Die Verzichtserklärung muss schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle erfolgen. Wesentlicher Zweck dieses Formzwanges ist es, den Rechtsmittelberechtigten vor übereilten Entschlüssen zu schützen und ihn zu einer gründlichen Prüfung des Für und Wider des Verzichts anzuhalten. Diese Warnfunktion kommt sowohl bei der Rechtsmitteleinlegung als auch bei einem Verzicht zum Tragen, so dass eine Anwendung des Einlegungsformerfordernisses sachgerecht erscheint. Wird der Verzicht i m Sitzungsprotokoll vermerkt 1 4 1 , so steht dies einem Protokoll der Geschäftstelle gleich, wenn die Beurkundungsförmlichkeiten gewahrt w u r d e n . 1 4 2 Über diese gibt § 273 I I I StPO A u s k u n f t . 1 4 3 Der Vermerk muss vorgelesen und genehmigt werden. A u f diese Weise wird der Angeklagte angesichts der großen Tragweite seiner Erklärung vor Übereilung geschützt. M i t der ordnungsgemäßen Protokollierung und Genehmigung wird der Verzicht wirksam und nimmt an der Beweiskraft des Protokolls gem. § 274 StPO t e i l . 1 4 4 Wurden die Beurkundungsförmlichkeiten nicht gewahrt 1 4 5 , ist der schlichte Protokollvermerk nur ein Anzeichen, das den Verzicht beweisen kann, aber nicht zwingend beweist. 1 4 6 Eine i m Protokoll vermerkte Erklärung genügt gleichwohl grundsätzlich dem Schutzzweck des Schriftformerfordernisses. 147 Das Verhältnis von Vorabzusage und Verzicht ähnelt dem Verhältnis von Verpflichtungs- und Erfüllungsgeschäft i m Zivilrecht; zum Problem der sog. „Vorabzusage" siehe unten ausführlich Teil 2 E.III. 139 KK-Ruß, § 302 Rn 8. 140 BGHSt 18, 257, 260; Roxin, StPO, § 51 Rn 23. ι 4 ' Stratenwerth, JZ 64, 264, 265, w i l l die Protokollierung der außerhalb der Hauptverhandlung abgegebenen Rechtsmittelerklärungen in der Sitzungsniederschrift zum Schutze des Angeklagten nicht genügen lassen. Schließlich mache nicht die Erfüllung der Verfahrensregeln des § 273 I I I StPO eine Erklärung zur wesentlichen Förmlichkeit. Dieser Begriff werde exakt über § 274 StPO bestimmt. 142 BGHSt 31, 109, 113; zur grundsätzlichen Zulässigkeit BGHSt 18, 257, 258. 143 Diese Gleichstellung beruht darauf, dass ein solches Protokoll in der Bewertung allgemein über der Niederschrift des Urkundsbeamten steht. Diese Wertung schlägt sich in § 8 I RPflG nieder, der bestimmt, dass die richterliche Wahrnehmung eines dem Rechtspfleger übertragenen Geschäfts dessen Wirksamkeit nicht berührt. Schließlich unterschreibt der Vorsitzende das Protokoll persönlich. >44 BGHSt 18, 257, 258; Peglau JA 2000, 405, 407: Grundsätzlich gehört der Verzicht nicht zu den wesentlichen protokollpflichtigen Verfahrensförmlichkeiten, so dass die Beweiskraft des § 274 StPO den Verzicht nur i m Falle der Erfüllung von § 273 I I I StPO erfasst; a. Α. SK/ StPO-Frisch, § 302 Rn 46 m. w. N. 145 Was in der Praxis häufig der Fall ist, SK / StPO-Frisch, 146 BGH NStZ 84, 181; wistra 94, 29; NStZ 2000, 441.

§ 302 Rn 46; KK-Ruß, § 302 Rn 9.

Β . Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

51

4. Zugang Die formgerechte Erklärung eines prozessfähigen Verzichtenden wird als Prozesserklärung schließlich mit dem Zugang beim zuständigen Gericht w i r k s a m . 1 4 8 Die Zuständigkeit bemisst sich dabei nach Verfahrensstand und Rechtsmittel. Solange die Akten noch nicht an das Rechtsmittelgericht abgegeben sind, ist der iudex a quo richtiger Adressat, nach Abgabe der Akten ist das Rechtsmittelgericht zuständig (iudex ad q u e m ) . 1 4 9 Bis zum Eingang kann die Erklärung widerrufen werden. 1 5 0 Dies kann auch konkludent durch die Einlegung eines Rechtsmittels erfolgen, da der Widerruf formlos möglich ist. Nicht verwechselt werden darf diese (unbestritten zulässige) Widerrufsmöglichkeit mit der Problematik der Widerruflichkeit einer wirksamen Verzichtserklärung wegen eines Willensmangels. Nur bei der erstgenannten Variante handelt es sich um den klassischen Fall des Widerrufs auf Grund einer Willensänderung (nicht Willensmangel!) vor Wirksamwerden der Erklärung. Der Rechtsmittelverzicht muss aber nicht nur formgerecht durch einen verhandlungsfähigen Anfechtungsberechtigen zu einem zulässigen Zeitpunkt dem zuständigen Gericht zugegangen sein. Die Prozesserklärung muss darüber hinaus auch unbedingt und eindeutig sein.

5. Unbedingtheit, Eindeutigkeit Als Prozesshandlung ist der Verzicht aus Gründen der Rechtssicherheit bedingungsfeindlich. 1 5 1 Bereits Zweifel hinsichtlich einer etwaigen Gebundenheit führen zur Unwirksamkeit. 1 5 2 Gleiches gilt für eine Befristung. Zulässig sind lediglich 147

Das Merkmal der Schriftlichkeit verlangt nicht notwendig nach einer handschriftlichen Unterzeichnung. Die eindeutige Erkennbarkeit des Erklärenden genügt, KK-Ruß, § 302 Rn 9. 148 KK-Ruß, § 302 Rn 14. Entscheidend ist der Eingang i m Machtbereich des Gerichts. Die tatsächliche Kenntnisnahme ist nicht erforderlich. Erfolgt der Verzicht unmittelbar gegenüber dem Gericht im Anschluss an das Urteil, so wird die Verzichtserklärung sofort mit ihrer Abgabe wirksam, nicht erst mit der späteren Fertigstellung des Protokolls, BGH NStZ-RR 2002, 100, 101.

' 4 9 KK-Ruß, § 302 Rn 14. •so K / M - G , § 302 Rn 21; SK/StPO-FrwcA, § 302 Rn 56 - zu den Problemen des Nebeneinander von Widerruf und Verzicht siehe Rn 57, 58. 151 BGHSt 5, 183, 184; BGH NStZ-RR 2002, 101; Schmid G A 82, 95 ff. Die Beifügung einer Bedingung scheidet also auch als Lösungsweg beim Scheitern einer Absprache nach absprachegemäßer Erklärung des Rechtsmittelverzichts aus. Ansonsten hätte man den Verzicht bis zur vollständigen Erfüllung der Absprache bedingen können, vgl. Rieß, FS MeyerGoßner, S. 645, 647. 152 KK-Ruß, § 302 StPO Rn 10. 4*

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Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

Rechtsbedingungen, die sog. innerprozessualen Bedingungen. 1 5 3 Diese sind vom Gericht jederzeit beurteilbar und gefährden daher nicht die Rechtssicherheit. 154 So kann eine Rechtsmittelrücknahme mit der reinen Rechtsbedingung verknüpft werden, dass das Rechtsmittel überhaupt wirksam eingelegt w u r d e . 1 5 5 Neben der Vorbehaltlosigkeit kommt es auf die Eindeutigkeit an. Das Wort „Verzicht" muss zwar nicht ausdrücklich f a l l e n 1 5 6 , doch nur eine eindeutige und zweifelsfreie Erklärung führt zur Wirksamkeit der Prozesshandlung 157 . Jede Ungewissheit in der Deutung schließt die Annahme eines Rechtsmittelverzichts aus. 1 5 8 Maßgebend ist der Gesamtsinn der Erklärung, die den Willen zur Zeit der Erklärung klar zum Ausdruck bringen m u s s . 1 5 9 Bleibt es trotz Auslegung bei fehlender Eindeutigkeit, kann der Nachweis des wirklichen Willens i m Freibeweis verfahren geführt werden 1 6 0 , vor allem durch Nachfrage. 1 6 1 Nicht einheitlich beantwortet wird dabei in Rspr. und Schrifttum, welche Anforderungen an die Eindeutigkeit und eine eventuelle Nachforschung zu stellen sind. Allgemein anerkannte Auslegungsrichtlinien und Abgrenzungen existieren nicht. Der gesamte Problemkreis der Eindeutigkeit ist stark kasuistisch geprägt. 1 6 2 Fest steht allerdings, dass es sich dabei um eine Auslegungsfrage handelt, welche das eigentliche Thema der vorliegenden Arbeit nicht berührt. 1 6 3 Diese befasst sich ausschließlich mit der Beachtlichkeit von Willensmängeln bei der i m Übrigen mangelfreien Prozesshandlung „Rechtsmittelverzicht". Dennoch werden häufig i m Zusammenhang mit dem Erfordernis der Eindeutigkeit und Bestimmtheit Konstellationen als Willensmangel-Fallgruppe genannt, die bei näherer Betrachtung nicht in diese Kategorie eingeordnet werden können. Es handelt sich dabei um Fälle, bei denen auf den ersten Blick zwar ein Willensmangel vorliegt, in der Sache jedoch ein anderer Problemkreis berührt wird, nämlich derjenige der Auslegung der Erklär u n g 1 6 4 . Das Gericht hat mehrdeutige Erklärungen von Amts wegen auszulegen 153 Beulke, StPO, Rn 299. I m Falle einer solchen Bedingung entsteht kein Schwebezustand, welcher der öffentlich-rechtlichen Natur des Verfahrens schaden könnte. Zur Zulässigkeit einer Bedingung beachte BGHSt 40, 287, 290; allgemein Schmid G A 82, 95, 100 ff.

•54 SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 16. 155 £ G / / N S t Z - R R 2 0 0 2 , 101. 156 So schon RGSt 2, 78. 157 Der Verzichtswille muss zweifelsfrei feststehen, Sarstedt/Hamm,

S. 61 Rn 135 .

158 BGH NJW 63, 963, 964; Koch JR 64, 255. 159 LR-Hanack, § 302 Rn 21; HK/StPO-Rautenberg, 160 KK-Ruß, § 302 Rn 11; OLG Frankfurt

§ 302 Rn 5.

NJW 71, 949, 950.

161 LR-Hanack, § 302 Rn 22; KK-Ruß, § 302 Rn 11; KMR-Paulus, § 302 Rn 22. 162 Vgl. Aufzählungen bei SK/SiPO-Frisch, 163

§ 302 Rn 20 und KK-Ruß, § 302 Rn 12.

So auch KMR-Sax, Einl. X Rn 26 und Joachim - „Viele Fälle scheinbarer Willensmängel lassen sich durch angemessene Auslegung korrigieren, ohne dass sich hierdurch eine Umgehung des Formalismus des Strafprozesses oder eine Beeinträchtigung der Rechtssicherheit ergeben würde, S. 32.

Β. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

53

und erkennbare Mängel von Amts wegen zu berücksichtigen. 1 6 5 Die Verantwortungsverteilung ist eindeutig geregelt. Einer Abschichtung bedarf es nicht. Dem Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit kommt bei erkennbaren Mängeln keine Bedeutung zu. Der Aspekt der Rechtssicherheit spielt bei der Auslegung der Erklärung eine andere Rolle als bei den zu untersuchenden Fällen der Willensmängel bei eindeutiger, bestimmter Erklärung. Geht es bei der Auslegung um die Erzeugung von Rechtssicherheit durch Ermittlung des wahren Willens, ist Kernfrage des zu behandelnden Problemkreises, inwieweit der wahre Wille gegen die Rechtssicherheit durchgesetzt werden kann, wann also ein Willensmangel zu einer Einschränkung der Rechtssicherheit führt. U m unklare Ergebnisse zu vermeiden, die bei einer Vermischung der Problemkreise drohen, sind die Konstellationen auszusondern, deren Lösung sich durch Auslegung der Erklärung erzielen lässt. Der Untersuchungsansatz der Verantwortungsabschichtung ist nicht zur Anwendung auf diese Fälle geeignet, da er i m Zusammenhang mit den allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Prozesserklärung keinen Aufschluss über deren Vorliegen zu gewähren vermag.

a) Auslegungsmaß stab Das Gericht hat die Reichweite des objektiv Erklärten von Amts wegen zu ermitteln. Für eine Verantwortungsabschichtung ist kein Raum. Die nach h. M . bestehende Unwiderruflichkeit einer Verzichtserklärung gebietet lediglich erhöhte Anstrengungen bei der Ermittlung des tatsächlichen W i l l e n s . 1 6 6 Es wäre mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar, wenn der Angeklagte nur aus formellen Gründen an den äußeren Wortsinn seiner Erklärung gebunden wäre, ohne dass dieser seinem tatsächlichen Willen entspricht. 1 6 7 Über den Gehalt einer prozessualen Willenserklärung entscheidet vielmehr der objektive Erklärungssinn - und nicht 164 Prozesshandlungen sind auslegungsfähig. Entscheidend ist das erkennbar Gewollte, Roxin, StPO, § 22 Rn 5. Bei der Auslegung dürfen auch Spezialkenntnisse berücksichtigt werden, woraus folgt, dass zwischen Erklärungen von Rechtslaien und Juristen zu differenzieren ist, so bereits Oetker JW 29, 49, 50, 51. Schulze spricht indessen hinsichtlich der auf der Erklärungsebene vorgenommenen Einschränkungen von einer nicht unbedenklichen Verlagerung auf die Auslegungsebene, S. 125. Durch eine an Individualgerechtigkeit ausgerichtete Auslegung werde die Rechtssicherheit gefährdet, S. 126. Diese Äußerung muss allerdings vor dem Hintergrund der schleichenden Subjektivierung der Auslegung gesehen werden, welcher i m Rahmen der vorliegenden Arbeit durch die Festlegung eines objektiven Auslegungsmaßstabs vorgebeugt wurde. 165 Joachim spricht daher auch von „unechten Willensmängeln", S. 17 ff. Dazu sollen die Möglichkeiten der Auslegung und Berichtigung, der offensichtliche Irrtum, das Fehlen des Erklärungsbewusstseins sowie die Fälle des bewussten Auseinanderfallens von Wille und Erklärung zählen, S. 17. 166

LR-Hanack, § 302 Rn 23 - A n die Eindeutigkeit der Erklärung sind strenge Anforderungen zu stellen; ähnlich KMR-Paulus, § 302 Rn 22. 167 BGH JR 52, 483; SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 19.

54

Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

ihr äußerer Ausdruck - , der unter Berücksichtigung des Gesamtverhaltens einschließlich der Nebenumstände zu ermitteln i s t . 1 6 8 Es ist das erkennbar Gewollte zu erforschen 1 6 9 , wobei auf den objektiven vernünftigen Betrachter abzustellen i s t . 1 7 0 Da das Gericht selbst zur Ermittlung des wahren Willens von Amts wegen verpflichtet ist, ist eine teilweise Entpflichtung durch ein Abstellen auf das tatsächliche Erkennen des Gewollten abzulehnen. 1 7 1 Dieses publizitäre Kriterium steht auch i m Einklang mit der Anforderung des Strafprozesses, es i m Interesse eines geordneten Ablaufes der Strafrechtspflege bei dem bewenden zu lassen, was sichtbar in Erscheinung t r i t t . 1 7 2 Ist die Erklärung eindeutig, und schließt sie jeden Zweifel aus, entfällt die Möglichkeit der Auslegung. Erst dann entsteht auch ein Bedürfnis für die Geltendmachung von Willensmängeln. 1 7 3 Lässt sich die Mehrdeutigkeit nicht durch Auslegung beseitigen, ist der wirkliche Wille durch Nachfrage zu ermitteln. Ob dies tatsächlich geschieht oder ein Unterlassen der Nachfrage als Verstoß gegen die gerichtliche Fürsorgepflicht gewertet werden kann, ist für die vorliegende Untersuchung irrelevant. Bleiben Zweifel, ob das Erklärte dem wirklich Gewollten entspricht, liegt schon gar kein wirksamer Rechtsmittelverzicht v o r . 1 7 4 Eine Fürsorgepflichtverletzung würde an diesem Ergebnis nichts ändern 1 7 5 , da die prozes168 KMR-Sax, Einl. X Rn 25; BGH NStZ 85, 17. 169 BGH NJW 54, 687; Roxin, StPO, § 22 Rn 5. 1 7 0 Schmid, Verwirkung, S. 116, 117. Schmid führt zwar zunächst aus, dass objektive Auslegung niemals ohne Rücksicht auf Wissen und Wollen des Betreffenden erfolgen könne. Zumindest müsse der Erklärende die fragliche Rechtsposition laienhaft-parallelgewertet haben, Verwirkung S. 115. Doch schränkt er dies nachträglich wieder ein, da nur zu berücksichtigen sei, was erkennbar in der Rechtswelt hervorgetreten ist, S. 117. Eine unzulässige Subjektivierung des Maßstabs wird dadurch vermieden und dem Interesse an Rechtssicherheit (und der daraus folgenden erhöhten Verantwortlichkeit der Prozessbeteiligten) i m Strafprozess Rechnung getragen. Gegen einen Rückgriff auf den „wahren W i l l e n " des Angeklagten wendet sich auch Stratenwerth, JZ 64, 264, 265. „ A u c h ganz unüberlegte Erklärungen sind möglicherweise eindeutig und klar (und überlegte sehr unklar)". 171

Der frühere Streit, ob es i m Rahmen der Auslegung auf das tatsächliche Erkennen oder die bloße Erkennbarkeit ankommt, ist mithin entschieden, Joachim, S. 47. 172 Plötz, S. 327. Plötz sieht in dem Kriterium der Erkennbarkeit allerdings den entscheidenden Gesichtspunkt für die Fürsorgepflicht. Eine zu starke Berücksichtigung von Fürsorgeelementen auf Auslegungsebene führe zwangsläufig zu einer Subjektivierung des Auslegungsmaßstabs und widerspricht damit der öffentlich-rechtlichen Natur des Strafprozesses, S. 184, 185; zur Abgrenzung der Anwendungsbereiche von Fürsorgepflicht und Auslegung siehe unten Teil 2 D.

1 7 3 So sieht es auch SK/StPO-Frisch, § 320 Rn 21 - Bei der Klärung der notwendigen inhaltlichen Voraussetzungen eines Rechtsmittelverzichts gehe es allein um Sachverhalte, bei denen der Verzichtswille vorhanden war und klar zum Ausdruck gekommen sei. Fehlt es schon daran oder bestehen insoweit ernsthafte Zweifel, so scheitere eine wirksame Verzichtserklärung bereits deshalb. 1™ LR-Hanack, § 302 Rn 24; OLG Hamm NStZ 86, 378; OLG Zweibrücken

wistra 94, 156.

1 7 5 Des Umwegs über die Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht bedarf es nicht, KMR-Sax, Einl. X 26.

Β. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

55

suale Willenserklärung bereits als solche unbeachtlich ist. Zu Lasten des Angeklagten dürfen Zweifel wegen des Schutzzwecks des § 302 StPO nicht gehen. 1 7 6 Fehlen Eindeutigkeit und/oder Bestimmtheit, entbehrt es zwingender inhaltlicher Voraussetzungen für eine wirksame Prozesshandlung. Vertreter des Schrifttums messen daher der Vorfrage, ob überhaupt eine Willenserklärung vorliegt, entscheidende Bedeutung b e i . 1 7 7 Als Ursachen für fehlende Eindeutigkeit und/oder Bestimmtheit einer Verzichtserklärung können vor allem mehrdeutige Erklärungen, Gesten wie Kopfnicken nach Vorlesen der Protokollierung, widersprüchliches Verhalten von Verteidiger und Angeklagtem, sofortige Korrekturen der Rechtsmittelerklärung sowie erkennbare Willensmängel in Betracht k o m m e n . 1 7 8 Diese möglichen Ursachen sind i m Anschluss daraufhin zu untersuchen, ob sie tatsächlich bereits i m Wege der Auslegung Berücksichtigung finden können.

b) Mehrdeutige Erklärungen Für die Behandlung mehrdeutiger Erklärungen ergibt sich auf der Grundlage des oben Gesagten Folgendes: Gelingt es nicht, die Unklarheiten durch Auslegung zu beseitigen, liegt keine wirksame Erklärung v o r . 1 7 9 Lässt sich hingegen der wahre Wille ermitteln, so ist diesem durch das Gericht zur Geltung zu verhelfen, wenn er in der Erklärung hinreichend bestimmt zu Tage t r i t t . 1 8 0 Sollte erkennbar keine Verzichtserklärung abgegeben werden, liegt dementsprechend kein wirksamer Verzicht vor. Derartige Mehrdeutigkeiten treten häufig bei den sog. Annahmeerklärungen und sofortigen Korrekturen der ursprünglichen Erklärung auf.

(1) Die sog. Annahmeerklärung Von einer Annahmeerklärung spricht man, wenn der Angeklagte i m Anschluss an die Urteilsverkündung lediglich kundgibt, dass er das Urteil „annehme". 1 8 1 17

6 Bei berechtigten Zweifeln ist die günstigere Möglichkeit heranzuziehen, vgl. Koch JR 64, 255; BGHSt 13, 388, 391; besondere Aufmerksamkeit ist bei Jugendlichen, Heranwachsenden sowie Ausländern, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, geboten, OLG Zweibrücken StV 94, 363; vgl. auch BGH NStZ 2000, 441, 442. 177 Wie i m Falle des Vorliegens einer Willenserklärung den billigen Bedürfnissen der Beteiligten Rechnung getragen werden kann, sei eine Ergänzungsfrage, Peters, § 34 II; ähnlich KMR-Sax, Einl. X Rn 26. 178

Vergleiche dazu weitergehende Aufzählung bei KK-Ruß, § 302 Rn 11, 12.

™ SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 19; OLG Hamm NStZ 86, 378; OLG Zweibrücken wistra 94, 156. 180 Wollte der Erklärende eine bestimmte Erklärung abgeben, so liegt bei Bestimmtheit mithin eine wirksame Erklärung des entsprechenden Inhalts vor. Die Klarheit schaffende Äußerung wirkt auf den Zeitpunkt der früheren Erklärung zurück, KMR-Paulus, § 302 Rn 22.

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Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

Dieser Fall, der in der Praxis häufig auftritt, wird regelmäßig einer Beurteilung i m Rahmen der Willensmängelproblematik unterzogen. 1 8 2 Doch handelt es sich wiederum um ein Auslegungsproblem, nämlich ob der Wille, das Urteil nicht anzufechten, als Kern des Verzichts tatsächlich objektiv wahrnehmbar i s t 1 8 3 . Vor allem bei Laienerklärungen sei ein großzügiger Maßstab anzulegen. 1 8 4 Bleiben trotz Auslegung erkennbare Unklarheiten, liegt mangels Eindeutigkeit keine wirksame Prozesshandlung v o r . 1 8 5 Zweifel können auch auftreten, wenn die Frage des Gerichts nach Verzicht oder Rechtsmitteleinlegung lediglich mit Ja oder Nein beantwortet w i r d . 1 8 6 Dazu der BGH ausdrücklich: „ W i r d auf die Frage, ob man das Urteil annehme, mit „Ja" geantwortet, ist darin zumindest dann kein Rechtsmittelverzicht zu sehen, wenn nicht einwandfrei feststeht, dass der Angeklagte damit seinen Willen kundtun wollte, von einer Anfechtung des Urteils abzusehen". 1 8 7 Plötz schätzt die Wahrscheinlichkeit anderer Sinngehalte als denjenigen des Verzichts auf Grund der Einführung der obligatorischen Rechtsmittelbelehrung (§ 35 a StPO) allerdings als gering e i n . 1 8 8 Dies erscheint freilich nicht einleuchtend, da die Belehrung keinen Hinweis auf die Möglichkeit des Verzichts und seine Wirkung enthält. Zweifel an der Eindeutigkeit der Verzichtserklärung bestehen indessen bei den Konstellationen der sog. Erklärungseinheit vordergründig nicht.

181 Z. B. BGH JR 52, 483; NStZ 84, 18; OLG Frankfurt,

OLGSt, § 302 StPO 7.

182 Kumlehn, S. 175 f.; LR-Hanack, § 302 Rn 55 Fn 129; SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 24 Offensichtliche Unüberlegtheit fordere Unwirksamkeit des Verzichts, ganz besonders dann, „wenn das Gericht den Rechtsmittelverzicht dem Angeklagten abverlangt hat", anders Joachim, S. 22, der auf die Auslegung abstellt. 183 RG JW 1890, 108; Schulze, S. 76; Hier bietet es sich an, darauf abzustellen, ob die Erklärung von einem juristischen Laien oder von einem Rechtskundigen abgegeben wurde. Koch sieht in der Annahmeerklärung nach allgemeinem Sprachgebrauch einen Verzicht, JR 64, 255, 256. Zweifel am Verzichtswillen seien nur in Ausnahmefällen geboten, nicht in der Regel; so auch zuletzt BGH NStZ 2000, 441, 442. 184

Peters, § 34 I I 4. Oetker JW 29, 49, 50 - Die Annahmeerklärung eines Laien könne auch die überflüssige Bestätigung der Entgegennahme oder des Verstehens sein. 185 U m solche Unklarheiten zu vermeiden, sah der DER (1975) eine Sperrfrist von 24 Stunden vor, um gerade das Auftreten dieser Zweifel zu verhindern, siehe DER, Textvorschlag, S. 9, Begründung, S. 70. 186 Eb. Schmidt, L K II, § 302 Rn 3; Peters zufolge könne in dem Ja eines Laien keine eindeutige Erklärung gesehen werden, § 34 I I 4. 187 BGH JR 52, 483; Peters, § 34 I I 4 - Eine Behörde dürfe sich auch nie mit dem bloßen Ja eines Laien begnügen; R. Schmidt JuS 67, 158, 161; vgl. auch Fälle bei Siegert, Prozesshandlungen, S. 15. 188 Plötz, S. 287.

Β. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

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(2) Die sog. Erklärungseinheit In diesen Fällen, in denen sich der Angeklagte zunächst eindeutig dahin gehend äußert, dass er das Urteil annehmen wolle, dann aber einschränkt, dass er es sich noch mal überlegen wolle, ζ. B. weil er einen Irrtum erkannt oder seinen Willen geändert h a t 1 8 9 , ist die Tauglichkeit der Auslegung zur Lösung dieser Konstellation fraglich. 1 9 0 Auch ein Widerruf ist nur bis zum Zugang der Erklärung möglich. Indessen liegt bei unmittelbarem inneren, räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mehrerer Äußerungen bei natürlicher Betrachtungsweise eine einheitliche Erklärung v o r . 1 9 2 Diese muss in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand der Auslegung gemacht werden. 1 9 3 Es wäre zu formalistisch und streng, ausschließlich das zuerst Gesagte für maßgeblich zu erklären. 1 9 4 Ist aus dem Gesamtverhalten erkennbar, dass der Erklärende die Korrektur sucht, den Verzicht nicht gelten lassen oder noch genauer darüber nachdenken w i l l , den Rechtsmittelverzicht also noch nicht endgültig gewollt hat, dann liegt kein wirksamer Verzicht vor. Fraglich ist nur, wo die Grenze dieser Korrekturmöglichkeit liegen s o l l . 1 9 5 Das Kriterium des unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs muss i m Interesse der Rechtssicherheit sehr eng gefasst werden, sonst würde über die Annahme der einheitlichen Erklärung eine Rücknehmbarkeit von Verzichtserklärungen ermöglicht, die der gesetzgeberischen Intention zuwiderläuft. Die Berichtigung von Prozesshandlungen, die der Fortentwicklung des Prozesses dienen, scheidet spätestens dann aus, wenn die nächste Prozesshandlung vorgenommen wird, die auf der in Frage stehenden aufbaut. 1 9 6 Äußerste Grenze einer Korrektur ist somit die prozessuale Überholung. 1 9 7 Da der allseitige Rechtsmittel189 Joachim, S. 34, spricht von der Berichtigung von Prozesshandlungen als unechtem Willensmangel. Auch in einem solchen Fall handele es sich nicht um die Geltendmachung von Willenmängeln, sondern um die richtige Deutung der Erklärung, S. 35. 190

Peters spricht in solchen Fällen davon, dass das Gewollte sich noch nicht i m Erklärenden gefestigt hat, § 34 I I 2. ™ Siehe oben B.II.4. w KMR-Paulus, § 302 Rn 22; H.W. Schmidt NJW 65, 1210; man spricht daher auch von der sog. Erklärungseinheit, Joachim, S. 36. Oetker, JW 29, 49, 50, mahnt deswegen auch zur Vermeidung des Ausdrucks „ W i d e r r u f . 193

Zusammenhängende Äußerungen sind als Einheit zu würdigen, Oetker JW 29, 49; für den juristischen Laien zustimmend Peters, § 34 I I 2. Bei amtlichen Erklärungen oder Erklärungen des Verteidigers gelte aber das einmal erklärte Wort. 1 9 4 So bereits Oetker JW 29, 49; kritisch Plötz, S. 289. 19 5 Dencker, Willensfehler, S. 69, lehnt hingegen jede nachträgliche Korrektur ab. Mehrere Äußerungen könnten nicht zu einer Einheit verbunden werden. I m Übrigen werden die Grenzen der Gesamterklärung nicht einheitlich gezogen, vergleiche Nachweise bei Schulze, S. 77.

ι** LR-Rieß, Einl. Abschn. J Rn 21. w Joachim, S. 40, 42; KMR-Sax, Einl. X Rn 23. Der Prozessabschnitt, in dem die Prozesshandlung erfolgte, darf noch nicht infolge des weiteren Prozessablaufs abgeschlossen sein, Peters § 34 I l c .

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Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

verzieht Rechtskraft herbeiführt, wirken vor allem die auf die eingetretene Rechtskraft aufbauenden Vollstreckungshandlungen prozessual überholend, z. B. Einziehungen, Beschlagnahmen (Führerschein), Verhaftung. Die Verzichtserklärung der StA bewirkt hingegen keine prozessuale Überholung. Soll der Verzicht in das Sitzungsprotokoll aufgenommen werden, unterbricht die Protokollierung den Zusammenhang. 1 9 8 Auch das Verlassen des Gerichtssaales kann den unmittelbaren Zusammenhang zur ersten Äußerung - zumindest räumlich - unterbrechen. 199 Ob und gegebenenfalls wann der räumlich-zeitliche Zusammenhang schon vor diesen Zeitpunkten unterbrochen wird, ist einzelfallabhängig zu entscheiden. 2 0 0 In diesem Sinne müssen auch die BGH-Entscheidungen BGHSt 18, 257 ff.; 19, 101 ff. verstanden werden, welche vielfach als Beispiele eines ausnahmsweise beachtlichen Willensmangels genannt werden 2 0 1 . In beiden Fällen erklärte der Angeklagte unmittelbar nach Urteilsverkündung auf vorherige Frage des Gerichts seinen Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels. In beiden Fällen war der Verteidiger des Angeklagten anwesend, hatte aber keine Möglichkeit zur vorherigen Beratung. In den oben aufgeführten Entscheidungen des BGH zeigte der Verteidiger sofort ausdrücklich oder konkludent sein fehlendes Einverständnis mit dem Verzicht und machte deutlich, dass er noch Beratungsbedarf sehe. Dies veranlasste den BGH zu der Klarstellung, dass eine wirksame Erklärung nicht vorliege, solange offenkundig zwischen Mandant und Anwalt Uneinigkeit herrscht und einer der beiden noch eine eingehende Beratung wünscht. 2 0 2 In BGHSt 18, 257, 261 griff der Verteidiger

198 Oetker JW 29, 49, 50; Schulze, S. 125; Stratenwerth JZ 64, 264, 265 bezeichnet die „Einheit der Erklärung" als Notlösung und äußerste Grenze einer Korrektur. 199 So Peters, S. 232. Unter dem Gesichtspunkt der Erklärungseinheit erscheint es daher nicht überraschend, wenn i m Zusammenhang mit der Korrektur einer Erklärung auf das Abtreten des Gerichts abgestellt wird, H. Müller, S. 82. Das Abtreten unterbricht den räumlich-zeitlichen Zusammenhang. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es als taugliches Kriterium. Die Eröffnung dieser Korrekturmöglichkeit darf freilich nicht dazu führen, dass das Gericht fluchtartig den Saal verlässt, um auf diese Weise die Rechtskraft zu sichern. Schulze, S. 124, 125 fordert eine starke Eingrenzung dieser Möglichkeit, da sonst die Grenzen der objektiven Auslegungsmethode überschritten würde. 200 Vorgeschlagene Maßstäbe bei Schulze, S. 77. 201 SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 24; Ranft, S. 434; KMR-Paulus, § 302, nennt die Entscheidung BGHSi 18, 257 als Beispiel für einen Erklärungsirrtum (Rn 9) und für eine übereilte Erklärung, die unter Verletzung der Fürsorgepflicht angenommen wurde (Rn 12); Erb G A 2000, 511, 520 Fn 32; Hübner, S. 207 ff.; Kühne, S. 280 Fn 38 sowie Schulze, S. 122, der in den „Annahmeerklärungen" keine Auslegungsfrage sieht. Insofern ist es konsequent, wenn er i m Zusammenhang mit BGHSt 18, 257 und 19, 101 von einer zutreffenden Verneinung der Bindungswirkung spricht, vgl. S. 238. Anders hingegen KMR-Sox, Einl. X Rn 26, wonach bereits die Auslegung zu einer unbeachtlichen prozessualen Willenserklärung führt. 202 BGHSt 18, 257, 260; BGHSt 19, 101, 104. Eine vergleichbare Situation lag OLG Frankfurt, OLGSt, § 302 StPO 7 zu Grunde. Zutreffend stellt das Gericht fest, dass ein

Β. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

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sofort nach der Erklärung ein, während er bei BGHSt 19, 101, 104 kundgab, dass eine Stellungnahme nun wohl zwecklos s e i . 2 0 3 Prozessuale Überholung lag in beiden Fällen nicht vor, da ein urkundlicher Vermerk noch nicht vorgenommen worden w a r . 2 0 4 Es lag mithin jeweils offensichtlich Uneinigkeit vor, die dazu führte, dass gar keine wirksame Verzichtserklärung erfolgte, denn der Angeklagte und sein Verteidiger sind insofern als Einheit zu behandeln 2 0 5 . Die Grundsätze der sog. Erklärungseinheit gelten auch für widersprüchliche Äußerungen, die in unmittelbarem Zusammenhang durch Verteidiger und Angeklagten erfolgen, obgleich es sich um die Erklärungen zweier unterschiedlicher Personen handelt. Dies erscheint angesichts der Funktion und Bedeutung des Verteidigers im Strafverfahren gerechtfertigt. Liegen Unstimmigkeiten für das Gericht erkennbar vor, muss es den tatsächlichen Willen des Angeklagten ermitteln bzw. eine Beratung durch den Verteidiger ermöglichen, jedenfalls fehlt es zunächst an einer widerspruchsfreien, bestimmten einheitlichen Erklärung. 2 0 6 Dass der Angeklagte wegen der weitreichenden Folgen die Möglichkeit reiflicher Überlegung haben muss und eine sachgerechte Entscheidung grundsätzlich nur nach Beratung mit dem Verteidiger denkbar i s t 2 0 7 , wird an dieser Stelle jedoch nur deshalb relevant, weil die Differenzen offen zu Tage traten und daher bereits bei der Auslegung der Erklärung berücksichtigt werden konnten. 2 0 8 Diese Konstellation darf nicht mit den Problemkreisen der unterlassenen Bestellung des notwendigen Verteidigers und der Verhandlung in Abwesenheit eines be-

Rechtsmittelverzicht noch nicht vorliegt, solange eine Beratung mit dem Verteidiger nicht erfolgt ist, und der Verteidiger dies sogleich zu erkennen gibt. 203

Das Gericht hätte auf die mangelnde Bindungswirkung des Verzichts hinweisen müssen. Dies wurde unterlassen. 204 BGHSt 18, 257, 261; BGHSt 19, 101, 103. 205 Diese Sichtweise liegt auch RGSt 77, 368, 369 (Es ging um die Wirksamkeit einer Rechtsmittelrücknahme durch den Verteidiger) zu Grunde. Erklärt der Verteidiger in Anwesenheit des Angeklagten die Rücknahme des Rechtsmittels und widerspricht dieser nicht, dann gilt der Verteidiger als ermächtigt i. S. d. Abs. 2. Die h. M . sieht in dem Verhalten des Angeklagten zumindest eine Billigung, OLG Karlsruhe NJW 70, 1697; K / M - G , § 302 Rn 29; a.A.: vor allem in Hinblick auf den Schutzzweck der ausdrücklichen Ermächtigung, S K / StPO-Frisch, § 302 Rn 71. 206 Wirksam ist der Rechtsmittelverzicht nur dann, wenn der Angeklagte i m Anschluss an den Einspruch des Verteidigers gegenüber dem Gericht verdeutlicht, dass er keine weitere Beratung wünscht. Als eigenverantwortliches Prozesssubjekt kann der Angeklagte ohne weiteres von der Nutzung der Beratungsmöglichkeit absehen. 207 So SK/StPO-FrwcA, § 302 Rn 24. 208 Somit kommt es auf die unzulässige Verursachung der offensichtlichen Übereilung und Unüberlegtheit durch das Gericht nicht an. Es handelt sich um eine schlichte Berichtigung „ i n contenti", vgl. dazu bereits Joachim, S. 38, 39. Insofern ist zumindest die Begründung des BGH in BGHSt 19, 101, 104 missverständlich (Der Rechtsmittelverzicht sei als unwirksam anzusehen, weil er durch unzulässige Einwirkung zustandegekommen ist), während in BGHSt 18,257,260 eindeutig ausgeführt wird, dass ein endgültiger Verzicht so lange zu verneinen sei, wie Angeklagter und Verteidiger erkennen lassen, dass sie noch Beratungsbedarf sehen.

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Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

reits gewählten oder bestellten Verteidigers vermischt werden. 2 0 9 I m Gegensatz zu den in BGHSt 18, 257; 19, 101 entschiedenen Fällen liegt dort eine wirksame und eindeutige Verzichtserklärung vor, so dass eine Korrektur i m Wege der Auslegung unmöglich ist. Gleiches gilt für sonstige Fälle fehlender Möglichkeit zu vernünftiger Überlegung, soweit eine zweifelsfreie Erklärung des Rechtsmittelverzichts erfolgt. 210 Nachdem damit die Behandlung der Fälle geklärt ist, in denen die Korrektur einer zunächst eindeutigen Verzichtserklärung erfolgt, bleibt nunmehr zu überprüfen, wie ein eindeutiger Rechtsmittelverzicht zu behandeln ist, der zwar nicht korrigiert wird, dem aber ein erkennbarer Willensmangel anhaftet.

c) Erkennbare Willensmängel Die Fälle der erkennbaren Willensmängel 2 1 1 lassen sich ebenfalls durch Auslegung lösen. In Betracht kommt dabei jeder denkbare Mangel bei Willensbildung und -äußerung sowie Eingriffe in die Willensfreiheit durch Drohung. Zwar ist die Erklärung auch bei erkennbaren Willensmängeln zumeist objektiv eindeutig, doch ist das Fehlen eines dahinterstehenden entsprechenden Erklärungswillens evident. Die Verzichtserklärung muss nicht nur eindeutig, sondern auch bestimmt s e i n . 2 1 2 Bei der Feststellung der hinreichenden Bestimmtheit handelt es sich um eine durch Auslegung gedeckte Sinnermittlung einer Erklärung über ihren Wortlaut hinaus. 2 1 3 Ist die Erklärung objektiv eindeutig, weicht der hinter der Erklärung stehende Wille aber von dem objektiv Erklärten erkennbar ab, dann kann der wahre Wille keinen hinreichend bestimmten Niederschlag in der Erklärung gefunden haben. 2 1 4 Die Erklärung wäre bereits aus diesem Grunde unwirksam, und zwar unabhängig 209 Siehe unten Teil 2 D.2., 3., 4. 210 Die Unwirksamkeit eines solchen Verzichts nehmen z. B. OLG Düsseldorf 521 ; OLG Köln StV 91, 296; OLG Zweibrücken StV 94, 363; Peters, § 34 I I 2 an.

NStZ 82,

211 Joachim, S. 46. I m Schrifttum wird häufig auch von offensichtlichen Irrtümern gesprochen, Schulze, S. 77 f., 119, Joachim, S. 75 f. Die Begriffe „Erkennbar" und „Offensichtlich" würden entweder synonym (z. B. Eb. Schmidt, L K I, Rn 184, 185; Anm. d. Verf.) verwendet oder der erkennbare Irrtum als offensichtlicher behandelt, Plötz, S. 330. Die vorliegende Arbeit stellt auf die Erkennbarkeit ab und präzisiert diesen Maßstab, so dass allein die Erkennbarkeit für den objektiven Beobachter entscheidend für die Untersuchung ist. Der Einwand von Plötz, S. 180 Fn 804, dass „was nicht offensichtlich ist, nicht i m Wege der Auslegung Berücksichtigung finden kann", geht fehl. 212 BGHSt 5, 338, 341; Sarstedt/Hamm, S. 63 Rn 135; Eb. Schmidt, L K II, § 302 Erl. 3; H. Müller, S. 46; Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 30. Es wäre auch mit den Aufgaben und der Stellung des Gerichts und der anderen Strafverfolgungsorgane unvereinbar, wenn sehenden Auges eine nicht gewollte Erklärung als gültig und wirksam behandelt würde, Joachim, S. 67. 213 Es handelt sich um eine Auslegungsfrage und keine Irrtumsfrage, Schulze, S. 78; H. Müller, S. 47. 214 Offensichtliche Irrtümer seien infolgedessen unschädlich, da das tatsächlich Gewollte erkennbar war, Peters, § 34 I I 1.

Β. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

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davon, in wessen Verantwortungsbereich die Entstehung des Willensmangels f ä l l t . 2 1 5 Dem steht auch die Auffassung der Rspr. nicht entgegen, dass eine unzweideutige Verfügung über ein Rechtsmittel der Rechtswirksamkeit nicht um deswillen entbehren darf, weil sie mit dem inneren Willen des Erklärenden nicht übereins t i m m t . 2 1 6 A n einer unzweideutigen Verfügung fehlt es j a gerade. Ein anschauliches Beispiel für einen erkennbaren Willensmangel liefert ein Sachverhalt, über den das OLG Köln zu befinden hatte 2 1 7 : Der Angeklagte war in erster Instanz wegen § 21 StVG und § 142 StGB zu Geldstrafen verurteilt worden. Wegen der Unfallflucht wurde zusätzlich ein Fahrverbot als Nebenstrafe verhängt. 2 1 8 Die Berufung hatte der Angeklagte deshalb auf den Vorwurf der Unfallflucht beschränkt. Von diesem sprach ihn das Rechtsmittelgericht frei, womit zwingend die Aufhebung von Strafen und Nebenstrafen einhergeht. Der Angeklagte und sein Verteidiger durften in der für den Angeklagten sehr wichtigen Frage, ob das verhängte Fahrverbot aufgehoben wird, davon ausgehen, dass die Entscheidung zu Gunsten des Angeklagten ausgefallen ist. Infolgedessen wurde umgehend Rechtsmittel verzieht erklärt. 2 1 9 I m objektiven Widerspruch zum Tenor standen die Urteilsgründe, die dem Angeklagten später zugestellt wurden und in denen das Rechtsmittelgericht ausführt, dass das Fahrverbot in Rechtskraft erwachsen s e i 2 2 0 . Das OLG Köln führte in seiner Entscheidung aus, dass Angeklagter und Verteidiger auf die Aufhebung des Fahrverbotes vertrauen durften. 2 2 1 Da die schriftlichen Gründe i m Widerspruch zu dem verkündeten Urteil standen, lag bei Erklärung des Verzichts insofern ein unverschuldeter Irrtum des Angeklagten über das Schicksal des Fahrverbotes vor. Da das Gericht diesen Willensmangel versehentlich verursacht h a t 2 2 2 , müsse das Vertrauen der Organe der Rechtspflege in den Be-

215 Die früher geäußerte Kritik, dass man nicht auf erkennbare Willensmängel abstellen dürfe, wenn man Willensmängel bei Prozesshandlungen für unbeachtlich hält, ist damit entkräftet. Es handelt sich um ganz unterschiedliche Problemkreise, Joachim, S. 44.

216 RGSt 57, 83. 217 OLG Köln JR 69, 392 mit Anmerkung Koffka

JR 69, 393.

218 OLG Köln JR 69, 392 - Dass das Fahrverbot nur neben der Unfallflucht verhängt wurde, hing maßgeblich von den damals geltenden konkurrenzrechtlichen Vorschriften bezüglich einer Gesamtstrafenbildung ab. 219 Für diesen gab es auch, anders als Koffka in JR 69, 393, 394 meint, sehr wohl einen Anlass: M i t der Rechtskraft des Urteils, wäre auch die Aufhebung des Fahrverbotes rechtskräftig geworden. Der Angeklagte hätte sofort wieder Auto fahren dürfen. 220 OLG Köln JR 69, 392, 393. Ein ähnliches Beispiel benennt schon Oetker JW 29, 49, 51. 221 OLG Köln JR 69, 392, 393 - Sie mussten sogar davon ausgehen, dass die Entscheidung zu Gunsten des Angeklagten ausgefallen ist. 222 Koffka JR 69, 393, 394 - Koffka sieht eine Einschränkung der Willensfreiheit i m vorliegenden Fall nicht. Das Gericht habe keine unrichtigen Tatsachen behauptet, sondern der

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Teil 1: Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

stand der Rechtsmittelerklärungen hinter den Belangen des Angeklagten zurücktret e n . 2 2 3 Der Rechtsmittelverzicht sei daher unwirksam und die Revision zulässig. Für einen objektiven, verständigen Betrachter ergab sich jedoch schon aus dem maßgeblichen Gesamtsinn der Erklärung, dass ein Irrtum bei der Willensbildung vorlag und der wahre Wille des Angeklagten daher keinen Niederschlag im objektiv Erklärten gefunden h a t . 2 2 4 A u f Grund dieser Unbestimmtheit hätte das Rechtsmittelgericht überhaupt nicht vom Vorliegen einer wirksamen Verzichtserklärung ausgehen dürfen. Darauf, dass sich der Fall durch Auslegung lösen lasse, wies bereits die Urteilsanmerkung von Koffka hin. 2 2 5 Dies gilt auch für den folgenden, vom RG entschiedenen F a l l . 2 2 6 Der Angeklagte hatte das Urteil angenommen, weil er meinte, zu 2 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden zu sein. In Wirklichkeit war er zu 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden. Das RG sah den Rechtsmittelverzicht als wirksam an, da ein solcher nicht wegen eines Irrtum über den Umfang seiner Folgen angefochten werden könne, obgleich der Irrtum des Angeklagten aus seiner protokollierten Verzichtserklärung hervorging. Die unrichtige Angabe der Höhe der erkannten Gefängnisstrafe stehe der Wirksamkeit nicht entgegen, da sie keinen wesentlichen Bestandteil der Erklärung b i l d e . 2 2 7 Das trifft sicherlich zu, denn Erklärungszeichen ist allein der Rechtsmittelverzicht. Gleichwohl liegt hier ein Motivirrtum vor, der für einen verständigen objektiven Betrachter und mithin für das Gericht erkennbar war. Dem Angeklagten, der evident keinen Rechtsmittelverzicht bezüglich des tatsächlich ergangenen Urteils erklären wollte, kann daher durch Auslegung geholfen werden. Mangels Bestimmtheit ist auch in diesem Fall kein wirksamer Rechtsmittelverzicht erfolgt. Verteidiger habe einen unrichtigen Schluss aus der Urteilsformel gezogen. Diese Argumentation muss kritisiert werden. Z u m einen hat der Verteidiger keinen unrichtigen Schluss gezogen, sondern den einzig zutreffenden. I m Übrigen ist eine unrichtige Behauptung des Gerichts gar nicht erforderlich. Objektiv irreführendes Verhalten genügt, um die Willensfreiheit zu beeinträchtigen, und ein solches lag in der vom Gericht verschuldeten Diskrepanz zwischen Urteilstenor und den schriftlichen Gründen. 223 OLG Köln JR 69, 392, 393. 224 Angeklagter und Verteidiger irren sich vorliegend nicht über die rechtliche Bedeutung des Rechtsmittelverzichts, sondern darüber, dass es der Einlegung eines Rechtsmittels noch bedarf. Sie unterlagen daher einem Irrtum i m Beweggrund, weil derartige Überlegungen ausschließlich die Willensbildung betreffen; zur Definition und Abgrenzung der einzelnen Irrtümer siehe unten Teil 2 B.I. 225 Koffka JR 69, 393, 394 - Unzutreffend ist allerdings die Einordnung des Willensmangels, welche i m Rahmen der Anmerkung vorgenommen wird. Koffka ist der Auffassung, dass es sich nicht um einen Irrtum i m Beweggrund handelt, sondern um einen Inhaltsirrtum. Relevantes Erklärungszeichen ist indessen einzig der Rechtsmittelverzicht als solcher und nicht der Verzicht auf Rechtsmittel bezüglich eines Urteils mit dem Inhalt, wie ihn der Angeklagte einschätzt oder verstanden hat. Eine solche Erweiterung des Erklärungszeichens höbe die klaren Grenzen zwischen M o t i v - und Inhaltsirrtum auf. 226 RG JW 29, 49. 227 RG JW 29, 49, 50.

Β . Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

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d) Fehlendes Erklärungsbewusstsein Erkennbarer Mangel i m obigen Sinn kann auch das fehlende Erklärungsbewusstsein sein. Bei fehlendem Erklärungsbewusstsein erkennt der sich Äußernde nicht, dass er überhaupt etwas rechtlich Erhebliches kundgibt. Ist dies auch dem objektiven Betrachter erkennbar, fehlt es objektiv an der Bestimmtheit der Erklärung und damit an einer wirksamen Prozesserklärung überhaupt. Wird der Angeklagte unzutreffend dahingehend belehrt, dass ihm gegen die Entscheidung gar kein Rechtsmittel zusteht 2 2 8 , dann ist er sich bei diesem Wissensstand nicht bewusst, etwas rechtlich Erhebliches zu erklären. I m Falle erkennbar fehlerhafter Belehrung können etwaige Erklärungen deshalb nicht als Verzicht verstanden werden und den Verlust der tatsächlich bestehenden Anfechtungsmöglichkeit bewirken. Entsprechendes muss gelten, solange die Belehrung nach § 35a StPO noch nicht erfolgt i s t . 2 2 9 Zwar ist diese nicht zwingende Voraussetzung für die Abgabe einer wirksamen Verzichtserklärung 230 , doch ist in aller Regel eine ordnungsgemäße und vom Angeklagten auch verstandene Rechtsmittelbelehrung notwendig, um zweifelsfrei einen Verzichtswillen feststellen zu können. 2 3 1 Ähnlich hat das BayObLG bezüglich der Rücknahme eines Rechtsbehelfs entschieden. So könne die Aufforderung, einen Rechtsbehelf als gegenstandslos zu betrachten, nicht als Rücknahme des Rechtsbehelfs gedeutet werden, wenn die Erklärung auf Grund der unrichtigen gerichtlichen Belehrung, dass das erstrebte Ziel mit dem Rechtsbehelf ohnehin nicht zu erreichen sei, erfolgt. 2 3 2 Die Rücknahme eines Rechtsbehelfs sei ein rechtsvernichtender Akt. Ein solcher fehle, wenn nur rechtserklärend die vermeintlich von Anfang an vorhandene Gegenstandslosigkeit des Rechtsbehelfs klargestellt werden sollte.

e) Unüberlegter/übereilter

Verzicht

Komplizierter erscheint indessen die Lage bei den sog. übereilten und/oder unüberlegten Verzichtserklärungen. Typischerweise stellt sich dieses Problem bei unmittelbar i m Anschluss an die Urteilsverkündung abgegebenen Erklärungen, insbe228 Vgl. RG JW 33, 1069, 1070; Das OLG Bremen, JZ 55, 680, hatte über eine Rechtsmittelrücknahme zu entscheiden, die durch eine objektiv unrichtige Belehrung über die Zulässigkeit des eingelegten Rechtsmittels hervorgerufen wurde. Nur auf Grund des Irrtums über die Zulässigkeit des Rechtsmittels hatte der Angeklagte sich zur Rücknahmeerklärung veranlasst gesehen. 229 Joachim weist auf die Bedeutung der Rechtsmittelbelehrung für die Auslegung hin, S. 26. Auch an die Eindeutigkeit von Erklärungen, die vor Zugang des schriftlichen Urteils erfolgen, seien besonders strenge Anforderungen zu stellen, S. 25, 26. 230 Siehe oben B.II.2. 231 OLG Frankfurt,

OLGSt, § 302 StPO 7.

232 BayObLG JR 52, 207.

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Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

sondere wenn der Angeklagte zuvor von Seiten des Gerichts nach einer Erklärung gefragt, dazu aufgefordert oder sogar gedrängt w u r d e . 2 3 3 Zunächst ist festzustellen, dass Unüberlegtheit und Übereilung keine selbstständigen Willensmängel, sondern mögliche Ursachen eines Motivirrtums sind. Insofern lässt sich diese Fallgruppe in die bereits erörterte Kategorie der erkennbaren Mängel einordnen. Ist ein durch Unüberlegtheit oder Übereilung hervorgerufener Motivirrtum objektiv wahrnehmbar, darf das Gericht nicht von einer wirksamen Verzichtserklärung ausgehen. Abschließend gilt es noch einige besondere Fallgestaltungen darauf hin zu überprüfen, ob auch diese entsprechend der Maßstäbe für erkennbare Willensmängel behandelt werden können und daher bereits bei der Auslegung der Verzichtserklärung berücksichtigt werden müssen. Dies sind der geheime Vorbehalt, die Scherzerklärung und das Scheingeschäft.

f) Geheimer Vorbehalt (Mentalreservation), Scherzerklärung, Scheingeschäft Als geheimer Vorbehalt oder Mentalreservation wird der Fall bezeichnet, dass bewusst eine Rechtsmittelverzichtserklärung abgegeben wird, ohne dass der Erklärende die mit dem Verzicht verbundenen Rechtsfolgen herbeiführen will. Für die Behandlung des geheimen Vorbehalts ist danach zu differenzieren, ob der geheime Vorbehalt erkennbar ist oder auf das objektiv Wahrnehmbare vertraut werden darf. War der geheime Vorbehalt für den verständigen Beobachter erkennbar, fehlt es an der Bestimmtheit. Der Angeklagte darf nicht an seiner Erklärung festgehalten werden. 2 3 4 I m Unterschied zum geheimen Vorbehalt geht der Angeklagte bei den Fällen mangelnder Ernstlichkeit davon aus, dass diese auch erkannt wird. In Betracht zu ziehen sind vor allem Scherz und Ironie. Positiv geregelt ist die Scherzerklärung im materiellen Zivilrecht in § 118 BGB. Dieser enthält eine zivilrechtlich atypische Ausnahmeregel, da er dem tatsächlichen Willen des Erklärenden in dem speziellen Fall der Scherzerklärung den Vorrang vor dem Verkehrsschutz einräumt. 2 3 5 I m Strafprozess kann aber allein das Kriterium der Erkennbarkeit ausschlaggebend sein. Die zivilrechtlichen Besonderheiten sind nicht übertragbar. 236 Bei Bestehen objektiver Zweifel an seiner Ernstlichkeit ist der Verzicht von vornherein unwirksam. Grundsätzlich ist auch davon auszugehen, dass sarkastische oder ironische 233 Dahs, FS-Schmidt-Leichner, S. 17 ff. spricht vom herausgefragten Verzicht. Hier ergeben sich dann Überschneidungen mit den sog. Annahmeerklärungen als mehrdeutigen Erklärungen. Die Annahmeerklärung kann mithin unter dem Gesichtspunkt der Mehrdeutigkeit und des Motivirrtums problematisiert werden, wobei die Auslegung bei Mehrdeutigkeit Vorrang hat.

234 So schon Eb. Schmidt, L K I, Rn 185. 255 Palandt-Heinrichs, § 118 B G B Rn 2. 23

6 So generell für die §§ 116 ff. B G B entsprechenden Fälle Joachim, S. 78.

Β. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

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Bemerkungen von allen Beteiligten als solche verstanden und daher schon bei der Auslegung der Erklärung berücksichtigt werden. Eine § 117 BGB entsprechende Situation des Scheingeschäfts, bei der zwischen Gericht und Angeklagtem Einvernehmen dahingehend besteht, dass ein erklärter Rechtsmittelverzicht keinen Verlust der Anfechtungsmöglichkeit herbeiführen soll, ist praktisch kaum denkbar. Da das Gericht in einem solchen Fall aber um den fehlenden Willen wüsste, liegt auch in einer solchen Konstellation von vornherein kein wirksamer Verzicht vor. Zwar kommt es grundsätzlich auf die Erkennbarkeit für den objektiven Beobachter an, doch ist das tatsächliche Wissen des Erklärungsempfängers mit zu berücksichtigen. Die Rechtssicherheit bedarf in diesen Fällen keines weiteren Schutzes. M i t h i n handelt es sich bei Erkennbarkeit eines geheimen Vorbehalts und mangelnder Ernstlichkeit für den objektiven Betrachter sowie stets beim Scheingeschäft um Fälle des erkennbaren Willensmangels. 2 3 7 Auch in diesen Fällen fehlt es an einer bestimmten und damit wirksamen Verzichtserklärung. 238 Dass es in diesen Fällen zu einem bewussten Auseinanderfallen von Wille und Erklärung kommt, ein Irrtum somit ausscheidet, spielt für die Frage der Erkennbarkeit und der Auslegung keine Rolle, sondern wird erst bei der Prüfung der Verantwortlichkeit für die Entstehung des Willensmangels bei eindeutiger, bestimmter Erklärung relevant. 2 3 9 A u f die zivilrechtlich relevanten Differenzierungen in §§ 116 ff. BGB kommt es für die strafprozessuale Behandlung nicht a n . 2 4 0

III. Fazit Es konnte nachgewiesen werden, dass erkennbare Willensmängel bereits bei der Auslegung der Verzichtserklärung zu berücksichtigen sind und zu deren Unwirksamkeit führen. Dies gilt unabhängig davon, in wessen Verantwortungsbereich die 237 I m Ergebnis ebenso Eb. Schmidt, L K I, Rn 185; anders Joachim, S. 69, 76, der auf den Empfänger abstellt. Dies hätte eine Übertragung der Spezifika der §§ 116 ff. B G B in das Prozessrecht zur Folge, so dass diese Sichtweise abzulehnen ist. 238 Für die Fälle der Erkennbarkeit mit gleichem Ergebnis, aber abweichender Begründung, Joachim, S. 67. Dieser stellt auf das Wesen der Prozesshandlung ab. W i r d „durchschaut", dass eine Erklärung von vornherein nicht auf Förderung des Prozesses ausgerichtet ist, widerspreche dies dem Wesen der Prozesshandlung. Die Erklärung dürfe dann nicht als wirksam und gültig betrachtet werden, Joachim, S. 66, 67, 74, 75. 239

Anders Dahrmann, S. 6 6 - 7 4 - Eine wirksame Prozesshandlung verlange nur einen Erklärungswillen. Dahrmanns Lösung orientiert sich damit stark an der prozessualen Erklärungstheorie in Abgrenzung zur prozessualen Willenstheorie (vgl. dazu ausführlich Eb. Schmidt, L K I, Rn 181 ff.). Da das Erklärte wirklich gewollt ist, sei ein Verzicht auch dann prozessual wirksam, wenn Mentalreservation (S. 68, 69) und Simulation (S. 72, 73, 74) erkennbar waren. 2

40 In diesem Sinne schon Eb. Schmidt, L K I, Rn 184.

5 Meyer

66

Teil 1 : Untersuchungsansatz und Untersuchungsgegenstand

Entstehung des Willensmangels fiel. Des Gleichen sind alle Erklärungen von vornherein unwirksam, deren Mehrdeutigkeit sich nicht im Wege der Auslegung beseitigen lässt. Vor allem die Auslegung der äußerst praxisrelevanten „Annahmeerklärung' 4 des Angeklagten wird regelmäßig zum Ergebnis der Mehrdeutigkeit dieser Erklärung führen, so dass auch diese Fallgruppe einer Erörterung i m Rahmen der allgemeinen Willensmangelproblematik weit gehend entzogen ist. Durch die damit erfolgte Eingrenzung auf die Fälle eines Willensmangels beim eindeutigen, bestimmten, formgerechten Verzicht eines verhandlungsfähigen Angeklagten ist der Untersuchungsgegenstand nunmehr hinreichend klar bestimmt und eine friktionsfreie Anwendung des Untersuchungsansatzes gesichert. 2 4 1 I m Anschluss kann daher mit der eigentlichen Untersuchung, nämlich dem Versuch einer Verantwortungsverteilung für die Entstehung der einzelnen Willensmängel begonnen werden.

241 Die Auslegung hilft in diesen Fällen nicht mehr. Joachim spricht daher konsequent von „echten" Willensmängeln, S. 33. Schulze merkt kritisch an, dass die Grenzen der Auslegung gegenüber der Willensmangelproblematik nicht geklärt sind, was den Meinungsstand belaste, S. 105.

Teil 2

Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel A. Einleitung A u f der Grundlage des Untersuchungsansatzes einer prozessualen Verantwortungsverteilung gilt es i m Folgenden, einen Weg der abstrakten Herleitung und Ermittlung ausnahmsweise beachtlicher Willensmängel aufzuzeigen. Die vorliegende Arbeit wird dazu eine Verantwortungsabschichtung zwischen den Prozessbeteiligten in Bezug auf das Vorhandensein von Willensmängeln beim Rechtsmittel verzieht vornehmen. A m Ende der Untersuchung soll eine eindeutige Zuordnung der jeweiligen Willensmängel zu den (festzustellenden) Verantwortungskreisen der Prozessbeteiligten stehen. Führt die Überprüfung der Verzichtssituation zur Verneinung der Verantwortlichkeit des Angeklagten für die Entstehung des Willensmangels, so darf er nicht an seinem Verzicht festgehalten werden. Bereits bei der Überprüfung der methodologischen Zulässigkeit dieses Ansatzes hat sich allerdings gezeigt, dass sich aus der Geltung des Dispositionsgrundsatzes bei der Rechtsmittelentscheidung nicht nur die Möglichkeit einer solchen Verantwortungsverteilung ergibt, sondern auch dass der Angeklagte als Anfechtungsberechtigter grundsätzlich die Verantwortung für die Fehlerfreiheit von Willensbildung und -erklärung trägt, solange und soweit er seine Dispositionsbefugnis ungestört wahrnehmen konnte. 1 Ob eine Verantwortungsverlagerung in Betracht kommt, wenn ein Willensmangel aus einer Beeinträchtigung des Angeklagten bei seiner Entscheidung resultiert, wird sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen und hängt maßgeblich davon ab, ob die Dispositionsfreiheit bzw. die Entscheidungsautonomie des Angeklagten durch die Beeinträchtigung in prozessual unzulässiger Weise beeinflusst wurde. Maßstab für die Beantwortung dieser Frage können insofern nur die Rolle des Angeklagten im reformierten Strafprozess und die prozessrechtliche Bewertung der konkreten Interaktionen mit den übrigen Prozessbeteiligten, die zur Entstehung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht geführt haben, sein. Die Untersuchung muss daher ihren Ausgang beim Angeklagten als Dispositionsbefugtem und dessen Rolle im reformierten Strafprozess nehmen.

ι Vgl. oben Teil 1 A.I.

5*

68

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

B. Die Prozessrolle des Angeklagten als eigenständiges Verfahrenssubjekt 2 Der Beschuldigte ist das Prozesssubjekt, das i m Mittelpunkt des Strafverfahrens steht und auf das die prozessrechtlichen Regelungen in erster Linie ausgerichtet sind. Als zentraler Maßstab der Verantwortungsverteilung drängt sich somit die Rolle des Angeklagten als Prozesssubjekt auf 3 , das in seiner Freiheits- und Persönlichkeitssphäre vor willkürlichen staatlichen Eingriffen bewahrt bleiben muss 4 . Diese Entscheidungsfreiheit wird i m Schrifttum auch als Autonomie bezeichnet. 5 Das BVerfG betont ausdrücklich, dass der Staat die Eigenständigkeit des Bürgers achten und schützen und ihm daher die aktive Teilnahme an dem ihm zukommenden Rechtsschutz gewährleisten müsse. 6 Verteidigung i m Strafprozess ist insofern als Wahrnehmung selbstdefinierter prozessualer Interessen aus eigenem Recht zu verstehen. 7 M i t der Forderung nach verfahrensmäßiger Selbstständigkeit geht jedoch eine Konsequenz einher, die auch als Kehrseite der Entscheidungsfreiheit bezeichnet wird: Wer autonom handelt, hat auch die Nachteile seiner Entschlüsse zu verantworten 8 . Soll der Angeklagte vor willkürlichen staatlichen Eingriffen geschützt und damit sein Selbstbestimmungsrecht gewahrt werden, begründet das i m Umkehrschluss die Eigenverantwortlichkeit bei fehlender staatlicher Einflussnahme. Dass der Angeklagte die nachteiligen Rechtsfolgen seines Verhaltens hinnehmen muss, ist i m Strafverfahren auch nicht untypisch, sondern die Konsequenz zahlreicher prozessualer Obliegenheiten. 9 Kann und darf der Angeklagte selbstbe2 Begriff nach Eb. Schmidt, Strafprozessrecht, S. 46 Rn 72, 73 - Schmidt zufolge ist der Geist eines Strafprozessrechts in entscheidendem Maße davon abhängig, wie die Prozessordnung die Rechtsstellung des Beschuldigten ausgestaltet. Müller-Dietz sieht in der Frage dieser Ausgestaltung ein Kernproblem des Staatsverständnisses, ZStW 93 (1981), 1177, 1181, 1183. 3 Die Subjektsqualität sieht das BVerfG durch Rechtsstaatsprinzip und Menschenwürdegarantie als verfassungsrechtlich garantiert an, BVerfGE 57, 250, 275; 63, 380, 390; 66, 313, 318.

4 SK/StPO-Wolter, Vor § 151 Rn 25; Roxin, StPO, § 2 Rn 9. 5 Hess, S. 44; U. Stein ZStW 97 (1985), 303, 314 - Ein M i n i m u m an Selbstbestimmung ist Voraussetzung dieser Entscheidungsfreiheit. 6 BVerfGE 38, 105, 112; die Verfahrensstellung des Beschuldigten wird aus diesem Grunde als Ausdruck des Geistes einer Verfahrensordnung und des Verständnisses einer Gesellschaft über das Verhältnis des einzelnen zum Staat angesehen, LR-Rieß, Einl. Abschn. I Rn 65; vgl. dazu Weigend ZStW 113 (2002), 271, 291 - Der Angeklagte muss als Mitbürger - als einer von uns - behandelt werden, dem grundsätzlich die gleichen Rechte zur aktiven Beteiligung am Prozess eingeräumt werden wie der Anklagebehörde.

7 Welp ZStW 90 (1978), 101,117. 8 U. Stein ZStW 97 (1985), 303, 316; ähnlich - in anderem Kontext - Grüner, S. 220, 221. 9

LR-Rieß, Einl. Abschn. I Rn 84 - Rieß weist dabei auf die verschiedenen Präklusionsvorschriften hin.

Β. Die Prozessrolle des Angeklagten als eigenständiges Verfahrenssubjekt

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stimmt handeln, dann trägt er die Verantwortung für die Konsequenzen seiner autonomen Entscheidungen. Die Freiheit des Angeklagten, an dem Verfahren mitzuwirken oder nicht, ist als fundamentales Recht anzusehen. 10 Ob der Angeklagte sich am Prozess durch die ihm zu Gebote stehenden Mitwirkungsrechte aktiv beteiligen oder diesen nur gleichsam „über sich ergehen lassen'4 will, muss er aus eigenem Entschluss in Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür oder sonst freiheitswidriger willensverformender Beeinflussung nach selbst zu verantwortenden Gründen eigener Richtigkeit entscheiden. 11 Solange und soweit dies gewährleistet ist, können in Prozesshandlungen des Angeklagten Manifestationen seiner Rechtssubjektivität und mithin seiner Eigenverantwortlichkeit gesehen werden. 1 2 Den Angeklagten trifft mithin die Obliegenheit der sorgfältigen Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts. Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts ist daher die Verantwortung für Risiken, vor allem Irrtümer, die ohne Beeinflussung von außen aus der eigenen Sphäre resultieren bzw. in der eigenen Sphäre entstanden sind. 1 3 Derartige Willensmängel berühren die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts folglich nicht. Auch i m Schrifttum wird dies für sachgerecht gehalten, soweit die Vermeidung der Fehlvorstellung in den Verantwortungsbereich des Verzichtenden f ä l l t . 1 4 Der reformierte Strafprozess sieht den Angeklagten aber nicht nur als Subjekt des Verfahrens mit weitreichenden eigenen Handlungs- und Einwirkungskompetenzen, sondern auch als Objekt staatlichen Zwanges und als Beweismittel und damit zugleich als Passivbeteiligten. 15 Diese Ambivalenz der Rollenstruktur ist eine •o Kahlo K r i t V 97, 183,205. 11 So ausdrücklich und treffend Kahlo K r i t V 97, 183, 205. 12 Vgl. Eb. Schmidt, Strafprozessrecht, S. 46 Rn 74. 13

Soweit teilweise vertreten wird, dass die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzuwenden seien und daher zumindest der unverschuldete Irrtum beachtlich sein müsse, so ζ. B. Dencker, Willensfehler, S. 45 f., Joachim, S. 217 ff., H. Müller, S. 44 f.; Oehler JW 29, 51; Oetker, JZ 63, 227, geht dies in die gleiche Richtung. Der unverschuldete Irrtum ist mithin keine eigenständige Fallgruppe eines Willensmangels, sondern ein potenzielles Ergebnis der Verantwortungsverteilung. Taugliche Maßstäbe für die Frage, wann ein Irrtum unverschuldet ist, liefert dieser Teil der Literatur nicht. Der Begriff „unverschuldet" wird von der Vertretern dieser Ansicht sogar stark abweichend interpretiert, vgl. Übersicht bei Schulze, S. 80 ff. 14 SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 30 - So ζ. B., wenn der Beschuldigte die klaren Urteilsaussagen falsch auffasst, die Gelegenheit zur rechtlichen Beratung nicht nutzt oder bei Fehlbeurteilung i m Rahmen einer Eigeninterpretation; i m Ergebnis übereinstimmend KMR-Sax, Einl. X Rn 36. ι 5 LR-Rieß, Einl. Abschn. I Rn 66; ders. bereits früher mit ausführlicher Einzeldarstellung von Befugnissen und Pflichten in FS-Reichsjustizamt, S. 373 ff.; Müller-Dietz spricht von einer Doppelrolle bzw. Rollenambivalenz, ZStW 93 (1981), 1177, 1216, 1217; einen kurzen prozessgeschichtlichen Überblick zur Entwicklung gewährt Kahlo K r i t V 97, 183, 189 ff., der die Prozesssubjektivität aus der Rechtssubjektivität von der vorpositiven Grundlage einer praktischen Philosophie her entwickelt und konkret bestimmt, S. 193 ff.

70

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Eigenart des Strafverfahrens. 16 Die Frage der Autonomie muss daher situationsbezogen und prozessspezifisch 17 beurteilt werden. Die Prozessrolle des Angeklagten zwingt nicht dazu, ihn von allen Nachteilen freizuhalten. 18 Ganz i m Gegenteil: Der reformierte Strafprozess mutet dem Angeklagten eine ganze Reihe von (rechtmäßigen) Autonomiebeeinträchtigungen zu. Bereits der Strafprozess als solcher berührt das Selbstbestimmungsrecht des Angeklagten. 1 9 Auswirkungen auf die Stellung und Autonomie des Angeklagten ergeben sich insofern bereits aus der Struktur und dem Verhältnis der Prozessrollen der Verfahrensbeteiligten zueinander. 2 0 M i t h i n kommt es im Strafverfahren zu vielfältigen Interaktionen zwischen den Prozessbeteiligten, die Beeinträchtigungen der Autonomie mit sich bringen können, aber gleichwohl prozessrechtlich zulässig sind. Bezogen auf den Rechtsmittelverzicht lässt sich das folgendermaßen formulieren: Gesetzliches Leitbild des § 302 I StPO ist ein Verzicht, bei dem der Verurteilte aus freien Stücken und ohne rollenwidrige - also dysfunktionale - bzw. sonst prozessrechtlich unzulässige Beeinflussung durch andere Prozessbeteiligte zum Ausdruck bringt, dass er die Rechtsmittelfrist nicht in Anspruch nehmen möchte 2 1 . A u f dieser Grundlage lässt sich bereits eine erste - grobe - Aussage darüber treffen, wann das Vorliegen oder die Entstehung eines Willensmangels in den Verantwortungsbereich des Angeklagten fällt: In den Verantwortungsbereich des Angeklagten fallen zunächst alle Willensmängel, die im Rahmen einer unbeeinflussten, autonomen Entscheidung des Angeklagten entstanden sind. Auch in Fällen, in denen die Prozesssubjektstellung zwar durch andere Beteiligte beeinträchtigt wird, dies aber nicht prozessordnungswidrig geschieht, bleibt es bei der Eigenverantwortlichkeit. Lediglich dann, wenn es zu einer prozessordnungswidrigen Beeinflussung der Entscheidungsautonomie kommt, ist eine VerantwortungsVerlagerung denkbar. Zur Gewährleistung der Übersichtlichkeit der Untersuchung ist das weitere Vorgehen an dem obigen Befund zu orientieren. Daher gilt es vorab in einem ersten Schritt der Verantwortungsabschichtung die Fälle herauszuarbeiten, die dem Verantwortungsbereich des Angeklagten relativ unkompliziert zugeordnet werden können, weil es für ihre Behandlung nicht darauf ankommt, ob eine Autonomiebeeinträchtigung prozessordnungswidrig erfolgt und anhand welcher Maßstäbe dies

16

Der Beschuldigte befinde sich in einer durchaus unvergleichbaren Lage, Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1177, 1217. 17 Dafür plädieren, wenn auch in anderem Kontext, Beulke, Verteidiger, S. 71 ff. und Rieß StV 81, 460, 462. 18 Vor allem im Bereich der Absprachen müsse die Eigenverantwortung auf Grund des Vertragscharakters beachtet werden, Rönnau JR 2001, 29, 33. 19

Rzepka, S. 323; Rechtliche Grundlage dieser Eingriffe ist vor allem die StPO.

20 Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1177, 1198, 1201 - Rechte und Duldungspflichten korrespondieren mit der Gesamtstruktur und der generellen Zielsetzung des Verfahrens. 21 Die Formulierung des gesetzlichen Leitbildes ist angelehnt an Erb G A 2000, 511, 524.

Β. Die Prozessrolle des Angeklagten als eigenständiges Verfahrenssubjekt

71

zu bemessen ist. A n dieser Stelle interessieren insofern nur solche Willensmängel, die ohne Willensverformung und Autonomiebeeinträchtigung von außen entstanden sind. 2 2 Damit sind auch diejenigen Willensmängel gemeint, die i m Zuge von Interaktionen mit anderen Prozesssubjekten entstanden sind, welche zu keiner Autonomiebeeinträchtigung geführt haben. Erst i m Anschluss an die Ermittlung dieser Konstellationen folgt in einem zweiten Schritt die Untersuchung der Fälle, in denen es zu Beeinflussungen der Autonomie des Angeklagten kommt. Abhängend vom Verursacher der Autonomiebeeinträchtigung ist dabei auf die Fallgruppen „objektive Irreleitung und Drohung durch Strafverfolgungsorgane", „objektive Irreleitung und Drohung durch den Verteidiger", „objektive Irreleitung und Drohung durch außerprozessuale Dritte" sowie „Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht" zu verweisen. A u f der Grundlage des konkreten Rollenzusammenspiels wird dort zu prüfen sein, ob die Beeinflussung nicht nur willensverformend ist, sondern auch die Autonomie des Angeklagten - prozessordnungswidrig - verletzt. I m letzteren Fall wird der Angeklagte durch die fremde Einflussnahme von seiner Verantwortung frei. Begonnen werden soll jedoch aus oben genannten Gründen mit der Ermittlung der Willensmängel, die ohne Willensverformung und Autonomiebeeinträchtigung von außen entstanden sind. Dabei ist zunächst an die Konstellationen des Inhaltsund Erklärungsirrtums zu denken.

I. Erklärungs- und Inhaltsirrtum Ohne freiheitswidrige Beeinflussung von außen entstehen regelmäßig Inhaltsund Erklärungsirrtum. Beim Erklärungsirrtum setzt der Angeklagte ein anderes Erklärungszeichen, als er gewollt hat, indem er sich z. B. verspricht oder verschreibt. Ihm unterläuft ein Fehler bei der Willensäußerung, denn er erklärt objektiv etwas, das er nicht erklären will. Praktisch ist ein Erklärungsirrtum kaum vorstellbar oder bereits durch Auslegung behebbar, da ein solcher Irrtum meist erkennbar sein wird. Von einem Inhaltsirrtum spricht man, wenn der Erklärende zwar das gewollte Erklärungszeichen setzt, dieses jedoch etwas anderes bedeutet, als der Erklärende gemeint hat. 2 3 Er misst seiner Erklärung subjektiv einen anderen Sinn bei, als sie objektiv aufweist.

22

Willensänderungen nach Abgabe der Verzichtserklärung sind ohnehin immer irrelevant, vgl. BGHR, StPO, § 302 I 1 Nr. 11 - Beim Verzicht lag selbstbestimmtes Handeln des Angeklagten ohne Willensmangel vor. Die tatsächlich erfolgte, spätere Willensänderung ist kein Willensmangel, da es nur auf die Motivationslage zum Zeitpunkt des Verzichts ankommt. 23

Ähnliche Definition OLG Nürnberg, OLGSt, § 302 StPO S. 15, 17.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Eine „Annahmeerklärung", die objektiv zweifelsfrei als Rechtsmittelverzicht zu verstehen i s t 2 4 , mit der ein Angeklagter aber nur kundtun will, dass er die Entscheidung des Gerichts akustisch verstanden hat und/oder akzeptiert, auf die Einlegung eines Rechtsmittels aber nicht verzichten will, wäre ein Fall des Inhaltsirrtums. Der Angeklagte wählt bewusst und gewollt das Erklärungszeichen „ A n nahmeerklärung", irrt aber über die Bedeutung, die seiner Erklärung objektiv beigemessen wird. Er weiß nicht, dass seine Erklärung zum Verlust der Anfechtungsmöglichkeit führt. Einem Inhaltsirrtum unterliegt der Angeklagte auch dann, wenn er auf die Frage des Richters, ob der Angeklagte auf Rechtsmittel verzichte, mit „Ja" antwortet, weil er glaubte, nach der Berufungseinlegung gefragt worden zu sein, diese Äußerung aber objektiv eindeutig als Rechtsmittelverzicht zu verstehen ist. 2 5 Auch in diesem Fall bezieht sich der Irrtum auf die Bedeutung des bewusst gewählten Erklärungszeichens, denn der Angeklagte maß seiner Erklärung die rechtliche Bedeutung der Berufungseinlegung bei. Wie der Erklärungsirrtum haftet auch der Inhaltsirrtum der Willensäußerung an. Kein Inhaltsirrtum ist daher der Irrtum über den Inhalt des Urteils, auch wenn dies assoziativ und terminologisch nahe liegen mag. Bei einem Irrtum über den Inhalt des Urteils, infolgedessen ein Rechtsmittelverzicht erklärt wird, handelt es sich regelmäßig um einen Motivirrtum, weil derartige Fehlvorstellungen die Willensbildung betreffen. Über das gewählte Erklärungszeichen und dessen Bedeutung irrt sich der Angeklagte nicht. Einzig rechtlich relevantes Erklärungszeichen ist der Rechtsmittelverzicht. Diesen erklärt der Angeklagte bewusst und gewollt. Er irrt sich auch nicht über die Bedeutung des Erklärungszeichens, denn er weiß um dessen rechtliche Wirkung: den Verlust der Anfechtungsmöglichkeit. Was der Angeklagte hingegen nicht weiß, ist, dass er dieser Anfechtungsmöglichkeit noch bedarf, da er infolge der Fehlvorstellung über den Inhalt des Urteils einen günstigeren Ausgang annimmt, als dies tatsächlich der Fall ist. Der Angeklagte irrt also nicht über den Umstand des Verlustes der Rechtsmittel, sondern das „Benötigen" der Rechtsmittel. Die Frage, ob es i m jeweiligen Fall sinnvoll oder erforderlich ist, den Rechtsmittelweg zu beschreiten, betrifft aber ausschließlich die Willensbildung und nicht die Willensäußerung. Wen trifft nun aber die Verantwortung für die Fehlerfreiheit der Willensäußerung? Ist der Mangel bei der Willensäußerung nicht erkennbar, muss - in Anknüpfung an das einleitend Ausgeführte - den Angeklagten infolge seines Selbstbestim24 Einen solchen Fall hatte der BGH in BGH JR 52, 483 zu entscheiden - Wird auf die Frage, ob man das Urteil annehme, mit „Ja" geantwortet, sei darin zwar dann kein Rechtsmittelverzicht zu sehen, wenn nicht einwandfrei feststeht, dass er damit seinen Willen kundtun wollte, von einer Anfechtung des Urteils abzusehen. Aus den vorliegenden Umstanden ergebe sich aber mit Sicherheit, dass der Angeklagte sich der Tragweite seiner Antwort bewusst war („gewisse Feierlichkeit des Vorsitzenden", „Antwort nach einigem Besinnen"). 25 Der Verzicht ist auch dann wirksam, Siegert, Prozesshandlungen, S. 15; a.A. Peters, § 34 I I 4 - Bei einem Laien könne das bloße „Ja" nie eine eindeutige Erklärung sein.

Β. Die Prozessrolle des Angeklagten als eigenständiges Verfahrenssubjekt

73

mungsrechts, das aus der Subjektsstellung entspringt, die Verpflichtung treffen, seine Erklärungen zu prüfen und eventuelle Fehler zu korrigieren. 2 6 Es gilt das eindeutig Erklärte. 2 7 Schlichte Unaufmerksamkeit geht zu Lasten des Angeklagten. 2 8 I m Übrigen ist der A k t der Willensäußerung, anders als derjenige der Willensbildung, kaum der Beeinflussung von außen zugänglich. Interaktionen mit anderen Beteiligten haben regelmäßig nur Einfluss auf die Grundlage der Entscheidung, also den Entscheidungsprozess, nicht aber auf den schlichten Realakt der Entscheidungsverkündung. Irrtümer bei der Willensäußerung entstehen typischerweise autonom. Grundsätzlich ist es somit Aufgabe des Angeklagten, die Reichweite seiner Erklärungen i m Auge zu haben. Es wird daher auch von der verständiger Weise zu verlangenden Sorgfalt gesprochen. 29 Eine andere Ansicht im Schrifttum sieht einen Inhalts- oder Erklärungsirrtum hingegen stets als beachtlich an, soweit er nicht auf bloßer Unaufmerksamkeit beruht. 3 0 Eine solche Sichtweise verkennt aber die grundsätzliche Lasten Verteilung und die erhöhte Sorgfaltspflicht i m Prozess. 31 Erliegt der Erklärende einem Irrtum bei der Willensäußerung, so ist der Willensmangel regelmäßig unbeachtlich 3 2 und der Rechtsmittelverzicht daher wirksam. 3 3

26 So sieht es auch Sax. Der Angeklagte trage die Verantwortung dafür, dass er die i h m zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten in einer seinem Prozessinteresse entsprechenden Weise ausübt, KMR-SßJt, Einl. X Rn 30. 27 A . A . Peters, § 34 I I 3, der in Anknüpfung an Be ling, S. 204, fordert, dass das Erklärte auch dem Willen des Erklärenden entsprochen haben muss. Peters geht deshalb vom Fehlen einer wirksamen Verzichtserklärung aus, wenn das Erklärte und auch die Erklärung nicht gewollt ist und bezeichnet dies als Erklärungsirrtum. Anderer Ansicht waren schon früher Eb. Schmidt, L K I, Rn 184; R. Schmidt JuS 67, 158, 161 und Oetker JW 29, 49, 51. Maßgeblich ist das nach außen in Erscheinung tretende Erklärte, so auch RGSt 57, 83. 2

« Bereits früher Oetker JW 29, 49, 51.

2

9 Oetker JW 29, 49, 51.

30

Schulze, S. 206, 207, 208; Solche Irrtümer hätten grundsätzlich als unverschuldet zu gelten, allein Unaufmerksamkeiten führten zu einer Unbeachtlichkeit, weil ein solcher Irrtum vom Angeklagten selbst verschuldet sei. Das Abstellen auf das Verschulden bei Schulze ist Ausfluss seines Lösungsansatzes über die entsprechende Anwendung der Wiedereinsetzungsvorschriften. 3

1 Plötz, S. 184.

32

Auch der Inhaltsirrtum, der Sinn und Tragweite des Verzichts (also die Bedeutung des Erklärungszeichens, Anm. d. Verf.) betrifft, ist grundsätzlich unbeachtlich, Oehler JZ 63, 227, 228. 33 Anders wohl Dencker, Willensfehler, S. 57, 58, da die von ihm geforderte Rechtsbefriedungsfunktion nicht erfüllt werden könne, wenn ein Willensmangel, gleichgültig ob Erklärungsirrtum, Inhaltsirrtum oder Täuschung, die volle Zustimmung zum Urteil verhindere.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

II. Fehlendes Erklärungsbewusstsein Bei fehlendem Erklärungsbewusstsein erkennt der sich Äußernde nicht, dass er etwas rechtlich Erhebliches kundgibt. Es gelten die Ausführungen zum Erklärungs- und Inhaltsirrtum entsprechend, denn der Willensmangel haftet auch bei fehlendem Erklärungsbewusstsein der Willensäußerung an. Der Angeklagte irrt sich über die prozessrechtliche Relevanz des gewählten Erklärungszeichens. Ohne Beeinflussung von außen ist auch dieser Willensmangel als Kehrseite der gewährten Autonomie stets unbeachtlich. 3 4

III. Scherzerklärung, Mentalreservation 35 Das bezüglich der Eigenverantwortlichkeit Gesagte muss erst recht gelten, wenn bewusst eine Erklärung unter dem Vorbehalt abgegeben wird, das Erklärte nicht zu wollen. Gemeint sind damit die Fälle der Scherzerklärung und Mentalreservation. Zum Teil wird die Scherzerklärung daher auch als grundsätzlich unbeachtlich angesehen. Nach dieser Ansicht erfordere der ernsthafte Charakter des Strafverfahrens auch solches Handeln. 3 6 Die Erwartung, die mangelnde Ernstlichkeit werde erkannt, beruhe daher auf Fahrlässigkeit. Etwaige Irrtümer seien somit selbst verschuldet. 37 Dem ist i m Ergebnis zuzustimmen. Missbraucht der Angeklagte das ihm eingeräumte Selbstbestimmungsrecht, dann muss er auch die Missbrauchsrisiken tragen. Indem er eine Scherzerklärung abgibt, schafft er den in Rede stehenden Willensmangel bewusst selber. 38 Der Angeklagte trägt für diesen somit auch die alleinige Verantwortung. Er muss sich an dem Verzicht festhalten lassen. I m Falle eines geheimen Vorbehalts erzeugt der Angeklagte ebenfalls bewusst einen Willensmangel, wobei er sogar davon ausgeht, dass der geheime Vorbehalt nicht erkannt wird. Der Angeklagte w i l l gerade ein Missverständnis hervorrufen, so dass er auch erst recht die Verantwortung für die Folgen des Missverständnisses tragen muss. Der Willensmangel ist daher unbeachtlich und der Rechtsmittelverzicht wirksam. 3 9

34

I m Ergebnis übereinstimmend, Eb. Schmidt, L K I, Rn 184; anders wohl Peters, § 34 I I 3.

35

Die Konstellation des Scheingeschäfts bedarf an dieser Stelle keiner Erörterung. Sie lässt sich stets i m Wege der Auslegung lösen, vgl. Teil 1 B.II.5.f). 36 Zumindest muss der Erklärende bei Scherzerklärungen dafür Sorge tragen, dass der Scherz auch erkennbar wird. Dafür trägt allein der Erklärende die Verantwortung. 37 Schuhe, S. 210, 211. 38 Sein wahrer Wille ist nämlich nicht erkennbar. 39 Die bloße Hoffnung, nicht an der Erklärung festgehalten zu werden, kann angesichts der eindeutigen Verantwortungsverteilung und des hervorgerufenen Vertrauens in den Bestand der Erklärung zu keinem anderen Ergebnis führen, und zwar selbst dann nicht, wenn der Angeklagte von einer freien Widerruflichkeit ausging. Der Erklärende ist nicht schutzwürdig. Ein Irrtum über die Unwiderruflichkeit wäre ein unbeachtlicher Rechtsfolgeirrtum.

Β. Die Prozessrolle des Angeklagten als eigenständiges Verfahrenssubjekt

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IV. Motivirrtum Als Motivirrtum bezeichnet man einen Irrtum i m Beweggrund. Anders als der Erklärungs- oder Inhaltsirrtum betrifft der Motivirrtum den Vorgang der Willensbildung. Die objektiv abgegebene Erklärung entspricht hingegen dem Willen der Erklärenden. Auch über die Bedeutung des Erklärungszeichens irrt der Erklärende sich nicht. Lediglich der vorangegangene Entscheidungsprozess war fehlerhaft. Dies ist zumeist der Fall, wenn die Entscheidung zur Abgabe der Verzichtserklärung auf einer irrigen Beurteilung der Sachlage beruht 4 0 , ζ. B. wenn das richtig verkündete Urteil falsch verstanden w i r d 4 1 , Fehleinschätzungen hinsichtlich der prozessualen Lage vorliegen oder über die (vor allem außerprozessualen) Folgen des Urteils falsche Vorstellungen bestehen. Die erste Schockwirkung nach dem Urteil und die Erregung über die Höhe der Strafe tasten die Autonomie des Angeklagten nicht an, sondern können allenfalls eine fehlerhafte Beurteilung der Sachlage befördern 4 2

1. Irrtum über den Inhalt des Urteils Ein Fall des Irrtums über den Urteilsinhalt lag BGH wistra 91, 271 zu Grunde: Der Angeklagte war davon ausgegangen, dass die schriftlichen Urteilsgründe keine anderen Gesichtspunkte enthalten würden als die mündlich mitgeteilten. Obgleich der Anklagevorwurf „Bezahlung von Bestechungsgeldern 44 gem. § 154 StPO eingestellt wurde, ist dieser in den schriftlichen Urteilsgründen anders als in den mündlichen thematisiert worden 4 3 Ein solcher Irrtum hat von vornherein keinen Einfluss auf die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts. Er beeinträchtigt nicht die Autonomie bezüglich der Rechtsmittelentscheidung, da der Angeklagte den ihm missliebigen Teil der schriftlichen Urteilsgründe ohnehin nicht mit einem Rechtsmittel beseitigen könnte 4 4 40 Peters, § 34 II 5. 41 KMR-Sox, Einl. X Rn 32. 42 H K / StPO-Rautenberg,

§ 302 Rn 5; Roxin, StPO, § 51 Rn 26.

43

Der Angeklagte behauptete, vom Gericht getäuscht worden zu sein. Von einer Täuschung konnte allerdings keine Rede sein. Der Vorsitzende hatte nichts bewusst weggelassen, um den Angeklagten zu einem Rechtsmittelverzicht zu veranlassen. Der Angeklagte irrt also lediglich darüber, dass die schriftlichen Urteilsgründe keine anderen Gesichtspunkte enthalten als die mündlichen. 44 BGH wistra 91, 271 - eine zustimmungswürdige Entscheidung: Das Gericht hat keine rechtsmittel-relevante Fehlvorstellung verursacht. Es ergibt sich anders als bei OLG Köln JR 69, 392 kein Auseinanderfallen der rechtlichen Folgen, keine innere Diskrepanz. Rechtliche Auswirkungen haben die zusätzlichen Ausführungen zu den Motiven in den schriftlichen Urteilsgründen nicht. Nach Abschluss der Urteilsbegründung verfügte der Angeklagte über alle rechtlich relevanten Informationen, um sachgerecht und wirksam über Rechtsmittel disponieren zu können, anders als bei OLG Köln JR 69, 392.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Die Autonomie der Entscheidung ist allerdings dann gefährdet, wenn der Angeklagte sich i m Irrtum über die ausgesprochene Sanktion befindet. Ein solcher Irrtum entsteht typischerweise, wenn der Angeklagte den Urteilsspruch missverstanden hat. So hatte sich der Angeklagte in einem vom OLG Stuttgart entschiedenen Fall darauf berufen, dass er die Höhe der Strafe missverstanden hat. Der Angeklagte ging von einer Verurteilung zu 14 Monaten Freiheitsstrafe aus. Indessen war dem in Anwesenheit des Angeklagten verkündeten Urteilsspruch eindeutig zu entnehmen, dass dieser zu 1 Jahr und 10 Monaten verurteilt worden war. 4 5 Ein Irrtum i m Motiv lässt nach Peters die Gültigkeit des Erklärten unberührt 4 6 Die Willensbildung fällt in den Verantwortungsbereich des Angeklagten. Die StPO eröffnet dem Angeklagten diverse Rechtsmittel, deren Wahrnehmung und Ausnutzung seiner Disposition unterliegen. In Form der Einführung von Rechtsmittelfristen (teilweise sogar differenziert nach Einlegungs- und Begründungsfristen) gewährt die StPO dem Angeklagten zugleich die Möglichkeit hinreichender Überlegung. Wahrnehmung und Ausnutzung der prozessualen Möglichkeiten sind daher Angelegenheiten des Angeklagten. 4 7 Der Angeklagte trägt mithin die Verantwortung dafür, dass er die ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten in einer seinem Prozessinteresse entsprechenden Weise a u s ü b t 4 8 Seiner Subjektsrolle wird der Angeklagte nur durch besondere Aufmerksamkeit und eventuelle Nachfragen gerecht, die ihm die Möglichkeit einer selbstdefinierten Entscheidung erhalten. Dies muss umso mehr in Fällen wie dem zuvor geschilderten gelten, weil das richtige Verstehen des Urteils ein reines Internum des Angeklagten ist. Dieses entzieht sich einer Prüfung durch das Gericht. 4 9 Wenn nicht erhebliche Anhaltspunkte für ein Missverstehen vorliegen - dann wäre eine Nachfrage des Gerichts auf Grund der gerichtlichen Fürsorgepflicht unter Umständen sogar geboten 5 0 - darf das Gericht davon ausgehen, richtig verstanden worden zu sein. Der Rechtsmittelverzicht wäre wirksam. Das Risiko des Verhörens oder Missverstehens trägt der Angeklagte als Ausfluss seiner Prozessrolle selbst. Würde der Angeklagte von jeglicher Verantwortlichkeit entbunden, wären Schutzbehauptungen Tür und Tor geöffnet. 4

5 OLG Stuttgart, OLGS t, § 302 S. 13 - Der Rechtsmittel verzieht sei daher wirksam.

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Peters, § 34 I I 5 - I m Interesse eines geordneten Rechtsgangs sei der Grundsatz der Gültigkeit der Willenserklärung bei Irrtum i m M o t i v unentbehrlich. 47 So schon Schulze, S. 212. 48 KMR-Sax, Einl. X Rn 30. 49 Insofern darf man dem Gericht auch nicht die Verantwortung aufbürden, soweit dessen Funktionsgrenzen überschritten sind. 50 Die Erkennbarkeit eines Hilfsbedürfnisses ist wesentliches Strukturelement der Fürsorgepflicht. Führt Oetker aus, dass auch ein Schwerhöriger sich im Bewusstsein seines Mangels über den Inhalt informieren muss, vgl. JW 29, 49, 51, so kann dem nicht gefolgt werden, soweit auch das Gericht diesen Mangel kannte. Dieses hat dann Vorsorge dafür zu treffen, dass der Angeklagte den Inhalt der Entscheidung tatsächlich versteht. Trifft das Gericht jedoch die objektiv erforderlichen Vorkehrungen, kommt es bezüglich der Verantwortungsverteilung auch nicht mehr darauf an, ob der Angeklagte den Inhalt des Urteils auch tatsächlich richtig verstanden hat.

Β. Die Prozessrolle des Angeklagten als eigenständiges Verfahrenssubjekt

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Anderer Auffassung war früher das OLG Rostock, welches das richtige Verständnis der wesentlichen Entscheidungspunkte zur Bedingung für die Wirksamkeit des Verzichts machte 5 1 : Ein Irrtum in diesem Bereich - der Angeklagte hatte die Strafhöhe falsch verstanden, ohne dass dies für das Gericht erkennbar war lasse den Verzicht von vornherein als wirkungslos erscheinen 52 . Auch das OLG Frankfurt hatte ausgeführt, dass der Verzicht unwirksam sei, wenn der Angeklagte infolge eines Irrtums einen Verzicht gar nicht habe abgeben wollen, oder nur deshalb, weil er glaubte, zu einer deutlich geringeren Strafe verurteilt worden zu sein. 5 3 Für die Wirksamkeit einer Prozesserklärung sei erforderlich, dass diese auch dem Willen des Erklärenden entspricht. 5 4 Das öffentliche Interesse an einem klaren ungehinderten Fortgang des Prozesses habe zurückzutreten. 55 Diese Entscheidungen sind mittlerweile überholt. 5 6 Sie widersprechen der oben dargelegten Verantwortungsverteilung i m reformierten Strafprozess. Die handelnden Personen müssen an ihrer erhöhten Verantwortlichkeit i m Prozessrecht festgehalten werden. 5 7 Unaufmerksamkeit geht zu Lasten des Angeklagten. 5 8 Bereits das RG hatte entschieden, dass eine unzweideutige Verfügung über ein Rechtsmittel der Rechtswirksamkeit nicht um deswillen entbehren darf, weil sie mit dem inneren Willen des Erklärenden nicht übereinstimmt. 5 9 Beruht die prozessuale Erklärung auf einem Irrtum, dem der Erklärende, unbeeinflusst durch andere, selbst unterliegt, so ist sie uneingeschränkt beachtlich. 6 0

2. Irrtum über die prozessuale Rechtslage Eine für den Rechtsmittelverzicht ausschlaggebende Fehleinschätzung der Sachlage kann auch aus einem Irrtum über die prozessuale Rechtslage, ζ. B. das Verbot der reformatio in peius, herrühren. Motivirrtum kann auch die unzutreffende Beur51 Ebenso Dencker, Willensfehler, S. 57. Diesem ist freilich zuzugeben, dass die vollständige und richtige Erfassung des Urteilsinhalts wichtig und durch das Gericht sicherzustellen ist. Eine einseitige vollumfängliche Verantwortung des Gerichts für das richtige Verstehen des Urteils würde jedoch die Prozessrolle des Angeklagten verkennen.

52 OLG Rostock ZStW 44 (1924), 192 - Einer Anfechtung bedürfe es daher nicht. 53 OLG Frankfurt Gefängnis.

JW 24, 331, 332 (Nr. 9) - 1000 Mark statt 20.000 Mark und 1 Monat

54 Diese Auffassung entspricht der sog. Willenstheorie; vgl. zu dem früher diskutierten Meinungsstand um Willens- und Erklärungstheorie, Grünst, S. 324 f. 55 OLG Frankfurt

JW 24, 331, 332 (Nr. 9).

56 Schon Oetker betont, dass die Wirksamkeit von Prozesserklärungen nicht davon abhängt, dass die Erklärung auch dem Willen des Erklärenden entspreche. Es sei lediglich ein Erklärungswille erforderlich, JW 29, 49, 50.

57 Plötz, S. 184. 58 Oetker JW 29, 49, 51. 59 RGSt 57, 83. 60 KMR-Sax, Einl. X Rn 32.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

teilung der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels sein, z. B. wenn der Angeklagte fälschlicherweise davon ausgeht, dass die Spruchpraxis des jeweiligen Rechtsmittelgerichts oder eine gefestigte ständige höchstrichterliche Rechtsprechung einen Erfolg des Rechtsmittels aussichtslos erscheinen lassen. Auch ein solcher Irrtum fällt grundsätzlich in den Verantwortungsbereich des Angeklagten. M i t der Einräumung der Rechtsmittelbefugnis gehen entsprechende Informationslasten einher. 61 Dencker folgert diese aus der Existenz des § 35a StPO. 6 2 Indem der Gesetzgeber eine Belehrung gem. § 35a StPO vorschreibe, zeige dieser zugleich, dass Irrtümer über weitere prozessuale Fragen in Kauf genommen werden. Letztlich nimmt der Gesetzgeber damit selbst eine Abschichtung der Verantwortungsbereiche vor. Als juristischer Laie, der der Angeklagte regelmäßig ist, muss er sich bezüglich der Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei einer kompetenten Stelle informieren. Typischerweise wird diese Aufgabe sein Verteidiger übernehmen. Auch der Irrtum über die prozessuale Rechtslage i m Rahmen der Entschlussbildung fällt mithin in die Verantwortungssphäre des Angeklagten mit der Folge, dass alle damit verbundenen Risiken zu seinen Lasten gehen. 6 3 Grundvoraussetzung ist gleichwohl, dass der Angeklagte ohne „Anstoß" von außen, aus freiem, unbeeinflusstem Entschluss handelt. 6 4 Beruht der Motivirrtum allerdings auf fehlerhafter Beratung des Verteidigers, so liegt ein Anstoß von außen, eine freiheitswidrige willensverformende Beeinflussung vor. Der Angeklagte ist in der sachgerechten Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts behindert, da er auf Grund des Fehlers eines anderen Prozessbeteiligten falsche Vorstellungen von der Sachlage hat. Seine Autonomie ist beeinträchtigt. Ob dieser Umstand den Angeklagten von seiner Verantwortung für den Motivirrtum entbindet, ist an anderer Stelle unter eingehender Betrachtung des prozessualen Zusammenspiels von Verteidiger und Angeklagtem und ihres Verhältnisses zueinander sowie der generellen Funktion der Verteidigung i m Strafverfahren zu ermitteln. 6 5 Ein „Anstoß" von außen könnte ebenfalls in der Verkündung eines Haftverschonungsbeschlusses zu sehen sein, in dessen Anschluss ein zu 3 Jahren Gesamtfreiheitsstrafe verurteilter Angeklagter unmittelbar Rechtsmittelverzicht erklärt. 6 6 Gegen diesen legte der Sitzungsvertreter der StA sofort Beschwerde ein. Die Vollzie-

61 Dahs, FS-Schmidt-Leichner, S. 17,22. 62 Dencker, Willensfehler, S. 59. 63 Dahs, FS-Schmidt-Leichner, S. 17, 22. 64 Dahs, FS-Schmidt-Leichner, S. 17, 23. Dahs knüpft die Freiheit der Entscheidung an die Einhaltung von vier Postulaten, die seiner Auffassung nach einen maximalen Schutz des Angeklagten gewährleisten. 65 SieheuntenC.il. 66 BGH bei Kusch NStZ 95, 20.

Β. Die Prozessrolle des Angeklagten als eigenständiges Verfahrenssubjekt

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hung des Haftverschonungsbeschlusses wurde auf Antrag des Staatsanwaltes hin ausgesetzt, so der Sachverhalt von BGH NStZ 95, 20. Die bloße Hoffnung auf den Fortbestand der Haftverschonung macht den Verzicht aber nicht unwirksam. Ein „Anstoß" von außen, der die Autonomie des Angeklagten berühren könnte, ist ein noch anfechtbarer Haftverschonungsbeschluss des Gerichts nicht. Staatsanwalt und Gericht hatten auch weder falsche Erwartungen hervorgerufen, noch machte der Angeklagte überhaupt geltend, nur auf Grund des Haftverschonungsbeschlusses auf Rechtsmittel verzichtet zu haben. 6 7 Ähnlich ist es zu beurteilen, wenn das A G den Angeklagten zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt und die Strafe durch die erlittene (kürzere!) U-Haft als verbüßt erklärt 6 8 , obgleich der Sitzungsvertreter der StA 6 Monate beantragt hatte. Der Angeklagte hatte unmittelbar i m Anschluss an das Urteil Rechtsmittelverzicht erklärt. Der Sitzungsvertreter der StA hatte indessen keine Erklärung abgegeben. Vielmehr ging die StA kurz darauf in Berufung, woraufhin auch der Angeklagte in vollem Umfang Berufung einlegte. Diese war jedoch auf Grund des wirksamen Rechtsmittelverzichts unzulässig. Das Vertrauen auf den Bestand der günstigen Entscheidung des A G sei lediglich Motiv des Rechtsmittelverzichts gewesen. Ein solcher Motivirrtum macht den Verzicht nach Auffassung des OLG Hamburg aber nicht unwirksam. 6 9 Der Erlass eines günstigen Urteils ist kein „Anstoß" von außen, und zwar unabhängig davon, ob ihm, wie i m oben geschilderten Fall, ein Fehler des Gerichts zu Grunde liegt. 7 0 Die Autonomie des Angeklagten wird durch die Entscheidung selbst nicht beeinträchtigt, denn mit dem rechtlichen Bestand der Entscheidung des A G konnte nicht als sicher gerechnet werden, i m geschilderten Fall insbesondere deshalb, weil die StA keine Erklärung zu den Rechtsmitteln abgegeben hatte und eine deutlich höhere Strafe beantragt hatte. Der Angeklagte musste damit rechnen, dass die StA Berufung einlegen würde. 7 1 Aber auch sonst sind günstige gerichtliche Entscheidungen bis zum Eintritt der Rechtskraft lediglich Optionen, welche die Freiheit des Angeklagten zu selbstbestimmtem Handeln nicht schmälern. 72 Es handelt sich nicht um aktive gerichtliche Einwirkung auf die Entscheidungsautonomie, sondern schlichtes Fehlverhalten, aus dem der Angeklagte selbst falsche Schlüsse zieht 7 3 , wenn er ausgehend von dem fehlerhaften, noch nicht rechtskräftigen Urteil irrtümlich glaubt, der Rechtsmittelverzicht sei günstig. Ein solcher fehlerhafter Schluss ist dem Angeklagten als Verschulden gegen sich selbst zuzurechnen. 74

67 BGH bei Kusch NStZ 95, 20. 68 OLG Hamburg NJW 69, 1976. 69 OLG Hamburg NJW 69, 1976, 1977. 70

Die Auffassung des A G entsprach nicht dem geltenden Recht. Der Strafrest, der die Dauer der U-Haft übersteigt, muss verbüßt werden! OLG Hamburg NJW 69, 1976, 1977. 72 Unter Umständen erweitert eine günstige Entscheidung sogar den Handlungsspielraum. 73 KMR-Sax, Einl. X R n 3 1 .

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

3. Irrtum über die Auswirkungen des Urteils Auswirkungen des Urteils, welche den Willensbildungsprozess hinsichtlich eines Rechtsmittelverzichts mitbestimmen und damit auch Gegenstand eines Motivirrtums sein können, sind vor allem Vollzugs- und Vollstreckungsfragen, berufliche 7 5 und finanzielle Folgen. Für den Angeklagten haben außerstrafrechtliche Folgen des Urteils oder Aspekte außerhalb des Urteils häufig eine besondere Bedeutung. Liefert das Urteil den unmittelbaren Anknüpfungspunkt für diese Folge, dann sind diese zumindest indirekt über die Rechtsmittelentscheidung beeinflussbar. 7 6 Vor allem die sog. Nebenabreden können von großer Wichtigkeit sein. 7 7 Häufig sind es gerade Zusagen seitens der Strafverfolgungsorgane, die nicht die konkrete Strafhöhe zum Thema haben, welche ausschlaggebend für den Rechtsmittelverzicht und die Nichtanfechtung des Urteils sind. Vor allem derartige Zusagen sowie Auskünfte und Belehrungen über die Auswirkungen des Urteils bergen aber die Gefahr einer Beeinträchtigung der Entscheidungsautonomie. Keine derartige Zusage und damit auch keine Autonomiebeeinträchtigung war in dem Sachverhalt erfolgt, welcher der Entscheidung OLG Frankfurt StV 87, 289 zu Grunde lag. Der Angeklagte unterlag einem Motivirrtum infolge eigener Fehlbeurteilung. Die Vorstellung, in den offenen Vollzug zu kommen, war lediglich das Motiv seines Handelns, das allein auf Überlegungen und Erwartungen des Angeklagten beruhte. Diese Vorstellung war nicht durch das Gericht veranlasst worden. Auch der beteiligte Leiter der JVA hatte unmissverständlich darauf hingewiesen, dass eine abschließende Entscheidung noch nicht getroffen werden könne. 7 8 Mangels willensverformender Beeinflussung fällt die Entstehung des Motivirrtums in den Verantwortungsbereich des Angeklagten. Der Rechtsmittelverzicht ist wirksam. Gleiches soll nach Auffassung des BGH gelten, soweit der Angeklagte den Rechtsmittelverzicht auch deshalb erklärt, weil er nicht damit rechnete, dass ihm die Strafkammer i m Rahmen des Bewährungsbeschlusses die Zahlung eines Geldbetrages gem. § 56b I I Nr. 2 StGB auferlegen werde. 7 9 Allein auf Grund der erfolg74 KMR-Sßx, Einl. X Rn 35. 75 Dies sind z. B. Disziplinarverfahren, Verlust des beamtenrechtlichen Status, Verlust der beamtenrechtlichen Versorgungsbezüge. 76 Ansonsten könnte man den formalistischen Standpunkt einnehmen, dass Willensmängel in diesem Bereich stets zu Lasten des Angeklagten gehen, da die in Rede stehenden Auswirkungen gar nicht Gegenstand des Urteils sind und somit auch nicht der Überprüfung in der Rechtsmittelinstanz unterliegen. 77 Dies betont Weiden StV 2000, 540, 542. 78 OLG Frankfurt StV 87, 289, 290 - Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechtsbeständigkeit des formell rechtskräftigen Urteils sei gegen die Gefahr zu schützen, dass der Angeklagte seine Erklärung durch die Berufung auf einen Erklärungs- oder Motivirrtum zu korrigieren versucht. 79 BGHR, StPO, vor § 1 / faires Verfahren / Vereinbarung 6.

Β. Die Prozessrolle des Angeklagten als eigenständiges Verfahrenssubjekt

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ten verfahrensbeendenden Absprache mit dem Gericht, die ein Geständnis gegen eine Freiheitsstrafe unter 2 Jahren sowie deren Aussetzung zur Bewährung zum Inhalt hatte, durfte er nicht darauf vertrauen, dass die Strafkammer von einer Bewährungsauflage absieht. 8 0 Dies ist sicherlich zutreffend. Das Gericht selbst hatte durch sein Verhalten keine entsprechenden Hoffnungen beim Angeklagten geweckt. Mangels Eingriffs in die Autonomie des Angeklagten fällt die Entstehung des Willensmangels allein in dessen Verantwortungsbereich.

a) Irrtümer infolge ausdrücklicher Erklärungen zur Sach- und Rechtslage durch Gericht oder StA Problematischer erscheint allerdings die Behandlung der Fälle, in denen das Gericht ausdrücklich Erklärungen zur Sach- und Rechtslage abgibt, und der Angeklagte diese zur Grundlage seiner Entscheidung macht. Zur Veranschaulichung sind - stellvertretend für die Vielzahl möglicher Beispielsfälle - zunächst vier exemplarische und scheinbar ähnliche Fälle zu schildern, in denen jeweils eine Beeinflussung des Entscheidungsprozesses durch ein Strafverfolgungsorgan zu einem Motivirrtum bei der Verzichtserklärung des Angeklagten führt. I m Anschluss an die Fallschilderung sind die genannten Beispiele einer Behandlung auf der Grundlage des Untersuchungsansatzes zu unterziehen.

b) Beispielsfälle für die Beeinflussung durch ausdrückliche in der Rechtsprechung

Erklärungen

In BGH NStZ-RR 97, 173 hatte das Gericht darauf hingewiesen, dass die Beschlagnahme der nicht durch Urteil eingezogenen Vogelpräparate als Beweismittel mit rechtskräftigem Abschluss erledigt sei. 8 1 Der Angeklagte hatte daraufhin - entgegen dem Rat seines Verteidigers - Rechtsmittelverzicht erklärt, da er von einer gerichtlichen Zusage der Rückgabe und der Legalisierung der Sammlung ausg i n g . 8 2 Kurz darauf wurde die Sammlung aber gem. § 22 I V BNatSchG von der Naturschutzbehörde - der Angeklagte war wegen § 30 a BNatSchG verurteilt worden - i m Verwaltungswege eingezogen. 83 Das daraufhin eingelegte Rechtsmittel wurde auf Grund des wirksamen Rechtsmittelverzichts als unzulässig verworfen. 8 4 Die Erklärung i m Urteil, dass von einer Einziehung abgesehen werde, sei keine

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BGHR, StPO, vor § 1 / faires Verfahren / Vereinbarung 6; vgl. auch Kaetzler wistra 99,

253, 255. si BGH NStZ-RR 97, 173, 174. 82 BGH NStZ-RR 97, 173, 174. 83 BGH NStZ-RR 97, 173. 84 BGH NStZ-RR 97, 173, 174. 6 Meyer

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Täuschung, wenn tatsächlich von der Einziehung durch das Strafgericht abgesehen wird. A u f die Naturschutzbehörde habe das Gericht weder Einfluss, noch wollte es eine rechtlich nicht mögliche Maßnahme zusagen. Es habe auch keine Fürsorgepflicht des Gerichts bestanden, über mögliche verwaltungsrechtliche Maßnahmen aufzuklären. 85 Ähnlich entschied der BGH in folgender Situation: Der Angeklagte hatte die Gewährung von Strafaufschub gem. § 456 StPO beantragt. A u f diesen Antrag Bezug nehmend wies der Staatsanwalt schriftlich darauf hin, dass § 456 StPO nur auf rechtskräftige Verurteilungen anwendbar sei. Der Angeklagte nahm daraufhin sein Rechtsmittel (Revision) zurück. Da der Angeklagte sich aber bereits in U-Haft befand, ging diese mit Rechtskraft des Urteils automatisch in Strafhaft über. 8 6 Ein Strafaufschub ist dann nicht mehr möglich, sondern nur noch eine Unterbrechung der Strafvollstreckung i m Gnadenwege möglich. 8 7 Diesem rechtlichen Irrtum waren alle Beteiligten erlegen. 88 Die Rechtsmittelrücknahme sei aber dennoch wirksam. Eine Täuschung liege nicht vor, wenn ein rechtlicher Irrtum, dem zunächst alle Beteiligten erlegen waren, zu einer nicht einhaltbaren Zusage der StA geführt hat. 8 9 Ein bloßer Irrtum des Angeklagten kann nach Auffassung des BGH aber unter keinen Umständen zur Annahme der Unwirksamkeit einer Prozesshandlung führen, und zwar selbst dann nicht, wenn die StA dem gleichen Irrtum erlegen i s t . 9 0 Ein weiterer Fall: Das L G hatte den Angeklagten wegen versuchter Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Nach allseitigem Rechtsmittelverzicht wurde das Urteil rechtskräftig. Dabei irrte der Angeklagte über die beamtenrechtlichen Folgen der Verurteilung. Die Strafkammer war bereits während der Hauptverhandlung ebenso wie die übrigen Verfahrensbeteiligten - versehentlich davon ausgegangen, dass der Status des Angeklagten als Kommunalbeamter nach § 24 I Nr. 1 BRRG nicht tangiert wird, wenn er zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr verurteilt wird. Diese Auffassung hatte der Vorsitzende in der mündlichen Urteilsbegründung nochmals bekräftigt. 9 1 Lediglich auf Grund dieses Umstandes verzichtete der Angeklagte auf Rechtsmittel.

85 BGH NStZ-RR 97, 173, 174. 86 BGH StV 94, 64. 87 Eine solche Unterbrechung der Strafvollstreckung wäre auch in eine andere Zuständigkeit gefallen. 88 BGH StV 94, 64. 89 BGH StV 94, 64. 90 BGH StV 94, 64. 91 BGH NStZ 2001, 493.

Β. Die Prozessrolle des Angeklagten als eigenständiges Verfahrenssubjekt

83

Die Auffassung des LG erwies sich indessen als falsch, was sich bereits bei erstmaliger Lektüre der Norm des § 241 Nr. 1 BRRG aufdrängen muss 9 2 . Für aktive Beamte bestimmt § 24 I Nr. 1 B R R G 9 3 , dass das Beamtenverhältnis mit Rechtskraft der Verurteilung des Beamten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr automatisch endet. Das Ziel des Rechtsmittelverzichts, den Beamtenstatus zu erhalten, verfehlt der Angeklagte irrtumsbedingt. 9 4 Daran trifft den Angeklagten nach Auffassung des BGH kein Verschulden, da ihm die Strafkammer durch die objektiv unzutreffenden Erklärungen zu den beamtenrechtlichen Nebenfolgen des Urteils genau diese Vorstellung vermittelt h a t 9 5 Auch vom Gericht zu verantwortende Umstände der Art und Weise des Zustandekommens können den Rechtsmittelverzicht unwirksam machen. 9 6 Dies sei der Fall, wenn der Rechtsmittelverzicht auf einer irrtümlich - objektiv unrichtigen Erklärung oder Auskunft des Gerichts beruht. 9 7 Ein letzter Fall: Der Angeklagte hatte sein Rechtsmittel zurückgenommen, nachdem der Vorsitzende ihn mehrfach darauf hingewiesen hatte, dass ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung in anderer Sache wegen Ablaufs der Jahresfrist nach § 56g I I 2 StGB nicht mehr möglich i s t . 9 8 Dies traf objektiv nicht zu. Die Vorschrift des § 56g I I 2 StGB setzt nur dem Widerruf eines Straferlasses gem. § 56g I StGB zeitliche Schranken. A u f den Widerruf einer Strafaussetzung gem. § 56f I StGB findet diese Norm keine Anwendung. Letztere Möglichkeit wird vor allem durch Vertrauensschutzgesichtspunkte begrenzt. 99 Seines Irrtums wurde sich der Angeklagte erst

92 § 24 I Nr. 1 B R R G lässt keinen Raum für Missverständnisse. Auch Hamm findet es erstaunlich, dass sich die mit der Sache befassten Juristen in dieser wichtigen Rechtsfrage geirrt haben und damit alle juristisch vorgebildeten Beteiligten hinter der ständigen Rechtsprechung des BGH zurückbleiben, NStZ 2001, 494. Für den Strafverteidiger ist dies ein Haftpflichtfall, vgl. OLG Nürnberg StV 97, 481, 485.

93 Die zur Ausfüllung des Rahmens erlassenen Bunds- und Landesgesetze sind an diese Rahmenbestimmung gebunden. 94 So Hamm, NStZ 2001, 494, der in der Entscheidung den möglichen Ausgangspunkt einer systematischen und dogmatisch sauberen Neuordnung der Korrekturmöglichkeit für Prozesserklärungen auf Grund von Willensmängeln sieht. Dabei müsste auch die Werthaltigkeit des stets wiederholten Grundsatzes, wonach ein Rechtsmittelverzicht nicht anfechtbar und nicht widerruflich sei, neu beleuchtet werden. 95 SK/StPO-Rogali, Vor § 133 Rn 111; zu derartigen Härtefällen siehe Überblick bei Plötz, S. 36 f.; Kumlehn, S. 178; Kielwein, S. 166 ff. 916 Kielwein,

S. 4.

917 Tettinger, S. 17; KMR-Sax, Einl. X I I Rn 2 ff.; kritisch bezüglich der Überzeugungskraft dieser Ableitung, v. Löbbecke G A 73, 200, 204. 918 BVerfGE 57, 250, 280; BGHSt 26, 1, 4; NJW 63, 1114, 1115; 88, 571; 92, 849; NStZ 84, 18; HStR VI-/////, § 156 Rn 47; LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 120; KK-Pfeiffer, Einl. Rn 32; Kumlehn, S. 2; Kielwein mutmaßt hingegen, dass sich die prozessuale Fürsorgepflicht in der Rechtsprechung noch nicht als Entscheidungsgrundlage hat durchsetzen können. Bezeichnenderweise würden Urteile nie allein auf die Verletzung der Fürsorgepflicht gestützt, S. 29, 31. 919 Ähnlich Geppert Jura 92, 597, 600; zum Inhalt der gerichtlichen Fürsorgepflicht vgl. ausführlich Plötz, S. 71 ff., 81 ff., 168 ff. 920 Vgl. LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 120; HStR VI-Hill, § 156 Rn 47; ausführlich Kumlehn, S. 20 ff.; Hübner, S. 235 ff.; Kielwein, S. 57 ff., 156 ff., insbesondere S. 166 f.; Rzepka, S. 275 f.

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

221

i m Schrifttum als eine der wichtigsten Auswirkungen des Anspruchs auf ein faires Verfahren verstanden. 921 Durch die Fürsorgepflicht werde der Grundsatz vom fairen Prozess in systemkonformer Weise aufgefüllt und k o n t u r i e r t 9 2 2 Sie diene der Verbesserung der Kommunikationssituation und der Erhöhung der Partizipationsmöglichkeiten, die dem Angeklagten nach dem Leitbild des fair trial zustehen. 9 2 3 Der Terminus der Fürsorgepflicht sei zwar schon vor dem Fairnessgedanken in der Rechtsprechung aufgetaucht, doch müsse man ihn richtigerweise als eines seiner Elemente, einen Unterfall, verstehen. 9 2 4 Fürsorgepflicht und fair-trial unterschieden sich daher allenfalls terminologisch. 9 2 5 Andere Vertreter des Schrifttums betonen indessen, dass die Fürsorgepflicht weiter gehende Pflichten enthalte als das fair trialPrinzip. Die gerichtliche Fürsorgepflicht sei Ausfluss des Verfassungsgebots des sozialen Rechtsstaats und gehe auf Grund dieser sozialstaatlichen Bedeutung weit über den Rahmen des fair trial hinaus, so dass sie nicht als dessen Ausfluss bezeichnet werden k ö n n e . 9 2 6 Die Fürsorgepflicht des Gerichts sei eine sozialstaatliche Komponente, welche die rechtsstaatliche Seite des Strafverfahrens sinnvoll er927

ganzt. Vielfach findet sich auch eine Synthese dieser widerstreitenden Auffassungen, wonach die Fürsorgepflicht nicht nur als Konkretisierung des Fairnessprinzips begriffen wird, sondern auch für sozialstaatliche Anforderungen in Anspruch zu nehmen i s t . 9 2 8 So wird die Auffassung vertreten, dass ihr verfassungsrechtlicher Geltungsgrund sowohl i m Recht auf ein faires Verfahren als auch i m Sozialstaatsprinzip l i e g t . 9 2 9 Der fair trial-Grundsatz garantiere den dezidiert rechtsstaatlichen Charakter des Strafverfahrens und Untergründe die von der Rspr. entwickelte Fürsorgepflicht. Dadurch verknüpfe er den rechtsstaatlichen Charakter der Prozessordnung mit sozialstaatlichem Gedankengut. 9 3 0 Die Stellung des Angeklagten sei

921 So ausdrücklich Roxin, StPO, § 42 Rn 23, ähnlich Schlächter, Rn 35.3. 922 Plötz, S. 339; Roxin, StPO, § 42 Rn 23, spricht vom wichtigsten Regulativ für eine fair gehandhabte Inquisitionsmaxime. 923 Müller-Dietz

ZStW 93 (1981), 1177, 1262, 1263.

924 Roxin, StPO, § 42 Rn 23; Steiner, S. 204; so wohl auch BVerfGE 57, 250, 280 und OLG Düsseldorf M D R 84, 164, 165. 925 Die Begriffe werden daher auch häufig synonym gebraucht, vgl. Heubel, S. 139; Maiwald, FS Lange, S. 745, 764 - Soweit die Fürsorgepflicht dem Angeklagten die faktische Wahrnehmung seiner Rechte sichern soll, zieht Maiwald den Begriff des fair trial vor; Hübner, S. 247, spricht von verwandten Begriffen. 926 Krey, Rn 257. 927 Das Fairnessgebot sei auf Grund seiner genuin rechtsstaatlichen Ableitung enger dimensioniert als die Fürsorgepflicht, die auch sozialstaatliche Elemente enthalte, Tettinger, S. 17. 928 LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 120; Kielwein,

S. 109, 112.

929 SK/StPO-Rogali, Vor § 133 Rn 113; KK-Pfeiffer, S. 66, 91; Geppert Jura 92, 597, 600; Plötz, S. 333.

Einl. Rn 32; Roxin, Rechtsprechung,

930 Roxin, StPO, § 2 Rn 9; SK/StPO-Rogali, Vor § 133 Rn 111.

222

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

nämlich nicht nur eine Frage rechtsstaatlicher Gestaltung, sondern auch eine Frage der normativen und faktischen Umsetzung des Sozialstaatsprinzips. 931 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser Problematik kann an dieser Stelle jedoch weder geleistet werden, noch ist sie erforderlich, denn trotz unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Ableitung ergeben sich i m Hinblick auf Funktion, Inhalt und Grenzen der gerichtlichen Fürsorgepflicht keine Differenzen zwischen den vertretenen Auffassungen (dazu sogleich unten D.I.2.). So lässt sich an dieser Stelle als Zwischenergebnis zunächst festhalten, dass die gerichtliche Fürsorgepflicht eine anerkannte ungeschriebene Rechtspflicht i m Strafverfahrensrecht ist, die aus dem Grundgesetz abgeleitet werden kann. Sie ist daher grundsätzlich als Maßstab einer Verantwortungsverteilung geeignet. Zu klären bleiben ihr konkreter Inhalt und Anwendungsbereich, wobei die Frage im Vordergrund steht, ob und ggf. wann dem Gericht infolge der Fürsorgepflicht die Verantwortung für die Verhinderung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht auferlegt wird.

2. Inhalt und Konkretisierung der Fürsorgepflicht Unabhängig davon, in welchen Ableitungszusammenhang man die prozessuale Fürsorgepflicht bringt, kommt der gerichtlichen Fürsorgepflicht gegenüber dem Angeklagten als in erster Linie Fürsorgeberechtigtem 932 stets ergänzende und zu seinen Gunsten eintretende Wirkung mit dem Ziel zu, die Prozesssubjektstellung des Angeklagten zu garantieren und zu stärken. 9 3 3 Die Für Sorgepflicht soll sicherstellen, dass der Angeklagte die Vor- und Nachteile seines prozessualen Verhaltens abwägen und eine eigenverantwortliche sachgemäße Entscheidung treffen k a n n . 9 3 4 Dem Angeklagten soll geholfen werden, seine Verfahrensrechte sachgemäß und zielgerichtet zu nutzen, sich mit der Verfahrenssituation zurechtzufinden und überstürzte Erklärungen zu vermeiden. 9 3 5 Dadurch wird die faktische Stellung des Angeklagten, der regelmäßig keine umfassende Kenntnis seiner Rechte besitzt, dem rechtlichen Idealtypus des Angeklagten als einem eigenverantwortlichen Prozesssubjekt angeglichen. 9 3 6 M i t Hilfe der Fürsorgepflicht soll dem Angeklagten mithin die beste Ausfüllung seiner formalen Prozessrolle ermöglicht werden. 9 3 7 Der Ge931 Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1177, 1254; die i m Falle der Hilfsbedürftigkeit des Angeklagten zu gewährende Fürsorge gehört zu den Werten, deren Optimierung der fair trialGrundsatz anstrebt, Steiner, S. 178. 932 SK/StPO-/togfl/Z f Vor § 133 Rn 115. 933 Kühne, Rn 286; Kielwein, S. 64 f. Zutreffend weist allerdings Rieß daraufhin, dass der Angeklagte nicht alleiniger Fürsorgeberechtigter ist, LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 126 mit weiter führender Aufzählung. 934 HStR VI-Hill, § 156 Rn 47; SK/StPO-Rogali, Vor § 133 Rn 115; Schorn M D R 66, 639. 935 KK-Pfeiffer, 936 Maiwald,

Einl. Rn 32.

FS Lange, S. 745, 754.

937 Es ist indessen nicht der Zweck der gerichtlichen Fürsorgepflicht, die Prozessrolle zu verändern oder zu erweitern, LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 106.

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

223

währleistung einer solchen eigenverantwortlichen Teilhabe am Verfahren kommt auch nach Auffassung des BVerfG elementare Bedeutung z u . 9 3 8 Die entsprechende Gewährleistungspflicht des Gerichts besteht dabei von der Anklageerhebung bis zur Rechtskraft des U r t e i l s . 9 3 9 In der konkreten Anwendung i m Strafverfahren wirkt sich die Fürsorgepflicht dabei zunächst auf die Auslegung und Handhabung der positivrechtlichen Vorschriften a u s . 9 4 0 Sie dient zudem als Legitimationsgrundlage für die Begründung von Hinweis- und Belehrungspflichten über die gesetzlichen Regeln hinaus, wenn dies erforderlich ist, um eine sachgerechte Ausübung prozessualer Befugnisse zu ermöglichen. 9 4 1 Da eine Berücksichtigung der Fürsorgepflicht als Auslegungskriterium auf Grund der eindeutigen Fassung des § 302 StPO vorliegend ausscheidet, kommt hier ohnehin nur die letztgenannte Anwendungsweise in Betracht. Infolge der Entwicklung eines allgemeinen Typus der Fürsorgepflicht ist es nunmehr auch möglich, eine normersetzende Anwendbarkeit der gerichtlichen Fürsorgepflicht zu begründen und die Fälle, die zwar nicht gesetzlich geregelt, aber rechtsähnlich sind, im Wege der Rechtsanalogie den gesetzlichen Regelungen gleich zu ordnen. U m sich also Aufschluss über die Anwendbarkeit der gerichtlichen Fürsorgepflicht in einer konkreten Verfahrenssituation zu verschaffen, bedarf es somit der Nachprüfung der Rechtsähnlichkeit zwischen der in Rede stehenden Verfahrenssituation und dem allgemeinen Typus der Fürsorgepflicht. 9 4 2 Bei diesem Konkretisierungsansatz dominiert in Rechtsprechung und Schrifttum die Bildung von Fallgrupp e n . 9 4 3 Methodisch ist ein solches Vorgehen durchaus zulässig, denn die Fallgruppenbildung fungiert letztlich nur zur Bestimmung der rechtsähnlichen Fälle, die eine Rechtsanalogie geboten erscheinen lassen. Als eine solche Fallgruppe der gerichtlichen Fürsorgepflicht wird i m Schrifttum neben dem Verbot von Überraschungsentscheidungen 944 sowie der Pflicht zur Kundgabe prozessualer Fehler und zu ihrer H e i l u n g 9 4 5 auch die Verhinderung von Willensmängeln bei Prozesshandlungen genannt 9 4 6 . Das Gericht müsse den rechtsunkundigen Angeklagten z. B. auf Antragsrechte und verborgene Nachteile von Prozesshandlungen hinweisen. 9 4 7 Neben den Vorteilen müssten auch stets die Nachteile einer Verfahrensmöglichkeit aufgezeigt werden. 9 4 8 Vor allem i m Zusam938 BVerfGE

38, 105, 111; LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 106.

939 Maiwald,

FS Lange, S. 745, 747.

940 ER-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 123. 941 L R -Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 123; Kumlehn, S. 109 ff.; Kielwein,

S. 168, 176.

942 KMR-Sax, Einl. X I I Rn 5. 943 Vgl. Übersicht bei Rogali, S K / S t P O , vor § 133 Rn 116; Kielwein,

S. 15 ff., 39 f.

944 KMR-Sax, Einl. X I I Rn 8; SK/StPO-Rogali, vor § 133 Rn 16; Marczak, S. 112. 945 HStR VI-Hill, § 156 Rn 47. 946 Gössel, S. 166; Plötz, S. 293 ff.; Hübner, S. 191 ff.; Marczak, S. 113. 947 Sinner, S. 130; OLG Köln M D R 74, 950, 951. 948 BGHSt 24, 15, 25; Marczak, S. 111.

224

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

menhang mit Willensmängeln des Angeklagten beim Rechtsmittelverzicht wird häufig auf die Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht abgestellt, um mit dieser Argumentation die Unwirksamkeit des Verzichts zu begründen. 9 4 9 Rechtsfolge einer Verletzung der Fürsorgepflicht könne nur die Verneinung der Β indungsWirkung des Verzichts s e i n . 9 5 0 Die gerichtliche Fürsorgepflicht gebietet somit gemäß der vorherrschenden Auffassung im Schrifttum auch die Verhinderung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht. Sie ist somit als Maßstab der Verantwortungsverteilung geeignet. 9 5 1 M i t dieser Feststellung ist indessen nur ein erster - zudem ein kleiner - Schritt zur Lösung der untersuchten Fallgruppe getan. Noch nicht geklärt ist, in welchen konkreten Verfahrenssituationen die Fürsorgepflicht zum Zuge kommt und welche konkrete Maßnahme diese Pflicht dem Gericht abverlangt. Es bedarf daher einer weiter gehenden Konkretisierung der Fürsorgepflicht, durch welche zu ermitteln ist, wann und wie das Gericht im Zusammenhang mit der Erklärung eines Rechtsmittelverzichts tätig werden muss. Diese Konkretisierung gilt es im Folgenden durchzuführen, womit zugleich eine Verantwortungsverteilung vorgenommen wird, denn das Gericht trägt nur dann die Verantwortung für die Entstehung eines Willensmangels, wenn es auch tatsächlich zu dessen Verhinderung verpflichtet gewesen wäre. Wann eine solche fürsorgerische Verpflichtung bei der Rechtsmittelentscheidung i m Einzelfall tatsächlich besteht, ist bislang noch nicht abschließend geklärt. Nur wenige Vertreter des Schrifttums haben sich dieser Problematik bisher angenommen. Beachtliche Versuche zu ihrer Bewältigung wurden allerdings von Plötz, der sich um eine umfassende Präzisierung der Situationen bemüht, bei deren Eintritt das Gericht verhindern muss, dass ein Willensmangel entsteht 9 5 2 , und Dahs, der sich auf den Fall des sog. „herausgefragten Verzichts" beschränkt 9 5 3 , unternommen. Teilweise wird unter Hinweis auf ihre inhaltliche Unbestimmtheit sogar generell bestritten, dass die gerichtliche Fürsorgepflicht ein tauglicher Lösungsansatz für die Willensmängelproblematik beim Rechtsmittelverzicht i s t . 9 5 4 Eine hinreichende Konkretisierung ist gleichwohl möglich, wenn man diese streng an dem bisher herausgearbeiteten Inhalt der gerichtlichen Fürsorgepflicht 949

LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 123; Liegt ein sinnvoller Grund für die Entgegennahme des Verzichts nicht vor, soll dieser wegen des Verstoßes gegen den Fairnessgrundsatz unwirksam sein, so Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17; Krey, Rn 258; Maiwald, FS Lange, S. 745; Roxin, Rechtsprechung, S. 66, 93, Zipf, S. 90. 950

R. Schmidt JuS 67, 158, 162 - Ein Festhalten an der Verzichtserklärung wäre mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar. 951 Plötz spricht sogar von einer Pflicht zur Aufdeckung von Willensmängeln als einer Funktion der Fürsorgepflicht, S. 186 Fn 835. 952 Vgl. Plötz, S. 71 ff., 81 ff., 168 ff. - In diesen vertypten Gefahrensituationen träfe das Gericht eine gesteigerte Prüfungspflicht. 9

53 Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17 ff.

9 4

^

Hübner, S. 2 1 3 - 2 2 1 .

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

225

orientiert, deren strukturelle Grenzen beachtet und den Besonderheiten der jeweiligen Verfahrensituation Rechnung trägt. Das Gericht hat bei der Rechtsmittelentscheidung sicherzustellen, dass der Angeklagte die Vor- und Nachteile seines prozessualen Verhaltens abwägen und eine eigenverantwortliche sachgemäße Entscheidung treffen k a n n . 9 5 5 Dem vielfach nicht nur unbeholfenen, sondern schlicht rechtsunkundigen Angeklagten soll geholfen werden, seine Verfahrensrechte sachgemäß und zielgerichtet zu nutzen, sich mit der Verfahrenssituation zurechtzufinden und überstürzte Erklärungen zu vermeiden 9 5 6 , und zwar auch dort, wo ausdrückliche Regelungen fehlen. 9 5 7 Bedürfnisse, die aus vor- oder außerprozessualen Rechten herrühren, sind insofern unbeachtlich. 9 5 8 Im Zusammenspiel mit dem Gesetzgeber sichert das Gericht lediglich die faktische Möglichkeit der Ausübung der Normen, mit denen der Gesetzgeber abstrakt und generell die Möglichkeit zur Ausübung der Subjektstellung i m Prozess eröffnet. 9 5 9 Sinn und Zweck der Fürsorge Verpflichtung gebieten indessen nicht, dem Angeklagten die bestmögliche und effektivste Nutzung seiner Rechte aufzuzeigen und ihn bei deren Wahrnehmung anzuleiten. 9 6 0 Eine derart umfassend verstandene Belehrungs- und Beratungspflicht stünde nicht nur i m Widerspruch zu dem auf Wahrheitsfindung gerichteten Untersuchungsinteresse des Staates 9 6 1 , sondern es bestünde des Weiteren die Gefahr einer Kollision mit der eigenverantwortlichen Subjektrolle des Angeklagten. 9 6 2 Eine aufgedrängte Fürsorge, die ihrerseits zu einer Beeinträchtigung der Autonomie des Angeklagten f ü h r t 9 6 3 , vertrüge sich i m System des reformierten Strafprozesses weder mit den Aufgaben des Gerichts 9 6 4 noch mit der Prozessrolle des Angeklagten, infolge derer er Entscheidungen über die Wahrnehmung von Verfahrensrechten grundsätzlich autonom und eigenverantwortlich t r i f f t 9 6 5 . Einer Befreiung von jeglichen Lasten bedarf der Angeklagte nicht, weil sich solche bereits als Kehrseite aus seiner Eigenverantwortlichkeit als Prozesssubjekt ergeben 9 6 6 955 HStR VI-Hill, § 156 Rn 47; SK/StPO-Rogali, Vor § 133 Rn 115; Kielwein, S. 24, 27. Materielle Interessen können von vornherein nicht mit der gerichtlichen Fürsorgepflicht befriedigt werden, S. 119 f. 956 KK-Pfeiffer, 957 Maiwald,

Einl. Rn 32.

FS Lange, S. 745, 754.

958 Plötz, S. 172. 959 Kielwein,

S. 135.

960 Rüping JZ 83, 663, 664; Kielwein sieht gerade in dem Umstand, dass das Wort „Fürsorge" einen derartigen Eindruck erweckt, einen Hauptgrund für das Unbehagen, das gegenüber der Fürsorgepflicht anzutreffen ist, S. 53. 961 Maiwald, FS Lange, S. 745, 751, 755; grundsätzlich zum Spannungsverhältnis von Fürsorgepflicht und staatlichem Untersuchungsinteresse, Kühne, Rn 287. 962 SK/StPO-Rogali, Vor § 133 Rn 114; LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 125. 963 Vgl. ausführlich zur Problematik der aufgedrängten Fürsorge Hess, S. 99 ff. 964 Dazu Plötz, S. 200 965 LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 125; Rüping JZ 83, 663, 664 („Vorfeldschutz"); Kielwein, S. 144. 15 Meyer

226

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Eine Fürsorgeverpflichtung beschränkt sich somit auf die Fälle, in denen es der Tätigkeit des Gerichts bedarf, um überhaupt eine eigenverantwortliche Rechtswahrnehmung durch den Angeklagten zu sichern. 9 6 7 Man kann insofern auch von einer strukturellen Grenze der Fürsorgepflicht sprechen. 9 6 8 Gerichtliche Fürsorge bedeutet demnach eigenverantwortliche, autonome Interessenwahrnehmung durch den Angeklagten mit Hilfe des Gerichts, nicht fremdbestimmte Steuerung des Prozessverhaltens durch das Gericht. 9 6 9 Versteht man die Fürsorgeverpflichtung also als ein staatliches Hilfsangebot, das die Fähigkeit zur Selbstbestimmung absichert 9 7 0 , so kann ein solches Angebot nur dann zulässig sein, wenn eine entsprechende Hilfsbedürftigkeit, die man auch als Autonomiedefizit bezeichnen k a n n 9 7 1 , auf der Seite des Angebotsadressaten besteht. 9 7 2 Die prozessuale Hilfsbedürftigkeit ist somit ein konstitutives Element der Fürsorgepflicht. 9 7 3 Ihrer Struktur entsprechend ist diese Hilfsbedürftigkeit des Angeklagten allerdings ein Internum. Denn ob der Angeklagte zu einem autonomen, selbstbestimmten Handeln fähig ist, lässt sich äußerlich nicht wahrnehmen. Eine Pflicht zur Hilfestellung kann dem Gericht nur auferlegt werden, wenn das Hilfsbedürfnis auch nach außen - also objektiv - erkennbar i s t . 9 7 4 Alles andere wäre eine Überforderung der Justiz, von der auch angesichts ihrer Wahrheitserforschungspflicht nicht verlangt werden kann, dass sie fortwährend Nachforschungen dahingehend anstellt, ob der Angeklagte in jeder Phase des Verfahrens zur autonomen Rechtswahrnehmung in der Lage ist. Fehlende Kenntnisse und gravierende Fehlvorstellungen des Angeklagten können insofern nur dann ausgeglichen oder korrigiert werden, wenn sie erkennbar sind. Ist dies nicht der Fall, muss der Angeklagte dieses Restrisiko als Konsequenz seiner Subjektstellung tragen. 9 7 5 Die

966 LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 125, spricht von einer strukturellen Grenze der Fürsorgepflicht. Dem Angeklagten und seinem Verteidiger dürfe ζ. B. nicht die Wahl der Verteidigungsstrategie abgenommen werden; ähnlich Kielwein, S. 134 f., und Maiwald, FS Lange, S. 745, 751 - Streng genommen müsste die Anerkennung der Subjektstellung gleichwohl zur Folge haben, dass man die Handlungen und Erklärungen des Angeklagten überhaupt nicht auf ihre Richtigkeit hin überprüfen darf, S. 761. 9

67 Geppert JUTSL92, 597,600; Kielwein, S. 118 ff.-Müller-DietzZSiW93

9

(1981), 1177,1258.

*8 LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 125.

9 9

*

Geppert Jura 92, 597, 601.

9

?o Den Angebotscharakter der Fürsorgepflicht betont ausdrücklich Müller-Dietz ZStW 93 (1981), 1177, 1258, da nur mit diesem Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit beim Angeklagten gewährleistet werden kann. 9

71 Vgl. Hess, S. 76.

9

72 Hess, S. 44; Steiner, S. 177; Kielwein, 1258. 973

Kielwein,

S. 130; Müller-Dietz

ZStW 93 (1981), 1177,

S. 132, Plötz spricht von einem essenziellen Strukturelement, S. 168.

9

?4 SK/StPO-Rogali, Vor § 133 Rn 114; Kielwein, S. 130 ff.; ungenau ist es insofern, wenn Plötz, S. 327, das Erkennen und die Erkennbarkeit des Willensmangels als die entscheidenden Gesichtspunkte der Fürsorgepflicht bezeichnet. 9

75 Hess, S. 93 f.

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

227

Erkennbarkeit begrenzt den Verantwortungsbereich des Fürsorgeverpflichteten. Sie wird damit zu dem zentralen rechtlichen Problem bei der Konkretisierung der gerichtlichen Fürsorgepflicht. 9 7 6 Wann ein Hilfsbedürfnis erkennbar ist, und welche Anforderungen bezüglich der Erkennbarkeit an das Gericht zu stellen sind, ist gleichwohl noch nicht abschließend geklärt. 9 7 7 Weit gehend unstreitig ist, dass das Gericht nicht generell verpflichtet ist, die Motivation des Angeklagten bei jeder nachteiligen oder bei jeder unterbliebenen vorteilhaften Prozesshandlung nachzuprüfen 9 7 8 Dies wäre mit dem öffentlichen Interesse an einer funktionsfähigen, effektiven Strafrechtspflege unvereinbar. 9 7 9 Andererseits besteht auch kein Ermessen auf Seiten des Gerichts, da es sich bei der „Erkennbarkeit des Hilfsbedürfnisses" um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt. I m Schrifttum wird zum Teil die Auffassung vertreten, dass der aufgezeigten Funktion der Fürsorgepflicht am besten Rechnung getragen wird, wenn man in Anlehnung an die für die richterliche Aufklärungspflicht entwickelten Grundsätze verlangt 9 8 0 , dass sich die Hilfsbedürftigkeit geradezu aufdrängen muss. 9 8 1 Es müssten objektive Umstände vorliegen, die ein Autonomiedefizit nahe legen 9 8 2 Soweit andere Vertreter der Literatur das Gericht dann gefordert sehen, wenn ein Autonomiedefekt, z. B. ein Mangel an Rechtskunde, beim Angeklagten offensichtlich i s t 9 8 3 , scheinen die Unterschiede zwischen den Auffassungen lediglich terminologischer Natur zu sein. U m die Behandlung der Fürsorgepflicht in der Praxis zu erleichtern und eine reine Einzelfallprüfung zu vermeiden, hat nun die Rechtsprechung den Versuch unternommen, bestimmte abstrakte Kriterien zu entwickeln, an denen die Gerichte sich orientieren können, wenn sie darüber zu befinden haben, ob ein Handeln auf Grund der gerichtlichen Fürsorgepflicht erforderlich ist. Die Rechtsprechung differenziert dabei zwischen tatsächlichen und normativen Gesichtspunkten. Neben den faktischen Auswirkungen eines drohenden Rechtsverlustes oder sonstigen prozessualen Nachteils 9 8 4 ist auch der normativen Bedeutung des Rechts, dessen Wahrnehmung gesichert werden soll, Beachtung zu schenken. 9 8 5 Auch i m Schrifttum 976

So die Einschätzung von Plötz, S. 169.

977

Kielwein, S. 133.

978

Plötz, S. 169

979

Zu deren Bedeutung vgl. auch BVerfG NJW 75, 103, 105.

9

80 Vgl. K / M - G , § 244 Rn 12; LR-Gollwitzer, § 244 Rn 46 (nach objektiven Gegebenheiten den Gebrauch von Beweismitteln nahe legen oder dazu drängen); BGH NStZ 90, 384; 92,450. 98

1 Kielwein,

982

S. 133; Plötz, S. 178.

Die Not- und Mängellage muss sichtbar werden, Müller-Dietz

1257. 983

Schlächter, Rn 35.3.

984

Vgl. ausführlich Kielwein,

985

Siehe Rechtsprechungsüberblick bei Plötz, S. 45 ff.

15*

S. 27 ff.

ZStW 93 (1981) 1177,

228

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

werden bestimmte abstrakte Indikatoren, z. B. schwierige Verfahrenslagen und die Erwartung schwerwiegender Rechtsfolgen, gehandelt, deren Vorliegen das Gericht zur Tätigkeit veranlassen s o l l . 9 8 6 Ein solches typisierendes Vorgehen trägt vor allem der Erkenntnis Rechnung, dass sich dem Gericht eine Hilfsbedürftigkeit regelmäßig durch typischerweise risikoträchtige Verfahrenssituationen aufdrängt, nicht durch unvorhersehbare Geschehnisse i m Einzelfall. 9 8 7 Die Frage der Erkennbarkeit wird dadurch ersichtlich von den besonderen Umständen des Einzelfalles, wie z. B. jugendliches Alter oder intellektuelle Inkompetenz, gelöst, was insbesondere deshalb zulässig erscheint, weil der Angeklagte regelmäßig rechtsunkundig ist und daher wegen der hohen Ausdifferenzierung des Strafprozessrechts zumindest von einer bestimmten Schwierigkeitsschwelle an vom Vorliegen eines Autonomiedefekts auszugehen i s t . 9 8 8 Es findet damit eine Beschränkung der Fürsorgepflicht auf die Fälle statt, in denen die genannten abstrakten Kriterien zu einer hohen Verdichtung der Hilfsbedürftigkeit führen und diese typischerweise angezeigt ist. Die besonderen Umstände des Einzelfalles können allenfalls dazu führen, dass die Fürsorgepflicht entfällt, weil der Angeklagte ausnahmsweise evident keiner gerichtlichen Fürsorge bedarf, etwa weil er besonders gerichtserfahren ist. U m eine solche theoretisch-abstrakte Kriterienbildung bemüht sich auch Plötz. Die Anforderungen an das richterliche Erkenntnisvermögen müssten von den vorgegebenen Postulaten des Strafprozesses her - systemkonform - bestimmt werd e n . 9 8 9 Die Höhe der Einsatzschwelle zum Schutz der Willensbildungs- und -betätigungsfreiheit des Angeklagten, welche die Voraussetzung für die i m reformierten Strafprozess geforderte Selbstverantwortung des Angeklagten ist, hänge dabei von diversen Bewertungsfaktoren ab. Neben rechtstatsächlichen seien auch normative Gesichtspunkte zu berücksichtigen. 9 9 0 Dazu zählen die Bedeutung des betroffenen Rechts, die Gefährlichkeit einer Prozesssituation, Vorverhalten von Justizorganen, die Irreversibilität eines Rechtsverlustes sowie normative Schutzintentionen, die bereits i m Gesetz vorgezeichnet s i n d 9 9 1 , denn häufig lägen gesetzlichen Regelungen bereits Erfahrungssätze zu Grunde, welche die Möglichkeit eines Willensmangels pauschalieren 992 . Durch eine solche Orientierung an abstrakt-typisierenden Kriterien kann der Rechtsbegriff des „erkennbaren Hilfsbedürfnisses" inhaltlich soweit bestimmt werden, dass die i m Schrifttum gegen eine eigenständige normersetzende Anwendung

986 Hassemer ZRP 80, 326, 331. 987 Plötz, S. 179.

988 Rieß StV 81, 460, 462. 989 Plötz, S. 169. 990 Plötz, S. 193. 991 Plötz, S. 194 f. 992 In diesem Sinne Plötz, S. 180.

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

229

der Fürsorgepflicht geäußerte K r i t i k 9 9 3 nicht mehr verfängt. Durch die Typisierung wird gerade verhindert, dass die Fürsorgepflicht zu einer reinen Billigkeitsformel wird, die lediglich eine Einzelfalljudikatur der befassten Gerichte ermöglichen soll. Dieser Ansatz wird daher auch der nun folgenden Bestimmung derjenigen objektiven Umstände zu Grunde gelegt, die i m Kontext des Rechtsmittel Verzichts eine Fürsorgepflicht zur Verhinderung von Willensmängeln auslösen. Da Umfang und Inhalt der Fürsorgepflicht nicht überstrapaziert werden dürfen, ist dabei allerdings ein restriktives Vorgehen geboten. 9 9 4 Dies gilt erst recht in der vorliegend untersuchten Verfahrenssituation. Die eindeutige Normfassung des § 302 StPO, aus der sich die grundsätzliche Unbeachtlichkeit von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht ergibt, darf nicht dadurch entwertet werden, dass man eine weit reichende Fürsorgepflicht begründet, deren Verletzung zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führt, weil das Gericht die Verantwortung für die Willensmangelfreiheit trägt. Die gesetzgeberische Intention würde durch die Begründung einer so weit reichenden ungeschriebenen Rechtspflicht umgangen. Es ist daher Zurückhaltung bei der Anerkennung von Verfahrenskonstellationen geboten, die eine Fürsorgeverpflichtung des Gerichts begründen. Andernfalls würde man Gefahr laufen, den unbestimmten Begriff der Gerechtigkeit, dessen Konkretisierung die Untersuchung dient, durch einen anderen in gleichem Maße unbestimmten Begriff zu ersetzen. 995 M i t der Formulierung der strukturellen Grenzen der Fürsorgepflicht sowie der Besonderheiten und Erfordernisse der Verzichtssituation ist allerdings das nötige Vorverständnis geschaffen, um i m Anschluss präzise die Konstellationen bestimmen zu können, die eine Fürsorgepflicht auslösen.

II. Vornahme der Verantwortungsverteilung I m Vordergrund sollen dabei angesichts ihrer Praxisrelevanz die bereits zuvor erwähnten Fälle der Übereilung und Unüberlegtheit, der nicht erfolgten Bestellung eines notwendigen Verteidigers, der Verhinderung der Beratung mit dem anwesenden Verteidiger, der Verhandlung in Abwesenheit des gewählten oder bestellten Verteidigers und der Beratung durch einen „unfähigen" Verteidiger stehen. Ob man bei Vorliegen einer solchen Konstellation von einem erkennbaren Hilfsbedürfnis des Angeklagten sprechen kann, welche dann die Fürsorgepflicht auslöst, gilt es nunmehr zu untersuchen. Allerdings sei an dieser Stelle nochmals klarstellend erwähnt: Ist dem Gericht nicht nur die Gefahrensituation, sondern sogar ein daraus resultierender Willensmangel erkennbar, dann erfolgt die Berücksichtigung des Willensmangels bereits bei der Auslegung der Prozesserklärung. Ein wirksamer 993 Siehe oben D.I. 1. 994 SK/ StPO-Rogall, Vor § 133 Rn 112; Maiwald, behutsamer Ausgleich möglich.

FS Lange, S. 745, 763 - Es sei nur ein

995 So die Kritik von Dencker, Willensfehler, S. 34 und Hübner, S. 219 f.

230

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Rechtsmittelverzicht läge von vornherein nicht vor. Eines Umwegs über die Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht, um die Unwirksamkeit des Verzichts zu begründen, bedarf es in diesen Fällen n i c h t . 9 9 6

1. Unüberlegtheit und Übereilung Unüberlegtheit und Übereilung sind sprachlich denkbar weite Begriffe, die zum Teil sehr heterogene Konstellationen erfassen. So werden u. a. der unmittelbar i m Anschluss an die Urteilsverkündung durch das Gericht veranlasste Verzicht - man spricht daher auch vom sog. „herausgefragten" Verzicht - und die nicht erfolgte Bestellung des notwendigen Verteidigers unter den Oberbegriff „Unüberlegtheit und Übereilung" gefasst. 9 9 7 Andererseits fallen neben diesen beinahe schon klassischen Fällen, die stets i m Kontext der Willensmängel beim Rechtsmittelverzicht behandelt werden, auch solche Situationen unter diesen Oberbegriff, in denen der Angeklagte spontan auf Rechtsmittel verzichtet, weil er den Gerichtssaal schleunigst verlassen will, seinen Verzicht aber kurze Zeit später bereut und nun doch gerne ein Rechtsmittel einlegen würde: mithin eine bloße Willensänderung. Erfasst wird des Weiteren der Fall, dass dem Angeklagten erst nach seinem Verzicht Gesichtspunkte bekannt oder bewusst werden, die ein Rechtsmittel entgegen seiner ersten Einschätzung als zweckmäßig erscheinen lassen. Ein Willensmangel haftet auch diesem Verzicht nicht an. Da Unüberlegtheit und Übereilung vorliegend aber ausschließlich als potenzielle Ursache eines Willensmangels zum Gegenstand der Untersuchung werden, beschränkt sich diese von vornherein auf die Situationen, in denen Unüberlegtheit und Übereilung tatsächlich Ursache eines Willensmangels sein können, nämlich eines Motivirrtums über Bedeutung und Tragweite des Rechtsmittelverzichts. Die gerichtliche Fürsorgepflicht soll lediglich die eigenverantwortliche Ausübung der Dispositionsfreiheit über die Einlegung von Rechtsmitteln sichern. Sie kann demzufolge nur ausgelöst werden, wenn das erkennbare Risiko besteht, dass der Angeklagte bei der Ausübung seiner Rechtsmittelbefugnis einem Irrtum über Bedeutung und Tragweite seiner Prozesshandlung unterliegt. 9 9 8 Da nun die Hilfsbedürftigkeit des Angeklagten und ihre Erkennbarkeit entscheidend von der jeweiligen Erscheinungsform von Unüberlegtheit und Übereilung ab-

996 KMR-Sax, Einl. X Rn 26. Wenn bereits objektiver Erklärungssinn und äußerlich Erklärtes nicht übereinstimmen, dann ist die Prozesserklärung von vornherein unbeachtlich. 997 So Plötz, S. 322 ff.; Rogali StV 98, 643, 644; vgl. dazu auch Dencker, Willensfehler, S. 70, der betont, dass die Notwendigkeit der Pflichtverteidigung gedanklich nicht in die Zulässigkeitsprüfung eines Rechtsmittels gehört. 998 So aber Plötz, S. 291 f.; dieser Aspekt wird verdeckt, wenn man Unüberlegtheit und Übereilung zu Willensfehlern eigener Art deklariert, denn bei reiner Gedankenlosigkeit oder Resignation wäre ein Autonomiedefizit gar nicht gegeben.

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

231

hängen und deren faktischen und normativen Besonderheiten Rechnung zu tragen ist, müssen diese Konstellationen isoliert betrachtet werden. Nicht jede Situation, welche die Gefahr eines Irrtums über Bedeutung und Tragweite des Rechtsmittelverzichts in sich birgt, löst eine gerichtliche Fürsorgepflicht zur Verhinderung dieses Irrtums aus. Als Kehrseite seiner Eigenverantwortlichkeit muss auch der Angeklagte ein gewisses Risiko tragen. Ohne eine Beschränkung der gerichtlichen Fürsorgepflicht auf die Fälle, in denen typischerweise Willensmängel entstehen und das Gericht gerade deswegen zu besonderer Sorgfalt angehalten ist, würde die gerichtliche Fürsorgepflicht letztlich zu einem Surrogat für die fehlende Möglichkeit der Irrtumsanfechtung umfunktioniert. So hat der BGH erst jüngst festgestellt, dass unterschiedliche Konsequenzen jeweils möglichen prozessualen Verhaltens des Angeklagten keine Pflicht des Gerichts begründen, einen verteidigten Angeklagten auf die unterschiedlichen Rechtsfolgen der Verhaltensmöglichkeiten hinzuweis e n . 9 9 9 In dem entschiedenen Fall wurde nach der Urteilsverkündung ein bestehender Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt. Noch vor Erfüllung dieser Auflagen erklärte der Angeklagte einen Rechtsmittelverzicht. Dabei hatte er verkannt, dass der zuvor ergangene Haftverschonungsbeschluss auf Grund des Verzichts ins Leere ging. Ihm war insofern eine rechtlich zwangsläufige Folge des Rechtsmittelverzichts nicht bewusst. Hätte der Angeklagte vor Eintritt der Rechtskraft die Auflagen erfüllt, wäre er - jedenfalls zunächst - auf freien Fuß gesetzt worden. Da sich dem Gericht die Gefahr eines Willensmangels nicht aufdrängen musste, wurde auch keine Fürsorgepflicht ausgelöst, die eine Belehrung des - verteidigte^ !) - Angeklagten geboten hätte. Die Wirksamkeit des Verzichts steht außer Frage. In diesem Fall realisiert sich lediglich das Risiko der Eigenverantwortlichkeit des Angeklagten. Ganz anders sieht dies auf den ersten Blick in den Fällen des sog. „herausgefragten" Verzichts aus. Ist das Urteil verkündet und die Belehrung gem. § 35a StPO erteilt, wird der Angeklagte regelmäßig in unmittelbarem Anschluss durch den Vorsitzenden befragt, ob er auf Rechtsmittel verzichtet. 1 0 0 0 Häufig wird dies auch verklausuliert in die Worte „Nehmen Sie das Urteil an?" gefasst. 1 0 0 1 Dieses Procedere, das zur gängigen Praxis der Strafgerichte g e h ö r t 1 0 0 2 , erscheint vor allem deshalb bedenklich, weil der Angeklagte in dieser Situation zu einer vernünftigen, alle relevanten Aspekte abwägenden Entscheidung meist nicht in der Lage ist. Dies kann sowohl auf der Schockwirkung der Verurteilung, Resignation, Zorn, als auch auf intellektueller Überforderung beruhen. 1 0 0 3 Die psychische Extremsituation, in welche der Angeklagte dadurch gerät, lässt befürchten, dass sich der Angeklagte 999 BGH NStZ-RR 2002, 114. 1000

Schmidt JuS 67, 158, 159.

1001 Kumlehn, S. 126. 1002 Erb G A 2000, 511; Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17; OLG Köln, OLGSt, § 302 S. 33, 34. 1003 Plötz, S. 318; eine sehr anschauliche Schilderung der Situation ist bei Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 18, zu finden.

232

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

bei der Verzichtserklärung nicht bewusst ist, welche Bedeutung und Tragweite ein Rechtsmittel verzieht h a t . 1 0 0 4 Es überrascht daher nicht, dass eine Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht insbesondere in den Fällen des „herausgefragten" Verzichts als Begründung für dessen Unwirksamkeit herangezogen w i r d . 1 0 0 5

a) Der sog. „herausgefragte"

Rechtsmittelverzicht

Einige Vertreter der Literatur leiten allein aus der Überlegung, dass der Angeklagte bei gründlichem Nachdenken eine Erklärung dieses Inhalts, nämlich des sofortigen unwiederbringlichen Verzichts auf die Anfechtungsmöglichkeit, wohl nicht abgegeben hätte, ab, dass der Vorsitzende den Angeklagten grundsätzlich nicht i m unmittelbaren Anschluss an das Urteil nach dem Rechtsmittelverzicht befragen d a r f . 1 0 0 6 Ein solches Vorgehen des Gerichts sei „unangebracht" und „nicht vertretbar". 1 0 0 7 Zumutbar sei ein sofortiger Verzicht dem Angeklagten nur, wenn dies seinem Interesse entspricht, z. B. weil er durch den Verzicht einen Vorteil erl a n g t . 1 0 0 8 Ohne besonderen Anlass dürfe dem Angeklagten hingegen kein Verzicht abverlangt w e r d e n . 1 0 0 9 I m Schrifttum ist freilich bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass ein sofortiger Rechtsmittelverzicht dem Angeklagten grundsätzlich keinen Vorteil b r i n g t . 1 0 1 0 Als Institut zur Förderung berechtigter Interessen des Angeklagten kann ein solcher Verzicht daher von vornherein nicht angesehen w e r d e n . 1 0 1 1 Lediglich Gericht und StA ist mit dem sofortigen Rechtsmittelverzicht gedient, da das Verfahren, einen Rechtsmittelverzicht der StA unterstellt, rechtskräftig wird und damit endgültig abgeschlossen i s t . 1 0 1 2 Des Weiteren erlangt das Gericht sogleich Gewiss1004 Vgl. OLG Zweibrücken StV 94, 362, 363; Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 22 Hinter der Frage stehe die ganze Autorität des Vorsitzenden und dessen rechtlich überragende und beherrschende Stellung, die er während der Hauptverhandlung hatte. 1005 LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 123; Peters, Rn 268; Roxin, Rechtsprechung, S. 66, 93; Kumlehn, S. 175; Kielwein, S. 40 ff.; Zipfi S. 211. 1006 Kumlehn, S. 126. Dem Grundgedanken des § 136a StPO entsprechend sei jede Ausnutzung der psychischen Situation des Angeklagten zu verhindern, S. 129 f. 1007 Koch JR 64, 255; R. Schmidt JuS 67, 158, 159; Dencker, Willensfehler, S. 72, spricht von einer „Unsitte". Erb G A 2000, 511, 524 - „ v ö l l i g deplaziert". loos So Kumlehn, S. 128, 131, der auf den Vorteil des § 450 StPO verweist, der nach aktueller Gesetzeslage allerdings gar keinen Vorteil mehr enthält; zu den denkbaren Vorteilen eines Rechtsmittel Verzichts für den Angeklagten siehe unten Teil 4 B. 1009 R. Schmidt JuS 67, 158, 162. •οίο Dencker, Willensfehler, S. 71; Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 23; ausführlich Erb G A 2000,511 ff. ion Erb G A 2000, 511, 515. Dies ist nach Auffassung Denckers, Willensfehler, S. 71, auch der Grund dafür, dass die Bindungswirkung des § 302 StPO als verfehlt angesehen wird. 1012 Erb G A 2000, 511, 517 - U m ein schutzwürdiges Interesse handele es sich jedoch nicht, S. 518.

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

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heit, dass die Urteilsbegründung gem. § 267 I V StPO in abgekürzter Form erfolgen kann, ohne zuvor eine Woche bis zum Fristablauf warten zu müssen. 1 0 1 3 Angesichts dieser Interessenlage erscheint es umso bedenklicher, den Angeklagten bewusst der Gefahr eines endgültigen Rechtsverlustes auszusetzen. Es muss daher gefragt werden, ob das Gericht nicht schon allein auf Grund der besonderen prozessualen Situation, wie sie sich unmittelbar nach Urteilsverkündung darstellt, angehalten ist, tätig zu werden und den Angeklagten auf die Gefahren eines sofortigen Rechtsmittel Verzichts hinzuweisen oder sich zumindest jeglicher Einflussnahme auf den Angeklagten zu enthalten.

(1) Die prozessuale Gesamtsituation als Auslöser der Fürsorgepflicht Die Fürsorgepflicht des Gerichts wird allerdings nur dann ausgelöst, wenn ein Hilfsbedürfnis erkennbar wird. Ob sich dem Gericht vorliegend das Risiko eines Autonomiedefizits aufdrängen musste, ist daher im Folgenden zu prüfen. Dies geschieht anhand der zuvor erläuterten abstrakt-typisierenden Betrachtungsweise. 1 0 1 4 Dabei ist in faktischer Hinsicht zunächst in Rechnung zu stellen, dass die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, durch den Verzicht irreversibel verloren geht. Zudem handelt es sich dabei um ein äußerst bedeutsames Recht des Angeklagten, denn nach einer Verurteilung ist die Einlegung eines Rechtsmittels die letzte Hoffnung des Angeklagten, doch noch einer Bestrafung zu entgehen. Zu einer Verdichtung der Gefahrenlage tragen auch normative Aspekte bei, denn das „Herausfragen 44 eines Rechtsmittelverzichts ist mit der gesetzgeberischen Intention der Rechtsmittelfristen nur schwer verträglich. Das Rechtsmittelrecht sieht Fristen gerade deshalb vor, um dem Angeklagten die Möglichkeit zu geben, Zweckmäßigkeit und Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels zu prüfen und zu diesem Zweck ggf. rechtlichen Rat einzuholen. 1 0 1 5 Soweit von der Rechtsprechung der Versuch unternommen wird, durch Veranlassung sofortiger Verzichtserklärungen die Zahl der Rechtsmittel gering zu halten, läuft dies jener Intention z u w i d e r . 1 0 1 6

10,3 Klarstellend sei aber dennoch angemerkt, dass die Möglichkeit des abgekürzten Urteils gem. § 267 I V StPO auch i m Falle des Fristablaufs besteht. Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 18, findet es daher auch erstaunlich, dass sich die Praxis, einen Rechtsmittelverzicht „herauszufragen", nach gesetzlicher Einführung dieser zusätzlichen Möglichkeit nicht geändert hat.

ion Eine weiter gehende Typisierung der Wirksamkeitsvoraussetzungen für den Rechtsmittelverzicht hält vor allem Erb G A 2000, 511, 520, in bewusster Abkehr zur Einzelfallorientierung, zumindest für erforderlich. 1015 Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 21 - In der Praxis wird eine Aussage über die Erfolgsaussichten meist jedoch nicht innerhalb dieses Zeitraums möglich sein, da die schriftlichen Urteilsgründe dem Angeklagten oder seinem Verteidiger erst wesentlich später zugehen.

1016 Erb G A 2000, 511, 516 f.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Ein sofortiger Rechtsmittelverzicht ist darüber hinaus auch mit folgender Wertung kaum zu vereinbaren: Trotz Fehlens einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung ist allgemein anerkannt, dass die Verzichtserklärung, wie die Einlegung der Rechtsmittel, auf die verzichtet wird, nur schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle erfolgen k a n n . 1 0 1 7 Die Formgebundenheit der Erklärung soll sicherstellen, dass nicht unüberlegt oder voreilig, sondern erst nach gründlicher Abwägung aller relevanten Umstände gehandelt w i r d . 1 0 1 8 Zu einer solchen Abwägung ist der Angeklagte aber unmittelbar nach der Urteilsverkündung regelmäßig nicht in der L a g e . 1 0 1 9 Kein Kriterium bei der abstrakt-typisierenden Bestimmung des erkennbaren Hilfsbedürfnisses darf indessen der Inhalt der angefochtenen Entscheidung, also Art und Höhe der S t r a f e 1 0 2 0 , die Wahrscheinlichkeit eines Rechtsfehlers oder die Schwere dieses Rechtsfehlers sein. Sonst würde eine Art von Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in das Strafprozessrecht eingeführt, die diesem fremd i s t . 1 0 2 1 Die Frage, ob der Angeklagte eine selbstbestimmte Entscheidung über die Wahrnehmung der Rechtsmittelbefugnis getroffen hat, steht in keinem Zusammenhang mit dem Erfolg oder der objektiven Zweckmäßigkeit des Rechtsmittel Verfahrens selbst. Gleichwohl muss man am Vorliegen einer typischen gesteigerten Gefahrenlage zweifeln. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die zeitliche Koinzidenz von Urteilsverkündung und Rechtsmittelverzicht allein noch keine abstrakte Gefahr der Übereilung begründet. 1 0 2 2 Der Angeklagte kann als autonome Person auch auf die Gelegenheit zu reiflicher Überlegung und Beratung verzichten. 1 0 2 3 Er muss seine Rechte nicht nutzen, sondern kann sich unverzüglich mit dem Verfahrensergebnis zufrieden g e b e n . 1 0 2 4 In einem solchen Fall spricht sogar einiges dafür, dass der Angeklagte seine Entscheidung hinreichend bedacht hat. Zudem kann die fehlende Vorteilhaftigkeit des Rechtsmittelverzichts für den Angeklagten allenfalls eine Modifizierung des § 302 StPO de lege ferenda als sinnvoll erscheinen lassen. De lege lata bleibt es dabei, dass der Angeklagte grundsätzlich die Risiken, die sich aus seiner Dispositionsbefugnis ergeben, selbst trägt. Zwar wird darauf hingewiesen, dass 1017

Schmidt JuS 67, 158, 159; Hübner, S. 195.

1018 BGHSt 18, 257, 260; OLG München StV 98, 646; Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 21 ; Hübner, S. 195. 1019 OLG Schleswig NJW 65, 312, 313 - Es sei zweifelhaft, ob dem Angeklagten, der unter dem unmittelbaren Eindruck des Urteils auf Rechtsmittel verzichtet, die Tragweite seiner Entscheidung bewusst geworden ist. 1020 A . A . Η Müller, S. 82 ff.; Schulze, S. 240, 2 4 1 - In bestimmten Konstellationen (ζ. B. lebenslange Freiheitsstrafe) sei jede Befragung des Angeklagten unzulässig. Eine selbstbestimmte Entscheidung sei dem Angeklagten in diesen Fällen normativ nicht zumutbar. 1021 Dencker, Willensfehler, S. 71; Plötz, S. 301. 1022 Erb G A 2000, 511, 523. 1023 SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 28. 1024 S K / StPO-Frisch,

§ 302 Rn 28.

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

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es nicht zum allgemeinen Wissensstand des Angeklagten gehöre, dass ein Rechtsmittelverzicht unwiderruflich und bindend i s t 1 0 2 5 , doch würde die Eigenverantwortlichkeit des Angeklagten in großem Umfang in Frage gestellt, wenn jedes nicht unerhebliche Risiko, das mit einer Dispositionsmöglichkeit des Angeklagten verbunden ist, die gerichtliche Fürsorgepflicht auslösen würde. Auch der Schutzzweck der Rechtsmittelfrist und der Formgebundenheit ändert daran nichts, denn die Form- und Fristvorschriften schließen die Möglichkeit, dass der Angeklagte in unmittelbarem Anschluss an das Urteil auf Rechtsmittel verzichtet, gerade nicht aus. Schließlich hat das Fristerfordernis auch den Zweck, die Rechte des Angeklagten i m Interesse der Rechtssicherheit zu begrenzen. Es dient also nicht allein der Rechtserhaltung. U m dem Gericht keine allgemeine Nachforschungspflicht, ob der Rechtsmittelverzicht frei von Willensmängeln erfolgt ist, aufzubürden, muss die gerichtliche Fürsorgepflicht auf besondere Gefährdungslagen beschränkt bleiben. Nur in Situationen, die typischerweise die Entstehung von Willensmängeln befürchten lassen, ist das Gericht zu dessen Verhinderung verpflichtet. Anders als teilweise i m Schrifttum vertreten 1 0 2 6 , kann dies nicht schon bei momentaner Erregung, Erschöpfung oder Ermüdung der Fall s e i n . 1 0 2 7 Stark emotional geprägte und undistanzierte Entscheidungen stellen die Autonomie des Angeklagten nicht typischerweise in F r a g e . 1 0 2 8 Würde jede spontane oder nicht reiflich überlegte Entscheidung die Unwirksamkeit des Verzichts zur Folge haben, dann bliebe von der in § 302 StPO verlautbarten Bindungswirkung nichts ü b r i g . 1 0 2 9 Ein solches Ergebnis widerspräche auch dem abstrakt-typisierenden Untersuchungsmaßstab, da ein restriktiver Ansatz bei Bestimmung der Erkennbarkeitskriterien wegen der eindeutigen Fassung des § 302 StPO gerade geboten i s t 1 0 3 0 . Die prozessuale Situation, die sich i m unmittelbaren Anschluss an die Verkündung des Urteils einstellt, begründet daher als solche kein erkennbares Hilfsbedürfnis. Eine Fürsorgepflicht des Gerichts zur Verhinderung eines Willensmangels besteht nicht. Diesem Ergebnis sucht nun Dencker, dessen Intention ein weitreichender Schutz des Angeklagten vor übereilten Erklärungen ist, durch einen anderen Lösungsweg zu begegnen. Durch eine einschränkende Auslegung des § 302 StPO soll in diese Norm hineingelesen werden, dass eine angemessene Entscheidungsfrist und die

1025 Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 18. 1026 Schulze, S. 209; Peters, § 34 I I 5. 1027 BGH NStZ 97, 148; HK/StPO-Rautenberg, § 302 Rn 5; Roxin, StPO, § 51 Rn 26 Erste Schockwirkung und Erregung über Höhe der Strafe seien unbeachtlich. 1028 u. Stein ZStW 97 (1985), 303, 317. 1029 So die Befürchtung von Rogali StV 98, 643, 644. 1030 i n diesem Sinne auch Peglau JA 2000, 405, 408 - Da niemand gezwungen werde, einen Rechtsmittelverzicht unmittelbar i m Anschluss an die Urteilsverkündung zu erklären, ist es i m Interesse der Rechtssicherheit, durchaus begrüßenswert, an die Anfechtung eines Rechtsmittelverzichts hohe Anforderungen zu stellen.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Möglichkeit, frei vom unmittelbaren Eindruck der Hauptverhandlung und der Urteilsverkündung zu überlegen, Wirksamkeitsvoraussetzung des Verzichts ist.

(2) Einschränkende Auslegung des § 302 StPO als Lösungsalternative § 302 I StPO enthält keine ausdrückliche Aussage darüber, ab wann verzichtet werden k a n n . 1 0 3 1 Dass dies der Zeitpunkt der Urteilsverkündung sein muss, ist nach Denckers Ansicht dann nicht zwingend, wenn sich dem Prozessrecht entgegenstehende Wertungen entnehmen lassen. 1 0 3 2 Eine Einschränkung des § 302 StPO wäre dann methodisch durchaus zulässig. Eine Regelung darüber, wann frühestens eine Rechtsmittelerklärung erfolgen kann, enthält die StPO aber nicht. Aus den Fristvorschriften des Rechtsmittelrechts lässt sich ebenfalls keine Wertung entnehmen, dass eine gewisse Überlegungsfrist zwingend eingehalten werden müsste. Allerdings hält es Dencker für zulässig, Regelungen aus anderen Verfahrensgesetzen nutzbar zu machen, nämlich der Wehrbeschwerdeordnung (WBO) und der Wehrdisziplinarordnung (WDO). U m übereilte Erklärungen zu verhindern, sieht § 6 W B O vor, dass die Beschwerde frühestens nach Ablauf einer Nacht eingelegt werden darf. § 43 11 W D O ordnet an, dass die Vollstreckung einer verhängten Disziplinarmaßnahme erst dann erfolgen darf, wenn der Soldat an dem auf die Verhängung folgenden Tag ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Beschwerde hatte und davon keinen Gebrauch gemacht hat. Zwar weist Dencker darauf hin, dass die in W B O , W D O und StPO geregelten Materien verschieden sind, doch sollen angesichts der Notwendigkeit einer entsprechenden Regelung i m Strafprozess keine grundsätzlichen Bedenken dagegen bestehen, die Wertung der genannten Vorschriften auch für das Strafprozessrecht zu übernehmen. 1 0 3 3 I m Übrigen verweist Dencker darauf, dass sowohl das Partikularrecht als auch der Entwurf einer Strafverfahrensordnung von 1939 (sog. Gärtner-Entwurf) bereits eine ähnliche Regelung enthielten. 1 0 3 4 Zuzugeben ist Dencker sicherlich, dass eine zwingende Überlegungsfrist zum Schutze des Angeklagten geeignet erscheint und de lege ferenda eine durchaus sinnvolle Ergänzung des § 302 StPO w ä r e . 1 0 3 5 De lege lata kann dem alternativen Lösungsvorschlag Denckers indessen nicht gefolgt werden. Die Regelungen in den partikularen Strafprozessordnungen, die eine freie Widerruflichkeit des Verzichts 1031 Siehe oben Teil 1 B.II.2. 1032 Dencker, Willensfehler, S. 72. 1033 Dencker, Willensfehler, S. 73. 1034 Dencker, Willensfehler, S. 73; vgl. auch Rogali StV 98, 643, 644 f. 1035 Die Gegner einer derartigen Entscheidungsfrist sehen die Gefahr, dass die Bindungswirkung des Verzichts über eine solche Frist aus den Angeln gehoben würde. Sie befürchten, dass bei längerer Überlegung ohnehin niemand mehr einen Verzicht erklärt, was eine Mehrbelastung der Gerichte zur Folge hätte, vgl. Peglau JA 2000, 405, 408.

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überwiegend anerkannten und sich sogar noch in den Entwürfen zur RStPO fanden, haben letztlich keinen Eingang in die RStPO gefunden. 1 0 3 6 Zwar sah der DER von 1975 eine entsprechende Regelung i m neu konzipierten § 302 StPO v o r 1 0 3 7 , nach welcher ein Rechtsmittelverzicht erst am Tag nach der Urteilsverkündung wirksam erklärt werden konnte, doch fand eine entsprechende gesetzliche Umsetzung dieses Vorschlags gerade nicht statt. Seinem aktuellen Wortlaut nach fordert § 302 StPO jedenfalls keine angemessene Entscheidungsfrist. Aus dem systematischen Zusammenhang des § 302 I StPO mit den Frist- und Form Vorschriften lässt sich kein anderes Ergebnis herleiten. Die Einbeziehung der Normen aus W B O und W D O ist methodisch von vornherein unzulässig, da es sich nicht um Vorschriften handelt, die dem System des Strafverfahrensrechts zugeordnet werden können. Die von Dencker vorgenommene einschränkende Auslegung ist mithin methodisch unzulässig. De lege lata ist es nicht möglich, aus einer vermuteten Übereilung die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts herzuleiten. 1 0 3 8

(3) Zwischenergebnis Der unmittelbar nach Urteilsverkündung erfolgte Rechtsmittelverzicht ist grundsätzlich wirksam. Eine zwingende Überlegungsfrist ist als Wirksamkeitsvoraussetzung des Verzichts nicht zu wahren. Die prozessuale Situation, die sich i m Anschluss an die Urteilsverkündung einstellt, löst auch keine Fürsorgepflicht des Gerichts aus, welche es dem Gericht gebieten würde, die Entstehung von Willensmängeln zu verhindern. A n der Bewertung dieser Situation könnte sich allerdings etwas ändern, wenn der Angeklagte vom Vorsitzenden ausdrücklich gefragt wird, ob er auf Rechtsmittel verzichten wolle oder das Urteil annehme. Die Frage von Seiten des Gerichts ist dann als zusätzlicher Aspekt in die abstrakt-typisierende Gesamtbewertung der Situation mit einzustellen. Bildlich gesprochen könnte sich die Veranlassung des Verzichts durch das Gericht als der Umstand erweisen, der „das Fass zum Überlaufen" bringt und eine typisierte erkennbare Hilfsbedürftigkeit begründet.

(4) Die Frage nach dem Rechtsmittelverzicht als Auslöser der Fürsorgepflicht In der Praxis wird der Angeklagte regelmäßig nicht aus eigenem Antrieb auf Rechtsmittel verzichten, sondern erst durch das Gericht dazu veranlasst. Weist das Gericht den Angeklagten auf die Möglichkeit des Verzichts hin oder fragt es ihn 1036 Rogali StV 98, 643. 1037 Allerdings nur bei Verurteilung des Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr, vgl. DER S. 9. 1038 Rogali StV 98, 643, 645.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

sogar danach, ist es naheliegend, dass der Angeklagte sich zu Erklärungen hinreißen lässt, deren Tragweite er nicht ü b e r b l i c k t . 1 0 3 9 Schließlich kommt einer solchen Nachfrage des Gerichts die Suggestiv Wirkung einer Aufforderung zu. Teilweise wird die Frage nach dem Verzicht daher auch als indirekte Einwirkung auf die Willensbildungsfreiheit des Angeklagten qualifiziert. 1 0 4 0 Bei rein formalistischer Betrachtungsweise könnte man freilich anmerken, dass der Angeklagte durch die Frage regelmäßig erst von der Möglichkeit des Rechtsmittelverzichts als einer prozessualen Gestaltungsmöglichkeit erfährt. Die Bandbreite autonomer Entscheidungsmöglichkeiten, die dem Angeklagten als Prozesssubjekt zustehen, wird dadurch vordergründig sogar erweitert. Prozessuale Fürsorge erschöpft sich allerdings nicht darin, lediglich den Angeklagten als eigenverantwortliches Prozesssubjekt einzubinden bzw. in Anspruch zu n e h m e n 1 0 4 1 , wenn damit regelmäßig eine Gefährdung der Willensfreiheit des Angeklagten verbunden ist. Ob eine derartige typisierte Gefährdungslage besteht, gilt es vorliegend gerade zu untersuchen. I m Schrifttum wird allerdings darauf hingewiesen, dass ein „Herausfragen" des Verzichts durch den Vorsitzenden dem gesetzlichen Leitbild des Rechtsmittelverzichts widerspricht und bereits aus diesem Grunde unwirksam ist. Einer Nachprüfung, ob ein erkennbares Hilfsbedürfnis besteht, das die gerichtliche Fürsorgepflicht auslöst, bedarf es nach dieser Ansicht nicht.

(a) Automatische

Unwirksamkeit

des Verzichts infolge der Veranlassung?

Wirksam ist ein Rechtsmittelverzicht nach dieser Position nur, wenn der Angeklagte aus freien Stücken und ohne dysfunktionale Beeinflussung durch Organe der Rechtspflege zum Ausdruck bringt, dass er die Rechtsmittelfrist nicht in vollem Umfang in Anspruch nehmen m ö c h t e . 1 0 4 2 Die Frage des Vorsitzenden in unmittelbarem Anschluss an die Urteilsverkündung schaffe beim Angeklagten, der sich in einer psychischen Ausnahmesituation befinde, indessen die erhebliche Gefahr einer unüberlegten Äußerung und sei daher eine dysfunktionale Beeinfluss u n g . 1 0 4 3 Der unmittelbar i m Anschluss an die Urteilsverkündung erklärte Rechtsmittelverzicht sei daher zwar nicht generell, aber stets dann unwirksam, wenn ihm irgendein Hinweis des Gerichts auf die Möglichkeit einer solchen Erklärung 1044

vorausgegangen ist. 1039 Erb G A 2000, 511, 523. 1040 Schulze, S. 233 ff. - Indirekte Einwirkungen auf den Angeklagten wie die Frage nach dem Verzicht und die unterlassene Bestellung eines notwendigen Verteidigers führen regelmäßig zur Beachtlichkeit des Willensmangels. 1041 Plötz, S. 171. 1042 Erb G A 2000, 511, 524. 1043 Erb G A 2000, 511, 524; Peters, § 34 I I 2. 1044 Erb G A 2000, 511, 524.

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Eine normative Stütze scheint diese Auffassung in den RiStBV zu finden. Gem. Nr. 142 I I RiStBV soll der Angeklagte gerade nicht veranlasst werden, i m unmittelbaren Anschluss an die Urteilsverkündung zu erklären, ob er auf Rechtsmittel verzichtet. A u f den ersten Blick ist das „Herausfragen" des Verzichts daher als vorschriftswidrig und somit dysfunktional zu bewerten. Die RiStBV sind jedoch lediglich VerwaltungsVorschriften. Diese richten sich als verwaltungsinterne Weisungen nur an die nachgeordneten Behörden und Beamten. Sie haben also keine Außenwirkung und mithin keinen Normcharakter. Ihre Einhaltung kann der Angeklagte somit nicht verlangen. Für den weisungsunabhängigen Richter sind die RiStBV von vornherein unverbindlich. Die Richtlinien enthalten für diesen lediglich eine Verhaltensempfehlung. Ihre Berücksichtigung bleibt dem Richter überlassen. 1 0 4 5 Die Frage nach dem Verzicht wäre daher selbst bei gezielter Umgehung der Nr. 142 I I RiStBV kein Normverstoß und mithin nicht dysfunktional. 1 0 4 6 Die bloße Veranlassung des Rechtsmittelverzichts entgegen Nr. 142 I I 1 RiStBV führt daher nicht zu dessen Unwirksamkeit. Dies hatte das OLG Köln i m Übrigen bereits 1974 festgestellt. Nr. 142 I I RiStBV enthalte kein gesetzliches Verbot, dessen Übertretung den Verzicht unwirksam m a c h t . 1 0 4 7 Vielmehr müssten Umstände hinzutreten, die das Gericht selbst prozesswidrig geschaffen h a t . 1 0 4 8 Die bloße Nichtgewähr einer angemessenen Frist zur Überlegung beeinträchtige die prozessuale Beachtlichkeit der Verzichtserklä_ _

· 1 . 1049

rung nicht. M i t dieser Entscheidung hat sich vor allem Dahs bei der Entwicklung seines Lösungsansatzes auseinandergesetzt. Nach Auffassung von Dahs ist grundsätzlich die Einhaltung von vier Postulaten erforderlich, um eine eigenverantwortliche Rechtsmittelentscheidung des Angeklagten zu gewährleisten. 1 0 5 0 Dazu zählen die Aushändigung eines Merkblatts über alle in Frage kommenden Rechtsmittel an den Angeklagten, Nr. 142 I S. 2 RiStBV, keine Veranlassung der Verzichtserklärung durch Gericht oder StA, Nr. 142 I I RiStBV, wörtliche Niederlegung der Verzichtserklärung i m Hauptverhandlungsprotokoll, sowie dessen Verlesung und Genehmigung durch den Angeklagten, vgl. Nr. 143 I R i S t B V . 1 0 5 1 Da das Gericht die bestmöglichen Voraussetzungen für die Rechtsmittelentscheidung zu gewährleisten

1045

So ausdrücklich die Einführung zu den RiStBV. 1046 i n einer bewussten Umgehung von Verfahrens Vorschriften läge hingegen ein krasser Missbrauch hoheitlicher Macht und eine Verletzung des fair trial-Grundsatzes, Geppert Jura 92, 598, 603; Steiner, S. 169; Dieser würde tatsächlich zur automatischen Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führen. 1047 OLG Köln, OLGSt, § 302 StPO, S. 25, 26 - Die Richtlinie enthält kein gesetzliches Verbot, dessen Übertretung den Verzicht unwirksam machen könnte. 1048 OLG Köln, OLGSt, § 302, S. 25, 27 f. 1049 KMR-Sax, Einl. X Rn 27; a.A. Dencker, Willensfehler, S. 72. 1050 Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 23. 1051 Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 22.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

habe, sei es „prozessualer Garant" für die Einhaltung dieser Postulate. 1 0 5 2 Kommt das Gericht dieser Verpflichtung nicht nach, dann falle das Risiko des Vorliegens eines Willensmangels in den Verantwortungsbereich des Gerichts. 1 0 5 3 Da sich Dahs aber auf Grund der Entscheidung des OLG Köln gehindert sah, Rechtsfolgen direkt an die Missachtung der Nr. 142 I I RiStBV zu knüpfen, sieht er lediglich jede Beeinflussung des Angeklagten, die über die bloße Frage nach dem Verzicht hinausgeht, als unzulässig an, weil damit die Grenze des rechtsstaatlich noch Vertretbaren unterschritten werde, so z. B. durch weiteres Zureden, Ausüben von Zeitdruck, Verhinderung der Konsultation eines Verteidigers. Tritt eine solche Situation ein, bringe dies eine so erhebliche Gefahrenerhöhung i m Hinblick auf einen nicht sachgemäß erwogenen Rechtsmittelverzicht mit sich, dass die Verantwortung für das Vorliegen eines Willensmangels in die Sphäre des Gerichts falle. 1054 Ob das Gericht die Verantwortung für die Entstehung von Willensmängeln tatsächlich erst dann trägt, wenn es zu einer Beeinflussung der Entscheidung des Angeklagten über die Veranlassung durch den Vorsitzenden hinaus kommt, erscheint indessen fraglich. Dass die Frage des Vorsitzenden, ob auf Rechtsmittel verzichtet wird, nicht unzulässig ist und nicht zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führt, ändert nichts daran, dass diese, wie bereits zuvor angedeutet 1 0 5 5 , als Kriterium für die abstrakt-typisierende Bestimmung des erkennbaren Hilfsbedürfnisses von Relevanz sein kann und unter Umständen eine gerichtliche Fürsorgepflicht auslöst. Diese würde vorliegend lediglich eine Verpflichtung begründen, die Entstehung von Willensmängeln zu verhindern. Zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führt ihre Auslösung gerade nicht. Die Frage des Vorsitzenden könnte also zumindest eine gerichtliche Fürsorgepflicht des Inhalts bedingen, dass Fehlvorstellungen des Angeklagten über Bedeutung und Tragweite des Rechtsmittelverzichts durch Hinweise und Belehrungen entgegenzuwirken ist. Dies gilt es nunmehr zu überprüfen. (b) Überprüfung der Typizität

der Gefahrenlage

Ziel der gerichtlichen Fürsorgepflicht ist es, eine eigenverantwortliche Rechtswahrnehmung durch den Angeklagten zu sichern. Zu klären ist daher, ob der Angeklagte infolge der sofortigen Frage nach dem Verzicht regelmäßig und daher für 1052 Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 24; Erb, G A 2000, 511, 523 f., sieht mit dieser Ansicht schwierige Abgrenzungsprobleme verbunden, die wiederum zu einer Einzelfallbetrachtung zwingen würden. 1053 Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 25. 1054 Ähnlich Peters, § 34 I I 2 - Eine nach den Umständen unüberlegte und sachlich nicht abgewogene weittragende Willenserklärung sei unwirksam. Voraussetzung sei ein schwerwiegender Umstand, eine ruhige Erwägungen verhindernde Situation und fehlende Augenblickseinsicht in die Tragweite der Erklärung. 1055 Siehe oben D.II.l.a)(3).

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

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das Gericht erkennbar nicht das erforderliche Niveau prozessualer Handlungskompetenz erreicht, denn nur die theoretische Möglichkeit der praktischen Rechtsverwirklichung muss das Gericht gewährleisten. 1 0 5 6 U m diese Möglichkeit sicherzustellen, wird zum Teil bereits die Belehrung gem. § 35a StPO als hinreichend angesehen. Das Argument der Überrumpelung des Angeklagten durch Veranlassung eines sofortigen Verzichts wird von dieser Position als nicht bewiesene Behauptung abgetan. 1 0 5 7 Berichte aus der Praxis, wonach die Belehrung gem. § 35a StPO - unbesehen ihres bereits rechtlich äußerst komplexen Inhalts - regelmäßig in einer Art und Weise vorgetragen wird, dass der juristisch nicht vorgebildete Angeklagten sie nicht versteht, nämlich mit hoher Sprechgeschwindigkeit und als bloße R o u t i n e 1 0 5 8 , lassen es freilich mehr als fraglich erscheinen, ob die Rechtsmittelbelehrung allein geeignet ist, eine eigenverantwortliche und selbstbestimmte Entscheidung über die Wahrnehmung der Rechtsmittelbefugnis zu garantieren. Außer Frage steht hingegen, dass der Vorsitzende die ihm von Gesetzes wegen auferlegte Pflicht zur Rechtsmittelbelehrung gem. § 35a StPO konterkariert, wenn er den Angeklagten zum Verzicht auf eben die Rechtsmittel zu veranlassen sucht, über die er unmittelbar zuvor belehrt h a t . 1 0 5 9 Ein solches Verhalten, das regelmäßig die Gefahr erhöht, dass der Angeklagte eine unsachgemäße Entscheidung trifft, ist als gefahrschaffendes Vorverhalten des Gerichts bei der abstrakt-typisierenden Bestimmung, ob ein erkennbares Hilfsbedürfnis vorliegt, zu berücksichtigen. 1 0 6 0 Die infolge der Irreversibilität des Rechtsverlustes und der Bedeutung der Rechtsmittelbefugnis für den Angeklagten unmittelbar nach Urteilsverkündung ohnehin schon bestehende Gefahrenlage erfährt mithin durch das gefahrschaffende Vorverhalten des Gerichts eine weitere Verdichtung. I m Schrifttum wird zudem die Auffassung vertreten, dass auch die Wertung der Nr. 142 I I 1 RiStBV Berücksichtigung finden m u s s . 1 0 6 1 Da in den RiStBV gegenüber dem Gericht nur Verhaltensempfehlungen ausgesprochen werden, könne ihre Verletzung zwar nicht unmittelbar zur Unwirksamkeit des Verzichts führen, wohl aber eine Pflicht des Gerichts auslösen, die es gebietet, den Angeklagten über Bedeutung und Tragweite eines Rechtsmittelverzichts zu belehren. 1 0 6 2 Die Regelung der Nr. 142 I I RiStBV beruhe gerade auf der Erkenntnis, dass der Angeklagte un•056 Vgl. Kielwein,

S. 110 f., 134 f.

1057 H.W. Schmidt NJW 65, 1210, 1211. 1058 Hübner, S. 198 f.; Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17. 1059 Plötz, S. 321. 1060 Schulze, S. 237 f., bezeichnet die unmittelbare Befragung des Angeklagten als indirekte Einwirkung durch Justizorgane. Das Gericht schaffe damit eine Prozesslage, die W i l lensmängel als möglich erscheinen lässt, S. 240 f. 1061 Rogali StV 98, 643. 1062 Schmidt JuS 67, 158, 162; HK/StPO-Rautenberg, § 302 Rn 5 unter ausdrücklichem Verweis auf Nr. 142 I I 1 RiStBV. Auch AK-Achenbach fordert, dass die Veranlassung eines Verzichts entgegen Nr. 142 I I 1 RiStBV stärker zu Gunsten des Angeklagten ins Gewicht fallen soll, § 302 Rn 27. 16 Meyer

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

mittelbar nach Urteilsverkündung vor jeglicher Pression seitens der Justiz geschützt werden müsse. 1 0 6 3 Ihre Existenz sei Ausdruck des Bemühens, voreilige Rechtsmittelverzichtserklärungen zu unterbinden und damit elementaren Schutzbedürfnissen des Angeklagten Rechnung zu t r a g e n . 1 0 6 4 Eine Nichtbeachtung der Vorschrift gebietet daher besondere Sorgfalt auf Seiten des Gerichts. Die Empfehlung in Nr. 142 I I RiStBV ist daher als Ausdruck der Fürsorgepflicht zu verstehen 1 0 6 5 und kann deshalb als normatives Kriterium bei der abstrakt-typisierenden Bestimmung der Hilfsbedürftigkeit berücksichtigt werden. Da gerade die typischerweise bestehende Gefahr, dass der Angeklagte Bedeutung und Tragweite seiner Erklärung verkennt, der Grund dafür ist, dass den Gerichten durch Nr. 142 I I RiStBV geraten wird, keinen Rechtsmittelverzicht unmittelbar nach Urteilsverkündung zu veranlassen 1 0 6 6 , ist von einer solchen Verdichtung der Gefahrenlage auszugehen, dass sich die Hilfsbedürftigkeit des Angeklagten dem Gericht aufdrängen m u s s . 1 0 6 7 Die Veranlassung des Verzichts durch den Vorsitzenden i m unmittelbaren Anschluss an die Urteilsverkündung löst somit eine gerichtliche Fürsorgepflicht aus, um der Entstehung von Fehlvorstellungen über Bedeutung und Tragweite des Verzichts vorzubeugen. 1 0 6 8 Eine solche Argumentation führt nicht dazu, dass man den Verwaltungsvorschriften der RiStBV letztlich doch die Wirkung einer Rechtsnorm beimisst oder ihre Einhaltung zur Wirksamkeitsvoraussetzung des Verzichts macht. Zwar weisen Vertreter des Schrifttums darauf hin, dass aus der Nichtbeachtung der RiStBV überhaupt nichts für die Frage der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts hergeleitet werden k a n n 1 0 6 9 , doch hat die gerichtliche Fürsorgepflicht vorliegend eine ganz andere Zielrichtung. Das Bestehen einer gerichtlichen Fürsorgeverpflichtung hat zur Konsequenz, dass das Gericht die Gefahr der Entstehung von Willensmängeln durch Hinweise und Belehrungen neutralisieren muss. Unwirksam ist ein Rechtsmittelverzicht nur dann, wenn das Gericht seiner Verpflichtung nicht nachkommt und infolgedessen ein Motivirrtum über Bedeutung und Tragweite des Verzichts beim Angeklagten entsteht bzw. ein bereits vorliegender Irrtum nicht beseitigt wird. Erst die Verletzung der Fürsorgepflicht begründet die Verantwortung des Gerichts für den Willensmangel. Der Grund für die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts ist in der vorliegend untersuchten Konstellation also nicht die Unzulässigkeit der Befragung, sondern das Unterlassen der gebotenen Hilfestellung. 1 0 7 0

1063 Hübner, S. 197. 1064 Erb G A 2000, 511, 523 - Erb findet es daher auch bedenklich, dass die RiStBV für den Richter nur empfehlenden Charakter haben und sich diese offen über die Regelung hinwegsetzen. 1065 R. Schmidt JuS 67, 158, 162; Rogali StV 98, 643. 1066 So schon BGHSt 19, 101, 103. 1067 Plötz, S. 198 f. 1068 So auch LG Osnabrück StraFo 97, 309, 311. 1069 H.W. Schmidt NJW 65, 1210, 1211.

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

243

Diese Erkenntnis liegt letztlich auch der Auffassung im Schrifttum zu Grunde, die das Gericht als dogmatische Konsequenz der Fürsorgepflicht für verpflichtet ansieht, den Rechtsmittelverzicht aktiv anzunehmen. 1 0 7 1 Dem Gericht sei die Annahme der Verzichtserklärung verwehrt, wenn es infolge der erkennbaren Gefahrenlage Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Willensmangels beim Angeklagten hat oder haben m u s s . 1 0 7 2 Die Annahme des Verzichts sei dem Gericht erst dann erlaubt, wenn der Angeklagte zuvor über Bedeutung und Tragweite des Verzichts belehrt wurde. Nimmt das Gericht den Verzicht ohne entsprechende Belehrung an, so liegt der Grund für dessen Unwirksamkeit in der Fürsorgepflichtverletzung. 1 0 7 3 Rechtlich fundiert wird diese Auffassung durch eine analoge Heranziehung des § 302 I I StPO. § 302 I I StPO, der klarstellt, dass der Verteidiger zur Zurücknahme eines Rechtsmittels einer ausdrücklichen Ermächtigung bedarf, rege dazu an, auch eine Ermächtigung zur Entgegennahme der Erklärung zu verlangen. 1 0 7 4 Eine solche bestehe für das Gericht als Erklärungsadressaten nur, solange es sich nicht in Widerspruch zu seinen Aufgaben setzt. Gerade die Für Sorgepflicht gegenüber dem Angeklagten sei aber eine der vornehmsten Aufgaben der J u s t i z . 1 0 7 5 Ohne deren Erfüllung bestünde also keine Ermächtigung des Gerichts analog § 302 I I StPO zur Annahme der Verzichtserklärung. 1 0 7 6 Eine aktive Annahmepflicht für den Rechtsmittelverzicht lässt sich der StPO indessen nicht entnehmen. Auch durch eine entsprechende Anwendung des § 302 I I StPO lässt sich diese nicht herleiten. § 302 I I StPO ist Ausdruck des Rechts auf Selbstverteidigung. Durch diese Norm wird dem Willen des Angeklagten beim Rechtsmittel verzieht der Vorrang vor demjenigen des Verteidigers eingeräumt. Es handelt sich mithin um eine Ausnahmevorschrift, die das Verteidigungsinnenverhältnis regelt. A u f das Verhältnis des Angeklagten gegenüber dem Gericht lässt sich die Aussage dieser Vorschrift nicht übertragen.

OVO Plötz, s. 303. Schlächter, Rn 650; Plötz, S. 309; Ausschlaggebend für die Unwirksamkeit des Verzichts wäre demnach nicht die Frage nach dem Verzicht, sondern die Annahme der Erklärung, ohne zuvor die Möglichkeit zu einer autonomen Entscheidung des Angeklagten gewährleistet zu haben, 1071

1072

Bereits das OLG Hamburg M D R 64, 614, hat betont, dass es in derartigen Gefahrensituationen bereits bedenklich erscheint, dass das Gericht die Erklärung des Rechtsmittelverzichts entgegen nimmt; ähnlich G. Fezer, Strafprozessrecht, 10/48. 10-73 Plötz, S. 310. i ° 7 4 Schlachter, Rn 650 - Man dürfe nicht nur auf den Absender der Erklärung abstellen, sondern muss auch den Adressaten in die Überlegungen, die sich mit der Willensmangelproblematik befassen, miteinbeziehen. 1075 Schlächter, Rn 650. 1076 N i m m t das Gericht einen Rechtsmittel verzieht unter Verletzung der Fürsorgepflicht entgegen, läuft dies rechtsstaatlichen Grundsätzen zuwider, so Schlächter, Rn 650; in diesem Sinne wohl auch Kühne, Rn 680, der den Rechtsmittelverzicht für anfechtbar hält, sofern die Fehlvorstellung des Angeklagten i m Rahmen der gerichtlichen Fürsorgepflicht zu korrigieren gewesen wäre. 1*

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Weitere wesentliche Unterschiede zwischen dieser Auffassung und der Lösung, die in der vorliegenden Arbeit ermittelt wurde, gibt es allerdings nicht. Die Auslösung der gerichtlichen Fürsorgepflicht durch die Frage des Vorsitzenden führt in beiden Fällen nicht zur Unwirksamkeit des Verzichts, sondern begründet das Erfordernis, den Angeklagten über Bedeutung und Tragweite der Verzichtserklärung zu belehren. Dies stellt sicher, dass der Angeklagte seine formale Rolle als Prozesssubjekt auch tatsächlich ausfüllen kann und in die Lage versetzt wird, von seiner Dispositionsfreiheit autonom Gebrauch zu machen. Geboten erscheint darüber hinaus der Hinweis darauf, dass er, der Angeklagte, sich nicht sofort entscheiden müsse, um den Entscheidungszwang, welchen der Angeklagte ebenfalls regelmäßig empfinden wird, von ihm zu n e h m e n . 1 0 7 7 Ob der trotz einer solchen Belehrung erfolgende Verzicht immer noch objektiv unvernünftig und übereilt erscheint, ist indessen unbeachtlich, da die Fürsorgepflicht weder grundsätzlich vorschnelle Verzichtserklärungen verhindern noch die effektivste Rechtswahrnehmung sichern soll. Nur so bleibt die Eigenverantwortlichkeit des Angeklagten gewahrt. Die Verweigerung der Annahme des Verzichts in diesen Fällen wäre eine unzulässige aufgedrängte Fürsorge. 1 0 7 8 Die gerichtliche Fürsorgepflicht soll nur das Tragen von Verantwortung ermöglichen. Ob die durch das Gericht eröffneten Möglichkeiten tatsächlich realisiert bzw. die gegebenen Informationen interessengerecht genutzt werden, liegt in der Verantwortung dessen, dem sie gewährt werden, nämlich des Angeklagten als Prozesssubjekt. 1 0 7 9 Die Autonomie des Angeklagten wird dadurch zur unübersteigbaren Schranke staatlicher Fürsorge. 1 0 8 0 Gibt der Angeklagte - nach Hinweis auf die Konsequenzen des Verzichts und seine Entscheidungsfreiheit - zu erkennen, dass er das Verfahren so schnell wie möglich beenden will, dann muss ihm dieses Recht auch zugestanden werden.1081

b) Ergebnis Dem Gericht ist es nicht verwehrt, den Angeklagten i m unmittelbaren Anschluss an die Urteilsverkündung zu befragen, ob er auf Rechtsmittel verzichten will. A l lerdings begründet eine solche Veranlassung des Rechtsmittelverzichts bei abstrakt· typisierender Betrachtungsweise ein erkennbares Hilfsbedürfnis beim Angeklagten und löst damit die gerichtliche Fürsorgepflicht aus. Dieser genügt das Gericht, indem es den Angeklagten über Bedeutung und Tragweite eines Rechtsmittelverzichts aufklärt und ihn darauf hinweist, dass er sich nicht sofort für oder 1077

In diesem Sinne auch Plötz, S. 324 und Grünst, S. 359, die eine solche Belehrungspflicht aus dem Grundgedanken des § 136 I 2 StPO herleitet. 1078 Plötz, S. 312. 1079

So schon ausdrücklich Maiwald, •oso n a g t e StV 81, 471, 481, 483. 1081 SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 28.

FS Lange, S. 745, 764.

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

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gegen die Erklärung eines Verzichts entscheiden müsse. Erfolgt eine solche Belehrung, dann ist ein anschließender Rechtsmittelverzicht wirksam. Lediglich dann, wenn das Gericht die gebotene Belehrung unterlässt, trägt es die prozessuale Verantwortung für Willensmängel, die der Verzichtserklärung des Angeklagten auf Grund der Pflichtverletzung anhaften. Der Rechtsmittelverzicht ist dann unwirksam. Wie bereits an vorangegangener Stelle erwähnt, ist der sog. „herausgefragte" Rechtsmittelverzicht nicht die einzige Fallkonstellation, die unter den Oberbegriff „Übereilung und Unüberlegtheit der Verzichtserklärung" gefasst w i r d . 1 0 8 2 Auch die Fälle der nicht erfolgten Bestellung eines notwendigen Verteidigers, der Verhinderung der Beratung mit dem anwesenden Verteidiger sowie der Verhandlung in Abwesenheit des gewählten oder bestellten Verteidigers werden als Unterfälle der Übereilung und Unüberlegtheit gehandelt. 1 0 8 3 U m den Besonderheiten dieser Konstellationen hinreichend Rechnung zu tragen, insbesondere den gesetzlichen Wertungen, die bei der Untersuchung zu berücksichtigen sind, werden die genannten Fälle i m Folgenden als eigenständige Fallgruppen neben der „Übereilung und Unüberlegtheit", mit welcher primär der „herausgefragte" Rechtsmittelverzicht verbunden wird, behandelt. Zwar liegen die Veranlassung eines Verzichts durch das Gericht und die oben genannten Fälle häufig kumulativ v o r 1 0 8 4 , dennoch bedarf es einer isolierten Betrachtung, um klären zu können werden, ob in den genannten Verfahrenssituationen auch unabhängig voneinander ein erkennbares Hilfsbedürfnis des Angeklagten zu Tage tritt und die gerichtliche Fürsorgepflicht auslöst. Dabei soll zunächst die Konstellation in das Blickfeld gerückt werden, in welcher der Angeklagte, der den Rechtsmittelverzicht erklärt, i m vorangegangenen Hauptverfahren unter Verstoß gegen § 140 StPO ohne notwendigen Verteidiger geblieben ist.

2. Die nicht erfolgte Bestellung des notwendigen Verteidigers Eine eingehende Beratung des Angeklagten durch einen Verteidiger ist regelmäßig die effektivste Möglichkeit, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechtsmittelbefugnis zu garantieren. Erfolgt eine solche Beratung nicht, besteht das Risiko, dass der regelmäßig rechtsunkundige Angeklagte nicht in der Lage ist, die rechtlichen Auswirkungen eines Rechtsmittelverzichts zu erfassen. Nun trifft den Angeklagten als Kehrseite seiner Prozesssubjektrolle allerdings grundsätzlich selbst die Verantwortung dafür, sich umfassend über seine prozessualen Rechte 1082 Vgl. oben D.II. 1. 1083 LR-Hanack, § 302 Rn 55 ff. 1084 Exemplarisch OLG Zweibrücken 101, 103.

StV 94, 362, 363; vgl. auch BGHSt 18, 257, 259; 19,

246

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

und die Zweckmäßigkeit ihrer Ausübung zu informieren. Nicht zuletzt, um derartige Erkundigungen zu ermöglichen, ist in § 137 StPO das Recht des Angeklagten auf Verteidigung verbürgt. Dieser darf sich in jeder Phase des Verfahrens eines Verteidigers bedienen. Die Kenntnis dieses Rechts auf Seiten des Angeklagten wird durch die Belehrungsvorschriften der §§ 136 I S. 2, 163a III, I V StPO abgesichert. Macht der Angeklagte von seinem Recht auf Verteidigung keinen Gebrauch, so trägt er auch die damit einhergehenden Nachteile i m Strafverfahren. Willensmängel über Bedeutung und Tragweite von Prozesserklärungen gehen zu seinen Lasten. Eine wesentlich kritischere Beurteilung verlangen indessen die Verzichtsfälle, in welchen der Angeklagte i m vorangegangenen Hauptverfahren ohne Verteidiger blieb, obwohl das Gericht gem. § 140 StPO zur Bestellung eines Verteidigers verpflichtet gewesen wäre. § 140 StPO regelt die Fälle der notwendigen Verteidigung. Der Staat sichert durch diese Vorschrift das Interesse, das der Rechtsstaat in besonders schwierigen oder schwerwiegenden Verfahren an deren prozessordnungsgemäßer Durchführung und an einer wirksamen Verteidigung des Angeklagten h a t . 1 0 8 5 Ist der Angeklagte unverteidigt, und liegen die Voraussetzungen der Absätze 1 oder 2 des § 140 StPO vor, so muss der Vorsitzende des Gerichts, das für das Hauptverfahren zuständig ist, gem. § 141 I, I V StPO einen Verteidiger bestellen, sobald der Angeklagte gem. § 201 StPO zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden i s t . 1 0 8 6 Die Bestellung gilt dabei für alle Verfahrensstadien - mit Ausnahme der Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht 1 0 8 7 - bis zur Rechtskraft des U r t e i l s . 1 0 8 8 Insofern wird dem Angeklagten durch die Nichtbestellung eines notwendigen Verteidigers entgegen § 140 StPO die Möglichkeit genommen, sich bei der Rechtsmittelentscheidung von einem Verteidiger beraten zu lassen, denn in den Fällen notwendiger Verteidigung hat der Angeklagte auch bei dieser Entscheidung einen Anspruch darauf, durch einen Verteidiger unterstützt zu w e r d e n . 1 0 8 9 Anders als in den Fällen des § 137 StPO ist das Gericht bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 StPO gesetzlich verpflichtet, dem Angeklagten diese Beratungsmöglichkeit tatsächlich zu eröffnen. 1 0 9 0

1085 BVerfGE

65, 171, 174; Dornach, S. 96.

1086 K / M - G , § 141 Rn 3 ff. 1087 LR-Lüderssen, § 140Rn 117. 1088 K / M - G , § 140 Rn 7; Schließlich ist auch eine erfolgte Bestellung bis zur Urteilsrechtskraft wirksam, Dahs, Handbuch, Rn 118; allgemein zu den zeitlichen Voraussetzungen der Bestellung vgl. LR-Lüderssen, § 140 Rn 133 ff. 1089 KK-Laufhütte, § 140 Rn 5; Schulze spricht insofern auch von einer indirekten Einwirkung durch Justizorgane, weil das Gericht durch die unterlassene Bestellung die Voraussetzungen für die Entstehung eines Willensmangels geschaffen habe, Schulze, S. 234. 1090 A u f Grund dieser Rechtspflicht zum Handeln w i l l Joachim die Nichtbestellung des notwendigen Verteidigers als Täuschung des Angeklagten durch Unterlassen behandeln und die Lösung dieser Problematik den Erwägungen entnehmen, welche er für die Täuschung durch Strafverfolgungsorgane entwickelt hat, S. 104 f.

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

247

Nach der herrschenden Meinung in Rspr. und Schrifttum soll daher ein Rechtsmittelverzicht unwirksam sein, den ein Angeklagter, dem unter Verstoß gegen § 140 StPO kein Verteidiger bestellt wurde, i m unmittelbaren Anschluss an das Urteil e r k l ä r t . 1 0 9 1 § 140 StPO enthalte die Wertung, dass der Angeklagte in den benannten Situationen zur sachgerechten Interessenwahrnehmung der Unterstützung durch einen Verteidiger b e d a r f . 1 0 9 2 Die Vornahme einer so wesentlichen Erklärung wie der des Rechtsmittelverzichts ohne Beteiligung des notwendigen Verteidigers widerspräche dieser gesetzlichen W e r t u n g . 1 0 9 3 Insofern hat bereits die Rechtsprechung selbst eine Typisierung der Hilfsbedürftigkeit des Angeklagten vorgenommen und die Wirksamkeit des Rechtsmittel Verzichts von der Erfüllung abstrakter Kriterien abhängig gemacht, nämlich der Einhaltung der §§ 140, 141 S t P O . 1 0 9 4 Das ist vor allem deshalb erstaunlich, weil die Behandlung der vorliegenden Konstellation damit in deutlichem Gegensatz zur sonst üblichen Einzelfallorientierung der Rechtsprechung steht. Die „Nichtbestellung des notwendigen Verteidigers" ist bisher auch der einzige Fall einer anerkannten Ausnahme zur Einzelfallrechtsprechung geblieben. 1 0 9 5 Bei der Analyse der Entscheidungen, die diese Problematik zum Inhalt haben, fällt gleichwohl auf, dass sich sehr oft - durchaus umfangreiche - Ausführungen zu den besonderen Umständen des Einzelfalles finden: M a l wird die Jugend des Angeklagten und die erhebliche Höhe der erkannten Strafe b e t o n t 1 0 9 6 , mal auf Sprachschwierigkeiten 1 0 9 7 , langjährige Heroinabhängigkeit und hochgradige Rückfallgef ä h r d u n g 1 0 9 8 abgestellt. Tragender Kern der Entscheidungen ist aber stets der Verstoß gegen § 140 S t P O . 1 0 9 9 Bei isolierter Betrachtung führt dieser Verstoß nach 1091 OLG Düsseldorf StV 98, 647; NStZ 95, 147, 148; StV 93, 237, 238; NStZ 82, 521; OLG Zweibrücken StV 94, 362, 363; OLG Frankfurt NStZ 93, 507; StV 91, 296; OLG Stuttgart M D R 85, 344; OLG Bremen StV 84, 17; OLG Hamm NJW 83, 530; M D R 77, 599, 600; OLG Oldenburg NStZ 82, 520; OLG Schleswig NJW 65, 312; OLG Hamburg NJW 64, 1039, 1040; SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 28; LR-Hanack, § 302 Rn 57; HK/StPO-Rautenberg, § 302 Rn 6; Roxin, StPO, § 51 Rn 27; Kühne, Rn 680; a.A. HM Schmid, NJW 65, 1210, 1212 - Die Frage der Notwendigkeit der Verteidigung habe grundsätzlich nichts mit der des Rechtsmittelverzichts zu tun. 1092 LR-Hanack, § 302 Rn 57; OLG Stuttgart NStZ 81, 490. 1093 SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 28 - Nicht einwenden lasse sich dagegen, dass der Angeklagte auch bei notwendiger Verteidigung gegen den Willen oder Rat seines Verteidigers entscheiden könne, denn auch dies ändert nichts daran, dass das Gesetz eine vorherige Beratung durch den Verteidiger verlangt. 1094 Erb, G A 2000, 511, 520, hebt dies deutlich hervor und sieht darin die Entwicklung einer abstrakten Wirksamkeitsvoraussetzung für den Rechtsmittelverzicht. 1095 Erb, G A 2000, 511, 521, ist allerdings der Auffassung, dass der 4. Senat des BGH mit seiner Rechtsprechung zum vorab vereinbarten Rechtsmittelverzicht einen ähnlichen Weg zu gehen versucht und sich bemüht, eine weitere abstrakte Wirksamkeitsvoraussetzung zu etablieren, nämlich das Fehlen einer Vorabzusage. 1096 OLG Hamburg NJW 64, 1039, 1040; OLG Frankfurt 1097 OLG München StV 98, 646; OLG Zweibrücken 1098 OLG Düsseldorf StV 98, 647.

NStZ 93, 507.

StV 94, 362, 363.

248

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

h. M . auch ohne das Hinzutreten besonderer Umstände im Einzelfall zur Unwirksamkeit des Verzichts. Nur so könne verhindert werden, dass der Angeklagte einen Rechtsmittelverzicht abgibt, dessen Bedeutung und Tragweite er in der für ihn schwierigen Situation nach Verkündung des Urteils nicht überblickt. Gerade in den Fällen der notwendigen Verteidigung müsse das Gericht durch Bestellung eines Verteidigers gewährleisten, dass der Angeklagten rechtlich beraten und vor übereilten, nicht sorgfältig überlegten endgültigen Prozesserklärungen bewahrt w i r d . 1 1 0 0 Angesichts dieser Begründung wird vor allem i m Schrifttum gemutmaßt, dass letztlich die Gefahr der Übereilung der tiefere Grund für diese Rechtsprechung ist, denn eine Entscheidung, in der ein Rechtsmittelverzicht für unwirksam erklärt wurde, der zwar unter Missachtung der Vorschriften über die notwendige Verteidigung, aber erst einige Tage nach Verkündung des Urteils zustande kam, ist bislang nicht bekannt geworden. 1 1 0 1 Der herrschenden OLG-Rechtsprechung, wonach der Verstoß gegen § 140 StPO zur Unwirksamkeit des Verzichts führt, ist 1996 das OLG Hamburg entgegen getreten. Ein Rechtsmittelverzicht ist nach Ansicht des OLG Hamburg nicht allein deshalb unwirksam, weil die Hauptverhandlung unter Verstoß gegen § 140 StPO ohne Beteiligung eines Verteidigers stattgefunden hat. Vielmehr sei im Einzelfall zu klären, ob eine autonome Entscheidung vorlag oder n i c h t . 1 1 0 2 I m entschiedenen Fall hätten aber keine Anhaltspunkte dafür vorgelegen, dass der Angeklagte eine nicht hinreichend durchdachte Entscheidung getroffen hat. Bei diesem handelte es sich um einen „gerichtserfahrenen' 4 Mann, der unmittelbar nach Verkündung eines - nach allgemeiner Einschätzung - milden Urteils auf Rechtsmittel verzichtet hat, ohne dass eine besondere emotionale Betroffenheit erkennbar w a r . 1 1 0 3 Die StPO regele nicht allgemein, welche Folgen Verstöße gegen die Bestimmungen über die notwendige Verteidigung haben. Lediglich für den Fall, dass der Angeklagte Revision einlegt, sieht § 338 Nr. 5 StPO die Aufhebung des Urteils vor, das unter Verstoß gegen § 140 StPO ergangen i s t . 1 1 0 4 Ob der Angeklagte diesen 1099 Dabei macht es keinen Unterschied, ob sich die Notwendigkeit der Verteidigung aus § 140 I StPO oder § 140 I I StPO ergibt, vgl. OLG Frankfurt StV 91, 296. •100 OLG Stuttgart M D R 85, 344. noi Rogali StV 98, 643, 644; Dencker, Willensfehler, S. 70 f.; Erb G A 2000, 511, 520; für den Fall, dass der Angeklagte den Rechtsmittelverzicht nicht unmittelbar nach Urteilsverkündung, sondern erst einige Tage später erklärt, geht Hanack wegen der bestehenden Erkundigungs- und Beratungsmöglichkeit sogar ausdrücklich von der Wirksamkeit des Verzichts aus, LR-Hanack, § 302 Rn 57. "02 OLG Hamburg NStZ 97, 53 = StV 98, 641; zustimmend Rogali StV 98, 643, KK-Ruß, § 302 Rn 12. 1103 OLG Hamburg NStZ 97, 53, 54 - Der Angeklagte hatte unmittelbar i m Anschluss an die Urteilsverkündung auf Rechtsmittel verzichtet. Zuvor war er zu 1 Jahr und 2 Monaten verurteilt worden. Zusätzlich wurde eine Sperre gem. § 69a StGB von 5 Jahren festgesetzt. Er hatte bereits nach dem Schlussvortrag der StA zu erkennen gegeben, dass er sich mit einer derartigen Rechtsfolge abfinden werde. 1104 OLG Hamburg NStZ 97, 53.

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht

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Gesetzesverstoß rügen will, liege aber in seiner Entscheidung. Sinn und Zweck der notwendigen Verteidigung würden jedenfalls nicht verlangen, dass der Angeklagte vor seiner Entscheidung darüber, ob er Rechtsmittel einlegen soll, den Rat eines Verteidigers einholt. Als selbstständiger Verfahrensbeteiligter könne er sowohl von einem Rat des Verteidigers abweichen als auch ganz auf eine solche Beratung verz i c h t e n . 1 1 0 5 Vielfach sei der Angeklagte sehr wohl in der Lage, die Folgen des Urteilsspruchs abzuschätzen. Eine Fürsorgepflicht des Gerichts zum Schutz vor übereilten, nicht ausreichend überdachten Verzichtserklärungen komme erst bei Hinzutreten weiterer besonderer Umstände in Betracht. 1 1 0 6 Während der Großteil der OLGe weiter an der bisherigen Rechtsprechung festhält - teilweise ohne die Entscheidung des OLG Hamburg überhaupt in den jeweiligen Entscheidungsgründen zu erwähnen - 1 1 0 7 , hat sich das OLG Naumburg neuerdings der Position des OLG Hamburg angeschlossen. In seiner Entscheidung führt das OLG Naumburg aus, dass eine Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts lediglich dann in Betracht kommt, wenn besondere Umstände vorliegen, die durchgreifende Bedenken dagegen auslösen, ob der Angeklagte sich der Bedeutung und Tragweite seiner Erklärung bewusst gewesen i s t . 1 1 0 8 Auch i m Schrifttum hat die Entscheidung des OLG Hamburg Zustimmung gef u n d e n . 1 1 0 9 So wird ausgeführt, dass die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts allein davon abhänge, ob der Angeklagte die Erklärung in hinreichend reflektierter Form abgegeben hat. Dieses Kriterium stehe in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erfordernis der notwendigen Verteidigung, denn der fehlende Beistand lasse für sich genommen noch nicht auf unüberlegtes Verhalten schließ e n . 1 1 1 0 Der Gesichtspunkt der notwendigen Verteidigung steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erfordernis hinreichender Reflexion. Ist aber kein Fürsorgegegenstand ersichtlich, bestehe trotz des Verstoßes gegen § 140 StPO keine gerichtliche Fürsorgepflicht zur Verhinderung übereilter, unbedachter Rechtsmittelerklärungen. 1111 Die nicht erfolgte Bestellung eines Verteidigers ent-

1 ·05 OLG Hamburg NStZ 97, 53. 1106 OLG Hamburg NStZ 97, 53. 1107 Vgl. OLG München StV 98, 646; KG StV 98, 656; OLG Düsseldorf StV 98, 647; Das OLG Köln NStZ-RR 97, 336, 337, begründet seine Entscheidung mit dem Vorliegen besonderer Umstände, die auch nach Maßgabe des OLG Hamburg zur Unwirksamkeit des Verzichts geführt hätten. no« OLG Naumburg NJW 2001, 2190; zustimmend Peglau NStZ 2002, 464, 465; ähnlich OLG Brandenburg StraFo 2001, 136 mit ablehnender Anmerkung von V. Braun StraFo 2001, 136 f. 1109 Rogali StV 98, 643; Pfeiffer,

§ 302 Rn 4.

mo Rogali StV 98, 643, 644. i m Rogali StV 98, 643; so auch Peglau NStZ 2002, 464, 465. Peglau hält es aber zur Vermeidung von Komplikationen für sinnvoll, diverse Belehrungen vorzunehmen und nicht zum Verzicht zu drängen. Was unter „Komplikationen" zu verstehen ist, und welche rechtlichen Folgen diese auslösen, beantwortet der Autor freilich nicht.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

gegen § 140 StPO sei lediglich ein Verfahrensfehler, dessen Erörterung der Begründetheitsprüfung eines Rechtsmittels vorbehalten ist, nicht jedoch der Zulässigkeitsprüfung. 1 1 1 2 Dogmatische Konsequenz dieser Auffassung ist die Rückkehr zur Einzelfallrechtsprechung. In bewusster Abkehr zu der abstrakten Typisierung, welche die h. M . vorgenommen hat, sollen allein die besonderen Umstände des Einzelfalles ausschlaggebend für die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts sein. Das RegelAusnahme-Verhältnis von Unwirksamkeit und Wirksamkeit des Verzichts, das nach h. M . in dieser Fallgruppe g i l t 1 1 1 3 , wird dadurch umgekehrt. Dies hätte zur Konsequenz, dass der Angeklagte grundsätzlich auch dann die Verantwortung für einen Motivirrtum über Bedeutung und Tragweite des Rechtsmittelverzichts trägt, wenn er zuvor in der Hauptverhandlung entgegen § 140 StPO ohne Verteidiger geblieben ist. Nur bei Auftreten besonderer Umstände, die durchgreifende Bedenken beim Gericht dagegen auslösen mussten, ob der Angeklagte sich der Bedeutung und Tragweite seiner Erklärung bewusst gewesen ist, kommt es zu einer Verantwortungsverlagerung auf das Gericht. Der Willensmangel des Angeklagten ist dann beachtlich und der Rechtsmittelverzicht unwirksam. Dieser Auffassung kann jedoch nur dann gefolgt werden, wenn das Fehlen des notwendigen Verteidigers infolge des Verstoßes gegen § 140 StPO tatsächlich keine gerichtliche Fürsorgepflicht auslöst, die dem Gericht gebietet, der Entstehung von Willensmängeln entgegenzuwirken. Ob dies der Fall ist, gilt es wiederum anhand einer abstrakt-typisierenden Betrachtung zu ermitteln. Ausschlaggebend ist dabei in der vorliegenden Verfahrenssituation, ob beim Fehlen des notwendigen Verteidigers eine erhöhte und typisierte Gefahr eines Willensmangels besteht.

a) Typisierung

der Gefahrenlage

U m das Vorliegen eines erkennbaren Hilfsbedürfnisses abstrakt-typisierend überprüfen zu können, gilt es zunächst die Kriterien zu benennen, die vorliegend von Relevanz für die Beurteilung der Hilfsbedürftigkeit sind. I m Anschluss ist dann zu beleuchten, ob diese abstrakt-typisierenden Kriterien zu einer so weit gehenden Verdichtung der Hilfsbedürftigkeit führen, dass diese auch für das Gericht erkennbar wird. Als relevante Kriterien sind neben der Bedeutung der Rechtsmittelbefugnis als betroffenem Recht und der Irreversibilität des Rechtsverlustes auch die normativen U12 So bereits Dencker, Willensfehler, S. 70. i l 1 3 Auch die h. M . erkennt an, dass der Rechtsmittel verzieht trotz des Verstoßes gegen § 140 StPO ausnahmsweise wirksam sein kann, wenn besondere Umstände vorliegen, die es als ausgeschlossen erscheinen lassen, dass der Angeklagte in seiner freien Willensentschließung beeinträchtigt gewesen ist und die Bedeutung seiner Verzichtserklärung nicht erkannt hat, so z. B. OLG Düsseldorf SN 98, 647; OLG Hamm, OLGSt, § 302 S. 47, 49 f.

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht

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Schutzintentionen von Form- und Fristerfordernis in die Betrachtung einzustellen. Wie sich allerdings bei der Untersuchung der Fallgruppe des „herausgefragten Rechtsmittelverzichts" gezeigt hat, lösen diese Kriterien keine gerichtliche Fürsorgepflicht a u s . 1 1 1 4 In der vorliegend untersuchten Verfahrenssituation tritt jedoch ein weiteres normatives Kriterium hinzu, nämlich die Wertung des § 140 S t P O 1 1 1 5 .

(1) Die Wertung des § 140 StPO Das Gesetz geht in den Fällen der notwendigen Verteidigung als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips selbst davon aus, dass der Angeklagte rechtskundigen Beistand braucht, weil er selbst die Situation nicht oder nicht hinreichend sicher überblicken k a n n . 1 1 1 6 Bei einem unverteidigten Angeklagten spricht in den Fällen der notwendigen Verteidigung geradezu eine Vermutung für dessen Rechtsunkenntnis und damit für seine Hilfsbedürftigkeit. 1 1 1 7 Kein zu berücksichtigender normativer Faktor ist indessen § 338 Nr. 5 StPO. Nach dieser Vorschrift ist es ein absoluter Revisionsgrund, wenn die Hauptverhandlung unter Verstoß gegen § 140 StPO ohne den notwendigen Verteidiger statt fand. Ein Rechtsmittelverzicht ohne notwendigen Verteidiger birgt daher zwar auch die Gefahr, dass der Angeklagte sich unwissend eines Rechtsmittels begibt, das eine besonders große Erfolgsaussicht gehabt hätte, doch ist § 338 Nr. 5 StPO nur i m Rahmen der Begründetheitsprüfung eines Rechtsmittels von Relevanz. 1 1 1 8 Die Erfolgsausichten eines Rechtsmittels sind aber, wie bereits ausgeführt, gerade kein Kriterium, welches über das Vorliegen einer Hilfsbedürftigkeit bei der Wahrnehmung der Rechtsmittelbefugnis Aufschluss verschaffen k a n n . 1 1 1 9 Ob der Angeklagte zu einer eigenverantwortlichen Disposition über seine Rechtsmittelbefugnis in der Lage war, steht in keinem Zusammenhang mit dem Erfolg des Rechtsmittelverfahrens selbst. Als Auslöser der gerichtlichen Fürsorgepflicht kommt daher vorliegend allein die Wertung des § 140 StPO in Betracht. 1 1 2 0 I m Schrifttum wird betont, dass der Sinn dieser Vorschrift gerade darin zu sehen ist, dass dem Angeklagten wegen der Schwere des Vorwurfs und der großen seeli'•'4 Siehe oben D . I I . l . a ) ( l ) . 1115

Allerdings gibt es noch eine Vielzahl von Vorschriften, die den Katalog des § 140 I StPO ergänzen, so z. B. §§ 117 IV, 118a I I S. 3 StPO, 68 JGG; siehe auch Aufzählung bei KK-Laufhütte, § 140 StPO Rn 2. Ist eine dieser Vorschriften einschlägig, so ist auch auf diese Regelung als normatives Kriterium abzustellen. •116 BVerfGE

46, 202, 210; HStR VI-Hill, § 156 Rn 36; LR-Hanack, § 302 Rn 57.

1117 Schmid, Verwirkung, S. 360; Grünst, S. 377 f. ms Rogali StV 98, 643, 644; Dencker, Willensfehler, S. 70. 1119 Siehe oben D . I I . l . a ) ( l ) . 1120 M i t der sozialstaatlich begründeten Fürsorge für den mittellosen Angeklagten, die ebenfalls als tragender Gesichtspunkt für die Regelung des § 140 StPO gilt, vgl. dazu G. Fezer, Strafprozessrecht, 4 / 3 1 , hat dies nichts zu tun.

252

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

sehen Belastung nicht zugemutet werden kann, ohne einen Verteidiger Erklärungen abzugeben. 1 1 2 1 Bei diesem normativen Kriterium handele es sich daher um eine jener gesetzlichen Regelungen, bei denen die Hilfsbedürftigkeit des Angeklagten bereits i m Gesetz vorgezeichnet i s t 1 1 2 2 und denen Erfahrungssätze zu Grunde liegen, welche die Möglichkeit eines Willensmangels pauschalieren. 1 1 2 3 Es finden sich allerdings auch kritische Stimmen, die bezweifeln, ob sich die in § 140 StPO getroffene Regelung auf einen solchen Erfahrungssatz stützen lässt. Nach dieser Auffassung wird zu vielen Angeklagten ein Autonomiedefizit unterstellt. 1 1 2 4 § 140 StPO wirke daher sehr häufig als Zwang und nicht als Fürsorge. Sollte diese Einschätzung tatsächlich zutreffend sein, hätte dies eine Erschütterung der hinter § 140 StPO stehenden Vermutung der Hilfsbedürftigkeit zur Folge. Man müsste somit in den Fällen des § 140 StPO nicht mehr stets vom Vorliegen eines erkennbaren Hilfsbedürfnisses ausgehen. Unbesehen des Umstandes, dass die h. M . - im Gegensatz zu der zuvor dargestellten Ansicht - davon ausgeht, dass der Angeklagte regelmäßig rechtsunkundig ist und zumindest von einer bestimmten Schwierigkeitsschwelle an wegen der hohen Ausdifferenzierung des Strafprozessrechts vom Vorliegen eines Autonomiedefekts auszugehen i s t 1 1 2 5 , darf aber nicht übersehen werden, dass der Gesetzgeber in § 140 StPO eine eindeutige Wertung getroffen hat. Der Katalog des § 140 I StPO ist z w i n g e n d . 1 1 2 6 Das Vorliegen eines Autonomiedefizits wird in diesen Fällen unwiderleglich vermutet. § 140 StPO wird daher auch als institutionelle Fürsorge verstanden. 1 1 2 7 Gegenläufige tatsächliche Vermutungen, die an dem regelmäßigen Vorliegen eines Autonomiedefizits in den Fällen der notwendigen Verteidigung zweifeln, können allenfalls nach erfolgtem empirischen Nachweis ihrer Richtigkeit eine Neufassung der Vorschriften über die notwendige Verteidigung sachgerecht erscheinen lassen. 1 1 2 8 De lege lata zwingt die in § 140 StPO enthaltene Wertung zur Vermutung der Hilfsbedürftigkeit des Angeklagten. Wegen der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung in § 140 StPO ist diese auch stets für das Gericht erkennbar. Die nach der Urteilsverkündung ohnehin bestehende Gefahrensituation für den Angeklagten erfährt durch diese Vorschrift eine normative Verdichtung, welche die gerichtliche Fürsorgepflicht auslöst. Bei Eintritt einer solchen Verfahrenssituation 1121 Kumlehn, S. 130. 1122 Plötz, S. 194 f. 1123 In diesem Sinne Plötz, S. 180. 1124 LR-Lüderssen, Vor § 137 Rn 70; ähnlich Welp ZStW 90 (1978), 101, 116, 117. 1125 Rieß StV 81, 460, 462; Beulke, Verteidiger, S. 72; ähnlich Müller-Christmann 677, 680.

JuS 99,

1126 K / M - G , § 140 Rn 3; vgl. allgemein zur Legitimation des § 140 StPO auch Hess, S. 4 ff., 106 ff. 1127 Hegmann, S . 2 1 6 f . 1128 Ob dieser Nachweis gelingt, ist äußerst fraglich. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung von Vogtherr bestätigen jedenfalls die Auffassung der h. M., wonach ein Autonomiedefizit beim Angeklagten in der Rechtswirklichkeit regelmäßig vorliegt, vgl. S. 33 ff.

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht

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ist das Gericht verpflichtet, die Entstehung eines Willensmangels über Bedeutung und Tragweite des Rechtsmittelverzichts zu verhindern. Das Gericht muss den Angeklagten ausdrücklich darauf hinweisen, dass er sich noch mit einem Verteidiger beraten k a n n . 1 1 2 9 Zur Gewährleistung einer sachgerechten und eigenverantwortlichen Entscheidung ist des Weiteren erforderlich, dass ein Hinweis auf die rechtliche Wirkung des Verzichts e r f o l g t . 1 1 3 0 Einer solchen Fürsorge bedarf es nur dann nicht, wenn aus der Sicht des Gerichts zweifelsfrei feststeht, dass der Angeklagte seine prozessualen Möglichkeiten und deren Bedeutung kennt. Besondere Umstände und besondere Kenntnisse des Angeklagten können lediglich dazu führen, dass die Verpflichtung des Gerichts im Einzelfall e n t f ä l l t 1 1 3 1 - so geschehen in dem oben geschilderten Fall, der vom OLG Hamburg entschieden wurde. Das Vorliegen solcher besonderen Umstände ändert aber nichts an der grundsätzlichen gesetzlichen Wertung, nach welcher die Rechtsmittelbefugnis bei notwendiger Verteidigung regelmäßig nur mit Verteidiger sinnvoll nutzbar ist. Für die Frage, ob und wann die gerichtliche Fürsorgepflicht ausgelöst wird, ist aber gerade eine solche abstrakt-typisierte Betrachtungsweise maßgeblich. Die besonderen Umstände des Einzelfalles können die Fürsorgepflicht daher lediglich in Ausnahmefällen entfallen lassen. 1 1 3 2 I m Regelfall bleibt das Gericht aber verpflichtet, den Angeklagten auf das Recht zur Verteidigerkonsultation sowie Bedeutung und Tragweite des Verzichts hinzuweisen. Gegen eine so verstandene gerichtliche Fürsorgepflicht wird nun allerdings eingewandt, dass sie mit dem Recht des Angeklagten auf Selbstverteidigung kollidiert, welchem die StPO gerade i m Rechtsmittelbereich einen vorrangigen Stellenwert einräumt, vgl. §§ 297, 302 I I S t P O . 1 1 3 3 So wird im Schrifttum darauf hingewiesen, dass der Angeklagte selbst entscheidet, ob er verzichten will. Auch dann, wenn er einen Verzicht von sich aus erklärt, ohne sich zuvor mit einem Verteidiger beraten zu haben, muss dies als klare und damit wirksame Entscheidung angesehen werd e n . 1 1 3 4 Der Angeklagte könne sich zwar beraten lassen. Aus der Tatsache, dass er keinen Verteidiger gehabt hat, kann jedoch nicht gefolgert werden, dass er nicht verzichtet hätte, wenn ein Verteidiger bestellt worden w ä r e . 1 1 3 5 Eine tatsächliche Beratung durch den Verteidiger oder dessen Anwesenheit bei der Erklärung sind für die Wirksamkeit des Verzichts nämlich nicht erforderlich. 1 1 3 6 1129 Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 26. - Nur mit diesem Hinweis genüge das Gericht seiner prozessualen Garantenstellung, die zur Sicherstellung der notwendigen Voraussetzungen für eine sachgerecht erwogene Rechtsmittelentscheidung verpflichtet. 1130

Plötz, S. 325, der es für zweckmäßig hält, den Angeklagten generell über die Unwiderruflichkeit des Verzichts zu belehren. 1131 Plötz, s. 176. 1132 Siehe oben C.II.2.d)(5)(e). "33 Rogali StV 98, 643, 644; Müller-Christmann "34 H.W. Schmidt ΝΓΝ 65, 1210, 1211. 1135 H.W. Schmidt NJW 65, 1210, 1211. "36 Plötz, S. 302.

JuS 99, 677, 681.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel (2) Vorrang der Selbstverteidigung

Der Vorrang der Selbstverteidigung i m Rechtsmittelrecht könnte einer Verpflichtung des Gerichts entgegenstehen. Dies lässt sich allerdings nur begründen, wenn der Vorrang der Selbstverteidigung die Wertung des § 140 StPO zumindest in der Situation, in welcher der Angeklagte über die Einlegung eines Rechtsmittels entscheidet, neutralisiert, so dass nicht mehr von einem erkennbaren, weil durch § 140 StPO vertypten Hilfsbedürfnis gesprochen werden kann. Dies ist aber nicht der Fall, denn die Wertungen der §§ 297, 302 I I StPO und des § 140 StPO schließen sich nicht gegenseitig aus bzw. neutralisieren einander nicht. Sie ergänzen sich vielmehr! Der Vorrang der Selbstverteidigung fordert lediglich die Vorrangigkeit des Willens des Angeklagten gegenüber dem Willen seines Verteidigers. Dieser darf auch i m öffentlichen Interesse an einer effektiven Verteidigung nicht überwunden w e r d e n . 1 1 3 7 U m jedoch überhaupt eine sachgerechte Entscheidung treffen zu können, bedarf der Angeklagte regelmäßig der Vermittlung der dafür erforderlichen Kenntnisse. Die gerichtliche Fürsorgepflicht, welche durch die Wertung des § 140 StPO ausgelöst wird, dient ausschließlich dazu, die Möglichkeit zur Wissensvermittlung und damit die Grundlage der Willensbildung sicherzustellen. Besteht diese Möglichkeit, dann kann der Angeklagte seiner Rolle als Prozesssubjekt entsprechend eigenverantwortlich auf Rechtsmittel verzichten. Da das Recht auf Selbstverteidigung i m Rechtsmittelrecht lediglich die Dispositionsbefugnis des Angeklagten schützt, deren sachgerechte Wahrnehmung durch die gerichtliche Fürsorgepflicht erst ermöglicht werden soll, kann es der Begründung einer solchen gerichtlichen Verpflichtung nicht entgegen stehen. Ob sich der Angeklagte tatsächlich mit einem Verteidiger berät, bleibt ihm als eigenverantwortlichem Prozesssubjekt selbst überlassen. Die Wirksamkeit des Verzichts ist auch i m Falle notwendiger Verteidigung nicht von der Anwesenheit des Verteidigers bzw. von der vorherigen Beratung mit diesem abhängig. 1 1 3 8 Ein Beratungszwang ist als unzulässige, weil aufgedrängte Fürsorge abzulehnen. Fehleinschätzungen, die daraus herrühren, dass der Angeklagte von einer Verteidigerkonsultation absieht, gehen als Kehrseite der Eigenverantwortlichkeit zu Lasten des Angeklagten. Es kann daher auch nicht der Auffassung gefolgt werden, die den bloßen richterlichen Hinweis auf die Rechtsfolgen der Verzichtserklärung und die Möglichkeit einer Verteidigerkonsultation nicht genügen lassen, sondern eine tatsächliche Beratungsmöglichkeit ausnahmslos sichergestellt wissen w i l l , weil das bestehende Defizit andernfalls nicht ausgeglichen werden k ö n n e . 1 1 3 9

1137 Vgl. oben C.II.2.d)(5)(e). 1138 So schon OLG Hamm, OLGSt, § 302 S. 47. 1139 Plötz, s. 324; LR-Hanack, § 302 Rn 57 - Es sei nicht die Aufgabe des Vorsitzenden, den notwendigen Verteidiger durch eigene Belehrungen zu ersetzen.

D. Fürsorgepflicht Verletzungen durch das Gericht

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b) Ergebnis Bleibt der Angeklagte unter Verstoß gegen § 140 StPO unverteidigt, dann erfährt die nach der Urteilsverkündung ohnehin bestehende Gefahrensituation durch die Wertung des § 140 StPO eine normative Verdichtung, welche die gerichtliche Fürsorgepflicht auslöst. Der vom OLG Hamburg begründeten gegenteiligen Auffassung, die allein auf die besonderen Umstände des Einzelfalles abstellt und dem Verstoß gegen § 140 StPO keine Relevanz für die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts zumisst, kann nicht gefolgt werden. Ihr ist allein dahingehend Rechnung zu tragen, dass die besonderen Umstände des Einzelfalles die Fürsorgepflicht ausnahmsweise entfallen lassen können. Als Konsequenz der Fürsorgeverpflichtung muss das Gericht den Angeklagten darüber belehren, dass ihm das Recht zusteht, sich vor der Abgabe einer Verzichtserklärung mit einem Verteidiger zu beraten. Zugleich ist der Angeklagte auf Bedeutung und Tragweite - d. h. die Unwiderruflichkeit - des Rechtsmittelverzichts hinzuweisen. Das Risiko, auch tatsächlich eine sachgerechte Entscheidung zu treffen, geht infolge einer solchen Belehrung auf den Angeklagten über. Das Gericht ist ausschließlich verpflichtet, die Grundlage für eine autonome Entscheidung zu sichern. Kommt das Gericht dieser Verpflichtung nicht nach, trägt es die Verantwortung für kausal entstandene Willensmängel. Das Unterlassen der gebotenen Belehrung führt somit zur Beachtlichkeit dieser Willensmängel. Der Rechtsmittelverzicht des Angeklagten ist u n w i r k s a m . 1 1 4 0 Eine gerichtliche Fürsorgepflicht könnte aber nicht nur durch die nicht erfolgte Bestellung des notwendigen Verteidigers ausgelöst werden, sondern auch dann, wenn dem Angeklagten zwar ein Verteidiger bestellt worden ist oder dieser einen Verteidiger gewählt hat, der Verteidiger aber zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung nicht anwesend ist.

3. Verhandlung in Abwesenheit des gewählten oder bestellten Verteidigers Die Rspr. hat bereits mehrfach die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts deshalb verneint, weil der Angeklagte die Erklärung in Abwesenheit seines gewählten oder bestellten Verteidigers abgegeben hatte. So hat das OLG Hamm einen Rechtsmittelverzicht für unwirksam erklärt, weil dem ausländischen Angeklagten, einem 20jährigen Türken, wegen seiner mangelnden Sprachkenntnisse und der versehentlich nicht erfolgten Ladung seines Verteidigers die Bedeutung des Rechtsmittelverzichts nicht bewusst war. Bei dieser Sachlage durfte der Tatrichter nach Ansicht des OLG Hamm nicht davon ausgehen, dass sich der Betroffene der vollen Trag-

ico So auch Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 26 f.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

weite seiner Erklärung bewusst i s t . 1 1 4 1 Die Anwesenheit einer Dolmetscherin ändere daran nichts, da diese lediglich Verständigungsschwierigkeiten beseitigen, nicht aber beraten s o l l . 1 1 4 2 Einen anderen Begründungsansatz verfolgte das OLG Schleswig. Der Rechtsmittelverzicht darf nach der Auffassung dieses Gerichts von vornherein nicht auf einem Verfahrensverstoß beruhen, der die Rechte des Angeklagten verletzt und ihn in seiner Verteidigung beschränkt hat. Dies sei aber der Fall, wenn der Rechtsbeistand des Angeklagten durch ein Verschulden des Gerichts von der Verhandlung ausgeschaltet worden i s t . 1 1 4 3 Zwar handelte es sich nicht um einen Fall der notwendigen Verteidigung, doch hätte das Gericht auch nicht ohne den selbstgewählten und ordnungsgemäß legitimierten Verteidiger verhandeln dürfen. In einer neueren Entscheidung hatte nun auch der BGH über die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts zu entscheiden, den der Angeklagte in Abwesenheit seiner Wahlverteidigerin und seiner Pflichtverteidigerin erklärt h a t t e . 1 1 4 4 Folgendes war geschehen 1 1 4 5 : Der in Untersuchungshaft befindliche Angeklagte hatte anlässlich einer Haftprüfung vier Tage nach der Verkündung des Urteils, das gegen ihn eine Jugendstrafe von 6 Jahren und 9 Monaten aussprach, auf Rechtsmittel verzichtet. I m vorangegangenen Hauptverfahren waren Gespräche über eine einvernehmliche Verfahrenserledigung, nicht zuletzt auf Grund der irrationalen Forderungen des Vaters des Angeklagten 1 1 4 6 , ergebnislos geblieben. Einen Tag vor der Haftprüfung hatte die Mutter des Angeklagten die Vorsitzende und den Berichterstatter aufgesucht, um die Haftentlassung ihres Sohnes zu erreichen. Dies hatte eine Reihe von Gesprächen zur Folge, in deren Verlauf neben der Mutter, der Vorsitzenden und dem Berichterstatter auch die Wahlverteidigerin, die Sitzungsvertreter der StA und deren Abteilungsleiter zu Wort kamen. Ein gemeinsames Gespräch in Anwesenheit aller Beteiligter fand jedoch nicht statt, sondern nur eine Kette von Zwei- oder Drei-Personen-Gesprächen. Die Vorsitzende versuchte i m Zuge dieser Gespräche, die Zustimmung der StA für eine Haftverschonung zu erreichen. Dieses Ansinnen wurde aber von den Sitzungsvertretern nacheinander und nach Rücksprache mit dem Abteilungsleiter abschlägig beschieden. Daraufhin suchten Vorsitzende und Berichterstatter den Abteilungsleiter persönlich auf. Dieser lehnte eine Haftverschonung erneut ab. A m folgenden Tag wurde auch der Angeklagte von der Wahlverteidigerin über den Sachstand informiert. Diese teilte i m An1141 OLG Hamm NJW 83, 530, 531. 1142 OLG Hamm NJW 83, 530, 531. 1143 OLG Schleswig NJW 65, 312, 313. 1144 BGHSt 45, 51 ff.; eine rechtliche Bewertung dieser Entscheidung nimmt Peglau vor, JA 2000, 405 ff. 1145 Vgl. zum Ablauf des Geschehens BGH NJW 99, 2449, 2450, 2451. Die dort abgedruckte Fassung des Sachverhalts ist ausführlicher als die in der amtlichen Sammlung, BGHSt 45, 51, 52, veröffentlichte. 1146 Vgl. BGH NJW 99, 2449, 2450 - Der Vater wollte einer einvernehmlichen Verfahrenserledigung nur zustimmen, wenn sein Sohn nicht in Haft müsse.

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht

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schluss dem Berichterstatter mit, dass sie nicht zum Haftprüfungstermin erscheinen werde, da sie das ganze Verfahren mit der Haftverschonung ablehne. Darüber hinaus informierte sie den Berichterstatter, dass die Pflichtverteidigerin, die dem Angeklagten während des vorangegangenen Gerichtsverfahrens bestellt worden war, nicht über den Termin unterrichtet sei, woraufhin der Berichterstatter entgegnete, dass „ja niemand kommen müsse". Die Kammer wolle den Angeklagten aber unbedingt selbst hören. Bei der am selben Tag folgenden Haftprüfung waren dann neben dem nunmehr unverteidigten Angeklagten auch dessen Eltern und die Sitzungsvertreter der StA anwesend. Ausweislich des Protokolls kündigte der Angeklagte an, i m Falle einer Haftverschonung auf Rechtsmittel zu verzichten. So geschah es dann nach Belehrung über die Risiken des Verzichts durch die Vorsitzende auch. Die StA legte gegen den Haftverschonungsbeschluss sogleich Beschwerde ein. Das Kammergericht hob auf diese Beschwerde hin den Haftverschonungsbeschluss zwei Tage später auf und setzte den Haftbefehl wieder in Vollzug. Die darauf hin eingelegte Revision des Angeklagten hat der BGH für zulässig erklärt. Der erklärte Rechtsmittelverzicht stehe der Durchführung des Rechtsmittelverfahrens nicht entgegen, da er auf Grund der Gesamtumstände seines Zustandekommens unwirksam s e i . 1 1 4 7 Die Art und Weise, in der die Verständigungsgespräche geführt wurden, widerspreche eklatant den hierfür von der Rechtsprechung aufgestellten Verfahrensgrundsätzen. Angesichts dieser Vorgehens weise sei es nahezu unvermeidbar gewesen, dass der Angeklagte in eine für ihn schwer durchschaubare Entscheidungssituation hineingeriet und bei ihm Erwartungen geweckt wurden, die nicht realistisch waren. Gerade in dieser Situation sei der Angeklagte auf eine Verteidigerkonsultation angewiesen gewesen. Das Gericht hätte daher, nachdem die Wahlverteidigerin ihre Nichtteilnahme bekannt gegeben hatte, die Pflichtverteidigerin benachrichtigen und auf ihre Anwesenheit bei der Haftprüfung hinwirken müssen. 1 1 4 8 Dies gebiete die gerichtliche Fürsorgepflicht. 1 1 4 9 Der BGH stellt in dieser Entscheidung ausdrücklich fest, dass das Gericht dem Angeklagten vor Erklärung seines Rechtsmittelverzichts die Gelegenheit geben muss, sich mit seinem Verteidiger zu besprechen, oder dass der Verteidiger die Gelegenheit erhalten muss, seinen Mandanten zu beraten. Es reiche nicht aus, wenn das Gericht dem Angeklagten Risiken und Tragweite des Verzichts verdeutl i c h t . 1 1 5 0 Das Gericht könne Beurteilung und Beratung durch die Verteidigung nicht ersetzen. 1147 BGHSt 45, 51, 58. 1148 BGHSt45,

51, 56.

1149 BGHSt 45, 51, 57; Baier bezweifelt, ob gerade die Fürsorgepflicht die Benachrichtigung der Pflichtverteidigerin gebot, NStZ 2000, 160, 161. Vorzugswürdig erscheint ihm eine Benachrichtigung sämtlicher Verteidiger auf der Grundlage von § 118 a I StPO. Zur Begründung wird auf die Verweisung in § 118a I I 4 auf § 145 I 1 StPO hingewiesen, Baier NStZ 2000, 160, 161. Es ist allerdings streitig, ob § 118a I StPO die Benachrichtigung sämtlicher Verteidiger fordert, vgl. KK-Boujong, § 118a Rn 1; KK-Laußütte, § 145a Rn 3. Eine § 218 S. 1 StPO entsprechende Vorschrift findet sich für das Haftprüfungsverfahren nämlich nicht. uso BGHSt 45, 51, 57. 17 Meyer

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Zentraler Bestandteil der Begründung ist der Verstoß gegen die Verfahrensregeln, die der BGH für Absprachen i m Strafverfahren entwickelt hat. Dies wird deutlich, wenn der 5. Senat ausführt, dass der Angeklagte „gerade in dieser Situation" auf eine Verteidigerkonsultation angewiesen war. Wie sich Verstöße gegen diese richterrechtlichen Verfahrensregeln auf die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts auswirken, der i m Zusammenhang mit einer verfahrensbeendenden Absprache erklärt wurde, wird in einem späteren Abschnitt ausführlich zu untersuchen s e i n . 1 1 5 1 A n dieser Stelle gilt es indessen nachzuweisen, dass es für die Frage, ob eine gerichtliche Fürsorgepflicht ausgelöst wird, nicht darauf ankommt, dass es i m Vorfeld des Verzichts zu einer unzulässigen Absprache gekommen ist. Zu diesem Zweck ist auf der Grundlage einer abstrakt-typisierenden Betrachtungsweise zu belegen, dass bereits die bloße Abwesenheit des gewählten oder bestellten Verteidigers zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung die gerichtliche Fürsorgepflicht auslöst und dem Gericht gebietet, die Entstehung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht zu verhindern. 1 1 5 2

a) Typisierung

der Gefahrensituation

Ob das Gericht verpflichtet ist, bei Abwesenheit des Wahl- oder Pflichtverteidigers Irrtümern über Bedeutung und Tragweite des Verzichts vorzubeugen, hängt maßgeblich davon ab, ob ein entsprechendes Hilfsbedürfnis beim Angeklagten erkennbar war. Als abstrakt-typisierende Kriterien, die eine solche Erkennbarkeit begründen können, kommen vorliegend primär die Wertungen der §§ 140, 137 StPO in Betracht. Neben diesen normativen Aspekten kann zusätzlich gefahrschaffendes Vorverhalten des Gerichts als Bewertungsfaktor mit einfließen, wenn dieses die Abwesenheit des Verteidigers pflichtwidrig verursacht hat. Bereits bei der Untersuchung der Konstellation „Nicht erfolgte Bestellung des notwendigen Verteidigers" wurde verdeutlicht, dass § 140 StPO das Interesse sichert, das der Rechtsstaat in besonders schwierigen oder schwerwiegenden Verfahren an deren prozessordnungsgemäßer Durchführung und an einer wirksamen Verteidigung des Angeklagten hat und daher auch als institutionelle Fürsorge verstanden w i r d . 1 1 5 3 Wird die gerichtliche Fürsorgepflicht bei der nicht erfolgten Bestellung eines notwendigen Verteidigers entgegen § 140 StPO gerade deshalb ausgelöst, weil dem Angeklagten dadurch die Möglichkeit genommen ist, sich bei der Rechtsmittelentscheidung von einem Verteidiger beraten zu lassen, dann kann nichts anderes gelten, wenn dem Angeklagten zwar ein Verteidiger bestellt wurde, dieser aber zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung nicht anwesend ist. Auch in einer solchen Konstellation fehlt es an der Beratungsmöglichkeit, die § 140 StPO wäh-

1151

Siehe unten Gliederungspunkt X . "52 A u f die Besonderheiten der Verständigungsgespräche kommt es dann nicht mehr an. "53 Siehe oben D.II.2.a)(l).

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht

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rend des gesamten Verfahrens für notwendig erklärt. Wegen der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung dieses Gesichtspunkts in § 140 StPO ist die vermutete Hilfsbedürftigkeit des Angeklagten stets für das Gericht erkennbar. Die Abwesenheit des bestellten Verteidigers bei der Verzichtserklärung löst daher die gerichtliche Fürsorgepflicht aus. Zu klären bleibt, ob dies auch bei Abwesenheit des gewählten Verteidigers gilt. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es sich auch dann, wenn der Angeklagte einen Verteidiger gewählt hat, um einen Fall notwendiger Verteidigung handeln kann. Bei einer derartigen Sachlage käme ebenfalls die Wertung des § 140 StPO mit der zuvor geschilderten Wirkung zur Anwendung. Ist die Verteidigung indessen nicht notwendig, kommt jedenfalls die Wertung des § 137 StPO als normatives Kriterium, das bei der abstrakt-typisierenden Bestimmung des erkennbaren Hilfsbedürfnis zu beachten ist, in Betracht. Die Gewährleistung des in § 137 StPO geregelten Rechts auf Verteidigung ist nach allgemeiner Auffassung Voraussetzung für ein faires Verfahren. 1 1 5 4 Das Gericht hat sicherzustellen, dass der Angeklagte sich in jeder Phase des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen kann. Dem Beschuldigten muss jederzeit die Möglichkeit einer effektiven Verteidigung gegeben s e i n . 1 1 5 5 Diesen Anforderungen ist gleichwohl genüge getan, wenn der Angeklagte auf diese Möglichkeit hingewiesen wurde bzw. schon einen Verteidiger gewählt hat und dieser zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung anwesend ist. Ist der bereits gewählte Verteidiger abwesend, so gebietet die in § 137 StPO enthaltene Wertung, dem Angeklagten die Möglichkeit zu verschaffen, sich mit seinem Verteidiger zu beraten. So hat auch das BVerfG entschieden, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens verlangt, dass bei Vorhandensein eines gewählten oder bestellten Verteidigers die Verhandlung nicht in dessen Abwesenheit durchgeführt werden d a r f . 1 1 5 6 Dieser Gedanke muss auch für den Zeitpunkt der Rechtsmittelentscheidung gelten. Das Recht aus § 137 StPO würde ausgehöhlt, wenn das Gericht Rechtsmittelerklärungen in Abwesenheit des Verteidigers entgegen n i m m t . 1 1 5 7 Zwar geht der Wille des Mandanten im Rechtsmittelrecht demjenigen des Verteidigers vor, was sich nicht zuletzt aus den §§ 297, 302 I I StPO ergibt, doch setzt dies stillschweigend voraus, dass dem Angeklagten überhaupt eine adäquate Beratungsmöglichkeit eröffnet wurde. Bei abstrakt-typisierender Betrachtung begründet da1154 BVerfGE 34, 293, 302; 39, 238, 243; 46, 202, 210; 70, 297, 323; StV 2001, 601, 602; Rzepka, S. 397; Marczak, S. 88; Barton, Mindeststandards, S. 59. 1155 BGHSl 45, 51, 57, dieses Ergebnis folgt auch aus Art 6 I I I E M R K , BGH StV 98, 246. 1156 BVerfGE65,

171, 174 f.

1157 Kumlehn, S. 130. Die Einschränkung, die das Recht des Angeklagten aus § 137 StPO gem. § 228 I I StPO erfährt, gilt nicht mehr für das Verfahrensstadium der Rechtsmittelentscheidung. Bei Abwesenheit des Verteidigers zu diesem Zeitpunkt lässt sich eine Abwägung zwischen dem Recht aus § 137 StPO und den Belangen der Rechtspflege, wie sie erfolgt, wenn der Verteidiger in der Hauptverhandlung ausbleibt, um zu prüfen, ob eine Aussetzungspflicht besteht, nicht mehr rechtfertigen. 1*

260

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

her die Wertung des § 137 StPO ein erkennbares Hilfsbedürfnis. Der Verstoß gegen § 137 StPO löst somit auch bei nicht notwendiger Verteidigung die gerichtliche Fürsorgepflicht zum Schutz des Angeklagten vor Fehlvorstellungen über Bedeutung und Tragweite des Verzichts aus. Diese Sichtweise wird grundsätzlich auch im Schrifttum g e t e i l t . 1 1 5 8 Soweit aber im Schrifttum die Auffassung vertreten wird, dass ein Verzicht in Abwesenheit des Verteidigers zumindest bei leichteren Straftaten im Einzelfall zulässig i s t 1 1 5 9 , also keine gerichtliche Fürsorgepflicht auslöst, so z. B. wenn eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird oder ein Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr abgewendet werden s o l l 1 1 6 0 , so kann dem nicht gefolgt werden, da bereits festgestellt wurde, dass dem Inhalt der anfechtbaren Gerichtsentscheidung keine Relevanz hinsichtlich der Auslösung einer gerichtlichen Fürsorgepflicht z u k o m m t 1 1 6 1 . Entfallen kann die gerichtliche Fürsorgepflicht nur dann, wenn auf Grund besonderer Umstände eindeutig davon ausgegangen werden kann, dass der Angeklagte Bedeutung und Tragweite des Verzichts zutreffend erfasst hat und auch eine Beratung mit seinem Verteidiger nicht mehr wünscht. In einem so gelagerten Fall kann der Angeklagte eine eigenverantwortliche Disposition treffen. Der Rechtsmittelverzicht ist dann trotz der Abwesenheit des gewählten oder bestellten Verteidigers wirksam. So lagen die Dinge auch in einem Fall, den das OLG Köln zu entscheiden hatte. Folgendes war passiert: Der Angeklagte M . hatte auf Rechtsmittel verzichtet, nachdem auch der Mitangeklagte Z. - nach Rücksprache mit seinem Verteidiger auf Rechtsmittel verzichtet hatte, und der Vorsitzende sich im Anschluss ihm zugewandt hatte. Der Verteidiger des Μ hatte jedoch bereits während der Urteilsbegründung den Gerichtssaal verlassen. Der Angeklagte M . machte daher später geltend, dass er nicht zu dieser weitreichenden Erklärung hätte aufgefordert werden dürf e n . 1 1 6 2 Nach dem Verzicht seines Mitangeklagten hätte er, als Rechtsunkundiger, in Abwesenheit seines Verteidigers keine andere Möglichkeit mehr gesehen als zu verzichten. Das OLG Köln sah den Rechtsmittelverzicht als wirksam an, weil der Verteidiger durch das Gericht weder faktisch ausgeschaltet noch der Angeklagte M . zum Verzicht gedrängt w u r d e . 1 1 6 3 Die Abwesenheit des Verteidigers wurde nicht prozessordnungswidrig ausgenutzt. Das Gericht durfte davon ausgehen, dass der Angeklagte sich mit seinem Verteidiger vor dessen Entfernen verständigt hat. Schließlich habe der Angeklagte M . ersichtlich nicht protestiert, als sein Verteidiger den •158 SK/StPO-Frisch, 65, 1210, 1212.

§ 302 Rn 28; KMR-Sax, Einl. X I I Rn 8; a.A. H.W. Schmidt NJW

••59 Kumlehn, S. 133. •160 Kumlehn, S. 134 •16· Siehe oben D . I I . l . a ) ( l ) . "62 OLG Köln, OLGSt, § 302 StPO S. 25. ••63 OLG Köln, OLGSt, § 302 StPO S. 25, 27.

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht

261

Saal verließ. Außerdem konnte der Angeklagte M . vor seinem Verzicht selber beobachten, dass der Mitangeklagte Z. sich mit seinem Verteidiger beraten durfte und beraten h a t . 1 1 6 4 Es wäre daher an ihm gewesen, auf eine Beratung mit seinem Verteidiger zu bestehen. 1 1 6 5 Wegen Entfernung des Verteidigers nach Urteilsverkündung durfte das Gericht auch davon ausgehen, dass der Angeklagte im Vorfeld hinsichtlich der Ausübung der Rechtsmittelbefugnis hinreichend beraten wurde. Ein Hilfsbedürfnis, welches befürchten ließ, dass der Angeklagte Bedeutung und Tragweite des Verzichts nicht zutreffend erfasst hat, war dem Gericht daher nicht erkennbar. Das Fehlen des legitimierten Verteidigers ist insofern zwar ein entscheidender Indikator für die Hilfsbedürftigkeit des Angeklagten, die Unwirksamkeit eines im Einzelfall eindeutig selbstbestimmten Verzichts kann dieser Verfahrensfehler aber nicht begründen. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass die nach der Urteilsverkündung ohnehin bestehende Gefahrensituation für den Angeklagten durch die Vorschriften der §§ 137, 140 StPO, die beide Konkretisierungen des Fairnessgrundsatzes sind, eine normative Verdichtung erfährt, welche die gerichtliche Fürsorgepflicht auslöst. Ist die Abwesenheit auf eine Pflichtverletzung des Gerichts zurückzuführen, stellt sich das Verhalten des Gerichts sogar als Umgehung oder Ausschaltung des Rechts auf Verteidigung dar und führt als gefahrschaffendes Vorverhalten des Gerichts zu einer weiteren Verdichtung der Gefahrenlage. Zum Schutz des Angeklagten vor einem Irrtum über Bedeutung und Tragweite des Verzichts gebietet die gerichtliche Fürsorgepflicht in einer derartigen Situation von Amts eine Belehrung des Angeklagten dahingehend, dass er trotz der Abwesenheit seines gewählten oder bestellten Verteidigers das Recht hat, sich vor der endgültigen Abgabe einer Rechtsmittelerklärung mit diesem zu beraten. Des Weiteren ist auf die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts hinzuweisen. Zwar hat der BGH in BGHSl 45, 51 ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass es nicht ausreicht, wenn das Gericht Risiken und Tragweite des Verzichts verdeutlicht, weil das Gericht Beurteilung und Beratung durch die Verteidigung nicht ersetzen k a n n 1 1 6 6 , doch kann diese Position dann nicht mehr aufrecht erhalten werden, wenn der Angeklagte sowohl über die Risiken des Verzichts als auch über das Recht zur Verteidigerkonsultation vor einer endgültigen Verzichtserklärung belehrt w u r d e 1 1 6 7 . Der Angeklagte, dessen Wille i m Rechtsmittelrecht stets Vorrang genießt, verfügt als Konsequenz einer solchen Belehrung über alle Informationen, die er benötigt, um eine sachgerechte Entscheidung treffen zu können. Zur Gewährleistung einer eigenverantwortlichen Entscheidung über die Rechtsmittelwahrnehmung, und nur dazu kann und darf eine gerichtliche Fürsorgepflicht die-

1164 OLG Köln, OLGSt, § 302 StPO S. 25, 28. 1165 So schon eindeutig OLG Köln, OLGSt, § 302 StPO S. 25, 28, 29. 1166 BGHSt 45, 51, 57. 1167 In diesem Sinne auch Peglau JA 2000, 405, 406.

262

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

nen, ist es hinreichend, wenn der Angeklagte weiß, dass er sich vor Abgabe einer Erklärung mit seinem abwesenden Verteidiger beraten kann und der einmal erklärte Rechtsmittelverzicht unwiderruflich ist. Ob der Angeklagte die Beratungsmöglichkeit tatsächlich nutzt, bleibt wiederum ihm als eigenverantwortlichem Prozesssubjekt zur freien Entscheidung überlassen. Zu weit geht es daher, wenn im Schrifttum teilweise die Ansicht vertreten wird, dass ein wirksamer Verzicht in dieser Situation gar nicht erfolgen kann, weil das Gericht auf Grund der Abwesenheit des Verteidigers gar keine konkrete Beratungsmöglichkeit eröffnen kann. Der Hinweis auf die theoretische Beratungsmöglichkeit sei nicht ausreichend. 1 1 6 8 Diese Ansicht nimmt dem Angeklagten sein Recht auf einen Verzicht, das in § 302 I StPO niedergelegt ist, und greift damit in seine Dispositionsfreiheit ein; mithin handelt es sich um eine unzulässige aufgedrängte Fürsorge. Dass das Gericht i m Anschluss an die Urteilsverkündung keine konkrete Beratung ermöglichen kann, ist unschädlich, da der Angeklagte schließlich nicht zu diesem Zeitpunkt verzichten muss. Dieser Umstand wird dem Angeklagten auch zumindest konkludent durch die Belehrung des Gerichts über das Recht auf vorherige Beratung mit dem gewählten oder bestellten Verteidiger verdeutlicht.

b) Ergebnis Die Abwesenheit des bestellten oder gewählten Verteidigers zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung löst eine gerichtliche Fürsorgepflicht aus. Das Gericht hat durch Belehrungen sicherzustellen, dass der Angeklagte um sein Recht auf Verteidigerkonsultation vor Verzichtsabgabe und die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts weiß. Genügt das Gericht dieser Fürsorgepflicht, dann trägt es nicht die Verantwortung für das Vorliegen von Willensmängeln, denen der Angeklagte beim Rechtsmittelverzicht erliegt. Derartige Willensmängel sind unbeachtlich und berühren die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nicht. Unterlässt das Gericht indessen die gebotenen Belehrungen, so ist ein darauf kausal zurückzuführender Willensmangel beachtlich und der Rechtsmittelverzicht unwirksam. Eine Auslösung der gerichtlichen Fürsorgepflicht kommt aber nicht nur dann in Betracht, wenn der gewählte oder bestellte Verteidiger bei der Verzichtserklärung abwesend ist. Denkbar ist dies auch, wenn der gewählte oder bestellte Verteidiger zwar anwesend ist, dem Angeklagten jedoch keine Beratung mit diesem ermöglicht wird.

>168 Plötz, S. 324.

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht

263

4. Verhinderung der Beratung mit dem anwesenden Verteidiger In den zuvor untersuchten Konstellationen wurde die gerichtliche Fürsorgepflicht gerade durch das Fehlen eines Verteidigers in einer bestimmten Verfahrenssituation ausgelöst. Daraus darf jedoch nicht i m Umkehrschluss gefolgert werden, dass ein Gericht von jeglicher Fürsorgeverpflichtung frei wird, wenn ein Verteidiger anwesend i s t . 1 1 6 9 Ist der Angeklagte verteidigt, entfällt die Fürsorgepflicht nicht ohne weiteres. 1 1 7 0 Gleichwohl scheint das Vorliegen eines Willensmangels ausgeschlossen, wenn ein Verteidiger bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts durch den Angeklagten anwesend ist, da der Verteidiger regelmäßig unüberlegtem und übereiltem Handeln des Angeklagten vorbeugen wird. Eine Fürsorgepflicht des Gerichts kann daher grundsätzlich nur dahingehend bestehen, dem verteidigten Angeklagten Gelegenheit zu geben, sich vor Abgabe eines Rechtsmittelverzichts mit dem anwesenden Verteidiger zu beraten. 1 1 7 1 Wird der Rechtsmittelverzicht dem Angeklagten hingegen unter Umgehung oder Ausschaltung des Verteidigers abverlangt, dann ist dieser nach h. M . u n w i r k s a m . 1 1 7 2 Eine derartige Umgehung oder Ausschaltung liege dann vor, wenn dem Angeklagten eine Rechtsmittelerklärung abverlangt wird, ohne dass ihm gleichzeitig angeboten wurde, sich zuvor eingehend mit dem anwesenden Verteidiger zu beraten, oder wenn zwar ohne Einwirkung auf den Angeklagten, aber ohne Gelegenheit zur vorherigen Beratung mit dem anwesenden Verteidiger ein entsprechender Verzicht zu Protokoll genommen w i r d . 1 1 7 3 Als Grundlage dieser Rechtsprechung werden stets die Entscheidungen BGHSt 18, 257 und BGHSt 19, 101 zitiert, welche bereits an früherer Stelle in dieser Arbeit ausführlich gewürdigt worden s i n d 1 1 7 4 . Dabei hat sich allerdings gezeigt, dass sich die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts in den genannten Fällen bereits i m Wege der Auslegung ergibt. U m Beispiele eines ausnahmsweise beachtlichen Willensmangels handelt es sich gerade nicht. In beiden Fällen erklärte der Angeklagte auf eine entsprechende Frage des Vorsitzenden unmittelbar nach Urteilsverkündung, dass er auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet, ohne zuvor die Möglichkeit der Beratung mit dem anwesenden Verteidiger genutzt zu haben. Allerdings brachte der Verteidiger in beiden Fällen sofort ausdrücklich oder konkludent sein fehlendes Einverständnis mit dem

'169 Kielwein, S. 131. 1170 BGHSt 22, 118, 122; Hegmann, S. 282; a.A. R. Schmidt JuS 67, 158, 162. 1171 In diesem Sinne auch OLG Düsseldorf StV 93, 237. 1172 BGH NStZ-RR 97, 305; NStZ 84, 18; OLG Düsseldorf StV 93, 237; SK/StPO-Fmc/z, § 302 Rn 28; HK/StPO-Rautenberg, § 302 Rn 6. 1173 BGH NStZ-RR 97, 305; NStZ 84, 18. 1174 Siehe oben Teil 1 B.II.5.b)(2).

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Verzicht zum Ausdruck und machte deutlich, dass er noch Beratungsbedarf sah. Der an dieses tatsächliche Geschehen anknüpfenden Feststellung des BGH, dass eine wirksame Verzichtserklärung nicht vorliegt, solange offenkundig zwischen Mandant und Anwalt Uneinigkeit herrscht und einer der beiden noch eine eingehende Beratung w ü n s c h t 1 1 7 5 , liegt ersichtlich der Gedanke der sog. Erklärungseinheit zu Grunde. Dieser gilt auch für widersprüchliche Äußerungen, die in unmittelbarem Zusammenhang durch Verteidiger und Angeklagten erfolgen, obgleich es sich um die Erklärungen zweier unterschiedlicher Personen h a n d e l t . 1 1 7 6 Liegen Unstimmigkeiten zwischen Verteidiger und Angeklagtem für das Gericht erkennbar vor, fehlt es bereits an einer widerspruchsfreien, bestimmten einheitlichen Erklärung. Erklärt der Angeklagte unmittelbar i m Anschluss an die Urteilsverkündung - gefragt oder ungefragt - einen Rechtsmittelverzicht, ist aber in der Praxis davon auszugehen, dass ein Verteidiger, der noch Beratungsbedarf über Bedeutung und Tragweite der Verzichtserklärung bei seinem Mandanten sieht, das Gericht immer darauf aufmerksam machen wird, dass er noch eine belehrende Unterredung mit dem Angeklagten wünscht. In diesen Fällen ergibt sich die Unwirksamkeit des Verzichts schon im Wege der Auslegung. A u f eine etwaige Fürsorgepflichtverletzung des Gerichts kommt es für die Frage der Wirksamkeit des Verzichts nicht an. Wirksam ist der Rechtsmittelverzicht in einer solchen Situation nur dann, wenn der Angeklagte i m Anschluss an den Einwurf seines Verteidigers zu erkennen gibt, dass er keine Beratung wünscht. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, ist die tatsächliche Beratung durch einen gewählten oder bestellten Verteidiger keine Wirksamkeitsvoraussetzung des Verzichts. Als eigenverantwortliches Prozess Subjekt kann der Angeklagte von der Nutzung der Beratungsmöglichkeit absehen und wirksam von seiner Dispositionsfreiheit, ob Rechtsmittel eingelegt werden sollen, Gebrauch machen. Der Vorrang der Selbstverteidigung i m Rechtsmittelrecht wäre nicht gewahrt, wenn der Verteidiger mit seinem Einspruch stets die Unwirksamkeit des Verzichts herbeiführen könnte. Unklar bleibt damit lediglich die Behandlung der Fälle, in denen der Angeklagte in Anwesenheit seines Verteidigers, ohne sich mit diesem nach der Urteilsverkündung beraten zu haben, auf Rechtsmittel verzichtet, und der Verteidiger sich daraufhin nicht zu Wort meldet. Die Verletzung einer Fürsorgepflicht kann bei derartiger Sachlage allenfalls darin gesehen werden, dass das Gericht den Angeklagten nicht ausdrücklich darüber belehrt hat, dass er sich mit seinem Verteidiger beraten darf, bevor er Rechtsmittelerklärungen abgibt. Ob eine solche Verpflichtung besteht und ein Unterlassen dieser Belehrung als eine Ausschaltung des Verteidigers angesehen werden kann, die zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führt, ist allerdings durchaus fraglich und bedarf daher eingehender Überprüfung. "75 BGH St 18, 257, 260; 19, 101, 104.

1176 Ausführlich dazu oben Teil 1 B.II.5.b)(2).

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht a) Typisierung

265

der Gefahrenlage

Der BGH hatte bereits über die Bewertung einer solchen Verfahrenssituation zu entscheiden und den Rechtsmittelverzicht dabei als wirksam angesehen. 1 1 7 7 Konkret lag dem Beschluss des BGH folgender Sachverhalt zu G r u n d e 1 1 7 8 : Der Angeklagte war, nachdem drei Mitangeklagte auf Rechtsmittel verzichtet hatten, aufgestanden, hat seinen rechten A r m erhoben und erklärt: „ich auch' 4 . Sein Verteidiger äußerte sich dazu nicht. Eine Rücksprache mit dem anwesenden Verteidiger hatte das Berufungsgericht weder verweigert, noch ist eine entsprechende Bitte vom Angeklagten oder seinem Verteidiger geäußert worden. Zudem ergab sich aus der Revisionseinlegungsschrift, dass der Angeklagte zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung in der Lage war, weil ihm die Bedeutung eines Rechtsmittelverzichts aus einer kurz zuvor mit dem Verteidiger geführten Unterredung bekannt war. Der letztgenannte Aspekt ist dabei nur insofern von Relevanz, als er verdeutlicht, dass rein tatsächlich kein Willensmangel beim Angeklagten vorlag. A n dieser Stelle geht es aber um die Frage, ob die geschilderte Verfahrenssituation ein Hilfsbedürfnis des Angeklagten erkennbar werden lässt und dadurch eine gerichtliche Fürsorgepflicht auslöst. Dies ist allein anhand einer abstrakt-typisierenden Betrachtung der Verfahrenssituation zu ermitteln, wie sie sich für das Gericht unmittelbar nach Urteilsverkündung darstellt. Der Inhalt der Rechtsmitteleinlegungsoder -begründungsschriften hat keinen Einfluss auf diese Bewertung. Als Kriterium, das bei abstrakt-typisierender Betrachtungsweise eine gerichtliche Fürsorgepflicht auslösen könnte, die erneut ausschließlich der Verhinderung von Fehleinschätzungen über Bedeutung und Tragweite des Verzichts dienen kann, kommt vorliegend wiederum die Wertung der §§ 137, 140 StPO in Betracht. Wenn nun, wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, die Gewährleistung des in § 137 StPO geregelten Rechts auf Verteidigung nach allgemeiner Auffassung Voraussetzung für ein faires Verfahren i s t 1 1 7 9 und das Gericht daher sicherstellen muss, dass sich der Angeklagte in jeder Phase des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen kann, dann ist diesen Anforderungen in der vorliegend untersuchten Verfahrenssituation genüge getan, da der Angeklagte einen Verteidiger hat und dieser bei der Verzichtserklärung auch anwesend ist. Gleiches gilt bezüglich der Wertung des § 140 StPO. Eine Verpflichtung des Gerichts zur Bestellung eines notwendigen Verteidigers gem. § 141 I, I V StPO besteht nicht, wenn ein bestellter oder gewählter Verteidiger bei der Verzichtserklärung anwesend ist. Dass sich der Angeklagte nach Urteilsverkündung und vor Verzichtserklärung für das Gericht wahrnehmbar nicht mit seinem Verteidiger berät und sich dieser auch nach der Verzichtserklärung des Angeklagten passiv verhält, kann bei abs-

1177 BGH NStZ-RR 97, 305. 1178 BGH NStZ-RR 97, 305. 1179 Siehe oben D.II.3.a).

266

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

trakt-typisierender Betrachtung nicht als Verfahrenssituation bezeichnet werden, die ein Hilfsbedürfnis des Angeklagten erkennbar werden lässt. Das Gericht soll zwar anwaltlichen Beistand und sachgerechte Verteidigung ermöglichen 1 1 8 0 , von einer Aushöhlung des Rechts auf Verteidigung und der Wertung des § 140 StPO kann aber nicht gesprochen werden, wenn der Verteidiger sich gänzlich passiv verhält und das Gericht dem Angeklagten daraufhin nicht nahe legt, sich mit seinem Verteidiger zu beraten. 1 1 8 1 Schaltet sich der Verteidiger nicht ein, sondern lässt er seinen Mandanten unwidersprochen einen Rechtsmittelverzicht erklären, spricht vielmehr eine Vermutung dafür, dass der Angeklagte bereits hinreichend informiert ist. Eine Fürsorgepflicht des Gerichts wird bei bloßer Passivität des Verteidigers nicht ausgelöst. Ein Hilfsbedürfnis des Angeklagten könnte allenfalls dann erkennbar werden, wenn das Gericht den anwesenden Verteidiger faktisch ausschaltet, so dass eine tatsächliche Beratungsmöglichkeit vor der Verzichtserklärung nicht bestanden hat. In diesem Fall könnte die Ausschaltung des Verteidigers als gefahrschaffendes Vorverhalten des Gerichts i m Zusammenspiel mit den Wertungen der §§ 137, 140 StPO, deren Umgehung bzw. Aushöhlung bei faktischer Ausschaltung des Verteidigers droht, als normativen Kriterien eine Gefahrenlage begründen, die typischerweise die Entstehung von Fehlvorstellungen über Bedeutung und Tragweite des Rechtsmittelverzichts befürchten l ä s s t 1 1 8 2 und somit eine gerichtliche Fürsorgepflicht auslöst. Da der anwesende Verteidiger aber eine solche Ausschaltung, z. B. durch gänzliche Nichtbeachtung oder die Äußerung gegenüber dem Angeklagten, dass eine Beratung mit dem Verteidiger überflüssig i s t 1 1 8 3 , nicht hinnehmen und auf den bestehenden Beratungsbedarf verweisen wird, liegt in diesen Fällen regelmäßig gar keine eindeutige und bestimmte Verzichtserklärung des Angeklagten v o r . 1 1 8 4 Der Fallgruppe „Nichtermöglichung der Beratung mit dem anwesendem Verteidiger" kommt daher als potenzieller Auslöser einer gerichtlichen Fürsorgepflicht, die der Verhinderung von Willensmängel dienen soll, keine Praxisrelevanz zu.

b) Ergebnis Das Gericht muss den Angeklagten nicht stets darauf hinweisen, dass er sich vor Abgabe eines Verzichts mit seinem anwesenden Verteidiger beraten darf. Vielmehr darf sich das Gericht darauf verlassen, dass der Angeklagte von seinem Verteidiger 1180 Plötz, S. 338. 1181 So aber Kumlehn, S. 130. 1182 Dencker, Willensfehler, S. 69 - Dencker sieht in dem Fehlen einer vorherigen Beratung mit dem Verteidiger ein Indiz für das Vorliegen eines Willensmangels. 1183 Vgl. dazu SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 28. Π84 Widerspricht der Verteidiger nicht, spricht wohl ebenfalls eine Vermutung dafür, dass er den Angeklagten bereits hinreichend beraten hat. Mangels erkennbaren Hilfsbedürfnisses wird auch in einem solchen Fall keine Fürsorgepflicht des Gerichts ausgelöst.

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht

267

bereits hinreichend belehrt wurde, wenn dieser nach der Urteilsverkündung keinen weiteren Beratungsbedarf anmeldet. Die Verantwortung für Willensmängel über Bedeutung und Tragweite des Rechtsmittelverzichts, die trotz der Anwesenheit eines Verteidigers entstehen, trägt in diesen Fällen der Angeklagte. Ein erklärter Rechtsmittelverzicht ist wirksam. Schließlich gehen auch Versäumnisse des Verteidigers grundsätzlich zu Lasten des Angeklagten und berühren die Wirksamkeit des Rechtsmittel Verzichts n i c h t . 1 1 8 5 Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn für das Gericht eindeutig erkennbar ist, dass der Verteidiger seiner Aufgabe nicht ordnungsgemäß nachgekommen ist und die Vermutung, dass der Angeklagte ordnungsgemäß beraten und belehrt wurde, dadurch entkräftet w i r d . 1 1 8 6 Eine eindeutige Erkennbarkeit derartiger Versäumnisse des Verteidigers kommt vor allem dann in Betracht, wenn es sich um einen Fall der sog. „unfähigen" Verteidigung handelt. Von einer solchen wird z. B. gesprochen, wenn der Verteidiger offensichtlich grobe Pflichtverletzungen begeht, die den Interessen des Angeklagten zuwiderlaufen 1 1 8 7 , wie etwa die ernsthafte und definitive Weigerung, die Verteidigung zu f ü h r e n 1 1 8 8 , oder infolge Krankheit oder altersbedingter Störungen nicht fähig ist, den Angeklagten sachgemäß zu verteidigen 1 1 8 9 .

5. Beratung durch einen „unfähigen" Verteidiger Erkennt das Gericht, dass der Angeklagte durch seinen Verteidiger nicht sachgemäß, unvollständig oder gar überhaupt nicht beraten wird und droht infolgedessen die Entstehung von Fehlvorstellungen beim Angeklagten, dann stellt sich die Frage, ob das Gericht verpflichtet ist, die Entstehung von Willensmängeln zu verhindern.1190 In der Literatur wird zum Teil die Position verfochten, dass es selbstverständlich ist, dass das Gericht Falschauskünfte und Fehlvorstellungen des Strafverteidigers zu berichtigen hat, soweit diese ersichtlich geworden s i n d . 1 1 9 1 Das Gericht müsse selbst einen desorientierten Verteidiger an einem vorschnellen Rechtsmittelverzicht h i n d e r n . 1 1 9 2 Konsequenz dieser Auffassung ist, dass das Gericht stets die Ver1185 Siehe oben C II.2.e). 1186 Dieser Aspekt wurde bereits bei der Untersuchung der Fallgruppe „objektive Irreleitung durch den Verteidiger" erwähnt, vgl. C.II.2.d)(5)(d). 1187 Plötz, S. 144. 1188 OLG Frankfurt

NStZ-RR 97, 77.

1189 BGH G A 68, 85, 86.

1190 Instruktiv zur strafprozessualen Gewährleistung von Qualität der Verteidigung Barton, Mindeststandards, S. 87 ff. 1191 Plötz, S. 323. 1192 Roxin, Rechtsprechung, S. 66, 93.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

antwortung für Willensmängel trüge, die beim Angeklagten infolge erkennbar fehlerhaften Verteidigerverhaltens, dessen Berichtigung das Gericht unterlassen hat, entstehen. Falsche Belehrungen oder Beratungen durch den Verteidiger bergen nun sicherlich die typische Gefahr, dass der Angeklagte entsprechenden Fehlvorstellungen bei seinen Prozesserklärungen unterliegt. Dass das Gericht einen Verteidiger, der durch sein pflichtwidriges Verhalten den Angeklagten belastet, kontrollieren und korrigieren darf bzw. muss, ist gesetzlich jedoch weder geregelt, noch scheint eine entsprechende Normierung jemals ernsthaft vom Gesetzgeber in Erwägung gezogen worden zu s e i n . 1 1 9 3 Die Befugnis zu einer so weit reichenden Fremdkontrolle der Verteidigung - darunter soll im Folgenden die Gewährleistung der Verteidigungsqualität durch Maßnahmen der Justizorgane verstanden w e r d e n 1 1 9 4 - könnte sich insofern allenfalls auf der Grundlage der ungeschriebenen gerichtlichen Fürsorgepflicht rechtfertigen lassen. Dies bedarf allerdings genauer Überprüfung, denn die Anwesenheit eines Verteidigers lässt zwar nicht jegliche Fürsorgeverpflichtung des Gerichts entfallen 1 1 9 5 , doch bleibt der Verteidiger der Verfahrensbeteiligte, der primär zur Wahrung der Rechte und zur Verwirklichung der Subjektstellung des Angeklagten berufen i s t 1 1 9 6 . A u f den Inhalt der Beratung zwischen Angeklagtem und Verteidiger darf das Gericht daher grundsätzlich keinen Einfluss n e h m e n . 1 1 9 7 Das Risiko der Unantastbarkeit dieses Freiraums trägt der Angek l a g t e . 1 1 9 8 Vom eigenen Verteidiger verursachte Willensmängel führen nicht zuletzt aus diesem Grunde nicht zur Unwirksamkeit des Verzichts. 1 1 9 9 Eine prinzipielle Subsidiarität der Verpflichtung des Gerichts gegenüber derjenigen des Verteidigers besteht gleichwohl nicht. Es ist insofern durchaus vorstellbar, dass Verteidiger und Gericht kongruente Verantwortungsbereiche dahingehend haben, dass beide nebeneinander verpflichtet sind, die Entstehung von Willensmängeln beim Angeklagten zu verhindern. Zu klären bleibt daher, ob die gerichtliche Fürsorgepflicht auch eine Kontrolle und Korrektur durch das Gericht gebietet, wenn dieses der fehlerhaften Arbeit des Verteidigers gewahr wird, in konkretem Bezug auf den Rechtsmittelverzicht also erkennt, dass der Verteidiger dem Angeklagten Bedeutung und Tragweite des Verzichts nicht zutreffend verdeutlicht hat.

1193 Maiwald,

FS Lange, S. 745, 758.

1194 Definition bei Barton, Mindeststandards, S. 117. 1195 Siehe oben D.II.4. 1196 Plötz, S. 204. 1197 Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 29. 1198 Siehe ausführlich C.II.2.(5)(a). 1199 Siehe oben C.II.2.e).

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht

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a) Bestehen einer gerichtlichen Fürsorgepflicht zur Gewährleistung ordnungsgemäßer Beratung Auslöser der gerichtlichen Fürsorgepflicht ist stets ein erkennbares Autonomiedefizit beim Angeklagten, auf Grund dessen zu befürchten ist, dass der Angeklagte nicht zu einer sachgerechten Wahrnehmung seiner Verfahrensrechte imstande ist. Ein solches Hilfsbedürfnis liegt in rein tatsächlicher Hinsicht auch vor, wenn der Verteidiger fehlerhaft über Bedeutung und Tragweite des Rechtsmittelverzichts belehrt. Wird das Gericht dieser Fehlerhaftigkeit gewahr, ist damit jedoch nicht gesagt, dass dadurch eine Fürsorgepflicht ausgelöst wird, denn für die inhaltliche Bestimmung der Erkennbarkeit des Hilfsbedürfnisses ist nicht auf die tatsächlichen Umstände i m Einzelfall, sondern auf abstrakt-typisierende Faktoren abzustellen. Dabei sind insbesondere normative Kriterien zu berücksichtigen, da sich das Institut der gerichtlichen Fürsorgepflicht in das Gesamtsystem des reformierten Strafprozesses einfügen m u s s . 1 2 0 0 Der reformierte Strafprozess ist nun aber strukturell auf die Eigenverantwortlichkeit des Angeklagten und seines Verteidigers angelegt. Der Verteidiger ist vom Gericht unabhängig. Wie er die Verteidigung konkret gestaltet, bleibt ihm überlass e n . 1 2 0 1 Eine Überwachung des Verteidigers bzw. eine Korrektur seiner Tätigkeit vertrüge sich schlecht mit dessen Unabhängigkeit gegenüber dem Gericht. Mehr noch: Es zählt gerade zu den Aufgaben des Verteidigers, die Tätigkeit der staatlichen Strafverfolgungsorgane zu kontrollieren. Es wäre widersinnig, wenn nun der zu Kontrollierende seinerseits den Kontrolleur überwachen könnte oder sogar müsste. Eine derart weit gefasste gerichtliche Fürsorgepflicht griffe massiv in die Funktion der Verteidigung e i n 1 2 0 2 und würde das strafprozessuale Gleichgewicht zwischen Gericht und Verteidigung gefährden. 1 2 0 3 Der Verteidiger unterliegt daher grundsätzlich keiner gerichtlichen K o n t r o l l e . 1 2 0 4 Handelt er den Interessen seines Mandanten zuwider oder gefährdet er durch prozessuale Nachlässigkeit dessen Rechtsposition, dann ist dies als systemimmanent zu akzeptieren. 1 2 0 5 Schließlich hat auch das BVerfG dem Verteidiger bescheinigt, dass dieser einen freien Beruf ausübt, der staatliche Kontrolle und Bevormundung ausschließt. 1 2 0 6 Es gilt vielmehr der Vorrang der Eigenkontrolle der Verteidigungsqualität durch den Angeklagten und den Verteidiger s e l b s t 1 2 0 7 , die strafprozessual vor allem durch Abstimmung der konkreten Verteidigungsführung zwischen Angeklagtem und Vertei•200 Siehe oben D.I.2. 1201 Maiwald,

FS Lange, S. 745, 758; Bosch, S. 135.

1202 Maiwald,

FS Lange, S. 745, 758.

1203 Barton, Mindeststandards, S. 31. "204 Marczak, S. 99. 1205 Marczak, S. 99; so wohl auch Bosch, S. 136. 1206 BVerfGE

34, 293, 302.

1207 Siehe Barton, Mindeststandards, S. 103 ff., 168 ff.

270

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

diger, Ausräumung von Interessenkonflikten oder einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfolgen kann. Zivilrechtlich kann der Angeklagte Pflichtverletzungen des Verteidigers in einem Haftpflichtprozess geltend machen und den Vertrag mit einem gewählten Verteidiger kündigen. Gleichwohl sieht das Strafverfahrensrecht selbst diverse Kontrollmöglichkeiten des Gerichts gegenüber dem Verteidiger vor, vgl. §§ 138a ff., 143, 145 I S. 1 StPO. Zu klären ist daher i m vorliegenden Zusammenhang, ob zumindest diese Normen eine Verpflichtung des Gerichts begründen, den Angeklagten davor zu schützen, dass er infolge fehlerhafter Beratung durch seinen Verteidiger einem Willensmangel beim Rechtsmittelverzicht erliegt.

b) Bestehen gesetzlich vorgesehener Kontrollmöglichkeiten Die §§ 138a ff., 143, 145 I S. 1 StPO enthalten Regelungen, durch die dem Gericht ausnahmsweise gestattet wird, den Verteidiger auszuschließen, seine Bestellung zurückzunehmen bzw. einen neuen Verteidiger zu bestellen.

(1)§§ 138a ff. StPO Hinsichtlich einer möglichen Ausschließung des Verteidigers enthalten die vier Ausschlussgründe, die in den §§ 138a ff. StPO genannt werden, eine abschließende Regelung. 1 2 0 8 Weitere Möglichkeiten, einen Verteidiger auszuschließen, sieht die StPO zumindest für den Wahlverteidiger nicht v o r . 1 2 0 9 Lediglich für den Pflichtverteidiger gibt es die weiter gehende Möglichkeit der Zurücknahme der Bestellung gem. § 143 StPO. Ob die §§ 138a ff. StPO i m Anwendungsbereich ihrer Ausschlussgründe auch für den Pflichtverteidiger gelten und insofern § 143 StPO verdrängen, ist s t r i t t i g . 1 2 1 0 Für die vorliegend zu klärende Frage ist der Meinungsstand allerdings ohne Bedeutung, da die Ausschlussgründe der §§ 138a ff. StPO fehlerhafte Beratungen durch den Verteidiger nicht umfassen. Es kommt für den bestellten Verteidiger daher allenfalls eine Abberufung gem. § 143 StPO in Betracht, wenn dieser seine Tätigkeit nicht ordnungsgemäß versieht.

(2) § 143 StPO Nach ganz h. M . ist es zulässig, die Bestellung eines Verteidigers aus wichtigem Grund zu widerrufen, wenn Umstände vorliegen, die den Zweck der Pflichtvertei1208 K / M - G , § 138a Rn 1. 1209 G. Fezer, Strafprozessrecht, 4 / 4 5 . 1210 Vgl. 4 / 5 1 ff.

z u m

Streitstand LR-Lüderssen,

§ 138a Rn 3 ff.; G. Fezer, Strafprozessrecht,

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht

271

digung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährden. 1 2 1 1 Dies sei z. B. der Fall bei groben Pflichtverletzungen 1 2 1 2 oder der Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Angeklagtem und Verteidiger 1 2 1 3 , nicht hingegen bei jedem unzweckmäßigen oder prozessordnungswidrigen Verhalten 1 2 1 4 . Das Gericht ist also nicht verpflichtet, die Tätigkeit des Pflichtverteidigers zu überwachen, um sich davon zu überzeugen, ob dieser die Verteidigung de lege artis f ü h r t . 1 2 1 5 Nur wenn für das Gericht klar erkennbar ist, dass der Verteidiger unfähig ist, den Angeklagten sachgemäß zu verteidigen, kann eine Ablösung des Verteidigers geboten s e i n . 1 2 1 6 Eine Verpflichtung, die Entstehung von Willensmängeln, die aus nicht ordnungsgemäßer Verteidigeltätigkeit resultieren, durch Zurücknahme der Bestellung zu verhindern, begründet § 143 StPO daher nicht. Zu den groben Pflichtverletzungen, die hingegen eine Zurücknahme der Bestellung gem. § 143 StPO rechtfertigen können, zählt allerdings jegliches dysfunktionale Verhalten des Verteidigers. 1 2 1 7 Nimmt er Eigen- oder Fremdinteressen wahr, dann überschreitet der Verteidiger die inhaltliche Grenze seiner Tätigkeit, nämlich ausschließlich zu Gunsten des Angeklagten tätig zu werden. Erfolgt daher eine fehlerhafte Beratung des Angeklagten über Bedeutung und Tragweite des Verzichts, um damit Eigen- oder Fremdinteressen zur Durchsetzung zu verhelfen, dann ist dass Gericht befugt, die Pflichtverteidigerbestellung auf Grund grober Pflichtverletzung zurückzunehmen, soweit es die besondere Motivationslage des Verteidigers erkennt. (3) § 145 I S. 1 StPO Unabhängig von einer Zurücknahme der Bestellung gem. § 143 StPO hat der Vorsitzende gem. § 145 I S. 1 StPO sogleich einen anderen Verteidiger zu bestellen, wenn sich der bisherige Verteidiger weigert, die Verteidigung zu führen und diese notwendig ist. Einer ausdrücklichen Weigerung steht es gleich, wenn der anwesende Verteidiger untätig bleibt, obwohl er als Verteidiger zum Handeln verpflichtet w ä r e . 1 2 1 8 Darüber hinaus ist § 145 I S. 1 StPO auch dann anwendbar, wenn der Verteidiger auf Grund persönlicher Defizite oder seiner konkreten Tätigkeit faktisch nicht als Verteidiger a g i e r t . 1 2 1 9 Die Anwendbarkeit des § 145 I S. 1 12Π BVerfGE

39, 238, 244 f.; K / M - G , § 143 Rn 3; KK-Laußütte,

1212 OLG Frankfurt

§ 143 Rn 4.

StV 85, 225; BGH G A 68, 85, 86.

1213 BGHSt 39, 310, 314; K / M - G , § 143 Rn 5; Grüner, S. 198, 199. 1214 KG JR 82, 349; OLG Hamburg NStZ 98, 586, 587. 1215 BGH GA 68, 85. 1216 BGH G A 68, 85, 86; BVerfG StV 98, 356, 357; G. Fezer, Strafprozessrecht, 4 / 4 0 . 1217 Z u m Begriff des dysfunktionalen Verteidigerverhaltens siehe oben C.II.2.(5)(a). 1218 LR-Lüderssen, § 145 Rn 17; KK-Laußütte, 1219 Barton, Mindeststandards, S. 176 ff.

§ 145 Rn 5.

272

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

StPO beschränkt sich jedoch auf die Hauptverhandlung 1 2 2 0 , so dass diese Norm keine Kontrolle von Verteidigerverhalten ermöglicht, das nach Urteilsverkündung erfolgt. Da der Verteidiger seinen Mandanten regelmäßig aber erst nach der Urteilsverkündung bezüglich der Wahrnehmung seiner Rechtsmittelbefugnis beraten wird, kommt § 145 I S. 1 StPO von vornherein nicht als Mittel in Frage, um zu verhindern, dass der Verteidiger Willensmängel beim Angeklagten verursacht. Über § 145 I S. 1 StPO hinaus ist das Gericht jedoch während des gesamten Verfahrens zur Sicherstellung der notwendigen Verteidigung verpflichtet, also auch zum Zeitpunkt der Rechtsmittelentscheidung. Aus den §§ 140, 141 StPO ergibt sich insofern ebenfalls eine Überwachungspflicht. 1 2 2 1

(4) §§ 140, 141 I, I V StPO Gem. § 141 I StPO besteht zwar grundsätzlich nur eine Verpflichtung des Gerichts, in Fällen der notwendigen Verteidigung einen Pflichtverteidiger zu bestellen, soweit der Angeklagte bisher unverteidigt ist, doch kann gem. §§ 140, 141 I, I V StPO auch die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers erfolgen. Ein solches Vorgehen des Gerichts kommt gleichwohl nur in Extremfällen in Betracht, insbesondere dann, wenn der Verteidiger sich offensichtlich als völlig unfähig erweist oder aus anderen Gründen seine Pflichten schwerstens vernachlässigt. 1 2 2 2 Die Unfähigkeit muss dabei derart massiv und offenbar sein, dass von einer formellen Verteidigung gar nicht mehr gesprochen werden k a n n 1 2 2 3 , weil sich die Tätigkeit des Verteidigers dem „ N u l l w e r t " 1 2 2 4 annähert. Das Gericht darf dann zumindest in Fällen notwendiger Verteidigung tätig werden, da der vorhandene Verteidiger faktisch nicht als solcher auftritt und der Angeklagte daher der Bestellung eines neuen Verteidigers bedarf. Soweit es lediglich um die Frage geht, ob der Verteidiger bei notwendiger Verteidigung infolge von persönlicher Unfähigkeit oder grober Pflichtverletzung überhaupt die Verteidigung führt, steht die Unabhängigkeit des Verteidigers einer Überwachung der Verteidigertätigkeit durch das Gericht nicht entgegen. 1 2 2 5 Ermöglichung der notwendigen Verteidigung meint eben nicht Gewährleistung sachgerechter Verteidigung. M i t der Verwendung des Begriffs der „Unfähigkeit" ist also nichts anderes gemeint, als dass der Verteidiger die Mindeststandards, die eine formelle Verteidigung im Strafverfahren erfüllen muss, nicht gewahrt h a t . 1 2 2 6 Die Verwendung des inhaltlich unscharfen Begriffs der „Unfähig-

1220 KK-Laufhütte,

§ 145 Rn 1.

1221 Kumlehn, S. 77 f. 1222 Maiwald,

FS Lange, S. 745, 759.

1223 Hübner, S. 230. 1224 Maiwald,

FS Lange, S. 745, 759.

1225 Kumlehn, S. 80. 1226 Ausführlich zu diesen Mindeststandards Barton, Mindeststandards, S. 293 ff.

D. Fürsorgepflicht Verletzungen durch das Gericht

273

keit" als Oberbegriff für inakzeptable Defizite in der Person des Verteidigers und in der Verteidigungstätigkeit erklärt sich nur deshalb, weil es bisher nicht gelungen ist, derartige Mindeststandards für alle Verfahrensabschnitte zu konkretisieren. 1 2 2 7 Bezüglich der vorliegend untersuchten Frage, ob das Gericht den Angeklagten vor fehlerhaftem Verhalten seines Verteidigers schützen muss, das Fehlvorstellungen über Bedeutung und Tragweite des Verzichts bei ihm hervorrufen kann, ist insofern zu konstatieren, dass eine solche Fremdkontrolle der Beratungstätigkeit des Verteidigers gem. §§ 140, 141 nur denkbar ist, wenn infolge Krankheit oder altersbedingter Störungen 1 2 2 8 überhaupt nicht mit einer sachgerechten Beratung zu rechnen ist oder eine tatsächliche Belehrungen des Angeklagten wegen offensichtlicher, grober Pflichtverletzung nicht als formelle Verteidigung gewertet werden können, so dass der Angeklagte als unverteidigt i. S. d. § 141 I StPO zu gelten hat. Z u diesen Pflichtverletzungen, welche die Bestellung eines neuen Verteidigers rechtfertigen können, zählt, wie bereits zuvor ausgeführt, auch dysfunktionales Verhalten des Verteidigers. Orientiert dieser seine Tätigkeit nicht an den Interessen des Angeklagten, sondern an Eigen- oder Fremdinteressen, dann ist ein solches Verhalten rollenwidrig und kann nicht als Verteidigung i m formellen Sinn aufgefasst werden. Bei fehlerhafter Beratung des Angeklagten über Bedeutung und Tragweite des Rechtsmittelverzichts, welche erkennbar der Wahrnehmung von Eigen- oder Fremdinteressen dienen, kann das Gericht sogleich einen neuen Verteidiger bestellen. 1 2 2 9 Die von Beulke geäußerte Kritik, dass die Grenze der Unfähigkeit sich einer Verifizierung entzieht und eine Überwachung ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung a limine nicht in Betracht kommt, weil auch diese Form der Fremdkontrolle ein eklatanter Eingriff in die Freiheit und Unabhängigkeit der Verteidigung i s t 1 2 3 0 , verfängt wegen der erfolgten Konkretisierung zumindest in der vorliegend untersuchten Verfahrenssituation nicht.

c) Zwischenergebnis Zumindest für die Fälle der notwendigen Verteidigung sieht das geltende Strafprozessrecht Kontrollmöglichkeiten der Verteidigungsqualität v o r . 1 2 3 1 Das Gericht 1227 Es fehlt in der Literatur bereits an entsprechenden Bemühungen, so Barton, Mindeststandards, S. 293 ff., der eine Konkretisierung von Mindeststandards exemplarisch für die Vorbereitung der Hauptverhandlung unternimmt, S. 324 ff. Zudem macht sich das Fehlen einer umfangreichen Kasuistik nachteilig bemerkbar.

i 2 2 » BGH GA 68, 85, 86. 1229 Es ist insofern nicht erforderlich, dass das Gericht zunächst die Bestellung des „unfähigen" Verteidigers zurücknimmt und dem Angeklagten erst danach einen anderen Verteidiger bestellt. 1230 Beulke, Verteidiger, S. 129 - Mittelbar sei sogar die Autonomie und damit die Subjektsqualität des Angeklagten gefährdet. 1231 Hegmann, S. 265, spricht von einer Garantiepflicht des Gerichts. Bezüglich des Wahlverteidigers bestünde indessen keine Überwachungspflicht, S. 244 f.; ähnlich Kielwein, S. 137.

18 Meyer

274

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

kann einen erkennbar „unfähigen" - vor allem dysfunktional handelnden - Verteidiger abberufen und dem Angeklagten einen neuen Verteidiger bestellen, vgl. §§ 140, 141 I, IV, 143 StPO. Die gerichtliche Fürsorgepflicht kommt bei der Anwendung dieser Normen nur als Auslegungshilfe zur A n w e n d u n g . 1 2 3 2 Wenn es der Zweck der gerichtlichen Fürsorgepflicht ist, eine sachgerechte Ausübung prozessualer Befugnisse zu ermöglic h e n 1 2 3 3 und in den Fällen der notwendigen Verteidigung ein entsprechendes Autonomiedefizit gerade vermutet wird, dann muss die gerichtliche Fürsorgepflicht bei der Auslegung der Normen, welche die notwendige Verteidigung gewährleisten und § 140 I, I I StPO insofern ergänzen, Berücksichtigung finden. Angesichts dieser Systemvorgaben ist die Zulässigkeit einer Fremdkontrolle der Verteidigertätigkeit über die gesetzlich geregelten Möglichkeiten hinaus ausgeschlossen. Eine planwidrige Gesetzeslücke, die nunmehr durch die ungeschriebene gerichtliche Fürsorgepflicht zu schließen wäre, um die Qualität der Verteidigung zu gewährleisten, liegt nicht vor. Die Konzeption der StPO schließt eine generelle Pflicht zur Überwachung des Verteidigers a u s . 1 2 3 4 Eingriffe in das Verteidigungsinnenverhältnis unter Berufung auf die gerichtliche Fürsorgepflicht als eigenständige Rechtsgrundlage sind daher unzulässig. 1 2 3 5 Ansätzen in der Literatur, die das Gericht auf der Grundlage der gerichtlichen Fürsorgepflicht als verpflichtet ansehen, auch bei Unfähigkeit des nicht notwendigen Verteidigers korrigierend einzuschreiten oder sogar alle erkennbaren Falschauskünfte und Fehl Vorstellungen des Strafverteidigers zu berichtigen 1 2 3 6 , kann daher nicht gefolgt w e r d e n . 1 2 3 7 Eine solche Verpflichtung liefe der prozessualen Aufgabenteilung z u w i d e r . 1 2 3 8 Eine Fremdkontrolle der Verteidigung zur Verhinderung der Entstehung von Willensmängeln beim Angeklagten ist mithin nur möglich, soweit die StPO entsprechende Mittel bereithält. 1 2 3 9 Als eigenständige Rechtsgrundlage könnte die gerichtliche Fürsorgepflicht vorliegend allerdings mit einer anderen Zielrichtung zur Anwendung gelangen.

1232 Barton, Mindeststandards, S. 159. 1233 LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 123; Kumlehn, S. 109 ff.; Kielwein, S. 168, 176. 1234 Beulke, Verteidiger, S. 129; Bosch, S. 135; Dahs, Handbuch, Rn 29; Maiwald, FS Lange, S. 745, 756 - Eine solche Pflicht stünde auch i m Widerspruch zur Wahrheitsfindungspflicht des Gerichts. 1235 LR-Rieß, Einl. Abschn. Η Rn 125. 1236 Plötz, S. 323. •237 Da jede gerichtliche Kontrolle gegenüber dem gewählten Verteidiger ein Eingriff in dessen Berufsausübungsfreiheit, Art. 12 I 2 GG, ist, bedarf es auch aus diesem Grund einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage. 1238 Ähnlich Hegmann, S. 244 f. 1239 Maiwald,

FS Lange, S. 745, 759; Marczak, S. 99.

D. Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht d) Bestehen einer gerichtlichen Für Sorgepflicht der Eigenkontrolle

275

zur Gewährleistung

Eingangs der Untersuchung dieser Fallgruppe wurde der Vorrang der Eigenkontrolle der Verteidigertätigkeit gegenüber der Fremdkontrolle durch Justizorgane b e t o n t . 1 2 4 0 Zu den Mitteln der Eigenkontrolle zählt, dass der Angeklagte Pflichtverletzungen des Verteidigers nicht hinnehmen muss, sondern von diesem Abhilfe verlangen oder gegenüber einem gewählten Verteidiger sogar die Kündigung aussprechen kann. Regelmäßig ist der Angeklagte aber nicht in der Lage, Können und Seriosität seines Verteidigers zu überprüfen und sich selber vor Fehlvorstellungen über Bedeutung und Tragweite des Rechtsmittelverzichts zu schützen. 1 2 4 1 Da er jedoch ein subjektives öffentliches Recht auf wirksame Verteidigung hat, das als Teilhaberecht zu verstehen und zur Verwirklichung und Effektivierung der Abwehrrechte des Angeklagten erforderlich i s t 1 2 4 2 , könnte dieser normative Aspekt eine gerichtliche Fürsorgepflicht auslösen, nach welcher das Gericht zu gewährleisten hat, dass der Angeklagte die ihm zur Verfügung stehenden Mittel der Eigenkontrolle auch tatsächlich nutzen kann. Die Anwendung der gerichtlichen Fürsorgepflicht würde sich daher auf die Ermöglichung der Eigenkontrolle beschränken. Der Angeklagte könnte dann selbst der Entstehung von Willensmängeln beim Rechtsmittel verzieht vorbeugen. Ob er von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, bliebe wiederum ihm als eigenverantwortlichem Prozesssubjekt überlassen. Für eine solche Verpflichtung scheint auch die Funktion der gerichtlichen Fürsorgepflicht zu sprechen, die j a lediglich die Möglichkeit zur sachgerechten Rechts Wahrnehmung sichern soll. Die Fürsorgepflicht schafft reale Bedingungen für eine sachgemäße Ausübung prozessualer Befugnisse, ohne die Eigenverantwortlichkeit des Angeklagten aufzuheben. Die Reduzierung des Anwendungsbereichs der gerichtlichen Fürsorgepflicht, der nur die Funktion einer Auslegungshilfe zukommt, soweit es um die Kontrolle der Verteidigertätigkeit geht, beruht vorliegend aber gerade nicht auf dem tatsächlichen Fortfall des Bedürfnisses des Angeklagten, sachgemäß verteidigt zu werden. Maßgeblich sind vielmehr die Rollen- und Funktionsverhältnisse von Gericht und Verteidiger im Strafverfahren. 1 2 4 3 Dass es zu den Aufgaben des Gerichts zählt, dem Angeklagten zutreffende Vorstellungen von den Rechtsbehelfen zu vermitteln, zeigen zwar Vorschriften wie §§ 35a, 44 I S. 2 S t P O 1 2 4 4 , doch darf das Gericht seine Belehrungen dann nicht an die Stelle der erforderlichen Belehrung durch den Verteidiger setzen, wenn dieser Bereich, wie in dem hier unter1240 Siehe oben D.II.5.a). 1241 Plötz, S. 133. 1242 Barton, Mindeststandards, S. 76 f. 1243 Plötz, S. 43. 1244 SK-Frisch, § 302 Rn 30. 18*

276

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

suchten Fall, der Eigenverantwortlichkeit des Verteidigers vorbehalten i s t 1 2 4 5 . Diese Systemvorgabe würde durch eine gerichtliche Fürsorgepflicht, die der Ermöglichung der Eigenkontrolle dient, umgangen. I m Ergebnis liefe diese auf eine sehr weit reichende indirekte Überprüfung der Verteidigertätigkeit hinaus, da das Gericht bei jeder Pflichtverletzung darauf hinzuweisen hätte, dass der Angeklagte gegen diese mit Mitteln der Eigenkontrolle vorgehen kann. Auch eine Empfehlung an den Angeklagten, seinem Verteidiger das Mandat zu entziehen, wäre daher eine unzulässige Einflussnahme auf das Vertrauensverhältnis zwischen Angeklagtem und Verteidiger. 1 2 4 6

e) Ergebnis Zur Verhinderung von Willensmängeln beim Angeklagten, deren Entstehung auf Grund nicht ordnungsgemäßer Verteidigertätigkeit droht, ist das Gericht nach geltendem Strafprozessrecht nur dann verpflichtet, wenn es sich um einen Fall der notwendigen Verteidigung handelt und das Gericht erkennt, dass der Angeklagte von einem sog. „unfähigen" - z. B. dysfunktional handelnden - Verteidiger beraten oder unterstützt wird. In einem solchen Fall muss das Gericht den bisherigen Verteidiger abberufen und dem Angeklagten einen neuen Verteidiger bestellen oder sogleich einen neuen, weiteren Verteidiger bestellen. Kommt das Gericht dieser Verpflichtung nicht nach und unterliegt der Angeklagte bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts infolge der Untätigkeit des Gerichts einem Willensmängel, dann ist dieser ausnahmsweise beachtlich. Der erklärte Rechtsmittelverzicht ist dann unwirksam. Die gleichzeitige Pflichtverletzung durch den Verteidiger entbindet das Gericht nicht von seiner Verantwortung 1 2 4 7 , da es in diesem eng begrenzten Umfang zusätzlich neben dem Verteidiger für die Gewährleistung einer zutreffenden Entscheidungsbasis beim Rechtsmittelverzicht des Angeklagten verantwortlieh i s t . 1 2 4 8

1245 Widmaier NStZ 92, 519, 522. 1246 Hegmann, S. 246 f. '247 SK -Frisch, § 302 Rn 30 - Soweit die Vermeidung einer Fehl Vorstellung und die Gewährleistung einer zutreffenden Entscheidungsbasis nach den Wertungen des Prozessrechts in den Verantwortungsbereich des Gerichts fällt, führt dies zur Unwirksamkeit des Verzichts. Dies gilt auch dann, wenn unrichtige Auskünfte eines Pflichtverteidigers bei der Entstehung der Fehlvorstellung mitgewirkt haben. I m zivilrechtlichen Haftpflichtverfahren führt eine gleichzeitige Pflichtverletzung des Verteidigers indessen dazu, dass Amtshaftungsansprüche wegen des gerichtlichen Fehlers nicht bestehen. Der Verteidiger haftet vorrangig, vgl. Krause NStZ 2000, 225, 228. 1248 Man kann insofern auch von kongruenten Verantwortungsbereichen sprechen.

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht

277

6. Belehrung über Rechtsschutzmöglichkeiten gegenüber Drohungen der Strafverfolgungsbehörden Abschließend ist auf eine weitere Belehrungspflicht hinzuweisen, die aus der gerichtlichen Fürsorgepflicht resultiert und ebenfalls der Verhinderung von Willensmängeln dient. I m Rahmen der Untersuchung, wie sich Drohungen der Strafverfolgungsorgane auf die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts auswirken, konnte nachgewiesen werden, dass selbst die Drohung mit einer rechtswidrigen Maßnahme nicht zu einem beachtlichen Willensmangel führt, wenn eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit bestand, um den Eintritt des angedrohten Übels zu verh i n d e r n . 1 2 4 9 In einer solchen Verfahrenssituation ist es dem Angeklagten i m Interesse der Rechtssicherheit zuzumuten, alle Mittel auszuschöpfen, um die Zwangslage zu beseitigen und seine Rechte durchzusetzen. Lässt der Angeklagte eine Abwehrmöglichkeit ungenutzt, trägt er dafür prozessual die Verantwortung. 1 2 5 0 Bei dieser Untersuchung stellte sich allerdings die Frage, ob der Bedrohte die prozessuale Abwehrmöglichkeit auch gekannt haben muss. Dies ist zwar i m Rahmen der Fallgruppe „Drohungen durch Strafverfolgungsorgane" verneint worden, doch wurde schon dort darauf aufmerksam gemacht, dass der Angeklagte vom Gericht wohl auf Grund der gerichtlichen Fürsorgepflicht auf bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten hingewiesen werden muss, wenn der Angeklagte sich dieser nicht bewusst ist. Unterlässt das Gericht eine entsprechende Belehrung und verzichtet der Angeklagte nur deshalb auf Rechtsmittel, weil er Rechtsschutzmöglichkeiten, die gegenüber der angedrohten Maßnahme bestehen, nicht kennt, dann könnte sich die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts in einer solchen Konstellation insofern aus der Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht ergeben. Voraussetzung ist dafür freilich, dass eine entsprechende Fürsorgepflicht besteht. Dies wird man für den unverteidigten Angeklagten bejahen müssen. Dem Angeklagten als Rechtslaien sind die strafprozessualen Rechtsbehelfe regelmäßig nicht bekannt. Das überlegene Fachwissen des Gerichts fließt daher als normatives Kriterium bei der abstrakt-typisierenden Bestimmung der Hilfsbedürftigkeit ein. Zudem wird die Gefahr für den Angeklagten, einen Rechtsmittelverzicht zu erklären, ohne zuvor alle statthaften prozessualen Rechtsbehelfe genutzt zu haben, um die angedrohte Maßnahme abzuwehren, erst durch die Drohung der Strafverfolgungsorgane geschaffen. Ist für das Gericht erkennbar, dass der Angeklagte sich durch die Drohung eines Strafverfolgungsorgans zu einem Rechtsmittelverzicht veranlasst sieht, so löst dies zumindest gegenüber einem unverteidigten Angeklagten eine gerichtliche Fürsorgepflicht aus. Dieser genügt das Gericht, wenn es den Angeklagten auf die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten h i n w e i s t . 1 2 5 1 Das Unterlassen dieses Hinweises begründet hingegen die Verantwortung des Gerichts für kausal entstan-

1249 Siehe oben C.I.6.b)(2). 1250 Ausführlich C.I.6.b)(2). 1251 SK/SiPO-Frisch,

§ 302 Rn 31.

278

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

dene Willensmängel. Der Rechtsmittelverzicht ist dann ausnahmsweise unwirksam. Eine solche Hinweispflicht wird ebenfalls gefordert, wenn die StA wegen Verdunkelungsgefahr einen Haftbefehl beantragt und der Angeklagte zu dessen Abwendung auf Rechtsmittel verzichtet. Die vorliegende Untersuchung hat diesbezüglich zu dem Befund geführt, dass der Angeklagte in jedem Fall die Entscheidung des Gerichts abwarten m u s s . 1 2 5 2 Verzichtet der Angeklagte dennoch unter dem Eindruck des Haftbefehlsantrags auf Rechtsmittel, so ist der Rechtsmittelverzicht auch dann wirksam, wenn der Haftbefehlsantrag prozessual unzulässig w a r . 1 2 5 3 Auch in dieser Verfahrenssituation gebietet die gerichtliche Fürsorgepflicht aus den oben genannten Gründen, jedenfalls einen unverteidigten Angeklagten über die prozessuale Rechtslage aufzuklären. 1 2 5 4 Das Gericht ist verpflichtet, dem Angeklagten bewusst zu machen, dass nicht die StA, sondern allein das Gericht über eine Freiheitsentziehung entscheidet. Die Belehrung des Angeklagten muss daher folgende Informationen enthalten: Der Haftbefehlsantrag bedeutet nicht die endgültige Entscheidung über die Freiheitsentziehung, der Rechtsmittelverzicht kann zur Abwendung einer drohenden Verhaftung wegen Verdunkelungsgefahr auch noch nach der gerichtlichen Entscheidung rechtzeitig erfolgen. 1 2 5 5 Unterlässt das Gericht diese Belehrung, sind kausal entstandene Willensmängel des Angeklagten beim Verzicht beachtlich. Der Rechtsmittelverzicht wäre somit infolge der Fürsorgepflichtverletzung unwirksam.

III. Nachweis eines Willensmangels Beruft sich der Angeklagte nun gegenüber dem Rechtsmittelgericht auf eine Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht, um die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts zu begründen, steht er freilich vor einem weiteren Problem. Da die gerichtliche Fürsorgepflicht bereits durch ein erkennbares Hilfsbedürfnis ausgelöst wird, steht das Vorliegen eines Willensmangels nicht von vornherein fest. Zwar liegt ein erkennbares Hilfsbedürfnis nur dann vor, wenn eine Gefahrensituation eintritt, die das Auftreten von Willensmängeln typischerweise befürchten lässt, doch steht damit das tatsächliche Vorliegen eines Willensmangels nicht automatisch fest. Das Vorliegen eines Willensmangels muss in der Fallgruppe der „Fürsorgepflichtverletzung durch das Gericht" somit positiv festgestellt werden. Während die zuvor erfolgte Verantwortungsabschichtung normativer Natur ist, handelt es dabei um ein faktisches Problem. Wie alle tatsächlichen Umstände, die den Rechtsmittelverzicht betreffen, ist das Vorhandensein eines Willensmangels i m 1252 Siehe oben C.I.6.b)(2)(a). 1253 Siehe oben C.I.6.b)(2)(a). 1254 Dencker, Willensfehler, S. 60 f.; Plötz, S. 298. 1255 Plötz, S. 326.

D. Fürsorgepflichterletzungen durch das Gericht

279

Wege des Freibeweises zu überprüfen. 1 2 5 6 Den Angeklagten trifft dabei die Obliegenheit, das Vorliegen einer Fehlvorstellung, die kausal durch die Fürsorgepflichtverletzung verursacht wurde, nachzuweisen. Dem Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit, nämlich die Beurteilung der Beachtlichkeit eines Willensmangels von der Einzelfallbetrachtung loszulösen und diese durch eine abstrakte Verantwortungsabschichtung zu ersetzen, droht ein derartiges Nachweiserfordernis - zumindest für die Fallgruppe der gerichtlichen Fürsorgepflichtverletzung - allerdings zuwiderzulaufen. Soll gerade durch einen abstrakten Lösungsweg größere Rechtssicherheit erreicht werden, wäre es kontraproduktiv, wenn demgegenüber das tatsächliche Vorhandensein eines Willensmangels i m jeweiligen Einzelfall positiv nachgewiesen werden müsste. Für die vorliegend untersuchte Fallgruppe lässt sich jedoch eine Beweiserleichterung begründen, die von der positiven Nachweisobliegenheit enthebt. Unterlässt es das Gericht nämlich, in einer vertypten Gefahrensituation einen aufklärenden Hinweis zu geben, dann spricht bereits eine Vermutung für das Vorliegen eines Willensmangels, so dass der Angeklagte lediglich das Vorliegen einer entsprechenden Gefahrensituation nachweisen m u s s . 1 2 5 7 Vermutungen, die der Beweiserleichterung dienen, sind i m Strafprozess auch nichts Ungewöhnliches. Eine solche liegt z. B. dem Beweisverwertungsverbot bei einem Verstoß gegen die §§ 136, 163a StPO zu G r u n d e . 1 2 5 8 Unterbleibt die Belehrung eines unverteidigten Angeklagten, wird vermutet, dass die spätere Einlassung in Unkenntnis des eigenen Schweigerechtes und unfreiwillig erfolgte. Desgleichen enthält § 44 S. 2 StPO eine unwiderlegliche Vermutung. Fehlt die Belehrung gem. § 35 a StPO, geht das Gesetz von unverschuldeter Säumnis a u s . 1 2 5 9 Angesichts des restriktiven Maßstabs, der bei der abstrakt-typisierenden Bestimmung der Gefahrensituationen angelegt wurde, welche eine gerichtliche Fürsorgepflicht auslösen, erscheint eine solche Vermutung auch in den vorliegend untersuchten Verfahrenssituationen zulässig und angemessen. Schließlich werden diese nur deshalb zum auslösenden Moment für eine gerichtliche Fürsorgeverpflichtung, weil bei ihrem Eintritt die „ i m Erfahrungssatz pauschalierte Möglichkeit eines Willensmangels" 1 2 6 0 besteht. Da also Fürsorgepflichtverletzungen des 1256 Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 30. ι 2 5 7 Ähnlich Kielwein S. 177.

bezüglich des Nachweises des „Beruhens" i m Fall einer Revision,

1258 Vgl. BGHSt 38,214, 224 f.; SK/StPO-Rogali, Vor § 133 Rn 167. Das Gesetz weist den staatlichen Strafverfolgungsbehörden nicht nur die Verantwortung für die ordnungsgemäße Belehrung zu, sondern begründet - auf Grund der ratio der Belehrungspflichten - zusätzlich die Vermutung, dass bei unterlassener Belehrung regelmäßig ein Willensmangel vorliegt. 1259 Allerdings regelt diese Vermutung nicht die hier interessierende faktische Ebene, sondern die normative. Die Feststellung der Nichtkenntnis der Rechtsmittelfrist bleibt erforderlich. Erst i m Anschluss daran ist bei der Prüfung des Verschuldens der Anwendungsbereich des § 44 S. 2 StPO eröffnet, vgl. L R -Wendisch, § 44 Rn 65. 1260 So ausdrücklich Plötz, S. 180.

280

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Gerichts i m Regelfall zu einem Willensmangel beim Angeklagten führen, kann dessen Vorliegen vermutet werden. Dem Angeklagten obliegt daher lediglich der Nachweis der Fürsorgepflichtverletzung, nicht jedoch der positive Nachweis eines Willensmangels.

IV. Gesamtergebnis Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht Die Erkenntnisse, welche die Untersuchung der Fallgruppe „Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht" ergeben hat, lassen sich wie folgt, zusammenfassen: Die Veranlassung eines Rechtsmittelverzichts durch das Gericht i m unmittelbaren Anschluss an das Urteil, die nicht erfolgte Bestellung eines notwendigen Verteidigers, die Abwesenheit des gewählten oder bestellten Verteidigers bei der Verzichtserklärung begründen eine gerichtliche Fürsorgepflicht, die es gebietet, einen Irrtum des Angeklagten über Bedeutung und Tragweite des Rechtsmittelverzichts durch Hinweise und Belehrungen zu verhindern. Kommt das Gericht dieser Verpflichtung nicht nach, dann trägt es die Verantwortung für Willensmängel, die infolge der unterlassenen Belehrungen und Hinweise entstehen oder nicht beseitigt werden. Ein solcher Willensmangel - regelmäßig ein Motivirrtum - ist daher ausnahmsweise beachtlich und führt zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts. Gleiches gilt, wenn der Angeklagte in einem Fall notwendiger Verteidigung bei der Rechtsmittelentscheidung von einem erkennbar „unfähigen" Verteidiger beraten wird und das Gericht nicht gem. §§ 140, 141 I, IV, 143 StPO durch Abberufung des alten und Bestellung eines neuen Verteidigers tätig wird, um die Entstehung von Willensmängeln zu verhindern. Der Rechtsmittelverzicht ist auch dann unwirksam, wenn er auf einer unterlassenen Belehrung des unverteidigten Angeklagten über das Bestehen prozessualer Rechtsschutzmöglichkeiten beruht, die er gegenüber Drohungen der Strafverfolgungsbehörden ergreifen kann. Es sei abschließend nochmals verdeutlicht: Die genannten Konstellationen sind lediglich typische Ursachen eines Willensmangels und lösen als solche die gerichtliche Fürsorgepflicht aus. Der Vorwurf, der das Gericht bei Verletzung dieser Fürsorgepflicht trifft, ist deshalb nicht die Verursachung des Willensmangels, sondern dessen nicht erfolgte Verhinderung. 1 2 6 1 Dem ersten Anschein nach sind mit Abschluss dieser Fallgruppe nunmehr alle denkbaren Einwirkungen, die sich aus den prozessualen Interaktionen der Prozessbeteiligten und der Einflussnahme außerprozessualer Dritter ergeben, eingehend behandelt und einer Lösung zugeführt worden. In einer jüngeren Entscheidung

1261 Aus diesem Grunde ist beim herausgefragten Verzicht auch nicht auf die Frage nach dem Verzicht, sondern auf die konkreten Umstände von dessen Annahme abzustellen.

E. Unzulässige Absprache

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nennt der BGH gleichwohl unzulässige Absprachen 1 2 6 2 als weitere Fallgruppe eines - unter zusätzlichen Voraussetzungen - ausnahmsweise beachtlichen Willensmangels. 1 2 6 3 Es bleibt daher zu klären, wer die Verantwortung für das Vorliegen eines Willensmangels trägt, wenn dieser i m Rahmen einer unzulässigen Absprache entstanden ist. Dabei wird sich zeigen, dass die Beteiligung an einer unzulässigen Absprache keine eigenständige Fallgruppe ist, wie die zitierte Entscheidung des BGH dies suggeriert, sondern eine Lösung auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungsergebnisse erfolgen kann.

E. Unzulässige Absprache I. Begriffsbestimmung U m feststellen zu können, ob die bereits gewonnenen Maßstäbe für die einzelnen Beeinflussungsarten auf die Konstellation der unzulässigen Absprache übertragbar sind, bedarf es der Bestimmung, auf welche Art und Weise die Entscheidungsfreiheit des Angeklagten bei einer unzulässigen Absprache beeinträchtigt wird. Dazu gilt es zunächst, den Begriff der unzulässigen Absprache zu präzisieren und zulässige von unzulässigen Absprachen zu trennen. Indessen kennt das Gesetz bereits die Absprache als solche n i c h t . 1 2 6 4 Auch Literatur und Rechtsprechung haben bisher keine allgemeingültige Definition e n t w i c k e l t . 1 2 6 5 Zudem wird das deutsche Strafprozessrecht als grundsätzlich vergleichsfeindlich betrachtet. 1 2 6 6 Der staatliche Strafanspruch dürfe nicht in das Belieben der Prozessbeteiligten gestellt w e r d e n . 1 2 6 7 Eine Aufteilung in zulässige und unzulässige Absprachen erscheint 1262 BGHSt 45, 51, 53; Grünst sieht darin sogar die neueste Leitentscheidung des BGH zum Problem der Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts, S. 337. 1263

Dazu i m Einzelnen unter E.II.2.b), E.III. 1., wobei die weiteren Voraussetzungen wesentlich sind, denn die einzelnen Senate fordern, dass sich die Umstände, welche die Unzulässigkeit der Absprache bewirken, auch zur rechtlichen Missbilligung des Verzichts führen, vgl. exemplarisch BGHSt 45, 51, 53 (5. Senat); BGHSt 45, 227, 232 (4. Senat); entscheidend sei, ob die unzulässige Absprache zu einer unzulässigen Beeinflussung der freien Willensbildung geführt hat, so BGH StV 2000, 237 (1. Senat). 1264 Einen Vergleich sieht das Gesetz gem. § 380 StPO nur i m Privatklageverfahren vor. 1265 Zur Vielzahl der gehandelten Begriffe vgl. Siolek, Verständigung, S. 44, 45 und Ioakimidis, S. 23 ff. Verstärkt wird die Absprache aber als gesetzlich nicht vorgesehenes Übereinkommen der am Verfahren Beteiligten über die mehr oder weniger verbindliche Rechtsfolge, die am Ende der Hauptverhandlung stehen soll, verstanden, z. B. Bogner, S. 3; Schünemann, NJW 89, 1895; Beulke, StPO, Rn 394, und Satzger, JuS 2000, 1157, definieren die Absprache als Verständigung zwischen den Verfahrensbeteiligten mit dem Ziel, sich über die Art und Weise der Verfahrensgestaltung oder die Verfahrensbeendigung zu einigen. 1266 BGHSt 43, 195, 203; zuvor Dencker/Hamm, S. 76; Seier JZ 88, 683, 684.

1267 Schünemann, 58. DJT, B d I Gutachten B, S. 171.

282

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

daher auf den ersten Blick weder möglich noch erforderlich. Es existiert allerdings auch kein ausdrückliches Verständigungsverbot. 1268 Vielmehr hat der Gesetzgeber mit den §§ 153 ff. StPO Einschränkungen des Legalitätsprinzips geschaffen, die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Verfahrensbeteiligten gerade eröffn e n . 1 2 6 9 Nicht zuletzt deshalb haben die verfahrensbeendenden Absprachen in der Folgezeit durch die obergerichtliche Rechtsprechung grundsätzliche Anerkennung und eine Konkretisierung ihrer Zulässigkeitsgrenzen erfahren.

1. Obergerichtliche Rechtsprechung zu den Zulässigkeitsgrenzen einer Absprache Das BVerfG war erstmals 1987 mit der Thematik der „Absprache i m Strafverfahren" befasst und hat in der damaligen Entscheidung anerkannt, dass Absprachen unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens nicht schlechthin unzulässig sind, wenn bestimmte - nicht disponible - rechtsstaatliche Standards eingehalten werd e n . 1 2 7 0 Das Schuldprinzip, der Grundsatz der materiellen Wahrheit und die Willensfreiheit des Angeklagten müssen als Grenze von Verständigungen gewahrt w e r d e n . 1 2 7 1 Einen „Handel mit der Gerechtigkeit" dürfe es nicht g e b e n 1 2 7 2 , Verständigungen außerhalb der Hauptverhandlung über Stand und Aussicht des Verfahrens seien i m Rahmen der Mindeststandards aber l e g i t i m . 1 2 7 3 Daran anknüpfend haben in den folgenden Jahren alle BGH-Senate die grundsätzliche Zulässigkeit von Absprachen - mit zum Teil abweichenden Begründungen und Beschränkungen - bestätigt. 1 2 7 4 Sie gehören heute zum festen Bestand 1268 In der Praxis werden diverse Verfahrensfragen typischerweise in Form der Verständigung erörtert, ohne dass jemand daran Anstoß nehmen würde. Dies gilt für den Verfahrensablauf einschließlich eventueller Anregungen zu §§ 154, 154a StPO sogar nach der strengen Auffassung des 3. Senats, vgl. BGHSt 37, 298, 305. 1269 BGHSt 43, 195, 203 erwähnt ausdrücklich § 153 a StPO.

1270 BVerfG NJW 87, 2662, 2663. Kühne spricht zu Recht von einer „Unbedenklichkeitsentscheidung", Rn 749. 1271 BVerfG NJW 87, 2662, 2663. Der in der NJW abgedruckte Leitsatz birgt i m Übrigen einen Druckfehler. Kurioserweise sollen nämlich auch die Grundsätze der „Stoffbenutzung" nicht zur freien Disposition gestellt werden. 1 2 7 2 BVerfG NJW 87, 2662, 2663, wobei Sinner den fehlenden Nachweis der Originalquelle der Formulierung bemängelt, S. 189 Fn 270. Die Formulierung gehe nämlich nicht auf das BVerfG, sondern auf Κ F. Schumann, Der Handel mit Gerechtigkeit, zurück. 1273 BVerfG NJW 87, 2662, 2663; Auch Sinner spricht von einer Legitimation der Absprachen, doch vergisst er in seiner Rechtsprechungsübersicht zu erwähnen, dass sich die Legitimation unmittelbar nur auf Verständigungen über Stand und Aussichten des Verfahrens bezieht. Diese Einschränkung gibt seine Darstellung nicht wieder, vgl. Sinner, S. 188. 1 2 7 4 Das Schrifttum ist dieser Rechtsprechung weit gehend gefolgt, Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 646. Gleichwohl finden sich noch zahlreiche Stimmen, die auch weiterhin jede Absprache für unzulässig halten, Hassemer JuS 89, 890, 892; Schünemann, FS Rieß, S. 525, 531 f.; Rönnau wistra 98, 49, 52; Kruse StraFo 2000, 146, 148 f.; ausführliche Übersichten

E. Unzulässige Absprache

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prozessualer Instrumentarien. 1 2 7 5 Gleichwohl fehlte es dieser Rechtsprechung an einer einheitlichen L i n i e . 1 2 7 6 Zwar lag den Entscheidungen stets eine sog. gescheiterte oder nicht zustande gekommene Absprache zu G r u n d e 1 2 7 7 , doch waren die Judikate vor allem durch den zu entscheidenden Einzelfall geprägt. Grundsätzliche Ausführungen zur Zulässigkeit von Absprachen finden sich nur in der Form von obiter d i c t a . 1 2 7 8 Deren Inhalt gilt es in einem ersten Schritt darzustellen, um zu ermitteln, wann die Rechtsprechung eine Absprache für unzulässig hält. In einem zweiten Schritt ist daran anknüpfend zu klären, welche Form der Einflussnahme auf die Entscheidungsautonomie des Angeklagten bei der Rechtsmittelentscheidung i m Falle der Unzulässigkeit vorliegt. Die BVerfG-Entscheidung aufgreifend, hat der 2. Senat einen Verstoß gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren angenommen, wenn das Gericht die Beachtung eines bestimmten Strafhöchstmaßes angedeutet und dadurch einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat, dann aber ohne vorhergehenden Hinweis abweichend entscheidet. I m konkreten Fall hatte der Vorsitzende den Angeklagten zunächst gefragt, „woran es denn noch hänge?" und „ob er sich mit dem Staatsanwalt geeinigt h ä t t e ? " . 1 2 7 9 A u f Nachfrage des Verteidigers bestätigte der Vorsitzende, dass das Gericht nach Übung der Kammer nicht über den Antrag der StA hinausgehen werde, was es dann aber doch t a t . 1 2 8 0 Von einer vertrauenserweckenden Prognose darf das Gericht nach Auffassung des 2. Senats aber nur nach vorherigem Hinweis abw e i c h e n . 1 2 8 1 Die Schaffung eines solchen Vertrauenstatbestandes sei nicht prozessordnungswidrig. 1 2 8 2 In einer späteren Entscheidung hat derselbe Senat diese Sichtweise bestätigt. Eine endgültige Bindung sei aber nicht denkbar. 1 2 8 3 Die Schaffung eines solchen Vertrauenstatbestandes kann aber sowohl die Besorgnis der Befangenheit begründen als auch gegen Anwesenheitsrechte der Verüber die Entwicklung der Rechtsprechung von BVerfG und BGH finden sich bei Sinner, S. 1 8 7 - 2 0 7 ; Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1017 ff.; Kuckein/ Ρfister, BGH-FS, S. 642, 648 ff. 1275 Küpper/Bode Jura 99, 351, 352; Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1013 - Man könne durchaus von einem revolutionären Umbruch sprechen. 1276 HK-Krehl, Vor §§ 151 ff. StPO Rn 12; FA Stxzirecht-Satzger,

S. 1113, 1124.

1277 Landau I Eschelbach, weisen daraufhin, dass erfolgreiche Absprachen nie nachträglich beanstandet werden, NJW 99, 321, 323. 1278 FA Strafrecht-taizg^ S. 1113, 1124. 1279 Siehe dazu die Anmerkung von Hassemer JuS 89, 890 ff. 1280 BGHSt 36, 210, 211 f. 1281 BGHSt 36, 210, 212. 1282 So der 5. Senat - Gegen das Prinzip des fairen Verfahrens wird nicht verstoßen, BGHSt 42, 46, 47. 1283 BGHSt 38, 102, 105. Dies verstoße auch nicht gegen das Gebot des fairen Verfahrens. Dass diese These zutreffend ist, weist Satzger, JuS 2000, 1157, 1161, nach. Bei Auftreten neuer Umstände verwirkliche sich das sog. „Restrisiko, das der Angeklagte auf Grund seiner besseren Einsicht bewusst übernommen habe, da nur er den wahren Sachverhalt vollumfänglich kennt und daher allein abschätzen kann, welcher Umstände das Gericht noch nicht gewahr wurde.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

fahrensbeteiligten verstoßen, die nicht in die Verständigungsgespräche eingebunden worden sind. Dies ist nach Auffassung des 3. Senates der Fall, wenn die Zusage eine vorzeitige Festlegung des Richters zum Ausdruck b r i n g t 1 2 8 4 oder Verfahrensbeteiligte nicht über etwaige Zusagen informiert wurden, so dass ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt i s t 1 2 8 5 . Der 5. Senat hält eine Anhörung allerdings nur dann für notwendig, wenn ein hervorgehobener besonderer Vertrauenstatbestand geschaffen w u r d e . 1 2 8 6 Der Bruch von Einstellungszusagen nach § 154 StPO ist dem 3. und 5. Senat zufolge bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. 1 2 8 7 Insgesamt steht der 3. Senat verfahrensbeendenden Absprachen am kritischsten gegenüber, was sich in den strengen Anforderungen widerspiegelt 1 2 8 8 , die der Senat an die Zulässigkeit einer Absprache stellt. Demnach seien alle Absprachen über die Höhe der Strafe sowie alle Zusagen bezüglich der Strafzumessung unzul ä s s i g . 1 2 8 9 Anwesenheits- und Mitwirkungsrechte aller Verfahrensbeteiligten dürfen nicht umgangen werden. Gleiches gelte für die Grundsätze der Unmittelbarkeit, Öffentlichkeit und M ü n d l i c h k e i t . 1 2 9 0 Auch der 2. Senat trat Versuchen entgegen, die Bemessung der Strafe auf Vorgänge außerhalb der Hauptverhandlung zu verlagern und durch feste Vereinbarungen abzusichern. 1 2 9 1 Der 1. Senat steht Verständigungen außerhalb der Hauptverhandlung ebenfalls ablehnend gegenüber. 1 2 9 2 Diese präjudizieren das Urteil n i c h t . 1 2 9 3 Großzügiger verfährt der 5. Senat, der eine Kontaktaufnahme außerhalb der Hauptverhandlung bei Beachtung des Fairnessge-

1284 BGHSt 37, 99,105. Gem. § 24 I I StPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn der Ablehnende bei vernünftiger Würdigung aller Umstände begründeten Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. Ein derartiger Anlass ist bei vorbehaltloser, endgültiger Festlegung auch nach Ansicht des 2. Senats gegeben, BGH StV 2000, 177. 1285 BGHSt 37, 99, 104; 37, 298, 304; auch der 2. Senat sah in BGHSt 38, 102, 104 den Rechtsfehler darin, dass die Staatsanwaltschaft weder angehört noch unterrichtet wurde und deshalb die Entscheidung nicht beeinflussen konnte. 1286 BGHSt 42, 46, 49. 1287 BGHSt 42, 191, 193 (5. Senat); BGHSt 37, 10, 13 (3. Senat) - Ein Verfahrenshindernis werde nicht begründet. Das Rechtsstaatsprinzip sei kein Prinzip i m strengen Sinne, sondern enthalte mit dem Anspruch auf ein faires Verfahren und der Rechtssicherheit zwei Abwägungsposten. 1288 Diese äußerst strengen Anforderungen wurden in der Praxis als „heilsamer Schock" empfunden, so Böttcher/Dahsl Widmaier NStZ 93, 375. Die Lähmung, die durch dieses Urteil, das als generelle Absage an die Absprachenpraxis verstanden wurde, eintrat, löste sich erst wieder durch BGHSt 43, 195. Es bleibe aber abzuwarten, ob der 3. Senat die Regeln des 4. Senats übernimmt, so Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1028. 1289 BGHSt 37, 298, 304. 1290 BGHSt 37, 298, 304. 1291 BGH StV 96, 129. 1292 BGH NStZ 94, 196. 1293 BGH NStZ 94, 196.

E. Unzulässige Absprache

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bots sogar für „wünschenswert" h ä l t . 1 2 9 4 Für eine solche Förderung des Verfahrens außerhalb der Hauptverhandlung gelte § 169 G V G gerade n i c h t . 1 2 9 5 Dabei führt der 5. Senat den Begriff des Rechtsgesprächs neu e i n . 1 2 9 6 Schließlich sollen Verfahrensfehler auch geheilt werden k ö n n e n . 1 2 9 7 Auch der 1. Senat erkennt an, dass eine missverständliche Äußerung des Gerichts als Verfahrensfehler durch Ausräumung geheilt werden kann. Darin sei kein Verstoß gegen den fair trial-Grundsatz zu sehen. 1 2 9 8 Der 4. Senat des BGH hat in seinem Grundsatzurteil BGHSt 43, 195 nicht nur erneut festgestellt, dass Absprachen nicht generell untersagt s e i e n 1 2 9 9 , sondern er hat auch deren Zulässigkeit - gesetzesvertretend 1300 und weit über BVerfG NJW 87, 2661 hinaus - negativ konkretisiert. Das strafprozessuale Institut der Absprache wird damit durch einen heterogenen Katalog richterrechtlicher Verfahrensregeln weit gehend konturiert und weiter verfestigt 1 3 0 1 , wobei sich auch der 4. Senat am fair trial-Grundsatz orientiert, mit den Ausprägungen, die dieser in den Verfahrensgrundsätzen des Strafprozessrechts gefunden h a t 1 3 0 2 : Das Gericht bleibe demnach der Wahrheitsfindung verpflichtet. Der Amtsermittlungsgrundsatz, § 244 I I StPO, werde nicht zur Disposition gestellt. 1 3 0 3 Sich aufdrängende Beweiserhebungen müssen durchgeführt w e r d e n . 1 3 0 4 Eine Absprache über den Schuldspruch sei nie zulässig. 1 3 0 5 Das Gericht entscheide stets nach seiner Überzeugung, die es aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung, § 261 StPO, schöpft. Es dürfe auch keine bestimmte Strafe zugesagt werden. Allenfalls die Benennung einer Obergrenze komme in Betracht, wobei auch diese schuldangemessen i. S. d. §§ 46 ff. StGB sein m ü s s e . 1 3 0 6 Beweiswürdigung und Strafzumes1294 BGHSt 42, 46, 48; Der 5. Senat steht dem Deal sehr aufgeschlossen gegenüber, FA Strafrecht-Satzger, S. 1113, 1126. 1295 BGHSt 42, 46, 47.

1296 BGHSt 42, 46, 47 - Gemeint ist damit z. B. eine Prognose über die bei einem Geständnis zu erwartende Strafmilderung. Eine Absprache i m technischen Sinn liegt nur vor, wenn ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde. 1297 BGH 5 StR 107/96 - Beschluss ν. 03. 07. 96. 1298 BGH NStZ 97, 561; Die Entscheidung verdeutlicht, welche Risiken der Angeklagte eingeht, wenn er sich auf Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung einlässt, und veranschaulicht, wer letztlich am „längeren Hebel" sitzt: das Gericht! 1299 BGHSt 43, 193, 202. Jähnke bezeichnet das Urteil als Orientierungshilfe, einen Versuch eine Praxis in den Griff zu bekommen, die sich neben dem Gesetz entwickelt hat, Jähnke ZRP 2001, 574, 575. 1300 Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1016 f. - Der BGH habe damit eine Aufgabe in die Hand genommen, die eigentlich dem Gesetzgeber obliegt. 1301 Zu diesem Schluss kommt Sinner, S. 204, 205. 1302 BGHSt 43, 195,203. 1303 BGHSt 43, 195,204. 1304 Dieser Aspekt erlangt insbesondere bei den sog. schlanken Geständnissen Bedeutung. 1305 BGHSt 43, 195,204. 1306 BGHSt 43, 195, 207, 208, 209.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

sung dürften nicht vorweggenommen und ausgehandelt werden. Die Entscheidungsfreiheit des Gerichtes sei zu sichern. Zudem könne auch das Versprechen, auf ein späteres Rechtsmittel zu verzichten, kein Bestandteil einer Absprache s e i n . 1 3 0 7 Ein Rechtsmittelverzicht sei frühestens nach Verkündung des Urteils möglich. Zur Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes, § 169 GVG, dürfen Verständigungsgespräche nur in der Hauptverhandlung stattfinden 1 3 0 8 , wobei die Freiheit der Willensentschließung des Angeklagten zu gewährleisten und § 136a StPO zu beachten s e i 1 3 0 9 . Vorgespräche blieben jedoch m ö g l i c h . 1 3 1 0 Der Inhalt dieser Gespräche müsse allerdings in die Hauptverhandlung eingeführt und protokolliert werden. Steht eine Absprache mit den genannten Grundsätzen nicht in Einklang, so sei diese unzulässig. Ansonsten führe der fair trial-Grundsatz zu einer QuasiBindung des Gerichts, soweit nicht neue, bisher unbekannte schwerwiegende Umstände auftreten. 1 3 1 1 In diesem Fall bestehe aber gegenüber dem Angeklagten eine Pflicht i. S. d. § 265 StPO zum Hinweis auf den Wegfall dieser Bindung. Der fair trial-Grundsatz ist auch nach der Rechtsprechung des 4. Senats der einzige Gesichtspunkt, unter dem der Absprache als Vertrauenstatbestand eine gewisse rechtliche Relevanz z u k o m m t . 1 3 1 2 A u f Vertrauensschutz soll sich der Angeklagte allerdings nur berufen dürfen, wenn die Zusage, vor allem die Festlegung einer Strafobergrenze, protokolliert worden i s t . 1 3 1 3 In einer weiteren Entscheidung

1307 BGHSt 43, 195,204. 1308 BGHSt 43, 195,205. 1309 BGHSt und/oder der erfasst, wenn BVerfG NJW

43, 195, 204. Die bloße Belehrung oder ein Hinweis bezüglich der Beweislage strafmildernden Wirkung des Geständnisses werden von § 136 a StPO nicht sich dafür i m Stande der Hauptverhandlung eine sachliche Grundlage findet, 87, 2662, 2663.

1310 Dies birgt evident Missbrauchsgefahr. Zuzugeben ist dem 4. Senat jedoch, dass bereits vor seinem Grundsatzurteil das sog. Rechtsgespräch, in dessen Rahmen lediglich Wissenserklärungen des Gerichts erfolgen, als legitimes Mittel zur effektiven Verfahrensführung angesehen wurde. Auch gilt § 33 StPO nicht für Wissenserklärungen und Prognosen, BGHSt 42, 46, 49. Eingrenzend aber BGHSt 38, 104 f. - „Verletzung des rechtlichen Gehörs der StA"; A l l e Verfahrensbeteiligten müssen die Gelegenheit zur Äußerung gem. § 33 StPO zumindest dann erhalten, wenn der Richter eine Zusage gemacht hat und es daraufhin zu einer Z w i schenberatung gekommen ist. Die Einbeziehung aller Verfahrensbeteiligten verlangt auch der 4. Senat. 1311 BGHSt 43, 195,210. 1312 Sinner spricht von einer gewissen rechtlichen Verfestigung, welche die Absprache allenfalls unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens erfahre, S. 204. 1313 BGHSt 43, 195, 206; nun auch 3. Senat, BGH StV 2001, 555, 556. Der Angeklagte darf sich also nicht auf das Verhalten des Vorsitzenden verlassen, sondern muss ggf. durch Anrufung eine Entscheidung des Gerichts gem. § 238 I I StPO und deren Protokollierung herbeiführen, BVerfG StV 2001, 3. I m entschiedenen Fall hatte die 2. Kammer des 2. Senats aus diesem Grunde die Annahmevoraussetzungen gem. § 93a I I BVerfGG verneint. Unterlässt der Angeklagte ein Vorgehen nach § 238 I I StPO, verstößt er gegen das Gebot der Rechtswegerschöpfung und genügt nicht dem Subsidiaritätsgrundsatz.

E. Unzulässige Absprache

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weist der 4. Senat darauf hin, dass eine Festlegung der Strafobergrenze auch nur unter dieser Bedingung revisibel i s t . 1 3 1 4 Der 4. Senat bemüht sich mithin, einen möglichst schonenden Ausgleich zwischen den abstrakten Prinzipien des Strafverfahrens und den konkreten Verfahrensweisen der Praxis herzustellen 1 3 1 5 , wobei der fair trial-Grundsatz als Orientierungspunkt dominant b l e i b t 1 3 1 6 . In Ermangelung gesetzlicher Regeln erscheint der Bereich verfahrensbeendender Absprachen auf den ersten Blick auch als ein geradezu idealer Anwendungsbereich für den fair trial-Grundsatz als ungeschriebenes Rechtsprinzip 1 3 1 7 , zumal der entscheidende Vorteil des fair trial-Grundsatzes auf Grund seiner Normstruktur gerade in der Offenheit gegenüber zukünftigen Tendenzen und dem Wandel der rechtlichen und sozialen Wertvorstellungen der Gesellschaft gesehen w i r d . 1 3 1 8 Gleichwohl gelangt der fair trial-Grundsatz auf Rechtsanwendungsebene nur dann unmittelbar zur Anwendung, wenn es einen Mindestbestand an Rechten, die rechtsstaatlich unverzichtbar sind, zu sichern g i l t . 1 3 1 9 Insofern stellt auch BGHSt 43, 195 nur Mindestbedingungen a u f . 1 3 2 0 Werden diese unterschritten, ist die Absprache unzulässig.

2. Zwischenergebnis Durch die Ausrichtung an den Leitlinien, die der 4. Senat in BGHSt 43, 195 entwickelt hat, ist eine hinreichend präzise Bestimmung des Begriffs der unzulässigen Absprache möglich. Daran anknüpfend kann nunmehr mit dem zweiten Schritt der 1314 BGH StV 99, 408 - Es handelte sich um ein obiter dictum, da die Zusage an eine Bedingung geknüpft war, die der Angeklagte nicht erfüllte. 13 15 Volk, § 30 Rn 5; Kühne bemüht Adorno und spricht von den rechtsstaatlichen und strafprozessualen minima moralia, Rn 750. Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1016, weist indessen darauf hin, dass die Absprachen außerhalb der Prozessordnung liegen und diese daher nichts über die Legitimität der Absprache aussagen kann (Absprachen wären insofern kein minus gegenüber dem streng kontradiktorischen Strafverfahren, sondern ein aliud.). Roxin, Rechtsprechung, S. 66, 99, hatte schon 1990 prophezeit, dass das Absprachenproblem alle strafprozessualen Grundprinzipien auf die Probe stellen wird.

1316 Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1022, 1023 - Dies sei eine gute Wahl, weil das Rechtsstaatsprinzip einen breiten Spielraum für die Aufstellung der angemessen erscheinenden Regeln lässt. 1317 Kritisch SK/StPO-Schlüchter, Vor § 213 Rn 29; Hamm StV 2001, 81, 82 f.; zu Normstruktur und Wirkungsweise des fair trial-Grundsatzes siehe oben C.I.3., 4. 1318 Zutreffend Marczak, S. 206, 208. 1319 Vgl. oben C.I.3.b). 1320 Diese Sichtweise teilend BGH StV 2001, 555, 556 (3. Senat). Die Urteile der verschiedenen Senate scheinen sich relativ stimmig um diese Entscheidung zu gruppieren, Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1029; Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645; Böttcher, FS Meyer-Goßner, S. 49, 57 - „weit gehend akzeptiert".

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Untersuchung dieser Fallgruppe begonnen werden, nämlich der Beantwortung der Frage, wie sich die Beteiligung an einer unzulässigen Absprache auf die Entscheidungsautonomie des Angeklagten beim Rechtsmittelverzicht auswirkt. Dies wird i m Folgenden zu überprüfen sein, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich auf der Grundlage von BGHSt 43, 195 zwei Fehlerkategorien bilden lassen: inhaltliche Fehler und Verfahrensfehler. A n dieser Differenzierung orientiert sich das weitere Vorgehen, um den Unterschieden dieser Fehlerkategorien hinsichtlich ihrer Entstehung und Folgen Rechnung zu tragen. Es ist daher zunächst zu prüfen, wie sich eine auf Grund inhaltlicher Mängel unzulässige Absprache auf die Entscheidungsfreiheit des Angeklagten auswirkt. I m Anschluss sind die Auswirkungen einer verfahrensfehlerhaften Absprache zu klären, wobei das Problem der „Vorabzusage" im Vordergrund stehen w i r d . 1 3 2 1

II. Inhaltliche Fehler 1. Erscheinungsformen und ihre Auswirkungen auf den Willen des Erklärenden Die Rechtsprechungsanalyse hat ergeben, dass eine Absprache nicht jeden beliebigen Inhalt haben kann. Als inhaltliche Fehler kommen primär die Verständigung über den Schuldspruch und die Zusage eines bestimmten Strafmaßes in Betracht. Angesichts der restriktiven Haltung des 3. Senats bleibt aber trotz BGHSt 43, 195 fraglich, ob die Strafzumessung überhaupt zum Gegenstand einer Absprache gemacht werden darf. Diesen Aspekt hat der 3. Senat zumindest teilweise in einer Entscheidung aus dem Jahre 2001 angesprochen, die einen besonders kuriosen Fall einer inhaltlich fehlerhaften Absprache zum Gegenstand h a t t e 1 3 2 2 : Teil der Absprache war die Anwendung von Jugendstrafrecht auf das Verfahren. Der Angeklagte war zur Tatzeit Heranwachsender. Der 3. Senat nutzte diese Gelegenheit, um die Schranken aus BGHSt 43,195 ff. aufzugreifen und speziell für das Jugendstrafverfahren zu konkretisieren. Dahinter steht wohl der Wille, Absprachen zumindest aus dem Jugendstrafverfahren zu verbannen. 1 3 2 3 So dürfen zwingend vorgeschriebene Rechtsfolgen nach Auffassung des 3. Senats nicht zum Gegenstand einer Absprache gemacht werd e n . 1 3 2 4 § 105 JGG enthalte aber zwingendes Recht. Auch sei es trotz des erhebli-

1321 Eine Divergenz zwischen den Senaten des BGH bestehe auch nur i m Falle der Beurteilung dieses besonderen verfahrensrechtlichen Mangels und seiner Auswirkungen auf den späteren Verzicht, Weider StV 2000, 539, 541.

ι322

BGH StV 2001, 555; vgl. dazu die Anmerkung von Noak StV 2002, 445 ff.

1323 Geppert, JK 01, JGG, § 1 0 5 / 1 . 1324 BGH StV 2001, 555, 556.

E. Unzulässige Absprache

289

chen Beurteilungsspielraums nicht ersichtlich, wie sich die Abgabe eines Geständnisses auf die Tatbestandsvoraussetzungen des § 105 JGG auswirken k ö n n t e . 1 3 2 5 Ein inhaltlicher Fehler ist auch das in Aussicht Stellen einer milderen Strafe für die Vornahme eines Rechtsmittel Verzichts. 1 3 2 6 Der Rechtsmittel verzieht ist kein Strafzumessungsfaktor. 1 3 2 7 Der Umstand, dass ein Angeklagter auf Rechtsmittel verzichtet, ist unter keinem Aspekt eine legitime Strafbarkeitserwägung. 1 3 2 8 Das Verhalten des Angeklagten i m Strafverfahren kann allenfalls dann Einfluss auf die Strafzumessung haben, wenn es Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit z u l ä s s t . 1 3 2 9 Dieser inhaltliche Mangel ist nicht zu verwechseln mit der Vorabzusage als Verfahrensfehler. 1 3 3 0 Keiner Absprache zugänglich sind auch Maßregeln der Besserung und Sicherung. Sie sind nicht d i s p o n i b e l 1 3 3 1 , da sie dem Sicherungsbedürfnis der Gemeinschaft und deren Verpflichtung zur Resozialisierung besserungsfähiger Täter dienen. Des Weiteren sind Zusicherungen ausgeschlossen, deren Erfüllung rechtswidrig oder kompetenzwidrig w ä r e . 1 3 3 2 Letzteres gilt für alle Zusagen des Tatgerichts hinsichtlich einer bestimmten Gestaltung des Strafvollzugs und der Strafvollstrec k u n g . 1 3 3 3 Von den vielfältigen Erscheinungsformen derartiger unzulässiger Zusagen seien vor allem die Zusage der sofortigen Ladung in den offenen V o l l z u g 1 3 3 4 , 1325 BGH StV 2001, 555, 556. Des Weiteren zweifelt der 3. Senat unter Hinweis auf § 18 I I JGG an, ob angesichts des Erziehungscharakters des Jugendstrafrechts die Zusage einer Strafobergrenze rechtlich zulässig ist. Insoweit sei die Situation nicht mit der des erwachsenen Straftäters zu vergleichen. 1326 BGHSt 43, 195, 204 f. - Der BGH spricht insofern von einer sach widrigen Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung. 1327 FA Stv&ivecht-Satzger, S. 1113, 1128. Die Zusage einer Strafmilderung i m Gegenzug für ein Geständnis ist aber zulässig. Nach neuerer Rspr. des BGH ist jedes Geständnis grundsätzlich geeignet, strafmildernde Bedeutung zu erlangen, grundlegend BGHSt 43, 195, 210. Damit sich zukünftig das rein taktisch bedingte Geständnis in den Katalog der strafzumessungsrelevanten Tatsachen einordnen lässt, wird die beabsichtigte Schaffung einer legislatorischen Grundlage für Absprachen auch in diesem Bereich für wünschenswert erachtet, vgl. Gräfin v. Galen/Wattenberg ZRP 2001, 445, 448. Gleichwohl sollte BGHSt 1, 105, 106 an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, wonach es unzulässig sei, den geständigen Verbrecher nur seines Geständnisses wegen schwächer und den leugnenden Verbrecher nur seines Leugnens wegen härter zu bestrafen, weil eine solche schematische Berücksichtigung von Geständnis und Leugnen i m Ergebnis als unzulässiger Druck auf den Angeklagten wirken können. Auch i m Schrifttum wird die neuere Rechtsprechung mit Hinweis auf die Unvereinbarkeit mit dem Erfordernis der doppelspurigen Indizkonstruktion kritisiert, vgl. Rönnau wistra 98, 49, 53 m. w. N.; WeigendNStZ 99, 57, 60 f.; ders. BGH-FG, S. 1011, 1041, 1042. 1328 Weigend StV 2000, 63, 64. Es handelt sich um eine sach widrige Verknüpfung. 1329 LK-Gribbohm, § 46 StGB Rn 193, 197. 1330 i n der Praxis dürften beide Mängel häufig kumulativ vorliegen. 1331 Kuckein IP fister, 1332 Kuckein IP fister,

BGH-FS, S. 642, 653. BGH-FS, S. 642, 654; Küpper/Bode

Jura 99, 351, 359.

1333 BGHSt 36, 210, 215. 1334 Nach Auffassung des BGH ist wohl sogar die Aufnahme einer Empfehlung für den offenen Vollzug in das Urteil unzulässig, BGH NW 91, 1692, 1694. 19 Meyer

290

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

des Verbleibs in der Haftanstalt, der Halbstrafenbewährung sowie der Halbstrafenabschiebung 1 3 3 5 e r w ä h n t . 1 3 3 6 I m Falle einer inhaltlich fehlerhaften Absprache wird also vor allem durch Zusagen der staatlichen Strafverfolgungsorgane auf den Angeklagten eingewirkt. Lässt sich der Angeklagte bei der späteren Verzichtserklärung bzw. bei dem vorangehenden Entscheidungsprozess vom (rein tatsächlichen) Vertrauen auf deren Zulässigkeit und Verbindlichkeit leiten, so unterliegt er einem Motivirrtum. Zu klären bleibt, wer für dessen Entstehung die Verantwortung trägt.

2. Verantwortung für die Entstehung des Motivirrtums Als Beurteilungsmaßstab, der eine Verantwortungsverteilung ermöglichen könnte, drängt sich hier auf den ersten Blick § 136a StPO auf, der zum Schutz der Willensfreiheit des Angeklagten auch i m Rahmen einer Absprache unbeschränkt gilt. Verspricht das Gericht nach dieser Maßgabe unzulässige Vorteile, und hat eine solche Absprache ein Geständnis zum Inhalt, ist dieses unverwertbar, vgl. § 136a I I I StPO. Den Rechtsmittelverzicht erfasst der Anwendungsbereich des § 136a StPO hingegen n i c h t . 1 3 3 7 § 136a StPO regelt nach Wortlaut und Zweck ausschließlich Probleme des rechtsstaatlichen Beweisrechts 1 3 3 8 und ist weder direkt noch analog anwendbar 1 3 3 9 . Daraus folgt aber auch für den Rechtsmittelverzicht, der i m Rahmen einer inhaltlich unzulässigen Absprache erfolgte, nicht die Unbeachtlichkeit jeglicher staatlicher Einwirkung. Eine solche Sichtweise ginge nicht konform mit der Interpretation des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit durch das BVerfG. Nach Auffassung des BVerfG umfasst dieses Prinzip die Idee der Gerechtigkeit und die Pflicht des Staates, das Vertrauen der Bürger in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu 1335 BGH StV 2000, 542 hatte eine vermeintliche Zusage des Absehens von der weiteren Strafvollstreckung zum Halbstrafenzeitpunkt gem. § 465 a zum Gegenstand. Aus den dienstlichen Erklärungen von Vorsitzendem und Staatsanwalt ergab sich aber, dass keine derartige Zusage erfolgt war. 1336 Seier JZ 88, 683 ff.; vgl. auch Freigang gegen Geständnis, Niemöller StV 90, 34, 36 Empfehlungen in den Urteilsgründen zur alsbaldigen Übernahme in den offenen Vollzug oder der Entlassung zur Bewährung nach Halbstrafenverbüßung sind ein unzulässiger Eingriff in die Kompetenzen der Vollstreckungs- und Vollzugsorgane. 1337 Siehe ausführlich oben C . I . l . Davon unbeeindruckt hält Weider einen Rechtsmittelverzicht, der durch ein inhaltlich unzulässiges Versprechen seitens des Gerichts verursacht wurde, wegen Verstoßes gegen § 136a StPO für unwirksam, FS Lüderssen, S. 773, 779. Steinhögl schlägt indessen eine teleologische Extension des § 136a StPO vor. Danach soll der Rechtsmittelverzicht von § 136a StPO erfasst werden, weil dieser auf Grund seiner Einbeziehung in den Verständigungsprozess Bezug zur Sachverhaltsaufklärung erhalte. Die Verzichtsmöglichkeit diene nämlich als Einsatz für das Aushandeln der Tatsachenbasis, S. 38. 1338 LR-Hanack, § 136a Rn 14. 1339 BGHSt 17, 14, 17.

E. Unzulässige Absprache

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schützen. 1 3 4 0 Der BGH hat dementsprechend bereits mehrfach festgestellt, dass die Beurteilung der Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts zwar nach anderen Grundsätzen erfolgt als die Beurteilung der Zulässigkeit einer Absprache. Doch sei es nicht ausgeschlossen, dass ein Umstand, der zur Unzulässigkeit der Absprache führt, ausnahmsweise zugleich die Wirksamkeit des Verzichts berührt. 1 3 4 1 A u f der Grundlage der bisherigen Untersuchungsergebnisse erscheint die Lösung dieser Fallgruppe freilich unproblematisch. Die staatliche Einflussnahme auf den Angeklagten erfolgt i m Rahmen einer inhaltlich unzulässigen Absprache durch kompetenzwidrige oder rechtswidrige Zusagen. Eine solche Zusage enthält stets die konkludente Erklärung, dass das versprechende staatliche Organ rechtmäßig und im Rahmen seiner Kompetenz handelt, die Zusage also einhalten k a n n 1 3 4 2 , was kausal zu einem entsprechenden Vertrauenstatbestand beim Angeklagten führt, der zumindest mitursächlich für den späteren Rechtsmittel verzieht i s t 1 3 4 3 . Diese Art der Einflussnahme entspricht der objektiven Irreleitung durch staatliche Strafverfolgungsorgane 1 3 4 4 , die bereits zuvor ausführlich erörtert w u r d e . 1 3 4 5 Als Maßstab für die Verantwortungsverteilung wurde dort der fair trial-Grundsatz herangezogen, welcher in der genannten Konstellation der Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes diente. Der nachfolgenden Vornahme der konkreten Verantwortungs Verteilung für die Entstehung von Willensmängeln, die infolge der Beteiligung an einer inhaltlich unzulässigen Absprache entstanden sind, ist daher ebenfalls dieser Maßstab zu Grunde zu legen.

a) Vertrauensschutzgrundsatz

als Maßstab

Bei der Untersuchung der objektiven Irreleitung durch staatliche Strafverfolgungsorgane konnte nachgewiesen werden, dass ein solches Verhalten grundsätzlich einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand beim Angeklagten hervorruft und aufgrund dessen zu einer Verlagerung der Verantwortung für kausal verursachte

1340 BVerfG NJW 87, 2662, 2663. 1341 BGH NJW 97, 2691, 2692. Hinsichtlich der Auswirkungen einer inhaltlich fehlerhaften Absprache besteht Weider zufolge keine Divergenz zwischen den Senaten, vgl. StV 2000, 540, 542. 1342 Wird ein Rechtsmittel verzieht in Fällen kompetenzüberschreitender oder sonst rechtswidriger, über den konkreten Verfahrensgegenstand hinausgehender Zusagen erklärt, so beruht dieser auf einer Täuschung des Angeklagten und damit auf einer unzulässigen Willensbeeinträchtigung, so Weider StV 2000, 539, 542. 1343 Weider StV 2000, 540, 542. 1344 Weider sieht den Angeklagten sogar getäuscht: „Dass den Berufsjuristen die offensichtliche Rechtswidrigkeit kompetenzüberschreitender Zusagen bewusst ist, bedarf keiner Ausführungen", StV 2000, 540, 542. 1345 Vgl. oben C.I. 19*

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Willensmängel auf die handelnden staatlichen Organe f ü h r t . 1 3 4 6 Ein Rechtsmittelverzicht ist dann unwirksam. Angesichts der Tatsache, dass diese konkrete Art der Beeinflussung, die objektive Irreleitung, auch vorliegend gegeben ist, haben diese Ausführungen auch für fehlerhafte Zusagen i m Rahmen von Absprachen Geltung. Wird bei den Verständigungsgesprächen schutzwürdiges Vertrauen beim Angeklagten durch Gericht und StA hervorgerufen, so ist der spätere Rechtsmittelverzicht wegen eines ausnahmsweise beachtlichen Motivirrtums u n w i r k s a m . 1 3 4 7 Der Vertrauenstatbestand, der bei einer inhaltlich unzulässigen Absprache geschaffen wird, entfällt erst dann, wenn der inhaltliche Mangel offensichtlich i s t . 1 3 4 8 Angesichts der Ungeklärtheit von Inhalt, Verfahren und Grenzen der Absprache i m Strafverfahren wird dies aber regelmäßig nicht der Fall sein. Worüber Juristen streiten, das entbehrt der Erkennbarkeit für Laien! Auch ein Verweis auf die bestehende Beratungsmöglichkeit durch den Verteidiger, der bei Absprachen fast zwingend beteiligt ist und für aufklärende Beratung sorgen könnte, überzeugt n i c h t . 1 3 4 9 Können Wissen und Verschulden des Verteidigers dem Angeklagten schon grundsätzlich nicht zugerechnet w e r d e n 1 3 5 0 , kann dieser Befund bei Absprachen noch auf einen zusätzlichen Gesichtspunkt gestützt werden: den sog. „Schulterschluss" der professionellen Prozessbeteiligten 1 3 51 . Es ist gerade bei Absprachen zu befürchten, dass sich der Verteidiger nicht von den Interessen seines Mandanten leiten l ä s s t 1 3 5 2 , um seine „Reputation" gegenüber dem Gericht zu wahren und weiterhin als seriöser Partner für Absprachen in Frage zu k o m m e n . 1 3 5 3 M i t einer Aufklärung des Angeklagten über die inhaltliche Unzulässigkeit der Absprache, die zum Wegfall des Vertrauenstatbestandes führen würde, ist daher grundsätzlich nicht zu rechnen. Die Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes führt daher grundsätzlich zur Beachtlichkeit von Willensmängeln, die i m Rahmen einer inhaltlich unzulässigen Absprache entstanden sind.

1346 Vgl. oben C.I.5.c)(2). Jedes objektiv unrichtige Prozessverhalten ist unzulässig und begründet die Verantwortung des handelnden Strafverfolgungsorgans für daraus resultierende Willensmängel, LR-Hanack, § 302 Rn 52. 1347 Zu diesem Ergebnis kommt auch Weider, der darauf hinweist, dass in Fällen der Täuschung des Angeklagten durch Gericht oder StA schließlich Einigkeit über die Unwirksamkeit des Verzichts besteht, Weider StV 2000, 540, 542. 1348 Z u Begriff und Maßstab der Offensichtlichkeit siehe oben C.I.5.c)(2)(a).

1349 Kölbel, NStZ 2002, 74, 77, sieht bei regelwidrigen Absprachen besonderes Vertrauen nur selten strapaziert, da anwaltliche Beratung sicherstelle, dass er seine Gegenleistung nur bei korrektem Verlauf der Verständigung leistet. Die Schilderungen aus der Praxis bei Weider, Dealen, S. 164, 165, geben ein beredtes Beispiel vom Gegenteil. 1350 Vgl. oben C.I.5.c)(2). 1351 Dieser Begriff findet sich bei Schünemann NJW 89, 1895, 1901. 1352 So die Befürchtung von Schünemann NJW 89, 1895, 1901. 1353 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 650 f.

E. Unzulässige Absprache

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( 1 ) Begrenzung des Vertrauensschutzes durch die Zulässigkeit der Absprache Für dieses Ergebnis spricht auch, dass dem Aspekt des gegenseitigen Vertrauens gerade bei Absprachen eine überragende Bedeutung z u k o m m t . 1 3 5 4 Vertrauen schafft die wesentliche Basis für Absprachen. 1 3 5 5 Zugleich bringt es die Struktur der Absprache mit sich, dass der Angeklagte seine Vertrauensdispositionen regelmäßig erbracht hat, bevor die staatliche Gegenleistung erfolgt oder ein Scheitern der Absprache offenbar werden kann. Man spricht daher auch von einer Vorleistungspflicht des Angeklagten. Gericht und StA müssen dem Rechnung tragen, indem sie Transparenz schaffen und das Prozessrisiko des Angeklagten minimier e n . 1 3 5 6 Eine vorherige Absprache ruft nämlich ein besonderes Vertrauen hervor, das vor einer erheblichen Enttäuschung zu schützen i s t . 1 3 5 7 Doch wird die Auffassung vertreten, dass nur prozessual zulässige Absprachen einen Vertrauenstatbestand erzeugen w ü r d e n . 1 3 5 8 Bei Verstoß gegen Rechtsvorschriften sei der Angeklagte nicht schutzwürdig. 1 3 5 9 Ein erstaunlicher Befund, denn das Fairnessprinzip untersagt aus Gründen des Vertrauensschutzes gerade die Ankündigung von Vorteilen, auf deren Gewährung kein Einfluss besteht. 1 3 6 0 Die Konsequenz eines solchen Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens müssen vielmehr Korrekturmaßnahmen aus Gründen des Vertrauensschutzes s e i n . 1 3 6 1

(2) Protokollierung als Voraussetzung für die Entstehung einer Vertrauensgrundlage? Der BGH scheint für Zusagen i m Rahmen einer Absprache sogar noch eine weitere Zulässigkeitsvoraussetzung aufgestellt zu haben. Bezüglich der Zusage einer

•354 Gallandi M D R 87, 801 ff. 1355 Kölbel bezeichnet Vertrauen als wesentliche FunktionsVoraussetzung des gesamten Absprachensystems, NStZ 2002, 74, 76. •356 Steiner, S. 174. •357 Schünemann JZ 89, 984, 986. Bei Nichteinhaltung der Absprache sei die Vorhersehbarkeit des strafprozessualen Verfahrens nicht länger sichergestellt, Marczak, S. 134. •358 Marczak, S. 135; Schünemann JZ 89, 984, 988; Strate NStZ 89, 439, 440 - Unzulässige Zusicherungen des Vorsitzenden begründen keine Vertrauenstatbestände. Beim Verteidiger wurde kein schutzwürdiges Vertrauen hervorgerufen; ähnlich Grünst, S. 321. •359 Kremer, S. 148, 149. •360 Landau D R i Z 95, 132, 138. Nicht verständlich ist daher, warum Marczak, S. 135, den allgemeinen Vertrauensschutzgedanken bei gegenseitigen Verständigungen für nicht anwendbar hält. •361 So ausdrücklich Landau D R i Z 95, 132, 138 - Allerdings müssten sich diese Korrekturmaßnahmen ihrerseits i m Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Rechtspflegeorgans halten. Auch SK/StPO-Schlüchter, Vor § 213 Rn 52, ist der Auffassung, dass von Amts wegen ausgelöste enttäuschte Erwartungen zu kompensieren sind.

294

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Strafobergrenze - als rechtlich zulässiger Zusage - hält der BGH eine Berufung auf den Vertrauensschutzgrundsatz nur dann für zulässig, wenn die Zusage protokolliert worden i s t . 1 3 6 2 Der 4. Senat weist darauf hin, dass nur unter dieser Bedingung Revisibilität gegeben s e i . 1 3 6 3 Damit macht der BGH die Schutzwürdigkeit des Vertrauens von der Protokollierung abhängig. 1 3 6 4 Konsequenterweise muss diese Protokollpflicht dann aber für alle Zusagen i m Rahmen einer Absprache gelten. Da das Gericht die Protokollierung einer fehlerhaften Zusage tunlichst vermeiden wird, entfiele der Vertrauensschutz stets mangels tauglicher Vertrauensgrundlage. M i t einer solchen Interpretation der Protokollpflicht würde der BGH allerdings missverstanden. Zwar verwendet der BGH in seinen Ausführungen den Terminus „Vertrauenstatbestand", doch meint er damit nicht den Vertrauensschutz im verfassungsrechtlichen Sinn, der im Rahmen dieser Untersuchung angewandt w u r d e . 1 3 6 5 Die Ausführungen des BGH befassen sich mit der Bindungswirkung der Absprache bzw. der einzelnen Zusagen und den diesbezüglichen Wirksamkeitsvoraussetzungen. Während nach früherer Auffassung des BGH auch von einer prozessual zulässigen Absprache nach vorherigem Hinweis abgewichen werden d u r f t e 1 3 6 6 , scheint der BGH nunmehr von einer rechtlichen Bindungswirkung auszugehen. Rechtliche Zulässigkeit und Protokollierung sind insofern als Voraussetzungen zu verstehen, damit eine Zusage aus sich heraus Bindungswirkung entfalten k a n n . 1 3 6 7 A n den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz werden keine weiteren absprachespezifischen Voraussetzungen gestellt. 1 3 6 8 Dieser Befund bestätigt im Übrigen auch die Richtigkeit der Auffassung des BGH, der rechtlich zulässigen Absprache nunmehr Bindungswirkung zuzumess e n . 1 3 6 9 Eine Hinweispflicht für den Fall eines Abweichens ist keine taugliche A l 1362 BGHSt 43, 195, 206; StV 2001, 555, 556. Die Niederschrift entfaltet dann positive wie negative Beweiskraft, Meyer-Goßner StraFo 2001, 73, 76. '363 B G H StV 99, 408 - Es handelte sich um ein obiter dictum, da die Zusage an eine Bedingung geknüpft war, die der Angeklagte nicht erfüllte. 1364 Kuckein ! Pf ister, BGH-FS, S. 642, 660. 1365 Vgl. oben C.I.5.a). 1366 Vgl. BGH JR 84, 171, 172. 1367 Vgl. BGHSt 45, 227, 228 - Die positive und negative Beweiskraft des Protokolls gelte nur insoweit, als es um die Verbindlichkeit der Absprache geht. Damit wird dem Unterschied zwischen rechtmäßiger und rechtswidriger Absprache rechtliche Relevanz verschafft, Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1033. 1368 Die Verbindlichkeit rechtmäßiger Zusagen darf mit dem Vertrauensschutzgedanken nicht in Zusammenhang gebracht werden, Ossenbühl D Ö V 72, 25, 29. 1369 BGHSt 43, 195, 210; 45, 227, 228; anders noch BGHSt 38, 102, 105; 42, 46, 49. Der Zusage kommt somit Anspruchscharakter zu; so auch Kölbel NStZ 2002, 74, 75. Damit kreiere der BGH ein neuartiges Institut, S. 77. Das kann man auch anders sehen, denn wenn der BGH in BGHSt 43, 195 ff. die Grenzen der rechtlichen Zulässigkeit absteckt, dann ist ein Handeln innerhalb dieses Rahmens aus sich selbst heraus rechtlich verbindlich und gerade nicht nur rein faktisch; jegliche rechtliche Bindungswirkung ablehnend FA Strafrecht-

E. Unzulässige Absprache

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ternative, auf die der BGH wahlweise zugreifen k ö n n t e . 1 3 7 0 Der Hinweis hat eine nicht vergleichbare Funktion. In den bisher benannten Fällen einer Hinweispflicht infolge des Abweichens von einer Z u s a g e 1 3 7 1 bestand eine Bindung an diese Zusage bereits aus anderen Gründen nicht m e h r . 1 3 7 2 Der Hinweis dient als Ausdruck der gerichtlichen Fürsorgepflicht lediglich dazu, ein weiteres faktisches Vertrauen und weitere vertrauensbedingte Dispositionen zu verhindern. Die Bindungswirkung einer Zusage beseitigt der Hinweis nicht. Ist aber eine - nicht vorläufige Zusage inhaltlich rechtmäßig und formell ordnungsgemäß zustande gekommen, dann darf das Gericht nicht mehr von ihr abweichen, falls sich die Rechts- und Sachlage nicht nachträglich ändert. 1 3 7 3 Lediglich i m Anschluss an eine solche Änderung hat ein Hinweis zu erfolgen. Ein i m Belieben des Gerichts stehendes Abweichen von der Absprache mit begleitender Hinweispflicht kann es hingegen nicht geben. Man wird also zwei Aspekte auseinanderhalten müssen: Die Protokollpflicht ist keine Ausnahme zu dem Grundsatz, dass eine Zusage keiner Form bedarf, um als taugliche Vertrauensgrundlage i m Sinne des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes zu g e l t e n 1 3 7 4 . Ihre Erfüllung ist Voraussetzung der formellen Rechtmäßigkeit der Zusage. Ist eine Zusage rechtmäßig, also rechtlich zulässig und formgerecht entsprechend den Anforderungen des BGH, dann trägt sie den Charakter der Verbindlichkeit in sich selbst, so dass es einer Heranziehung des aus dem Rechtsstaatsgedankens abgeleiteten Vertrauensschutzgrundsatzes nicht b e d a r f . 1 3 7 5 Die Unzulässigkeit einer Zusage - z. B. bei fehlender Protokollierung - führt nur dazu, dass diese aus sich selbst heraus keine Bindungswirkung entfalten kann. Den verSatzger, S. 1113, 1132; allgemein zum Meinungsstand Ioakimidis, S. 108 ff.; für die Schaffung eines einvernehmlichen Verfahrens mit Bindungswirkung für alle Verfahrensbeteiligten plädiert Wagner, FS Gössel, S. 585, 602. 1370 Dies suggerieren aber die Ausführungen von Kölbel NStZ 2002, 74, 76, 77. 1371 Siehe ausführlich oben C.I.5.c)(3)(a). 1372 Vgl. nun aber Weider NStZ 2002, 174 ff. 1373 Das Auftreten schwerwiegender neuer Umstände, wie vom BGH gefordert, BGHSt 43, 195, 210; 45, 227, 228, ist hingegen nicht erforderlich. Der Grundsatz clausula rebus sie stantibus greift bei jeder nicht unwesentlichen Änderung. Die clausula rebus sie stantibus ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz und keine Sanktionierung des unredlichen Verschweigens von Tatsachen durch den Angeklagten. Insofern ist es auch missverständlich, von einem Widerrufs vorbehält zu sprechen, so aber Kölbel NStZ 2002, 74, 75, 78. Die clausula rebus sie stantibus lässt die Zusage bereits bei objektiver Änderung der Sach- und Rechtslage gegenstandslos werden. M i t einem Widerruf, der stets an eine Willensänderung anknüpft, hat dies nichts zu tun, wenn das Gericht auf die veränderten tatsächlichen Umstände hinweist. I m Übrigen soll der Bestand der Zusage j a gerade nicht mehr vom Willen des zusagenden Gerichts abhängen. Die clausula rebus sie stantibus ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz und keine Sanktionierung des unredlichen Verschweigens von Tatsachen durch den Angeklagten. 1374 BVerwGE 26, 31, 35. 1375 So ausdrücklich für rechtmäßige Zusagen i m Verwaltungsrecht Ossenbühl D Ö V 72, 25, 28.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

fassungsrechtlichen Vertrauensschutz lässt die Unzulässigkeit nicht entfallen. 1 3 7 6 Vielmehr kommt dieser gerade bei Unzulässigkeit der Zusage als subsidiäre Grundlage einer Bindungswirkung zum Zuge. Die fehlende Protokollierung der Absprache steht der Gewährung von Vertrauensschutz daher nicht entgegen, sondern wäre insofern lediglich als eine weitere mögliche Ursache für die Unzulässigkeit einer verfahrensbeendenden Absprache zu berücksichtigen, die den Vertrauenstatbestand nur bei Offensichtlichkeit entfallen ließe. Da das Formerfordernis der Protokollierung dem „normalen" Angeklagten aber unbekannt ist, darf dieser grundsätzlich auch auf eine formlose Zusage oder Auskunft vertrauen. Ein abweichendes Ergebnis würde i m Übrigen zu einer Ungleichbehandlung von Zusagen und Auskünften führen, abhängend davon, ob sie i m Zuge einer verfahrensbeendenden Absprache erfolgten, denn außerhalb einer Absprache bedürfen Zusagen und Auskünfte nicht der Protokollierung.

(3) Zwischenergebnis Es bleibt dabei: Das Vertrauen des Angeklagten ist auch bei rechtswidrigen und kompetenzwidrigen Zusagen im Rahmen einer verfahrensbeendenden Absprache bis zur Offensichtlichkeitsgrenze schutzwürdig. Dieses Ergebnis scheint allerdings in direktem Gegensatz zu der Rechtsprechung des BGH zum Vertrauensschutz bei fehlerhaften Zusagen i m Rahmen verfahrensbeendender Absprachen zu stehen. Der BGH hat bereits mehrfach festgestellt, dass in Fällen bestimmter fehlerhafter Zusagen jedenfalls kein schutzwürdiges Vertrauen bestehe. 1 3 7 7 Ist das Vertrauen aber nicht schützenswert, dann trägt der Angeklagte nach Auffassung des BGH für einen aus der Zusage resultierenden Willensmangel bei der Verzichtserklärung die prozessuale Verantwortung. Der Rechtsmittelverzicht ist wirksam. Dies widerspricht auf den ersten Blick dem zuvor auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungsergebnisse ermittelten Befund, dass der Rechtsmittelverzicht bei objektiver Irreleitung auch im Rahmen einer Absprache regelmäßig unwirksam ist. Zwingend ist die Annahme eines solchen Widerspruchs jedoch nicht. Denn sowohl das Untersuchungsergebnis als auch die Rechtsprechung des BGH basieren letztlich auf dem Aspekt des Vertrauensschutzes als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips. Der fair trial-Grundsatz als entscheidender Maßstab für die Verantwortungsverteilung wird inhaltlich durch den rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgrundsatz aber nicht nur ausgestaltet, sondern zugleich begrenzt. 1 3 7 8 Die Gren-

1376

Unzutreffend insofern auch die Auffassung von Gerlach, demzufolge jeder Rechtswidrigkeitsgrund dazu führt, dass kein Vertrauenstatbestand entsteht, vgl. S. 184. 1 3 7 7 BGHSt 36, 210, 215; StV 2000, 539. • 3 7 8 Vgl. oben.

E. Unzulässige Absprache

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zen, die sich unmittelbar aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes ergeben, gelten für die gesamte Fallgruppe der „objektiven Irreleitung durch staatliche Strafverfolgungsbehörden", zu deren Unterfällen auch rechtswidrige oder kompetenzwidrige Zusagen und Auskünfte i m Rahmen einer Absprache z ä h l e n . 1 3 7 9 Die Anwendung des Vertrauensschutzgrundsatzes auf diese Fälle ermöglicht also eine Abgrenzung der Verantwortungsbereiche bezüglich vorliegender Willensmäng e l . 1 3 8 0 Ein Widerspruch zwischen der Rechtsprechung des BGH und der grundsätzlichen Behandlung dieser Unterfälle läge deshalb nicht vor, wenn die genannten Z?G//-Entscheidungen auf der Grundlage des konkreten Geschehens i m Einzelfall diese Verantwortungsbereiche und die Grenze des Vertrauensschutzes für den Angeklagten präzisieren. Dann träfe auch die Feststellung des BGH zu, dass das Vertrauen des Angeklagten - jedenfalls i m konkreten Fall - nicht schutzwürdig i s t . 1 3 8 1 Der Verantwortungsbereich des Angeklagten wäre eröffnet und der Rechtsmittelverzicht wirksam. Zwischen der grundsätzlichen Behandlung der Fallgruppe „objektive Irreleitung durch staatliche Strafverfolgungsbehörden' 4 und den vom BGH entschiedenen Konstellationen könnte somit ein Regel-AusnahmeVerhältnis bestehen. U m dies zu überprüfen, erfolgt zunächst eine Schilderung der bisher vom BGH entschiedenen Fälle zu dieser Problematik. I m Anschluss ist diese Rechtsprechung darauf zu überprüfen, ob sie den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzgrundsatzes 1382 gerecht wird.

b) Die Rechtsprechung des B G H zum Vertrauensschutz bei fehlerhaften Zusagen im Rahmen verfahrensbeendender Absprachen In BGHSt 36, 210 führt der 2. Senat aus, dass „schutzwürdige Erwartungen allerdings nicht durch Zusicherungen begründet werden, deren Erfüllung (wie etwa eine bestimmte Gestaltung des Strafvollzugs) außerhalb der Kompetenz des Tatgerichts läge oder (wie etwa die Unterschreitung einer für das Delikt zwingend vorgeschriebenen Mindeststrafe) offensichtlich rechtswidrig wäre. A u f Kompetenzüberschreitung oder evidenten Rechtsverstoß darf selbst bei entsprechender Zusicherung niemand vertrauen. Werden solche Erwartungen dennoch geweckt oder gehegt, so verdienen sie jedenfalls keinen rechtlichen S c h u t z " . 1 3 8 3 Eine derartige Zusage war in dem entschiedenen Fall nicht erfolgt. Der Vorsitzende hatte dem Verteidiger zugesichert, das Urteil werde i m Strafmaß nicht über den Antrag der StA hinausgehen und gegen den fair trial-Grundsatz verstoßen, weil er ohne vorhe-

1379 Vgl. oben C.I.5.c)(2)(a). 1380 siehe oben C.I.5.c)(3)(b). 1381 BGH StV 2000, 539, 540. 1382 Vgl. dazu ausführlich C.I.5.c). 1383 BGHSt 36, 210, 215, 216.

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ri gen Hinweis von dieser Zusicherung abgewichen i s t . 1 3 8 4 Die obige Aussage ist mithin als bloßes obiter dictum in die Entscheidung eingefügt. In einem Beschluss aus dem Jahre 2000 knüpft der 1. Senat in den Entscheidungsgründen an dieses obiter dictum an: „Eine Urteilsabsprache, welche die Erledigung einer selbstständigen prozessualen Tat, die nicht Gegenstand des Verfahrens ist, mit umfasst, begründet wegen der offensichtlichen Rechtswidrigkeit einer solchen Absprache für die spätere Verfolgung einer davon erfassten selbstständigen prozessualen Tat kein Verfahrenshindernis. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit schließt es auch aus, daran anknüpfende Erwartungen der Verfahrensbeteiligten als schutzwürdig zu erachten" 1 3 8 5 . Der Angeklagte war vom L G Augsburg unter Einbeziehung eines früheren Urteils des L G München I wegen Betruges verurteilt worden. Die Revision des Angeklagten machte geltend, dass dem tatgerichtlichen Verfahren vor dem L G Augsburg ein Verfahrenshindernis eigener Art entgegenstünde. Der einbezogenen Verurteilung durch das L G München I hätte eine Absprache zu Grunde gelegen. M i t der Entscheidung des L G München I sollten neben den verfahrensgegenständlichen auch alle sonstigen bis dahin begangenen Straftaten des Angeklagten i m Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Unternehmensberater abgegolten sein. Den Betrug zum Nachteil P, der Gegenstand der Verurteilung durch das L G Augsburg war, hatte der Angeklagte jedoch bereits vor der Verurteilung durch das L G München I begangen. Diese selbstständige prozessuale Tat war aber in jenem Verfahren nicht mitangeklagt. 1 3 8 6 Der Angeklagte war der Auffassung, dass mit der Verurteilung durch das L G München I eine Gesamtbewertung der strafrechtlich relevanten unternehmensberaterischen Tätigkeiten erfolgt und der Betrug zum Nachteil P. in der Absprache enthalten sei. Der BGH stellt dazu fest, dass ein solches Verfahrenshindernis eigener Art schon an der offensichtlichen Rechtswidrigkeit der Absprache scheitert. 1 3 8 7 Diese schließe es aus, an die Absprache anknüpfende Erwartungen als schutzwürdig zu erachten. Für eine derartige Gesamtbewertung gab es unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt eine tragfähige Grundlage, denn die Tat zum Nachteil P. war den Strafverfolgungsbehörden zum Zeitpunkt der Verurteilung durch das L G München I noch nicht bek a n n t . 1 3 8 8 Die Nichtverfolgung selbstständiger strafprozessualer Taten, die nicht •384 BGHSt 36, 210, 216. 1385 BGH StV 2000, 539. 1386 Vgl. BGH StV 2000, 539, 540. 1387 BGH StV 2000, 539, 540. 1388 Diese bedeutende Information fehlt leider in dem i m StV abgedruckten Leitsatz. Es ist nämlich keineswegs rechtswidrig, wenn eine Nichtverfolgungszusage gem. § 154 StPO i m Rahmen einer Absprache zugesagt wird, soweit die Tat schon bekannt ist. Der Tatbestand dieser Einstellungsnorm setzt i m Übrigen voraus, dass es sich um eine selbstständige strafprozessuale Tat handelt. Die Zusage der StA, eine bestimmte Tat nicht zu verfolgen, wenn der Beschuldigte sein Rechtsmittel unter Hinnahme einer empfindlichen Strafe in einer anderen Sache zurücknimmt, begründet kein Verfahrenshindemis; sie ist allerdings, wenn diese Tat unter Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens trotzdem angeklagt wird, ein wesentlicher Strafmilderungsgrund, BGHSt 37, 10. Der Angeklagte war wegen Lohnsteuer-

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bekannt, deshalb nicht bestimmbar und daher auch nicht in ihrem Gewicht und Schuldgehalt einschätzbar sind, kann - nicht zuletzt i m Hinblick auf das Legalitätsprinzip - nicht zugesagt w e r d e n . 1 3 8 9 Der 3. Senat hatte zuvor einen Rechtsmittel verzieht für unwirksam erklärt, dem eine unzuständiger Weise erklärte und alsbald nach der Urteilsverkündung nicht eingehaltene Zusage (zum Strafvollzug) zu Grunde l a g . 1 3 9 0 Zu dem möglichen Widerspruch gegenüber BGHSt 36, 210, 215 nahm der 3. Senat nicht Stellung, da „weitere Umstände hinzukämen, die zu einer schutzwürdigen Vertrauensbildung beim Angeklagten f ü h r e n " . 1 3 9 1 So unterbrach der Vorsitzende sogar die Hauptverhandlung, um ein Telefongespräch mit dem Leiter der Justizvollzugsanstalt führen zu können. Der 3. Senat merkt dazu an, dass weder das Gericht noch dessen Vorsitzender, auch nicht nach Rücksprache mit einem Leiter einer Justizvollzugsanstalt, Erklärungen oder Empfehlungen zum Strafvollzug oder zur Strafvollstreckung abzugeben h ä t t e n . 1 3 9 2 Des Weiteren wurden durch den Vorsitzenden Einzelgespräche außerhalb der Hauptverhandlung geführt, verknüpft mit der Aufforderung, „sich Gedanken darüber zu machen, ob ein Verzicht erklärt werden k ö n n t e " . 1 3 9 3 Durch diese Kumulation ist die ursprüngliche Aussage, dass der Rechtsmittelverzicht auf Grund der Verbindung mit einer kompetenzwidrigen Erklärung zur Strafvollstreckung unwirksam ist, nicht allein tragend. Aus diesem Grunde bedurfte es keiner Stellungnahme zu BGHSt 36, 210, 215. Dieser Umstand wird jedoch bei der Darstellung der Entscheidung in einigen Veröffentlichungen nicht hinreichend g e w ü r d i g t . 1 3 9 4 Es besteht mithin kein unmittelbarer Widerspruch zwischen den Senaten; auch nicht zur neueren Entscheidung des 1. Senats.

hinterziehung in den Jahren 1978 bis 1982 verurteilt worden, obwohl er von der StA die Zusage hatte, deswegen nicht weiter verfolgt zu werden, BGHSt 37, 10, 11. Gegen den Angeklagten wurde lediglich ein Strafbefehl wegen Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen erlassen. Hinsichtlich der Lohnsteuerhinterziehung hatte die StA eine Einstellung gem. § 154 I StPO verfügt. Den zunächst eingelegten Einspruch nahm der Angeklagte zurück, nachdem i h m vom sachbearbeitenden Staatsanwalt die Zusage erteilt wurde, dass die Lohnsteuerhinterziehung nicht weiter verfolgt würde. Der Nachfolger des Sachbearbeiters hielt sich jedoch nicht an die Zusage und brachte die Tat zur Anklage, BGHSt 37, 10, 11. Die Zusage des zuständigen Staatanwalts, eine bestimmte Tat nicht weiter zu verfolgen, ruft beim betroffenen Bürger Vertrauen hervor, das zu beachten ist. W i r d der Vertrauenstatbestand nicht eingehalten, sondern die Tat dennoch angeklagt, so wird gegen das Gebot des fairen Verfahrens verstoßen, BGHSt 37, 10, 14. Dies sei bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, so bereits BGHSt 32, 345, 355. Z u m Vertrauensschutz in Fällen des § 154 I StPO vgl. auch BGH NStZ 8 3 , 2 0 , 2 1 . 1389 BGH StV 2000, 539, 540. 1390 BGH NStZ 95, 556. 1391 BGH NStZ 95, 556. 1392 BGH NStZ 95, 556. 1393 BGH NStZ 95, 556, 557. 1394 Exemplarisch Bömeke, S. 131; Sinner, S. 199; Rönnau JR 2001, 29, 32.

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Zumindest die Rechtsprechung des 1. und 2. Senats steht aber i m Widerspruch zu der eingangs getroffenen Feststellung, dass die objektive Irreleitung grundsätzlich schutzwürdiges Vertrauen hervorruft und die Verantwortung des zusagenden staatlichen Organs zur Folge hat. Ob diese Rechtsprechung den Vorgaben des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes genügt, wird i m Folgenden zu prüfen sein.

(1) Überprüfung der Rechtsprechung auf der Grundlage des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzgedankens Die Vereinbarkeit der Rechtsprechung mit den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes, welche auch i m Strafprozess zu verwirklichen s i n d 1 3 9 5 , erscheint fraglich. Das obiter dictum des 2. Senats in BGHSt 36, 210, 215, dass „schutzwürdige Erwartungen allerdings nicht durch Zusicherungen begründet werden, deren Erfüllung außerhalb der Kompetenz des Tatgerichts läge oder offensichtlich rechtswidrig wäre, und auf Kompetenzüberschreitung oder evidenten Rechtsverstoß selbst bei entsprechender Zusicherung niemand vertrauen darf 4 , ist ersichtlich an § 44 V w V f G angelehnt. Konsequenz eines schwerwiegenden evidenten Mangels ist, wie bereits ausgeführt 1 3 9 6 , entweder der Fortfall des tatsächlichen Vertrauens oder der Schutzwürdigkeit. Insofern ist es folgerichtig, wenn der 2. Senat weiter ausführt, dass „derartige Erwartungen, sollten sie dennoch geweckt oder gehegt worden sein, jedenfalls keinen rechtlichen Schutz verdienen. 1 3 9 7 Der 2. Senat zieht die Maßstäbe des § 44 V w V f G jedoch nicht konsequent heran, denn während die Rechtswidrigkeit offensichtlich sein muss, soll dies für Zuständigkeitsmängel nicht gelten. Anders als in § 44 V w V f G soll die schlichte Kompetenzwidrigkeit den Vertrauensschutz entfallen lassen. Diese Ungleichbehandlung ist wenig überzeugend. Außerdem wird nicht deutlich, was der 2. Senat unter „Offensichtlichkeit" versteht. 1 3 9 8 Eine Konkretisierung dieses Kriteriums lässt sich aber der Entscheidung des 1. Senats entnehmen. In BGH StV 2000, 539 war die Rechtswidrigkeit nach Auffassung des BGH deshalb offensichtlich, weil sich unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt eine tragfähige Grundlage für die Zusage e r g a b . 1 3 9 9 Eine derartige Zusicherung sei schlechterdings ausgeschlossen. Zwar können neben den verfahrensgegenständlichen auch sonstige begangene Straftaten des Angeklagten Gegenstand einer Verständigung s e i n 1 4 0 0 , doch sollten mit der Verurteilung durch das L G München alle i m Zusammenhang mit der Tätigkeit des Angeklagten als Unternehmensbera1395 Siehe oben C.I.5.a), b). 1396 siehe oben C.I.5.b)(2). 1397 BGHSt 36, 210, 215, 216. 1398 Was aber nicht unverständlich ist, da es sich lediglich um ein obiter dictum handelte. 1399 BGH StV 2000, 539, 540. 1400 So bereits ausdrücklich BGH NStZ 91, 346, 347.

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ter begangenen Taten abgegolten sein, also auch die noch nicht bekannt geworden e n 1 4 0 1 . Eine Anwendung des § 154 StPO auf noch nicht bekannt gewordene Delikte entbehrt in der Tat jeder tragfähigen Grundlage. M i t dieser Feststellung ist hingegen nichts gewonnen, denn eine Offenkundigkeit des Fehlers i. S. d. § 44 V w V f G begründet der Umstand des Fehlens jeglicher rechtlicher Grundlage nicht zwingend. Die „Offensichtlichkeit", welche der 1. Senat konstatiert, ist Ergebnis einer rein objektiven rechtlichen Begutachtung. Für die Frage des Vertrauens Schutzes kommt es aber darauf an, dass dieser schwerwiegende Mangel auch für den Angeklagten evident w a r . 1 4 0 2 Zu dieser für den Vertrauensschutz maßgeblichen Frage fehlen Ausführungen in der Beschlussbegründung. Ist der Angeklagte aber, wie in BGH StV 2000, 539, bei den Verständigungsgesprächen anwesend, und verlangt er eine derartige „Generalbereinigung" als staatliche Gegenleistung für Geständnis und Rechtsmittelverzicht, dann muss er die Konsequenzen seines Wissensvorsprungs tragen, wenn er bei den Verständigungsgesprächen nicht über die nur ihm bekannten noch nicht entdeckten Straftaten aufk l ä r t . 1 4 0 3 Der Angeklagte kennt insofern die Umstände, die zur Rechtswidrigkeit der Zusage führen. Aus dieser Kenntnis muss dieser freilich auch i.S. einer Parallelwertung in der Laiensphäre die zutreffenden rechtlichen Schlüsse ziehen. Allerdings wird auch einem Laien, vorliegend war der Angeklagte ein Unternehmensberater, ersichtlich sein, dass der Staat sich nicht in rechtmäßiger Weise auf einen derartigen Ablasshandel einlassen kann. Die Offensichtlichkeit lässt das Vertrauen des Angeklagten entfallen. Sicherlich war auch Gericht und StA bewusst, dass noch unbekannte Straftaten i m Raum stehen, doch dürfen diese auf Grund des überlegenen Wissens des Angeklagten Aufklärung erwarten. Die Eigenverantwortlichkeit des Angeklagten entlastet insofern StA und Gericht von ihrem grob fahrlässigen Verhalten und mithin ihrer Verantwortung. Nur mit dieser Begründung kann der Entscheidung des 1. Senats i m Ergebnis gefolgt w e r d e n . 1 4 0 4 Bei der Behandlung der offensichtlich rechtswidrigen Zusage legt der BGH mithin nur auf den ersten Blick den richtigen - dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz entsprechenden - Maßstab an. Bei der Ausfüllung des Kriteriums „Offensichtlichkeit" orientiert sich der 1. Senat entgegen der Grundsätze des Vertrauensschutzes zu stark an den Rechtskenntnissen der professionellen Prozessbeteiligt e n . 1 4 0 5 Der Vertrauensschutz stellt aber als subjektive Seite der Rechtssicherheit •401 Vgl. BGH StV 2000, 539, 540. 1402 I m Interesse des Vertrauensschutzes des Bürgers müsse sich die Fehlerhaftigkeit dem verständigen Beobachter geradezu aufdrängen, Kopp / Ramsauer, V w V f G , § 44 Rn 12. •403 Satzger spricht vom „Restrisiko" des Angeklagten, das sich verwirklicht, wenn wegen später bekannt werdender Umstände von der Absprache abgewichen wird, JuS 2000, 1157,

1161. •404 So sieht es wohl auch Weider, der nur einem Teil der Begründung „vehement" widerspricht, dem Ergebnis aber grundsätzlich zuzustimmen scheint, vgl. Weider StV 2000, 540. '405 Der Grad des Verstoßes bei der Gesetzesanwendung sei für die Beurteilung des Vertrauensschutzes aber nicht maßgebend, Ossenbühl, Rücknahme, S. 29.

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auf den Adressaten der Vertrauensgrundlage ab: den Angeklagten. 1 4 0 6 Dieses sinnstiftende Element des Vertrauensschutzes findet keine hinreichende Berücksichtigung durch den BGH, denn der Angeklagte versteht weder die komplexe, schwierige Rechtsmaterie, noch kennt er die unterschiedlichen Entscheidungskompetenzen. 1 4 0 7 Die vom BGH angewandte Beurteilungsperspektive der Offensichtlichkeit birgt eine extreme Härte für den Angeklagten, besagt sie doch zunächst nichts anderes, als dass er umso weniger schutzwürdig ist, j e rechtswidriger die Berufsjuristen handeln. Der BGH stellt den professionellen Beteiligten praktisch einen Freibrief aus, sanktionslos Rechtswidriges zuzusagen. In diesem Sinne muss auch die Anmerkung Weiders zu BGH StV 2000, 539 verstanden werden, in der er den BGH scharf k r i t i s i e r t . 1 4 0 8 Der Angeklagte, der meist Rechtslaie ist, müsse den Berufsjuristen vertrauen können und dürfen, sonst ginge das rechtswidrige Verhalten der beteiligten Juristen einseitig zu Lasten des Angeklagten. Stellung und Autorität von Gericht und Staatsanwaltschaft schlössen es aus, dass der rechtsunkundige Angeklagte nicht auf Redlichkeit und Verbindlichkeit der Äußerungen vertrauen darf. Anderenfalls mache man ihn zum bloßen Objekt des Verfahrens, das je nach Inhalt der Zusage getäuscht werden k a n n . 1 4 0 9 Der Angeklagte genießt allerdings nur bis zu dem Grad Vertrauensschutz, ab dem die Rechtswidrigkeit / Kompetenzwidrigkeit auch für ihn persönlich evident w u r d e . 1 4 1 0 Diese Grenze war vorliegend überschritten. Die Auffassung Weiders, dass „nichts, aber auch gar nichts dafür ersichtlich ist, dass der rechtsunkundige Angeklagte auch nur den geringsten Zweifel hegen m u s s t e " 1 4 1 1 , kann nicht geteilt werden. Dem Angeklagten mussten angesichts seines überlegenen Tatsachenwissens sogar massive Zweifel kommen. Schließlich wirkte er selbst an der Unzulässigkeit der Absprache mit. Die Begründung des 1. Senats begegnet zudem unter einem weiteren Gesichtspunkt der Kritik. Die Begründung zielt ausschließlich darauf ab, eine Bindung an die Zusage - „kein Verfahrenshindernis eigener A r t " - zu verhindern. M i t dieser Beschränkung zieht der BGH den Schutzbereich des verfassungsrechtlichen Ver1406 Auch Ossenbühl, Rücknahme, S. 29, zufolge enthält der Begriff der Offensichtlichkeit ein subjektives Moment. 1407 Weider StV 2000, 540, 542. Hat der Angeklagte jedoch einen Verteidiger, kann er dennoch regelmäßig keine Hilfe erwarten, hat der Verteidiger doch meist selbst auf die Zusage hingewirkt; vgl. auch Gatzweiler StraFo 2001, 187, 190. Gatzweiler kritisiert vor allem jene Verteidiger, denen die Harmonie mit StA und Gericht wichtiger sind als die Wahrnehmung der Interessen des Angeklagten. mos Weider StV 2000, 540 - Zwar sei das Urteil eine Ohrfeige für die juristischen Beteiligten, doch hätten diese keine Nachteile. 1409 Weider StV 2000, 539, 541. 1410 Siehe oben C.I.5.c)(2)(a). 1411 Weider StV 2000, 540, 541. Bereits auf S. 540 behauptet Weider, dass der Angeklagte die „offensichtliche Rechtswidrigkeit" weder erkennen noch erahnen konnte.

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trauensschutzes zu eng - eine Folge der Orientierung an § 44 V w V f G , der ebenfalls nur die Abwendung der Bestandskraft sicherstellt. Sachgerechter wäre es, i m Rahmen der Interessenabwägung 1412 den Vorrang des Vertrauensinteresses lediglich in Bezug auf die Bindungswirkung zu verneinen, aber zumindest die Entbindung von den negativen Folgen der Vertrauensbetätigung als alternativer Rechtsfolge des Vertrauensschutzgrundsatzes zu ermöglichen. 1 4 1 3 Denn soweit für den Angeklagten keine Offensichtlichkeit vorliegt, ist sein Vertrauen in jedem Fall schutzwürdig. A u f der Grundlage der bisherigen Befunde hätte der 3. Senat seine Entscheidung BGH NStZ 95, 556 ausschließlich auf die Erklärungen des Gerichts zur Strafvollstreckung stützen können. Bereits diese Auskunft hätte Vertrauensschutz bewirkt und die Verantwortung des Gerichts für willensmangelhafte Dispositionen eröffnet. Dem Angeklagten war die fehlende Kompetenz jedenfalls nicht offensichtlich.

(2) Ergebnis Es bewahrheitet sich damit eine These, die Steiner in seiner Dissertation aufgestellt hat: Der BGH verzichte bei der Anwendung des fair trial-Grundsatzes auf rechtstheoretische Konkretisierung und begnüge sich mit Feststellungen i m Einzelf a l l . 1 4 1 4 Die - i m Ergebnis sicherlich richtige - Kasuistik lässt in der Tat kein dogmatisches Konzept erkennen. Der Angeklagte genießt bei rechtswidrigen / kompetenzwidrigen Zusagen oder Auskünften i m Rahmen einer verfahrensbeendenden Absprache bis zu dem Grad Vertrauensschutz, ab dem die Rechtswidrigkeit / Kompetenzwidrigkeit auch für ihn persönlich evident wurde. Bis zu diesem Punkt fällt der verursachte Willensmangel (Irrtum über rechtliche Zulässigkeit) auf Grund der Verletzung des fair trial-Grundsatzes in den Verantwortungsbereich des zusagenden Strafverfolgungsorgans. Ein daraus resultierender Rechtsmittelverzicht wäre somit unwirksam.

3. Gedankliche Kontrolle des gefundenen Ergebnisses Dass dieses Ergebnis schlüssig ist, belegt auch folgendes Gedankenexperiment: Diesem liegt die typische Konstellation einer Absprache zu Grunde: konkrete Zusagen von staatlicher Seite gegen Geständnis und Rechtsmittelverzicht. 1 4 1 5 Für 1412 Zu Funktion und Inhalt der Interessenabwägung siehe oben C.I.5.b)(4). Der BGH müsste dafür allerdings die grundsätzliche Schutzwürdigkeit des Vertrauens bejahen, denn diese ist Bestandteil des Vertrauensschutztatbestandes und kein potenzielles Ergebnis der Interessenabwägung. 1413 Ähnlich Landau D R i Z 95, 132, 138. 1414 Steiner, S. 65. 1415 Niemöller SiV 90,34,35,36; FA Strafrecht-Safzge/; S. 1113,1117, spricht vom Prototyp.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

das Geständnis als Aussage gilt § 136a StPO unmittelbar. § 136a StPO untersagt das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils, wobei es i m Einzelnen streitig ist, ob man unter „Versprechen" die Abgabe einer bindenden Zusage zu verstehen hat, auf deren Einhaltung der Versprechensempfänger vertrauen d a r f 1 4 1 6 oder ob das in Aussicht Stellen r e i c h t 1 4 1 7 . Unzulässig ist das Versprechen, wenn der Vorteil entweder überhaupt nicht oder i m konkreten Fall rechtlich nicht gewährt werden darf. Aber selbst dann, wenn ein Vorteil gesetzlich vorgesehen ist, ist ein Versprechen unzulässig, soweit es nicht durch die dafür zuständigen Instanzen und innerhalb des ihnen gesetzlich eingeräumten Ermessens e r f o l g t . 1 4 1 8 Das Versprechen muss sich immer auf Vorteile beziehen, deren Gewährung in der Kompetenz des Versprechenden l i e g t . 1 4 1 9 Wird nun offensichtlich rechtswidrig oder kompetenzwidrig zugesagt, verstößt dies gegen § 136a S t P O . 1 4 2 0 Die Aussage wäre unverwertbar, § 136a I I I StPO. Eine rein rechtlich orientierte Offensichtlichkeitsgrenze, die das Verwertungsverbot - mithin den Schutz des § 136a StPO - entfallen ließe, kennt § 136a StPO nicht. Eine solche wird auch von niemandem - als immanente Grenze des schutzwürdigen Vertrauens - gefordert. Das Verwertungsverbot entfällt nach h. M . nur dann, wenn zwischen der Anwendung des unerlaubten Mittels und der Aussage kein ursächlicher Zusammenhang besteht. 1 4 2 1 Die Verwertung ist also nur dann zulässig, wenn eine Willensbeeinflussung nicht vorliegt, z. B. wenn der Beschuldigte/Angeklagte die Täuschung erkannt h a t . 1 4 2 2 Führt das Versprechen eines für Juristen offensichtlich rechtswidrigen oder kompetenzwidrigen Vorteils aber nicht nur kausal zu einer Aussage (Geständnis), sondern auch kausal zur Erklärung eines Rechtsmittelverzichts nach Verurteilung, wie es regelmäßig bei Absprachen der Fall ist, so läge bezüglich der Aussage ein Verwertungsverbot vor, das grundsätzlich erfolgreich in der Revision gerügt werden kann. Dieses Verwertungsverbot könnte aber, folgte man der Auffassung des BGH, nicht in der Rechtsmittelinstanz geltend gemacht werden, weil der Verzicht trotz des unzulässigen Versprechens - genauer: gerade wegen des rechtlich offensichtlich unzulässigen Versprechens - wirksam ist. M i t h i n würde i m selben Moment, in dem das unverzichtbare Verwertungsverbot entsteht, dessen spätere Geltendmachung „präkludiert", da der Verstoß zugleich die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Zusageadressaten entfallen ließe: ein kaum hinnehmbares Ergebnis. Dem An1416 BGHSt 14, 189, 191; KK-Boujong,

§ 136a Rn 32; SK/StPO-Rogali, § 136a Rn 65.

1417 LR-Hanack, § 136 a Rn 50; Vorteil ist die Herbeiführung eines Zustandes, der vom Empfänger als günstig empfunden wird, Rn 51. 1418 LR-Hanack, § 136 a Rn 53. 1419 BGHSt 20, 268; KK-Boujong,

§ 136a Rn 30.

1420 So ausdrücklich für das Versprechen der direkten Ladung in den offenen Vollzug, Seier JZ 88, 683, 687 sowie FA Strafrecht-Satzger, S. 1113, 1127, für die Zusage der Unterschreitung der gesetzlich zwingenden Mindeststrafe oder einer bestimmten Gestaltung des Strafvollzugs i m Rahmen einer Absprache. 1421 LR-Hanack, § 136 a Rn 62; KK-Boujong,

§ 136 a Rn 38; K / M - G , § 136 a Rn 28.

1422 LR-Hanack, § 136 a Rn 62; Eisenberg, Rn 576.

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geklagten wäre die Kontrollmöglichkeit der Absprache abgeschnitten. Eine rechtlich offensichtlich unzulässige Zusage, die i m Beweisrecht die Verantwortlichkeit der Strafverfolgungsorgane begründet, soll im Rechtsmittelrecht die staatliche Verantwortung für den Willensmangel beim Verzicht entfallen lassen. M i t Hilfe des Gedankenexperiments lässt sich veranschaulichen, welche praktischen Auswirkungen die Rechtsprechung des BGH auf die Geltendmachung inhaltlicher Absprachemängel h a t . 1 4 2 3 Gerade für die schwerwiegendsten Mängel soll es keine Korrekturmöglichkeit in der Rechtsmittelinstanz geben!

4. Fazit zur Eigenständigkeit dieser Fallgruppe Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Fallgruppe inhaltlich fehlerhafter Absprachen kein eigenständiger Charakter zukommt. Sie ist Bestandteil der Fallgruppe „objektive Irreleitung durch Strafverfolgungsorgane". Entsteht ein Willensmangel infolge einer inhaltlich unzulässigen Absprache, so kann die Verantwortungsverteilung mithin auf der Grundlage der allgemeinen Maßstäbe erfolgen, die für diese Fallgruppe entwickelt w u r d e n . 1 4 2 4 Einer Sonderlösung für Absprachen bedarf es nicht. Entscheidend ist allein die Art der Einflussnahme auf die Entscheidungsfreiheit des Angeklagten. Dass diese vorliegend i m Rahmen einer Absprache erfolgt, ist ergebnisirrelevant. Ob dies auch für die zweite Fehlerkategorie, die Verfahrensfehler, gilt, ist nunmehr aufzuklären. Dabei ist zunächst zu prüfen, welche Verfahrensfehler überhaupt geeignet sind, Auswirkungen auf den Entscheidungsprozess zu zeitigen.

I I I . Verfahrensfehler Der im Hinblick auf den Rechtsmittelverzicht praktisch wohl einzig relevante, aber umso bedeutsamere Verfahrensfehler ist der im laufenden Verfahren im Voraus vereinbarte Rechtsmittelverzicht: die sog. Vorabzusage. 1 4 2 5 Führt man sich 1423 Und nur um die praktischen Auswirkungen geht es, denn der BGH hat schon früh darauf hingewiesen, dass der Einsatz verbotener Vernehmungsmethoden i. S. d. § 136a StPO zwar die Unverwertbarkeit der durch sie verursachten Aussage zur Folge hat, die Gültigkeit eines durch sie veranlassten Rechtsmittelverzichts dagegen unberührt lässt, wie umgekehrt das Verwertungsverbot des § 136a I I I StPO nur für Aussagen gilt, die ein Staatsorgan mit unerlaubten Mitteln herbeigeführt hat, während die Gültigkeit eines Rechtsmittelverzichts auch durch die Beeinflussung seitens Dritter in Frage gestellt sein kann, BGHSt 17, 14, 18.

1424 Siehe oben C.I.5. •425 Umfassend zum vereinbarten Rechtsmittel verzieht Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645 ff. Rieß erörtert über die Probleme im Zusammenhang mit der Vorabzusage hinaus auch die Fälle eines Rechtsmittelverzichts in Bezug auf ein bereits erlassenes Urteil, der entweder selbstständig (S. 646 f.) oder in Zusammenhang mit einer Urteilsabsprache vereinbart wird, 20 Meyer

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

die Erscheinungsformen der Absprachen in der Rechtswirklichkeit des deutschen Strafverfahrens vor A u g e n 1 4 2 6 , scheint die Bandbreite der Mängel genauso groß zu sein, wie der denkbare Verständigungsinhalt facettenreich. 1 4 2 7 Fast immer wird freilich verabredet, dass auf Rechtsmittel verzichtet wird, um die Absprache in Rechtskraft erwachsen zu lassen 1 4 2 8 und gegen obergerichtliche Kontrolle abzusic h e r n . 1 4 2 9 Es wird also „Letztinstanzlichkeit 4 ' vereinbart. 1 4 3 0 Vor allem für die Strafverfolgungsorgane ist der Rechtsmittelverzicht aus Gründen der Ersparnis von Kosten und Aufwand selbstverständlicher Inhalt einer Absprache. 1 4 3 1 Ohne die Erklärung einer sog. Vorabzusage i m Rahmen der Verständigungsgespräche kommt es daher regelmäßig gar nicht zu deren erfolgreichem Abschluss. 1 4 3 2 Dies dokumentiert die wesentliche Funktion, die dem Rechtsmittelverzicht i m Zusammenhang mit Urteilsabsprachen z u k o m m t . 1 4 3 3 In seinem Grundsatzurteil BGHSl 43, 195 brachte der 4. Senat hingegen unmissverständlich zum Ausdruck, dass ein Rechtsmittelverzicht im laufenden Verfahren nicht i m Voraus vereinbart werden kann und damit als Bestandteil einer Absprache ausscheide. 1 4 3 4 Der Angeklagte dürfe sich nicht in Unkenntnis der gerichtlichen die ein anderes laufendes Verfahren betrifft (S. 648 f.). In den beiden letztgenannten Konstellationen hält Rieß die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts auf Grund der Dispositionsfreiheit der Rechtsmittelberechtigten grundsätzlich für zulässig. Dem kann nur zugestimmt werden. 1426 Ein eindrucksvolles wie erschreckendes Beispiel findet sich bei Weider, Dealen, S. 164, 165. 1427

Z u den möglichen Abspracheinhalten gegliedert nach Verfahrensstadien ausführlich und instruktiv FA Strafrecht-tozgé^ S. 1113, 1116 f. 1428 Dass der Rechtsmittelverzicht wesentlicher Bestandteil einer Absprache ist, bestätigt eine Vielzahl von Arbeiten, u. a. Rönnau, Absprache, S. 49; Gerlach, S. 36 ff., Janke, S. 48 ff.; dies sei „gang und gäbe", Eschelbach JA 99, 694, 700 f.; Herrmann JuS 99, 1162, 1164; zuletzt Wagner, FS Gössel, S. 585, 600. 1429 Rönnau wistra 98, 49, 52. Dies führe für den BGH zu einer wesentlichen Erschwerung der Aufgabe, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern, Kuckein i Pf ister, BGH-FS, S. 642, 625. 1430 Satzger JuS 2000, 1157, 1158. 14 31 Sinner, S. 194 - Vor diesem Hintergrund erkläre sich auch, warum die Unzulässigkeit der Vorabzusage nicht die Wirksamkeit des Verzichts berühren darf (Hervorhebung nicht i m Original).

1432 Herrmann JuS 99, 1162, 1164; so geschehen zuletzt in BGH NStZ 2002, 219, 220. 1433 Satzger JuS 2000, 1157, 1158; Rieß spricht von Alltagspraxis, FS Meyer-Goßner, S. 645, 646. i « 4 Zustimmend OLG Stuttgart NJW 99, 375, 376; LR-Rieß, Einl. Abschn. G Rn 84, 86; KK-Pfeiffer, Einl. Rn 29 f.; K / M - G , Einl. Rn 119 f.; KK-Laußütte, Vor § 137 Rn 7; Weigend NStZ 99, 57, 60; Rönnau wistra 98, 49, 50; Satzger JuS 2000, 1157, 1160; ablehnend S. Braun, S. 80 f.; Schmitt G A 2001, 411, 424 f. Soweit die Vorabzusage der einzige Mangel ist, bleibt die Wirksamkeit der Absprache i m Übrigen unberührt, da anzunehmen ist, dass die Beteiligten die Absprache auch ohne die Vorabzusage getroffen hätten, Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 652. Dies ist letztlich nichts anderes als eine Umkehrung der zivilrechtlichen Vermutung des § 139 BGB.

E. Unzulässige Absprache

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Entscheidung seiner Kontrollmöglichkeit begeben. 1 4 3 5 Für eine solche Vereinbarung gibt es keine legitimierenden Sachgründe. Dies überzeugt, denn das Versprechen eines künftigen Rechtsmittelverzichts käme einem unzulässigen Vorausverzicht so nahe, dass es fast auf eine Umgehung hinausliefe. 1 4 3 6 Eine abweichende Auffassung vertritt neuerdings Weider 1437: Die Vorabzusage sei zulässig, weil der Angeklagte eine freie Willensentscheidung treffen könne. In der Praxis würden Punktstrafen ausgehandelt, so dass der Angeklagte den konkreten Schuld- und Rechtsfolgenausspruch bereits zum Zeitpunkt der Vorabzusage kennt. Zudem sei der Verzicht rechtlich nicht bindend und stünde unter dem Vorbehalt, dass das abgesprochene Urteil auch tatsächlich ergeht. 1 4 3 8 Unzulässig sei die Vorabzusage nur dann, wenn der Angeklagte bei den Verständigungsgesprächen in unzulässiger Weise unter Druck gesetzt wurde. Unbesehen der an späterer Stelle zu überprüfenden Frage, ob das Zustandekommen einer Vorabzusage nicht stets mit einer unzulässigen Einflussnahme verbunden i s t 1 4 3 9 , begegnet diese Auffassung einem ganz erheblichen anderen Einwand. Weider stützt seine Argumentation nämlich auf eine Verfahrensweise, die in eklatantem Widerspruch zu den Vorgaben des BGH s t e h t 1 4 4 0 , denn er versucht das Argument des BGH, eine Vorabzusage sei gerade deshalb unzulässig, weil der Angeklagte den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung zum Zeitpunkt ihrer Abgabe noch gar nicht kennt, damit zu entkräften, dass der Angeklagte den Inhalt des Urteils zu diesem Zeitpunkt doch schon kennt, weil in der Praxis regelmäßig Punktstrafen ausgehandelt w e r d e n . 1 4 4 1 Die Zulässigkeit der Vorabzusage, die innerhalb des vom BGH entwickelten Systems für verfahrensbeendende Absprachen aus den oben genannten Gründen nicht zulässig sein kann, wird also damit begründet, dass die gängige Praxis gegen §§ 260, 261 StPO verstößt. 1 4 4 2 I m Klartext bedeutet dies, dass ein Rechtsverstoß den anderen heilen soll! Ob das ein tauglicher Begründungsansatz ist, erscheint mehr als fraglich. Es bleibt dabei: Ein Rechtsmittelverzicht kann vor Urteilsverkündung weder erklärt noch zulässig vereinbart w e r d e n . 1 4 4 3 Unbeeindruckt von dieser Vorgabe, der in der Grundsatzentscheidung des BGH besonderer Ausdruck verliehen wurde, ist die gängige Praxis, den Verzichts im Voraus zu vereinbaren, jedoch fortgesetzt w o r d e n . 1 4 4 4 Hatte doch der 2. Senat bereits •435 BGHSt 43, 195,205. •436 So wörtlich Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 650. •437 Weider,

FS Lüderssen, S. 773, III

f.

1438 So auch Schmitt G A 2001, 411, 424. •439 Siehe unten E.III.3.a), b). Dabei gilt es dann auch, denn Begriff der unzulässigen Einwirkung zu konkretisieren. 1440 Vgl. Pfeiffer,

Einl. 16d.

1441 Siehe dazu auch Schünemann, FS Rieß, S. 525, 544 f.; Siolek, FS Rieß, S. 563, 569. •442 Siolek, FS Rieß, S. 563, 568 ff. •443 SK / StPO-Schlüchter, Vor § 213 Rn 52; Landau ! Eschelbach NJW 99, 321, 326; Pfeiffer, Einl. Rn 16e. *

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

in seinem Beschluss vom 20. 06. 1997, und damit zeitlich vor BGHSt 43, 195, festgestellt, dass die Unzulässigkeit einer Absprache nicht die Wirksamkeit eines absprachegemäß erklärten Rechtsmittel Verzichts b e r ü h r t . 1 4 4 5 Der 4. Senat hatte es seinerseits unterlassen, eine Anordnung bestimmter Rechtsfolgen für mögliche Verstöße gegen die aufgestellten Abspracheregeln zu t r e f f e n . 1 4 4 6 A u f Grund dieser Diskrepanz war absehbar, dass die Obergerichte sich erneut mit der Frage würden beschäftigen müssen, ob ein Rechtsmittelverzicht, der in Erfüllung der unzulässigen Vorabzusage erklärt wird, unwirksam ist. Tatsächlich befassen sich seit BGHSt 43, 195ff. mehrere Entscheidungen mit dem rechtlichen Schicksal der Verzichtserklärung. 1 4 4 7 Dabei ist zwischen den einzelnen BGHSenaten bislang ungeklärt, ob die unzulässige Vorabzusage den zu ihrer Erfüllung erklärten späteren Rechtsmittelverzicht unwirksam macht. U m einen Eindruck zu vermitteln, wie unterschiedlich die Auswirkungen der Vorabzusage auf den Rechtsmittelverzicht bewertet werden, ist zunächst die Rechtsprechung der verschiedenen Senate zu diesem Problemkreis darzustellen. A u f diese Weise soll zugleich veranschaulicht werden, wie stark die Senate ihre jeweilige Rechtsprechung an den Besonderheiten der Absprachesituation und des Einzelfalles ausrichten und damit wie bei der Behandlung inhaltlicher Absprachemängel das Fehlen einer fundierten Dogmatik zur Behandlung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht erneut offenbar werden lassen.

1. Die Rechtsprechung der einzelnen Senate a) Entscheidungen des 2. Strafsenats Der 2. Senat lehnt einen Automatismus zwischen unzulässiger Vorabzusage und Unwirksamkeit des Verzichts ab. Der Rechtsmittelverzicht erfolge zeitlich nachge-

1444 Die Vereinbarung eines Rechtsmittel Verzichts gehört immer noch zum Standardinhalt einer Absprache, Schünemann ZStW 114 (2002), 1, 54; diesen Eindruck hat auch Jähnke, ZRP 2001, 574, 575; ähnlich Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 649; Weider, FS Lüderssen, S. 773, 775 f. - „conditio sina qua non". 1445 BGH NJW 97, 2691. Der 2. Senat nimmt damit eine weit gehende Abstrahierung der Verzichtserklärung vom Schicksal der Absprache vor - aus Gründen der Rechtssicherheit, wie Satzger vermutet, JuS 2000, 1157, 1159. Rieß warnt vor einer Überinterpretation der Formulierungen. Man dürfe dem 2. Senat (und auch nicht dem 1.) unterstellen, mit der Verwendung des Terminus „absprachegemäß" zum Ausdruck bringen zu wollen, dass man die Vorabzusage als wirksam ansehe, weil nur dann von einem absprachegemäßen Verzicht gesprochen werden könne, FS Meyer-Goßner, S. 645, 650. Die Unzulässigkeit der Vorabzusage zweifeln 1. und 2. Senat nicht an.

1446 Auch Rönnau, JR 2001, 29, 31, weist darauf hin, dass die Sanktion für einen Verstoß gegen die Grundregeln offen blieb. i 4 4 ? U. a. BGHSt 45, 227; OLG München StV 2000, 188. Die Rechtsprechung des BGH wird später einer eingehenden Analyse unterzogen.

E. Unzulässige Absprache

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lagert und unabhängig von der Vorabzusage und sei daher grundsätzlich wirks a m . 1 4 4 8 Eine unzulässige Willensbeeinflussung beim Verzicht liege trotz unzulässiger Vorabzusage nicht v o r . 1 4 4 9 Etwas anderes gelte nur dann, wenn die Gründe, die der Zulässigkeit der Absprache entgegenstehen, zugleich zur rechtlichen Missbilligung des späteren Verzichts führen w ü r d e n . 1 4 5 0 Grundsätzlich bestünden hinsichtlich der Absprache und hinsichtlich des Verzichts unterschiedliche Beurteilungsmaßstäbe. 1451 Unter dieser Prämisse kommt es in der Tat nicht auf die Art und Weise des Zustandekommens des Verzichts - nämlich als Erfüllung einer Absprache - an. Mithin ist die Wirksamkeit des Verzichts nach Auffassung des 2. Senat die Regel und die Unwirksamkeit die Ausnahme. Allerdings hatte der 2. Senat bereits 1994 mehrere Prozesshandlungen, im speziellen bedingte Beweisanträge, wegen eines Missbrauchs prozessualer Mitwirkungs- und Gestaltungsbefugnisse für unzulässig und unwirksam gehalten. 1 4 5 2 Das in der Bedingung zum Ausdruck gebrachte Prozessziel stand im Widerspruch zu dem Beweisbegehren, da nur für den Fall, dass die Strafe ein bestimmtes Maß übersteigt, bewiesen werden sollte, dass der Angeklagte die Tat überhaupt nicht gegangen h a t . 1 4 5 3 Der Senat führt dazu aus, dass derartige Beweisanträge auf Grund der sachwidrigen Verknüpfung von Beweisbegehren und Bedingung unzulässig sind und allein dem Zweck dienen, eine Absprache über das Verfahrensergebnis herbeizuführen. 1 4 5 4 Ob dies allerdings auch für die Prozesshandlung des Rechtsmittelverzichts zu gelten hat und mithin ein Widerspruch in der Rechtsprechung des 2. Senates vorläge, muss dennoch bezweifelt werden. Zum einen sind Wesen und Wirkung von Beweisantrag und Rechtsmittelverzicht, obgleich beide Prozesshandlungen sind, zu verschieden, als dass man die Grundsätze von BGHSt 40, 287 übertragen könnte, denn während der Beweisantrag eine Erwirkungshandlung ist, handelt es sich bei dem Rechtsmittelverzicht um eine Bewirkungshandl u n g . 1 4 5 5 Zum anderen, und das dürfte entscheidend sein, liegt eine sachwidrige Verknüpfung nur zwischen der Vorabzusage - ebenfalls eine Prozesshandlung und dem ausgehandelten Urteilsinhalt vor. Dass aber die Vorabzusage aus diesem Grunde unzulässig ist, wird auch vom 2. Senat nicht bestritten. 1 4 5 6 In einer jüngeren Entscheidung aus dem Jahr 2001 bekräftigt der 2. Senat seine Auffassung. Die Beurteilung des Rechtsmittelverzichts unterliege anderen Maßstä'448 BGH NJW 97, 2691; BGH 2 StR 2 2 3 / 0 1 - Beschluss ν. 11. 06. 2001 ( L G Fulda); zustimmend Landau/Eschelbach NJW 99, 321, 326; KK-Laufhütte, Vor § 137 Rn 7. 1449 BGH NJW 97, 2691. 1450 BGH NJW 97, 2691, 2692. 1451 BGH NJW 97, 2691, 2692. 1452 BGHSt 40, 287, 290. 1453 BGHSt 40, 287; vgl. auch Sarstedt/Hamm,

Rn 601.

1454 BGHSt 40, 287, 289. 1455 Vgl. dazu LR-Rieß, Einl. Abschn. J Rn 11 ff. 1456 Zuletzt BGH 2 StR 3 6 9 / 0 0 - Urteil v. 23. 03. 2001 ( L G Gießen).

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

ben als die Absprache. 1 4 5 7 Dem Angeklagten müsse die Freiheit erhalten bleiben, einen Rechtsmittelverzicht auch dann wirksam erklären zu können, wenn der Verzicht zur Einlösung einer unzulässigen Absprache erfolgt. Ungeachtet einer Verletzung der für die Führung von Verhandlungsgesprächen aufgestellten Vorgaben könne der Angeklagte seine Interessen unbeeinflusst und sachgerecht wahrgenommen h a b e n . 1 4 5 8 Anderes könne nur gelten, wenn eine unzulässige Beeinflussung der freien Willensbildung (bei der Verzichtserklärung) v o r l i e g t . 1 4 5 9 In dieser Entscheidung geht der 2. Senat aber unter Nichtbeachtung der wohl überwiegenden Ansicht i m Schrifttum und der Auffassung des 4. Senats noch einen Schritt weiter: Für eine unzulässige Beeinflussung seien - trotz Vorabzusage - nicht einmal Anhaltspunkte e r s i c h t l i c h ! 1 4 6 0 Es lägen weder ein Dissens noch Täuschung oder unrichtige Auskunft seitens des Gerichts noch eine Verletzung der Verteidigungsinteressen v o r . 1 4 6 1 In einer kurz zuvor ergangenen Entscheidung hatte der 2. Senat lediglich deshalb nicht zu den Auswirkungen eines vereinbarten Rechtsmittelverzichts Stellung genommen, weil er bereits das Zustandekommen einer Absprache bei den Vorgesprächen außerhalb der Hauptverhandlung v e r n e i n t . 1 4 6 2 Folgendes war geschehen: A u f Initiative des Gerichts fand im Beratungszimmer ein Gespräch mit den Verteidigern und dem Staatsanwalt darüber statt, ob mit Geständnissen gerechnet werden kann und welche Strafen zu erwarten seien. I m Anschluss kam es zu einer längeren Diskussion und einem „regelrechten Feilschen" um die Strafhöhe, bei dem das Gericht eine vermittelnde Position einnahm. Nachdem sich das Gericht beraten hatte, teilte der Vorsitzende die i m Falle von Geständnissen zu erwartenden Strafen mit, und zwar punktgenau. Lediglich die Verteidigerin eines Angeklagten war nicht einverstanden. Dessen Revision war es dann auch, die dem BGH zur Entscheidung vorlag. Die übrigen Verteidiger billigten das Ergebnis und sagten Rechtsmittelverzicht z u . 1 4 6 3 In seinem Urteil stellt der 2. Senat dennoch fest, dass nicht nur für den Revisionsführer, sondern auch für die übrigen Mitangeklagten das Zustandekommen einer Absprache nicht nachgewiesen werden kann. Das Landgericht habe die Gespräche nicht als Verständigung über den Verfahrensausgang gewertet. Dies 1457 BGH StV 2001, 557. Aus diesem Grunde hatte die Strafkammer es dahinstehen lassen, ob der Verzicht tatsächlich Bestandteil einer verfahrensbeendenden Absprache war. 1458

BGH StV 2001, 557. In dieser relativierten Form ist die Aussage des Senats zutreffend. Er kann unbeeinflusst gehandelt haben. Fraglich ist aber, ob er dies i m konkreten Fall trotz der Vorabzusage auch getan hat. Es bleibt damit bei der Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses, welches eigentlich aus BGHSt 43, 195 folgt. Vorliegend wäre zu prüfen, ob die Freiheit des Willens nicht durch Täuschung beeinträchtigt ist, und zwar entweder durch Täuschung durch konkludentes Handeln oder Täuschung durch Unterlassen, wobei sich die Aufklärungs- bzw. Garantenpflicht wegen der unzulässigen Absprache aus Ingerenz ergibt. 1459 BGH StV 2001, 557. '460 BGH StV 2001, 557. 1461 BGH StV 2001, 557. 1462 BGH StV 2001, 554. 1463 BGH StV 2001, 554.

E. Unzulässige Absprache

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ergebe sich aus den dienstlichen Erklärungen. Schließlich habe man i m Anschluss an die Gespräche eine vierstündige Hauptverhandlung durchgeführt und Beweise erhoben. Es bestehe kein Anlass anzunehmen, die Beweisaufnahme habe nur der Form, nicht aber der eigentlichen Urteilsfindung gedient. Allerdings habe die nunmehr durchweg erfolgende Einräumung der Anklagevorwürfe die Verhandlung gegenüber dem ursprünglichen Terminplan sehr erleichtert. 1 4 6 4 Da die Hauptverhandlung auch keine neuen Aspekte ergab, sei es des Weiteren unbedenklich gewesen, dass die verhängten Strafen den i m Vorgespräch „prognostizierten" und von der StA auch beantragten Strafen tatsächlich entsprachen. 1 4 6 5 Auch der sofortige Rechtsmittelverzicht der Mitangeklagten lasse das Vorgehen des L G Gießen nicht bedenklich erscheinen. 1 4 6 6 A n einer vorherigen Vereinbarung des Verzichts i m Rahmen einer Absprache fehlte es jedenfalls in einer weiteren Entscheidung aus 2001, in welcher der 2. Senat mangels unzulässiger Willensbeeinflussung die Wirksamkeit des erklärten Rechtsmittelverzichts konstatierte. Gleichwohl fügte der Senat in einem obiter dictum hinzu, dass auch eine unzulässige Absprache über einen Verzicht nicht die Wirksamkeit eines daraufhin erklärten Verzichts berühre. 1 4 6 7 Von weitaus größerer Bedeutung sind indessen die folgenden Ausführungen des Senats in den tragenden Gründen. Dass die Beteiligten informell davon ausgegangen sein mögen, das Urteil solle auch rechtskräftig werden, ändere weder etwas am Fehlen einer Vorabzusage noch an der Wirksamkeit des später erklärten Verzichts. 1 4 6 8 Dieses gegenseitige informelle Einverständnis bezüglich des Eintritts der Rechtskraft wird i m Schrifttum auch als „Geschäftsgrundlage" der verfahrensbeendenden Absprache bezeichnet und als potenzieller „Nachfolger" der unzulässigen ausdrücklichen Vorabzusage gehandelt. 1 4 6 9 Bevor nun aber tatsächlich ein Wandel der Praxis stattgefunden und die Diskussion i m Schrifttum über Zulässigkeit und Auswirkungen einer solchen Geschäftsgrundlage richtig begonnen hat, stellt der 2. Senat apodiktisch fest, dass sich auch bei einem derart veränderten Procedere nichts an der Wirksamkeit des Verzichts ändern würde. 1464 BGH StV 2001, 554, 555. 1465 BGH StV 2001, 554, 555 - Da eine Absprache nicht zustande gekommen ist, erübrige sich auch die Protokollierung des Vorgesprächs. 1466 F ü r den 2. Senat erübrigte sich auf Grund dieser Argumentation eine Stellungnahme zu den Auswirkungen einer Vorabzusage auf die Wirksamkeit des späteren Verzichts: Honi soit qui mal y pense. 1467 BGH 2 StR 2 4 7 / 0 1 - Beschluss ν. 04. 07. 2001 ( L G Gießen). 1468 BGH 2 StR 2 4 7 / 0 1 - Beschluss ν. 04. 07. 2001 ( L G Gießen). 1469 Kühne, Rn 749; Rieß, FS-Meyer-Goßner, S. 645, 656, sieht in der Vereinbarung der Nichtanfechtung des künftigen Urteils eine mögliche Umgehungsstrategie, der angesichts der weitgehend anerkannten Unzulässigkeit der Vorabzusage künftig größere Bedeutung zukommen kann. Allerdings bestünde auch für eine solche Vereinbarung der Nichtanfechtung keine sachliche Legitimation. Es müssten daher dieselben Maßstäbe gelten wie für die unzulässige Verzichtsvereinbarung, S. 657. Sowohl bezüglich der „Geschäftsgrundlage" als auch der Nichtanfechtungsvereinbarung dürfte die Nachweisbarriere aber kaum zu überwinden sein, S. 655, 657.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel b) Entscheidungen des 1. Strafsenats

Der 1. Senat hat sich „den bereits zuvor vom 2. Senat in BGH NJW 97, 2691 festgelegten und vom 4. und 5. Senat nicht in Frage gestellten Grundsätzen zum Verhältnis von Absprache und Rechtsmittelverzicht 4 ' angeschlossen. 1470 Der 1. Senat bezeichnet die Entscheidung des 2. Senats nachfolgend als Grundsatzentscheid u n g . 1 4 7 1 Die Verletzung der für die Verhandlungsführung aufgestellten Vorgaben könne nur dann zur Unwirksamkeit eines abgesprochenen und tatsächlich erklärten Verzichts führen, wenn der Verfahrensmangel zu einer unzulässigen Willensbeeinflussung bei Abgabe der Verzichtserklärung geführt h a t . 1 4 7 2 Der 1. Senat betont, dass der Angeklagte ungeachtet solcher Mängel seine Interessen durchaus unbeeinflusst und sachgerecht wahrgenommen haben kann. Es sei kein Grund erkennbar, warum sämtliche Verfahrensmängel im Zusammenhang mit einer Absprache zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führen müssten. Entscheidend könne nur sein, ob eine unzulässige Beeinflussung der freien Willensbildung v o r l i e g t . 1 4 7 3 Eine solche war i m entschiedenen Fall aber nicht ersichtlich. Es kam auch zu keiner Zusage, deren Rechtsfolge gesetzlich nicht vorgesehen war oder deren Voraussetzungen nicht vorlagen. A u f die geringen Aussichten hinsichtlich einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde der Angeklagte durch das Gericht hingewiesen. 1 4 7 4 Die Zusage, die Unterbringung dennoch im Falle der Vorabzusage eines Rechtsmittelverzichts anzuordnen, sei weder als Täuschung, Drohung noch eine sonstige unzulässige Willensbeeinflussung zu bewerten. Der Angeklagte habe diese Maßnahme lediglich als „Chance" eingestuft. 1 4 7 5 Schließlich dürfe dem Angeklagten auch nicht das Recht genommen werden, vor Ablauf der Rechtsmittelfristen einen Verzicht zu erklären, etwa weil er mit dem gefundenen Ergebnis zufrieden ist oder weil er jedenfalls das Verfahren beendet sehen w i l l . 1 4 7 6 Diese Sichtweise behält der Senat auch in der nachfolgenden Entscheidung zu diesem Problemkreis b e i . 1 4 7 7 Der 1. Senat betont erneut, dass es allein auf das Vorliegen einer unzulässigen Willensbeeinflussung bei der Abgabe der Verzichtserklärung selbst ankomme. Jedoch könne auf Grund der dienstlichen Äußerungen von Vorsitzendem und StA schon nicht vom Vorliegen einer Absprache ausgegangen werden. Es wurden keine kompetenzüberschreitenden Vergünstigungen für den '470 BGH NStZ 2000, 386, 387. •471 BGH NStZ 2000, 386, 387 - Ob die nachfolgende Entscheidung des 4. Senats in allen Punkten mit dieser übereinstimmt, könne dahinstehen. Ausschlaggebender Grund für die Unwirksamkeit des Verzichts sei nämlich die Verletzung des Verteidigungsinteresses durch den Dissens, der infolge nichtordnungsgemäßer Verfahrensführung verursacht wurde. 1472 BGH NStZ 2000, 386, 387. 1473 BGH NStZ 2000, 386, 387. 1474 BGH NStZ 2000, 386, 387. 1475 BGH NStZ 2000, 386, 387. 1476 BGH NStZ 2000, 386, 387. 1477 BGH StV 2000, 542.

E. Unzulässige Absprache

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Fall des Verzichts in Aussicht gestellt, so dass der Verzicht ohne unzulässige Willensbeeinflussung zustande kam und daher wirksam s e i . 1 4 7 8 Überraschend erscheinen hingegen die Ausführungen des Senats zu den möglichen Spielarten einer unzulässigen Willensbeeinflussung bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts. Der Senat benennt diverse Fälle, in denen andere Senate des BGH eine unzulässige Beeinflussung angenommen haben. Neben der unzuständiger Weise abgegebenen Z u s a g e 1 4 7 9 wird explizit der Fall der Vorabzusage genannt. 1 4 8 0 Dies entspricht nicht nur der Sichtweise des 4.Senates in BGHSt 45, 227, sondern widerspricht auch der Grundaussage der vom 1. Senat als Grundsatzentscheidung angesehenen Entscheidung des 2. Senats (BGH NJW 97, 2691). Da es sich allerdings nicht um einen tragenden Teil der Gründe handelte, blieb zunächst unklar, ob der 1. Senat sich mit diesem obiter dictum dem 4. Senat anschließen wollte. Diese Unklarheit beseitigte der 1. Senat mit seiner Entscheidung vom 2. August 2001 (BGH 1 StR 2 9 0 / 0 1 - Beschluss ν. 02. 08. 2001 [ L G Konstanz]): „Es kann dahin stehen, ob eine Rechtsmittelverzichtserklärung auch Teil einer das Verfahren beendenden Absprache zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung war. Dieser Umstand würde die Wirksamkeit des erklärten Rechtsmittelverzichts nicht berühren, weil der Angeklagte ungeachtet einer Verletzung der für die Führung von Verhandlungsgesprächen aufgestellten Vorgaben bei der Abgabe der Verzichtserklärung seine Interessen unbeeinflusst und sachgerecht wahrgenommen haben kann. Entscheidend könne nur sein, ob eine unzulässige Beeinflussung der freien Willensbildung vorliegt." Der Senat bestätigt damit inhaltlich seine Entscheidung BGH NStZ 2000, 386, 387. Ergänzend stellt der 1.Senat in Anlehnung an den 2. Senat nunmehr ebenfalls fest, dass selbst bei Vorliegen einer Vorabzusage keine Anhaltspunkte für eine unzulässige Beeinflussung der freien Willensbildung bestünden. 1 4 8 1 Erwähnenswert ist i m Übrigen, dass der 1. Senat die Entscheidung des 4. Senats (BGHSt 45, 227) nunmehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Verletzung von Verteidigungsinteressen als tragendem Bestandteil 1 4 8 2 jener

•47« BGH StV 2000, 542 - Die Revision behauptete, dass dem Verzicht die Zusage des Absehens von der weiteren Strafvollstreckung zum Halbstrafenzeitpunkt gem. § 456 a StPO vorausging. •479 Die Entscheidung verweist auf BGH NJW 95, 2568 = NStZ 95, 556, 557 (3. Senat) Anruf in Strafvollzugsanstalt während der Verhandlung. •480 BGH StV 2000, 542, 543 - Wortlaut: „ . . .das wird angenommen, w e n n . . . " . •481 BGH 1 StR 2 9 0 / 0 1 - Beschluss ν. 02. 08. 2001 ( L G Konstanz). •482 Was Missverständnissen vorbeugt, die daraus resultieren können, dass der Senat, wie in BGH StV 2000, 543, 543 geschehen, obiter dicta anderer Senate aufführt, die i m Widerspruch zur eigenen Linie stehen. Es scheint sich dabei um einen Textbaustein zu handeln, den der 1. Senat i m Zusammenhang mit der Erklärung eines Rechtsmittelverzichts häufig gerade dann verwendet, wenn keine der genannten Konstellationen einschlägig ist, vgl. BGH NStZ-RR 2002, 114. So steht auch die erwähnte Auffassung des 3. Senats, zumindest in der zitierten Form, i m Widerspruch zur Rechtsprechung des 1. Senats in BGH StV 2000, 539.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Entscheidung berücksichtigt und daher - in zutreffender Weise - keinen Widerspruch mit dessen Entscheidung erkennen k a n n . 1 4 8 3

c) Entscheidungen des 5. Strafsenats Der 5. Senat nimmt eine Unwirksamkeit des Rechtsmittel Verzichts ausnahmsweise an, wenn die Art und Weise seines Zustandekommens aus Gründen der Gerechtigkeit dieses Ergebnis g e b i e t e . 1 4 8 4 Zwar könne auch eine unzulässige Absprache Ursache der Unwirksamkeit sein, doch soll dies nur dann gelten, wenn diejenigen Gründe, die - allgemein oder i m Einzelfall - der Zulässigkeit einer Absprache entgegenstehen, zugleich auch zur rechtlichen Missbilligung des abgesprochenen Rechtsmittelverzichts f ü h r e n . 1 4 8 5 Darunter falle aber nicht der Umstand, dass der Verzicht Bestandteil einer Absprache w a r . 1 4 8 6 Dieser Hinweis betrifft allerdings keinen tragenden Bestandteil des Urteils. Zwar führt der 5. Senat zunächst die Definitionen des 2. Senats auf, doch liegt der Entscheidung BGHSt 45, 51 ff. ein der zu erörternden Konstellation nicht vergleichbarer Sachverhalt zu G r u n d e . 1 4 8 7 Die tatsächlich zur Unwirksamkeit des Verzichts führenden Gespräche erfolgten nach Urteilsverkündung. 1 4 8 8 Es ging um die Gewährung von Haftverschonung gegen Rechtsmittel v e r z i e h t . 1 4 8 9 Dem Urteil selbst lag weder eine Verständigung, noch lag dem Verzicht eine Vorabzusage zu G r u n d e . 1 4 9 0 Der Hinweis auf die potenziellen Auswirkungen einer Vorabzusage hinsichtlich eines später erklärten Verzichts ist somit bloßes obiter d i c t u m . 1 4 9 1 Entscheidungsrelevanz kommt allein der Fest1483 Dafür, dass dies kein unzulässiges Vorgehen ist, trägt der 4. Senat selbst die Verantwortung (dazu unten ausführlich). 1484 BGHSt 45, 51, 53. Damit gibt der 5. Senat allerdings lediglich die Kernaussage von BGHSt 17, 14, 18 wieder.

1485 BGHSt 45, 51, 53. 1486 BGHSt 45, 51, 53. 1487 Der Sachverhalt wurde bereits oben i m Rahmen der Fallgruppe „Fürsorgepflichtverletzungen" geschildert, siehe oben D.II.3. 1488 Eine solcher selbstständig vereinbarter Verzicht außerhalb des konkreten Verfahrens ist durchaus zulässig, vgl. Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 646 f. 1489 Eine solche Absprache ist nach Urteilsverkündung grundsätzlich möglich und zulässig, Baier NStZ 2000, 160, 161. Dem ist zuzustimmen. Anders als in Fällen der Vorabzusage war der Angeklagte i m vorliegenden Fall bereits dispositionsbefugt bezüglich des Rechtsmittelverzichts. 1490 BGHSt 45, 51, 53, 54. Der ausführlicheren Sachverhaltsdarstellung in BGH NJW 99, 2449, 2450 ist zu entnehmen, dass eine Absprache während des Hauptverfahrens gerade scheiterte. 1491 Naucke definiert ein obiter dictum in einer Entscheidung als Teil eines Rechtsgespräches zwischen Revisionsgerichten und Untergerichten oder zwischen Gerichten und Gesetzgeber, das in einer ausufernden Gesetzgebungs- und Interpretationssituation die Aufgabe hat, allzu große Reibungsverluste zu vermeiden, StV 2000, 1, 2. Ob der 5. Senat in der angesprochenen Entscheidung mit den übrigen Strafsenaten des BGH „spricht" und damit Schlüsse

E. Unzulässige Absprache

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Stellung zu, dass sich die Unwirksamkeit aus der Art und Weise des Zustandekommens ergeben k a n n . 1 4 9 2 I m entschiedenen Fall war es zu gravierenden Verstößen gekommen, die in ihrer Gesamtheit zur Unwirksamkeit des Verzichts f ü h r t e n . 1 4 9 3 Die Entscheidung kann auf Grund der gänzlich anderen Sachlage nicht in den Kontext der bisher genannten Entscheidungen eingefügt werden. Der 5. Senat stellt auch selber klar, dass die dargestellten Grundsätze zur Wirksamkeit des Rechtmittelverzichts, der auf der Grundlage einer Absprache erklärt wird, nicht zur Anwendung k o m m e n . 1 4 9 4 Insofern erstaunt es, dass der 5. Senat in einigen Veröffentlichungen in einem Atemzug mit dem 2. Senat genannt w i r d . 1 4 9 5 Die beiläufige nicht-tragende Eingangsbemerkung kann nicht dahingehend interpretiert werden, dass der 5. Senat sich dem 2. Senat angeschlossen h ä t t e . 1 4 9 6 Auch in seiner jüngsten Entscheidung zur Wirksamkeit eines Rechtsmittel Verzichts, der i m Rahmen einer Absprache erklärt wurde, lässt es der 5. Senat dahin stehen, ob der Rechtsprechung des 4. Senats zu folgen i s t . 1 4 9 7 Aus den dienstlichen Stellungnahmen der beteiligten Berufsrichter wie auch des Sitzungsstaatsanwaltes ergab sich nach Auffassung des Senats, dass die unzweifelhaft getroffene Verständigung nicht die Verabredung eines Rechtsmittel Verzichts e n t h i e l t . 1 4 9 8 I m Übrigen führt der Senat aus, dass es auf der Hand liegt, dass i m Rahmen der Abspracheverhandlungen ausgelotet wird, welche Verwirklichungschancen für die jeweiligen Erwartungen der Prozessbeteiligten bestehen. Findet man ein allseits zufriedenstellendes Ergebnis, so wird dieses von den Beteiligten auch als endgültig verstanden, so dass ein Rechtsmittelverzicht stets inzident in einer erfolgreichen Absprache angelegt s e i . 1 4 9 9 Eine solche vage Übereinkunft i m Sinne einer in Aussichtstellung auf die Mehrheitsverhältnisse i m Falle einer Entscheidung des Großen Senats zulässt, bedarf genauerer Analyse, erscheint m. E. aber als Überinterpretation angesichts der gänzlich unterschiedlichen Sachverhalte. Schließlich führt auch der 1. Senat Auffassungen von 3. und 4. Senat an, die er selber nicht teilt, ohne dies in den jeweiligen Entscheidungen deutlich zu machen. 1492

Das ist weder neu, noch sollte es als Rückbesinnung auf die allgemeine Rspr. zur Wirksamkeit des Rechtsmittel Verzichts überinterpretiert werden. Rieß, FS Meyer-Goßner, 5. 645, 653, sieht darin aber einen mit 1. und 2. Senat übereinstimmenden dogmatischen Anknüpfungspunkt. 1493 BGHSt 45, 51, 58; siehe ausführlich oben D.II.3. 1 4 9 4 BGHSt 45, 51, 55. 1495 Vgl. BGH NStZ 2000, 386, 387 - Der 1. Senat stellt zunächst fest, dass die Entscheidung des 2. Senats vom 5. Senat nicht in Frage gestellt wird, was zutrifft. I m Anschluss weist der Senat freilich darauf hin, dass die Fälle „ähnlich gelagert" sind, was nicht zutrifft. Rönnau, JR 2001, 29, 31, sieht den 2. Senat sogar durch den 5. Senat bestätigt, ähnlich Weigend StV 2000, 63, Bömeke,S. 131, Grünst, S. 382. 1 4 9 6 Baier merkt an, dass sich der 5. Senat zumindest der Zustimmung enthalte. „ O b daraus eine neue Kontroverse unter den Senaten erwachse, müsse die Zukunft zeigen", NStZ 2000, 160, 161. 1 4 9 7 BGH StV 2002, 354. i 4 9 » BGH StV 2002, 354. 1 4 9 9 BGH StV 2002, 354.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

eines Rechtsmittelverzichts entspreche auch nicht der vom 4. Senat angesprochenen Fallgestaltung des Versprechens eines Rechtsmittelverzichts durch den Angek l a g t e n . 1 5 0 0 Unbesehen der Tatsache, dass der 5. Senat den Rechtsmittel verzieht somit als logische Konsequenz einer erfolgreichen Absprache - vielleicht sogar als deren Geschäftsgrundlage - anzusehen scheint, fehlt es aus einem ganz anderen Grund an der Vergleichbarkeit mit dem Fall der Vorabzusage, wie er vom 4. Senat entschieden wurde. Vorliegend führte nämlich der Pflichtverteidiger nicht nur die Verständigungsgespräche, sondern erklärte auch selbst den Verzicht. 1 5 0 1 Es fehlt also bereits an der Rechtsmittelverzichtserklärung des Angeklagten, mit deren Wirksamkeit sich der 4. Senat ausschließlich befasst.

d) Entscheidungen des 3. Strafsenats Der 3. Senat hat sich zu der eingangs aufgeworfenen Frage noch nicht geäußert. In einer früheren Entscheidung - vor BGHSt 43, 195 - stellte der Senat zwar fest, dass ein Rechtsmittelverzicht unwirksam ist, wenn die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung in rechtsstaatlich bedenklicher Weise angetastet w i r d 1 5 0 2 , doch gewährt die Entscheidung keinen Aufschluss darüber, ob auch der in Erfüllung einer Absprache erklärte Rechtsmittelverzicht unter diese Formel subsumiert würde. Der 4. Senat führt in BGHSt 45, 227 jedoch aus, dass der 3. Senat in dieser Entscheidung einem Rechtsmittelverzicht auch aus diesem Grunde die Wirksamkeit versagt hätte und stimmt ihm darin ausdrücklich z u . 1 5 0 3 Eine Vorabzusage war in BGH NStZ 95, 556, 557 jedoch nicht erfolgt. Der Vorsitzende hatte im Verlauf der Verständigungsgespräche den Angeklagten lediglich angewiesen, „sich Gedanken über einen Rechtsmittelverzicht zu machen". Zwar war die Aufforderung nicht anders zu verstehen, als dass der Angeklagte nach Ablegen des Geständnisses auch auf Rechtsmittel verzichten s o l l e 1 5 0 4 , doch war dieser Umstand eine einseitige Erwartung des Gerichts. Die Sachverhalte sind mithin nicht vergleichbar. Die „Zustimmung" des 4. Senats ging folglich ins Leere.

1500 BGH StV 2002, 354. 1501

Eine Willensbeeinträchtigung durch die unzulässige Vorabzusage scheidet bei einem Verteidiger auf Grund seiner Rechtskundigkeit - anders als beim Angeklagten - von vornherein aus. 1502 BGH NStZ 95, 556, 557. Entgegen der Darstellung in einigen Veröffentlichungen (z. B. Bömeke, S. 131, Sinner, S. 199) hatte der 3. Senat die Unwirksamkeit des Verzichts gerade nicht daraus gefolgert, dass der Rechtsmittelverzicht mit einer Erklärung zur Strafvollstreckung verbunden war, sondern diese Frage offen gelassen. Ausschlaggebend für die rechtsstaatswidrige beachtliche Willensbeeinträchtigung war vielmehr die Unterbrechung der Hauptverhandlung, währenddessen der Vorsitzende ein Telefongespräch mit dem Leiter der Justizvollzugsanstalt führte. 1503 BGHSt 45, 227, 231.

1504 So der 3. Senat, BGH NStZ 95, 556, 557.

E. Unzulässige Absprache

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e) Entscheidungen des 4. Strafsenats Der 4. Senat hatte in BGHSt 43, 195 unmissverständlich festgestellt, dass ein Rechtsmittelverzicht als Bestandteil einer Absprache ausscheidet. Zu dem als Grundlagenentscheidung gehandelten Beschluss des 2. Senats in BGH NJW 97, 2691 musste der 4. Senat zunächst nicht Stellung nehmen. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1999 lässt der Senat es unter den gegebenen Umständen ausdrücklich offen, ob er dem Beschluss des 2. Senats zur Wirksamkeit des absprachegemäß erklärten Rechtsmittelverzichts folgen k ö n n t e 1 5 0 5 , denn aus dem dargelegten Sachverhalt ergab sich nicht, ob ein Rechtsmittelverzicht überhaupt Gegenstand von Erörterungen w a r . 1 5 0 6 Gelegenheit zur Äußerung bekam der 4. Senat aber kurze Zeit später. 1 5 0 7 Die Entscheidung basierte auf folgendem Sachverhalt 1 5 0 8 : Dem Angeklagten wurde eine Vielzahl von Delikten vorgeworfen, u. a. Zuhälterei und Förderung der Prostitution. A m 22. Ol. 98 kam es außerhalb der Hauptverhandlung zu einem Rechtsgespräch, an dem die Berufsrichter, der Sitzungsvertreter der StA und die beiden Verteidiger des Angeklagten teilnahmen. Dabei wurde eine Verständigung dahingehend erzielt, dass der Angeklagte bei Einräumung der Vorwürfe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren mit Bewährung verurteilt werden sollte, begleitet von einer Geldauflage in Höhe von D M 50,-. Bezüglich der verbleibenden Anklagepunkte war eine Teileinstellung gem. § 154 a I I StPO vorgesehen. Auch die Einstellung noch laufender Ermittlungsverfahren gem. § 154 I StPO war Gegenstand der Erörterungen. Der Vorsitzende legte abschließend die Abgabe eines Rechtsmittelverzichts nahe. Die Verteidiger holten daraufhin die Zustimmung des Angeklagten ein und erklärten die Bereitschaft zum Rechtsmittelverzicht. Das Hauptverfahren führte dann zum vereinbarten Ergebnis. Protokolliert wurde die Absprache nicht. A u f Rechtsmittel wurde verzichtet. Die Verteidiger und der Angeklagte gingen zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass sämtliche bei der StA Stendal anhängigen Ermittlungsverfahren von der Zusage der StA umfasst waren. Ende 1998 erhob die StA jedoch Anklagen wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz und wegen Betruges. Der SitzungsVertreter der StA war davon ausgegangen, dass - wie auch tatsächlich geschehen - lediglich ein bestimmtes Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels und Förderung der Prostitution nach § 154 I StPO eingestellt werden und wegen eines Betrugsverdachts keine Verfolgung stattfinden solle. Die Berufsrichter hatten nur von dem Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels und Förderung der Prostitution Kenntnis. Dass der Angeklagte auch in einem weiteren Verfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz als Beschuldigter vernommen wurde, wobei seine Eintragung in das Register 1505 BGH NStZ 99, 364 - Der Konflikt mit dem 2. Senat deutet sich bereits in dieser Entscheidung an. 1506 BGH NStZ 99, 364. 1507 BGHSt 45, 227. 1508 BGHSt 45, 227, 228, 229, 230.

318

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

der StA zunächst unterblieben war, ist weder dem Gericht noch dem Sitzungsvertreter der StA bekannt gewesen. Nach Kenntniserlangung von dem Dissens beantragte der Angeklagte gegen das abgesprochene Urteil Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der Antrag war erfolgreich. 1 5 0 9 Der 4. Senat stellt in seinem Urteil fest, dass „der Rechtsmittelverzicht - jedenfalls i m Blick auf die hier gegebenen besonderen Umstände - unwirksam ist, weil er Bestandteil einer verfahrensbeendenden Absprache zwischen Gericht, StA, Verteidigung und Angeklagtem i s t " . 1 5 1 0 Die unzulässige Verknüpfung einer gerichtlichen Leistung mit der Gegenleistung des vereinbarten Rechtsmittelverzichts führe generell nicht nur zur Unzulässigkeit der Absprache, sondern auch zur Unwirksamkeit des später erklärten Rechtsmittelverzichts. 1 5 1 1 Zwar könne dies nicht aus enttäuschten Erwartungen hergeleitet w e r d e n 1 5 1 2 , doch folge die Unwirksamkeit daraus, dass der Verzicht Bestandteil der dem Urteil vorausgegangenen Absprache ist. Ein solches Procedere bedeute eine unzulässige Verknüpfung der Rechtsmittelbefugnis mit der Höhe der Strafe. Zudem könne der Angeklagte auch frühestens nach Urteilsverkündung auf Rechtsmittel verzichten. 1 5 1 3 Konsequenz dieser Verknüpfung sei die Unwirksamkeit des Verzichts. 1 5 1 4 Der erkennende Senat stimme damit dem 3. Senat zu, der die Freiheit des Angeklagten zur Willensentschließung und Willensbetätigung durch die Vereinbarung eines Verzichts in rechtsstaatlich erheblicher Weise gefährdet s a h . 1 5 1 5 Da die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten i m Rahmen einer Absprache ohnehin auf einen schmalen Bereich eingeschränkt s i n d 1 5 1 6 , dürfen gerade Verstöße gegen die rechtsstaatlichen 1509 Prozessuales Ziel bei gescheiterten Absprachen ist die Korrektur der Vorleistungen (fast immer ein Geständnis) in der Rechtsmittelinstanz. Der Anfechtung der Entscheidung steht aber regelmäßig deren Rechtskraft entgegen, so dass der Angeklagte zunächst die Wiedereinsetzung betreiben muss, um dann in der Rechtsmittelinstanz den Eintritt der auf Grund des Scheiterns der Absprache drohenden Nachteile zu verhindern. Dabei ist die Wirksamkeit des Rechtsmittel Verzichts als Vorfrage zu erörtern. Z u m Zusammenhang der Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts und der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand siehe unten Teil 3 B. >5io BGHSt 45, 227, 228. 1511 BGHSt 45, 227, 228. Damit kehrt der 4. Senat das vom 2. Senat in seinem Grundsatzurteil vorgesehene Regel-Ausnahme-Verhältnis von Wirksamkeit und Unwirksamkeit i m Falle der Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts faktisch um. 1512 BGHSt 45, 227, 230 anders Schlächter, SK-StPO, vor § 213 Rn 52. 1513 BGHSt 45, 227, 230. 1514 D e r 2. Senat hatte bereits in anderem Zusammenhang eine Prozesshandlung wegen sachwidriger Verknüpfung für unzulässig gehalten, Eventualbeweisantrag in BGHSt 40, 287, 290. Dass die Wertungen dieser Entscheidung nicht ohne weiteres auf den Rechtsmittelverzicht übertragen werden können, wurde bereits an anderer Stelle gezeigt, E.III.l.a). 1515 BGHSt 45, 227, 331. A u f die Unzulässigkeit dieser Anknüpfung wurde bereits hingewiesen, vgl. Rechtsprechung des 3. Senats, vgl. E.III.l.d). 1516 BGHSt 43, 195,207.

E. Unzulässige Absprache

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Anforderungen an Verständigungen i m Strafverfahren nicht sanktionslos bleib e n . 1 5 1 7 Ein wirksamer Rechtsmittel verzieht würde eine Sanktionierung indessen unmöglich m a c h e n . 1 5 1 8 Das Gericht dürfe daher keinesfalls verlangen, dass der Angeklagte sich bereits vor Abschluss der Hauptverhandlung und Kenntnis der Entscheidung der ihm zustehenden Kontrollmöglichkeit b e g i b t . 1 5 1 9 1. und 2. Senat hatten hingegen die Unwirksamkeit des abgesprochenen Rechtsmittelverzichts lediglich dann anerkannt, wenn besondere Umstände, die zur Unzulässigkeit einer Absprache führen, zugleich die rechtliche Missbilligung des Verzichts verlangen. 1 5 2 0 I m Schrifttum wird dieser Ausnahmetatbestand als „doppelt wirkender Verfahrensfehler' 4 bezeichnet 1 5 2 1 , da derselbe Verfahrensfehler sich sowohl vor als auch nach dem Urteil auswirkt. Das infolge dieser bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung deutlichen Divergenz eigentlich notwendige Vorlageverfahren zum Großen Senat gem. § 132 I I I G V G 1 5 2 2 vermied der 4. Senat, indem er zusätzlich einen solchen „doppelt wirkenden Verfahrensfehler" begründete, also einen Ausnahmetatbestand, bei dessen Vorliegen auch der 1. und der 2. Senat von der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts ausgehen. 1 5 2 3 Damit erzeugt der 4. Senat zumindest dem ersten Anschein nach eine Übereinstimmung seiner Entscheidung mit der Rechtsprechung der anderen Senate. 1 5 2 4 Diese Vorgehensweise hat, begleitet von einer weit gehenden Zustimmung i m Ergebnis - also der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts - , i m Schrifttum Kritik hervorgerufen. 1 5 2 5 Über die Motive des 4. Senates kann man streiten und mutmaßen. Möglicherweise war sich der 4. Senat einer Mehrheit i m Großen Senat nicht sicher oder bezweifelte die Tragfähigkeit der eigenen Begründung. 1 5 2 6

1517 BGHSt 45, 227, 331. 1518 Was auch einer der Hauptgründe dafür sein dürfte, dass das Gericht stets auf einen Verzicht drängt, vgl. Rönnau wistra 98, 49, 50. 1519 BGHSt 45, 227, 231. 1520 Vgl. oben BGH NJW 97, 2691; BGH NStZ 2000, 386, 387. Eine Aussage, die nicht überrascht, sondern lediglich die h. M . zur allgemeineren Problematik der Behandlung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht wiedergibt. Derart schwerwiegende Willensmängel führen grundsätzlich zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts, unabhängig davon, ob eine Absprache vorliegt. 1521 Vgl. Weigend StV 2000, 63, 64 Fn 20. 1522 oder eines Anfrageverfahrens gem. § 172 I I I G V G , Rieß NStZ 2000, 98, 99. 1523 Rieß NStZ 2000, 98, 99, der des Weiteren daraufhinweist, dass 1., 2. und 5. Senat von einem anderen - für ihn nicht zustimmungswürdigen - methodischen Ausgangspunkt her argumentieren, FS Meyer-Goßner, S. 645, 653. 1524 Bömeke,S. 132, 133, spricht von oberflächlicher Harmonisierung. 1525 Weigend StV 2000, 63 f.; Rieß NStZ 2000, 98 f.; Bömeke, S. 132; Satzger JuS 2000, 1157, 1160 - Der klare Widerspruch sei nicht zu verdecken. Bedenkt man allerdings den enormen Aufwand, den ein Vorlageverfahren beim Großen Senat erfordert, erscheint es eher verständlich, dass ein solches Procedere vermieden wird, wenn es eben geht.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

M i t derartigen Mutmaßungen lässt sich jedoch kein Gewinn erzielen. Entscheidend können ausschließlich die Erwägungen sein, die tatsächlich Eingang in das Urteil gefunden haben. Die Begründung des Urteils ist einer Analyse zu unterziehen, nicht die Motive der Senatsmitglieder.

(1) Analyse von BGHSt 45, 227 Der vom 1. und 2. Senat geforderte doppelt wirkende Verfahrensfehler ist ein Fehler, der sich sowohl vor als auch nach dem Urteil auswirkt, indem der Fehler zur Unzulässigkeit der Absprache und zur rechtlichen Missbilligung des Verzichts f ü h r t . 1 5 2 7 Der 4. Senat bejaht die Unwirksamkeit vorliegend wegen einer Verletzung des berechtigten und offengelegten Verteidigungsinteresses des Angeklagten, welche zur rechtlichen Missbilligung des Rechtsmittelverzichts f ü h r e . 1 5 2 8 Diese Verletzung ergebe sich aus der Gesprächsführung außerhalb der Hauptverhandlung, der unterbliebenen Protokollierung 1 5 2 9 , der Zusage eines bestimmten Strafmaßes, der - ohnehin bedenklichen - Kompetenzüberschreitung des Gerichts bei der Zusage der Einstellung weiterer Strafverfolgung und des dadurch erhöhten Risikos einer Fehleinschätzung der prozessualen Lage und eines Dissenses. 1 5 3 0 Dies gelte insbesondere für den Angeklagten, der auf eine „Gesamtbereinigung" drängte und auf Grund dieser Offenlegung seines Verteidigungsinteresses besonders schutzwürdig w a r . 1 5 3 1 Damit wähnt sich der 4. Senat i m Einklang mit dem 2. S e n a t . 1 5 3 2 Tatsächlich ist dies nur auf den ersten Blick der F a l l . 1 5 3 3 Der 4. Senat stützt seine Argumentation auf mehrere Fehler (die genannten Verstöße gegen die Abspracheverfahrensregeln) vor Urteilsverkündung, die neben der Vereinbarung des Rechtsmittelverzichts auftraten. Vor dem Urteil lag daher ein Mehrfachfehler vor. Es finden sich aber keine Ausführungen dazu, wie sich diese Fehler tatsächlich auf den späteren Verzicht auswirkten. Der Senat führt zwar aus, dass 1526 Satzger hält die Strategie des 4. Senats für leicht zu durchschauen. Er versuche Widersprüche zu vermeiden, um die von ihm bereits entworfene Verfahrensordnung ungestört ausbauen zu können, JuS 2000, 1157, 1160. 1527 Vgl. Weigend StV 2000, 63, 64 Fn 20.

1528 BGHSt 45, 227, 232, 233. '529 Der 2. Senat hatte in BGH NJW 97, 2691. 2692 dagegen ausdrücklich erklärt, dass die Verletzung ds Öffentlichkeitsgrundsatzes, und damit auch der Verstoß gegen die Protokollpflicht, nicht zur rechtlichen Missbilligung des Rechtsmittelverzichts führt. 1530 BGHSt 45, 227, 232, 233. 1531 BGHSt 45, 227, 232, 233. 1532 BGHSt 45, 227, 233. 1533 Die Nutzung dieser kleinen „Hintertür" gelingt allenfalls formal und wird nur durch allgemeine Billigkeitserwägungen möglich. Diese verwischen das Problem eher, als dass sie es klären, Weigend StV 2000, 63, 65. In der BGH-FG bezeichnet Weigend das Vorgehen des 4. Senats jedoch als geschickte (wenn auch wohl unzutreffende) Auslegung der Entscheidung des 2. Senats, Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1036.

E. Unzulässige Absprache

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aus den Verstößen gegen die Verfahrensregeln für Absprachen die Gefahr der Unklarheit über die Reichweite der Absprache resultiert 1 5 3 4 , doch bezieht er dies konkret und ausschließlich auf die Führung der Verständigungsgespräche. Hieraus resultiert dann die Verletzung des Verteidigungsinteresses. Bezüglich der späteren Verzichtserklärung erwähnt der Senat dann nur noch, dass dieser Mangel, nämlich die Verletzung des Verteidigungsinteresses, auch zur rechtlichen Missbilligung des Rechtsmittelverzichts f ü h r t . 1 5 3 5 Die Wirkung des Absprachemangels wird auf den späteren Verzicht erstreckt. Ein doppelt wirkender Verfahrensfehler ist das nicht. Ein solcher läge nur vor, wenn Umstände gegeben sind, die sowohl bei der Absprache als auch beim Verzicht einen Mangel begründen, aus denen also zwei selbstständige Mängel resultieren, die lediglich auf denselben Verfahrensfehler zurückgehen. Durch die Argumentation des 4. Senats wird der doppelt wirkende Verfahrensfehler zu einem Mehrfachfehler degeneriert. 1 5 3 6 Es bleibt mithin offen, ob einem der genannten Verfahrensverstöße eine Doppelwirkung i. S. d. 1. und 2. Senates zukommt. Dies ist i m Übrigen für die fehlende Protokollierung oder die Zusage eines bestimmten Strafmaßes so fragwürdig, wie für die Vorabzusage s t r i t t i g . 1 5 3 7 Diese alternative Begründung der Unwirksamkeit hat noch eine weitere, schwerwiegendere Konsequenz: Die im Leitsatz vorangestellte Kernaussage, dass eine Vorabzusage einen daraufhin erklärten Verzicht stets unwirksam mache, wird zum obiter dictum herabgestuft. 1 5 3 8 Erstaunlich ist insofern bereits der Aufbau des U r t e i l s . 1 5 3 9 Zunächst ist deutlich die Intention des 4. Senats zu spüren, eine effektive Durchsetzung und revisionsrechtliche Kontrolle der aufgestellten Verfahrensregeln zu sichern. 1 5 4 0 Die Ausführungen lassen kaum Zweifel zu, dass der 4. Senat die Anerkennung der (automatischen) Unwirksamkeit als Rechtsfolge eines absprachegemäß erklärten Verzichts forcieren w i l l . 1 5 4 1 Zur Konfrontation mit den anderen Senaten w i l l es der 4. Senat 1534 BGHSt 45, 227, 232, 233 - Das Risiko derartiger Unklarheiten erhöhe das Gericht durch seine Verfahrensführung. 1535 über den genauen Zusammenhang schweigt der Senat. 1536 Ein „Doppelfehler", wie Weigend süffisant anmerkt, StV 2000, 63, 65. 1537 Der 2. Senat hatte in BGH NJW 97, 2691, 2692 ausdrücklich erklärt, dass die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes, und damit auch der Verstoß gegen die Protokollpflicht, nicht zur rechtlichen Missbilligung des Rechtsmittelverzichts führt. Diese Verbindung ist auch mit großem intellektuellem Aufwand kaum herzustellen, Weigend StV 2000, 63, 65. Rönnau, JR 2001, 29, 32, fragt grundsätzlich, warum Verstöße gegen die Abspracheordnung ausschlaggebend für die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts sein sollen. 1538 in diesem Sinne Rönnau JR 2001, 29, 31. Dass die maßgeblichen Überlegungen nur als obiter dictum formuliert sind, kritisiert Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 654; NStZ 2000, 98, 99. 1539 So bereits Bömeke, S. 132. 1540 Weigend StV 2000, 63, 67 - BGHSt 43, 195 bilde das Fundament für BGHSt 45, 227. 1541 Vgl. Beschlussgründe: „Der Rechtsmittelverzicht ist . . . unwirksam, weil er Bestandteil einer verfahrensbeendenden Absprache . . . ist", BGHSt 45, 227, 228. 21 Meyer

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

aber anscheinend nicht kommen lassen. Dies deutet schon der erste Satz in den Gründen an. Durch die Bezugnahme auf die „hier gegebenen besonderen Umstände" relativiert der Senat seine Aussage bereits eingangs der Begründung. 1 5 4 2 M i t dem „hilfsweisen", bezogen auf das tatsächliche Geschehen fragwürdigen N a c h w e i s 1 5 4 3 eines doppelt wirkenden Verfahrensfehlers nimmt er seinen Eingangsausführungen endgültig die Schlagkraft der rationes decidendi und stellt das Urteil quasi auf den Kopf, wodurch die Klärung einer wichtigen und äußerst praxisrelevanten Rechtsfrage durch den Großen Senat vermieden wird. Es wird daher zu Recht darauf hingewiesen, dass der 4. Senat mit einer solchen Argumentation den Blick auf das eigentliche Problem verstelle und die Chance verpasse, eine effektive Durchsetzung der von ihm selbst aufgestellten Grundsätze sicherzustellen. 1 5 4 4 Dies erscheint umso bedauerlicher, als die Praxis zeigt, dass das Verbot der Vorausvereinbarung des Verzichts nicht ernst genommen w i r d . 1 5 4 5

(2) Der fehlende Nachweis eines Willensmangels Das Urteil des 4. Senats ist ferner in einem zweiten wesentlichen Punkt kritikwürdig. Der Senat versäumt es, das Vorliegen eines Willensmangels beim Rechtsmittelverzicht tatsächlich nachzuweisen. 1 5 4 6 Ein solcher Nachweis ist auch nicht entbehrlich, denn die Annahme der Unwirksamkeit des Verzichts unabhängig von einem Willensmangel wäre ein unzulässiger Eingriff in die Autonomie des Angeklagten als Prozesssubjekt und Dispositionsbefugtem. 1542 BGHSt 45, 227, 228. Zu Recht fragt sich daher Rieß, ob die Entscheidung sich nicht vielleicht zu stark an den Besonderheiten des Einzelfalles orientiert, NStZ 2000, 98, 99. 1543 Der Senat führt dazu aus, dass dem Angeklagten der Eindruck vermittelt worden sei, seinen Zielen entsprechen zu wollen, BGHSt 45, 227, 233. Der Angeklagte erscheint m. E. jedoch nicht schutzwürdig. Z u m einen konnte dem Angeklagten durch das Gericht mangels Anwesenheit bei der Verständigung gar kein Eindruck vermittelt werden, zum anderen wusste ausschließlich der Angeklagte, welche Verfahren gegen ihn liefen, so dass er sich über den genauen Umfang der Absprache vergewissern musste. Sein Wissensvorsprung gegenüber den übrigen Absprachebeteiligten begründet seine Verantwortung für den Dissens. Daran vermögen auch die unterlassene Protokollierung und seine Abwesenheit bei den konkreten Verständigungsgesprächen nichts zu ändern. 1544 Weigend StV 2000, 63, 65. Grünst gelangt infolge dieser Argumentation sogar zu der Auffassung, dass der 4. Senat sich letztendlich der Meinung des 2. Senats angeschlossen hat, S. 382. Dies ist ein durchaus erstaunlicher Schluss, wenn man bedenkt, wie häufig in der Literatur zuletzt auf die offene Divergenz zwischen den Senaten hingewiesen wurde, vgl. nur Weider, FS Lüderssen, S. 773, 775.

1545 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 654. A u f Grund dieser Praxis sei es nicht hinnehmbar, dass der Verstoß des Gerichts sanktionslos bleibt. 1546 Dass auch der auf Grund einer Urteilsabsprache erklärte Rechtsmittel verzieht selbst dann, wenn mit der Urteilsabsprache das Versprechen eines solchen Verzichts verbunden war, nicht ohne weiteres auf der Vorabzusage beruhen muss, betont Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 652.

E. Unzulässige Absprache

323

Der 4. Senat vermischt bei seiner Argumentation die Zeitpunkte der Zusage und des Verzichts. Die Gründe, die er als Argument für die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts anführt, sind ausnahmslos normative Gründe, welche die Unzulässigkeit der Vorabzusage und der Absprache betreffen 1 5 4 7 , nämlich die Verknüpfung der Strafhöhe mit der Rechtsmittelbefugnis und der Verlust jeder Kontrollmöglichkeit noch vor Kenntnis der Entscheidung. Dass ein Rechtsmittelverzicht vor Urteilsverkündung weder erklärt noch vereinbart werden kann, ist aber unstrittig, denn vor der Urteilsverkündung besteht weder auf Seiten des Angeklagten noch auf Seiten der StA Dispositionsbefugnis. Zwar führt der 4. Senat aus, dass er dem 3. Senat darin zustimme, dass die Freiheit des Angeklagten zur Willensentscheidung und Willensbetätigung (als tatsächlicher Willensmangel) durch die Vereinbarung des Verzichts im Rahmen einer Verständigung berührt w i r d 1 5 4 8 , doch bezieht sich dieser tatsächliche Willensmangel entsprechend den Ausführungen des Senats nur auf den Zeitpunkt der Verständigung. Die Senate des BGH argumentieren insofern aneinander v o r b e i . 1 5 4 9 Während der 4. Senat ausschließlich normative Kriterien bemüht, um zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts zu gelangen, stellen 1. und 2. Senat in ihren Entscheidungen zur Vorabzusage auf die tatsächliche Beeinträchtigung der Willensfreiheit bei der Verzichtserklärung ab. Vom grundsätzlichen Ansatzpunkt her ist das Abstellen des 2. Senats auf das Erfordernis einer „Doppelwirkung" der Vorabzusage zutreffend. 1 5 5 0 Der Verzicht erfolgt erst zu einem späteren Zeitpunkt als die unzulässige Verzichtszusage. 1551 M i t der Vorabzusage verpflichtet sich der Angeklagte lediglich zur Erklärung des Verzichts zu dem Zeitpunkt, in dem er die Dispositionsbefugnis erlangt hat. Es müssen - abstrakt gesprochen - Verpflichtungsgeschäft und Verfügungsgeschäft unterschieden werden. Da die Zusage dem Verzicht vorgelagert ist und mit der Urteilsverkündung als starkem Einschnitt eine Zäsur zwischen den beiden Erklärungen des Angeklagten erfolgt, ist es keine Selbstverständlichkeit, dass bei einer infolge der Vorabzusage unzulässigen Absprache zum Zeitpunkt des Rechtsmittelverzichts ein Willensmangel vorliegt. Die Argumentation 1547 Vgl. BGHSt 45, 227, 230, 231. 1548 BGHSt 45, 227, 231. 1549 Es überrascht daher nicht, wenn Hamm die Klärung der Frage, ob dem Rechtsmittelverzicht auch unabhängig von konkreten Beeinträchtigungen der Willensfreiheit die Geltung abzusprechen ist, wenn dieser Bestandteil einer Urteilsabsprache war, als höchst umstritten zwischen den BGH-Senaten und noch ausstehend ansieht, NStZ 2001, 494, 495. Diese Frage w i l l aber auch der 4. Senat überhaupt nicht aufwerfen, denn auch dieser unterstellt einen Willensmangel. Diese Fehlinterpretation des Streitstandes resultiert letztlich aus dem Begründungsdefizit der Entscheidung des 4. Senats. 1550 Die von 1. und 2. Senat postulierte Abstrahierung zeitigt also durchaus positive Nebenwirkungen. Auch Bömeke stimmt der Entscheidung des 2. Senats i m Wortlaut zu. Gleichwohl ziehe dieser die falschen Schlüsse aus seiner Prämisse, S. 134; vgl. dazu auch unten E.III.3.a). 1551 A u f diesen Umstand hat auch Rieß, FS-Meyer-Goßner, hingewiesen und eine saubere Differenzierung zwischen den einzelnen Problemkreisen angemahnt. 2

324

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

des 4. Senats kann also nur überzeugen, wenn die Verpflichtung zur Erklärung mit der Erklärung selbst gleichgesetzt werden k a n n 1 5 5 2 , was aber nicht möglich ist, denn die Rechtsmittelverzichtserklärung ist eine eigenständige Prozesshandl u n g 1 5 5 3 . Man kann demzufolge auch nicht davon sprechen, dass mögliche Verstöße bereits zu diesem Zeitpunkt durch „vorweggenommenen" Rechtsmittelverzicht einer Kontrolle entzogen werden. Die bloße Erkenntnis, dass ein Verstoß gegen das Verbot der Vorabzusage bei Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts nicht sanktioniert werden kann, lässt die Unwirksamkeit zwar als wünschenswertes Ergebnis erscheinen 1 5 5 4 , begründet dieses Ergebnis jedoch n i c h t . 1 5 5 5 Eine Argumentation nach dem Motto „Es kann nicht sein, was nicht sein darf 4 trägt zur dogmatischen Lösung des Problems nicht bei. Lediglich i m Rahmen der abschließenden Ausführungen zur qualifizierten Belehrung wird deutlich, dass der 4. Senat auch zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung vom Vorliegen eines tatsächlichen Willensmangels ausgeht, und worin er diesen Mangel sieht, ohne ihn allerdings letztlich nachzuweisen. Wenn ausgeführt wird, dass eine qualifizierte Belehrung über die Freiheit, ungeachtet der getroffenen Absprache Rechtsmittel einlegen zu können, möglicherweise zur Abwendung der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts geeignet ist, kann dies nur bedeuten, dass der Senat einen Irrtum über die ΒindungsWirkung der Vorabzusage unterstellt. Mithin drängt sich hinsichtlich dieses Kritikpunktes die Erkenntnis auf, dass normative und faktische Gesichtspunkte miteinander vermischt werden und damit zwei Ebenen, die zwingend voneinander zu trennen sind: das tatsächliche Vorliegen eines Willensmangels und die normative Verantwortlichkeit für dessen Vorliegen1556

f) Zwischenergebnis Die eingehende Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung der verschiedenen Senate hat gezeigt, wie weit diese von der Entwicklung einer einheitlichen Linie zur Behandlung der Vorabzusage entfernt sind. Es unterscheiden sich sowohl die methodische Vorgehensweise 1 5 5 7 als auch die Bewertung der tatsächlichen Aus1552 Weigend wirft dem 4. Senat eine unzulässige Gleichsetzung von Erklärung und Ankündigung vor, StV 2000, 63, 64. 1553 A . A . Grünst, S. 385, die in der Verpflichtung zum späteren Verzicht eine Verfügung sieht, so dass die Verzichtserklärung selbst keine volle freie Verfügung über die Rechtsmittel mehr enthält und daher unwirksam ist. 1554 Ausdrücklich Satzger JuS 2000, 1157, 1158; Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 651.

1555 Wie der 4. Senat aber auch Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 654 - Nur so können die Rechtsmittelgerichte die Möglichkeit bekommen, Grundlagen und Voraussetzungen der Absprache stärker zu konturieren und einem Missbrauch entgegenzutreten. 1556 Letztere wird unter E.III.3.b) zu prüfen sein. 1557 Dies betont Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 653.

E. Unzulässige Absprache

325

Wirkungen einer Vorabzusage auf die Autonomie des Angeklagten. 1 5 5 8 Während der 1. und der 2. Senat schon eine tatsächliche Beeinflussung der Willensfreiheit verneinen und daher von vornherein gar keine Veranlassung haben, vom Wirksamkeitsdogma des Rechtsmittelverzichts abzurücken, gibt der 4. Senat dieses Dogma für die Fälle der Vorabzusage gänzlich auf, ohne zuvor überhaupt einen Willensmangel nachgewiesen zu haben. Der 3. und der 5. Senat mussten sich indessen noch nicht mit dieser Problematik befassen. Deren zuvor besprochene Entscheidungen lassen auch in obiter dicta weder eine eindeutige Präferenz für eine bestimmte Auffassung erkennen, noch liefern sie in dogmatischer Hinsicht neue Erkenntnisse, die bei der Lösung der Vorabzusage-Problematik nutzbar gemacht werden könnten. Nach alldem überrascht es etwas, wenn in den Reaktionen des Schrifttums auf diese Rechtsprechung des BGH vor allem die dogmatische Bedeutung der Entscheidung des 4. Senats (BGHSt 45, 227) betont w i r d . 1 5 5 9

2. Die Bewertung der Rechtsprechung im Schrifttum Während man i m Schrifttum in der Rechtsprechung des 1. und des 2. Senats nichts weiter als die Anerkennung der bisherigen Rechtsprechung zur Unwirksamkeit von Rechtsmittelverzichtserklärungen s i e h t 1 5 6 0 , wird die Entscheidung des 4. Senats nun - i m Gegensatz zur einzelfallbezogenen Betrachtungsweise der übrigen Senate - als eine unverkennbare Hinwendung zur typisierenden Bestimmung der Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Rechtsmittelverzichts verstanden. 1 5 6 1 Eine neue Bewertung der Willensmangelproblematik beim Rechtsmittelverzicht wurde wegen der anerkannten Absprachenpraxis teilweise bereits vor BGHSt 45, 227 gefordert. 1 5 6 2 Eine solche nehme der 4. Senat nunmehr vor. Dabei verändere er den Maßstab, der für die Feststellung der Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts herangezogen wird, nicht unerheblich. 1 5 6 3 In der vorsichtigen Korrektur der Dogmatik zum Rechtsmittelverzicht bestehe auch das Hauptanliegen des 4. Senats, nicht in der Sanktionierung formeller Verstöße gegen die Abspracheordnung. 1 5 6 4 Der wahre Grund, warum der 4. Senat die Vorabzusage missbillige, liege nämlich in der Struktur der Absprache, da diese eine unzulässige Knebelung und ein-

1558 Vgl. dazu Bömeke, S. 133, 134. 1559 Weigend StV 2000, 63, 64, 66; Rönnau JR 2001, 29, 31; Erb G A 2000, 511, 521. 1560 Bömeke, S. 133. 1561 Erb G A 2000, 511, 521 - Eine weiter gehende Typisierung hält auch Erb selbst für erforderlich. Es müssten abstrakte Maßstäbe dafür entwickelt werden, wann der Betroffene an seiner Erklärung festgehalten werden kann und wann nicht. 1562 z . B. über den „Wegfall der Geschäftsgrundlage", Eschelbach JA 99, 694, 701. 1563 Rönnau JR 2001, 29, 31. 1564 Rönnau JR 2001, 29, 32.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

seitige Verschiebung des Prozessrisikos auf den Angeklagten i m p l i z i e r e . 1 5 6 5 Der 4. Senat versuche daher eine vorsichtige Korrektur der bisherigen Rechtsprechung zur Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts, auf die sich der 1. und der 2. Senat berufen, um dem Angeklagten den Status zurückgeben zu können, den er vor der Absprache h a t t e . 1 5 6 6 Die etablierte Rechtsprechung habe ihre Wurzeln in einer Zeit, die den Deal noch nicht kannte, und mithin auch kein Dissensrisiko. 1 5 6 7 Ihre Aufrechterhaltung würde eine Abkopplung des rechtlichen Schicksals der Absprache von dem des Rechtsmittelverzichts bewirken, unzulässige Absprachen gegen eine rechtliche Prüfung immunisieren und das Risiko des Scheiterns auf den Angeklagten verlagern. 1 5 6 8 I m Schrifttum wird daher auch für den im voraus „ausgehandelten" Rechtsmittelverzicht die Auffassung vertreten, dass dieser unwirksam sein müsse. Sonst trüge der Angeklagte das volle Risiko eines erst später offenbar werdenden Dissens e s . 1 5 6 9 Erfolgt die Gesprächsführung auch noch zusätzlich unter Missachtung wesentlicher Verfahrensgrundsätze, sei die Gefahr von Missverständnissen und Unklarheiten e v i d e n t . 1 5 7 0 Der Grundsatz des fairen Verfahrens und die gerichtliche Fürsorgepflicht würden insofern eine Entbindung des Angeklagten von den seine Verteidigungsposition in prozessinadäquater Weise verschlechternden Folgen der Verzichtserklärung verlangen. 1 5 7 1 Der 4. Senat versucht hingegen eine Korrektur der bisherigen Rechtsprechung vor allem dadurch zu erreichen, dass er die Unwirksamkeit nicht mehr ausdrück1565 A u f die „latente Drucksituation", welche die vorgegebenen Machtstrukturen erzeugen, wies schon Rönnau hin, Absprache, S. 192. Zustimmend Kuckein, FS Meyer-Goßner, S. 63, 69. Ein Gewinn für die Autonomie des Angeklagten wäre die Beteiligung an einer Absprache nur dann, wenn dieser tatsächlich gleichberechtigter „Mitspieler" beim Aushandlungsprozess wäre, Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1014 Fn 8, ders. ZStW 113 (2001), 271, 303 f. - Der Angeklagte ist den Strafverfolgungsbehörden aber institutionell in jeder Hinsicht unterlegen. Von einer Parität, die Voraussetzung für rechtlich anzuerkennende „Verträge" ist, könne daher nicht die Rede sein. 1566 Weigend StV 2000, 63, 64, 66. Auch Rönnau, JR 2001, 29, 33, macht die Motivation des 4. Senat in dem fehlenden Leistungsstörungsrecht für „notleidende" Absprachen aus; anders noch BGH NJW 90, 1921, 1922. 1567 Weigend, StV 2000, 63, 66, weist auf die als Grundsatz der Billigkeit verallgemeinerungsfähige Regel des § 155 B G B (versteckter Dissens) hin. Die Billigkeit verlange, dass das Vereinbarte nur dann wirksam sei, wenn die Abmachung auch ohne den Teil gewollt wäre, bezüglich dessen keine Einigung gegeben war. I m Übrigen könne man sogar in Annäherung an ein zivilrechtliches Vertragsmodell daran denken, die bereits erbrachten Leistungen des Angeklagten zu kondizieren. 1568 Sinner, S. 194. 1569 Dies erscheint Satzger unbillig, weil die Gründe für das Missverständnis regelmäßig nicht - zumindest nicht ausschließlich - i m Verantwortungsbereich des Angeklagten zu suchen sind, JuS 2000, 1157, 1160. 1570 Dies darf nicht einseitig zu Lasten des Verurteilten gehen, was aber in der Praxis bereits der Fall sei, so Weider StV 2000, 540, 541.

1571 Satzger JuS 2000, 1157, 1161.

E. Unzulässige Absprache

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lieh auf eine unzulässige Willensbeeinflussung durch die staatlichen Organe stützt, ohne dabei klare Kriterien für die Zukunft herauszuarbeiten. 1572 U m künftig eine angemessene Verteilung der einer Absprache innewohnenden Risiken zu ermöglichen, skizziert der 4. Senat aber eine „prozessuale Risikoerhöhungslehre' 4 , welche i m Ergebnis dazu führt, dass die Verantwortung für Irrtümer dem Gericht schon dann zugeordnet werden kann, wenn dieses das Fehleinschätzungsrisiko durch sein Verhalten fahrlässig erhöht h a t . 1 5 7 3 Wann allerdings das Gericht das Risiko von Irrtum und Dissens beim Angeklagten trage, müsse erst noch durch die Herausarbeitung von Sorgfaltspflichten anhand weiterer Fallgestaltungen geklärt w e r d e n . 1 5 7 4 Allerdings werden auch i m Schrifttum durchaus Zweifel gehegt, ob eine Korrektur der Dogmatik zum Rechtsmittelverzicht der richtige Weg ist, um den Interessen des Angeklagten bei einem Fehlschlag der Absprache gebührenden Rang einzuräum e n . 1 5 7 5 Das Fehlen eines Leistungsstörungsrechts für gescheiterte Absprachen kompensiert auch die Unwirksamkeit des Rechtsmittel Verzichts n i c h t . 1 5 7 6 Auch die Bewertung der Rechtsprechung durch das Schrifttum und die dort formulierte Erwartung an künftige konkretisierende Rechtsprechung des BGH lassen offenbar werden, dass es immer noch an befriedigenden Regeln zur Behandlung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht fehlt. Plötz Feststellung, die aus dem Jahre 1980 datiert, ist mithin aktueller denn je: „Nach wie vor fehlt jeder Konsens darüber, welche Gesichtspunkte für die Beachtlichkeit eines Willensmangels gelten sollen, und wie eine dogmatische Grundlegung zu erfolgen h a t " 1 5 7 7 . Soweit dem 4. Senat i m Schrifttum dennoch der Versuch einer Korrektur der bisherigen Dogmatik unterstellt wird, muss zurückgefragt werden, ob man es tatsächlich als dogmatischen Wandel verstehen w i l l , wenn von der bisherigen Auffassung, die ohne dogmatische Grundlegung von der unbedingten Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts ausgeht, dadurch abgewichen wird, dass nunmehr für die Fälle der Vorabzusage dieses Wirksamkeitsdogma völlig aufgegeben wird, und zwar ohne tragfähige Begründung 1 5 7 8 . Das Fehlen einer tragfähigen Begründung wiegt dabei umso schwerer, als es Vertretern des Schrifttums bereits fraglich erscheint, ob der Vorabzusage überhaupt das vom 4. Senat unterstellte Druckpotential zukommt. So wird die Auffassung

157 2

Rönnau JR 2001, 29, 32; diesen Aspekt der Entscheidung hatte allerdings Weigend bereits zuvor herausgearbeitet, StV 2000, 63, 66. 1573 Diese führe i m Ergebnis dazu, dass die Verantwortung für Irrtümer dem Gericht schon dann zugeordnet werden kann, wenn dieses das Fehleinschätzungsrisiko durch sein Verhalten fahrlässig erhöht hat, Rönnau JR 2001, 29, 32. 157 4

Weigend StV 2000, 63, 67; vgl. auch Erörterung der Verantwortungsverteilung Falle des Dissenses bei Satzger JuS 2001, 1157, 1160. 1575 Rönnau JR 2001, 29, 34. 1576 Dazu ausführlich Teil 3 E.IV. 1577 Plötz, S. 290, 291. 1578 Siehe d a z u E . I I I . l . e X D , (2).

im

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

vertreten, dass der 4. Senat übersehe, dass der Angeklagte nicht rechtlich an die Absprache gebunden sei und auch nicht zur Einhaltung des Versprechens gezwungen werden k ö n n e . 1 5 7 9 Es sei fraglich, ob Zusage und Erklärung so eng verknüpft sind, dass die Rechtswidrigkeit der Zusage auch zur Unbeachtlichkeit des Verzichts f ü h r t . 1 5 8 0 Daher erscheine es zumindest zweifelhaft, ob das Verbot der Vorabzusage überhaupt zu den zwingenden Verfahrensregeln zählen s o l l . 1 5 8 1 Teilweise wird die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts i m Voraus sogar für zulässig gehalten. 1 5 8 2 Die entgegenstehende Rechtsprechung sei verfehlt und werde der forensischen Realität nicht gerecht. Der Angeklagte könne sich selbst schützen. 1 5 8 3 Die Autonomie des Angeklagten beim Verzicht sei nur dann berührt, wenn auch noch i m Zeitpunkt der Verzichtserklärung eine Drucksituation besteht oder noch fortwirkt. Dieser Frage wird i m Folgenden i m Rahmen eines eigenen Lösungsversuchs nachzugehen sein. Zunächst ist zu prüfen, ob sich die Vorabzusage überhaupt nachteilig auf die Entscheidungsautonomie des Angeklagten beim Rechtsmittelverzicht auswirkt. Danach ist zu präzisieren, auf welche Art und Weise die Einflussnahme durch den Verfahrensfehler konkret erfolgt. A u f dieser Grundlage lässt sich dann eine Aussage darüber treffen, ob die konkrete Art der Einflussnahme schon von einer der allgemeinen Fallgruppen erfasst wird - und insofern auch hinsichtlich der Verantwortungsverteilung entsprechend zu behandeln ist - oder ob eine Sonderlösung für Verfahrensfehler bei Absprachen erforderlich ist.

3. Versuch einer eigenen Lösung I m Folgenden gilt es aufzuzeigen, dass es wie bereits zuvor bei den inhaltlichen Fehlern auch hinsichtlich des Verfahrensfehlers der Vorabzusage einer Sonderlösung für Absprachen nicht bedarf. Dabei ist es geboten, die bereits vorgenommene allgemeine dogmatische Grundlegung 1 5 8 4 nutzbar zu machen.

a) Tatsächliches Vorliegen eines Willensmangels Da die Vornahme einer Verantwortungsverteilung das tatsächliche Vorliegen eines Willensmangels voraussetzt, ist zunächst der Nachweis erforderlich, dass sich die Vorabzusage überhaupt nachteilig auf die Entscheidungsautonomie des Ange1579 Weigend StV 2000, 63, 64. isso Weigend StV 2000, 63, 65. 1581 Weigend StV 2000, 63, 67. 1582 Schmitt G A 2001, 411, 424. 1583 Schmitt G A 2001, 411, 425. '584 V g l . B., C., D.

E. Unzulässige Absprache

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klagten beim Rechtsmittelverzicht auswirkt. Eine Einflussnahme von außen, als welche die Vereinbarung des Rechtsmittelverzichts i m Voraus sicherlich einzuordnen ist, beeinträchtigt die Autonomie des Angeklagten nur dann, wenn es zu einer Verkürzung der Entscheidungsgrundlage und damit der Entscheidungsfreiheit kommt. Ausschlaggebend ist auf dieser Ebene allein, ob die Freiheit der Willensentschließung bei erfolgter Vorabzusage i m Zeitpunkt der Verzichtserklärung tatsächlich gewahrt wurde oder nicht. Der 1. und der 2. Senat sehen für eine solche Beeinträchtigung nicht einmal Anhaltspunkte 1 5 8 5 : So ist der 2. Senat der Ansicht, dass „der Angeklagte seine Freiheit, über eine Anfechtung der Entscheidung zu entscheiden oder auf Rechtsmittel zu verzichten, behalten soll, und zwar auch dann, wenn der Verzicht sich als Einlösung einer Absprache d a r s t e l l t " . 1 5 8 6 Der 1. Senat führt daran anknüpfend aus, dass „dem Angeklagten die Möglichkeit offen stehen muss, auch vor Ablauf der Rechtsmittelfrist einen wirksamen Verzicht zu erklär e n 1 5 8 7 , weil dieser ungeachtet einer Verletzung der für die Führung von Verhandlungsgesprächen aufgestellten Vorgaben seine Interessen unbeeinflusst und sachgerecht wahrgenommen haben k a n n " . 1 5 8 8 Dieser Hinweis ist wenig hilfreich. Sicherlich kann der Angeklagte unbeeinflusst gehandelt h a b e n . 1 5 8 9 Ebenso wenig wird bestritten, dass eine rechtliche Bindung an die Vorabzusage nicht e x i s t i e r t . 1 5 9 0 Fraglich ist aber, ob der Angeklagte i m konkreten Fall trotz der Vorabzusage auch tatsächlich unbeeinflusst gehandelt hat. 1591 Die Beantwortung dieser Frage mit der lapidaren Äußerung, dass für eine Beeinflussung der Willensfreiheit des Angeklagten nicht einmal Anhaltspunkte ersichtlich seien, ist ungenügend. Vielmehr ist eine sorgfältige Auseinandersetzung mit der Situation des Angeklagten, der i m Voraus einen Rechtsmittelverzicht vereinbart hat, und mit dessen Entscheidungsautonomie geboten. Dass die Unzulässigkeit der vorherigen Vereinbarung die Anfechtungsberechtigten nicht hindert, unabhängig von dieser Vereinbarung nach Erlass des Urteils auf Rechtsmittel zu verzichten, ist für den Angeklagten nur dann von Nutzen, wenn er 1585 BGH StV 2001, 557 (2. Senat); BGH 1 StR 2 9 0 / 0 1 - Beschluss ν. 02. 08. 2001 ( L G Konstanz); siehe oben E.III.l.a), b). 1586 BGH NJW 97, 2691, 2692 (2. Senat). 1587 BGH NStZ 2000, 386, 387 (1. Senat). 1588 BGH 1 StR 2 9 0 / 0 1 - Beschluss ν. 02. 08. 2001 ( L G Konstanz); so auch der 2. Senat, BGH StV 2001,557. 1589 Dies ist lediglich de jure zutreffend, so Bömeke, S. 133. 1590 Schließlich würde auch niemand versuchen, den Angeklagten unmittelbar zur Vornahme der versprochenen Erklärungen zu zwingen oder seinem Rechtsmittel wegen Verletzung der informellen Absprache die Zulässigkeit zu versagen, Weigend StV 2000, 63, 64. I m Übrigen ist nochmals zu betonen: Das Vorliegen eines Willensmangels und seine Feststellung sind Fragen faktischer Natur. Ob die normative Freiheit zur Einlegung eines Rechtsmittels bestand, ist für deren Beantwortung irrelevant. 1591 In diese Richtung geht auch die Argumentation Bömekes, S. 133, 134.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

autonom und selbstbestimmt über seine Rechtsmittelbefugnis disponieren kann. Die Autonomie der Entscheidung ist aber dann berührt, wenn er tatsächlich nicht um diese rein rechtliche Möglichkeit w e i ß . 1 5 9 2 Dazu wird angemerkt, dass es irreal sei zu glauben, dass ein Angeklagter, der dem Gericht einen Rechtsmittelverzicht versprochen hat, ohne speziellen Hinweis auf die Unverbindlichkeit dieses Versprechens von ihm abweichen w i r d . 1 5 9 3 Die Rechtsmittelbelehrung ist kein spezieller Hinweis in diesem Sinne. Sie führt dem Angeklagten nicht die Unverbindlichkeit der Vereinbarung vor Augen. In den Fällen der Vorabzusage erscheint die Rechtsmittelbelehrung als bloße F o r m a l i e 1 5 9 4 , die nicht geeignet ist, den Wissensstand des Angeklagten bezüglich der Unverbindlichkeit entscheidend zu erweit e r n . 1 5 9 5 Ein aufklärender Hinweis des Verteidigers ist kaum zu e r w a r t e n 1 5 9 6 , obgleich sich auch die Mitwirkung des Verteidigers bei Absprachen ausschließlich am Beschuldigteninteresse zu orientieren hat und eine entsprechende Belehrung durch den Verteidiger daher geboten i s t . 1 5 9 7 Bömeke führt aus, dass das Versprechen des Rechtsmittelverzichts die freie Entscheidung auf Grund des unzulässigen Einlösungsdrucks nachhaltig beeinträcht i g t . 1 5 9 8 Der Zwang der Vorabzusage wirke auch nach Verkündung des Urteils fort. 1599 Ob damit der Willensmangel beim Angeklagten zutreffend beschrieben wird, ist fraglich. Ein offener Zwang wird nicht ausgeübt. Der Angeklagte wird allenfalls einen inneren Zwang empfinden, sein Versprechen zu e r f ü l l e n . 1 6 0 0 Dieser innere Zwang resultiert aus einem Irrtum des Angeklagten über die Zulässigkeit und Verbindlichkeit der Absprache. 1 6 0 1 Als Auslöser eines Willensmangels bei der Verzichtserklärung erscheint somit primär ein fortwirkender Irrtum über die Bindungswirkung der Absprache.

1592 Auch Rieß zufolge besteht eine faktische Bindung. Von dem in zentraler Funktion mitwirkenden Verteidiger scheint Rieß keine Aufklärung zu erwarten, FS Meyer-Goßner, S. 645, 650 f. •593 Bömeke,S. 133; ähnlich sieht es Hamm, StV 2001, 81, 84.

•594 Bömeke, S. 134. 1595 So auch deutlich der 4. Senat BGHSl 45,227,233;. a.A. wohl Weigend S t V 2000,63,65. 1596 Siehe oben E.II.2.a). Ob darin eine objektive Irreleitung durch den Verteidiger liegt und wie diese dann zu behandeln wäre, ist anhand der Erkenntnisse zu prüfen, die bei der Untersuchung der Fallgruppe „objektive Irreleitung und Drohung durch den Verteidiger" ermittelt wurden, siehe oben C.II.2.e). 1597 So eindeutig Roxin, FS-Hanack, S. 1, 24 f. 1598 De facto sei es daher um die Freiheit der Willensentschließung schlecht bestellt, Bömeke, S. 134; ähnlich bereits Siolek, Verständigung, S. 200. 1599 Bömeke, S. 134; ähnlich Satzger, JA 98, 98, 100, der allerdings eine unlautere Irreführung durch das Gericht sieht. 1600 Satzger spricht von einem psychisch-realen Zwang, JuS 2000, 1157, 1160. 1601 Auch das OLG München geht davon aus, dass sich der Angeklagte infolge seines Vertrauens auf die Rechtsverbindlichkeit der Absprache gebunden fühlte, StV 2000, 188, 189.

E. Unzulässige Absprache

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Für den Angeklagten als Rechtslaien erscheinen alle Handlungen, in welche die staatlichen Strafverfolgungsorgane involviert sind, zwangsläufig als rechtsverbindlich und rechtmäßig, soweit das Gegenteil für den Angeklagten nicht offensichtlich ist. Schließlich ist der Strafprozess auf die Findung eines rechtlich verbindlichen Ergebnisses unter Beachtung festgelegter Regeln angelegt, deren Einhaltung gerade durch die beteiligten staatlichen Organe sicherzustellen ist. Das beteiligte Gericht erweckt beim Angeklagten insofern den Eindruck, dass die getroffene Abrede eine verlässliche Grundlage für den späteren Verzicht i s t . 1 6 0 2 Erfolgt eine verfahrensbeendende Absprache, wird der Angeklagte daher regelmäßig von deren Verbindlichkeit und Zulässigkeit ausgehen. 1 6 0 3 Eine Klarstellung des Gegenteils durch Gericht oder StA erfolgt bei Absprachen regelmäßig nicht, zumal wenn bei der Verständigung gegen BGHSt 43, 195 ff. verstoßen wurde. Schließlich ist die Absprache gerade darauf angelegt, das Urteil zu präjudizieren. Dass dies gleichwohl nur faktisch der Fall ist, entzieht sich der Kenntnis des Angeklagten als Rechtslaien. Es wäre kaum nachvollziehbar, wollte man behaupten, der Angeklagte, der meist nicht einmal persönlich bei den Verständigungsgesprächen anwesend i s t 1 6 0 4 , hätte Kenntnis von der rechtlichen Unverbindlichkeit und damit von seiner weiterhin bestehenden Dispositionsbefugnis über die statthaften Rechtsmittel. Dies gilt umso mehr, wenn sich im Urteil als rechtlich verbindlichem Ergebnis des Prozesses die Absprache widerspiegelt. Ein absprachegemäß ergehendes Urteil räumt nicht nur etwaige noch bestehende Zweifel aus, sondern bestärkt den Glauben des Angeklagten an die rechtliche Verbindlichkeit der Absprache. Dieser Umstand wird die Entscheidung des Angeklagten für den Rechtsmittelverzicht maßgeblich beeinflussen. A u f Grund dieser Auswirkungen auf den Entscheidungsprozess ist die Fehlvorstellung des Angeklagten als Motivirrtum einzuordnen. Als Zwischenergebnis kann daher festgehalten werden, dass der Angeklagte in den Fällen der Vorabzusage unabhängig von sonstigen denkbaren Beeinflussungen grundsätzlich einem Irrtum über die Bindungswirkung und die rechtliche Zulässigkeit der Vorabzusage unterliegt, der auch noch zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung fortwirkt und seine Entscheidungsautonomie erheblich beeinträchtigt. 1 6 0 5 1602 Diese Einschätzung teilt auch Satzger, JuS 2000, 1157, 1160. 1 6 0 3 Hamm, NStZ 2001, 494, 495, sieht eine solche Verzichtserklärung mit dem Mangel behaftet, dass alle Verfahrensbeteiligten (hoffentlich) nur versehentlich von der Zulässigkeit der vorherigen Vereinbarung ausgingen. Allerdings fragt Hamm i m Anschluss maliziös, ob dem Verbot der Vorabzusage vielleicht doch eine rechtstatsächlich falsche Vorstellung zu Grunde lag. 1 6 0 4 50% der Anwälte entscheiden allein über die Aufnahme von Verständigungsgesprächen und nur 40% unterrichten ihren Mandanten i m Anschluss über das Ergebnis der Gespräche, so die Schätzung von Schünemann, NJW 89, 1895, 1901. 1605 Das Erfordernis, dass der Mangel einer unzulässigen Absprache sich fortsetzt, betont auch Weigend. Die Anfechtbarkeit der Verpflichtung führe nur unter bestimmten weiteren Voraussetzungen dazu, dass die Erbringung der Leistung selbst keinen Bestand hat. Dies gilt

332

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Diese Fortwirkung darf aber nicht als Rechtsfolgenerstreckung (der Unzulässigkeit und Unwirksamkeit der Absprache auf den Rechtsmittelverzicht) missverstanden werden. Sie setzt vielmehr zutreffend eine Stufe tiefer bei der faktischen Beeinflussung der Willensfreiheit an. Wer die Verantwortung für diese Beeinträchtigung trägt, ist nunmehr in einem zweiten Schritt zu überprüfen.

b) Verantwortlichkeit

für diesen Willensmangel

Zur Klärung der Verantwortlichkeit für die Entstehung des zuvor herausgearbeiteten Willensmangels ist die Art und Weise der Einflussnahme zu präzisieren, um daran anknüpfend eine Aussage darüber treffen zu können, ob eine Verantwortungsverteilung bezüglich dieser konkreten Art der Einflussnahme schon i m Rahmen einer der allgemeinen Fallgruppen vorgenommen wurde. Nur auf diesem Weg lässt sich die konsequente Nutzanwendung der bisherigen Untersuchungsbefunde sichern. Die Beeinflussung der Entscheidungsautonomie des Angeklagten erfolgt in den Fällen der Vorabzusage durch die Verursachung eines Irrtums. Lässt das Gericht sich einen Rechtsmittelverzicht versprechen, weicht dieses Verhalten in unzulässiger Weise von den Verfahrensregeln aus BGHSt 43, 195 ab. Durch sein Verhalten suggeriert das Gericht dem Angeklagten jedoch, zur Entgegennahme dieser Zusage berechtigt zu sein. Macht ein Gericht einen Rechtsmittel verzieht zum Gegenstand einer Absprache, erklärt es konkludent die Zulässigkeit dieses Vorhabens. Zugleich wird der Anschein der - objektiv nicht bestehenden - Verbindlichkeit der unzulässigen Vereinbarung hervorgerufen. In dieser Art der Einflussnahme liegt eine objektive Irreleitung durch staatliche Verfolgungsorgane 1 6 0 6 , deren Auswirkungen bereits eingehend erörtert w u r d e 1 6 0 7 . Die Verantwortungsabschichtung für die Entstehung des in Rede stehenden W i l lensmangels kann daher auf der Grundlage der bereits für diese Fallgruppe herausgearbeiteten Maßstäbe 1 6 0 8 , also des fair trial-Grundsatzes in seiner vertrauensschützenden Funktion, erfolgen. nach Auffassung Weigends z. B. dann, wenn eine Drucksituation sich fortsetzt oder dem Angeklagten suggeriert wird, seine frühere Zusage sei rechtlich verbindlich, StV 2000, 63, 65. Gleichwohl sah Weigend dafür im BGHSt 45, 227 ff. zu Grunde liegenden Sachverhalt keine Anzeichen. Schließlich sei eine Rechtsmittelbelehrung und eine Beratung mit den Verteidigern erfolgt, S. 65. 1606 Die vorliegende Konstellation steht der Fallgruppe der Irreführung durch objektiv unrichtige Maßnahmen der Strafverfolgungsorgane also nicht nur wertungsmäßig nahe, so aber Satzger, JuS 2000, 1157, 1160, sondern ist einer ihrer unmittelbaren Anwendungsfälle. I m Übrigen hat Satzger diese genaue Zuordnung früher - vor BGHSt 45, 227 - selbst vorgenommen, vgl. FA Strafrecht, S. 1113, 1140 - „Durch den unzulässigen Inhalt der Absprache wird der Angeklagte also objektiv irregeführt". •607 Vgl. oben C.I.5. •608 Vgl. oben C.I.5.

E. Unzulässige Absprache

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Liegt eine objektive Irreleitung des Angeklagten vor, dann darf dieser auf die ihm durch das Gericht oder ein anderes involviertes Strafverfolgungsorgan suggerierte Zulässigkeit und Verbindlichkeit vertrauen, und zwar bis zur Grenze der Offensichtlichkeit. 1 6 0 9 Auch hier ist wiederum zu berücksichtigen 1 6 1 0 , dass ihm das Wissen seines Verteidigers weder zugerechnet werden kann, noch von einer Aufklärung über die tatsächliche Rechtslage durch den Verteidiger ausgegangen werden d a r f . 1 6 1 1 A u f der Grundlage des fair trial-Gedankens begründet eine solche Irreleitung stets die Verantwortung des irreleitenden staatlichen Organs für kausal hervorgerufene Willensmängel. Die Entstehung des Irrtums über Zulässigkeit und ΒindungsWirkung fällt mithin in den Verantwortungsbereich der an der Absprache beteiligten Strafverfolgungsorgane, vor allem des G e r i c h t s . 1 6 1 2 Der Rechtsmittelverzicht des Angeklagten ist daher im Falle einer Vorabzusage unwirksam. A u f den Vorsatz des Gerichts kommt es nicht an, obgleich bei Missachtung der Regeln aus BGHSt 43, 195 - wie der hier in Rede stehenden Vorabzusage - teilweise sogar von einer bewussten Täuschung über Rechtsfragen ausgegangen w i r d 1 6 1 3 . Die Ungewissheit, wie genau die Tatgerichte die Vorgaben des BGH für die Führung von Verständigungsgesprächen kennen, geht auf diese Weise nicht zu Lasten des Angeklagten. Angesichts der Anforderungen, die in Haftpflichtverfahren an Rechtsanwälte gestellt werden, des Bekanntheitsgrades und der Bedeutung von BGHSt 43, 195 und der enormen Relevanz der Absprache i m Strafverfahren erschiene es allerdings auch nicht unangemessen, dem Gericht Vorsatz zu unters t e l l e n . 1 6 1 4 Die Kenntnis der vom 4. Senat entworfenen Verfahrensordnung bezeichnet Kuckein zumindest für den Strafrichter als juristisches Grundwissen. 1 6 1 5 Mithin lässt sich auch die Problematik der Vorabzusage auf der Grundlage einer Verantwortungsabschichtung lösen, die i m Zuge der vorliegenden Untersuchung entwickelt wurde. Die Besonderheiten der Absprachesituation spielen dabei nur für die Frage der tatsächlichen Willensbeeinflussung eine Rolle. Die Abschichtung der Verantwortungsbereiche bildet also die Schnittstelle zwischen der allgemeinen

1609 Vgl. oben C.I.5.c)(2)(a). 1610 Siehe schon zuvor C.I.5.c)(2). 1611 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 650 f., vermutet, dass der in einer zentralen Funktion mitwirkende Verteidiger grundsätzlich nicht von der Verzichtszusage abweichen wird, um seine „Reputation" gegenüber dem Gericht zu wahren und weiterhin als seriöser Partner für Absprachen in Frage zu kommen. Dies dürfte nicht ohne Auswirkung auf die seinem Mandanten geschuldete Beratung bleiben, so Rieß vielsagend; ähnlich Bömeke, S. 134. 1612 Auch ein Staatsanwalt, der nicht gegen die vom Gericht betriebene unzulässige Vereinbarung interveniert, ruft entsprechendes Vertrauen des Angeklagten hervor. 1613 Kuckein, FS Meyer-Goßner, S. 63, 69, 70. 1614 Rieß findet es zu Recht beunruhigend, wenn in dem in BGHSt 45, 227 geschilderten Verfahren (mindestens) 5 beteiligte Volljuristen von BGHSt 43, 195 keine Kenntnis genommen zu haben scheinen, FS Meyer-Goßner, S. 645, 654 1615 Kuckein, FS Meyer-Goßner, S. 63, 70 Fn 48. Jürgen Kuckein ist Richter i m 4. Strafsenat des BGH.

334

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Willensmängelproblematik Rechtsmittel Verzichts.

und der Problematik des im Voraus

vereinbarten

Zugleich zeigt sich, dass eine Lösung der Vorabzusage-Problematik sehr kurz ausfallen kann, wenn zuvor eine fundierte allgemeine Dogmatik zur Behandlung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht entwickelt wird. Nicht zuletzt um diesen Aspekt und damit auch einen entscheidenden Vorteil eines solchen Lösungsansatzes zu verdeutlichen, wurde die Rechtsprechung des BGH sowie deren Bewertung i m Schrifttum als Kontrast in vollem Umfang dargestellt. Die umfangreichen Ausführungen in Rechtsprechung und Schrifttum sind nur angesichts des Fehlens einer grundlegenden Dogmatik zu erklären und lassen sich bei Entwicklung einer solchen Dogmatik vermeiden.

c) Konkreter

Kausalitätsnachweis

I m Anschluss an diesen Befund stellt sich die ganz praktische Frage, wer das Vorliegen des Willensmangels zu beweisen hat und auf welche Weise der Nachweis erfolgen kann. Dazu ist zunächst festzustellen, dass diese Problematik vor allem i m Rahmen der Prüfung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand prozessual relevant w i r d 1 6 1 6 und die Obliegenheit, das Vorhandensein eines ausnahmsweise beachtlichen Willensmangels zu belegen, daher grundsätzlich den Angeklagten in seiner Rolle als Antragsteller t r i f f t 1 6 1 7 . Zu klären bleibt jedoch, wie der Angeklagte diesen Nachweis konkret zu erbringen hat, wobei es i m wesentlichen darum geht, wie der Kausalzusammenhang zwischen dem Irrtum bei der Vorabzusage und dem Rechtsmittelverzicht belegt werden kann. Der Rechtsmittelverzicht muss schließlich nicht zwingend auf der Vorabzusage und dem oben benannten Irrtum beruhen. I m Schrifttum wird teilweise sogar die Einschätzung geäußert, dass man beim Kausalitätsnachweis auf kaum überwindbare Probleme stößt.1618 Zunächst dürfte der Nachweis der Vorabzusage ein gewichtiges Indiz dafür sein, dass diese sich auch motivierend auf den tatsächlichen Verzicht ausgewirkt h a t . 1 6 1 9 Über die Indizwirkung hinaus hielt es Rieß zeitweilig sogar für geboten, bis zum Nachweis des Gegenteils von der motivierenden Wirkung der Absprache auszugehen. Schließlich habe das Gericht durch seine Mitwirkung die unklare Verfahrens-

1616 Ausführlich zu Funktion und Voraussetzung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, siehe unten Teil 3. 1617 Vgl. z u r Nachweisobliegenheit bezüglich des Willensmangels bereits die Ausführungen bei der Fallgruppe „Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht", D.III. 1618 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 655; Weider zufolge bestehen indessen keine Zweifel an einer Fernwirkung der unzulässigen Einflussnahme bei der Vorabzusage auf den späteren Verzicht, Weider, FS Lüderssen, S. 773, 783 f.

1619 LR-Rieß, Einl. G Rn 86; zustimmend Kuckein ! Ρ fister,

BGH-FS, S. 642, 659 Fn 130.

E. Unzulässige Absprache

335

läge verantwortet. Diese falle daher in die Sphäre der J u s t i z . 1 6 2 0 Es handele sich dabei um eine widerlegliche Vermutung. 1 6 2 1 Schon früher „vermutete" man i m Schrifttum bei einem behördlich erzeugten Irrtum ein „Beruhen" der Verzichtserklärung auf diesem I r r t u m . 1 6 2 2 Besteht aber der Willensmangel, wie oben dargelegt, gerade darin, dass sich ein Irrtum, nämlich derjenige über Zulässigkeit und Verbindlichkeit der Absprache, fortwirkt, liegt bereits der Annahme dieses Willensmangels eine Vermutung zu Grunde. Diese basiert letztlich darauf, dass in der besonderen, oben geschilderten Situation der Angeklagte typischerweise diesem fortwirkenden Irrtum unterliegt, weil regelmäßig kein Anlass besteht, am Verhalten der staatlichen Strafverfolgungsbehörden zu zweifeln. Dieser objektiv erkennbaren gesteigerten Gefahr für die Autonomie des Angeklagten wird man nur gerecht, wenn man das Fortwirken des Irrtums und dessen Kausalität vermutet. Eine derartige Kausalitätsvermutung ist i m Strafprozess, wie schon an anderer Stelle ausgeführt 1 6 2 3 , nichts Ungewöhnliches. Gerade bei massiven staatlichen Verstößen wie der unzulässigen Beeinflussung gem. § 136a StPO, die eine ähnliche Qualität aufweist wie das unzulässige Herbeiführen eines Rechtsmittelverzichts, streitet eine Vermutung für den Betroffenen. 1 6 2 4 So muss i m Rahmen des § 136a StPO der ursächliche Zusammenhang zwischen Aussage und unzulässiger Vernehmungsmethode nicht erwiesen sein, soweit der Verstoß als solcher fests t e h t . 1 6 2 5 Ein Verwertungsverbot bestehe schon dann, wenn sich der ursächliche Zusammenhang nicht ausschließen l ä s s t 1 6 2 6 . Es wird also vermutet, dass sich die Verletzung der Willensfreiheit regelmäßig in der alsdann gemachten Aussage niederschlägt. 1 6 2 7 Da zwischen Vorabzusage und Verzichtserklärung zwingend eine bestimmte Zeitspanne verstreicht, muss man sich allerdings fragen, ob der Willensmangel nicht auch durch Zeitablauf entfallen kann. Bezüglich der Fortwirkung von Verstößen bei vorangegangenen Vernehmungen in einer neuen Vernehmungssituation wird gelegentlich zur Beurteilung des Kausalzusammenhangs auf diesen Aspekt abgestellt. 1 6 2 8 Der BGH hat dazu ausgeführt, dass ein späteres Verhalten nicht mehr von einer unzulässigen Maßnahme beeinflusst worden ist, weil seither eine

1620 R i e ß NStZ 2000, 98, 99 - Dieser Vermutungszusammenhang führt dazu, dass der Verzicht das Schicksal der Absprache teilen soll und mithin unwirksam wird; allerdings wies Rieß schon an dieser Stelle auf die u.U. weiterführende Möglichkeit der qualifizierten Belehrung hin. 1621 Zustimmend Satzger JuS 2000, 1157, 1161. 1622 Koch JR 64, 255. 1623 Siehe oben D.III. 1624 KK-Boujong, § 136a Rn 38. 1625 K / M - G , § 136a Rn 28, 32. 1626 BGHSt 5, 290, 291; 13, 60, 61; LR-Hanack, 1627 S K / S t P O - f o £ 0 / / , § 136a Rn 84. 1628 BGH StV 96, 360; NStZ 81, 298.

§ 136a Rn 62.

336

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

längere Zeit verstrichen s e i . 1 6 2 9 Ob dadurch allerdings tatsächlich eine Fehlvorstellung entfällt, begegnet Z w e i f e l n . 1 6 3 0 Diese Zweifel müssen insofern auch gegenüber Bedenkfristen de lege ferenda beim Rechtsmittelverzicht 1 6 3 1 gehegt werden. Wahrscheinlicher ist, vor allem i m Hinblick auf die Besonderheit der Absprachesituation, dass sich der Willensmangel verfestigt. Da alle professionellen Prozessbeteiligten involviert sind und aus der Sicht des Angeklagten, der regelmäßig Rechtslaie ist, für die rechtliche Zulässigkeit der Absprache bürgen, besteht kein Anlass, zusätzlichen Rechtsrat einzuholen. Der Aspekt des verstrichenen Zeitraums zwischen Verstoß und Verzichtserklärung ist mithin kein taugliches Argument gegen die Kausalitätsvermutung. Dies wird im Schrifttum teilweise anders gesehen. Wird der Rechtsmittelverzicht vor Erlass des Urteils vereinbart, dann sei dessen Erklärung zwar vom Gericht mitveranlasst, doch erfolge auch der in unzulässiger Weise vereinbarte Rechtsmittelverzicht wirksam, wenn er nicht unmittelbar im Anschluss an die Urteilsverkündung erklärt wird, sondern erst am nächsten T a g . 1 6 3 2 Dies erscheine sachgerecht, da der Angeklagte evidentermaßen die Möglichkeit hatte, unabhängig von der Absprache und dem Eindruck des Urteils noch einmal in Ruhe zu entscheid e n . 1 6 3 3 Eine dysfunktionale Beeinflussung durch Organe der Rechtspflege liege nicht vor, wenn der Angeklagte lange genug überlegen konnte, ob er das ausgehandelte Ergebnis akzeptieren w i l l . 1 6 3 4 In diesem Fall erscheine es nahe liegend, dass das Hauptmotiv für den Verzicht nicht mehr in der Absprache liegt, sondern darin, dass der Angeklagte die Gerichtsentscheidung der Sache nach akzeptiert. 1 6 3 5 Diese Lösung weise zudem den Vorteil auf, dass sie sich nur auf allgemeine Überlegungen zum Rechtsmittelverzicht stützt und keiner Konstruktion willkürlich anmutender Sonderregelungen für jene Verfahren bedürfe, in denen eine Absprache stattgefunden h a t t e . 1 6 3 6 1629 BGHSt 27, 355, 358 - I m konkreten Fall ging es um die Verwertung einer späteren Aussage. 1630 So auch bei der Prüfung der Notwendigkeit einer qualifizierten Belehrung, Neuhaus, NStZ 97, 312, 314. Dörig, NStZ 88, 143, nennt den Umfang des verstrichenen Zeitraums eines der schwächsten Argumente gegen die Fortwirkung eines vorangegangenen Verstoßes.

•631 So z. B. der Vorschlag von Erb, G A 2000, 511, 525, 526. 1632 Erb G A 2000, 511, 524 - Diese vermittelnde Lösung ist insofern in den von Erb entwickelten Ansatz einer Typisierung durch abstrakte Wirksamkeitsvoraussetzungen eingebettet. 1633 Erb G A 2000, 511, 525. 1634 Erb G A 2000, 511, 525. 1635 Erb G A 2000, 511,514. 1636 Erb G A 2000, 511, 525. Damit reduziert Erb die Problematik auf den Aspekt der Übereilung und Unüberlegtheit, blendet dabei aber die unzulässige Willensbeeinflussung durch die Vereinbarung und damit einen maßgeblichen Aspekt aus. Er verkürzt den Sachverhalt, indem er eine potenzielle Gefahrenquelle für die Autonomie beim Verzicht nicht hinreichend würdigt. Entsprechend seinem Ansatz zur weiter gehenden Typisierung wäre vielmehr eine Diskussion geboten gewesen, ob nicht auch das Fehlen einer Vorabzusage abstrakte Wirksamkeitsvoraussetzung sein soll.

E. Unzulässige Absprache

337

Der verstrichenen Zeit zwischen Vorabzusage und Erklärung kommt mithin auch nach dieser Auffassung keine Ergebnisrelevanz zu, wohl aber der Zeit, die zwischen Urteilsverkündigung und Verzicht vergeht. Indessen kann auch diese Zeitspanne keinen Aufschluss darüber gewähren, ob der Angeklagte sich seiner Dispositionsfreiheit tatsächlich bewusst war. Eine solche Sichtweise reduziert die Problematik der Vorabzusage auf den Aspekt der Übereilung und Unüberlegtheit und blendet damit die unzulässige Willensbeeinflussung durch die Irrtumserregung aus. Eine längere Bedenkzeit nach Verkündung des Urteils fördert allenfalls die Willensbildung hinsichtlich der Erforderlichkeit der Rechtsmitteleinlegung. Das Bewusstsein, zur Abgabe der Rechtsmittelverzichtserklärung verpflichtet zu sein, beeinflusst eine längere Überlegungszeit hingegen nicht. Diese ist nicht geeignet, den Irrtum des Angeklagten über die Bindungswirkung der Zusage zu beseitigen. Aus Gründen der Rechtssicherheit muss die Fortwirkung vielmehr bis zum Nachweis des Gegenteils vermutet w e r d e n . 1 6 3 7 Eine abweichende Sichtweise würde nach einer im Schrifttum geäußerten Ansicht auch dem Interesse an einer integeren rechtsstaatlichen Strafrechtspflege nicht gerecht. 1 6 3 8 Einen Automatismus, der unwiderlegbar einen Willensmangel unterstellt, darf es wegen des Selbstbestimmungsrechts des Angeklagten jedoch nicht geben. Die Unwirksamkeit des Verzichts darf dem Angeklagten nicht „aufgedrängt" werden, wenn dieser tatsächlich autonom und selbstbestimmt handeln konnte. Insofern ist die Anmerkung des 1. Senats zutreffend, dass dem Angeklagten, der trotz unzulässiger Absprache keinem Willensmangel beim Verzicht unterliegt, die Möglichkeit offen stehen muss, auch vor Ablauf der Revisionseinlegungsfrist einen wirksamen Rechtsmittelverzicht zu erklären, etwa weil er mit dem gefundenen Ergebnis zufrieden ist oder weil er jedenfalls das Verfahren beendet sehen w i l l . 1 6 3 9 In der Regel ist dies aber gerade nicht der Fall, wie zuvor nachgewiesen wurde. Den Angeklagten trifft daher lediglich die Obliegenheit des Nachweises einer Vorabzusage. Diesen wird der Angeklagte regelmäßig i m Freibeweis erbringen müssen. Zwar sollen Absprachen protokolliert werden, womit das Protokoll gem. § 274 S. 1 StPO positive Beweiskraft entfalten würde, doch wird ein Gericht kaum - gegen BGHSt 43, 195 verstoßende - unzulässige Zusagen und Abreden protokollieren lassen. Schweigt das Protokoll bezüglich der Vorabzusage, entfaltet dieses aber keine negative Beweiskraft. 1 6 4 0 Vielmehr bleiben unzulässige Absprachen 1637

So ausdrücklich für das Beweisverwertungsverbot bei unterlassener qualifizierter Belehrung, Neuhaus NStZ 97, 312, 315. Entsprechend für die Fälle der Vorabzusage Kuckein / Ρ fister, BGH-FS, S. 642, 659 Fn 130 und früher Rieß, NStZ 2000, 96, 99. W i l l das Rechtsmittelgericht den Verzicht als wirksam behandeln, muss es die Fortwirkung also i.S. Poppers falsifizieren. 1638 So eindeutig für den unmittelbaren Anwendungsbereich des § 136a StPO und die kausale Fortwirkung eines früheren Verstoßes i m Falle erneuter Vernehmung, Neuhaus NStZ 97, 312,315. 1639 BGH NStZ 2000, 386, 387. 1640 Ausführlich Meyer-Goßner 2

Meyer

StraFo 2001, 73, 76.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

und damit auch die Vorabzusage dem Freibeweis zugänglich. 1 6 4 1 Erfolgt der Nachweis, ist es an den staatlichen Strafverfolgungsorganen, die Vermutung durch den Beweis der Willensfehlerfreiheit zu widerlegen.

4. Die sog. qualifizierte Belehrung als alternativer Lösungsansatz und Verantwortungsverteilungsmaßstab I m Regelfall ist die Erklärung eines abgesprochenen Rechtsmittelverzichts also mit einem Willensmangel behaftet. 1 6 4 2 Von dieser Vermutungsregel distanziert sich Rieß neuerdings. 1 6 4 3 Er vertritt nunmehr einen normativen Ansatz, da nur dieser Abhilfe bezüglich der Nachweisprobleme schafft. In der unzulässigen Vereinbarung ein Indiz für die Unzulässigkeit des Verzichts zu sehen, erscheine, wenn restriktiv gehandhabt, zu eng, würde aber andererseits, wenn großzügig praktiziert, auf einen Widerruf der Verzichtserklärung hinauslaufen. 1 6 4 4 Hier dränge sich die Notwendigkeit auf, zum Nachweis des „Beruhens" auf einen vorwiegend an objektiven Kriterien orientierten, normativ begründeten Zusammenhang abzustellen. 1 6 4 5 Den Anknüpfungspunkt für Rieß* normativen Ansatz liefert der 4. Senat selbst, denn dieser weist in seiner Entscheidung einen scheinbaren Ausweg aus der Kausalitätsproblematik. 1 6 4 6 So könne der Verfahrensverstoß möglicherweise geheilt werden, wenn eine qualifizierte Rechtsmittelbelehrung - i m Folgenden als sog. qualifizierte Belehrung bezeichnet - e r f o l g t . 1 6 4 7 Es sei nämlich fraglich, ob der Rechtsmittelverzicht auch dann unwirksam ist, wenn der Angeklagte vom Vorsitzenden eingehend über seine Freiheit, ungeachtet der getroffenen Absprache innerhalb der gesetzlichen Frist Rechtsmittel einzulegen, belehrt w u r d e . 1 6 4 8 In Anlehnung an diese Schlussbemerkung des 4. Senats 1 6 4 9 sieht Rieß in der sog. qualifizierten Belehrung das normative Kriterium, das zur Herstellung dieses Zusammenhanges geeignet ist und den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs 1641 So ausdrücklich der 4. Senat BGHSt 45, 227, 228; dies sei auch sachgerecht, Rieß NStZ 2000, 98, 99. Das OLG München stellte hingegen auf das Entfallen der Beweiskraft ab, w e i l der erkennende Richter durch nachträgliche dienstliche Stellungnahme den Inhalt des Protokolls wesentlich ergänzte, StV 2000, 188, 189. 1642 V g l . E.III.3.C). 1643 Während Rieß in der FS Meyer-Goßner seine Auffassung aus der LR-Kommentierung ( „ I n d i z w i r k u n g " ) - vor BGHSt 45, 227 - zumindest als nicht geeignet zur Überwindung der Nachweisschwierigkeiten bewertet, lässt er die in der Zwischenzeit entwickelte widerlegliche Vermutung unerwähnt. 1644 R i e ß f FS Meyer-Goßner, S. 645, 655.

1645 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 652. 1646 BGHSt 45, 227, 233. 1647 Die Fürsorgepflicht gebietet, dass dem Betroffenen die Freiheit seines Willensentschlusses ersichtlich gemacht wird, Koch JR 64, 255. 1648 BGHSt 45, 227, 233. 1649 BGHSt 45, 227, 233.

E. Unzulässige Absprache

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ersetzt. 1 6 5 0 Er folgert daraus i m Umkehrschluss, dass ein Rechtsmittelverzicht nur dann wirksam ist, wenn das Gericht den Angeklagten über seine Befugnis, ungeachtet der Vereinbarung Rechtsmittel einzulegen, b e l e h r t . 1 6 5 1 Wenn das Gericht die Verantwortung dafür trägt, dass es zu einer - mindestens insoweit - unzulässigen Absprache gekommen ist, dann habe es auch dafür zu sorgen, dass die nicht ausschließbare Kraft dieser Vereinbarung neutralisiert w i r d . 1 6 5 2 Die Forderung nach einer qualifizierten Belehrung, die sich aus dem Gesichtspunkt der gerichtlichen Fürsorgepflicht rechtfertige, sei mithin ein sinnvoller normativer Lösungsansatz, der eine Vermeidung der faktisch kaum zu bewältigenden Kausalitätsprobleme e r m ö g l i c h t . 1 6 5 3

a) Eignung der qualifizierten Belehrung als Verantwortungsverteilungsmaßstab U m Aufschluss über die Eignung der qualifizierten Belehrung als Lösungsmaßstab zu erlangen, gilt es zunächst, die Figur der qualifizierten Belehrung und ihre Funktion zu analysieren. Die qualifizierte Belehrung wird i m strafprozessualen Schrifttum und in der Rechtsprechung primär in Verbindung mit der Fortwirkung einer Beeinträchtigung der Aussagefreiheit gem. §§ 136, 136a StPO e r w ä h n t . 1 6 5 4 Dem liegt folgende Konstellation zu Grunde: Wird bei der Vernehmung des Angeklagten gegen § 136a I StPO verstoßen 1 6 5 5 , ist die Aussage gem. § 136a I I I StPO unverwertbar. Gleiches gilt für Verstöße gegen die Belehrungspflicht bezüglich des Rechts auf Verteidigerkonsultation und des Aussage Verweigerungsrechts, § 136 I S t P O . 1 6 5 6 1650 Dazu später ausführlich E. III.4.a) 1651 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 655. Weigend begrüßt eine solche Belehrung aus Gründen der Fairness. Ihr Fehlen begründe aber nicht ohne weiteres die Unwirksamkeit des Verzichts, StV 2000, 63, 65 Fn 18. Zustimmend hingegen Bömeke, S. 134, 135 - Darüber hinaus sei eine qualifizierte Belehrung auch generell in Absprachefällen angemessen, um dem Angeklagten zu verdeutlichen, dass eine Verständigung nicht eo ipso von einer revisionsrechtlichen Kontrolle präkludiert. Das Gericht sollte den Angeklagten sogar deutlicher als nach einem streitigen Verfahren auf die Rechtsmittelmöglichkeit hinweisen. 1652 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 656 - Diese Fürsorgemaßnahme sei auch nicht verzichtbar; ähnlich Weider, FS Lüderssen, S. 773, 782. 1653 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 655; zustimmend Bömeke, S. 135. '654 Grundlegend Geppert, GS Meyer, S. 93 ff.; LR-Hanack, § 136a Rn 65; SK/StPO-Äogall, Vor § 133 Rn 178; KK-Boujong, § 136a Rn 41; Eisenberg, Rn 577; Neuhaus NStZ 97, 312, der anmerkt, dass es nur ganz wenige Judikate zur Problematik der sog. qualifizierten Belehrung gibt; als da wären z. B. BGH StV 95, 450; BGH StV 96, 360. 1655 i m Fall LG Dortmund NStZ 97, 356 war der Angeklagte sowohl bei der ersten (polizeilichen) Beschuldigtenvernehmung als auch bei der zweiten (richterlichen) Beschuldigtenvernehmung vernehmungsunfähig. Da § 136 a I StPO nicht abschließend formuliert ist, wird auch die Vernehmung eines Vernehmungsunfähigen erfasst, vgl. Neuhaus NStZ 97, 312, 313. 22*

340

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

E i n e erneute, spätere Aussage ist h i n g e g e n r e g e l m ä ß i g v e r w e r t b a r , d e n n e i n früherer Verstoß h i n d e r t n i c h t , d e n A n g e k l a g t e n erneut, a u f r e c h t m ä ß i g e W e i s e , z u v e r n e h m e n . 1 6 5 7 Es geht also n i c h t u m d i e F e r a w i r k u n g eines B e w e i s v e r w e r t u n g s verbotes. G l e i c h w o h l s i n d F ä l l e denkbar, i n denen der Verstoß b e i der ersten Vernehmung

auch z u m Z e i t p u n k t

der späteren erneuten V e r n e h m u n g

noch

fort-

w i r k t . 1 6 5 8 U m d i e B e s e i t i g u n g dieser F o r f w i r k u n g geht es b e i der q u a l i f i z i e r t e n B e l e h r u n g . 1 6 5 9 Ist also d i e A u s s a g e f r e i h e i t auch z u m Z e i t p u n k t der späteren erneuten V e r n e h m u n g i m m e r n o c h b e e i n t r ä c h t i g t 1 6 6 0 , w o b e i a l l e i n m a ß g e b l i c h ist, o b der A n g e k l a g t e sich seiner E n t s c h e i d u n g s m ö g l i c h k e i t b e w u s s t i s t 1 6 6 1 , entsteht h i n s i c h t l i c h dieser Aussage e i n neues selbstständiges

Beweisverwertungsverbot. 1662

U m dieses z u v e r h i n d e r n , muss der B e s c h u l d i g t e v o r B e g i n n der erneuten Vernehm u n g d a r a u f h i n g e w i e s e n w e r d e n , dass seine frühere Aussage a u f G r u n d des Verstoßes u n v e r w e r t b a r ist u n d er v o n s e i n e m S c h w e i g e r e c h t i n der erneuten Vernehm u n g G e b r a u c h m a c h e n k a n n . 1 6 6 3 D e m A n g e k l a g t e n muss b e w u s s t g e m a c h t w e r den, dass er unter r e c h t l i c h e n G e s i c h t s p u n k t e n e r s t m a l i g , o h n e an d i e A n g a b e n aus der v o r h e r g e h e n d e n V e r n e h m u n g g e b u n d e n z u sein, v e r a n t w o r t l i c h

vernommen

1656 LR-Hanack, § 136 Rn 74; Beulke NStZ 96, 257, 261 - Der Vernehmungsbeamte hatte den Wunsch des Beschuldigten, vor der Fortsetzung der Vernehmung einen Verteidiger zu suchen, nicht genügend unterstützt. Vor einer Fortsetzung der Vernehmung hätte darüber hinaus über das fortbestehende Konsultationsrecht belehrt werden müssen. Diese zweite Belehrung sei nicht eine bloße Wiederholung der ersten. Sie enthält wichtige zusätzliche Informationen. Einer erneuten Belehrung über das Konsultationsrecht käme eine neue Funktion zu: Der Beschuldigte wird informiert, dass er nach wie vor anwaltlichen Beistand verlangen kann. Der zweiten Belehrung kommt eine eigene Warnungsfunktion zu, sich nicht voreilig seiner Rechte zu begeben. Das Verlangen eines erneuten Hinweises trägt der Subjektstellung Rechnung und erfüllt mithin die an ein faires, rechtsstaatliches Verfahren zu stellenden Anforderungen; vgl. auch BGH NStZ 88, 142 - Vorhalt von Ergebnissen aus unzulässiger Telefonüberwachung gem. §§ 100a,b StPO veranlasst zu späterem Geständnis, sowie ausführlich zu den wichtigsten, denkbaren Konstellationen Geppert, GS Meyer, S. 93, 101 ff. 1657 LR-Hanack, § 136a Rn 65. 1658 BGHSt 17, 364, 368 - Es mache für die Frage der Verwertbarkeit der Aussage keinen Unterschied, ob in der Vernehmung selbst ein Druck ausgeübt wird oder ob ein vorangegangener Druck weiter wirkt; vgl. auch BGH JZ 89, 347, 348. 1659 Dörig NStZ 88, 143; Neuhaus NStZ 97, 312, 314. Ohne qualifizierte Belehrung sei der Verstoß nicht ausreichend geheilt, LR-Hanack, § 136 Rn 74; G. Fezer JZ 89, 348; Geppert, GS Meyer, S. 93, 103. '660 Zur Beurteilung des Kausalzusammenhangs siehe Neuhaus NStZ 97, 312, 314. 1661 BGHSt 35, 328, 331, 332; LR-Hanack, § 136a Rn 65. 1662 Weniger treffend scheint dem Verfasser eine Sichtweise, wonach das ursprüngliche Verwertungsverbot bezüglich der ersten Aussage auch die spätere Aussage auf Grund der Fortwirkung des Verstoßes noch erfasse. Dies wäre dann tatsächlich eine Fernwirkung des Beweisverwertungsverbotes. 1663 Geppert, GS Meyer, S. 93, 94 f. Auch der restriktivere BGH (noch in BGHSt 22, 129 ff. wird eine qualifizierte Belehrung eindeutig verneint) verlangt nunmehr zumindest, dass die neue Belehrung auf die Unverwertbarkeit der früheren Aussage hinweist, doch mache ein unterlassener Hinweis die neue Aussage nicht zwingend unverwertbar, BGH StV 96, 360 (5. Senat); ähnlich BGH StV 88, 45 (3. Senat).

E. Unzulässige Absprache

341

werden soll und er deshalb seine Entscheidung, zur Sache auszusagen oder zu schweigen, völlig neu treffen k a n n . 1 6 6 4 Im Schrifttum sieht man die qualifizierte Belehrung daher als generelle Voraussetzung einer Heilung von Verfahrensverstößen durch spätere ordnungsgemäße Vernehmung. 1 6 6 5 Aus Gründen der Rechtssicherheit muss das Unterlassen der qualifizierten Belehrung entgegen verbreiteter Ansicht stets zu einem revisiblen Verfahrensverstoß f ü h r e n . 1 6 6 6 A n Form und Inhalt der Belehrung werden folgende Anforderungen g e s t e l l t 1 6 6 7 : - Information des Angeklagten über Unverwertbarkeit der unter dem Verstoß zustande gekommenen ersten Aussage. - Belehrung über Rechte, insbesondere Schweigerecht, bei erneuter Vernehmung mit dem Zusatz, dass die Entscheidung über die Ausübung dieser Rechte keine Auswirkung auf die Unverwertbarkeit der ersten Vernehmung hat. - Hinweis, dass im Falle einer im Anschluss erfolgenden Aussage diese gegen ihn verwendet werden kann. A u f die Situation des Rechtsmittelverzichts übertragen bedeutet dies, soweit man die Vorabzusage als Verfahrensfehler versteht, der beim Angeklagten auch noch zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung fortwirkt, dass eine Anwendung der qualifizierten Belehrung zur Beseitigung der Fortwirkung und zur Neutralisierung dieses Verfahrensfehlers durchaus plausibel erscheint. 1 6 6 8 Von einer Fortwirkung des Verfahrensfehlers beim Angeklagten wird auch regelmäßig auszugehen sein, weil der Angeklagte von der rechtlichen Zulässigkeit und der Bindungswirkung der Vorabzusage ausgeht oder weil deren motivierende Kraft zumindest nicht ausgeschlossen werden k a n n . 1 6 6 9

1664 LR-Hanack, § 136 a Rn 65 sowie § 136 Rn 74; vgl KK-Boujong, § 136 Rn 29. 1665 Q Fezer betont ausdrücklich die Möglichkeit, eine von Grund auf neue Vernehmung mit einer ggf. „qualifizierten Belehrung" durchzuführen, JZ 89, 348; Beulke NStZ 96, 257, 261 - Die qualifizierte Belehrung weist dabei auf die Unverwertbarkeit hin. Eisenberg spricht sogar von einer Heilungsmöglichkeit im technischen Sinn, da der Angeklagte der Verwertung - abgesehen von den Fällen des § 136a StPO - auch nachträglich zustimmen kann, Rn 577. 1666 Neuhaus NStZ 97, 312, 315 - der Substantiierungspflicht nach § 344 I I 2 StPO werde durch Benennung der Tatsachen, aus denen sich die Unverwertbarkeit der früheren Vernehmung ergibt, und des Unterbleibens einer qualifizierten Belehrung zu Beginn der Folgevernehmung genüge getan; für die Fälle der Vorabzusage zum gleichen Ergebnis kommend Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 655. 1667 Vgl. Handbuch Strafverteidigung-ßem//e/; S. 74; LR-Hanack, § 136 Rn 74; KK-Boujong, § 136 Rn 29. 1668 Vgl. zum maßgeblichen Grund für die Forderung nach einer qualifizierten Belehrung Geppert, GS Meyer, S. 93, 105, 118 - Die Pflicht zur Ausräumung von Irrtümern, die durch Strafverfolgungsorgane erzeugt wurden, gelte als verfassungsrechtlich gebotener Verfahrensstandard. Dieser Gedanke lässt sich auch auf die vorliegende Konstellation übertragen. 1669 So Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 656.

342

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

U m diesen Verfahrensfehler neutralisieren zu können, müsste die qualifizierte Belehrung folgenden Inhalt haben: - Vorabzusage entfaltet keine Bindungswirkung. - Die Erklärung des Rechtsmittelverzichts ist nicht zwingend; es droht keine Sanktionierung bei Zuwiderhandlung gegen Vorabzusage. - Ein i m Anschluss an die Belehrung erfolgender Rechtsmittelverzicht wäre wirksam und unwiderruflich. Zunächst wirkt sich die qualifizierte Belehrung nämlich auf das Vorliegen eines Willensmangels und damit auf die tatsächliche Seite aus. Das sieht wohl auch Rieß so, da die Belehrung „die nicht ausschließbare motivierende Kraft der Vereinbarung neutralisieren" s o l l . 1 6 7 0 Durch die Belehrung soll die Beeinträchtigung der Willensfreiheit wegfallen. Der Angeklagte würde dann zum Zeitpunkt des Verzichts willensmangelfrei handeln. Die oben aufgestellte Vermutungsregel käme nicht zum Tragen. Darüber hinaus entfaltet die qualifizierte Belehrung normative Wirkung bei der Zuweisung bestimmter Verantwortungsbereiche. Sie ist Ausdruck der gerichtlichen Fürsorgepflicht, deren Verletzung die staatliche Verantwortung für kausal entstandene Willensmängel begründen würde. Erfolgt trotz qualifizierter Belehrung der Nachweis eines Willensmangels durch den Angeklagten, so steht - soweit es neben der Vorabzusage nicht zu weiteren Autonomiebeeinträchtigungen durch die Strafverfolgungsorgane kam - zugleich fest, dass das Gericht auf Grund des pflichtgemäßen Verhaltens normativ keine Verantwortung für diesen Mangel trägt. Die qualifizierte Belehrung hätte mithin eine doppelte Wirkung! Primär würde die Belehrungspflicht indessen auf tatsächlicher Ebene wirken, weil das Gericht sich mit ihrer Hilfe bereits um die Beseitigung von Willensmängeln bemüht. Allerdings muss eine qualifizierte Belehrung stets i m Zusammenhang mit dem konkreten Willensmangel gesehen werden, auf dessen Beseitigung sie a b z i e l t . 1 6 7 1 Willensmangel bei erfolgter Vorabzusage ist ein Irrtum über deren Bindungswirkung. Zu dessen Beseitigung ist eine qualifizierte Belehrung sicherlich geeign e t . 1 6 7 2 Zu Recht fragt allerdings Bömeke, ob die qualifizierte Belehrung auch geeignet sei, den Erwartungsdruck, der durch die Vorabzusage entstanden ist, nachträglich zu m i n d e r n . 1 6 7 3 Es lässt sich nicht bestreiten, dass trotz des Wissens um >670 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 656. 1671

Auch der 4. Senat sieht in der qualifizierten Belehrung zunächst nur die Möglichkeit, den Wissensstand des Angeklagten bei erfolgter Vorabzusage um die bestehende Freiheit der Rechtsmitteleinlegung zu erweitern, vgl. BGHSt 45, 227, 233. 1672 Gegen die qualifizierte Belehrung spricht insofern, dass sie sich fast ausschließlich als Lösungsansatz für die Fälle der Vorabzusage eignet. Die Heilung sonstiger Absprachemängel wird wesentlich dadurch erschwert, dass der zur Beseitigung der Fortwirkung erforderliche Inhalt der Belehrung von der konkreten Ausgestaltung der Absprache und der vorangegangenen Gespräche abhängt. Nur bei hinreichender Präzisierung der Belehrung wird der Angeklagte eine wirklich autonome Entscheidung treffen können. 1673 Bömeke, S. 135.

E. Unzulässige Absprache

343

die bestehende rechtliche Möglichkeit der Rechtsmitteleinlegung ein faktischer Druck auf dem Angeklagten verbleibt. Die Absprache und ihre Erfüllung sind zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung - also dem Zeitpunkt, in dem die Belehrung erfolgen soll - unter Mitwirkung des Angeklagten weit gediehen. Zwar wird ein Irrtum über die Bindungswirkung durch die Belehrung behoben, doch kann die qualifizierte Belehrung nach Urteilsverkündung nicht die gleiche Neutralisierungswirkung haben, wie bei den Fällen der späteren ordnungsgemäßen Vernehmung als originärem Anwendungsbereich der qualifizierten Belehrung. In jenen Fällen kann der Betroffene seine Entscheidung völlig neu treffen. Der Betroffene wird nicht nur über die fehlende Verbindlichkeit und Unverwertbarkeit der ersten Aussage aufgeklärt. Es findet auch eine Auswechslung der Vernehmungssituation, des Vernehmungsumfeldes s t a t t . 1 6 7 4 Anders als bei qualifizierten Belehrungen zur Heilung von Absprachefehlern geht es auch tatsächlich wieder „bei Null los". Die Belehrung erfolgt durch dieselbe Person, welche zuvor die Vorabzusage verlangte, in der Drucksituation nach Urteilsverkündung bei Anwesenheit aller weiteren Absprachebeteiligten. Nochmals: Derselbe Richter, der sich bewusst entgegen BGHSt 43, 195 einen Rechtsmittelverzicht ausdrücklich zusagen ließ, offenbart dem Angeklagten nur kurze Zeit später die Unverbindlichkeit der Z u s a g e . 1 6 7 5 Eine paradoxe S i t u a t i o n 1 6 7 6 , die den Angeklagten als Rechtslaien überfordern kann, werden doch auch die übrigen Absprachebeteiligten, vor allem sein Verteidiger, die Belehrung ohne Überraschung vernehmen und fortfahren, wie - unzulässig - vereinbart 1 6 7 7 . Dem Angeklagten wird der informelle Fortbestand der Absprache suggeriert. Die Erteilung einer solchen Belehrung grenzt insofern an das „Schauspiel i m Gerichtssaal", das schon häufig Gegenstand der Kritik w a r . 1 6 7 8 Der Angeklagte weiß genau, was man von ihm trotz fehlender rechtlicher Verpflichtung erwartet: den sofortigen Rechtsmittelverzicht. Zumindest faktisch wird sich der Angeklagte auch weiterhin gebunden fühlen. Den „Neustart", den die qualifizierte Belehrung in ihrem ursprünglichen Anwendungsbereich bew i r k t 1 6 7 9 , kann ihre Vornahme auf Grund der Einbindung der Vorabzusage in den 1674 Die erneute Vernehmung erfolgt zeitlich nachgelagert, unter Umständen sogar mit einem anderen Vernehmenden. 167 5 Bömeke merkt daher zutreffend an, dass das Gericht sich den Verzicht gar nicht hätte versprechen lassen dürfen, wenn es wirklich davon ausgeht, dass der Angeklagte völlig frei entscheiden soll, S. 135. 1676 Bömeke spricht von einem „für den Angeklagten nur schwer verständlichen Widerspruch", S. 135. 167 7 Siolek führt aus, dass ihm nur zwei Fälle bekannt geworden sind, in denen Angeklagter und Verteidiger trotz vorheriger Zusage nach der Urteilsverkündung nicht auf Rechtsmittel verzichten wollten. Nach dem jeweiligen Hinweis des Gerichts, künftig keine Absprachen mehr mit den Verteidigern treffen zu wollen, wurde dann doch auf Rechtsmittel verzichtet, FS Rieß, S. 563, 581; zu den Interessenkonflikten, in die der Verteidiger in derartigen Situationen geraten kann, vgl. Schünemann NJW 89, 1895, 1900 ff. 1678 SK/StPO-Schlüchter, Vor § 213 Rn 30; Seier JZ 88, 683; jüngst Weider, FS Lüderssen, S. 773.

344

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Gesamtvorgang der Absprache nicht herbeiführen. Eine vollständige Neutralisation der Einflussnahme auf den Angeklagten erfolgt nicht. Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass der verbleibende Druck tatsächlich einen Willensmangel hervorruft, der die erforderliche Freiwilligkeit der Verzichtserklärung faktisch so stark beschränkt, dass trotz qualifizierter Belehrung ein Verstoß gegen den fair trial-Grundsatz vorliegt. Selbstbestimmtes, autonomes Handeln erfordert keine gänzliche Freiheit von Druck. So kann ein Entscheidungsdruck auch als Kehrseite aus der bloßen Existenz diverser Wahlmöglichkeiten resultieren. Die Autonomie des Betroffenen berührt dies nicht. Vorliegend weiß der Angeklagte jedenfalls, dass er rein rechtlich die Wahl zwischen Rechtsmitteleinlegung und Verzicht hat. Auch Bömeke gelangt zu dem Ergebnis, dass zumindest eine eindeutige Belehrung die motivierende Kraft der unzulässigen Absprache neutralisiert. 1 6 8 0 Es würde den Schutz des mündigen Angeklagten überdehnen, wenn man einem Rechtsmittelverzicht auch in diesem Falle die Freiwilligkeit abspräche. 1 6 8 1 Diese knappe Beurteilung erscheint zu pauschal. Bei genauerer Betrachtung drängt sich eine Differenzierung auf, und zwar danach, ob dem Angeklagten zum Zeitpunkt der qualifizierten Belehrung die zugesagten staatlichen Leistungen bereits gewährt wurden. Im Folgenden werden daher die Fälle vorheriger und nachträglicher Leistungsgewährung einer isolierten Betrachtung unterzogen.

(1) Vorherige Leistungsgewährung In den Fällen vorheriger Leistungsgewährung, also der Erbringung der von staatlicher Seite versprochenen Gegenleistung vor oder spätestens mit dem Urteil, z. B. Einhaltung einer Strafmaßzusage oder Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung, sind alle versprochenen Vorteile gewährt worden. Der Angeklagte wird regelmäßig mit dem Ergebnis der Absprache zufrieden sein und hat keinen Anlass zur Rechtsmitteleinlegung, so dass in Fällen der „erfolgreichen" - unzulässigen Absprache gilt: „Wo kein Rechtsmittelführer, da keine nächstinstanzliche Kontrolle". Hält sich das Gericht nicht an sein Versprechen, z. B. die NichtÜberschreitung einer gewissen Strafhöhe, wird der Angeklagte ohnehin keinen Rechtsmittel verzieht erklären. Der verbleibende faktische Druck vermag in diesen Situationen keine Fremdbestimmung der Verzichtserklärung des Angeklagten zu bewirken. Autonomie verlangt keine völlige Freiheit von äußeren Einflüssen. Trotz der genannten Bedenken ist die qualifizierte Belehrung daher zumindest bei vorheriger Leistungsgewährung taugliches Mittel zur Wiederherstellung der Willensfreiheit des Angeklagten. Bei Vornahme der Verzichtserklärung handelt der Angeklagte somit selbstbestimmt und eigenverantwortlich. 167 9

G. Fezer verlangt eine von Grund auf neue Vernehmung, JZ 89, 348. 1680 Bömeke, S. 135, so wohl auch Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 655 f. 1681 Bömeke, S. 135.

E. Unzulässige Absprache

345

(2) Nachträgliche Leistungsgewährung Etwas anderes könnte für die Fälle der nachträglichen Leistungsgewährung gelten. Damit sind Vorteilszusagen durch die staatlichen Strafverfolgungsorgane gemeint, die ihrer Natur entsprechend erst nach Eintritt der Rechtskraft gewährt werden (können). Dies sind typischerweise Nichtverfolgungszusagen der StA und Zusagen bzgl. Strafvollzug und -Vollstreckung.

(a) Vorliegen eines Willensmangels trotz qualifizierter

Belehrung

Wird der Angeklagte i m Anschluss an die Urteilsverkündung über die fehlende ΒindungsWirkung aufgeklärt, könnte eine beachtliche faktische Beeinträchtigung der Willensbildungsfreiheit fortbestehen. Über die bloße Suggestion des faktischen Fortbestandes der unzulässigen Absprache hinaus wird dem Angeklagten in der Verzichtssituation bewusst sein, dass ein Unterlassen des Verzichts zwangsläufig das Ausbleiben der noch ausstehenden „Gegenleistung" nach sich zieht. Anders als in den Fällen der vorherigen Leistungsgewährung sind dem Verurteilten noch nicht alle versprochenen Vorteile gewährt worden. Gericht und StA sitzen mithin am „längeren Hebel", denn der Angeklagte weiß, dass er noch nicht alles Erforderliche getan hat, um sich die Vorteilsgewährung zu sichern. 1 6 8 2 Die Erwartung, durch den Rechtsmittelverzicht die „vereinbarungsgemäße" Grundlage i.S. eines „do ut des" für die nachträgliche Leistungserbringung zu schaffen, wird maßgeblich seine Willensbildung bestimmen. Solange und soweit der Angeklagte tatsächlich darauf vert r a u t 1 6 8 3 , durch die Erklärung des Rechtsmittel Verzichts die Einhaltung der Absprache beeinflussen zu können, unterliegt er einem Motivirrtum. Dieser Motivirrtum führt beim Angeklagten zu einem Unterwerfungszwang, der seine Selbstbestimmtheit beseitigt. Die Belehrung durch das Gericht ist daher lediglich irritierend. Die qualifizierte Belehrung knüpft ausschließlich an die Vorabzusage an und ist allein zur Beseitigung des Irrtums über die Bindungswirkung der Vorabzusage geeignet. Dagegen ist sie nicht geeignet, die Drucksituation zu neutralisieren, die der Struktur einer solchen Absprache immanent ist. In den Fällen der vorherigen Leistungsgewährung besteht zwar weiterhin ein faktischer Druck, doch fehlt es den staatlichen Organen an effektiven Druckmitteln, um die Erklärung des Rechtsmittelverzichts auch durchzusetzen. Bei nachträglicher Gewährung hingegen trifft den Angeklagten auch bezüglich des Rechtsmittelverzichts eine Vorleistungspflicht. Der Angeklagte wird regelmäßig davon ausgehen, dass die zusagenden staatlichen 1682 Die Einbeziehung eines Rechtsmittelverzichts in die Absprache ist jedenfalls dann unzulässig, wenn bei dem Angeklagten der Eindruck erweckt wird, er müsse auf Rechtsmittel verzichten, wenn er in den Genuss der staatlichen Gegenleistung kommen wolle, Kuckein / Pfister, BGH-FS, S. 642, 655. 1683 Hiermit ist das rein tatsächliche Vertrauen gemeint. Die Frage, ob dieses auch schutzwürdig ist, betrifft einen anderen Problemkreis, nämlich die Verantwortungsverteilung.

346

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Organe bei Nichterfüllung der Vorabzusage von der nachträglichen Leistungsgewährung absehen werden. Die Autonomie der Willensbildung ist mithin beeinträchtigt. Die qualifizierte Belehrung ist in den Fällen der nachträglichen Gewährung kein taugliches Mittel zur Gewährleistung der Willensfreiheit und des Selbstbestimmungsrechtes des Angeklagten. Trotz qualifizierter Belehrung bestünde mithin ein Mangel bei der Willensbildung, der sich aus der von den professionellen Absprachebeteiligten geschaffenen Prozesslage speist.

(b) Verantwortlichkeit

für die Entstehung dieses Willensmangels

Damit ist jedoch nichts über die Wirksamkeit des Rechtsmittel Verzichts gesagt. Es bleibt zu klären, wer die Verantwortung für diesen Willensmangel trägt. Zunächst ist festzuhalten, dass der Angeklagte keinen Anspruch auf die Erfüllung der denkbaren nachträglichen staatlichen Leistungen hat. So sind - ungeachtet der ohnehin häufig bestehenden Kompetenzwidrigkeit einer solchen Zusage durch Gericht oder StA - für die Prüfung der Erfüllbarkeit der Strafvollzugs- und Strafvollstreckungszusagen Tatsachenfeststellungen nötig, die zum Zeitpunkt des gerichtlichen Verfahrens noch gar nicht getroffen werden können (z. B. Verhalten i m Vollzug). Die Wahrnehmung der Rechtsmittelbefugnis hat keinen Einfluss auf die Tatsachenbasis dieser Entscheidungen. Dies gilt zwar nicht für die Nichtverfolgungszusage gem. § 154 I Nr. 1 StPO, deren Tatbestand die Rechtskraft der Verhängung einer anderen Strafe (zumindest aber deren Erwartung) verlangt, doch entfaltet auch eine Einstellung nach § 154 StPO keine Rechtskraft. 1 6 8 4 Das Absehen von der Strafverfolgung nach Absatz I ist faktisch nur vorläufiger Natur. Die StA kann ihre Ermittlungen jederzeit wieder aufnehmen, wenn dies geboten erscheint. 1 6 8 5 Es bedarf lediglich eines sachlich einleuchtenden Grundes. 1 6 8 6 Auch die Beschränkungen der Strafverfolgung gem. § 154a StPO sind lediglich vorläufiger N a t u r . 1 6 8 7 Hat der Angeklagte aber von vornherein keinen Anspruch auf die Erfüllung der Zusagen, so erklärt er den Rechtsmittelverzicht auf eigenes Risiko, wenn er dadurch die Erfüllung dieser Zusagen herbeiführen will. Seine Autonomie wird durch diese Option nicht beeinträchtigt, sondern vielmehr erweitert. Eine solche Sichtweise greift indessen zu kurz. Wie bereits unter C.I.5.c)(2) ausgeführt, kommt es nicht darauf an, ob der Angeklagte einen rechtlichen Anspruch auf die Einhaltung der jeweiligen Zusage hat, sondern ob sein Vertrauen auf die Einhaltung der jeweiligen Zusage schutzwürdig ist. Maßgeblich für die Verantwortungsverteilung in den Fällen der nachträglichen Leistungsgewährung und erfolgter qualifizierter Belehrung ist somit der Grundsatz des Vertrauensschutzes als Element des Fairness„ *„ „ •

pnnzips.

1688

1684 BGHSt 30, 165, 166; 37, 10, 13; KK-Boujong,

§ 154 Rn 24.

1685 K / M - G , § 154 Rn 15,21a. 1686 KK-Boujong,

§ 154 Rn 24.

1687 K / M - G , § 154a Rn 19, 24; LR-Beulke, § 154a Rn 22, 31.

347

E. Unzulässige Absprache

Für die Zusagen zu Strafvollzug und -Vollstreckung wurde der Aspekt des Vertrauensschutzes bereits ausführlich erörtert. 1 6 8 9 Für die Nichtverfolgungszusage erkennt auch der BGH die grundsätzliche Schutzwürdigkeit des Vertrauens auf die Einhaltung der Zusage trotz fehlender Rechtskraftwirkung a n . 1 6 9 0 Die Rücknahme eines eingelegten Rechtsmittels sei als Gegenleistung für die Zusage der StA, von der Strafverfolgung in einer anderen Sache nach § 154 I Nr. 1 StPO abzusehen, durchaus denkbar und grundsätzlich zulässig. 1 6 9 1 Gleiches muss dann auch für den Verzicht g e l t e n . 1 6 9 2 Bei Nichteinhaltung der Zusage läge daher ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens v o r 1 6 9 3 , wobei man bei den vorläufigen Zusagen gem. §§ 154, 154a StPO wird differenzieren müssen. Schließlich sehen diese Normen selbst ein zulässiges Abweichen vor. Verwirklicht sich nämlich das sog. „Restrisiko", weil nachträglich neue Umstände bekannt werden, ist der Angeklagte nicht schützenswert, da er dieses Risiko auf Grund seines überlegenen Wissens von vornherein bewusst eingegangen ist. Anders ist die Schutzwürdigkeit des Vertrauens indessen zu beurteilen, wenn ohne sachlichen Grund von der Zusage abgewichen wird oder ein Dissens über die Reichweite der Zusage - primär der Nichtverfolgungszusage - vorliegt. I m Falle eines Dissenses hängt es maßgeblich von den Umständen des Einzelfalles ab, wie der Angeklagte die Zusage verstehen durfte. Soweit das Vertrauen des Angeklagten auf eine nachträglich zu erfüllende Zusage jedoch schutzwürdig ist, wird er von der Verantwortung für den Willensmangel entbunden. Der Staat trägt dann die Verantwortung für die Entstehung des oben bezeichneten Willensmangels. Der Rechtsmittelverzicht ist unwirksam.

b) Zwischenergebnis zur qualifizierten

Belehrung

M i t diesem Befund geht eine entscheidende Erkenntnis einher: Maßgeblichen Einfluss auf die Erklärung des Rechtsmittelverzichts hat bei nachträglicher Leistungsgewährung die Aussicht auf die künftigen Leistungen des Staates. Das muss auch für den Fall angenommen werden, dass eine qualifizierte Belehrung nicht erfolgt. Die Vorabzusage ist dann allenfalls mitursächlich für den Rechtsmittelverzicht. Das belegt auch das folgende Gedankenexperiment: Würde sich die Absprachepraxis nämlich dahingehend ändern, dass der Rechtsmittelverzicht nicht mehr ausdrücklich vereinbart, sondern lediglich i.S. einer Geschäftsgrundlage erwartet 1688 Ausführlich C.I.5. 1689 Vgl. oben E.II.2. 1690 BGHSt 37, 10, 14. 1691 BGHSt 37, 10; zustimmend Baier NStZ 2000, 160, 161. 1692 Vgl. Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 646 ff. 1693 Dieser finde bei der Strafzumessung Berücksichtigung, BGHSt 37, 10, 14.

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Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

w i r d 1 6 9 4 , würde es zunächst an einem Irrtum über die rechtliche Verpflichtung zur Abgabe der Verzichtserklärung fehlen. Dennoch wird der Angeklagte auch bei dieser Sachlage eine Verzichtserklärung abgeben, wenn er auf die Einhaltung und die rechtliche Einhaltbarkeit der Absprache vertraut. Sein Verhalten wird von der Aussicht auf die spätere staatliche Leistungserbringung bestimmt. Dies wird selbst dann anzunehmen sein, wenn der Rechtsmittelverzicht nicht einmal mehr Geschäftsgrundlage ist, sondern die abgesprochene Entscheidung i m Vertrauen auf die Einhaltung der Absprache lediglich nicht angefochten w i r d . 1 6 9 5 Das Verstreichen lassen der Frist muss dabei auch nicht vereinbart sein, solange der Angeklagte davon ausgeht, dass er mit der Ermöglichung der Rechtskraft die Grundlage für die spätere staatliche Gegenleistung schafft. Die Erkenntnis, dass der Angeklagte seine Motivation maßgeblich aus dem Umstand einer noch ausstehenden staatlichen Gegenleistung b e z i e h t 1 6 9 6 , veranlasst dazu, den Blick auf den eigentlichen Kern der Problematik zu lenken: den Inhalt der Absprache. Zumindest für die Fälle der nachträglichen Leistungsgewährung scheint Weigend Recht zu behalten, wenn er davon ausgeht, dass der Druck auf den Angeklagten durch die im Gesamtpaket der Absprache enthaltene Vorabzusage nicht merklich erhöht werde. Eine vorrangige Ausrichtung der Diskussion um die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts am Problem der Vorabzusage und eine Entwicklung von Lösungswegen nur für diesen Verfahrensfehler ließe diesen entscheidenden Gesichtspunkt unberücksichtigt. Eine qualifizierte Belehrung durch das Gericht, die dem Anliegen des Angeklagten tatsächlich Rechnung trägt, andererseits aber auch die Schutzwürdigkeit des Vertrauens entfallen ließe, müsste deshalb zusätzlich den Hinweis enthalten, dass die Zusagen des Staates unverbindlich, nicht der Rechtskraft fähig oder rechtswidrig s i n d . 1 6 9 7 Letztlich ist die Annahme der Unwirksamkeit bei unterbliebener Belehrung auch nichts anderes als eine Vermutungsregel, denn das Fehlen einer qualifizierten Belehrung enthebt nicht vom Erfordernis des Kausalitätsnachweises. Wollte man mit dem normativen Kriterium der qualifizierten Belehrung jedoch eine Loslösung vom Erfordernis eines Willensmangels betreiben, so schüfe dies einen Unwirksamkeitsautomatismus, der in Extremfällen auf eine aufgedrängte Fürsorge hinausliefe, mithin ein Eingriff in die Autonomie des Dispositionsberechtigten. 1 6 9 8 1694 Wünschenswert wäre es daher, wenn in allen Fällen von Absprachen, also auch wenn ein Rechtsmittelverzicht nicht ausdrücklich thematisiert wurde, eine qualifizierte Rechtsbehelfsbelehrung gegeben würde, um dem Angeklagten zu verdeutlichen, dass ihn die konsensuale Verfahrenserledigung nicht eo ipso von einer revisionsgerichtlichen Überprüfung präkludiert, Bömeke, S. 135. Dies sei auch de lege ferenda wünschenswert, S. 135, 136. 1695 Auch in diesem Fall kann das Gericht ein abgekürztes Urteil verfassen, vgl. § 267 I V StPO. 16% Weigend StV 2000, 63, 66. 1697 Das Dissensrisiko lässt sich aber auch durch eine solche Belehrung nicht beseitigen, soweit keine Protokollierung erfolgt. 1698 Diese Konsequenz erkennt auch Rieß. Denn anders ist es nicht zu verstehen, wenn dieser die Frage aufwirft, ob auch Ausnahmen anzuerkennen sind, wenn die Beteiligten eindeu-

E. Unzulässige Absprache

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Des Weiteren würde eine solche Sichtweise die Funktion der qualifizierten Belehrung in ihrem originären Anwendungsbereich außer Acht lassen, denn dort führt gerade das Unterlassen einer solchen qualifizierten Belehrung zu erheblichen faktischen Problemen, wenn die Kenntnis der Aussagefreiheit bzw. die Nichtvornahme der (ersten) Belehrung zweifelhaft sind. Zur Problembewältigung trägt die qualifizierte Belehrung nur bei, wenn sie tatsächlich erfolgt. Unterbleibt sie jedoch, lässt dies isoliert betrachtet keine Schlüsse auf die faktischen Zusammenhänge zu. Dazu bedarf es dann wiederum einer Vermutungsregel 1 6 9 9 , wie sie bereits in der vorliegenden Arbeit entwickelt w u r d e 1 7 0 0 .

IV. Gesamtergebnis „unzulässige Absprache" Wird ein Willensmangel beim Rechtsmittelverzicht durch inhaltliche oder verfahrensrechtliche Mängel einer Absprache i m Strafverfahren ausgelöst, kann die Behandlung dieser Willensmängel unter Anwendung der bisher i m Rahmen der Untersuchung entwickelten Grundsätze erfolgen. 1 7 0 1 Einer „Sonderlösung" bedarf es nicht. Ist die Absprache inhaltlich unzulässig, genießt der Angeklagte Vertrauensschutz. Der Rechtsmittelverzicht ist wegen des staatlichen Verstoßes gegen den fair trial-Grundsatz unwirksam. Auch ein i m Voraus vereinbarter Rechtsmittelverzicht ist grundsätzlich unwirksam, wenn keine qualifizierte Belehrung erfolgt ist. Erfolgte hingegen eine qualifizierte Belehrung, ist zu differenzieren: Erfolgt die staatliche Leistungsgewährung spätestens durch das Urteil, ist der Verzicht wirksam. Soll die staatliche Leistungsgewährung nachträglich erfolgen, genießt der Angeklagte bezüglich dieser Zusage aber keinen Vertrauensschutz, dann ist auch dieser Verzicht wirksam. tig erklären, dass der Verzicht in Kenntnis der Wirkungslosigkeit der Vorausvereinbarung erfolgt ist, vgl. Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 656. Dies bedürfe nach seiner Auffassung aber keiner Vertiefung. 1699 Der BGH behilft sich in den genannten Situationen mit der Widerspruchslösung, BGHSt 38, 214, 225 ff.; 39, 349, 352. Die Widerspruchslösung dient in ihrem originären Anwendungsbereich zur Konkretisierung der nachträglichen Zustimmung des Angeklagten, welche das Verwertungsverbot entfallen lässt, LR-Hanack, § 136 Rn 57. Sollte der BGH im Übrigen den Versuch unternehmen, die Widerspruchslösung „ i m Paket" mit der qualifizierten Belehrung auf die Fälle der Vorabzusage zu übertragen, würde das zu unhaltbaren Konsequenzen führen, wenn man davon ausginge, dass beim verteidigten Angeklagten allein der fehlende Widerspruch des Verteidigers den Willensmangel entfallen ließe bzw. einen Verzicht auf dessen Geltendmachung bedeute. Den nach der Widerspruchslösung erforderlichen Widerspruch wird der Verteidiger gerade nicht einlegen, um seine Position als potenzieller zukünftiger Absprachepartner nicht zu gefährden, und ohne Verteidiger findet eine Absprache überhaupt nicht statt, da der Angeklagte selbst dem Gericht und der StA nicht als adäquater Gesprächspartner gilt, vgl. Schmitt G A 2001, 411,412. 1700 siehe oben D.III., E.III.3.c). 1701 Siehe oben C.I.5.

350

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

Soll die staatliche Leistungsgewährung nachträglich erfolgen und besteht Vertrauensschutz bezüglich der Zusage, dann ist der Rechtsmittelverzicht unwirksam. Dies gilt auch unabhängig vom Bestehen einer Vorabzusage.

V. Lösung der Problematik durch den Gesetzgeber? Das Bundesjustizministerium plant eine Reform des Strafverfahrens. Die Grundzüge finden sich in einem sog. „Eckpunktepapier". 1 7 0 2 Konsensuale Gestaltungsund Erledigungsmöglichkeiten sollen eine Konzentration des kontradiktorisch ausgerichteten Strafprozesses b e w i r k e n . 1 7 0 3 Dazu zählt auch die Absicht, Absprachen im Strafverfahren zu formalisieren. 1 7 0 4 Dies sei erforderlich, um die Grenzen der Zulässigkeit einer Absprache verbindlich festzulegen und unerwünschte Absprachepraktiken, die auf der Grundlage einer unsicheren Rechtsgrundlage entstanden sind, zu unterbinden. 1 7 0 5 Konkretes enthält das Papier nicht, lediglich den Hinweis, dass eine Normierung in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH und des BVerfG die zu beachtenden rechtsstaatlichen Anforderungen gewährleisten und sicherstellen s o l l 1 7 0 6 . Zur Rechtsprechung des BGH, die diese Anforderungen zu sichern sucht, zählt auch das Verbot, sich einen Rechtsmittel verzieht i m Voraus versprechen zu lassen. Sollte der Gesetzgeber also die Vorabzusage per Gesetz für unzulässig erklären, bleibt die Frage, ob ein Gesetzesbefehl geeigneter ist, die Tatgerichte zu domestizieren, als die bisherige richterrechtliche Verfahrensregel, die offen missachtet wurde. Diesbezüglich wurde i m Schrifttum bereits treffend formuliert, dass „der BGH beeinflussen kann, was geschrieben und gesagt wird, aber er kann nicht ändern, was getan w i r d " . 1 7 0 7 Es fragt sich, ob der Gesetzgeber faktisch größeren Einfluss auf die tatgerichtliche Praxis hat als der BGH. Skepsis scheint berechtigt. Auch i m Schrifttum wurde bereits die Vermutung geäußert, dass die gegenwärtige Absprachenpraxis sich durch keinerlei höchstrichterlichen oder gesetzgeberischen

1702 Eckpunkte einer Reform des Strafverfahrens, abgedruckt in StV 2001, 314 ff.; erläuternd zur gesamten geplanten Reform, Däubler-Gmelin StV 2001, 359 ff. 1703 Eckpunktepapier StV 2001, 314. Ausführlich und eindrucksvoll zur gegenwärtigen Reformsituation, Schünemann ZStW 114 (2002), 1, 29 ff. «704 Nr. 8 des Eckpunktepapiers; Auch Kuckein ! Ρ fister, BGH-FS, S. 642 , 645 f., sehen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.

1705 Däubler-Gmelin StV 2001, 359, 362 - Es gehe allerdings nur um Mindeststandards. Aus Gründen der Rechtsklarheit sei eine Normierung aber durchaus zu begrüßen, Gräfin v. Galen/Wattenberg ZRP 2001, 445, 448. 1706 Eckpunktepapier der Bundesregierung, StV 2001, 314, 316. Schünemann bezeichnet das Eckpunktepapier an dieser Stelle als „euphemistischen Schleier", der die endgültige Zerstörung des rechtsstaatlich-liberalen Strafverfahrens von 1877 verdeckt, Schünemann ZStW 114(2002), 1,53. i™7 Weigend StV 2000, 63, 67.

E. Unzulässige Absprache

351

Kraftakt aus den Gerichtssälen fernhalten lasse. 1 7 0 8 Wird man also künftig i m Anschluss an eine Normierung der Abspracheregeln in dem oben benannten Aphorismus „der BGH" durch „der Gesetzgeber' 4 ersetzen müssen?

1. Mögliche Formen und Auswirkungen einer gesetzlichen Festschreibung des Verbots der Vorabzusage Jähnke sieht das Kernproblem der gegenwärtigen Absprachepraxis, zu der stets die Vereinbarung eines Rechtsmittel Verzichts i m Voraus z ä h l t 1 7 0 9 , in den fehlenden Sanktionsmöglichkeiten. Die bloße Normierung der Verfahrensregeln reiche nicht, wenn Gefahr und Neigung, das Normierte nicht zu befolgen, so groß sind, wie offenbar i m gegenwärtigen Zeitpunkt. Eine gesetzliche Regelung ohne durchgreifende Sanktionsmöglichkeit könnte dann ein „Schlag ins Wasser" s e i n . 1 7 1 0 Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass die Frage, wie Verstöße gegen das Gesetz zu handhaben sind, vom Gesetzgeber unbeantwortet bleibt, denn bezüglich der Sanktionierung einer unzulässigen Absprache hat sich bisher keine einheitliche Rechtsprechung gebildet, die dem Gesetzgeber als Vorlage für eine gesetzliche Regelung dienen könnte. Man bedenke nur die Uneinigkeit zwischen den Senaten über das Schicksal des i m Voraus vereinbarten Rechtsmittelverzichts. 1 7 1 1 Die ausschließliche Normierung des Verbots einer Vorabzusage macht diesen Streitstand auch nicht obsolet. Zwar wäre es gesetzestechnisch ein Leichtes, die Zulässigkeit der Absprache zur Wirksamkeitsvoraussetzung für alle aus dieser Absprache resultierenden Prozesshandlungen zu machen, doch soviel Eigeninitiative und Innovationswillen wird der Gesetzgeber vermutlich kaum z e i g e n . 1 7 1 2 Ebenso wenig ist mit der Entwicklung eines absprachespezifischen Leistungsstörungsrechts zu rechnen, welches vor allem den Problembereich der gescheiterten Absprache, insbesondere das Dissensrisiko, einer gesetzlichen Regelung z u f ü h r t . 1 7 1 3 In diese Richtung geht auch die Einschätzung von Schünemann, wonach der Gesetzgeber lediglich den 1708 Weigend NStZ 99, 57, 63. 1709 Siehe E.III. 1710 Jähnke ZRP 2001, 574, 577. 1711 Eine umfassende Darstellung der Rechtsprechung des BGH findet sich unter E.III. 1. 1712 i m Hinblick auf den Rechtsmittel verzieht käme eine solche Wirksamkeitsvoraussetzung dabei der Rechtsprechung des 4. Senats sehr nahe. Auch dieser fordert die Unwirksamkeit letztlich nur deshalb, weil die Vereinbarung einer Vorabzusage unzulässig ist. A u f das Vorliegen eines Willensmangels und dessen Nachweis käme es dann nicht mehr an. Der Gesetzgeber hätte mithin die Möglichkeit, einen wesentlichen Teil der Willensmangelproblematik per Gesetz zu lösen. 1713 Wagner, FS Gössel, S. 585, 600 f., schlägt diesbezüglich die Schaffung eines einvernehmlichen Verfahrens vor. Dadurch löse sich die Problematik des Rechtsmittelverzichts von selbst, denn gegen die Entscheidung in einem solchen Verfahren wären ohnehin keine Rechtsmittel gegeben.

352

Teil 2: Anwendung des Untersuchungsansatzes auf die einzelnen Willensmängel

vom 4. Senat gezogenen Rahmen legislatorisch sanktionieren möchte, ohne substanzielle eigene Entscheidungen zu treffen und insbesondere ohne irgend etwas an der Prozessstruktur zu ä n d e r n . 1 7 1 4 Konsequenz einer derart beschränkten gesetzlichen Regelung könnte deshalb in der Tat die Fortsetzung der bisherigen Praxis, vor allem der Vorabzusage, nunmehr entgegen dem ausdrücklichen Gesetzesbefehl sein. Ein Eingriff ex officio ist den Revisionsgerichten nicht möglich. Daher bliebe selbst ein Normverstoß bei Einhaltung des Vereinbarten für den Richter weit gehend r i s i k o l o s . 1 7 1 5 Allerdings hofft man auf die Signalwirkung einer verbindlichen gesetzlichen R e g e l u n g . 1 7 1 6 Die Gesetzesbindung aus Art. 20 I I I GG sollte zumindest die Befolgung durch die Richterschaft sichern, welche dann nicht mehr von den i m Einzelfall unverbindlichen Grundsätzen des BGH abweichen dürften. Gerade aus diesem Grunde bedarf es einer auch für den Betroffenen nachvollziehbaren schützenden Form.1717 Eine denkbare Auswirkung der gesetzlichen Normierung des Verbots der Vorabzusage wäre aber auch, dass man von der ausdrücklichen oder stillschweigenden Vereinbarung des Rechtsmittelverzichts absieht und die wechselseitigen Verzichtserklärungen stillschweigend zur Geschäftsgrundlage m a c h t . 1 7 1 8 Es würde sich damit allenfalls die verbale Verkleidung der Vorabzusage ändern und der Verzicht weiterhin als selbstverständlich vorausgesetzt. 1 7 1 9 Dieser subtilere Weg vermeidet den offenen Normverstoß. Dass die Zahl der in die Rechtsmittelinstanz getragenen unzulässigen Absprachen infolge einer gesetzlichen Regelung der Verfahrensordnung für Absprachen, die in der Rechtsprechung entwickelt wurde, wesentlich zunehmen wird, ist insofern kaum zu erwarten. Auch sonst ist für den Angeklagten mit der Festschreibung des Verbots der Vorabzusage wenig gewonnen, denn das eigentliche Problem beim Rechtsmittelverzicht im Anschluss an eine Absprache ist, wie bereits verdeutlicht 1 7 2 0 , nicht die 1714 Schünemann ZStW 114 (2002), 1, 57. 1715 Satzger JuS 2001, 1157, 1158 - Bei allseitiger Zufriedenheit sei die Einlegung eines Rechtsmittels kaum zu erwarten. 1716 Jähnke ZRP 2001, 574, 577; Siolek, FS Rieß, S. 563, 583. 1717 Gräfin v. Galen/Wattenberg ZRP 2001, 445, 450; Steinhögl, S. 160; Eb. Schmidt, Strafprozess, S. 284, 291 - Die prozessuale Form ist der Garant der Rechtssicherheit und der Gleichmäßigkeit des Verfahrens. Der rechtsstaatliche Strafprozess bedarf daher der Formalisierung durch bindende Prozessregeln, die das Spannungsverhältnis zwischen dem auf Wahrheitsfeststellung gerichteten Untersuchungsinteresse des Staates und dem Freiheitsinteresse des Einzelnen verbindlich lösen. 1718 Obgleich der Rechtsmittel verzieht i m Hinblick auf die Z?G//-Rechtsprechung formell kein tauglicher Gegenstand mehr ist, wird in der Praxis aller Voraussicht nach der Rechtsmittelverzicht - nunmehr sehr diskret - weiterhin Abspracheobjekt bleiben. Diese Einschätzung äußerte Kühne, Rn 749, bereits nach BGHSt 43, 195. 1719 Weigend StV 2000, 63, 67; Siolek, Verständigung, S. 199; ders., FS Rieß, S. 563, 581. 1720 Siehe E.III.4.a)(2).

E. Unzulässige Absprache

353

Art und Weise ihres Zustandekommens, sondern das Risiko des Scheiterns, dessen Ausmaß entscheidend vom materiellen Inhalt der Absprache abhängt. Dieses Risiko entschärft das geplante Verbot nicht. Eine Normierung, welche die zulässigen und unzulässigen Inhalte einer Absprache zum Gegenstand hat, ist hingegen weder zu erwarten noch erforderlich, denn die Kompetenzen sind in diesem Bereich bereits klar verteilt. Die Verhandlungsmasse von Gericht und StA ist durch das Gesetz klar umrissen. Von den Zusagen gem. §§ 154, 154a StPO abgesehen, erfolgen die typischerweise nach dem Rechtsmittelverzicht zu erfüllenden staatlichen Zusagen kompetenzwidrig oder rechtswidrig. Dies veranschaulicht zugleich, wie wenig sich die Praxis bereits zum jetzigen Zeitpunkt von bestehenden gesetzlichen Regelungen beeindrucken lässt.

2. Zwischenergebnis Dem Angeklagten wird daher auch zukünftig, soweit der Gesetzgeber § 302 StPO in seiner jetzigen Form bestehen lässt, nur die Entwicklung einer sachgerechten Dogmatik zur Berücksichtigung von Willensmängeln beim Rechtsmittel verzieht helfen können. Die vorliegende Arbeit enthält einen entsprechenden Vorschlag, um deren Entwicklung zu fördern. Die Lösung der Willensmangelproblematik über eine prozessuale Verantwortungsverteilung wird dabei sowohl den öffentlichen als auch den Interessen des Angeklagten gerecht, da sie jeweils nur denjenigen belastet, in dessen Verantwortungsbereich die Entstehung des Willensmangels fällt. A u f dieser Grundlage lässt sich mithin trennscharf und einzelfallunabhängig ermitteln, wann ein willensmangelbehafteter Rechtsmittelverzicht unwirksam ist. Nun nützt dem Angeklagten die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts und deren Feststellung als solche wenig. Vielmehr muss die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts auch prozessual umgesetzt werden. Entscheidende Bedeutung kommt dabei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. §§44 ff. StPO zu.

23 Meyer

Teil 3

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§ 44 ff. StPO A. Allgemeines Gem. § 44 S. 1 StPO ist auf Antrag demjenigen, der ohne Verschulden daran gehindert war, eine Frist einzuhalten, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das Verfahren ist so weiterzuführen, als ob die Frist eingehalten und die Handlung rechtzeitig vorgenommen worden wäre. Die Rechtskraft des Urteils entfällt rückwirkend. 1 Einer förmlichen Aufhebung bedarf es nicht. 2 Zuständig für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag ist gem. § 46 StPO das Gericht, das bei rechtzeitiger Handlung zur Entscheidung in der Sache berufen gewesen wäre. Der Wiedereinsetzungsantrag dient somit zur Überwindung des Hindernisses der Verfristung. Mangels Devolutiv- und Suspensiveffekt ist der Wiedereinsetzungsantrag aber kein Rechtsmittel, sondern Rechtsbehelf. 3 In der Praxis haben die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor allem bei der Versäumung von Rechtsmittelfristen große Bedeutung. 4 A n der Versäumung einer prozessualen Frist fehlt es allerdings, wenn von einem befristeten Rechtsmittel bewusst kein Gebrauch gemacht wurde. 5 Das gilt erst recht, wenn bewusst auf Rechtsmittel verzichtet wurde. Wird ein Rechtsmittel trotz wirksamen Verzichts eingelegt, ist es durch das Rechtsmittelgericht als unzulässig zu verwerfen.

B. Zusammenhang von Wiedereinsetzung und Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts Wurde ein Rechtsmittelverzicht erklärt, hängt der Erfolg des Wiedereinsetzungsantrags maßgeblich von der Wirksamkeit des Rechtsmittel Verzichts ab. Zwar geht ι Volk, § 15 Rn 30. 2 SaengerluS

91, 842, 844.

3 Volk, § 15 Rn 24; Saenger JuS 91, 842, 844. 4 Beulke, StPO, Rn 305; Saenger JuS 91, 842 - Von besonderer Bedeutung sind §§ 314, 341 1,311 II, 4 1 0 1 StPO. 5 Volk, § 15 Rn 25.

C. Wiedereinsetzung und willensmangelbehafteter Rechtsmittelverzicht

355

die ganz überwiegende Ansicht im Falle eines beachtlichen Willensmangels von einer automatischen Unwirksamkeit ex tunc aus, die keines weiteren Antrags bedarf 6 : auf Grund der kurzen Rechtsmittelfristen wird dennoch regelmäßig Rechtskraft durch Fristablauf eingetreten sein, bevor der Betroffene der Unwirksamkeit des Verzichts gewahr wird. 7 In diesem Fall kann der Betroffene nur noch über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die Rechtsmittelinstanz gelangen. 8 Der Angeklagte bezweckt mit einem Wiedereinsetzungsantrag also nicht die Aufhebung des Rechtsmittelverzichts, sondern das erneute in Gang Setzen der zumeist längst abgelaufenen Rechtsmittelfristen. Dies hat aber nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn der Verzicht tatsächlich unwirksam ist. 9 Bei Wirksamkeit hätte wegen des sofortigen Verlustes der Anfechtungsmöglichkeit keine Frist versäumt werden können. Es lief gar keine Frist mehr. Die Wirksamkeit des Verzichts wird somit zur klärungsbedürftigen Vorfrage bei der Prüfung des Wiedereinsetzungsantrages. Es verwundert daher nicht, dass die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in den Entscheidungen zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts stets Erwähnung findet. 1 0

C. Wiedereinsetzung und willensmangelbehafteter Rechtsmittelverzicht Der BGH hat die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in Zusammenhang mit einem unwirksamen Rechtsmittelverzicht ausdrücklich für zulässig erklärt. 1 1 Unwirksamkeitsgrund ist fast immer ein beachtlicher Willensmangel. 1 2 Nach der h. M . kommt der Wiedereinsetzung dabei lediglich die Funktion zu, als Mittel zur Geltendmachung der Unwirksamkeit des Verzichts zu dienen, die auf Grund eines beachtlichen Willensmangels automatisch ex tunc eingetreten ist. Dagegen wird der Wiedereinsetzung i m Schrifttum zum Teil eine weitere Funktion beigemessen. Diese Stimmen i m Schrifttum sehen in der Wiedereinsetzung zunächst einmal das Mittel zur Geltendmachung des Willensmangels. Nach dieser Auffassung führt die Wiedereinsetzung in entsprechender Anwendung auf Willensmängel beim Rechtsmittelverzicht erst dessen Unwirksamkeit herbei. Dies wirft die grundsätzliche 6 Weigend StV 2000, 63; K / M - G , § 302 Rn 22. 7 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 658. 8 Die besondere Bedeutung der § § 4 4 ff. StPO in diesen Fällen betonen Rieß, NStZ 2000, 98, 100, und Weigend, StV 2000, 63, 65. 9 Weigend StV 2000, 63. 10 BGH NStZ 95, 556; BGHSt 45, 227, 234; OLG München StV 2000, 188; LG Osnabrück StraFo 97, 309,311. 11 BGH NStZ 95, 556, 557; BGHSt 45, 227, 233 f.; Pfeiffer,

§ 302 Rn 4a.

12 In den übrigen Fällen fehlen die bereits erläuterten WirksamkeitsVoraussetzungen für eine Prozesshandlung, vgl. Teil 1 B.II. 23=

356

Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§ 44 ff. StPO

Frage auf, welche Rechtsfolge der Tatbestand eines beachtlichen Willensmangels denn nun eigentlich nach sich zieht: die automatische Unwirksamkeit ex t u n c 1 3 (mit der Wiedereinsetzung als bloßem Instrument ihrer Geltendmachung) oder die Möglichkeit der Wiedereinsetzung bei zunächst wirksamem Verzicht (Der Wiedereinsetzung käme dann eine Doppelfunktion zu, nämlich Herbeiführung der Unwirksamkeit und deren Geltendmachung). Aus der Prämisse, dass der Verzicht trotz Willensmangels grundsätzlich wirksam ist, aber ausnahmsweise aus Gründen der Gerechtigkeit Durchbrechungen dieses Grundsatzes möglich sind 1 4 , ergibt sich jedenfalls nicht, welche Rechtsfolge ein derartiger Willensmangel auslöst. Fest steht lediglich, dass der Angeklagte in einem solchen Ausnahmefall nicht mehr an seinem Verzicht festgehalten werden darf. 1 5 A u f welchem Wege dies prozessual bewerkstelligt werden soll, ist, wie zuvor angedeutet, strittig. Über die beiden genannten Ansätze hinaus werden aber noch diverse weitere Positionen vertreten, die es nachfolgend zu diskutieren gilt, um die Rechtsfolge eines ausnahmsweise beachtlichen Willensmangels und die Funktion der Wiedereinsetzung im Zusammenhang mit einem solchen zu ermitteln.

I. Widerruflichkeit Teilweise wird vertreten, dass der Rechtsmittelverzicht in solchen Fällen widerruflich i s t . 1 6 Der Widerruf ist eine Beseitigungsmöglichkeit des Willensmangels, die erst ausgeübt werden muss. Ansonsten bleibt der Verzicht wirksam. Der Widerruf wirkt ex nunc. 1 7 Dies verspricht zunächst größere Rechtsklarheit. Gleichwohl wäre die Anerkennung des Widerrufs als Mittel zur Mängelbeseitigung dogmatisch zweifelhaft. Der Begriff der Widerruflichkeit ist i m Strafverfahrensrecht klar besetzt. 18 Ein Widerruf in diesem Sinne ist ein Recht zur Beseitigung einer Erklärung unabhängig vom Vorliegen etwaiger Willensmängel. 1 9 Vielmehr knüpft die Einräumung einer Widerrufsmöglichkeit in den anerkannten Fällen an eine Willensände13 So z. B. BGHSt 45, 227, 228, 233, 234; Rieß NStZ 2000, 96, 100. 14 So BGHSt 17, 14, 18. 15 Potenzielle Heilungsmöglichkeiten der infolge der Willensmängel entstandenen Prozesssituation benennt auch Peters, § 34 III.

' 6 Dahrmann, S. 90. Dieser wendet zugleich die Wiedereinsetzungsvorschriften analog auf den Widerruf an. Die Widerrufserklärung sei nach Maßgabe des § 45 I StPO zu befristen, S. 98. Siegert geht infolge des Grundsatzes der materiellen Gerechtigkeit in allen Strafprozessen von der freien Widerruflichkeit der Prozesshandlungen aus, Prozesshandlungen, S. 96, 113, schränkt diesen Grundsatz aber gerade für den Fall des Rechtsmittelverzichts ein. 17 Dahrmann, 18

S. 14, 15.

Zur Widerruflichkeit von Prozesshandlungen vgl. K / M - G , Einl. Rn 112 ff.

19 Von der Frage der Bedeutung der Willensmängel für die Wirksamkeit der Prozesshandlung ist die Frage der Widerruflichkeit von Prozesshandlungen zu unterscheiden, Roxin, StPO, § 2 2 Rn 13.

C. Wiedereinsetzung und willensmangelbehafteter Rechtsmittelverzicht

357

rung a n 2 0 , vgl. z. B. §§ 56 f., 77d StGB, 156, 391, 411 I I I StPO. Eine nachträgliche Willensänderung ist für die Frage der Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts jedoch ohne Belang. Entscheidend ist allein, ob die ursprüngliche Willensäußerung willensfehlerhaft war. Der Widerruf scheidet damit als Lösungsmöglichkeit aus. 21

II. Entsprecheilde Anwendung der zivilrechtlichen Anfechtungsregeln, §§ 119 ff. BGB Anders als der Widerruf wird die Anfechtung ihrer Struktur nach dem Problem gerecht. 22 Die Anfechtung ist ein klassisches Mittel zur Beseitigung der Folgen von Willensmängeln. Da die Anfechtung kein Reurecht ist, bliebe die nachträgliche Willensänderung unbeachtlich. Fraglich ist aber, ob eine entsprechende Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften den Anforderungen des Strafverfahrensrechts gerecht wird. Vor allem der Aspekt des Verkehrsschutzes, dem durch die Beschränkung der Anfechtungsgründe, die Einführung der Ausschlussfristen in den §§ 121, 124 BGB sowie den Ersatz des Vertrauensschadens gem. § 120 BGB Rechnung getragen wurde, findet i m Strafprozess keine Anwendung. Die Anfechtungsregeln der §§ 119 ff. BGB enthalten eine ausdifferenzierte Regelung, der die Vorstellung zu Grunde liegt, dass sich mehrere privatautonome, gleichberechtigte Rechtssubjekte gegenüberstehen. 23 Mangels Vergleichbarkeit der Rechtsmaterie und ihrer tragenden Grundgedanken ist eine Analogie daher abzulehnen. 2 4

III. Entsprechende Anwendung der §§44 ff. StPO Einige Vertreter des Schrifttums sehen in der Möglichkeit der analogen Anwendung der Wiedereinsetzungsvorschriften die Rechtsfolge eines beachtlichen Mangels. 2 5 Es mache keinen Unterschied, ob der Angeklagte unverschuldet die Rechts-

20 Dencker, Willensfehler, S. 44. 21 Schlüchter, Rn 651. 22 Eine Initiative des Verzichtenden als eine Art der Anfechtungserklärung verlangt LRSarstedt, 21. Auflage, 1963, § 136a Rn 9. 23 Schließlich wird auch die ex-tunc-Wirkung der Anfechtung gem. § 142 I B G B dem Wesen des Prozessrechts nicht gerecht. Es würde so nachträglich die Prozessordnungswidrigkeit aller Folgemaßnahmen begründet. 24 RGSt 64, 14, 15; Oetker JW 29, 49, 50. I m Übrigen wird eine analoge Anwendung der §§ 119 ff. B G B in allen Prozessarten wegen des überwiegenden Interesses an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit verneint, Oehler JZ 63, 227; ebenso Peters, § 34 II. 25 Oetker JW 29, 49, 51; Schulze, S. 163 ff., 190 ff.; auch Oehler, JZ 63, 227, 228, scheint dieser Auffassung zuzuneigen. Freilich ist dies nicht so eindeutig, wie es in einigen Publikationen (vgl. nur Gerlach, Dencker) suggeriert wird. Ausdrücklich spricht Oehler nur davon,

358

Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§ 44 ff. StPO

mittelfrist nicht wahrt oder auf Grund unverschuldeten Willensmangels auf das Rechtsmittel verzichtet. 2 6 Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei vielmehr das prozessuale Institut überhaupt, um fehlerhafte Willensbildung und -Verwirklichung zu berücksichtigen. 27 Die Wiedereinsetzung fungiert also zunächst als M i t tel zur Beseitigung der Wirksamkeit der Verzichtserklärung und nicht nur als M i t tel zur Geltendmachung einer von vornherein bestehenden Unwirksamkeit. Da die Herbeiführung der Unwirksamkeit von dem Betreiben der Wiedereinsetzung durch den Betroffenen abhängt, ist der Verzicht bis zum Wiedereinsetzungsbeschluss des Gerichts wirksam. Der Rechtsmittelverzicht führt trotz beachtlichen Willensmangels vorerst Rechtskraft herbei. Den auf die Rechtskraft aufbauenden staatlichen Maßnahmen droht daher nicht das Verdikt der Prozessordnungswidrigkeit wie bei anfänglicher Unwirksamkeit. 2 8 Dies sei ein wesentlicher systematischer Vorteil 2 9 und trage dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit ebenso Rechnung wie die Frist des § 45 I StPO, denn der Betroffene könne die Unwirksamkeit nur binnen einer Woche nach bekannt Werden des Willensmangels herbeiführen. 30 Eine automatische Unwirksamkeit hätte hingegen eine tiefgehende Erschütterung des Strafprozessgefüges zur Folge. Die Gerichte müssten jede Prozesshandlung von Amts wegen auf ihre Unwirksamkeit prüfen. 3 1 Die Ausrichtung an der Regelung der §§ 44 ff. StPO habe gegenüber der Unwirksamkeit, für die sich aus dem Gesetz nichts herleiten lässt, grundsätzlich methodischen Vorrang. 3 2 Dennoch ist diese Auffassung schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt. Den Bedürfnissen der Rechtssicherheit entspricht es nämlich ebenso wenig, den Eintritt der Unwirksamkeit von weiteren Erklärungen des Verzichtenden abhängig zu machen und damit seiner Willkür auszusetzen. Sind die eine rechtsbefriedende Verfahrensbeendigung gewährleistenden Voraussetzungen nicht erfüllt, bestehen auch öffentliche Interessen, die den Eintritt der verfahrensbeendenden Wirkung verbieten. 3 3 Folgte man der Wiedereinsetzungslösung, stellt sich insofern die Frage, was

dass die Unwirksamkeit entsprechend § 44 StPO geltend zu machen sei. Dies entspräche aber der herrschenden Meinung. Lediglich aus dem Zusammenhang mit anderen Textstellen lässt sich folgern, dass Oehler mit „Geltendmachung entsprechend § 44 StPO" die Rechtsfolge des Willensmangels meint. So führt er aus, dass ein Irrtum nur in seltenen Fällen beachtlich sei und zur Unwirksamkeit führt, wenn der Betroffene sich darauf beruft (Hervorhebung durch den Verf.). Schließlich weist Oehler auf S. 227 - wenn auch i m Zusammenhang mit der analogen Anwendung von § 136a StPO - auf die Risiken der automatischen Unwirksamkeit hin. Andererseits führt Oehler auf S. 228 aus, dass Drohung mit unzulässigen Mitteln und unerlaubte Täuschung bereits selbst den Verzicht unwirksam machen. 26 Oetker JW 29, 49, 51. 27 Dencker, Willensfehler, S. 45; Gerlach, S. 176, 177. 28 Gerlach, S. 176. 29 Plötz, S. 315. 30 Seier JZ 88, 683, 686; Gerlach, S. 177. 31 Oehler JZ 63, 227 - Keine Prozesshandlung wäre mehr sicher und endgültig. 32 Plötz, S. 315.

C. Wiedereinsetzung und willensmangelbehafteter Rechtsmittelverzicht

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geschehen soll, wenn dem Gericht der beachtliche Willensmangel nachträglich bekannt wird, aber ein Wiedereinsetzungsantrag ausbleibt. Hat der Verzichtende keine Kenntnis vom Mangel oder von dessen Beachtlichkeit, wäre es unbillig, wenn das Gericht den Verzicht weiter als wirksam behandeln und darauf hoffen dürfte, dass der Betroffene auch zukünftig nichts von dem Mangel erfährt. Diese Problematik muss letztlich zur Ablehnung der Wiedereinsetzungsmöglichkeit als Rechtsfolge führen. 3 4 I m Übrigen wird schon die Vergleichbarkeit der Situationen „Rechtskraft durch Fristablauf' und „Rechtskraft durch Verzicht" in Abrede gestellt. 3 5

IV. Modifizierte Wiedereinsetzungslösung nach Dencker Dencker modifiziert die auch von ihm favorisierte Wiedereinsetzungslösung. Er versucht damit einigen der oben genannten Bedenken Rechnung zu tragen und differenziert danach, ob der Erklärungsempfänger die Fehlerhaftigkeit bereits bei Abgabe der Erklärung erkannt hat: „Unabhängig von der Schwere des Willensfehlers ist Nichtigkeit stets anzunehmen, wenn der Fehler bereits bei Abgabe des Rechtsmittelverzichts erkannt wird, in anderen Fällen n i c h t " 3 6 . Das Gericht müsse von Amts wegen tätig werden und den Betroffenen auf Grund seiner Fürsorgepflicht über die Unwirksamkeit aufzuklären. Erfährt der Angeklagte jedoch nichts von der Unwirksamkeit des Verzichts, und lässt er infolgedessen die verbleibende Rechtsmittelfrist verstreichen, tritt Rechtskraft ein. Dem Betroffenen bliebe dann aber noch die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Bei Kenntnis des Mangels wären die Justizorgane i m Rahmen ihrer Fürsorgepflicht auch angehalten, die Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen zu unterlassen 37 , solange die Frist des § 45 I StPO noch nicht verstrichen ist. Wird die Fehlerhaftigkeit vom Empfänger nicht sogleich erkannt, soll die Lösung über die Wiedereinsetzungs33 SK/StPO-Frisch, § 302 Rn 26. Zu beachten ist allerdings, dass die Funktion der Rechtsbefriedung, mit der Frisch sein Ergebnis begründet, keine allgemein anerkannte Funktion des Rechtsmittelverzichts ist. 34 Soweit an einer Wiedereinsetzungslösung kritisiert wird, dass die Möglichkeit der Wiedereinsetzung bei jedem unverschuldeten Willensmangel beim Verzicht zu nicht mehr beherrschbaren Weiterungen führt und sich diese Problematik mit dem Erfordernis verbindet, die Anforderungen an die Sorgfalt des Einzelnen beim Verzicht zu bestimmen, richtet sich diese Argumentation nur gegen jene Vertreter einer Wiedereinsetzungslösung, welche die §§ 44 ff. StPO auch zur Ermittlung der Beachtlichkeit eines Willensmangels anwenden, so z. B. Schulze, S. 173 ff.; kritisch dazu Plötz, S. 315; H. Müller, S. 44 f. 35 Schlüchter, Rn 649 - Das Gesetz regele die Wiedereinsetzungsfälle abschließend. Die h. Μ . , die auf die Wiedereinsetzung zur Geltendmachung des Willensmangels zurückgreift, berührt das nicht, da dort regelmäßig der originäre Anwendungsbereich der Wiedereinsetzung betroffen ist. 36 Dencker, Willensfehler, S. 46. 37 Dencker, Willensfehler, S. 46.

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Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§44 ff. StPO

möglichkeit als Rechtsfolge erfolgen, um einen Schwebezustand zu vermeiden. A u f diese Weise könne man die Prüfung von Amts wegen vermeiden, die bei einer umfassenden Unwirksamkeitslösung konsequenterweise stets vor Vollzug der auf einem Rechtsmittelverzicht basierenden Maßnahmen vorzunehmen wäre. 3 8 Dies sei auch sinnvoll, da i m Falle des Nichterkennens ohnehin die Notwendigkeit einer Initiative des Betroffenen bestünde. 39 A u f den ersten Blick vermag diese Differenzierung zu überzeugen. Der aus einer etwaigen Unwirksamkeit resultierende Schwebezustand und die damit einhergehende Prozessordnungswidrigkeit von Vollstreckungsmaßnahmen wird bei Nichterkennen durch die Wiedereinsetzungsmöglichkeit vermieden. Erkennt das Gericht den Fehler, ist es selbst in der Lage, die Folgen der Unwirksamkeit abzuwenden, so dass der Aspekt der Rechtssicherheit nicht gegen die Unwirksamkeit eingewandt werden kann. Die staatlichen Organe und der Strafprozess als solcher sind hier nicht schutzwürdig. Auch der grundsätzliche Einwand gegen die Unwirksamkeitslösung, dass sie zu einer Prüfungspflicht von Amts wegen führe 4 0 , vermag dann nicht mehr zu überzeugen, wenn das Gericht keinen zusätzlichen Prüfungsaufwand hat. Richtig ist es auch, wenn Dencker feststellt, dass die Schwere des Willensmangels für das tatsächliche Erkennen ohne Belang ist. 4 1 Ein Abstellen auf das tatsächliche Erkennen durch das konkrete Gericht darf es jedoch nicht geben, sonst würden dem Zufall und Schutzbehauptungen Tür und Tor geöffnet. Unaufmerksame Gerichte könnten sich entlasten. Wird der Willensmangel aber erkannt, dann ist dieser bereits bei der Auslegung der Verzichtserklärung zu berücksichtigen. Wie bereits dargelegt 42 , fehlt es in diesen Fällen bereits am Vorliegen einer wirksamen Prozesshandlung, und zwar bei jedem Willensmangel ! Wenn das Gericht aber schon bei der Auslegung der Erklärung von Amts wegen zur Erforschung des erkennbar Gewollten verpflichtet i s t 4 3 , wobei auf einen objektiven vernünftigen Betrachter abzustellen i s t 4 4 , dann kann es bezüglich der Behandlung der Willensmängel kein Zurückfallen auf das tatsächliche Erkennen durch das Gericht und eine damit einhergehende Sorgfaltsentpflichtung geben. 45 Denckers Ansatz enthält noch eine weitere Unschärfe. Es wird nämlich nicht deutlich, wer „erkennen" muss. A u f der einen Seite stellt Dencker auf das Erken38 Dencker, Willensfehler, S. 42. 39 Dencker, S. 46 - Diesen Umstand hält Dencker der Unwirksamkeitslösung entgegen, die letztlich auch auf die Wiedereinsetzung als Rechtsbehelf zur Geltendmachung der Unwirksamkeit angewiesen sei. Zur Entkräftung dieses Arguments siehe unten C.V. 40 So Oehler JZ 63,227. 41 Dencker, Willensfehler, S. 46. 42 Siehe unten Teil 1 B.II.5. 43 Roxin, StPO, § 22 Rn 5. 44 Schmid, Verwirkung, S. 116, 117. 45 Der frühere Streit, ob es i m Rahmen der Auslegung auf das tatsächliche Erkennen oder die bloße Erkennbarkeit ankommt, ist entschieden, Joachim, S. 47.

C. Wiedereinsetzung und willensmangelbehafteter Rechtsmittelverzicht

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nen durch den Empfänger ab. 4 6 A u f der anderen Seite wird aber pauschal von Justizorganen gesprochen, die den Angeklagten auf Grund ihrer Fürsorgepflicht aufzuklären haben 4 7 Dies schlösse vor allem die StA mit ein. Wie aber zu verfahren wäre, wenn die Staatsanwaltschaft den Mangel erkennt, nicht jedoch das Gericht, oder ob nur solche Justizorgane gemeint sind, die auch als Empfänger der jeweiligen Prozesserklärung in Betracht kommen, führt Dencker nicht aus. 4 8 Die fehlende Objektivierbarkeit der getroffenen Differenzierung sowie die zuvor benannten Unklarheiten lassen die Auffassung Denckers nicht vorzugswürdig erscheinen.

V. Unwirksamkeit Für die geforderten klaren Ergebnisse sorgt die h. M., die von der Unwirksamkeit des Verzichts als Rechtsfolge eines beachtlichen Willensmangels ausgeht 4 9 Ist ein Rechtsmittelverzicht grundsätzlich wirksam, so muss die Konsequenz eines beachtlichen Mangels die Unwirksamkeit der Erklärung ex tunc sein. Das Gebot der materiellen Gerechtigkeit steht schon der Konstruktion einer Wirksamkeit bei eingeräumter Beseitigungsmöglichkeit entgegen. Die bisher - auch von der Rechtsprechung - anerkannten Fälle beachtlicher Willensmängel sind zu gravierend, als dass man von einer anfänglichen Wirksamkeit ausgehen darf. Gegner dieses Lösungsansatzes kritisieren den entstehenden Schwebezustand zwischen dem Zeitpunkt der unwirksamen Verzichtserklärung und der Geltendmachung der Unwirksamkeit. Unmittelbare Folge sei die Prozessordnungswidrigkeit aller auf die vermeintliche Rechtskraft aufbauenden staatlichen Maßnahmen während dieser Schwebezeit. 50 Unter Umständen seien die Maßnahmen sogar materiell rechtswidrig. 5 1 Derart gravierende Auswirkungen seien nach der Gegenansicht nicht hinnehmbar, denn konsequenterweise müsste man dann jede Rechtsmittelverzichtserklärung von Amts wegen auf ihre Wirksamkeit prüfen. 5 2 46 Dencker, Willensfehler, S. 46. 47 Vgl. Dencker, Willensfehler, S. 46. 48 Muss die StA dann von sich aus auf den Willensmangel hinweisen und den Angeklagten über die noch laufende Rechtsmittelfrist bzw. i m letzteren Fall über die Wiedereinsetzungsmöglichkeit informieren? 49 BGHR, StPO, § 302, 14; BGHSt 45, 227, 228, 233, 234; LR-Hanack, § 302 Rn 49; Rieß NStZ 2000, 96, 100; Volk, § 15 Rn 10; Schlächter, Rn 649; AK-Achenbach, § 302 Rn 29 - Wenig überzeugend ist es, wenn Achenbach auch die analoge Anwendung des § 136a StPO neben Anfechtung und Wiedereinsetzung als Alternative zur h. M . zitiert. Die analoge Anwendung des § 136a StPO sollte als Lösungsansatz dienen, der dann nach h. M . die Unwirksamkeit als Rechtsfolge ausgelöst hätte. § 136a StPO sollte nie Rechtsfolge eines beachtlichen Willensmangels sein. so Vgl. Gerlach, S. 176. 51 So Dencker, Willensfehler, S. 42. 52 Gerlach, S. 176; Oehler JZ 63, 227.

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Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§44 ff. StPO

Dem ist zu entgegnen, dass sich der Schwebezustand allenfalls bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist auswirkt. M i t deren Ablauf erlischt die Rechtsmittelbefugnis endgültig, und zwar unabhängig davon, ob zuvor ein unwirksamer Rechtsmittelverzicht erfolgt ist. 5 3 Das Verstreichen der Rechtsmittelfrist, die in jedem Fall zu wahren gewesen wäre, führt daher zur Heilung der Prozessordnungswidrigkeit und zur Beendigung des Schwebezustandes. Zumindest von diesem Zeitpunkt an ist den Bedürfnissen der Rechtssicherheit Genüge getan. Zu fragen ist insofern, mit welchen staatlichen Maßnahmen in der Phase zwischen Rechtsmittelverzicht und Fristablauf überhaupt gerechnet werden muss. Typischerweise fallen keine staatlichen Maßnahmen in diesen Zeitraum. Infolgedessen ist auch der Hinweis auf die potenzielle Prozessordnungswidrigkeit staatlicher Vollstreckungsmaßnahmen während dieser Zeitspanne kein durchgreifendes Argument gegen die anfängliche Unwirksamkeit. Rechtssicherheit und Rechtsklarheit werden nicht schwerwiegend eingeschränkt. Kritisiert wird an der h. M . zugleich, dass sie dem Interesse des Angeklagten nicht gerecht werde 5 4 , weil sie trotz anfänglicher Unwirksamkeit des Verzichts eine Initiative des Angeklagten erfordere 55 . Dieser Vorwurf ist indessen unberechtigt, denn das Erfordernis einer Initiative resultiert aus dem eigentlichen Rechtsschutzziel des Angeklagten, das Verfahren in der Rechtsmittelinstanz erneut verhandeln zu lassen. Da die Rechtsmittel zur Disposition der Rechtsmittelberechtigten stehen, ist deren Aktivität zwingend. Legt der Angeklagte ein Rechtsmittel nach unwirksamem Verzicht, aber vor Ablauf der Rechtsmittelfrist ein, wird das primäre Anliegen des Angeklagten umso deutlicher. Die Initiative des Angeklagten zielt auf die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens ab, nicht auf die Geltendmachung der Unwirksamkeit des Verzichts. 5 6 Eine Wiedereinsetzung ist in diesem Fall nicht erforderlich und kann daher auch nicht Rechtsfolge eines Willensmangels beim Verzicht sein. Erforderlich ist die Wiedereinsetzung nur dann, wenn die Rechtsmitteleinlegung nach Ablauf der Rechtsmittelfrist erfolgt. Die Funktion der Wiedereinsetzung ist mithin begrenzt auf die erneute Eröffnung der Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, was wiederum zwingend aus eigener Initiative des Angeklagten erfolgen muss. Der tatsächliche Gebrauch dieser Möglichkeit ist eine eigenverantwortliche Entscheidung des Angeklagten und kann nicht ausschlaggebend für das Schicksal der Rechtsmittelverzichtserklärung sein. Ob später tatsächlich ein Rechtsmittel eingelegt wird, ändert nichts an den rechtlichen Bewertungsmaßstäben bezüglich des Mangels und der Verantwortlichkeit für seine Entstehung in der konkreten Situation der Erklärung. 53 So auch Grünst, S. 343. 54 Dencker, Willensfehler, S. 46. 55 Gleiches gilt i m Übrigen auch für Widerruf und Anfechtung, denn weder Widerruf noch Anfechtung können über einen etwaigen Fristablauf hinweghelfen. Sie beseitigen nur die Erklärung selbst. 56 Die Unwirksamkeit muss der Angeklagte bei der Rechtsmitteleinlegung lediglich glaubhaft machen.

D. Die einzelnen Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

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Die Gegenauffassung, welche die Wiedereinsetzungsmöglichkeit auch als Rechtsfolge ansieht, vermischt mithin zwei Problemkreise, nämlich die rechtlichen Auswirkungen des Mangels auf die Erklärung und die Geltendmachung dieser Auswirkungen. Die h. M . hingegen reduziert die Wiedereinsetzung auf die Funktion, die ihr nach der Systematik der StPO allein zugedacht ist, nämlich die eines Rechtsbehelfs zur Geltendmachung einer unverschuldeten Fristversäumnis. Ein Rechtsbehelf als solcher kann nicht Rechtsfolge sein, sondern lediglich das prozessuale Instrument, um einer bestimmten Rechtsfolge prozessual Geltung zu verschaffen. Die h. M . ist daher vorzugswürdig. Der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt somit vorliegend ausschließlich die Funktion als Mittel zur Geltendmachung der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts zu. Bei der Prüfung der einzelnen Wiedereinsetzungsvoraussetzungen wirkt sich der Meinungsstreit indessen nicht aus. Die h. M . bedarf allerdings keiner Analogie.

D. Die einzelnen Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 5 7 I. Fristversäumnis (direkte Anwendbarkeit der §§ 44 ff. StPO) Die Struktur der § § 4 4 ff. StPO erfordert Identität von versäumter und nachzuholender Prozesshandlung. A u f den ersten Blick erfasst § 44 StPO den Fall des unwirksamen Rechtsmittelverzichts daher nicht. Beim unwirksamen Rechtsmittelverzicht geht es um die willensfehlerhafte Rechtskraftherbeiführung und die Beendigung des Fristlaufes. Identität mit der nachzuholenden Rechtsmitteleinlegung besteht nicht. Die Problematik des unwirksamen Rechtsmittelverzichts scheint daher der Struktur der §§44 ff. StPO nicht zu entsprechen. Das Institut der Wiedereinsetzung ist auf Unterlassungen zugeschnitten und nicht auf willensfehlerbehaftetes aktives T u n . 5 8 Eine unmittelbare Anwendung scheint daher ausgeschlossen. Für Vertreter einer Wiedereinsetzungslösung ist dies auch folgerichtig, denn nach dieser Auffassung führt die analoge Anwendung der § § 4 4 ff. StPO die Unwirksamkeit des Verzichts erst herbei. 5 9 Insofern ist es konsequent, wenn Schulze als Ver-

57 Allgemein zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Antrags auf Wiedereinsetzung LRWendisch, § 44 Rn 6 ff.; Kühne, Rn 690 ff.; Beulke, StPO, Rn 305 ff. 58 Anders als Fristen und Termine hat der Rechtsmittelverzicht keinen formalen Ordnungscharakter, so dass er nicht prozessnotwendig ist. Dies könnte einen billigen Ausgleich zugunsten der materiellen Gerechtigkeit durch die Wiedereinsetzung, denn dies ist ihr primärer Zweck, überflüssig machen.

59 Gerlach, S. 176 f.; Dencker, Willensfehler, S. 45 f.; Oehler JZ 63, 227, 228; Seier JZ 88, 683, 686; Janke, S. 233; SK/StPO-Schlüchter, vor § 213 Rn 52 wenden §§ 44 ff. StPO nur entsprechend an.

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Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§44 ff. StPO

treter der Wiedereinsetzungslösung eine unmittelbare Anwendung der § § 4 4 ff. StPO als petitio principii bezeichnet. 60 Für die Unwirksamkeitslösung trifft dies allerdings nicht zu. Da der beachtliche Willensmangel zur Unwirksamkeit des Verzichts führt, läuft die Rechtsmittelfrist noch. M i t ihrem Verstreichen versäumt es der Angeklagte, ein bis zu diesem Zeitpunkt zulässiges Rechtsmittel einzulegen. Dies entspricht der Struktur der § § 4 4 ff. StPO, welche auf der Grundlage der Unwirksamkeitslösung somit zur unmittelbaren Anwendung kommen. 6 1 Versäumte und nachzuholende Prozesshandlung sind identisch.

I I . Fehlendes Verschulden des Angeklagten Die Frist wird ohne Verschulden versäumt, wenn die dem Angeklagten mögliche und zumutbare Sorgfalt aufgebracht wurde. 6 2 Angesichts der unklaren Rechtslage bezüglich der Beachtlichkeit von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht wird man dem Angeklagten sicherlich nicht den Vorwurf eines persönlichen Verschuldens an seiner Verhinderung zur rechtzeitigen Rechtsmitteleinlegung machen können. 6 3 I m Falle abgesprochener Rechtsmittelverzichte sieht auch Bömeke die Fristversäumung als „sicherlich schuldlos" an. 6 4 Für den Angeklagten bestehe gar kein Anlass, an der Verbindlichkeit und Endgültigkeit des Rechtsmittelverzichts zu zweifeln. 6 5 So sah es auch das OLG München: „Die zur Nichtigkeit führenden Umstände und Zweifel an der Rechtsbeständigkeit und Rechtswirksamkeit der Verzichtsvereinbarung mussten sich dem Angeklagten nicht aufdrängen". 66

60 Schulze, S. 162. I m Anschluss prüft Schulze die Voraussetzungen einer analogen Anwendung auf den Rechtsmittelverzicht und bejaht deren Vorliegen folgerichtig, S. 163 ff.

Dieser Auffassung scheint auch die Rspr. zu sein, vgl. BGHSt 45, 227 f.; NStZ 95, 556, 557. 62 Volk, § 15 Rn 26; eingehend Saenger JuS 91, 842, 843. Rieß sieht die Versäumung der Rechtsmittelfrist bei unterbliebener qualifizierter Belehrung nach dem Rechtsgedanken des § 4 S. 2 StPO stets als unverschuldet an, FS Meyer-Goßner, S. 645, 661 - eine Konsequenz, die sich aus dem von Rieß gewählten Lösungsansatz „Erforderlichkeit einer qualifizierten Belehrung" ergibt. 63 Weigend StV 2000, 63, 65. 64 Bömeke, S. 136 - Gerade der Druck der professionellen Akteure führe dazu, dass der Angeklagte sich gebunden fühlt und der Rechtsmittelverzicht als Konsequenz unwirksam ist. 65 Bömeke, S. 136, 137 - Dies gelte allerdings nur, solange die Absprache nicht gescheitert ist.

66 OLG München StV 2000, 188, 189 - Daran ändere auch nichts, dass der Angeklagte früher Rechtsanwalt war. Diese Tätigkeit liegt dreizehn Jahre zurück. Es könne deshalb nicht von einer besonderen Kundigkeit i m Strafprozessrecht ausgegangen werden.

D. Die einzelnen Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

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A u f ein etwaiges Verschulden des Verteidigers kommt es nicht an. 6 7 Verschulden des Verteidigers ist kein Verschulden des Angeklagten. 6 8 Der sich gegen den Schuldvorwurf verteidigende Angeklagte muss sich ein solches auch nicht zurechnen lassen. 69 Es erscheint bereits fraglich, ob ein hinreichender Rechtsrat überhaupt möglich ist, wenn man die kasuistische Rechtsprechung und das Fehlen allgemein gültiger Regeln zur Willensmangelproblematik ins Kalkül zieht. Einen abweichenden Ansatz für die Fälle der Vorabzusage vertritt Rieß. Dieser knüpft an die von ihm postulierte Notwendigkeit einer qualifizierten Rechtsmittelbelehrung a n . 7 0 Hält man eine solche für erforderlich, ergibt sich die Lösung aus dem Rechtsgedanken des § 44 S. 2 StPO, wonach Versäumnisse bei fristrelevanten rechtlich vorgeschriebenen Belehrungen dem Anfechtenden nicht zum Nachteil gereichen dürfen. 7 1 Unterbleibt die Belehrung, ist das Nicht-Verschulden unwiderleglich zu vermuten. Spekulationen über den Kenntnisstand des Angeklagten wären entbehrlich. 7 2

I I I . Wochenfrist Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist gem. § 45 I StPO binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses bei dem Gericht einzureichen, bei dem die Frist zu wahren gewesen wäre. Bei Rechtsmittelfristen ist auch das Rechtsmittelgericht zulässiger Adressat, §§ 45 I 2, 46 I StPO. „Hindernis" ist der Umstand, der die Versäumung verursacht hat. 7 3 Der Fristbeginn bestimmt sich nach ganz allgemeiner Auffassung aber nicht nach dem Zeitpunkt des tatsächlichen Wegfalls des Hindernisses, sondern nach demjenigen, zu dem der Angeklagte hiervon Kenntnis erhalten hat. 7 4 Er muss mithin positive Kenntnis von Fristgebundenheit und Fristversäumung erlangen. 75

67 BGHSt 14, 306, 308, 332; K / M - G , § 45 Rn 3. 68 RGSt 40, 118, 121; BGHSt 14, 306, 308; NStZ 90, 25; KG NJW 97, 1864. 69 BVerfG NJW 94, 1856; Hamm NStZ 2001, 494, 495. 70 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 660. 71 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 660. 72 Zwar enthalte § 44 S. 2 StPO nur eine Vermutung bezüglich des Verschuldens, so dass grundsätzlich die Ursächlichkeit der unterbliebenen Belehrung nachgewiesen werden muss, doch handele es sich hier um einen Sonderfall. Da der qualifizierten Belehrung schon bei der Prüfung der Wirksamkeit des i m voraus vereinbarten Rechtsmittelverzichts die Funktion zukommt, den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zu ersetzen, muss man konsequenterweise auch i m Wiedereinsetzungsverfahren auf den Kausalitätsnachweis verzichten, Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 661. 73 LR-Wendisch,

§ 45 Rn 7.

74 BVerfG NJW 94, 1856, 1857. 75 L R -Wendisch, § 45 Rn 7.

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Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§44 ff. StPO

1. Das Hindernis bei Unwirksamkeit des Rechtsmittel Verzichts A u f die Unwirksamkeitsfälle passt die herkömmliche Vorstellung vom Wegfall eines Hindernisses nicht ohne weiteres, da der Angeklagte durch seinen Rechtsmittelverzicht die Frist bewusst zum Erlöschen bringen wollte. Er hatte daher von Anfang an Kenntnis von der Fristgebundenheit. Keine Kenntnis hat der Angeklagte als Rechtslaie bei Vorliegen eines beachtlichen Willensmangels aber regelmäßig davon, dass der Rechtsmittelverzicht auf Grund dessen unwirksam ist und deshalb gerade nicht zum Erlöschen der Frist führt. Die ganz h. M . sieht das Hindernis i m Falle eines unwirksamen Rechtsmittelverzichts daher in der fehlenden Kenntnis der Unwirksamkeit 7 6 , wobei auf die Kenntnis des Angeklagten abzustellen i s t 7 7 . Es dürfte aber zu streng sein, die Kenntnis der Tatsachen, die zur Unwirksamkeit führen, genügen zu lassen. Da es um die rechtliche Bewertung faktischer Vorgänge geht, fällt das Hindernis erst dann weg, wenn der Angeklagte erfährt, dass der von ihm erklärte Rechtsmittelverzicht auf Grund bestimmter rechtlicher Prämissen von den Gerichten als unwirksam angesehen w i r d . 7 8 Erst zu diesem Zeitpunkt erfährt der Angeklagte, dass er die Frist nicht zum Erlöschen brachte, sondern bis zu deren Ablauf doch noch Rechtsmittel hätte einlegen können. Der Angeklagte muss also zumindest laienhaft die rechtlichen Konsequenzen, die sich aus einem ihm bekannten Sachverhalt ergeben, erfassen. Nicht relevant ist die Kenntnis des Verteidigers. Dies gilt allgemein und hat in Absprachesituationen zusätzliche Berechtigung. Sicherlich sollten die von BGHSt 43, 195 ff. gesetzten Standards zum Allgemeinwissen jedes Verteidigers gehören, und selbstverständlich gehört eine Erörterung dieser Probleme zu einer lege artis geführten Verteidigung 7 9 , doch ist gerade mit einer solchen bei Verständigungen nicht unbedingt zu rechnen 8 0 .

76 BGH NStZ 95, 556; zuletzt BGHSt 45, 227, 234; Weigend StV 2000, 63, 65; Rieß NStZ 2000, 98, 100. 77 BVerfG NJW 94, 1856, 1857. Der Nachsatz des BGH in BGHSt 45, 227, 234, dass Kenntniserlangung zumindest nicht vor Eingang des Schreibens des L G , welches die Mitteilung enthielt, dass die StA die Zustimmung zur Verfahrenseinstellung nach § 154 I I StPO verweigere, in der Kanzlei der Verteidigerin stattgefunden hat, darf nur so verstanden werden, dass es als ausgeschlossen angesehen werden muss, dass der Angeklagte davon zuvor erfuhr. Das Wissen (und erst recht nicht ein etwaiges Verschulden) der Verteidigerin wird gerade nicht zugerechnet, L R -Wendisch, § 45 Rn 8. 78 Weigend StV 2000, 63, 65; ähnlich LG Osnabrück StraFo 97, 309, 312 - „Inne werden oder inne werden müssen" des Irrtums. 79 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 659. 80 Schließlich vermutet Rieß selbst, dass die besondere Situation des Verteidigers bei Verständigungen nicht ohne Auswirkung auf die geschuldete Beratung bleiben wird, FS MeyerGoßner, S. 645, 650 f.; zur Problematik etwaiger Interessenkonflikte des Verteidigers bei Absprachen schon zuvor Fn 1699.

D. Die einzelnen Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

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2. Das Hindernis beim abgesprochenen Rechtsmittelverzicht Ist der Rechtsmittelverzicht Bestandteil einer Absprache, erscheint das Abstellen auf die Unkenntnis der Unwirksamkeit als Hindernis problematisch. Als „Hindernis" für die Einlegung des Rechtsmittels kommt nämlich nicht nur der vermeintlich wirksame Rechtsmittelverzicht in Betracht, sondern auch das Vertrauen des Angeklagten auf den Bestand und die Einhaltung der Absprache. Selbst wenn der Verurteilte weiß, dass der Verzicht unwirksam ist oder diesbezüglich auf Grund der Umstände seines Zustandekommens zumindest skeptisch ist, so wird er dennoch kein Rechtsmittel einlegen, wenn er sich die versprochenen Vorteile erhalten will. Die Einlegung eines Rechtsmittels wird für den Angeklagten erst dann - dann aber auch umso mehr - interessant, wenn er Kenntnis vom Fehlschlag der Absprache erlangt. Insofern erscheint es durchaus sachgerecht, auf diesen Zeitpunkt abzustellen, soweit sich eine Divergenz zwischen den beiden genannten möglichen Zeitpunkten ergibt, die als „Wegfall des Hindernisses" in Betracht kommen. Sind Zusagen durch die Strafverfolgungsbehörde erfolgt, so hat der Gang der Untersuchung gezeigt, dass der Angeklagte grundsätzlich Vertrauensschutz genießt. 8 1 Das bloß interne Vertrauen wird durch eine Disposition objektiviert. In Betracht kommen alle rechtlichen und tatsächlichen Vorkehrungen 82 , die in einem Kausalzusammenhang mit der Vertrauensgrundlage stehen. 83 Auch in einem Unterlassen kann sich das rechtlich relevante Verhalten äußern, also z. B. in der Nichteinlegung eines Rechtsmittels. 84 Es könnte daher vor allem aus Gründen der Fairness angebracht sein, auf die Kenntnis von der enttäuschten Erwartung als Wegfall des Hindernisses „rechtlich geschütztes Vertrauen auf Einhaltung der Absprache" abzustellen. 85 Schließlich gebietet der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz zumindest die Nachteilsbeseitigung, und eine solche soll die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gerade ermöglichen. Die Zulassung der Wiedereinsetzung wäre dann Rechtsfolge des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes, also Konsequenz der Maxime „kein Nachteil". Durch das Abstellen auf den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz ließen sich i m Übrigen auch die Fälle lösen, in denen die Zusage ein anderes - noch laufendes - Verfahren betrifft. 8 6

si Vgl. C.I.5.d). 82 Ossenbühl, Rücknahme, S. 87 ff. 83 Muckel, S. 100. 84 Weber-Dürler,

S. 101.

85 Weigend folgert, dass der 4. Senat als Konsequenz seiner Argumentation auch dann Wiedereinsetzung gewähren müsste, wenn der Angeklagte i m Vertrauen auf die Absprache die Rechtsmittelfrist einfach hätte verstreichen lassen, StV 2000, 63 Fn 3. 86 Rieß hält bei einer derartigen Konstellation eine Wiedereinsetzung allenfalls in ganz extrem liegenden Fällen für möglich, FS Meyer-Goßner, S. 645, 649.

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Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§44 ff. StPO

M i t der allgemeinen Auslegung des § 45 StPO erscheint das aber kaum vereinbar. 8 7 Auch Weigend betont, dass es unerheblich für die Fristberechnung sei, ob Kenntnis davon erlangt wird, dass der Deal von den staatlichen Strafverfolgungsorganen anders interpretiert wird als vom Angeklagten. Dies sei lediglich das Motiv der Antragstellung. Ein faktisches oder rechtliches Hindernis wird durch die Kenntniserlangung von der Nichteinhaltung der Absprache nicht beseitigt. 8 8 Dies gilt auch unabhängig davon, warum die Absprache i m Einzelfall nicht eingehalten wird. Sähe man das Hindernis nicht mehr in der Unkenntnis der Unwirksamkeit, sondern in dem Vertrauen auf die Umsetzung der Vereinbarung, liefe das im praktischen Ergebnis auf eine Irrtumsanfechtung hinaus. 8 9 M i t der Dogmatik des Wiedereinsetzungsrechts ist das schwer zu vereinbaren. 90 Dem Scheitern der Absprache kommt aber auch bei einem solchen Verständnis des „Hindernisses 44 Bedeutung zu, wenn auch nicht normativ, so doch zumindest faktisch. Regelmäßig wird der Angeklagte wenig Anlass haben, an der Verbindlichkeit der Absprache zu zweifeln. Einen Grund, jemanden danach zu fragen, hat er nicht. 9 1 Dies ändert sich mit dem Scheitern der Absprache. A b diesem Zeitpunkt rückt der Aspekt der Verbindlichkeit wieder in das Blickfeld des Angeklagten. 9 2 Dieser Umstand macht das Scheitern der Absprache zwar nicht zum „Wegfall des Hindernisses 44 i. S. d. § 45 StPO, doch ist bei lebensnaher Betrachtung nicht davon auszugehen, dass die Unwirksamkeit vor dem Scheitern bekannt wird. Ob das Hindernis bereits mit der Kenntnisnahme von der Nichteinhaltung der Zusage wegfall e 9 3 , muss ebenfalls bezweifelt werden. Regelmäßig wird sich der Angeklagte erst zu diesem Zeitpunkt um weiteren Rechtsrat bemühen, in dessen Zuge er von der Unwirksamkeit erfahren w i r d . 9 4 Dann fällt auch das Hindernis i. S. d. § 45 StPO weg. Das Scheitern der Absprache schafft insofern erst (und allein) die Notwendigkeit für diese rechtliche Beratung. Eine ähnliche „Brücke 4 4 baut dem Angeklagten Rieß, indem er das Kriterium des entgegenstehenden Hindernisses um eine subjektiv geprägte Komponente ergänzt. 95 Besteht das Hindernis in der Unkenntnis der Freiheit zur Durchführung des Rechts-

87 Satzger JuS 2000, 1157, 1161 Fn 46. 88 Weigend StV 2000, 63, 65. 89 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 660. 90 Rieß NStZ 2000, 98, 100. 9· Hamm NStZ 2001, 494, 495 - In dem von Hamm besprochenen Fall unterlagen alle Berufsjuristen einem kollektiven Rechtsirrtum über die beamtenrechtlichen Nebenfolgen des Urteils. Diese Einigkeit der Fachleute dürfe der Angeklagte als Zeichen für eine gesicherte Rechtslage deuten, S. 495. 92 Eine frühzeitigere Erlangung der Kenntnis von der Unwirksamkeit wäre bloßer Zufall. 93 Jedenfalls nicht vor diesem Zeitpunkt, so BGH NStZ 95, 556, 557; BGHSt 45, 227, 234. 94 Das Scheitern der Absprache ist zwar nicht selbst der Wegfall des Hindernisses, schafft aber die Motivation, sich über die Rechtslage zu informieren, Bömeke, S. 137.

95 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 661.

D. Die einzelnen Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

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mittels, genüge es nicht, wenn der Angeklagte später und in anderem Zusammenhang bloß objektive Kenntnis von der fortbestehenden Rechtsmittelmöglichkeit erhält, da er sich in derartigen Situationen keine Gedanken darüber macht, ob ein Rechtsmittel geführt werden s o l l . 9 6 Es bedürfe vielmehr eines situationsbedingten Anlasses, wie er typischerweise i m Zeitpunkt der gesetzlich vorgeschriebenen Belehrung gem. § 35a StPO gegeben ist, sich über die Einlegung eines Rechtsmittels Gedanken zu machen 9 7 Der Wegfall des Hindernisses trete insofern erst dann ein, wenn der Angeklagte - über die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts hinaus - erkennt, dass die Einlegung eines Rechtsmittels veranlasst i s t . 9 8 Damit w i l l Rieß dem Umstand Rechnung tragen, dass vereinbarungswidrige Umstände oder ein Scheitern der Absprache i m allgemeinen erst in der weiteren Entwicklung offenbar werden. M i t dem offenbar Werden dieser Umstände als sachlichem Anlass fiele dann das Hindernis weg. Rieß weist allerdings darauf hin, dass bei einer solchen Auslegung des § 45 StPO die Wiedereinsetzung zu einem M i t t e l der Motivanfechtung mutieren würde. M i t den herkömmlichen Vorstellungen v o m „Wegfall des Hindernisses' 4 i. S. d. § 45 I StPO wäre dies unvereinbar 9 9 , zumal in den Fällen der Vorabzusage regelmäßig schon zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt, der allerdings schwer bestimmbar sei, Kenntnis v o m Hindernis erlangt w e r d e 1 0 0 . U m eine dichte revisionsrechtliche Kontrolle der missbrauchsgefährdeten Absprachenpraxis zu ermöglichen, hält Bömeke eine „solchermaßen nachsichtige" Auslegung des § 45 I StPO trotzdem für geboten. 1 0 1 U m ein Problem der Auslegung des § 45 StPO handelt es sich gleichwohl nicht, denn diese „subjektivierende" Sichtweise wahrt die Struktur der §§ 44, 45 StPO. „Hindernis" bleibt die fehlende Kenntnis von der Unwirksamkeit. Rechtlich unerheblich i. S. d. §§ 44, 45 StPO bleibt damit die Erlangung sicherer Kenntnis von einer abweichenden Interpretation der Zusage oder sogar von deren Bruch. Bedenken, dass die erwähnten Modifizierungen und Subjektivierungen das Wesen und die dogmatische Funktion der Wiedereinsetzung systemwidrig umwandeln, sind daher unbegründet. Es handelt sich vielmehr um ein rein faktisches Problem, nämlich die Frage, wann der Angeklagte Kenntnis von der Unwirksamkeit erlangt. Ist dies typischerweise erst nach dem bekannt Werden des Scheiterns zu erwarten, w i r d der Wiedereinsetzungsantrag zwar regelmäßig der Irrtumsanfechtung dienen, doch verändert das nicht die systematische Funktion, die der Wiedereinsetzung in der StPO zukommt. Z u einem Instrument, das primär der Irrtumsanfechtung dient, macht man die Wiedereinsetzung rein rechtlich betrachtet nicht. 96 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 662. 97 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 662. 98 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 662 mit weiteren Ausführungen zu den Auswirkungen auf das im Wiedereinsetzungsverfahren Vorzutragende. 99 Rieß NStZ 2000, 98, 100. 100 Rieß NStZ 2000, 98, 100. Weigend würde wohl schon den Zeitpunkt der Belehrung gem. § 35a StPO genügen lassen, vgl. StV 2000, 63, 65. ιοί Bömeke,S. 137. 24 Meyer

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Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§ 44 ff. StPO

Da es sich bei der Kenntnis von der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts um ein Internum handelt, muss es legitim sein, aus den äußeren Geschehnissen Rückschlüsse auf das subjektive Vorstellungsbild des Täters zu ziehen. Dabei wird man insbesondere Wesen und Struktur der verfahrensbeendenden Absprache zu berücksichtigen haben. In diesem Sinne sind auch die Entscheidungen BGHSt 45, 227 und OLG München StV 2000, 188 zu verstehen. Die Gerichte nehmen keine rechtlich abweichende Interpretation des Merkmals „Wegfall des Hindernisses" vor. Beide stellen auf die Kenntnis von der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts a b . 1 0 2 Den mutmaßlichen Zeitpunkt der Kenntnisnahme wählen beide Gerichte dann aber sehr günstig für den Angeklagten. So geht das OLG München davon aus, dass der Angeklagte auf Grund des Vertrauens auf die Rechtsverbindlichkeit der Verzichtsabsprache Kenntnis von der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts jedenfalls nicht vor der Kenntniserlangung von der Nichteinhaltung der Absprache - in casu durch eine Ladung zur polizeilichen Vernehmung trotz Nichtverfolgungszusage - erlangt h a t . 1 0 3 Auch dem BGH zufolge ist mit einer Kenntnisnahme zumindest nicht vor diesem Zeitpunkt zu rechnen. I m entschiedenen Fall war das Schreiben des LG, in dem die Zustimmungsverweigerung der StA zur Einstellung eines Verfahrens wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz gem. § 154 I I StPO mitgeteilt wurde, in der Kanzlei der Verteidigerin eingegangen. 1 0 4 Beide Entscheidungen laufen darauf hinaus, dass Kenntnis erst dann erlangt wird, wenn sich herausstellt, dass die Absprache mit einem Dissens behaftet war oder aus sonstigen Gründen nicht eingehalten wird. Soweit aber behauptet wird, diese Argumentation löse sich sehr stark vom maßgeblichen Zeitpunkt der Kenntniserlangung von der Unwirksamkeit 1 0 5 , kann dem nicht zugestimmt werden. Sowohl der BGH als auch das OLG München arbeiten mit einer Vermutung, die sich auf den regelmäßigen Verlauf einer verfahrensbeendenden Absprache stützt. Dieser Verlauf legt es nahe, davon auszugehen, dass der Täter erst nach dem Scheitern der Absprache im Zuge der Einholung rechtlicher Ratschläge von der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts erfährt. Ein starkes Indiz für die Richtigkeit dieser Vermutung liefert der Aspekt des Vertrauensschutzes. In der Mehrzahl der praktisch auftretenden Fälle ist das schutzwürdige Vertrauen auf die Zulässigkeit und Verbindlichkeit der staatlichen Zusagen gerade Auslöser der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts als Vertrauensdisposition. Kenntnis von der Unwirksamkeit setzt in diesen Fällen das Wissen um die Un Verbindlichkeit und Unzulässigkeit der Zusage voraus. Gerade dieses notwendige Wissen wird typischerweise erst nach oder mit der Kenntnisnahme vom Scheitern der Absprache erlangt, entweder weil der Angeklagte i m 102 BGHSt 45, 227, 234; OLG München StV 2000, 188, 189. 103 OLG München StV 2000, 188, 189. 104 BGHSt 45, 227, 234. 105 In diese Richtung Rieß NStZ 2000, 98, 100.

E. Wiedereinsetzung im Zusammenhang mit unzulässigen Absprachen

371

Anschluss rechtlichen Rat sucht oder weil das zusagende Staatsorgan zur Rechtfertigung der Nichteinhaltung auf Unzulässigkeit und Unverbindlichkeit der Zusage verweist.

3. Ergebnis Abschließend ist somit festzustellen, dass „Hindernis" i m Sinne des § 45 StPO auch bei abgesprochener Verfahrensbeendigung allein die Unkenntnis von der Unwirksamkeit des Rechtsmittel Verzichts ist und der Angeklagte von dieser Unwirksamkeit tatsächlich regelmäßig erst nach Kenntnisnahme vom Scheitern der Absprache erfährt. Soweit ein Scheitern nach der Verzichtserklärung auf Grund des Inhalts der Absprache (vorherige Leistungsgewährung) ausgeschlossen ist, wird man den Zeitpunkt der Kenntnisnahme stets einzelfallabhängig bestimmen müssen.

IV. Nachholung der versäumten Handlung, § 45 I I 2 StPO Die bisher noch nicht vorgenommene versäumte Handlung ist nachzuholen. Der Angeklagte muss also ein Rechtsmittel einlegen. Typischerweise fallen Einlegung des Rechtsmittels und Wiedereinsetzungsantrag zusammen. Die verspätete Rechtsmitteleinlegung enthält regelmäßig den Wiedereinsetzungsantrag. 106 Gleichwohl sind der Wiedereinsetzungsantrag und die Rechtsmittelerklärung zwei verschiedene und voneinander zu trennende Erklärungen. Nachdem damit auch die einzelnen Voraussetzungen behandelt sind, die erfüllt sein müssen, damit der Angeklagte den Willensmangel durch einen Wiedereinsetzungsantrag erfolgreich geltend machen kann, ist der Blick abschließend auf eine weitere Funktion zu richten, die der Wiedereinsetzung zukommen soll.

E . D i e Bedeutung der Wiedereinsetzung i m Z u s a m m e n h a n g m i t unzulässigen Absprachen I. Kontrollmittel gegen unzulässige Absprachen Über die bereits beschriebene 107 Funktion der Geltendmachung eines Willensmangels beim Rechtsmittelverzicht und einer unverschuldeten Fristversäumnis hinaus, wird der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Funktion eines wichtigen, effektiven Kontrollmittels gegen unzulässige Absprachen beigemessen. 108 Bei der Überprüfung, ob diese Einschätzung auch tatsächlich zutrifft, können die 106 L R -Wendisch, § 45 Rn 6. 107 Siehe oben C. 24*

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Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§ 44 ff. StPO

Ergebnisse der bisherigen Untersuchung an vielen Stellen erkenntnisfördernd zur Anwendung gelangen. Eine unzulässige Absprache führt zur Prozessordnungswidrigkeit der späteren gerichtlichen Entscheidung. 1 0 9 Da i m Anschluss an eine Verständigung typischerweise Rechtsmittelverzicht erklärt wird, abgesprochen oder nicht, erwächst die gerichtliche Entscheidung auch umgehend in Rechtskraft. Durch den Rechtsmittelverzicht begibt sich der Verurteilte seiner einzigen Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeit, um staatlichen Verstößen zu begegnen. U m die Durchsetzung der strafverfahrensrechtlichen Prinzipien zu sichern, muss eine Kontrolle der abgesprochenen Entscheidung jedoch möglich sein. Es widerspräche den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens, wenn dem Angeklagten jegliche Korrekturmöglichkeit abgeschnitten w ü r d e . 1 1 0 Ohne die Option der Wiedereinsetzung als Instrument zur Geltendmachung der Unwirksamkeit des Verzichts würde sich prozessordnungswidriges Verhalten in einem prozessordnungswidrigen Verhandlungsergebnis sanktionslos niederschlagen und dauerhaft manifestieren. Die in BGHSt 43, 195 aufgestellten Grundsätze würden zu bloßen Empfehlungen degradiert. Ob nun aber dem Instrument der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand i m Rahmen des Bestrebens, das Vorkommen unzulässiger Absprachen zu verringern, tatsächlich entscheidende - und wachsende Bedeutung beizumessen ist, wird zum Teil einschränkend davon abhängig gemacht, ob es der Rechtsprechung zukünftig gelingt, genügend generalisierbare Fallgruppen herauszuarbeiten und die maßgeblichen Zeitpunkte brauchbar und interessengerecht zu bestimmen. 1 1 1 Der Rechtsmittelverzicht und seine Wirksamkeit erweisen sich dabei als Drehund Angelpunkt, denn nur dessen Unwirksamkeit eröffnet die Möglichkeit einer Überprüfung durch ein Rechtsmittelgericht. Sie bildet mithin den wesentlichen Einstieg in die revisionsrechtliche K o n t r o l l e . 1 1 2 Die i m Laufe der vorliegenden Arbeit gesammelten Erkenntnisse über die Behandlung von Willensmängeln beim Rechtsmittel verzieht 1 1 3 sowie die zuvor erfolgte Konkretisierung der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen für die Fälle des unwirksamen Rechtsmittelverzichts 1 1 4

los Rieß NStZ 2000, 96, 100; Bömeke, S. 136; Weigend StV 2000, 63, 65; Satzger JuS 2000, 1157, 1161. i° 9 Rieß bezweifelt allerdings, ob die Möglichkeit der Wiedereinsetzung auch bei inhaltlich unzulässigen Vereinbarungen akzeptiert werden kann, FS Meyer-Goßner, S. 645, 659. n° Weider StV 2000, 539, 542 - Täuschung und Rechtsmissbrauch würden perpetuiert, der Angeklagte rechtlos gestellt, wenn unzulässige Zusagen einen wirksamen Rechtsmittelverzicht verursachen. in Rieß NStZ 2000, 98, 100 - Die Wiedereinsetzungsfrage werde voraussichtlich größere Bedeutung erlangen als die bloße Verzichtsfrage. 112 Kuckein /Pfister, BGH-FS, S. 642, 658 - Daher müssen die Vorabzusage unzulässig und der vereinbarungsgemäß erklärte Rechtsmittelverzicht unwirksam sein.

113 Vgl. Teil 2 B., C., D., E.

E. Wiedereinsetzung im Zusammenhang mit unzulässigen Absprachen

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können deshalb auch an dieser Stelle - also in einem anderen funktionalen Zusammenhang - nutzbar gemacht werden und folglich einen Beitrag zur besseren Lösung der Problematik unzulässiger Absprachen leisten.

I I . Die besondere Bedeutung der gescheiterten Absprache 1 1 5 In der Praxis werden Absprachen freilich trotz prozessualer Unzulässigkeit fast immer eingehalten. Das Einvernehmen der Beteiligten verhindert eine Rechtmäßigkeitskontrolle der Entscheidung 1 1 6 , denn solange die Absprache abgewickelt wird, sind alle Beteiligten aus unterschiedlichen Gründen mit dem intern vereinbarten Ausgang zufrieden 1 1 7 . Zu einer Kontrolle in der Rechtsmittelinstanz kommt es mangels Bedürfnis n i c h t . 1 1 8 Ein umso größeres Bedürfnis für eine solche Kontrolle besteht allerdings, wenn die Absprache scheitert 1 1 9 , wobei „Scheitern" nicht bedeutet, dass die Verständigungsgespräche zu keinem Ergebnis führen und keine Absprache getroffen wird, sondern dass die Absprache nicht vereinbarungsgemäß abgewickelt wird. Eine Verständigung zwischen den Verfahrensbeteiligten kann aus verschiedenen Gründen scheitern 1 2 0 :

1. Mängel beim „Vertragsschluss" - Absprache ist unzulässig. - Über den Inhalt der getroffenen Absprache bestehen Meinungsverschiedenheiten („Dissens"). - I m Nachhinein werden Umstände bekannt, auf Grund derer ein Verfahrensbeteiligter sich nicht mehr an die Absprache gebunden fühlt („neue Umstände").

il* Siehe oben D. ι ' 5 Soweit der Begriff des „Fehlgehens" in dieser Arbeit verwendet wird, ist dieser als Synonym für „Scheitern" zu verstehen. 116 Jähnke ZRP 2001, 574, 576 fügt an, dass der Angeklagte gar keine Beschwer habe. Er sei günstiger weggekommen mit dem Deal als ohne Deal.

117 Seier JZ 88, 683, 685. us Der BGH musste sich bis März 2000 lediglich in 40 Entscheidungen mit der Verständigungspraxis beschäftigen. Davon entfallen knapp 20 auf den Zeitraum von Anfang 1997 bis März 2000, Zahlen bei Kuckein/Pf ister, BGH-FS, S. 642 Fn 5. 119 Da Absprachen meist eingehalten werden, selbst dann, wenn Inhalt oder Zustandekommen den vom 4. Senat aufgestellten Grundsätzen widersprechen, ist die quantitative Relevanz der gescheiterten Absprache mithin eher als gering einzustufen. ι 2 0 Übersicht übernommen von Kuckein, FS Meyer-Goßner, S. 63, 64; Eine Kategorisierung gescheiterter Absprachen findet sich auch bei Schmidt-Hieber, Rn 231 und Gerlach, S. 126 ff.

374

Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§44 ff. StPO

- Ein Verfahrensbeteiligter hält aus Zweckmäßigkeitsgründen ein Festhalten an der getroffenen Vereinbarung für nicht opportun („Vertragsuntreue").

2. Leistungsstörung bei Abwicklung der Absprache - Ein Verfahrensbeteiligter sieht sich aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen gehindert, die getroffene Vereinbarung einzuhalten. - Ein in eine Absprache einbezogener Dritter hält die Vereinbarung nicht ein. Wird das Scheitern schon i m Urteil offenbar 1 2 1 , ist ein Rechtsmittelverzicht des Angeklagten unwahrscheinlich. Von wesentlich größerer Relevanz sind dagegen Nichtverfolgungszusagen oder Zusagen zur Gestaltung des Strafvollzugs, mithin alle Fälle der sog. nachträglichen Leistungsgewährung 1 2 2 . In einer solchen Konstellation wird der Angeklagte regelmäßig auf Rechtsmittel verzichten, um die „vertragsgemäße" Grundlage für die spätere staatliche Leistungserbringung zu schaffen. In diesen Fällen führt gerade die Option der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu einer wesentlichen Stärkung der Verteidigungsposition des Angeklagten. 1 2 3 Gleichwohl hat die Untersuchung der Konstellation „nachträgliche Leistungsgewährung" einen ganz entscheidenden Befund zu Tage gefördert, dem in diesem Kontext enorme Relevanz zukommt. Das Verhalten des Angeklagten wird bei der Rechtsmittelentscheidung maßgeblich von der Aussicht auf die spätere staatliche Leistungserbringung b e s t i m m t . 1 2 4 Dies gilt unabhängig davon, ob der Rechtsmittelverzicht bereits i m voraus zugesagt wurde, solange der Angeklagte davon ausgeht, dass er mit seinem Rechtsmittelverzicht die Grundlage für die spätere staatliche Gegenleistung schafft. Das schutzwürdige Vertrauen auf die Zulässigkeit und Verbindlichkeit der Absprache ist daher nicht nur der rechtliche Grund für die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts, sondern auch dessen Auslöser als Vertrauensdisposition. Mithin ist allein das Vertrauen auf die Verbindlichkeit und Zulässigkeit der Absprache entscheidender Grund für die Nichteinlegung eines Rechtsmittels und daher das eigentliche Hindernis i. S. d. § 45 StPO, nicht die Unkenntnis, dass der Rechtsmittelverzicht unwirksam ist. Machte man aber dieses Vertrauen zum Hindernis i. S. d. § 45 StPO, wäre das wie bereits ausgeführt - mit der Dogmatik des Wiedereinsetzungsrechts und der herkömmlichen Vorstellung vom Wegfall des Hindernisses schwer zu vereinbar e n . 1 2 5 Soweit die Rechtsmittelfrist durch einen Rechtsmittel verzieht zum Erlö-

121 Z. B. wenn die Strafe höher ausfällt als vereinbart oder keine Strafaussetzung zur Bewährung erfolgt.

1 2 2 Siehe oben Teil 2 E.III.4.a)(2). 123 Satzger JuS 2000, 1157, 1161. 124 Siehe oben Teil 2 E.III.4.a)(2)(a).

E. Wiedereinsetzung im Zusammenhang mit unzulässigen Absprachen

375

sehen gebracht wird, lässt sich das schutzwürdige Vertrauen des Angeklagten zumindest auf faktischer Ebene berücksichtigen. 1 2 6 M i t einem Wandel der Absprachenpraxis könnte die Funktion der Wiedereinsetzung als Kontrollmittel gegen unzulässige Absprachen aber erheblich in Gefahr geraten.

I I I . Auswirkungen eines Wandels der Absprachenpraxis auf die Tauglichkeit als Kontrollmittel Verändert sich die Absprachenpraxis dahingehend, dass man zwar weiterhin „Letztinstanzlichkeit" vereinbart, jedoch nicht mehr der (aktive) Rechtsmittelverzicht, sondern der passive Verzicht durch Verstreichen lassen der Frist als Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels fungiert, der Angeklagte die Frist also i m Vertrauen auf die Verbindlichkeit der Absprache verstreichen lässt, dann scheidet die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung aus. Der Rechtsmitteleinlegung stand schließlich kein Hindernis i. S. d. des § 45 StPO entgegen, sondern lediglich das Vertrauen des Angeklagten. Dies gilt auch dann, wenn die Nichtanfechtung nicht vereinbart wurde. Wer eine Frist bewusst ungenutzt verstreichen lässt, verliert den Anspruch auf Wiedereinsetzung auch dann, wenn er ohne Verschulden keine Kenntnis von Umständen gehabt hat, die sich erst später nachteilig für ihn auswirkten. 1 2 7 Wer von einem befristeten Rechtsbehelf bewusst keinen Gebrauch macht, ist nicht i.S.v. § 44 S. 1 StPO „verhindert, eine Frist einzuhalten". 1 2 8 Schutzwürdig ist der Angeklagte in solchen Fällen dennoch. Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz gebietet die Nachteilsbeseitigung. 129 Als Instrument zur Eröffnung einer Korrekturmöglichkeit in der Rechtsmittelinstanz scheidet die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand jedoch aus. De lege lata nützt es dem Angeklagten daher indirekt sogar, dass man ihm stets einen Rechtsmittelverzicht abverlangt. Ließe man es beim bloßen Verstreichen lassen der Frist bewenden, hätte der Angeklagte nach geltendem Recht keine Möglichkeit, nachträglich in die Rechtsmittelinstanz zu gelangen. Soweit schutzwürdig auf die Einhaltung der Absprache vertraut wurde, wirkt der Rechtsmittelverzicht nicht „stärker" als der Fristablauf. 1 3 0

125 Rieß NStZ 2000, 98, 100. 126 Siehe oben D.III.2. 127 L R -Wendisch, § 44 Rn 20. 128 BGH NStZ-RR 98, 109. 129 Soweit bereits ein Geständnis abgelegt wurde und der Angeklagte dabei schutzwürdig auf die Zulässigkeit der Absprache vertraut hat, ließe sich i m Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz auch ein selbstständiges Beweisverwertungsverbot begründen, siehe auch S. 379. 130 So für den Regelfall SarstedtIHamm, zung unmöglich mache.

S. 64 Rn 137, da der Verzicht die Wiedereinset-

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Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§44 ff. StPO

De lege ferenda muss allerdings, um den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes gerecht zu werden, ein anderes Instrument zur Anwendung gelangen, das wie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ebenfalls zur Berücksichtigung von Billigkeitsinteressen konzipiert ist: die Wiederaufnahme des Verfahrens gem. § 359 S t P O 1 3 1 . Der Gesetzgeber sollte darüber nachdenken, ob nicht ein Wiederaufnahmegrund der „nachträglich gescheiterten Absprache" sachgerecht und sinnvoll wäre, dessen Tatbestand fehlendes Verschulden auf Seiten des Angeklagten verlangt. 1 3 2 Hier könnte dann der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz einstrahlen. Soweit das Vertrauen auf den Bestand der Absprache schutzwürdig ist, fehlt es am Verschulden des Angeklagten. A u f diese Weise ließen sich auch die zuvor ausführlich behandelten Nachweisprobleme beim Rechtsmittelverz i c h t 1 3 3 und der Wiedereinsetzung in den vorigen S t a n d 1 3 4 vermeiden. Der Streitstand über die Unwirksamkeit des absprachegemäß erklärten Rechtsmittelverzichts wäre nur noch für den Zeitraum bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist relevant, da die Wiederaufnahme nicht auf die Art und Weise der Herbeiführung der Rechtskraft abstellt. Des Weiteren wäre nicht mehr zu diskutieren, ob das schutzwürdige Vertrauen auf die Zulässigkeit der Absprache ein Hindernis i. S. d. § 45 StPO begründet. Es gäbe aber noch einen leichteren Weg. Die bisherige Untersuchung hat gez e i g t 1 3 5 , dass der Angeklagte i m Hinblick auf den Inhalt der Absprache unbeherrschbare Risiken vor allem dann eingeht, wenn es sich um Fälle nachträglicher Leistungsgewährung handelt. Es sollte daher künftig durch gesetzliche Regelung sichergestellt werden, dass i m Zuge der Abspracheabwicklung der Urteilsverkündung keine staatliche Leistungserbringung mehr nachfolgt. 1 3 6 Bei einer derartigen Sachlage könnte der Angeklagte zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung eine autonome Entscheidung darüber treffen, ob er mit dem gefundenen Ergebnis zufrieden ist oder die Einlegung eines Rechtsmittels sinnvoll erscheint. Der Rechtsmittelverzicht ist dann der letzte A k t der Absprache und bildet den Schlusspunkt des Leistungsaustausches. Der Einführung eines Wiederaufnahmegrundes bedürfte es dann nicht mehr, da nachträglich scheiternde Absprachen ausgeschlossen wären. Ein Wandel der Absprachepraxis in der oben geschilderten Weise würde die Tauglichkeit der Wiedereinsetzung als Kontrollmittel unzulässiger Absprachen 131 A l l g e m e i n zur Wiederaufnahme als Rechtsschutzmittel gegen Absprachen, Absprache, S. 253 ff.

Rönnau,

132 Einige Reformentwürfe i m Bereich des Wiederaufnahmeverfahrens sahen bereits eine verstärkte Berücksichtigung schwerer Rechtsfehler vor, vgl. dazu und allgemein zu den Reformbestrebungen bei der Wiederaufnahme, Waßmer StV 2002, 454, 459 f.

• 3 3 V g l . oben Teil 2 E.III.3.C), 4. ' 3 4 V g l . oben D.III.2. 155 V g l . oben Teil 2 E.III.4.a)(2). 136 I n diese Richtung geht auch ein neuerer Vorschlag Schünemanns Z S t W 114 (2002), 1, 61, der eine Umkehrung der Vorleistungsreihenfolge als Grundlage für eine abgesprochene Verurteilung vorsieht.

E. Wiedereinsetzung im Zusammenhang mit unzulässigen Absprachen

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gänzlich aufheben. Doch auch ohne einen solchen Wandel ist die Tauglichkeit als effektives Kontrollmittel entscheidend durch die funktionale Beschränkung der Wiedereinsetzung gemindert.

IV. Funktionale Beschränkung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand U m dem Rechtsmittelführer mit der Feststellung der Begründetheit seines Rechtsmittels helfen zu können, muss das Rechtsmittelgericht zunächst einmal die Zulässigkeitshürde überwinden, so die zutreffende Einschätzung Hamms bezüglich der Funktion der Wiedereinsetzung. 137 Der Angeklagte erhält über die Wiedereinsetzung zunächst nur die Möglichkeit zurück, Rechtsmittel einzulegen - mehr n i c h t . 1 3 8 Schlägt die Absprache fehl, steht der Betroffene angesichts seiner weitreichenden Vorleistungspflicht aber stets vor der Frage, wie er seine bereits erbrachte Gegenleistung, vor allem das Geständnis, aus der Welt schaffen k a n n . 1 3 9 Zentrales Begehren des Angeklagten ist daher - abgesehen von der zumeist nicht möglichen Erfüllung der Zusagen - die Neutralisierung der negativen Folgen der fehlgeschlagenen Absprache in der Rechtsmittelinstanz. 1 4 0 Das Institut der Wiedereinsetzung ist indessen nicht dafür geschaffen und somit untauglich, um dem Angeklagten die Befreiung von der Absprache und ihren prozessualen Auswirkungen zu ermöglichen, wenn sich die von ihm mit der Absprache verknüpften Erwartungen nicht erfüllen. 1 4 1 Übereinstimmend wird i m Schrifttum daher auf die Notwendigkeit noch eines weiteren Schrittes hingewiesen, nämlich der wirksamen Korrektur der Vorleistung in der Rechtsmittelinstanz. 1 4 2 Das vorhandene Instrumentarium der StPO ist auf das dem Gesetz unbekannte Phänomen der Absprache freilich nicht optimal zugeschnitten 1 4 3 und nur begrenzt geeignet, einen angemessenen Ausgleich widerstreitender Interessen in einem Verfahren herbeizuführen, das sich am Vertragsgedanken orientiert. 1 4 4 Die i m Schrifttum gewagte Prognose, dass die intrikaten Fälle der fehlgeschlagenen Absprache den BGH zukünftig noch vor erhebliche Probleme stellen werden 1 4 5 , erscheint da137 Hamm NStZ 2001, 494. 138 Treffend Weigend StV 2000, 63, 67. 139 Cramer, FS Rebmann, S. 145, 157; mit Lösungsvorschlägen Weigend, S. 1011, 1036, 1037.

BGH-FG,

140 Satzger JuS 2000, 1157, 1161. 141 Rieß NStZ 2000, 98, 100; Rönnau JR 2001, 29, 34. 142 Satzger JuS 2000, 1157, 1161; Rönnau JR 2001, 29, 33. 143 Rieß NStZ 2000, 98, 99. Anerkannt ist allerdings, dass die Problematik mit strafprozessualen Mitteln zu lösen ist, Janke, S. 223 m. w. N. 144 Rönnau JR 2001, 29, 34. 145 Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1036, 1039.

378

Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§ 44 ff. StPO

her mehr als nachvollziehbar. Das „klassische" Instrumentarium der StPO kann das Fehlen eines quasi-vertraglichen Leistungsstörungsrechts nicht ersetzen. 1 4 6 Gegenwärtig wichtigstes Mittel zur Kontrolle der Absprachenpraxis bleibt dennoch das Revisionsrecht. 1 4 7 Bei den sog. schlanken Geständnissen kann z. B. die Aufklärungsrüge zum Erfolg der Revision führen. 1 4 8 Wenigstens mit der allgemeinen Sachrüge könnte aber ein Urteil, das sich maßgeblich auf ein unsubstantiiertes Geständnis stützt, angegriffen werden. 1 4 9 Nach geltendem Recht kann der Angeklagte - abgesehen von den bindenden Zusagen - die ihm gegebenen Zusagen jedoch weder einklagen noch seine Vorleistungen kondizieren. 1 5 0 Auch der spätere Geständniswiderruf oder das Scheitern der Absprache als solches können als nachträgliche Umstände nicht den Erfolg der Revision begründen. 1 5 1 Das Revisionsgericht darf diese Umstände nicht berücksichtigen. Als prozessuale Folgen eines fehlgeschlagenen Deals werden stattdessen das Vorliegen eines Prozesshindernisses, die Annahme eines Β e weis verwertungs Verbotes und die Möglichkeit einer Strafmilderung diskutiert. 1 5 2 Vom BGH wird dabei allerdings die Annahme einer Verwirkung des staatlichen Strafanspruches oder eines Verfahrenshindernisses konsequent abgelehnt. 1 5 3 Äußerst umstritten ist i m Rahmen dieser Diskussion aber vor allem die Frage, ob das Geständnis trotz Scheiterns der Absprache verwertbar i s t . 1 5 4 A n dieser Stelle kann wiederum in Form der 146

Die Entwicklung eines Leistungsstörungsrechts fordern Dencker/Hamm,

S. 98 f.

147

LR-Rieß, Einl. Abschn. G Rn 86; zur revisionsrechtlichen Kontrolle fehlgeschlagener Absprachen ausführlich Bömeke, S. 109 ff. sowie jüngst Weider NStZ 2002, 174 ff. 148

Der Aufklärungsgrundsatz, § 244 I I StPO, ist nicht disponibel. Das Geständnis muss daher auf seine Glaubhaftigkeit überprüft werden; sich hierzu aufdrängende Beweiserhebungen dürfen nicht unterbleiben, Kuckein IΡ fister, BGH-FS, S. 642, 656. 149 Diese Sachrüge wurde in schöpferischer Fortentwicklung des Revisionsrechts zur Überprüfung der Plausibilität der richterlichen Beweiswürdigung etabliert, KK-Kuckein, § 337 Rn 29 f. Ausführlich Bömeke, S. 148 ff., der auf den S. 1 3 7 - 1 5 6 ausführt, inwieweit Verfahrensfehler und materiell-rechtliche Fehler mit der Revision gerügt werden können.

150 Rönnau JR 2001, 29, 33. 151 Der Widerruf des Geständnisses nach Erlass des angefochtenen Urteils ist zwar für das Revisionsverfahren regelmäßig ohne Bedeutung, er kann aber ein Wiederaufnahmegrund gem. § 359 Nr. 5 StPO sein, Kuckein/Pf ister, BGH-FS, S. 642, 661. 152 Empfehlenswert dazu, Beulke ! Satzger JuS 97, 1072 ff.; ausführlich auch Bömeke, S. 110 ff.; Kuckein, FS Meyer-Goßner, S. 63, 65 ff.; Tscherwinka, S. 90 ff. 153 BGHSt 37, 10, 13, 14 - Verfahrenshindernis seien nur Umstände, die nach dem ausdrücklich erklärten oder aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzes so schwer wiegen, dass von ihrem Nichtvorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens i m Ganzen abhängig gemacht werden muss. Das Rechtsstaatsprinzip sei zu weit und unbestimmt, als dass man ohne gesetzliche Regelung ein Verfahrenshindernis annehmen könnte. Auch sei bei nicht eingehaltenen Zusagen der StA gem. § 154 I StPO kein Verstoß gegen Art. 103 I I I G G gegeben, da die staatsanwaltliche Zusage nicht die Strafklage verbraucht. Dies sei nur durch richterliche Entscheidung möglich, S. 11; ebenso BGHSt 42, 191, 193; zustimmend Kuckein, FS Meyer-Goßner, S. 63, 68.

E. Wiedereinsetzung im Zusammenhang mit unzulässigen Absprachen

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Erkenntnisse der Untersuchung, und zwar primär derjenigen, die über Voraussetzungen und Anforderungen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes gewonnen wurden, ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Rechtsfolgen gescheiterter Absprachen geleistet werden. Durfte der Angeklagte nämlich zum Zeitpunkt des Geständnisses auf Zulässigkeit und Verbindlichkeit der Absprache vertrauen, so ist er in jedem Fall schutzwürdig. Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz gebietet dann zumindest die Beseitigung der Nachteile, die aus der Vertrauensdisposition resultieren. 1 5 5 Vertrauensdisposition wäre vorliegend das Geständnis selbst. I m Hinblick auf die Anforderungen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes ließe sich daher durchaus ein selbstständiges Beweisverwertungsverbot begründen. Die Unverwertbarkeit des Geständnisses wäre dann Rechtsfolge des Vertrauensschutzes. Ein solches aus dem fair trial-Prinzip, welches in der vorliegenden Konstellation zur Verwirklichung des Vertrauensschutzes i m Strafprozess dient, abzuleitendes selbstständiges Beweisverwertungsverbot hat bereits mehrfach Zuspruch erfahr e n . 1 5 6 Gleichwohl erkennt der BGH lediglich eine Strafmilderung als Rechtsfolge an, da das Risiko eines Dissenses sich bei Vereinbarungen nie ausschließen lasse. 1 5 7 Doch darf über der Diskussion um die Rechtsfolgen gescheiterter Absprachen nicht vergessen werden, dass auf Seiten des Angeklagten regelmäßig das Interesse an der Erfüllung der Zusagen, die ihm von staatlicher Seite gegeben wurden, vorrangig ist. Es ist daher insbesondere auch eine weitergehende Diskussion über die rechtliche und damit durchsetzbare ΒindungsWirkung von Absprachen und deren materielle und formelle Voraussetzungen geboten. 1 5 8

154 Kuckein, FS Meyer-Goßner, S. 63, 65 m. w. N. 155 Für den Rechtsmittel verzieht als Vertrauensbetätigung wurde dies ausführlich unter Teil 2 C.I.5.c)(3)(b) besprochen. 156 Soweit ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde, hält Kuckein, FS Meyer-Goßner, S. 63, 71 f., die Ableitung eines Beweisverwertungsverbotes aus dem fair trial-Grundsatz ausnahmsweise für zulässig. Zumindest bei dissens-bedingtem Fehlschlag zustimmend Satzger, JuS 2000, 1157, 1161 - Weil das Risiko eines dissens-bedingten Fehlschlags nicht ausschließlich i m Verantwortungsbereich des Angeklagten liege, dürfe er auch nicht der alleinige Träger der Nachteile des Fehlschlags sein. Dies gebiete der Fairnessgrundsatz, da diese Konstellation der anfänglichen bewussten Täuschung nahe komme; so wohl auch Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1036, 1037 - Dasselbe müsse für die Fälle des „broken promise" gelten. 15V BGHSt 36, 210, 211; 42, 191, 194. Die Rechtsprechung des BGH zeige eine Tendenz zur Verwertung des Geständnisses, Kuckein, FS Meyer-Goßner, S. 63, 66 mit einer Kurzübersicht über die bisherige Rechtsprechung. 158 Vgl. dazu in jüngerer Zeit die Dissertation von Ioakimidis, die den Vertrag als Handlungsform i m Strafprozess für zulässig hält. Vorbild sei allerdings nicht der privatrechtliche Vertrag, sondern der Verwaltungsvertrag, der durch seine strenge Bindung an Recht und Gesetz geprägt sei, S. 121, 130 ff.; zur Β indungs Wirkung von Absprachen siehe auch Kölbel NStZ 2002, 74; Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1032 ff. sowie Weider NStZ 2002, 174, 178, der es begrüßt, dass der BGH nun auch bei gescheiterten Absprachen von der Bindungswirkung einer Strafmaßzusage auszugehen scheint.

380

Teil 3: Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§ 44 ff. StPO

V. Ergebnis Die Überprüfung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf ihre Effektivität als Kontrollmittel gegen unzulässige Absprachen hat gezeigt, dass diese nur in sehr begrenztem Umfang tatsächlich als Kontrollmittel wirken kann. Doch selbst dieser enge Wirkungsbereich würde entfallen, wenn es zu dem oben beschriebenen W a n d e l 1 5 9 in der Absprachenpraxis kommt.

159 Siehe E.III.

Teil

Schlussbetrachtung und Ausblick Nachdem i m Rahmen der vorliegenden Arbeit eine grundlegende allgemeine Dogmatik zur Behandlung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht entwickelt werden konnte und die Mittel zur prozessualen Geltendmachung eines ausnahmsweise beachtlichen Willensmangels dargestellt wurden, gilt es nun, vor diesem Hintergrund zu den vor allem im Schrifttum vorgeschlagenen Änderungen des § 302 StPO Stellung zu beziehen. Des Weiteren soll ein kritischer Blick auf die geplante Normierung der verfahrensbeendenden Absprache, insbesondere, soweit sie den Rechtsmittelverzicht als Bestandteil einer Absprache betrifft, geworfen werden. Um eine hinreichende Grundlage für diese i m Anschluss erfolgende Würdigung der vorgeschlagenen oder geplanten Änderungen zu § 302 StPO zu schaffen, sollen jedoch zuvor noch einmal die wesentlichen Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung im Überblick aufgeführt sowie die Vor- und Nachteile, die für die Verfahrensbeteiligten mit einem Rechtsmittelverzicht des Angeklagten verbunden sind, ermittelt werden.

A. Gesamtergebnis Unter der Prämisse, dass Willensmängel grundsätzlich nicht zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führen, sondern nur dann - ausnahmsweise - beachtlich sind, wenn die Entstehung des Willensmangels nicht in den Verantwortungsbereich des Angeklagten fällt, hat die vorliegende Untersuchung Folgendes ergeben: Bei objektiver Irreleitung durch staatliche Strafverfolgungsorgane darf der Angeklagte bis zur Grenze der Offensichtlichkeit auch auf fehlerhafte Auskünfte und Zusagen staatlicher Organe vertrauen. In diesem Fall führt die fehlende Verantwortung des Angeklagten für die Entstehung des Willensmangels zur Unwirksamkeit des Rechtsmittel Verzichts. Erfolgt die objektive Irreleitung indessen durch den Verteidiger oder durch außerprozessuale Dritte, wird der Angeklagte nicht von seiner Verantwortung frei. Der Verzicht ist trotz Willensmangels wirksam. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Verteidiger nicht ausschließlich zur Verwirklichung der Prozesssubjektstellung des Angeklagten tätig geworden ist. Erfolgt die Einflussnahme, die den Willensmangel beim Angeklagten auslöst, durch die Drohung eines staatlichen Strafverfolgungsorgans, wird der Angeklagte

382

Teil 4: Schlussbetrachtung und Ausblick

nur dann von der Verantwortung frei, wenn die Drohung rechtswidrig ist, keine prozessualen Abwehrmöglichkeiten bestehen und in den Kernbereich eines Grundrechts des Angeklagten eingegriffen wird. Bei Drohungen durch den Strafverteidiger oder außerprozessuale Dritte gilt ein noch strengerer Maßstab. In diesen Fällen trägt der Angeklagte die Verantwortung für den vorliegenden Willensmangel nur dann nicht, wenn zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung ein nicht anders abwendbarer Eingriff in das Leben oder die körperliche Freiheit oder eine wesentliche Verletzung der körperlichen Integrität des Angeklagten oder eines Familienangehörigen unmittelbar bevorsteht. Gleiches gilt für die akute Gefahr existenzbedrohender Vermögenseinbußen. Der Rechtsmittelverzicht ist in diesen Fällen unwirksam. Abschließend war die Fallgruppe der Fürsorgepflichtverletzungen durch das Gericht zu untersuchen. Dabei ergab sich, dass die Veranlassung eines Rechtsmittelverzichts durch das Gericht i m unmittelbaren Anschluss an das Urteil, die nicht erfolgte Bestellung eines notwendigen Verteidigers und die Abwesenheit des gewählten oder bestellten Verteidigers bei der Verzichtserklärung eine gerichtliche Fürsorgepflicht zur Verhinderung von Willensmängeln begründet. Kommt das Gericht dieser Verpflichtung nicht durch Hinweise und Belehrungen nach, dann sind Willensmängel, die infolgedessen beim Angeklagten entstehen, ausnahmsweise beachtlich. Zur Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts führen Willensmängel auch dann, wenn sie daraus resultieren, dass der Angeklagte vom Gericht nicht über das Bestehen prozessualer Abwehrmittel gegenüber Drohungen der Strafverfolgungsbehörden belehrt wurde oder das Gericht bei erkannter „Unfähigkeit" des Verteidigers in den Fällen notwendiger Verteidigung nicht gem. §§ 140, 141 I, IV, 143 StPO durch Abberufung des alten und Bestellung eines neuen Verteidigers tätig geworden ist. Alle weiteren Willensmängel sind auf Grund der Eigenverantwortlichkeit des Angeklagten für die Willensbildung und -betätigung bei Rechtsmittelerklärungen von vornherein unbeachtlich. Die Zusammenfassung der Ergebnisse verdeutlicht dabei eine wesentliche Erkenntnis der vorliegenden Untersuchung: Für die Frage der Beachtlichkeit eines Willensmangels ist nicht dessen Einordnung in die herkömmlichen Kategorien von Willensmängeln relevant, sondern vielmehr die Art und Weise der Einflussnahme auf die Entscheidungsautonomie des Angeklagten und die Person bzw. prozessuale Funktion des Beeinflussenden. Diese Erkenntnis konnte i m Rahmen der vorliegenden Untersuchung bereits bei der Frage der Behandlung von unzulässigen Absprachen nutzbar gemacht werden. Nachdem eine Analyse der Auswirkungen bestimmter Inhalts- und Verfahrensfehler auf den Entscheidungsprozess des Angeklagten beim Rechtsmittelverzicht eine präzise Feststellung dahingehend ermöglicht hatte, dass die konkrete Art der Einflussnahme in diesen Fällen lediglich ein Unterfall der objektiven Irreleitung durch staatliche Strafverfolgungsorgane ist, konnten die für diese Fallgruppe entwickelten Maßstäbe der Verantwortungsverteilung auch auf Willensmängel angewandt werden, die infolge einer unzulässigen Absprache entstanden sind.

Β. Vorteile und Nachteile des Verzichts für die Verfahrensbeteiligten

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Die vorliegende Arbeit hat damit gezeigt, dass die Entwicklung einer allgemeinen Dogmatik zur Behandlung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht des Angeklagten, die einen gerechten Ausgleich zwischen dem öffentlichen Rechtssicherheits- und Effektivitätsinteresse und den Belangen des Angeklagten auf der Grundlage einer strafprozessualen Verantwortungsverteilung schafft und sich zugleich für den Einsatz in der Praxis eignet, möglich ist. Für die Beantwortung der Frage, ob dem Angeklagten die weit reichenden Folgen eines Rechtsmittel Verzichts überhaupt zumutbar sind, ist jedoch nicht nur von Bedeutung, ob de lege lata die Entwicklung einer Dogmatik zur Behandlung von Willensmängeln möglich ist, die den Belangen des Angeklagten Rechnung trägt. Von wesentlicher Bedeutung ist auch, ob der Angeklagte, der durch den Verzicht immer einen bedeutenden Rechtsverlust erleidet, auch Vorteile aus seinem Verzicht ziehen kann. Bevor insofern zu bisher gehandelten Änderungsvorschlägen, die eine Reformierung des § 302 StPO vorsehen, und der Notwendigkeit einer diesbezüglichen gesetzgeberischen Tätigkeit abschließend Stellung genommen werden kann, bedarf es einer Betrachtung der Vor- und Nachteile, die ein Rechtsmittel verzieht für die Verfahrensbeteiligten mit sich bringt.

B. Vorteile und Nachteile des Verzichts für die Verfahrensbeteiligten Gericht und StA nützt ein Rechtsmittelverzicht des Angeklagten vor allem insofern, als die gerichtliche Entscheidung, einen gleichzeitigen Rechtsmittelverzicht der StA unterstellt, rechtskräftig wird und das Verfahren damit endgültig abgeschlossen ist. Vor allem das Gericht muss weder eine Anfechtung seiner Entscheidung noch deren mögliche Aufhebung durch eine höhere Instanz befürchten. 1 M i t h i n gilt für die Gerichte oftmals die Maxime: „Rechtskraft hat absolute Priorität!" Auch arbeitsökonomisch ist die Herbeiführung der Rechtskraft per Verzicht für die Gerichte vorteilhaft. § 267 I V StPO eröffnet für diese Fälle eine Abkürzungsmöglichkeit bei der schriftlichen Urteilsbegründung. 2 Zwar besteht diese Möglichkeit auch dann, wenn der Angeklagte die Rechtsmittelfrist verstreichen lässt, doch erlangt das Gericht i m Falle eines Rechtsmittelverzichts sogleich Gewissheit, dass die Urteilsbegründung in abgekürzter Form erfolgen kann, ohne zuvor eine Woche bis zum Fristablauf warten zu müssen. 3

1

Müller-Christmann JuS 99, 677, 680. Ein legitimes Interesse ist das allerdings nicht, so eindeutig Erb G A 2000, 511,516. 2 Allerdings wäre eine Abkürzung auch dann zulässig, wenn innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt wird. Der Nutzen für das Gericht beschränkt sich insofern auf die frühere Gewissheit.

384

Teil 4: Schlussbetrachtung und Ausblick

Für den Angeklagten sind wirkliche Vorteile hingegen kaum ersichtlich. Dies gilt umso mehr, als § 450 StPO, der bei Rechtsmittelverzicht aller Berechtigten einen sofortigen Strafantritt und eine Anrechnung der U-Haft ab Rechtskraft ermöglichte, durch Einführung des § 51 StGB, der in Abs. 1 eine Anrechnung der U-Haft unabhängig von der Rechtskraft vorsieht, praktisch bedeutungslos wurde. Hinsichtlich der in § 450 I I StPO geregelten Anrechnung der Fortdauer einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Urteil auf das Fahrverbot nach § 44 StGB gilt nichts anderes. Auch für diese Konstellation ordnet § 51 V StGB nunmehr eine Anrechnung bereits vor Rechtskraft an. 4 Der dahinter stehende Rechtsgedanke ist klar. Die Ausschöpfung der Rechtsmittelfrist ist das gute Recht des Angeklagten, so dass ihm eine hierdurch bedingte Verzögerung nicht als böswillige Verschleppung angelastet werden kann, die es legitim erscheinen ließe, die Anrechnung zu versagen. 5 Den Vorteil eines schnelleren Haftantritts, der grundsätzlich aus dem gegenüber dem Verstreichen der Rechtsmittelfrist zeitlich früheren Eintritt der Rechtskraft resultieren kann, hätte nur der nicht in U-Haft befindliche Angeklagte. Hier kann nichts angerechnet werden. Die Vorverlagerung des Strafantritts dürfte indessen kaum messbar sein, erfolgt die Ladung zum Strafantritt meist ohnehin erst geraume Zeit nach Eintritt der Rechtskraft. 6 Messbar ist ein Vorteil, der aus einem Eintritt der Rechtskraft vor Fristablauf resultiert, allerdings in den Fällen der Strafaussetzung zur Bewährung, denn § 56a StGB sieht keinerlei Anrechnungsmöglichkeit vor. Der Ablauf der Bewährungszeit, die gem. § 56a I I S. 1 StGB mit Rechtskraft des Urteils beginnt, tritt deshalb bei schnellerem Eintritt der Rechtskraft zeitlich früher ein. Dieser unmittelbare rechtliche Vorteil dürfte sich freilich praktisch kaum auswirken, läuft die gem. § 56a I S. 2 StGB mindestens zweijährige Bewährungszeit doch lediglich einige Tage früher ab. I m Schrifttum wird zum Teil auf die mögliche Existenz zumindest mittelbarer Vorteile hingewiesen. 7 Denkbar seien dié Abwendung eines Haftbefehls durch Herbeiführung der Rechtskraft, wenn als Haftgrund allein die Verdunkelungsgefahr in Frage käme, und die Verschonung mit einem Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft. 8 Ob man diese Möglichkeiten aber tatsächlich als mittelbaren Nutzen bezeichnen darf, der mit einem Rechtsmittelverzicht verbunden sein kann, erscheint fraglich. Zunächst sind die sog. „Haftbefehlsfälle" in der Praxis äußerst selten; zu selten, als dass aus der Abwendungsmöglichkeit per Rechtsmittelverzicht für den durchschnittlichen Angeklagten ein spürbarer tatsächlicher Vorteil entspringen könnte. 3 Dahs, FS Schmidt-Leichner, S. 17, 18, findet es dennoch erstaunlich, dass sich die Praxis, einen Rechtsmittelverzicht „herauszufragen", nach gesetzlicher Einführung dieser zusätzlichen Möglichkeit nicht geändert hat.

4 Vgl. aber Dahs, Handbuch, Rn 788. 5 Schönke / Schröder-Stree,

§ 51 StGB Rn 20.

6 So auch Erb G A 2000, 511, 512. 7 Erb G A 2000, 511, 512 f. 8 BGH NStZ 86, 277, 278; vgl. dazu auch Dahs, Handbuch, Rn 784, 788.

Β. Vorteile und Nachteile des Verzichts für die Verfahrensbeteiligten

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Soweit der Rechtsmittelverzicht dazu dienen soll, die Einlegung eines Rechtsmittels der StA zu verhindern, bleibt anzumerken, dass die StA die Wahrnehmung ihrer Rechtsmittelbefugnis kaum davon abhängig machen wird, ob der Angeklagte auf Rechtsmittel verzichtet. Eine Rechtsmitteleinlegung durch die StA und damit verbunden die Gefahr einer reformatio in peius droht von vornherein nicht, wenn die StA mit dem Urteil zufrieden ist. Ist sie hingegen unzufrieden mit der gerichtlichen Entscheidung, so wird sie von ihrer Rechtsmittelbefugnis unabhängig davon Gebrauch machen, ob der Angeklagte verzichtet oder nicht. Zudem soll ein Rechtsmittel der StA ausschließlich eingelegt werden, wenn wesentliche Belange es gebieten und das Rechtsmittel aussichtsreich erscheint. Dies stellt Nr. 1471 RiStBV klar. Allenfalls die Möglichkeit, den Rechtsmittelverzicht bzw. dessen Zusage als „bargaining chip' 4 i m Rahmen von Verständigungsgesprächen einzusetzen, birgt gewisse mittelbare - wenn auch zugegebenermaßen schwache - Vorteile, da eine Absprache, die sich für den Angeklagten günstig auswirken kann, ohne die vorherige Zusage des späteren Rechtsmittelverzichts regelmäßig gar nicht zustande kommt 9 . Darüber hinaus kann sich die Zusage des Rechtsmittelverzichts, wenn auch in der Praxis eher selten, positiv auf die Strafzumessung auswirken. 1 0 Zuzugeben ist allerdings, dass die professionellen Prozessteilnehmer in weitaus stärkerem Maße von einer Absprache profitieren als der Angeklagte selbst. 11 Doch lässt sich nicht leugnen, dass für den Angeklagten in der Masse der abgesprochenen Verfahren durchaus ein günstigeres Urteil zu erwarten ist als bei einer streng kontradiktorischen Verfahrensführung und -erledigung, so dass sich die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts wohl tatsächlich vorteilhaft auswirkt. Auch dieser faktische Vorteil entfiele allerdings 1 2 , wenn die Praxis in Adaption von BGHSi 43, 195 und BGHSi 45, 227 auf den Rechtsmittelverzicht als Bestandteil einer Absprache verzichtete. Dadurch würde der Absprachenpraxis zwar eine gegenwärtig elementare Voraussetzung für das Zustandekommen einer verfahrensbeendenden Absprache genommen 1 3 , doch erscheint dies weder unverhältnismäßig noch unpraktikabel. 1 4 Werden die Regeln, die von der Rechtsprechung für die Urteilsabsprache entwickelt worden sind, eingehalten, besteht kein Grund, eine Überprüfung i m Rechtsmittelverfahren zu fürchten. 1 5 Vor BGHSi 43, 195 mag als Moti9 Vgl. jüngst und exemplarisch BGH NStZ 2002, 219 f. 10 Weider, FS Lüderssen, S. 773, 779 - Einen solchen „ D e a l " dürfte es in der Praxis allerdings kaum geben. 11 Steinhögl, S. 108 ff.; Schünemann, FS Rieß, S. 525, 532; zu den Interessen der Prozessbeteiligten siehe Küpper/Bode Jura 99, 351, 355; Bussmann, S. 105 ff.; Hassemer JuS 89, 890, 893; Tscherwinka, S. 21 ff. 12 Und damit die vermutlich letzte schwache Rechtfertigung für die massiven Auswirkungen des § 302 StPO auf den Angeklagten.

>3 Weigend StV 2000, 63. 14 Abweichend die Auffassung von Schmitt G A 2001, 411, 424, 425 - Der BGH verkenne die Rechtswirklichkeit. 15 Rieß, FS Meyer-Goßner, S. 645, 651 \ Kuckein ! Pf ister, BGH-FS, S. 642, 653, 656. 25 Meyer

386

Teil 4: Schlussbetrachtung und Ausblick

vationsgesichtspunkt auf Seiten der staatlichen Strafverfolgungsorgane sicherlich das unterschwellige Gefühl des Makels, des Nicht-Prozessordnungsmäßigen eine wesentliche Rolle gespielt haben, auf einem Rechtsmittelverzicht zu bestehen, womit sich zugleich erklärt, warum es so wenig obergerichtliche Entscheidungen zum Problembereich der verfahrensbeendenden Absprachen gibt. Da es an festgelegten Verhaltensregeln fehlte und etliche voneinander abweichende Richtlinien und Gesetzesvorschläge kursierten, war gerade den professionellen Beteiligten bewusst, dass sie sich in einer Grauzone bewegten. Wer aber geglaubt haben sollte, BGHSt 43, 195 würde die Verfahrensbeteiligten mit seinen klaren Anforderungen aus der Grauzone zurück in den Rahmen des prozessordnungsgemäßen Verfahrens führen 1 6 , muss sich heute wohl als eines Besseren belehrt sehen. Ein Blick auf die in jüngster Zeit zahlreichen Publikationen wirft ein verheerendes Licht auf die momentane Praxis. 1 7 Diese scheint den Vorgaben des BGH konsequent die Gefolgschaft zu verweigern. I m Schrifttum wird sogar vermutet, dass die Kluft zwischen höchstrichterlicher Rechtsprechung und der sie missachtenden Praxis in keinem Rechtsgebiet so groß ist wie bei der Absprache i m Strafprozess. 18 Dem Rechtsmittel verzieht wächst in diesem Kontext insofern eine ganz neue Bedeutung zu: Der Verzicht fungiert als Mittel, eine evidente und bewusste Umgehung der Grundsatzentscheidung des BGH durch die Berufsjuristen festzuschreiben. 19 Dies wird nicht zuletzt dadurch befördert, dass der 1. und der 2. Senat der Praxis quasi einen Freibrief ausstellt haben, indem sie durch ihre Rechtsprechung eine Abkopplung des rechtlichen Schicksals der Absprache von dem des Rechtsmittelverzichts bewirkt und dadurch unzulässige Absprachen weit gehend gegen eine rechtliche Überprüfung immunisiert haben. 2 0 Für den Angeklagten hat dies freilich zur Konsequenz, dass ihm der faktische Vorteil, den die Möglichkeit, einen Rechtsmittelverzicht zuzusagen, bei Abspracheverhandlungen bringt, verbleibt. Gleichwohl ändert dies nichts daran, dass zum Abschluss der Analyse von Vorund Nachteilen des Verzichts konstatiert werden muss, dass ein Rechtsmittelverzicht i m Strafprozess dem Angeklagten - anders als den Parteien i m Zivilprozess fast ausnahmslos Nachteile bringt. 2 1

16 Kuckein IP fister,

BGH-FS, S. 642, 651.

•ν Siolek, FS Rieß, S. 563, 567 ff.; Weider, 2002, 174, 175; Sinner StV 2000, 291.

Dealen, S. 164, 165 sowie S. 175 ff.; ders. NStZ

18

Weider StV 2000, 539, 541. Nach Auffassung von Schmitt resultiert die geringe Akzeptanz der Z?G//-Leitlinien daraus, dass diese auf fehlerhaften Annahmen über die Rechtswirklichkeit basieren und damit zwingende praktische Bedürfnisse der Tatgerichte verkennen, G A 2001,411,425 f. 19 Weider StV 2000, 539, 540. 20 Sinner, S. 194; Nestler, Strafrechtsprobleme, S. 99, 105. 21 So i m Ergebnis auch LR-Hanack, § 302 Rn 1.

C. Ausblick

387

Das Fehlen wesentlicher rechtlicher Vorteile und die demgegenüber einschneidenden Folgen eines Rechtsmittelverzichts für den Angeklagten haben schließlich auch den Anlass zu einer Vielzahl von Änderungsvorschlägen zu § 302 StPO geboten. Diese gilt es nunmehr im Rahmen des Ausblicks ebenso kritisch zu würdigen wie aktuelle Pläne des Gesetzgebers, die den Rechtsmittel verzieht berühren, bevor die vorliegende Arbeit mit einem eigenen Vorschlag de lege ferenda schließt.

C. Ausblick U m den Angeklagten besser vor den schwerwiegenden Konsequenzen eines wirksamen Rechtsmittelverzichts schützen zu können, wurden neben der Gewährung des Widerrufs innerhalb der Rechtsmittelfrist 22 auch zwingende Überlegungsfristen 2 3 und erweiterte Belehrungspflichten 24 diskutiert. Des Weiteren wurde vorgeschlagen, dass § 302 StPO einen weiteren Absatz erhalten soll, der vorsieht, dass dem Angeklagten vor einem Verzicht Gelegenheit gegeben worden sein muss, seinen Verteidiger zu befragen. 25 Allen Vorschlägen ist nun gemein, dass sie geeignet sind, bestimmte Kategorien von Willensmängeln bzw. einzelne Arten der Einflussnahme auf den Angeklagten auszuschließen. Eine allgemeine Dogmatik zur Behandlung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht, wie sie in der vorliegenden Arbeit entwickelt wurde, können diese Vorschläge allerdings nicht ersetzen. Mehr noch: Eine solche allgemeine Dogmatik macht die vorgeschlagenen Änderungen weit gehend überflüssig, da sie den Belangen des Angeklagten, die durch die diskutierten Änderungen geschützt werden sollen, bereits hinreichend Rechnung trägt. Eine entsprechende Normierung ist daher nicht erforderlich. Etwas anderes könnte jedoch für die geplante gesetzliche Regelung der Absprache i m Strafverfahren gelten, die sich an den Zulässigkeitsvoraussetzungen orientieren soll, die der BGH in BGHSi 43, 195 aufgestellt hat. 2 6 Eine solche Normierung würde auch das Verbot der Vorabzusage enthalten und sich damit der Problematik annehmen, welcher beim Rechtsmittelverzicht gegenwärtig wohl die weitaus größte Bedeutung zukommt. Eine derartige Regelung begegnet allerdings ebenfalls erheblichen Bedenken. 22

Dencker, Willensfehler, S. 80, 81; § 238 I I des Entwurfs einer Deutschen Strafprozessordnung von 1873 enthielt eine Widerrufsmöglichkeit bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist. 23

Erb G A 2000, 511,518, 526.

24

DER, S. 9 - Der Angeklagte sollte auf die Unwiderruflichkeit des Verzichts hingewiesen werden; so auch Rogali StV 98, 643, 645 - Die Rechtsmittelbelehrung gem. § 35a StPO sei auf die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts zu erstrecken; Plötz, S. 326. 2

-5 Plötz, S. 326.

26

Eine solche Regelung sei sinnvoll, so Gräfin v. Galen/Wattenberg, und Kuckeini Pf ister, BGH-FS, S. 642, 661. 25*

ZRP 2001, 445, 450,

388

Teil 4: Schlussbetrachtung und Ausblick

So greift die bloße Festschreibung des Verbots, einen Rechtsmittelverzicht i m Voraus zu vereinbaren, einerseits zu kurz, da weiterhin ungeregelt bleibt, wie sich ein Verstoß gegen diese Norm auf die Wirksamkeit des Verzichts auswirkt. Andererseits bliebe fraglich, ob sich die Praxis von diesem Verbot überhaupt beeindrucken lässt. 27 Verzichtet die Praxis infolge der Regelung allerdings zukünftig auf die Vorabzusage als Element einer Absprache, dann hätte dieses für den Angeklagten den Nebeneffekt, dass auch der letzte faktische Vorteil verloren ginge, der für ihn mit der Möglichkeit verbunden ist, auf Rechtsmittel zu verzichten. Dieser Gesichtspunkt kann in Anbetracht der Unzulässigkeit einer Vorabzusage freilich nicht gegen eine gesetzliche Festschreibung des Verbots eingewandt werden. Die geplante Normierung der richterrechtlichen Abspracheregeln ist vielmehr ganz grundsätzlich zu kritisieren. Einer derartigen gesetzlichen Regelung läge ein falsches Verständnis der Funktionsweise des fair trial-Grundsatzes, auf den vor allem der BGH bei der Aufstellung der Mindeststandards i m Wege richterlicher Rechtsfortbildung zurückgegriffen h a t 2 8 , zu Grunde. Bereits die methodische Zulässigkeit dieser richterlichen Rechtsfortbildung ist nämlich fragwürdig. 2 9 Die normersetzende Heranziehung des fair trial-Grundsatzes auf Rechtsanwendungsebene ist von vornherein auf die Erfüllung systemimmanenter Kontroll- und Berichtigungsfunktionen beschränkt. 30 Eine Rechtsfortbildung zur Verwirklichung des fair trial-Grundsatzes ist daher nur intra ius, also i m Rahmen der zwingenden prozessualen Grundstrukturen, möglich. Von Lückenfüllung kann daher nicht mehr gesprochen werden, wenn die prozessualen Grundstrukturen - mithin das System selbst - verändert werden oder zumindest eine derartige Veränderung unter Zuhilfenahme des fair trial-Grundsatzes legitimiert werden soll. 3 1 Es darf daher nur in äußerst begrenztem Umfang zulässig sein, ungeregelte, nicht-kontradiktorische Elemente einzuführen. 32 Bei richtigem Verständnis des fair trial-Grundsatzes 33

27 Siehe oben Teil 2 E.V. 1. 28 Siehe ausführlich bereits Teil 2 E . I . l . 29 In diese Richtung geht auch die Kritik von Ν oak, StV 2002, 445, 446 - Der strafprozesstheoretische Ansatz des BGH stehe auf wackeligen Füßen, weil die Existenz konsensorientierter Vorschriften in manchen Bereichen eher dafür streitet, den „Deal" nicht anzuerkennen. Schünemann „vermutet", dass der 4. Senat lediglich Gesetzesauslegung betreiben wollte, da eine Rechtsfortbildung in diesem Fall normderogierende Wirkung hätte, FS Rieß, S. 525, 536. 30 S K / S&O-Rogall,

vor § 133 Rn 102.

31

Die Struktur des Strafprozesses ist ein Gegeninteresse zum Fairnessprinzip und muss gegen dieses abgewogen werden. Die Fundamente des deutschen Strafprozesses dürfen mit Hilfe des fair trial-Grundsatzes nicht aus den Angeln gehoben werden, Steiner, S. 183; so auch Hamm StV 2001, 81, 82 f. 32 Zutreffend stellt Weigend fest, dass sich Absprachen außerhalb der Prozessordnung bewegen; diese kann daher nichts über ihre Legitimität aussagen, BGH-FG, S. 1011, 1016. Absprachen sind also ein aliud. Auch Schmitt versteht Absprachen als neuen Verfahrenstypus, G A 2001, 411, 425; vgl. zum Vertragsgedanken i m Strafprozess auch Kargl, Mediationsverfahren, S. 93 ff.

C. Ausblick

389

wäre es daher Aufgabe des Gesetzgebers, ein System zu schaffen, in welches sich die verfahrensbeendenden Absprachen friktionslos einfügen. 3 4 Die Festschreibung von Mindeststandards, die durch methodisch fragwürdige richterliche Rechtsfortbildung gewonnen wurden, ist sicherlich nicht der richtige W e g 3 5 , zumal sich selbst deren Einhaltung nicht kontrollieren lässt 3 6 , solange und soweit der äußere Rahmen des Strafverfahrens, der die Motivation zu Absprachen erst schafft, nicht umfassend geändert wird. Der Gedanke, ob am Ende des gerade beginnenden gesetzgeberischen Prozesses aus diesem Grunde eine eigene Verfahrensordnung für abgesprochene Urteile 3 7 oder ein plea-bargaining-basiertes M o d e l l 3 8 stehen wird, ist rein spekulativ. 39 Zumindest bezüglich des Rechtsmittelverzichts stünde dem Gesetzgeber zunächst aber eine ganz andere, effizientere Möglichkeit offen. Stellt man das auffallende Missverhältnis zwischen Vorteilen und Nachteilen des Verzichts für den Angeklagten in Rechnung, das sich de lege lata auch nicht durch die Etablierung einer allgemeinen Dogmatik zur Behandlung von Willensmängeln beim Rechtsmittelverzicht korrigieren lässt, dann drängt sich diese Lösung sogar auf: die Streichung des § 302 StPO.

33 S i e h e d a z u T e i l 2 C . I . 3 .

34 Über die „Unmöglichkeit, Informelles zu formalisieren" schreibt allerdings Hamm, FS Meyer-Goßner, S. 33 ff. 35 Kritisch auch Wagner, FS Gössel, S. 585, 587; der Gesetzgeber hätte schon längst die Konstruierbarkeit und Legitimierbarkeit eines Abspracheprozessmodells prüfen müssen, so Schünemann ZStW 114 (2002), 1, 59 36 Wird i m Wege der Verständigung eine allseits befriedigende Lösung gefunden, läuft jede abstrakte Kontrollmöglichkeit leer. Es sei daher ein gewisses Maß rechtsstaatlichen Misstrauens gegenüber Absprachen aufrechtzuerhalten, Kühne, Rn 750; ebenso Weigend NStZ 99, 57, 63. 37 Weigend NStZ 99, 57, 63. Dem Einwand, dass dies eine Zweiteilung des Strafprozesses bedeute, halten Kuckein / Ρfister, BGH-FS, S. 642, 646, entgegen, dass schon die derzeitige Verfahrenswirklichkeit zwei Arten von Strafverfahren kennt: solche mit und solche ohne Verständigung. Man sollte daher darüber nachdenken, ob die Einführung einer Dispositionsmaxime nicht der ehrlichere Weg wäre, Weigend, BGH-FG, S. 1011, 1041; vgl. dazu auch den Vorschlag, ein einvernehmliches Verfahren einzuführen, den jüngst Wagner, FS Gössel, S. 585, 602 ff. äußerte. 38 Meyer-Goßner NStZ 92, 167 ff.; kritisch demgegenüber Cramer, FS Rebmann, S. 145, 156; zu plea-bargaining und Absprachen i m allgemeinen siehe Damaska StV 88, 398 ff. 39 Zu den genannten und weiteren Vorschlägen Küpper/Bode Jura 99, 393, 398 ff. und Steinhögl, S. 161 ff.; des Weiteren schlägt Schünemann, ZStW 114 (2002), 1, 61, zwei neue Modelle vor: eine Umkehrung der Vorleistungsreihenfolge gegenüber der heutigen Praxis sowie eine weitreichende Umgestaltung des Ermittlungsverfahrens.

Literaturverzeichnis Alexy, Robert: Theorie der Grundrechte, 1. Auflage, Baden-Baden, 1985 Amelung, K u r t / Wirth,

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arverzeichnis Absprachen 281 ff.

Bedenkfrist 336

- Begriff 281

Belehrung 22, 150, 152, 169, 182, 241,

- gescheiterte 326 f., 351, 368, 373 f., 376 - inhaltliche Fehler 288 f.

244 f., 255, 261 f., 275, 277, 324 , 341 ff., 345, 349, 365, 387

- Normierung 350 ff., 381, 387 f. - obergerichtliche Rechtsprechung 282 ff., 297 ff., 308 ff., 386

Bewirkungshandlung 34, 37, 309 Bindungswirkung 224, 235 - einer Absprache 128, 283, 286, 294 ff.,

- unzulässige 19, 23, 281, 309, 349, 353, 371 f.

330, 341 f., 379 - von Zusagen 116 ff., 125, 324

- Verfahrensfehler 305 ff., 328, 348 Abwehrmittel 136 f., 139, 142, 144

Diskussionsentwurf 22, 39, 237

- gegen Drohungen des Verteidigers 183 f.

Dispositionsfreiheit 31, 193, 230, 244, 262,

Ähnlichkeitsprüfung 44

323,331,337, 362

Amtsaufklärungsgrundsatz 30 f. Anfechtung - als

Rechtsfolge

eines

Willensmangels

357,368 - Anwendbarkeit zivilrechtlicher Regeln 357 - eines Rechtsmittelverzichts 18, 357 Annahmeerklärung 55 f., 72 Auskünfte 157, 170, 189, 200 - Behörde 85, 89, 109, 111, 296, 381 - Strafverfolgungsorgane 81 ff., 85 f., 122, 381 Auslegung 158 - des § 302 I StPO 33 ff., 236 - einer Prozesserklärung 52 ff. - grammatikalische (§ 302 1 StPO) 34 f. - historisch-genetische (§ 302 I StPO) 38 f. - systematische (§ 302 I StPO) 35 ff. - teleologische (§ 302 I StPO) 39 - verfassungskonforme (§ 302 I StPO) 40 Ausnahmevorbehalt 29, 32 ff.

Dispositionsgrundsatz 30 f., 34, 67, 178, 216 f., 389 Dissensrisiko 320, 326 f., 347, 351, 379 Drohung 140, 145 - durch

außerprozessuale

Dritte

186 ff.

- durch den Verteidiger 148 ff.,

179 ff.,

201 ff., 382 185 f., 382 - durch

Strafverfolgungsorgane

dysfunktionale Beeinflussung 70, 336 - durch den Verteidiger

Eckpunktepapier 88, 350 Einlegung eines Rechtsmittels 30, 50, 56 Einstellungszusage 127, 284

Autonomie 67 ff., 70, 74, 78 f., 85, 139,

Autonomiedefizit 159, 161, 226 f., 233, 252, 274

177 f.,

- durch Strafverfolgungsorgane 238

Erkennbarkeit

190, 225, 235, 283, 322, 325, 328 f., 331 f.

169 ff.,

181 f., 186, 192, 271,273

- eines

342 ff., 382

ff.,

- nicht-verteidigungsspezifische 185

Aussage 304, 340 f. 141, 148 f., 162, 164, 167 ff., 172, 182,

88

130 ff., 277, 381

Autonomiedefizits/Hilfsbedürfnis-

ses 227 f., 230, 233 f., 240 f., 244, 259 f., 266, 269, 278 - eines Willensmangels 60 ff., 65, 215 Erklärungsbewusstsein 63, 74 Erklärungseinheit 56 f., 59, 264

Sachwortverzeichnis Erklärungsirrtum 71 ff.

405

Hindernis für die Einlegung eines Rechtsmittels siehe Wiedereinsetzung

Erwirkungshandlung 37, 309

Hinweispflicht 125 ff., 216, 218, 223, 242, Fair trial-Grundsatz 104, 123, 128 f., 144,

255, 278, 295, 348

265,285, 287, 349, 379, 388 - als Maßstab 95 f., 119, 125 f., 130 ff.,

Inhaltsirrtum 71 ff. Interessenabwägung 207

158, 297, 303, 332 f., 346 - dogmatische Bedeutung 97 ff., 158, 220 f.

- verfassungsrechtlicher

Vertrauensschutz

113, 116 ff., 125 ff.

- Herleitung 97 Fortwirkung eines Verfahrensfehlers 330 f.,

Irreleitung, objektive 87, 104, 129 - durch außerprozessuale

335,337,339, 341

Dritte

186 ff.,

200 f., 213, 381

Freiwilligkeit 344

- durch den Verteidiger 148 ff., 157, 171 f.,

Fristversäumnis 22, 175, 354, 363 Fürsorge, aufgedrängte 225, 244, 254, 262 Fürsorgepflicht, gerichtliche 54, 127, 176, 214 ff., 249, 257, 269 ff., 275, 280 f., 326, 359 - als Maßstab der

Verantwortungsvertei-

lung 218 ff. - Auslöser 233, 237, 255, 260 f., 266, 276 f. - Herleitung 218 ff.

177 f., 268, 381 - durch

Strafverfolgungsorgane

88

ff.,

104 ff., 147, 157, 297, 305, 332 f., 381 Irrtum - über Auswirkungen des Urteils 80 ff., 153 - über Β indungs Wirkung einer Absprache 330, 333, 342 - über Inhalt des Urteils 61, 75 f. - über prozessuale Rechtslage 77 ff.

- Inhalt 222 ff., 227, 240, 274 - Konkretisierung 222 ff. - Typizität/ Typisierung der Gefahrenlage siehe unten

Kausalität 334 ff., 338, 348 Kernbereich 130 f., 134 f., 137, 144 ff., 382 - Art. 1 I GG 144

- Verletzung 280, 382

- Art. 2 I G G 145 - Art. 2 I I 1, 2 GG 146

Gedankenexperiment 303, 347 Gerechtigkeit, materielle 40, 104, 168, 217,

Kontrollmöglichkeiten - gegenüber Verteidiger 269 ff.

229, 282 - als Grundlage

richterlicher

Rechtsfort-

- von Absprachen 319, 323, 371 ff., 380

bildung 43 ff. - überwiegende Gründe der 18 ff., 43, 45, Geschäftsgrundlage

Leistungsgewährung - nachträgliche 345 f., 348 f., 374, 376

191 f., 195 f., 356 einer Absprache

311,

325,345, 347, 352 Gesetzgeber 24, 34, 39, 41, 155, 160, 282,

- vorherige 344, 349, 371 Leistungsstörungsrecht 326 f., 351, 378 Letztinstanzlichkeit 306, 375

314, 350 f., 383, 389 - Normierung der Absprache 350 - Verbot der Vorabzusage 351 Geständnis 88, 139, 304, 340, 377 f. Grundgedanke - § 136a StPO 21, 93 ff., 191 -

§ 297 StPO 176 ff.

Mehrdeutigkeit 52, 55 ff. Menschenwürdegehalt

der

Freiheitsrechte

131, 133 ff., 144, 146 Mentalreservation 64, 74 Mindeststandards 100, 104, 129, 131, 135, 145, 287, 350, 388 - der Solidarität 198 f., 201, 205 ff.

Haftbefehl 138, 140 f., 278, 384

- der Strafverteidigung 273

Hilfsbedürftigkeit

Motivirrtum 62, 64, 72, 75 ff., 84, 149, 242,

261,277

226, 228, 237, 250 ff.,

250, 280, 290, 292, 331,345

406

arverzeichnis

Nachteile (des Rechtsmittel Verzichts) 225, 383 ff.

Rechtsmittelfrist 17, 33, 49, 175, 233, 235, 238

Nichtverfolgungszusage 298, 345 f., 374

Rechtsmittelgericht 51, 352, 354, 372

Obiter dictum 90, 191, 283, 300, 321

- als

Rechtsmittelverzicht Öffentlich-rechtliche Natur des Strafprozesses 36, 93, 18 Offensichtlichkeit

Strafzumessungsgesichtspunkt

289,

385 - als Vertrauensbetätigung 120, 370, 374

115, 121, 123 f.,

172,

296, 300 ff., 305, 333,381

- „herausgefragter" 231 ff., 239 - Unwirksamkeit

Organ der Rechtspflege 61, 153, 155 ff., 161

33 ff.,

312, 315, 327,

348 f. - vorab zugesagter oder vereinbarter

Plea bargaining 389 Protokollierung

einer

Absprache

286,

293 ff., 337

- Widerruflichkeit 36 f., 356 Rechtsschutzmöglichkeit 139 ff., 147

Prozesshandlung 35 ff., 47

- Belehrung über 277

- Kategorien 36 f. - Widerruflichkeit 33, 35 f., 39, 51, 236, 356 f., 387 Prozessrolle (des Angeklagten) 68 ff., 76, 137, 169, 179, 186, 225,245 Prozesssubjekt 36, 68 ff., 73, 149, 162 f., 169 f., 172, 174, 179, 183, 186 f., 192, 200, 222, 226, 238, 254, 262, 264, 275, 322

- gegen Drohungen des Gerichts mit sonstigen Mitteln 143, 277 - gegen Drohungen des Gerichts mit unzulässigen prozessualen Mitteln 141 f., 277 Rechtssicherheit 18 ff., 25, 33, 40, 51, 53, 65, 107, 121, 129, 139, 188 f., 191, 194, 199, 208 f., 235, 301, 337, 358, 360 Rechtsstaatsprinzip 97, 103, 107, 143, 221, 251

Qualifizierte Belehrung 324, 338 ff., 347 f., 364 f. Qualität der Verteidigung 267 ff. - Eigenkontrolle 275 - gerichtliche Fürsorgepflicht 269 - gerichtliche Kontrollmöglichkeiten 270 ff. Rechtsfolge - verfassungsrechtlicher

Vertrauensschutz

116 ff., 125 ff. - willensmangelbehafteter Rechtsmittelverzicht 321, 356 ff., 363 Rechtsfortbildung, richterliche 42 ff., 195 f., 198 f., 213, 388 f. Rechtsfrieden 20, 99, 102, 217 Rechtskraft 17, 37, 45, 58, 136, 151, 223, 346 f., 354, 361,372, 383 f. Rechtsmissbrauch 114 f., 123 f., 145 Rechtsmittelbefugnis 18, 30, 145, 167, 175,

Rechtswidrigkeit 110, 120 f. - der angedrohten Maßnahme 137 f., 142 Regel-Ausnahme-Verhältnis 32, 250 Revision 62, 248, 310, 337, 348, 352, 369, 372, 378 Revisionsgrund 251, 378 RiStBV 239 ff., 385 Sanktionsschere 88 f. Scheingeschäft 64 f. Scherzerklärung 64, 74 Schutzwürdigkeit 112 ff., 124, 128 f., 300, 347 f., 370, 374 - Grenzen 117, 120 ff. Selbstbestimmungsrecht 68 f., 73, 84, 144, 164, 168, 187, 346 Selbstverteidigung, Vorrang der 177 f., 182, 243, 254, 264 Senat des B G H

177, 182, 192, 217, 230, 234, 241, 251,

- Entscheidungen des 1. Strafsenats 312

272, 330, 339, 346, 369

- Entscheidungen des 2. Strafsenats 308

Rechtsmittelbelehrung 56, 63, 78, 330, 332, 338

23,

305,314,317, 328, 334, 351,385

- Entscheidungen des 3. Strafsenats 316 - Entscheidungen des 4. Strafsenats 317 ff.

407

Sachwortverzeichnis - des

Solidaritätsprinzip 195 -

Strafverfolgungsorgans

105,

129,

147, 242, 255, 277 f., 280

§ 34 StGB 201 ff.

- als Legitimationsgrundlage 196 ff.

- des Verteidigers 164 ff., 179, 181, 186

Sozialstaatsprinzip 127, 219, 221 f.

Verantwortungsverlagerung

siehe

Verant-

wortungsverteilung

Spannungsverhältnis 43, 45 f., 53, 92, 100,

VerantwortungsVerteilung 25 f., 66, 70, 147,

194, 196 Strafobergrenze 128, 283, 285, 287

156 ff., 161 ff., 168 ff., 180 ff., 192 ff.,

Strafvollzug und -Vollstreckung 82, 121 f.,

218 ff., 229 ff., 279, 353,382 -

125, 289 f., 299, 345 f.

§ 136 a StPO 91 ff.

- Möglichkeit einer 29 ff. Täuschung des Angeklagten 88 ff., 95, 170,

Verfahrensfehler - bei Absprache 305, 312

177,333 Typizität/Typisierung

der

Gefahrenlage

238, 240, 250, 258, 265, 279 Typus der Verteidigung (als Maßstab) 159 f., 183

- doppelt wirkender 23 f., 319 ff., 323 Verfassungsprinzip 204, 287, 372

40, 103, 196 f.,

199,

Verhandlungsfähigkeit 47 ff. Verhinderung

Übereilung 18, 63, 230, 236 f., 245, 248

v.

Willensmängeln

218,

222 ff., 235, 258, 266, 271, 276 f.

Überlegungsfrist 236, 387

Vermutungsregel 31, 279, 335 f., 342, 349

Übermaßverbot 133, 146

Verständigung 292, 307, 314, 319, 323, 331,

U-Haft 38, 82, 142, 146, 384

366, 373

Untersuchungsansatz 29 ff., 45, 53, 66, 93, 134, 137, 144, 163, 180, 186, 194

Verteidiger 58 f., 148 ff., 153, 292, 343 - Abwesenheit des 255, 258 f., 382

Untersuchungsgegenstand 29, 46 ff.

- Ausschaltung des 261, 263, 266, 382

Unüberlegtheit 63, 230, 245

- bestellter 159,255, 382

Unwirksamkeit

- Funktion bei der

- Hindernis bei Fristwahrung 366 ff., 376 - Rechtsfolge

des

Willensmangels

138,

238, 361 f.

Rechtsmittelentschei-

dung 167 ff., 177, 181 f., 253 - gewählter 156, 159, 255 - Innen Verhältnis zum Angeklagten

Unzuständigkeit

163,

167 ff.

- der Behörde 113 f.

- notwendiger 159, 161, 245 ff., 251 f.,

- des Strafverfolgungsorgans 120

272, 276, 382

Urteil

- Stellung und Funktion i m Strafverfahren 78, 148, 153, 157 ff., 161 ff., 185, 268 f.

- abgekürztes 17, 38, 233, 383 - Verkündung 22, 25, 49, 58, 233, 237, 286,

- Unabhängigkeit des 155, 164 ff.,

171,

174, 181,269, 273

330, 336 f., 343

- „unfähiger" 176, 267 ff., 272 ff., 276, 382 - Verschulden, Zurechnung von 120,173 ff.,

Verantwortung

365

- für Willensmangel 324, 332 - gesteigerte, staatliche 114, 119, 123 f.,

128 Verantwortungsabschichtung

- Verteidigerkonsultation 254, 257, 261 f., 340

siehe

Verant-

wortungsverteilung

Vertrauensgrundlage 107, 109 ff., 119 - fehlerhafte 110, 114

Verantwortungsbereich 134

- nichtige 111

- des Angeklagten 27, 69, 76, 78, 81, 105,

- Wegfall des guten Glaubens 113, 127,

129, 175, 179, 186, 200, 245, 277, 353

300

arverzeichnis

408 Vertrauensschutzgrundsatz,

verfassungs-

- und Willensmangel 354 ff., 362, 377

rechtlicher 105 ff., 116, 119, 129, 154,

- Verschulden 364

291 ff., 300 ff., 349 f., 379

- Voraussetzungen 363 ff.

- Vertrauen des Bürgers 107, 112 ff., 120, 290, 379

Willensbildung 30, 34, 41, 72, 104, 149, 254,318, 346, 382

- Vertrauensbetätigung

115 ff.,

120, 128,

293

Willensmangel 17 ff., 134, 308, 330, 353 - beachtlicher 19, 23, 25, 28, 40, 52, 67, 93,

Vertrauenstatbestand 126, 128, 285 f., 293

180 f., 185 f., 188, 194, 199, 213, 262,

Verwertungsverbot 125, 279, 335, 340, 349,

276, 278, 280, 3 6 1 , 3 6 4 , 3 8 1 f. - erkennbarer 60 ff.

378 f. Vorabzusage 23, 288, 305, 308, 311, 313 f., 321, 323, 334 f., 342, 348, 350

- Kausalität 334 ff. - Nachweis 278 f., 322 f., 328 ff.

- Rechtsfolge 308 ff., 321, 327

- Wiedereinsetzung 355 ff.

- Unzulässigkeit 306 ff., 329

Willkürverbot 42, 103 Wirksamkeitsdogma 33, 164, 325, 327

- Verbot 322, 351 f., 387 Vorbehalt, geheimer 65 siehe ferner

Mental-

Wirksamkeitsvoraussetzungen

einer

Pro-

zesshandlung 20, 26, 47 ff., 236 f., 242,

reservation

351

Vorteile - des Rechtsmittelverzichts

17, 225, 306,

383 ff.

- Bestimmtheit 60, 62, 64 - Eindeutigkeit 51 f., 55 f.

- Versprechen 304, 345

- Form 50

Wehrbeschwerdeordnung 236 f.

- Verhandlungsfähigkeit 47 ff.

Wehrdisziplinarordnung 236 f.

- Zugang 51

- Unbedingtheit 51 f., 55

Wertung - § 44 StPO 120, 173 ff.

Zulässigkeit einer Absprache 282 ff.

- § 140 StPO 251 ff., 265

- Protokollierung 293, 320

Wesensgehaltsgarantie 131 ff., 146

- Vertrauensschutz 293

Wiederaufnahme des Verfahrens 44 f., 212,

Zumutbarkeit/Unzumutbarkeit (als konkretisierendes Kriterium) 136 ff., 142, 147,

376 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 44 f., - als

Kontrollmittel

gegen

183 ff., 189 f., 192 Zusagen 80

122, 155, 174, 200, 334, 354 ff. unzulässige

Absprachen 371 ff., 377

- bei einer Absprache 288 ff., 296 f., 353 - Bindungswirkung 116 ff., 125, 324

- Analogie 357 ff.

- einer Behörde 111, 109

- Frist 365 ff.

- fehlerhafte 122, 288 ff.

- Hindernis 365 ff., 375 - Nachholung

der versäumten

371 - und Rechtsmittelverzicht 354 f. - und Vertrauensschutz 367 ff.

- kompetenzwidrige 116, 122 f., 129, 289 f., Handlung

297, 299, 302, 304, 346, 353 - rechtswidrige 116, 123, 129, 289 f., 301 f., 304, 328, 353 Zwang 69, 137, 140, 190, 330