Wiederaufgelegt: Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern [1. Aufl.] 9783839419915

Was Jorge Luis Borges 1939 in »Pierre Menard, Autor des Quijote« noch imaginierte, ist inzwischen aus der Literatur nich

269 45 5MB

German Pages 426 Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Wiederaufgelegt: Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern [1. Aufl.]
 9783839419915

Table of contents :
Inhalt
Zur Einführung
THEORETISCH
Statements zur Appropriation
»Unsere Taten, das waren unsere Texte«. Guy Debord, die Situationistische Internationale und die theoretische Praxis des Détournements
Lektürepolitik zwischen Kunst, Aneignung und Literatur – Conceptual Writing
Unter ›L‹ oder ›F‹? Überlegungen zur Frage der Werkidentität bei literarischen Werken
Der Fall Menard als Provokation oder wie die Textappropriation von der Literaturwissenschaft appropriiert werden kann. Mit Seitenblicken zu empirischen Fällen
Ohne Begleitschutz – Texte auf der Schwelle. Überlegungen zu Textappropriationen und Paratext
EXEMPLARISCH
Dasselbe, anders: Borges und die Appropriation Art
Poetry of Punctuation. Prix Nobel oder die Appropriationen des Carl Fredrik Reuterswärd
Sui dissimile. Dieter Roths Poetik der Expropriation
Marcel Broodthaers’ Praxis des Kopierens
Innere Appropriationen. Einige Loops von Rodney Graham und überhaupt
VERGLEICHEND
about:blank. Appropriationen des Leerraums seit Mallarmé
Übersetzungen in höhere Dimensionen. Eine topologische Reise über den zweidimensionalen Raum der Buchseite in Stéphane Mallarmés. Un coup de dés hinaus
THEMATISCH
Von der künstlerischen Aneignung literarischer Werke in Künstlerbüchern: zwischen Zerstörung und Einverleibung
Noch einmal im Samizdat. Aneignungsstrategien von Bildern, Texten und Büchern im Moskauer Konzeptualismus
Übermalte Bücher
Erasure Poetry. Zwischen Poesie und Kunst, Appropriation und Conceptual Writing
The kite is nothing without the string – Appropriation und Contrainte / Appropriation als Contrainte
Appropriiertes Übersetzen. Neu(an)ordnungen des Materials in Morris’ Re-Writing Freud und beaulieus Flatland
In den Zwischenräumen der Wissenschaften. Zu Appropriationen theoretischer Texte
INSTITUTIONELL
Das Buch des Künstlers als Künstlerbuch
Edition. Distribution. Programm. Appropriation und Verlage
ANHANG
Abbildungsnachweise
Autorinnen und Autoren
Namensindex

Citation preview

Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt

Lettre

Annette Gilbert (Hg.)

Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern

Gedruckt mit Unterstützung der VolkswagenStiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Annette Gilbert und Caroline Haufe Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1991-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Zur Einführung Annette Gilbert | 9

T HEORETISCH Statements zur Appropriation Michalis Pichler | 27

»Unsere Taten, das waren unsere Texte« Guy Debord, die Situationistische Internationale und die theoretische Praxis des Détournements Max Jakob Orlich | 31

Lektürepolitik zwischen Kunst, Aneignung und Literatur – Conceptual Writing Stefan Römer | 49

Unter ›L‹ oder ›F‹? Überlegungen zur Frage der Werkidentität bei literarischen Werken Annette Gilbert | 67

Der Fall Menard als Provokation oder wie die Textappropriation von der Literaturwissenschaft appropriiert werden kann. Mit Seitenblicken zu empirischen Fällen Tomasz Waszak | 87

Ohne Begleitschutz – Texte auf der Schwelle Überlegungen zu Textappropriationen und Paratext Nora Ramtke | 103

E XEMPLARISCH Dasselbe, anders: Borges und die Appropriation Art Monika Schmitz-Emans | 123

Poetry of Punctuation Prix Nobel oder die Appropriationen des Carl Fredrik Reuterswärd Anne Thurmann-Jajes | 139

Sui dissimile. Dieter Roths Poetik der Expropriation Stefan Ripplinger | 155

Marcel Broodthaers’ Praxis des Kopierens Gabriele Mackert | 163

Innere Appropriationen. Einige Loops von Rodney Graham und überhaupt Michael Glasmeier | 177

V ERGLEICHEND about:blank. Appropriationen des Leerraums seit Mallarmé Magnus Wieland | 193

Übersetzungen in höhere Dimensionen. Eine topologische Reise über den zweidimensionalen Raum der Buchseite in Stéphane Mallarmés Un coup de dés hinaus Eric Zboya | 217

T HEMATISCH Von der künstlerischen Aneignung literarischer Werke in Künstlerbüchern: zwischen Zerstörung und Einverleibung Anne Mœglin-Delcroix | 233

Noch einmal im Samizdat. Aneignungsstrategien von Bildern, Texten und Büchern im Moskauer Konzeptualismus Sabine Hänsgen | 265

Übermalte Bücher Christoph Benjamin Schulz | 281

Erasure Poetry Zwischen Poesie und Kunst, Appropriation und Conceptual Writing Viola Hildebrand-Schat | 299

The kite is nothing without the string – Appropriation und Contrainte / Appropriation als Contrainte Bernhard Metz | 315

Appropriiertes Übersetzen. Neu(an)ordnungen des Materials in Morris’ Re-Writing Freud und beaulieus Flatland Janet Boatin | 331

In den Zwischenräumen der Wissenschaften Zu Appropriationen theoretischer Texte Tobias Amslinger | 349

I NSTITUTIONELL Das Buch des Künstlers als Künstlerbuch Albert Coers | 373

Edition. Distribution. Programm. Appropriation und Verlage Léonce W. Lupette | 391

A NHANG Abbildungsnachweise | 409 Autorinnen und Autoren | 411 Namensindex | 419

Zur Einführung Annette Gilbert

Der Titel des vorliegenden Sammelbandes Wiederaufgelegt. Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern mag, vor allem zu seinem Ende hin, umständlich oder redundant klingen, weshalb wohl Teile davon in diversen Ankündigungen im Vorfeld dieser Veröffentlichung öfter einmal verloren gingen. Doch ist das Anhängsel »in Büchern« unverzichtbar, denn es signalisiert die Eingrenzung des Feldes und unterscheidet somit diesen Band von unzähligen anderen Arbeiten zur Aneignung als künstlerischer Strategie, die längst ins Standardrepertoire nahezu aller Künste und Medien eingegangen ist und in der Folge eine kaum noch zu überblickende Zahl an diesbezüglichen Veröffentlichungen hervorgebracht hat. Der Fokus dieses Bandes liegt also dezidiert auf Texten und Büchern – und dies sowohl hinsichtlich des Ausgangsmaterials als auch des Endprodukts der Appropriation. Vorausgreifend sei zudem bemerkt, dass es dabei nicht um die Aneignung literarischer Stoffe, Motive, Figuren, Stile etc. geht, auch nicht um die punktuelle Übernahme von Textteilen und schließlich auch nur am Rande um die Aneignung gefundener alltäglicher Texte – sondern um die vollständige Aneignung fremder Texte/Bücher, vorzugsweise literarischer oder geistesgeschichtlicher Werke und vorrangig in ihrer Materialität. Es ist dies ein recht junges Phänomen, das trotz des zu beobachtenden exponentiellen Wachstums in den letzten zehn, fünfzehn Jahren hierzulande bisher noch kaum Aufmerksamkeit gefunden hat – weder in den Buchläden noch in den Medien1, weder in der Kunstwissenschaft (wo Literatur meist nur im Paragone- bzw. Text-Bild-Diskurs vorkommt und Bücher ungeachtet der Konjunktur der Artists’ Books immer noch als marginale künstlerische Ausdrucksform gelten) noch in der Literaturwissenschaft (die sich wenig um Bücher, dafür um so mehr um Texte und deren Inhalte kümmert und mit ihrem immer noch gültigen Originalitätsdiktat seit

1 | Sieht man von wenigen Ausnahmen wie Jonathan Safran Foers weltweit euphorisch rezensiertem Erasure-Buch Tree of Codes, London: Visual Editions 2010, ab.

10

A NNETTE G ILBERT

je ein gewisses Misstrauen gegenüber ›nicht-originellen‹, ›nicht-kreativen‹ Produktionsweisen pflegt). Es gilt daher, diese im Grenzbereich von Literatur und Kunst siedelnde Form der Appropriation, für die an anderer Stelle der Begriff der ›Appropriation Literature‹ vorgeschlagen wurde2, in vereinter Anstrengung von Kunst- und Literaturwissenschaftlern3 erstmals umfassend zu sichten, historisch und theoretisch zu kontextualisieren, nach typischen Operationen zu systematisieren und in exemplarischen und komparatistischen Einzelstudien zu entfalten.

VOM G EDANKENEXPERIMENT ZUR R EALITÄT Mag die Appropriation von Texten und Büchern in Büchern als reales Phänomen der jüngeren Literatur- und Kunstgeschichte derzeit noch relativ unbekannt sein, so kann sie doch auf einen berühmten – wenn auch fiktiven – literarischen Vorläufer verweisen, der wohl in keiner Diskussion der künstlerischen Aneignung fremder Werke fehlt: Jorge Luis Borges’ Erzählung vom französischen Schriftsteller Pierre Menard, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vornimmt, den Don Quijote des Cervantes Wort für Wort noch einmal zu schreiben, kann als Modellfall, ja geradezu als Urszene der hier interessierenden Form der Text- und Buchappropriation gelten.4 Die von Borges imaginierten Appropriationen avant la lettre bieten nicht nur den heutigen appropriierenden Künstlern und Autoren ein konzeptuelles Fundament, wie Monika Schmitz-Emans in ihrem Beitrag im vorliegenden Band zeigt. Um Borges’ Erzählung entspannt sich zudem eine (kunst-)philosophische Diskussion mit den Antipoden Nelson Goodman und Arthur C. Danto, die um den ontologischen Status des von Pierre Menard verfassten Don Quijote kreiste. Dieser Disput wurde von etlichen Philosophen und Literaturtheoretikern aufgegriffen, doch musste er sich, wenn er über die Frage der ›richtigen‹ Interpretation von Borges’ Erzählung hinausgehen wollte, immer wieder gegen den Vorwurf der Spekulation und methodischen Unsauberkeit verteidigen. Michael Wreen beschreibt das Problem folgendermaßen:

2 | Vgl. Gilbert, Annette (Hg.): Re-Print. Appropriation (&) Literature, Wiesbaden: luxbooks 2012 (im Druck). 3 | Wenn hier und in den folgenden Beiträgen dieses Bandes die männliche Bezeichnung benutzt wird, stellt dies keinen Ausschluss der weiblichen Form dar, sondern geschieht aus Gründen der Lesbarkeit und Ökonomie. 4 | Vgl. Borges, Jorge Luis: »Pierre Menard, Autor des Quijote« [1939], in: Ders.: Fiktionen. Erzählungen, München/Wien: Fischer 1992, 35-45. Ein weiterer Kandidat wäre übrigens Georges Perec: Die Winterreise, Berlin: Edition Plasma 1990, der zwar mehrere literarische Transformationen und Appropriationen erfahren, aber längst nicht so viel Echo in der Wissenschaft gefunden hat wie Borges’ Vision.

Z UR E INFÜHRUNG »Cervantes is a real man, Menard merely a fictional one; and Cervantes’ book a real book, Menard’s only fictional. The things being compared are categorically different, ontologically speaking, and so any philosophical moral drawn from a comparison of the two – and especially any ontological moral drawn theretofore – is methodologically unsound. […] For a philosopher to treat Menard as similar in kind to Cervantes, and their literary fruits likewise similar in kind, is methodologically flawed […].« 5

Die einzige Möglichkeit, den Fall Menard ›vernünftig‹ zu diskutieren, sieht Wreen daher darin, »that we should consider the Menard case as if it really happened, or at least could have happened, and to forget its fictionality altogether. The suggestion, in other words, is that we ›bracket‹ the fact that the case is a fictional one, with Menard a fictional author and ›his‹ Quixote a fictional work, and think of it simply as hypothetical.« 6

Einigt man sich in diesem Sinn darauf, hier einen rein hypothetischen Fall zu diskutieren, der »tatsächlich wohl niemals vorkommt«7, so sehen sich die Diskutanten dennoch häufig einem Vorwurf ausgesetzt, wie ihn etwa Axel Spree formuliert: »Der Quijote Menards existiert überhaupt nicht in der Welt der Literaturwissenschaft – zumindest nicht als Gegenstand der Interpretation –, und insofern ist jede litera-

Abb. 1: [Aurélie Noury] Pierre Ménard: El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha, Rennes: Éditions Lorem Ipsum 2009, Cover.

5 | Wreen, Michael: »Once is not Enough«, in: British Journal of Aesthetics 30:2 (1990), 149-158, 150. 6 | Ebd., 150f. 7 | Spree, Axel: »Borges, Danto, Goodman«, in: Sprache und Literatur 33:1 (2002), 43-54, 52.

11

12

A NNETTE G ILBERT

Abb. 2: STURTEVANT, Author of the QUIXOTE, hg. v. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/M., und Udo Kittelmann, London: Koenig Books 2009, Cover.

turwissenschaftliche (bzw. philosophische) Spekulation, die ihn als Teil dieser Welt behandelt, müßig.«8 Diesem Einwand, der schlicht auf der fehlenden Vorstellungskraft manches Philosophen und Literaturwissenschaftlers hinsichtlich der Realisierung solcher Gedankenexperimente fußt, kann nun mit einem Verweis auf jüngste Neuerscheinungen begegnet werden. 2009 erschien in Aurélie Nourys Éditions Lorem Ipsum ein Buch unter der Autorschaft von Pierre Ménard (sic) mit dem Titel El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha (Abb. 1). In Entsprechung zu Borges’ Erzählung werden in dem Büchlein nur jene Fragmente des Don Quijote (auf Spanisch) wiedergegeben, die sich, so Borges’ Erzähler, im Nachlass von Menard fanden. Auch die Reihenfolge der drei Kapitel (IX, XXXVIII, XXII) entspricht der berichteten. Auf der Grundlage dieser Veröffentlichung bei Éditions Lorem Ipsum kann man nun Cervantes’ und Menards Don Quijote miteinander vergleichen und prüfen, ob Borges’ Erzähler Recht hat, wenn er behauptet, dass die Texte zwar »Wort für Wort identisch [seien], aber der zweite […] nahezu unendlich viel reicher [sei].«9 Zugegeben: Es liegt somit zwar ein reales Buch vor, aber natürlich bleibt Menard ein fiktiver Autor, so dass noch immer als Grundvoraussetzung der philosophischen Diskussion gelten müsste: »›Suppose there were a man, Pierre Menard, and suppose that he … ‹.«10 Wie stünde es dann aber mit dem Buch, das im selben Jahr bei Koenig Books erschien und den Titel STURTEVANT, Author of the QUIXOTE 8 | Ebd., 52. 9 | Borges: »Pierre Menard, Autor des Quijote«, 43. 10 | Wreen: »Once is not Enough«, 151.

Z UR E INFÜHRUNG

trägt (Abb. 2)? Auch dieses Buch enthält die Kapitel IX, XXXVIII und XXII des Don Quixote (auf Englisch).11 Diese sind bis auf eine Korrektur identisch mit den entsprechenden Kapiteln des Romans von Cervantes, werden hier jedoch unter dem Namen der Künstlerin Elaine Sturtevant präsentiert. Sie setzt sich dabei nicht nur an die Stelle Cervantes’, sondern auch an die Menards, insofern als ihr Titel den von Borges’ Erzählung aufgreift und sie den Don Quixote-Kapiteln einen von ihr unterzeichneten und auf 1970 datierten Brief an »Mr. Borges« vorausschickt, der sich aus den in Borges’ Erzählung wiedergegebenen Worten Menards zu seinem Projekt zusammensetzt (vgl. dazu ausführlich Monika Schmitz-Emans in diesem Band).

M EDIENGESCHICHTLICHE Z ÄSUR UND DISKURSIVES U MFELD Dies sind nur zwei Beispiele für eine Entwicklung im literarischen und künstlerischen Feld, die den Fall Menard als bloßes Gedankenexperiment aufzufassen obsolet werden lässt. Angekündigt hat sie sich in den 1960-80er Jahren im Werk solcher Pioniere wie Carl Fredrik Reuterswärd, Marcel Broodthaers, Gerhard Rühm, Dieter Roth und Rodney Graham (vgl. Anne Thurmann-Jajes, Gabriele Mackert, Christoph Benjamin Schulz, Stefan Ripplinger und Michael Glasmeier); in den letzten zwei Dekaden hat sie an Geschwindigkeit und Verbreitung gewonnen und eine Fülle an Büchern hervorgebracht, die nicht mehr als singuläre Erscheinungen abgetan werden können. Die Zäsur ist wohl mit dem Siegeszug des digitalen Zeitalters anzusetzen, als die Zahl veröffentlichter und verfügbarer Texte ins Unermessliche stieg, was sowohl einen neuartigen Zugang zu Texten und zur Textualität als auch einen neuen Umgang mit geistigem Eigentum mit sich brachte. Auf der einen Seite erscholl aus dem Bewusstsein kultureller Erschöpfung heraus der Ruf nach einer Art Medienökologie, die in dem Statement des Konzeptkünstlers Douglas Huebler aus dem Jahr 1969 »The world is full of objects, more or less interesting; I do not wish to add any more«12 ihren Ausdruck findet. Auf der anderen Seite schufen die digitale Verfügbarkeit von Texten und die neuen Techniken der Textverarbeitung und -veröffentlichung die Voraussetzung für das mühelose Kopieren, Bearbeiten und Publizieren 11 | Der interpretatorische Spielraum, den jede Fiktion eröffnet, zeigt sich darin, dass das letzte Kapitel Menards hier an einer anderen Stelle abbricht als in Nourys Don Quijote-Veröffentlichung. 12 | Huebler, Douglas: o.T., in: De Vries, Gerd (Hg.): On Art. Artists’ Writing on the Changed Notion of Art After 1965 / Über Kunst. Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965, Köln: DuMont 1974, 116. Dieses Zitat findet auch in Michalis Pichlers Statements zur Appropriation Verwendung, vgl. im vorliegenden Band, 28 und 30. – Zur »literary ecology« vgl. auch Dworkin, Craig: »The Fate of Echo«, in: Ders./Goldsmith, Kenneth (Hgg.): Against Expression: An Anthology of Conceptual Writing, Evanston, Ill.: Northwestern University Press 2011, xxiii-liv, xlii. Tomasz Waszak verweist in seinem Beitrag im vorliegenden Buch zudem auf Neil Postmans Konzept einer Medienökologie.

13

14

A NNETTE G ILBERT

großer Textmengen und die schnelle und preiswerte Herstellung von Büchern, auch im Selbstverlag und damit unabhängig von den Leitlinien in der Verlagslandschaft und bis dato gültigen Normen und Werten im literarischen Feld. Die damit einhergehenden Veränderungen im Selbstverständnis der Verleger und Autoren und in der Verlagslandschaft zeichnet Léonce W. Lupette in seinem Beitrag nach. Der Bruch zwischen analogem und digitalem Zeitalter lässt sich auch an der künstlerischen und literarischen Produktion im russischen Samizdat (Selbstverlag) ablesen, wie Sabine Hänsgen in ihrem Beitrag am Beispiel von Vadim Zacharov belegt. Vor diesem mediengeschichtlichen Hintergrund widmet sich Stefan Römer in seinem Beitrag der grundlegenden Frage, wie der »Begriff der Aneignung nun angesichts grundlegend veränderter Produktions- und Arbeitsverhältnisse in einer immateriellen Wissenskultur« und digitalen Welt zu konzipieren sei. In jedem Fall gilt, dass er heutzutage längst nicht mehr »a priori als kritisch bezeichnet werden [könne], da er im schillernden Spektrum seiner rhetorischen Möglichkeiten inzwischen zum Repertoire der Kulturindustrie gehör[e].«13 In dieser Formulierung klingt die situationistische Theorie des Wechselspiels von Détournement und Récupération an, die im appropriationistischen Diskurs eine Renaissance erlebt14 und im vorliegenden Band von Max Jakob Orlich auf ihre Überschneidungen hin befragt wird. Aufgegriffen wird die Notwendigkeit der erneuten Appropriation des schon Appropriierten, wie sie das Konzept der Récupération (verstanden als Aneignung des Détournements durch die Gesellschaft) impliziert, auch in den Statements zur Appropriation von Michalis Pichler (vgl. dort Zitat Nr. 17), die als künstlerischer Beitrag diesen Band eröffnen und mit Zitaten solcher Gewährsmänner und -frauen wie Roland Barthes, Walter Benjamin, Guy Debord, Lautréamont, Julia Kristeva, Douglas Huebler und Max Stirner das diskursive Feld umreißen, in dem sich Appropriationen von Texten und Büchern bewegen. Ein solch immanent politischer Anspruch an die appropriierende Tätigkeit findet sich auch in anderen Kontexten wieder, etwa in den Anfängen der Künstlerbuchbewegung, die sich in den 1960 und 70er Jahren auf die Suche nach alternativen Räumen jenseits der hegemonialen, kommerziellen und hierarchischen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsverhältnisse begab, wie Léonce W. Lupette in seinem Beitrag aufzeigt. Nicht nur die Autoren, auch die Verleger (was nicht selten zusammenfällt) stilisieren sich dabei gern zu politischen Vorkämpfern. Auch im russischen Samizdat, so Sabine Hänsgen, steht die kritische Auseinandersetzung mit den offiziellen ideologischen Zeichen-, Symbol- und Textwelten im Vordergrund. Allerdings sei dies eher mit einer »teilnehmenden Beobachtung« eines 13 | Römer, Stefan: »Lektürepolitik zwischen Kunst, Aneignung und Literatur – Conceptual Writing«, im vorliegenden Band, 49-66, 50 und 53. 14 | Das schlägt sich bspw. auch in der Wiederauflage situationistischer Schriften in einer eigenen Reihe in Antoine Lefebvres La Bibliothèque Fantastique nieder, vgl. http://www.labibliotheque fantastique.net/

Z UR E INFÜHRUNG

Forschers vergleichbar, der »sich selbst als Teil der Kultur [versteht], mit der er sich auseinandersetzt.«15 Auch wenn inzwischen kaum noch jemand die in den Anfängen der Appropriation Art weit verbreitete Meinung vertritt, dass die Aneignung per se über ein subversives, kritisches Potential verfüge, ist mit Stefan Römer doch festzuhalten, dass jede Appropriation, die mithilfe der Selbstauszeichnung und der Publikation öffentlich vollzogen wird, eine Form strategisch politischen Handelns darstellt.

W IEDERAUFGELEGT : VOM (B UCH -)O BJEKT ZUM (A UFLAGEN -)B UCH Vor dem Hintergrund dieser mediengeschichtlichen Zäsur zeichnen sich innerhalb des oben umrissenen Feldes der Appropriation von Texten und Büchern in Büchern einige weitere Tendenzen ab, von denen eine im Titel des vorliegenden Buchs Wiederaufgelegt anklingt: Immer mehr Appropriationen liegen heutzutage nicht mehr (nur) als unikales Buchobjekt vor, für das ein einzelnes, konkretes Buchexemplar angeeignet wurde, sondern als ›Reprint‹.16 Das meint, dass die angeeigneten Bücher noch einmal aufgelegt, vielleicht sogar mit einer ISBN versehen, und als Reproduktion bzw. Imitation eines bereits existenten Buchs unter neuer Autorschaft ins Literatur- und/oder Kunstsystem wiedereingespeist werden. Mit solchen Büchern lässt sich eine ganz andere Form von Öffentlichkeit als mit Buchobjekten erreichen, wobei Öffentlichkeit hier v.a. den Akt der Publikation meint, weniger die Auflagenhöhe und tatsächliche Verbreitung. Diese kann auch bei Reprints sehr klein sein, insbesondere bei im Selbstverlag hergestellten Büchern. Einen Grenzfall stellen etwa Samizdat-Publikationen dar, bei denen aufgrund der eingeschränkten Produktionsmöglichkeiten häufig nur Kleinstauflagen (z.B. in Höhe eines Satzes von Schreibmaschinendurchschlägen) möglich waren, wie Sabine Hänsgen darlegt. Umgekehrt sind auch bei Buchobjekten ›Editionen‹, also Auflagen, möglich. Als Beispiel ließe sich das von Gabriele Mackert vorgestellte Künstlerbuch Vingt ans après (1969) anführen, für das Marcel Broodthaers 75 Exemplare von Dumas’ gleichnamigem Roman mit einer Banderole und einem eingeklebten Dialog versieht (vgl. Abb. 2 und 3 im Beitrag von Gabriele Mackert). Damit verändern diese 75 konkreten Exemplare ihren Status sowohl in Bezug auf die Autorschaft (es sind nun nicht länger 75 Exemplare des Romans von Dumas, sondern 75 Exemplare eines Künstlerbuchs von Broodthaers) als auch in Bezug auf die Verortung in der Literatur bzw. Kunst (sie werden nicht länger im Buchhandel verkauft, sondern im Museum ausgestellt). Noch deutlicher wird diese Verschiebung einzelner, konkreter Buchexemplare literarischer oder philosophischer Werke 15 | Hänsgen, Sabine: »Noch einmal im Samizdat. Aneignungsstrategien von Bildern, Texten und Büchern im Moskauer Konzeptualismus«, im vorliegenden Band, 265-280, 269. 16 | Eine Dokumentation appropriierender Reprints von 1960 bis heute findet sich in Gilbert: Re-Print.

15

16

A NNETTE G ILBERT

vom Literatur- ins Kunstsystem im Fall von Dieter Roths Literaturwürsten aus den 1960er Jahren (vgl. Stefan Ripplinger) und der Reihe Out of Print Books in Damien Hirsts Verlag Other Criteria, wo einige Exemplare eines Werks erworben werden, um sie mit Stempel und Plexiglashülle samt Aufschrift »Artist Selected Rare Book« zu versehen und in den Kunstmarkt einzuspeisen (vgl. Albert Coers). Als weitere Beispiele für die Aneignung eines bestimmten Buchexemplars können die von Sabine Hänsgen vorgestellten Samizdat-Buchobjekte gelten. In all diesen Fällen ist vom oben beschriebenen Statuswechsel immer nur ein einzelnes Exemplar eines bestimmten Werks betroffen – in den Begriffen Peirces: das Token eines Types –, das zu einem eigenständigen Objekt wird, ohne dass das Werk (der Type) als solches berührt ist, von dem sich das Token ursprünglich ableitete.17 Der Reprint hingegen geht über die unikale Bearbeitung eines einzelnen Exemplars (Token) und dessen Verwandlung in ein Objekt hinaus, denn er setzt am Werk als solchem (Type) an, indem er sich als Buch im selben System wie die Vorlage ansiedelt. Der Reprint befindet sich somit auf selber Augenhöhe mit seiner Vorlage und präsentiert sich als Exemplar eines Werks, das Exemplaren des Ausgangswerks sehr nahe kommt. Es muss daher beim Reprint häufig erst einmal geprüft werden, ob es sich hierbei um ein weiteres Vorkommnis des ursprünglichen Werks oder eine Manifestation eines Werks sui generis handelt (vgl. Annette Gilbert), was möglicherweise die größere Irritation erklärt, die appropriierende Bücher im Gegensatz zu appropriierten Buchobjekten auslösen, welche eher mit Indifferenz und fehlender Beachtung zu kämpfen haben.18 Es ist zu vermuten, dass die in den letzten Jahren zu beobachtende Zunahme der wiederaufgelegten Bücher unter den Appropriationen v.a. auf die neuen technischen und verlegerischen Möglichkeiten zurückzuführen ist. Wohl manches Buchobjekt aus den 1960er und 70er Jahren wäre gern (Auflagen-)Buch im Sinne eines Reprints geworden. So kann etwa für Gerhard Rühm als gesichert gelten, dass er von seinen zwischen 1962 und 1978 entstandenen zwölf Erasure-Büchern nicht nur zwei als Reproduktionen veröffentlicht hätte, wenn sich die Möglichkeit dazu ergeben hätte.19 Diese Korrelation von künstlerischer Produktion und Verlagslandschaft beleuchtet Léonce W. Lupette in seinem Beitrag, Albert Coers erörtert den Sonderfall ›institutionalisierter‹ Appropriation, wenn die Appropriation zum verlegerischen Projekt wird, zu dem der Verleger Künstler und Autoren einlädt.

17 | Das gilt selbst für den Fall einer Edition, etwa die 75 Exemplare von Broodthaers’ Künstlerbuch. 18 | Zu den Reaktionen auf appropriierende Bücher vgl. Einführung in Gilbert: Re-Print. 19 | Gerhard Rühm in einem Gespräch mit der Verf. im August 2011. Publiziert wurden Kleine Billardschule, Berlin: Rainer 1968, und Lehrsätze über das Weltall mit Beweis in Form eines offenen Briefes an Professor Einstein. in einer von gerhard rühm bearbeiteten neuauflage, Berlin: Volker Magdalinski 1968.

Z UR E INFÜHRUNG

F OKUS DER A NEIGNUNG I: M ATERIALITÄT VON TEXT UND B UCH Fasst man nun den Fokus der Aneignung noch etwas genauer, lässt sich eine weitere Verschiebung im Feld der Appropriationen von Texten und Büchern erkennen, die das Phänomen abgrenzt von gängigen Spielformen ostentativer Aneignung fremden Materials in der Literatur, wie sie Gérard Genette in seiner Studie zur »Literatur auf zweiter Stufe« ausdifferenziert hat.20 Quantitativ ließe sich unterscheiden zwischen einer punktuellen Übernahme fremder Textteile, die in einen größeren Textzusammenhang eingebaut werden, und der Aneignung ganzer Texte oder Bücher (oder zumindest großer Teile von ihnen). Letzteres lässt sich nur schwer mit den althergebrachten Begriffen und Konzepten der Literaturwissenschaft fassen, wie Tomasz Waszak in seinem Beitrag demonstriert. Qualitativ gesehen ließe sich als weiteres Kriterium festhalten, dass die hier interessierende Form der Aneignung nicht auf Stil, Motiv, Plot oder sonstige Inhalte zielt, wie man es etwa von Parodien ›im Stile von …‹ oder Pastiches kennt, bei denen »der Text als Modell, d.h. als Gattung behandelt wird«21 (vgl. die Beispiele bei Bernhard Metz). Stattdessen wird der Text, das Buch in seiner Materialität angeeignet. Das kann verschiedene (und mehrere) Aspekte umfassen, etwa das reine Sprachmaterial (grammatische, syntaktische Strukturen; Textstatistik; Lexik; Zeichenrepertoire) oder die konkrete Gestalt eines Texts (Schriftbildlichkeit, Typografie, Zeichenpositionierung, Satz), aber auch die Paratexte (Kolumnentitel, Pagina, Titelei, Index, Fußnoten) oder die Parameter einer bestimmten Ausgabe, Merkmale eines konkreten Buchs (Papier, Cover, Format, Druckfarbe, Klappentext, ISBN). Das Sprachmaterial steht etwa im Vordergrund, wenn der Text in Blindenschrift übersetzt (Jurij Al’bert), in seine Lettern zerlegt (Paul Heimbach), nach seinen Lettern alphabetisch geordnet (Michael Maranda), auf seine Interpunktionszeichen und somit syntaktischen Strukturen reduziert (Michael Maranda, Jarosław Kozłowski, Carl Fredrik Reuterswärd), aleatorisch neu gemischt (Simon Morris) oder die Buchstabenverteilung grafisch visualisiert wird (derek beaulieu), was im Zeitalter der Digitalisate um einiges einfacher zu bewerkstelligen ist als früher (vgl. Sabine Hänsgen, Tobias Amslinger, Anne Thurmann-Jajes und Janet Boatin). Wenn dabei die Abfolge und Position der gegebenen Wörter bzw. Zeichen auf den Seiten des Originalwerks wenigstens annäherungsweise beibehalten wird, kommen zusätzlich nichtlinguistische Aspekte ins Spiel. Dies zeichnet auch die meisten von Viola Hildebrand-Schat vorgestellten Beispiele der Erasure Poetry aus, die wohl als eine der ältesten und etabliertesten Formen von Appropriation Literature gelten darf, auch wenn sie bisher noch kaum in diesem Zusammenhang untersucht 20 | Vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993. Zu nennen wären etwa das Zitat, das Pastiche, die Parodie, das Cut up, die Collage, der Cento. 21 | Ebd., 112. Genette bezieht sich hier allerdings nur auf »Nachahmungen« wie das Pastiche, von denen er die Parodie und Travestie als Formen der »Transformation« abgrenzt.

17

18

A NNETTE G ILBERT

und verortet worden ist. In der Erasure Poetry werden aus einem gegebenem Text neue poetische Texte erzeugt, indem ein Teil des Sprachmaterials weiterverwendet und der Rest mehr oder weniger zum Verschwinden gebracht wird, wobei die Auswahl der Wörter subjektiv motiviert sein kann, aber auch einer vorher festgelegten Regel folgen kann, wie Bernhard Metz in seinem Beitrag zur Contrainte differenziert. Besonderes Augenmerk liegt in solchen Werken in der Regel auf dem nicht negierbaren Bezug zwischen Vorlagetext und neu generiertem Text (vgl. Viola Hildebrand-Schat und Bernhard Metz) und auf der Bedeutungsverschiebung der extrahierten Wörter durch den geänderten Kontext, wie Christoph Benjamin Schulz am Beispiel Gerhard Rühms ausführt. Die Verfahren der Auslöschung, auf die in mehreren Beiträgen eingegangen wird, reichen vom Radieren, Weißen, Schwärzen, Ausschneiden, Überschreiben, Streichen bis zum Übermalen (vgl. Viola Hildebrand-Schat, Magnus Wieland, Anne Mœglin-Delcroix, Christoph Benjamin Schulz, Bernhard Metz). Während in diesen Werken wohl meist eher en passant der Satz und Weißraum einbezogen werden, ist es bei den von Magnus Wieland und Eric Zboya diskutierten Mallarmé-Appropriationen allein das typografische Dispositiv samt seinem Träger, dem Papier, das zum Material und in rein visuelle oder räumliche Strukturen übersetzt wird. Im Fall der von Anne Mœglin-Delcroix vorgestellten Ab- und Umschriften von Irma Blank und Hanne Darboven rückt das Dispositiv der Handschrift in den Mittelpunkt, bei Dmitrij Prigovs Schreibmaschinenabschrift das typische Dispositiv des Samizdat (vgl. Sabine Hänsgen), bei Simon Morris’ Getting Inside Jack Kerouac’s Head das Dispositiv eines Blogs (vgl. Nora Ramtke). Die buchstäbliche Materialität des Drucks kommt in Jérémie Bennequins ommage zum Tragen, der mit dem Radierer die Farbe und das Papier eines Buchs in ihrer Materialität abträgt (vgl. Anne Mœglin-Delcroix), aber auch bei Vadim Zacharov, der alle Seiten eines Buchs auf einer einzigen Seite ausdruckt und so die Schrift in ihrer materiellen Faktur zum Vorschein kommen lässt (vgl. Sabine Hänsgen). Nora Ramtke zeigt in ihrem Beitrag am Beispiel von Cover, Titelseite, Verlagsangabe, Inhaltsverzeichnis, Weißraum und ISBN, wie Paratexte zum Material einer Appropriation werden können, das institutionskritisch hinterfragt, künstlerisch gestaltet und in Szene gesetzt wird. Auf die Gestaltung von Cover und Titelei gehen auch andere Beiträge ein (vgl. Tobias Amslinger, Janet Boatin, Magnus Wieland, Albert Coers, Annette Gilbert). In manchem Fall ziele die Übernahme typischer Ausstattungsmerkmale eines Buchgenres (etwa der Bibel) oder eines wiedererkennbaren äußeren Erscheinungsbildes eines renommierten Verlags (am beliebtesten sind Gallimard und Reclam) allerdings allein auf die Partizipation am symbolischen Kapital des Verlags bzw. Buchs, weniger auf die Auseinandersetzung mit einem konkreten Text oder Buch, so Anne Mœglin-Delcroix kritisch.22 22 | Was auf den vorliegenden Band ebenfalls zutrifft, der sich des Erscheinungsbildes von Gallimard bedient.

Z UR E INFÜHRUNG

Teil der künstlerischen Gestaltung einer Appropriation kann auch ein Exlibris sein (vgl. Albert Coers). In diesem Fall erfährt das Buch eine nachträgliche Ergänzung, mit der die Aneignung signalisiert und vollzogen wird, während Michael Glasmeier in seinem Beitrag zu Rodney Grahams Loops eine Form der Interpolation beschreibt, bei der der Text des Vorlagewerks eine nachträgliche Erweiterung erfährt. Diese zwei vom Grundkonzept her völlig verschiedenen Formen der Interpolation können als Beleg für die Nützlichkeit der Unterscheidung zwischen der linguistisch-immateriellen Textappropriation und der bibliografisch-materialen Buchappropriation dienen, die Bernhard Metz einbringt und in Anne MœglinDelcroix eine Fürsprecherin findet, die ebenfalls zwischen der Tilgung eines Texts und der Tilgung eines Buchs differenziert. Es bleibt zu prüfen, ob die Textappropriation tatsächlich den größeren Teil der Appropriationsliteratur ausmacht, wie Metz vermutet. Häufig werden wohl beide Aspekte hineinspielen, und es kann spekuliert werden, dass die Einbeziehung des Buchs in das künstlerische Konzept von Appropriationen angesichts der immer einfacher werdenden Reproduktionsmöglichkeiten von Büchern weiter zunehmen wird.

F OKUS DER A NEIGNUNG II: (M EISTER -)W ERKE Abschließend sei eine weitere Tendenz im Feld literarischer Appropriation benannt, die bisher implizit mitschwang: Die im vorliegenden Sammelband behandelte Form der Appropriation von Texten und Büchern ist abzugrenzen von jenem großen und immer noch exponentiell wachsenden, aber schon bestens etablierten Bereich der Appropriation, der sich vor allem an der Überführung nichtliterarischer bzw. nichtkünstlerischer Texte und Bücher in den Bereich der Literatur und Kunst interessiert zeigt, wie man es etwa von den ›Readymades‹ in der Found Poetry kennt (Beispiele dazu bei Christoph Benjamin Schulz, Stefan Ripplinger und Anne Mœglin-Delcroix). Besondere Aufmerksamkeit erfahren im vorliegenden Band also jene Appropriationen, in denen Werke mit fester und starker Autorschaft Verwendung finden, wobei man sich in den meisten Fällen kanonischer Texte der Geistesgeschichte und Weltliteratur bedient. Nur eine verschwindend kleine Zahl dieser Appropriationen greift auf Trivialliteratur oder ›randständige‹ Werke zurück, wie die Sondierung des Feldes in der Anthologie Re-Print. Appropriation (&) Literature erkennen lässt. Was den Trend zu theoretischen Vorlagetexten betrifft, so begründet Tobias Amslinger diesen mit dem hohen Grad an theoretischer Reflexion, der der Appropriations- und Konzeptkunst generell eigne. In der Folge gehe es bei Appropriationen theoretischer Werke nicht nur um die Herausstellung ihrer Literarizität, sondern immer auch um ihr

19

20

A NNETTE G ILBERT

Weiterdenken mit künstlerischen Mitteln, was Janet Boatin in ihrem Beitrag als »Science Fiction«23 im buchstäblichen Sinn bezeichnet. Es wird wohl wenig verwundern, dass einige Werke der Weltliteratur und Geistesgeschichte schon mehrfach als Vorlage einer Appropriation gedient haben, darunter Shakespeares Sonette, Mallarmés Un coup de dés, Prousts À la recherche du temps perdu und Kants Kritiken. Es zeichnet sich also die Herausbildung eines Binnenkanons innerhalb dieses eng umrissenen Bereichs der Appropriation von Texten und Büchern ab. Eine aufschlussreiche Subkategorie bilden zudem Appropriationen zweiter Stufe, also Appropriationen von Appropriationen – ein Genre, das erst in den letzten Jahren aufgekommen ist und auf das zunehmende Maß selbstreflexiver Geschichtlichkeit unter den appropriierenden Künstlern und Autoren hinweist. Im vorliegenden Band wird dieser Aspekt in den Beiträgen von Magnus Wieland und Eric Zboya am Beispiel mehrerer Appropriationen von Mallarmés Un coup de dés diskutiert, unter denen die erste von Marcel Broodthaers aus dem Jahr 1969 traditionsbildend gewirkt hat. Künstlerisch verarbeitet wird dieser Prozess der Tradierung innerhalb der Appropriation Literature in einer Appropriation von Amir Brito Cadôr aus dem Jahr 2011. Vorlage war Endre Tóts Appropriation eines Galerieführers mit dem Titel Night Visit to the National Gallery aus dem Jahr 1974, in dem dieser die Gemälde der Londoner Nationalgalerie nur noch als schwarze Umrisse abbildete (vgl. Abb. 4 im Abb. 3: Amir Brito Cadôr: A Night Visit to the Library, [Belo Horizonte]: Andante 2011, Doppelseite.

23 | Boatin, Janet: »Appropriiertes Übersetzen. Neu(an)ordnungen des Materials in Morris’ Re-Writing Freud und beaulieus Flatland«, im vorliegenden Band, 331-348, 332.

Z UR E INFÜHRUNG

Beitrag von Anne Mœglin-Delcroix). Amir Brito Cadôr antwortet darauf mit einem Bibliotheksführer unter dem Titel A Night Visit to the Library, in dem die Umrisse von 26 Künstlerbüchern und Appropriationen der ersten Stunde bis heute abgebildet sind (Abb. 3). Einlass gefunden in diesen Pantheon haben u.a. Emilio Isgrò, Marcel Broodthaers, Tom Phillips, Roland Topor, Sherrie Levine, Dieter Roth, Jonathan Monk. Hier wird nicht nur ein Kanon abgebildet, hier wird auch am Kanon mitgeschrieben.

E THIK DER A NEIGNUNG Die Aneignung von Werken der Literatur, Kunst oder Geistesgeschichte24, erst recht von »Meisterwerke[n]«25, unterscheidet sich von der Aneignung und Überführung systemexterner Readymades in die Kunst bzw. Literatur darin, dass zum Fakt der (vorgeblichen) Unoriginalität und Unkreativität der Übergriff auf fremdes Eigentum tritt, was häufig als widerrechtliche Enteignung empfunden wird. Die aneignenden Autoren sind sich dessen durchaus bewusst. Während manche hinsichtlich der Nutzung ihrer eigenen Werke eine Politik des Anti-Copyrights oder des Copylefts vertreten (vgl. Max Jakob Orlich und Léonce W. Lupette), versuchen die meisten zugleich, möglichen juristischen Problemen aus dem Weg zu gehen, indem etwa eine gemeinfreie ältere Übersetzung vorgezogen wird oder Verlagslogos überklebt werden (vgl. Janet Boatin und Tobias Amslinger). Aufsehenerregende Prozesse oder Skandale, wie man sie aus der Kunstwelt (Richard Prince, Sherrie Levine), aber auch aus der Literatur (Kathy Acker, Helene Hegemann) kennt, sind bisher ausgeblieben, was möglicherweise auch mit der Marginalität des Phänomens und seinem noch unzureichenden medialen Echo zu tun hat. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Appropriation immer auch ethische Fragen aufwirft, die Anne Mœglin-Delcroix in ihrem Beitrag thematisiert. Zwar wird die Urheberschaft am Original in den Appropriationen in der Regel nicht in Abrede gestellt, sondern der Akt der Aneignung einer fremden Quelle deutlich markiert und inszeniert, so dass von einer widerrechtlichen Enteignung und Anmaßung von Autorschaft im Sinne eines Plagiats, einer Fälschung etc. nicht die Rede sein kann (vgl. Annette Gilbert). Doch bleibt die Aneignung, wie Christoph Benjamin Schulz am Beispiel der Übermalung ausführt, »eine Form der Einmischung, die sich ausnimmt, in fremden Texten und Büchern eigenmächtig, ungebeten und ohne

24 | In der Regel fremder Werke, doch diskutiert Stefan Ripplinger in seinem Beitrag am Beispiel von Dieter Roth den interessanten Sonderfall einer Aneignung eigener Texte bei gleichzeitiger Problematisierung des Eigenen als Fremdes. 25 | Mœglin-Delcroix, Anne: »Von der künstlerischen Aneignung literarischer Werke in Künstlerbüchern: zwischen Zerstörung und Einverleibung«, im vorliegenden Band, 233-264, 234.

21

22

A NNETTE G ILBERT

Einverständnis Veränderungen vorzunehmen.«26 Das rufe zwangsläufig Assoziationen zu Willkür und Zensur wach und lasse Zweifel am Gleichgewicht zwischen der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks des aneignenden Autors und dem zu respektierenden Recht auf Meinungsäußerung des angeeigneten Autors aufkommen. Auch Anne Mœglin-Delcroix argumentiert, dass die künstlerische Aneignung eines literarischen Werks eine gewaltsame Annexion darstelle, die das ursprüngliche Werk verletze, ja zerstöre, indem sie ihm Veränderungen aufzwinge, es für eigene Zwecke instrumentarisiere und eine Gebrauchs- und Statusänderung herbeiführe. Ihrer Ansicht nach wäre die »Brutalität« dieses Akts »weniger offensichtlich, wenn die Aneignung innerhalb derselben künstlerischen Disziplin vollzogen wird oder wenn das bearbeitete Werk weder sein Medium noch seinen Status ändert.«27 Gerade im Fall der visuell-künstlerischen Aneignung eines literarischen Werks werde daher die Frage nach einer »Ethik der Aneignung«28 besonders akut. Es bleibt zu prüfen, ob die entstandenen Werke wirklich in der Kunst und nicht wie ihre Vorlagen in der Literatur zu verorten sind (vgl. Annette Gilbert). Der unbestritten stattfindende Statuswechsel wäre dann weniger an der Überführung eines literarischen Werks in die Kunst als vielmehr an der wechselnden Autorfunktion festzumachen.

C LOSE R EADING MIT L UPE Der Lesart, die in der Appropriation eher einen Akt der Zerstörung sieht (vgl. Anne Mœglin-Delcroix) und unterstellt, dass die aneignenden Autoren die Autoren der Ausgangswerke anfangs eher als Gegner denn als dialogische Gesprächspartner verstehen (vgl. Christoph Benjamin Schulz), ließe sich entgegnen, dass ein Großteil der Autoren ihre Appropriationen als Arbeit am literarischen Erbe oder gar als Hommage und Reverenz begreifen, wie etwa Tobias Amslinger an etlichen Appropriationen theoretischer Werke aufzeigt. Dies ist der Tenor mehrerer Beiträge dieses Bandes. Stellt Janet Boatin die These auf, dass die Aneignung »eine über Formzitate und Textstrategien verfolgte Übersetzung eines Artefakts in die Gegenwart«29 darstelle, so kommt Gabriele Mackert zum Schluss, dass Marcel Broodthaers’ Praxis der ›redite‹ der reflektierten Rückkopplung der Tradition an die Gegenwart diene. Dass mit Hilfe einer Appropriation bereits existierende Sprachwerke in den künstlerischliterarischen Diskurs neu eingebracht und neu verhandelt werden können, belegt exemplarisch auch der von Magnus Wieland und Eric Zboya unternommene Vergleich mehrerer Appropriationen von Mallarmés Un coup de dés, die alle auf denselben Text in derselben Buchausgabe zurückgehen, aber durch gezielte Deformationen 26 | Schulz, Christoph Benjamin: »Übermalte Bücher«, im vorliegenden Band, 281-298, 282. 27 | Mœglin-Delcroix: »Von der künstlerischen Aneignung literarischer Werke«, 247. 28 | Ebd., 249. 29 | Boatin: »Appropriiertes Übersetzen«, 332.

Z UR E INFÜHRUNG

jeweils einen anderen (visuellen, auditiven, haptischen, konzeptuellen) Aspekt von Mallarmés Werk akzentuieren. Letztlich provoziert solch intensive Relektüre, zu der eine Appropriation Anlass gibt, neue Sicht- und Zugangsweisen, die ihrerseits zu einer revidierten oder verfeinerten Interpretation der Werke führen können (vgl. Magnus Wieland und Gabriele Mackert). Berücksichtigt man zudem, dass sich Appropriationen immer nur in den Bahnen des bereits Gegebenen bewegen können, so ist nicht mehr das Gegebene den aneignenden Autoren ausgeliefert, sondern sie selbst sind es, die sich dem Gegebenen ausliefern und dabei in ihren eigenen Gestaltungsmöglichkeiten rigoros beschneiden. Diese Spannung im künstlerischen Produktionsprozess zwischen der souveränen Gestaltungsmacht des Subjekts und den durch das Material gesetzten Grenzen, zwischen Aneignung und Zueignung, wie es Isabelle Graw genannt hat30, erörtern Gabriele Mackert am Beispiel von Marcel Broodthaers und Bernhard Metz am Beispiel regelgeleiteter Literatur. Ein unter solch selbstauferlegter Einschränkung hergestellter Text kann, wie Metz aus OuLiPo-Aussagen ableitet, dann als geglückt gelten, wenn sich Contrainte und generierter Text gegenseitig bedingen und die zur Produktion des Texts herangezogene Contrainte in den Hintergrund tritt, so dass der neue Text ein literarisches Eigenleben beginnen kann. Daraus folgt, dass bei Appropriationen immer auch der je spezifische Umgang mit dem angeeigneten Material und das Zusammenspiel von Angeeignetem und konkretem Aneignungsverfahren in den Fokus rücken müssen. Metz schlägt in diesem Zusammenhang vor, »eine spezifische Form von Materialgerechtigkeit und Werktreue«31 als Kriterium zur ästhetischen Bewertung von Appropriationen heranzuziehen. Auch Tomasz Waszak plädiert in seinem Beitrag dafür, die intensive Beschäftigung mit der Vorlage, die Züge einer Versenkung annehmen kann, anzuerkennen und »Werte wie […] Einfühlung, Treue, Aufbewahrung, Pflege, Reproduktion«32 in die Auseinandersetzung mit Appropriationen einzubringen – was überraschend konservativ anmutet, aber den oben erhobenen Vorwurf des wenig respektvollen Umgangs mit literarischen Meisterwerken entkräften könnte. Mit diesen Kriterien wäre zugleich ein Anhaltspunkt für die Bewertung der Originalität im Fall von Appropriationen gefunden. Denn natürlich ist die Originalität – der werbewirksamen Rhetorik von Unoriginalität und Unkreativität zum

30 | Vgl. Graw, Isabelle: »Wo Aneignung war, soll Zueignung werden. Faszination, Subversion und Enteignung in der Appropriation Art«, in: Kaiser, Philipp (Hg.): Louise Lawler and others, Ostfildern: Hatje Cantz 2004, 45-67, 54. 31 | Metz, Bernhard: »The kite is nothing without the string – Appropriation und Contrainte / Appropriation als Contrainte«, im vorliegenden Band, 315-330, 330. 32 | Waszak, Tomasz: »Der Fall Menard als Provokation oder wie die Textappropriation von der Literaturwissenschaft appropriiert werden kann. Mit Seitenblicken zu empirischen Fällen«, im vorliegenden Band, 87-102, 89.

23

24

A NNETTE G ILBERT

Trotz33 – nicht verschwunden, sondern nur in andere Bereiche verlagert worden, etwa ins Para- oder Metatextuelle, wie Tomasz Waszak anregt. Auch Nora Ramtke sieht in der Peripherie der Texte »de[n] eigentliche[n] Ort des Geschehens einer programmatisch originell-unoriginalen Textproduktion«34 . Misst man das kreative Moment einer Appropriation also nicht am Paradigma einer genuinen Neuschöpfung, sondern am Paradigma der Neupräsentation, Neukommentierung, Neupositionierung, Neuverortung des Gegebenen, dann unterstehen natürlich auch Appropriationen dem Postulat der Neuheit, wie Magnus Wieland resümiert. Wie er an der sechsfachen Appropriation ein und desselben Ausgangstexts aufzeigen kann, gründet die jeweilige Innovation dabei vor allem »in der Entdeckung von Lücken, von noch unbesetzten Stellen im kulturellen Archiv.«35 Für die ›Lektüre‹ dieser Werke bedeutet das selbstredend eine immense Umstellung. Eingefordert wird »eine anspruchsvolle Rezeptionshaltung«, die die Randbezirke der Bücher einbezieht, eine gewisse Kenntnis der Vorlage (in Text und Buch!) und ihrer (Entstehungs- und Rezeptions-)Geschichte voraussetzt und um die jüngsten Diskurse und Entwicklungen in Kunst und Literatur weiß – eben »ein Close Reading mit Lupe«36. Der vorliegende Band sei zur Einstimmung darauf mit auf den Weg gegeben.

D ANK Dieser Sammelband wäre ohne die finanzielle Unterstützung der VolkswagenStiftung nicht möglich gewesen, für deren großzügige Förderung ich danke. Ebenso danke ich den Beiträgern für die anregenden Diskussionen und die produktive Zusammenarbeit und Caroline Haufe für den sorgfältigen Satz und das zuverlässige Korrektorat. Bei Anne Thurmann-Jajes und Bettina Brach vom Studienzentrum für Künstlerpublikationen, Weserburg, Bremen möchte ich mich für die Unterstützung bei der Recherche und die Anfertigung eines Großteils der Abbildungen bedanken. Transcript sei für die Aufnahme ins Programm und für die komplikationslose Umsetzung der Idee zur Covergestaltung gedankt.

33 | Vgl. etwa Goldsmith, Kenneth: Uncreative Writing. Managing Language in the Digital Age, New York: Columbia University Press 2011. 34 | Ramtke, Nora: »Ohne Begleitschutz – Texte auf der Schwelle. Überlegungen zu Textappropriationen und Paratext«, im vorliegenden Band, 103-119, 103. 35 | Wieland, Magnus: »about:blank. Appropriationen des Leerraums seit Mallarmé«, im vorliegenden Band, 193-216, 215. 36 | Boatin: »Appropriiertes Übersetzen«, 331.

Theoretisch

Statements zur Appropriation Michalis Pichler

1. Wenn ein Buch einen bestimmten historischen oder zeitgenössischen Vorläufer in Titel, Stil und/oder Inhalt paraphrasiert, würde ich diese Technik einen »greatest hit« nennen. 2. Dass eine Appropriation immer eine bewusste strategische Entscheidung eines Autors darstellt, ist vielleicht genauso naiv wie der Glaube an einen »originalen« Autor an erster Stelle. 3. Es kommt mir so vor, dass die Signatur des Autors, sei er nun Künstler, Cineast oder Dichter, der Anfang des Systems von Lügen zu sein scheint, das alle Dichter, alle Künstler einzurichten versuchen, um sich zu verteidigen, ich weiß nicht genau gegen was. 4. Da das Herkommen einmal Unseren vorchristlichen Ahnen den Namen der »Alten« beigelegt hat, so wollen Wir es ihnen nicht vorrücken, dass sie gegen Uns erfahrene Leute eigentlich die Kinder heißen müssten, und sie lieber nach wie vor als Unsere guten Alten ehren. 5. Es ist nichts als Literatur! 6. Im Zitieren, Imitieren, Entlehnen und Nachahmen liegt ebensoviel unvorhersehbare Originalität wie im Erfinden. 7. Für die Herren Kunstkritiker füge ich hinzu, dass es ein weit größeres Können erfordert, aus der künstlerisch nicht geformten Natur ein Kunstwerk auszuschneiden, als aus seinem eigenen künstlerischen Gesetz ein Kunstwerk mit beliebigem Material zusammenzubauen. 8. Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. 9. Geistiges Eigentum ist das Öl des 21. Jahrhunderts.

28

M ICHALIS P ICHLER

10. Bestimmte Bilder, Objekte, Töne, Texte oder Gedanken würden im Bereich dessen liegen, was Appropriation ist, wenn sie irgendwie ausdrücklicher wären, manchmal strategisch, manchmal schwelgend im Ausleihen, Klauen, Aneignen, Erben, Assimilieren … Beeinflusst-, Inspiriert-, Abhängig-, Gejagt-, Besessen-Sein, Zitieren, Umschreiben, Überarbeiten, Umgestalten … Revision, Reevaluation, Variation, Version, Interpretation, Imitation, Annäherung, Improvisation, Supplement, Zuwachs, Prequel … Pastiche, Paraphrase, Parodie, Piraterie, Fälschung, Hommage, Mimikry, Travestie, Shan-Zhai, Echo, Allusion, Intertextualität und Karaoke. 11. Plagiieren ist notwendig, Fortschritt setzt es voraus. 12. Die äußerste Vorstellung dabei ist, dass jedes Zeichen, jedes Wort dazu geeignet ist, in ein anderes und sogar in sein Gegenteil verwandelt zu werden. 13. Wie die ewigen, ebenso erhabenen wie komischen Abschreiber Bouvard und Pécuchet, deren abgrundtiefe Lächerlichkeit genau die Wahrheit der Schrift bezeichnet, kann der Schreiber nur eine immer schon geschehene, niemals originelle Geste nachahmen. 14. Die Welt ist voller Texte, mehr oder weniger interessant; ich wünsche keine weiteren hinzuzufügen. 15. 16. Die Frage ist: Was ist jetzt zu sehen, wird aber nie wieder zu sehen sein? 17. Die Entwendung führt die vergangenen kritischen Folgerungen, die zu ehrenwerten Wahrheiten erstarrt sind, d.h. in Lügen verwandelt wurden, wieder der Subversion zu. 18. Kein Poet, kein Künstler, jeglicher Sorte, hat seine gesamte Bedeutung allein.

S TATEMENTS ZUR A PPROPRIATION

A NMERKUNGEN Am 11. Dezember 2009 wurden in der Stichting Perdu, Amsterdam, sechs aus einem Satz bestehende und vom ›Künstler/Autor‹ stammende Statements mit achtzehn Zitaten, die verschiedenen anderen Quellen entnommen wurden, in einem Behälter gemischt; jeder Satz war auf ein eigenes Stück Papier gedruckt. Daraus wurden ›blind‹ achtzehn Statements gezogen. Sie konstituieren, in der exakten Reihenfolge ihrer Ziehung, die Statements on Appropriation / Statements zur Appropriation. In der folgenden Bibliografie sind die Quellen der achtzehn Fremdzitate aufgeführt, wenn auch keines der Statements seinem jeweiligen Autor zugeordnet ist. Barthes, Roland: »Der Tod des Autors«, in: Jannidis, Fotis et al. (Hgg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, 185–193, 190. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963, 15. Broodthaers, Marcel im Interview mit Freddy de Vree [1971], in: Dickhoff, Wilfried (Hg.): Marcel Broodthaers. Interviews & Dialoge 1946-1976, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994, 89-93, 93. Carrión, Ulises: »The New Art of Making Books«, in: Schraenen, Guy: Ulises Carrión – »We have won! Haven’t we?«, Amsterdam: Idea Books 1992, o. S. [Übers. M. P.] De Chirico, Giorgio zit. n. Ruppersberg, Allen: The New Five-Foot Shelf of Books, Ljubljana: International Centre of Graphic Arts und Brüssel: Editions Micheline Szwajcer and Michèle Didier 2003, o. S. [Übers. M. P.] Debord, Guy: »Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels«, in: Ders.: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Tiamat 1996, 175. Debord, Guy/Wolman, Gil J.: »Die Entwendung: Eine Gebrauchsanleitung«, in: Debord, Guy (Hg.): Potlatch 1954-1957. Informationsbulletin der Lettristischen Internationale, Berlin: Tiamat 2002, 321-331, 331. Ducasse, Isidore [Comte de Lautréamont]: Poésies II, Paris: Balitout, Questroy et Cie 1870, 6 [Übers. M. P.]. Eliot, T. S.: »Tradition and the Individual Talent«, in: Ders.: Selected Prose, hg. v. Frank Kermode, London: Faber 1984, 37-40, 37 [Übers. M. P.].

29

30

M ICHALIS P ICHLER

Getty, Mark, zit. n. »Blood and oil«, in: The Economist vom 2.3.2000 [Übers. M. P.]. Goldsmith, Kenneth: »Being Boring«, in: The Newpaper 2 (2008), 2-3, 2, auch online: http://www.thenewpaper.co.uk/Paper/The%20Newpaper%20-%20Issue%202.pdf vom 1.12.2011 [Übers. M. P.]. Heraklit von Ephesos, zit. n. Plato: Kratylos, Fragment 41. Kristeva, Julia: »Word, Dialogue and Novel«, in: Moi, Toril (Hg.): The Kristeva Reader, New York: Columbia University Press 1986, 34-61, 37 [Übers. M. P.]. McClean, Daniel/Schubert, Karsten (Hgg.): Dear Images: Art, Copyright, and Culture, London: Ridinghouse 2002, 372 [Übers. M. P.]. Ruppersberg, Allen: »Fifty helpful hints on the Art of the Everyday«, in: The Secret of Life and Death, Los Angeles: The Museum of Contemporary Art 1985, 111-114, 113 [Übers. M. P.]. Schwitters, Kurt: »i (ein Manifest)«, in: Kurt Schwitters. Das literarische Werk, hg. v. Friedhelm Lach, Köln: DuMont 1981, Bd. 5, 125. Steinberg, Leo zit. n. Schwartz, Hillel: Déjà vu. Die Welt im Zeitalter ihrer tatsächlichen Reproduzierbarkeit, Berlin: Aufbau 2000, 324. Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart: Reclam 1972, 16.

Vgl. außerdem: Douglas Huebler: »Variable piece #20«, in: Douglas Huebler, Andover, Mass.: Addison Gallery of American Art, 1970, o.S.

(Erstabdruck als »Statements on Appropriation / Statements zur Appropriation«, in: FILLIP 11 (2010), 44-47)

»Unsere Taten, das waren unsere Texte« Guy Debord, die Situationistische Internationale und die theoretische Praxis des Détournements Max Jakob Orlich

»Le plagiat est nécessaire. Le progrès l’implique.«1 Mit diesem so simplen wie radikalen (An-)Satz Lautréamonts befinden wir uns bereits mitten im Theoriegebäude und der dort entwickelten Praxis der Situationistischen Internationale (S.I.), dieser oft als letzte Avantgarde des 20. Jahrhunderts bezeichneten und ebenso facetten- wie einflussreichen Gruppe von Malern, Schriftstellern, Philosophen, Filmemachern, Architekten und Lebenskünstlern. Gegründet 1957 unter anderem von Constant, Guy Debord, Asger Jorn und Giuseppe Pinot-Gallizio entwickelt sie sich zu einer der bedeutendsten und wirkmächtigsten Avantgarden der Nachkriegszeit. Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik werden in dieser streitlustigen Gruppe bis 1972 theoretische Positionen und künstlerisch-politische Praktiken entworfen, die die Aufhebung der Trennung zwischen Theorie und Praxis und zwischen Kunst und Politik zum Ziel haben. Für die Theorie und Praxis der S.I. ist der Begriff des ›Détournement‹2 – im Sinne einer De- und Rekontextualisierung vorgefundener Elemente – auf verschie-

1 | Ducasse, Isidore: Poésies II, Paris: Balitout, Questroy et Cie 1870, 6. Da der Einzelne und sein (geistiges) Eigentum bei Fragen der Appropriation eine wichtige Rolle spielt, möchte ich denjenigen, die die Entstehung dieses Aufsatzes durch Anregungen, Anmerkungen und Diskussionen unterstützt haben, meinen Dank aussprechen. Danke Dagmar Danko, Birgit Dorsten und Annette Gilbert. 2 | Die Begriffe ›le détournement‹ und ›la récupération‹ werden im Folgenden nicht übersetzt, sondern beibehalten, um ihre Bedeutungsvielfalt, die bei der Übersetzung ins Deutsche verloren geht, mitdenken zu können. So bedeutet der Begriff der ›Récupération‹, der allgemein mit ›Aneignung‹ übersetzt wird, im Französischen zusätzlich auch ›Wiedergewinnung‹, ›Bergung‹ oder ›Wiederverwertung‹. Besonders deutlich wird die bedeutungseinschränkende Wirkung von Übersetzungen beim Begriff des ›Détournement‹, der mehr ist als die deutsche ›Zweckentfremdung‹, ›Entwendung‹, ›Ab-

32

M AX J AKOB O RLICH

denen Feldern von zentraler Bedeutung. Der Détournement ist der spielerische wie auch äußerst kritische und selbstreflexive Kern des Ideenspektrums dieser Gruppe. Er wird mit Hilfe von Détournements entwickelt und ruft zu weiteren Détournements auf. Er ist work in progress, ein Blick zurück im Jetzt nach vorne, der Versuch des von der S.I. als Kernmerkmal von Avantgarde betrachteten Schritthaltens mit der Wirklichkeit. Der Begriff des ›Détournement‹ lässt sich dabei sowohl aufs Engste mit dem Begriff der ›Appropriation‹ in Verbindung bringen als auch als dessen scharfe Kritik lesen, wenn man das von der S.I. intensiv thematisierte Wechselspiel von Détournement und Récupération – der Aneignung der Kritik (d.i. des Détournements) durch die Gesellschaft, die ebenfalls als quasi gegenläufige Appropriation zu verstehen ist – berücksichtigt. Nach einigen weiteren einführenden Anmerkungen zu den Begriffen des ›Détournement‹ und der ›Récupération‹ werde ich mich im Folgenden auf die Anwendung des Détournements als Appropriation auf der sprachlichen Ebene konzentrieren und diese anschließend am Beispiel der Texte Guy Debords sowie anhand der kollektiven Textproduktion und der Diskussionen um die Kategorien von Autorschaft und geistigem Eigentum im Rahmen der Zeitschrift Internationale Situationniste (I.S.) skizzieren. Zum Abschluss sollen einige Akteure in den Blick genommen werden, die die Appropriationen der S.I. ihrerseits wieder entwenden und weiterführen.

E INFÜHRUNG: D ÉTOURNEMENT UND R ÉCUPÉRATION ALS A PPROPRIATION Der Détournement ist der zentrale Baustein im Theoriegebäude der S.I. Die Gruppe versteht darunter »die Wiederverwendung bereits bestehender Kunstelemente innerhalb einer neuen Einheit. [...] Die beiden grundlegenden Gesetze der Zweckentfremdung sind der Verlust von Wichtigkeit[,] der bis zum Verlust des ursprünglichen Sinns gehen kann[,] von jedem zweckentfremdeten autonomen Element und zu gleicher Zeit die Organisation einer neuen bedeutungsvollen Gesamtheit, die jedem einzelnen Element seine neue Bedeutung verleiht.« 3

lenkung‹, ›Ausflucht‹, ›andere Bedeutung geben‹ oder ›Entführung‹. Vor allem aber ist im Französischen ›détournement‹ mit dem ›détour‹ stets der in der deutschen ›Zweckentfremdung‹ nicht mehr erkennbare ›Umweg‹ enthalten. Wird bei Zitaten auf deutsche Übersetzungen zurückgegriffen, werden die dortigen Begriffe beibehalten, und der Leser sei angehalten, sich an die Bedeutungsvielfalt zu erinnern. 3 | Situationistische Internationale: »Die Zweckentfremdung als Negation und Vorspiel«, in: Dies. (Hg.): Situationistische Internationale 1958-1969. Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistischen Internationale, Hamburg: MaD 1976 [1959], Bd. 1, 85-86, 85.

»U NSERE TATEN , DAS WAREN UNSERE TEXTE «

Diese Methode dient dazu, aus der vergangenen und inzwischen angeeigneten Kritik (d.i. dem einstigen Détournement) etwas Neues zu konstruieren, kritische Bedeutung wiederzubeleben. Damit beinhaltet sie eine doppelte Einordnung in verschiedene, sei es politische oder künstlerische Vorgängergruppierungen: Zum einen durch die jeweilige inhaltliche Bezugnahme bei ihrer Durchführung, da der Détournement die Möglichkeit vollständiger, voraussetzungsloser Neuheit bzw. Originalität verneint und daher auf Dekontextualisierung und Rekombination und somit auf kritische Anknüpfung abzielt. Zum anderen ist diese Vorgehensweise schon bei der Entstehung der Methode selbst zu erkennen – der Détournement ist also bereits selbst ein solcher: »Die von uns hier angeschnittenen Verfahren [des Détournements] wollen wir nicht als unsere ureigene Erfindung verstanden wissen, sondern im Gegenteil als eine durchaus allgemein verbreitete Praxis.«4 Der situationistische Détournement lässt sich als die paradoxe Verknüpfung von Neuheit und Wiederholung beschreiben und weist somit im Bewusstsein der eigenen historischen Bedingtheit die Bürger’sche Forderung5 nach einem radikalen Traditionsbruch der Avantgarde produktiv zurück. Der Détournement ist zudem eng mit dem Problem der Récupération verwoben, und erst in diesem Wechselverhältnis werden sowohl die zentrale Bedeutung als auch die problematischen Aspekte deutlich, die beiden Begriffen im Rahmen der situationistischen Theorie zukommen. Bei der Skizze dieses Wechselverhältnisses wäre eigentlich nicht direkt bei den Situationisten anzusetzen, sondern wären aus zwei Gründen zunächst die dadaistischen und surrealistischen Konzepte zum Détournement und zur Récupération zu erläutern. Erstens ist die Methode des Détournements diejenige, bei der sich die S.I. am explizitesten auf diese Vorläufer beruft. Zweitens ist auch die Frage der Récupération erst in Bezug auf die historischen Avantgarden zu verstehen, jedoch nicht in dem Sinne, dass bei DADA und Surrealismus bereits eine Auseinandersetzung mit diesem Problem zu finden wäre, an die sich anknüpfen ließe. Vielmehr basiert die zentrale Stellung, die die Gefahr der Récupération bei der S.I. einnimmt, gerade auf diesem Mangel der historischen Avantgarden. Unter Récupération versteht die S.I. die Aneignung kritischer oder subversiver Ideen durch die herrschenden ›spektakulären‹ Strukturen: »Die herrschende Ideologie organisiert die Banalisierung der subversiven Entdeckungen und verbreitet sie im Überfluß, nachdem sie sie sterilisiert hat.«6

4 | Debord, Guy/Wolman, Gil: »Die Entwendung: eine Gebrauchsanleitung«, in: Debord, Guy (Hg.): Potlatch 1954-1957. Informationsbulletin der Lettristischen Internationale, Berlin: Tiamat 2002 [1956], 321-331, 331. 5 | Vgl. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974. 6 | Debord, Guy: »Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz«, in: Ohrt, Roberto (Hg.): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg: Nautilus 1995 [1957], 28-44, 29.

33

34

M AX J AKOB O RLICH

Wie diese Récupération sich vor allem gegen kritische Ansätze richtet, wird am Beispiel DADAs deutlich. DADA war besonders anfällig dafür, in das ›Spektakel‹ integriert zu werden, da die Dadaisten diese Gefahr bei der Methodenentwicklung nicht ausreichend berücksichtigt hatten. DADA übersah das auf sprachlicher Ebene entscheidende Verhältnis von Kritik und Spektakel, von Détournement und Récupération: »Die von der revolutionären Kritik geschmiedeten Worte sind wie die Waffen der Partisanen, die auf einem Schlachtfeld zurückgelassen wurden: sie fallen in die Hände der Konterrevolution. [...] [S]ie werden erneut in Umlauf gebracht, im Dienst der aufrechterhaltenen Entfremdung.«7 Aufgrund der Parallelen zwischen Détournement und Récupération muss diese Erkenntnis jedoch nicht zur Resignation bezüglich der Möglichkeit revolutionärer Veränderung führen, da sich dieser Zusammenhang gegen das Spektakel wenden lässt und somit mit einem Détournement die Basis für weitere Détournements geschaffen werden kann. Denn »das Denken der Macht selbst [wird] in unseren Händen zu einer Waffe gegen sie«8. Vergangene und mittlerweile vom Spektakel appropriierte Kritik9 kann diesem somit durch einen erneuten Détournement wieder entrissen werden und ihr kritisches Potenzial zurückerlangen. Dieser Vorgang wird einleuchtender, wenn man ihn vergleichend sowohl aus der Perspektive des Spektakels als auch aus der Perspektive der Revolution betrachtet. Die Funktionslogiken von Détournement und Récupération ähneln einander: Die Revolution sieht es als ihre Aufgabe an, Appropriiertes zu entwenden. Dies ist aus Sicht des Spektakels jedoch die Appropriation von Entwendetem. Andersherum appropriiert aus Sicht der Revolution das Spektakel Entwendetes, während es sich dabei aus Sicht des Spektakels um die Entwendung von Appropriiertem handelt. Stellt man also die von Spektakel und der Revolution verwendeten Sichtweisen und Begriffe gegenüber, so fallen Détournement und Récupération zusammen. Die Vorgehensweise des Trennens und Neukombinierens, des Aus-dem-KontextReißens und In-einen-neuen-Kontext-Stellens ist bei beiden die gleiche. Détournement und Récupération bezeichnen ein und denselben Vorgang der Appropriation, sie unterscheiden sich letztendlich nur aus Sicht des isolierten einzelnen Akteurs. Dabei kommt es zwangsläufig zu einer spiegelbildlichen Konstellation (im Sinne von Détournement = Récupération und Récupération = Détournement), da von 7 | Khayati, Mustapha: »Die gefesselten Worte (Einleitung zu einem situationistischen Wörterbuch)«, in: Situationistische Internationale (Hg.): Situationistische Internationale 1958-1969. Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistischen Internationale, Hamburg: Nautilus 1977 [1966], Bd. 2, 195-201, 199. 8 | Ebd., 196. 9 | Hierbei bezieht sich die S.I. in erster Linie auf die marxistische Kritik. Dies ist umso interessanter, als sich bereits Marx selbst im Kapital durch die Verwendung ungekennzeichneter Zitate z.B. aus der Bibel oder durch das Sprachspiel mit Genitivus subjectivus und objectivus der Methode des Détournements bediente.

»U NSERE TATEN , DAS WAREN UNSERE TEXTE «

beiden Seiten jeweils der Détournement der eigenen Seite, die Récupération aber der Seite des Gegners zugeordnet wird. Von ihrer bloßen Vorgehensweise betrachtet sind jedoch sowohl der Détournement als auch die Récupération als Appropriation aufzufassen. Die S.I. entwickelt das Konzept der Récupération als Reaktion auf die Vereinnahmung von DADA und Surrealismus durch die Kunstwelt. Die Ausschöpfung des kritischen Potenzials des Détournements, das seit dessen unvollständiger Anwendung durch die historischen Avantgarden immer schwächer wurde, setzt sich nun die S.I. zum Ziel. Der Détournement ist aus Sicht der Situationisten eine »allgemein verbreitete Praxis, die zu systematisieren wir uns anheischig machen.«10 Diese Systematisierung erfolgt auf drei unterschiedlichen Ebenen. Erstens betrifft sie die Methode des Détournements an sich, das heißt seine theoretische Ausarbeitung ausgehend von der Sprache und seine praktische Anwendung auf ebendiese. Zweitens geht es der S.I. darum, die Übertragung des Détournements auf weitere Anwendungsfelder jenseits der Sprache zu ermöglichen. Drittens handelt es sich um die Systematisierung des theoretischen Umfelds, das heißt um die Einbindung des Détournements in den weiteren methodischen Rahmen der S.I. Jeder dieser drei Systematisierungsschritte erfolgt vor dem Hintergrund des Problems der Récupération als der dem Détournement entgegenwirkenden spektakulären Strategie. Dies ist nicht zuletzt aufgrund der Verbundenheit dieser beiden Arten von Appropriation dringend notwendig, da sie sich wechselseitig eben nicht nur aufheben, sondern auch ergänzen und erklären. Die Récupération, wie sie DADA und der Surrealismus, aber auch andere theoretische Kritikansätze erfahren haben, ist der Ausgangspunkt, von dem aus die S.I. ihren Détournement entwickelt. Beim Détournement der S.I. handelt es sich um einen Détournement zweiter Ordnung: Die Methode an sich war bereits bei den historischen Avantgarden erkennbar, sie verlor jedoch aufgrund mangelnder Ausarbeitung ihr kritisches Potenzial und soll mit Hilfe eines erneuten, systematischeren Détournement dem Spektakel und der Récupération wieder entrissen werden.

W EITERFÜHRUNG : D IE S PRACHE ALS S PIELWIESE DER K RITIK Den Ausgangspunkt zur Systematisierung des Détournements bildet für die S.I. die Sprache, da diese in besonderem Ausmaß vom Spektakel in Beschlag genommen ist: »Denn im Sprachgebrauch wohnt die Macht.«11 Die Sprache dient nach Auffas-

10 | Debord/Wolman: »Die Entwendung: eine Gebrauchsanleitung«, 331. 11 | Khayati: »Die gefesselten Worte«, 195. Hier wird die Mehrdimensionalität des Détournements abermals deutlich: Im Rahmen der Entwicklung dieser Methode kommt sie bereits selbst zur Anwendung, wie hier in Form eines Détournement von Heideggers »Die Sprache ist das Haus des Seins.«

35

36

M AX J AKOB O RLICH

sung der S.I. der spektakulären Macht, da diese ihrerseits die Sprache zerstückele und spektakulär zusammensetze und somit das in der Sprache enthaltene Kritikpotenzial verhülle. Die Sprache werde von den bestehenden Machtstrukturen zur Verbreitung und zur Befestigung des Status quo benutzt. Somit lässt sich auch in Bezug auf die Sprache die Gegenüberstellung von spektakulärer Passivität und der von der S.I. angestrebten aktiven Verwirklichung der Menschen erkennen: »Der herrschende Diskurs des Spektakels verdrängt die direkte, aktive Kommunikation zwischen den Menschen und schiebt sich trennend zwischen die atomisierten Individuen, [...] indem sie die Menschen auf reine Empfänger spektakulärer Botschaften reduziert.«12 Statt einer dialogischen habe sich eine hierarchisch-diskursive Struktur etabliert.13 Nach Auffassung der S.I. ist die spektakuläre Macht in Bezug auf die Sprache keine produktive Instanz, denn »[s]ie erzeugt nichts, sie rekuperiert nur«14 . Revolutionäre Kritik ist daher stets der Kampf um eine andere Sprache, denn für die S.I. steht »[d]as Problem der Sprache [...] im Mittelpunkt aller Kämpfe für die Abschaffung bzw. Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Entfremdung.«15 Ausgehend von der sprachlichen Ebene soll ›Gegen-Sinn‹ geschaffen werden, wie dies im (nie verwirklichten) Projekt des situationistischen Wörterbuchs explizit zum Ausdruck kommt, um schließlich »eine direkte Kommunikation einzuführen, die es nicht mehr nötig hat, sich mit dem Kommunikationsnetz des Gegners (d.h. der Sprache der Macht) zu behelfen.«16 Wollte der Surrealismus noch die Poesie in den Dienst der Revolution stellen, so setzt es sich die S.I. umgekehrt zum Ziel, die Revolution in den Dienst der Poesie zu stellen. Der Détournement der herrschenden Sprache »wird die permanente Praxis der neuen revolutionären Theorie werden«17 und muss dabei gleichzeitig »die Verfälschung unserer Theorien und ihre mögliche Rekuperation verbieten.«18 Dass dies nicht immer gelungen ist, zeigt die Récupération des situationistischen Spektakelbegriffs, der seit geraumer Zeit in Form des Medien-Spektakels, des Politik-Spektakels und ähnlichen Formulierungen als Schlagwort in aller Munde Heidegger, Martin: Holzwege (1935-1946). Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 5, Frankfurt/M.: Klostermann 2003, 310. 12 | Baumeister, Biene/Negator, Zwi: Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung. Vol. I: Enchiridion, Stuttgart: Schmetterling 2005, 119. 13 | Vgl. zur Unterscheidung zwischen dialogischen und diskursiven Medien Flusser, Vilém: »Dialogische Medien« und »Diskursive Medien«, in: Wagnermaier, Anne/Röller, Nils (Hgg.): absolute Vilém Flusser, Freiburg: orange press 2003, 135-145 sowie 122-134. 14 | Situationistische Internationale: »All the King’s Men«, in: Dies. (Hg.): Situationistische Internationale 1958-1969, Bd. 2, 37-42, 37. 15 | Ebd. 16 | Ebd., 39. 17 | Khayati: »Die gefesselten Worte«, 195. 18 | Ebd., 200.

»U NSERE TATEN , DAS WAREN UNSERE TEXTE «

ist.19 Dieses Herausgreifen des bloßen Begriffs verdeutlicht auch hier wieder die Trennung und Isolierung als zentrale Technik derjenigen Form von Appropriation, die den kritischen Gedankengang entschärft und für das Spektakel dienstbar macht. Auch wenn der Détournement der Ebene der Sprache entstammt, wird er von der S.I. auf verschiedene Ebenen wie Bild, Layout, Malerei, Plastik, Film, Architektur und urbanistische Praktiken bezogen und dort umgesetzt. Im Hinblick auf die Anwendung der Strategie der Appropriation in der Malerei ist vor allem an die Gemälde von Asger Jorn und die industrielle Malerei von Giuseppe Pinot-Gallizio zu denken. Während Jorn die Methode direkt auf das einzelne Bild anwendet, indem er auf dem Flohmarkt erstandene Kitschgemälde übermalt20, bezieht sich der Détournement von Pinot-Gallizio auf die Ebene der Kunstproduktion als solcher, die er durch seine maschinell in Massenproduktion gefertigten und als Meterware verkauften Bilder als spektakulär kritisiert.21 Es erfolgt somit bei der situationistischen Praxis des Détournements eine Erweiterung sowohl des Sprach- als auch des Bildbegriffs. Dies gilt auch für die Détournements in den filmischen Arbeiten Debords.22 Diese machen auf der Bildebene wie auch auf der Ebene der gesprochenen Sprache vom Détournement Gebrauch. 19 | Vgl. Walther, Rudolf: »Der Ästhet der Subvention«, in: Frankfurter Rundschau vom 15.2.1997, 2 sowie ders.: »Vorsätzlich umherschweifen«, in: Frankfurter Rundschau vom 3.6.2002, 11. 20 | Vgl. Ohrt, Roberto: Phantom Avantgarde. Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst, Hamburg: Nautilus 1997, 208f. und Jorn, Asger: Heringe in Acryl. Heftige Gedanken zu Kunst und Gesellschaft, Hamburg: Nautilus 1993, 45ff. 21 | Vgl. Bandini, Mirella: L’Esthétique, le Politique de Cobra à l’Internationale Situationniste (19471957), Arles: Sulliver Via Valeriano 1998, 106ff.; Pinot-Gallizio, Giuseppe: »Diskurs über die industrielle Malerei und eine anwendbare einheitliche Kunst«, in: Situationistische Internationale (Hg.): Situationistische Internationale 1958-1969, Bd. 1, 106-110 und Niggl, Selima: Pinot-Gallizio. Malerei am laufenden Meter, Hamburg: Nautilus 2007, 58ff. 22 | Vgl. Debord, Guy: Œuvres Cinématographiques Complètes, Neuilly sur Seine: Gaumont Vidéo 2005. So arbeitet Debords erster Film Hurlements en faveur de Sade auf der sprachlichen Ebene mit dem gleichen Détournement, wie er bereits in Mémoires zum Einsatz kam: Jeder Satz, der in dem Film gesprochen wird, ist ein nicht belegtes Zitat aus Literatur, Film, Zeitung, Gesetzestexten usw. (vgl. für das vollständige Filmskript Debord, Guy: Gegen den Film. Filmskripte, Hamburg: Nautilus 1978 [1964]). Dies wird zusätzlich mit einem Détournement auf der Bildebene kombiniert. Letzterer ist wesentlich radikaler, da er nicht mit versteckten Verweisen arbeitet, sondern sich in dem Sinne gegen den Film richtet, dass er ganz auf Bilder verzichtet. Während verschiedene Personen den Text sprechen, ist die Leinwand weiß; wird hingegen wie in den letzten 24 Minuten des Films geschwiegen, so bleibt sie dunkel. Auch wenn dieser Détournement zunächst sehr wirkungsvoll war, so lebte er doch von der Einmaligkeit des Schockmoments und konnte schnell der Récupération zum Opfer fallen. Daher geht Debord bei seinen nächsten zwei Filmen Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps und Critique de la séparation dazu über, den Détournement auf sprachlicher Ebene auch auf der Bildebene durchzuführen, indem er seine Filme aus bestehenden Sequenzen zusam-

37

38

M AX J AKOB O RLICH

Kommen wir zurück zur Ebene der Sprache. Dort unterscheidet die S.I. streng zwischen dem gekennzeichneten Zitat (das abgelehnt wird, da ihm das kritische Potenzial fehle) und dem ungekennzeichneten Plagiat (das es aufzugreifen gelte). Den Ausgangspunkt hierfür bilden die eingangs zitierten Ausführungen zum Plagiat von Lautréamont. Sie eignen sich besonders gut, da sie bestreiten, dass die Kritik vollständig und dauerhaft vom Spektakel angeeignet werden kann. Vielmehr ist bereits bei Lautréamont die Idee eines Fortschreitens im Wechsel von Détournement und Récupération erkennbar, was Debord aufgreift: »Die Ideen verbessern sich. Der Sinn trägt dazu bei. Das Plagiat ist notwendig. Der Fortschritt impliziert es. Es hält sich dicht an den Satz eines Verfassers, bedient sich seiner Ausdrücke, beseitigt eine falsche Idee, ersetzt sie durch eine neue.«23 Bezeichnend ist hier, dass es sich auch bei dieser Stelle in Debords Text um ein nicht gekennzeichnetes Zitat von Lautréamont handelt, dass also die erläuterte Methode bereits angewendet wird. Auch dies verweist auf die von der S.I. stets betonte Wichtigkeit der Verbindung von Theorie und Praxis: Eine Methode wird nicht nur theoretisch, sondern zugleich auch praktisch eingeführt. Die Theorie der Praxis wird in der Praxis der Theorie entwickelt.

menschneidet. Zusätzlich arbeitet er mit einer vielschichtigen Bild-Text- und Sprech-Text-Collage, um die zentrale Bedeutung der Sprache herauszuarbeiten: »Man sieht Text auf der Leinwand, liest im Untertitel einen anderen Text und hört gleichzeitig eine Stimme, die noch mehr Theorie dazuspricht. Die Sprache triumphiert im Moment ihres Zerreißens über ihre Konsumenten.« (Ohrt, Roberto: »Einleitung: Die Kunst war abgeschafft«, in: Ders. (Hg.): Das grosse Spiel. Die Situationisten zwischen Politik und Kunst, Hamburg: Nautilus 2000, 5-26, 19) Debords Filme erreichen somit einen hohen Komplexitätsgrad, nicht zuletzt, weil sie auf zwei Ebenen mit dem Détournement arbeiten und dadurch einen dritten Détournement erzeugen: Die jeweils bereits dekontextualisierten und rekontextualisierten Elemente der Ton- und Bildspur werden miteinander in Verbindung gebracht und erzeugen so nochmals neue Bedeutung. Auch in der Verfilmung von Die Gesellschaft des Spektakels setzt sich das Bildmaterial vollständig aus Détournements zusammen, während dies auf der sprachlichen Ebene nur indirekt der Fall ist: Hier werden Auszüge aus dem gleichnamigen Buch gelesen, die zwar an sich teilweise Détournements darstellen, aber nicht erneut entwendet werden. Mit dieser Verfilmung stellt Debord einerseits sich selbst in die Tradition von Eisenstein, der das nie umgesetzte Projekt der Verfilmung des Kapital konzipiert hatte (vgl. Kluge, Alexander: Nachrichten aus der ideologischen Antike: Marx Eisenstein ›Das Kapital‹, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008), und andererseits stellt er Die Gesellschaft des Spektakels in die Tradition des Kapital. 23 | Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Tiamat 1996 [1967], 175f.

»U NSERE TATEN , DAS WAREN UNSERE TEXTE «

A PPROPRIATIONEN 1: G UY D EBORDS D IE G ESELLSCHAFT DES S PEKTAKELS UND M ÉMOIRES Vor allem die Schriften Debords sind von sprachlichen Détournements geprägt und führen diese ebenso spielerische wie ambitionierte Methode – die auch ein wenig an die Sprachexperimente der Gruppe OuLiPo, allen voran von Georges Perec, erinnert – eindrucksvoll vor. Zu nennen ist hier zum einen Die Gesellschaft des Spektakels, in der die Bedeutung der ungekennzeichneten Zitate deutlich erkennbar ist. Doch werden in diesem zentralen Text nicht nur die theoretischen Positionen zum Détournement bzw. zur Appropriation in Anlehnung an Lautréamonts Ausführungen zum Plagiat entwickelt. Vielmehr spielt die Appropriation anderer Autoren bis in die Kernthesen von Die Gesellschaft des Spektakels hinein auch auf der Ebene der Textkonstruktion eine entscheidende Rolle. So heißt es gleich zu Beginn des Textes: »Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist einer Vorstellung gewichen. [...] Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen. [...] In seiner Totalität begriffen ist das Spektakel zugleich das Ergebnis und die Zielsetzung der bestehenden Produktionsweise.« 24

Debord betont also die direkte Verbindung, die zwischen dem Spektakel und der Produktionsweise in der Gegenwartsgesellschaft angenommen wird. Dieser Aspekt steht in Die Gesellschaft des Spektakels nicht nur inhaltlich im Mittelpunkt, sondern bestimmt auch das Konstruktionsprinzip und damit auch den Sound des Textes selbst. So stammt im obigen Zitat lediglich ein Satz von Debord selbst, die anderen drei sind abgewandelte, nicht gekennzeichnete Zitate von Marx und Hegel.25 Dieses Prinzip zieht sich durch den gesamten Text, wobei sich Debord neben Marx und Hegel auch bei Lukács, Freud und Bataille bedient.26 Die Spektakeldiagnose der S.I. wird somit sowohl inhaltlich als auch formal eng mit der Politischen Ökonomie von Marx verknüpft, um die wirtschaftliche Bedingtheit des Spektakels herauszuarbeiten. Diese wirtschaftliche Ableitung des Spektakels bietet für die S.I. den Ausgangspunkt dafür, »die theoretische Kritik an der Gesellschaft mit der handelnden Kritik 24 | Ebd., 13f. 25 | Die Marx-Passagen finden sich in Marx, Karl/Engels, Friedrich: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin (Ost): Dietz 1968 [1867], Bd. 1, 49 und 793. Der letzte Satz des obigen Zitats Debords ist ein Verweis auf eine Hegel-Einführung, vgl. Kojève, Alexandre: Introduction à la lecture de Hegel, Paris: Gallimard 1947. 26 | Vgl. hierzu Anonym: Relevé des citations ou détournements de ›La Société du Spectacle‹, Paris: Farandola 2003 sowie Jappe, Anselm: Guy Debord, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1999, 60 Anm. 27.

39

40

M AX J AKOB O RLICH

an dieser Gesellschaft zu verbinden«27 und deutlich zu machen, dass die Aufhebung sowohl der Kunst als auch des Spektakels nur in Verbindung mit einer proletarischen Revolution erfolgen kann.28 Dies verdeutlicht den engen Zusammenhang, den die S.I. zwischen Spektakel, Kritik des Spektakels und Récupération sieht: Die ursprünglich kritische Position von Marx wurde nach und nach durch die spektakuläre Récupération ihres revolutionären Potenzials beraubt und appropriiert. Um diese Theorie für die Kritik am Spektakel wieder nutzbar zu machen, muss sie weiterentwickelt und auf sie das Verfahren des Détournements angewendet werden. In der Entwicklung der situationistischen Gesellschaftsdiagnose kommen somit bereits die daraus abzuleitenden Methoden zur Anwendung, ist doch Die Gesellschaft des Spektakels im Grunde nichts als ein Détournement von Marx’scher und Hegel’scher Theorie. Debord deutet genau diese Vorgehensweise in seinem Text selbst an: »Dieses theoretische Bewußtsein der Bewegung, in dem die Spur der Bewegung selbst gegenwärtig sein muß, äußert sich durch die Umkehrung der etablierten Beziehungen zwischen den Begriffen und durch die Entwendung aller Errungenschaften der früheren Kritik.«29 Auch Debords Autobiografie Mémoires30 ist bezüglich der Praxis der Appropriation ein interessantes Beispiel.31 Hier besteht der gesamte Text aus Détournements, 27 | Viénet, René: »Die Situationisten und die neuen Aktionsformen gegen Politik und Kunst«, in: Situationistische Internationale (Hg.): Situationistische Internationale 1958-1969, Bd. 2., 279-284, 279. 28 | Vgl. Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, 172f. 29 | Ebd., 174 [Herv. i. O.]. 30 | Vgl. hierzu u.a. Donné, Boris: (Pour mémoires) Un essai d’élucidation des mémoires de Guy Debord, Paris: Allia 2004. 31 | Zu erwähnen ist hier zudem noch die erste größere Publikation unter Beteiligung von Debord aus dem Jahr 1957 Fin de Copenhague (vgl. Jorn, Asger/Debord, Guy: Fin de Copenhague, Paris: Allia 2001 [1957]). Diese entstand, genau wie wenig später Mémoires, in enger Zusammenarbeit mit Jorn, wurde allerdings als Werk von Jorn publiziert, während Debord nur als »conseiller technique pour le détournement« geführt wird. Auch bezüglich der vom Détournement geprägten Konstruktionsweise gibt es enge Parallelen zwischen den beiden Kooperationen. Sowohl Fin de Copenhague als auch Mémoires sind wichtige Vorläufer heutiger Appropriationen. Zugleich sind diese beiden Werke mit klassischen Genres aus Kunst und Literatur wie etwa dem Cento vergleichbar. Heutige Appropriationen nehmen hingegen häufig nicht mehr nur einzelne Versatzstücke, sondern ein gesamtes Werk als Grundlage der Appropriation. Diese Vorgehensweise lässt sich mit den gängigen Begriffen schlecht fassen: Es handelt sich nicht um einen Zitatflickenteppich wie bei Debord und auch nicht um eine Montage oder Collage; es ist keine Intertextualität im Sinne Genettes; aufgrund des Umfangs ist es auch kein Zitat; als Plagiat lässt es sich ebenfalls nicht beschreiben, da in den meisten Fällen vollständiger Appropriation klar ist, dass es sich um Texte fremder Autoren handelt (vgl. Tomasz Waszaks Beitrag im vorliegenden Band). Diese Appropriationen mögen einerseits radikaler erscheinen, allerdings ist von der situationistischen Warte aus das kritische Potenzial der reinen Übernahme überschaubarer, da diese die Möglichkeiten der Setzung von ›Gegen-Sinn‹ durch Rekombination ungenutzt lassen. Der

»U NSERE TATEN , DAS WAREN UNSERE TEXTE «

kein einziger Satz stammt von Debord selbst. Diese Produktionsweise wird sogar auf dem Deckblatt angekündigt: »Cet ouvrage est entièrement composé d’éléments préfabriqués.«32 Zudem sind auf der Ebene des Schriftsatzes deutliche Anleihen bei der dadaistischen Collage erkennbar, und die verschiedenen Texte werden keinem vereinheitlichenden Layout unterworfen: Schriftgröße, Schrifttypen, Schriftsatz variieren; einige Texte wirken wie abgetippt, die meisten aber werden in ihrer originalen Typografie collagiert und somit in ihrer Materialität respektiert.33 Die Spuren der Quelltexte sind also auch in Mémoires als Erinnerungen sichtbar. Mémoires enthalten noch eine weitere Ebene des Détournements, die die vielfältige Anwendbarkeit dieser Methode verdeutlicht und zum zweiten Aspekt ihrer Systematisierung durch die S.I. führt: Neben den von Jorn gemalten sogenannten Trägerstrukturen34 wird auch auf der grafischen bzw. der Bildebene mit dem Détournement gearbeitet. Dabei kommen »alle Elemente des Pop, Werbung, Comic-Strips, Aufrufe«35 zum Einsatz, was wiederum als Anknüpfung an die dadaistische Collage aufzufassen ist. Zugleich wird erneut deutlich, dass für die S.I. unter Sprache »nicht nur die gesprochene und geschriebene Sprache zu verstehen [ist], sondern sämtliche symbolischen, bildlichen und gestischen Äußerungen«36. Auch das Erscheinungsdatum von Mémoires ist auffällig: Debord veröffentlicht sie 1958, also bereits im Alter von knapp 27 Jahren und zu einem Zeitpunkt, an dem die S.I. gerade einmal ein Jahr existiert. Zudem sind Mémoires überhaupt das erste von Debord publizierte Buch. Steht die Autobiografie gewöhnlicherweise am Ende der Schaffensperiode eines Autors, so bildet sie bei Debord gerade den Auftakt. Auch hier lässt sich daher bereits ein Détournement bestehender Konventionen erkennen. Dennoch steht der Aspekt des Sich-Erinnerns im Mittelpunkt von Mémoires. Sie beginnen mit dem Satz: »Me souvenir de toi? Oui, je veux.«37 Genau Akt der Appropriation, die Form an sich besitzt kritisches Potenzial, der Inhalt für sich genommen jedoch nicht. 32 | Debord, Guy/Jorn, Asger: Mémoires, Paris: Allia 2004 [1958], o. S. In diesem Reprint des Originals findet sich am Ende eine 1986 von Debord erstellte Liste, die die Herkunft einiger Textpassagen aufdeckt. Vgl. Marcus, Greil: »Guy Debord’s ›Mémoires‹: A Situationist Primer«, in: Sussman, Elisabeth (Hg.): On the Passage of a Few People through a Rather Brief Moment in Time: The Situationist International 1957-1972, Cambridge/London: MIT Press 1989, 124-131. 33 | Darin liegt ein klarer Unterschied zwischen Mémoires und literarischen Formen wie dem Cento, der genau diesem materiellen Aspekt seiner Quellen keine Aufmerksamkeit schenkt. 34 | Die Trägerstrukturen sind anders als der Text nicht in Schwarz-Weiß, sondern in Farbe gedruckt. Es handelt sich dabei um Farblinien, -tupfer, -spritzer und -flecke, die die Bild-Text-Collagen Debords ergänzen. Manchmal verbinden sie Bilder und Texte, manchmal überlagern sie sie, manchmal stehen die beiden Ebenen scheinbar unverbunden nebeneinander. 35 | Ohrt: »Einleitung: Die Kunst war abgeschafft«, 15. 36 | Baumeister/Negator: Situationistische Revolutionstheorie, 117. 37 | Debord/Jorn: Mémoires, o. S.

41

42

M AX J AKOB O RLICH

dieses Sich-Erinnern ist jedoch nicht nur als Inhalt oder Thema des Textes zu verstehen, sondern wird durch dessen Konstruktionsprinzip auch als grundlegendes Paradox herausgearbeitet. Ein Sich-Erinnern in Détournements, mit geliehenen Worten, erscheint zunächst widersinnig. Doch zugleich verweist es darauf, dass es Debord darum geht, mit den Worten der Toten die Vergangenheit der Lebenden zu begraben. Ein Begraben allerdings nicht als Verdrängung, sondern als Bewahren dieser verschwundenen Vergangenheit für zukünftige Projekte. Debords Entscheidung, seine eigenen Erinnerungen in den Worten anderer zu formulieren, lässt sich zudem mit seiner Leidenschaft für das Verschwinden, für die Klandestinität, für die Untergrabung bestehender Vorstellungen von Autorschaft in Zusammenhang bringen.

A PPROPRIATIONEN 2: D IE Z EITSCHRIFT I NTERNATIONALE S ITUATIONNISTE Auch die Zeitschrift der Situationisten, Internationale Situationniste (I.S.), ist auf verschiedenen Ebenen als Praxis der Theorie des Détournements bzw. der Appropriation zu verstehen. Zum einen ist hier das gesamte Erscheinungsbild der I.S. zu nennen. Denn während es sich bei potlatch, dem Vorgängerblatt der Lettristischen Internationale, noch um eine mit Schreibmaschine getippte und dann hektografierte Blattsammlung handelte, ist die Gestaltung der I.S. sehr aufwendig: »Mit gesetzter Typographie, vielen Illustrationen, dem Umfang einer Broschüre und ChromoluxMetallic Cover übertraf die Internationale Situationniste die meisten gängigen Publikationen der Kunstwelt ihrer Zeit. Man konnte es sogar mit den kostspieligen Produkten aufnehmen, die sich die Industrieverbände leisten, um ihre Unternehmen auf dem Laufenden zu halten.« 38

Die Situationisten wählen bewusst das Design des spektakulären Gegners und entwenden es für ihre eigene, kritische Publikation, die somit eine Art ›Wolf im Schafspelz‹ darstellt. Hierin ist eine deutliche Parallele zu den Publikationen der Surrealisten zu sehen, nur dass sich diese nicht bei Wirtschafts-, sondern Wissenschaftspublikationen bedienten.39 Ein weiterer Détournement im Rahmen der I.S., der zur Verbreitung der Ideen der Gruppe beitragen soll, ist in dem in jeder Ausgabe abgedruckten Anti-Copyright zu sehen. Dies ist zunächst ein Détournement der sich auf immer weitere Bereiche

38 | Ohrt: »Einleitung: Die Kunst war abgeschafft«, 23. 39 | Vgl. dazu Orlich, Max Jakob: »Praxis der Theorie: Die Zeitschrift der Situationistischen Internationale«, in: Krause-Wahl, Anja/Söll, Änne (Hgg.): Künstlerzeitschriften und ihre visuellen Strategien (in Vorbereitung).

»U NSERE TATEN , DAS WAREN UNSERE TEXTE «

ausbreitenden Tendenz zum Schutz geistigen Eigentums.40 Das Anti-Copyright ist dabei auch im Zusammenhang mit der Herstellungsweise dieser Publikation von Bedeutung. Die Ablehnung der Kategorie des geistigen Eigentums durch ein solches AntiCopyright wird bei der I.S. dadurch ergänzt und bestärkt, dass sie in kollektiver Redaktion entsteht. Die Appropriation fremder Texte findet in der I.S. also nicht nur als Aneignung fremder Texte, sondern auch zwischen den Mitgliedern im Sinne der gemeinsamen Textproduktion und der Weiter- und Wiederverwendung von Texten und Textteilen anderer Mitglieder statt. Das Geschriebene wehrt sich gegen die Einordnung in die Kategorie des geistigen Eigentums, die Signatur des Verfassers verliert an Bedeutung. Zwar wird Debord bei allen zwölf Ausgaben als Chefredakteur angegeben, allerdings sieht die S.I. dies als rein rechtliche Formalität an.41 Neben dem Chefredakteur werden in den einzelnen Ausgaben als Mitarbeiter stets die Mitglieder des Redaktionskomitees angegeben. Betont wird also der gemeinschaftliche Aspekt der Theorieproduktion: »Wenn sich die S.I. anfänglich dafür entschieden hat, den Akzent auf den kollektiven Aspekt ihrer Aktivität zu legen und den größten Teil ihrer Texte relativ anonym zu präsentieren, dann deswegen, weil wirklich ohne diese Kollektivität nichts von unserem Projekt hätte formuliert und ausgeführt werden können, und weil es die Herausstellung einiger persönlicher Berühmtheiten unter uns zu verhindern galt, die das Spektakel dann gegen unser gemeinsames Ziel hätte manipulieren können.« 42

Für das Modell der anonymen bzw. kollektiven Autorschaft43 sprechen also sowohl äußere Faktoren und theoretische Überlegungen als auch gruppeninterne Aspekte und die tatsächliche Gruppenpraxis, da die in der I.S. abgedruckten Texte als das 40 | Dieser Gedanke ist auch bei heutigen Appropriationen zu finden. Bei der Copyleft-Bewegung steht er sogar im Zentrum. So stellt zum Beispiel Antoine Lefebvre bei seinem Projekt La Bibliothèque Pirate unter Missachtung jeglichen Copyrights vergriffene oder schwer erhältliche Bücher im Internet zur Verfügung. Interessanterweise sind unter diesen Werken neben Schriften von DADA auch die wichtigsten Texte der S.I. zu finden. La Bibliothèque Pirate wird ergänzt durch La Bibliothèque Fantastique, bestehend aus neuen Werken Antoine Lefebvres und anderer Autoren, die allesamt explizit ohne Copyright erscheinen. Vgl. www.labibliothequefantastique.net 41 | Vgl. Debord, Guy: Correspondance. Vol. 4: janvier 1969-décembre 1972, Paris: Fayard 2004, 102. 42 | Situationistische Internationale (Hg.): Die wirkliche Spaltung in der Internationalen, Düsseldorf: Projektgruppe Gegengesellschaft 1973, o. S. 43 | Das Phänomen der anonymen oder beinahe anonymen Autorschaft findet sich auch bei einigen zeitgenössischen Appropriationen: So taucht Simon Poppers Name bei seiner alphabetisch sortierten Version von James Joyces Ulysses nur als Initiale auf einem Vorblatt auf (vgl. Popper, Simon: Ulysses, Brugge: Die Keure 2006). Sherrie Levine kehrt dieses Spiel um: Sie setzt ihren Namen auf eine textlich unveränderte Neuausgabe von Gustave Flauberts Un cœur simple – und dankt Flaubert im Impressum, vgl. Levine, Sherrie: gustave flaubert. un cœur simple, Gent: Imschoot Uitgevers 1990.

43

44

M AX J AKOB O RLICH

Ergebnis gemeinsamen Denkens und Diskutierens innerhalb der Gruppe aufgefasst werden müssen: »In diesem Bulletin ist die kollektive Redaktion die Regel. Auch die wenigen persönlich verfassten und unterzeichneten Artikel sind als für alle unsere Genossen interessant und als besondere Punkte ihrer gemeinsamen Forschungsarbeit zu betrachten. Wir sind gegen das Fortleben solcher Formen wie der der literarischen oder der Kunstzeitschrift.« 44

Auch bei den von einzelnen Mitgliedern signierten Artikeln wird immer wieder deutlich, dass diese nicht nur als Ergebnis der gemeinsamen Arbeit und des Ideenaustauschs angesehen werden, sondern dass sie meist tatsächlich in diesem Austausch als wirkliche Zusammenarbeit entstehen. So betont Debord gegenüber Constant im Hinblick auf seinen Artikel L’I.S. après deux ans45, der 1959 in potlatch erscheinen sollte, aber letztendlich doch nicht veröffentlicht wurde: »Ci-joint un texte, que tu peux naturellement changer comme tu voudras.«46 Weiter heißt es: »D’ailleurs, je te laisse libre de corriger comme tu veux, ou même de supprimer cet article.«47 Auch die weitere Verwendung von Artikeln, die von einzelnen Mitgliedern verfasst wurden, ist ausdrücklich erwünscht, allerdings ist dies explizit mit der Forderung nach dem Verzicht auf einen Quellenverweis verbunden: »[J]e considère tout ce que nous écrivons comme un matériel communautaire mais justement, en ne mettant aucune mention: extrait de…«48 Die von Mitgliedern der S.I. verfassten Texte stehen also zur weiteren Ver- oder Entwendung zur Verfügung. Diese Art und Weise des Umgangs mit den gemeinsamen Texten entspricht dabei genau derjenigen des Détournements auf Textebene

44 | Situationistische Internationale: »Editorial«, in: Dies. (Hg.): Situationistische Internationale 19581969, Bd. 1, 6. 45 | Vgl. Debord, Guy: »L’I.S. après deux ans«, in: Ders. (Hg.): Œuvres, Paris: Gallimard 2006 [1959], 495-496. 46 | Debord, Guy: Correspondance. Vol. 1: juin 1957 – août 1960, Paris: Fayard 1999, 241. 47 | Ebd., 261. 48 | Debord: Correspondance. Vol. 1: juin 1957 – août 1960, 284. – Dieser Verzicht auf Quellenverweise ist bis heute bei Appropriationen sehr beliebt. Zu denken ist hier unter anderem an Ulises Carrión, der sich umfangreich mit der Frage des Plagiierens auseinandergesetzt hat. Vgl. hierzu u.a. Carrión, Ulises: »The New Art of Making Books«, in: Schraenen, Guy (Hg.): Ulises Carrión. We have won! Haven’t we?, Amsterdam: Idea Books 1992, o. S. sowie Gilbert, Annette: »Geliehene Sonette. Appropriationen des Sonetts im Conceptual Writing (Dmitrij Prigov, Ulises Carrión, Michalis Pichler)«, in: Greber, Erika/ Zemanek, Evi (Hgg.): Sonett-Künste. Mediale Transformationen eines klassischen Genres, Dozwil: Edition Signathur 2012, 455-489.

»U NSERE TATEN , DAS WAREN UNSERE TEXTE «

bzw. Debords in Anlehnung an Lautréamont entwickelter scharfer Unterscheidung von Plagiat und Zitat.49 Der Umgang mit den in der Gruppe produzierten Texten ist also einerseits ein sehr freier, andererseits ist diese Freiheit genau reglementiert und orientiert sich strikt an der eigenen theoretischen Methode des Détournements. Wird ein Text dann doch entgegen dieser Vorgaben verwendet, führt dies zu Auseinandersetzungen.50 So hat Constant Debords Aufsatz Constant et la voie de l’urbanisme unitaire51, auf den sich die obigen Ausführungen zum Charakter der Texte als »matériel communautaire« beziehen, später in gekürzter Fassung, aber doch mit der Signatur von Debord veröffentlicht.52 Somit hat er jedoch Debords Text als Zitat und nicht als Détournement genutzt und daher die theoretischen Vorgaben missachtet. Auch wenn also mit der Aufforderung zum Détournement durch Weiterverwendung, Überarbeitung, ungekennzeichneter Zitation etc. die Kategorie des geistigen Eigentums und die des Autors in Frage gestellt werden soll, so ist doch erkennbar, dass diese Kategorien letztendlich nicht vollständig überwunden werden können. Denn bei Debord ist es – da er selbst für die theoretische Ausarbeitung des Konzepts des sprachlichen Détournements verantwortlich zeichnet – indirekt immer noch der Autor, der entscheidet, wie die Freiheit im Umgang mit seinem Text ausgestaltet werden soll. Diese verbleibende Machtposition des geistigen Eigentümers wird dann besonders deutlich, wenn die Texte wirklich frei, das heißt im Zweifelsfall auch gegen die theoretischen Vorgaben verwendet werden. 49 | Vgl. Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, 176 und Situationistische Internationale: »All the King’s Men«, 40. – Das Plagiat als Appropriation fremder Texte oder Textfragmente ohne Quellenangabe kann deren kritisches Potenzial erneuern, stellt geistiges Eigentum und theoretische Autoritäten in Frage, während das Zitat mit Angabe der Quelle lediglich das bestehende Ideengefüge und dessen Urheber befestigt. Dem spielerisch-kreativen Umgang mit Texten und Ideen beim Plagiieren und Appropriieren steht der theoretisierende und wissenschaftliche Umgang mit Quellen beim Zitieren gegenüber. Mit Blick auf die Poesie formuliert die S.I.: »Die Poesie ist nichts, wenn sie zitiert wird – sie kann nur zweckentfremdet wieder ins Spiel gebracht werden. Sonst ist die Kenntnis der alten Poesie eine bloße, den Gesamtfunktionen des Universitätsdenkens zugehörige Hochschulübung«. Ebd. 50 | Vgl. beispielhaft zu einer solchen Auseinandersetzung zwischen Debord und Constant: Orlich, Max Jakob: Situationistische Internationale. Eintritt, Austritt, Ausschluss. Zur Dialektik interpersoneller Beziehungen und Theorieproduktion einer ästhetischpolitischen Avantgarde (1957-1972), Bielefeld: transcript 2011, 135 sowie allgemein zur Streitkultur der S.I.: Ders.: »›Don’t be nice it’s the kiss of death‹. Streitlust und Streitkultur der Avantgarden«, in: Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen (Hgg.): StreitKulturen. Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart, Bielefeld: transcript 2008, 97-124. 51 | Debord, Guy: »Constant et la voie de l’urbanisme unitaire«, in: Ders. (Hg.): Œuvres, 445-451. 52 | Vgl. die Kritik der S.I. daran in: Situationistische Internationale: »Situationistische Nachrichten«, in: Dies. (Hg.): Situationistische Internationale 1958-1969, Bd. 1, 127-130 sowie die Reaktion von Constant in: »Brief an Guy Debord, 2.8.1960«, Archive Constant, RKD, Den Haag 1960.

45

46

M AX J AKOB O RLICH

A PPROPRIATIONEN 3: D IE A PPROPRIATION DES A PPROPRIIERTEN Das Anti-Copyright ist aber auch nach außen bzw. in die Zukunft gerichtet und bringt die Angst vor der Récupération der situationistischen Ideen zum Ausdruck. Mit dem Anti-Copyright wird dazu aufgefordert, die bereits durchgeführten Détournements aufzugreifen und sie wiederum zum Ausgangspunkt eines Détournements zu machen. Diese Aufforderung zum Détournement soll dazu beitragen, vom Spektakel bereits angeeignete Kritik erneut nutzbar zu machen oder sogar durch das ständige Geistig-in-Bewegung-Bleiben eine Récupération zu verhindern. Dass diese Aufforderung zum erneuten Détournement wahrgenommen wurde und Wirkung zeigt, wird zum Beispiel beim Blick auf die Begrifflichkeiten verschiedener poststrukturalistischer Autoren deutlich, die sich teilweise umfangreich beim situationistischen Gedankengut und Vokabular bedienen und dieses in ihre jeweilige Theorie aufnehmen und es dort weiterentwickeln, ohne dabei explizit auf diese Bezugnahme oder auf die S.I. zu verweisen. Auch sie appropriieren somit die S.I. anstatt sie zu zitieren, sie verwenden sie nicht als Quelle, sondern als Material. Während eine Quelle immer an einen Urheber, einen Autor gekoppelt ist und in Form des Zitats weiterverwendet wird, ist das Material eigenständiger, es kann oder muss ohne Referenz in Gestalt des Plagiats zur Grundlage neuer Ideen gemacht werden. Zumindest teilweise werden die Ideen der Situationisten in dieser Weise kreativ genutzt, zerstückelt, neu zusammengesetzt – ohne dabei ihre Urheber als Gewährsmänner auf einen Sockel zu heben.53 Die Appropriation der situationistischen Appropriateure nimmt deren Kritik am geistigen Eigentum ernst und führt sie fort. Am auffälligsten ist dieser erneute Détournement zentraler situationistischer Konzepte im Bereich soziologischer und philosophischer Theorie wohl bei Jean Baudrillard zu erkennen.54

53 | Dass es auch die gegenläufige Tendenz gibt, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Gerade in Bezug auf Guy Debord ist die Tendenz zur Hagiographie unübersehbar, die sehr viel von dem negiert, was den Situationisten zumindest in den Anfangsjahren zentrales Anliegen war: kreative, kollektive Beweglichkeit. Vgl. hierzu u.a. Guilbert, Cécile: Pour Guy Debord, Paris: Gallimard 1996; Jacquemond, Olivier: Les 3 secrets. En hommage à Guy Debord, Bd. 2, Paris: Sens&Tonka 2005 sowie Merrifield, Andy: Guy Debord, London: Reaction 2005. 54 | Vgl. hierzu allgemein Plant, Sadie: The most radical gesture. The Situationist International in a postmodern age, London/New York: Routledge 1992 sowie explizit zu den begrifflichen Anknüpfungen Baudrillards an die S.I. und ihre Bedeutung für seine Theorie zeitgenössischer Kunst: Danko, Dagmar: Zwischen Überhöhung und Kritik. Wie Kulturtheoretiker zeitgenössische Kunst interpretieren, Bielefeld: transcript 2011, 225ff. und 271ff.

»U NSERE TATEN , DAS WAREN UNSERE TEXTE «

Im Feld der Appropriation Art55 selbst ist vor allem Michaelis Pichler zu erwähnen. In seinen Statements on Appropriation verarbeitet er unter anderem eine Textpassage der These 206 aus Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels. Interessant ist hierbei, dass er eine Passage wählt, die sich auf den Aspekt des Wechselspiels zwischen Détournement und Récupération bezieht bzw. auf die Notwendigkeit der fortschreitenden Appropriation von Appropriiertem hinweist: »Die Entwendung führt die vergangenen kritischen Folgerungen, die zu ehrenwerten Wahrheiten erstarrt sind, d.h. in Lügen verwandelt wurden, wieder der Subversion zu.«56 Diese zeitliche Ebene im Sinne der wiederkehrenden Appropriation wird auch dadurch deutlich, dass Pichler in seinen Statements neben Debord auch Lautréamont entwendet – oder nochmals Debord, der seinerseits die eingangs zitierte Passage Lautréamonts entwendet hatte.57 Die Entwendung des Entwendeten verweist somit aufgrund der fehlenden Zuschreibungsmöglichkeit nochmals auf den entscheidenden Unterschied zwischen Material und Quelle, zwischen Plagiat und Zitat.58 Doch nicht nur in der Theorie, sondern auch beim Blick auf die Praxis wird deutlich, dass der situationistische Aufruf zur Appropriation des Appropriierten Gehör findet. So lassen sich die Sex Pistols und ihr krachender Feldzug gegen die und doch zugleich mit der Musikindustrie als Appropriation situationistischer Ideen lesen, ebenso verschiedene konsumkritische Künstlergruppen im Bereich des urbanen Aktivismus wie das Culture Jamming oder die Street Art, die teilweise umfangreich auf das situationistische Gedankengut und Vokabular zurückgreifen, es weiterentwickelt in ihre jeweilige Theorie aufnehmen, zur Grundlage einer erneuten kritischen Praxis machen und zugleich auch einer neuen Zielgruppe, einer neuen Critical Mass nahebringen.59 Und sie tun dies meist ganz im Sinne der Theorie des Détournements, ohne explizit auf diese Bezugnahme oder auf die S.I. zu verweisen.

55 | Einen guten Überlick über die verschiedenen Felder der Appropriation Art sowie deren Appropriation der Situationisten bietet Dworkin, Craig: »The Fate of Echo«, in: Ders./Goldsmith, Kenneth (Hgg.): Against Expression: An Anthology of Conceptual Writing, Evanston, Ill.: Northwestern University Press 2011, xxiii-liv. 56 | Pichler, Michaelis: »Statements on Appropriation/Statements zur Appropriation«, in: Fillip 11 (2010), 44-47, 45 Statement Nr. 17. Wiederabgedruckt im vorliegenden Band, 27-30. 57 | Vgl. ebd. Statement Nr. 11 oder Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, 175 oder Ducasse: Poésies II, 6. Am Rande sei angemerkt, dass die wissenschaftliche Konvention, hierzu eine Quellenangabe machen zu müssen, den behandelten Inhalt zu negieren scheint. 58 | Diese Vorgehensweise findet sich bei Pichler nicht nur in Bezug auf die Situationisten. Er entwendet zudem in Statement Nr. 14 eine Passage von Kenneth Goldsmith, die ihrerseits wiederum eine leicht abgewandelte Appropriation von Douglas Huebler darstellt. 59 | Vgl. zu den Sex Pistols Marcus, Greil: Lipstick Traces. Von dada bis Punk. Kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert, Hamburg: Rogner&Bernhard 1993 sowie zum Culture Jamming Lasn, Kalle: Culture Jamming. Die Rückeroberung der Zeichen, Freiburg: orange press 2005.

47

48

M AX J AKOB O RLICH

FAZIT Der Détournement als zentrales Merkmal situationistischer Text- (und auch Bild-) Produktion ist ein vielschichtiges Phänomen. Er ist sowohl theoretisches Konzept als auch Praxis – und dies bereits bei der Entwicklung der Theorie. Diese situationistische Theorie und Praxis der Appropriation umfasst dabei stets zwei Richtungen: einen Blick zurück und einen Blick nach vorn; die kritische Aneignung fremder Texte sowie die Aufforderung zur Weiterverarbeitung der eigenen durch kritische Nachfolger. Und zwischen diesen beiden Bewegungen ist noch Raum für die wechselseitige Appropriation der eigenen Texte im Hier und Jetzt der Praxis der Theorieproduktion innerhalb der Gruppe. Doch nicht nur der Détournement lässt sich wie skizziert als Appropriation lesen, auch die Récupération ist als Appropriation zu verstehen, als Appropriation der Kritik durch die spektakuläre Gesellschaft, als Reaktion auf einen Détournement und zugleich als Herausforderung einer erneuten kritischen Wende. Die Appropriation als Wechselspiel von Détournement und Récupération erinnert an ein Frageund-Antwort-Spiel, bei dem die Antwort stets die nächste Frage impliziert und das so Texte und Ideenräume entstehen lässt, die die Grundlage neuer Textproduktion und Appropriationen bildet. Dieses freie Flottieren, die Veränderbarkeit und die Rekombinierbarkeit von Texten und Ideen sind für die Situationistische Internationale ein zentraler Aspekt für die Entwicklung und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Kritik.

Lektürepolitik zwischen Kunst, Aneignung und Literatur – Conceptual Writing Stefan Römer

E INLEITUNG : K ÜNSTLERISCHES S CHREIBEN Die Geschichte der Kunst hat viele unterschiedliche Schreibweisen von Künstlern hervorgebracht: Künstlerbriefe, Tagebücher, Arbeitsnotizen, Rechnungen, Interviews oder auch – vor allem ab dem 20. Jahrhundert – Kunstkritiken, Romane, Konkrete Poesie, Essays und Handlungsanweisungen. In diesem Rahmen nimmt ein Künstler eine besondere Funktion ein: Marcel Duchamps intellektuelle Operationen, die vor allem schriftlich instrumentiert sind, zeitigten unterschiedliche Auflösungserscheinungen des traditionellen Kunstwerkbegriffs. Es gilt, ihre Effekte nicht als historisch abgeschlossen zu betrachten. In unterschiedlichen Denk- und Schreibweisen von Künstlern operieren Duchamp’sche Dispositive weiter – Schreiben agiert dann nicht nur in der Diskussion oder der Publikation von kunsttheoretischen Positionen, sondern kann selbst Kunst werden. Somit geht es im künstlerischen Produktionsprozess nicht so sehr um die Wahl des künstlerischen Mediums, sondern Sprache und Schrift nehmen eine grundsätzliche Bedeutung in der Kunst ein. Ihre Bedeutung für die Kunst wird heute meist unterschätzt. Denn nach den unter anderem von Duchamp eingeleiteten wechselseitigen Austauschprozessen zwischen Kunst und Sprache1 lässt sich seit den 2000er Jahren ein Rückgang des Interesses für linguistische Fragestellungen in der Kunst feststellen. Beide Tendenzen – mit Sprache und Text in der Kunst und mit künstlerischen Verfahren in der Literatur zu operieren – beziehen sich auf spezifische, wechselseitige Aneignungsprozesse. Meine Ausgangsfragen für die vorliegende Lektüre lauten dementsprechend: Wer eignet sich was an? Und: Was heißt überhaupt Aneignung? Wie muss

1 | Vgl. die bedingt tauglichen Begriffsvorschläge der »Lingualisierung der Kunst« und der »Ikonisierung der Sprache« bei Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert oder Vom Anfang der Kunst am Ende der Künste, München/Wien: Hanser 1977.

50

STEFAN R ÖMER

man den Begriff der Aneignung nun angesichts grundlegend veränderter Produktions- und Arbeitsverhältnisse in einer immateriellen Wissenskultur und im digital vernetzten Leben konzipieren? Trotz dieser allgemeinen Ent- und Verwicklungen in der Kunst muss jeder Autor oder Künstler beständig für sein eigenes Schreiben um Anerkennung ringen. Denn es werden standardisierte sprachliche und repressiv-formale publizistische oder universitäre Parameter gefordert, so dass man nicht umhin kommt, sich diese anzueignen, um publizieren zu dürfen. Diese allgemeingültigen Formen der Zurichtung des Denkens und des Schreibens bleiben in der Publikation meist unsichtbar. Meine künstlerische Entscheidung zu schreiben, sehe ich in diesem Zusammenhang als strategisch. Denn meine Beschäftigung mit der Produktion von Bedeutung und den Machtverhältnissen mithilfe von Begriffen und ihren Performanzen in der Kunst folgt meinem Interesse. Der vorliegende Essay agiert de-konzeptuell im akademischen sowie im künstlerischen Feld.

L ITERARISCHE A NEIGNUNG : C ONCEPTUAL WRITING Mit dem Begriff des »Conceptual Writing« begründet sich eine aktuelle Bewegung in der Literatur.2 Wie der Autor Kenneth Goldsmith in einem programmatischen Text schreibt: »Conceptual Writing rarely ›looks‹ like poetry and uses its own subjectivity to construct a linguistic machine that words may be poured into; it cares little for the outcome.«3 In seinem Text Uncreativity as a Creative Process führt er weiter aus: »The object of the project is to be as uncreative in the process as possible.«4 Mit dieser expliziten Zurückweisung des Mythos des Kreativen deklariert er ihn für seine Literatur als wertlos und referiert künstlerische Positionen: »Almost 100 years ago, the visual arts came to terms with this issue in Duchamp’s ›Urinal‹. Later, Warhol, then Koons extended this practice.«5 Allerdings scheint mir die Nivellierung des Unterschieds zwischen Duchamps sowie Warhols oder Koons’ Arbeiten eher fahrlässig. Denn angesichts des umfang2 | Auf der Website http://www.ubu.com/concept/ finden sich unter dem Schlagwort »Conceptual Writing« Konzeptkünstler der ersten Generation wie: Vito Acconci, John Baldessari, Victor Burgin, Terry Atkinson and Michael Baldwin, Lawrence Weiner, Joseph Kosuth und Dan Graham, aber auch John Cage, Gertrude Stein u.a. Die Textauswahl erstreckt sich vor allem auf abstrakte Textbilder oder wie Konkrete Poesie anmutende Beispiele. 3 | Goldsmith, Kenneth: »Flarf is Dionysus. Conceptual Writing is Apollo. An introduction to the 21st Century’s most controversial poetry movements«, in: Poetry 7/8 (2009), online: http://www. poetryfoundation.org/poetrymagazine/article/237176 vom 6.10.2011. 4 | Goldsmith, Kenneth: »Uncreativity as a Creative Process«, in: drunken boat. an online journal of the arts 5 (2002/03), http://www.drunkenboat.com/db5/goldsmith/uncreativity.html vom 6.10.2011. 5 | Ebd.

L EKTÜREPOLITIK ZWISCHEN K UNST, A NEIGNUNG UND L ITERATUR – C ONCEPTUAL W RITING

reichen Diskurses über das Readymade, die Affirmation und die Appropriation Art, aber auch hinsichtlich der drei stark differierenden künstlerischen Arbeitssowie Präsentationsweisen erscheint Goldsmith’ Argumentation reduktionistisch. Goldsmith fragt provokant in Bezug auf die Kunst (Duchamp) und die Musik (John Oswald, John Cage): »why hasn’t straight appropriation become a valid, sustained or even tested literary practice?«6 Mit »straight appropriation« meint er vermutlich eine direkte Aneignung ohne Veränderungen – wie sie auch im Conceptual Writing selten vorkommt. Dass es die in der Literatur zuvor nicht gegeben haben soll, erscheint fragwürdig. Denn abgesehen davon, dass eine ganze Generation von Autoren sich auf die Zweckentfremdung der Situationistischen Internationale (S.I.)7 und die Cut up-Methode von William S. Burroughs bezieht, in der Zeitungstexte oder Alltagstexte (Werbung, Fahrkarten, Etiketten etc.) sowie akustische Aufnahmen angeeignet und zu Literatur weiterverarbeitet werden8, existieren auch unterschiedliche Formen von literarischen Handlungsanweisungen, mit denen konkrete Texte angeeignet und publiziert werden.9 Auch in der Einleitung zur Anthology of Conceptual Writing auf der Ubu-Website nennt Craig Douglas Dworkin wichtige literarische Bezugspunkte wie etwa die Gruppe OuLiPo.10 Goldsmith schließt noch eine Kritik an John Cages Ansatz an, dessen Filter seiner Meinung nach zu eng war, weil dieser keine musikalische Popkultur, sondern nur Alltagsgeräusche durchließ. Doch scheint seine Argumentation zu ignorieren, dass in der elektronischen Musik seit den 1980er Jahren vielfach sowohl Alltagsgeräusche als auch Popmusiksamples eine tragende Rolle übernommen haben.

6 | Ebd. 7 | Vgl. Debord, Guy/Wolman, Gil J.: »Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung«, in: Orth, Roberto (Hg.): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg: Nautilus 1995, 20-26. Vgl. auch Max Orlichs Beitrag im vorliegenden Band. 8 | Vgl. Weissner, Carl (Hg.): Cut Up. Der sezierte Bildschirm der Worte, Darmstadt: Joseph Melzer Verlag 1969; Huber, Hans Dieter: »Das Cut-Up als Schnittstelle der Intermedialität«, in: Warnke, Martin/Coy, Wolfgang/Tholen, Christoph (Hgg.): Hyperkult II. Zur Ortsbestimmung digitaler und analoger Medien, Bielefeld: transcript 2005, 297-311; Plath, Nils: »Zur ›Fortsetzung, Fortsetzung, Fortsetzung‹. Rolf Dieter Brinkmanns ›Schnitte‹ zitieren«, in: Fehrmann, Gisela et al. (Hgg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln: Dumont 2004, 66-85. 9 | Peter Handke formuliert auf dem Innencover seines Buches Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt eine Handlungsanweisung an sich selbst, im Sinne einer Konzeption, auf der die Texte des Buchs alle basieren. Die meisten Texte in diesem Buch folgen dem, aber es finden sich auch andere Aneignungsverfahren wie Collagen aus Zeitungsausschnitten oder Textkompilationen, die sich nicht 1:1 unter die zitierte Konzeption fassen lassen. Handke, Peter: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969, Innenklappentext. 10 | Dworkin, Craig: The Ubuweb Anthology of Conceptual Writing, http://www.ubu.com/concept/ vom 6.10.2011.

51

52

STEFAN R ÖMER

Goldsmith geht es vor allem um eine Verweigerung des Neuschreibens, er behält aber die Rhetorik der Innovation bei, wenn er ein »new writing«11 proklamiert. Aneignung stellt in seinem Sinne eine Geste der Verweigerung dar, wie sie der Begriff der »uncreativity« deutlich macht. Damit beabsichtigt er, sich dem bekannten Originalitätsstereotyp von Innovation und unverwechselbarer Handschrift zu widersetzen. Während jedoch die Aneignungsverfahren der S.I. und der Appropriation Art als subversiv, radikal oder institutionskritisch angelegt waren, sollten zeitgenössisches Zitieren und Verfahren der Aneignung hinsichtlich des Conceptual Writing für die Literatur auf die Performanzen zwischen angeeignetem Objekt und aneignendem Subjekt untersucht werden. Ein solcher Vergleich wird dadurch erschwert, dass sich etwa die fotografische Aneignung von Sherrie Levine über dreißig Jahre etabliert hat. Ihre fragmentarische Aneignung von Jorge Luis Borges’ Textaneignung Pierre Menard, Autor des Quijote, die selbst schon eine Textaneignung vollführt12 , und ihre Aneignung von Gustave Flauberts Erzählung Un cœur simple wurden in Beziehung zu ihren Fotoarbeiten diskutiert. So blieb ihr Erfolg auf den Kunstmarkt beschränkt, im Literaturbetrieb ist sie vermutlich unbekannt. Wenn man Levines Appropriationen hingegen mit dem Hoax’ The Fake as More, by Cheryl Bernstein durch die Kunsthistorikerin Carol Duncan (1971) vergleicht, aus dem die Appropriation Art hervorgegangen sein soll13, lässt sich fragen, worauf die jeweilige Strategie aus ist. Während Levine ein Textzitat von Borges oder ein gesamtes Buch von Flaubert übernimmt, kommentiert Duncans Hoax den zeitgenössischen Kunstdiskurs anhand der Kunstkritik einer fiktiven Ausstellung, die bereits existierende Gemälde von anderen reproduzierte und sich auf reale Charaktere und Ereignisse bezog. Eine Übereinstimmung zwischen den Aneignungsverfahren von Goldsmith, Levine und Duncan kann jedoch hinsichtlich einer Teleologie des Aneignungsaktes zugrunde gelegt werden, nach der sich ein Subjekt mit einem bestimmten Ziel ein Objekt aneignet – sei es ein (sprachlicher) Text, ein ganzes literarisches Werk im Sinne eines Buches oder eine Publikationsidee, die sich auf einen konkreten Kontext bezieht.

11 | »This new writing is not bound exclusively between pages of a book; it continually morphs from printed page to web page, from gallery space to science lab, from social spaces of poetry readings to social spaces of blogs.« Goldsmith: »Flarf is Dionysus«, o.S. 12 | Levine, Sherrie: »Born again«, in: Salzburger Kunstverein (Hg.): Original, Ostfildern: Cantz 1995, 121-124, 122, und dies.: gustave flaubert. un cœur simple, Imschoot: Uitgevers 1990. 13 | Vgl. Römer, Stefan: Künstlerische Strategien des Fake – Kritik von Original und Fälschung, Köln: DuMont 2001, 19-29.

L EKTÜREPOLITIK ZWISCHEN K UNST, A NEIGNUNG UND L ITERATUR – C ONCEPTUAL W RITING

STRATEGIEN DER A NEIGNUNG Der im postmodernen Kontext analysierte Begriff von der Aneignung als kolonialistischer Weltaneignung und Vereinnahmung, als Verwertung im Sinne der Kulturindustrie oder als Rekuperation (S.I.), als einem repressiven institutionellen Instrument wurde in den 1980er Jahren zum argumentativen Standard. Darin enthaltene Referenzen auf bspw. Walter Benjamins oder Peter Bürgers Begriff einer intellektuellen Aneignung beziehen sich auf Karl Marx’ doppelten Aneignungsbegriff »der befähigenden Persönlichkeitsbildung und der Eigentumsbildung«14. Solche Überlegungen lassen sich auf eine andere wissenschaftliche Disziplin beziehen, die konstitutiv von dem Verhältnis zwischen eigener und anderer Kultur handelt. So kritisierte der Anthropologe James Clifford anlässlich der Ausstellung Primitivism in 20th Century Art: Affinity of the Tribal and the Modern die autoritär aneignende Struktur des Humanismus: »The history of collections (not limited to museums) is central to an understanding of how those social groups that invented anthropology and modern art have appropriated exotic things, facts, and meanings. (Appropriate: ›to make one’s own,‹ from the Latin proprius, ›proper,‹ ›property.‹)«15 Abgesehen von dieser postkolonialen Lesart des Begriffs wird Aneignung in der Kunsttheorie bis in die Gegenwart als ein magischer Begriff verwendet: Den einen dient er dazu, die Lücke zwischen visueller und textueller Repräsentation, zwischen der Welt, dem Alltag und der Kunst zu überbrücken; den anderen dient er als künstlerische Geste, als Verfahrensweise von scheinbar subversiven Performanzen gegen eine vermeintliche Hegemonie. Der Begriff Aneignung kann jedoch deshalb nicht mehr a priori als kritisch bezeichnet werden, da er im schillernden Spektrum seiner rhetorischen Möglichkeiten zum Repertoire der Kulturindustrie gehört. Die Performanz der Aneignung dient der Machterhaltung; das heißt die subversive Taktik wurde selbst rückangeeignet und zur hegemonialen Strategie.16 Zu dieser Erkenntnis führte nicht erst die Veröffentlichung, dass der deutsche Verteidigungsminister, Karl-Theodor zu Guttenberg, seine Dissertation aus Aneignungen montiert hatte. Denn dass das Thema Aneignung außer künstlerischen auch juristische Aspekte enthält, wurde schon ein Jahr zuvor anlässlich der Debatte um Helene Hegemanns 14 | Haug, Wolfgang Fritz: »Aneignung«, in: Ders. (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 1: Abbau des Staates bis Avantgarde, Hamburg: Argument-Verlag 1994, 233-249, 234 [Herv. i. O.]. 15 | Clifford, James: »On Collecting Art and Culture«, in: Ders.: The Predicament of Culture. TwentiethCentury Ethnography, Literature, and Art, Cambridge/London: Harvard University Press 1988, 220f. [Herv. i. O.]. 16 | Vgl. diese Rhetorik in der aktuellen Untersuchung zur Aneignung der »Künstlerkritik« durch das »Neo-management«: Chiapello, Ève: »Evolution und Kooption. Die ›Künstlerkritik‹ und der normative Wandel«, in: Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hgg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010, 38-51, 38 [Herv. i. O.].

53

54

STEFAN R ÖMER

Buch Axolotl Roadkill deutlich. Sie hatte Passagen aus dem Internetblog des Berliner Partyszene-Bloggers »Airen« kopiert. Dies geschah ganz im Sinne des Conceptual Writing. Der entscheidende Unterscheid betrifft jedoch die unterbliebene Kenntlichmachung, das heißt eine korrekte Zitierweise im Sinne des Copyright. Während die beiden ersten Fälle ihre Aneignungen geheim hielten, spielt das Conceptual Writing strategisch mit der Autorschaft. In meiner Forschung zum Thema Aneignung kam ich zu dem Ergebnis, dass die Appropriation Art einen von einer bestimmten Gruppe in New York Ende der 1970er Jahre strategisch formulierten Begriff darstellt. Ich verstehe die Appropriation Art daher als eine zeitlich und räumlich begrenzte diskursive Formation. Wie ich bereits in einem früheren Essay versuchte zu begründen, handelt es sich bei dem Begriff der Aneignung – in Abgrenzung etwa zu Nachahmung, Übernahme oder Referenz – um eine kunsthistorische Phänomenologie, die meist zu unzulässigen Verallgemeinerungen und zu einer entkontextualisierenden Typologisierung führt.17 In meinen Arbeiten zum Begriff der Aneignung kamen auch seine strategischen Aspekte des Ausschlusses und die Widersprüchlichkeiten zwischen den von unterschiedlichen Autoren formulierten Ansprüchen an den Begriff zum Ausdruck. Der institutionskritische Begriff der Aneignung, wie er von der Appropriation Art vor allem gegen den von Clement Greenberg betriebenen Hochmodernismus und gegen die neoexpressionistische Malerei im New York der 1980er Jahre verwandt wurde18, setzt immer eine autorisierende Subinstitution (Kunstkritiker, Theoretiker, Kuratoren etc.) voraus, die in einem kritischen oder oppositionellen Verhältnis zur übergeordneten Institution der Kunst agiert. Hier wird deutlich, dass für die Aneignung nicht so sehr der Status eines angeeigneten Objekts entscheidend ist. Einen viel wichtigeren Stellenwert nimmt ein Komplex von Handlungen ein, den Foucault im Zusammenhang mit dem »Studium der Mikrophysik der Macht«19 analysiert. Bezeichnend für Foucaults Ansatz ist eine Verschiebung von einem statischen Besitzbegriff der Macht zu einer Strategie und einem Netz von Beziehungen. Was bedeutet das für unseren Fall? In der Appropriation Art sowie im Conceptual Writing gehört die Definition der aneignenden Handlung zur künstlerischen Veröffentlichungsstrate17 | Vgl. Römer, Stefan: »Wem gehört die Appropriation art?«, in: Texte zur Kunst 26 (1997), 129-137. Im Folgenden übernehme ich Passagen daraus und aus: Ders.: »Against Einordnung« [über Elaine Sturtevant], in: Texte zur Kunst 46 (2002), 193-197. 18 | Vgl. Douglas Crimp in: »Der Kampf geht weiter. Ein E-mail-Austausch mit Douglas Crimp über Appropriation art«, in: ebd., 35-43. 19 | Foucault setzt der »Mikrophysik der Macht« voraus, »dass die darin sich entfaltende Macht nicht als Eigentum, sondern als Strategie aufgefasst wird, dass ihre Herrschaftswirkungen nicht einer ›Aneignung‹ zugeschrieben werden, sondern Dispositionen, Manövern, Techniken, Funktionsweisen; dass in ihr ein Netz von ständig gespannten und tätigen Beziehungen entziffert wird anstatt eines festgehaltenen Privilegs.« Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, 38.

L EKTÜREPOLITIK ZWISCHEN K UNST, A NEIGNUNG UND L ITERATUR – C ONCEPTUAL W RITING

gie. Diese Geste, die in einem zusätzlichen Text oder als Handlungsanweisung formuliert wird, entscheidet auch darüber, ob eine Aneignung legal oder illegal ist. Mit dieser Selbstauszeichnung reflektiert sich das aneignende Verfahren selbst in Relation zu einer Öffentlichkeit. Aneignung als Kulturtechnik – das ist heute das kurze Kribbeln beim Mausklick, mit dem man Dinge kauft, Börsentransaktionen tätigt, Wissen aneignet, (Lebens-) Partner wählt und so seinen Leidenschaften nachgeht. Der motorische, minimale Klick bewirkt eine komplexe »Operation« zwischen Texten und Bildern; diese Denkund Arbeitshandlung ist ein (wissenschaftlich) nachvollziehbares Verfahren20, das nach bestimmten Grundsätzen vorgenommen jeweils unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Jede dieser komplexen strategischen Operationen ist im transmedial post-panoptischen Kommunikationssystem21 mehr oder weniger öffentlich und eindeutig nachverfolgbar anhand des Internetprotokolls.22 Inwieweit sie strategisch definiert und publiziert werden und sich explizit auf den Diskurs des Konzeptualismus beziehen, lässt darüber entscheiden, ob sie lediglich einer Konzeption folgen oder ob sie als konzeptuelle Kunst betrachtet werden, weil sie sich auf den Diskurs des Konzeptualismus beziehen.

K ÜNSTLERISCHE A RBEIT, P RAXIS UND P ERFORMANZ In der Diskussion über die Appropriation Art zeigte sich die Wichtigkeit zweier Aspekte, nämlich die der Selektion und Aneignung eines Objekts und der Inszenierung seiner Veröffentlichung. Die damit assoziierte Geste ist vergleichbar, aber nicht identisch mit Marcel Duchamps Readymade, das mit einer Kontext- eine Bedeutungsverschiebung verbindet und diese mit einem Titel bezeichnet, wodurch es vor allem um die Frage der Benennung oder der Verbegrifflichung, nicht jedoch um skulpturale Fragen geht. Mit dem Readymade wird eine strategische Ablehnung des traditionellen Begriffs des Schöpferischen assoziiert, wie sie auch von Goldsmith für die künstlerisch-literarische Aneignung betont wird. Negationen so genannter kreativer künstlerischer sowie literarischer Arbeit finden sich schon im späten 19. Jahrhundert, vor allem in Stéphane Mallarmés poetischer Systematisierung des Zufalls, worauf sich vielfach Künstler beziehen. In der Konkreten Poesie, Fluxus, 20 | Vgl. »Operation« in Duden Fremdwörterbuch online. 21 | Mit dem transmedialen Internet hat sich eine neue Dimensionen der (Selbst-)Überwachung im Alltag etabliert, vgl. Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, 254-261. Vgl. Römer, Stefan/Hofmann, Uwe (für FrischmacherInnen): »Big Brother, Big Sister oder ein post-panoptischer Voyeurismus«, in: infection manifesto. Zeitschrift für Kunst und Öffentlichkeit 4 (2001), 12-17. 22 | Vgl. Galloway, Alex: »Panoptikum der Kontrollgesellschaft. Wie funktioniert Herrschaft im Zeitalter der neuen Technologien?«, in: Jungle World vom 4.12.2002, 4-5.

55

56

STEFAN R ÖMER

der Performance sowie der Conceptual Art kommen Formen von Aneignung oder Handlungsanweisungen vor, wie die Rezipienten sich etwas anzueignen haben. Mit einer solchen Erosion des traditionellen Kunstwerkbegriffs verlagerten sich die kommunikativen Handlungen in der Kunst wie in der Literatur auf die Rezipientenseite. Doch wie soll man diese künstlerisch-literarische Produktion nennen – künstlerische Arbeit oder Praxis? Diesbezüglich bringt der italienische Theoretiker Maurizio Lazzarato auf den Punkt, welche Konsequenzen die neuen immateriellen Arbeitsformen haben, die auch »Massenintellektualität« genannt werden: »Die Unterscheidung von Konzeption und Ausführung, von Mühe und Kreativität oder auch von Autor und Publikum wird innerhalb des Arbeitsprozesses überwunden – und zur gleichen Zeit wird sie im Verwertungsprozess als politisches Kommando wiedereingesetzt.«23 Paolo Virno bezieht diese neue Form der Arbeit auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik, Hannah Arendts Vita Activa und Karl Marx: »Die Virtuosität öffnet sich gegenüber zwei Alternativen: Entweder lässt sie die strukturellen Eigenschaften der politischen Tätigkeit durchscheinen (Fehlen eines Werkes, Sich-der-Gegenwart-desAnderen-Aussetzen, Kontingenz usw.), wie dies Aristoteles und Hannah Arendt nahe legen, oder aber sie erscheint, wie bei Marx, als ›Lohnarbeit‹, die dennoch keine produktive Arbeit ist. Diese Verzweigung wird zunehmend unhaltbar und geht spätestens dann in die Brüche, wenn die produktive Arbeit in ihrer Gesamtheit sich die besonderen Wesenszüge der künstlerischen, darstellenden Tätigkeit zueigen gemacht hat. Wer im Postfordimus Mehrwert produziert, verhält sich – von einem strukturellen Gesichtspunkt aus gesehen, versteht sich – wie eine PianistIn, eine TänzerIn usw. und infolgedessen wie ein politischer Mensch.« 24

Virno konstatiert wie Lazzarato eine neuerdings implizit kommunikative Performanz der produktiven Arbeit, die stark an die Conceptual Art erinnert.25 Dafür betrachtet er schon die frühe Theorie der Kulturindustrie als prototypisch.26 Hier werden Bezüge zu Kenneth Goldsmith’ Manifesten deutlich, die die Kreativität aus der literarischen Arbeit auszuschließen suchen, indem Texte z.B. aus dem Internet kompiliert werden und diese Handlung als Strategie vermittelt wird. Dies entspricht der von Virno beschriebenen neuen kommunikativen Produktion, wonach »die materielle Produktion der Objekte an das hochgradig automatisierte System

23 | Lazzarato, Maurizio: »Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus«, in: Ders./Negri, Toni/Virno, Paolo (Hgg.): Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin: ID Verlag 1998, 39-52, 40. 24 | Virno, Paolo: Grammatik der Multitude, Wien: Turia und Kant 2005, 70 [Herv. i. O.]. 25 | Vgl. ebd., 73. 26 | »In der Tat stellt die Tätigkeit ohne Werk, also das Kommunizieren, das in sich selbst seine Erfüllung findet, in der Kulturindustrie ein prägendes, zentrales, ja notwendiges Element dar.« Ebd.

L EKTÜREPOLITIK ZWISCHEN K UNST, A NEIGNUNG UND L ITERATUR – C ONCEPTUAL W RITING

der Maschinen delegiert wird, die Leistungen der lebendigen Arbeit immer mehr virtuos-sprachlichen Tätigkeiten ähneln.«27 Dazu kommt eine Aufzeichnung und Kontrolle der Stimmung der Arbeitenden mittels der neuen Medien, wodurch deren Denken und Handeln zunehmend öffentlich wird.28 Der Mausklick, mit dem sich das Conceptual Writing einen Text »straight« aneignet, entspricht der zeitgenössischen Geste des »Das-will-ich«, weshalb sich diese künstlerisch produktive Tätigkeit nicht mehr vom Produkt selbst unterscheidet.29 Somit erscheint nun »die virtuose Tätigkeit […] als allgemein dienende Arbeit. Die Affinität zwischen dem Pianisten und dem Kellner, die Marx bemerkt hatte, findet ihre uneingeschränkte Bestätigung in der Epoche, in der die gesamte Erwerbsarbeit etwas vom ›ausführenden Künstler‹ hat. Mit dem Unterschied, dass es in dem Fall die Mehrwert schöpfende Tätigkeit selbst ist, die den Charakter der dienenden Arbeit annimmt. Wenn ›das Produkt vom Akt des Produzierens nicht zu trennen ist‹, dann bezieht dieser Akt die Person ein, die ihn vollbringt, und vor allem die Beziehung zwischen dieser und demjenigen, der diesen Akt angeordnet hat oder an den er sich richtet.« 30

Hier zeigt sich die Relevanz des Performanzbegriffs für die künstlerische Produktion, der eine partizipative Kopräsenz von Handelnden und Rezipienten mit potenzieller Hervorbringung von Materialität und/oder Bedeutung inszeniert.31 Die transmedial post-panoptische Vernetztheit der Arbeitsperformanzen und ihre somit implizite wechselseitige Beobachtung zeitigt folgende neue Bedingungen: »Dieses Öffentlichsein, das heute als unerschöpfliche produktive Ressource erscheint, kann zum konstitutionellen Prinzip, zur Öffentlichkeit werden.«32 Die von Aristoteles getroffene Unterscheidung zwischen »Arbeit (poiesis)« und »politischem Handeln (praxis)« scheint somit relativiert33, denn die Performanz ist öffentlich, woraus geschlossen 27 | Ebd., 76. 28 | Vgl. ebd., 86. 29 | »Die Virtuosität der postfordistischen Multitude fällt mit der Virtuosität der SprecherInnen zusammen, einer Virtuosität ohne Textvorlage, oder besser einer Vorlage, die der reinen und schlichten dynamis, dem reinen und schlichten Vermögen gleicht.« Ebd., 91 [Herv. i. O.]. 30 | Ebd., 93f. [Herv. i. O.]. 31 | »Denn einerseits läßt sich Inszenierung durchaus als Schein, Simulation, Simulakrum begreifen. Es handelt sich bei ihr jedoch um einen Schein, eine Simulation, ein Simulakrum, die allein fähig sind, Sein, Wahrheit, Authentizität zur Erscheinung zu bringen. Nur in und durch Inszenierung vermögen sie uns gegenwärtig zu werden.« Fischer-Lichte, Erika: »Inszenierung und Theatralität«, in: Willems, Herbert/Jurga, Martin (Hgg.): Inszenierungsgesellschaft, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1998, 81-90, 88. 32 | Virno: Grammatik, 95 [Herv. i. O.]. 33 | »Wenn ein Objekt produziert wird, das vom Handeln getrennt werden kann, spricht man von Arbeit; wenn das Handeln seinen Zweck in sich selbst hat, spricht man von Praxis.« Ebd., 67.

57

58

STEFAN R ÖMER

werden kann, dass sie mit einer zusätzlichen Publikationsgeste verbunden zu strategisch politischem Handeln wird. Setzt man dies mit den Konzeptualismen in Beziehung, stellt man fest, dass die konzeptuellen Performanzen der »lebendigen Arbeit« einer virtuos-sprachlichen Tätigkeit ähneln. Doch wie Goldsmith betont, muss selbst eine unkreative künstlerische Arbeit Wert erzeugen.34 Da sich ihre Protagonisten mit der Verfeinerung ihrer eindeutig wiedererkennbaren, persönlich virtuos-sprachlichen Performanz zu einem »signature style« beschäftigen, hat die konzeptuelle Kunst im Prozess ihrer Historisierung selbst Stile herausgebildet, obwohl eine stilistische Homogenisierung von der Conceptual Art ausgeschlossen wurde, da sie sich auf traditionell formale Kriterien beziehen müsste. Nachfolgende Künstler eignen sich diese Veröffentlichungsstrategien an, wodurch erstere zu Stilen tendieren. Die zum Teil institutionskritischen Thesen der ersten Generation wurden also inzwischen von der Institution Kunst aufgenommen. Dadurch hat sich jeweils sowohl die Institution als auch die Bedeutung und das Denken der Konzeptualismen verändert.35 Wenn etwa der Künstler Sol LeWitt die Idee als eine Maschine36 bezeichnet, dann heißt das nicht, dass er eine rein analytische und rationale Kunst favorisieren würde.37 Goldsmith nähert sich dem an, wenn er der »poetischen Maschine« des Conceptual Writing »Improvisation und Spontanität« abspricht.38 LeWitt ging es in den 1960er Jahren um eine Positionierung seiner eigenen Kunstpraxis gegen die Dominanz abstrakter Malerei in New York.39 Goldsmith eignet sich in Paragraphs of 34 | »Innovative poetry seems to be a perfect place to place a valueless practice; as a gift economy, it is one of the last places in late hyper-capitalism that allows non-function as an attribute. Both theoretically and politically, the field remains wide open. But in capitalism, labor equals value. So certainly my project must have value, for if my time is worth an hourly wage, then I might be paid handsomely for this work. But the truth is that I’ve subverted this equation by OCR’ing as much of the newspaper as I can.« Goldsmith: »Uncreativity as a Creative Process«. 35 | Über die Effekte der Konzeptualismen vgl. Harrison, Charles: »Think Again«, in: Selby, Aimee (Hg.): Art and Text, London: Black Dog Publishing 2009, 20-25, 22. 36 | Vgl. LeWitt, Sol: »Paragraphs on Conceptual Art«, in: De Vries, Gerd (Hg.): Über Kunst. Künstlertexte zum Verständnis nach 1945, Köln: DuMont 1974, 176-182, 177. 37 | Vgl. den produktiven Widerspruch bei LeWitt zwischen dem »intuitiven« Entdecken von Ideen (ebd., 177) und dem Ausschluss des »Willkürlichen, Launenhaften und Subjektiven« in der Ausführung, ebd., 179. 38 | »Many of the poems are ›sculpted‹ from the results of Internet searches, often using words and phrases that the poet has gleaned from poems posted by other poets to the Flarflist e-mail listserv. By contrast Conceptual Writers try to emulate the workings and processes of the machine, feeling that the results will be good if the concept and execution of the poetic machine are good; there is no tolerance for improvisation or spontaneity.« Goldsmith: »Flarf is Dionysos«, o. S. [Herv. S. R.]. 39 | Vgl. LeWitt, Sol: [Transkript des Interviews im Film Conceptual Paradise], http://weblab.uni-luene burg.de/socialsoftware/paradise/index.php/Print_Version_Interview_Sol_LeWitt am 20.9.2011.

L EKTÜREPOLITIK ZWISCHEN K UNST, A NEIGNUNG UND L ITERATUR – C ONCEPTUAL W RITING

Conceptual Writing nun strategisch Sol LeWitts gleichnamige Äußerungen der historischen »Conceptual Art« an, indem er lediglich den Begriff »art« durch »writing« ersetzt.40 Gleichzeitig dient diese Aneignung ihm als Manifest der neuen konzeptualistischen Bewegung. Wurde die Zurückweisung von traditionellen Begriffen der Institution Kunst wie Intuition, Kreativität oder der vermeintliche Idiolekt einer Handschrift in der Folge von Marcel Duchamp zur systematischen Serialität (Minimal Art), zur kunstreflexiven Erkenntniskritik (Conceptual Art) oder zur institutionskritischen Aneignung (Appropriation Art) erklärt, die in den Konzeptualismen zu einer (Selbst-)Untersuchung künstlerischer Verfahrensweisen tendiert (Diskurs- und Recherchekunst), so lässt die Aneignung von konzeptkünstlerischen Schriften durch das Conceptual Writing nach deren neuen Erkenntnissen fragen. Wünschenswert wäre etwa eine Auseinandersetzung Goldsmith’ mit zeitgenössischen Konzeptualismen, die ebenfalls zwischen konzeptuellem und aneignenden Diskurs sowie zwischen Kunst und Literatur agieren. Im Vergleich zu Goldsmith’ Aneignung legt der konzeptuelle Künstler Luis Camnitzer eine Überarbeitung von LeWitts Sentences on Conceptual Art vor. Camnitzer zeichnet sich mitverantwortlich für die postkoloniale Aktualisierung des eurozentristisch geprägten Begriffs der Conceptual Art, die seitdem mit der Verwendung des Begriffs »Konzeptualismen« impliziert wird.41 In Camnitzers Version der Sentences on Conceptual Art bleiben wenige Sätze unverändert.42 Der kommentarhafte Charakter von LeWitts 35 Sentences wird von Camnitzer um aktuelle Reflexionen erweitert, die dem heutigen Kunstverständnis entsprechen. Wenn LeWitt schon im ersten Satz ein irrationales Moment der »conceptual artists« betont, akzentuiert Camnitzer, dass Konzeptualisten das künstlerische Wissen erweitern. Oder wenn LeWitt im vierten Satz schreibt: »Formal art is essential rational« und damit gegen die selbstreflexive Rationalität der von Clement Greenberg motivierten Malerei seiner Zeitgenossen agiert, hebt Camnitzer mit: »Formal art deals with packaging« hervor, dass nicht-konzeptuelle zeitgenössische Kunst vor allem an der Erscheinungsweise, nicht aber am Wissen der Kunst arbeitet.43 Diese künstlerische Praxis des Schreibens, die sich – wie wir gesehen haben – immer aus Rezeptions-, Aneignungs- und Veröffentlichungsperformanzen konsti40 | Goldsmith, Kenneth: »Paragraphs on Conceptual Writing«, in: Open Letter 7 (2005), 108-111. 41 | Vgl. Mariani, Philomena et al. (Hgg.): Global Conceptualism: Points of Origin. 1950s-1980s, New York: Queens Museum of Art 1999. 42 | Camnitzer, Luis: »Sol LeWitt Revised«, in: Basha, Regine (Hg.): An Exchange with Sol LeWitt, New York: Cabinet Magazines/MASS MoCA 2011, 27, online unter http://www.cabinetmagazine.org/ events/exchange_lewitt.php vom 5.1.2012. 43 | Vgl. auch die Ersetzung von »artist« durch »writer« bzw. »reader« und andere Änderungen bei Pichler, Michalis: Sentences on Conceptual Writing, Paris: La Bibliothèque fantastique 2011, online unter http://labibliothequefantas.free.fr/files/Michalis_Pichler_Sentences_on_conceptual_.pdf vom 5.1.2012.

59

60

STEFAN R ÖMER

tuiert, ist als eine spezifisch virtuose Kombination von Lektüre, Auswahl, Schreiben und Inszenierung zu verstehen. »Eine Lektürepolitik muß daher in einer Analyse zum Ausdruck kommen, die die Praktiken, die schon seit langem wirksam sind, politisierbar macht. Der Verweis auf einige Aspekte der Lesetätigkeit zeigt bereits, in welcher Weise sie dem Gesetz der Information entgeht.«44 Certeau attestiert dem Ort, dem »Lese-›Kabinett‹ (von der Studierstube bis zum Klo)«, eine gewisse Aktivität, doch »ist Lektüre auf ihrer elementarsten Ebene seit etwa drei Jahrhunderten zu einer Gebärde des Auges geworden«.45 Diese »Selbständigkeit des Auges beendet die Komplizenschaft von Körper und Text; sie koppelt den Text vom Ort der Schrift ab; sie macht aus dem Geschriebenen einen Gegen-stand [sic] und vergrößert die Bewegungsmöglichkeiten des Subjekts.«46 Dies widerspricht der Ikonografie einer introvertiert lesenden oder schreibenden Figur. Doch bevor dies auf die Performanz (im Sinne von zeitgenössischer Arbeit oder Praxis) am Interface (dem Platz, an dem ich gerade schreibe mit Internetanschluss und allen seinen Implikationen) bezogen wird, sei auch die Konstellation der Schreibtätigkeit einbezogen. Bei Michel Foucault findet man Bezüge des Schreibens zur Konstitution des Selbst. Er weist in Technologien des Selbst darauf hin, dass das Schreiben aus einer Beschäftigung mit dem Selbst, aus der »Sorge um sich selbst«47 hervorgegangen ist. Von Anfang an wurde es aber auch als »politisches Handeln« verstanden. Somit kann man resümieren, dass sich die Praxis des konzeptuellen Schreibens (sowohl in der Kunst als auch in der Literatur) in Relation zu einer Öffentlichkeit inszeniert. Das Conceptual Writing definiert seine Lektürepolitik der Aneignung als virtuose, nicht aber kreative Performanz.

S CHREIBEN UND I NTERESSE Roland Barthes beschreibt in seinem den Übergang vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus markierenden Essay Vom Werk zum Text eine besondere Praxis: 44 | Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, 305. 45 | Ebd., 309. 46 | Ebd., 310. 47 | »In der hellenistischen Tradition verbündet sich die Sorge um sich selbst mit unablässiger Schreibtätigkeit.« Foucault, Michel: »Technologien des Selbst«, in: Foucault, Michel et al. (Hgg.): Technologien des Selbst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, 24-62, 38. – In der Verbindung zwischen Schreiben, »Aufzeichnungen über sich selbst machen« (ebd., 37) und (Selbst-)Kontrolle lokalisiert Foucault eine »Hermeneutik der Selbsttechniken« (ebd., 25); auch eine »Verbindung zwischen den Technologien der Beherrschung anderer und den Technologien des Selbst« im Begriff der »Kontrollmentalität« (ebd., 27) wird hier expliziert. Dabei ist wichtig: »Die Sorge um das Selbst ist die Sorge um die Aktivität, nicht die Sorge um die Seele als Substanz.« (ebd., 35). Der Veröffentlichung kam die Funktion eines Bekenntnisses zu (vgl. ebd. 55).

L EKTÜREPOLITIK ZWISCHEN K UNST, A NEIGNUNG UND L ITERATUR – C ONCEPTUAL W RITING »der ›Text‹ ist nicht die Zersetzung des Werks, sondern das Werk ist der imaginäre Schweif des ›Texts‹. Oder: der ›Text‹ erweist sich nur in einer Arbeit, einer Produktion. Daraus folgt, dass der ›Text‹ nicht enden kann (etwa auf dem Regal einer Bibliothek); seine konstitutive Bewegung ist die Durchquerung (er kann unter anderem das Werk, mehrere Werke, durchqueren).« 48

Barthes markiert hier eine aktivische Aufwertung der Lektüre. Marcel Duchamp hatte in seinem Text The Creative Act (1957) schon einige Jahre vor den heute kanonischen Texten zur Relativierung des Kunstwerkbegriffs den Anteil des Rezipienten gegenüber dem Künstler hervorgehoben.49 In dem Text Uncreatitvity as a Creative Process, der sich offensichtlich auf Duchamps Text bezieht, führt Goldsmith aus: »imagine a book that is written with the intention not to be read. The book as object: conceptual writing; we’re happy that the idea exists without ever having to open the book.«50 Die Idee des Buchs wird also zur konzeptionellen Geste. Dies realisiert sich buchstäblich auch in der Arbeit Mallarmé. Das Buch von Klaus Scherübel, der nur einen Styropordummy mit einem Coverentwurf von Stéphane Mallarmés geplantem, aber vor dessen Tod nicht mehr fertig gestellten Buch Le Livre ausstellt – dieses Buch kann gar nicht aufgeschlagen werden; entscheidend ist hier das Wissen um das Projekt.51 Dem entgegen benötigt David Links virtuelle Poetry machine (20012002) kein physisches Buchobjekt. Sie generiert, auf Texte im Internet zugreifend und selbstständig aneignend, völlig andere Texte auf dem Bildschirm. Die Poetry machine produziert – das Internet »durchquerend« – allein mittels einer Programmierung Text, ohne einer auktorialen Aneignungsgeste des Conceptual Writers zu bedürfen. Der Programmierungstext wird selbst zum Akteur und verändert sein Produkt der Aneignung je nach Ausstellungskontext. Für alle räumlichen Präsentationen im Kunstkontext wurde im Kontrast zum literarischen Kontext, der noch auf das Buch fixiert ist, eine grundsätzlich andere Form der Rezeption behauptet.52 Dementgegen kommt Jacques Rancière bezüg48 | Barthes, Roland: »Vom Werk zum Text«, in: Kammer, Stefan/Lüdeke, Roger (Hgg.): Texte zur Theorie des Texts, Stuttgart: Reclam 2005, 40-54, 42 [Herv. i. O.]. 49 | Vgl. Duchamp, Marcel: »The Creative Act«, in: Lebel, Robert: Marcel Duchamp, New York: Paragraphic Books 1959, 77-78. Vgl. auch die Verschiebung von der Einzigartigkeit der Vermittlungsform zur Rezeption in der konzeptuellen Praxis: Karshan, Donald H.: »The Cult of the Unique«, in: Studio International 925 (1971), 285-288. 50 | Goldsmith: »Uncreatitvity as a Creative Process«, o.S. 51 | Vgl. Scherübel, Klaus: Mallarmé. Das Buch, Köln: Walther König, 2001. Vgl. dazu Folie, Sabine (Hg.): Un coup de dés. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache, Wien/Köln: Walther König 2008, 78-81. 52 | In der Literatur findet sich vielfach folgendes Zitat: »No matter how nonvisual or abstract a work may be, when it is put on the gallery wall language becomes an object to be looked at and not read. Print becomes a visual object to the extend it is physically removed from the reader.« Wilson, Ian: »Conceptual Art«, in: Artforum 22:6 (1984), 60-61, 60.

61

62

STEFAN R ÖMER

lich der »Durchquerung« von Stéphane Mallarmés Gedicht Un coup de dès jamais n’abolira le hasard durch den Künstler Marcel Broodthaers in dessen gleichnamiger Arbeit (1969) zu dem Schluss, dass die »doppelte skripturale Ökonomie Mallarmés« durch Broodthaers’ Verräumlichung des Gedichts auf schwarze Rechtecke in Zeilenform auf weißen Aluminiumplatten bedeutet, »sich seiner Wörter und deren Bedeutungen zu entledigen«.53 Dazu bemerkt Rancière, dass Mallarmés »doppelte skripturale Ökonomie« darin besteht, in seinem spezifischen Layout das Gedicht auf der Bühne der Buchseite auftreten zu lassen, wodurch er die »Ideen-Begriffe« einer Warenästhetik entgegensetzte und so einem Verdinglichungsprozess zu entreißen suchte. Broodthaers kehrte diesen Prozess für die Kunst um: »Die Differenz der Kunst zu umreißen, bedeutet, die ästhetische Banalisierung zu durchkreuzen, um die Kunst zur echten Präsentation des Bild-Werdens der Dinge und des DingWerdens der Bedeutungen zu machen.«54 Die traditionelle Objektpräsentation der Kunst sowie die Präsentation der Poetik wurde somit schon seit Ende des 19. Jahrhunderts durch Mallarmé beeinflusst, auf den sich auch Duchamp bezog. Auch Goldsmith’ manifestartiges Conceptual Writing interveniert auf der Ebene des Diskurses zwischen Kunst und Literatur, wobei der Website UbuWeb – deren Betreiber er auch ist – die Funktion einer Internetgalerie mit Archivcharakter zukommt. Die angeeigneten Texte agieren als Durchquerungen von Skripten, Publikationstechniken und künstlerischer Praxis. Wenn der so genannte Text, der durch eine künstlerisch-literarische Performanz angeeignet wird, selbst als eine »Textdurchquerung« im Barthes’schen Sinne zu verstehen ist, dann kann die formale Definition des referentiellen oder derivativen Verhältnisses in den Hintergrund treten.55 Dies kann auf LeWitts 16. Satz in den Sentences on Conceptual Art bezogen werden: »If words are used, and they are proceed from ideas about art, then they are art and not literature; numbers are not mathematics.«56 Resümiert man nun den von Barthes eingebrachten Begriff der Durchquerung, zeigt sich, dass er zwar die rezeptiv-produktive Performanz zwischen Texten beschreibt, jedoch nicht die Effekte auf die durchquerten Texte und ihre Rezeptionskontexte einbezieht. Das »Transkriptivitätskonzept« betont die beiderseitige Abhängigkeit zwischen Skript und Transkript, »während das zugrundeliegende

53 | Rancière, Jacques: »Der Raum der Wörter. Von Mallarmé zu Broodthaers«, in: Folie: Un coup de dés, 26-38, 36. 54 | Ebd., 37. 55 | »[T]he conceptual writing collected here is not so much writing in which the idea is more important than anything else as a writing in which the idea cannot be separated from the writing itself: in which the instance of writing is inextricably intertwined with the idea of Writing: the material practice of écriture.« Dworkin, »Anthology of Conceptual Writing«, o.S. [Herv. i. O.]. 56 | LeWitt: »Sentences on Conceptual Art«, 188.

L EKTÜREPOLITIK ZWISCHEN K UNST, A NEIGNUNG UND L ITERATUR – C ONCEPTUAL W RITING

symbolische System selbst, das fokussiert und in ein Skript verwandelt wird, als ›Quelltext‹ bzw. Prätext bezeichnet werden soll«.57 Die Aneignung eines Buches, das nach Goldsmith nicht gelesen oder aufgeschlagen werden muss, setzt ein kontextuelles und ein institutionelles Interesse des Transkribierens voraus. Die künstlerische Performanz der Buchaneignung ist somit eine Lektürepolitik zwischen Buchvorlage und Buchpräsentation, zwischen Autor, Verleger und Aneigner sowie zwischen Skript und Transkript – im jeweiligen Kontext der Kunst oder der Literatur. Sol LeWitt schreibt: »It is the objective of the artist who is concerned with conceptual art to make his work mentally interesting to the spectator […].«58 Dieses »geistige Interessantmachen« korrespondiert mit dem Rezeptionsinteresse im gemeinsamen Raum zwischen Skript und Transkript. Die Performanz des Interesses als ein transkriptives Dazwischen-Sein agiert mit Dispositionen, Manövern, Techniken, Funktionsweisen, wie es Foucault nannte. Nun wird deutlich, dass das Computerprogramm von Links Poetry machine mehr als nur eine Textmontage erzeugt, das nicht aufschlagbare Buch bei Goldsmith mehr ist als eine Geste und die angeeigneten Textfragmente bei Levine mehr sind als nur eine historische Referenz. Eine Lektürepolitik kann auch eine intellektuellleidenschaftliche Handlung bedeuten, ohne sich gänzlich von Disziplin und Kontrolle befreien zu können. Wenn man annahm, dass die private Tagebuchschreibweise sich dem Disziplinarsystem entziehen würde, muss dies nach Foucaults Ausführungen revidiert werden. Das zeitgenössische ich-bezogene Schreiben in Blogs ist sich der Unausweichlichkeit des transmedial post-panoptischen Schreibens am Interface bewusst und reflektiert die latente Kontrollsituation mittels einer Ersetzung des objektivierenden »man/wir« der akademischen Schreibweisen durch ein tendenziell affektives Selbst. Während LeWitt einen Text mit Referenzen auf konkrete Bedingungen im Kunstfeld geschrieben hat, aktualisiert Camnitzer diesen Text mit einer korrigierenden Überschreibung, wohingegen Goldsmith mit geringfügigen Texteingriffen am angeeigneten Text agiert.

57 | »Die Applikation dieser Terme aus dem Wortfeld der Skripturalität auch auf nonliterale Symbolsysteme ist dabei ausdrücklich intendiert. Skript-Status erhalten Symbolsysteme oder Ausschnitte von diesen nur dadurch, dass sie transkribiert werden, also aus Prätexten in semantisch auf neue Weise erschlossene Skripte verwandelt werden. Tatsächlich stellt also jede Transkription die Konstitution eines Skripts dar, wiewohl das Verfahren zunächst auf ein schon vor seiner transkriptiven Behandlung existierendes symbolisches System trifft.« Jäger, Ludwig: »Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik«, in: Ders./Stanitzek, Georg (Hgg.): Transkribieren Medien, Lektüre, München: Fink 2002, 19-41, 30 [Herv. i. O.] 58 | LeWitt: »Paragraphs on Conceptual Art«, 176.

63

64

STEFAN R ÖMER

WORIN BESTEHT DAS I NTERESSE DER KÜNSTLERISCH - LITERARISCHEN A NEIGNUNG? Wenn eine künstlerische Aneignung im Sinne einer Täuschung nicht öffentlich gemacht wird, handelt es sich juristisch um ein Plagiat. Dieses wird moralisch verurteilt und geahndet, sobald seine Täuschungsabsicht öffentlich verhandelt wird. Wenn sich aber eine Aneignungspraxis selbst öffentlich markiert, dann handelt es sich um ein strategisches Plagiat im Sinne einer konzeptionellen Performanz, die sich selbst inszeniert. Je nach verfolgtem Interesse – als einem verheimlichten pekuniären oder einem publizierten intellektuellen Dazwischen-Sein – handelt es sich um eine Entrepreneur-Performanz um des kommerziellen Erfolgs willen oder um eine Künstler-Performanz um der Erkenntnis willen. Realistisch betrachtet, überlagern sich oft beide Interesseformen. Das lässt sich an der Aneignungspraxis Andy Warhols zeigen, auf den sich Kenneth Goldsmith in seinem Programm Uncreativity as a Creative Process transkriptiv bezieht. Aus heutiger Sicht und in Kenntnis der Rezeptionsgeschichte muss Warhols Praxis meiner Ansicht nach rückwirkend relativiert werden. Warhol eignete sich unter Vernachlässigung des Copyrights oder mittels finanzieller Abgeltung Bilder und Images aus der Populärkultur an und prägte mit dieser Praxis die Pop Art. Heute geriert sich aber die Andy Warhol Foundation, die die rechtmäßige Vertreterin ihres Gründers ist, als ein restriktiver Copyright-Verfechter in der Kunstwelt. Aus der künstlerischen Produktion Warhols, die zu Lebzeiten programmatisch in der so genannten »Factory« von vielen Personen ausgeführt wurde, ging eine Korporation hervor, die das Erbe der angeblich demokratisierten Kunstpraxis Warhols nun mit aller Schärfe rechtlich verfechtet.59 Man kann angesichts dieser Entwicklung einer vormals als autorschafts-, konsum- oder gar kapitalismuskritisch betrachteten Praxis fragen, ob nicht die von Warhol betriebenen korporativen Tendenzen der Bildaneignung, der Aneignung der Kreativität anderer sowie seine kulturaffirmative Strategie rückwirkend als eine Entrepreneur-Strategie verstanden werden müssen, die zwar historisch als glamourös gelten, einer freieren Auslegung der Aneignungspraxis im Sinne eines ›Fair Use‹ aber entgegenarbeiten. Angesichts dieser Lektürepolitiken sollte die von Goldsmith geforderte Praxis der »straighten« Aneignung von künstlerischen Arbeiten im Sinne des Conceptual Writing überprüft werden. Einerseits gilt es, die nicht autorisierten Texte auf UbuWeb hinsichtlich des Copyrights zu hinterfragen, falls die Veröffentlichung der Arbeiten auf UbuWeb nicht den Interessen der Autoren entspricht. Andererseits 59 | Hier sei auf die vielen Copyrightverfahren hingewiesen, die die Warhol Foundation in den letzten Jahren gegen Besitzer von Warhol-Arbeiten angestrengt hat, um deren Originalität anzufechten. Das Projekt »anonymous-warhol_flowers« von Cornelia Sollfrank handelt von der Möglichkeit, mit Warhol-Motiven über das Internet Bilder zu generieren. Vgl. Sollfrank, Cornelia: Expanded Original, Ostfildern: Hatje Cantz 2009, 54-59.

L EKTÜREPOLITIK ZWISCHEN K UNST, A NEIGNUNG UND L ITERATUR – C ONCEPTUAL W RITING

würden mich das Ziel interessieren, das durch eine Textaneignung im Sinne des Conceptual Writing erreicht werden soll, und die davon erhofften Effekte. Welcher Wissens- oder Erkenntnisgewinn ist mit dieser Aneignungsgeste verbunden? Wie verhält sich eine solche Aneignung in Relation zur »virtuos-sprachlichen« Arbeit des transkriptiven Interesses? Oder: Wenn eine Annäherung der allgemeinen Arbeit an die immaterielle intellektuelle Arbeit konstatiert wird (Lazzarato, Virno), wodurch unterscheidet sich dann die hier untersuchte aneignende, künstlerisch-literarische Performanz von der neuen Arbeit? Auch die Aneignungs- und Labelgesten eines Hauptvertreters der ersten Generation der Conceptual Art werden rückwirkend anders bewertet. Obwohl die kunstphilosophisch analysierende Praxis von Joseph Kosuth als aufklärerisch und repräsentationskritisch rezipiert wurde60, weist sie Tendenzen einer autoritären Entrepreneur-Performanz auf.61 Die von Foucault abgeleitete Differenzierung verlagert den Aneignungsbegriff vom Besitz eines materiellen Objekts zu einem Feld von strategischen Handlungsweisen, in dem die Aneignung auftritt. Analog zu dieser Denkweise verstehe ich den von Duchamp initiierten Readymade-Diskurs als eine immer wieder spezifisch zu erarbeitende erkenntnistheoretische Fragestellung, die die künstlerische Produktion grundsätzlich betrifft, aber nur von den Konzeptualismen aufgeworfen wird. Das davon abgeleitete transkriptive Interesse agiert zwischen Skript und Transkript als eine de-konzeptuelle Praxis, die eine Wiedererkennbarkeit im Sinne eines »signature style« zurückweist. Wie wird diese intellektuelle Leistung bewertet? Während traditionellerweise intellektuelle Leistung grundsätzlich höher bewertet wurde als körperliche Arbeit, kann man hier dagegen fragen, wie das sehr umfangreiche Wissen, das die Voraussetzung für die komplexen Operationen des transkriptiven Interesses zwischen Literatur und Kunst darstellt, bewertet und ob es überhaupt entlohnt wird. Denn – um Marx’ Vergleich zwischen Kellner und Pianist zu aktualisieren – der Kellner wird entlohnt und erhält zusätzlich Trinkgeld von einzelnen Gästen. Aber der Conceptual Writer, der seine angeeigneten Texte auf UbuWeb veröffentlicht, kann bestenfalls mit Einladungen zu Lesungen oder Ausstellungen rechnen. Aber selbst dafür erfolgt eine Entlohnung nur in Ausnahmen. Im Vergleich mit einem ebenfalls dem kreativen Feld der immateriellen Arbeit angehörenden Werbetexter, dessen Text unter Umständen auch eine Aneignung zugrunde liegt, ergibt sich hier eine große finanzielle Differenz. Während die produktive Arbeit nach Virno Tendenzen einer kommunikativen Veröffentlichung und Kontrolle aufweist, erscheinen persönliche affektive und intime Investitionen als Voraussetzung für eine Anerkennung in der Kunst. 60 | Vgl. Schmalriede, Manfred: »Konzeptkunst und Semiotik«, in: Kunstforum International 42 (1980), 35-47. 61 | Vgl. Buchmann, Sabeth: »Revolution als Stil. Über den Künstler Joseph Kosuth«, in: Texte zur Kunst 33 (1999), 86-105.

65

66

STEFAN R ÖMER

Die Kriterien dafür sind im künstlerischen Feld kontingent. Künstlerische Autonomie geht demnach zeitgenössisch mit Exklusion einher. Wenn die Praxis der Aneignung – unerheblich, ob im literarischen oder im künstlerischen Bereich – in ihren Publikationen implizit eine künstlerische (Selbst-) Definition schreibt, also den eigenen institutionellen Status in Bezug auf historische Konzeptualismen und das eigene Interesse reflektiert, nenne ich sie konzeptuell im Sinne der historischen Conceptual Art. Wenn diese Performanz der Lektüre und des Schreibens im Spannungsfeld zwischen der »Sorge um das Selbst« und einer politischen Praxis des (Selbst-)Inszenierens oszilliert, schreibt sich die künstlerische Lektürepolitik zwischen Rezeption, Reflexion und Arbeit. Hier haben die Assoziation und das Verknüpfen als Erzeugung neuer Information die alte Schreibweise ersetzt. Dieses transkriptive Schreiben thematisiert sich selbst als eine de-konzeptuelle Performanz. Sie be-schreibt die Differenz zwischen angeeignetem Skript und dem aneignenden Transkript mit ihrem Inter-esse.

Unter ›L‹ oder ›F‹? Überlegungen zur Frage der Werkidentität bei literarischen Werken Annette Gilbert

D ER FALL S HERRIE L EVINE 1990 erscheint bei Imschoot unter dem Namen von Sherrie Levine ein Buch mit dem Titel gustave flaubert. un cœur simple, das den unveränderten französischen Text von Gustave Flauberts Erzählung Un cœur simple von 1877 enthält. Darüber, ob dieses Buch in den Regalen einer Bibliothek unter ›F‹ (wie Flaubert) oder unter ›L‹ (wie Levine) zu finden sein sollte, gehen die Meinungen auseinander. Zumindest legen dies die bibliografischen Einträge in den deutschen Bibliothekskatalogen nahe, die Nora Ramtke in ihrem Beitrag zum vorliegenden Band aufgelistet hat.1 Man könnte dies als bloßen Ausdruck der Überforderung der Bibliothekare durch neueste Kunst und Literatur werten – wenn sich hinter dieser Varianz der bibliografischen Erfassung nicht eine Problematik von erkenntnistheoretischer Tragweite verbergen würde, die weit über Fragen der Bibliografie und Autorschaft hinaus- und in den Bereich der Kunstontologie hineinreicht. Wem die Autorschaft an diesem Buch gebührt: Levine oder Flaubert, kann reformuliert werden zur Frage, ob zwei Wort für Wort identische Texte zwei verschiedene literarische Werke sein können. Können mit einem Text unterschiedliche literarische Werke realisiert sein? Dies war auch die Frage, die Jorge Luis Borges in seiner Erzählung Pierre Menard, Autor des Quijote (1939) aufgeworfen hatte und in einem späteren kunstphilosophischen und literaturtheoretischen Disput verschieden beantwortet wurde.2 Im

1 | Vgl. Ramtke, Nora: Ohne Begleitschutz – Texte auf der Schwelle, im vorliegenden Band, 103-119, 108. 2 | Vgl. grundlegend Goodman, Nelson/Elgin, Catherine Z.: Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993; Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. Außerdem z.B. Tilghman, Benjamin R.: »Danto and the Ontology of Literature«, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 40:3 (1982), 293-299; Wreen, Michael: »Once is not Enough«, in: British Journal of Aesthetics 30:2 (1990), 149-158; Currie, Gregory: »Work and Text«, in: Mind 100:3 (1991), 325-340; Janaway, Christopher: »Two Kinds

68

A NNETTE G ILBERT

Folgenden soll jedoch nicht dieser (methodisch umstrittenen3) Diskussion eines fiktiven Falls nachgespürt und Borges’ Erzählung interpretiert werden, sondern es sollen ein existenter Fall und dessen konkrete Implikationen diskutiert und dabei gängige, am Fall Menard entwickelte kunstontologische Positionen überprüft werden. Der Fall Levine steht dabei exemplarisch für die Herausforderung(en), welche die künstlerische Strategie der Appropriation im literarischen Feld, insbesondere die Appropriation Literature, für die ästhetische Theoriebildung bereithält.4 Manche Widersprüchlichkeit oder Unplausibilität der Identitätskriterien literarischer Werke und des Werkbegriffs zutage fördernd, kommt ihr diesbezüglich ein hohes Erkenntnispotential zu. Zugleich versprechen die Vertreter der Kunstphilosophie, ihrerseits zur Schlichtung manchen Streits in der öffentlichen Diskussion um die künstlerische Appropriation beitragen zu können.5 Ziel dieses Beitrags ist es in diesem Sinn, auf der Basis kunstphilosophischer und philologischer Überlegungen6 eine Erklärung für die Varianz in der bibliografischen Erfassung des Falls Levine zu suchen und zu einer sachgerechten Beurteilung der Werkidentität (nicht nur) in diesem Fall zu finden. Die Übertragbarkeit dieser am Einzel- und Grenzfall gewonnenen Erkenntnisse auf literarische Werke im Allgemeinen ist dadurch gegeben, dass Grenzfälle immer auch Auskunft über den Normalfall geben.7

of Artistic Duplication«, in: British Journal of Aesthetics 37:1 (1997), 1-14; Margolis, Joseph: »Farewell to Danto and Goodman«, in: British Journal of Aesthetics 38:4 (1998), 353-374; Spree, Axel: »Borges, Danto, Goodman«, in: Sprache und Literatur 33:1 (2002), 43-54; Livingston, Paisley: »Text, Works, Versions (With Reference to the Intentions of Monsieur Pierre Menard)«, in: Ders.: Art and Intention. A Philosophical Study, Oxford: Oxford University Press 2005, 112-134; Laiho, Leena: »A literary work – Translation and original. A conceptual analysis within the philosophy of art and Translation Studies«, in: Target 19:2 (2007), 295-312. 3 | Vgl. Gilbert, Annette: Zur Einführung im vorliegenden Band, 9-24, 10-12. 4 | Zum Begriff ›Appropriation Literature‹ vgl. Gilbert, Annette: Re-Print. Appropriation (&) Literature, Wiesbaden: luxbooks 2012 (im Druck). – Nicht alle unter diesem Begriff subsumierten Werke lassen den Quelltext vollkommen unverändert. Levines Werk stellt in diesem Sinn einen Grenzfall dar. 5 | Etwa »zu einer sachgerechteren Beurteilung urheberrechtlicher Streitfälle«, da in diesem Feld die Identitätsbedingungen eine zentrale Rolle« spielen. Schmücker, Reinold: »Vorwort«, in: Ders. (Hg.): Identität und Existenz. Studien zur Ontologie der Kunst, Paderborn: mentis 2003, 7-10, 9. 6 | In der Literaturwissenschaft trifft man diesbezüglich auf eine eher prekäre Forschungslage, eine Bestandsaufnahme bieten Kölbel, Martin: »Das literarische Werk. Zur Geschichte eines Grundbegriffs der Literaturtheorie«, in: Text. Kritische Beiträge 10 (2005), 13-26, und Spoerhase, Carlos: »Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen«, in: Scientia Poetica (11) 2007, 276-344. Aus bibliothekarischer Sicht vgl. Jochum, Uwe: »Kataloge« und »Das Werk«, in: Ders.: Die Idole der Bibliothekare, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, 31-53 und 55-88. 7 | Es gilt die Einschränkung auf literarische Werke, »denn der Ort der Werkidentität variiert mit den verschiedenen Künsten.« Goodman/Elgin: Revisionen, 90.

U NTER ›L‹ ODER ›F‹? Ü BERLEGUNGEN ZUR F RAGE DER W ERKIDENTITÄT BEI LITERARISCHEN W ERKEN

Z UR S ELBIGKEIT DES B UCHSTABIERENS ALS I DENTITÄTSBEDINGUNG Die Feststellung, dass der Text im Buch gustave flaubert. un cœur simple buchstabenidentisch ist mit dem Text von Flauberts Erzählung Un cœur simple, führt immer dann zur Entscheidung, dass es sich um ein Werk Flauberts handelt, welches im Regal unter ›F‹ einzuordnen ist, wenn Text und Werk gleichgesetzt werden. Diese textualistische Position wird in der Kunstphilosophie u.a. von Nelson Goodman vertreten. Für ihn bestimmt sich ein literarisches Werk allein über seinen Text, der als eindeutig identifizierbare syntaktische Einheit verstanden wird8: »Nehmen wir an, es gebe verschiedene handgeschriebene Exemplare und viele Ausgaben eines bestimmten literarischen Werks. Unterschiede zwischen ihnen in der Art und der Größe von Schrift oder Druck, in der Farbe der Tinte, in der Papiersorte, in der Anzahl und dem Layout der Seiten, im Zustand etc. spielen keine Rolle. Es zählt allein das, was man die Selbigkeit des Buchstabierens nennen könnte: exakte Entsprechung in den Buchstabenfolgen, Abständen und Satzzeichen. […] Um einen Einzelfall des Werk zu identifizieren […], ist nichts weiter erforderlich, als die Buchstabierung zu verifizieren […].« 9

Hintergrund dieser Ansicht ist Goodmans in Sprachen der Kunst entwickelte Unterscheidung allographischer und autographischer Künste. Allographische Künste, zu denen die Literatur zählt, zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine eindeutige Notation haben, die alle für das Werk konstitutiven Eigenschaften enthält. Darüber hinaus gilt, dass es nicht nur eine einzige Manifestation des Werks, sondern mehrere Inskriptionen eines Texts geben kann, die als Einzelfälle ein und desselben Werks gelten müssen. Wie Goodman immer wieder betont, hängt hier »die Identifizierung eines Gegenstandes […] als eines Einzelfalls des Werks überhaupt nicht davon ab[…], wie oder wann oder von wem der Gegenstand […] hervorgebracht wurde. Eine Inskription eines Gedichts zum Beispiel braucht nur korrekt buchstabiert zu werden, ganz gleichgültig, wie sie entstand«.10

(Auf dieses Argument der Irrelevanz der Entstehungsgeschichte wird zurückzukommen sein.) Im Fall Levine wäre die Frage der Werkidentität mithilfe dieses Kriteriums schnell geklärt: Der Text des Buchs wird genauso buchstabiert wie der Text von Flauberts Erzählung. Ergo hat Sherrie Levine kein anderes, neues Werk, sondern nur eine weitere Inskription des Werks Flauberts hergestellt. In einem nächsten Schritt diskutiert Goodman die für unseren Kontext zentrale Frage: »Es gibt zwar nur einen Text zu jedem Werk, aber gibt es auch nur ein Werk 8 | Vgl. ebd., insb. 77-88. 9 | Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, 115 [Herv. i. O.]. 10 | Ders.: »Über die Identität von Kunstwerken«, in: Schmücker: Identität und Existenz, 102-106, 103.

69

70

A NNETTE G ILBERT

zu jedem Text?«11 Am Beispiel der Buchstabenfolge ›chat‹, die sowohl ein Wort der französischen als auch ein Wort der englischen Sprache darstellen kann, konstruiert Goodman den Fall, dass eine Inskription in zwei Sprachschemata verschieden funktionieren und somit ein jeweils anderer Text sein könne. Daraus gewinnt er als modifizierte Identitätsbedingung: »Ein Text ist eine Inskription in einer Sprache. Deshalb hängt seine Identität von der Sprache ab, zu der er gehört.«12 Im Fall Levine führt diese Erweiterung der Identitätsbedingung zu keiner Revision der obigen Entscheidung, denn sowohl die Identität der Sprache (französisch) als auch die syntaktische Identität innerhalb dieser Sprache sind hier gegeben. Es kann jedoch an einem anderen Appropriationsfall gezeigt werden, dass die Identität der Sprache für die Feststellung der Werkidentität durchaus von Relevanz sein kann. Peter Manson hat 2006 in seinem E-Book English in Mallarmé 85 Gedichte aus Stéphane Mallarmés Poèmes wiederabgedruckt, in denen er jene Wörter bzw. Wortteile schwarz stehen ließ, die auch im Englischen bedeutsam sind, und die restlichen Elemente weiß, also unsichtbar, setzte, wie die Gegenüberstellung beispielhaft zeigt: Stéphane Mallarmé LA FEMME DE L’OUVRIER. La femme, l’enfant, la soupe En chemin pour le carrier Le complimentent qu’il coupe Dans l’us de se marier.13

Peter Manson ME me, fan , soup hem pour carrier complimentent coup an us mar .14

Da die weiß gesetzten Elemente immer noch im Datensatz enthalten sind und durch Färbung leicht sichtbar gemacht werden können, steht einer Feststellung der syntaktischen Identität mit dem Text von Stéphane Mallarmés Poèmes nichts im Wege.15 Dennoch handelt es sich nicht um zwei Vorkommnisse desselben Werks, da Mallarmés Text im Französischen, Mansons Text jedoch im Englischen zu verankern ist und somit die von Goodman geforderte Sprachidentität nicht gegeben ist. Es sind Einzelfälle zweier verschiedener literarischer Werke, die im Bücherregal getrennt, je unter ›Mallarmé‹ und ›Manson‹, einzuordnen sind.

11 | Goodman/Elgin: Revisionen, 82. 12 | Ebd., 84. 13 | Mallarmé, Stéphane: Poésies. Édition complète, Paris: Gallimard 1951, 103. 14 | Manson, Peter: English in Mallarmé [/ubu editions: Publishing The Unpublishable 010 (2006)], http://ubu.com/ubu/unpub/Unpub_010_Manson_Mallarme.pdf, 59 vom 10.12.2011. 15 | Bei Goodman bleibt offen, ob die syntaktische Identität als solche wahrnehmbar sein muss oder ob es genügt, dass sie vorhanden ist, die Wahrnehmbarkeit aber erst hergestellt werden muss.

U NTER ›L‹ ODER ›F‹? Ü BERLEGUNGEN ZUR F RAGE DER W ERKIDENTITÄT BEI LITERARISCHEN W ERKEN

R ELATIVE WERKIDENTITÄT Natürlich lässt dies Fragen offen. Zum einen ist nicht recht einsichtig, dass die Prüfung der Werkidentität bei zwei doch recht ähnlich gelagerten Appropriationen allein aufgrund des Kriteriums der Sprachidentität zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Es mutet wohl nicht nur in diesem Fall geradezu absurd an, darauf so schwerwiegende Entscheidungen wie die der Werkidentität zu gründen. Zum anderen stellt sich allgemein die Frage nach der Adäquatheit der von Goodman aufgestellten Kriterien. Goodman selbst war sich bewusst, dass es »Protest […] hervorrufen« könnte, »ein Gedicht mit seinem Text gleichzusetzen«16. Und in der Tat ist dagegen verschiedentlich Einspruch erhoben worden. Etwa weil es mit dem in den Philologien verbreiteten Werkverständnis kollidiert17 oder weil man, folgte man Goodmans Argumentation, Übersetzungen eines Werks als Einzelfälle eines davon verschiedenen Werks auffassen müsste.18 »Diese Konsequenz ist«, wie Reinold Schmücker bemerkt, »unplausibel, weil sie zu unserer üblichen Wahrnehmung von Übersetzungen […] im Widerspruch steht«19. Gleiches betrifft (druck-)fehlerbehaftete Ausgaben eines Werks – auch diese wird man wohl kaum als Einzelfälle eines davon verschiedenen Werks wahrnehmen. Vor diesem Hintergrund stellt Goodmans Identitätsbedingung der ›Selbigkeit des Buchstabierens‹ eine »Idealisierung unserer alltäglichen Klassifikationspraxis«20 dar, wie Wolfgang Künne kritisiert. Er schlägt daher vor, nur von einer »›Beinahe‹Instanz des fraglichen Werks«21 auszugehen. Dies würde erlauben, auch eine fehlerhafte Ausgabe als Exemplar (wenn auch als unzulängliches) des fraglichen Werks zu fassen. Dieser Idee einer graduellen Varianz schließt sich Reinold Schmücker an, wenn er vorschlägt, »in diesen Fällen von relativer Werkidentität [zu] sprechen«, denn dies würde die Möglichkeit einschließen, dass »nicht alle Vorkommnisse eines Kunstwerks dieses gleichermaßen gut repräsentieren.«22 16 | Goodman: Sprachen der Kunst, 196. 17 | Vgl. der Titel bei Wilsmore, Susan: »The Literary Work Is Not Its Text«, in: Philosophy and Literature 11:2 (1987), 307-316. Zum philologischen Werkverständnis vgl. Spoerhase: »Was ist ein Werk?«. 18 | Vgl. z.B.: »eine Übersetzung eines Werkes ist kein Einzelfall dieses Werks. Sowohl Identität der Sprache als auch syntaktische Identität innerhalb der Sprache sind notwendige Bedingungen für die Identität eines literarischen Werks.« Goodman: Sprachen der Kunst, 196. – Zur Werkidentität von Übersetzungen vgl. auch Laiho: »A literary work – Translation and original«. 19 | Schmücker, Reinold: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, in: Ders.: Identität und Existenz, 149-179, 157. 20 | Künne, Wolfgang: »Ausdrücke und literarische Werke als Typen«, in: Schmücker: Identität und Existenz, 141-148, 143 [Herv. i. O.]. 21 | Ebd., 143. – Nicht betroffen von dieser Relativierung ist die Frage der Übersetzung, da Künne an dem Kriterium »x und y gehören zur selben Sprache« festhält. Ebd., 144. 22 | Schmücker: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, 159 und 166 [Herv. i. O.].

71

72

A NNETTE G ILBERT

TEXTGESCHICHTLICHE V ERWANDTSCHAFT ALS I DENTITÄTSBEDINGUNG Weitergehende Vorschläge zur Revision der Goodman’schen Identitätsbedingungen argumentieren häufig auf der Basis der aus der Peirce’schen Semiotik stammenden Type-Token-Theorie, deren Übertragbarkeit auf Kunstphänomene und die Identitätsproblematik schon mehrfach positiv beschieden wurde. Laut Peirce fungiert der Type als »allgemeines Gesetz«, d.h. als abstraktes Modell, von dem sich das Token als »aktual existierendes Ding«23, d.h. als singuläres Vorkommnis, ableitet. Das literarische Werk wäre also ein Type, der sich in verschiedenen Buchausgaben, den Token, manifestierte.24 Das Werk selbst stellt demnach keinen konkreten Gegenstand dar, auf den als ›das Werk‹ gezeigt werden könnte, sondern es ist »uns allein in der Gestalt physischer Objekte zugänglich […], von denen es verschieden und doch in eigentümlicher Weise ununterscheidbar ist.«25 Die Paradoxie, die dieser Form instantiierender Identität daher eignet, hat Sybille Krämer folgendermaßen beschrieben: »Etwas, das unseren Sinnen zugänglich ist, wird interpretiert als raum-zeitlich situierte Instantiierung von etwas, das nicht mehr unmittelbar gegeben ist, gleichwohl jedoch der singulären Erscheinung logisch und genealogisch vorausgeht.«26 Da es sich bei einem konkreten Buchexemplar nicht um das literarische Kunstwerk selbst handelt, bliebe dieses unberührt, wenn bspw. alle Token verloren gingen oder zerstört würden. Ebenso wenig ist »die Klasse aller Textexemplare […] das sprachliche Kunstwerk; denn diese Klasse ist stets vermehrbar – durch neue Auflagen, Übersetzungen usw. –, dagegen ist das Kunstwerk in den meisten Fällen zu irgendeinem Zeitpunkt von jemandem abgeschlossen und vollendet worden.«27 Reinold Schmücker führt diesen Gedanken weiter und postuliert, dass das »Sein eines Kunstwerks […] einen im Prinzip datierbaren Anfang [hat], der sich an einer auf ein physisches Objekt bezogenen Tätigkeit eines einzelnen oder mehrerer Personen festmachen läßt.«28 Es gibt also eine primäre Manifestation des Werks, die von besonderer Bedeutung ist, da mit ihr das Werk selbst entsteht und da sich auf sie alle späteren Manifestationen eines Werks (also etwa alle späteren Ausgaben eines 23 | Peirce, Charles S.: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, 123. 24 | Die Token sind nicht an bestimmte Medien und Materialitäten gebunden. Die Manifestationen literarischer Werke müssen bspw. nicht in Buchform vorliegen, denkbar wäre auch eine Lesung oder ein Hörbuch. Verschiedentlich wird weiter zwischen Token und Replika unterschieden oder ein Megatyp eingeführt, was für die hier verfolgte Fragestellung nicht vertieft werden muss. Zur Diskussion dieser Punkte vgl. z.B. die Beiträge in: Schmücker: Identität und Existenz. 25 | Schmücker: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, 152. 26 | Krämer, Sybille: »Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Thesen über Performativität als Medialität«, in: Paragrana 7:1 (1998), 33-57, 33. 27 | Patzig, Günther: »Über den ontologischen Status von Kunstwerken«, in: Schmücker: Identität und Existenz, 107-120, 110. 28 | Schmücker: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, 166 [Herv. i. O.].

U NTER ›L‹ ODER ›F‹? Ü BERLEGUNGEN ZUR F RAGE DER W ERKIDENTITÄT BEI LITERARISCHEN W ERKEN

Romans) zurückbeziehen lassen.29 Sie ist daher häufig »der Maßstab […], anhand dessen wir […] Fragen der Werkidentität entscheiden«, wobei an die Stelle der Primärmanifestation auch eine »Sekundärmanifestation [treten kann], von der wir vermuten, daß sie dem Original am nächsten kommt«30. Denn: »Hat ein Kunstwerk […] erst einmal Sein erlangt, hängt seine Fortexistenz unter Umständen nicht mehr davon ab, daß das Original weiterexistiert. […] Hätte es das Original jedoch nie gegeben, wären solche Aussagen prinzipiell unüberprüfbar. Für die Existenz eines Kunstwerks ist demnach nicht unbedingt konstitutiv, daß es die Originalmanifestation noch gibt, wohl aber, daß es sie einmal gegeben hat.«31

Erkennt man diese Implikationen der Type-Token-Theorie an, führt dies zwingend zu einer Revision und Erweiterung der von Goodman eingeführten Identitätskriterien um die genealogische Beziehung der Vorkommnisse eines Werks. Diesen entstehungsgeschichtlichen Aspekt hatte Goodman jedoch gerade im Fall der allographischen Künste für irrelevant erklärt (s.o.). Dies ist nicht unwidersprochen geblieben. Gregory Currie etwa findet diesen Ausschluss der historischen Dimension für Vorkommnisse literarischer Werke wenig plausibel und plädiert kurzerhand dafür, auch die Literatur zur autographischen Kunst zu erklären.32 Richard Wollheim konstatiert, dass selbstredend »die Entstehungsgeschichte eines Kunstwerks in allen Künsten für dessen Identität relevant«33 sei. Ähnlich argumentiert Reinold Schmücker, der die »entstehungsgeschichtliche Verwandtschaft«34 sogar als erste notwendige Bedingung für Werkidentität nennt. Auch Wolfgang Künne fordert für den »Begriff des Exemplars eines Werks […] eine kausale Komponente.«35 Geprüft werden muss also neben der von Goodman geforderten syntaktischen Identität und semantischen Sprachidentität immer auch die Abstammung der Vorkommnisse, wobei gilt, dass sich alle werkidentischen Manifestationen eines Werks von der primären Manifestation (oder der entsprechenden Sekundärmanifestation) ableiten lassen müssen. Künne ergänzt Goodmans Identitätsbedingung entsprechend um folgende: 29 | Vgl. Tolhurst, William E./Wheeler, Samuel C.: »On Textual Individuation«, in: Philosophical Studies: An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition, 35:2 (1979), 187-197, 195, und Schmücker: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, 166-167. 30 | Schmücker: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, 167. 31 | Ebd., 167f. 32 | »To deny that text alone can identify a literary work is to allow that historical factors are relevant, […] and so literary works will be autographic.« Currie: »Work and Text«, 336. 33 | Wollheim, Richard: »Sind die Identitätskriterien, die in den verschiedenen Künsten für ein Kunstwerk gelten, ästhetisch relevant?«, in: Schmücker: Identität und Existenz, 76-101, 81 [Herv. A. G.]. 34 | Schmücker: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, 156. 35 | Künne: »Ausdrücke und literarische Werke als Typen«, 144 [Herv. i. O.].

73

74

A NNETTE G ILBERT »Um ein Exemplar des Werks α zu sein, muß ein Text sozusagen die richtige Geschichte haben: x und y sind nur dann Exemplare ein und desselben Werks, wenn entweder x eine Abschrift von y ist oder y eine Abschrift von x oder wenn x und y letztlich nach derselben Vorlage angefertigt worden sind. Im letzteren Fall müßte es einen Text z geben, von dem gilt: x ist Abschrift einer Vorlage, die Abschrift einer Vorlage ist, die … Abschrift von z ist & y ist Abschrift einer Vorlage, die Abschrift einer Vorlage ist, die … Abschrift von z ist. Wir können diese notwendige Bedingungen abkürzend so formulieren: x und y müssen textgeschichtlich verwandt sein.« 36

Allerdings führt dieses Kriterium der Überlieferungsgeschichte noch nicht weit genug, denn es erfasst allein die textgeschichtliche Filiation verschiedener Vorkommnisse, ohne die spezifische Entstehungsgeschichte, den historisch-situativen Hintergrund der Genese dieser Vorkommnisse zu berücksichtigen. Damit ist aber für unsere Fragestellung und den Fall Levine noch nicht viel gewonnen, denn »[a]uch Parodie und Parodiertes, Persiflage und Persifliertes, Zitat und Zitiertes sind nämlich entstehungsgeschichtlich verwandt«37, wie Schmücker konstatiert.

M ODI DER P RÄSENTATION ALS I DENTITÄTSKRITERIUM Das Beispiel der Parodie aufgreifend, führt Schmücker daher ein weiteres Kriterium in die Diskussion ein: Erfüllt sei die Äquivalenzbedingung »auch dann, wenn wir ein Objekt als Aktualisierung […] eines anderen gewahren«. Dafür genüge es, »daß sich numerisch verschiedene Objekte, die entstehungsgeschichtlich miteinander verwandt sind, als Äquivalente präsentieren – wie immer sie das tun.«38 Eben daran fehlt es der Parodie, denn: »Sie präsentiert sich nicht als Äquivalent eines Exemplars des parodierten Werks, sondern repräsentiert ein Werk eigenen Rechts, das sich als Werk über ein Werk zu erkennen gibt.«39 Es gilt also, zusätzlich zu den drei bisher genannten Identitätsbedingungen (textgeschichtliche Verwandtschaft, syntaktische Identität, Sprachidentität) zu prüfen, als was sich das vorliegende Vorkommnis präsentiert, als was es sich zu erkennen gibt, wie es sich rahmt. Es liegt nahe, hier die peritextuellen Paratexte ins Visier zu nehmen, dienen diese doch vorrangig dazu, einen Text »zu präsentieren«40, wie Gérard Genette in seiner Studie zum »Beiwerk des Buches« aufgezeigt hat. ›Präsentieren‹ meint hier, 36 | Ebd. [Herv. i. O.]. 37 | Schmücker: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, 156. – Zieht man das Krite rium der syntaktischen Identität hinzu, erlaubt das textgeschichtliche Kriterium dennoch eine Präzisierung, da sich mit beiden gemeinsam zahlreiche Fälle von Parodie und Persiflage ausscheiden lassen. 38 | Ebd., 157 und 158 [Herv. i. O.]. 39 | Ebd., 158. 40 | Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, 9 [Herv. i. O.].

U NTER ›L‹ ODER ›F‹? Ü BERLEGUNGEN ZUR F RAGE DER W ERKIDENTITÄT BEI LITERARISCHEN W ERKEN

einen Text »präsent zu machen, und damit seine ›Rezeption‹ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buchs zu ermöglichen.«41 Georg Stanitzeks Formulierung, dass Paratexte die archivtechnische Funktion »eines ebenso unscheinbaren wie offenbar fundamentalen Etikettierens von Artefakten [übernehmen], das ihr Ordnen, Suchen und Finden ermöglicht«42, weist den engen Zusammenhang zur Werkidentität auf.

Signale der ›aboutness‹ in der Titelei und auf dem Cover Die nun folgende Untersuchung, als was sich Levines Buch präsentiert, wird sich vor allem der Titelei mit Angabe von Autor und Titel und der Covergestaltung widmen. Aus der Diskussion um die Autorschaft, wie sie nicht nur in der Literaturwissenschaft kontrovers geführt wird43, interessiert an dieser Stelle v.a. die moderne Autorfunktion Foucault’scher Provenienz, die immer auch Werkfunktion ist. Der Autorname, so Foucault in seinem Vortrag Was ist ein Autor?, »hat bezogen auf den Diskurs eine bestimmte Rolle: er besitzt klassifikatorische Funktion; mit einem solchen Namen kann man eine gewisse Zahl von Texten gruppieren, sie abgrenzen, einige ausschließen, sie anderen gegenüberstellen.«44 Das literarische Werk, entstanden aus einem Akt der »Vergesellschaftung«45 eines privaten Textes durch die Entscheidung zur Veröffentlichung in einem institutionellen Rahmen, tritt gewissermaßen als »ein Stück Diskurs mit einem Zaun drumherum«46 in Erscheinung, wobei der Autorname als Umrisslinie fungiert. Weder ist mit der so beschriebenen Autorfunktion die empirische Person tangiert, auf die sich ggf. der Autorname beziehen lässt, noch ist damit eine Aussage über die Frage der Urheberschaft am Text getroffen. Der Text eines Werks kann prinzipiell von anderen produziert sein. Zwar fällt die Urheberschaft am Text im 41 | Ebd. [Herv. i. O.]. 42 | Stanitzek, Georg: »Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive«, in: Rautenberg, Ursula (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, Berlin: De Gruyter Saur 2010, Bd. 1, 157-200, 166. 43 | Einen Überblick über die Diskussion in den Philologien bieten Jannidis, Fotis et al. (Hgg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen: Niemeyer 1999 und Detering, Heinrich (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002. 44 | Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: Jannidis, Fotis et al. (Hgg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, 198-229, 210. Zur werkkonstitutiven Funktion des Autor(namen)s jüngst auch Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, München: Fink 2007. 45 | Spoerhase: »Was ist ein Werk?«, 326. Vgl. auch Kölbel: »Das literarische Werk«, 31, 35, 41. 46 | Heinrich Bosse zit. n. Zons, Raimar: »Über den Ursprung des literarischen Werks aus dem Geist der Autorschaft«, in: Oelmüller, Willi (Hg.): Kolloquium Kunst und Philosophie, Paderborn et al.: Ferdinand Schöningh 1983, Bd. 3, 104-127, 106.

75

76

A NNETTE G ILBERT

Regelfall mit der Autorschaft am Werk zusammen. Doch zeigen gerade Extremfälle wie das Readymade in der Found Poetry und der Appropriation Literature, dass zwischen beiden systematisch unterschieden werden sollte.47 Die Autorschaft besteht hier »sozusagen aus einem Akt der Taufe, die einem gegebenen Objekt [fremder Feder] eine neue […] Identität verleiht.«48 Der Unterschied zwischen beiden genannten Grenzfällen besteht darin, dass sich die Found Poetry i. d. R. Texte des alltäglichen Lebens anverwandelt, bei denen man allenfalls eine sehr schwache Autorfunktion diagnostizieren kann, während sich die Appropriation Literature aus dem Fundus literarischer und geistesgeschichtlicher Werke bedient, die – erst recht im Fall kanonischer Werke – über eine ausgeprägte Autorfunktion verfügen, wenn man Foucaults Einschätzung folgt: »Die Funktion Autor hat heutzutage ihren vollen Spielraum in den literarischen Werken.«49 Bezogen auf den Fall Levine treffen hier also zwei gleichwertige Autorfunktionen aus und in demselben diskursiven Feld aufeinander und treten in Konkurrenz zueinander, wobei anzunehmen ist, dass Flauberts Autorfunktion fester im Diskurs verankert ist und eine größere Wirkmacht entfaltet als Levines. Ihr Anspruch auf Autorschaft muss daher zwingend von deutlich markierten Grenzziehungen im diskursiven Feld begleitet sein, wofür sich die Titelei und Covergestaltung eines Buchs besonders gut eignen. Zwar ist der Titel »un cœur simple« sowohl auf dem Cover als auch auf dem Titelblatt deutlich mit dem Namen »gustave flaubert« überschrieben. Der Text des Buchs wird also gerahmt durch den Autornamen Flauberts, und er wird so auf den ersten Blick als Vorkommnis der Flaubert’schen Erzählung gekennzeichnet.50 Dieser Deutung steht jedoch entgegen, dass auch der Name »Sherrie Levine« auf Cover und Titelblatt erscheint – und zwar am oberen Buchrand, wo gewöhnlich der Autorname steht, und über dem Namen »gustave flaubert«, der so dicht über dem Titel »un cœur simple« platziert ist, dass er fraglos diesem zugerechnet werden will.51 Auch die Typografie legt die Zugehörigkeit des Namens Flauberts zum Titel nahe, denn beide sind in auffälliger Kleinschreibung und serifenloser Schrift gehalten, während der Name des Verlags, Imschoot, und der Autorin, Sherrie Levine, in Großschreibung und Serifenschrift gesetzt sind. Somit präsentiert sich dieses Buch explizit als Vorkommnis eines Werks von Sherrie Levine, das den Titel gustave flaubert. un 47 | Für das Readymade in der Found Poetry am Beispiel von Peter Handke vgl. Martínez, Matías: »Autorschaft und Intertextualität«, in: Jannidis: Rückkehr des Autors, 465-479. 48 | Ebd., 474f. 49 | Foucault: »Was ist ein Autor?«, 213. 50 | Diese demonstrative Offenlegung der Quelle unterscheidet solche Werke im Übrigen vom Plagiat und von der Fälschung. – Eine Abbildung ist aus urheberrechtlichen Gründen leider nicht möglich. 51 | Diese Verschiebung des Namens des Urhebers in den Titel findet sich auch in anderen Appropriationen, z.B. Dmitrij Prigovs Evgenij Onegin Puškina (1992, vgl. Sabine Hänsgens Beitrag in diesem Band) und Ezequiel Alemians El tratado contra el método de Paul Feyerabend (2010).

U NTER ›L‹ ODER ›F‹? Ü BERLEGUNGEN ZUR F RAGE DER W ERKIDENTITÄT BEI LITERARISCHEN W ERKEN

cœur simple trägt – und den Text von Flauberts Erzählung zum Inhalt hat. Auch dies drückt sich in der Covergestaltung aus, denn Flauberts Name wurde über Frontund Backcover verteilt: vorn steht »flaubert«, hinten »gustave«, so dass der Name das Innere des Buchs, den enthaltenen Text un cœur simple, zu umfassen scheint. Damit verliert der Name »gustave flaubert« seine Autorfunktion, ›Flaubert‹ fungiert hier nicht mehr als Autor eines Werks, sondern nur noch als Urheber eines Texts, der in dem Werk einer anderen Autorin Verwendung findet. Er wird zum Zulieferer, dessen vormalige Autorfunktion für die Erzählung Un cœur simple nur noch anzitiert wird, nicht aber mehr wirksam ist. An seiner statt kommt die Autorfunktion Levines zum Tragen, die sich der Flauberts bemächtigt und ihr geradezu überstülpt bzw. aufpfropft.52 Da ein Autorname immer auch »eine Inbezugsetzung der Texte zueinander [bewirkt]«53, wird mit der raumzeitlichen Neuverortung des Texts Un cœur simple im literarischen Diskurs zugleich zu verstehen gegeben, dass Levines Werk das Werk Flauberts und dessen Autorfunktion als historische Realität bereits einschließt, so dass es darauf Bezug nehmen kann. Noch eindeutiger manifestiert sich diese Nachgängigkeit (und Eigenständigkeit) in der Titelei der englischen Erstveröffentlichung »A Simple Heart (After Gustave Flaubert) by Sherrie Levine«.54 Es handelt sich bei diesem Werk mithin nicht mehr um eine Erzählung Flauberts über ein schlichtes Herz, sondern um ein Werk Levines über eine Erzählung Flauberts über ein schlichtes Herz. Es ist diese »aboutness«55 zweiter Stufe, die Levines Werk bestimmt und von Flauberts Erzählung individuiert. Nur angerissen werden kann an dieser Stelle die intrikate Frage, ob damit auch ein ontologischer Statuswechsel verbunden ist, vergleichbar der Überführung eines Alltagsgegenstandes bzw. -textes in die Kunst (vgl. Marcel Duchamps Fountain) bzw. Literatur (vgl. Peter Handkes Die Aufstellung des 52 | Mit Jacques Derrida und Uwe Wirth wird ›Aufpfropfung‹ hier als Herausnehmen aus einem und Einfügen in einen anderen Kontext verstanden und als positiv konnotierte »Gegenmetapher zum Parasitären« und Supplementären gebraucht. Vgl. Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext«, in: Ders.: Limited Inc., Wien: Passagen 2001, 15-45, und Wirth, Uwe: »Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpfropfung«, in: Fehrmann, Gisela et al. (Hgg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln: DuMont 2004, 18-33, 20. 53 | Foucault: »Was ist ein Autor?«, 210. 54 | Levine, Sherrie: »A Simple Heart (After Gustave Flaubert)«, in: New Observations 35 (1985) [Herv. A. G.]. Auch in anderen Buchappropriationen wird diese Formel genutzt, etwa in Paul Heimbachs DAS ALPHABET nach R. W. (1999), Antonia Hirschs Komma (after Dalton Trumbo’s Johnny Got His Gun) (2010) und Raymond Queneaus Les fondements de la littérature d’après David Hilbert (1976). 55 | Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, 89 [Herv. i. O.]. Bezogen auf den Fall Menard kommt Danto entsprechend zum Schluss: »die Werke sind zum Teil durch ihren Ort in der Literaturgeschichte konstituiert, aber ebenso auch durch ihre Beziehung zu den Autoren […]: man kann diese Faktoren nicht vom Werk abtrennen, da sie das Wesen des Werks sozusagen durchdringen.« Ebd., 66 [Herv. i. O.].

77

78

A NNETTE G ILBERT

1. FC Nürnberg vom 27.1.1968).56 Dafür spräche, dass Levines Werk Qualitäten zugesprochen werden können, die auf einer völlig anderen Ebene liegen als die Eigenschaften, mit denen sich Flauberts textidentische Erzählung beschreiben lässt. So könnte man etwa Levines Werk wie schon Duchamps Readymades als »gewagt, unverschämt, respektlos, witzig und geistreich«57 beschreiben – Eigenschaften, über die wohl kaum weder das eigentliche Urinal noch die Erzählung Flauberts verfügen. Gegen die Annahme eines ontologischen Statuswechsels spräche, dass Flauberts Erzählung bereits zuvor in der Literatur verankert war, weshalb man hier allenfalls von einer Überführung eines literarischen Werks (des Textes Flauberts) in ein Kunstobjekt (das Buch Levines) sprechen könnte. Eine solche Lesart des Buchs als Kunstwerk ist eine häufig anzutreffende und geschickte Strategie, der Herausforderung durch die Appropriation Literature tolerant zu begegnen und sich dabei der durch sie aufgeworfenen Probleme im Literatursystem elegant zu entledigen. Denn Levines Werk der Kunst zuzuschlagen hieße, ihm einiges seiner Sprengkraft zu nehmen, die es (ausschließlich) im literarischen Feld hätte. Levines Werk in der Literatur zu verorten hingegen bedeutete, anzuerkennen, dass es sich aus der dezidierten Auseinandersetzung mit literarischen Werken, Diskursen, Traditionen, Konventionen und Institutionen speist, die es demonstrativ und provokativ zurückweist. Seine historische Identität bestimmt sich weniger aus der Kunst- als aus der Literaturgeschichte. Es wäre daher verkürzt, würde man dem Text allein aufgrund der Fremdurheberschaft keine weitere Beachtung schenken und von einer Lektüre absehen. So wie Peter Handkes Fußballmannschaftsaufstellung gelesen und als Gedicht behandelt werden will (und behandelt wird), will auch der Text in Levines Werk ›gelesen‹ werden58 – allerdings erklärtermaßen unter einem anderen Label59 und einem anderen Fokus als derselbe Text in Flauberts Erzählung. Eine typografische Entsprechung für die bei Levine über die Covergestaltung und parenthetische »After«-Formel erfolgte Anzeige der Nachgängigkeit und Aufpfropfung findet sich dort, wo das Bezugswerk im Titel ausgezeichnet wird, etwa durch Einklammerung (vgl. Rodney Grahams [La Véranda] (1989)) oder zitierende Anführungszeichen (vgl. Kris Martins ›Idiot‹ (2009)). Es ist dies eine sehr knappe und dezente Art, sich nicht als Vorkommnis von Melvilles Erzählung The Piazza bzw. Dostoevskijs Roman Idiot zu präsentieren. Allerdings fallen diese für die Feststellung der Werkidentität so bedeutsamen Schriftzeichen aufgrund ihrer Unscheinbarkeit in den bibliografischen Angaben überaus häufig unter den Tisch. So findet 56 | Vgl. die entsprechende Argumentation in ebd. und Martínez: »Autorschaft und Intertextualität«. 57 | Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, 147. 58 | Zur Frage der ›Lesbarkeit‹ der Appropriation Literature vgl. Gilbert: Re-Print. 59 | Zum Label als »historische Spezifierung und partielle Neubestimmung« der Foucault’schen Autorfunktion vgl. Niefanger, Dirk: »Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer)«, in: Detering: Autorschaft, 521-539, 523.

U NTER ›L‹ ODER ›F‹? Ü BERLEGUNGEN ZUR F RAGE DER W ERKIDENTITÄT BEI LITERARISCHEN W ERKEN

sich unter den bei WorldCat.org erfassten Bibliothekskatalogen weltweit nur ein einziger, der die Anführungszeichen in Martins Titel aufführt (Stand: 1.3.2012). Als ähnlich ›gefährdet‹ erweisen sich Appropriationen, welche die erfolgte Aufpfropfung ausschließlich über visuelle Signale zu erkennen geben, da diese nur bedingt bibliografisch erfasst werden können. So veröffentlichte Gareth Long 2006 im Eigenverlag ein Buch mit dem Titel Don Quixote, für das er das von George Guidall eingesprochene gleichnamige Hörbuch in Edith Grossmans CervantesÜbersetzung einem Spracherkennungsprogramm vorspielte und die vom Computer erstellte Transkription wieder als Buch selben Titels veröffentlichte. Diese weist etliche Ungereimtheiten auf, so erkannte die Software z.B. den Namen »Don Quixote« nicht, der daher in Longs Buch – außer in den Paratexten – kein einziges Mal auftaucht. Betrachtet man nur den korrupten Text, ergibt sich ein ähnliches Problem bei der Feststellung der Werkidentität wie im Fall von Übersetzungen bzw. fehlerhaften Ausgaben. Selbst wenn, wie von Schmücker und Künne vorgeschlagen, ›relative‹ Identitätsbedingungen Anwendung finden, scheint hier ein Grenzbereich erreicht, wo es eher im subjektiven Ermessen liegt, ob der Grad der Übereinstimmung zwischen diesem und anderen Vorkommnissen von Cervantes’ Don Quixote als noch ausreichend empfunden wird, um von Werkidentität sprechen zu können.60

Abb. 1: [Gareth Long]: Don Quixote, [New Haven]: Selbstverlag 2005, Cover. 60 | Der Fall gleicht der von Schmücker diskutierten Übersetzung von Finnegans Wake durch Dieter Stündel, »die Joyce zwar als Autor im Titel nennt, jedoch ›Kainäh ÜbelSetzZung des Wehrkeß fun Schämes Scheuß‹ sein will«, weshalb sich hier »auch nach gründlicher Lektüre beider Texte nicht sagen« lässt, ob es sich um zwei Manifestationen desselben Werks handelt, »ohne daß dabei ein evaluatives Moment zum Tragen käme.« Schmücker: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, 159.

79

80

A NNETTE G ILBERT

Abb. 2: Gerhard Rühm: Lehrsätze über das Weltall mit Beweis in Form eines offenen Briefes an Professor Einstein. in einer von gerhard rühm bearbeiteten neuauflage, Berlin: Volker Magdalinski 1965, Cover mit Bauchbinde.

Abb. 3: Marcel Broodthaers/Charles Baudelaire: La Pauvre Belgique. ABC, New York/Paris: Hermann Daled/Yves Gevaert & Paul Lebeer 1974, Cover mit halbtransparentem Schutzumschlag.

Zieht man die Art der Präsentation auf dem Cover zurate, wird man das Buch wohl als Exemplar der 2005 bei Harper Perennial erschienenen Edith GrossmanÜbersetzung von Cervantes’ Don Quixote verbuchen. Der Name Gareth Long taucht nirgends auf (vgl. Abb. 1). Selbst die auf dem Backcover abgedruckte ISBN entspricht der Edith-Grossman-Ausgabe von Cervantes’ Werk. Wohl erst bei genauerer Betrachtung wird man feststellen, dass Longs Cover doch nicht dem Cover der Grossman-Ausgabe entspricht, sondern eine geschickte Überblendung von deren Layout mit dem der Hörbuchausgabe von Recorded Books (2003) darstellt. So wurde die Angabe »Introduction by Harold Bloom« ersetzt durch »Narrated by George Guidall«, auf dem Buchrücken finden sich das Logo und der Slogan, auf

U NTER ›L‹ ODER ›F‹? Ü BERLEGUNGEN ZUR F RAGE DER W ERKIDENTITÄT BEI LITERARISCHEN W ERKEN

dem Backcover der Schriftzug von Recorded Books. Es ist allerdings fraglich, ob diese minimalen Differenzen dem Rezipienten genügen, um das vorliegende Buch als Nicht-Äquivalent zu gewahren. Als eindeutiger, auch dem Laien erschließbarer Hinweis dürfte sich hingegen erweisen, dass das Cover eine Reproduktion des Covers einer gebrauchten Grossman-Ausgabe mit etlichen Abnutzungserscheinungen darstellt und dass diese Reproduktion zudem von einem schwarzen Rand eingefasst ist. Dieser das zitierende Aneignungsverhältnis visualisierende Schachzug61 begegnet in Appropriationen öfter. So setzt etwa Bernard Villers in La nuit tombe (1978) um das originale Cover der französischen Gallimard-Ausgabe des Krimis von David Goodis einen weißen Rahmen (vgl. Abb. 9 im Beitrag von Anne Mœglin-Delcroix in diesem Band). Als Äquivalent einer solchen buchstäblichen Umrahmung kommen häufig Bauchbinden zum Einsatz (vgl. z.B. Gerhard Rühms Lehrsätze über das Weltall mit Beweis in Form eines offenen Briefes an Professor Einstein. in einer von gerhard rühm bearbeiteten neuauflage von 1965, Abb. 2), aber auch (transparente) Schutzumschläge (vgl. z.B. Marcel Broodthaers/Charles Baudelaire: La Pauvre Belgique. ABC von 1974, Abb. 3). All dies sind deutliche Signale, die der Ausstellung der aufgepfropften Autorschaft und der ›aboutness‹ zweiter Stufe dienen und hinsichtlich der Werkidentität keinen anderen Schluss zulassen, als dass sich diese Bücher nicht als Äquivalente zu den Vorkommnissen eines anderen Werks mit demselben Text präsentieren wollen.

Konsequenzen für den Umgang mit dem Beiwerk des Buches Um diese je individuellen Modi der Präsentation erkennen und bewerten zu können, sind eine gewisse Sensibilität und Kompetenz erforderlich, die jedoch – die Varianz der bibliografischen Erfassung im Fall Levine und die unterschlagenen Anführungszeichen im Fall Martin zeigen es – nicht immer gegeben sind. Dies mag daran liegen, dass sich diese Hinweise »auf der materiellsten (und scheinbar am wenigsten ›bedeutsamen‹ oder signifikanten) Ebene«62 und in den Randzonen literarischer Werke befinden, denen erst in den letzten Dekaden verstärkt Aufmerksamkeit von Seiten der Philologien zuteil geworden ist. Darüber hinaus könnte die Marginalisierung der Text- und Buchgestalt darauf zurückgeführt werden, dass diese gewöhnlich nicht dem »Bereich der Sinnproduktion (und damit der Autorschaft)«63 61 | Vgl.: »Wie man einen Ausdruck in Anführungszeichen setzt, um ihn direkt zu zitieren, so kann man ein Bild direkt zitieren, indem man es mit dem Bild eines Rahmens umgibt«. Goodman, Nelson: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, 65f. 62 | McGann, Jerome J.: »Texte und Textualitäten«, in: Kammer, Stephan/Lüdeke, Roger (Hgg.): Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart: Reclam 2005, 135-153, 147. 63 | Bunia, Remigius: Wer setzt? Elektronische Textverarbeitung, Typographie und die editionsphilologische Unterscheidung von Druck- und Textfehler, unveröff. Typoskript, 13.

81

82

A NNETTE G ILBERT

zugerechnet wird. Chartier findet für diese übliche Arbeitsteilung in der Epoche des Buchdrucks die eingängige Formulierung: »Autoren schreiben keine Bücher: nein, sie schreiben Texte, die [mithilfe anderer] zu gedruckten Objekten werden.«64 Auch Genette spricht in diesem Sinn explizit vom »verlegerische[n] Peritext«65, zu dem er Umschlag, Titelei, Format, Papier, Schrift usw. zählt. Dass der »äußerlichst[e] Peritext« samt »materielle[r] Realisierung des Buchs […] dem Drucker obliegt, aber vom Verleger entschieden wird, der sich eventuell mit dem Autor abspricht«66, ist jedoch im Computer- und Digital Print-Zeitalter immer seltener der Fall. Heutzutage wird der Text zunehmend »in einem künstlerisch durchdachten Layout dem Verlag zum Druck vorgelegt«67, oder aber die Bücher werden gleich in alleiniger Verantwortung im Eigenverlag hergestellt. Die Vision des Buchkünstlers Ulises Carrión aus dem Jahr 1975: »in der alten kunst schreibt der schriftsteller texte. in der neuen kunst macht der schriftsteller bücher«, ist Realität geworden, und zwar keineswegs nur im experimentellen und buchkünstlerischen Bereich. Allerdings hat diese Verschiebung noch nicht zu den erforderlichen Konsequenzen in der Aufgabenverteilung zwischen Autor und Verlag geführt, wie etwa der öffentlich ausgetragene Konflikt um Katharina Hackers Alix, Anton und die anderen (2009) zeigt, wo Suhrkamp den Satz des in zwei Kolumnen angeordneten Texts ohne

Abb. 4: Kris Martin: ›Idiot‹, Aspen: Aspen Art Press 2009, Buch in Schutzfolie mit Aufkleber. 64 | Chartier, Roger: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit, Frankfurt/M. et al.: Campus 1990, 12. 65 | Genette: Paratexte, 22. 66 | Ebd. [Herv. A. G.]. 67 | Bunia: Wer setzt?, 3.

U NTER ›L‹ ODER ›F‹? Ü BERLEGUNGEN ZUR F RAGE DER W ERKIDENTITÄT BEI LITERARISCHEN W ERKEN

Rücksprache und in, so die Autorin, sinnentstellender Weise verändert hatte. Dies kann als Beispiel für einen zwar gut gemeinten, aber völlig verfehlten Eingriff gelten, bei dem »Verleger als Setzer tätig werden und dabei Wesentliches verändern, weil die typographische Gestalt eines Texts dank des Computers in der Verantwortung des Autors gelegen hat, der Verlag aber selbst die Verantwortung wie selbstverständlich übernommen hat.«68 Die zunehmende (Verantwortungs-)Übernahme der Text- und Buchgestaltung durch die Autoren und die wachsende Ausdifferenzierung paratextueller Strategien müssen allerdings auch von philologischer und bibliothekarisch-archivarischer Seite Berücksichtigung finden – der möglichen »Exotik«69 dieser Fragestellung im hermeneutischen Gebiet und der weit verbreiteten Paratext- und »›AusstattungsVergessenheit‹«70 zum Trotz. So unmittelbar einleuchtend die Forderung nach Konservierung aller Paratexte in diesem Zusammenhang auch ist – man wird ihr selbst bei gutem Willen nicht in jedem Fall nachkommen können, wie etwa der auch in dieser Hinsicht knifflige Fall von Martins ›Idiot‹ zeigt, dessen druckfrische Exemplare in eine Schutzfolie eingeschweißt sind (Abb. 4). Diese trägt einen Aufkleber, auf dem handschriftlich Autor und Titel angeführt sind. Sie ersetzt so Cover und Titelblatt, die keinerlei diesbezügliche Informationen enthalten bzw. fehlen. Natürlich wird die Schutzfolie beim Öffnen zwangsläufig zerstört. Um so wichtiger wäre es, dass dieses für die Frage der Werkidentität nicht unwesentliche Detail in der bibliografischen Erfassung des Buchs Erwähnung findet. Bisher ist dort neben dem Hinweis »Dünndr.; als Handschr. gedruckt« lediglich vermerkt: »Titel nur im Kolophon«.71 Aufgeführt werden müssten dort auch nichtschriftsprachliche Elemente der Buchgestaltung, wie sie etwa Gareth Longs Cover auszeichnen. Auch dies dürfte allerdings eine Herausforderung darstellen, da sich solch nichtdiskursive Informationen nur bedingt beschreiben, kategorisieren und katalogisieren lassen. Der von Georg Stanitzek eingeforderten »Paratext-Treue«72 würde es zudem gut zu Gesichte stehen, wenn auch in Bezug auf das Beiwerk des Buches die Praxis vom ›zeichengetreuen Zitieren‹ Einzug halten würde, die auf der Einsicht in die potentielle Bedeutungsfähigkeit von Typografie gründet. Eine »klinisch-bibliographische 68 | Bunia: Wer setzt?, 2. 69 | Plachta, Bodo: »Mehr als Buchgestaltung – editorische Anmerkungen zu Ausstattungselementen des Buches«, in: editio 21 (2007), 133-150, 133. 70 | Stanitzek: »Buch: Medium und Form«, 177 Anm. 58. – Fruchtbar machen ließen sich hier die jüngsten Bemühungen um eine exemplarspezifische Erschließung von Provenienzexemplaren, welche auch die »bislang wenig berücksichtigten individuellen physischen Details des Buches« einbezieht. Dazu Weber, Jürgen: »›The copy in hand‹. Voraussetzungen und Ziele exemplarspezifischer Erschließung«, in: Bibliotheksdienst 36:5 (2002), 614-624, 614. 71 | Vgl. die Eintragungen in den Verbünden hbz und GBV (Stand: 1.3.2012). 72 | Stanitzek: »Buch: Medium und Form«, 168.

83

84

A NNETTE G ILBERT

Bereinigung«73 wie die Unterschlagung von Anführungszeichen im Titel sollte fürderhin unmöglich sein.74

R ELATIVITÄT DER WERKIDENTITÄT? Was aber, wenn es trotz gebührender und kompetenter Berücksichtigung der Präsentation und Rahmung zu unterschiedlichen Urteilen über die Werkidentität eines Vorkommnisses kommt? Das ließe nur den Schluss zu, dass die (Nicht-)Äquivalenz dieses Vorkommnisses nicht unmittelbar evident ist (bzw. präsentiert wird). In solch uneindeutigen Fällen fließen in den »klassifikatorischen Akt«75 der Feststellung der Werkidentität wohl unweigerlich Wertmaßstäbe ein.76 Letztlich würden damit, so Schmücker, »für die Werkidentität von Kunst besondere Identitätsbedingungen gelten«: Im Fall nicht unmittelbar evidenter (Nicht-)Äquivalenz setzte Werkidentität »einen gewissen Grad an Übereinstimmung zwischen entstehungsgeschichtlich verwandten Objekten voraus, dessen Hinlänglichkeit im Zweifelsfall nur konsensuell festgestellt werden kann.«77 Vor diesem Hintergrund könnte man die Differenzen in der bibliografischen Erfassung von gustave flaubert. un cœur simple also ggf. auch damit erklären, dass a) sich das Buch nicht unmittelbar evident als Werk über ein Werk zu erkennen gibt und dass b) über die Frage der Nicht-Äquivalenz von Levines gustave flaubert. un cœur simple mit Vorkommnissen von Flauberts Un cœur simple (noch?) kein hinreichend großer Konsens hergestellt werden konnte. Die Annahme einer solchen »Relativität 73 | Ebd. 74 | Auch dies ist möglicherweise leichter gesagt als getan. So können sich wie generell beim zeichengetreuen Zitieren Interpretationskonflikte ergeben, z.B. bei eckigen Klammern wie in Rodney Grahams Titel [La Véranda]. Hier sind ergänzende Hinweise (»eckige Klammern im Original« oder »zeichengetreu zitiert«) notwendig. Weitere Überlegungen dazu finden sich z.B. bei Bunia, Remigius: »Fußnoten zitieren«, in: Metz, Bernhard/Zubarik, Sabine (Hgg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten, Berlin: Kadmos 2008, 13-32, und Ders.: Wer setzt? 75 | Schmücker: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, 159. 76 | Laut Schmücker wird der klassifikatorische Akt dann »unvermeidlich ein evaluativer Akt« (ebd.). Hier zeigt sich das Zwitterhafte des Kunstbegriffs, der »Merkmale sowohl von Klassifikations- als auch von Wertbegriffen in sich vereint« (Schmücker, Reinold: Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München: Wilhelm Fink 1998, 140), da die Werkkategorie gerade im Kunstkontext immer auch wertbesetzt ist. Schmücker konzipiert daher als dritten Begriffstypus den Beurteilungsbegriff, in dem Identifikation und Evaluation zusammenfließen (können). Im Fall Levine tritt diese evaluative Komponente des Beurteilungsbegriffs ›Kunst‹ deutlich zutage (vgl. ebd., 129-142). 77 | »Diese Bestimmung schließt den Fall unmittelbar evidenter Äquivalenz ein; denn diese garantiert eo ipso den erforderlichen Konsens.« Schmücker: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, 159.

U NTER ›L‹ ODER ›F‹? Ü BERLEGUNGEN ZUR F RAGE DER W ERKIDENTITÄT BEI LITERARISCHEN W ERKEN

der Identität«78 könnte sich darauf stützen, dass die Appropriation Literature in der Tat polarisiert.79 Doch dürften Wertmaßstäbe erst dann in die Entscheidung über die Werkidentität eines bestimmten Vorkommnisses einfließen, wenn sich dieses nicht unmittelbar evident als (Nicht-)Äquivalent zu erkennen gibt (siehe Punkt a)). Aber ist dem wirklich so? Zweifel sind angebracht, die ausgesendeten Signale in den Paratexten scheinen im Fall Levine doch eine eindeutige Sprache zu sprechen. Sind es also vielleicht gar nicht die mangelnde Sensibilität und Kompetenz in Bezug auf die Modi der Präsentation, sondern die mangelnde Akzeptanz solch neuer, noch nicht institutionalisierter Formen aufgepfropfter Autorschaft, welche die von Levine so deutlich gesetzten Signale übersehen lässt und die Autorfunktion des Namens Flaubert hinterrücks wieder in Kraft zu setzen sucht, die Levine durch ihre markante paratextuelle Einzäunung doch überschrieben zu haben glaubte? Dann würde die Frage der Werkidentität hier instrumentarisiert für die Austragung eines schwelenden Konflikts um Normen und Werte im literarischen Feld. Mit der Frage der Werkidentität hätte das allerdings nur noch wenig zu tun.80

78 | Risch, Claudia: Die Identität des Kunstwerks. Studien zur Wechselwirkung von Identitätskriterien und ontologischem Status des Kunstwerks, Bern/Stuttgart: Haupt 1986, 150, 180, 181, und Schmücker: »Kunstwerke als intersubjektiv-instantiale Entitäten«, 159. 79 | Beispielhaft dokumentiert in Gilbert: Re-Print. 80 | Ich danke Magnus Wieland, Beatrice Sasha Kobow und Simone Winko für die Diskussion früherer Versionen dieses Beitrags.

85

Der Fall Menard als Provokation oder wie die Textappropriation von der Literaturwissenschaft appropriiert werden kann Mit Seitenblicken zu empirischen Fällen Tomasz Waszak

Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch, für das Phänomen der Textappropriation eine passende literaturwissenschaftliche Appropriationsstrategie herauszufinden. Dass sie herausgefunden werden muss, scheint ein Gebot der Stunde zu sein, und zwar nicht nur deshalb, weil die Erscheinung neuerdings in verstärktem Maße auftritt; zugleich gerät die Literaturwissenschaft in Gefahr, hinsichtlich ihrer Kompetenz für die Erfassung und Deutung des Problems von anderen Disziplinen expropriiert zu werden. Sollte der Borges’sche Pierre Menard und sein Umgang mit dem Don Quijote ein Inbegriff reiner Textappropriation sein, wird klar, dass die herkömmliche Literaturwissenschaft dem Problem ziemlich ratlos gegenübersteht.

VORBEMERKUNGEN ZUM O BJEKT UND ZUR M ETHODE Der letzte Satz bedarf zwei Klarstellungen. Erstens ist das, was hier als »Fall Menard« angesprochen wird, ein doppelt imaginäres Projekt. Nicht nur ist er eine fiktionale Entität, sondern auch als solche nur idealiter vorhanden: Wir erfahren aus der Borges’schen Erzählung, dass Menard nur ausgewählte Teile des Cervantes’schen Werks ›neu‹ schrieb.1 Bezüglich des fiktionalen Status ließe sich entgegnen, dass die

1 | Oder gar nur zu schreiben plante, so könnte man zumindest die explizit nicht erläuterte Behauptung verstehen, die Don Quijote-Auszüge gehörten nicht zum sichtbaren Werk Menards (vgl. Borges, Jorge Luis: »Pierre Menard, Autor des Quijote«; in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 3/1: Erzählungen 19351944, München: Hanser 1981, 112-123, 116). Dann wäre der Status der kompletten Quijote-Appropriation in die dritte Potenz der Virtualität erhoben.

88

TOMASZ WASZAK

Borges’sche/Menard’sche Phantasie bereits in empirische Wirklichkeit umgesetzt worden ist2, was übrigens – um das Problem gleich zu generalisieren – im Falle von Textprojekten in der Regel einfacher realisierbar ist im Vergleich zu sonstigen Objekten der Fiktion.3 So stünde auch – um gleich den Einwand unvollkommener Ausführung aufzunehmen – dem Projekt einer kompletten Neuschaffung des Don Quijote, die dem Borges’schen Menard anscheinend vorschwebte4 , nichts im Wege. Problematisch ist hier freilich nicht die – wie gesagt recht durchlässige – Grenze zwischen virtuellen und realen Textobjekten, sondern, inwieweit die Eigenart des Falls Menard für das Phänomen der Appropriation wirklich repräsentativ ist. Die nicht in die Textsubstanz eingreifenden Volltextappropriationen – wie Sherrie Levines Neuausgabe des Flaubert’schen Un cœur simple oder die Appropriationsreihe des Salon Verlags5 – bilden nur einen Bruchteil der Appropriationstätigkeit, die ansonsten ihre Objekte der Addition, Subtraktion, Substitution und Permutation in reiner oder kombinierter Gestalt aussetzt und sie somit, wie weiter im Text zu zeigen sein wird, auch den bewährten literaturwissenschaftlichen Verfahren zugänglicher macht. Man könnte daher argumentieren, dass die Absolutheit der Menard’schen Operation nicht so zu verstehen sei, dass sich die analytisch-interpretatorische Erfassung des Falls Menard auf die sonstigen Fälle der Textappropriation übertragen lasse. Dagegen könnte lediglich angebracht werden, dass die anderen Fälle, wie soeben gesagt, nicht das eigentliche Problem darstellen und dass wir mit Menard das der Literaturwissenschaft am schwierigsten erschließbare Gebiet betreten wollen. Andererseits aber wollen wir den Anspruch auf Universalität nicht vorschnell aufgeben. Auch die substanziell weniger an Menard erinnernden Verfahren der Textappropriation teilen mit dem Werk des fiktiven französischen Autors des Don Quijote einen gemeinsamen Zug: die deklarierte Absage an die literarische Innovation. Auch wenn sie sich leichter literaturwissenschaftlichen Operationen unterziehen lassen, bleibt 2 | Vgl. die Einführung von Annette Gilbert und Monika Schmitz-Emans’ Beitrag im vorliegenden Band. 3 | Eine Einschränkung dieser Regel bieten imaginierte Texte, die magische Eigenschaften besitzen, wie – um bei Borges zu bleiben – das alle Welt umfassende Eine-Zeile- oder sogar Ein-Wort-Gedicht (vgl. dazu die Erzählungen Spiegel und Maske und Undr, in: Borges, Jorge Luis: Gesammelte Werke, Bd. 4: Erzählungen 1975-1977, München: Hanser 1982, 59-63 resp. 64-69) oder das Sandbuch aus der gleichnamigen Erzählung (ebd., 93-99). Das letztere Objekt ist zwar bereits textextern ins Leben gerufen worden (vgl. Maximus Clarkes Hypertext-Projekt The Book of Sand unter http://bookofsand.net/ hypertext/), doch sei an dieser Stelle bezweifelt, dass diese – zugegebenermaßen witzige – Verwirklichung der Idee des Autors entspricht. 4 | Zu den Absichten Menards und zur Frage der Idealisierung ›seines‹ Don Quijote vgl. Spree, Axel: »Borges, Danto, Goodman«, in: Sprache und Literatur 33:1 (2002), 43-54, 44. Der ebd., 53, geäußerte Einwand gegen eine ›seriöse‹ Betrachtung Menards ist aus den soeben im Haupttext genannten Gründen nicht haltbar. 5 | Vgl. Albert Coers’ Beitrag im vorliegenden Band.

D ER FALL M ENARD ALS P ROVOKATION

an ihnen doch ein Grundimpuls erkennbar, der der Disziplin fremd, um nicht zu sagen: feindlich bleibt und der das provokative Potential der Borges’schen Erfindung aufbewahrt. Die zweite Klarstellung gilt der Disziplin, die den Fall Menard ihren Deutungsmustern anpassen will. Sie wurde als herkömmliche Literaturwissenschaft bezeichnet, womit wir eine erstens textzentrierte und zweitens innovationsfixierte Forschungsausrichtung meinen. Als eine solche tut sie sich mit Phänomenen wie Menards Don Quijote sichtbar schwer. Es ist jedoch denkbar, dass man, statt das gewählte Paradigma der Textzentriertheit und Innovation überzustrapazieren, dieses vielleicht wechselt, und zwar hin zu einem, das sich von dem Diktat der Originalität befreit und statt dessen Werte wie Identität, Einfühlung, Treue, Aufbewahrung, Pflege, Reproduktion lanciert. Dies klingt freilich ziemlich konservativ. Man fühlt sich gar an Winckelmanns rückwärtsgewandte und nachahmungsorientierte Kunstphilosophie erinnert und ist nicht geneigt zu glauben, dass die aus dem Geiste der Avantgarde geborene Appropriationskunst von der Ehrfurcht vor den vorhandenen Meisterwerken motiviert ist. Und tatsächlich ist die Originalität aus den Selbstbeschreibungen der Appropriateure gar nicht verschwunden.6 Sie ist nur ins Para- oder Metatextuelle verlagert worden (Appropriation als originelle Präsentationsart oder origineller impliziter Kommentar).7 Aber auch diejenigen, die die Originalität explizit ablehnen8, setzen nicht die Autorität der Alten Meister als Gegenkonzept ein. Schwierig wird es freilich, wenn das Gegenkonzept benannt werden soll. Der Dichter und Theoretiker des Conceptual Writing Kenneth Goldsmith etwa betreibt grundsätzlich negative Theologie (»uncreativity«, »unoriginality«, »valuelessness«, »nutritionlessness«) oder verwendet Begriffe, die offenbar nicht entsprechend ihrer primären Bedeutung verstanden werden sollen (»theft«, »fraud«, »falsification«), manche sind übrigens explizit in paradoxe Form gebracht (»unboring boredom«).9 Hinter dieser verbalen Provokation schimmert freilich schon eine Art alternatives Produktions- und Rezeptionskonzept (was bei der Appropriation oft zusammenfällt) hervor: eine Philosophie der intensiven Versenkung in die zu approprierende

6 | »Im Zitieren, Imitieren, Entlehnen und Nachahmen liegt ebensoviel unvorhersehbare Originalität wie im Erfinden.« Ursprünglich von Leo Steinberg, appropriiert von Michalis Pichler in: »Statements on Appropriation/Statements zur Appropriation«, wiederabgedruckt im vorliegenden Band, 27-30, 27, dort als Statement Nr. 6. Das Konzept dieser Arbeit Pichlers bewirkt, dass das Statement je nach Fassung eine andere Nummerierung aufweisen bzw. theoretisch ganz aus dem Statements-Set verschwinden kann. 7 | Vgl. Nora Ramtkes Beitrag im vorliegenden Band. 8 | Vgl. Goldsmith, Kenneth: »A Week of Blogs for the Poetry Foundation«, in: Dworkin, Craig (Hg.): The Consequence of Innovation: 21st Century Poetics, New York: Roof Books 2008, 137-150, 139. 9 | Ebd., 139 und 146.

89

90

TOMASZ WASZAK

Vorlage, oft unter Betonung ihrer materiellen Beschaffenheit.10 Der Rekurs auf Winckelmann erscheint angesichts dieses Befunds gar nicht so unberechtigt. Man vergleiche nur Goldsmith’ Beschreibung der bei Appropriationen zu gewinnenden Einsichten11 mit Winckelmanns Unterscheidung des gedankenlosen Nachmachens von der Nachahmung »mit Kopf«12 . Winckelmann ist allerdings um zeitgenössischere Bezüge zu ergänzen, etwa um Neil Postmans Medienökologie, nach der die Wiederverwertung als Befreiung von der anwachsenden Flut ästhetischer Informationen zu werten ist.13 So betrachtet ist das neue Paradigma der Appropriation von der konservativen Ehrung für Neue Alte Meister, wie sie etwa der Appropriationskritiker Donald Kuspit an den Tag legt14, gar nicht so weit entfernt: Beide resultieren aus dem Bewusstsein kultureller Erschöpfung und unterscheiden sich nur in der Wahl der Reproduktionsobjekte und -strategien. Die an diesem Paradigma orientierte Literaturwissenschaft müsste nun den Schwerpunkt vom Text auf dessen Wirkung verlegen (Appropriation als materialisierte Rezeption). Dies alles nur unter der Voraussetzung, dass die Manifeste der Appropriationskunst ernst gemeint und nicht bloß um eines – durchaus originellen – Effekts willen geschrieben sind.15 Der vorliegende Beitrag ist sich der Vorteile des Paradigmenwechsels voll bewusst und verschließt sich nicht gänzlich den damit verbundenen Verlockungen. Er schlägt dennoch einen anderen Weg ein: den der optimalen Nutzung des herkömmlichen Paradigmas, dessen Optik auch den weiteren Gang des Beitrags bestimmen soll.

10 | Vgl. ebd., 141f. und 146. 11 | Vgl. ebd., 141-143. 12 | Winckelmann, Johann Joachim: »Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst«, in: Ders.: Werke in einem Band, hg. v. Helmut Holtzhauer, Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1976, 38-47, 40. 13 | In Christine Eichels NDR-Film Neil Postman – Ein Forscher im Mediendschungel (1993) berichtet der amerikanische Kulturkritiker u.a. von seiner eigenen Medienhygiene, zu der es gehöre, dass er sich nach 20 Uhr im Fernsehen nur noch diejenigen Filme ansehe, die er bereits kenne. Auf der Seite des Produzenten käme diesem Verhalten etwa die von einem »conscientious writer« betriebene »literary ecology« entgegen, die in der Dämpfung der Produktivität durch »poetry recycling« besteht. Vgl. dazu Dworkin, Craig: »The Fate of Echo«, in: Ders./Goldsmith, Kenneth (Hgg.): Against Expression. An Anthology of Conceptual Writing, Evanston: Northwestern University Press 2010, xxiii-liv, insb. xlii-xliii. 14 | Vgl. Kuspit, Donald: Der Kult vom Avantgarde-Künstler, Klagenfurt: Ritter 1995, insb. 210-238 und 290-295, und »Emmet Coles interviews Donald Kuspit«, in: The Modern Word, www.themodernword. com/reviews/kuspit.html vom 13.07.2011. 15 | Dieser Verdacht findet sich explizit bei Schwartzburg, Molly: »Encyclopedic Novelties: On Kenneth Goldsmith’s Tomes«, in: Open Letter 12:7 (Fall 2005), 21-36, 23. Ebd. auch der Verweis auf die Erschöpfung.

D ER FALL M ENARD ALS P ROVOKATION

E RKLÄRUNGSANSATZ I NTERTEXTUALITÄTSTHEORIE Das nächstliegende Instrument zur Erfassung der Textappropriation, die Intertextualitätsforschung, muss vor dem Fall Menard mangels Posttext versagen. Weder ist Menards Don Quijote in einen anderen Text eingebettet noch sind an ihm Änderungen vorgenommen worden, die – wie im klassischen Fall der Parodie – den Prätext selbst zum Posttext mutieren ließen. Ein Posttext, der mit dem Prätext identisch ist, muss das Schicksal des identischen Reims teilen: Obwohl physisch vorhanden, wird er aufgrund der geltenden Konvention doch als illegitimes Forschungsobjekt angesehen.16 Will man für die Textappropriation dennoch das Erklärungsangebot der Intertextualitätsforschung nutzen, ist eine Erweiterung des Textbegriffs notwendig. Zum Posttext wird dann der Kontext der Appropriation: die paratextuellen Merkmale wie Umschlag, Titelblatt, Impressum, Klappentext und die Produktions-, Veröffentlichungs- und Rezeptionsumstände, wie sie in der Borges’schen Erzählung meisterhaft entworfen werden.17 Mit oder ohne Erweiterung des Textbegriffs wird man den Fall Menard nach den gängigen Typologien als Intertextualität (im engeren Genette’schen Sinne18) oder Palintextualität19 einstufen, wobei in beiden Fällen die radikale Form des Maximalzitats vorliegt.20 In ihrer weniger radikalen Form gilt diese Einstufung auch für die meisten empirischen Fälle der Appropriation. Vereinzelt finden sich Beispiele der Metatextualität (Nick Thurstons Reading the Remove of Literature, 2006) oder 16 | Freilich ist dies eine relativierbare Erkenntnis: So wie die in der europäischen Lyrik seit dem 16. Jh. verpönte Reimform (vgl. Schweikle, Günther: »Rührender Reim«, in: Ders./Schweikle, Irmgard (Hgg.): Metzler Literaturlexikon, Stuttgart: Metzler 1990, 402) in der orientalischen Lyrik eine gängige Technik ist (vgl. dazu Hönig, Christoph: Neue Versschule, Paderborn: Fink 2008, 167), so ist es auch denkbar, dass die posttextfreie Intertextualität im Rahmen eines anderen literaturwissenschaftlichen Paradigmas kein Kuriosum wäre. 17 | Borges: »Pierre Menard«, 116-122. 18 | Vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, 10f. 19 | Vgl. Stocker, Peter: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn u.a.: Schöningh 1998, insb. 51-55. 20 | Die Regel, der zufolge jedes Zitat ein Fall von Intertextualität sei (vgl. Zima, Peter V.: »Zitat – Intertextualität – Subjektivität. Zum Funktionswandel des literarischen Zitats zwischen Moderne und Postmoderne«, in: Beekman, Klaus/Grüttemeier, Ralf (Hgg.): Instrument Zitat. Über den literarischen und institutionellen Nutzen von Zitaten und Zitieren, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 2000, 297-326, 299), macht automatisch auch Maximalzitate zum Gegenstand der Intertextualitätsforschung. In der Praxis werden sie aber höchstens als plagiatnahe Ausnahmefälle behandelt (vgl. Beekman, Klaus: »Die Legitimation des Plagiats bei Avantgardisten und Postmodernisten«, in: ebd., 327-353), auch wenn generell eingeräumt wird, dass die literarische Anwendung des Zitats mit anderen Maßstäben zu messen sei als etwa die wissenschaftliche (vgl. Zima: »Zitat – Intertextualität – Subjektivität«, 297f.).

91

92

TOMASZ WASZAK

Hypertextualität (bei einer gewissen Ausdehnung des Terminus wäre hier Tom Phillips’ Humument von 1973 zu nennen).21 Diese sind aber zugleich palintextuell, denn sie sind um das ausgelöschte Zitat angeordnet oder bauen auf dem durchschimmernden Zitat auf. Unter dieser Voraussetzung wird sich die Fallanalyse wenigstens zum Teil noch als literaturwissenschaftlich behaupten können, und Menards Verfahren ließe sich produktionsorientiert als literarische Provokation, rezeptionsorientiert als Nahelegung einer aktualisierenden Lesart des Prätextes lesen. Doch zugleich wird der literaturwissenschaftlich orientierte Interpret eingestehen müssen, dass ihm das Wesentliche des Falls abhandenkommt: einerseits in Richtung Kunstwissenschaft (Menards Geste als Conceptual Art), andererseits in Richtung Philosophie (Vergleich beider ›Versionen‹ als Anlass zu Identitäts- und Iterativitätsdiskursen22). Auch die Autorschaftsdiskussionen, die bei diesem Thema notwendig entstehen, sind, wenn nicht der Disziplin fremd (juristische Aspekte), so doch auch nicht spezifisch für sie, weil die Autorschaftsproblematik auf alle Medien anwendbar ist. In allen drei Fällen wird das, was den eigentlichen Zuständigkeitsbereich der Literaturwissenschaft ausmacht, nämlich die Struktur und das Sinnangebot des Textes23, zu einem blinden Flecken der Analyse degradiert.24 21 | Vgl. Bernhard Metz und Christoph Benjamin Schulz im vorliegenden Band. Lässt man bei Phillips – zugegebenermaßen: unwillig – die transmediale Aufarbeitung der Vorlage außer Acht und beschränkt sich alleine darauf, was im textuellen Bereich modifiziert wird, erhält man als Ergebnis das Bild einer klassischen Subtraktion. Dabei fügen sich die nicht (oder nicht ganz) übermalten Stellen aus Mallocks A Human Document zu versähnlichen Wortgruppen, die auch ohne ihre ursprüngliche räumliche Anordnung zitierbar sind (was etwa bei den Subtraktionen derek beaulieus (Local Colour, 2008), Jarosław Kozłowskis (»Reality«, 1973) oder Michalis Pichlers (Der Einzige und sein Eigentum, 2009) wenig Sinn ergäbe). Ihre semantische Kohärenz ist zwar gering, aber mit der von manch einem hermetischen Gedicht durchaus vergleichbar. 22 | Bei Borges (»Pierre Menard«, 121-123) explizit nahegelegt, bei Arthur C. Danto (Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, 62-90) und Nelson Goodman (Ders./Elgin, Catherine Z.: Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, 85-88) ausgeführt. Vgl. dazu Annette Gilberts Beitrag im vorliegenden Band. 23 | Wie in den Vorbemerkungen angedeutet, ist der »eigentliche Zuständigkeitsbereich« keine absolute Größe und kann auch neu bestimmt werden: Wenn die Rezeptions- und Wirkungsforschung ins Zentrum rückt, was übrigens mit den Postulaten der Verwissenschaftlichung der Disziplin einhergeht, kann die Appropriation vom Rand- zum Schlüsselphänomen werden. 24 | Zugegebenermaßen können Borges’ fingierte literaturkritische Ausführungen zu Menards Werk auch literaturwissenschaftlich produktive Techniken generieren wie die Betrachtung eines Textes als Maximaltransformation eines – beliebigen? – anderen (vgl. Genette: Palimpseste, 525f.; ebd. auch die auf die Menard’sche Textappropriation anwendbaren Termini technici »Maximalimitation« / »Minimaltransformation«). Sie gelten aber eher dem realen Text von Borges, nicht dem imaginierten von Menard.

D ER FALL M ENARD ALS P ROVOKATION

Es zeichnet sich so ein Dilemma ab: Für die intertextuell orientierte Literaturwissenschaft ist eine Textappropriation nur dann zu retten, wenn der appropriierte Text wenigstens eine minimale Modifizierung seiner Substanz erfährt oder mit einem Minimum an (evtl. auch transmedialem) Posttext ergänzt bzw. umrahmt wird.25 Was übrigens bei den meisten empirischen Textappropriationen, wie oben bereits angemerkt, der Fall ist. In der Regel sind die appropriierten Vorlagen ausreichend verfremdet, um als Prätextinterpretationen verstanden zu werden. Dies gilt gleichermaßen für Textmodifikationen wie für den Fall eines Medienwechsels. Zum ersteren: Die Hervorhebung oder Löschung von Textpassagen kann im optimalen Fall als Betonung bestimmter, bei konventioneller Lektüre wenig beachteter inhaltlicher Schwerpunkte verstanden werden, etwa Paul Austers Farbengebrauch im Roman Ghosts in der Appropriation durch derek beaulieu (Local Colour, 2008). Die automatische Restrukturierung des Prätextes (vgl. etwa Simon Poppers alphabetisierter Ulysses von 2006 oder Simon Morris’ mithilfe eines Zufallsgenerators angeordneter Text in Re-Writing Freud von 2005) oder gar die ganzheitliche Textauslöschung (die vielen Schwünde von Mallarmés Un coup de dés bei Marcel Broodthaers, Michalis Pichler, Michael Maranda, Jérémie Bennequin, Guido Molinari, Cerith Wyn Evans) lassen sich kaum als inhaltliche Einzeltextreferenzen verteidigen. Sie können aber als Reflexionen über die jeweilige literarische Gattung oder über das Medium Buch überhaupt verstanden werden und daher (nach Peter Stockers Terminologie) als implizite Thematextualität.26

25 | Hierzu sei gleich eine Ausnahme genannt: ein gleiches, Ernst Jandls Goethe-Appropriation von 1970 (in: Der künstliche Baum, Neuwied am Rhein/Berlin: Luchterhand, 124), unterscheidet sich zwar von der Vorlage durch den Verzicht auf Großschreibung und Interpunktion, käme aber auch ohne diese Modifikationen (dann also als ein regelrecht Menard’scher Fall) für eine textzentrierte literaturwissenschaftliche Behandlung in Frage. Dies aber nur deshalb, weil Goethe sein Werk via Titelgebung unwillkürlich (?) zur Appropriation freigegeben hat. Es gibt übrigens etliche Texte, die mit ihren Titeln oder Themen appriopriationistische Verfahren geradezu herauszufordern scheinen: Allen voran sei Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit genannt, das von Timm Ulrichs reproduziert wurde (Die Photokopie der Photokopie der Photokopie der Photokopie, 1967). Auch Simon Morris’ computergenerierte Permutation des Wortmaterials von Freuds Traumdeutung (ReWriting Freud, 2005) mag als eine wörtlich genommene Realisierung des Prinzips Verschiebung angesehen werden. Vgl. dazu Janet Boatin und Tobias Amslinger im vorliegenden Band. 26 | Vgl. Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre, 65-69. Freilich ist auch dies keine universale Regel. Zu inhaltlichen Implikationen der Appropriation Freuds durch Simon Morris siehe die vorige Anmerkung. Auch der Fall Mallarmé zeigt deutlich, dass es Texte gibt, die eher ausgelöscht werden als andere, was wiederum erstens die Einzeltextreferenz legitimiert und zweitens die Appropria tion durch den naheliegenden Vergleich der Auslöschungstechniken von Marcel Broodthaers, Michalis Pichler, Cerith Wyn Evans, Jérémie Bennequin, Guido Molinari und Michael Maranda mit Interpretationshinweisen versieht. Vgl. Magnus Wieland und Eric Zboya im vorliegenden Band.

93

94

TOMASZ WASZAK

Dieselbe Unterscheidung lässt sich auf den Medienwechsel anwenden: Werden etwa Textauszüge oder -kondensate mündlich vorgetragen (John Cage: Writing through Finnegans Wake von 1976-79, Caroline Bergvall: Via von 2000) oder an die Wand gehängt (Matthew Higgs: Total Despair von 1995), beschwört die Frage nach den Selektionsprinzipien auch inhaltsbezogene Probleme herauf. Werden Volltexte in Kunstobjekte verwandelt, kommt wieder eher die Klassen- oder Mediumreferenz in Frage.27 Freilich kann durch diese Familiarisierung der Objekte das Verfahren der Appropriation den Reiz eines wissenschaftlichen Neulands verlieren und zu einer bloßen Grenzmanifestation eines inzwischen abgegriffenen Deutungsschemas werden. Soll dagegen bei der Untersuchung der Appropriation die Übernahme vorhandener und nicht die Generation zusätzlicher Textsequenzen im Zentrum stehen, bleibt der Intertextualitätsforschung nichts anderes übrig als zuzugeben, dass sie für diese Neuheit kein analytisch-interpretatorisches Instrumentarium parat hat. Um aus diesem Zirkel herauszukommen, muss man Zugänge über andere, und seien es nur vermeintliche, Appropriationsanaloga erproben.

E RKLÄRUNGSANSATZ G ATTUNGSTHEORIE Der nächste Schritt unserer Suche führt uns zu literarischen Gattungen, zu deren Eigenart es gehört, literarische Objets trouvés zu verwenden. Obwohl sie, wie gleich zu sehen wird, einen markanten Unterschied zu den Verfahren der Appropriation, insbesondere der Menard’schen Variante, aufweisen, hält ihr theoretischer Überbau einige Impulse für die literaturwissenschaftliche Aneignung des fraglichen Phänomens bereit.28 27 | Was freilich wiederum Fragen wie die folgenden nicht ganz ausschließt: Warum wurde gerade Hegel und kein anderer Philosoph von Dieter Roth verwurstet (vgl. Stefan Ripplinger im vorliegenden Band)? Und legt nicht ausgerechnet der Titel Korrektur nahe, Thomas Bernhards Buch als Objekt zu ›korrigieren‹, d.h. es zu zerfleddern, zerschneiden, übermalen, schwärzen, wie dies Jens Dittmar machte und explizit Korrektur der Korrektur nannte? Abgebildet in »Buchobjekte von Jens Dittmar: ›Korrektur der Korrektur‹«; in: Jurgensen, Manfred (Hg.): Bernhard. Annäherungen, Bern/München: Francke 1981, 36-44. Zu ähnlichen Beispielen siehe Anm. 25. 28 | An dieser Stelle sei ein Gedanke ausgesprochen, der den Gang der weiteren Überlegungen zu unterminieren droht und eben deshalb in die Fußnote verdrängt werden musste: Wäre es nicht einfacher, die Appropriation von vornherein zu einer literarischen Gattung zu erklären, anstatt mühsam nach ihrer Legitimation zu suchen? Schließlich lässt sich der Vorwurf der Unproduktivität und Unoriginalität ebenso an die in diesem Abschnitt besprochenen Gattungen richten. Durch die Aufnahme in Literaturlexika sind sie aber als Gegenstände des literaturwissenschaftlichen Diskurses sanktioniert worden, eine Entwicklung, die auch für die Appropriation vorauszusehen ist, vorausgesetzt, sie wird weiter so intensiv betrieben und kommentiert. Diese Prognose macht die theoretische Reflexion nicht

D ER FALL M ENARD ALS P ROVOKATION

Montage Als erste Parallele zur Appropriation bietet sich die Collage/Montage29 an, da sie (auch) Textübernahmen ohne Modifikationen und ohne Posttexte duldet. Wenn auch unter den empirischen Textappropriationen Deckung findend (Ulrich Holbein: Isis entschleiert von 2000, Heimrad Bäcker: nachschrift von 1986/1997), würde sie an dem Modellfall Menard gleichfalls scheitern, da die Vorstellung einer Ein-TextMontage eher den Charakter eines Oxymorons trägt und kein deskriptives Vermögen beanspruchen kann; der Montagebegriff gilt erst von bitextuellen Appropriationen an. Das Prinzip der Mehrtextualität ist dabei nicht arbiträr, sondern entspringt der Grundidee der Gattung, »Heterogenes, das im geläufigen Lebenszusammenhang nichts miteinander zu tun hat«30, zu verbinden. Dieser kontrastive Anspruch trennt die moderne Form der Collage von ihrer klassischen Vorform, dem Cento. Dieser stellt zwar auch Heterogenes zusammen, aber nur, um es als scheinbar passend – sei es zur Bekräftigung, sei es zur Infragestellung der Autorität der zitierten Vorlage(n) – zu integrieren.31 Eine scharfe Trennung ist nicht immer möglich, und so kann man Joseph Kosuth’ Purloined (2000), eine Appropriation von 122 aufeinander folgenden, diversen Romanen entnommenen Seiten, je nachdem, ob man zwischen deren Inhalten die Kontraste oder die Korrespondenzen betont, als Collage resp. als den seltenen Fall eines Prosa-Centos ansehen. Dagegen wäre 99: The New Meaning von Walter Abish trotz ähnlicher Genese schon eher nur als Collage zu betrachten, da es auf einem mechanischen Zusammenstellungsprinzip basiert.32 Was dagegen die Nebeneffekte der Collage anbetrifft (den Abschied von den Autonomieansprüchen des Kunstwerks, von dessen organischem Konzept zugunsten der Betonung seiner materiellen Konstruktion), so sind sie durchaus auch von einer einzeltextuellen Appropriation realisierbar. Ein Sonderfall liegt vor, wenn der appropriierte homogene Einzeltext kein literarischer ist (vgl. etwa Peter Handke: Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968

überflüssig, befreit sie aber von einer gewissen Verkrampfung, in die sie durch den Legitimationszwang gebracht wird. 29 | Die Begriffe werden oft verwechselt, der Verfasser schließt sich dem Vorschlag von Volker Klotz an, Montage als Tätigkeit, Collage als Effekt zu betrachten. Vgl. Klotz, Volker: »Zitat und Montage in neuerer Literatur und Kunst«, in: Weisstein, Ulrich (Hg.): Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, Berlin: Schmidt 1992, 180-195, 193 Anm. 3. 30 | Mon, Franz: »Collagetexte und Sprachcollagen«, in: Haage, Volker (Hg.): Literarische Collagen. Texte, Quellen, Theorie, Stuttgart: Reclam 1981, 258-282, 210. 31 | Vgl. Verweyen, Theodor/Witting, Gunther: Einfache Formen der Intertextualität. Theoretische Überlegungen und historische Untersuchungen, Paderborn: Mentis 2010, 78f. 32 | Vgl. Bernhard Metz im vorliegenden Band.

95

96

TOMASZ WASZAK

und Peter Weiss: Die Ermittlung): Dann verleiht ihm der bloße Statuswechsel (von ›Realität‹ zu ›Literatur‹) einen neuen Aussagewert.33 Zwar haben damit die vorliegenden Annäherungen manche Einzeltextappropriation literaturwissenschaftlich legitimiert, nicht aber die von Pierre Menard. Vom Statuswechsel kann hier nicht die Rede sein, weil die Vorlage bereits literarisch ist. Vor allem aber geht es Pierre Menard gewiss nicht darum, das Cervantes’sche Werk um seine Aura zu bringen. Zwar ist Don Quijote nicht sein Lieblingswerk34, andererseits aber trägt Menards Verfahren alle Zeichen der Pietät gegenüber der Vorlage: langsames Vorgehen35, textgetreues Niederschreiben36, die Absicht, dem Text zu neuem Leben zu verhelfen37. So sollten wir uns lieber einer Gattung zuwenden, die ihre Objekte vergleichsweise schonend behandelt.

Anthologie Als eine solche kann die Anthologie angesehen werden. Zunächst scheint mit diesem Appropriationsanalogon nicht viel gewonnen zu sein. Wohl nur, dass hier der Wegfall von Modifikation und Posttext zur Regel wird; dagegen aber ist die obligatorische Präsenz von mehreren Texten (wie bei der Montage) ein Nachteil, der den Vorteil der Appropriationsreinheit aufwiegt.38 Und doch besitzt eben diese Gattung eine Eigenschaft, die für unsere Betrachtung eine entscheidende Zäsur liefert. Anders als die Montage erhebt die Anthologie nämlich keinen Anspruch darauf, ein originelles Werk zu sein, ihr Hersteller begnügt sich mit den Titeln scriptor und com33 | Vgl. Petersen, Jürgen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung, Berlin: Schmidt 1996, 180f. 34 | Vgl. Borges: »Pierre Menard«, 118f. 35 | Für die komplette Niederschrift bräuchte Menard »nur unsterblich zu sein«. Ebd., 118. 36 | »Varianten formaler und psychologischer Art« hat Menard zugunsten des Originaltextes getilgt. Ebd., 119. 37 | Vgl. ebd., 119f. 38 | Im Falle der Anthologie sind die Erfordernisse präzise quantifizierbar. Dieter Pforte führt die »bibliothekarische Gepflogenheit« an, der zufolge »[e]in Buch mit mehr als drei Verfassern oder Sammlungen von selbstständigen Werken oder Teilen von Werken verschiedener, zumindest vier Autoren [...] als Sammelband zu bezeichnen« seien (Pforte, Dietger: »Die deutschsprachige Anthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie«, in: Ders./Bark, Joachim (Hgg.): Die deutschsprachige Anthologie. Bd. I: Ein Beitrag zu ihrer Theorie und eine Auswahlbibliographie, Frankfurt/M.: Klostermann 1970, XIII-CXXIV, XXV Anm. 33). Dies bedeutet, dass sich Appropriationen von mehreren Texten nach dem Prinzip der Anthologie leichter beschreiben ließen. In der Tat gibt es mit Peter Greenhams Aus deutscher Lyrik (1969) ein Beleg dafür, dass eine Appropriation explizit die Form einer Anthologie annehmen kann. Da gerade aber Greenham in die Materie seiner Textvorlagen radikal eingreift, ist die Anthologie in seinem Falle nicht der alleinige Erklärungsansatz. Vgl. zur Anthologie auch Anne Mœglin-Delcroix in diesem Band, 237.

D ER FALL M ENARD ALS P ROVOKATION

pilator, ohne ein auctor sein zu wollen.39 Was den letzteren Typ anbetrifft, kann er auf singuläre Appropriationen nicht bezogen werden, da sich laut Pforte das Talent des Anthologisten erst bei der Materialkomposition offenbare.40 Beurteilt man den Anthologisten jedoch nur auf Grund seines Selektionsvermögens41, kann das Lob (oder der Tadel) bereits bei einem einzelnen Text ansetzen, und die Wertungsbasis42 ist mit der identisch, die bei Textapproprationen Anwendung findet.43 Auch die Behauptung, die Anthologie beraube das Kunstwerk seiner Aura der Einmaligkeit44, setzt die Wirkung der Blütenlese der der Appropriation gleich. Was für ein Vorteil ergibt sich aus dieser Klarstellung funktionaler Verhältnisse? Erstens braucht der Wert des Werkes nicht aus seiner Originalität abgeleitet zu werden. Die Textappropriation wird so von einem Legitimationszwang befreit, dem sie paradoxerweise stärker unterzogen ist als der herkömmliche Schöpfungsprozess: Wenn nicht im Werk selbst, muss der kreative Überschuss im Posttext, Paratext, ja im Schöpfer selbst gefunden werden. Im Falle einer anthologischen Präsentation werden diese Operationen überflüssig: Was zählt, ist wieder der Text in seiner ursprünglichen Gestalt und nicht seine innovative Umgestaltung. Zugespitzt formuliert: Für eine Analyse etwa von Goethes Heidenröslein macht es nichts aus, ob der Text der Münchner Ausgabe oder der Anthologie von Conrady entnommen ist, falls die Vorlagen keine Unterschiede aufweisen.45 Die Anwendung auf den Fall Menard greift freilich hier zu kurz und geht zugleich zu weit. Einerseits werden vollständige Romantexte nicht in Anthologien abgedruckt (in Reihen freilich schon), andererseits ist den ›echten‹ Textappropriateuren nicht zuzumuten, gleich den Anthologie-Herausgebern so weit in den Schatten zu treten, dass sie ihre Präsenz auf den Bereich der Vermittlung beschränken. Selbiges trifft im Übrigen auf ein weiteres, nicht mehr in die Kompetenz der Gattungslehre fallendes Appropriationsanalogon, die Textedition, zu.46

39 | Vgl. die Typologie des Bonaventura, zit. n. Woodmansee, Martha: »Der Autor-Effekt«, in: Jannidis, Fotis et al. (Hgg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, 298-334, 301f. 40 | Vgl. Pforte: »Die deutschsprachige Anthologie«, XXXIV. 41 | Vgl. ebd. 42 | Vgl. ebd., XXXVII. 43 | Vgl. Goldsmith: »A Week of Blogs«, 141f. 44 | Vgl. Pforte: »Die deutschsprachige Anthologie«, XCVI. 45 | Was in diesem Falle zutrifft. 46 | Editionen, bei denen der Herausgeber vor den Autor tritt, ja sich gar die Autorschaft anmaßt (vgl. Seidel, Gerhard: »Anerkennung durch Aneignung? Ein Sonett Margarete Steffins, bearbeitet von Bertolt Brecht«, in: Martens, Gunter/Woesler, Winfried (Hgg.): Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller, Tübingen: Niemeyer 1991, 181-185), gehören wohl zu den Ausnahmefällen.

97

98

TOMASZ WASZAK

E RKLÄRUNGSANSATZ M ULTITEXTTHEORIE Hier eröffnet sich ein Handlungsraum für die vom Verfasser 2005 vorgelegte, im vorliegenden Zusammenhang etwas zu modifizierende Multitexttheorie.47 Ihr idealer Gegenstand sind zwar bereits edierte Texte, die vom Rezipienten virtuell, nämlich in seinem Geiste, zu einem ›Kunstwerk‹ zusammengefügt werden. Es ist aber nicht ausgeschlossen, wenn auch als »Grenzfall«48 zu betrachten, dass diesem virtuellen Gesamttext ein stärkerer Präsenzmodus verliehen wird, z.B. in Form einer persönlichen Anthologie (abgeschrieben49, fotokopiert, zusammengeheftet, neu eingebunden, manchmal auch signiert50).51 Hier gerade bietet sich eine Analogie zum Prozess der Textappropriation der heutigen Abschreiber an: In beiden Fällen wird ein für den Rezipienten relevanter Text unter seinem Namen neu materialisiert. Dass der Name des ursprünglichen Autors dabei, anders als im Falle Menard, nicht überschrieben wird, ist wohl als vernachlässigbare Größe einzustufen: Schließlich wird weder im Falle Menard noch im Falle der authentischen Textappropriationen verheimlicht, wer der Autor des ›ersten‹ Textes ist. Schwerer scheint, wie bereits bei Collage und Anthologie, der Vorwurf zu wiegen, ein Einzeltext reiche da nicht aus. Doch ist gerade die Multitexttheorie – ungeachtet ihres Namens – auf diese Situation vorbereitet: Weil sie erstens die Existenz von Unitexten voraussieht und zweitens den Teilen eines Multitextes eine gewisse Autonomie einräumt.52 47 | Vgl. Waszak, Tomasz: Das Zerstreute Kunstwerk und die Zusammenleser. Über Multitextualität als literarisches Motiv, theoretisches Konzept und empirische Rezeptionspraxis, mit besonderer Berücksichtigung eines Bernhardschen Multitexts, Toruń: Wydawnictwo Uniwersytetu Mikołaja Kopernika 2005. 48 | Ebd., 19. 49 | Pfortes Beschreibung einer von mehreren Generationen handschriftlich zusammengestellten ›Hausanthologie‹ (vgl. Pforte: »Die deutschsprachige Anthologie«, XXXII-XXXIII) verdeutlicht, dass derartige intime Textappropriationen vor der massenhaften Einführung mechanischer Reproduktionstechniken eine verbreitete Praxis waren (der Verfasser kann sie auf Grund eigener Erfahrung noch in den frühen 1980er Jahren nachweisen). Nur hatten die scriptores nicht das Bewusstsein, ihr Schreiben sei dasselbe wie das Schreiben der ursprünglichen Autoren, wie das Abschreibern von heute nahegelegt wird (vgl. Goldsmith: »A Week of Blogs«, 148f.). 50 | Falls aus der persönlichen eine öffentliche Anthologie wird, ist die Signatur des Anthologisten mindestens genauso relevant wie die Namen der einzelnen Textautoren, siehe etwa die SuhrkampReihe Mein Lesebuch mit Anthologien u.a. von Böll, Kempowski, von der Grün, Andersch, Härtling, Fichte. 51 | Dass es ein bis heute ohne jeglichen Anspruch auf Öffentlichkeitswirkung praktiziertes Verfahren ist, zeigt der empiriebezogene Teil der Abhandlung, vgl. Waszak: Das Zerstreute Kunstwerk, 342 und 348. 52 | Vgl. die Erläuterungen zum Begriff ›zerstreutes Kunstwerk‹ in Waszak: Das Zerstreute Kunstwerk, 11-13 und 18-19.

D ER FALL M ENARD ALS P ROVOKATION

Als Unitext ist einerseits ein literarischer Text zu verstehen, den ein lesendes Individuum über alle anderen erhebt. Andererseits aber können auch mehrere literarische Texte gemeint sein, die nach ähnlichem Modus rezipiert werden und im Leserbewusstsein zu einer Ganzheit verschmelzen. Versteht man also Don Quijote als Menards Unitext, so t HFXJOOUEFSBQQSPQSJJFSUF5FYUBO4JHOJĕLBO[&SJTUOJDIUNFISQBTTJWFT3FRVJ sit einer konzeptuellen Handlung, sondern eigenbedeutungstragendes Rezeptionsdokument; t XJSEEJF5FYUBQQSPQSJBUJPO[VNNBUFSJFMMFO#FXFJTGàSEJFJEFBMF-FLUàSF EJFJO der vorlageidentischen Beschreibung resultiert;53 t kann der Appropriateur als optimaler Leser angesehen werden, als einer, der dem vorgegebenen Text zu neuem Leben verhilft – und dabei die soeben gebrauchte Floskel buchstäblich verwirklicht. Es ist zugegebenermaßen nicht viel, was damit gewonnen wird: Gewiss validiert diese Ansicht der Textappropriation keine Metatexte herkömmlicher Art – neue Lesarten des Don Quijote werden nach wie vor an Cervantes’ Original und nicht an Menards Unitext erprobt. Doch wird die Textappropriation selbst als ein impliziter Metatext lesbar und kann mittels dieser Statusbeschreibung in den Korpus der empirischen Appropriationen integriert werden. Was in dem vorliegenden Beitrag schon mehrere Male anhand von Einzelbeispielen erwähnt wurde, sei jetzt zusammenfassend ausgesprochen: Jede Textappropriation ist als implizite Interpretation der Vorlage aufzufassen, wobei sie dabei, anders als bei der herkömmlichen Intertextualität, ohne textuelle Eigenleistung auskommt. Dies entspricht der generellen Tendenz des konzeptuellen Schreibens, eher den Intellekt als die Gefühle zu engagieren.54 Äußern die anderen empirischen Appropriationen ihre impliziten Textkommentare mit den Mitteln der Entstellung, tut dies die Menard’sche mit dem Kunstgriff der Wiederholung, die, wie wir spätestens seit Derrida wissen, nie dasselbe bedeutet.55 Gewiss hat Don Quijote den Zeitgenossen Menards etwas anderes als den Zeitgenos-

53 | Vgl. dazu Todorov, Tzvetan: »Poetik«, in: Wahl, François (Hg.): Einführung in den Strukturalismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, 105-179, 106. Auf die Mehrzahl der Appropriationen trifft jedoch eher der dort formulierte Befund der Textentstellung durch Lektüre zu. 54 | Vgl. Dworkin: »The Fate of Echo«, xliii, und seine Einführung zu The UbuWeb Anthology of Conceptual Writing unter www.ubu.com/concept vom 30.09.2011. 55 | Vgl. Löffler, Jörg: »Zwischen Nachahmung und Kreativität. Spielformen fingierter Autorschaft am Beispiel von Jorge Luis Borges’ Erzählung Pierre Menard, Autor des Quijote«, in: Anz, Thomas/Kaulen, Heinrich (Hgg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte, Berlin/New York: de Gruyter 2009, 353-358, 356, wo Derridas Konzept der Iterabilität als einer »sinndestabilisierenden Wiederholung« auf Menard bezogen wird.

99

100

TOMASZ WASZAK

sen Cervantes’ zu sagen.56 Dies scheint zwar offenkundig zu sein, ist es aber nicht. Mindestens zwei andere Lesarten – die historisch-biografistische und im Gegensatz dazu die das Zeitlose des Werkes betonende – treten mit der aktualisierend-rekontextualisierenden in ein Konkurrenzverhältnis. Die Neuauflage des Werkes privilegiert eindeutig die letztere und sensibilisiert die Leser für ihre Vorteile. Dann käme freilich der Neuschreibung von Don Quijote und allen ihr ähnlichen Appropriationen, etwa Sherrie Levines gustave flaubert un cœur simple (1990), eine bloß stellvertretende Rolle zu: Sie würden auf einen Identitätswandel hinweisen, der mit jeder neuen Interpretation, ja mit jeder individuellen Lektüre eines Textes vonstattengeht und nicht unbedingt materielle, erst recht nicht neue57 Werke hervorbringt. Gegen diesen Einwand, ja auch gegen die Behauptung Axel Sprees, Menards Schöpfung stelle keine Quijote-Interpretation dar58, wollen wir darauf bestehen, dass sie ein hybrides Wesen ist: eine Interpretation, die nicht mit konventionellen (privaten, schriftlich meist nicht fixierten Urteilen, öffentlichem kritisch-literaturwissenschaftlichen Diskurs), sondern mit künstlerischen Mitteln erzeugt worden ist – ein eigenständiges Werk, das ein anderes kommentieren soll. Dass es dabei mit dem anderen identisch ist, ist ein Ausnahmefall, der die Richtigkeit der Statusbestimmung nicht beeinträchtigt. Natürlich leistet diese unitextuelle Deutung der Menard’schen Appropriation dem eingangs angedeuteten Wechsel zu einer wirkungszentrierten Literaturwissenschaft Vorschub. Dagegen wäre es ein von der textzentrierten Literaturwissenschaft durchaus zu bewältigendes Unterfangen, den Menard’schen Don Quijote als Teil eines potentiellen Multitextes dieses Autors zu betrachten und ihn etwa mit dessen anderen 19, wenn nicht 20 vom Borges’schen Erzähler sorgfältig aufgezählten Werken zu konfrontieren.59 Die Umdrehung der Untersuchungsachse (von ›Menards Don Quijote vs. Cervantes’ Don Quijote‹ zu ›Menards Don Quijote vs. Menards sonstiges Werk‹) ist als Wechsel des Forschungsobjekts von vertikaler (Posttext vs. Prätext) zu horizontaler (Prätext vs. andere(r) Prätext(e)) Intertextualität zu bezeichnen – ein Verfahren, das für die Multitextforschung grundlegend ist und in den Multitextkomponenten neue Bedeutungspotentiale entdecken lässt.60 Ohne die Kenntnis der 56 | Explizit dazu Borges: »Pierre Menard«, 120-122. 57 | Wenn man Goodman gegenüber Danto Recht geben sollte, vgl. Spree: »Borges, Danto, Goodman«, 50. 58 | Vgl. ebd., 51. 59 | Vgl. das Verzeichnis in: Borges: »Pierre Menard«, 113-115. Eine Abweichung vom ursprünglichen Multitextkonzept besteht darin, dass dieses nur rezipierte Werke (also nur ›Appropriationen‹) berücksichtigt, während hier auch Originalprodukte in Frage kommen. Wenn wir aber die Originalität der Zusammenstellung und nicht die ihrer einzelnen Objekte betonen, wird dieser Unterschied unwesentlich. 60 | Vgl. das analytische Hauptstück in: Waszak: Das Zerstreute Kunstwerk, 236-281, wo die Komponenten einer fiktionalen Lektüreliste aus Thomas Bernhards Auslöschung komplex aufeinander bezo-

D ER FALL M ENARD ALS P ROVOKATION

Inhalte des sonstigen Menard’schen Œuvres sind konkrete Ergebnisse einer solchen intertextualisierenden61 Analyse natürlich nicht formulierbar.62 Es steht aber fest, dass sie durchführbar und direkt auf den Text bezogen wäre. Ein so formuliertes Konzept der Appropriation als Multitextbildung zeigt sich als durchaus ausreichend für die analytische Erschließung der empirischen Volltextappropriationen, haben doch deren Autoren genug andere Arbeiten vorgelegt, die nun als Multitextkomponenten verwertet werden können, ja man kann in ihrem Falle auch zu Informationen über ihre sonstigen Lektüren kommen, was die Analyse dem ursprünglichen Multitextkonzept näher bringt. Man könnte das Modell potentiell noch erweitern – etwa durch die Annahme, Don Quijote werde von einem empirischen Individuum in seine innere Bibliothek63 integriert –, um den Text nicht mehr als geschlossene Einheit, sondern als einen nach allen möglichen Richtungen offenen Anlass zu horizontalen intertextuellen Bezügen zu denken. Ein solches Verfahren wäre freilich eher ein Beispiel für den Gebrauch als für die Interpretation des Textes.64 Letzten Endes liefe es dann also doch auf eine Schwerpunktverschiebung

gen werden. Manche Posten des Menard’schen Werkverzeichnisses legen schon auf Grund der knappen Beschreibungen Verbindungslinien nahe: Entweder teilen sie mit dem ›neuen‹ Don Quijote die Exzentrizität (b, e), oder sie stellen sich dem fiktionalen Text als faktuale Abhandlungen entgegen (d, m), oder aber sie greifen als Übersetzungen, Transpositionen oder Modifikationen dieselbe Produktionsmethode auf (a, k, o und Anm. zu s). Eine Verwandtschaft aller aufgelisteten Werke wird vom Erzähler explizit angesprochen: Die beim ›Schreiben‹ von Don Quijote zum Vorschein gekommene Fähigkeit Menards, »Ideen zu propagieren, die das genaue Gegenteil seiner Lieblingsideen waren« (Borges: »Pierre Menard«, 121), erinnere an Menards Invektive gegen Paul Valéry (Posten p), welche die »genaue Kehrseite seiner Meinung über Valéry« (ebd., 115) war. Letzten Endes könnte man Posten c, »[e]ine Monographie über ›gewisse Konnexionen oder Affinitäten‹ im Denken von Descartes, Leibniz und John Wilkins« (ebd., 114) als Einladung zu Vergleichen innerhalb des eigenen Œuvres verstehen. 61 | Zu dem für unser Konzept äußerst produktiven Begriff der Intertextualisierung vgl. Grivel, Charles: »Serien intertextueller Perzeption. Eine Skizze«, in: Schmid, Wolf/Stempel, Wolf-Dieter (Hgg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien: Gesellschaft zur Förderung slawistischer Studien 1983, 53-83. Werden bei Grivel die Texte vordergründig über deren intersubjektiv feststellbare inhaltliche Merkmale intertextualisiert, macht sich unsere Variante des Verfahrens eher den subjektiven Faktor zunutze, nämlich die Zugehörigkeit zu dem – produktiven wie reproduktiven – Gesamtœuvre eines empirischen Individuums; etwaige Beziehungen untereinander, z.B. thematischer Natur, sind als Zusatzeffekte nicht ausgeschlossen. Als besonders dankbares Objekt für dieses Verfahren bieten sich vorgefertigte Textensembles an, wie die Emergency Library Thomas Hirschhorns von 2003 (vgl. Albert Coers in diesem Band). 62 | Zu Spekulationen vgl. Anm. 59. 63 | Vgl. Bayard, Pierre: Wie man über Bücher spricht, die man noch nicht gelesen hat, München: Goldmann 2007. 64 | Vgl. dazu Eco, Umberto: Streit der Interpretationen, Berlin: Philo 2005, 43.

101

102

TOMASZ WASZAK

in Richtung Wirkungsforschung hinaus, was im Rahmen unserer Aufgabenstellung eher zu vermeiden wäre.

FAZIT Abschließend sind noch zwei Fragen zu beantworten: Hat sich erstens die Multitexttheorie bei der Erfassung der Textappropriation nicht doch übernommen, das heißt, hat sie nicht doch wie die zuvor analysierten Zugänge der Intertextualität und der Gattungstheorie ihre Kompetenz in Sachen Appropriation nur auf Kosten von Modifikationen durchgesetzt, die ihre Identität aushöhlen? Und ist zweitens der analytische Gewinn nicht zu knapp bzw. zu spekulativ, als dass er des genannten Aufwands wert wäre? Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass die Theorie auch in ihrer ursprünglichen Gestalt keine stabile Identität aufweist, was sich vor allem ihrem Gegenstand verdankt, der polymorph genug ist, um auch in Form einer reinen Einzelappropriation wiedererkannt werden zu können. In der Tat wurden fast alle in diesem Aufsatz genannten Beispiele bereits im ursprünglichen Multitext-Konzept, und sei es nur als Grenzfälle, einkalkuliert. Ein Vergleich möge es verdeutlichen: Intertextualität ohne Posttext oder eine Ein-Text-Anthologie sind im Grunde etwas Unmögliches und eigentlich reines Spiel mit dem Begriff; dagegen wird die potentielle Multitextualität eines Unitextes von der Multitexttheorie explizit in Kauf genommen. Der zweite Vorbehalt ist gravierender. Tatsächlich scheint die Suche nach Beziehungen zwischen Don Quijote und den sonstigen 19 Texten Menards – um bis zuletzt an unserem virtuellen Idealfall zu bleiben – von allerlei Spekulationen gefährdet. Aber es ist ein Makel, den die Multitexttheorie mit dem etablierten Verfahren der Gesamtwerkanalyse teilt: Auch hier wird stillschweigend von einer durch die Person des Autors garantierten Kohärenz der Zusammenstellung ausgegangen, auch wenn der Autor selbst in manch einem Werk lieber einen Neubeginn sehen würde. Manchmal ergibt eine solche Gesamtschau wenig; manchmal kann sie aber erhellende Befunde bringen. So ist auch von der hier – als optimaler literaturwissenschaftlicher Beitrag zum Phänomen der Textappropriation in ihrer reinen Form – vorgeschlagenen multitextorientierten Interpretation zu erwarten, sie werde ab und zu mehr als einen minimalen Zuwachs an Wissen über ihr Objekt bringen.

Ohne Begleitschutz – Texte auf der Schwelle Überlegungen zu Textappropriationen und Paratext Nora Ramtke

Textappropriationen als paratextuelles Phänomen zu begreifen, heißt, von der Hypothese auszugehen, dass die künstlerische Aneignung die ›Kunst‹ vom Zentrum des Textes an die Peripherie, vom Text in den Paratext verlagert. Dieser ist der eigentliche Ort des Geschehens einer programmatisch originell-unoriginalen Textproduktion, wie sie Kenneth Goldsmith mit dem Diktum »The New Sentence? The Old Sentence, reframed, is enough«1 beschreibt. Sich bescheiden zwischen zwei Kommata schmiegend, birgt das Wörtchen »reframed« das künstlerische Moment, das den ›alten Satz‹ zu einem gänzlich neuen, anderen macht, ohne auch nur einen Buchstaben des Textes zu verändern.2 Der Paratext, von Genette als Schwelle gedacht, über die der Leser in den Text eintritt, ist zugleich der Grenzbereich, der einen Text unterscheidbar macht und abgrenzt: von dem Universum anderer Texte und dem Zugriff anderer Autoren.3 Der Griff nach einem existierenden Text ist überhaupt erst dann bemerkenswert, wenn paratextuelle Hinweise genau dies zu verbieten scheinen: indem ein Autorname auf dem Titelblatt prangt, indem ein Titel den Text zum Werk und damit von anderen Texten unterscheidbar macht, indem ein Verlag dem Text sein Gepräge aufdrückt, indem ein Klappentext den Leser darüber informiert, was er vor sich hat, indem also der Text abgeschottet wird, um seine Identität als Werk herzustellen und

1 | Goldsmith, Kenneth: »A Week of Blogs for the Poetry Foundation«, in: Dworkin, Craig (Hg.): The Consequence of Innovation: 21st Century Poetics, New York: Roof Books 2008, 137-150, 140. Vgl. auch ders.: Uncreative Writing. Managing Language in the Digital Age, New York: Columbia University Press 2011. 2 | Zum Verhältnis der Begriffe ›Rahmen‹ und ›Paratext‹ vgl. Dembeck, Till: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin/New York: de Gruyter 2007, insb. 25-46. 3 | Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. Ich beziehe mich im folgenden hauptsächlich auf den peritextuellen Paratext, vgl. ebd., 12f.

104

N ORA R AMTKE

zu wahren. Diese paratextuell gestützte Werkidentität wird im Conceptual Writing zum Material, sie wird implizit oder explizit verarbeitet, umgedeutet und unterlaufen. Zugleich wird die Abgrenzung des im Buch zum Werk gewordenen Textes als eine konstruierte sichtbar gemacht, als der äußerliche Reflex auf einen literarischen Diskurs, der »Autorschaft als Werkherrschaft«4 versteht und festschreibt. Nicht von ungefähr arbeiten sich Appropriationen signifikant häufig an kanonischen Klassikern ab – und damit verbunden auch an der paratextuellen Konstruktion der Klassiker als Klassiker, etwa durch die Aneignung entsprechender Verlagslayouts. Penguin Books für den englischsprachigen Raum, im französischen Gallimard, Reclam in Deutschland sind Institutionen, die – auf der philologisch grundlegendsten Ebene, der Edition – Schreibende zu Autoren und Texte zu Werken machen und damit den Zugang zur Welt der Texte unhintergehbar strukturieren.5 Nach Genette handelt es sich beim Paratext »weniger um eine Schranke oder eine undurchlässige Grenze als um eine Schwelle oder […] um ein ›Vestibül‹, das jedem die Möglichkeit zum Eintreten oder Umkehren bietet; um eine ›unbestimmte Zone‹ zwischen innen und außen, die selbst wieder keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist.« 6

Als neuerliche Rahmung in Goldsmith’ Sinne lassen sich Textappropriationen daher als eine sich auf der Schwelle bewegende Kunst beschreiben, als ein radikaler Aufschub des Inhalts, der, wenn er gegeben wird, nicht um seiner selbst, sondern um seiner Inszenierung willen erscheint. Nur, dass dabei die »Möglichkeit zum Eintreten oder Umkehren« entfällt: der Leser befindet sich immer schon im Werk, sobald er nur das Buch zur Hand genommen hat, muss sich aber gleichwohl von der Vorstellung verabschieden, jemals die »›unbestimmte Zone‹ zwischen innen und außen« zu durchdringen und im ›eigentlichen‹ Text, im Inhalt anzukommen. »The Old Sentence, reframed,«7 ist die konsequente Negation der Genette’schen Trennung in »innen und außen«, die in ihr Gegenteil verkehrte Rede vom »Begleitschutz«8: 4 | Vgl. Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn u.a.: Schöningh 1981. Dass auch Genette dem Zirkelschluss der sich gegenseitig stützenden Autor- und Werkfunktion aufsitzt, zeigt Stanitzek, Georg: »Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung«, in: Ders./Kreimeier, Klaus (Hgg.): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, Berlin: Akademie Verlag 2004, 3-19, 11f. 5 | Vgl.: »Und insofern Paratexten ein für jede Rezeption weichenstellender Status zukommt, geht ihre Beobachtung keineswegs auf Randständiges, sondern tatsächlich aufs Ganze: Paratexte organisieren die Kommunikation von Texten überhaupt.« Stanitzek, Georg/Kreimeier, Klaus: »Vorwort«, in: Dies. (Hgg.): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, VII-VIII, VII [Herv. i. O.]. 6 | Genette: Paratexte, 10. 7 | Goldsmith: »A Week of Blogs«, 140. 8 | Genette: Paratexte, 9.

O HNE B EGLEITSCHUTZ – TEXTE AUF DER S CHWELLE

zeugt doch der begleitende Paratext der Appropriationen vom Scheitern des Paratextes als »Begleitschutz« und damit zugleich vom Scheitern der Unterscheidung zwischen »Text« und »de[m] Text«9.

I N DER PARATEXTUELLEN E NDLOSSCHLEIFE : M ICHALIS P ICHLERS D ER E INZIGE UND SEIN E IGENTUM Eine solche für Textappropriationen programmatische Retardierung des Inhalts lässt sich in Michalis Pichlers Der Einzige und sein Eigentum beobachten. Das Buch, eine auf das Wesentliche, nämlich sämtliche Derivationen und Verbindungen von »Ich« und »Mein« reduzierte Reclam-Ausgabe von Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum, erscheint »mit einem anhang«, wie das Titelblatt informiert.10 Dieser Anhang besteht jeweils aus einer deutsch- und einer englischsprachigen Version von Stirners ursprünglichem Vorwort Ich hab’ Mein’ Sach’ auf Nichts gestellt11, Annette Gilberts Nachwort, einem kurzem Essay von Craig Dworkin sowie dem Inhaltsverzeichnis. Letzteres stimmt bis hin zur Seitenzahl des Nachworts mit der Reclam-Edition von Stirners Text überein und verzeichnet auf diese Weise sämtliche originalen Überschriften der Abteilungen, Kapitel und Unterkapitel Stirners, die das Weiß des gelöschten Textes, die stehengebliebenen Interpunktionszeichen und die über die Seiten verteilten Varianten von »Ich« und »Mein« in Pichlers Bearbeitung wie ein Korsett zusammenhalten. Das mit »Inhalt« überschriebene Inhaltsverzeichnis legt nahe, dass der Inhalt eines Buches über seine Zwischenüberschriften greifbar zu machen ist, eine Anmaßung, die schlechterdings allen Inhaltsverzeichnissen eigen ist. Umso mehr muss ein solches Verzeichnis im Falle des programmatisch nicht vorhandenen (oder doch arg kondensierten) Inhalts verwundern. Die Verweisstruktur eines Inhaltsverzeichnisses lässt sich in der Regel nur in eine Richtung lesen, nämlich aus dem Verzeichnis in den Text (gewissermaßen aus dem »Inhalt« in den Inhalt). Ein Verweis auf das Inhaltsverzeichnis erscheint nicht sinnvoll, weshalb Inhaltsverzeichnisse sich offenbar nie selbst verzeichnen. Anders liegt der Fall bei Pichlers Der Einzige und sein Eigentum, wo die Zweisprachigkeit des Anhangs ein doppeltes Inhaltsverzeichnis erfordert: »Inhalt« und »Contents«. Diese sind jedoch nicht – wie bei zweisprachigen Ausgaben üblich – in einer Synopse neben- oder untereinander gesetzt, sondern nehmen, jeweils nur eine Sprache bedienend, eine eigene Seite vollständig ein. Auf Seite 461 findet man dementspre9 | Vollständig lautet der Satz: »Meistens ist also der Paratext selbst ein Text: Er ist zwar noch nicht der Text, aber bereits Text.« Ebd., 14 [Herv. i. O.]. 10 | Pichler, Michalis: Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Anhang / With an Appendix, Berlin: »greatest hits« 2009. 11 | Vgl. Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, hg. v. Ahlrich Meyer, Stuttgart: Reclam 1981 [1845], 3-5.

105

106

N ORA R AMTKE

chend den »Inhalt«, auf Seite 463 »Contents«, die Seite 462 bleibt leer. Damit ergibt sich die Möglichkeit (oder gar Notwendigkeit), das Inhaltsverzeichnis selbst zu verzeichnen, genauer gesagt verzeichnen sich beide Verzeichnisse wechselseitig: Wer sich also auf Seite 461 über den »Inhalt« informiert, wird am Ende der Seite auf »Table of Contents … 463« verwiesen. Man blättert eine Seite um, liest unter »Contents« weiter und wird von dort mit dem letzten Eintrag zurück an »Inhalt … 461« verwiesen. Damit wird die ursprünglich lineare Struktur des Inhaltsverzeichnisses in eine zirkuläre überführt, endlos ließe sich so im »Inhalt« der Inhalt suchen. Mehr noch: Die genaue Bewegung, die der Leser beim Lesen der Verzeichnisse nachvollzieht, ist weder linear noch kreisförmig. Vom oberen Rand der Seite 461 geht der Blick nach unten, um vom unteren Rand an den Seitenanfang des nächsten Blattes geführt zu werden; dort folgt der Blick wiederum dem Verzeichnis bis zum letzten Eintrag und wird dann vom unteren Rand der Seite 463 zurück an den Anfang der Seite 461 gelenkt. Diese zwischen zwei Buchseiten auf und ab pendelnde Lesebewegung entspricht damit einer Lemniskate, dem mathematischen Symbol für die Unendlichkeit: ∞ (Abb. 1). Wie der um sein »Ich« und sein »Eigentum« kreisende »Einzige« Stirners gerät auch der Leser der Appropriation auf der Suche nach dem Inhalt in eine paratextuelle Endlosschleife, aus der es theoretisch kein Entrinnen gibt. Die Selbstbezüglichkeit der Verweise im Inhaltsverzeichnis reflektiert die Egomanie des Stirner’schen »Ich«, das in seiner fortdauernden Ich-Bespiegelung ebenso wenig zum wahren Kern seiner Existenz vordringen kann wie der Leser Pichlers zum ›eigentlichen‹ Text. Mit Abb. 1: Michalis Pichler: Der Einzige und sein Eigentum, Berlin: »greatest hits« 2009, 461 und 463.

O HNE B EGLEITSCHUTZ – TEXTE AUF DER S CHWELLE

der chiastisch kreisenden Bewegung auf der Schwelle zum Text verselbstständigt sich der »Begleitschutz«, von dem Genette spricht, er hält den Leser von dem »nackt[en]« Text fern, statt »seine ›Rezeption‹ und seinen Konsum [...] zu ermöglichen«12 . Beispielhaft lässt sich so an Pichlers Der Einzige und sein Eigentum zeigen, wie sich die Schwelle zum Text ausdehnt, die Unterscheidung zwischen Text und Rahmen, zwischen Inhalt und Präsentation hinfällig wird. Anhand drei weiterer Beispiele soll im Folgenden eine Paratextlektüre versucht werden, die von der Annahme ausgeht, dass Textappropriationen aufgrund ihrer sekundären, ›unoriginellen‹ Faktur dazu neigen, wichtige text- und rezeptionsstrukturierende Größen sowie materielle Aspekte des Textes in ungewohntem Maße zu thematisieren. Dem kann nur eine Lektüre gerecht werden, die den Paratext als les- und hermeneutisch belastbar ernstnimmt.

D IE FALSCHE S ICHERHEIT BIBLIOGRAFISCHER A NGABEN: S HERRIE L EVINES FLAUBERT UN CŒUR SIMPLE Die 1990 erschienene Textappropriation von der in Aneignungsfragen nicht unbescholtenen Künstlerin Sherrie Levine13 kann in mehrfacher Hinsicht als Beispiel dafür dienen, wie ein konventioneller Text, Gustave Flauberts Erzählung Un cœur simple, von Paratexten umstellt wird, die es nahezu unmöglich machen, auf gewohnte Weise bibliografisch mit dem Büchlein umzugehen.14 Die allen Appropriationen innewohnende Provokation eines auf Originalität und geistigem Eigentum beruhenden Literaturverständnisses wird musterhaft vorgeführt: Der ursprüngliche Autor Gustave Flaubert wird zwar auf dem Cover durch eine große Type und Fettdruck hervorgehoben, gleichzeitig aber auf eine lediglich rahmende Funktion reduziert: »gustave« ist auf den rückseitigen Umschlag, »flaubert« auf den vorderen gesetzt, sodass sein Name das Druckwerk umfängt. Der Titel »un cœur simple« ist (typografisch 12 | Vgl.: »Dieser Text präsentiert sich jedoch selten nackt, ohne Begleitschutz einiger gleichfalls verbaler oder auch nicht-verbaler Produktionen wie einem Autorennamen, einem Titel, einem Vorwort und Illustrationen. Von ihnen weiß man nicht immer, ob man sie dem Text zurechnen soll; sie umgeben und verlängern ihn jedenfalls, um ihn im üblichen, aber im vollsten Sinne des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen, und damit seine ›Rezeption‹ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buches zu ermöglichen.« Genette: Paratexte, 9. 13 | Insb. durch ihre berühmte Serie After Walker Evans, über die es bei Stefan Römer heißt: »Nicht nur ihre Hinterfragung künstlerischer Originalität, sondern vor allem die Möglichkeit, die Ideologie der Institution des Originals, die implizite Moral und die Wertbildung sowie die vom expertenhaften Bilderwissen geprägten Begriffe zu kritisieren, machten [diese Serie] auch in den 90er Jahren zur meistzitierten der diskursiven Formation der Appropriation art.« Römer, Stefan: Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung, Köln: DuMont 2001, 115. Vgl. ebd., 86-118. 14 | SHERRIE LEVINE: flaubert un cœur simple. IMSCHOOT, UITGEVERS FOR ANTICHAMBRES, AFFINITES SELECTIVES MCMXC (diese zeichengenaue Titelaufnahme stellt notwendigerweise ein Provisorium dar).

107

108

N ORA R AMTKE

deutlich kleiner, aber ebenso fett) ohne größeren Abstand mittig unter »flaubert« gesetzt, sodass er als Untertitel eines Werkes mit dem Titel »flaubert« von »SHERRIE LEVINE« erscheint, deren Name am oberen Rand des Buchdeckels nach üblicher Lesegewohnheit die Position des Autors einnimmt. Allerdings relativiert der Buchrücken diesen Befund insofern, als dort »GUSTAVE FLAUBERT UN CŒUR SIMPLE SHERRIE LEVINE« in dieser Reihenfolge verzeichnet ist. Nichtsdestoweniger bleibt die Funktion von Sherrie Levine bei dieser Ausgabe höchst ambivalent, da ihrem Namen nirgendwo eine andere Funktion (z.B. als Herausgeberin) zugeordnet wird. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die bibliografische Verzeichnung, wie eine Suchanfrage in den verschiedenen deutschen Verbundkatalogen zeigt: t Der KOBV führt das Werk unter dem »Titel: Gustave Flaubert: un coeur [sic] simple / Sherrie Levine«, mit der Verfasserangabe »Verfasser: Levine, Sherrie«. t Der BVB nennt »Autor / Person: Levine, Sherrie; Flaubert, Gustave« sowie den »Titel: Gustave Flaubert |Un coeur [sic] simple«. t Der SWB verzeichnet »Titel: Un cœur simple / Gustave Flaubert. Sherrie Levine«; »Verfasser: Flaubert, Gustave«; »Beteiligt: Levine, Sherrie«. t Der HBZ gibt als »Verfasser/Urheber Gustave Flaubert. Sherrie Levine« an, sowie den »Titel Un coeur [sic] simple«. t Und der GVK führt das Werk schließlich folgendermaßen: »Titel: Un coeur [sic] simple / Gustave Flaubert. [Gestaltung:] Sherrie Levine«; »Verfasser: Flaubert, Gustave«; »Sonst. Personen: Levine, Sherrie«. Diese kurze Stichprobe zeigt hinlänglich, dass allein eine kleine Störung in der Anordnung des Paratextes auf dem Buchumschlag genügt, um das bibliografische System kapitulieren zu lassen – und mit ihm unser Verständnis von Urheberschaft. Sherrie Levines flaubert un cœur simple führt auf diese Weise die Fragilität der Ordnung vor, auf die wir uns im Umgang mit Büchern voraussetzungslos verlassen. Die Provokation liegt dabei weniger in der Aneignung des Flauberttextes, als vielmehr in dem ostentativen Beharren darauf, dass wir uns in falschen Sicherheiten wiegen, wenn wir glauben, dass Titel, Autor- und Verlagsnamen, Publikationsorte, Jahreszahlen etc. ein Buch hinreichend kategorisieren und identifizieren können.15 Der Glaube an die sichere Unterscheidbarkeit eines jeden Titels findet seinen prägnantesten Ausdruck in der ISBN, der Internationalen Standardbuchnummer, einem »einzigartige[n] Identifizierungssystem für monographische Publikationen«16. Dieses Identifizierungssystem hat einen erstaunlichen Anspruch: 15 | Insofern lässt sich von einer Ausweitung der Institutional Critique auf das Buchwesen sprechen. Vgl. dazu Welchman, John C. (Hg.): Institutional Critique and After, Zürich: JRP|Ringier 2006. 16 | Die Internationale Standard-Buchnummer. ISBN Handbuch, Frankfurt/M.: ISBN Agentur für die BRD 2005, o. S. [Kap. 2], http://www.german-isbn.org/PDF/isbn_13_handbuch.pdf vom 16.03.11.

O HNE B EGLEITSCHUTZ – TEXTE AUF DER S CHWELLE

»Die Internationale Standard-Buchnummer kennzeichnet in aller Welt als kurzes und eindeutiges, auch maschinenlesbares Identifikationsmerkmal jedes Buch unverwechselbar.«17 Die ISBN scheint damit geeignet, all die oben beschriebenen Unsicherheiten zu umgehen. In diesem Glauben wird allerdings nur derjenige belassen, der ein Exemplar von Levines Vorzugsausgabe in die Hand nimmt.18 Beim Vergleich mit der einfachen Ausgabe zeigt sich, dass mit dem »einzigartige[n] Identifizierungssystem« ein Vexierspiel getrieben wird, das die eigentliche Funktion einer ISBN ins Leere laufen lässt. Die signierten Exemplare der Vorzugsausgaben (sowohl 1-50 als auch I-XII) sind unter der Nummer 90-72191-52-8 erschienen, die übrigen Exemplare tragen die ISBN 90-72191-20-4. Eine solche 10-stellige ISBN lässt sich folgendermaßen entschlüsseln: 90 ist die Gruppennummer, die auf die Niederlande oder den deutsch- und flämischsprachigen Teil Belgiens hinweist, 72191 ist die Verlagsnummer des Verlages Imschoot, uitgevers in Gent, 52 bzw. 20 sind die Titelnummern und die letzte Stelle (8 bzw. 4) ist schließlich die Prüfziffer, die angibt, ob die ISBN formal korrekt ist, und damit der Überprüfung von Eingabefehlern, Zahlendrehern etc. dient. Dabei zeigt sich, dass die ISBN 90-72191-52-8 gültig, die ISBN 90-7219120-4 jedoch ungültig, d.h. mit der falschen Prüfziffer versehen ist. Korrekt berechnet müsste diese den Wert 10 haben, der grafisch als X dargestellt und damit als einzige Ziffer im ISBN-System durch eine römische Zahl ersetzt wird.19 Die Suche nach der formal korrekten ISBN (90-72191-20-X) führt den aufmerksamen Leser mit dem X auf das Zeichen für einen unbekannten Namen oder eine unbekannte Größe. Die Gewissheit, die das ISBN-System als »ein zentrales Rationalisierungsmittel« verspricht, das mit dem Anspruch auftritt, »effizienter als die Beschreibung eines Produkts durch umfangreiche bibliografische Angaben«20 zu sein, wird durch die falsche und die korrigierte Buchnummer als eine scheinbare oder wenigstens angreifbare vorgeführt.21 17 | Merkblatt zur Handhabung der Internationalen Standard-Buchnummer (ISBN) in der Bundesrepublik Deutschland, http://www.german-isbn.org/PDF/isbn10_merkblatt.pdf vom 26.09.11. 18 | Zwar fehlt im Buch selbst der entsprechende übliche Hinweis, doch lässt sich aus dem Vergleich mehrerer Exemplare schließen, dass es 300 nummerierte Exemplare, 50 von 1-50 nummerierte und signierte Exemplare sowie 12 von I-XII nummerierte und signierte Exemplare geben muss. Die beiden Vorzugsausgaben scheinen mir nach dem Vergleich der Exemplare 2/50 und II/XII identisch. 19 | Die Berechnung der Prüfziffer erfolgt bei der 10-stelligen ISBN 90-72191-20-? nach folgender Formel: 1 x 9 + 2 x 0 + 3 x 7 + 4 x 2 + 5 x 1 + 6 x 9 + 7 x 1 + 8 x 2 + 9 x 0 = 120, 120 : 11 = 10, Rest 10 (es wird aufgerundet). Die Prüfziffer lautet X (steht für 10). Inzwischen werden nur noch 13-stellige ISBN vergeben. 20 | Vgl. ISBN Handbuch, o. S. [Kap. 2]. 21 | Den konkreten Beweis für diese These hat eine denkwürdige Fernleihe geliefert: Trotz der ausdrücklichen Bitte, keine andere als die Levine-Ausgabe mit der ISBN 90-72191-20-4 zu schicken, wurde mir der Titel: Gette, Paul-Armand: Volcanisme Sculptures & Passion, Imschoot, Uitgevers for Anti-

109

110

N ORA R AMTKE

Zu klären bleibt, inwiefern die Vorzugsausgabe eine andere Buchnummer verdient hat. Ein Blick in das ISBN-Handbuch verrät: »Es muss eine neue ISBN vergeben werden, wenn an einem oder mehreren Teil(en) einer Publikation wesentliche Änderungen vorgenommen werden.«22 Der sinnfälligste Unterschied ist sicherlich das Fehlen der Signatur, welche die Vorzugsausgabe mit einer Aura des Authentischen umgibt. Darüber hinaus fördert ein direkter Textvergleich schon im ersten Kapitel Unstimmigkeiten zu Tage, denn dieses ist in der Vorzugsausgabe gut doppelt so lang. Die in der Standardausgabe fehlenden vier Absätze von »Au premier« bis »automatique« finden sich gegen Ende des zweiten Kapitels wieder, ohne in irgendeiner Weise in den Kontext zu passen.23 Gemessen an Flauberts ›Original‹ als Referenztext gibt die Vorzugsausgabe den korrekten Text wieder, die Ausgabe mit der formal falschen ISBN dagegen einen verfälschten. Man könnte also schließen: Mit der defekten Buchnummer geht ein defekter Text einher, der noch dazu nicht durch eine Signatur beglaubigt ist. Möglich wäre aber auch eine andere Deutung: Die korrekte ISBN verzeichnet einen falschen Text, nämlich den von Flaubert (dessen Autorschaft wird mit Levines Signatur gleichsam entwertet und überschrieben), die formal falsche ISBN hingegen verzeichnet einen – Flauberts Un cœur simple freilich überaus ähnlichen – originalen Levine-Text, der demzufolge dieser Signatur nicht bedarf. Dass sich flaubert un cœur simple weder auf die eine noch die andere Deutung festlegen lässt, versteht sich indes bei einem Werk, bei dem dies schon für Autor/-in und Titel gilt, von selbst.

D IE E GO -A USLÖSCHUNG DES A UTORS : S IMON M ORRIS ’ G ETTING I NSIDE J ACK K EROUAC ’S H EAD Destabilisiert die paratextuelle Gestaltung von Levines flaubert un cœur simple nicht zuletzt die werkbeherrschende Position des Autors, so geriert sich Simon Morris durch seine foto- und typografische Präsenz auf dem Cover als Autor im emphatischen Sinne seines Werkes Getting Inside Jack Kerouac’s Head (Abb. 2).24 Diese ostentative Präsenz kontrastiert die doppelte Aneignung, die dem Werk zugrunde liegt: Nicht nur der Text Kerouacs, sondern auch die dem Werk zugrunde liegende

chambres, Affinités Sélectives MCMXC (1990) mit der ISBN 90-72191-20-X geliefert. Levines flaubert geht damit eine (womöglich unfreiwillige) ›Wahlverwandtschaft‹ mit einem anderen, ebenfalls »at the occasion of the exhibition-series ›Affinités Sélectives‹ at the Paleis voor Schone Kunsten, België organized by Bernard Marcadé« (Levine: flaubert, o. S. [61]) erschienenen Band ein. 22 | ISBN Handbuch, o. S. [Kap. 5.2]. 23 | Vgl. Levine: flaubert, 8f. und 15f. in der Standardausgabe. 24 | Morris, Simon: Getting Inside Jack Kerouac‘s Head, York: information as material 2009.

O HNE B EGLEITSCHUTZ – TEXTE AUF DER S CHWELLE Abb. 2: Simon Morris: Getting Inside Jack Kerouac’s Head, York: information as material 2009, Cover.

künstlerische Idee – im Conceptual Writing gewissermaßen Platzhalter für den Autor25 – ist appropriiert. Getting Inside Jack Kerouac’s Head ist zunächst ein Blog, in welchem Morris täglich eine Seite aus Jack Kerouacs On the Road abtippt und postet. Schon im project proposal ist das ›Ich‹, das spricht, ein geliehenes: »A few years ago I was lecturing to a class at Princeton. After the class, a small group of students came up to me to tell me about a workshop that they were taking with one of the most well-known fiction writers in America. They were complaining about her lack of imagination. For example, she had them pick their favorite writer and come in next week with an ›original‹ work in the style of that author. I asked one of the students which author they chose. She answered Jack Kerouac. She then added that the assignment felt meaningless to her because the night before she tried to ›get into Kerouac’s head‹ and scribbled a piece in ›his style‹ to fulfill the assignment. It occurred to me that for this student to actually write in the style of Kerouac, she would have been better off taking a road trip across the country in a ’48 Buick with the convertible roof down, gulping Benzedrine by the fistful, washing ’em down with bourbon, all the while typing furiously away on a manual typewriter, going 85 miles per hour down a ribbon of desert highway. And even then, it would’ve been a completely different experience, not to mention a very different piece of writing, than Kerouac‘s. 25 | Vgl. etwa Kenneth Goldsmith: »[…] it is the plan that designs the work.« Goldsmith: »A Week of Blogs«, 138.

111

112

N ORA R AMTKE Instead, my mind drifted to those aspiring painters who fill up the Metropolitan Museum of Art every day, spending hours learning by copying the Old Masters. If it’s good enough for them, why isn’t it good enough for us? I would think that should this student have retyped a chunk – or if she was ambitious, the entirety – of On The Road. Wouldn‘t she have really understood Kerouac’s style in a profound way that was bound to stick with her? I think she really would have learned something had she retyped Kerouac. But no. She had to bring in an ›original‹ piece of writing.« 26

Diese Anekdote stammt von Kenneth Goldsmith und bildet – korrekt in Anführungszeichen gesetzt und mit dessen Namen unterschrieben – Simon Morris’ project proposal. Schon die Werkankündigung als Zitat vollzieht performativ die Idee Goldsmith’. Morris ›erniedrigt‹ sich vom Autor zum (Ab-)Schreiber und zum Ausführenden einer fremden Idee, kopiert mechanisch; keine Formulierung im Text macht ihn zum Autor, keine Handschrift gibt etwas über den Schreiber des Textes und dessen ›Geschrieben-worden-Sein‹ preis, wie es Goldsmith propagiert: »The conceptual writer assumes that the mere trace of any language in a work – be it morphemes, words, or sentences – will carry enough semantic and emotional weight on its own without any further subjective meddling from the poet«27. Morris agiert konsequent, er ist Kopist des Konzepts Goldsmith’ und Kopist der Zeichen Kerouacs. Zugleich nimmt er Truman Capotes berühmtes Diktum über Kerouacs Stil – »That isn’t writing; it’s typing.«28 – beim Wort, freilich indem er die legendäre Schreibgeschwindigkeit Kerouacs in entschleunigtes Abtippen über eineinhalb Jahre und die 26 | Morris, Simon: project proposal, http://gettinginsidejackkerouacshead.blogspot.com/2008/06/ project-proposal.html vom 18.03.11. Wiederabgedruckt im Vorwort von Goldsmith, Kenneth: »Retyping On the Road: A Case for Appropriation«, in: Morris: Getting Inside Jack Kerouac’s Head, vii-xiv, viif. Damit ist Goldsmith’ ›Introduction‹ ein wortwörtliches Vorwort, das nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich vor Morris’ Arbeit steht. Es geht auf Seite viii bruchlos in ein ›herkömmliches‹, interpretierendes und damit eigentlich in ein Nach(geordnetes)wort über. 27 | Goldsmith: »A Week of Blogs«, 138. 28 | Zit. n. der Einleitung von Ann Charters zu Kerouac, Jack: On the Road, London u.a.: Penguin Books 2000 [1957], vii-xxx, ix. Morris appropriiert bis ins Detail das Layout dieser Ausgabe, einschließlich Typografie, Inhaltsverzeichnis, Cover, Verlagswerbung und Verlagssignet. Als Textgrundlage dient dagegen offenbar die ebenfalls bei Penguin Books erschienene Ausgabe Kerouac, Jack: On the Road. The Original Scroll, hg. v. Howard Cunnell, New York: Penguin Books 2007, da Satz und Seitenzahlen mit ihr übereinstimmen. Die Unterschiede zwischen der erst 2007 publizierten Urfassung The Original Scroll und der Erstveröffentlichung von 1957 sind gravierend und betreffen neben der Textgliederung auch die Pseudonomisierung von Namen und Orten sowie sprachliche und inhaltliche Anpassungen. The Original Scroll bietet »[t]he legendary first draft – rougher, wilder, and racier than the 1957 edition«, wie es auf dem Cover heißt. Kerouac hat nach eigenen Angaben On the Road in drei Wochen auf einer Rolle zusammengeklebten Papiers ohne Absätze oder Kapitelunterteilungen heruntergeschrieben: »whole thing on strip of paper 120 foot long […] just rolled it through typewriter and in fact no paragraphs […] rolled it out on floor and it looks like a road«. Kerouac in einem Brief an Neal Cassady

O HNE B EGLEITSCHUTZ – TEXTE AUF DER S CHWELLE

zu diesem Zweck angefertigte Manuskriptrolle Kerouacs aus aneinandergeklebtem Transparentpapier29 in einen Blog und schließlich in ein Buch überführt. Darüber hinaus findet die Relativierung des auf dem Cover zunächst nachdrücklich erhobenen Autorschaftsanspruchs – ganz im Sinne von Goldsmith’ programmatischer Parole »avoiding subjectivity«30 – seinen Niederschlag in der automatischen und unpersönlichen Signatur des Blogs. Die Einträge sind »Posted by information as material«31, womit der Verlag, in dem später Getting Inside Jack Kerouac’s Head als Buch erscheinen wird, formal die Autorposition einnimmt. Auch die Kontaktdaten auf Morris’ Blogger-Profilseite führen zur Webpräsenz des Verlags32, in den Morris als Autor gewissermaßen aufgeht. Dies entspricht durchaus seinem künstlerischen Selbstverständnis, wie es die bio-bibliografische Information zu Morris in seinem Buch verheißt: »He [Morris] considers that, as an artist, his role is to create a theoretical space in which others feel comfortable working and, in the process, to erase his own ego in order to stimulate desire in others.«33 Simon Morris führt mit Getting Inside Jack Kerouac’s Head vor, wie Textappropriationen häufig mit einer reflexhaft-demonstrativen Aneignung von Autorschaftsposen einhergehen; bedingen sie doch trotz ihres per se geführten Angriffs auf Autorschaft häufig ein emphatisches Verständnis derselben, indem ein ›Ich‹ sich die Texte aneignet und gewissermaßen als ›Aneigner-Appropriator-Autor‹ auf dem Titelblatt in der paratextuellen Autorposition figuriert, das Werk gar signiert. Anders als z.B. bei Sherrie Levine wird damit nicht nur die Rolle eines Originalautors zweifelhaft, sondern eine umfassende ›Ego-Auslöschung‹ des Autors inszeniert. Die paratextuelle Präsenz von information as material lässt sich in diesem Sinne als Infragestellung des Autorsubjekts deuten: Abgekürzt wird der Verlag auf dem

Abb. 3: Verlagssignet auf dem Cover von Simon Morris: Getting Inside Jack Kerouac’s Head, York: information as material 2009. vom 22. Mai 1951, zit. n. Cunnell, Howard: »Fast This Time. Jack Kerouac and the Writing of On the Road«, in: ebd., 1-52, 1. 29 | Zur Entstehungsgeschichte vgl. ausführlich ebd. 30 | Goldsmith: »A Week of Blogs«, 138. 31 | Vgl. z.B. http://gettinginsidejackkerouacshead.blogspot.com/2008/06/31-may-2008.html vom 21.03.11. 32 | Vgl. http://www.blogger.com/profile/16987216225021413221 vom 23.03.11. 33 | Morris: Getting Inside Jack Kerouac’s Head, Klappentext. Ähnlich formuliert auch unter http://infor mationasmaterial.com/?page_id=79 und http://www.blogger.com/profile/16987216225021413221 vom 05.10.2011. Neben Morris werden im Buch auch Kenneth Goldsmith (Vorwort) und Craig Dworkin (Hg.) gleichberechtigt eingeführt.

113

114

N ORA R AMTKE

Buchdeckel »iam« (Abb. 3), eine Abkürzung, in der die Feststellung eines selbstbewussten Ichs steckt (»I am.«), die sich aber genauso als programmatisch ins Leere laufender Satz (»I am […]«), als das Ergebnis einer »intentionally self and ego effacing tactic«34 lesen lässt.

D AS UNGREIFBARE WEISS LESEN: H ERMAN M ELVILLES FOUR PERCENT OF M OBY D ICK

Abb. 4: Herman Melville: Four Percent of Moby Dick, edited and published by Parasitic Ventures Press, Toronto 2006, First Edition, Cover.

Angekündigt wird Four Percent of Moby Dick35 auf der Verlagsseite von Parasitic Ventures Press als eine »critical edition«36 von Herman Melvilles Moby-Dick or The Whale (Abb. 4). Das Anliegen der großen, im 19. Jahrhundert theoretisch begründeten, kritischen oder auch historisch-kritischen Editionsprojekte ist »[d]ie Herausgabe (Edition) eines literar. Denkmals«, in Form eines durch textkritische Bemühungen erschlossenen, durch Emendationen und Konjekturen verbesserten, mit kritischem Apparat versehenen »gesicherten Text[es]«. »Diese Aufgabe kann dann als gelöst gelten«, informiert das Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 34 | Vgl. Goldsmith: »A Week of Blogs«, 135. 35 | Melville, Herman: Four Percent of Moby Dick, edited and published by Parasitic Ventures Press, 2006. Obwohl sein Name weder im Text der Verlagsankündigung noch im verlegerischen Peritext auftaucht, scheint Michael Maranda doch eine gewisse geistige Eigentumsbeziehung zu reklamieren, da es auf seiner persönlichen Homepage unter »projects« als »bookwork« aufgeführt wird, vgl. http:// www.michaelmaranda.com/projects.htm. 36 | Vgl. http://parasiticventurespress.com/books/?p=193 vom 03.03.2011.

O HNE B EGLEITSCHUTZ – TEXTE AUF DER S CHWELLE

»wenn eine dem Willen des Verfassers entsprechende oder eine diesem möglichst nahe kommende Wiedergabe des von ihm konzipierten Werkes erreicht ist«37 – die, wenn sie ordentlich im textkritischen Apparat dokumentiert wird, der Literaturwissenschaft das »editionsphilologische Adelsprädikat«38 wert ist. Dass ein solchermaßen gesicherter und geadelter Text, den ein »Schein des definitiv und einzig Gültigen«39 umgibt, ein positivistisches Phantasma bleiben muss, hat die Editionswissenschaft inzwischen mit heimlichem Bedauern erkannt40, in kreativer Weise fruchtbar gemacht wird diese Erkenntnis dagegen im Conceptual Writing. Die Problematik einer allein auf der Autorintention basierenden Editionspraxis zusammenfassend, heißt es nüchtern in der Verlagsankündigung zu Four Percent of Moby Dick: »Herman Melville is unable to comment on this critical edition of his work«.41 Dementsprechend dürfen die schwerwiegenden Herausgebereingriffe nicht überraschen, die von Melvilles Text durch Anwendung der ›AutoZusammenfassen-Funktion‹ in Microsoft Word nur vier Prozent der jeweiligen Kapitel übrig lassen. Mit dieser für die Textkonstitution ungewöhnlichen Methode thematisiert Four Percent of Moby Dick die Anwesenheit der Abwesenheit, die Bedeutung des Negativums. Denn hinter, unter und um diese/n vier Prozent Text lässt die »critical edition« vor allem eines zur Geltung kommen: das Weiß der Seite. Jedes zusammengeschrumpfte Kapitel steht im Zentrum einer sonst leeren, unpaginierten Seite, die Blätter sind nur einseitig bedruckt. Einzig eine kleine Zeichnung, einen wenig furchterregenden Wal vorstellend, ziert den Anfang eines jeden Kapitels. Sofern bei einer solchen Faktur überhaupt sinnvoll von einem Fokus gesprochen werden kann, liegt dieser beim Lesen von Four Percent of Moby Dick nicht auf den 4 % Text, sondern auf den 96 % Nicht-Text (Abb. 5).

37 | Seiffert, Hans Werner: Art. »Edition«, in: Kohlschmidt, Werner/Mohr, Wolfgang (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, unveränd. Neuausgabe d. 2. Aufl., Berlin: de Gruyter 2001, Bd. 1, 313-320, 313. 38 | Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Stuttgart: Metzler 2003, 283. 39 | Hurlebusch, Klaus: Art. »Edition«. In: Ricklefs, Ulfert (Hg.): Fischer Lexikon Literatur, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2002, 457-487, 486. 40 | Vgl.: »Die beschriebenen Tendenzen: vom Text zur Textgeschichte bzw. zur Textgenese, vom ›festgesetzten‹ zum ›offenen‹ Text – haben etwas gemeinsam, das man auf die Formel bringen könnte: vom Text zu den Textfassungen. [...] Diese Entwicklung erfordert den primär aktiven Leser, den Benutzer [...]. Der vorwiegend passive Leser jedoch [...] braucht gerade das, wovon sich die Editionsphilologie immer weiter entfernt: den Schein des definitiv und einzig Gültigen. Dieses in zunehmendem Maße unbefriedigt gelassene Rezeptionsbedürfnis ist daher eine Hauptquelle des Unbehagens an der modernen Editionsphilologie.« Ebd., 485f. [Herv. i. O.]. 41 | Vgl. http://parasiticventurespress.com/books/?p=193 vom 03.03.2011.

115

116

N ORA R AMTKE Abb. 5: Doppelseite aus Herman Melville: Four Percent of Moby Dick, edited and published by Parasitic Ventures Press, Toronto 2006, First Edition, o.S. [Kap. 42].

Lesen hieße damit, das Abwesende, das Weiß lesen: »In jedem Fall ist der weiße Schriftgrund als Bestandteil des poetischen Konstrukts selbst zu begreifen. [...] Es gibt zwei Grundmöglichkeiten, die Farbe Weiß in literarischen Texten zu ›orten‹ und damit die Bedingung impliziter und expliziter Reflexion über sie zu schaffen: Sie kann erstens benannt werden, und dies sowohl als Abstraktum wie durch Nennung von weißen Dingen. Sie kann zweitens gezeigt werden, und hiermit bewegt sich dann das literarische Artefakt auf Darstellungsprinzipien visueller Künste zu. Bedeutungsträchtig sind vor allem Leerstellen inmitten der Texte. Die ›Leere‹ wird dabei durch die ihr antagonistischen Lettern gleichsam geortet, das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Fläche und Form wird demonstriert.« 42 42 | Schmitz-Emans, Monika: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens, München: Fink 1995, 42f. Dass Nicht-Text ebenso wie Text auslegbarer Werkbestandteil und damit ›lesbar‹ ist, dürfte evident sein, vgl. auch die instruktive Studie von Dworkin, Craig: Reading the Illegible, Evanston, Ill.: Northwestern University Press 2003. Einspruch gegen einen weiten, die Typografie und im Umkehrschluss damit auch das Weiß einschließenden Paratextbegriff erheben Rockenberger, Annika/Röcken, Per: »Typographie als Paratext? Anmerkungen zu einer terminologischen Konfusion«, in: Poetica 41 (2009), 293-330, freilich ohne über termi-

O HNE B EGLEITSCHUTZ – TEXTE AUF DER S CHWELLE Abb. 6: Detail aus Herman Melville: Four Percent of Moby Dick, edited and published by Parasitic Ventures Press, Toronto 2006, First Edition, o.S. [Kap. 42].

Das Weiß der überpräsenten 96  % Nicht-Moby-Dick, das sich hinter und um die geschrumpften Kapitel legt, ist alles andere als ein unschuldiges. Es verweist auf das berühmte 42. Kapitel über »das Weiß des Wals« (Abb. 6), das den Erzähler Ismael »weit mehr als alles andere in Angst und Schrecken versetzte«, mithin auf einen Farbton, in dem »etwas Ungreifbares [lauert], das die Seele stärker in Panik versetzt als jenes Rot des Blutes, das soviel Furcht erregt«43. Die Verständigung über dieses Weiß gerät bei Ismael zu einem ähnlich aussichtslosen Kampf wie der gegen den »Albinowal«44. Das »Grauen« vor ihm ist ein »namenloses«, »beinah unaussprechlich« und schier nicht »in eine faßbare Form zu bringen«45. Dieses Unaussprechnologische Streitigkeiten hinausgehende Ergebnisse. Instruktiver dagegen Stanitzek, Georg: »Buch: Medium und Form – in paratexttheoretischer Perspektive«, in: Rautenberg, Ursula (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, Berlin/New York: de Gruyter 2010, Bd. 1, 157-200, der völlig zurecht festhält, »dass der Paratext im und mit dem Text ubiquitär gegeben ist. Denn Text ist ohne typographische Dimension schlechterdings nicht vorstellbar. Paratextualität lässt sich […] nicht wie ein räumlicher Rahmen ›am Rand‹ ansiedeln, er ist vielmehr als ›Rahmenbedingung‹ ubiquitär gegenwärtig«. Ebd., 162. 43 | Melville, Herman: Moby-Dick oder Der Wal, übers. v. Matthias Jendis, München: Hanser 2001, 310f. 44 | Ebd., 323. 45 | Ebd., 310.

117

118

N ORA R AMTKE

lich-Ungreifbare ist mehr als nur ein Ringen um Worte, es bedroht den Text selbst, stellt das Werk infrage: »Und doch muß ich mich irgendwie erklären, und sei es nur tastend und andeutungsweise, sonst wären all diese Kapitel nichtig.«46 Bei der Erstausgabe von Moby-Dick, wie wohl auch bei den meisten folgenden, bleiben die Kapitel freilich erhalten, erst die »critical edition« von Parasitic Ventures Press vollzieht das vom Erzähler beim Anblick des grauenerweckenden Weiß des Wals gefürchtete Scheitern typografisch nach: Die Kapitel werden nichtig, das Schwarz der Buchstaben tritt zurück hinter das ungreifbare Weiß, »die sichtbare Abwesenheit von Farbe und zugleich die Summe aller Farben«47. Die »critical edition« von Melvilles Moby-Dick or The Whale durch Parasitic Ventures Press ist als Ergebnis der Anwendung der ›AutoZusammenfassen-Funktion‹ in Microsoft Word 4 % autorlos erzeugter Text und 96 % textlose »sichtbare Abwesenheit«48. Mit der Ablösung der Autorfunktion durch die Autofunktion fällt die Inklusionsfigur ›Autor‹49 und mit ihr die Hybris des »gesicherten Text[s]«50. Was bleibt ist die hermeneutische Zumutung, grauenerregendes Weiß statt Schwarz, ungreif- und unlesbare Fläche statt klare Schriftlinien zu lesen, sie ist der Erkenntnis verpflichtet, dass auch der Nicht-Text noch Werk ist.

TEXTE , » REFRAMED « Das originalitäts- und institutionskritische Potential von Textappropriationen ist nicht nur auf der Ebene von Plagiat, Bücherdieberei und subversiver Aneignung, d.h. auf der übergeordneten Ebene von juristisch kodifizierten Eigentumsansprüchen von Autoren und Verlegern zu suchen, es ist den Texten als Texten per se inhärent. Ihre strukturelle Beschaffenheit als »Old Sentence, reframed«51 nötigt den Leser zum Überdenken des hierarchisch gedachten Verhältnisses zwischen den Elementen des Buchs, zwischen Sprache und ihrer medialen Realisierung, zwischen Text und Rahmen. »[W]eil der Paratext offenkundig […] in allen seinen Formen ein zutiefst heteronomer Hilfsdiskurs ist«, erhält er nach Genette »seine Daseinsberechtigung« nur durch die Existenz eines Textes52, der nicht einfach »Text«, sondern »der Text«53 ist. Von dieser Bestimmung befreit, fragt der das Fremde ›reframende‹ Para46 | Ebd. [Herv. N. R.]. 47 | Ebd., 322. 48 | Ebd. 49 | ›Autor‹ hier verstanden als diskursiver Oberbegriff, der die Teile des Werks zusammenhält, wie es bei Werkausgaben gut zu beobachten ist. 50 | Seiffert: Art. »Edition«, 313. 51 | Goldsmith: »A Week of Blogs«, 140. 52 | Genette: Paratexte, 18. 53 | Ebd., 14 [Herv. i. O.].

O HNE B EGLEITSCHUTZ – TEXTE AUF DER S CHWELLE

text der Appropriationen nach der Berechtigung einer Unterscheidung, die ihren unscheinbaren Niederschlag in einem kursivierten bestimmten Artikel findet, deren Reichweite jedoch »tatsächlich aufs Ganze«54 geht. Appropriationen erheben damit einen vehementen Einspruch gegen die Trennung des Textes von seiner Präsentation, die zugleich Schauplatz der Inszenierung der Werkherrschaft ist. Genettes Rede vom »Begleitschutz« ist bezeichnend; »der Text«55, d.h. der zu schützende ›eigentliche‹ Text, wird umgeben und abgeschottet von einem paratextuellen Wall, der die Grenze des Textes und die Macht des Autors über den Text markiert. Die Zuschreibungsmechanismen »des Autors und seiner Verbündeten«56 geraten im Falle von Appropriationen zum Zitat und zum eigentlichen Inhalt, wodurch die Pragmatik der Genette’schen »Schwelle« einer Reflexion über diese »Schwelle« weicht. Dieser ›Begleitschutz-Logik‹ entziehen sich Appropriationen: einerseits indem auf fremdes Material zurückgegriffen und damit die Geste des Abschottens durch die inszenierte Text-Grenzüberschreitung unterlaufen wird, andererseits durch die Reflexion der Textpräsentation, die sich gewissermaßen immer als Mehrwert der Appropriation einstellt. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Appropriationen die Aufmerksamkeit auf die Konstruktion der Textpräsentation durch Paratexte lenken, indem sie als Bookwork die Trennung zwischen dem Text und seiner Präsentation unterlaufen. Das »re-« in Goldsmith’ Statement »The New Sentence? The Old Sentence, reframed, is enough«57 zeigt mehr als eine einfache Wiederholung an: Es lässt Text und Rahmen in eins fallen, unterminiert die trennende Funktion des Paratextes zwischen innen und außen, zwischen Text und Diskurs der Welt über den Text.58 Ohne »Begleitschutz«59 werden die Grenzen der Autorschaft wie des Werks verhandelbar.

54 | Kreimeier/Stanitzek: »Vorwort«, VII. 55 | Genette: Paratexte, 14 [Herv. i. O.]. 56 | Der Paratext bildet »den geeigneten Schauplatz für eine Pragmatik und eine Strategie, ein Einwirken auf die Öffentlichkeit im gut oder schlecht verstandenen oder geleisteten Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren Lektüre – relevanter, versteht sich, in den Augen des Autors und seiner Verbündeten.« Genette: Paratexte, 10. 57 | Goldsmith: »A Week of Blogs«, 140. 58 | Vgl. Genette: Paratexte, 10. 59 | Ebd., 9.

119

Exemplarisch

Dasselbe, anders: Borges und die Appropriation Art Monika Schmitz-Emans

W IEDERHOLUNG DER WIEDERHOLUNG : C ERVANTES , M ENARD, STURTEVANT Die Gedankenwelt des Jorge Luis Borges steht in einer so engen Beziehung zu Konzepten und Praktiken der Appropriation, dass die Frage nach der Beziehung zwischen Borges und der Appropriation Art nahe liegt, die das Prinzip der Aneignung ja bereits im Namen trägt. Nun gibt es, wie auch mit Blick auf andere Beiträge dieses Bandes betont sei, gute Gründe, den Begriff der ›Appropriation Art‹ auf eine Formation ästhetischer Diskurse und ästhetischer Praktiken zu beziehen, die in den 1980er Jahren auftauchten. Darüber hinaus operieren und argumentieren aber auch andere Künstler und Theoretiker im Sinne ästhetischer Prinzipien und Praktiken, die als ›appropriativ‹ charakterisiert werden können – und um einen solchen erweiterten Begriff des Aneignens und seine implizite Programmatik wird es im Folgenden gehen. Auch wenn die Vertreter der im engeren Sinn gefassten ›Appropriation Art‹ eine einigermaßen klar abgrenzbare Gruppe, ihre Arbeiten ein mehr oder weniger abgegrenztes Korpus und ihre Ideen ein relativ kohärentes Programm ausmachen – das Prinzip der ›Aneignung‹ gehört nicht dieser Gruppe allein, so wie auch andere basale ästhetische Prinzipien (etwa das der Wiederholung, das der Rhythmisierung, das der Fragmentierung etc.) nicht der Exklusivbesitz einzelner Künstler oder Künstlergruppen ist, auch wenn diese sich im Zeichen der entsprechenden Begriffe formieren. Man könnte wohl sogar behaupten, die Bedeutung eines künstlerischen Konzepts (wie etwa der Aneignung oder der Wiederholung) beruhe darauf und bestätige sich dadurch, dass es auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen ästhetischer Produktivität operationalisiert und reflektiert werde. (Zugespitzt gesagt: Wenn die Bewegung der Appropriation Art als mehr gelten soll denn eine temporär begrenzte historisch interessante Erscheinung, so wäre dies damit zu begründen, dass Appropriation ein basales künstlerisches Konzept darstellt – und dass sich vielfältige Spielformen bewusster und ostentativer Aneignung beobachten lassen.)

124

M ONIKA S CHMITZ -E MANS

Borges ist kein Vertreter oder Programmatiker der Appropriation Art im Sinn einer bestimmten Formation. Aber seine Texte akzentuieren in einer auf mehreren Ebenen mit letzterer kompatiblen Weise die Signifikanz von Aneignungsprozessen. Insofern ist es kein Zufall, dass sich Sherrie Levine – der Appropriation Art-Bewegung verbunden – wiederholt auf Borges bezieht.1 Elaine Sturtevant gehörte zwar nicht zum engeren Kreis der Appropriation Art, wird dieser rückblickend aber zugerechnet oder nahegerückt, was der Charakter vieler ihrer Arbeiten auch nahelegt. Aneignung wird hier auf konsequente Weise zum ästhetischen Prinzip. Sturtevants Quixote-Buch bewegt sich in den Spuren des von Borges erfundenen Autors Pierre Menard, der sich vorgenommen hatte, den Don Quijote des Cervantes noch einmal zu schreiben, und der dem Borges’schen Erzählerbericht zufolge daraufhin einige Kapitel dieses Romans tatsächlich noch einmal verfasst hat.2 Sturtevants Quixote besteht – als Reprise dieses Menard’schen Unternehmens – aus einer Wiederholung von Menards fragmentarischem Quijote.3 Sie eignet sich den von Borges beschriebenen Menard’schen Text an, so wie Menard sich den von Cervantes angeeignet hatte, und ihr Buch enthält (in englischer Übersetzung) eben jene Kapitel des Don Quijote, die Menard rekonstruiert haben soll. Bemerkenswerterweise wird die Grenze zwischen Realem und Imaginärem hier gleich zweimal, in entgegengesetzter Richtung gleichsam, überschritten: Der tatsächlich existierende Roman des Cervantes wird zur Basis für die imaginären Texte aus Menards Feder, und diese wiederum liegen dem konkret existierenden Büchlein Sturtevants zugrunde.4 1 | Levines »Born again« – ein Text, dessen Titel bereits programmatisch erscheint – ist aus Zitaten montiert. Referenzen auf Borges sind prägend, Borges wird zum Zitatspender. Levine, Sherrie: »Born Again«, in: Original. Symposium Salzburger Kunstverein (1993), Ostfildern: Cantz 1995, 121-124. Zum Konzept der ›Wiedergeburt‹ bei Levine vgl. auch Levine, Sherrie: Newborn, Philadelphia/Frankfurt/M.: Philadelphia Museum of Art 1993. 2 | Borges, Jorge Luis: »Pierre Menard, Autor des Quijote«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil, hg. v. Gisbert Haefs u. Fritz Arnold, München: Hanser 2000, 119-129 (Original: »Pierre Menard, autor del Quijote«, in: Borges: Obras completas 1923-1949, hg. v. María Kodama, Barcelona: Emecé Ed. 1989, 444-450). 3 | Sturtevant, Elaine: STURTEVANT, Author of the QUIXOTE, hg. v. Udo Kittelmann, Köln: Walther König 2009. Vgl. auch dies./Kittelmann, Udo/Maculan, Lena (Hgg.): Sturtevant, 2 Bde., Stuttgart: Hatje Cantz 2005. Ferner Schmitz-Emans, Monika: »Tlön-Effekte und Appropriationen. Über Borges als Pate künstlerischer Projekte und Experimente«, in: Komparatistik. Jahrbuch der DGAVL 2008/2009, Heidelberg: Synchron 2010, 189-202. 4 | Wie zur Bestätigung des engen Bezugs zwischen Borges und einer sich über den Begriff der ›Appropriation‹ bestimmenden ästhetischen Bewegung hat der französische Verlag éditions lorem ipsum 2009 ebenfalls einen Menard-Text publiziert: Das Buchcover nennt Pierre Menard als Verfasser von (Cervantes’ Roman) El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha (Rennes 2009); im Internet-Paratext wird auf Borges’ »Menard«-Erzählung explizit verwiesen: »(depuis JORGE LUIS BORGES, ›Pierre

D ASSELBE , ANDERS : B ORGES UND DIE A PPROPRIATION A RT

Zur ›Wiederholung‹ des Menard’schen Textes kommt eine weitere Aneignung: Den Quijote-Kapiteln vorangestellt ist ein auf 1970 datierter Brief Sturtevants an »Mr. Borges«, in dem sie ihr Unternehmen der Aneignung des Cervantes-Romans erläutert – und zwar mit Formulierungen, die der Pierre Menard-Erzählung entnommen sind, genauer: mit den Erklärungen, die Pierre Menard gegenüber dem Borges’schen Erzähler dort abgegeben hatte. Borges ist von bildenden Künstlern insgesamt intensiv rezipiert worden; so wurden nicht nur Borges-Texte illustriert, sondern auch von Borges erdachte Gegenstände, insbesondere Bücher, künstlerisch realisiert.5 Im Fall der Appropriation Art besteht aber eine ganz spezifische Beziehung zwischen dem Borges’schen Œuvre und künstlerischer Praxis: Nicht das einzelne Werk erscheint als Antwort auf Borges, sondern die Kunstrichtung als solche. (Dies bestätigen auch Sherrie Levines Zitatcollagen aus Texten von Borges, Barthes und anderen Autoren.) Das in Borges’ essayistischen und erzählerischen Texten entworfene gedankliche Universum bietet den ›appropriierenden‹ Künstlern und Schriftstellern eine Art konzeptuelles Fundament an. Dieses soll im Folgenden skizziert werden.

D ASSELBE , ANDERS : D AS THEOREM DER W IEDERHOLUNG Die von Borges’ Erzählungen und Essays modellierte Welt beruht auf einigen Grundideen bzw. Theoremen, die miteinander eng verbunden sind und in seinen Einzeltexten jeweils in Variationen wiederholt werden. Zentral ist vor allem das Theorem der Wiederholung: Alles wiederholt sich, und zwar immer wieder, wenn man nur lange genug wartet bzw. weit genug geht. In einem unendlichen Raum ist alles unendlich oft vorhanden, in einer unendlichen Zeit wiederholt sich alles unendlich oft. Das architektonisch-topologische Modell solch unendlicher Wiederholung ist die »Bibliothek von Babel«6, die als schrankenlos und zyklisch bzw. periodisch charakterisiert wird. Bezogen auf die Geschichte der Menschen bedeutet das Gesetz der Wiederholung insbesondere, dass alle Erlebnisse und Erfahrungen, Handlungen und VorstelMénard, auteur du Quichotte‹ in Fictions)«; vgl. http://editions-loremipsum.blogspot.com/2010/02/ pierre-menard-don-quijote-de-la-mancha.html vom 1.10.2011. 5 | Zur Rezeption in der bildenden Kunst vgl. etwa das Künstlerbuch von Fahrner, Barbara: Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, 1995-1996; Borges, Jorge Luis: The Library of Babel, ill. v. Erik Desmazières, Boston: Godine 2000; Borges, Jorge Luis: The Secret Books. Photographs by Sean Kernan, Creek: Stony 1999; das Buchkunstprojekt von Malutzki, Peter/von Ketelhodt, Ines: Zweite Enzyklopädie von Tlön, Flörsheim: Selbstverlag 2007 und Fahrner, Barbara/Fahrner, Markus: Zweite Enzyklopädie von Tlön, Frankfurt/M.: Selbstverlag, 1997-2002. 6 | Borges, Jorge Luis: »Die Bibliothek von Babel«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil, 151-160 (Original: »La biblioteca de Babel«, in: Borges: Obras completas 1923-1949, 465-471).

125

126

M ONIKA S CHMITZ -E MANS

lungen repetitiv sind. Der Einzelne sagt, tut, empfindet, denkt, was andere getan und empfunden haben, ob ihm dies nun bewusst ist oder nicht. Es gibt für ihn kein Entkommen aus solchen Wiederholungsmustern. Viele Borges-Erzählungen handeln von Figuren, die in solchen Wiederholungsmustern befangen sind, deren Taten, Gedanken, Empfindungen nicht ihr Eigentum sind, sondern etwas von anderen Adaptiertes. Die Konsequenz ist, dass niemand je qualitativ ›eigene‹ Erlebnisse und Erfahrungen, Handlungen und Geschichten besitzt. Entsprechend gibt es keine Identitäten der Einzelwesen, die sich auf solche Erlebnisse, Erinnerungen, Taten etc. gründen könnten. Keine identitätsstiftenden Differenzen trennen die einzelnen Wesen voneinander. Ein jeder ist als erfahrendes, empfindendes, handelndes Wesen der Doppelgänger seiner Vorläufer.

Dasselbe, anders: Doppelgänger, Spiegelungen, Reversbilder Doppelgänger treten bei Borges in großer Variationsbreite auf: vom physischen Double bis hin zum Medium eines ›fremden‹ Fühlens oder zum Exekutivorgan eines fremden Willens. Die ans Obsessive grenzende Faszination durch das Doppelgängermotiv sowie der entsprechende Einfallsreichtum lassen Borges’ Doppelgängertexte als ein großes Netzwerk erscheinen – eines, in dem die Doppelgängerpaare einander doubeln. Mit dem in vielen Variationen entfalteten Motiv geht es insbesondere um den oft schattenhaften Anderen, der zum eigenen Ich gehört, der die unsichtbar präsente andere Seite dieses Ichs ist: das Ich als »Anderer«, der Andere als »Ich«. Die Figur des Ich-Doubles konkretisiert sich aber auch: in der Vorstellung einer Parallelexistenz in einer anderen Welt oder einer Komplementärexistenz in ein und derselben Welt, in der Idee eines zeitlich verschobenen Doppelgängers (also eines Doubles aus einem früheren oder späteren Lebensabschnitt) oder in der Idee eines Doppelgängers in einer alternativen Geschichte. Dopplungen finden in der Zeit und im Raum statt; oft auch gehören die Doubles unterschiedlichen Ebenen der fiktionalen Wirklichkeit an. Borges und Ich7 handelt von der Aufspaltung in ein erlebendes und ein schreibendes Ich; Der andere Tod spinnt die Idee eines doppelt geführten Lebens aus; Der Tintenspiegel erzählt von der Komplementärexistenz zweier Figuren, ebenso wie Die Theologen, wo die beiden Komplementärfiguren durch weitere Figuren gespiegelt werden; weitere wichtige Doppelgängergeschichten sind Der Andere, der Selbe und Der Garten der Pfade, die sich verzweigen.8

7 | Borges, Jorge Luis: »Borges und Ich«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Der Gedichte erster Teil, hg. v. Gisbert Haefs u. Fritz Arnold, München: Hanser 2006, 165-281 (Original: »El Hacedor«, in: Ders.: Obras completas 1952-1972, hg. v. María Kodama, Barcelona: Emecé Ed. 1989, 157-232). 8 | Alle genannten Erzählungen in Borges, Jorge Luis: Gesammelte Werke. Erzählungen, hg. v. Gisbert Haefs u. Fritz Arnold, Bd. 1 und 2, München: Hanser 2000 und 2007 (Original in: Borges: Obras completas).

D ASSELBE , ANDERS : B ORGES UND DIE A PPROPRIATION A RT

Eng verbunden, teilweise kongruent mit den Doppelgängerphantasmen sind die Spiegelphantasmen: Das Ich im Spiegel stellt eine wichtige Spielform des Konzepts vom ›Ich als einem Anderen‹ dar. Die Spiegelfläche ist Metapher und Metonymie des phantomatischen Bezugs zwischen dem Ich und dem Anderen, die jeweils einer eigenen Welt angehören, wobei diese Welten sich gleichfalls ›doppelgängerisch‹ zueinander verhalten: als Welten der Wiederholung, als Welt-Variationen, als WeltAlternative, als Parallel-Welt. Das Konzept einer sich wiederholenden Geschichte und die Idee einer doppelgängerischen Beziehung der Menschen untereinander sind zwei Seiten ein und desselben Theorems: Da es keine gegeneinander abgegrenzten Identitäten gibt und sich Geschichte in ständigen Modifikationen wiederholt, bedürfte es einem von Borges wiederholt formulierten Gedankenspiel zufolge nur eines unbegrenzten Zeitraums: Die Menschheit würde – den Borges’schen Prämissen zufolge – in diesem unendlichen Zeitraum unausweichlich mindestens einmal dazu kommen, alles mögliche zu tun, zu denken und zu schreiben.9 Und wäre der Einzelne unsterblich, so würde er in der ihm offen stehenden unendlichen Zeit alles Erlebbare einmal erleben, alles Denkbare einmal denken, alles Sagbare einmal sagen etc. Bezogen auf eine solche Unendlichkeit möglicher Gedanken, Ereignisse, Handlungen etc. hat – aus anderer Perspektive gedacht – jeder Einzelne unendlich viele Doppelgänger: all diejenigen nämlich, die dasselbe, was er in einer unendlichen Zeit tun würde, schon einmal gedacht bzw. getan haben, all diejenigen auch, die es noch denken und tun werden, und all diejenigen, die es in einer möglichen Geschichte jemals tun. Insofern dem Borges’schen Modell zufolge im Lauf einer unendlich sich wiederholenden Geschichte alle möglichen Beziehungen zwischen Personen und Taten bzw. Gedanken und Erfahrungen einmal realisiert werden, tut in der Borges-Welt jeder Mensch irgendwann auch einmal das, was seinen früheren Taten, Gedanken, Ideen völlig entgegengesetzt ist. Jeder wird einmal zu seinem eigenen zeitlich verschobenen Antagonisten bzw. wiederholt das, was seine Antagonisten getan haben. Protagonisten und Antagonisten gehören insofern als Doppelgänger zusammen. Der Antagonist ist die gegenwärtig jeweils nicht realisierte Alternativexistenz des Protagonisten. Eine auf dieser Grundidee basierende Erzählung ist Die Theologen; hier beruht der Konflikt zwischen den Antagonisten zudem auf der Differenz ihrer Meinungen zur Frage der Ewigen Wiederkehr.

Dasselbe, anders: Das Theorem der Wiederholung als Modifikation Geschichte verläuft in der Gedankenwelt von Borges zyklisch, aber nicht streng zyklisch im Sinne der Lehre von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Da eine 9 | Dieses Theorem ergibt sich aus dem der Wiederholung nicht mit letzter logischer Konsequenz, aber Borges denkt sich die Unendlichkeit als Totalität des Möglichen; in einer unendlichen Zeit wird ihm zufolge alles Mögliche einmal wirklich.

127

128

M ONIKA S CHMITZ -E MANS

Wiederholung ›Dasselbe‹ und zugleich etwas ›Anderes‹ ist, kehrt kein Moment der Geschichte als identischer Moment wieder. Aber es gibt unendliche Sequenzen ähnlicher Augenblicke. Diesem Thema sind vor allem die Abhandlungen über die Zeit gewidmet, in denen sich Borges mit der Lehre von der Ewigen Wiederkehr auseinandersetzt und sein eigenes zyklisches Zeitmodell entwickelt – in verschiedenen Anläufen, wie er selbst explizit vermerkt, um damit auf den modifizierenden Wiederholungscharakter seiner Gedankengänge hinzuweisen, die ihrerseits Modifikationen der Gedankengänge von Vorläufern sind.10 Alles wiederholt sich – aber in Modifikationen. Und das heißt: Es gibt keine zwei völlig identischen Ereignisse. Schon das Wiederholt-Werden als solches ist ein Anders-Werden. Wenn eine Person denkt oder tut, was eine andere gedacht oder getan hat, dann ist das etwas anderes. So sind die beiden Taten nicht ›identisch‹, und es gibt keine ›Identität‹ zwischen Doppelgängern. Bezogen auf den Einzelnen bedeutet dies: Er ist nicht mit sich selbst identisch, weil er ja repetiert, was andere vor ihm getan haben, aber er ist auch nicht mit den anderen identisch. (Es gibt bei Borges auch keine ›kollektiven Identitäten‹.) Borges setzt die zweiwertige Logik des ›Identisch‹ versus ›Nicht-Identisch‹ (A versus non-A) außer Kraft.11 Dies 10 | Vgl. Borges, Jorge Luis: »Neue Widerlegung der Zeit«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil, hg. v. Gisbert Haefs u. Fritz Arnold, München: Hanser 2003, 180-201 (Original: »Nueva refutación del tiempo«, in: Borges: Obras completas 1952-1972, 135-149). Die Idealität der Zeit gehört zu den für Borges faszinierendsten metaphysischen Konzepten; wiederholt paraphrasiert er die theologische Definition von der Ewigkeit als der Gleichzeitigkeit aller Augenblicke. Anknüpfend an diverse Vorläufer und in Orientierung an metaphysischen Konzepten Berkeleys und Leibniz‘ verfasst er unter anderem eine Neue Widerlegung der Zeit. In einer selbstironischen Anmerkung weist Borges – und das ist die eigentliche Ironie – einleitend auf den anachronistischen Charakter seiner Abhandlung hin, die eigentlich ins 18. Jahrhundert gehöre, nicht aber in eine Zeit nach Bergson. Die Abhandlung ist in zwei Teile aus den Jahren 1944 und 1946 gegliedert. Dass der Titel »Neue Widerlegung der Zeit« eine »contradictio in adjecto« enthält, insofern Zeitlichkeit die Voraussetzung einer Unterscheidung von Altem und Neuem ist, wird ausdrücklich erwähnt (ebd., 181 [Herv. i. O.]). Teil B der Abhandlung besteht aus einer Rekapitulation des Gedankengangs von Teil A. Diese Dopplung ist keine störende Tautologie, sondern illustriert ihr eigenes Thema. – Erneut aufgegriffen wird die Thematik in dem Essay »Die Zeit«, in: Gesammelte Werke. Der Essays vierter Teil, hg. v. Gisbert Haefs u. Fritz Arnold, München: Hanser 2004, 58-69 (Original: »El tiempo«, in: Borges, oral, Buenos Aires: Emecé Editores 1979). 11 | Nelson Goodman und Arthur C. Danto haben Borges’ Erzählung unter dem Aspekt der Identitätsfrage diskutiert, dabei aber unterschiedliche Befunde erhoben. Goodmann, der die Frage nach der »Identität« von Kunstwerken bezogen auf diverse Künste erörtert, verknüpft die Frage nach der Identität eines Werks mit der nach dem Bezug zwischen Werk und Entstehungsgeschichte: Ist diese für das Werk bestimmend? Im Bereich der so genannten autographischen Künste möchte er zwischen Originalen und Fälschungen unterschieden wissen (vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, 113). Anders verhält es sich mit allographischen, d.h. notierten und zur Aufführung bestimmten Werken, aber auch hier insistiert Goodman auf der Idee der Treue zum Werk als Bekräf-

D ASSELBE , ANDERS : B ORGES UND DIE A PPROPRIATION A RT

betrifft insbesondere seine Auffassung von Geschichte, von möglichen Welten und von Komplementär-Existenzen: Gegenwart und Nicht-Gegenwart, Wirkliches und Mögliches, der Einzelne und der Andere changieren zwischen Identität und NichtIdentität. Die zwischen Identität und Nicht-Identität changierende Beziehung zwischen dem, was wiederholt wird, und der Wiederholung wird bildlich sinnfällig gemacht durch den Spiegel. Die Gestalt vor dem Spiegel sieht ›sich‹ im Spiegel, zugleich aber ist das Spiegelbild nicht sie ›selbst‹. Der Spiegel entzweit den sich Bespiegelnden mit sich. Borges greift mit seinen Überlegungen zum Spiegel die Reflexionsproblematik auf, der zufolge niemand einen unvermittelten Zugang zu sich selbst hat und ein auf Reflexion beruhendes Selbstbewusstsein immer schon ein vermitteltes ist. Spiegel werden bei Borges immer wieder thematisiert, auch im lyrischen Werk; meist sind sie negativ semantisiert, als Quell der Beunruhigung oder des Schreckens: Schrecken vor dem ›Anderen‹, aber mehr noch Schrecken vor der Ununterscheidbarkeit des Selbst und des Anderen, des Gleichen und des Nichtgleichen.

D ASSELBE , ANDERS : TEXTE UND WIEDERHOLUNGEN Ein Modell, an dem sich die Gleichzeitigkeit von Identität und Nicht-Identität besonders gut aufweisen lässt, ist der Text. Denn Texte werden im Prozess des Zitierens, Abschreibens und letztlich bei jedem Lektüreakt auf jeweils spezifische Weise wiederholt. Das Zitierte, Abgeschriebene und Gelesene sind zum einen ›dasselbe‹ (ein wiederholter Text) und etwas anderes (ein modifizierter Text, und besteht die Modifikation allein darin, dass der Kontext jetzt ein anderer ist).12

tigung von dessen Identität. Im Feld der Literatur ist der Text für Goodman das »Werk«. Was Borges‘ Pierre Menard geschaffen habe, sei eine weitere Niederschrift (»inscription«) des Romantextes Don Quijote gewesen, also eine Manifestationsform desselben Werks (und keine Interpretation des Werks), auch wenn Menard dies anders gesehen zu haben scheine (vgl. Goodmann, Nelson/Elgin, Catherine Z.: Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences, Indianapolis/Cambridge: Hackett Publishing 1988). – Eine andere Perspektive auf Kunst repräsentiert Arthur C. Danto, der sich – ausgehend von der These fundamentaler Historizität aller Praxis – u.a. mit der Frage nach dem Status von Kopien in der Kunst befasst. Man kann Werke kopieren, aber diese bedeuten dann nicht mehr dasselbe, was die Originale bedeuten. In einem anderen historischen Kontext und aus anderen Motiven entstanden, »sind« sie etwas anderes. In einer ›post-historischen‹ Kultur ist die Kunst ›am Ende‹: entauratisiert, steht sie im Zeichen der Multiplikation, vgl. Danto, Arthur C: Beyond the Brillo Box. The Visual Arts in Post-Historical Perspective, Berkeley: University of California Press 1998. 12 | Auf diesem Gedanken beruhen insbesondere die Ausführungen des Erzählers in »Pierre Menard«, der den Unterschied zwischen dem Text des Cervantes und dem Menards betont, obwohl beide Texte denselben Wortlaut haben.

129

130

M ONIKA S CHMITZ -E MANS

Gerade an literarischen Lese- und Schreibprozessen wird das Borges’sche Weltprinzip der variierenden Wiederholung sinnfällig – wobei die Variation schon darin besteht, dass etwas ein zweites, drittes oder x-tes Mal geschieht. Zwei Täter, Handlungen, Äußerungen, Textpassagen sind verschieden, auch wenn die eine die andere wiederholt, zugleich aber gehören sie unlösbar zusammen. Es ist nur konsequent, wenn Borges behauptet (und zwar wiederholt), die Literaturgeschichte bestehe aus der Wiederholung bestimmter Grundmetaphern. Kompilationen aus von Borges wiederholten Texten sind das Buch der Träume, das Handbuch der fantastischen Zoologie als Buch der Fabelwesen und das Buch von Himmel und Hölle.13

Dasselbe, anders: Texte als Spiegel Insofern der Text (als etwas, das man liest, abschreibt, zitiert) ebenso wie der Spiegel Wiederholungen (Dopplungen) erzeugt, stehen Spiegel und Text in einer Analogiebeziehung. Beide sind Schnittstellen zwischen dem Einen und dem Anderen, die zusammengehören und doch nicht identisch sind. Beide bewirken, dass sich dargestellte Dinge wiederholen. Die literarische Konsequenz aus diesem Gedanken zieht Borges vor allem dadurch, dass er sein Spiegel-Ich ›Borges‹ oft zur Figur innerhalb seiner Texte macht. Borges und Ich handelt von einem solchen Spiegel-Ich: von dem Borges, der schreibt und in Texten Gestalt annimmt. Der Text, so wie ihn Borges konzipiert, ist ein Spiegel des eigenen Ichs – aber nicht im Sinne des treuen Spiegelbilds, das sich traditionelle Autobiografen von ihren Aufzeichnungen erhoffen, sondern es geht um ein Bild des Ichs als eines Anderen. Auch die von Borges wiederholt aufgestellte These, wer einen Text lese, sei für den Moment der Lektüre mit dem Autor des Textes eins, bekräftigt das Modell: Wer Shakespeare liest, ist für Borges in diesem Moment Shakespeare. Die Borges’sche These, die Literaturgeschichte und letztlich die Weltgeschichte seien die Geschichte der variierenden Wiederholung eines bestimmten Bestandes von Metaphern, variiert jenen Gedanken. Und als dessen konkretisierende Umsetzung erscheint Borges’ Neigung zum Zitieren und zur Rekapitulation der Gedankengänge anderer.

Dasselbe, anders: Text-Spiegel als Schwellen Borges konstruiert seine eigenen Texte durch Struktur und Erzählweise so, dass sie selbst jeweils unterschiedliche Welten samt ihren Protagonisten in Beziehung zueinander setzen. Bei Borges erscheint, anders gesagt, der Text als Schnittstelle zwischen differenten Wirklichkeiten, wobei die Differenz wiederum unterschiedlich akzentuiert sein kann: im Sinne von Alternativwelten (der Text als Darstellung einer möglichen ›anderen‹ Welt), im Sinne zeitverschobener Welten (der Text als Evokation 13 | Alle drei in: Borges: Gesammelte Werke. Die Anthologien, hg. v. Gisbert Haefs u. Fritz Arnold, München/Wien: Hanser 2008.

D ASSELBE , ANDERS : B ORGES UND DIE A PPROPRIATION A RT

von Vergangenem oder Zukünftigem), im Sinne von Vorder- und Rückseite (der Text als Darstellung der verborgenen Kehrseite von Bekanntem) etc. Unerklärliches und logische Brüche, aber auch Rahmungskonstruktionen, Herausgeber- und Kommentatoren-Fiktionen markieren die Differenzen zwischen verschiedenen, durch den jeweiligen Text evozierten Welten. Metapher des Textes in dieser Eigenschaft als Schnittstelle zwischen zwei Welten mit jeweils eigenen Protagonisten (die aber ›zueinander‹ gehören, die ›Doppelgänger‹ sind) ist der Spiegel. Borges arrangiert seine Texte dementsprechend nach dem Modell des Spiegels – in dem Eigenes als anderes (verfremdet, aber doch zum Eigenen gehörig) dargestellt wird.

D ASSELBE , ANDERS : L ITERATUR ALS W IEDERHOLUNGSPHÄNOMEN Die eminent poetologische Dimension des Wiederholungsthemas bei Borges ist evident: Alles wiederholt sich; auch und gerade Literatur ist für Borges ein Wiederholungsphänomen, die Literaturgeschichte ist wie die Philosophiegeschichte eine Sequenz von abgewandelten Grundmodellen. Wer schreibt, reiht sich in eine unabsehbare Kette von Vorläufern und Nachahmern ein.

Der Schriftsteller als Wiederholer: Das Modell des Pierre Menard Die Kerngeschichte des Cervantes’schen Don Quijote-Romans ist die Fabel einer Appropriation: Don Quijote eignet sich das Lebensmuster von Romanfiguren an. Dem Konzept künstlerischer Aneignung affin ist die Geschichte des Don Quijote aber auch durch die ›falsche‹ Fortsetzung des Romans durch Avellaneda (der sich die Figur und die Grundidee des Cervantes angeeignet hat) sowie durch die Beziehungen von Teil II des Cervantes-Roman zu Avellanedas Fortsetzung und zu Teil I. Eine Anschlussstelle ans Konzept der wiederholenden Aneignung besteht ferner über die Fiktion eines übersetzten Basismanuskripts von Cide Hamete Benengeli, welches angeblich als Informationsgrundlage für den Romanerzähler gedient hat. Aneignungen allenthalben – und so überrascht es nicht, dass Borges’ Pierre Menard ausgerechnet den Don Quijote noch einmal schreiben will.14 Man kann das Vorha14 | Andere Dokumente der Borges‘schen Cervantes-Rezeption bilden mit der Erzählung über Pierre Menard ein dichtes Geflecht, in dem es u.a. um die doppelgängerische Beziehung zwischen Realem und Imaginärem geht und auf den von Cervantes fingierten arabischen Chronisten Benengeli angespielt wird, der auf seine Weise ebenfalls eine Schnittstelle zwischen differenten Welten darstellt. Vgl. Borges, Jorge Luis: »Parabel von Cervantes und Don Quijote«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Der Gedichte erster Teil, 190 (Original: »Parábola de Cervantes y de Quijote«, in: Ders.: Obras completas 1952-1972, 177); Ders.: »Ein Problem«, ebd., 184-185 (Original: »Un problema«, ebd., 172); Ders.: »Magische Einschübe im Quijote«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Der Essays dritter Teil, München: Hanser 2003, 52-55 (Original: »Magias parciales del Quijote«, ebd., 38-47).

131

132

M ONIKA S CHMITZ -E MANS

ben des Pierre Menard, den Don Quijote noch einmal zu schreiben, als ein Projekt im Sinn der Appropriation Art beschreiben15: Die Idee, sich den Text eines anderen so anzueignen, dass man ihn buchstäblich wiederholt, wird bei Borges ja zur Ausgangsbasis für die Beschreibung des ›unsichtbaren‹ Teils von Menards Œuvre.16 Aber darin erschöpft sich die Beziehung des Textes zur Appropriation Art nicht. Borges verfasst seine Texte vielfach so, dass sie strukturell dem Thema korrespondieren, das sie behandeln. So auch hier: Der Erzähler selbst zitiert Cervantes und Menard, nimmt also am Spiel der Wiederholungen teil. Er selbst steht zu Menard und Cervantes in einer doppelgängerischen Beziehung – zu einem erfundenen und zu einem historischen Autor. Wie eine Spiegelfläche zwischen Menard und Cervantes wirkt der wiederholte Text; er bildet die Schnittstelle zwischen der Welt des Cervantes (spätes 16./frühes 17. Jahrhundert) und der Menards (spätes 19./frühes 20. Jahrhundert) – die als durchaus different thematisiert werden.17 Die Idee vom Leser 15 | Angeregt worden sei das Menard’sche Projekt u.a. durch »jenes philosophische Fragment des Novalis – welches in der Dresdener Ausgabe die Nummer 2005 trägt –, in dem das Thema der totalen Identifikation mit einem bestimmten Autor umrissen wird« (Borges: »Pierre Menard«, 122 [Herv. i. O.]). (In der Appropriation Art spielt, wie an dieser Stelle betont sei, das Konzept der »Identifikation« in der Regel keine Rolle.) Zur Verteidigung Menards heißt es bei Borges: »Wer da unterstellt hat, Menard habe sein Leben der Abfassung eines zeitgenössischen Quijote gewidmet, verleumdet sein lichtes Andenken. / Er wollte nicht einen anderen Quijote verfassen – was leicht ist –, sondern den Quijote. Unnütz hinzuzufügen, daß er niemals eine mechanische Transkription des Originals ins Auge faßte; er wollte es nicht kopieren. Sein bewundernswerter Ehrgeiz war es, ein paar Seiten hervorzubringen, die – Wort für Wort und Zeile für Zeile – mit denen von Miguel de Cervantes übereinstimmen sollten.« (Ebd., 123) Während Menard also den Begriff der ›Kopie‹ offenbar für unangemessen hält, um seine Arbeit zu charakterisieren, die er als schöpferisch verstanden wissen will (die Pointe ist aber, dass er eine Kopie produziert, wie der letzte Halbsatz ja auch deutlich macht), geht es den Vertretern der Appropriation Art oft dezidiert um exakte ›Kopien‹. 16 | Pierre Menards Werk wird von seinem Kommentator in ein sichtbares (vom Erzähler aufgelistetes) und ein unsichtbares Œuvre aufgegliedert: »Nach geflissentlicher Überprüfung seines Privatarchivs habe ich festgestellt, daß es [das »sichtbare Werk«] aus den folgenden Stücken besteht: [...].« (Es folgt ein fiktives Werkverzeichnis mit Texten unterschiedlichster Genres.) »Ich komme nun zu dem anderen, dem unterirdischen, dem unendlich heroischen, dem beispiellosen. Aber auch – o über die Möglichkeiten des Menschen – dem unvollendeten. Dieses Werk, vielleicht das bedeutendste unserer Zeit, besteht aus dem Neunten und dem Achtunddreißigsten Kapitel des Ersten Teils des Don Quijote und aus einem Fragment des Kapitels Zweiundzwanzig.« Ebd., 122. 17 | Wieder lautet die Leitidee: Es gibt keine Wiederholungen, denn jede Wiederholung ist Modifikation – so wie ein Spiegelbild ein ›Anderer‹ ist. Der folgende Text-»Vergleich« in Borges’ Erzählung treibt die Paradoxie des Gedankenexperiments auf die Spitze: »Der Text von Cervantes und der Text von Menard sind Wort für Wort identisch, aber der zweite ist nahezu unendlich viel reicher. (Zweideutiger, werden seine Verlästerer sagen; aber die Zweideutigkeit ist ein Reichtum.) / Es ist eine Offenbarung, den Quijote Menards dem von Cervantes gegenüberzustellen. Dieser schrieb beispiels-

D ASSELBE , ANDERS : B ORGES UND DIE A PPROPRIATION A RT

als dem ›anderen‹ Autor des Textes ist in den Text eingeflochten, passenderweise als Zitat (von Novalis). Die Pierre Menard-Erzählung korrespondiert also dem Konzept der wiederholenden Aneignung sowohl durch ihren Inhalt, also das skizzierte Projekt ihrer Hauptfigur, als auch durch ihre Form: Sie ist ein Pseudo-Meta-Text, eine Art fingierter Forschungsbericht, wie Borges sie in verschiedenen Varianten geschaffen hat. Konstitutiv für diese Texte ist die Suggestion einer Wiederholung: Der jeweilige Erzähler berichtet über das Werk eines anderen, das er sich (der Fiktion nach) angeeignet hat.

Unsterblichkeit und Wiederholung: Das Modell des Unsterblichen Wäre er unsterblich, so könne er den Quijote vollenden, so hatte Menard seinem späteren Biografen zu Lebzeiten geschrieben.18 In einer unbegrenzten Zeit findet ja Borges’schen Spekulationen zufolge alles Mögliche statt, wenngleich das sich Wiederholende dabei immer auch eine Modifikation ist. Wie die Pierre MenardErzählung so ist auch Der Unsterbliche19 eine poetologische Fabel, in deren Mittelpunkt das Thema der variierenden Wiederholung steht. Und wie dort, so wird auch hier die Form des Erzählerberichts auf dieses Thema abgestimmt. Nukleus des Textes ist eine Leitidee, die Borges in verschiedenen Varianten wiederholt: Gedanken und Ideen kehren wieder und verbinden diejenigen zu einem doppelgängerischen Ensemble, die sie denken, sei es zeitlich verschoben, sei es gleichzeitig. Als Konweise (Don Quijote, Erster Teil, Neuntes Kapitel): / […] die Wahrheit, deren Mutter die Geschichte ist, Nebenbuhlerin der Zeit, das Archiv aller Taten, Zeugin des verflossenen, Vorbild und Anzeige des Gegenwärtigen, Hinweis auf das Künftige. […] / Verfaßt im 17. Jahrhundert, verfaßt von Cervantes dem ›Laienverstand‹, ist diese Aufzählung bloß ein rhetorisches Lob auf die Geschichte. Menard dagegen schreibt: / [Hier erfolgt die wörtliche Wiederholung des Zitats, mit drei Punkten am Ende, der Erzähler kommentiert:] / Die Geschichte, Mutter der Wahrheit: dieser Gedanke ist verblüffend. Menard, Zeitgenosse von William James, definiert die Geschichte mitnichten als eine Erforschung der Wirklichkeit, sondern als deren Ursprung. Die historische Wahrheit ist für ihn nicht das Geschehene; sie ist unser Urteil über das Geschehene. Die Schlußglieder – ›Vorbild und Anzeige des Gegenwärtigen, Hinweis auf das Künftige‹ – sind unverschämt pragmatisch.« Ebd., 127f. [Herv. i. O.]. 18 | Der Erzähler beruft sich auf Briefe Menards als Informationsquellen. »›Mein Unternehmen ist dem Wesen nach nicht schwierig‹, lese ich an einer anderen Stelle des Briefs. ›Ich müßte nur unsterblich sein, um es zu vollenden.‹ Soll ich gestehen, daß ich mir vorzustellen pflege, er hätte es vollendet, und daß ich den Quijote – den ganzen Quijote – so läse, als hätte Menard ihn erdacht? Als ich vor ein paar Abenden im Kapitel XXVI blätterte – das er nie in Angriff genommen hat –, erkannte ich den Stil unseres Freundes und beinahe seine Stimme in diesem außergewöhnlichen Satz: Las ninfas de los ríos, la dolorosa y húmida eco. [Die Nymphen der Flüsse, die schmerzbewegte und feuchte Echo.]« Ebd., 124. 19 | Borges, Jorge Luis: »Der Unsterbliche«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil, 249-266 (Original: »El inmortal«, in: Borges: Obras completas 1923-1949, 533-544).

133

134

M ONIKA S CHMITZ -E MANS

zeptlieferant für eine Kunst der Aneignung ist Der Unsterbliche nicht minder ergiebig als Pierre Menard, Autor des Quijote. Während im Menard-Text das Wiederholungsthema dezidiert auf den schriftstellerischen Arbeitsprozess bezogen wird, stellt Der Unsterbliche seine Reflexionen über die Genese poetischer Werke in einen größeren thematischen Rahmen – eben jenen, der oben skizziert wurde: Es geht mit dem Thema Wiederholung um nichts weniger als um modellhafte Reflexionen über Natur und Geschichte. Der Unsterbliche beginnt mit einem Bericht darüber, dass ein Antiquar namens Joseph Cartaphilus aus Smyrna im Jahr 1929 eine sechsbändige englische Ausgabe der Ilias an die Prinzessin von Lucinge verkaufte.20 Cartaphilus wird aus der Erinnerung der Buchkäuferin geschildert als »ein ausgemergelter, erdfahler Mann mit grauen Augen und grauem Bart und einzigartig vagen Gesichtszügen«21, der verschiedene Sprachen beherrschte, schnell zwischen ihnen wechselte, sie teilweise auch miteinander verschmolz: Französisch, Englisch, Spanisch aus Saloniki, Portugiesisch aus Macao. Einige Monate nach dem Bücherkauf erfährt die Prinzessin von Lucinge, Cartaphilus sei auf der Seereise nach Smyrna gestorben und auf Ios beigesetzt worden. Im letzten Band der von der Käuferin erworbenen Ilias findet sich ein englisch verfasster, von Latinismen durchsetzter Lebensbericht, der als Binnenerzählung wiedergegeben wird. Die Lebenserinnerungen des Cartaphilus, der sich damals noch Marcus Flaminius Rufus nennt, beginnen im Vagen: Er erinnert sich zurück an die Kaiserzeit Diokletians, in der er als Tribun im Dienst Roms am Roten Meer tätig war. Am Roten Meer trifft er einen verwundeten und bald darauf sterbenden Mann, der ihm von einer Stadt der Unsterblichen erzählt. Der Tribun macht sich mit 200 Soldaten auf, um diese Stadt zu suchen. Die Suche gestaltet sich mörderisch und erfolglos; Flaminius Rufus wird bei einem Aufstand seiner Männer ausgesetzt und findet sich in einer Höhlenlandschaft wieder: Die Stadt der Unsterblichen ist in Sichtweite, allerdings jenseits eines Flusses, den er trotz seiner Schwäche überquert. Am Flussufer leben Troglodyten, von denen einer ihm folgt, als er die Stadt der Unsterblichen erkundet. Diese ist ein monströses und verlassenes Labyrinth, ein Ort des architektonisch verewigten Wahnsinns. Der Troglodyte, den Rufus für völlig stumpfsinnig hält und den er in Erinnerung an den Hund des Odysseus »Argos« nennt, spricht rätselhafterweise einmal einen Vers aus der Odyssee, in dem der Name Argos fällt, und erweist sich nicht nur als des Griechischen mächtig: Er erweist sich als Verfasser der Odyssee – er ist Homer. Rufus erkennt, dass die Troglodyten selbst die Unsterblichen sind. An ihrer heruntergekommenen psychischen und physischen Verfassung wird ersichtlich, was Unsterblichkeit bedeutet: Für jemanden, der den 20 | Borges spielt hier auch auf die Geschichte des Ewigen Juden bzw. vom ewigen Wanderer (das Judentum der Figur spielt aber in Der Unsterbliche keine Rolle) an, der u.a. unter dem Namen Kartaphilos zum Gegenstand der Überlieferung geworden ist. 21 | Borges: »Der Unsterbliche«, 249.

D ASSELBE , ANDERS : B ORGES UND DIE A PPROPRIATION A RT

Tod nicht mehr kennt, wird alles gleichgültig.22 Es gibt keine Unterschiede mehr zwischen den Menschen; keine Hierarchien, keine Abstufung in gut und schlecht.23 Das Gegensätzliche fällt zusammen. Rufus, der vom Wasser des Flusses getrunken hat, der Unsterblichkeit verleiht, und der deshalb von all dem auch betroffen ist, hält sich an dem Gedanken fest, dass, wenn es einen Fluss der Unsterblichkeit gibt, auch ein Fluss existieren muss, dessen Wasser den Tod geben. Kursorisch berichtet er von seinem Leben in den folgenden Jahrhunderten – bis in die Gegenwart (1921). Auf einer rezenten Reise hat er vom Wasser eines Flusses getrunken, das ihn wieder sterblich gemacht hat. Mit der (erlösenden) Aussicht auf den Tod endet der Bericht. An dieser Stelle schaltet sich der Rahmenerzähler und Herausgeber wieder ein, der nun das mitgeteilte Manuskript analysiert. Er kommt zu dem Befund, es handle sich um den Bericht über die Erlebnisse zweier verschiedener Menschen. Die erzählende Instanz hat mehrere Identitäten gehabt – nacheinander, passend zu einem unendlichen Leben; er war Homer, er war Rufus, er war verschiedene andere. Homer hat sich selbst in den späteren Figuren wiederholt, und im Darstellungsstil des mitgeteilten Manuskripts machen sich noch Spuren homerischer Interessen und homerischer Stilistik geltend. Die Reflexionen des fiktiven Herausgebers enden mit einem Satz, der andeutet, dieser Herausgeber selbst setze die Reihe der HomerFigurationen fort. Homer kommt in Variationen immer wieder; man muss nur lange genug warten, und dann denken sich seine Gedanken in einem anderen Kopf. Eine »Nachschrift« von 1950 ergänzt den Text abschließend um eine weitere intradiegetische Wirklichkeitsebene. Sie spricht von einer Besprechung des Cartaphilus-Textes, kritisiert diese und betont noch einmal, wodurch die früheren und die späteren Existenzen, die ein unendliches Leben annehmen, miteinander verknüpft werden: der eine wiederholt, was die anderen gesagt bzw. geschrieben haben.

Dasselbe, anders: Wiederholungen in negativer und in positiver Akzentuierung Bereits die Figur des Don Quijote und ihre Geschichte verweisen auf die Kontingenz der Wirklichkeit und ihrer Ordnungen sowie die daraus resultierende Unab22 | Denn (vgl. Kap. Dasselbe, anders: Doppelgänger, Spiegelungen, Reversbilder): Wer unendlich lebt, wird alles einmal erleben, alles einmal erfahren; jeder wird jede Verwandlung einmal durchleben, jeder wird einmal jeder sein. 23 | »[...] die Gemeinschaft der Unsterblichen [...] wußte, daß innerhalb eines unendlichen Zeitraums jedem Menschen alles widerfährt. [...] Homer dichtete die Odyssee; postuliert man einen unendlichen Zeitraum und eine Unendlichkeit von Umständen und Abwandlungen, so ist es unmöglich, nicht wenigstens einmal die Odyssee zu dichten. Niemand ist jemand, ein einziger Unsterblicher ist die ganze Menschheit. Wie Cornelius Agrippa bin ich Gott, bin Heros, bin Philosoph, bin Dämon und bin Welt, womit auf mühsame Weise gesagt ist, daß ich nicht bin.« Ebd., 260f.

135

136

M ONIKA S CHMITZ -E MANS

gesichertheit von ›Identität‹ – positiv gesagt: auf deren Entwurfscharakter, negativ gesagt: auf deren Nichtigkeit. Borges radikalisiert diese kritische Diagnose in seinen Erzählungen und Essays. Aber das ist nur eine Seite des Befundes: Auf der anderen steht (komplementär dazu) die einer eigentümlichen Zeitlosigkeit von als Spiegel fungierenden Texten. Es gibt, anders gesagt, zwei zueinander gehörende und doch differente Akzentuierungen des Doppelgänger-und-Spiegel-Konzepts, eine negative und eine positive: (a) Es gibt keine Identität, kein identisches Subjekt. (b) Jeder kann sich als Subjekt jederzeit entwerfen und dabei alles an Material verwenden, was er brauchen kann (wobei die Literatur besonders reichhaltige Angebote bereithält). Mit beiden Akzentuierungen des Doppelgänger-und-Spiegel-Konzepts wird Borges zum Wegbereiter der Appropriation Art: Diese impliziert zum einen eine reflexive Distanzierung von tradierten Subjekt-Konzeptionen und Autorschafts-/ Urheberschaftsmodellen (1), erschöpft sich darin aber nicht. (Je nach Blickwinkel kann sie vielleicht auch als modifizierende Bekräftigung von Autorschaftsmodellen betrachtet werden – allerdings unter anderem Vorzeichen als dem der Autonomieästhetik.) In jedem Fall können Produkte der Appropriation Art im Sinne der Borges’schen Spiegel-Konzeptualisierung als Schnittstellen zwischen zwei künstlerisch arbeitenden Personen betrachtet werden, die zueinander in einer doppelgängerischen Relation stehen (2). Zugleich ist das Werk eine Schnittstelle zwischen entsprechenden Welten und ihren kulturellen Semantiken. (Dies erinnert an die Objekte aus der Welt von Tlön, die unversehens in der Welt eines Erzählers auftauchen, in der man Tlön eigentlich ›nur‹ erfunden hat: Zwei verschiedene Welten berühren sich, durchdringen einander – und die Konsequenz ist eine irreversible Beschädigung der Gewissheit, sich irgendeiner Realität versichern zu können.) Elaine Sturtevant hat mit STURTEVANT, Author of the QUIXOTE die Patronage von Borges über die Appropriation Art bekräftigt, indem sie eine borgesianische Konstellation zwischen mehreren einander spiegelnden Figuren arrangiert hat (Don Quijote, Cervantes, Borges, Menard, Sturtevant, Leser). Wiederum lässt sich das Buch als ein Spiegel beschreiben, wiederum werden mehrere Semantiken des Spiegels aktiviert. Den Hypotext der Sturtevant’schen Publikation bildet aber – wie durch die obigen Thesen plausibilisiert werden sollte – nicht nur die Pierre MenardErzählung, sondern das Borges’sche Œuvre insgesamt. Mit »e. sturtevant« und »Mr. Borges« setzt sich die dort skizzierte und auf Unabschließbarkeit angelegte Reihe borgesianischer Doppelgänger-Konstellationen fort.

R EALISIERTE I MAGINATIONEN : D ASSELBE , ANDERS Borges imaginiert Schriftsteller, die in Variationen wiederholen, was andere vor ihnen geschrieben haben; die Appropriationisten machen Ernst mit solchen Vorstellungen und wiederholen tatsächlich, was andere geschaffen haben. Ihre Kunst und

D ASSELBE , ANDERS : B ORGES UND DIE A PPROPRIATION A RT

Literatur steht insofern im Zeichen der Realisierung borgesianischer Vorstellungen, des Transfers von Ideen in konkret greifbare Realitäten. Damit wird die Kernthese idealistischen Philosophierens – dem Borges’ Denken verpflichtet ist – zum einen bekräftigt und gleichsam ›verifiziert‹: Die mentale Wirklichkeit, die Sphäre der Ideen und Gedanken, ist der Realität vorgängig, liegt ihr bedingend zugrunde. Andererseits wird der Idealismus durch eine spezifische Verzerrung in seiner Erklärungsleistung in Frage gestellt: Die realisierte Vorstellung ist nicht das kongruente Double der Idee, sie ist allenfalls ›Dasselbe‹ als etwas ›Anderes‹. Literarische Texte, künstlerisch gestaltete Bücher und Werke der bildenden Kunst, die sich als Konkretisationen Borges’scher Ideen präsentieren, verweisen insofern auf die immanente Paradoxie idealistischer Metaphysik, derzufolge sich die Identität realer Objekte nur über den Rekurs auf etwas Anderes beschreiben lässt. Die einzelnen realen Objekte, die sich aus ein und derselben Idee ableiten, verhalten sich zueinander wie Doppelgänger, die zugleich identisch und nicht-identisch sind. Borges Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius schildert das imaginäre Universum von Tlön als eine Welt, in der Dinge dadurch in die Realität eindringen, dass jemand sie sich vorstellt – aber er erzählt auch, wie unähnlich sich die Resultate sein können, die mehrere vorstellende Subjekte aus Ideen generieren.24 Auf die Kunst der wiederholenden Aneignung ist dies zu übertragen: Das Resultat ist bezogen auf seine Vorlage dasselbe, nochmal anders – und bezogen auf parallele Projekte, die von derselben Vorlage ihren Ausgang nehmen. Über verschiedene Ebenen imaginierter und erfahrbarer Realität hinweg spannt sich das Netz der sich doubelnden, nicht-identischen Doppelgänger: Sturtevant, Menard, Cervantes, Don Quijote, die Helden der Ritterbücher, Borges, Joseph Cartaphilus, Flaminius Rufus, Homer. Dass die einzig angemessene Form der literarischen Gestaltung seiner Ideenwelt darin bestand, die eigenen Texte einander ähnlich zu gestalten und sich insofern – aufs Abwechslungsreichste – zu wiederholen, hat Borges offenbar klar erkannt; seine Texte doubeln sich – über die Gattungsgrenzen hinweg. Seine variierende Fortsetzung durch andere konnte er allenfalls in Vorstellungen antizipieren, aber die Gesetze von Tlön haben sich inzwischen bewährt.

24 | Borges, Jorge Luis: »Tlön, Uqbar, Orbis Tertius«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Der Erzählungen erster Teil, 99-118 (Gleichnamiges Original in: Obras completas 1923-1949, 431-443).

137

Poetry of Punctuation Prix Nobel oder die Appropriationen des Carl Fredrik Reuterswärd Anne Thurmann-Jajes

E INLEITUNG Handelt es sich um Appropriation Art, konzeptuelle Kunst oder Konkrete Poesie? Was war die Intention von Carl Fredrik Reuterswärd, als er 1960 das Buch Prix Nobel erstmals im Eigenverlag herausgab? Warum hat er sich einen offensichtlich fremden oder gefundenen Text für seine eigene Arbeit angeeignet? Um diese Fragen klären zu können, werde ich im Folgenden dieses Buch und das Werk Carl Fredrik Reuterswärds, insbesondere in Bezug auf seine Künstlerbücher, näher untersuchen. Darüber hinaus soll durch die Aufarbeitung der historischen, literarischen und kulturellen sowie der kunstwissenschaftlichen und theoretischen Kontexte die Bedeutung von Prix Nobel herausgearbeitet werden: Im Vergleich mit Arbeiten anderer Künstler, die sich ebenfalls mit Satzzeichen auseinandergesetzt haben, gilt es, das Werk in die Kunstgeschichte einzubinden. Ob daraus folgernd ganz allgemein von einer ›Poetry of Punctuation‹ gesprochen werden kann, ist abschließend zu klären, ebenso wie die Frage, welche Bedeutung die künstlerische oder literarische Auseinandersetzung mit Satzzeichen an der Grenze von Kunst und Literatur besitzt.

PRIX N OBEL Bei der offensichtlich siebten Auflage von Prix Nobel handelt es sich um ein Taschenbuch im typischen Format mit einem gelben Softcover (Maße: 17 x 12 x 1 cm). Der Klappumschlag ist nur auf dem Umschlagtitel und dem Buchrücken beschrieben, mit dem Namen des Autors: Carl Fredrik Reuterswärd und dem Titel des Buches: Prix Nobel. Ein zusätzlicher Plastikumschlag schützt den Buchumschlag. Die ersten zwei Buchinnenseiten sind blanko, dann folgen der Schmutztitel, eine weitere BlankoSeite und die Haupttitelseite, die noch einmal den Namen des Autors und den Titel

140

A NNE THURMANN -J AJES Abb. 1: Carl Fredrik Reuterswärd: Prix Nobel, Milano: Schwarz 1966, 6-7.

des Buches aufführt. Auf der nächsten Seite sind die Copyrightangaben zu finden (Abb.  1). Es beginnt mit »© 1960 Carl Fredrik Reuterswärd« und geht dann jährlich mit einem Eintrag weiter bis »© 1966 Carl Fredrik Reuterswärd«. Es folgen anschließend die Druckangaben: »Tryckeri AB Björkmans Eftr, Stockholm 1966 / Printed in Sweden«. Auf der nächsten Seite beginnt dann mit Seite 7 der Text oder der Inhalt des Buches, der auf Seite 96, der letzten Seite des Buches überhaupt, endet. Ab Seite 7 sind alle Seiten paginiert. Der eigentliche Text besteht nur aus Satzzeichen (Abb. 2+3). Reuterswärd hat hierfür einen vorhandenen oder gefundenen Text genommen und diesen ›original‹ wieder abdrucken lassen, jedoch sind alle Buchstaben ausgelassen worden. Die Satzzeichen sind an ihren Stellen verblieben und geben eine Illusion des nicht vorhandenen oder entfernten Inhalts. Die technische Umsetzung scheint im Monotype Verfahren erfolgt zu sein. Die Copyrightangaben implizieren, dass das Buch in sieben Auflagen erschienen ist, die erste 1960 und die letzte 1966. Zu den früheren Ausgaben lassen sich keine Informationen finden, und auch über die Höhe der einzelnen Auflagen bestehen keine Angaben. Ein Teil der Auflage von 1966 ist zusätzlich von den Verlagen Bonniers, Stockholm, und Schwarz, Mailand, verlegt worden. Die Verlagsangaben befinden sich, ohne Ortsangabe, nur auf dem jeweiligen Buchumschlag und mit Ortsangabe auf der Schmutztitelseite. Die Impressumsangaben und alle weiteren Seiten sind identisch. Bei der Verlagsausgabe von Bonniers befindet sich auf der

P OETRY OF P UNCTUATION Abb. 2: Carl Fredrik Reuterswärd: Prix Nobel, Milano: Schwarz 1966, 8-9.

Abb. 3: Carl Fredrik Reuterswärd: Prix Nobel, Milano: Schwarz 1966, 12-13.

141

142

A NNE THURMANN -J AJES

Impressumsseite in der oberen Hälfte des Blattes eine Auflistung der bereits erschienenen Bücher Reuterswärds. Diese ist in den anderen Versionen nicht vorhanden. Alle drei Bücher sind gleichzeitig in derselben Druckerei entstanden, der Umschlag aber in drei verschiedenen Versionen. Die Farbe des Buchumschlages variiert bei dem von Bonniers verlegten Buch etwas ins Gelborange (Abb. 4). Abb. 4: Carl Fredrik Reuterswärd: Prix Nobel, [Stockholm]: Eigenverlag 1966; Ders.: Prix Nobel, Milano: Schwarz 1966; Ernst Hemingway: Le vieil homme et la mer, Paris: Hachette 1955.

Wenn Reuterswärd darauf angesprochen wurde, welches Buch oder welchen Text er denn übernommen habe, soll er stets nur gelächelt, aber nie die Vorlage preisgegeben haben.1 So bleibt nur, zu versuchen, diese aus den wenigen vorhandenen Angaben herzuleiten. In der Anthology of Concrete Poetry von Emmett Williams von 1967 wird in der Biografie zu Reuterswärd »Prix Nobel 1960« unter seinen Publikationen aufgeführt.2 Es kann also davon ausgegangen werden, dass Reuterswärd dieses Buch tatsächlich 1960 erarbeitet hat, entweder als unikates Werk oder aber in einer sehr kleinen Auflage im Selbstverlag. Auf den von Reuterswärd gestalteten Seiten in der Publikation Nya linjer (dt. Neue Literatur) sind Auszüge aus verschiedenen Büchern von ihm abgebildet, darunter eine Seite mit dem Titel »Prix Nobel (Inträdestal i Sv. Akademien 1960)« (dt. Antrittsrede an die Schwedische Akademie).3 Diese Darstel1 | Ich danke Dr. Norbert Nobis für diese Information. 2 | Reuterswärd, Carl Fredrik: »Biography«, in: Williams, Emmett (Hg.): Anthology of Concrete Poetry, New York: Something Else Press 1967, o. S. 3 | Reuterswärd, Carl Fredrik: Nya linjer. Lyrik från 60-talet i urval av Björn Håkanson och Leif Nylén, Stockholm: Bonniers 1966, 143.

P OETRY OF P UNCTUATION

lung in Nya Linjer enthält den zentralen Hinweis darauf, was für einen Text Reuterswärd als Vorlage für Prix Nobel benutzt haben könnte. Allerdings wird hier leider nur die Art der Vorlage angegeben, aber nicht Autor, Titel oder Jahr, in dem diese erschienen sein könnte. Fest steht, dass es sich um einen Text oder ein Buch aus dem Umkreis des Nobelpreises handeln muss. Da Reuterswärd von einer Antrittsrede an die Schwedische Akademie spricht, grenzt sich der Kreis möglicher Veröffentlichungen auf den Literaturnobelpreis ein, denn nur dieser wird von der Schwedischen Akademie bestimmt. Die Preisübergabe findet alljährlich in Stockholm am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, durch den schwedischen König statt. In der Woche davor sind alle Preisträger aufgefordert, eine Antrittsrede oder einen Festvortrag zu halten. Für den Preisträger oder die Preisträgerin des Literaturnobelpreises findet diese fast immer am 7. oder 8. Dezember in der Schwedischen Akademie statt. Der Vortrag ist nicht öffentlich.4 Seit 1901, der ersten Vergabe der Nobelpreise, gibt die Nobelstiftung ein Jahrbuch unter dem Titel Les Prix Nobel heraus. Es erscheint jedes Jahr im Oktober für das vorangegangene Jahr und enthält jeweils die Präsentation des Nobelpreisträgers durch ein Mitglied der Schwedischen Akademie, die Dankesrede (Antrittsrede oder auch Annahmeerklärung) und die Biografie des jeweiligen Preisträgers sowie manchmal einen Festvortrag (Nobel lecture). Dass Reuterswärd die Antrittsrede oder den Festvortrag eines Literaturnobelpreisträgers aus einem dieser Jahrbücher für sein Werk übernommen haben könnte, ist durchaus möglich, auch den Titel seines Buches scheint er hier entlehnt zu haben: aus Les Prix Nobel wurde Prix Nobel. Für seine Textadaption bleiben nur die Vorträge der Literaturnobelpreisträger vor 1960 bzw. 1959, je nachdem, wann Reuterswärd sein Buch 1960 umgesetzt hat. Die Preisträger für 1953 bis 1959 waren beispielsweise: 1959 Salvatore Quasimodo, 1958 Boris Pasternak, 1957 Albert Camus, 1956 Juan Ramón Jiménez, 1955 Halldór Kiljan Laxness, 1954 Ernest Miller Hemingway und 1953 Sir Winston Leonard Spencer Churchill. Natürlich kann grundsätzlich auch noch jede frühere Rede in Frage kommen. Weiteren Aufschluss verspricht, dass Reuterswärd 1960 eine andere Arbeit unter dem Titel Prix Nobel schuf. Es handelt sich hier ebenfalls um Satzzeichen als Überreste eines Textes, die auf Zeitungspapier ähnliches Papier gedruckt wurden. Dieses Werk ist handschriftlich betitelt und signiert: »›Prix Nobel‹ (Ernest Hemingway) Carl Fredrik Reuterswärd 1960.«5 Der dargestellte Drucksatz ist identisch mit dem auf Seite 28 in seinem Buch Prix Nobel. So scheint Reuterswärd die Antrittsrede oder den Vortrag von Ernest Hemingway von 1954, veröffentlicht 1955, für seine Appropriation verwendet zu haben – oder aber, was wahrscheinlicher ist, eine andere Veröffentlichung von Hemingway (1899-1961). Denn aus Krankheitsgründen konnte 4 | Weitere Informationen unter http://nobelprize.org/ 5 | Abgebildet in Eriksson, Leif: »In the field of ›artists’ books‹ and in his very early use of the page as alternative space Reuterswärd belongs to the international pioneers«, in: Style is Fraud. Carl Fredrik Reuterswärd, o. O.: Arena 2003, 326-363, 328.

143

144

A NNE THURMANN -J AJES

Hemingway nicht persönlich zur Preisübergabe nach Stockholm reisen, so dass der amerikanische Botschafter J.C. Cabot in Schweden den Preis für ihn in Empfang nahm und auch die Dankesrede von Hemingway verlas.6 Daher findet sich in allen Publikationen der Nobelpreistexte – Les Prix Nobel oder Nobel Lectures Literature7 – auch nur die ca. eine Seite lange Dankesrede (Acceptance), die ganz offensichtlich nicht die Vorlage von Reuterswärds Nobel Prix gewesen sein kann. Hemingway hatte den Nobelpreis unter anderem für seine 1952 veröffentlichte Novelle The Old Man and the Sea erhalten, die als eines der bedeutendsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts gilt. Diese erschien erstmals als A Complete Book: The Old Man and the Sea by Ernest Hemingway im LIFE Magazine vom 1. September 1952.8 Direkt im gleichen Jahr kam die erste Buchausgabe in New York bei dem Verleger Charles Scribners heraus. Es folgten 1952 dann noch fünf weitere Ausgaben: insgesamt zwei Auflagen bei dem Verleger Jonathan Cape in London, jeweils eine beim Rowohlt Verlag in Hamburg und beim Steinberg Verlag in Zürich, beides als Übersetzung von Annemarie Horschitz-Horst, sowie eine Ausgabe in Paris bei Gallimard, übersetzt von Jean Dutourd. 1953 und in den Jahren darauf folgten zahlreiche weitere Veröffentlichungen. Allein in Deutschland erreichen die mittlerweile 17 Auflagen bis heute über eine Million Exemplare. Einen Hinweis auf diese Novelle Hemingways als Vorlage Reuterswärds gibt ein Brief von Carlfriedrich Claus vom 18.01.1970, der mit Carl Fredrik Reuterswärd in jenen Jahren im Briefwechsel stand: »I thought often to you, turning over the leaves of your PRIX NOBEL. This book is a multiple signal. The punctuation marks ›begin to speak an unuttered Language‹, they change into a self-oscillation in the brain. And : I interpret your PRIX NOBEL as a new sort of interpretation. Hemingway’s text ›The old man and the sea‹ is absent, extinguished. But its punctuation structure is present. So you produce quasi a formalized language from Hemingway’s story, quasi a metalanguage. I find : this objective interpretation of ›The old man and the sea‹ makes clear an essential aspect of this story.«9

6 | Vgl. Hemingway, Ernest: »Presentation, Acceptance«, in: Frenz, Horst (Hg.): Nobel Lectures. Including Presentation Speeches and Laureates’ Biographies. Literature 1901-1967, Amsterdam/London/ New York: Elsevier Publishing Company 1969, 497-503. 7 | Les prix nobel en 1954, Stockholm: Imprimerie Royal P.A. Norstedt & Söner 1955; Frenz: Nobel Lectures, 1969. 8 | Hemingway, Ernest: »A Complete Book: The Old Man and the Sea by Ernest Hemingway«, in: LIFE Magazine, 1. September 1952, 34ff. 9 | Claus, Carlfriedrich in einem Brief an Carl Fredrik Reuterswärd vom 18.1.1970, Kunstsammlungen Chemnitz, Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv, 2.1., 18.1.70cc. Herzlichen Dank an Annette Gilbert für den Hinweis auf diesen Brief und an Brigitta Milde, Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv, für die Bereitstellung des Briefes.

P OETRY OF P UNCTUATION

Dieser Brief impliziert, dass Reuterswärd sein Buch an Claus mit dem Hinweis auf Hemingways Novelle The Old Man and the Sea geschickt haben muss. Damit würden sich die verschiedenen Angaben von Reuterswärd selbst widersprechen, außer er beabsichtigte, mit der Erwähnung der Schwedischen Akademie einfach nur einen Bezug oder ›Link‹ zum Nobelpreis für Literatur herzustellen. Vergleicht man nun das Buch Prix Nobel mit Ausgaben von Hemingways The Old Man and the Sea, so lassen sich die Satzzeichen durchaus nachvollziehen. Leichte Abweichungen ergeben sich bei den Kommata, da die Kommaregeln in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich sind, wie auch bei der Art der Anführungszeichen. Diese belegen, dass sich Reuterswärd auf die amerikanische Erstveröffentlichung bezogen haben muss10, denn er benutzte die in der amerikanischen Ausgabe verwendeten und für die nordeuropäischen Länder üblichen doppelten An- (“) und Abführungszeichen (”). In der englischen Ausgabe Hemingways werden die einfachen Anführungszeichen verwendet, während sowohl die französische als auch die deutsche Ausgabe Guillemets (« ») gebrauchen. Während Prix Nobel nur 96 Seiten hat, umfasst die amerikanische Ausgabe im Taschenbuchformat allerdings 127 Seiten und beginnt erst auf Seite 9. Die anderen Ausgaben haben zwischen ca. 140 und 188 Seiten. Dieser Seitenunterschied lässt sich dadurch erklären, dass die Novelle in der Regel 24 bis 26 Zeilen pro Seite enthält, während Prix Nobel ca. 33 bis 35 Zeilen je Seite umfasst. Durch die kleinere Schrift und einen engeren Satzspiegel erreichte Reuterswärd ein kompaktes Bild von Satzzeichen. Beim Vergleich von Prix Nobel mit Ausgaben von The Old Man and the Sea aus den 1950er Jahren aus verschiedenen Ländern fällt weiterhin auf, dass Reuterswärd sich vermutlich bei der Gestaltung des Buchumschlages von einer französischen Ausgabe von 1955 mit der gleichen Titelgestaltung und einem vergleichbaren gelblichen Farbton inspirieren ließ (vgl. Abb. 4).11

PRIX N OBEL INNERHALB C ARL FREDRIK R EUTERSWÄRDS Œ UVRE Carl Fredrik Reuterswärd zählt zu den bedeutendsten Künstlern Schwedens und ist insbesondere durch seine Darstellung verknoteter Revolververläufe bekannt geworden, die als Skulpturen, Zeichnungen und Grafiken vorliegen. Beeindruckend sind darüber hinaus seine Porträts von Prominenten und Künstlerkollegen, die er zwischen 1977 und 1999 mit wenigen Strichen in verschiedenen Techniken sehr charakteristisch herausarbeitete. Werke seines vielschichtigen Œuvres sind in fast allen bedeutenden Museen anzutreffen. Bereits 1959 war Reuterswärd auf der Biennale

10 | Vgl. Hemingway, Ernest: The Old Man and the Sea, New York: Charles Scribner’s Sons 1977 [Faksimile der ersten Auflage 1952]. 11 | Vgl. Hemingway, Ernest: Le vieil homme et la mer, Paris: Hachette 1955.

145

146

A NNE THURMANN -J AJES

von São Paulo vertreten, 1960 auf der Internationalen Surrealistenausstellung in New York und 1964 auf der Biennale in Venedig. Carl Fredrik Reuterswärd, 1934 in Stockholm geboren, lebte von 1951 bis 1952 in Paris und ging dort in die École Fernand Léger. Von 1952 bis 1955 besuchte er die königliche Kunsthochschule in Stockholm. Er lebte damit zur Zeit der Preisvergabe an Hemingway in Stockholm. Im Jahr 1955 zog er dann nach Paris und 1962 in die USA, bis er 1965 nach Stockholm zurückkehrte und bis 1970 an der Königlichen Kunsthochschule als Professor lehrte. Er lebt und arbeitet seitdem in Bussigny/Lausanne in der Schweiz. Seine ersten Arbeiten Mitte der 1950er Jahre sind im Kontext der Konkreten Poesie entstanden. Im Umkreis von Öyvind Fahlström, der 1953 das erste Manifest zur Konkreten Poesie verfasste und 1954 in der Stockholmer Literaturzeitschrift Odyssé zusammen mit der Grafik Edlund veröffentlichte, fanden sich ab Mitte der 1950er Jahre einige Künstler ein, die begannen, sich der Konkreten Poesie zu widmen. Neben Åke Hodell, Bengt Emil Johnson und einigen anderen Künstlern gehörte auch Reuterswärd dazu. Seine ersten konkreten Gedichte sind Le Poème ›Alphabet‹ und Poem A von 1954. Sowohl an der ersten programmatischen Ausstellung zur Konkreten und Visuellen Poesie im Moderna Museet in Stockholm 1964 als auch in der folgenden Anthologie Svisch12 , herausgegeben von Åke Hodell, waren Reuterswärd wie auch Fahlström beteiligt. Reuterswärds erstes veröffentlichtes Buch ist Abra Makabra von 1955, das im Verlag Albert Bonniers, Stockholm, erschien. Der Titel ist ein Sprachspiel mit Bezug auf schwedische Zaubersprüche: ›Abra‹ steht für die helle Seite des Lebens, ›Makabra‹ für die dunkle.13 Jeder dieser beiden Begriffe dient als Überschrift für einen der beiden Teile des Buches. Im eigentlichen Sinne handelt es sich um eine Sammlung von Gedichten. Dabei fällt jedoch auf, dass allen Gedichten die Satzzeichen fehlen und diese in Kleinschrift geschrieben sind. Sein erstes Buchobjekt Readers Digest entstand bereits 1959, ist aus Holz und hat die Form eines geschlossenen Buches. Es verweist auf das gleichnamige Lesemagazin, eines der auflagenstärksten Monatsmagazine der Welt mit Sitz in Stuttgart. Zwei weitere Buchobjekte sind You are reading what I have censored und Snille och smak (dt. Genie und Geschmack) von 1963. Für das letztere hat Reuterswärd das schwedische Wörterbuch der Akademie (vergleichbar dem Duden in Deutschland) gemahlen und ein Brot aus dem Mahlgut gebacken. In den folgenden Jahren veröffentlichte Reuterswärd Gedichte, literarische und konzeptuelle Texte sowie künstlerische Originalbeiträge in zahlreichen Zeitschriften und Publikationen in Schweden und konzipierte eine Reihe von Künstlerbüchern. Ein Beispiel für einen konzeptionellen Text stellt sein Beitrag Commissariat de Police. Salle d‘attente du IVe district de Stockholm / Interieur of the Waitingroom 12 | Hodell, Åke (Hg.): Svisch, Stockholm: Kerberos Förlag 1964. 13 | Vgl. Eriksson, Leif: »In the field of ›artists’ books‹«, 338.

P OETRY OF P UNCTUATION

in the Fourth Police District in Stockholm in der Zeitschrift Edda (3/1961) dar. Als Beispiel für einen Originalbeitrag in einer Zeitschrift kann Rembrandt f. in der vom Bonniers Verlag herausgegebenen Künstlerzeitschrift Gorilla (2/1967) genannt werden. Reuterswärd legte stets großen Wert darauf, seine Beiträge selbst zu gestalten. Während seine ersten Bücher Abra Makabra (1955) und I Lagens Namn (1957) noch stärker literarisch orientiert sind, beginnt mit Angående Disciplinen Ombord (1958) der konzeptionelle Umschwung, der dann 1960 zur Entstehung von Prix Nobel führt, das als eines seiner ersten konzeptionellen Künstlerbücher gelten kann. Hierbei ist die Konzeption des Werkes an sich entscheidend für die künstlerische Bedeutung. Durch die absolute Reduzierung von Sprache auf eine grundlegende Struktur, wie hier beispielsweise aus Satzzeichen, geht es nicht mehr um den (narrativen) Inhalt, sondern um die Konzeption eines visuellen Systems, eines Bildes in Form eines Buches. På samma gång (dt. Gleichzeitig), erschienen 1961 bei Bonniers, basiert auf jeweils vier Wortgruppen auf jeder Seite, die wie Reihen oder Konstellationen in der Konkreten Poesie angeordnet sind. Im Künstlerbuch Kafka von 1981 beschäftigt sich Reuterswärd mit Kafkas Sprache.14 Es zeigt seine Beziehung zu Kafkas Novellen und Wittgensteins linguistischer Forschung. Gerade da es sich bei Reuterswärds Künstlerbüchern überwiegend um Arbeiten handelt, die auf rein sprachlicher oder textlicher Grundlage entstanden, ist es sehr wichtig, ihren konzeptionellen Status herauszustellen. Dies ist auch insofern wesentlich, als sich in Schweden eine besondere Form der Konkreten Poesie herauskristallisiert hatte, die in der Regel auf einem längeren Text basiert, der einzelne Formelemente der Konkreten Poesie integriert. Diese hatte zur Folge, dass die Bücher im Kontext der Konkreten Poesie als literarische Bücher und nicht als Kunstwerke angesehen wurden. Im Gegensatz zu den literarischen Formen der Konkreten Poesie fand sich in Schweden zuerst auch kein Verlag, der diese eher konzeptionelleren Werke publizieren wollte. So sind etwa die konkreten Gedichte von Öyvind Fahlström von 1952-1955 erst 1966 von Bonniers verlegt worden15, zu einer Zeit, als die Konkrete Poesie sich bereits längst als Avantgardebewegung im Kunstkontext etabliert hatte. Dies mag der Grund gewesen sein, warum auch Prix Nobel (erst) 1966 von Bonniers in größerer Auflage mit verlegt wurde.

Z UR A PPROPRIATION IM WERK R EUTERSWÄRDS Carl Fredrik Reuterswärd hat sich mit verschiedensten Formen der Appropriation beschäftigt. Dabei ist der Akt des Kopierens absichtsvoll und konzeptionell ausgeführt und selbst als Kunst zu verstehen – ebenso wie das Ergebnis. Die Aneignun14 | Reuterswärd, Carl Fredrik: Kafka. (Kafkas Sprache in Verwandlung und Prozess) [schwed./engl./ frz./dt.], Stockholm: Wahlström & Widstrand 1981. 15 | Fahlström, Öyvind: Bord-Dikter 1952-55, Stockholm: Bonniers 1966.

147

148

A NNE THURMANN -J AJES

gen erfolgen nicht in kritischer Absicht, sondern als Hommage. Im Unterschied zur Appropriation Art eignet sich Reuterswärd keine bereits bestehenden Kunstwerke an. Es handelt sich bei ihm immer um literarische Texte oder Dokumente. Bis auf Prix Nobel ist das Vorbild oder die Art der Aneignung noch zu erkennen. Bei dem Buchobjekt Reader Digest ist der Titel Hinweis genug auf das bekannte Monatsmagazin, und bei dem Werk mit der Signatur Rembrandt f. in der Zeitschrift Gorilla handelt es sich ganz eindeutig um die Originalsignatur Rembrandts, die für das jeweils neue Werk adaptiert wurde. Im Buch Kafka. (Kafkas Sprache in Verwandlung und Prozess) setzt sich Reuterswärd sehr offensichtlich mit Kafkas Umgang mit Sprache auseinander. Die absolute Veränderung eines Vorbildes stellt die Arbeit Snille och smak dar: Das ›zermahlene‹ Buch wird zu einem Brot verarbeitet. Nur die beigefügte Information Reuterswärds zu diesem Werk gibt die Vorlage bekannt. Ganz anders ist es bei dem Werk Prix Nobel, bei dem er die Bekanntgabe der Vorlage verweigert. Er appropriiert einen anscheinend unbekannten Text, den er als veränderten Text in Form eines Buches wieder herausgibt. Die genaue Übernahme der Satzzeichen unter Auslassung der Buchstaben stellt eine direkte Manipulation dar. Daneben findet noch eine weitere, offene Aneignung statt, die sich auf den Titel Prix Nobel und damit auf den rechtlich gesicherten Markennamen »Nobelpreis« bezieht. Reuterswärd thematisiert durch den Akt der Aneignung die Geschichte und Bedeutung des Nobelpreises in seiner Absolutheit. Er hat bewusst und aus strategischer Überlegung heraus ein Werk aus dem Kontext des Nobelpreises genommen und in ein Kunstwerk verwandelt. Seine Beschäftigung mit dem vorgefundenen ästhetischen Sprachmaterial eines literarischen Textes, der als solcher aber keine Rolle spielt, diente ihm nur als Vorwand und Basis zur Umsetzung von Prix Nobel – auch wenn Hemingways Novelle aufgrund seines großen Erfolges wegen wie prädestiniert für die Aneignung erscheint. Die Appropriation war für Reuterswärd nicht der Zweck der Arbeit, sondern nur ein Mittel zum Zweck, insofern kann im Zusammenhang mit Prix Nobel nicht von Appropriation Art gesprochen werden.

Z UR A USEINANDERSETZUNG MIT S ATZZEICHEN Die bewusste Beschäftigung von Reuterswärd mit der Interpunktion bzw. der Bedeutung von Satzzeichen zeigt sich an vier Punkten: 1. Bereits 1955 veröffentlichte er das Buch Abra Makabra, bei dem er gänzlich auf Satzzeichen verzichtet. Es kann als Kontrapunkt zu Prix Nobel angesehen werden. 2. 1960 erscheint das Buch Prix Nobel, das nur aus Satzzeichen besteht und dem anschließend insgesamt 6 weitere Ausgaben folgen. 3. Er produziert 1966 eine Schallplatte und nennt diese: Håller Tal & Tand För Tunga (dt. eine Rede halten & schweigsam bleiben) (Abb. 5). Reuterswärd liest das Buch Prix Nobel in dem Sinne, dass er inhaltlich nichts sagt und doch etwas spricht. Er liest

P OETRY OF P UNCTUATION Abb. 5: Carl Fredrik Reuterswärd: Håller Tal & Tand För Tunga, Stockholm: Bonniers [1966], Schallplatte [AB EP 5016].

und betont die Namen der Satzzeichen in der Reihenfolge ihres Vorkommens im Text. Zuerst spricht er die Namen der Satzzeichen, später singt er sie.16 Satzzeichen sind im eigentlichen Sinne Sonderzeichen einer Schrift, die der Strukturierung und der Sinngebung des Satzbaus dienen. Die durch die Satzzeichen bewirkte Strukturierung hilft zudem, den gewünschten Sprech- oder Atemrhythmus der gesprochenen Rede festzuhalten. Fallen die Worte weg, entfällt auch der Inhalt, fehlen die Buchstaben, besteht gemeinhin keine Möglichkeit der Wiedergabe. Doch Reuterswärd schafft es in einem konzeptuellen oder performativen Akt, die Satzzeichen zu lesen, nichts zu sagen – ohne zu schweigen. Er gibt der Zeichensetzung und damit dem Sprech- und Atemrhythmus einen eigenen Sinn. 4. In der Anthology of Concrete Poetry, herausgegeben von Emmett Williams in der Something Else Press in New York (1967), ist eine Doppelseite aus Prix Nobel abgebildet und mit folgendem Text von Carl Fredrik Reuterswärd versehen:

16 | Reuterswärd, Carl Fredrik: Håller Tal & Tand För Tunga, Stockholm: Bonniers o. J. [1966], Schallplatte [AB EP 5016]. Prix Nobel befindet sich auf der 2. Seite. Ein Ausschnitt der Aufzeichnung findet sich auch online unter http://www.afsnitp.dk/galleri/konkretpoesi/reutersward/vaerker/2.html vom 2.09.2011.

149

150

A NNE THURMANN -J AJES »Carl Fredrik Reuterswärd, from Prix Nobel (1960) The use of punctuation marks in a text forces them to a ›neutral value‹. The word ›colon‹ does not correspond to any ›colon concepts‹. Do you have any colon concepts? The text apparatus satisfies a demand of that kind. The position or placing of a punctuation mark does not decide its own meaning. (An exclamation mark in the middle of a sentence does not distort the mark itself but does distort the emphasis of the sentence.) Nor is there any mutual order of rank; a period is not superior to a parenthesis. It is in such neutral and equal linguistic attributes that I see an interesting alternative: not to ignore a syntax but certainly to forego ›the preserved meanings of others‹. The ›absence‹ that occurs is not mute. For want of ›governing concepts‹ punctuation marks lose their neutral value. They begin to speak an unuttered language out of that already expressed. This cannot help producing a ›colon concept‹ in you, a need of exclamation, of pauses, of periods, of parenthesis. But a state that has come about at the expense of the nobel prize: out of its own idea. (C.F.R., introduction to Prix Nobel.)« 17

Diese Einleitung zeigt zum einen die konkrete Auseinandersetzung Reuterswärds mit der Interpunktion und seine Intention bei Prix Nobel. Angesichts der inhaltlichsemantischen Absenz bei Prix Nobel beginnen die Satzzeichen aus einer unausgesprochenen Sprache heraus zu sprechen. Es entsteht ein Inhalt aus sich heraus. Dieses ist nicht nur eine wunderbare Definition für Künstlerbücher, sondern auch der Inhalt, das Thema von Prix Nobel. Zum anderen belegt die Einleitung die Verbindung Reuterswärds sowie die Bezüge dieses Werkes zur Konkreten Poesie, denn die Anthologie von Emmett Williams zählt zu den wichtigsten und umfangreichsten Anthologien dieser Strömung. So können nicht nur Prix Nobel oder På samma gong, sondern auch andere Werke Reuterswärds durchaus in diesem Kontext betrachtet werden. In der Konkreten und Visuellen Poesie wie auch in der konzeptuellen Kunst ist die Auseinandersetzung mit Satzzeichen ein weit verbreitetes Phänomen, wie zahlreiche Arbeiten verschiedenster Künstler belegen: Wlademir Dias Pino: from solida (1957)18, Ludwig Gosewitz: typogramme 1 (1962)19, Marianna Bocian: bez tytułu (1971)20, Alighiero e Boetti: Porträt Giorgio Colombo (1973), Mettere al mondo il mondo (1973), Insicuro noncurante (1973) und Jonier Marin: Ohne Titel aus der Serie »?« (1993).

17 | Carl Fredrik Reuterswärd zit. n. Williams: Anthology of Concrete Poetry, o. S. Vgl. auch die Parallelen und Differenzen zu Jarosławs Kozłowskis Satzzeichentheorie, dargestellt im Beitrag von Tobias Amslinger im vorliegenden Band. 18 | Abgedruckt in Williams: Anthology of Concrete Poetry, o. S. 19 | Gosewitz, Ludwig: typogramme 1 [15 grafische Blätter], Frauenfeld: eugen gomringer press 1962. 20 | Abgebildet in Bieganowski, Michał: Wrocławska poezja konkretna, Wrocław 1978, 3.

P OETRY OF P UNCTUATION

In der vermeintlichen Nachfolge von Reuterswärd, häufig jedoch auch in völliger Unkenntnis von Reuterswärd, sind noch andere Künstlerbücher auf der Basis von Satzzeichen entstanden, insbesondere in den letzten Jahren21: Dieter Roth: stupidogramme (1966)22 , Jarosław Kozłowski: Reality (1974), Isidoro Valcarcel Medina: Puntualizaciones poéticas (1995)23, Kenneth Goldsmith: Gertrude Stein on Punctuation (2000), Heidi Neilson: Atlas of Punctuation (2004), Elisabeth S. Clark: Between Words (Raymond Roussel / New Impressions of Africa) (2007), t Claire Morel: L’image (2008), t Riccardo Boglione: RITMO D. Feeling the blanks (2009), t Antonia Hirsch: Komma (after Dalton Trumbo’s Jonny Got His Gun) (2011).

t t t t t t

Auch in der Literatur ist die Auseinandersetzung mit Satzzeichen zu finden. So haben etwa Aleksandr Puškin in Evgenij Onegin oder Heinrich von Kleist in Die Marquise von O…. einen besonderen Umgang mit der Interpunktion gepflegt. Erinnert sei auch an James Joyce, der das letzte Kapitel im Ulysses vollständig ohne Satzzeichen verfasst hat, und Gertrude Steins Vortrag Poetry and Grammar von 1934. Bekannt ist zudem Theoder W. Adornos Aufsatz von 1958 zu Satzzeichen, in dem er ausführt: »In keinem ihrer Elemente ist die Sprache so musikähnlich wie in den Satzzeichen. Komma und Punkt entsprechen dem Halb- und Ganzschluß. Ausrufezeichen sind wie lautlose Beckenschläge, Fragezeichen Phrasenhebungen nach oben, Doppelpunkte Dominantseptimakkorde; und den Unterschied von Komma und Semikolon wird nur der recht fühlen, der das verschiedene Gewicht starker und schwacher Phrasierungen in der musikalischen Form wahrnimmt.« 24

Möglicherweise hat Reuterswärd diese Textpassage gekannt. Sie könnte ihn dazu ermutigt haben, die Satzzeichen in Prix Nobel auch zu singen. Zusammenfassend 21 | Ich danke Annette Gilbert für die Hinweise auf diese Bücher. Ausführlicher dazu vgl. dies. (Hg.): Re-Print. Appropriation (&) Literature, Wiesbaden: luxbooks 2012, im Druck. 22 | Erschienen in Gorgona 9 (1966). Dort gedruckte Beispiele der handgezeichneten Originalserien von 1961 bis 1966. Die zweite Auflage erschien als Roth, Dieter: Gesammelte Werke. Bd. 9: stupidogramme, Stuttgart/London/Reykjavik: edition hansjörg mayer 1975, o. S. 23 | Erschienen bei Acción y palabra, Murcia. Auf der einen Seite befindet sich nur der Text ohne Satzzeichen, auf der gegenüberliegenden Seite die Satzzeichen ohne Text. Vgl. dazu Sarmiento, José Antonio: Escrituras en Libertad. Poesía Experimental Española e Hispanoamericana del Siglo XX, Madrid: Instituto Cervantes 2009, 411ff. 24 | Adorno, Theodor W.: »Satzzeichen«, in: Ders.: Noten zur Literatur I, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969, 163-174, 164.

151

152

A NNE THURMANN -J AJES

kann also auf der Basis dieser Beispiele durchaus behauptet werden, dass Reuterswärd sich nicht nur der in der Literatur und insbesondere der in der Konkreten und Visuellen Poesie entwickelten Ansätze einer ›Poetry of Punctuation‹ bedient, sondern sie in besonderer Weise ausprägt.

THEORETISCHE K ONTEXTE Zum Verständnis vom Prix Nobel ist es wichtig, noch einen anderen Kontext heranzuziehen. Reuterswärds Textarbeiten haben eine enge Verbindung zur linguistischen Theorie Ludwig Wittgensteins, mit der er sich in seinen Werken immer wieder auseinandergesetzt hat. Bei Prix Nobel lassen sich Verbindungslinien zum Tractatus logico-philosophicus erkennen. Folgende Sätze Wittgensteins könnten dafür herangezogen werden: »3.12 Das Zeichen, durch welches wir den Gedanken ausdrücken, nenne ich das Satzzeichen. Und der Satz ist das Satzzeichen in seiner projektiven Beziehung zur Welt.« »3.14 Das Satzzeichen besteht darin, dass sich seine Elemente, die Wörter, in ihm auf bestimmte Art und Weise zueinander verhalten. Das Satzzeichen ist eine Tatsache.« »3.5 Das angewandte, gedachte, Satzzeichen ist der Gedanke.« »4.116 Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen.« »7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« 25

Reuterswärds Auseinandersetzung mit Satzzeichen kann durchaus auch auf seine Beschäftigung mit Wittgenstein zurückgeführt werden, wobei die ›praktische‹ Verwendung von Satzzeichen bei Reuterswärd nicht direkt mit dem philosophischen Verständnis von Satzzeichen bei Wittgenstein gleichgesetzt werden kann. Doch würde man die Ausführungen Wittgensteins, ganz allgemein verstanden, auf Prix Nobel anwenden, ließen sich direkte inhaltliche Bezüge herstellen: Denn wenn das angewandte Satzzeichen der Gedanke ist, besteht Prix Nobel nur aus Gedanken. Und alles was nur gedacht werden kann, kann nach Wittgenstein nicht ausgesprochen werden. In Entsprechung dazu fehlt bei Prix Nobel der eigentliche Text, der dadurch 25 | Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 18, 19, 29, 40 und 111.

P OETRY OF P UNCTUATION

also nicht ausgesprochen werden kann. Das Satzzeichen ist nach Wittgenstein an sich eine Tatsache und die ist es bei Reuterswärd auch, denn das Buch besteht nur aus Satzzeichen. Und diese lassen sich entsprechend Wittenstein auch klar aussprechen. Eine Parallele zu dieser Aussage ergibt sich, wenn Reuterswärd die Satzzeichen von Prix Nobel erst zu lesen und dann zu singen beginnt. Im Vorwort zum Tractatus schreibt Wittgenstein: »Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.«26 Wird auch dieser Satz mit Reuterswärd in Verbindung gebracht, steht »Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen« für Håller Tal (dt. Rede halten) und »wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen« für Tand För Tunga (dt. schweigsam bleiben), entsprechend dem gleichnamigen Titel der Schallplatte von Reuterswärd. Damit treffen Wittgenstein im Tractatus und Reuterswärd in Prix Nobel über den Umweg der Schallplatte die gleichen Aussagen. Schlussfolgernd kann so gesagt werden, dass Reuterswärd indirekt ein Abbild der Aussagen von Wittgenstein schafft, sowohl visuell als auch akustisch. Die radikale Reduktion als Methode an sich wird theoretisch auch von Hemingway thematisiert. So schrieb er 1932: »Wenn ein Prosaschriftsteller genug über das weiß, worüber er schreibt, kann er Dinge auslassen, die er weiß, und der Leser wird, wenn der Schriftsteller aufrichtig genug schreibt, ein so starkes Gefühl dieser Dinge haben, als ob der Schriftsteller sie erwähnt hätte. Die Würde der Bewegung eines Eisbergs ist darauf zurückzuführen, dass nur ein Achtel von ihm über Wasser ist.« 27

Diese Metapher, die den literarischen Stil Hemingways beschreibt und später zur Begründung der Eisbergtheorie herangezogen worden ist, kann im übertragenen Sinne ebenfalls auf Prix Nobel bezogen werden. Wie Wittgenstein schreibt Hemingway hier über das Auslassen von ›Zwischentexten‹ bzw. das Verschweigen von ›nicht notwendigen Textpassagen‹. Diese können bei Hemingway als Subtexte auf der Basis einer zusätzlichen gedanklichen Bedeutungsebene verstanden werden. Dementsprechend kann der Leser sich sieben Achtel oder 87,5 Prozent eines Textes denken oder zwischen den Zeilen lesen. Im Falle Reuterswärds blieben dann nur noch die Satzzeichen übrig, die ihm als Gerüst für die Lektüre ausreichend erscheinen und den Leser animieren, sich seine eigenen Gedanken zumachen. In einem Interview von 1958 hat Hemingway seine Theorie des Eisbergs auch direkt auf seine Novelle The Old Man and the Sea bezogen: »If it is any use to know it, I always try to write on the principle of the iceberg. There is seven-eighths of it underwater for every part that shows. Anything you know you can eliminate and it only strengthens 26 | Ebd., 7. 27 | Hemingway, Ernest: Tod am Nachmittag, Hamburg: Rowohlt 1957 [1932], 163.

153

154

A NNE THURMANN -J AJES your iceberg. It is the part that doesn’t show. If a writer omits something because he does not know it then there is a hole in the story. The Old Man and the Sea could have been over a thousand pages long and had every character in the village in it and all the processes of how they made their living, were born, educated, bore children, et cetera. […] First I have tried to eliminate everything unnecessary to conveying experience to the reader so that after he or she has read something it will become a part of his or her experience and seem actually to have happened. This is very hard to do and I’ve worked at it very hard. […] All the stories I know from the fishing village I leave out. But the knowledge is what makes the underwater part of the iceberg.« 28

Reuterswärd hat mit Prix Nobel dieses bereits von Hemingway perfektionierte Weglassen auf die Spitze getrieben. Insofern ist Carlfriedrich Claus nur zuzustimmen, wenn er in seinem Brief schreibt, dass Prix Nobel eine besondere Interpretation von Hemingways Novelle ist und in seiner objektiven Interpretation einen entscheidenden Aspekt dieser Novelle darstellt.

PRIX N OBEL – E INE H OMMAGE Prix Nobel ist ein Werk mit verschiedenen Bedeutungsebenen, einer literarischen, künstlerischen, musikalischen und theoretischen. Sie bilden auf der einen Seite Meta-Ebenen des Verständnisses, da jede dieser Ebenen auch für sich alleine funktioniert, und entsprechen auf der anderen Seite dem Aspekt des »Intermedia«, den Dick Higgins 1966 für Werke dieser Art prägte. Dick Higgins’ Aufsatz Intermedia beginnt mit dem viel zitierten Satz: »Much of the best works being produced today seems to fall between media«, wobei er Kunst, Musik und Literatur als »media« bezeichnet, in deren untrennbarer Schnittmenge Werke wie Prix Nobel entstehen.29 Prix Nobel ist ein literarisch basiertes Künstlerbuch und konzeptionelles Kunstwerk zugleich. Die Reduzierung des Textes auf sein Gerüst aus Satzzeichen unter völliger Aufgabe seines Inhalts, seiner Narration, seiner Bedeutung lässt seine Materialität und seine Struktur erkennen, die eine neue, eigene Bedeutung generiert. Die Struktur wird zu einem Bild, zu einem Künstlerbuch, zu einer Partitur, zu einem Kunstwerk – ad absolutum. Dafür ist die Appropriation nur das Mittel zum Zweck. So wird Prix Nobel zur Hommage an das absolute Werk, für das stellvertretend der Nobelpreis steht.

28 | Hemingway, Ernest: »The Art of Fiction No. 21. Interviewed by George Plimpton«, in: Paris Review 18 (1958), 60-89, online unter http://www.theparisreview.org/interviews/4825/the-art-of-fictionno-21-ernest-hemingway vom 2.12.2011. Ich danke Annette Gilbert für diesen Hinweis. 29 | Higgins, Dick: »Intermedia«, in: something else Newsletter 1 (1966), 1-2,1.

Sui dissimile Dieter Roths Poetik der Expropriation Stefan Ripplinger

Zweierlei Schriftsteller: Einer schreibt sein Buch, als ob vor ihm noch nie ein Buch geschrieben worden wäre. Der andere schreibt das seine, wohl wissend, dass es unzählige andere Bücher vor ihm, neben ihm, nach ihm gegeben hat, gibt, geben wird. Dieses Wissen scheint ihn zu quälen. Dort, wo er sein Bäumchen pflanzen will, erheben sich bereits endlose Urwälder. Er greift deshalb zur Axt. Der Mann mit der Axt heißt Dieter Roth (1930–1998). Das Werk dieses Schriftstellers und Künstlers lässt sich – um selbst zur Axt zu greifen – bündig in zwei Hälften spalten: Ab der Biennale 1982, bei der er den schweizerischen Pavillon mit einer monumentalen autobiografischen Arbeit bespielt, bis zum Ende seines Lebens beschäftigt er sich in seinem Werk fast nur noch mit sich selbst und dem, was ihm gerade widerfährt. Aus der Zeit vor 1982, vor allem aber in seinem Frühwerk, liegen eine Fülle von Übernahmen und Bearbeitungen der Produkte anderer vor. In den meisten Fällen handelt es sich bei diesen Übernahmen um Appropriationen1. Einige Beispiele: BOK 3a, BOK 3b, bok 3c, BOK 3d2 (alle Reykjavík 1961) enthalten ausschließlich unveränderte, lediglich beschnittene Blätter aus isländischen Tageszeitungen, aus Comics, aus Offsetvorlagen und Kindermalbüchern. Kölner Divisionen3 versammelt Kölner Tageszeitungen entnommene Seiten, in SCHNEE-

1 | Was diesen Begriff betrifft, folge ich Douglas Crimp, der von »Appropriation« nur dann sprechen will, wenn ein Objekt nicht bloß paraphrasiert oder nachgeahmt, sondern in seiner ganzen Materialität angeeignet wird. Vgl. Crimp, Douglas: »Appropriating Appropriation« [1982], in: Evans, David (Hg.): Appropriation, Whitehead Gallery/MIT Press: London/Cambridge 2009, 189-193. 2 | Vgl. Rot, Dieter: bücher und grafik (1. teil) aus den jahren 1947 bis 1971. books and graphics (part 1) from 1947 until 1971, Gesammelte Werke, Bd. 20, Stuttgart/London/Reykjavík: Mayer 1972, o. S.; »bók«, isländisch für »Buch«. 3 | Rot, Diter: kölner divisionen, Köln: Galerie der Spiegel 1965.

156

STEFAN R IPPLINGER

WITTCHEN4 werden solche Seiten in kleine Kuben geschnitten. Bücher sind diese in Auflagen von meist unter 100 Exemplaren erschienenen Werke für Roth deshalb, weil ihre Blätter »gruppenweise bzw als gesellschaft seinesgleichen aufgeschichtet mit seinesgleichen verklebt und vernäht [herumstehen]«5. D.h. Bücher sind für ihn in erster Linie skulpturale Objekte und nur in zweiter lesbar (und dies auch nicht immer). Deshalb begreift er seine bekanntesten Appropriationen, die zwischen 1961 und 1970 entstehenden Literaturwürste, als Bücher. Der Künstler schreddert ihm verhasste oder ihn bedrückende Publikationen6, weicht sie ein, versetzt sie mit Fett und Gewürzen und stopft sie dann in Därme. Diese Würste werden mit Etiketten versehen und aufgehängt. So verwurstet werden Hundejahre und Die Blechtrommel von Günter Grass, Die Rote von Alfred Andersch, Halbzeit von Martin Walser, Hegels Werke in 20 Bänden und verschiedene Zeitungen und Illustrierte. Diese künstlerischen Taten oder Untaten werfen mehrere Fragen auf: Wenn sich einer Platz für sein eigenes Produkt schaffen will, weshalb vervielfältigt er dann die Produkte der anderen? Sind diese Buchobjekte, auch wenn sie aus anderen Büchern hervorgegangen sind, selbst Bücher? Können sie, obwohl ihr aneignender Zugriff unbestreitbar ist, als Teil einer Aneignungskunst angesehen werden, wie sie etwa zur selben Zeit von Elaine Sturtevant praktiziert worden ist? Sind sie gar Vorläufer der Appropriation Art? Gehört Roth mit diesen stark visuellen und haptischen Arbeiten zur Konkreten oder zu einer Visuellen Poesie? Nimmt er das Conceptual Writing vorweg? Die letzten vier Fragen sind leicht zu beantworten, und zwar alle mit »Nein!« Der Unterschied liegt weniger im Formalen als im Ästhetischen oder Poetologischen. Die Künstler der Appropriation Art oder der Konzeptkunst, die Schriftsteller der Konkreten Poesie und des Conceptual Writing halten Originalwerk und Autorensubjekt für überholt und ersetzen das erste mit Form, das zweite mit Kontext. Ihre Haltung ist intellektuell, distanziert, puristisch, antiromantisch, sie meiden den persönlichen Ausdruck, ja stellen sich Against Expression, um den Titel einer wichtigen Anthologie anzuführen. »This kind of writing [...] is purposeless.«7 Roths Schreiben und Büchermachen ist aber, bereits in seinen frühesten, vielen als »konkret« geltenden Gedichten8, weder »purposeless« noch intellektuell, distanziert oder puristisch, es ist, allein schon seiner düsteren Sinnlichkeit und dumpfen 4 | Rot, Diter: SCHNEEWITTCHEN, Köln: Diter Rot/Galerie der Spiegel 1965. 5 | Rot, Dieter: »vorwort«, in: Ders.: bücher, o. S. 6 | Er nennt die verwursteten Autoren »Angefeindete. Oder Gefürchtete. Verachtetete und Gehaßte. Beneidete.« Lebeer-Hossmann, Irmelin: [Interview mit Dieter Roth, 1976 und 1979], in: Wien, Barbara (Hg.): Dieter Roth. Gesammelte Interviews, London: Mayer 2002, 9-142, 43. 7 | Goldsmith, Kenneth: »Paragraphs on Conceptual Writing«, in: Open Letter 7 (2005), 108-111, 108. 8 | Dass selbst das »konkret« wirkende dichterische Frühwerk Roths im entschiedenen Widerspruch zu den objektivistischen Idealen der Konkreten Poesie steht, begründe ich in: »Scheisse, Pudding und

S UI DISSIMILE

Stofflichkeit wegen, keineswegs antiromantisch9, es führt Ideen nicht mechanisch aus10, es will sich überdies nicht von »caprice, taste and other whimsies«11 reinigen, sondern lässt sich im Gegenteil von »caprice, taste and other whimsies« regieren, sein Charakter ist nicht nur »whimsical«12, sondern »pathetic«, seine Interessen sind nicht konzeptueller, sondern philosophischer Natur. Roth, der in seinem theoretischen Hauptwerk Mundunculum (1967) eine Privatsprache entwickeln will, geht es um das Eigene. Während die Appropriation Art das proprius in Frage stellt, fragt Roth, der »Schweizer im inneren Ausland«13, gerade nach ihm. Anders wäre seine immer stärkere Hinwendung zum Autobiografischen gar nicht zu erklären. Doch das Eigene erweist sich – aus noch zu erörternden Gründen – für ihn als unmöglich. Dass aber Appropriation Art, Konzeptkunst und -literatur a priori, Roth a posteriori dasselbe für unmöglich halten, macht sie noch nicht zu Bündnispartnern. Roths »SCHREIBEREI FUNKTIONIERT ALS STREIT«14 . Es ist ein Streit mit der Sprache, aber auch ein Wettstreit mit den anderen. Die Wiederholung von deren Werken bezeichnet bei ihm, anders als später in der Appropriation Art, nicht bloß eine Kontextverschiebung15, sondern eine Intervention, wenn nicht eine Auslöschung. Die Wiederholung streicht nicht nur aus und überschreibt – hierher gehören auch die faksimilierten und von Roth handschriftlich verbesserten Seiten aus der Germania des Tacitus oder aus Paare, Passanten von Botho Strauß16 –, sondern lässt zuvor lesbare Bücher zu unlesbaren Objekten werden. Die Werke der anderen verlieren ihr Bedrohliches dadurch, dass sie zu stummen Dingen erstarren. Zwar Zubehör«, in: Dieter Roth. Bücher + Editionen, Catalogue Raisonné, bearb. v. Dirk Dobke, Hamburg/ London: Dieter Roth Foundation, Mayer 2004, 127-143. 9 | »The danger is, I think, in making the physicality of the materials so important that it becomes the idea of the work (another kind of Romanticism).« Goldsmith: »Paragraphs«, 111. 10 | »The idea becomes a machine that makes the text.« Ebd. 11 | Ebd., 109. 12 | »And this is my wish, that I want to make this life appear in the whimsical halo, in a whimsical, tear-like halo.« Dieter Roth in: Roth, Dieter/Hamilton, Richard: »The Little World of Dieter Roth«, in: Wien: Interviews, 193-200, 197. 13 | Vgl. Rot, Diter: POETRIE 2. 301 kleine wolken in memoriam big J and big G. ein fingierter Bericht aus der inneren Fremde von D.R. dem Schweizer im inneren Ausland. 48 tiefliegende Wolken für Rudolf Rieser, Stuttgart: Mayer 1967. 14 | Roth, Dieter: Notizbuch 1990, o. S. [Eintragung vom 16.12.]. Ich zitiere nach dem Original. Es existiert von diesem Notizbuch auch ein Faksimile, Zürich: Hauser & Wirth 31991. 15 | »[A] work can never really be duplicated by formal facsimile.« Dworkin, Craig: »The Fate of Echo«, in: Ders./Goldsmith, Kenneth (Hgg.): Against Expression. An Anthology of Conceptual Writing, Evanston, Ill.: Northwestern University Press 2010, xxiii-liv, xxxviii. 16 | Vgl. Roth, Dieter: Kleinere Werke (3. Teil). Veröffentlichtes und bisher Unveröffentlichtes aus den Jahren 1972 bis 1980. Gesammelte Werke, Bd. 38, Stuttgart/London: Mayer 1980, o. S.

157

158

STEFAN R IPPLINGER

werden ihre Werke vervielfältigt, jedoch weder präsentiert noch zitiert, sondern entsemantisiert und am Ende makuliert. Derselbe Prozess vollzieht sich aber auch in Roths Selbst-Appropriationen. Er liegt also auch im Streit mit sich selbst. Typische Beispiele dafür sind die Scheisseund Tränen-Zyklen. Sie lassen überdies keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie Bücher sind. Denn sie sind gedruckt und erscheinen in teilweise hohen Auflagen. Mehr noch, ihr extremer Gebrauch von paratextuellen Mitteln17 macht klar, dass sie keine isolierten Exponate, sondern Teil der Literatur sein wollen, wenn sie auch ihr Part maudite, ihre »Scheiße«, sind. In der Reihe, die diesen Titel trägt, gerinnt – wie später in der Tränen-Reihe – eigener, diffuser, intimer, schlüpfriger Stoff. Zugleich vollzieht sich eine systematische Selbstbearbeitung und -entwertung. Das lässt sich bereits an der Titelfolge erkennen: DIE GESAMTE SCHEISSE Ļ Die DIE GESAMTE SCHEISSE Ļ die Die DIE GESAMTE SCHEISSE 18

Ein neuer Titel rahmt einen vorangegangenen, und so immer weiter. Damit ist das, was sich in diesen Bänden ereignet, bereits angekündigt. Der erste Band enthält noch eine relativ konventionelle Sammlung von Gedichten. Der jeweils folgende erweitert das Vorangegangene nicht etwa nur mit neuen Gedichten, vielmehr wiederholt jeder die alten passagenweise. Zugleich werden die Gedichte, die teils im Faksimile wiederkehren, abgewandelt, mit anderen versetzt und vermischt, entstellt, geklittert, mit Zeichnungen angereichert, durchgepaust, durchgestrichen und überdeckt (Abb. 1).19 Die Gedichte, die am Anfang stehen, werden am Ende dieses Expropriationsprozesses zu unlesbarem Material, »printed matter«20, wenn auch nicht im Sinne des Konzeptualismus. Um auf die Frage zurückzukommen, ob die Literaturwürste 17 | Einige von Roths Essays bestehen fast ausschließlich aus Paratext. Ausführlich hierzu mein Aufsatz »Auch«, in: Ripplinger, Stefan: Auch. Aufsätze zur Literatur, Basel/Weil: Engeler 2006, 7-19. 18 | Eine genaue Editionsgeschichte findet sich in Bichler, Barbara: D/Schichtung oder Protokollierung des Entstehungsprozesses. Dieter Roths Scheisse-Bücher 1966-1975, Würzburg: Königshausen & Neumann (im Druck). Darin auch eine Bibliografie dieser Bände. 19 | Der Band Roth, Karl-Dietrich: Die die Die DIE verdammte GESAMTE KACKE, Berlin u.a.: Rainer/ Mayer 1975 z.B. enthält ausschließlich auf verschiedene Weise unkenntlich gemachte Kopien von Seiten früherer Bände, gedanklich nicht weit entfernt von Marcel Broodthaers’ Eingipsen seiner eigenen Gedichtbände oder seinem Un Coup de dés jamais n’abolira le hasard. Image, Galerie Wide White Space/ Galerie Michael Werner: Antwerpen/Köln 1969. 20 | Dworkin: »The Fate of Echo«, xxxvii.

S UI DISSIMILE

Abb. 1: Karl-Dietrich Roth: Die die Die DIE verdammte GESAMTE KACKE, Berlin u.a.: Rainer/Mayer 1975, 42.

Bücher sind: Sie sind es, wenn nicht das Buch gelesen, sondern das Buchwerden in den Blick genommen wird. Aus Geschriebenem wird Gegenstand. Ganz ähnlich geht es mit den Tränen. Diesen Titel gibt Roth einer Folge von poetischen Propositionen, die zuerst als Kleinanzeigen in einer Zeitung geschaltet worden sind. Die Propositionen werden mit Zeichnungen, Essays, Fragmenten überwuchert. Ältere Versionen kehren in Kopien wieder. Der fünfte und letzte Band der Tränen-Reihe besteht zum großen Teil aus Faksimiles verschiedener Werke Roths, die teils erheblich bearbeitet und vielfach unkenntlich gemacht worden sind.21 Einer harschen Bearbeitung unterwirft er auch Texte, die noch wesentlich intimer sind als seine Gedichte und seine Tränen-Sätze, nämlich seine Tagebuchnotizen und den freimütigen Lebenslauf von 46 Jahren (1976)22 . Die Tagebuchnotizen sind in die blaue flut (1967) mit den Vordrucken des benutzten Taschenkalenders 21 | Roth, Dieter: Unterm Plûndér=baum (died Sonetten 195?-1979) = Das WEINEN no. 2 = das Wähnen, Bd. 2B (Tränenmeer 5), Stuttgart: Mayer 1979. Ausführlich zu diesem Zyklus mein Aufsatz »Dieter Roths Tränenwerk«, in: Paravicini-Tönz, Flurina und Gianni (Hgg.): Dieter Roth. Tränen in Luzern / Tears in Lucerne, Luzern: Edizioni Periferia 2010, 13-36. 22 | Roth, Dieter: »Ein Lebenslauf von 46 Jahren«, in: Bestandskatalog Sammlung Cremer, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte/Landschaftsverband Westfalen-Lippe: Münster 1976, 107-109.

159

160

STEFAN R IPPLINGER

oder mit Marginalien vermischt, Satzzeichen werden ausgeschrieben (»komma«, »punkt«, »doppelpunkt«), Zeilen ineinandergeschoben, Abschreibfehler eingefügt usw., sodass, was spontan war, abstrakt, neutral, aber auch schön wird.23 Noch wesentlich destruktiver fallen die Bearbeitungen im Lebenslauf aus, der etwa in der Fassung Lebenslauf mit 5C Jahren (1980) von Fehlern und Ergänzungen bizarr entstellt und mit Roths Oberflächenübersetzung eines isländischen Romans collagiert erscheint.24 So viele unterschiedliche Methoden Roth in seinen unzähligen Büchern auch anwendet – und es können hier bei weitem nicht alle erwähnt werden –, zeigt sich doch immer dieselbe Entwicklung, die auch vielen seiner Installationen innewohnt: Aus bedeutungsvollen, persönlichen Äußerungen wird mit Händen zu greifender, körperlicher, sinnlicher, jedoch blinder, blöder Stoff. Anders gesagt: Aus Leben wird Buch, aus Gedanke Wort, aus Wort »printed matter«, aus Qualität Quantität25, aus proprius improprius, aus möglicherweise Eigenem notwendig Abgetrenntes, Ausgesetztes. Er reinszeniert so, allerdings auf drastische Weise, die Erfahrung eines jeden Sprechers oder Schreibers. Was geäußert wird, muss äußerlich werden. Selbst Roths Expropriation von Werken anderer ist so gesehen nicht bloß Eroberung, sondern lässt sie den Weg alles Geschriebenen gehen. Die Expropriation des eigenen Werks aber spiegelt die Enteignung unteilbarer Empfindungen in der geteilten Sprache. Sie wirft die Frage auf, ob diese Empfindungen jemals so eigen gewesen sein können. In Roths Aneignungen wiederholt sich, dass er enteignet worden ist, dass wir enteignet werden. Er wiederholt diese Enteignung an andern und an sich selbst. Was er sich aneignet, scheidet er im selben Zug aus. Auch wenn die Literaturwürste, die Sammlung Flacher Abfall (1975-1992), die Tischruine (1970-1998) oder die Buchserien nicht oder nicht so schnell verfallen wie seine Arbeiten mit Schokolade, Käse und anderen verweslichen Stoffen, sind diese Akkumulationen von einer künstlerischen Spurensicherung oder von einer dokumentarischen Kunst doch weit entfernt.26 Sie sollen weder überdauern noch Zeugnis ablegen. Was hier angeeignet, 23 | Roth, Dieter: die blaue flut, Stuttgart: Mayer 1967. Ausführlich hierzu mein Aufsatz »Krise in Permanenz. Dieter Roths Tagebücher«, in: Dobke, Dirk/Kunz, Stephan (Hgg.): Dieter Roth – Selbste, Köln: Walther König 2011, 21-27. 24 | Roth, D.: Ein Lebenslauf von 5C Jahren, Basel: [Selbstverlag] 21990. Eine Strukturanalyse dieses Texts findet sich in Schwarz, Dieter: Auf der Bogen Bahn. Studien zum literarischen Werk von Dieter Roth, Zürich: Seedorn 1981, 83-107. 25 | »[Instead] of showing quality (surprising quality) we show quantity (surprising quantity)«. Rot, Diter: daily mirror book, Reykjavík: forlag ed 1961, o. S., hier zit. n. Vischer, Theodora/Walter, Bernadette (Hgg.): Roth Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive, Baden: Müller 2003, 159. 26 | Und das gilt wohl auch schon für frühe Buchprojekte wie das sog. Copley Book, Chicago: William and Noma Copley Foundation 1965 [erschienen 1967] und Snow, [Berlin]: Edition et im Verlag Chr. Grützmacher 1966, die zufällig Gefundenes sammeln und verarbeiten.

S UI DISSIMILE

zusammengetragen und aufgetürmt worden ist, ist bloß Masse. Ihre Monumentalität erstickt alle Unterschiede. Fremde Produkte, eigene Produkte, alles wird Abfall. Auch das Eigene ist dazu bestimmt, abzufallen, fremd zu werden. Ja, im Augenblick dieses Abfallens und dieser Entfremdung fragt sich, ob das nun Sekretierte einem jemals gehört hat. Im Mundunculum formuliert Roth, der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremdem bestehe »WAHRSCHEINLICH NNUURR IN DER SPRACHE«. Die sprachlich introjizierte Fremdheit erstrecke sich bis dahin, »WO DIE WAHRNEHMUNGEN DES WESENS [...] AUFHÖREN«27, weil selbst Wahrnehmungen sprachlich strukturiert und deformiert sind.28 Unter dem alles Menschliche erfassenden Regime der Sprache gibt es gar nichts Eigenes. Immerhin lässt Sprache diesen illusionären Gegensatz zu. Sie gestattet den Wunsch nach dem Eigenen, der Roths Denken und Schaffen motiviert.29 Sie unterscheidet »mein« und »dein«, aber das Wort »mein« auszusprechen, heißt in gewisser Weise bereits, auf das Meinige zu verzichten. Dass die Sprache das Organ des Gesellschaftlichen, Unpersönlichen, Allgemeinen, Ganzen sei, ist kein neuer Gedanke. Die Sprachphilosophie Fritz Mauthners dürfte Roth über die Vermittlung seines Freundes Oswald Wiener bekannt gewesen sein. »Ein Kunstwerk kann die Sprache schon darum nicht sein, weil sie nicht die Schöpfung eines Einzigen ist. [...] Die Sprache aus dem gemeinen Mitteilungstrieb ist schlechte Fabrikarbeit, zusammengestoppelt von Milliarden von Tagelöhnern. [...] Die Sprache ist Gemeineigentum. Alles gehört allen, alle baden darin, alle saufen es, und alle geben es von sich.« 30

Dieser hier von Mauthner bloß ästhetisch-elitär formulierte Sprachekel erhält bei Roth existenzielle Dringlichkeit. Im Medium Sprache kann er sein Eigenes nicht ausdrücken, aber er will auf diesen Ausdruck auch nicht verzichten. Deshalb kann 27 | Roth, Dieter: MUNDUNCULUM. Ein tentatives Logico-Poeticum, dargestellt wie Plan und Programm oder Traum zu einem provisorischen Mytherbarium für Visionspflanzen, Band 1: Das rot’sche VIDEUM, Köln: DuMont Schauberg 1967, 33 [Herv. i. O.]. Für den Hinweis auf diese Passage danke ich Benjamin Meyer-Krahmer. 28 | »Das Hören ist nur ein Reden.« Ebd., 325 [Herv. i. O.]. 29 | Er trennt zwischen Eigenem und Fremden noch in Details und unterscheidet beispielsweise »Kataloge, selbstgemacht« von »Katalogen mit Anderen, selbstgemacht«, »Katalogen, nicht selbstgemacht« und »Katalogen mit Anderen, nicht selbstgemacht« usw. Vgl. Roth, Dieter: 3 vorläufige Listen. Band 3 der Bibliothek des Angefangenen, zusammengestellt für die Ausstellung Dieter Roth, Publiziertes und Unpubliziertes, im Portikus Frankfurt am Main (vom 10. Oktober bis in den Dezember hinein), Basel: Roth 1987. 30 | Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie [1906]. Frankfurt/M./Berlin/Wien: Ullstein 1982, 26f.

161

162

STEFAN R IPPLINGER

er sich mit der vornehmen Objektivität, die die Konzeptkünstler verlangen, nicht bescheiden. In ihr muss er das Gesetz der Sprache wiedererkennen. Sich der Objektivität zu beugen, wäre ihm als ein Kotau vor der Sprache erschienen, denn »da tritt er daher, der Untergang, in Muttersprache und Vaterzunge verkleidet«31. Aus diesem Grund gestaltet sich die von der Sprache auferlegte Selbstentfremdung und das dem Schriftsteller abverlangte Désœuvrement bei ihm so dramatisch. Seine Selbst-Appropriationen tragen seine Ausdrucksversuche zu Grabe (was allerdings sehr ausdrucksvoll ist), sie tragen auch ihn selbst zu Grabe. Das sich in seinen Werken wiederholende Drama ist das der Aussetzung und Zersetzung des Selbst, der Auflösung von Körper- und Identitätsgrenzen und der psychischen Integrität.32 So erhält die vergebliche Suche nach dem proprius einen tragischen Zug. Das sich selbst suchende Subjekt muss sich verfehlen. Für Schelling ist dies »der Grundwiderspruch«, das »Unglück in allem Seyn«. Entweder »läßt [sich das Subjekt], so ist es als nichts, oder es zieht sich selbst an, so ist es ein anderes und sich selbst Ungleiches. [...] Denn entweder bleibt es stehen (bleibt, wie es ist, also reines Subjekt), so ist kein Leben, und es selbst ist als nichts, oder es will sich selbst, so wird es ein anderes, sich selbst Ungleiches, sui dissimile.« 33

Das Subjekt besitzt sich nicht und kann, wenn es sich besitzen will, nur dessen habhaft werden, was es sich »anzieht«, was es appropriiert. Es verliert sein proprius in dem Moment, in dem es sein proprius ausspricht. Wer eigen sein will, enteignet sich. Das ist die Wahrheit der rothschen Selbst-Expropriation. Es ist allerdings eine ganz allgemeine Wahrheit und keineswegs das Privatproblem eines Künstlers mit Ich-Störung. Wenn Roth ein Problem hat, dann, weil er eine Frage stellt, von der konzeptuelle Kunst und Literatur ebenso wenig hören wollen wie die analytische Philosophie, die Systemtheorie, die Pragmatik und andere auf Letztbegründungen verzichtende und auf den laufenden Betrieb eingestellte Kunst- und Denktraditionen der Gegenwart. Aber weshalb die meisten Zeitgenossen an dem, was sie für ihr Eigen halten, nicht irre werden, ist viel schwerer zu erklären als der Umstand, dass sich Dieter Roth darüber nicht beruhigen konnte, sich fortwährend zu verlieren.

31 | Roth: Lebenslauf, 17. 32 | Vgl. hierzu Spiekermann, Geraldine: »Taktiken der männlichen Scham. Über Dieter Roths Tränen«, in: Kultur & Geschlecht 1 (2007), http://www.ruhr-uni-bochum.de/genderstudies/kulturundge schlecht/pdf/Spiekermann_Beitrag.pdf vom 7.12.2011. 33 | Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: »Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen (Aus dem handschriftlichen Nachlaß)«, in: Ders.: Sämmtliche Werke, hg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg: Cotta 1861, 1. Abth., 10. Bd., 1-200, 101f. [Herv. i. O].

Marcel Broodthaers’ Praxis des Kopierens Gabriele Mackert

In der Umbruchzeit der 1960er Jahre entwickelten sich stark referentielle Kommunikationscodes in der zeitgenössischen Kunst. Sie waren von fortwährenden Anspielungen, Zitaten und Bezugnahmen auf (kunst-)historische Vorläufer sowie einem weiten Spektrum theoretischer Schriften geprägt. Marcel Broodthaers muss als einer der paradigmatischen Vertreter dieser Kunst des Verweisens angesehen werden. Vor allem dies begründet seinen Ruf als Künstler-Künstler und Kunstpoet. Broodthaers’ Heimat ist Belgien. Ein kleines, sprachlich dreigeteiltes Land mit peripherer Lage, traditionell ein Ort für regionale Verlage und die Publikation der ›kleinen‹ Gattungen – allen voran religiöse Literatur (vor allem im 19. Jahrhundert), Comics (im 20. Jahrhundert) und natürlich Poesie. Belgien etablierte sich auf dem Feld der gefälschten Veröffentlichungen1, die zwischen 1830 und 1850 ihren Höchststand erreichten, und erlangte so eine herausragende Grafik-Infrastruktur und eine hohe Reputation für seine Reproduktionstechniken. Der poetische Geist Belgiens durchdringt, in einer engen Zusammenarbeit von Autoren, Zeichnern, Fotografen, Setzern und Verlagen, nicht nur Texte, sondern auch und vor allem Bilder. Das Schriftliche und das Visuelle werden hier mehr als andernorts als Gesamtheit aufgefasst. Hinzu kommen ein ausgeprägter Sinn für Farce und Selbstironie und eine Leichtigkeit, mit der sich Legitimes und Populärkultur, Kunst und Kommerz, Innovation und Stereotypen mischen. Broodthaers’ pasticheartige Stilvermischung propagiert einen ebensolchen, auch spielerisch-ironischen Umgang mit Geschichte und Kultur. Nach dem Ende der Vorstellung der selbstgenügsamen Präsenz des autonomen Kunstwerks unternahmen avancierte künstlerische Praktiken immer auch eine (kritische) Reflexion auf ihre historischen Voraussetzungen und Vernetzungen. Bei Broodthaers mutierte diese Technik der Bezugnahme selbst zum Thema und form-

1 | Vgl. Gevaert, Yves: »Pauvre Belgique: ›An Asterisk in History‹«, in: Buchloh, Benjamin H. D. (Hg.): Broodthaers. Writings, Interviews, Photographs, Cambridge, Mass./London: MIT Press 1988, 183-194.

164

G ABRIELE M ACKERT Abb. 1 a+b: Marcel Broodthaers: Figure A, 1971, recto/verso, 22,2 x 29 cm, Sperrholz, aufgeklebte Ausschnitte auf schwarzem, oben perforiertem Karton. Belegexemplar Johannes Cladders, gezeichnet »M.B./71«.

gebenden Verfahren der Produktion.2 Ja, man kann sagen, dass bei ihm das Verfahren den Inhalt fast dominiert. Er lanciert sein Verfahren als poetisches: »Ich habe den Text von La Fontaine genommen und ich habe ihn in das transformiert, was ich eine Dichtung (poésie) nenne«3. Auf der Rückseite eines kleinen Bildes Figure A (1971) (Abb. 1 a+b) vermerkt Broodthaers handschriftlich deutsch u.a.: »er [Broodthaers] macht den Anteil anderer zu seinem. Er steckt alles in einen Topf und weckt den Zweifel als Antwort. Eine Enzyklopädie mit Abb. (Fig.) als ? ? . / Wechselspiel, Verkehrung, Antithese, Paraphrase. Damit lassen sich die Grundzüge im Schaffen von Broodthaers kennzeichnen. Es sind immer Antworten. Auf Schwitters, La Fontaine, Magritte, das Museum, sich selbst, einen Gegenstand./…………/M.B. 71« 4

2 | Gilles Deleuze beanspruchte für die Kunst: »Es ist vielleicht der höchste Gegenstand der Kunst, all diese Wiederholungen mit ihrer wesentlichen und rhythmischen Differenz, ihrer wechselseitigen Verschiebung und Verkleidung, ihrer Divergenz und ihrer Dezentrierung gleichzeitig in Bewegung zu setzen, sie ineinander zu verschränken und sie, von der einen zur anderen, in Illusionen zu hüllen, deren ›Effekt‹ sich von Fall zu Fall ändert. Die Kunst ahmt nicht nach, ahmt aber auch vor allem deswegen nicht nach, weil sie wiederholt und aufgrund einer inneren Macht alle Wiederholungen wiederholt (die Nachahmung ist ein Abbild, die Kunst aber Trugbild, sie verkehrt die Abbilder in Trugbilder).« Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 1997, 364. 3 | Marcel Broodthaers in: »Interview de Marcel Broodthaers – notre invité au ›Hoef‹ le 30janvier«, in: Dickhoff, Wilfried (Hg.): Marcel Broodthaers. Interviews & Dialoge. 1946-1976, Köln: Kiepenheuer und Witsch 1994, 61-63, 62. 4 | Broodthaers auf der Rückseite von Figure A, 1971, 22,5 x 28 cm, Sperrholz, aufgeklebte Ausschnitte der gedruckten Buchstaben »f«, »i«, »g«, »A« auf schwarzem, oben perforiertem Karton. Vgl. Marcel Broodthaers, London: Tate Gallery Publications Departement 1980, 96 und 61.

M ARCEL B ROODTHAERS ’ P RAXIS DES K OPIERENS

Broodthaers’ Poetisierungsstrategien nehmen die Rhetorik der Formen, das Spiel der Konventionen, Erzählstrategien, Zeitlichkeit, das installative Feld, aber auch den Künstler als Geste und sein Rollenspiel in den Blick. Für Broodthaers, den Meister der Ephemera, gibt es nichts Nebensächliches. Denn gerade diese oft weniger beachteten Formen genossen seine volle Aufmerksamkeit. Broodthaers war visuell und grafisch außerordentlich talentiert. Dies zeigt sich an seinen Objekten, Filmen und Projektionen und nicht zuletzt an seinen Künstlerbüchern, sowie an der Art, Ausstellungen und ihre Publicity zu gestalten. Als Autodidakt scheint er in den künstlerischen Techniken im engeren Sinne nicht beschlagen oder auch handwerklich begabt gewesen zu sein. Deshalb musste, oder besser: konnte er sich von Bild- oder Skulpturnormen befreien, deshalb widmete er sich von Anfang an Themenfeldern wie Autorschaft, Authentizität, Rezeption, Anerkennung und Marktmechanismen. Im Laufe seines Werkes befragt Broodthaers so unterschiedliche Traditionen wie die des symbolistischen Gedichtes, der Visuellen Poesie, der Pop Art und der Konzeptkunst nach ihren Definitionen und Inhalten. Zentrale Themen sind dabei die Rolle, Funktion und Definition des Autors bzw. Künstlers sowie Parameter von Sinnproduktion. Dazu bedient er sich extensiv der Referenz: Zitate, Wiederholungen, Varianten, Pastiches, Collagen, Contrefaçons sind durchsetzt von Negationen, Oppositionen, vorgeblichen Analysen, Leerstellen, Behauptungen und vor allem Revisionen und Selbstkorrekturen: »Ich habe zu meinem Gebrauch Instrumente hergestellt, um die Mode in der Kunst zu begreifen, um ihr zu folgen und schließlich eine Definition von Mode zu suchen. Ich bin weder Maler noch Geiger«5. Seine Kunst über Kunst ist ein intellektuelles Spiel auf einer abstrakten Metaebene, die ohne die Kenntnis der Rahmungen und Kontexte sowie der zeitgenössischen Moden und Theorien hermetisch bleibt. Broodthaers’ Aneignungen bieten ihm einen selbstevidenten Rahmen. Die Anleihen aus der Literatur, Kultur oder Politik sind ihm nur Referenzsysteme. Deshalb darf man sie nur bedingt beim nominalen Wert nehmen. Viel eher sind sie Denkfiguren: »Seit ich angefangen habe, Kunst zu machen, ich meine, die die ich kopiert habe, ist mir die Ausnutzung der politischen Konsequenzen dieser Tätigkeit (deren Theorie außerhalb dieses Feldes markiert werden kann) zweideutig, suspekt und zu engelhaft vorgekommen. Wenn das künstlerische Produkt Ding des Dinges […] ist, wird die Theorie zum Privatbesitz.« 6

Broodthaers macht seine Faszination dafür, dass es nichts Voraussetzungsloses gibt, konsequent zum Gegenstand seiner Untersuchungen. Das historische Erbe ist ihm dabei keineswegs hinderliche Vorgabe, sondern Vorlage. Sein Ziel scheint dabei

5 | »›Dix mille francs de récompense‹. Text nach einem Interview von Irmeline Lebeer«, in: Dickhoff: Marcel Broodthaers. Interviews & Dialoge, 119-132, 124. 6 | Ebd., 126.

165

166

G ABRIELE M ACKERT Abb. 2+3: Marcel Broodthaers: Vingt ans après, Richard Lucas 1969. 2 Bde., 16,5 x 11 cm, mit roter Banderole, sign. v. Richard Lucas. Aufl. 75 numm. Expl.

nicht die Überwindung der Kontinuität oder eine absolute Autonomie und Kontingenz. Damit kultiviert Broodthaers den dialektischen Aus- und Einstieg aus der bzw. in die Tradition gleichermaßen. Aus dem Allgemeinplatz, dass das Individuum sich nicht zuletzt in Beziehung zur Tradition erst realisiert, und in einer Zeit der anhaltenden Dekonstruktion z.B. von Autorschaft und Narration erspürt Broodthaers die Öffnung und Dynamisierung der kommunikativen Prozesse und Vernetzungen von Kultur. Broodthaers’ zentrale Poetisierungsstrategie ist die Negation: »Es bleibt also noch zu erforschen, ob die Kunst anders und anderswo existiert als auf der Ebene

M ARCEL B ROODTHAERS ’ P RAXIS DES K OPIERENS

der Negation.«7 Diese Destruktion wurzelt zum einen in Stéphane Mallarmés Erkenntnis »je n’ai créé mon Œuvre que par élimination«8 und zum anderen in Paul Valérys Text »Le Beau est négatif«9. Dadurch werde der moderne Dichter vor allem Kritiker. Dieser Vorgabe zollt auch Mallarmés bekannter Satz: »La Destruction fut ma Béatrice«10 Tribut. In seiner Manifestation poétique betonte Broodthaers bereits Mitte der 1960er Jahre die Wichtigkeit des Stilmittels der Negation von Sprache für die Poesie – und für sich – bekenntnishaft: »Je partage cet avis que l’un des aspects de la poésie et non le moindre réside dans la négation de son langage. En poésie, il y a langage de cette négation. Aujourd’hui, cette tendance se manifeste dans tous les pays du monde et aboutit à un art comportement de la respiration.«11 Broodthaers’ künstlerische Arbeit ist von einer enormen formalen Vielfalt. In seinen Relektüren wird alles zitathaft benutzt. Der Referenzrahmen ist mit seinen Bezügen zu Kunst, Literatur und Theorie, zu High und Low Art breit gesteckt: Wenn er auf Wagner und Offenbach ebenso zurückgreift wie auf die populäre Vertonung Friedrich Silchers (1837) von Heinrich Heines Lied von der Lore-Ley (1824) oder Werbeslogans (»La Vache qui rie«, 1968), wenn er die visuellen Codes des kommerziellen Kinos ebenso auf den Prüfstein stellt wie die des populären Comics oder die Repräsentationspolitik des Galeriebetriebs, dann scheint zwischen Kritik und Hommage kaum mehr ein Unterschied zu bestehen. Broodthaers’ Ambivalenz lässt sich z.B. an seinem Umgang mit Alexandre Dumas’ Abenteuergeschichten erahnen. Denn mit seinem Künstlerbuch Vingt ans après (1969) greift er ausgerechnet auf den gleichnamigen Bestseller Dumas’ zurück – und zwar in der populären Gallimard-Taschenbuchausgabe von 1961 (Abb. 2 und 3). Dumas verfolgt darin die Geschichte der drei Musketiere weiter, deren Freundschaft gefährdet ist, da sie sich inzwischen verschiedenen politischen Lagern angeschlossen haben. Wie wir noch an Mallarmés Un coup de dés sehen werden, bleiben von den angeeigneten Texten bei ihm oft nur Bruchstücke oder sie werden vollständig getilgt. Dumas’ Text hingegen, der seine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte als Fortsetzungsroman in einer Zeitung begann, bleibt als Readymade sprachlich und ästhetisch vollständig erhalten. Broodthaers kennzeichnet seine Aneignung durch eine rote Banderole und persönliche Widmungen. Die Signatur übernimmt allerdings der Künstler und Galerist Richard Lucas, der auch als Verleger firmiert. Im Inneren erwartet den irritierten Leser auf dem Vorsatzblatt ein kurzer Dialog der beiden über Lesegewohnheiten, Vorlieben, Beschäftigungen, Einkünfte und Erfolg im Kunstbetrieb der letzten 20 7 | Ebd., 129. 8 | Mallarmé, Stéphane: Correspondance complète 1862-1871 suivi de Lettres sur la poésie 1872-1898, hg. v. Bertrand Marchal, Paris: Gallimard 1995, 348-349, 348f. [Herv. i. O.]. 9 | Valéry, Paul: »Le Beau est négatif«, in: Ders.: Œuvres I, Paris: Bibliothèque de la Pleiade 1957, 374. 10 | Mallarmé: Correspondance complète 1862-1871, 349. 11 | Broodthaers, Marcel: »Manifestation poétique«, in: Les Beaux-Arts, Nr. 1137 vom 6.10.1966, 17.

167

168

G ABRIELE M ACKERT

Jahre. Abschließend nennt Lucas Dumas als seinen Lieblingskünstler. Der Dialog ist ebenso interessant wie belanglos. Wichtiger scheint, dass diese Reprise eines überaus erfolgreichen pseudohistorischen Romans Broodthaers’ Beitrag für die Präsentation der Galerie New Smith auf der 2. Brüsseler Messe für Aktuelle Kunst darstellt und so die eigene intellektuelle Biografie fiktionierter Geschichte gegenüber-, aber auch auf eine Ebene mit dieser gestellt wird. Um Broodthaers’ Vorgehen zu charakterisieren entnehme ich der französischen Tradition den Begriff der ›redite‹. Dies vor allem, weil ich Broodthaers nicht in den Kontext der seit den 1980er Jahren rund um das Schlagwort der ›Appropriation Art‹ geführten Debatten stellen möchte, da diese der Appropriation als solcher tendenziell ein distanziertes, kritisches Verhältnis zu ihren Gegenständen zuschrieben oder die Metapher des Plagiats überhöhten. Literaturtheoretische Ansätze liefern hier präzisere Analysen. So hält etwa Jochen Mecke fest, dass relative Autonomie lediglich eine bestimmte Freiheit von unmittelbaren gesellschaftlichen Zwängen und Interessen sei, die es dem System der modernen Kunst und Literatur ermöglichten, nach eigenen Gesetzmäßigkeiten zu funktionieren: »[…] die Position eines Autors oder Werkes ergibt sich nun nicht mehr unmittelbar und unter direkter Bezugnahme auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern zunächst einmal aus dem Bezug zu anderen literarischen Werken.«12 Die Positionierung gegenüber anderen Werken erfolge gleichwohl unter dem Postulat der Innovation. An die Stelle des vergeblichen Versuchs, sich aus der Tradition herauszulösen, trete der bewusst inszenierte, inauthentische Umgang mit dieser Situation: Die Thematisierung der Einflüsse, die reflektierte Wiederverwendung sowie die Rückkopplung auf zeitgenössische (kulturell-)gesellschaftliche Kontexte. Der Begriff ›redite‹ erscheint im Zusammenhang Broodthaers’ aber vor allem deshalb adäquater, weil er zum einen in seinem Wortsinn auf den sprachlichen Kontext (»redire«, dt. wiederholen, noch einmal sagen) und zum anderen auf die französische Tradition der Motivvariation verweist. ›Redite‹ erscheint als stete Zitation, Auseinandersetzung mit und Neuordnung von bereits bestehendem Bild-, Text- und Formmaterial im Sinne eines Referenzialismus. Wie Broodthaers die Zurschaustellung von Bildern und Objekten wiederholt, zelebriert oder auch korrigiert, ja korrumpiert, ist er auch in seinen Texten nicht mehr vorrangig mit der Neuproduktion beschäftigt, sondern mit dem Akzentuieren und Neuverhandeln bereits existierender Sprachformen. Eine Strategie, die die Mutation der Formen und damit des Sinns als Feld von Möglichkeiten in den Mittelpunkt stellt. Michel de Certeau charakte-

12 | Mecke, Jochen: »Le degré moins deux de l’écriture. Zur postliterarischen Ästhetik des französischen Romans der Postmoderne«, in: Borsò, Vittoria/Goldammer, Björn (Hgg.): Die Moderne(n) der Jahrhundertwenden: Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Baden-Baden: Nomos-Verlag 2000, 402-438, 425.

M ARCEL B ROODTHAERS ’ P RAXIS DES K OPIERENS

risiert die Moderne in seiner Kunst des Handelns als schriftfixiert. Die kulturelle Praxis des Kopierens verfeinere durch ihre intensive Relektüre die Interpretation.13 Zudem gilt: ›Redite‹ ist eigentlich die unnötige Wiederholung oder auch das unangenehme Weitersagen, ja Ausplaudern oder (dumme) Nachsprechen. In »redire« steckt auch das Herumnörgeln, das Kritisieren und Beanstanden. Das Zertrümmern oder Vergessen einer Tradition, von der sich das Individuum unweigerlich definiert sieht, bleibt allerdings außen vor. Eine Tabula rasa existiert in Broodthaers’ Kosmos nicht. Im Gegenteil: Die Praxis der ›redite‹ ist eine fortwährende Dissemination, aber auch die letztlich normale Art der Lektüre, ein Hin- und Herwiegen der Assoziationen. Broodthaers ist in einer Kultur der Nichtaussage sozialisiert, des Textes »sans sens«, »sans sujet«, und gestaltet sein Verhältnis zum Angeeigneten oft vorsätzlich ambivalent. Im Text Art poétique gesteht er 1964: »Le goût du secret et la pratique de l’hermétisme, c’est tout un et pour moi, un jeu favori.«14 Broodthaers systematisiert eine Art Urszene des Kreativen im Spannungsfeld zwischen (souveräner) Gestaltungsmacht und Begrenzung der subjektiven Eigenständigkeit durch vorgefundenes Material. Deshalb präsentieren Broodthaers’ Aneignungen eine suchende Identifikation. Nicht außer Acht gelassen werden darf, dass das Einschreiben in ein Netzwerk, die Bezugnahme auf Literatur, Kunst oder Philosophie als legitimierende Struktur fungiert. Seine Poesie ist ein Aufgreifen, Zitieren, Kopieren – zu Beginn sind es für Broodthaers Werke anderer, später die Variation, Retrospektive, aber auch die Widerlegung des Eigenen. Exemplarisch können dafür auf der Textebene die Reprisen seiner eigenen Bücher und Kataloge wie Pense-Bête, Moules Œufs Frites, MTL sowie für die Variation der im Zusammenhang mit der Ausstellung im Museum of Modern Art Oxford neu aufgelegte Katalog der Berliner Nationalgalerie, 1975, stehen. Die abschließende Ausstellungsserie der Décors, von 1974 bis 1976, greift das Motiv der unausweichlichen Wiederholung innerhalb einer künstlerischen Retrospektive selbstkritisch auf: Das fast zeitgleiche Werk Ne dites pas que je ne l’ai pas dit – Le Perroquet (Palais des Beaux-Arts, Brüssel) und Dites partout que je l’ai dit (Kunstmuseum Basel) mit einem ausgestopften Papagei betont die Wiederkehr der Dinge auf fast pathologische Weise.15 Viele der Heroen Broodthaers’ entstammen wie Baudelaire16, Poe und Mallarmé dem 19. Jahrhundert. Gemeinsam ist ihnen, dass sie deutlich machen, dass die tradierten Konzepte von Poesie auf ihr Schaffen nicht mehr anzuwenden sind. Der Bedeutungsverlust von Wortinhalten, das wechselseitige Verweisen von Wort und Bild und die Thematisierung von Metakontexten, wie sie für Broodthaers relevant 13 | Vgl. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988. 14 | Broodthaers, Marcel: Pense-Bête, Brüssel: Eigenverlag 1963-1964, o. S. 15 | Vgl. Haidu, Rachel: The Absence of Work. Marcel Broodthaers, 1964-1976, New York/Cambridge, Mass.: MIT Press 2010. 16 | Vgl. in diesem Band u.a. Viola Hildebrand-Schat zu Broodthaers’ Künstlerbüchern Pauvre Belgique und Mademoise, 305f.

169

170

G ABRIELE M ACKERT

werden, sind im Werk dieser Dichter bereits angelegt. Solche ›Unbestimmtheiten‹ verbreiten sich in literarischen Texten seit dem 18. Jahrhundert rasant. In der Moderne öffnet sich diese literale Tradition zu einem liminalen Raum des Übergangs. Durch das experimentelle Ungleichgewicht des Verhältnisses von Form und Inhalt beginnt – bei Mallarmé – die Literatur, sich in schriftlichen Zwischenräumen, im dispersiven Spiel von Schrift und Schwelle, zu konstituieren. In dieser Kultur des Transitorischen, an ihren unscharfen Rändern, verschmelzen Grenzgänger – wie Broodthaers – systematisch Fremdes und Eigenes. Broodthaers variiert die Vorläufer, stellt sie, ihre historischen Indexe und veränderte Lesbarkeit in der Jetzt-Zeit erneut zur Diskussion. Er schrieb nicht über sie, sondern mit ihnen. Welchen Stellenwert diese literarische Geistesgeschichte für Broodthaers hat, wird nicht zuletzt an seiner Mallarmé-Verarbeitung deutlich: Schärften Barthes und Foucault die zeitgenössische Rezeption Mallarmés, indem sie seine Pionierleistung als Ursprung der modernen Literatur betonten17, proklamierte Broodthaers Mallarmé als den Ursprung der Kunst.18 Aus Mallarmé filtert Broodthaers exemplarisch die Einsicht der Rhetorizität aller Bedeutung: Rezeption als erkenntnistheoretisches Problem, als endlose Streuung und potentielle Entstehung von Bedeutung. Das Werk entwickelt sich wie ein verwachsendes Bedeutungsgeflecht, das schlechterdings nicht mehr isoliert werden Abb. 4: Marcel Broodthaers: Exposition littéraire autour de Mallarmé, Wide White Space Space Galerie, Antwerpen, 2.-20. Dezember 1969, Installationsansicht.

17 | Vgl. Barthes, Roland: »Der Tod des Autors« und Foucault, Michel: »Was ist ein Autor?«, in: Jannidis, Fotis et al. (Hgg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, 185-193 und 198-229. 18 | Vgl. Broodthaers’ Begleittext Ma Collection, 1971. Vgl. außerdem Marcel Broodthaers, Paris: Éditions du Jeu de Paume 1991, 160f. Ebenso: »Mallarmé est à la source de l’art contemporain […]. Il invente inconsciemment l’espace moderne«, Manuskript Broodthaers’ zur Ausstellung in der Galerie MTL, 13. März-10. April, Brüssel 1970, ebd., 139.

M ARCEL B ROODTHAERS ’ P RAXIS DES K OPIERENS

kann. Auch Mallarmé charakterisierte seine Intertextualität mit der ›redite‹: »[…] que, plus ou moins, tous les livres contiennent la fusion de quelques redites comptées. […] Les ›redites comptées‹ […] insistent ici sur une mise en fiction déjà acquise du référent poétique.«19 Die Art und Weise, wie bei Broodthaers die Arbeiten über sich hinausweisen und gleichzeitig ineinandergreifen, deutet auf eine geradezu kuratorische Praxis. So zeigt Broodthaers’ Mallarmé-Konstellation seiner Exposition littéraire autour de Mallarmé 1969 in Antwerpen Aluminiumplatten, die, den Textzeilen des Gedichtbandes Mallarmés entsprechend, geätzte schwarze Balken aufweisen, zwei Buchausgaben desselben Verfahrens mit dem für Les Éditions Gallimard typischen Coverlayout und dem folgerichtigen Untertitel Image sowie ein Kleidungsensemble aus drei Hemden, Kleiderbügeln sowie einem Anzug, des Weiteren vier seiner Plaques bzw. Poèmes industriels, die Magrittes Pfeife und Buchstaben des Alphabets zeigen (Abb. 4 und 5). Hinzu gesellte sich außerdem ein Tonband, auf dem Broodthaers nach einleitendem Gong Mallarmés Gedicht mehrmals in Variation vorliest, um sich nach dieser theatralisch anmutenden Performance in einer Geräuschkulisse zu verlieren. Broodthaers ließ den Boden der Galerie schwarz streichen, sorgte für einen Vortrag des damaligen Brüsseler Philosophieprofessors Pierre Verstraeten und versendete einen die Ausstellung begleitenden offenen Brief. Da Magnus Wieland und Eric Zboya in ihren Beiträgen in diesem Band eingehender Un coup de dés vorstellen, möchte ich hier auf einige andere rhetorische Elemente der Ausstellungsinstallation näher eingehen. Broodthaers bedient sich in den kurzen,

Abb. 5: Marcel Broodthaers: Exposition littéraire autour de Mallarmé, Wide White Space Space Galerie, Antwerpen, 2.-20. Dezember 1969, Einladungskarte. 19 | Mallarmé, Stéphane: »Crise de vers«, in: Ders.: Œuvres complètes, hg. v. Henri Mondor u. G. JeanAubry, Paris: Bibliothèque de la Pléiade 1945, 360-368, 367f.

171

172

G ABRIELE M ACKERT

ironisch-anspielungsreichen, fiktiven Sentenzen seiner Selbstaussagen ausgiebig der Randbereiche der Gattung Biografie. Mit Paul de Mans Formulierung, wonach »Autobiographie […] keine Gattung oder Textsorte [ist], sondern eine Lese- oder Verstehensfigur, die in gewissem Maße in allen Texten auftritt«20, verstehe ich die Texte und Werke Broodthaers’ als autobiografischen Gestus des Künstlers. Wesentlich für de Mans Verständnis von Autobiografie ist die rhetorische Figur der Prosopopöie (dt. etwa: sich eine Maske schaffen21) als selbstreferentielle Geste, die den Prozess der Personwerdung als einen Prozess der Figuration durch Mittel der Rhetorik Abb. 6: Marcel Broodthaers: Offener Brief »Antwerpen, 2 décembre ’69, Chers amis«, 27,4 x 21,5 cm.

20 | De Man, Paul: »Autobiographie als Maskenspiel«, in: Menke, Christoph (Hg.): Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, 131-146, 134. 21 | »Prosopon« bezeichnet in einer frühen Bedeutung »Gesicht« und später auch das »künstliche Gesicht«, das sich der Mensch durch das Aufsetzen einer Maske selbst verleiht. De Man bezieht sich dabei auf die Etymologie des griechischen Ausdrucks »prosôpopoiia« (»prosôpon« = »Maske, Person, Rolle« und »poiein« = »schaffen, machen, verfertigen«).

M ARCEL B ROODTHAERS ’ P RAXIS DES K OPIERENS

beschreibt. In seiner Exposition littéraire autour de Mallarmé findet sie sich explizit im begleitenden offenen Brief (Abb. 6). So verknüpft der offene Brief Broodthaers’ Auseinandersetzung mit einem historischen Moment: Broodthaers berichtet darin, irgendwann in den späten 1940er Jahren von René Magritte ein Buch mit der Aufgabe überreicht bekommen zu haben, sich mit diesem auseinanderzusetzen. Es handelt sich um eines der bis dato enigmatischsten Werke der Weltliteratur und zugleich um eines der ersten der entstehenden Gattung Künstlerbücher: Stéphane Mallarmés Un coup de dés. Der Bohemien Broodthaers lässt sich mit seiner Mallarmé-Interpretation über 20 Jahre Zeit. Im Dezember 1969, zwei Jahre nach Magrittes Tod, ist es dann so weit, und Broodthaers präsentiert die Ergebnisse seines anhaltenden Nachdenkens über Mallarmé. Selbst als Erscheinung der belgischen Kunstszene etabliert, widmet er seine dritte Einzelausstellung in seiner Antwerpener Galerie ganz dem französischen Symbolisten – und der eigenen Vergangenheitsbewältigung: »The poem obsessed me for 20-25 years, and now that Magritte is dead, to liberate me at least partially I believed it necessary … to redo the roll of the dice on the notion of the image … my aim is to change the signs for the reading of a poem … to show the extent to which the word is carried by the form.« 22

Die Verabschiedung des Gedichts proklamiert er in diesem offenen Brief zudem explizit und geradezu theatralisch, als würde eine Epoche, eine Generation oder noch mehr eine Geisteshaltung schwinden: »Adieu à tous, hommes de lettres décédés. Artistes morts.«23 1969 hatte Broodthaers bereits Marcel Lecomte und vor allem René Magritte in seinen Werken Andachtsräume gewidmet oder Reverenz erwiesen. 1967 hatte er La Fontaines Fabel Le corbeau et le renard, die wohl jedes französische Schulkind kennt, in einem Werkkomplex aus Film, Edition, Fotografie zerlegt. Und er präsentierte sich in dieser Ausstellung zudem selbst als (Ab-)Schreibender in einer paradoxen fotografischen Mise en abyme. Die Kunst der Ausstellung hatte Broodthaers in seinen thematischen Installationen rund um sein »Musée d’Art Moderne. Département des Aigles« mit all ihren Ingredienzen dekliniert. Und nun also Mallarmé. Genau genommen eröffnet der Museumsdirektor des »Département des Aigles« (s)eine Exposition littéraire autour de Mallarmé. Welche Rolle also nimmt Broodthaers hier ein? Hat hier ein Kurator literarische Einflüsse und Einflussnahmen Mallarmés zusammengetragen? Wie vielleicht bei kaum einem anderen Künstler bilden bei Broodthaers Bild und Text eine Einheit. Seine Mallarmé-Rezeption stellt sich nicht nur der Herausfor22 | Broodthaers in einem uneditierten Videointerview von Georges Adé 1969, zit. n. Royoux, JeanChristophe: »Projet pour un texte: Das kinematographische Modell im Werk von Marcel Broodthaers«, in: Marcel Broodthaers. Cinéma, Kat. Fundació Antoni Tàpies, Barcelona 1997, 297-310, 306. 23 | Broodthaers, Marcel: Offener Brief, Antwerpen vom 2.12.1969.

173

174

G ABRIELE M ACKERT

derung, dass ein Text Bezeichnungen, ein Bild aber Formen präsentiert. Im Gegenteil: Broodthaers’ Un coup de dés pointiert die Differenz zwischen Bild und Text eigentlich eben gar zu offensichtlich, um nur darüber eine Aussage zu treffen. Der Textseite Mallarmés, die Bedeutungsmöglichkeiten nahe legt, stellt Broodthaers eine Bildversion gegenüber, in der alle Wörter getilgt sind. Aber dies ist nicht nur der Primat der Form gegenüber dem Inhalt, sondern auch Form als Inhalt. Broodthaers’ Tilgung der Schrift mit schwarzen Balken auf Aluminiumplatten sowie in den beiden Druckvarianten stellt eine simple und vielleicht die einzig konsequente Radikalisierung Mallarmés dar. Die dazu vergleichsweise romantisch erscheinende Lust der suchenden, assoziativen Lektüre hat das Werk damit komplett verloren. Die Balken ergeben in der Version der Aluminiumplatten, auch wenn sie in der Ausstellung an der Wand schräg liegend als fortlaufende Sequenz gleichzeitig sichtbar waren, wenig visuelle Reize. Und nur dem sehr aufmerksamen Kenner Mallarmés wird die Seitenverdrehung der Mittelseite aufgefallen sein. Manch einer mag sich über die erste leere Platte gewundert haben. Vielleicht erinnert sie an jenes Nichts, das Mallarmé als Ausgangspunkt des Schönen und Idealen propagierte und auf dessen Grundlage er seine »poésie pure« entwickelte, in der das Weiß der Seite mehr als nur Hintergrund ist. Andere mögen mit der leeren Broodthaers’schen Aluminiumplatte die leeren Seiten des Covers und des Titels assoziieren, also darin die Einbeziehung der Paratexte eines Buches sehen, die Mallarmé durch eine einbandlose Ausgabe eigentlich vermeiden wollte.24 Zuletzt noch vervollständigt Broodthaers’ expliziter Hinweis auf die Materialitäten der ersten Un coup de dés-Ausgabe bei Gallimard von 1914 den Eindruck, dass das, was der typografisch versierte und bibliophile Künstler hier in den Mittelpunkt rückt, nicht nur die Auslöschung der Sprachinformation mittels schwarzer Balken ist, sondern die Gestaltung des Buches als Gesamtidee. Broodthaers führt nicht Mallarmés Textdiskurs rund um die Motive des Meeres, samt Schiffbruch und Sterne, oder die Beschwörung des weißen Blattes fort, sondern er betont dessen Eigenart, seine Bücher als Objekte zu begreifen und sie in ihrer Gestaltung bis hin zur Drucklegung, von der Schrifttype über die Seitengröße und Papierqualität bis hin zur Bindung, detailliert festzulegen und das Augenmerk auf das eigentlich verlegerische Beiwerk der Seitenverhältnisse, Proportionen, Materialitäten zu lenken: eben konsequent Form als Inhalt. Broodthaers variiert in seinem offenen Brief Mallarmés oft zitierte Schlusssentenz aus Un coup de dés: »excepté peut-être une constellation«. Liest man Mallarmés mittelgroße Buchstaben als einen Satz, ergibt sich als eine Variante: »Rien n’aura eu lieu que le lieu excepté peut-être une constellation«. Bei Broodthaers wird daraus: »Nouveau! Nouveau? Peut-être. Excepté. Une constellation.« Es liegt nahe, »constel24 | Vgl. Arnar, Anna Sigrídur: »Stéphane Mallarmé über das demokratische Potential der Zeitungen im Fin de siècle«, in: Folie, Sabine (Hg.): Un coup de dés. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache, Wien/Köln: Walther König 2008, 14-25.

M ARCEL B ROODTHAERS ’ P RAXIS DES K OPIERENS

lation« auf die Zusammenstellung der Worte und die daraus resultierenden Inhalte zu beziehen. Denn auch Mallarmé intendiert seinen Würfelwurf als Mitteilung, deren Inhalt durch ihre spezifische Form transportiert werde. Broodthaers’ Wortumstellung verändert allerdings den Fokus der Konstellation. Wird angesichts der Reinterpretation und Wiederholung das Neue nicht als Kategorie in Gänze fraglich, so scheint ihr Neuigkeitswert erst im jeweils besonderen Kontext wahrnehmbar als Konstellation – z.B. als die tatsächliche Anordnung im Raum der Ausstellung: Broodthaers radikalisiert nicht nur die Idee des Transfers des Textes zum Bild, die Mallarmé intendierte. Er bietet in seiner Ausstellung eine Fülle von Varianten und trotz aller Sprachauslöschung eben auch den Text in verschiedenen Lektüren und Aggregatzuständen. Gerade dadurch nimmt er Mallarmés Ideen der Vermeidung einer Erzählung, der Zelebrierung der Bruchstelle auf. Broodthaers entwickelt wie stets ein Werk, das in seiner endlosen Kommentierung durch Wiederaufnahmen in (Raum-)Installationen Inhalte durch die Veränderung des Kontextes reaktiviert und befragt. Diese Mallarmé-Konstellation verdeutlicht sehr gut, was Broodthaers 1974 Irmeline Lebeer neben der Negation als zentraler Wurzel seines Werkes zu Protokoll gab: »Es bleibt die Kunst als Produktion.«25 Sven Lütticken konstatiert für die Innovationen zeitgenössischer Kunst, dass Narrative und Motive in den Hintergrund träten: »In der Kunst der 1960er und 1970er Jahre [fällt] weniger die Wiederaufnahme dieses oder jenes Motivs ins Gewicht, als die Transformation des Künstlers vom isolierten Produzenten zum allgegenwärtigen Performer – zum Selbstdarsteller, der die Rolle des Künstlers mehr oder weniger ernsthaft, mehr oder weniger reflexiv spielt.« 26

Die »gelebte Vita«27 sei zu einer weitaus strategischeren und dynamischeren Übung geworden, die tradierte Künstlermythen bewusst konsumiere: »Als das Ausleben eines typischen Schicksals durch den Künstler zur Wahlmöglichkeit unter mehreren verfügbaren Lebensstilen und öffentlichen Charakteren wurde, schwand die Bedeutung der narrativen Komponente in den von Kris und Kurz analysierten Künstlermythen. Sie wurden zu Konventionen, die von Künstlern eher konsumiert als gelebt wurden.« 28

Broodthaers’ historische Rückgriffe sichern ihm dabei einen klar(er)en Distinktionsgewinn. 25 | »›Dix mille francs de récompense‹«, 127. 26 | Lütticken, Sven: »Der Rebell als Konsument. Über Künstlermythen, romantisch und/oder zeitgenössisch«, in: Texte zur Kunst 65 (2007), 66-79, 69. 27 | Vgl. Kris, Ernst/Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch [1934], Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980. 28 | Lütticken: »Der Rebell als Konsument«, 69.

175

Innere Appropriationen Einige Loops von Rodney Graham und überhaupt Michael Glasmeier Die Hälfte des Denkens vergeht mit der Entdeckung, dass das Unähnliche ähnlich und das Ähnliche unähnlich ist. PAUL VALÉRY

Es ist mir eine Freude, dass das Thema der schöpferischen Fremdaneignung, der Appropriation, nun auch in einem literaturwissenschaftlichen Kontext behandelt wird, zumal ich selbst in meiner literarischen Lebensphase der 1970/80er Jahre Praktiker dieser Form von aneignender Textproduktion war.1 Als ich dann, um Geld für eine Kleinfamilie zu verdienen, in das Reich des kunsthistorischen Nachdenkens überwechselte, lernte ich 1999 anlässlich seiner Ausstellung in der Kunsthalle in Wien den kanadischen Künstler Rodney Graham endlich auch persönlich und sein Werk umso besser kennen. Er ist ein Meister der Aneignung, mit dem größten Vergnügen auch an dem, was wir Literatur nennen. Seine Appropriationen von literarischen und geistesgeschichtlichen Klassikern münden allerdings nicht in TextBild-Auseinandersetzungen, wie man es bei einem Künstler erwarten könnte, sondern auch in Bücher, die manchmal in besonderer Art durch einen singulierenden Schuber künstlerisch ›designt‹ werden. Doch betreibt dieser Mimetiker der Kunst seine Aneignungen auf allen Gebieten.2 Er ist ein Enzyklopädist der Mimesen der frühen Moderne – als Maler abstrakter Bilder, als Fluxus-Aktionist, als Filmheroe ebenso wie als Fotograf, Designer und Transformer minimalistischer und konzeptueller Kunstideen des 20. Jahrhunderts. Und darin ist er perfekt, sei es in der Auseinandersetzung mit Donald Judd, seinem Kollegen Jeff Wall oder auch als Musiker etwa einer überlieferten Rockmusik der 1970/80er Jahre. Seine Perfektion ergibt sich

1 | Vgl. Glasmeier, Michael: und zwischen dazwischen und dazwischen und … Poetische Hefte und Zyklen 1979–1987, hg. v. Jan-Frederik Bandel, Hamburg: Textem 2011. 2 | Zur Geisteswissenschaft der Mimesen vgl. das Themenheft Mimesen in: ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft 2 (2011).

178

M ICHAEL G LASMEIER

aus einer Mimese, in der die Aneignung und Transformation nicht allein als künstlerische Geste zum Ausdruck kommen, sondern seine ganze Person scheint sich ›performativ‹, wie wir heute sagen, mit zu verwandeln, was auch in seinen Filmen deutlich spürbar wird. 1999 zumindest erschien er mir als Regisseur, während ich bei meinem letzten Treffen 2010 in Hamburg eher einem ›painter‹ begegnete. Natürlich hat mich Graham als ›poet‹ besonders fasziniert. Dennoch möchte ich mich zunächst nicht mit seinen appropriierten Dichtungen auseinandersetzen, sondern ausgehend von einer musikalischen Arbeit des Künstlers den Begriff des Loops ins Zentrum meiner Überlegungen stellen. Mein Beitrag basiert auf dem Material, das ich 2002 zu diesem Thema veröffentlichte.3 Neuere Arbeiten Grahams habe ich nicht eingearbeitet, aber ich denke, dass seine Appropriationsstrategien – auch wenn dieses spezifische Wort im Folgenden selten vorkommt – gerade am Beispiel des Loops deutlich werden.

PARSIFAL Im Sommer 2000 fand im Berliner Hamburger Bahnhof die Uraufführung eines Konzerts Grahams mit dem simplen Titel Parsifal statt. Basis der vom Orchester GENERATION BERLIN mit zwölf Streichern und neun Blasinstrumenten interpretierten Partitur war eine weitere lakonische Partitur Engelbert Humperdincks (1854-1921), die dazu diente, als eine Art Schleife die Umbaupausen der Verwandlungsszene im ersten Akt von Richard Wagners Uraufführung des Parsifal 1882 in Bayreuth je nach Länge musikalisch zu überbrücken. 1987 spürte Graham dieses bislang unbeachtete Stück Musik, dieses Füllsel zu Takt 90 Wagners mit Hilfe von Wissenschaftlern in München auf. Zu seiner Spezifik schreibt der Künstler: »Humperdinck [hatte] durch Hinzufügen von 9 Takten zum 24-taktigen Original mit seinem Ergänzungsstück eine Schleife von 33 Takten erzeugt, die so oft und so lange gespielt werden konnte, bis Parsifal mit ihr synchron im Gralstempel angekommen war.«4 Indem Graham diese Schleife mit asynchronen Elementen auf der Basis von Primzahlen anreicherte, ein Prozess, der genauer im Programmheft zur Aufführung beschrieben ist, entwickelte er eine Musik, die in stetiger, kaum wahrnehmbarer Veränderung immer das Gleiche spielt, und zwar neununddreißig Millionen Jahre. Nochmals Graham, der übrigens immer der beste Kommentator seiner Arbeiten ist: »Ich habe bereits erwähnt, daß das System meines ›Parsifal‹ seine Wirkung innerhalb Humperdincks ›Ergänzungsstück zu No. 90‹ entfaltet. Das Bayreuther Festspielorchester gelangte ungefähr um 5 Uhr 3 | Vgl. Glasmeier, Michael: Loop. Zur Geschichte und Theorie der Endlosschleife am Beispiel Rodney Graham, Köln: Salon Verlag 2002. 4 | Graham, Rodney: »PARSIVAL (1882 – 38.969.364.735 A.D.)«, in: Rodney Graham. Parsival, Berlin: Programmheft Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof 2000, 7-8, 7.

I NNERE A PPROPRIATIONEN nachmittags am 26. Juli 1882 zu No. 90. Zu diesem Zeitpunkt begann das Orchester Humperdincks Schleife zu spielen, bis es bei No. 89 angelangt war. In einem möglichen Universum trat es hier in meine Ergänzung ein, spielte sie, spielt sie immer noch, und wird sie spielen, bis das Orchester mit sich selbst synchronisiert ist, woraufhin mein ›Parsifal‹ sich an Humperdincks Ergänzungsstück bei No. 89 anschließt und schließlich bei No. 90 in Wagners Oper übergeht.« 5

Wagners Monstrositäten werden hier um Längen geschlagen, seine unendlich anmutenden Dehnungen durch die Geste minimalistischer Wiederholung in Differenz zur imaginären Unendlichkeit übertrumpft. Grahams Parsifal löscht mittels einer hoch artifiziellen, intellektuellen Manipulation eigentlich fast den gesamten ursprünglichen Parsifal und damit Wagners psychologisches Entwicklungskonzept als erotischen Singsang und Klingklang aus. Was passierte mir in diesem etwas über zwei Stunden dauernden Konzert? Zunächst begriff ich in der ersten halben Stunde, wie langweilig allgemein doch die Musik des 19. Jahrhunderts sein kann, und dass ich wohl sehr alt werden müsste, um an ihr Vergnügen zu finden. Dann wurde die Sache spannender, weil in der Langsamkeit der Tonabfolgen Veränderungen hörbar wurden. Gemächlich kreisten die Töne in meinem Kopf und warteten darauf, dass der Ohrwurm sich permutierte. Dazwischen guckte ich mir Dirigent und Orchester genauer an, personalisierte die Musik und wartete auf den Einsatz bestimmter Musiker, die zunehmend dröger dreinblickten. Dann dachte ich an mein Frau, an einige Projekte und dass die Kaffeemaschine wahrscheinlich ausgestellt ist. Ich betrachtete die Halle des Hamburger Bahnhofs, fand sie immer noch zu edel und eitel, den Mario Merz zu groß und zu deplaziert und den Richard Long zu überschätzt. Ich dachte an die Kultur in Berlin, an die Hybris der Kleingeistigkeit und daran, dass trotzdem solche Konzerte und andere Feinheiten hier möglich sind. Ich schaute mir das Publikum an, das langsam unruhig wurde. Einige gingen leise. Das Wetter draußen war zu schön. Ich flüsterte mit Graham, der jetzt wie ein Komponist aussah und nervös neben mir saß. Doch dann hatte mich die Musik wieder. Ich war nach eineinhalb Stunden wieder zu Konzentration bereit, die bis zum Ende anhielt. Kurz: Es war ein wunderbares Konzert, das sich und mir digressive Gedankenzeit ließ und im Verlauf eine einzigartige Schönheit verbreitete. Ich zoomte zwischen meinen privaten, den öffentlichen und den musikalisch strukturierten Welten und langweilte mich keinen Moment. Ich ließ die Wiederholung zu, weil die Wiederholung mich zuließ. In ihrer Einfachheit wollte sie mich nicht von sich überzeugen. Sie war wesentlich undramatisch, d.h. unpsychologisch. Sie spielte sich nicht auf, sondern ich begriff sie eher als die musikalische Begleitung zu John Cages 4ʹ33" einer Komposition aus dem Jahr 1952, von der wir wissen, dass auch sie immer so weitermachen könnte, denn ihre Realisation

5 | Ebd., 8. Vgl. zu weiteren Aspekten des Parsifal-Projekts Zwirner, Dorothea: Rodney Graham, hg. v. Friedrich Christian Flick Collection, Köln: DuMont 2004, 90-95.

179

180

M ICHAEL G LASMEIER

ist nach den knappen Anweisungen des Komponisten nicht unbedingt an die Dauer im Titel gebunden. Natürlich fiel mir während der Aufführung Erik Saties Vexations ein, jenes kurze Thema aus elf Achteltönen, das 840 Mal wiederholt werden sollte und 1963 in einem von Cage organisierten Konzert achtzehn Stunden und vierzig Minuten dauerte.6 Doch während Graham seine Annäherung an die Unendlichkeit im Ausschnitt präsentiert, der den Umfang des Unternehmens erahnen lässt, gibt es bei Satie, der seine Interpreten zunächst in den Zustand »innerer Unbeweglichkeit«7 versetzt haben will, ein Ende allhier auf Erden. Und während Grahams Musik eine minimale, stetige Veränderung des Gleichen propagiert, die aber nach 39 Millionen Jahren durchaus auch wieder in eine echte Schleife münden könnte, differenziert sich Saties Loop in der Praxis der Aufführung, die 1963 durch verschiedene Pianisten aufgeführt wurde, und egal wie auch immer die »innere Unbeweglichkeit« der Musiker aussah: Jeder Pianist hat nicht nur einen eigenen Anschlag, sondern auch eine eigene Idee, so dass sich ein ›Loop‹ im stringenten Sinn gerade dort nicht realisieren lässt, wo er eigentlich hingehört, nämlich in der Musik als einer Kunst der Zeit. Satie und Graham präsentieren uns Loops, die unvollkommen sein müssen, da sie an menschliche Aufführungspraxis gebunden sind. Es sind mögliche Loops, die aber schon auf zwei unterschiedliche Praktiken verweisen. Satie nutzt das Vektoriale der Zeit, um durch Wiederholung des Gleichen, durch eine innere Appropriation als Selbstzitat gewissermaßen in stetig neuem Einsatz identischer Notationselemente eine mögliche Form von Unendlichkeit zu suggerieren. Sein Loop ist perforiert, d.h. seine Basis in den paar Noten ist als immer neuer Beginn des Gleichen hörbar, wahrnehmbar. Der Loop von Graham/Humperdinck ist dagegen ein in sich abgeschlossenes System, das kreist wie die mythische Schlange, die sich in den Schwanz beißt, und die alchemistischen Theorien belebt. Wir nennen ihn den gerundeten Loop, da er seine Elemente so miteinander verbindet, dass Anfang und Ende als solche unkenntlich werden. Für das Erlebnis dieser Form bedarf es keiner definierten Anfangszeiten, es sei denn, man will einen bestimmten Ausschnitt vorführen. Einen vollkommenen gerundeten Loop zeigte Graham schließlich ebenfalls im Hamburger Bahnhof (Februar/März 2001) mit seinem wunderbaren Biedermeierfilm City Self/Country Self (2000).8 Die Erzählstrukturen dieses Films münden ineinander wie die repetierenden Kindererzählungen vom Hund, der dem Koch ein Ei stahl, oder von Käthe, die am Fenster saß und nähte, die aber ebenfalls, weil an den menschlichen Vortrag gebunden, nur mögliche Loops sind.

6 | Vgl. Dickinson, Peter: »Anmerkungen zu einigen Stücken Erik Saties«, in: Erik Satie. Musik-Konzepte 11 (1980), 38-47. 7 | Ebd., 46. 8 | Vgl. Text und Abbildungen in Rodney Graham, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2003, 52-55.

I NNERE A PPROPRIATIONEN

G ESCHICHTEN Erst technische Mittel erlauben es, vollkommene gerundete Loops wie Grahams City Self/Country Self zu erzeugen, zumindest solange die Energiezufuhr nicht gestoppt wird. Ist die Musik als solche loopartig, so ist jede Maschine selbst ein Loop-Produzent. Fließbandarbeit ist Arbeit am Loop, und Charlie Chaplins Kampf mit der Maschine in Modern Times zeigt das groteske Ballett mit der Unerbittlichkeit eines maschinenhaften Loops, der in der Eingangssequenz von Paul Schraders Gewerkschaftsfilm Blue Collar (1979) mit der Musik des Rolling Stones-Pianisten Jack Nitzsche auch ästhetisch dramatisiert wird. Apparative Rotationen, in welcher Geschwindigkeit auch immer, übersetzen seit den 1920er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Ewigkeitsansprüche und -bemühungen der Maschine in Kunstwerke der perfekten Wiederholungen, wobei ich hier besonders an László Moholy-Nagys Licht-Raum-Modulator denke, der in den Jahren 1922-30 in Berlin entstand und durch die Beleuchtung eines sich permanent drehenden und Scheiben, Kugeln, Spiralen in Bewegung setzenden Apparates einen Reflexionsraum entstehen lässt, dessen Erscheinungen Zeit in Regelmäßigkeit rhythmisieren.9 Zusammen mit Marcel Duchamps verschiedenen Versuchen zur maschinellen Rotation in den 1920er Jahren10 ist mit Moholy-Nagys Maschine ein Vorläufer jener Kunst zu besichtigen, die den Wiederholungszwang als optisches Ereignis, als innere Appropriation im Selbstzitat – unabhängig vom Künstler selbst oder vom Aufführenden – zelebriert. Ich denke hier an die Maschinenkünstler und Kinetiker Naum Gabo, Jean Tinguely, Pol Burry, Harry Kramer, Julio Le Parc, Yaacov Agam, Takis, Gianni Colombo, Gerhard von Graevenitz, die Zero-Gruppe u.a.11 Ihre motorkinetischen Objekte vertrauen darauf, dass der Betrachter Zeit, quasi musikalische Erfahrung und eine Aufmerksamkeit mitbringt, die sich von der Bewegung leiten lässt und vom Bildaufbau, der stetig seine inneren Proportionen verschiebt. Die Fläche des Bildes oder der Eigenraum der Plastik materialisieren sich in Dehnung der Zeit. Zudem geschieht das, was dort vor sich hin brummt, rattert oder klopft, manchmal – etwa bei von Graevenitz – so langsam, dass die maschinelle Bewegung eine katholische Kontemplation und reformatorische Meditation zu ermöglichen vermag. Wesentlich ist die daraus ableitbare Erkenntnis, dass der vollkommene Loop, lange bevor er sich mit Hilfe der Elektrizität realisieren ließ, schon philosophisch gedacht werden konnte. Wir finden ihn bei den Mystikern ebenso wie bei Leibniz, bei Pascal ebenso wie bei Nietzsche, bei Montaigne wie bei Kierkegaard. Er ist hier Wiederholung des Gleichen als Stillstand in Bewegung, wie wir ihn nun definie9 | Vgl. u.a. Weitemeier, Hannah: Licht-Visionen. Ein Experiment von Moholy-Nagy, Berlin: BauhausArchiv 1972. 10 | Vgl. u.a. Blunck, Lars: Duchamps Präzisionsoptik, München: Silke Schreiber 2008. 11 | Vgl. insb. Force Fields. Phases of the Kinetic, London: Hayward Gallery 2000; Curiger, Bice (Hg.): The Expanded Eye. Sehen – entgrenzt und verflüssigt, Ostfildern: Hatje Cantz 2006.

181

182

M ICHAEL G LASMEIER

ren. Damit fällt er aus der zweckgebundenen Zeit heraus und öffnet sich der stillen Betrachtung. Das ist seine schöpferische Kraft.12 Es ist kein Wunder, dass jenseits der kinetischen Maschinenkunst gerade in der Filmkunst, die ja selbst aus nichts als Streifen besteht und so beliebig Sequenzen zu Endlosschleifen kleben kann – und hier insbesondere in den Expanded-CinemaExperimenten, in denen das Material dieser Streifen untersucht und ästhetisiert wurde –, der Loop tragende Funktion bekam. Der »strukturelle Film«13, wie ihn P. Adams Sitney 1969 bezeichnete, setzte neben Effekten wie Flickern und Reduktion auf eine Kameraeinstellung eben auch die Endlosschleife ein. Ich erinnere hier an James Collins’ Night Moves: Who’s afraid of Red, Yellow, and Blue von 1977, an George Landows This Film Will Be Interrupted In 11 Minutes By a Commercial von 1965, an Malcolm LeGrice’ Lucky Pigs von 1970, an Lutz Mommartz’ Eisenbahn von 1967, an Werner Nekes’ Bogen von 1967 oder an Peter Weibels Permanente Kopulation von 1969. Solche sichtbaren Schleifen, die in den Projektoren vor sich hin ratterten und die Tony Conrad in Bowed Film von 1974 um seinen Oberkörper geschlungen mit der Geige bearbeitete, führten nicht nur in den Wiederholungsraum, sondern zeigten überdeutlich die Existenz des Kinos und seine Bedingungen als Maschinenkunst. Nichts wird hier verschwiegen oder überdeckt durch eine Inszenierung pseudotheatralischer Hollywoodoper. Nackt zeigt sich der Vorgang der Projektion selbst als unaufhörliche Geschichte seiner selbst, ein Phänomen, das gerade auch die Fluxus-Künstler interessierte. 14 Wolf Vostell schuf 1967 Räume mit Mehrfachprojektionen von Endlosschleifen, Dick Higgins legte in seine 1965 von George Maciunas produzierte Fluxus-Box eine solche mit dem Titel Invocations of Canyons and Boulders. Sie zeigte Nase und Mund eines sprechenden Mannes und sollte zu einer Geräuschcollage mit dem schönen Titel Requiem for Wagner the Criminal Mayor laufen. Ebenfalls in einer Fluxus-Box finden wir 1964 die Schleife des Klarfilms Zen for Film von Nam June Paik.15 Was sie zeigt, ist die optische Antwort auf Cages 4ʹ33", nämlich zunächst das Nichts, auf dem sich jedoch nach und nach Staub und Dreck ansammeln wird, der den Film in Sichtbarkeit rhythmisiert. Dieses Filmstück verweist nicht nur auf die zen-buddhistische Bewegung in Statik, sondern beweist glasklar, dass selbst ein vollkommen gerundeter Loop ohne wahrnehmbare Perforierung durch Anfang oder Ende in sich minimalen Veränderungen unterworfen ist. Die Möglichkeit eines radikalen Herausfallens aus der Zeit hinterlässt Spuren 12 | Vgl. u.a. Felix, Jürgen et al. (Hgg.): Die Wiederholung, Marburg: Schüren Verlag 2001. 13 | Scheugl, Hans/Schmidt jr., Ernst: Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms, 2 Bde., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, 869f. 14 | Zu den genannten Filmbeispielen vgl. u.a. Scheugl/Schmidt jr.: Eine Subgeschichte des Films; XSCREEN. Filmische Installationen und Aktionen der Sechziger- und Siebzigerjahre, Köln: Walther König 2003. 15 | Zu den genannten Fluxus-Boxen vgl. u.a. Conzen, Ina: Art Games. Die Schachteln der Fluxuskünstler, Köln: Oktagon 1997.

I NNERE A PPROPRIATIONEN

in der Zeit. Die »Weltzeit« verbindet sich immer mit der »Lebenszeit«, um die Termini von Hans Blumenberg hier anzuwenden.16 Mit diesen Experimenten der 1960er und 70er Jahre befinden wir uns noch im archaischen Zustand des Loops, der einerseits zurückweist auf die Frühgeschichte des Films, auf die sogenannten ›Lebensräder‹ des frühen 19. Jahrhunderts, mit denen durch rotierende Scheiben Bewegung simuliert wurde, wobei Phasen bestimmter Handlungen durch Drehung des Rades kontinuierlich in Endlosschleifen versetzt werden konnten.17 Und der andererseits die Videoprojektionen unserer Tage vorbereitet, die, eben weil das Filmband in einer Kassette eingeschlossen ist und ohne Nebengeräusche vorgeführt werden kann, den abgerundeten Loop, die innere Appropriation perfektionieren. Es wurde nun leichter und bequemer, die lebenden Bilder in die Ewigkeit zu schicken, und ich verweise hier nur auf die frühen Videoarbeiten von Valie Export und Bruce Nauman, in denen die Endlosschleife visuell, akustisch und räumlich ihr Arsenal an Möglichkeiten preisgibt. Von nun an sind die Museen okkupiert von Videos und Videoinstallationen im Repeat. Das ist die Kunst jetzt, und ich verkneife es mir, hier Namen aufzuzählen. Das ist bekannt und mittlerweile so üblich, dass über die historische Dimension allerdings kaum reflektiert wird.

S ENTIMENTALISCHES Grahams Loops in Bildern stehen in dieser Tradition des Experimentalfilms und erheben nicht den Anspruch, bewegte Gemälde vorzuführen. Sie beharren auf der Erzählung in der Zeit und bestätigen durch eine geschickte Verknüpfung von Anfang und Ende ihre gerundete Anwesenheit. Eine direkte Anbindung an die Avantgarde des Expanded Cinema und der Kinetischen Kunst ist beispielsweise die Projektion des Loops Coruscating Cinnamon Granules von 1996 im Nachbau der Küche des Künstlers. Der Film zeigt ein kinetisches Lichtspiel, das »recht einfach dadurch erzeugt wird, dass ich gemahlene Partikel eines gewöhnlichen Gewürzes auf eine elektrische Kochplatte mit spiralförmigem Heizelement streute und dann in völliger Dunkelheit die Kochplatte einschaltete.«18 Außerhalb des hölzernen Küchennachbaus, der innen listigerweise mit Kinosesseln bestückt ist, befindet sich in einem Plastikgehäuse der Projektor mit der sich permanent bewegenden Filmschleife. Graham verbindet hier die Modelle der Filmexperimente der sechziger Jahre mit den oben erwähnten Objekten kinetischer Kunst in zweifacher Weise. Die punktuellen 16 | Vgl. Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986. 17 | Vgl. u.a. Bätzner, Nike/Nekes, Werner/Schmidt, Eva (Hgg.): Blickmaschinen oder wie Bilder entstehen. Die zeitgenössische Kunst schaut auf die Sammlung Werner Nekes, Köln: DuMont 2008. 18 | Rodney Graham zu Coruscating Cinnamon Granules, zit. n. Rodney Graham, 104. Vgl. dort auch die Abbildung.

183

184

M ICHAEL G LASMEIER

Lichterscheinungen im Küchenkino erinnern an Pol Burry oder Takis und der Projektionsmechanismus außerhalb vor allem an Colombo oder die ausdrücklich Loop betitelte Arbeit von Len Lye (1963), die ein ununterbrochenes Metallband magnetisch in Bewegung und damit zum Hüpfen bringt.19 Stärker noch an die Erzählstruktur des Kinos gebunden sind der schon erwähnte Film City Self/Country Self ebenso wie Grahams wohl berühmtestes Werk Vexation Island von 1997, aufgenommen in den perfekten, schönen Bildern eines professionellen Werbefilms.20 Sie sind regelrechte Kostümfilme und haben als solche die Eigenschaft, uns in die Welt der Literatur zu entführen. Jeder Kostümfilm hat einen literarischen Impetus, selbst wenn sein Plot frei und heute erfunden wurde. Er ist literarisch, hypernarrativ, weil er eine vergangene Atmosphäre heraufbeschwört, die wir letztlich nur aus der Prosa kennen. Der zentrale, aktionsreiche und moralische Arschtritt in City Self/Country Self, der einem illustrierten Kinderbuch des 19. Jahrhunderts entnommen ist, verdankt seine Kompetenz den engen, dichten Gassen, der Kutsche, der Kirche mit dem Uhrenturm und den historischen Kleidern eines mal armen, mal reichen Schauspielers Grahams, wobei der fallende Hut Anfang und Ende endlos miteinander verknüpft. In Vexation Island sind wir durch das Kostüm sofort mit Robinson Crusoe verbunden, dessen Einsamkeit hier durch eine fallende Kokosnuss rhythmisiert wird. Beide Filme sind der Schadenfreude gewidmet. Ihre Tendenz zur Burleske und zu satirischer Überspitzung beziehen sie aus der Literatur der Vergangenheit. Das bürgerlich Sentimentale ist hier kein Projekt der Aufklärung, sondern fällt durch den Loop und den Plot ins vorbürgerliche Denken zurück. Diese Filme sind in ihrer Atmosphäre vorrevolutionär und in ihrer Funktion Capriccios.21 Das ist die Kunst Grahams: Er bringt uns als Literat, Maler, Filmemacher, als Rockmusiker, als Cowboy oder Fotograf in eine Stimmung, die wir alle kennen, weil sie historisch ist und durch unzählige Worte und Bilder beglaubigt. Er macht uns sentimental im Sinne jener ›Empfindsamkeit‹ von Laurence Sterne, welche die Affekte minimalisiert, um feiner zu affizieren.22 Mit seinen Loops begeben wir uns auf eine permanente »Sentimental Journey«, deren Ablauf akribisch vorprogrammiert ist. Graham nutzt also die Möglichkeiten avantgardistischen Mediengebrauchs nicht, um uns doch wieder Gemälde zu zeigen, sondern er kommt vom Text wie der Renaissance- und Barockkünstler oder wie der spätbarocke William Hogarth. Sternes Sentimental Journey (1768) bricht mitten im Satz ab, an einer Stelle, die geradezu danach verlangt, weitererzählt zu werden: »Als ich meine Hand aus19 | Vgl. das Videointerview mit dem Künstler von 1965, http://www.eai.org/kinetic/ch1/gallery/ film_video.html vom 25.11.2011. 20 | Vgl. Abbildung und Text in: Rodney Graham, 44-47. 21 | Zum Capriccio vgl. Mai, Ekkehard (Hg.): Das Capriccio als Kunstprinzip, Mailand: Skira 1996. 22 | Vgl. Busch, Werner: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München: C. H. Beck 1993.

I NNERE A PPROPRIATIONEN

streckte, faßte ich daher der Kammerjungfer ihre – «.23 Bisher ist von der Literaturwissenschaft nicht bedacht worden, dass dieses Ende des Romans, dieser Gedankenstrich darauf verweisen könnte, mit der Erzählung wieder von vorne zu beginnen, in der durchaus logischen Verknüpfung zum ersten Satz, der lautet: »›In Frankreich‹, sagte ich, ›versteht man sich besser darauf‹«.24 Was dazwischen liegt, sind die üblichen Digressionen in der Manier des Autors, in der Gefühl und Komik, angedeutete Sexualität und Philosophie sich abwechseln und die eines vor allem nicht bietet: eine in sich geschlossene Erzählung. Die Digression ist der umgekehrte Loop. Kann Laurence Sterne in Tristram Shandy nicht aufhören zu erzählen, weil es einfach zu viel zu erzählen gibt, so dreht sich beim Loop alles im Kreise. Für Sterne sind es nämlich nicht die Handlungen, die verwirren, sondern die Meinungen darüber, die er allerdings fröhlich aus zeitgenössischen Enzyklopädien und Philosophien appropriiert, ohne uns Leser davon in Kenntnis zu setzen. Sternes Sprechen selbst ist mimetisch, ein Sprechen mit fremden Zungen – wie es in der Typografie des Tristram Shandy nochmals herausgestellt wird –, und körperlich im jeweiligen Autor präsent, wobei Sterne, wie Graham, damit rechnete, dass seine künstlerischen Aneignungen zur Freude des Publikums auch erkannt werden konnten.25 Dieser bewusste Vertrag mit dem Leser, der für die Kunst der Appropriation immer wieder geschlossen werden muss, bringt die Werke dieser speziellen Strategie in Richtung jener Kennerschaft, die in den 1960er Jahren als zu bürgerlich abgeschafft wurde. Deshalb verwirrt uns Sternes Kunst durch abschweifende Meinungen umso mehr, während umgekehrt ein Loop uns das Gleiche oder vom Anspruch her das Selbe vorführt, um unseren Meinungen darüber permanente Möglichkeiten zur Veränderung zu bieten. Die Filmkomödie Groundhog Day (Und täglich grüßt das Murmeltier) mit Bill Murray ist übrigens aus einem gewichtigen Grund revolutionär und einmalig: Sie hat es geschafft, beide Bewegungen, nämlich die Digression und den Loop, durchaus logisch und präzise miteinander zu verbinden. Sterne zeigt uns die Digression in der Sentimentalität, während Rodney Graham uns sentimentalisiert, damit wir selbst digressiv werden. Der digressive Roman zeigt uns den Wechsel der Gedanken, der Loop unterwirft den Betrachter diesem Wechsel. Das ist seine Aufgabe. Indem er das potentiell Selbe zeigt und scheinbar auf der Stelle tritt, verwandelt auch er unsere Meinung. Er ist also nicht, wie die Ausstellung Loop – Alles auf Anfang26 behauptet, mit dem »Mythos von Sisyphos« (Albert 23 | Sterne, Laurence: Yoricks Reise des Herzens durch Frankreich und Italien, Frankfurt/M.: Insel 1977, 172. 24 | Ebd., 9. 25 | Vgl. Hopmann, Erika Sophie: Die Organisation der Sinne. Wahrnehmungstheorie und Ästhetik in Laurence Sternes Tristram Shandy, Würzburg: Könighausen & Neumann 2008; Draxler, Helmut (Hg.): Shandyismus. Autorschaft als Genre, Stuttgart: Merz & Solitude 2007; Busch, Werner: Great wits jump. Laurence Sterne und die bildende Kunst, München: Wilhelm Fink 2011. 26 | Vgl. Loop – Alles auf Anfang, München: Kunsthalle der Hypo-Stiftung 2001.

185

186

M ICHAEL G LASMEIER

Camus), mit einem resignativen Selbstverwirklichungsprogramm in Verbindung zu bringen, sondern ein intellektuelles Vergnügen permanenter Geistesveränderung, das Mystiker, Zen-Buddhisten und Philosophen schon lange als außerordentlich fruchtbar gepriesen haben. Und so kann Nietzsche die Wiederholung mit dem Tanz und der Komik in heitere Verbindung bringen.27 Gilles Deleuze: »Der Wiederholung etwas Neues entlocken, ihr die Differenz entlocken – dies ist die Rolle der Einbildungskraft [imagination] oder des Geistes, der in seinen mannigfaltigen und zersplitterten Zuständen betrachtet. Daher ist die Wiederholung in ihrem Wesen imaginär, da einzig die Einbildungskraft hier das Moment der ›vis repetitiva‹ unter dem Gesichtspunkt der Konstitution bildet und demjenigen Existenz verschafft, was sie als Wiederholungselemente oder -fälle kontrahiert. Die imaginäre Wiederholung ist keine falsche Wiederholung, die die Abwesenheit des Wahren ausgleichen würde; die wahre Wiederholung liegt in der Einbildungskraft. […] Die Differenz bewohnt die Wiederholung. […] Die materielle und nackte Wiederholung, die sogenannte Wiederholung des Selben, ist jedenfalls – gleich einer sich ablösenden Haut – die äußere Hülle eines Kerns von Differenz und von komplizierten inneren Wiederholungen. Die Differenz liegt zwischen zwei Wiederholungen.« 28

Die »Einbildungskraft« und die »mannigfaltigen und zersplitterten Zustände« sind die Kriterien, die den spätbarocken Roman Sternes als »Empfindsamkeiten« und »Meinungen« vorwärts treiben. Diese Modalitäten prägen die sentimentalische Stimmung als melancholische Reflexion des Vergangenen im Sinne Schillers29, und wo ist diese Melancholie besser aufgehoben als in der Wiederholungsschleife. Melancholie ist eine schöpferische Kraft, die Komik mit einschließt und eine bestimmte Atmosphäre benötigt. Melancholie verbindet in der Renaissance die Zeit mit der Geometrie, und schon der Schöpfergott des Mittelalters, der Creator mundi, hat einen Zirkel in der Hand. Die Sphären sind Kreise, auf denen sich auch Saturn bewegt.30 Der sentimentale Jean Paul: »[…] alle Erden-Gegenwart war zur Himmels-Zukunft verflüchtigt. Was blieb nun dem poetischen Geiste nach diesem Einsturze der äußern Welt noch übrig? – Die, worin sie einstürzte, die innere. […] [S]o blühte in der Poesie das Reich des Unendlichen über der Brandstätte der Endlichkeit auf.«31 Rodney Grahams Werke arbeiten mit dem Sentimentalischen und Melancholischen. Das spürt der Hörer insbesondere bei seinen Popsongs, für die er anlässlich seiner Wiener Ausstellung 1999 eine Lounge eingerichtet hat, damit man sie versun27 | Vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 1997. 28 | Ebd., 106. 29 | Vgl. Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung, Stuttgart: Reclam 2002. 30 | Vgl. u.a. Klibansky, Raymond/Panofsky, Erwin/Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992. 31 | Jean Paul: »Vorschule der Ästhetik«, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Miller, München: Carl Hanser 1963, Abt. I, Bd. 5, 7-514, 93 [Herv. i. O.].

I NNERE A PPROPRIATIONEN

ken wieder und wieder hören kann.32 Seine gerundeten filmischen Loops perfektionierten diese eher europäische Grundhaltung, die so gar nichts mit Event zu tun hat, obwohl der Künstler sich dieser Mittel bedient. Grahams Bezüge vor allem zur europäischen Literatur, Musik und Psychologie Sigmund Freuds lassen seine Werke, die sich in allen Medien einnisten, zur Manifestation von Poesie werden, im Sinne von Nicolas Poussin und Marcel Duchamp. Gerade auch seine differenzierten Auseinandersetzungen mit literarischen Meisterwerken, die bei ihm Objekte der Betrachtung werden, zeigen nochmals, worum es ihm eigentlich geht.

B ÜCHER Neben Lewis Carrolls Alice im Wunderland, Ian Flemings erster James BondErzählung Casino Royale, Raymond Roussels Afrikaimpressionen, der Wohnung der Gebrüder Grimm und der Poesie Stéphane Mallarmés sind es vor allem merkwürdige und einzigartige literarische Fußmärsche, die Graham zu eigenen Werken inspirieren.33 Da ist zunächst Edgar Allan Poes Landor’s Cottage (1849), das in einer verwunschenen, unbekannten und gleichzeitig konstruierten Landschaft liegt und mit seiner eigenwilligen Architektur Ähnlichkeit aufweist zu William Beckfords orientalischer Erzählung Vathek (1786), in der sich das Gotische mit dem Morgenländischen vermischt und einen subtilen Horror erzeugt. Beide Bücher verlängert und verfälscht Graham durch interpolative Einfügung von Texten, die das historische Verhältnis Natur und Künstlichkeit in einen individuell philosophischen und pseudominimalistischen Rahmen übertragen. So baut er literarisch in Poes Landor’s Cottage einen kleinen Anbau an die dort beschriebene Hütte. Graham macht qua Interpolation aus Klassikern eigene Bücher, aus der Beschreibungskunst imaginierter Bilder eine Ästhetik der tektonischen Aufmerksamkeit. Zugleich können diese approprierten Texte auch Ausgangspunkt für Objekte, Grafiken oder Rauminstallationen werden. Das Sentimental-Melancholische der Erzählung wird wie in den Loops zur Reflexionsbasis.34 In Herman Melvilles Kurzgeschichte Die Piazza, die auch wieder eine Wanderung zu einer unbekannten Architektur zum Thema hat, finden wir in der neuen Version von Graham [La Veranda] (1989) einen Text- und Bildeinschub als ›Orna32 | Vgl. Graham, Rodney: Cinema Music Video, hg. v. Kunsthalle Wien u. Yves Gevaert, Wien: Kunsthalle 1999. 33 | Vgl. Lerm Hayes, Christa-Maria: »Rodney Graham: Literatur und was ein Künstler damit macht«, in: Graham, Rodney: Through the Forest, hg. v. Friedrich Meschede u. Yves Gevaert, Ostfildern: Hatje Cantz 2010, 64-84. 34 | Vgl. insb. Brayer, Marie-Ange: »Techniques of Appropriation and Interpolation in Five of Rodney Graham’s Text Works«, in: Graham, Rodney: Works from 1976 to 1994, Toronto: Art Gallery of York University 1994, 111-123.

187

188

M ICHAEL G LASMEIER

ment‹, dessen Wiederholungscharakter wir in diesem Beitrag nicht genügend würdigen können.35 Der ›unendliche Rapport‹ verschlungener Pfade durch die Natur bringt jedenfalls Kunst in sie und lässt das Haus als Teil eines Gemäldes erscheinen, in das Graham statt eines Kapitels ein Kapitell als Ornament einfügt. Die Piazzaveranda ist der Ort des Blicks in die Ferne, des Überblicks, und das andere Haus mit der geheimnisvollen Dame der Spiegelort. Zwischen beiden liegt der Weg als verschlungener Pfad unter dem Hin und Her der Blickreflexionen. Von unten erblickt Melvilles Erzähler einen Punkt in den Bergen und von dort aus wiederum seine Piazza im Tal. Ein unendlicher Blickpingpong, und ich möchte an dieser Stelle darauf verweisen, dass die speziellen Pingpong-Arbeiten etwa von Valie Export oder Alighiero Boetti in ihrer spezifischen Verbindung von Körper, Handlung, Wiederholung, Klang noch auf eine eigenständige Untersuchung warten. 1983 realisiert Graham einen Loop im Anfang der Erzählung Lenz von Georg Büchner, erschienen 1839. Dieses wohl eindringlichste Stück deutscher Prosa beeindruckt vor allem durch die Schilderung des Umherirrens des Goethe-Freunds und Dramatikers Reinhold Michael Lenz in den Wäldern der Vogesen. Wahnsinn und unheimliche Natur werden hier miteinander verwoben. Jeff Wall: »In Rodney Grahams Lenz (1983) sind die ersten 1424 Wörter von C. R. Müllers englischer Übersetzung des Büchner-Fragments auf sich selbst zurückgebogen. Graham fand zwei Stellen ziemlich am Anfang der Geschichte, wo die Wörter ›the forest‹ so stehen, daß man bis zu ihrem zweiten Vorkommen lesen und von dort an die Stelle nach dem ersten Vorkommen zurückspringen kann, ohne daß die Kohärenz verloren geht. Er ließ den Text so setzen und einrichten, daß dieser Effekt entstand. Dieses vierseitige Segment wurde immer wieder hintereinander als eine, wie der Künstler es nannte, ›kontinuierliche Sequenz von kreisenden Wiederholungen‹ gedruckt. Dreiundachtzig dieser Segmente wurde als eine hinreichend voluminöse Menge Papier erachtet, um kategorisch als ›ein Buch‹ erkannt zu werden und mit einem passenden Schuber zu versehen.« 36

Soweit die Beschreibung des Künstlerkollegen, der mit Hegel und Freud das Werk Grahams analysiert und abschließt mit den Worten: »Ohne die Intervention der Buchdeckel nach der 83. Wiederholung würde die Lenz-Maschine sich endlos weiter klonen, sich wie eine außer Kontrolle geratene Kettenreaktion fortpflanzen. Die Möglichkeit von Bedeutung, in dem von der radikalen Literatur eingeführten Sinn, wird so aus dem Raum zwischen den Buchdeckeln ausgeschlossen. Die Textmasse wird eine Leere, und das Lesen zu einer

35 | Vgl. Abbildung ebd., 115-119. 36 | Wall, Jeff: »In den Wald: Zwei Skizzen für Studien zu Rodney Grahams Werk«, in: Ders.: Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit, hg. v. Gregor Stemmrich, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1997, 271-300, 276f.

I NNERE A PPROPRIATIONEN ermüdenden Langeweile, vor der alle Welt flieht. Und so ist es vielleicht die beste Art, Lenz zu lesen, das Buch zu schließen und in den physischen Leerraum des bloßen Schubers zu blicken.«37

Jeff Wall ist zu sehr Modernist des hegelianischen Endes, um in der Wiederholung, im Loop, jene schöpferischen Kräfte zu entdecken, die dem Prinzip der Repetition innewohnen. Und gerade bei Büchners Lenz sind diese ersten Seiten von einer dramatischen Subtilität, die zu erfassen seit je mehr-, vielfaches Lesen erfordert. Aber die Geschichte der Literatur selbst ist eine Geschichte der Wiederholung, der differenzierten Palimpseste des immer gleichen Stoffs, wenn wir Gerard Genette glauben, ein Schreiben an dem immer gleichen Buch, wenn wir Gustave Flaubert glauben.38 Seit der antiken Rhetorik ist die Wiederholung zuständig für die Evidenz. In barocker Literatur, etwa von Georg Philipp Harsdörffer oder Martin Opitz, wird sie dann zum Movens der literarischen Aussage selbst, die sich auf die unerschöpflichen Permutationsmöglichkeiten von Sprache beruft. Das »Wortgeschüttel«39 des Finnegans Wake von James Joyce ist eine komponierte Endlosschleife ebenso wie das Umgangssprachliche von Die kahle Sängerin von Eugène Ionesco. Es geht bei all diesen Unternehmungen nicht um eine Leere, sondern um das Gegenteil, um eine Fülle, eine barocke Überfülle, einen ornamentalen Überschwang, der die Imagination zum Tanzen bringt. Das scheint mir das hauptsächliche Anliegen des Loops zu sein, sei er perforiert oder abgerundet. In dem 1786 und 1790 erschienenen digressiven Meisterwerk Andreas Hartknopf des immer noch unterschätzten Karl Philipp Moritz heißt es zurecht: »Was ist das Leben in der ganzen Natur, der Wechsel der Jahreszeiten, was jeder Pulsschlag, jeder Athemzug, als eine immerwährende Wiederholung ihrer selbst? – Die Wiederholung des Schönen erwecket nicht Überdruß, sondern vervielfältigten Reiz, für den, welcher anfängt seine Spur zu ahnden – und so oft es ihm sich wieder darstellt, diese Spur verfolgt.« 40

Und was ist mit der Langweile? Auch wenn es heute schwer fällt, an sie zu glauben, so ist sie doch als Partner der Melancholie eine schöpferische Institution. Wir sollten akzeptieren, dass sie uns ermutigt, sich eigenen Gedanken oder Offenbarungen zu öffnen, dass also ein Kunstwerk nicht darauf besteht, ausschließlich als solches wahr37 | Ebd., 281f. 38 | Vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993; Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981; Brombert, Victor: »Bouvard und Pécuchet. Die Tragikomödie des Intellekts«, in: Flaubert, Gustave: Bouvard und Pécuchet, Frankfurt/M.: Insel Taschenbuch 1979, 9-35. 39 | Vgl. Senn, Fritz: »Wortgeschüttel«, in: Ders.: Nichts gegen Joyce. Joyce versus Nothing, Zürich: Haffmanns Verlag 1983, 185-188. 40 | Moritz, Karl Philipp: Andreas Hartknopf. Eine Allegorie. Andreas Hartknopfs Predigerjahre, hg. v. Martina Wagner-Egelhaaf, Stuttgart: Reclam 2001, 122.

189

190

M ICHAEL G LASMEIER

genommen zu werden, sondern Anlass ist, Imagination freizusetzen. Und darin ist Rodney Graham ein Meister. Seine Loops, seine Wiederholungen des Gleichen als Stillstand in Bewegung schließen sich kurz mit den experimentellen ›Avantgarden‹ – um diesen historischen Begriff einmal zu gebrauchen – von Musik, Film, Kinetik und Literatur, die wie ein Möbiusband abwechselnd die Außenseite (die Maschine, Mechanik oder Machart) und die Innenseite (die Komposition, Atmosphäre oder Bewegung) exponieren. Diese schon historischen Looperfahrungen des Perforierten oder Gerundeten bewegt Graham sentimentalisch, um uns zu bewegen – in welche Richtung auch immer.

Vergleichend

about:blank Appropriationen des Leerraums seit Mallarmé Magnus Wieland Le Livre (das Buch): was verstand Mallarmé unter diesem Wort? Seit 1866 hören wir ihn immerzu dasselbe denken und sagen, doch ist dasselbe nicht immer dasselbe. M AURICE B LANCHOT

E INLEITUNG : I RONIE DER U NLESBARKEIT Bevor sich die Aneignungsverfahren des ›uncreative writing‹, der Conceptual und der Appropriation Art seit den 1960er Jahren etablierten, finden sie sich in der Literatur mehrfach präfiguriert: Melvilles Bartleby (1856), Flauberts Bouvard et Pécuchet (1881) und natürlich Borges’ Pierre Menard (1939) sind allesamt fingierte Schreibgestalten, deren Tätigkeit sich im getreuen Kopieren vorhandener Texte erfüllt.1 Zu diesen Präfiguranten der Appropriation gesellt sich als weitere literarische Vorläuferfigur auch das Schulmeisterlein Wutz bei Jean Paul. Bekanntlich erschreibt sich Wutz »eigenhändig« eine »ganze Bibliothek«, indem er die halbjährlich im Messkatalog angezeigten Titel ein zweites Mal selber verfasst: »[J]edes neue Meßprodukt, dessen Titel das Meisterlein ansichtig wurde, war nun so gut als geschrieben oder gekauft: denn es setzte sich sogleich hin und machte das Produkt und schenkt’ es seiner ansehnlichen Büchersammlung, die, wie die heidnischen, aus lauter Handschriften bestand.«2 Wutz gelangt durch diese Praktik zum Zweitautor von so bedeutenden Werken wie den »physiognomischen Fragmente[n] von Lavater«, »Schillers Räuber[n] und Kants Kritik der reinen Vernunft«3. Wie Pierre Menard,

1 | Vgl. Dworkin, Craig: »The Fate of Echo«, in: Ders./Goldsmith, Kenneth (Hgg.): Against Expression. An Anthology of Conceptual Writing, Evanston, Ill.: Northwestern University Press 2011, xxiii-liv, xlv-xlvi. 2 | Jean Paul: »Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal. Eine Art Idylle«, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Norbert Miller, München: Hanser 51989, Abt. I, Bd. 1, 422-462, 425f. 3 | Ebd., 426 und 427.

194

M AGNUS W IELAND

der fingierte Zweitverfasser des Don Quijote bei Borges, überführt Wutz die gedruckten Bücher zurück in handschriftliche Originale, mit dem Unterschied allerdings, dass er sie – in Unkenntnis ihres Inhalts und nach seinem Verständnis – gänzlich neu schreibt: »Er war kein verdammter Nachdrucker, der das Original hinlegt und oft das meiste daraus abdruckt: sondern er nahm gar keines zur Hand.« Dennoch (oder gerade deshalb) ist Wutz der Meinung, »seine Schreibbücher wären eigentlich die kanonischen Urkunden, und die gedruckten wären bloße Nachstiche seiner geschriebenen«.4 Diese Verwechslung ist nicht zuletzt medial bedingt, geht doch die handschriftliche Fassung gewöhnlich dem gedruckten Buch voraus. Und so wähnt sich Wutz als Originalverfasser der Texte, die er dann ›nachgedruckt‹ im Buchhandel vorfindet. Die Erzählung von Wutz stellt das Verhältnis von Original und Kopie auf den Kopf; und das zu einer Zeit, als der Autonomiediskurs um Originalwerke und Originalgenies ideologisch hoch im Kurs steht, wie auch auf realökonomischer Ebene der grassierende Raub- und Nachdruck, die unautorisierte Neuauflage von Werken, schließlich zur Ausbildung des modernen Copyright führt.5 Doch in Wutz’ Aneignungspraktik zeigt sich nicht nur eine ironische Reaktion auf die Originalitätsdebatte, sondern auf die Materialität des Schreibens überhaupt, insofern man die oft übersehene Wutz’sche Bearbeitung von Klopstocks Messiade mit in Betracht zieht: »Seine größte Sorgfalt verwandte er darauf, daß er die epischen Federn falsch schnitt, entweder wie Pfähle oder ohne Spalt oder mit einem zweiten Extraspalt, der hinausniesete; denn da alles in Hexametern, und zwar in solchen die nicht zu verstehen waren, verfasset sein sollte: so mußte der Dichter, da ers durch keine Bemühung zur geringsten Unverständlichkeit bringen konnte […], aus Not zum Einfall greifen, daß er die Hexameter ganz unleserlich schrieb, was auch gut war. Durch diese poetische Freiheit bog er dem Verstehen ungezwungen vor.« 6

Der Kunstgriff von Wutz besteht also in der Reproduktion der semantischen Unverständlichkeit von Klopstocks Epos durch eine materiell erzeugte Unleserlichkeit. Anstatt den schwer verständlichen Stil zu imitieren, beginnt Wutz vielmehr seinen Stilus (sein Schreibwerkzeug) zu manipulieren. Das sprachlich-stilistische Verfahren wird durch ein rein technisches ersetzt.7 4 | Ebd., 426. 5 | Dazu Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn: Schöningh 1981. Speziell zu Jean Paul vgl. Pross, Caroline: Falschnamenmünzer. Zur Figuration von Autorschaft und Textualität im Bildfeld der Ökonomie bei Jean Paul, Frankfurt/M.: Lang 1997. 6 | Jean Paul: »Schulmeisterlein Maria Wutz«, 441. 7 | Zur etymologischen Herkunft des Begriffs ›Stil‹ vom Schreibgriffel (lat. stilus) vgl. u.a. Ehlich, Konrad: »Stil-Übungen«, in: Keim, Inken/Schütte, Wilfried (Hgg.): Soziale Welten und kommunikative Stile, Tübingen: Narr 2002, 27-45, 32. Der Stilus diente dabei mit dem spitzen Ende nicht nur zum

ABOUT : BLANK

Abgesehen vom polemischen Subtext auf Klopstocks schwerfälligen Stil, führt diese Passage auf einen zentralen Aspekt literarischer Appropriationstechniken hin, die hier ebenfalls mit einer stärkeren Gewichtung auf dem Moment der Materialität und weniger anhand der Frage nach der Originalität dargestellt werden sollen. Denn auch das Anliegen von appropriierten Texten besteht primär in einer Suspendierung des sprachlich-semantischen Verständnispotentials zugunsten einer visuellen und materiellen Erfahrbarkeit des ›Textes‹, indem das Ausgangsmaterial nicht einfach nur kopiert, sondern manipuliert, verändert und ›unleserlich‹ gemacht wird.8 Es handelt sich, wie Craig Dworkin hervorhebt, um Formen einer »›strategic illegibility‹«9, deren Ironie (wenn man so will) nicht zuletzt darin besteht, dass es sich bei den unlesbar gemachten Texten um kanonische handelt und dieses literarische (Vor-)Wissen entsprechend in das ästhetische Spiel mit einfließt. Der ästhetische Reiz der Appropriation entsteht aus dem Spannungsfeld, dass das unkenntliche Gemachte doch bestens bekannt und damit stets hintergründig präsent ist und den Rezeptionskontext bestimmt. Allein daher zeigt sich bereits, dass eine Diskussion der Appropriation im Kontext der Originalitäts- und Plagiatsdebatte am entscheidenden Punkt vorbeiführen würde. Und zwar nicht allein deshalb, weil es sich bei den Appropriationen um keine direkten Imitate handelt, sondern auch, weil die inszenierte und zur Schau gestellte ›Unlesbarkeit‹ gerade einer kommerziellen Verwertung entgegensteht, die sich den Vorwurf des Plagiats einhandeln könnte.10 Wie Wutz sind auch die AppropriationsSchreiben, sondern insbesondere auch mit dem flachen Ende, um Geschriebenes auf der Wachstafel wieder auszustreichen, unleserlich zu machen. 8 | ›Unleserlichkeit‹ meint in diesem Kontext jede Form der typografischen Verunmöglichung der Lektüre, der Tilgung und Verfremdung von Textmaterial, und weniger semiotische Grenzen der Verständlichkeit. Dazu Schumacher, Eckhard: Die Ironie der Unverständlichkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000; wobei auch in unserem Kontext gilt, dass »das Unlesbare nicht das Gegenteil des Lesbaren ist«, sondern alternative Formen des Textzugangs ›erzwingt‹: »Unlesbarkeit ist kein Endpunkt, da auch das, was als unlesbar präsentiert wird, in seiner Unlesbarkeit unlesbar bleiben kann – und so neue Lektüren motivieren […] kann.« Ebd., 333. 9 | Dworkin, Craig: Reading the Illegible, Evanston, Ill.: Northwestern University Press 2003, xxiii. Zur heuristischen Unterscheidung zwischen Unlesbarkeit und Unleserlichkeit vgl. Gilbert, Annette: Bewegung im Stillstand. Erkundungen des Skripturalen bei Carlfriedrich Claus, Elizaveta Mnatsakanjan, Valeri Scherstjanoi und Cy Twombly, Bielefeld: Aisthesis 2007, 31-32: Während sich das Prinzip Unleserlichkeit auf die (grafische) Zeichengestalt bezieht, berührt die Unlesbarkeit darüber hinaus auch die Zeichenfunktion, die ihre primäre Aufgabe der Sinnzuschreibung nicht mehr störungsfrei erfüllt. Phänomene des Unleserlichen können, wie in den folgenden Beispielen, zum Zweck einer strategischen Unlesbarkeit eingesetzt werden. 10 | Zu diesem juristischen Aspekt im Zusammenhang mit der amerikanischen Rechtspraxis des Fair Use vgl. Pfortmüller, Herbert: »Deine Kunst ist meine Kunst. Appropriation-Art – Spannungsfeld zwischen Kunst und Recht«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 10.10.2009, 53. Ein »durchaus typischer

195

196

M AGNUS W IELAND

künstler keine ›verdammten Nachdrucker‹, sondern vielmehr eine Art kreative ›Biblioklasten‹. Während konventionelle Neuauflagen von Büchern um eine verbesserte Textgestalt (Emendation von Druckfehlern, typografische Modernisierung, leserfreundliches Layout usw.) bemüht sind, unterlaufen Appropriationen in der Regel diese Logik des Buchmarktes. Wiederaufgelegt werden die Bücher häufig gerade mit eklatanten Markierungen, die man gemeinhin als Mängel bezeichnen würde, da sie die Lesbarkeit und die Konsistenz des Textes nachhaltig beeinträchtigen. Ganz offensichtlich geht es in diesen Fällen nicht mehr darum, einen bereinigten Text zu präsentieren, als vielmehr darum, durch gezielte Deformationen neue Sicht- und Zugangsweisen zu provozieren, indem die Aufmerksamkeit des Lesers immer auch auf die Materialität des Buchs gelenkt wird. Wie solche Eingriffe im Detail aussehen und mit welchen Konnotationen sie verbunden sind, soll hier ausgehend von Mallarmés typografischem Gedicht Un coup de dés (1914) diskutiert und näher beleuchtet werden. Mallarmés Text bietet sich nicht allein deshalb an, weil er schon mehrfach appropriiert wurde, sondern weil mit ihm auch Appropriationen zweiter Ordnung vorliegen. Gerade die jüngsten Versuche von Michalis Pichler (2008), Michael Maranda (2008), Cerith Wyn Evans (2009) und Jérémie Bennequin (2011), die relativ zeitnah aufeinander folgen, berufen sich nicht nur auf Mallarmé selbst, sondern auch auf die nicht weniger renommierte Vorgänger-Appropriation von Marcel Broodthaers (1969).11 Diese Filiation, die weit in die Geschichte der Buchappropriation überhaupt reicht, bietet somit eine geeignete Materialbasis, um am Beispiel eines spezifischen Ausgangstextes unterschiedliche Strategien künstlerischer Aneignungs- und Transformationsprozesse einer vergleichenden Analyse zu unterziehen.

O RIGINALEXEMPLAR : POÈME (1914) VON STÉPHANE M ALLARMÉ Es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet Mallarmés Poème Anlass zu einer bislang außergewöhnlich hohen Zahl an Appropriationen bot. Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (dt. Ein Würfelwurf tilgt niemals den Zufall), wie das Gedicht mit vollem Titel heißt – 1897 in der Zeitschrift Cosmopolis erstmals erschienen, 1914 postum gemäß den nachgelassenen Anweisungen Mallarmés in

Approach des amerikanischen Rechtsdenkens« sei der Faktor einer »(schädigende[n]) Wirkung der Aneignung auf das Marktpotenzial des Originals«. 11 | In diesem Sinne sind die Appropriationen wiederum doch mit einem semantischen Konzept der ›Unlesbarkeit‹ à la de Man vergleichbar, insofern auch »er nie nur literarische Texte liest, sondern mit ihnen auch ihre kanonisierten Interpretationen«. Schumacher: Ironie der Unverständlichkeit, 331.

ABOUT : BLANK

Abb. 1: Stéphane Mallarmé: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Poème, Paris: Nouvelles Revue Française Gallimard 1914, Cover.

der Nouvelle Revue Française (später Gallimard) nochmal neu gesetzt –, gilt als jener Text, der »eine neue Epoche der visuellen Poesie« einleitete (Abb. 1).12 Der Titel gebende Würfelwurf spiegelt sich visuell im typografischen Arrangement der freien Verse, die sich auch räumlich frei auf den Buchseiten bewegen und mit verschiedenen, insgesamt neun, Schrifttypen (Antiqua, Kursive, Majuskel, Minuskel) und Schriftgrößen operieren, die unterschiedliche Lektürepfade eröffnen.13 Das Gedicht selbst reflektiert seine besondere Gestalt mit einer astrologischen Metaphorik, die eine Analogie zwischen dem Sternenhimmel und der spatialen Verteilung des Textes herstellt.14 Im Text fällt explizit auch der Begriff der ›constellation‹ (lat. stella: Stern), den Eugen Gomringer später in seinem Manifest der konkreten Poesie mit dem Titel vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung (1954) aufgreifen wird.15 12 | Adler, Jeremy/Ernst, Ulrich: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Weinheim: VCH 1987, 233. 13 | Vgl. die Darstellung in ebd., 235. 14 | Auf der letzten Doppelseite formieren sich die Verse sogar zum Sternbild des Großen Bären, vgl. Metz, Petra: Aneignung und Relektüre. Text-Bild-Metamorphosen im Werk von Marcel Broodthaers, München: Verlag Silke Schreiber 2007, 118. Zu Mallarmés »Sternenschrift« bzw. »Himmelsschrift« vgl. auch Eric Zboyas Beitrag in diesem Band und Schmitz-Emans, Monika: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens, München: Fink 1995, 166-168. 15 | »die konstellation ist die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung. sie umfasst eine gruppe von wörtern – so wie ein sternbild eine gruppe von sternen umfasst.« Gomringer, Eugen: theorie der konkreten poesie. texte und manifeste 1954-1997, Wien: Edition Splitter 1997, 16. Dencker hält diesbezüglich fest: »Es wird deshalb angenommen, dass Gomringer mit der Be-

197

198

M AGNUS W IELAND

Was Gomringer in seinem Manifest programmatisch ausformuliert – ein visueller und verräumlichter Zugang zur Dichtung, der die Grenze zwischen Schrift und Bild, zwischen kognitiver und sensitiver Wahrnehmung auflöst –, liegt mit Mallarmés Poème schon vollumfänglich realisiert vor: Gemessen an konventionellen Gedichten verläuft die Lektüre nicht linear, sondern »flächig«16, ohne eindeutige Leserichtung multikursal über die einzelne Buchseite hinaus, eine »vision simultanée de la Page«17, so wie die Verbindung der verstreuten Sterne am Himmel zu erkennbaren Sternbildern im Auge des Betrachters liegt. Das Verfahren führt zu einem mobilen, dynamischen Textgebilde, das sich nicht in einem rein semantischen Verständnis erschöpft, diesem vielmehr die visuelle Qualität der Wortkonstellationen und der typografischen Gestaltung entgegenhält. Diese beziehen sich nicht mehr (nur) auf die referentielle Zeichenfunktion der Sprache, sondern beziehen das räumliche Arrangement des Textes, die typografisch-visuelle Dimension und die physisch-materielle Substanz des Buchs mit ein.18 Die epochale Neuerung in Mallarmés Gedicht besteht jedoch nicht in seiner grafischen Anordnung, eine solche ist in der Tradition des Figurengedichts (Carmen Figuratum) ansatzweise schon vorgebildet19, sondern in der ästhetischen Berücksichtigung des Schreibgrundes und Schriftträgers, der weißen Fläche, als Gestaltungselement. Das Weiß der (Doppel-)Seite, der leere Raum bildet das dominierende Merkmal des Gedichts, so dass der für gewohnt ignorierte Hintergrund, der als verschwindende Größe lediglich zur Aufnahme der Schriftzeichen dient, eine über seine subsidiäre Trägerfunktion hinausreichende, eigene Valenz und eine substanzielle Bedeutung erhält (substanziell verstanden im Sinne von ›nicht zeichenhaft‹). Mehr noch kehrt sich die konventionelle Hierarchie von Lettern und Spatien um: »Die Lettern treten in den Dienst der weißen Fläche (statt, wie sonst, diese als gefügige Trägerin in ihren Dienst zu nehmen), sie machen sie sichtbar, indem sie sie umschreiben.«20 Mallarmé weist in der Vorrede eigens auf die Auffälligkeit der »blancs«, der weißen, unbedruckten Flächen hin: »Les ›blancs‹, en effet, assument

zeichnung Konstellation […] auf […] Mallarmé zurückgegriffen habe.« Dencker, Klaus Peter: Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen zu den digitalen Experimenten der Gegenwart, Berlin: de Gruyter 2011, 31. 16 | Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit, 181. 17 | Mallarmé, Stéphane: »Préface«, in: Ders.: Un coup de dés, Paris: NRF 1914, o. S. 18 | Mallarmés Tendenz, »die konkreten Eigenschaften des Buchs zu erforschen und in den literarischen Prozeß einzubeziehen«, heben Adler/Ernst hervor, in: Dies.: Text als Figur, 234. 19 | »Auch wenn Mallarmés Text als selbständige Erfindung gelten darf, besitzt das Gedicht erstaunlich viele Berührungspunkte mit der herkömmlichen visuellen Poesie.« Ebd., 233. 20 | Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit, 169.

ABOUT : BLANK

l’importance«21. Die weiße Fläche markiert nicht einfach nur einen Leerraum, die Abwesenheit von Schrift, sondern strahlt ihre eigene materielle Präsenz aus. Dabei handelt es sich weniger um ein Stadium in nascendi, das erst noch beschrieben werden müsste, als vielmehr um eine schriftlose Zone, einen Freiraum, der sich der Okkupation durch Zeichen widersetzt und stattdessen die materielle Qualität des Papiers wirken lässt.

A NSICHTSEXEMPLAR : I MAGE (1969) VON M ARCEL B ROODTHAERS Marcel Broodthaers’ Appropriation von Mallarmés Un coup de dés war Teil seiner Exposition littéraire autour de Mallarmé in der Wide White Space Gallery in Antwerpen 1969. Neben den appopriierten Buchseiten, die in Einzelblättern als gerahmte ›Bilder‹ an der Wand hingen22, bestand die Rauminstallation aus drei schwarzen Herrenhemden mit dem Aufdruck der Gedichtzeilen und rechts davon einem schwarzen Herrenanzug mit der Inschrift »d’Igitur«, die Bezug auf einen weiteren Text Mallarmés nimmt. Zudem ertönte aus einem Tonbandgerät die von Broodthaers selbst vorgetragene Rezitation von Un coup de dés.23 Hier soll es im Folgenden jedoch ausschließlich um das die Ausstellung begleitende ›Künstlerbuch‹ gehen, das sich vom Layout her direkt am Originalexemplar Mallarmés aus der NRF anlehnt: Die bis heute für den Gallimard-Verlag charakteristische Doppelrahmung des Buchcovers mit einer äußeren schwarzen Linie und zwei parallel laufenden inneren roten Linien übernimmt Broodthaers ebenso wie den vollständigen Titel von Mallarmés Gedicht (Abb. 2). An Stelle des Autornamens setzt Broodthaers dagegen seinen eigenen und vollzieht durch diese Substitution symbolisch den Akt der Appropriation: Er eignet sich Mallarmés Vorlage namentlich an. Broodthaers’ Mallarmé-Appropriation ist eine der ersten weltweit bekannten künstlerischen Buchappropriationen überhaupt, vielleicht abgesehen von den bereits 1931 erschienenen Gems. A Censored Anthology von Bob Brown.24 Wie der Untertitel andeutet, spielt Brown mit den Mitteln der Zensur, indem er in kanonischen 21 | Mallarmé: »Préface«, o. S. In einem Brief an André Gide schreibt Mallarmé überdies: »Ein gewisses Wort, in großen Buchstaben, verlangt das Weiß einer ganzen Seite, und ich glaube der Wirkung sicher zu sein.« Zit. n. Adler/Ernst: Text als Figur, 236. 22 | Wie Eric Zboyas Beitrag im vorliegenden Band andeutet, drängt in gewisser Hinsicht bereits der Originaltext von Mallarmé eine ›museale‹ Lektüre auf, insofern sich durch die typografische Gestaltung die »beiden gegenüberliegenden Seiten in einem einzigen Kontinuum« (219) auflösen und die einzelnen Seiten daher am besten simultan betrachtet würden. 23 | Vgl. Borgenmeister, Rainer: Marcel Broodthaers. Lesen und Sehen, Bonn: Weidle 2003, 114-117. Vgl. dazu auch Gabriele Mackert im vorliegenden Band. 24 | Metz sieht Broodthaers’ Vorgehensweise jedoch (entgegen des Titels ihrer Arbeit) im »Gegensatz zur Appropriation Art«, da bei Broodthaers »ein ostentativer Bezug auf die angeeignete Vorlage im

199

200

M AGNUS W IELAND

Abb. 2: Marcel Broodthaers: Un coup de dés n’abolira le hasard. Image, Köln/Antwerpen: Michael Werner/ Wide White Space Gallery 1969, Cover.

Gedichten einzelne Wörter mit einem schwarzen Zensurbalken verdeckt. Dieses Verfahren provoziert eine anzügliche Lesart der Gedichte, insofern die zensierten Stellen obszöne Ausdrücke suggerieren, die hinter ihnen verborgen sind. Zugleich demonstriert dieses Verfahren, dass Zensur häufig das Gegenteil der intendierten Funktion erzielt. Anstatt das Zensierte dem Blick zu entziehen, richten die schwarzen Balken die Aufmerksamkeit des Lesers vielmehr auf sich und regen dessen Phantasie erst recht an.25 Auch Broodthaers bedient sich dieser Methode der Schwärzung, bei ihm setzt sie allerdings ganz andere Konnotationen frei.26 Zunächst sind es nicht nur einzelne Worte, sondern die gesamten Verszeilen aus Mallarmés Gedicht, an deren Stelle schwarze Balken stehen. Broodthaers ersetzt (bzw. überdeckt) also das Gedicht integral mit dessen Silhouette (vgl. Abb. 3 in Eric Zboyas Beitrag). Was vom ursprüngMittelpunkt« stehe (Metz: Aneignung und Relektüre, 124). Einleitend wurde indes versucht, gerade diesen Aspekt als Kriterium für das Verständnis von Appropriationen stark zu machen. Gleichwohl ist Broodthaers’ Appropriation nicht die erste ›künstlerische‹ Aneignung von Mallarmés Gedicht. Zehn Jahre zuvor (1960) dienen Mallarmés Verse Ernest Fraenkel als Vorlage für schematische Zeichnungen mit dem Anspruch einer psychoanalytischen Interpretation des Gedichts und seiner verborgenen Tiefen strukturen. Vgl. Fraenkel, Ernest: Die unsichtbaren Zeichnungen Stéphane Mallarmés, neu hg. u. m. einem Essay »Kein Zeug zum Bild« von Schuldt, Lana/Wien: Edition per procura 1998. Dazu auch Adler/Ernst: Text als Figur, 239-240. Im Unterschied zu Broodthaers liegt mit Fraenkels Arbeit jedoch keine Appropriation im engeren Sinn vor. 25 | Zur Zensur vgl. Christoph Benjamin Schulz im vorliegenden Band. 26 | Metz wertet das »Überdrucken und Schwärzen« dennoch als »Form einer Zensur«. Metz: Aneignung und Relektüre, 124.

ABOUT : BLANK

lichen Text noch bestehen bleibt, sind lediglich die ›blancs‹, also das typografische Blindmaterial. Dadurch wird die von Mallarmé attestierte Bedeutung der weißen Flächen optisch noch verstärkt und einer sinnlichen Wahrnehmung des Textes gegenüber seiner Lesbarkeit radikal Vorschub geleistet. Es geht hier also nicht primär um eine Zensurfunktion oder um eine Zensurkritik, sondern um eine Manipulation des Rezeptionsverhaltens, um eine Disziplinierung des Auges. So ruft das Resultat auch andere Assoziationen wach als diejenige der Zensur. Die grafische Gestalt erinnert vielmehr an das berühmte Lautgedicht chant bruyant von Man Ray, das er 1924 in der von Francis Picabia redigierten Dada-Zeitschrift 391 veröffentlichte.27 Dieses Gedicht ist weniger, wie der Titel suggeriert, ein Lautgedicht als ein Sehgedicht: Präsentiert wird nur die unleserliche Zeilenfolge eines Textes, die in ihrer metrischen Anordnung den Text zwar unmittelbar als lyrischen Text erkennbar macht, aber über die grafische Ebene hinaus keine semantischen Verständnis- und Deutungshorizonte eröffnet. Geboten wird optische Poesie, visuelle Dichtung oder zumindest das typografische Dispositiv eines Gedichts, das charakteristische Layout, das auf den ersten Blick, bevor ein semantisches Verständnis überhaupt einsetzt, eine Textform als Lyrik erkennbar macht.28 Doch führt Broodthaers’ Mallarmé-Appropriation über einen solchen Wiedererkennungseffekt hinaus, was nicht zuletzt am unkonventionellen Arrangement der Verszeilen bei Mallarmé liegt, die an kein gewohntes Schema mehr gebunden sind. Die Verteilung der schwarzen Balken auf den einzelnen Seiten weckt weniger die Reminiszenz an lyrische Formen als an abstrakte Kunst. Dieser Rezeptionshaltung leistet Broodthaers’ Appropriation auch explizit Vorschub, indem neben der Substitution des Autornamens eine zweite signifikante Änderung auf der Titelseite vorgenommen wird: Mallarmés Gattungszuweisung »Poème« wird durch »Image« ersetzt. Broodthaers verstärkt durch seinen Eingriff den Bildcharakter, der Mallarmés Gedicht aufgrund seiner typografischen Konstellation bereits inhärent ist. Der Begriff ›Image‹ fällt auch explizit in Mallarmés Vorrede, als er die materielle Präsenz des Papiers anspricht: »Le papier intervient chaque fois qu’une image«, heißt es dort, und Broodthaers bringt diese, hier nur angesprochene Nuance, sichtbar zum Vorschein. Neben der Katalog-Auflage, die in 300 Exemplaren auf weißem Papier gedruckt wurde, erstellte Broodthaers zudem 10 Exemplare seiner Appopriation auf Aluminiumplatten sowie 90 Exemplare auf mechanografischem Transparentpapier.29 Der 27 | Und zwar in der Nr. 17 (1924), 3. Vgl. dazu auch Dworkin: Reading the Illegible, 74-76, sowie Adler/ Ernst: Text als Figur, 260. 28 | Vgl. Wehde, Susanne: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen: Niemeyer 2000, 120. 29 | Vgl. Borgenmeister: Marcel Broodthaers, 114. Auch darin besteht eine direkte Referenz auf Mallarmé, dessen Gedicht in der Buchausgabe von 1914 in 10 Ex. auf Japanpapier, 90 Ex. auf Holland-Papier und 900 Ex. auf gewöhnlichem Papier erschienen ist.

201

202

M AGNUS W IELAND

Anekdote nach sei die Idee mit dem Transparentpapier durch »Zufall« entstanden, als Broodthaers bemerkte, dass die schwarzen Balken durch die weißen Seiten leicht hindurchscheinen, weshalb er diesen Effekt, der der Appropriation eine zusätzliche Tiefendimension verleiht, mit durchsichtigem Papier verstärken wollte.30 Auch der appropriierte Würfelwurf vermochte also den Zufall nicht auszulöschen. Dieses – von Broodthaers angeblich zufällig entdeckte – Moment der Durchsichtigkeit greifen nahezu gleichzeitig Michalis Pichler und Cerith Wyn Evans in ihren Appropriationen von Un coup de dés, allerdings mit unterschiedlichen Implikationen, auf.

D URCHSICHTSEXEMPLAR : S CULPTURE (2008) VON M ICHALIS P ICHLER Pichler führt mit seiner Appropriation (die 2008 in seinem eigenen »greatest hits«Verlag erschienen ist) neben der optischen Tiefendimension zudem eine haptische Komponente hinzu, indem er die von Broodthaers mit schwarzen Balken verdeckten Verszeilen mechanisch ausschneiden lässt, dergestalt dass physische Lücken im Papier entstehen (vgl. Abb. 6 im Beitrag von Eric Zboya). Die ausgeschnittenen Verszeilen markieren also Leerstellen im Wortsinn. Wo die ›blancs‹, die unbedruckten Flächen, bei Mallarmé bereits eine irritierende Leere verursachten, steigert sich mit den hier applizierten Ausschnitten dieser Effekt noch, die gegenüber den vorhandenen weißen Flächen eine Art »anti-space«, eine spatiale Negierung, evozieren.31 Pichler vollzieht damit eine doppelte Tilgung, die sich nicht nur auf Mallarmés Originaltext, sondern auch auf Broodthaers’ Appropriation bezieht. Die Form der Löcher entspricht exakt den Umrissen der schwarzen Balken, die bei Broodthaers das Gedicht überdecken und unleserlich machen. Es handelt sich daher um mehr als nur um eine Verdeckung der Schrift, nämlich um eine physische Entfernung des Schriftträgers, um einen direkten Einschnitt in dessen Substanz. Pichler greift also durch den Akt des Ausschneidens weitaus stärker als Broodthaers in die Materialität des Textträgers ein, der damit von einer zweidimensionalen Fläche zum plastischen Körper transformiert wird: in eine – wie die Appropriation im Untertitel anstelle von ›Poème‹ benannt ist – Skulptur (Sculpture) (Abb. 3). Ein Effekt, der insbesondere dann zum Tragen kommt, wenn nicht bloß isoliert eine Seite des appropriierten Buchs betrachtet wird, sondern mehrere Blätter übereinander gelegt werden und sich dort, wo sich die Lücken befinden, spürbare und mehrschichtige Vertiefungen ergeben, die von der Oberfläche in das Volumen des Buchkörpers eindringen. Pichler appelliert damit weniger an den Gesichts- als an den Tastsinn: Das Gedicht lässt sich mit den Fingern erkunden, die Fehlstellen markieren gewissermaßen eine inverse Blindenschrift, die haptisch ertastet und erfasst werden muss. Mit Pichlers Appropriation liegt somit ein Blindband im doppelten Wortsinn vor: Er besteht 30 | Vgl. Metz: Aneignung und Relektüre, 127. 31 | Eingehend zur Applikation nicht-euklidischer Raumtheorien vgl. Eric Zboya in diesem Band.

ABOUT : BLANK

Abb. 3: Michalis Pichler: Un coup de dés n’abolira le hasard. Sculpture, Berlin: »greatest hits« 2008, Cover.

gänzlich aus unbedruckten, leeren Seiten, die den Konturen der applizierten Schnittstellen entlang nach einer alternativen, nicht optisch geprägten ›Lektüre‹ verlangen. Ein Jahr nach der Publikation der Sculpture nimmt sich Pichler erneut Mallarmés Poème an und transponiert es diesmal in Musique. Erneut wird also die visuelle Wahrnehmung des Gedichts durch einen anderen sinnlichen Zugang ersetzt: diesmal nicht durch den Tast-, sondern durch den Gehörsinn. Wie Broodthaers’ Image stützt sich Pichler dabei auf Mallarmés einleitende Reflexionen zu Un coup de dés, wo die freien Verse mit einer »Musique entendue au concert« verglichen werden. Mallarmé empfiehlt zudem, das Gedicht mit lauter Stimme (»à haute voix«) gleichsam wie eine Partitur (»partition«) zu lesen. Aus der Partitur wird bei Pichler jedoch eine gelochte Notenrolle für ein automatisches Klavier. Im Staatlichen Museum für Musikforschung in Berlin ließ Pichler seine Appropriation über ein historisches Pianola (Modell: Metrostyle Thermodist, Baujahr: 1910) laufen, das bei jeder ausgeschnittenen Versstelle einen entsprechenden Klang erzeugte.32 Das Resultat dieser direkten musikalischen Umsetzung mutet wie eine radikale Komposition der Neuen Musik an und unterstreicht auch im akustischen Medium den avantgardistischen Zug von Mallarmés lyrischer Vision. Es sind nur sporadisch Akkordanschläge zu hören, über die meiste Zeit herrscht Stille an jenen Stellen, die im Druck den ›blancs‹ entsprechen und die Mallarmé in seinem »Préface« auch entsprechend als Stille bzw. Schweigen (»silence«) charakterisiert.33 Es handelt sich jedoch – wie auch die berühmte Antikomposition 4ʹ33" von John Cage und dessen Erfahrung im anechoic 32 | Anzuhören und anzusehen auf der Videoplattform youtube, http://www.youtube.com/ watch?v=JkG_qAk7zxQ vom 29.09.2011. 33 | Auch Paul Valéry wertet später die weißen Flächen bei Mallarmé als Ausdruck des Schweigens, genauer »als körperhafte Pausen des Schweigens«, die vom »Sinn des Gesichtes« umtastet werden (vgl. Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit, 51). Analog attestiert Kandinsky im Bereich der bildenden

203

204

M AGNUS W IELAND

chamber zeigt34 – um keine absolute Stille, denn das Rattern des Klavierautomaten und das Rauschen der Walze sind auch während der Passagen des Schweigens vernehmbar. So wie die weißen Seiten bei Mallarmé die Wahrnehmung für die materielle Qualität eines Gedichts schärfen, so lässt auch die Stille nach Geräuschen aufhorchen, die ansonsten kaum bewusst ans Ohr dringen.

R EFERENZEXEMPLAR : D ELAY (2009) VON C ERITH W YN E VANS Cerith Wyn Evans’ Arbeit zu Un coup de dés beruht auf derselben Grundidee wie bei Pichler, da auch er die Verszeilen des Gedichts zu Löchern im Papier ausstanzen lässt. Die zunächst als Ausstellung angelegte Appropriation orientiert sich dabei noch näher an Broodthaers, zumal Wyn Evans die einzelnen Seiten als gerahmte Bilder an die Wände des Ausstellungsraums hängt, wobei der plastische Tiefeneffekt, den die Arbeit von Pichler evoziert, allerdings weitgehend Einbuße erleidet.35 Doch verfolgt Wyn Evans mit seiner Bearbeitung eine von Pichlers Sculpture divergierende Konzeption. Die parallel zur Ausstellung erscheinende Buchappropriation weist denn auch in eine gänzlich andere Richtung, was bereits aus der Gestaltung des Buchcovers hervorgeht. Während Broodthaers wie Pichler um eine Imitation der Gallimard-Vorlage bemüht sind, unterscheidet sich die Appropriation von Wyn Evans bereits in diesem Punkt (oder wie man sagen müsste: in diesen Punkten) deutlich von ihren Vorgängern (Abb. 4). Das Buch ist optisch nicht mehr klar als Anleihe an Mallarmé zu erkennen, nicht zuletzt weil der programmatische Titel auf dem Umschlag fehlt. Anstelle des Titels stehen drei große Auslassungspunkte zwischen zwei Anführungszeichen. Hiermit liegt eine paradoxe Grundfigur vor, die sinnbildlich das Verfahren von Wyn Evans vorwegnimmt. Die Anführungszeichen und Auslassungspunkte verweisen auf die Technik der Zitation, allerdings auf zwei unterschiedliche Praktiken, die hier miteinander auf paradoxe Weise kombiniert und kurzgeschlossen werden. Während die Anführungszeichen als Operatoren für die Markierung von Zitatstellen stehen, besitzen die Auslassungspunkte die Funktion, Kürzungen im Zitat zu kennzeichnen. Diese beiden Funktionen führt Wyn Evans zu einem operativen Kurzschluss, wenn er Kunst der weißen Farbe, dass sie »auf unsere Psyche als ein großes Schweigen« wirke, und vergleicht diesen Effekt mit den Pausen in der Musik. Ebd., 52. 34 | Vgl.: »Cage had discovered the non-existence of silence in Havard University’s anechoic chamber, a soundproof room without any reflective surfaces where he sat and heard the high singing note of his nervous system and the deep pulsing of his blood.« Toop, David: Ocean of Sound. Aether talk, ambient sound and imaginary worlds, London: Serpent’s Tail 2001, 140. 35 | Vgl. Scepanski, Kristina: »Cerith Wyn Evans – Szenarien des Spekulativen«, in: Jansen, Gregor/ Müller, Vanessa Joan (Hgg.): Von realer Gegenwart. Marcel Broodthaers heute, Köln: Walther König 2011, 147-188, 179-181.

ABOUT : BLANK

Abb. 4: Cerith Wyn Evans: »…«. Delay, Köln: Walther König 2009, Cover.

zwischen die Anführungszeichen lediglich Auslassungspunkte setzt. Zitiert wird also die Lücke, die Leerstelle, die Auslassung. Der Titel oszilliert somit zwischen zitierender Bezugnahme auf Mallarmé und simultaner Distanzierung. Zugleich verweisen die Auslassungspunkte auf das technische Verfahren der Perforation, der Ausstanzung der Papierseite mit kleinen Löchern, die Wyn Evans in seiner Appropriation zur Anwendung bringt. Die zitationelle Technik der Aussparung gelangt durch diesen materiellen Eingriff zu einer höheren Konsequenz, da die symbolische Codierung der Punkte als Auslassungszeichen durch die kleinen Löcher tatsächlich als Fehlstelle realisiert wird: »Jedes erkennbare Zitat markiert einen Schnitt im Text, eine Perforation, die aufmerksam macht für die Schreib- und Schnittverfahren, die der jeweiligen – also auch der eignen – Textproduktion zugrunde liegen.«36 Evans’ Laserperforation setzt die metaphorische Rede vom Schnitt des Zitats im Wortsinn um. Wyn Evans zitiert, indem er die Buchseite durchlöchert, und löscht damit das Zitat im selben Eingriff gleich wieder aus: Die Löcher »sind sozusagen das Zitat des Spatiums im durch Spatien artikulierten Textraum«37. Seine Arbeit setzt die Gleichzeitigkeit von Zitation, Tradierung und Auslassung eindrucksvoll in

36 | Plath, Nils/Pantenburg, Volker: »Aus zweiter Hand«, in: Dies. (Hgg.): Aufführen – Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren, Bielefeld: Aisthesis 2002, 7-23, 11. 37 | Siegert, Bernhard: […] Auslassungspunkte, Leipzig: Institut für Buchkunst 2003, 9. Siegerts medientheoretischer Ansatz geht von der Prämisse aus, dass jede Form der Information zwischen der »Opazität« des Mediums und der »Transparenz« der Botschaft oszilliert, »wobei Verunsicherungen, unkontrollierbare Steigerungen, Störungen und Blockierungen der Lesbarkeit gerade zum Wesentlichen der Lesbarkeit in unserer Kultur geworden sind«. Ebd., 14.

205

206

M AGNUS W IELAND

Szene und stellt damit auf die wohl radikalste Weise seinen Ruf als »master of the unspoken articulation«38 unter Beweis. Anstelle einer zitierenden Wiedergabe von Mallarmés Gedicht, formieren die Löcher auf den folgenden Seiten des Buchs einen Schriftzug, der den Blick auf eine andere Botschaft freigibt, welche autoreferentiell genau diesem Umstand Ausdruck verleiht: »Permit yourself to drift from what you are reading at this very moment into another situation … Imagine a situation that, in all likelihood, you’ve never been in«39. Der perforierte Schriftzug fordert also einerseits expressis verbis auf, den lesenden Blick von der buchstäblichen Ebene weg zu wenden, andererseits bietet er diese Möglichkeit dem Auge auf materiell-physischer Ebene auch unmittelbar an. Die löcherige Schrift erlaubt direkte Durchblicke auf einen Raum hinter und jenseits der Schrift, der vom betrachtenden Subjekt selbst auszufüllen ist. Anders als bei Broodthaers’ Einsatz von Transparentpapier, das die weiße Fläche um die Konturen des Gedichts ersetzt, gelangt hier der Text gerade am Ort seiner Notation zur Durchsichtigkeit. Insofern ist Wyn Evans’ Perforation mit den ausgeschnittenen Verszeilen bei Pichler vergleichbar, mit dem Unterschied allerdings, dass der perforierte Schriftzug weiterhin eine lesbare Botschaft vermittelt. Der nonverbale Titel von Wyn Evans’ Arbeit »…« wird somit auf komplexe und mehrfache Weise eingelöst, indem im Akt der Zitation das Zitat selbst ausgelassen bzw. durch einen Schriftzug ersetzt wird, der aus lauter Löchern besteht und somit erneut ein Spiel von Präsenz und Absenz, von Positivität und Negativität in Gang setzt, das nicht zur Ruhe gelangt. In dieser Hinsicht ist auch der Untertitel Delay zu verstehen: Die Schrift, die lediglich aus Leerstellen besteht, materialisiert bzw. visualisiert auch die semiotische Bedingung von Schrift überhaupt, deren Sinnfülle sich bestenfalls nachträglich, über den Umweg des supplementären Zeichens und daher – mit Derrida zu sprechen – im temporalen Verzug einstellt.40 Insbesondere die Praxis des 38 | Küng, Moritz: »High Definition«, in: Wyn Evans, Cerith: »…«. Delay, Köln: Walter König 2009, o. S. [Nachwort]. Zugleich realisiert Wyn Evans damit auch den Akt der »Selbstnegation«, der bereits in Mallarmés Gedicht eingeschrieben steht, vgl. Scepanski: Cerith Wyn Evans, 182. 39 | Küng: »High Definition«, mit dem Hinweis, dass der zitierte Satz aus einem Essay von Stephan Pfohl über Guy Debords Filme stammt. 40 | Zu Derridas differentieller Zeichentheorie insbesondere im Hinblick auf Auslassungspunkte vgl. Abbt, Christine: »Die Auslassungspunkte. Spuren subversiven Denkens«, in: Dies./Kammasch, Tim (Hgg.): Punkt, Punkt, Komma, Strich? Geste, Gestalt und Bedeutung philosophischer Zeichensetzung, Bielefeld: transcript 2009, 101-116, insb. 112-114: »Als Differenzzeichen oder als Zeichen des ›Supplements‹ begriffen liegt die Sprengkraft der drei unscheinbaren Pünktchen also einerseits darin, dass sie in der Wiederholung eines einzelnen Zeichens das ganze Feld der Zeichen und ihrer Verwendungen miteinbeziehen und die Sinnfindung als unsicher und temporal nachgeordnet sichtbar werden lassen.« (Ebd., 114) Wenn Abbt die drei Pünktchen zudem als symbolisch im Text abgelagerter »Sternenstaub« (ebd., 109) versteht, ließe sich darin auch ein rudimentäres Relikt der Sternbilder (Konstellationen) Mallarmés erblicken.

ABOUT : BLANK

Zitats macht diesen dilatorischen Prozess deutlich, zumal ein Zitat immer schon im Modus der Nachträglichkeit erfolgt, indem es wieder, erneut und nochmals aufnimmt, was andernorts bereits geschrieben steht.

R ESTEXEMPLAR : L IVRE (2008) VON M ICHAEL M ARANDA Michael Maranda ist ein kanadischer Konzeptkünstler, in dessen Parasitic Ventures Press bereits mehrere Appropriationen und Buchobjekte erschienen sind, u.a. von Proust, Melville, Kant, Lacan und Wittgenstein. Wie der Name des Verlags bereits andeutet, steht die Aneignungspraktik von Fremdtexten unter der Metapher des parasitären Befalls. Verdeutlicht wird dieser Bildspenderbereich noch durch die Serie, in der die appropriierten Bücher erscheinen: »The ›Saprophagous series‹ are books which are saprophytic. In other words, they feed off of the decaying detritus of textual history.«41 Das editorische Konzept besitzt also eine polemische Komponente: Die literarischen und philosophischen Klassiker werden als kulturelle Kadaver begriffen, die von den Parasiten einverleibt werden. Es geht also weniger um kulturelle Tradierung, um eine Arterhaltung vergangener Texte, sondern um eine nachgerade körperliche Ausbeutung bereits im Verfall begriffener literaturhistorischer Überreste. An der Stelle des Gallimard-Signets auf dem Umschlag figuriert deshalb auch der ikonische Parasit in Gestalt eines Insekts – das Logo der Parasitic Ventures Press (Abb. 5). Die Galionsfigur des Parasiten als Marke der Edition verweist demnach übergeordnet auf die Logik des produktiven Restes. Der Parasit figuriert nicht als Erschaffer

Abb. 5: Michael Maranda: Un coup de dés n’abolira le hasard. Livre, Toronto: Parasitic Ventures Press 2008, Cover. 41 | The Press. Mission Statement, http://parasiticventurespress.com/books vom 11.02.2011.

207

208

M AGNUS W IELAND

von genuin Neuem, sondern er vertilgt die kulturellen Überreste.42 Anstatt einer creatio ex nihilo aus dem weißen, voraussetzungslosen Grund, führt er das Geschaffene wieder in dieses Stadium zurück. Dem metaphorischen Bildbereich einer parasitären Vertilgung entspricht das technische Verfahren der Tilgung, der Auslöschung und Eliminierung der Vers- und Schriftzeilen Mallarmés. Auch in dieser Hinsicht kann das Schlagwort des ›uncreative writing‹ verstanden werden, insofern nichts geschaffen respektive kreiert, sondern das Geschaffene wieder gelöscht und der kreative Akt rückgängig gemacht wird. Übertragen auf den Bereich schriftlicher Tradierung führt die Logik des parasitären Befalls von Schriftstücken auf das historische Phänomen des Palimpsests, das in gewisser Weise eine nicht künstlerisch motivierte Vorstufe der Appropriation darstellt, zumal auch das Palimpsest aus einem Verfahren materieller Modifikation von wertlos erachteten Pergamenten, aus der Praktik von ›erasure‹ und ›rewrite‹, hervorgeht: »Pergament konnte abgeschabt werden, um jegliche Beschriftung, die es getragen hatte, zu entfernen. […] Auf diese Weise erhielt man wieder eine leere Seite, die neu beschrieben werden konnte«43. Doch: »Die alte Handschrift bleibt geisterhaft erhalten«44 und scheint mitunter hinter dem neuen Text vage hindurch. Exakt diesen palimpsestartigen Effekt versucht Maranda mit seiner Appropriation zu erzeugen, wobei es sich bei ihm nicht nur um »Literatur auf zweiter Stufe«45, sondern gleichsam auf dritter Stufe handelt, denn sowohl Mallarmés als auch Broodthaers’ Vorlage bilden die einzelnen Lagen der überschriebenen Tiefenschicht. Deutlich signalisiert dieses Verfahren das Titelblatt von Marandas Appropriation: Er ersetzt den Autornamen nicht einfach durch seinen eigenen, sondern überschreibt vielmehr die in Magenta gehaltenen Namen seiner Vorgänger Mallarmé und Broodthaers, die schichtweise übereinander liegen, mit seinem eigenen in schwarzen Lettern. Ebenso verhält es sich mit dem Untertitel Livre, der 42 | Zu dieser – an Michel Serres’ Parasitentheorie angelehnten – Denkfigur des Restes »in seiner Funktion als produktives Ferment« vgl. Krajewski, Markus: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt/M.: Fischer 2006, 300. 43 | Battles, Matthew: Die Welt der Bücher. Eine Geschichte der Bibliothek, Düsseldorf: Patmos 2003, 19. Dass sich im Palimpsest ein parasitäres Prinzip spiegelt, ergibt sich durch den Umstand, dass in der Regel für damalige Begriffe »[a]usrangierte und ephemere Texte«, kulturelle Kadaver also, abgeschabt und neu überschrieben wurden. 44 | Ebd. 45 | Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993. Die Metapher des Palimpsests dient Genette generell für jede Art der Intertextualität, »jede Beziehung zwischen einem Text B […] und einem Text A« (ebd., 15), und ist entsprechend überdeterminiert, während sie im Bereich der Buchappropriation erst ihre materielle Gültigkeit erlangt, da es hauptsächlich um die physische Aneignung von Texten geht und weniger um semantische oder narrative Vorlagen. Immerhin versteht Genette aber unter der »Transformation eines Textes« auch einen ganz »einfache[n] und mechanische[n] Eingriff« – »im Extremfall das Herausreißen einiger Seiten«. Ebd., 16.

ABOUT : BLANK

gleichfalls in der Tiefenschicht überlagernd die archäologisch früheren Versionen Poème und Image durchblicken lässt. In der Vorrede geht Maranda noch einen Schritt weiter, wenn er Mallarmés französisches Originalvorwort durch ein automatisches Übersetzungsprogramm schleust, woraus ein Text in gebrochenem Englisch resultiert (Abb. 6). Dieser präsentiert sich auch visuell als ›brüchiger‹ Text, da dessen schwarze Type drucktechnisch vom farblosen französischen Original durchbrochen wird. Wiederum werden also zwei Schichten palimpsestartig miteinander überlagert. Das Originalvorwort Mallarmés scheint lediglich als gelöschter Urtext durch die schwarzen Lettern der englischen Übersetzung, die wiederum weder auf typografischer noch semantischer Ebene ›bereinigt‹, sondern durch das überschriebene Original kontaminiert (bzw. vom Textparasiten zerfressen) erscheint. Dass für den französischen Originaltext weiße (und damit kaum sichtbare) Tinte verwendet wird und dieser deshalb nur in absentia (»in the absence of ink«46 erscheint, besitzt angesichts der deklarierten Bedeutsamkeit der ›blancs‹ bei Mallarmé einen besonderen Signalwert. Nicht nur spiegelt sich darin die palimpsestartige Technik der Tilgung, sondern auch eine konsequente Ausweitung von Mallarmés Abb. 6: Michael Maranda: Un coup de dés n’abolira le hasard. Livre, Toronto: Parasitic Ventures Press 2008, Foreword.

46 | So der editorische Peritext: http://parasiticventurespress.com/books/?p=207 vom 11.10.2011.

209

210

M AGNUS W IELAND

poetischer Vision, die Maranda über das Vorwort hinaus auf das Gedicht selbst anwendet. Anstelle der Verszeilen, die Broodthaers schwarz einfärbte, erscheinen hier umgekehrt, gleichsam als Negativbelichtung, leere Stellen, die sich vor dem leicht ockerfarbenen Papierhintergrund nur bei speziellem Lichteinfall konturieren. In dieser Hinsicht ist der Untertitel Livre als Anspielung auf Mallarmés Buchprojekt Le Livre zu verstehen.47 Über Jahre hinweg verfolgte Mallarmé das Projekt eines ultimativen (und auch eines utopischen) Buchs, das einerseits ein ›ganz gewöhnliches Buch‹ darstellen, zugleich aber die Summe aller denkbaren Bücher enthalten sollte.48 Das Projekt blieb unrealisiert, was Anlass für zahlreiche Spekulationen bot, u.a. auch für die Identifikation von Un coup de dés mit dem geplanten Buchprojekt.49 Marandas Appropriation greift diesen Gedanken auf und entwickelt ihn konsequent weiter, indem er die Blanchierung auf die Verszeilen ausweitet, diese auslöscht, so dass ein Blindband entsteht, der nun offen für die Aufnahme potentiell jeden Textes ist. In Marandas Livre realisiert sich somit die romantische Phantasie des universalen Buchs, das auf gänzlich weißen Seiten virtuell alle nur denkbaren Texte enthält.50 Zugleich kann darin aber auch ein ironischer Reflex auf das ›unsichtbare‹ Meisterwerk Mallarmés erblickt werden, das nie über den Status eines Projekts hinausgelangt ist. Die weißen Seiten symbolisieren in dieser Hinsicht den Status Nascendi, die noch offene Fläche, auf der das ›kommende Buch‹ erst entstehen wird.51

47 | Zur Konzeption dieses Buchs inklusive der nachgelassenen Aufzeichnungen Mallarmés zu seinem Buchprojekt vgl. die profunde Studie von Scherer, Jacques: Le »Livre« de Mallarmé. Premières recherches sur des documents inédits, Paris: Gallimard 21957. 48 | Vgl. Folie, Sabine: »Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenkenden Sprache«, in: Dies. (Hg.): Un coup de dés. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache, Köln: Walther König 2008, 52-63, 55. Vgl. auch Scherer: »Quel livre assez total, assez parfait pour tenir lieu de tous les autres livres et du monde même? Ce ne pouvait être, de toute évidence, que le Livre, l’Œuvre, la somme à laquelle il disait avoir travaillé une bonne partie de son existence et que la mort l’empêcha d’achever.« Scherer: Le »Livre« de Mallarmé, 3. 49 | So gelangte etwa R. G. Cohn zur Auffassung, »daß der Coup de dés mehr oder weniger das berühmte BUCH darstelle«. Cohn beruft sich dabei auf Mallarmés Aussagen, es werde vielleicht nicht gelingen, »dieses Werk [d.i. das BUCH] zu schaffen in seiner Gesamtheit, …aber ein ausgeführtes Fragment davon zu zeigen…«. Zit. n. Marie-Louise Erlenmeyer im Kommentar zu Mallarmé, Stéphane: Ein Würfelwurf, übers. u. erläutert v. M.-L. Erlenmeyer, Olten/Freiburg: Walter-Verlag 1966, 74. 50 | In E. T. A. Hoffmanns Erzählung Die Brautwahl kommt bspw. »ein kleines, in Pergament gebundenes Buch« vor, das »nur leere weiße Blätter« enthält, worin jedoch »die reichste, vollständigste Bibliothek« steckt. Hoffmann, E. T. A.: Die Serapions-Brüder, München: Winkler 1963, 593-594. 51 | Marandas Appropriation ist demnach vergleichbar mit Klaus Scherübels Mallarmé-Langzeitprojekt (1999-2005), in dessen Zentrum ein Buchobjekt mit Standard-Schutzumschlag und einem weißen Styropor-Buchblock steht: »Mit einer Geste, die den widersprüchlichen Status von Le Livre als einerseits unmöglich zu verwirklichen (als Buch) und andererseits vollständig verwirklicht (als konzeptuel-

ABOUT : BLANK

M ÄNGELEXEMPLAR : O MAGE (2011) VON J ÉRÉMIE B ENNEQUIN Bennequins Appropriation ist als Serie von insgesamt sechs (1.1 bis 1.6) De-Kompositionen gestaltet (die Anzahl entspricht bislang den sechs Flächen eines Würfels), die am jeweiligen Entstehungstag der Performance ausgedruckt und als weder nummerierte noch signierte Exemplare an diejenigen Personen verkauft worden sind, die der Performance beiwohnten.52 Wie die bereits diskutierten Beispiele so handelt es sich auch bei diesem jüngsten Versuch um eine Appropriation zweiten Grades, das heißt, um eine doppelte Allusion auf Mallarmé wie auch auf Broodthaers. Wiederum dient das Originallayout der NRF als Vorlage für das Titelblatt, bei dem Mallarmés Name durch denjenigen des Künstlers Bennequin ersetzt und aus dessen Poème in diesem Fall eine Omage (lies: Hommage) resultiert, wobei die eigentümliche Schreibweise sowohl an Broodthaers’ Image erinnern soll als auch das angewendete Tilgungsverfahren bereits in nuce vor Augen führt (Abb. 7). Als »Artiste à la gomme«53 machte sich Bennequin dadurch bekannt, dass er Prousts Recherche à la temps perdu komplett ausradierte und die Radiergummikrümel in einer Plexiglas-Schatulle gleichsam als Behältnis oder Urne der Erinnerung auffing. Für Un coup de dés bringt Bennequin ein anderes Auslöschungsverfahren zum Einsatz, indem er den Titel von Mallarmés Gedicht rekursiv auf den Text selbst anwendet. Ausgehend von der wortspielreichen Beobachtung, dass Un coup de dés den Zufall nicht auslöscht, sondern ihn vielmehr nobilitiert (»Un coup de Dés n’abolit pas le hasard, il l’anoblit«), will Bennequin in seiner Experimentalstudie die Frage Abb. 7: Jérémie Bennequin: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Omage, Paris: La Bibliothèque Fantastique 2011, Cover von Dé-composition 1.0-1.3.

les Werk) hervorhebt, produzierte und edierte er einen ›Umschlag‹ für Le Livre in den Maßen, wie sie von Mallarmé vor über hundert Jahren festgelegt wurden.« Folie: Un coup de dés, 78f. 52 | Alle De-Kompositionen sind online einsehbar unter: http://labibliothequefantas.free.fr/index. php?/projects/jeremie-bennequin. 53 | Bennequin, Jérémie: »Observation relative à la dé-composition du poème«, in: Ders.: Dé-Composition 1.0, Paris: La Bibliothèque Fantastique 2011, o. S. [einleitender Essay].

211

212

M AGNUS W IELAND Abb. 8: Jérémie Bennequin: Un coup de dés. Dé-composition 1.2, Paris: La Bibliothèque Fantastique 2011, Doppelseite.

beantworten, ob der Zufall umgekehrt jedoch den Text von Un coup de dés auslöschen könne (»le hasard peut-il abolir Un coup de Dés?«54). Zu diesem Zweck arrangiert Bennequin ebenfalls auf einem Wortspiel beruhende De-Kompositionen, man könnte sagen Auflösungs- oder Zersetzungsverfahren, in deren Vorsilbe ›dé‹ der Begriff des Würfels (und mithin des Zufalls) bereits eingeschrieben ist.55 Im Gegensatz zu Mallarmés bis auf das typografische Arrangement durchkomponiertem Gedicht lässt Bennequin in seiner Installation tatsächlich den Zufall in Form von Würfelwürfen walten. Die De-Kompositionen präsentieren sich als Resultat einer Performance mit folgender Versuchsanordnung: Eine Serie von realen Würfelwürfen entscheidet über die Lautfolgen, die – ausgehend von der initialen Silbe ›Un‹ – sukzessive im Originaltext gelöscht werden. Bennequin würfelt, liest die Ziffer laut vor und zählt im Gedicht die entsprechende Silbe ab, die simultan auf einer Bildschirmprojektion des Textes entfernt wird. Mit jedem Würfelwurf verschwinden einige Buchstaben in den Verszeilen, so dass die umliegenden ›blancs‹ fortlaufend zunehmen (vgl. Abb. 14 im Beitrag von Anne Mœglin-Delcroix). Das Prozedere wird solange wiederholt, bis das Ende des Gedichts erreicht ist. 54 | Ebd. 55 | Bennequin verweist dabei auf die Etymologie des französischen Worts für ›Zufall‹ (›hasard‹), das aus dem arabischen Begriff ›az-zahr‹ abgeleitet ist, der so viel wie ›Würfel‹ (frz. dé) bedeutet, vgl. ebd.

ABOUT : BLANK

In der daraus resultierenden Buchappropriation sind die einzelnen Würfe anstelle des Vorworts in Form eines schematischen Punktdiagramms wiedergeben, das entfernt an Lochkartenbefehle für Computer aus der elektrotechnischen Frühphase erinnert (Abb. 8). Die Punkte visualisieren gewissermaßen den durch Zufall eingegebenen Programmierungsbefehl, nach welchem das Gedicht de-komponiert wurde. In keinem der Versuche ist es Bennequin bisher jedoch gelungen, mit Hilfe des Zufalls den Text komplett zu löschen, weshalb er zu einem (vorläufigen) Fazit kommt, das in chiastischer Umkehr den Titel von Mallarmés Gedicht aufnimmt: »Le hasard jamais n’abolira Un coup de Dés.«56 Weitere Herausforderungen des Zufalls sind indes geplant.

B LINDBAND : D AS VERSCHWINDENDE UND DAS KOMMENDE B UCH Wo Derrida in der Grammatologie (1967) das »Ende des Buchs«57 prophezeite, das in seiner bekannten Gestalt verschwinden und einem neuen Verständnis der Schrift weichen wird, da widmet er sich dreißig Jahre später unter dem Titel Das kommende Buch der Zukunft des gedruckten Buchs. Der Titel ist ein direktes Zitat von Maurice Blanchots gleichnamigem Essay über Mallarmé, und Derrida entwickelt seine Gedanken auch ausgehend von Mallarmés Un coup de dés. Was mit Mallarmés typografischem Experiment begann, löst sich für Derrida im Zeitalter der »elektronischen Schrift« vollends ein: eine Phase »jenseits der Abschließung des Buches«, gezeichnet durch »die Unterbrechung (dispersion), die Auflösung (dislocation), die Disjunktion, die Dissemination« und »die irreversible Zerstreuung (dispersion)«58. An diesem Verständnis des Buchs arbeiten die hier diskutierten Appropriationen seit Mallarmé allesamt mit und setzen es fort, wobei die diversen Aneignungspraktiken die Tradition stets mit in die Konzeption des appropriierten Buchs einbeziehen, ohne die es kaum adäquat zu verstehen wäre. Im Fall von Un coup de dés sind es neben den paratextuellen Indizien gerade die auffallend weißen Flächen, woran die einzelnen Appropriationen anschließen, indem sie diesen Aspekt gleichsam radikalisieren und den Akzent gänzlich vom Text weg auf dessen Träger, auf die ›nackte‹ Materialität des Buchs, verlagern. Auf unterschiedliche Weise wird jeweils die Auslöschung des Textes (nicht des Zufalls!) inszeniert und die Wahrnehmung des Betrachters auf die appropriierte Buchform gelenkt: Durch Schwärzungen (Broodthaers), Schnittstellen (Pichler), Leerstellen (Maranda), Tilgungen (Bennequin) oder Perforationen (Wyn Evans). Im Verfahren der ›Unlesbarkeit‹ qua Textelimination besitzen die Appropriationen 56 | Ebd. 57 | Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, 16-48. 58 | Derrida, Jacques: »Das kommende Buch«, in: Ders.: Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten, Wien: Passagen 2006, 17-33, 29.

213

214

M AGNUS W IELAND

zwar ihren gemeinsamen Bezugspunkt, ebenso in der Imitation des Originallayouts der NRF von Gallimard, in der jeweiligen Ausführung akzentuieren sie aber jeweils einen anderen Aspekt, der im Original bereits mehr oder weniger implizit angelegt ist, und setzen dadurch spezifische Effekte des Gedichts (Poème) frei, die Mallarmé selbst schon reflektierte: den bildhaften Charakter des Gedichts (Image), seine musikalische Kompositionsweise (Musique), Mallarmés Vision des ultimativen Buchs (Livre) sowie den Titel spendenden Würfelwurf (Dé-composition). Durch eine minimale, aber signifikante Modifikation der Originalvorlage, in der Substitution der Gattungszuweisung Poème durch das jeweils vorherrschende Konzept, akzentuieren die verschiedenen Appropriationen auch verbal, was sie performativ am Text vollziehen. Ersetzt wird jeweils also das Gedicht, bestehen bleiben bzw. übernommen werden lediglich die ›blancs‹.59 Zugleich lassen diese applizierten Lücken gewissermaßen die Textvorlage ›durchblicken‹. Dabei wird aber ein anderes Verhältnis zur Tradition und zur literarischen Tradierung aktiviert, als es bei konventionellen Verfahren der Intertextualität und des Zitats der Fall ist, wo der positive Zugriff vorherrscht. Entscheidend ist hier gerade nicht, was wiederholt, kopiert und rezitiert wird, sondern was ausgelassen, ausgeklammert oder gar eliminiert wird und dabei Raum für neue Blicke freigibt. Wie schon bei Mallarmé das Papier nicht einfach als Trägermedium dient, sondern mit seinen weißen Flächen wesentlich an der Semiose des Textes mitwirkt, so lässt sich auch die deformierte Materialität des appropriierten Buchs nicht von seiner Rezeption trennen. Vielmehr provoziert sie neue – optische, haptische oder sogar auditive – Zugänge. Nach Luhmann besteht eine wesentliche Bedingung des Kunstsystems darin, dass »Kunst zitiert, copiert, ablehnt, innoviert, ironisiert, jedenfalls, wie auch immer, in einem über das Einzelwerk hinausgreifenden Referierzusammenhang reproduziert wird«60. Buchappropriationen bringen diese ansonsten eher im Latenzbereich wirksame Grundbedingung optisch manifest an die Materialoberfläche. Mehr noch: Appropriationen gewinnen ihre kreative Energie vornehmlich aus dem Umstand, dass sie sich reproduktiv an die kulturellen Bestände des Gegebenen halten. Die Bezeichnung des ›uncreative writing‹ für diese Form der Textaneignung negiert dabei weniger das kreative Moment per se, als dass sie den Akzent vom Paradigma einer genuinen Neuschöpfung hin zu einer Neupositionierung im Rahmen des bereits Bestehenden verschiebt. Auch Appropriationen unterstehen dem Postulat der Neuheit, nach dem jede künstlerische Leistung gemessen wird und das Boris Groys vor dem Hintergrund des materialisierten kulturellen Gedächtnisses in Archiven und Museen wie folgt bestimmt: 59 | Zur Kritik an dieser Eliminierung des Referenztextes, welche die signifikante Materialität der Buchstaben verkenne, vgl. Eric Zboya in diesem Band. 60 | Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 31999, 395.

ABOUT : BLANK

»Das Neue wird als anders, aber zugleich als genauso wertvoll wie all das aufgefaßt oder interpretiert, was schon ins technisch organisiert kulturelle Gedächtnis eingegangen ist. […] Was schon Vorhandenes nur reproduziert, wird vom organisierten kulturellen Gedächtnis als überflüssig und tautologisch abgelehnt.« 61

Die kreative Leistung der Appropriationen, die sie vom Verdikt des Überflüssigen und Tautologischen befreit, liegt in der Entdeckung von Lücken, von noch unbesetzten Stellen im kulturellen Archiv. Sie erfinden zwar nichts genuin Neues, wenden aber eine neue, andere Aneignungspraktik an, was die hier diskutierten Beispiele besonders anschaulich vor Augen führen. Sie beziehen sich alle auf denselben Ausgangstext von Mallarmé, nehmen jedoch je eine andere Operation an ihm vor, die wiederum neue Aspekte und Konnotationen freisetzt. Die Herausforderung und die spezifische Kreativität dieser Appropriationen zeichnen sich dadurch aus, wie sie sich im Bereich des Bestehenden verorten und welchen Dialog sie mit der kulturellen Tradition aufnehmen.62 Dass wie im Fall Mallarmés mittlerweile eine gewisse Anzahl von Appropriationen zum Teil zweiten Grades vorliegen, braucht dabei nicht zwingend als Hemmnis zu fungieren, sondern kann die Suche nach einer noch nicht vorhandenen Methode der Aneignung auch stimulieren.63 61 | Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt/M.: Fischer 32004, 55. Groys exemplifiziert seine Theorie des Neuen u.a. an Duchamps Readymades, deren Logik – darin mit der Appropriation Art verwandt – auf einer musealen Neuinszenierung von aufgefundenen Alltagsobjekten beruht. Das Neue oder die Innovation zeigt sich dabei weniger im Moment des Schöpferischen als in einer Umwertung und Rekontextualisierung, worin Groys eine Strategie erblickt, die »jedem innovativen Gestus zugrunde liegt« (ebd., 73); Duchamp bringe mit seinem Verfahren »nur zur Verdeutlichung«, was die »Kultur generell« (ebd.) bestimmt. Analog bringen auch Appropriationen die Konturen künstlerischer Kreativität gerade durch ihre minimalen Eingriffe besonders prägnant zum Vorschein. 62 | In Bezug auf Broodthaers konstatiert auch Mackert: »Das historische Erbe ist ihm dabei keineswegs hinderliche Vorgabe, sondern Vorlage. Aus dem Allgemeinplatz, dass das Individuum sich nicht zuletzt in Beziehung zur Tradition erst realisiert […] erspürt Broodthaers die Öffnung und Dynamisierung der kommunikativen Prozesse und Vernetzungen von Kultur, ohne die deren Weiterentwicklung gleichzeitig nicht möglich ist.« Mackert, Gabriele: »Modell statt Meisterwerk. Buch statt Bild. Broodthaers’ Mallarmé-Konstellation«, in: Folie: Un coup de dés, 39-46, 42. 63 | Das belegen auch zwei weitere Appropriationen, auf die Michalis Pichler kurz nach Abschluss hingewiesen hat. Die Arbeiten von Eric Zboya und Guido Molinari (Un coup de dés jamais n’abolira le hasard: Translations in Higher Dimensions, 2011 und Équivalence: Un coup de Dés jamais n’abolira le Hasard, 2003) operieren beide – wo Mallarmé zu seiner Zeit noch die Fläche der Druckseite erkundete – mit dem Faktor der Dreidimensionalität (vgl. Eric Zboya im vorliegenden Band). Zboya behandelt Mallarmés Original nach dem Anaglypheverfahren, so dass der Text durch eine 3D-Brille einen räumlichen Tiefeneffekt bekommt, insofern er gleichsam über dem Papier zu schweben scheint. Interessant an diesem Verfahren ist zudem, dass bei der Herstellung der Anaglyphe (bzw. des Stereogramms) Kom-

215

216

M AGNUS W IELAND

Es ist deshalb bezeichnend, dass bislang alle Appropriationen die ›blancs‹ bei Mallarmé unberührt ließen, das unbeschriebene Terrain offener Möglichkeiten nicht besetzten, sondern es vielmehr durch die konsequente Manipulation der Schrift auch auf die beschriebene Fläche ausdehnten und die Originalvorlage an einen schriftlosen Blindband annäherten.

plementärfarben zum Einsatz kommen, welche in der Lage sind, sich gegenseitig auszulöschen (d.h. bei additiver Farbmischung ›weiß‹ ergeben). Dadurch wird dem Aspekt der Tilgung, der ausgehend vom ursprünglichen Gedichttitel in allen Appropriationen materiell umgesetzt wird, eine weitere Darstellungskomponente verliehen. Komplementärfarben spielen auch bei Molinari die entscheidende Rolle: Die Balken der Verszeilen und die umliegende Fläche sind in den Komplementärfarben gehalten (z.B. gelb und blau), die sich gegenseitig eliminieren bzw. beim Blick durch eine komplementärfarbene Brille verschwinden würden. Auf weitere Mallarmé-Appro priationen darf man gespannt sein.

Übersetzungen in höhere Dimensionen Eine topologische Reise über den zweidimensionalen Raum der Buchseite in Stéphane Mallarmés Un coup de dés hinaus Eric Zboya

D IMENSIONEN DES R AUMS BEI STÉPHANE M ALLARMÉ In Das kommende Buch vertritt Maurice Blanchot die These, dass Stéphane Mallarmés Un coup de dés »der Zukunft des Buches« eine neue Richtung weist – »durch die Entdeckung komplexerer Strukturen«1, die als poetischer Ausgangspunkt in eine Welt jenseits des zweidimensionalen Raumes der Seite fungieren. Virginia A. La Charité argumentiert, dass diese höherdimensionale Welt ein Beispiel sei für »einen primären [Raum-]Bereich, dem gegenüber Form, Kontur, Farbe und Maße ihre Begrenzung und Bestimmung gewinnen«2 – für einen Raum, der eher »eine kosmische Realität reflektiert« denn statische Linearität.3 Dieses räumliche Kontinuum bilde neben »der Seite selbst und der Schrifttype der gedruckten Wörter«4 eine der drei Hauptkomponenten von Un coup de dés. Zusammen trügen diese drei Komponenten zur Bildung von Textstrukturen bei, die Bedeutungskonstellationen erzeugen, welche ihrerseits die Fähigkeit besitzen, Grenzen zu transzendieren, die Form zu wechseln und in einem beinah unbegrenzten Raum der Möglichkeiten zu existieren.5 Da der Raum, der nach La Charité 72  % von Mallarmés Gedicht einnimmt, »unstrittig das prädominante Element« darstelle und eine fast »omnipotente

1 | Blanchot, Maurice: »Das kommende Buch«, in: Ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Frankfurt/M.: Fischer 1988, 302-330, 317. 2 | »a primary field [of space] against which form, shape, colour, [and] dimensions gain delinea tion and definition«. La Charité, Virginia A.: The Dynamics of Space: Mallarmé’s Un Coup De Dés Jamais N’Abolira Le Hasard, Lexington, Kentucky: French Forum 1987, 13. 3 | »reflects cosmic reality«, ebd., 36. 4 | »the page itself and the type of printed words«, ebd., 9. 5 | Vgl. ebd., 14.

218

E RIC Z BOYA

Abb. 1: Stéphane Mallarmé: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Poème, Paris: Nouvelles Revue Française Gallimard [1914] 2011, o. S.

Qualität«6 annehme, bilde die Räumlichkeit die thematische Kernfrage von Mallarmés Text. Wie Roger Pearson anmerkt, ist Mallarmés Skript »der Bruch des dunklen Bandes, der die Unendlichkeit des Universums umfasst«7. Denn statt sich »mit dem rein linearen Ablauf«8 zu begnügen, breiten sich die Worte und Sätze in Un coup de dés aus und verteilen sich über den Raum der Seite wie Sternbilder in einem Raum-ZeitKontinuum. Das Wort »UNE CONSTELLATION« auf der elften Seite des Gedichts legt nahe9, dass der Text ein Sternbild in der »Weite des Universums«10 veranschaulicht – einer Weite, die in diesem Fall die Seite selbst repräsentiert. In struktureller Hinsicht erzeugt das Layout des Textes Ideogramme, die den Sternzügen (Asterismen) ähneln, die auf der nördlichen Hemisphäre zu finden sind. Robert Greer Cohn hat beispielsweise dargelegt, dass die dritte und vierte Seite von Mallarmés Gedicht das Sternbild Ursa Major (Großer Wagen) abbilden, wobei die Form der Deichsel auf der linken Buchseite und die Form des Wagenkastens auf der rechten erscheint (Abb. 1). Diese konstellative Darstellung zeigt jedoch nicht das 6 | »indisputably the predominant element« / »omnipotent quality«, ebd., 83 / 71. 7 | »the fold of dark lace, encompassing the infinity of the universe«, Pearson, Roger: Mallarmé and Circumstance: The Translation of Silence, New York: Oxford University Press 2004, 8. 8 | Blanchot: »Das kommende Buch«, 319. 9 | Mallarmé, Stéphane: Un coup de dés, Paris: Gallimard 1914, o.S. 10 | »expanse of the universe«, La Charité: Dynamics of Space, 13.

Ü BERSETZUNGEN IN HÖHERE D IMENSIONEN

Abb. 2: Stéphane Mallarmé: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Poème, Paris: Nouvelles Revue Française Gallimard [1914] 2011, o. S.

eigentliche Bild der Ursa Major-Gruppe, wie man es auf der nördlichen Hemisphäre sieht, sondern gibt eine verzerrte wellenartige Spiegelung wieder, wie sie auf einer flüssigen Oberfläche erscheinen könnte. Diese Spiegelung steht für die wellenartige Bewegung des Textes, der in kosmischer Bewegung durch das weiße Kontinuum der Seite strömt. Auf der letzten Doppelseite des Textes kehrt Mallarmé zur Ursa Major zurück, die nun jedoch um die Ursa Minor (Kleiner Wagen) ergänzt ist (Abb. 2). Die Tatsache, dass die Seite nun gleichzeitig beide Sternbilder enthält statt einem, deutet darauf hin, dass sich der Text in einer Art Urknall befindet, der sich ausweitet und mehr Raum für Sprache schafft. Diese Geburt und Ausdehnung des Textes lässt sich mit dem Gedanken kurzschließen, dass die Seite ein räumliches Kontinuum darstellt, in dem ein Text entsteht, Umrisse gewinnt und zu einer klaren Bestimmung vordringt. Wie erzeugt Mallarmé nun strukturell dieses räumliche Kontinuum? In normalen Texten ist eine Seite üblicherweise eine einzelne eindimensionale Fläche, abgetrennt vom Rest des Textes durch Seitenränder und Stege. Blättert ein Leser durch den Text, sieht er oder sie aufgrund der Anatomie des Textes keinen in sich geschlossenen Raum, sondern vielmehr jeweils zwei Seiten, abgetrennt voneinander und von allem anderen durch den linken und rechten Seitenrand und den inneren Bundsteg. Um diese beiden gegenüberliegenden Seiten in einem einzigen Kontinuum zu vereinen, entwirft Mallarmé die Doppelseite bzw. Recto-Verso-Anordnung, indem er sowohl die inneren Stege als auch den Graben im Bund abbaut. Dieses strukturelle Auskristallisieren erlaubt einem Wort oder einer Zeile, den Raum des üblichen Satz-

219

220

E RIC Z BOYA

spiegels zu transzendieren, indem es oder sie vom linken Verso zum rechten Recto springt, ohne dass es zu einer Fragmentarisierung und Unterbrechung käme. So durchdringt beispielsweise die Zeile »EXCEPTÉ / à l’altitude / PEUT-ÊTRE / aussi loin qu’un endroit« auf der linken Seite der letzten Doppelseite des Gedichts die Zeile »fusionne avec au delà« auf der rechten Seite (Abb. 2). Obwohl der Bund des Buches diese Zeile zwischen »endroit« und »fusionne« zerteilt, liest sich der Satz wie ein ungeteilter Text, als wäre er räumlich verschmolzen. Diese Verbindung über die Grenzen von Seitenrändern und Bund hinweg belegt die weiter oben vertretene Ansicht, dass der Text eine Art räumlicher und metaphorischer Transzendenz erfährt. Obwohl Mallarmé darlegt, dass die »typographische Unterscheidung […] dem mündlichen Vortrag [ihre Stärke diktiert] und […] die Höhe oder Tiefe des Stimmansatzes [notiert]«11, trägt die heterogene Typografie des Textes nach Meinung La Charités auch dazu bei, die »Dimensionalität des Raums«12 auf der Seite noch einmal zu bestätigen. Charles Olson hatte in Projektiver Vers eine Theorie der »FELD-KOMPOSITION«13 eingeführt, welche den »große[n] Bereich des ganzen Gedichts«14 umfasst und eine räumliche Ebene impliziert, in der »alle Silben und alle Zeilen in ihrem Verhältnis zueinander gehandhabt zu werden verlangen«15. In dieser räumlichen Organisation bilden die Textobjekte (inkl. der implizierten Bilder und Zeichensysteme) das konstellative Raster des Werkes, und dieses Raster ist mitursächlich für die Formulierung des Gedankens: »FORM IST NIE MEHR ALS EINE AUSDEHNUNG VON INHALT«16. Obwohl damit die klangliche und kinetische Struktur des Gedichts erklärt werden kann, besitzt die hier formulierte Idee Olsons eine einzigartige Vielseitigkeit, die es erlaubt, sie im Fall Mallarmés über die Parameter mündlicher Rede hinaus daraufhin zuzuspitzen, dass das typografische, wenn nicht das topologische Gefüge des Textes den räumlichen Kontext des Gedichts reflektiert. Innerhalb dieses räumlichen Bezugssystems durchziehen eine Reihe von typografischen und topografischen Variationen Mallarmés Text, darunter ein diversifiziertes Schriftbild (so reicht der Schriftgrad von 22 pt bis 3 pt, während der jeweils eingenommene Raum gleich bleibt), der Gebrauch von Lexik mit Bezügen zu Raum und Dimensionalität (wie »UNE CONSTELLATION«) und ideogrammatische Darstellungen von Sternenzügen (wie die Sternbilder Ursa Major und Ursa Minor). All das trägt gemeinsam 11 | Mallarmé, Stéphane: »Vorwort«, in: Ders.: Gedichte. Französisch und Deutsch, Gerlingen: Schneider 1993, 244-247, 245. 12 | »dimensionality of [the] space«, La Charité: Dynamics of Space, 60. 13 | Olson, Charles: »Projektiver Vers«, in: Ders.: Gedichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1965, 105-120, 106 [Herv. i. O.]. 14 | Ebd., 112. 15 | Ebd. 16 | Ebd., 107 [Herv. i. O.].

Ü BERSETZUNGEN IN HÖHERE D IMENSIONEN

dazu bei, mithilfe eines sowohl typografischen als auch topologischen Rasters einen höherdimensionalen Kontext des Textes zu erzeugen. Malcolm Bowie hat darauf hingewiesen, dass der Druck eines Textes »dem Raum, der ihn umgibt, Struktur gibt«17, und er hat die Idee eines unendlichen Kontinuums zwischen den Textelementen und jenseits der Textelemente gestärkt. Darüber hinaus ist seiner Ansicht nach Raum für Mallarmé »genauso wenig leer, wie es der physikalische Raum für Descartes oder Einstein ist«18. Für Descartes gibt es keinen leeren Raum; Raum »ist eine physische Substanz […] mit einer Ausdehnung in Länge, Weite und Tiefe. Diese [dreidimensionale Substanz] meint, dass die Ausdehnung, die Körper [etwa einen Text] konstituiert, und die Ausdehnung, die Raum konstitutiert, in dem diese Körper verortet sind [etwa der weiße Raum einer Seite], dieselbe ist« 19.

Kurz: Der Raum der Seite sorgt für eine Erweiterung bzw. Ausweitung des Textes selbst, anders formuliert: Der Text und der Raum, den der Text besetzt, entsprechen einander. In dieser Hinsicht impliziert die »undenkbare Leere, die jenseits der bewegten Texturen des Gedichts liegt«, eine Form »unbekannter Sprache«20, die ihrem Wesen nach paragrammatisch ist, wo »nichts wahrzunehmen oder zu verstehen oder zu schätzen oder zurückzuweisen bleibt«21, ganz wie der Text des Gedichts selbst. Astrophysiker mögen noch vor weniger als einem Jahrhundert geglaubt haben, Raum konstituiere ein leeres Vakuum ohne Substanz. Einstein war der erste Physiker, der sich vergegenwärtigte, dass leerer Raum physikalische Eigenschaften besitzt. Der Physiker Henning Genz erklärt Einsteins Relativitätstheorie so, dass im Raum »Masse […] fluktuiert und leerer Raum ein konstantes Entstehen und Verschwinden von Partikeln kennt, die diese Masse tragen«22 . Genz fügt hinzu, dass 17 | »gives pattern to the space which surrounds it«, Bowie, Malcolm: Mallarmé and the Art of Being Difficult, London: Cambridge University Press 1978, 116. 18 | »no more empty than physical space is for Descartes or for Einstein«, ebd., 144. 19 | »is a corporeal substance […] extended in length, breadth, and depth. This [three-dimensional substance] means that the extension constituting bodies [such as text], and the extension constituting the space in which those bodies are located [like the white space of the page] are the same«, Feinberg, Joel/Shafer-Landau, Russ: »René Descartes: Meditations on First Philosophy«, in: Dies. (Hgg.): Reason and Responsibility: Readings in Some Basic Problems of Philosophy, Belmont, Cal.: Wadsworth 12 2005, 145-177, 148. 20 | »unthinkable blankness lying beyond the busy textures of the poem« / »unknown language«, Bowie: Mallarmé, 116. 21 | »nothing remains to be perceived, or understood, or cherished, or repudiated«, ebd. 22 | »Mass […] fluctuates, and empty space [sees] a constant emergence and disappearance of particles that carry this mass«, Genz, Henning: Nothingness: The Science of Empty Space, New York: Basic 1999, viii.

221

222

E RIC Z BOYA

physikalischer Raum »mitnichten leer und frei von Besonderheiten«23 sei: »alles, das existieren kann, oszilliert und wirbelt in ihm auf eine zufällige, ungeordnete Weise herum«24. Insofern entsprechen Bowies astrophysikalische Ideen Bonnie J. Isaacs Vorstellung, dass Mallarmés Text eine räumliche Ebene aufzeige, wo die Wörter wie Atome in einem »›chaos-verseau‹« fließen bzw. wie in einer »›chaos-nuage‹«25 fluktuieren würden – ein Feld totaler chaotischer Zufälligkeit, obwohl der Text selbst dem Anschein nach auf der Seite fixiert ist. Für La Charité symbolisiert Mallarmés Raumkontinuum daher einen »unbegrenzten, alogischen, antilinearen und asymmetrischen Raum«26. Unter Bezug auf die typografischen und topologischen Konnotationen des Textes erklärt La Charité, dass »Raum durch den gedruckten Text konkretisiert wird; die flache, eindimensionale Oberfläche der Seite wird zweidimensional, wenn sie als Reliefschrift gesetzt ist und durch die Schwärze der Schrift intensiviert wird«27. Da der Text keine konkrete Struktur hat, insofern er die Ränder und die Linearität aufhebt, löst sich die Zweidimensionalität der Seite tatsächlich auf und geht über in einen höheren Bereich asymmetrischer Dimensionalität. Kurz gesagt, dieser Text symbolisiert nach La Charité eine Art nicht-euklidischen Raumes – einen Hyperraum jenseits der dreidimensionalen Membran dieses Universums. Blanchot bemerkt in diesem Zusammenhang, dass innerhalb dieses nicht-euklidischen Raumes »nie der Augenblick auf den Augenblick [folgt.] […] Es wird hier nicht etwas erzählt, das sich, wenn auch nur erfundenermaßen, begeben haben soll«28. Insofern können alle Zeichensysteme innerhalb dieses textlichen Hyperraumes (das meint »die Sprache, die variablen Schriftbilder und den Zwischenraum [und] die bildhaften Imitationen«29) in all ihren Elementen übersetzt werden in eine unbekannte, nicht auf Linearität basierende Sprache einer »andere[n] Zeitdimension«30. Diese nicht-euklidische Sprache schafft eine neue, höherdimensionale Form von Dichtung, die die lineare »erzählerische Zeit«31 oder »unsere [menschliche] Zeit«32 aufhebt und »die omnipotente[n]

23 | »by no means empty and devoid of characteristics«, ebd. 24 | »anything that can exist will oscillate and spin in it in a random, disordered fashion«, ebd. 25 | Isaac, Bonnie J.: »›Du fond d’un naufrage‹: Notes on Michel Serres and Mallarmé’s ›Un Coup de dés‹«, in: Bloom, Harold (Hg.): Stéphane Mallarmé, New York: Chelsea 1987, 167-183, 169. 26 | »unlimited, a-logical, anti-linear, and asymmetrical space«, La Charité: Dynamics of Space, 13. 27 | »space is concretized by the printed text; the flat, one-dimensional surface of the page becomes two-dimensional when it is set in relief and intensified by the blackness of the type«, ebd., 39. 28 | Blanchot: »Das kommende Buch«, 324. 29 | »[the] language, [the] variable type-faces and spacing, [and the] pictorial imitations«, Bowie: Mallarmé, 116. 30 | Blanchot: »Das kommende Buch«, 324. 31 | Ebd., 325. 32 | Ebd.

Ü BERSETZUNGEN IN HÖHERE D IMENSIONEN

Qualität[en] des Raums« auf der »planen, eindimensionalen«33 Oberfläche der Seite visuell exponiert. Cohn zufolge ist Mallarmés Text »eines der am wenigsten zu entschlüsselnden Schriftstücke der Literatur«34, schlicht wegen dieser abstrakten, höherdimensionalen Thematik und der semantischen Bruchstücke, die den Text durchziehen und all die Regeln, die mit der Kunst des Lesens und den Textstrukturen verbunden sind, syntaktisch aufbrechen wie das Schiffswrack, auf dem das Gedicht aufgebaut ist. Wie oben bereits erwähnt, beruhen diese Konzeptionen und Splitter auf der Verwendung einer vielfältig variierten Schrifttype, die dazu beiträgt, eine Tiefendimension herauszustellen; auf transzendierenden Zeilen, die die räumlichen Mechanismen der Seite aufbrechen, indem sie den Text »vom Rand einer Seite über den intervenierenden Bund hinweg«35 zur gegenüberliegenden Seite hin überschreiten; und auf Satzsplittern, semantischen Disjunktionen, die jede Partikel des Textes zu einem räumlichen Organismus machen. Diese Techniken eröffnen Künstlern eine einzigartige Vielfalt an Möglichkeiten, darauf verschiedenartige Übersetzungen und konzeptualistische Variationen zu gründen. Übersetzungen und Variationen dieser Art sind z.B. Un Coup de dés jamais n’abolira le hasard. Image von Marcel Broodthaers (1969), Équivalence: Un coup de Dés jamais n’abolira le Hasard von Guido Molinari (2003) und Un Coup de dés Jamais N’Abolira Le Hasard. Sculpture von Michalis Pichler (2008).36 Diese drei Künstler bieten hervorragende Variationen von Mallarmés Text; ihre kreativen Versuche, die komplexen Vorstellungen von Räumlichkeit durch eine große methodische Bandbreite herauszustellen, sind eine kritische Erkundung wert.

M ARCEL B ROODTHAERS Marcel Broodthaers’ grundlegende Arbeit Image von 1969 übersetzt Mallarmés Text in ein neues Kontinuum von Dimensionalität. In Image legt es Broodthaers darauf an, »durch Eliminierung der Referenz die räumlichen Dimensionen der Sprache zu betonen«37. Um diese räumliche Dimension zu verdeutlichen, tilgt Broodthaers Mallarmés Text und macht die Worte zu einer proportionalen Abfolge von massi-

33 | »omnipotent qualit[ies] of space« / »flat unidimensional«, La Charité: Dynamics of Space, 71 / 41. 34 | »one of the most indecipherable pieces of writing in any literature«, Cohn, Robert Greer: Mallarmé Un Coup de Dés: An Exegesis, New York: AMS Press 1949, 3. 35 | »from the edge of one page across the intervening fold«, ebd., 4. 36 | Vgl. zu Broodthaers und Pichler auch die Ausführungen von Magnus Wieland im vorliegenden Band. 37 | »[to] emphasize the spatial dimensions of language while eliminating its reference«, Dworkin, Craig: Reading the Illegible, Evanston, Ill.: Northwestern University Press 2003, 150.

223

224

E RIC Z BOYA

Abb. 3: Marcel Broodthaers: Un Coup de dés jamais n’abolira le hasard. Image, Antwerpen/Köln: White Space Gallery/Michael Werner 1969, o. S.

ven, horizontalen schwarzen Rechtecken38, die wie Schatten durch die kommenden transparenten Seiten des Textes hindurchscheinen (Abb. 3). Das Ergebnis gleicht nach Dworkin »einem geometrischen, konstruktionistischen Design, in dem die stille Weite der Seite unterbrochen wird von der kompromisslosen Präzision der starren Formen, die sie punktuieren«39. Diese geometrischen Schatten besitzen eine Reihe von Bedeutungen, die zur Schaffung des räumlichen Bezugssystems des Textes beitragen. Zum einen sollen sie die charakteristische Beziehung des Textes zur kaum dechiffrierbaren Semantik von Mallarmés Gedicht veranschaulichen. Dworkin zufolge bildet Broodthaers’ Text eine »Extension von Mallarmés Poetik«40, insofern er die Vorstellung dessen zu etablieren hilft, was »Derrida ›einen Text, d.h. Lesbarkeit ohne Signifié‹, nennen würde«41. Da der Raum auf der Seite eine Art nicht-euklidischer Sprache konstituiert und da er eine Erweiterung des Textes selbst darstellt, deutet Broodthaers’ Text jedoch noch eine andere räumliche Form paragrammatischer Sprache an. 38 | Vgl. Rorimer, Anne: »The Exhibition at the MTL Gallery in Brussels, March 13-April 10, 1970«, in: Buchloh, Benjamin H. D. (Hg.): Broodthaers: Writing, Interviews, Photographs, Cambridge: MIT Press 1987 [October 42], 101-125, 113. 39 | »a geometric, constructionist design in which the calm expanse of […] [the] page is interrupted by the hard-edged precision of fixed forms that punctuate it«, Dworkin: Reading the Illegible, 150. 40 | »extension of Mallarmé’s poetics«, ebd. 41 | »Derrida would call ›a text, that is, a readability without a signified‹«, ebd.

Ü BERSETZUNGEN IN HÖHERE D IMENSIONEN

Diese zweite Bedeutungsebene betrifft die Vorstellung textlicher Transzendenz. Broodthaers’ schwarze horizontale Blöcke »scheinen durch die Tiefen des Buches zu treiben«42. Dieses Flottieren oder gar Absondern deutet darauf hin, dass hier eine Art textuellen Auf- und Abstiegs innerhalb des Textes geschieht, da die Balken auf den Vorderseiten mit jedem Umblättern allmählich aufzusteigen scheinen, bevor sie dann allmählich wieder im Textkörper verschwinden. Darüber hinaus veranschaulicht auch der Umstand, dass die Enden der Balken »mit jeder Papierschicht zunehmend schwächer werden«43, diese Idee textlicher Transzendenz. Und schließlich geben Anne Rorimer zufolge die horizontalen Blöcke auf einer dritten Bedeutungsebene Broodthaers’ »Re-Fusion von Wort und Bild in einer völlig neuen ›Konstellation‹«44 diagrammatischen Textes wieder. Dieser diagrammatische Text übersetzt die strukturelle Gestalt des Textes in rein visuelle ideogrammatische Bilder, die die Sternzüge in Mallarmés Text (etwa die bildhaften Darstellungen von Ursa Major und Ursa Minor) bewahren, während sie zugleich die ursprüngliche Referenz auslöschen.

G UIDO M OLINARI Für den modernen neoplastizistischen Maler Guido Molinari stellt Mallarmé den »›starting point‹« dar, von dem aus sich die Poesie über ihr eigenes »›deskriptives Bedürfnis‹«45 nach Ausdruck und Bedeutung hinaus weiter vorwagen sollte: »Poesie soll das Wort, in seiner physischen Komponente, von der Bedeutung trennen«46, so Molinari. In Équivalence: Un coup de Dés jamais n’abolira le Hasard von 2003 löst Molinari die physische Komponente des Wortes von seiner Bedeutung durch die Verwendung von, wie er es nennt, »phonetischer Farbe«47 (Abb. 4). Für Molinari zeigt Farbe beispielhaft die »phonemischen Bausteine«48 des Textes. In seinem Buch Équivalence ersetzt Molinari folgerichtig Mallarmés Text mit einer Reihe von einfarbigen Balken bzw. einfarbigen Phonemen, in denen »Farbe

42 | »appear to float through the depths of the book«, ebd., 151. 43 | »increasingly soften with each layer of the paper scrim«, ebd. 44 | »re-fusion of word and image within an entirely new ›constellation‹«, Rorimer: »Exhibition at the MTL Gallery in Brussels«, 114. 45 | »›descriptive need‹«, Marchand, Sandra Grant: Guido Molinari: Une Rétrospective, Montreal: Musée d’art contemporain de Montreal 1995, 11. 46 | »Poetry [is] intended to dissociate the word, in its physical component, from the meaning«, Molinari zit. n. ebd. 47 | »phonetic colour«, ebd. 48 | »phonemic building blocks«, ebd., 10.

225

226

E RIC Z BOYA

Abb. 4+5: Guido Molinari: Équivalence: Un coup de Dés jamais n’abolira le Hasard, Montreal: les éditions du passage 1981, Cover und Doppelseite. .

hilft, Raum oder Räume [auf der Seite] zu definieren«49. In Équivalence verwendet er nur drei Farben, um Raum zu entwerfen: violett, rot und gelb. Jede Doppelseite nutzt zwei dieser drei Farben – und während eine Seite Streifen von violettem Text in einem Kontinuum von Rot aufweist, stellt eine andere Seite rote Streifen 49 | »colour helps to define space, or spaces«, Beaupré, Marie-Eve: Molinari et la couleur: Molinari Painting and Colour, Montreal: Éditions Simon Blais 2008, 11.

Ü BERSETZUNGEN IN HÖHERE D IMENSIONEN

auf einem gelben Meer vor (Abb. 5). Die Kunsthistorikerin Marie-Eve Beaupré legt den Schluss nahe, dass diese Streifen vor einfarbigem Hintergrund ein »einzigartiges bildnerisches Vokabular [schaffen], das sich [von] einer nichtfigurativen räumlichen Struktur ableitet, welche sich um [die] dynamische chromatische Fläche [der Seite] organisiert«50. Diese Verwendung chromatischen Vokabulars führt nicht nur einen vibrierenden visuellen Rhythmus in den Text ein51, sondern trägt auch dazu bei, durch die Interaktionen und Relationen der Farben untereinander ein »nichteuklidisches, energetisches Feld unbegrenzter Möglichkeiten«52 zu generieren. Für Molinari gilt: »›plastische Realität liegt in […] der dynamischen Funktion, die aus dem Zusammenspiel von […] Farbe und Fläche resultiert‹«53. Mit anderen Worten: Das Verhältnis und die Interaktion zwischen den Farben und der Seite erzeugen eine dreidimensionale Form auf einer zweidimensionalen Oberfläche. Aus der Kombination dieser farbigen und räumlichen Elemente entsteht eine plastische Struktur, deren räumliche Erfahrung den Betrachter aufgrund der »Dynamik aktiver Perzeption«54 »direkt in die Farben [auf der Seite] eintauchen lässt« .55 Diese aktive Wahrnehmung belässt den Leser »in einem Dauerzustand der Kreation«56, der es ihm erlaubt, »die durch die multiple[n] Juxtaposition[en] ausgelösten optischen Effekte wahrzunehmen«57, die auf der zweidimensionalen Buchseite »eine Unbegrenztheit [dreidimensionaler] Räume generieren«58.

M ICHALIS P ICHLER Der bildende Künstler Michalis Pichler bietet mit Un Coup de dés Jamais N’Abolira Le Hasard. Sculpture von 2008 eine weitere konzeptualistische Variation von Mallarmés Gedicht. In Sculpture löscht Pichler den Referenztext, um die nicht-euklidischen Motive aufzudecken, die sich im Raum der Buchseite verstecken. Anders als Broodthaers und Molinari treibt Pichlers Übersetzung die Textlöschung noch einen Schritt weiter, indem der Text in seiner Gänze mit Laserschnitten buchstäblich ent-

50 | »unique pictorial vocabulary stemming […] [from] a non-figurative spatial structure organized around [the] dynamic chromatic area«, ebd., 12. 51 | Vgl. ebd., 13. 52 | »non-Euclidean, energetic field of infinite possibilities«, Marchand: Guido Molinari, 16. 53 | »›plastic reality lies in […] the dynamic function resulting from the relationship between […] colour and plane‹«, Molinari zit. n. ebd., 10. 54 | »dynamics of active perception«, Marchand: Guido Molinari, 13. 55 | »plunges the viewer straight into the colours«, Beaupré: Molinari et la couleur, 12. 56 | »in a constant state of creation«, ebd., 10. 57 | »discern the optical effects activated by the [multiple] juxtaposition[s]«, ebd., 12. 58 | »generate an infinity of [three-dimensional] spaces«, Marchand: Guido Molinari, 11.

227

228

E RIC Z BOYA

Abb. 6: Michalis Pichler: Un Coup de dés Jamais N’Abolira Le Hasard. Sculpture, Berlin: »greatest hits« 2008, o. S.

fernt wird (Abb. 6). Diese Einschnitte lassen eine Abfolge negativen Raums entstehen, der als Zugang zu den nächstfolgenden Seiten des Textes fungiert. Diese Durchlassstellen besitzen zwei Bedeutungsebenen, die die dimensionalen Eigenschaften des Textes akzentuieren. Auf einer ersten Bedeutungsebene geht es bei diesen Schnittstellen darum, dass sie, indem sie Lichtstrahlen auf die folgenden Seiten durchlassen, Vorstellungen einer dimensionalen Interkonnektivität zwischen den Seiten des Textes freizusetzen helfen. Auf einer zweiten Bedeutungsebene geht es um den Vergleich zwischen Sculpture selbst und dem Bezugstext, der über die literarische Technik apophatischen Sprechens hergestellt werden kann (»Anspielung auf etwas mittels Verneinung, dass es erwähnt werden wird«59). Durch die Allusion auf Mallarmés Un coup de dés erzeugen diese Negativstellen im Grunde eine weitere Form paragrammatischer Sprache, ganz wie die unentzifferbare, nicht-euklidische Sprache Mallarmés. Diese Sprache will zeigen, dass sowohl der ausgelassene Text in Sculpture als auch dessen Referenz in einer Art Anti-Raum existieren – einem Raum, der weder aus Seite noch aus Text besteht. Diese AntiRäume tragen dazu bei, die höherdimensionalen Motive und Konnotationen von Mallarmés Text – also Ideen, die zuweilen zu abstrakt bleiben, um überhaupt in irgendeiner Sprache angemessen vermittelt werden zu können – deutlich werden zu lassen. Obwohl der Referenztext aus Sculpture herausgeschnitten wurde, existiert immer noch eine Art Anti-Text; jedoch bleibt seine Existenz irgendwo in einem 59 | »allusion to something by denying that it will be mentioned«, Gibbons, Reginald: »On Apophatic Poetics«, in: The American Poetry Review 36:6 (2007), 19-23, 23.

Ü BERSETZUNGEN IN HÖHERE D IMENSIONEN

höherdimensionalen Feld bzw. in einer Art metaphorischem Minkowski-Raum verborgen, also einem Raum, in dem tiefere Ebenen semantischer Bedeutung in scheinbar leerem Raum unter der lexikalischen Oberfläche begraben bleiben, so wie hyperräumliche Eisberge.

P ERSPEKTIVEN TEXTBASIERTER R ÄUME Broodthaers, Molinari und Pichler schaffen atemberaubende Übersetzungen auf visueller Ebene; allerdings erkunden ihre Interpretationen die höherdimensionalen Motive bloß, die Mallarmés Text darbietet, statt sie vollständig freizulegen. Obwohl jeder Künstler eine andere Technik verwendet, um die räumliche Thematik auszustellen, ist ihnen doch allen gemeinsam, dass sie den Referenztext löschen. Dworkin zufolge »basiert Mallarmés Werk […] auf der Materialität des Wortes«60. Und J. Abbott Miller stellt fest, dass »die Geschichtsschreiber der Typografie und Beschilderung Buchstaben [immer] als physische, räumliche Entitäten interpretiert haben«61, die sich in einem Bereich jenseits des zweidimensionalen Raumes der Buchseite ansiedeln. Nach Miller bringt die Typografie »RÄUMLICHE UND TEMPORALE Dynamik«62 hinein, die die Vorstellung zu akzentuieren hilft, dass das Kontinuum der Seite in einem fast cartesianischen, geometrischen Feld existiert, welches Länge, Breite und Tiefe aufweist. Vor diesem Hintergrund fügen Broodthaers’, Molinaris und Pichlers Tilgungen der buchstäblichen Textelemente zusätzliche Schichten auf einer höherdimensionalen Bedeutungsebene hinzu. Diese Lineationen geschehen auf drei Wegen. Erstens verschwindet durch die Löschung des Textes jeglicher metaphorischer Bedeutungskern, den die Typografie in Bezug auf den theoretischen Kontext des Textes mit sich führt. Zweitens reduziert sich durch die Löschung des Textes der der Typografie eigene räumliche Charakter auf die Linearität. Drittens verlieren die volumetrischen Eigenschaften der Buchseite durch die Löschung des Textes ihre cartesianische geometrische Dynamik, so wird jede Seite zu einer planen, zweidimensionalen Fläche. Die Frage jedoch bleibt: Ist Broodthaers, Molinari und Pichler aus der Flucht aus der Räumlichkeit in ihren Darstellungen ein Vorwurf zu machen, wenn es ihnen doch eigentlich darum ging, diese höherdimensionale Bedeutungsebene hervorzuheben? Nicht unbedingt. Das Problem liegt in der durch mechanische Hemmnisse bedingten technologischen Unfähigkeit, Höherdimensionalität adäquat darstellen 60 | »Mallarmé’s work predicated […] on the materiality of the word«, Dworkin: Reading the Illegible, 150. 61 | »the histor[ians] of typography and signage have [always] interpreted letters as physical, spatial entities«, Miller, J. Abbott: Dimensional Typography: Case Studies on The Shape of Letters in Virtual Environments, Princeton: Princeton Architectural Press 1996, 1. 62 | »near-to-far SPATIAL AND TEMPORAL dynamic[s]«, ebd.

229

230

E RIC Z BOYA

zu können. Zum jetzigen Zeitpunkt verfügt die Wissenschaft noch nicht über die Technologie, um, sagen wir, textbasierte Räume zu schaffen, die jenseits der zweidimensionalen Seite tatsächlich dreidimensional existieren können – eine räumliche Landschaft, in der der Leser die Möglichkeit haben könnte, jedes Wort und jede Zeile wie Textskulpturen im Raum schweben zu sehen, was die angemessene Art der Darstellung für Un coup de dés wäre. Wie C. T. Funkhouser bemerkt, zeugt »die zunehmende Zahl von digitalen Dichtern – und ihren Lesern« von »einem wachsenden Interesse an den Ausdrucksmöglichkeiten von Computern«63, insbesondere was die dynamischen Programme betrifft, die diese Computer verwenden. Für Schriftsteller und Dichter spielen heute die Ausdrucksmöglichkeiten von Computern und Computerprogrammen eine zentrale Rolle beim Schreiben. Obwohl die Wissenschaft technisch noch nicht in der Lage ist, Buchseiten zu erzeugen, die dreidimensional aufragen, werden es einst diese digitalen Apparaturen sein, durch die schließlich die Idee der Höherdimensionalität auf der Textebene verwirklicht werden kann. Da wir diese Art von technischem Wissen noch nicht besitzen, sind wir gezwungen, verschiedene, wenn auch unstrittig beschränkte Verfahren anzuwenden, etwa das Einbeziehen verschiedener Schriftgrößen und das Löschen und Ausschneiden von Text, um dergestalt eine Ahnung davon hervorzurufen, dass es eine Topografie des Raumes auch jenseits des zweidimensionalen Raumes der Buchseite gibt.64 Als Ganzes symbolisiert Un coup de dés eine cartesianische geometrische endlose Weite, die topologisch jenseits der Buchseite liegt – eine Weite, die neben anderen Broodthaers, Molinari, Pichler und sogar Mallarmé selbst versucht haben sichtbar zu machen über die Restriktionen hinweg, die von der derzeitigen Technologie gesetzt werden. Doch wird mit den gewaltigen Fortschritten in der Computertechnologie die Technik bald so ausgereift sein, dass es möglich sein wird, die Dynamik des Raumes – den Reichtum des Raumes, wie er von Sprache repräsentiert wird – digital auszudrücken. (Übersetzung: Caroline Haufe)

63 | »the growing numbers of digital poets –  and poetry readers« / »a burgeoning interest in the expressive capabilities of computers«, Funkhouser, C. T.: Prehistoric Digital Poetry: An Archaeology of Forms, 1959-1995, Tuscaloosa: University of Alabama Press 2007, 221. 64 | Als Antwort auf die wissenschaftlichen Einschränkungen, die Künstler bei der Darstellung von Mallarmés Text in höhere Dimensionen erfahren, hat der Verf. drei computergenerierte Interpretationen von Un coup de dés geschaffen – eine mithilfe dreidimensionaler Typografie, eine mithilfe von Anaglyphen und eine mithilfe einer algorithmischen Übersetzung. Vgl. Zboya, Eric: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard: Translations in Higher Dimensions, veröffentlicht 2011 auf http://ubumexico. centro.org.mx/text/vp/003_Zboya_Un_Coup_de_Des_2011.pdf vom 20.12.2011.

Thematisch

Von der künstlerischen Aneignung literarischer Werke in Künstlerbüchern: zwischen Zerstörung und Einverleibung Anne Mœglin-Delcroix

Die Entwertung der Einzigartigkeit und der Originalität in den darstellenden Künsten des 20. Jahrhunderts beruht auf dem Misstrauen gegenüber der Mythologie des Künstlers als Schöpfer. Im Gegensatz zu den futuristischen und konstruktivistischen Avantgarden, für welche die Tabula Rasa die Bedingung für Innovation ist, haben Duchamp mit dem Readymade, und, zum gleichen Zeitpunkt, Picasso und Braque mit den Papier collés eine paradoxale Form des Neuen erfunden, die ihre Quelle in der künstlerischen Wiederverwendung von gefundenen Gegenständen oder Materialien hat. Man kann eine tiefgründige Kontinuität zwischen einem solchen Ansatz und jenem vieler Künstler der 1960er und 70er Jahre aufdecken, die wie Christian Boltanski schon existierende Fotografien und Dokumente wiederverwenden oder wie Dieter Roth aus Malbüchern, Comics oder populären Zeitschriften entnommene Seiten zu Büchern verarbeiten. Es ist für unsere Überlegung von Belang, diese Praxis der Wiederverwendung klar von jener der künstlerischen Aneignung zu unterscheiden, um die es im Folgenden gehen wird. Im ersten Fall werden gewöhnliche Gegenstände oder Materialien, ohne intrinsische Bedeutung, jedoch vom Künstler legitim erworben, zum Kunstwerk erhöht (im Fall des Readymade) oder in ein Kunstwerk integriert (im Fall des Papier collé): der Flaschentrockner oder die Zeitschriftenseite steigern ihre Würde, erhalten Zugang zu einer höheren Wertordnung und erlangen ein zusätzliches Bedeutungsniveau. Was wie eine Entästhetisierung wirken mag, kann auf der anderen Seite als Integration des banalen Objekts in die Kunstsphäre interpretiert werden. Was den Anschein erwecken kann, die künstlerische Schöpfung in die Anonymität des Alltagsgegenstandes zu ziehen, legt tatsächlich die Fähigkeit des Künstlers offen, alles zu verwandeln. Doch diese Verwandlung bleibt im Wesent-

234

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

lichen symbolisch und berührt nicht den Gegenstand, sondern seinen Status, seine Daseinsform und seine soziale Anerkennung. Im Gegensatz dazu besteht die Aneignung im Allgemeinen darin, das Gut anderer an sich zu reißen: Das Wort Aneignung selbst, welches keinen legitimen Erwerb, sondern Plünderung, Piratentum, Wilderei oder gar Raub anklingen lässt, ist negativ konnotiert. Die künstlerische Aneignung besteht nun darin, sich des Werkes eines anderen, in den meisten Fällen eines Meisterwerkes, zu bemächtigen. Und in dem Maße, in welchem sie, auf dem ursprünglichen Werk aufsitzend, selbst einen Werkcharakter beansprucht, lässt es dieses ursprüngliche Werk nicht intakt: Im Gegensatz zum Readymade oder zum Papier collé geht es nicht darum, einen Gegenstand in ein Werk des Geistes zu verwandeln (symbolische Modifikation), sondern darum, ein Werk des Geistes wie einen zu verwandelnden Gegenstand zu betrachten (materielle Modifikation). Daher die implizite oder explizite Verbindung zwischen Aneignung und Zerstörung, wobei sich letztere den Anschein eines unschuldigen, mehr oder minder parodistischen Spiels zu geben vermag. So ist das aneignende Vorgehen in seiner Essenz eindimensional, obwohl es, notwendig zweiten Grades, auf ein anderes Werk verweist, und im Unterschied zum Readymade oder zum Papier collé kann es den Gegenstand nicht transzendieren, indem es ihn seinem ursprünglichen Status entreißt. Selbst wenn das aneignende Werk bestenfalls von höherer Qualität ist, so wird es zwischen diesem und dem angeeigneten Werk nur einen Unterschied bezüglich des Niveaus des künstlerischen Erfolges geben, nicht aber bezüglich der Natur der Werke – die beiden begegnen sich sozusagen auf Augenhöhe: Um gewürdigt zu werden, verlangt das aneignende Werk vom Betrachter, dass er es Punkt für Punkt mit dem Ausgangswerk vergleiche. Mir geht es im Folgenden darum, das spezifische Interesse von Künstlerbüchern herauszustellen, die sich literarische Werke aneignen. Zu diesem Zweck ist es nützlich, diese zunächst einmal in allgemeiner Hinsicht innerhalb der unterschiedlichen Modi der Aneignung im Bereich des Künstlerbuches zu verorten. Es kann im begrenzten Rahmen dieses Beitrags nicht darum gehen, die Gesamtheit der praktizierten Aneignungsformen darzustellen, sondern nur darum, einige strukturierende Richtungen aufzuzeigen, und, sofern möglich, einigen bekannten Beispielen einige weniger bekannte hinzuzufügen. Ich richte meine Aufmerksamkeit dabei vor allem auf die Aneignung von vollständigen Werken, da sie sich klar vom Zitat oder von der punktuellen Anleihe unterscheiden und dadurch aussagekräftiger sind.

VORBEMERKUNGEN ZUR VIELFALT DER A NEIGNUNGSFORMEN IN K ÜNSTLERBÜCHERN Die sichtbarste Form der Aneignung, die in den letzten zehn Jahren in einem Maße zugenommen hat, dass sie eine Art Untergattung konstituiert, betrifft Künstlerbücher, die andere Künstlerbücher wieder aufgreifen. Bekanntermaßen sind es die

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

Bücher von Ed Ruscha, zumindest einige von ihnen, die am häufigsten bearbeitet werden: Ihre bedeutende historische Rolle bei der Entstehung des Künstlerbuches zu Beginn der 1960er Jahre und bei der Bestimmung seiner Definition erklärt ihre Beliebtheit unter jungen Künstlern seit den 1990er und vor allem im Laufe der 2000er Jahre. Beispielhaft genannt seien Jeffrey Brouws1, John O’Brian2, Jonathan Monk3, Simon Morris4, gefolgt von vielen anderen.5 Es ist offensichtlich, dass die Herausforderung inzwischen schlicht und einfach darin besteht, der Liste der Reprisen eine weitere Nummer hinzuzufügen, um einen Platz in der Sammlung zu belegen! Es wäre einfach (und langweilig), hier alle Formen der mehr oder weniger inspirierten hypertextuellen Transformation (Zitat, Imitation, Plagiat, Remake, Adaption, Erweiterung, Parodie etc.) ausfindig zu machen. Die Goldgrube versiegt und degeneriert in einer Art postmodernem Manierismus, typisch für eine unter Einfluss stehende Generation, die ihr Werk sozusagen in Stellvertretung realisiert. Die erste Arbeit dieser langen Liste ist für lange Zeit die einzige ihrer Art geblieben. Sie wurde 1968 von Bruce Nauman unter dem Titel Burning Small Fires veröffentlicht (Abb. 1).6 Es mag hilfreich sein, sie einer kurzen Analyse zu unterziehen, um anschließend die Besonderheit der Aneignung von literarischen Texten, die einem anderen Vorhaben und einer anderen Strategie angehören, besser zu erfassen. Offensichtliches Thema ist die fotografische Erzählung der Zerstörung von Edward Ruschas Buch Various Small Fires & Milk, das vier Jahre zuvor veröffentlicht wurde.7 In diesem Faltbuch mit rotem Cover zeigt eine Serie von Schwarzweiß-Fotografien, wie eine Originalbuchseite nach der anderen vom Feuer zerstört wird. Das Ganze hat den Anschein, als ob Nauman den Inhalt von Ruschas Buch, eine Sammlung von »Small Fires« (Feuerzeug, Zigarette, Barbecue, Leuchttürme u.ä.), gegen dieses selbst wenden würde. Man könnte sagen, dass es sich um eine methodisch-destruktive Lektüre handelt, die vom Thema des Buches selbst inspiriert ist, wie eine das Buch beim Wort nehmende Lektüre ersten Grades. Das Buch spielt mit dieser Art von Distanzlosigkeit, welche sich eben dadurch 1 | Vgl. Brouws, Jeffrey: Twentysix Abandoned Gasoline Stations, [Kalifornien]: Handjob Press/National Gas-N-Go 1992 (nach Ruscha, Edward: Twentysix Gasoline Stations, Los Angeles: [Selbstverlag] 1963). 2 | Vgl. O’Brian, John: More Los Angeles Apartments and Twenty Three Min Photo, Vancouver: VAFS/ Collapse Editions 1998 (nach Ruscha, Edward: Some Los Angeles Apartments, o. O.: [Selbstverlag] 1965). 3 | Vgl. Monk, Jonathan: None of the Buildings on Sunset Strip, Frankfurt/M.: Revolver & Jonathan Monk 2002 (nach Ruscha, Edward: Every Building on the Sunset Strip, Hollywood: Heavy Ind. Pub. 1966). 4 | Vgl. Morris, Simon et al.: The Royal Road to the Unconscious, York: information as material 2003 (nach Ruscha, Edward et al: Royal Road Test, o. O.: [Selbstverlag] 1967). 5 | Man findet die 2011 veröffentlichte, jedoch bereits veraltete Liste in einem Katalog der von Michalis Pichler in Kollaboration mit Tom Sowdon realisierten Ausstellung: Six Hands and a Cheese Sandwich, Ljubljana: Zavod P.A.R.A.S.I.T.E. 2011. 6 | [Nauman, Bruce]: Burning Small Fires, [San Francisco: Selbstverlag 1968]. 7 | Ruscha, Edward: Various Small Fires and Milk, o. O.: [Selbstverlag] 1964.

235

236

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

Abb. 1: [Bruce Nauman]: Burning Small Fires, [San Francisco: Selbstverlag, 1968]. verliert! Es stellt sich als rätselhaftes Buch dar: Abgesehen von seinem Titel enthält es keinerlei Hinweise auf Autor, Verleger oder Datum. Es ist das erste der anonymen Bücher »nach Ruscha«. Das Verbrechen ist nicht signiert. Dieses humorvolle Autodafé genügt, um zwei der Aspekte herauszustellen, die sich oft in den besten Aneignungen wiederfinden: der Anteil des Spiels, jedoch nicht eines beliebigen Spiels, sondern eines aus dem Verständnis des Ausgangsbuches hervorgegangenen Spiels. In seinem der Literatur der Aneignung gewidmeten Buch Palimpsestes bezeichnet Gérard Genette dieses aufgeklärte Spiel mit einem von ihm eingeführten Neologismus als »ludicité«8, welcher mit der klanglichen Nähe zum französischen Wort ›lucidité‹ spielt.9 Um mit einem Buch erfolgreich zu spielen, muss man sich auf die eine oder andere Weise auf sein Spiel einlassen. Allgemeiner formuliert haben wir es hier mit einem Beispiel für eine künstlerische Praxis ›zweiten Grades‹ zu tun, einer künstlerischen Schöpfung in Anbetracht eines anderes Werkes, sozusagen einer Metakreation, die nur innerhalb der selben künstlerischen Disziplin möglich ist: Der Aneignende und das Angeeignete sind beide Teil eines homogenen Zusammenspiels von Ausdrucksmitteln (das Buch, die Fotografie) und interner Geschichte, hier der noch jungen Geschichte des Künstlerbuches (kaum fünf Jahre), mit seinem Vorreiter (Ruscha), seinem paradoxalen Erben (Nauman) usw. Es gibt kein Problem der Übersetzung, der Transposition oder der 8 | Genette, Gérard: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris: Éditions du Seuil 1992, 558. 9 | Will man sich auf die Verflechtung von Verspieltheit und aufgeklärter Aufmerksamkeit einlassen, die Genette im Sinn hat, so läßt sich ›ludicité‹ etwa mit ›Spielsamkeit‹ übersetzen. In der offiziellen deutschen Übersetzung von Wolfram Bayer heißt es »Spieltrieb«. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M. 1993, 534 [A.d.Ü.].

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

Adaption von einer Kunstgattung in die andere, sondern ein Spiel interner Verweise, welches auf einem realen Verhältnis zwischen Eingeweihten beruht. Eine zweite, jedoch weniger unschuldige, autoritärere Form der Aneignung, die ebenfalls innerhalb der bildenden Kunst anzutreffen ist, ist typisch für die konzeptuelle Kunst der 1960er und 70er Jahre. Sie scheint lediglich eine Präsentation des Ausgangswerkes zu sein, welche dieses nicht modifiziert, jedenfalls nicht vordergründig. Tatsächlich bietet sie jedoch dem Künstler ein Mittel, das Werk in Besitz zu nehmen, um sich seiner zu bedienen (und dies lange vor dem ›Appropriationismus‹ der 1980er Jahre). Der zweite Grad beruht in diesem Fall lediglich auf der Benutzung des Werkes in einem vom aneignenden Künstler bestimmten Kontext, welcher den ursprünglichen Sinn der Arbeit verwandelt und diese als Mittel für sein eigenes Projekt einsetzt. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um eine Sammlung von künstlerischen Arbeiten nach dem Beispiel von Gruppenausstellungen, bei denen der aneignende Künstler sich in die Rolle des Kuratoren versetzt. Die Aneignung kann mehr oder weniger gebilligt oder erzwungen sein. Es handelt sich hier jedoch nicht um ein sogenanntes Assembling, d.h. einer von einem Künstler initiierten Zusammenstellung von Originalwerken anderer Künstler – eben auf Grund der Art und Weise, in der der signierende Künstler sein eigenes Werk schafft, indem er Werke anderer annektiert, die dergestalt ihre Autonomie einbüßen. Das kommt in Wirklichkeit einer Anthologie näher, welche eine leitende Grundidee bei demjenigen voraussetzt, der das gesammelte Material zusammenstellt, wobei dieses intakt belassen wird. Das zweifellos älteste Beispiel für diese Form der Aneignung geht auf das Jahr 1966 zurück, als Mel Bochner in der Kunsthochschule, in der er unterrichtet, eine Ausstellung von »working drawings« anderer Künstler organisiert. Da es jedoch der Schule am nötigen Geld mangelt, um für Rahmungen zu sorgen, macht er von den Zeichnungen Fotokopien in der Absicht, diese mit Nadeln an der Wand zu befestigen. Doch während er dies tut, wird ihm bewusst, dass die Fotokopie die Originalformate auf ein einziges Format, das einer Din A4-Seite, vereinheitlicht. So kommt ihm die Idee, die Zeichnungen, welche zu Seiten geworden sind, zu einem »Buch«10 zusammenzufügen, bei dem es sich tatsächlich um einen Ordner handelt, den er in vierfacher Ausführung anfertigt: Jeder einzelne wird auf einen Sockel gelegt, um für den (zum Leser gewordenen) Betrachter im Ausstellungsraum zugänglich zu sein (Abb. 2). Da die Zeichnungen den Ordner nicht füllen, fügt Bochner Seiten hinzu, um die er verschiedene Personen aus der Kulturwelt bittet, oder er entnimmt Diagramme, Tabellen oder Listen aus einer amerikanischen Wissenschaftszeitschrift. Daher der Titel: Working Drawings and Other Visible Things On Paper Not Necessarily Meant to Be Viewed as Art.11 Auf diese Weise verwandelt sich eine recht 10 | Bochner, Mel: Solar System and Rest Rooms, Cambridge, Mass./London: The MIT Press 2008, 179. 11 | Spätere Ausgaben: Paris: Picaron Editions / Köln: Walther König / Genève: Cabinet des estampes 1997.

237

238

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

Abb. 2: Mel Bochner: Working Drawings and Other Visible Things on Paper Not Necessarily Meant to Be Viewed as Art, 1966, 4 identische Ordner. konventionelle Gruppenausstellung von Zeichnungen in eine Veröffentlichung im Geiste der konzeptuellen Kunst. Bochner kommentiert später: »An einem bestimmten Punkt wurde ich mir darüber bewusst, dass in den Working Drawings nicht nur ein neuer Objektypus (das Buch) und ein neues Werkkonzept (die Installation) auf dem Spiel standen, sondern eine radikale Neudefinition des Autors.«12 Bochner hat, wie dies häufig der Fall ist, eine sehr persönliche Art und Weise, ›konzeptuell‹ zu sein: Es geht für ihn nicht darum, dem bereits Vorhandenen nichts hinzuzufügen, indem er sich darauf beschränkte, dieses (nach der Formel von Douglas Huebler13) lediglich zu dokumentieren; es geht auch nicht um den damit einhergehenden »Tod des Autors«. Allem Anschein zum Trotz ist das Gegenteil der Fall: Der Autor bestätigt sich hier ausdrücklich. Sogar auf autoritäre Weise, denn indem Bochner die Zeichnungen anderer Künstler in Fotokopien verwandelt, indem er sie in einem Kontext funktionieren lässt, den nur er bestimmt hat und der deren Sinn tiefgreifend verändert, zwingt er ihnen seinen künstlerischen Standpunkt auf, den des Autors der Ordner. Obwohl diese Art von Aneignung sich wie die vorherigen innerhalb des Bereichs der bildenden Kunst vollzieht, wechselt man durch den Übergang von der Zeichnung zum Ordner das Medium. Trotzdem handelt es sich nicht um eine Adaption 12 | »At a certain point, I had realized that what was at stake in Working Drawings was not only a new type of object (the book), and a new concept of a work (the installation) but a radical redefinition of an author.« Bochner: Solar System, 179. 13 | »The world is full of objects, more or less interesting; I do not wish to add any more. I prefer, simply, to state the existence of things in terms of time and/or place.« Huebler, Douglas: January 531, New York: Seth Siegelaub 1969, o. S.

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

(wie bei einem Film, der mit den Mitteln des Kinos einen Roman ›adaptiert‹). Es handelt sich auch nicht um eine einfache Transposition: Der Übergang von der Ausstellung von Werken mit Unikatcharakter zu einem Ordner in mehrfacher Ausführung14 und vom Kunstbetrachter zum Leser von Büchern enthält eine bewusst kritische Dimension. In diesem Sinne kann man von einem Détournement oder von einem Bedeutungsumsturz (der Bedeutung der Kunst, des Werkes, des Künstlers, des Betrachters) sprechen. Dieses paradigmatische Détournement ist für Bochner von allgemein theoretischer und künstlerischer Reichweite: Das Werk hat die Geltung eines Manifestes. Anders gesagt: Die Idee ist interessanter als das, was sie hervorbringt, und die Erfahrung ist wichtiger als das daraus hervorgehende Buch ohne intrinsische Bedeutung. Um das Feld der Aneignung in Künstlerbüchern abschließend abzustecken und bevor wir zur Aneignung von literarischen Werken kommen, möchte ich einen dritten, sehr entwickelten Typus von Aneignungen erwähnen: die Wiederverwendung von Büchern aus der gewöhnlichen Produktion von Druckerzeugnissen, von den banalsten und gebräuchlichsten Alltagsveröffentlichungen (Telefonbüchern, Magazinen, Katalogen, Führern, Enzyklopädien usw.) bis hin zu Büchern aus (z.B. wissenschaftlichen) Spezialbibliotheken. Das Hauptinteresse solcher Bücher liegt im expliziten Verweis auf die Ausgangspublikation, die klar identifizierbar bleiben muss. Sollte es hieran fehlen, verliert die Aneignung ihren Sinn. Die Ausgangspublikation kann entweder durch Hinzufügung oder Reduzierung modifiziert werden, sie kann Gegenstand einer mehr oder weniger methodischen Transposition werden, sie kann im Stil eines Reprint im Ausgangszustand belassen oder auf eine leere Form reduziert werden, die es aufzufüllen gilt. Ich werde jedes dieser Verfahren kurz darstellen. Addition: Christian Boltanski hat in Les Habitants de Malmö das örtliche Telefonbuch der Stadt Malmö, so wie es ist, aufgenommen und es aktualisiert, indem er ihm eine Beilage hinzufügte, welche die Namen der Einwohner enthält, die seit der Veröffentlichung des Telefonbuches verstorben sind. Diese Errata genügen, um aus dem Telefonbuch ein Memento mori zu machen (Abb. 3).15 Subtraktion: Hans-Peter Feldmann hat eine Ausgabe des österreichischen Magazins Profil nachdrucken lassen, wobei er alle Texte entfernt, jedoch die Bilder in ihrem ursprünglichen Layout belassen hat.16 Das sie umgebende Weiß lässt die Farben deutlicher hervortreten und verstärkt deren visuelle Kraft.

14 | Bochner hat eine etwas seltsame Erklärung zu diesem Punkt, aber was zählt, ist die Konklusion: »I decided to produce four copies because four, the first non-prime number, implies the infinite nature of number, and, by extension, the infinite nature of reproduction.« Bochner: Solar System, 177. 15 | Boltanski, Christian: Les Habitants de Malmö, Malmö: Konsthall 1993. 16 | Feldmann, Hans-Peter: Profil 6/7 (2000) Wien: Museum in progress/Düsseldorf: Feldmann Verlag 2000.

239

240

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

Abb. 3: Christian Boltanski: Les Habitants de Malmö, Malmö: Konsthall 1993.

Methodische Transposition: In Night Visit to the National Gallery hat Endre Tót den offiziellen Führer der Londoner National Gallery aus der Perspektive eines nächtlichen Besuchs des Museums überarbeitet.17 Er hat dessen Titel leicht verändert, indem er ihm »Night« hinzufügte und die Reproduktionen der bekanntesten Gemälde von Piero della Francesca, Van Eyck, Rembrandt und anderer durch dunkle Monochrome selben Formats ersetzte, wobei die Legenden natürlich beibehalten wurden (Abb. 4). Gabriele di Matteo hat aus der vielschichtigeren Perspektive eines malerischen Ansatzes, der von der Praxis der Kopie und von Überlegungen zum Copyright ausgeht, die Druckvorlage des anlässlich einer Retrospektive vom Centre Georges Pompidou 1982 veröffentlichten Katalogs Jackson Pollock so genau wie möglich (Format, Papier, Layout, Typografie) imitiert, um ihn dann 2009 in einen Katalog zu einer eigenen Ausstellung zu verwandeln: Anstelle der kritischen Texte finden sich unbedruckte Seiten, die Beilage auf braunem Papier mit der Biografie von Jackson Pollock wurde wiederaufgenommen, jedoch mit seinen eigenen Werken illustriert, welche nichts anderes sind als Kopien auf Leinwand von den Fotografien, welche die Biografie des Originalkatalogs illustrierten; sofern darauf Gemälde Pollocks abgebildet waren, wurden diese geschwärzt.18 Reprint: Galerie de MM. Péreire ist das Faksimile des Katalogs zu einer vor mehr als einem Jahrhundert von der Galerie Péreire in Paris organisierten Versteigerung, aus welchem beispielsweise hervorgeht, dass der Wert eines Gemälde von Delacroix sehr viel niedriger angesetzt ist als Gemälde von damals beliebten Malern, deren Namen heute fast alle vergessen sind. Der einzige Eingriff des Autors, Ernest T, besteht in einer diskreten Hinzufügung auf dem Frontcover des Katalogs, die für

17 | Tót, Endre: Night Visit to the National Gallery, Cullompton/Mexico: Beau Geste Press 1974. 18 | Di Matteo, Gabriele: Jackson Pollock, Mailand: Galleria Federico Luger 2009.

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

den Namen des Verlages steht: »le comique de répétition«.19 Es bleibt jedem selbst überlassen, daraus Rückschlüsse bezüglich des falschen Ruhms unserer Tage zu ziehen. Ein Jahr zuvor hatte Ernest T ein Flugblatt veröffentlicht, welches die Naissance de la critique postappropriative (1989) ankündigt, für welche dieses kleine Buch ein Beispiel verkörpert. Auffüllen einer leeren Form: Das wohl schlichteste Beispiel hierfür liefert die Zeitschrift für konzeptuelle Kunst Art-Language, welche ihr strenges Layout der amerikanischen Zeitschrift für Philosophie The Journal of Philosophy entliehen hat, um Texte der Künstlergruppe zu veröffentlichen.20 Ich werde bei einem komplexeren Fall verweilen, einer von Allen Ruppersberg mit The Five-Foot Shelf of Books vorgelegten Enzyklopädie des menschlichen Wissens.21 Er nimmt hier das Projekt von Dr. Eliot, Professor in Harvard, wieder auf, der 1910 eine renommierte Anthologie der großen Texte der Menschheitsgeschichte aus Literatur, Philosophie, Theologie, Ökonomie, Geschichte usw. veröffentlichte, kurz gesagt all das, was »ein Amerikaner des 20. Jahrhunderts«, den es danach verlangt, »ein kultivierter Mensch« zu sein, Abb. 4: Endre Tót: Night Visit to the National Gallery, Cullompton/Mexico: Beau Geste Press 1974.

19 | [Ernest T]: Galerie de MM. Péreire. Résumé du catalogue des tableaux [...], [Paris]: Le comique de répétition 1990. 20 | Vgl. Art-Language. The Journal of conceptual art 1 (1969). Für weitere Details vgl. Taylor, Brandon: »Textual Art«, in: Artists’ Books, London: Arts Council of Great Britain 1976, 51-52. 21 | Ruppersberg, Allen: The New Five-Foot Shelf of Books, Brüssel: Micheline Szwajcer & Michèle Didier / Ljubljana: International Centre of Graphic Arts 2003.

241

242

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

wissen muss. Diese Anthologie in fünfzig Bänden füllte ein fünf Fuß langes Regal. Daher der Titel, den Ruppersberg ebenso beibehielt wie die vollständige Einleitung von Dr. Eliot.22 Für seine Veröffentlichung in einem Band von 672 Seiten hat er den gesamten Inhalt neu verfasst, gesetzt in fünf Kapiteln mit je unterschiedlicher Typografie. Doch diese Kapitel folgen einander nicht wie in einem gewöhnlichen Buch; sie entwickeln sich auf jeder Seite parallel, so dass sich die Lektüre sowohl fortlaufend (Seite für Seite) als auch simultan vollziehen kann. Das erste Kapitel, »Honey, I re-arranged the collection«, ist eine Folge von Vorschlägen, eine Sammlung zu organisieren; das zweite enthält Arbeitsnotizen des Künstlers (darunter viele Zitate aus seinen Lektüren); das dritte erzählt die wahren Abenteuer von Abenteurern; das vierte lässt den Biografien der drei »Marcels« (Duchamp, Proust, Broodthaers in dieser Reihenfolge) entnommene Elemente einander folgen; das fünfte ist eine Kompilation von nekrologischen Notizen und Zeugnissen. Das Cover dieses Bandes, der wie alle Enzyklopädien eklektisch ist, zeigt auf Regalen stehende Bücher: In der Mitte steht die Ausgabe von 1910; darüber und darunter die Bibliothek von Ruppersberg, aus der eine Reihe der zahlreichen, in diesem Buch verwendeten Zitate stammen. Aus der Enzyklopädie des Wissens eines kultivierten Durchschnittsamerikaners ist eine Art persönliche Enzyklopädie der Arbeit und der Vorstellungswelt eines Künstlers geworden, die sich eine wie die andere aus der Lektüre zahlreicher Bücher aus der eigenen Bibliothek nähren. Die Bedeutung jedes einzelnen dieser allzu kurz skizzierten Beispiele ist selbstverständlich jedes Mal eine andere und hängt davon ab, wie jeder Künstler das Ausgangsbuch im Sinne seines Vorhabens benutzt und verwertet. Trotz allem kann man eine generelle Gemeinsamkeit zwischen all diesen Veröffentlichungen herausstellen. Ich habe weiter oben bemerkt, dass die Werke dieser Kategorie nur dann einen Sinn haben, wenn man in ihnen das Ausgangsbuch wiedererkennt. Man muss allerdings präzisieren, auf welche Weise. In den meisten der vorher erwähnten Fälle ist es nicht wichtig, dieses als solches zu identifizieren; es genügt, in ihm den Vertreter einer Gattung wiederzuerkennen. So könnte das Telefonbuch Boltanskis das einer anderen Stadt in einem anderen Land sein, der Sinn seines Buches würde sich dabei nicht fundamental ändern; ähnliches gilt für das Magazin von Feldmann, den Museumskatalog von Tót, den Auktionskatalog von Ernest T und die Enzyklopädie von Ruppersberg. Mit Ausnahme des Buches von Gabrielle di Matteo, für den die Pollock-Retrospektive 1982 im Hinblick auf seine eigene Entscheidung Künstler zu werden eine wichtige Rolle gespielt hat, geht es fast immer darum, die einfach identifizierbaren Konventionen, die Form, die generischen Charakteristika einer Publikationsart zu entleihen, indem man sich mit dem Modell mehr oder weniger viele Freiheiten nimmt und sich seiner bedient, indem man es bald (beinahe) identisch wiederaufnimmt, bald offen modifiziert. 22 | Vgl. Eliot, Charles W. (Hg.): Harvard Classics: The Five Foot Shelf, New York: P. F. Collier & Son 1909, 50 Bde.

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

A NEIGNUNGEN LITERARISCHER WERKE Wenn es um Bücher geht, die literarische Werke verarbeiten, verhält es sich allerdings vollkommen anders, zumindest was die von mir gewählten Beispiele betrifft, die nicht von einem bestimmten literarischen Werk zu trennen sind, deren Autor und Titel eindeutig identifizierbar und die infolgedessen nicht austauschbar sind. Um den Unterschied deutlicher zu machen, möchte ich diese gegenüber einem generisch zu nennenden Verhältnis zu einem Buch der Literatur abgrenzen, etwa einem solchen, wie wir es beim Telefonbuch, bei der Zeitschrift, beim Katalog gesehen haben. Illustrieren möchte ich dies an James Lee Byars’ Buch P.I.I.T.L (Abb. 5).23 Indem er die berühmte Umschlagsgestaltung (das elfenbeinfarbene Papier, die Typografie, die schwarz eingerahmte rote Doppelbordüre) der Collection blanche im Gallimard Verlag wiederaufnimmt (worin er weder der Erste noch der Letzte ist), verweist Byars nicht auf ein bestimmtes Buch, sondern auf die Idee einer gewissen literarischen Perfektion (die hier der künstlerischen Perfektion zugeordnet ist, so wie sie im Louvre präsentiert werden kann: die Initialen des Titels bedeuten »Perfect is in the Louvre«). Man braucht dem nicht viel hinzuzufügen und das ›Buch‹, welches tatsächlich ein doppelt gefaltetes, jedoch sorgfältig genähtes Blatt ist, kann auf die äußeren Zeichen seiner Titelseite reduziert werden: Diese genügt, um auf literarische Vollendung zu verweisen. Kommen wir also zur Aneignung von literarischen Werken als solchen. Eine Frage vorab: Weshalb handelt es sich bei der Anleihe zeitgenössischer Künstler aus der Literatur um ein künstlerisches Phänomen von besonderem Gewicht? Weil es

Abb. 5: James Lee Byars: P.I.I.T.L., Florenz: Exempla & Zona Archives / Lugo: Exit 1990. 23 | Byars, James Lee: P.I.I.T.L., Florenz: Exempla & Zona Archives / Lugo: Exit 1990.

243

244

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

sich um eine Möglichkeit handelt, ein neues Licht auf einen alten Topos der Kunstgeschichte zu werfen, nämlich auf den Vergleich zwischen zwei Disziplinen, die in ihren Mitteln und Zielen als unvereinbar gelten: die bildende Kunst und die Literatur. In dieser Hinsicht sei angemerkt, dass die Geschichte der modernen Kunst seit den 1960er und 70er Jahren mit der konzeptuellen Kunst nicht nur eine linguistische Wende verzeichnet, sondern, auf diskretere, jedoch dauerhafte Weise, auch eine literarische Wende: Dies meint nicht eine Wende zur Gegenüberstellung, zur Rivalität oder Kollaboration zwischen Kunst und Literatur, sondern zur Durchlässigkeit und für manche Künstler zu einer Praxis des literarischen Schreibens, was um den Preis eines bewussten Verzichts auf die für die modernistische Kritik so wichtige Spezifik der bildenden Kunst geschah. Die schon von der Konkreten Poesie aufgeweichte Grenze zwischen Literatur und Kunst wird nun auf andere Weise durch die Anleihe von narrativen und fiktionalen Schreibweisen der Literatur aufgelöst, die nichts mit den analytischtheoretischen Schreibweisen der konzeptuellen Kunst zu tun haben. In den Anfängen hat man von »narrativer Kunst«24 gesprochen, aber diese Bezeichnung ist zu restriktiv, gerade weil sie den Eindruck erweckt, dass es sich um ein neues Genre innerhalb der bildenden Kunst handle. Es ist treffender, von »Künstler-Schriftstellern« zu sprechen, um bildende Künstler zu bezeichnen, deren Schreiben auf einem vollwertigen literarischen Projekt beruht, selbst wenn dieses ein fester Bestandteil ihres plastischen Schaffens ist. Man kann unter vielen anderen Pioniere wie Jochen Gerz (zumindest in den 1970er und 80er Jahren), Dieter Roth in seinen zahlreichen Tagebüchern, Jean Le Gac, Claude Rutault in seinen jüngsten Büchern und jüngere Künstler wie Patrick Corillon, Sean Sanders, Liam Gillick, Frances Stark, Hubert Renard oder Lefevre Jean Claude nennen. In diesem Fall wird die Debatte zwischen bildender Kunst und Literatur nicht über die Aneignung eines schon vorhandenen literarischen Werkes geführt, sondern lediglich über die Aneignung eines Mediums im Allgemeinen (das Schreiben), über eine der bildenden Kunst äußerliche oder für äußerlich gehaltene Kompetenz, über eine Zusammenstellung von literarischen Verweisen, über die Elaboration einer persönlichen Schreibweise (die man Stil nennt). Es ist per definitionem selten, dass sich einer dieser »Schriftsteller-Künstler« einen literarischen Text aneignet: er schreibt selbst! Mir ist lediglich ein solches Beispiel bekannt, welches sich übrigens eher als Anleihe denn als eigentliche Aneignung entpuppt: Einerseits lässt der Künstler den benutzten Text intakt – es gilt, ihn als solchen zu lesen (was im Falle von künstlerischen Aneignungen nicht oft der Fall ist); andererseits zahlt er, wie ich versuchen werde zu zeigen, seine Schuld sozusagen mit Zinsen zurück. Es handelt sich um Jean Le Gac und eine seiner weniger bekannten Veröffentlichungen, Jean Le Gac/Florent Max, in welcher er eine von Maurice Renard 1920 unter dem Titel La Rumeur dans la montagne veröffentlichte Novelle in voller Länge 24 | Vgl. Narrative Art [Katalog], Bruxelles: Palais des beaux-arts 1974.

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

wiederverwendet.25 Im Gegensatz zu anderen Publikationen von Le Gac enthält dieses kleine Buch vor allem Texte und sehr wenige Fotografien. Die auf der Titelseite abgebildete Fotografie zeigt die Hauptfigur aller Werke Le Gacs, »le Peintre«, durch Le Gac selbst verkörpert, während sie dem Echo lauscht, das ihrem eigenen Schrei folgt (Abb. 6). Auf die gleiche Weise werfen die beiden Teile dieses kleinen Buches ein Echo aufeinander: Der erste Teil, »il cria comme dans un téléphone«, ist ein sehr kurzer Text von Le Gac, in welchem er das Phänomen akustischer Schwingungen an seinem Urlaubsort beschreibt, ein Phänomen, das er mit der etwa 1920 von Maurice Renard geschriebenen Novelle verbindet. Le Gac hat die Rechte für eine Neupublikation in seinem Buch gekauft. Die Novelle konstituiert dessen zweiten, bei weitem längeren Teil und trägt den Titel Une lecture révélatrice: La Rumeur dans la montagne, Maurice Renard. Die Beweggründe, welche zur Wahl dieser Novelle geführt haben, sind klar: Jean Le Gacs ganzes Schaffen kreist um die Figur eines Malers, einen Maler der alten Schule, wie man ihn (vor allem nach der Infragestellung der Malerei in den 1960er Jahren) nicht mehr findet. Le Gac stellt ihn dar, indem er sich der Lektüren aus seiner Kindheit bedient. Der Held Maurice Renards, Florent Max, ist jedoch ein alternder Maler lokaler Landschaften, dessen Glaube an die Kunst wankt und den »ein äolisches Raunen«26 am Rande einer Gebirgsschlucht, ein unerklärtes akustisches Phänomen, verzaubern und in den Tod treiben wird. Die Novelle von Maurice Renard beschreibt im Übrigen als Antwort auf das erste Echo andere Echophänomene, von denen eines die literarische Erinnerung betrifft: Das Erlebnis in den Bergen weckt beim Maler

Abb. 6: Jean Le Gac: Jean Le Gac/ Florent Max, Paris: Cedic 1972. 25 | Le Gac, Jean: Jean Le Gac/Florent Max, Paris: Cedic 1972. 26 | »une rumeur éolienne«, ebd., 25.

245

246

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

Florent Max die Erinnerung einer Kindheitslektüre, welche in seinem Gedächtnis derart lebendig geblieben ist, dass er in der Lage ist, deren Text zu rezitieren. Le Gac gibt auf analoge Weise auf eigene Kosten eine Novelle wieder, die er in seine Arbeit integriert und die seine persönliche Vorstellungswelt geprägt hat. Auf dem Buchumschlag vereint ein schräger Balken die beiden Namen Jean Le Gac und Florent Max auf derselben Ebene. Es kann sich nicht um zwei Autoren handeln: im Falle Le Gacs sei dies dahingestellt, Florent Max jedoch ist ein der Vorstellung Maurice Renards entsprungener fiktiver Held. Auf diese Weise mit Florent Max verbunden ist es also Jean Le Gac, der sich den Status eines literarischen Helden zuschreibt. Doch damit nicht genug. Das Gegenstück findet sich im nächsten Buch, Le Récit, das ebenfalls 1972 veröffentlicht wurde: Hier wird dem fiktiven Künstler, Florent Max, die Karriere des realen Künstlers Jean Le Gac zugeschrieben.27 Die Texte dieses Buches bestehen aus Zeitschriftenartikeln, die tatsächlich aus Anlass der ersten Ausstellungen Jean Le Gacs in der Presse erschienen sind (Abb. 7). Dieser hat sie ausgeschnitten und in einer Art Pressemappe zusammengestellt, welches auf diese Weise, über dazwischengeschaltete Kritiker, die »Erzählung« der Anfänge einer vielversprechenden Karriere ergibt. Doch derselbe Le Gac hat die Namen der Autoren der Artikel getilgt, um sie sich anzueignen. Desgleichen hat er seinen Namen überall durch den von Florent Max ersetzt, so dass er, nachdem er im vorherigen Buch die Geschichte des fiktiven Malers Florent Max entliehen hat, ihm jetzt zum Tausch die eigene, ganz reale zurückgibt. Der fiktive Künstler erwirbt auf diese Weise die beAbb. 7: Jean Le Gac: Le Récit, Hamburg: Hossmann 1972.

27 | Vgl. Le Gac, Jean: Le Récit, Hamburg: Hossmann 1972.

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

glaubigte Karriere eines zeitgenössischen Künstlers. Dies meinte ich, als ich davon sprach, dass die Schulden mit Zinsen zurückgezahlt werden. Wenn ich den Akzent auf dieses Ausnahmebeispiel und diese Einstellung lege, die jener nahe ist, welche dem in der Einleitung erwähnten Readymade zugrunde liegt, so deshalb, weil die unilaterale Transposition in den meisten Fällen eine unterschwellige Form von Gewaltsamkeit enthält, welche einem literarischen Werk die Aneignung durch die bildende Kunst aufzwingt: Es handelt sich weder um eine bloße Übersetzung, mit der man einen Text von einer Sprache in die andere übersetzen würde, um ihn verständlich zu machen, noch um eine Adaption an ein anderes Medium, wie es etwa die Illustration eines Textes wäre. Es handelt sich tatsächlich um eine Form von Annektierung: Ein Künstler verschafft sich gewaltsam zu einem Werk Zugang, das als solches anerkannt, vollendet und in den meisten Fällen als Meisterwerk etabliert ist; und zwar einerseits, weil er ihm oft erhebliche Veränderungen aufnötigt (wir werden hierzu noch Beispiele sehen), und andererseits, weil er immer eine Änderung seines Status erzwingt. Das ist ohne jeden Zweifel der Fall, wenn Marcel Broodthaers die Originalausgabe von Un coup de dés wiederaufnimmt und den Untertitel »poëme« durch »image« ersetzt und so den Text des Dichters unlesbar macht.28 Die Brutalität ist weniger offensichtlich, wenn die Aneignung innerhalb derselben künstlerischen Disziplin vollzogen wird oder wenn das bearbeitete Werk weder sein Medium noch seinen Status ändert. Die Hand an ein Gut zu legen, das man nicht besitzt, um es sich zu eigen zu machen, bedeutet, sich seiner frei zu bedienen: Man nennt dies Diebstahl! Ob er öffentlich stattfindet, ob man sich zu ihm bekennt, ob er sogar akzeptiert oder seines Wagemuts oder seiner Intelligenz wegen gelobt wird – all das kann nicht verbergen, dass der visuellen Aneignung eines literarischen Werkes etwas in der Sache Gewaltsames innewohnt. Selbst wenn die künstlerische Intervention nur seinen Paratext oder Kontext verändert – die Art des Kommentars, welchen sie verkörpert, oder die Gebrauchsänderung, welche sie erzwingt, hebt die gewohnte Distanz zwischen Leser und Gelesenem auf: sie lässt den Text nicht intakt. Anders gesagt, selbst wenn eine ›aneignende Lektüre‹ per definitionem vom Ausgangstext abhängig ist, aus welchem sie sich ableitet, so ist es doch sie, die den Text in ihre Abhängigkeit bringt: Sie unterwirft ihn ihren eigenen Zwecken – sie instrumentalisiert ihn. Man hat es schon im Fall von Bochner geahnt. Man sieht es deutlicher bei der dekonstruierenden Unternehmung von Rodney Graham, so unauffällig die lange Interpolation in Form einer Pastiche bei erster Lektüre – insbesondere in La Véranda von Melville29 – auch sein mag. Bei der Lektüre unauffällig? Gewiss, aber nicht auf dem Buchumschlag des mit Melvilles Original durch eine Bauchbinde vereinten Bandes, auf dem der Name 28 | Broodthaers, Marcel: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Image, Antwerpen: Galerie Wide White Space / Köln: Michael Werner 1969. 29 | Vgl. Graham, Rodney: [La Véranda] & Herman Melville: La Véranda, 2 Bde., Brüssel: Yves Gevaert 1989.

247

248

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

des Schriftstellers durch den des Künstlers ersetzt ist. Ich möchte hier auf frühere und ausführlichere Analysen verweisen30, aus denen ich folgerte, dass Rodney Graham einen Schnittpunkt zwischen zwei formalistischen Vermächtnissen etabliert: zwischen einem literarischen (hervorgegangen aus der modernen Entzauberung des Schreibens, für welche Raymond Roussels Comment j’ai écrit certains de mes livres stehen kann, in dem er offenlegt, wie sich seine Texte, von einigen Ausgangsentscheidungen ausgehend, selbst hervorbringen) und einem künstlerischen (hervorgegangen aus mechanischen Prozeduren serieller Entwicklung, welche auf Ausgangsanordnungen im Sinne der minimalistischen Ästhetik fußen). Dieser formalistische Standpunkt findet sich auch bei den meisten Verfahren, die man übereingekommen ist, ›Conceptual Writing‹ zu nennen31, beispielweise in einem jüngeren Beispiel, der von Simon Morris gewissenhaft abgetippten Kopie von Jack Kerouacs Buch On the Road.32 Die Wahl des Titels der so entstandenen Publikation Getting Inside Jack Kerouac’s Head deckt die Absicht auf, in das Räderwerk des kreativen Aktes eines anderen einzudringen, was zudem ein Weg ist, sich symbolisch etwas anzueignen, das weit mehr ist als ein Werk: den Geist des Autors. Bezeichnenderweise wird, wie in [La Véranda] von Rodney Graham, die PenguinTaschenbuchausgabe des Buches von Kerouac von einem von Simon Morris signierten Zwillingsband begleitet (das selbe Layout, das selbe Papier): Morris erscheint mit Nick Thurston, dem Herausgeber des Textes, auf dem Umschlagsfoto, welches die Inszenierung des Ausgangsbuches, Kerouac in Begleitung von Neil Cassidy, exakt nachstellt (Abb. 8). Auch wenn offensichtlich eine gute Dosis Humor und der Hang zum Spiel, wenn nicht gar zum Bravourstück einer derartigen Mimikry zugrunde liegen, so muss man doch ein weiteres Mal unterstreichen, dass man dieses Unternehmen der Demontage des kreativen Aktes verdächtigen kann, der Wiedereinführung des schöpferischen Ego des demontierenden Künstlers als trojanisches Pferd zu dienen: Wenn Simon Morris, dessen Ansatz es ist, als Künstler hinter den anderen zu verschwinden, keine Macht mehr über sein eigenes Werk ausübt, so darf man cum grano salis annehmen, dass er sich bezüglich der Werke anderer eines besseren besinnt! Die Frage, mit der man im Alltag jede Aneignung konfrontiert, aber die man der künstlerischen Aneignung nie stellt, ist die folgende: mit welchem Recht? Man

30 | Vgl. Mœglin-Delcroix, Anne: Esthétique du livre d’artiste 1960-1980. Une introduction à l’art contemporain [1997], Paris: Bibliothèque nationale de France / Marseille: Le mot et le reste 2012, 362-367. 31 | Der Ausdruck geht auf Kenneth Goldsmith zurück, der sich übrigens 2005 die Paragraphs on Conceptual Art (1967) von Sol Lewitt angeeignet hat, um sie unter dem Titel Paragraphs on Conceptual Writing zu paraphrasieren: Goldsmith, Kenneth: »Paragraphs on Conceptual Writing«, in: Open Letter 7 (2005), 108-111. 32 | Morris, Simon: Getting Inside Jack Kerouac’s Head, hg. v. Nick Thurston, York: information as material 2010. Vgl. dazu auch Nora Ramtkes Beitrag in diesem Band.

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN Abb. 8: Cover von Kerouac, Jack: On the Road und Simon Morris: Getting Inside Jack Kerouac’s Head, York: information as material 2010.

muss sie sehr wohl von der Frage nach dem Zweck unterscheiden (die Bedeutung des gesuchten Ergebnisses) und von der pragmatischen Frage nach dem Nutzen der Kopie (welche ein Akt der Bescheidenheit sein kann, wenn bspw. der Lehrling die Meister kopiert oder wenn Ruppersberg 1973 Walden mit der Hand abschreibt33). Die am weitesten verbreitete künstlerische Rechtfertigung besteht für den Künstler tatsächlich darin, zu denken oder zu sagen, dass die Aneignung der Erfahrung des Lesens eine Aufmerksamkeit verschafft, welche die ordinäre Lektüre nicht erreichen könnte, dass sie bestimmte versteckte Qualitäten des Textes sichtbar macht oder auch dass sie einer dem Text im Keim innewohnenden Möglichkeit zur Aktualisierung verhelfe u.ä., kurz gesagt: dass sie im Dienste des Textes stehe. Diese Art von Argumentation, wie begründet sie auch sein mag, stellt zumindest unter Beweis, dass jenseits der rhetorischen Frage nach den Aneignungsformen (Imitation, Plagiat, Remake, etc.) und der juristischen Frage des Copyrights eine Frage bestehen bleibt, die das berührt, was man eine Ethik der Aneignung nennen könnte, wenn die Bezeichnung nicht ein Widerspruch in sich wäre. 33 | »Walden is an act of reengagement with Thoreau’s original solitary experiment and dialogue on living alone in the woods. I sat, alone, for three months writing this dissertation on the solitary life, a private dialogue with Thoreau and his book. In a way, I mimicked his own experiment and what resulted was a copy of his result, a manuscript.« Ruppersberg, Allen: »Interview«, in: Allen Ruppersberg Books, Inc., Limoges: FRAC 2000, 46. Es sei angemerkt, dass der Akzent, auch wenn der so entstandene Titel Henry David Thoreau’s Walden von Allen Ruppersberg lautet, nicht auf der Aneignung eines Textes, sondern auf der Rekonstitution einer mit dem Autor zu teilenden Erfahrung liegt, einer Rekonstitution im Übrigen, die beinahe privater Natur geblieben ist (das Manuskript ist nie veröffentlicht worden).

249

250

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

Man kann nur beeindruckt sein von der Anzahl der künstlerischen Aneignungen von literarischen Texten, die diesem Problem eine Extremform geben, indem sie diese Texte auf die eine oder andere Weise unlesbar machen. Selbst wenn es darum geht, etwas sichtbar (häufiger als lesbar) zu machen, was der Initialtext nicht zu sehen oder lesen erlaubt hat, so stehen diese Aneignungen doch für eine vorausgegangene Zerstörung des benutzten Textes. Es handelt sich um Grenzfälle, in denen die Aneignung über eine vollständige oder partielle Tilgung des Ausgangsbuches verläuft. Für die Teiltilgung liefert A Humument von Tom Phillips das Paradigma34 ; für die vollständige Tilgung ist es Un coup de dés von Marcel Broodthaers.35 Es werden im Folgenden einige weniger bekannte Beispiele sein, die diesen Grenzfall der Aneignung durch Tilgung illustrieren und die Frage nach seiner Legitimität stellen, die ich in einem letzten Abschnitt behandeln werde.

A NEIGNUNGEN VON LITERARISCHEN WERKEN DURCH TILGUNG EINES TEXTES Der einfachste Fall ist jener einer visuellen Übersetzung. Auf den ersten Blick kann man sie in die Nähe der Illustration rücken, vor allem dann, wenn der Text dem Leser wie in La Nuit tombe des belgischen Malers Bernard Villers dargeboten wird.36 Villers entlehnt einem Roman von David Goodis seinen Titel, seinen Buchumschlag und eine Seite, auf der es von Angaben zu Farben wimmelt, die wie wahrhaftige, in einen bewegten Verlauf verwickelte Romanfiguren behandelt werden: »[...] Und dann hatte das Rot seinen Auftritt, ein leuchtendes Rot, die Haube und die Heckflosse des zertrümmerten Renncoupés, das harte Grau, das in Schwarz übergeht, das Schwarz des Revolvers, das Schwarz das bleibt, während neue Farben ins Geschehen eingreifen. [...]«37 Das Buch setzt mit einem auf gebräuchlichem Papier gedruckten Text von Goodis ein. In der Folge treten, Seite für Seite, jede einzelne der vom Schriftsteller erwähnten Farben in der Reihenfolge ihres Auftritts im Text in Erscheinung: Kolorierte vertikale Streifen werden im Siebdruck auf ein halbtransparentes Papier gebracht, was gewissermaßen die Abfolge der Farben wahrnehmbar macht. Die Seite von Goodis liefert dem Künstler also mehr als einen zu illustrierenden Text: eine Art gefundene Regel für die visuelle Übersetzung der Farbnamen, vom Blau zu Beginn des Auszugs bis zum Schwarz an dessen Ende. Obwohl sich 34 | Vgl. Phillips, Tom: A Humument: A Treated Victorian Novel, London: Thames and Hudson 1980. 35 | Ich erlaube mir, zu diesen beiden Fällen noch einmal auf mein Buch Esthétique du livre d’artiste zu verweisen, insbesondere 367-371 und 14-16. 36 | Villers, Bernard: La nuit tombe, [Brüssel]: Remorqueur 1978. 37 | »[...] Et puis le rouge entra en scène, un rouge éclatant, le capot et les ailes du break de chasse fracassé, le gris dur qui se change en noir, le noir du revolver, le noir qui demeure, tandis qu’interviennent de nouvelles couleurs. [...]« Ebd., o.S.

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

Villers einen Text ohne die Zustimmung des Autors aneignet, unterwirft sich das Künstlerbuch auf diese Weise dessen Inhalt, der wie eine Folge von Anweisungen gelesen wird, um ein eigenes Buch zu erstellen. Wie schon erwähnt, übernimmt Villers ebenfalls den Buchumschlag in der Gestaltung der Erstveröffentlichung in französischer Sprache, dessen Layout und schwarze Hintergrundfarbe an jene der Série noire, einer berühmten Kollektion französischer Übersetzungen von amerikanischen Kriminalromanen, angelehnt sind, in welcher der Roman von Goodis 1950 erschienen ist (Abb. 9). Die Frage der Übersetzung, vom Englischen ins Französische, vom Lesbaren ins Sichtbare, ist also ein zentraler Gegenstand dieses Buches. Dies wird ab der zweiten Hälfte des Buches bestätigt: Dieselbe Abfolge von Farben, derselbe Text also, wird wieder aufgenommen, aber vom Ende her, so als lese man die Geschichte von neuem in umgekehrter Richtung. So hat das Buch tatsächlich zwei Hälften: In der Mitte angekommen, muss der Leser das Buch vom Ende ausgehend ›noch einmal lesen‹. Die Rückseite des Buchumschlages ist eine zweite Titelseite, die der ersten ähnelt, jedoch einige Modifikationen enthält: den Originaltitel des Romans von Goodis Nightfall; eine Umkehrung in der Reihenfolge der Namen der beiden Autoren (Goodis erscheint diesmal als Erster) und eine Umkehrung in der Reihenfolge der Daten der beiden Werke; eine Änderung der Widmung (MD verweist auf Marcel Duhamel, den Gründer der Série noire und Freund der Surrealisten; NP sind die Initialen der Ehefrau von B. Villers). Dies deutet darauf hin, dass es sich um zwei Bücher in einem handelt, wie die Originalversion und ihre visuelle Übersetzung durch den Künstler, die sich auf der Doppelseite in der Mitte mit den zwei schwarzen Streifen treffen: zwei symmetrische Bücher von zwei Autoren und eine doppelte Lektüre. Eine Aneignung auf sanfte Art: Löscht nicht jede Art von Übersetzung, so respektvoll auch immer sie sein mag, die Originalversion aus, um

Abb. 9: Bernard Villers: La nuit tombe, [Brüssel]: Remorqueur 1978.

251

252

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

sie durch eine andere zu ersetzen? Hier verfügt man über beide Versionen, wie in einem zweisprachigen Buch. Nicht weit entfernt von der visuellen Übersetzung eines Textes, von der Lektüre als Wiederschreiben in einer anderen Sprache (der des abstrakten Malers im Fall von Villers) muss man zwei Beispiele literarischer Texte von Künstlern zitieren, welche handschriftliche Kopien darstellen. Sie erlauben es einerseits, herauszustellen, dass Lektüre nicht nur eine Aneignung durch den Geist ist, sondern auch eine Aneignung durch den Körper (insbesondere dank der Arbeit der Hand, welche den handschriftlichen Text der Zeichnung verwandt werden lässt); andererseits, dass die mimetische Wiederholung, welche der Kopie inhärent ist, die Lektüre der oralen Rezitation annähert. Das Paradox besteht darin, dass die Kopie des Textes sowohl bei Hanne Darboven als auch bei Irma Blank zur Auslöschung des Textes führt. Atta Troll von Hanne Darboven ist die handschriftliche Transkription des gleichnamigen Textes von Heine in »zahlenworte (abgezählte Worte)«38 (Abb. 10). Wo die Vorrede in Prosa in einfache horizontale Linien von schwarzer Tinte transkribiert ist, so sind die Gedichte, der Anzahl der Worte in jeder Gedichtzeile entsprechend, in Zahlenfolgen übersetzt: So liest sich eine Zeile aus fünf Worten »einszweidreivierfünf«, und die erste Strophe in vier Zeilen präsentiert sich wie folgt: »5 einszweidreivierfünf 4 einszweidreivier 4 einszweidreivier 4 einszweidreivier«

Wenn die Beseitigung der Zwischenräume zwischen den Worten auf die archaische Technik der Scriptio continua verweist und die fundamentale Einheit des Verses sichtbar macht, so erlaubt das Zählen der Verse in »abgezählte Worte« zur oralen Wurzel der Poesie zurückzukehren, und zwar in einem Rhythmus, der sowohl den Takt vorgibt als auch das Memorieren erlaubt. Dies ist umso gerechtfertigter, als es sich bei diesem Text von Heine, einem der Lieblingsautoren der Künstlerin, um ein Epos handelt, also um ein literarisches Genre, das ursprünglich nicht gelesen wurde, sondern gesungen oder rezitiert. Auf ihre sehr persönliche Art und Weise hat Darboven auch Teile der Odyssee abgeschrieben, deren Beginn des dritten Gesangs (in welchem von der »rosenfingrigen Morgenröte« die Rede ist) am Ende eines anderen zweihundert Seiten umfassenden Buches erscheint: Ausgewählte Texte – zitiert und kommentiert.39 In dieser Art persönlicher Anthologie findet man unter anderem Gedichte von Baudelaire, lange Passagen aus Jean-Paul Sartres Les mots, Auszüge aus Sprüche und Widersprüche von Karl Kraus, wie erwähnt Atta Troll, Tangotexte u.a. Manche der Gedichte, 38 | Darboven, Hanne: Atta Troll, Luzern: Kunstmuseum 1975, Titelblatt. 39 | Darboven, Hanne: Ausgewählte Texte – zitiert und kommentiert, Hamburg 1976.

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

unter anderem von Baudelaire oder Heine, sind auf gebräuchliche Weise abgeschrieben: Die Handschriftlichkeit vermindert jedoch den visuellen Unterschied zwischen den lesbaren und den in horizontale Linien oder gleichmäßige Wellen transponierten Texten. Ob sie schreibt, ob sie zählt oder ob sie Linien zieht – was sich für den Leser ergibt, ist die Art und Weise, auf welche die Hand Darbovens die Texte zu einer Einheit in Form einer Art persönlichen Zeichnung zusammenführt, welche ihren »Kommentar« darstellt, wie es der Titel des Sammelbandes nahe legt. Die dem angeeigneten Text zugefügte Gewalt ist auch hier eine sanfte Form der Gewalt: Man läge falsch, wenn man die Arbeit Darbovens als Aggression gegenüber der Literatur oder der Kultur interpretieren würde oder gar als eine Reduktion des Textes auf ein rein grafisches Verfahren. Es geht für Darboven vielmehr darum, die Einheit von Kunst und Literatur zu bezeugen, auf das der Zeichnung und der Schrift gemeinsame Spurhafte zurückzukommen, den Vorgang des Sehens mit der Zeitlichkeit des Lesens zu versöhnen. Wenn es stimmt, dass der Leser einen unlesbar gemachten Text nicht entziffern kann, so wenig wie er eine Zahlenfolge ›lesen‹ kann, so bleibt sein Auge nichtsdestotrotz das Auge eines ›Lesenden‹: Mit der Seite konfrontiert kann er nicht umhin, dem Fortschreiten der Schrift Darbovens (von Zeile zu Zeile, von Linie zu Linie, von links nach rechts, von oben nach unten usw.) zu folgen. Wie Lucy Lippard sehr richtig angemerkt hat: »Es ist unmöglich, ihr Werk zu betrachten, ohne körperlich in den Prozess des Schreibens einbezogen zu werden.«40 Der Leser befindet sich sozusagen in einer Position analog zu der der Abb. 10: Hanne Darboven: Atta Troll, Luzern: Kunstmuseum 1975, 42/43.

40 | »It’s impossible to look at her work without becoming physically involved in the process of writing.« Lippard, Lucy: »Hanne Darboven: Deep in Numbers«, in: Artforum Okt. (1973), 35-39, 35.

253

254

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

Künstlerin, die zu sagen pflegte, dass sie einen Text nur zu lesen weiß, indem sie ihn abschreibt. Es ist möglich, ihre Arbeit mit der Irma Blanks zu vergleichen, einer anderen deutschen Künstlerin, die seit den sechziger Jahren in Italien lebt. Auch für diese spielt die Literatur eine wichtige Rolle; auch für sie ist das Schreiben eine systematische Übung; auch bei ihr sind die daraus hervorgehenden Texte unlesbar; und schließlich ist auch bei ihr die scheinbare serielle Abstraktion des Ergebnisses trügerisch, denn der Inhalt der Texte ist ihr sehr wichtig, selbst dann, wenn er für uns nicht mehr wiederzuerkennen ist. No Words, obwohl erst 1994 veröffentlicht, geht zurück auf eine Gruppe von 1974 entstandenen Arbeiten, die Irma Blank »trascrizioni« nennt, weil sie zu jener Zeit die von ihr gelesenen Texte von Hand in eine Scheinschrift umschreibt. Im Unterschied zu Darboven gibt sie weder den Namen des Autors noch den Titel des Werkes an. Das Buch And so on …41 bietet uns ein gutes Beispiel für diese »Transkriptionen«: Es geht auf die Anfangszeit ihres Schaffens zurück, in der sie beginnt, das Feld des Schreibens mittels von ihr so genannter »Eigenschriften« zu erkunden, was in der von ihr gegebenen Definition eine Schrift bedeutet, die »nur auf mich selbst verweist, ohne irgendeine äußere Referenz, jeden im voraus existierenden Code ausschließend«42. Die Seite präsentiert sich wie eine beschriebene Seite, deren allgemeine Organisation Blank respektiert, die sie jedoch ihrer lesbaren Inhalte entledigt, um nur deren visuelles Erscheinungsbild zu bewahren. Es geht für sie darum, zurückzukehren zu einer ursprünglichen Graphie noch vor der Verfestigung einer Sprache, vor den »Mehrdeutigkeiten« der Worte, vor dem Zwang der Codierungen, kurz gesagt, zu einer elementaren, gestischen, gelebten Graphie: »[...] ich kehre zum Zeichen selbst zurück, zum undifferenzierten Urzeichen, welches der Sprache vorausgeht. [...] Ich kehre zum semantischen Nullpunkt, zur semantischen Leere zurück: zur Stille als Quelle des Keimens.«43 No words, ein dickes, sehr sorgfältig gedrucktes und gebundenes Buch kleinen Formats, ist eines ihrer ersten Werke.44 Doch hat Irma Blank bei der Veröffentlichung dieses Buches zwanzig Jahre nach seiner Entstehung ihre eigene Regel, den Originaltext nicht zu benennen, ihren eigenen Worten zufolge »unterlaufen«, indem sie diesen auf der linken Seite ihrer »Transkription« gegenüberstellt (Abb. 11). Es handelt sich um einen selektiven Rückgriff auf ein Buch von Gertrude Stein, 41 | Blank, Irma: And so on ..., Turin: Geiger 1974. 42 | »[...] ›eigen‹ nel senso di proprio, riferito a me stessa, senza alcun riferimento esterno, escluendo qualsiasi codice preesistente«, Blank in einem Brief an die Verf. vom 7.09.1998. 43 | »[...] ritorno al segno in se, all’Urzeichen, al segno primordiale, indifferenziato, che precede la parola. [...] Ritorno al punto zero, lo zero semantico, il vuoto semantico: il silenzio come fonte germinativa.« Blank, Irma: »Scrittura«, in: Maffei, Giorgio (Hg.): Libro d’artista, Edizioni Sylvestre Bonnard 2003, 168-169. 44 | Blank, Irma: No Words, Livorno: Belforte Editore Libraio 1994.

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN Abb. 11: Irma Blank: No Words, Livorno: Belforte Editore Libraio 1994.

Everybody’s Autobiography (1937), in englischer Sprache. Denn was Blank an dieser Figur der literarischen Avantgarde interessiert, ist ihr zufolge die Art und Weise, wie Steins »Schreiben sich auf einem freien Fluss, auf dem Rhythmus, auf der Wiederholung begründet.«45 Während sie dem Verlauf des Originaltextes folgen, treffen die berücksichtigten Auszüge eine kohärente Auswahl aus einer gewissen Anzahl von Themen wie das Schreiben, der Vergleich zwischen der Literatur und den anderen Künsten, die entfliehende persönliche Identität und die Schwierigkeit der Autobiografie, auch die Langsamkeit – ein wichtiges Thema für diese Künstlerin, bei welcher die handschriftliche Kopie eine Form der Meditation über den Text darstellt. Ein von Irma Blank berücksichtigter Satz von Gertrude Stein lautet etwa: »Wenn die Dinge nicht lange dauern, macht es das Leben zu kurz.«46 Die Auswahl eliminiert die persönlichen Anekdoten Steins, um nur die allgemeinsten Überlegungen zurückzubehalten, und nimmt so die überraschende Idee einer Biografie »Jedermanns« beim Wort. Es handelt sich hierbei für Irma Blank darum, diesen Text durch ihre Lektüre und das langsame Exerzitium der handschriftlichen Abschrift in ihre eigene Autobiografie umzuformen (das heißt im buchstäblichen Sinne des Wortes in die Eigenschrift ihres Lebens). Wie man treffend bemerkt hat: »Sie gesellt sich zu Gertrude Steins Jedermann, während sie ihren eigenen unnachahmlichen

45 | »[G.Stein] la cui scrittura si fonda sul libro flusso, sul ritmo, sulla repetizione.« Blank in einem Brief an die Verf. vom 29.06.1998. 46 | »If things do not take long it makes life too short.« Blank: No Words, 106.

255

256

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

Stil kontinuierlicher, buchstabenloser, wortloser, jedoch rhythmischer Schreibkunst hervorbringt.«47 Was das Gegenüber der zwei Versionen angeht, so legen der gedruckte Originaltext von Gertrude Stein auf der linken Seite und die unlesbare handschriftliche Transkription auf der rechten Seite, welche auch die Paginierung einschließt, die bereits bei Villers angetroffene Idee einer Art zweisprachigen Ausgabe nahe: Aber die Übersetzung verläuft offensichtlich weder von einer Sprache in die andere noch vom Lesbaren ins Sichtbare, sondern von einer Schrift in eine andere, allerdings um deren tiefgründige Verwandtschaft in Fluss, Rhythmus und Wiederholung herauszustellen. Die Aneignung verläuft in diesem Fall über eine Art Identifikation. Es ist jedoch nicht der Künstler, der sich durch seine Lektüre mit dem Schriftsteller identifiziert; das Gegenteil ist der Fall: Durch ihre Schrift-Lektüre assimiliert Blank den Text von Gertrude Stein, indem sie ihn in ihre eigenen Wendungen übersetzt, indem sie ihm einen Titel gibt, No Words, der die Streichung seiner diskursiven Funktion andeutet, und indem sie ihn signiert. 2005 fügt sie einer ihre Werke rekapitulierenden Veröffentlichung, Sign and Sound, eine CD bei, auf der die Geräusche des Schreibstiftes auf dem Papier und sogar ihres Atems beim Schreiben aufgezeichnet sind.48 Die Aneignung wird hier zu einer wahrhaftigen Verkörperung, im etymologischen Sinne des Wortes: Sie verläuft über den Körper des Künstlers, über seine Hand und seinen Atem.

A NEIGNUNGEN LITERARISCHER WERKE DURCH DIE TILGUNG EINES B UCHES Um diesen Parcours durch das Feld der Künstlerbücher, in welchen sich die Aneignung von literarischen Texten über deren Tilgung vollzieht, abzuschließen, möchte ich einige Bücher von zwei französischen Künstlern analysieren, bei denen die Aneignung wie bei Darboven und Blank auf eine methodisch von Hand durchgeführte Arbeit an einem von ihnen respektierten Text zurückgeht. Im Unterschied zu diesen kopieren sie jedoch nicht den Text, um ihn zu bearbeiten, sondern setzen direkt bei der veröffentlichten Form des Buches an. Sie interessieren sich also in gleichem Maße für das Buch als Objekt wie für den Text, den es enthält, oder genauer gesagt für die Materialität des literarischen Werkes, wenn es in ein Buch verwandelt wird. Claire Morel wäre gern Schriftstellerin geworden, war diesbezüglich jedoch nicht erfolgreich. Es ist nicht verwunderlich, dass die von ihr gewählten Texte jenem Segment der französischen Literatur angehören, in welchem es um die Schwierigkeit zu schreiben, um die Ohnmacht der Sprache geht und in welchem mit Worten spar47 | »She joins Gertrude Stein’s Everybody while creating her own unrepeatable style of continuous, letterless, wordless but rhythmic penmanship.« Riese Hubert, Renée/Hubert, Judd D.: »Reading Gertrude Stein in the Light of the Book Artists«, in: Modernism/Modernity 10:4 (2003), 677-704, 691. 48 | Blank, Irma: Sign and Sound, [Mailand]: Il ragazzo ubiquo 2005.

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

Abb. 12: [Claire Morel]: La Folie du jour, [Mulhouse: Selbstverlag 2007]. sam umgegangen wird (Blanchot, Beckett, Duras). Es sei angemerkt, dass sie sich auch mit den Manuskripten und Entwürfen Mallarmés zu seinem Livre befasst hat. Ihr erstes 2007 erschienenes Buch ist die Wiederaufnahme einer Erzählung von Maurice Blanchot, La folie du jour (2002).49 Sie hat ein (handschriftliches) Faksimile der bei Gallimard erschienenen Ausgabe des Buches realisiert: Dasselbe Format, dasselbe Papier, dasselbe Layout, dieselbe Typografie. Aber der Text ist mit leichten Abweichungen sechsfach überdruckt worden (Abb. 12). Er ist nicht vollkommen unlesbar, aber er ist, so die Künstlerin, dazu bestimmt, »eine verlangsamte, neu definierte, verewigte, abgeleitete Lektüre, die dem Bild gegenüber offen ist«50, hervorzubringen. 2007 und 2008 hat sie zwei bei den Éditions Minuit erschienene Bücher von Beckett ›wiedergelesen‹. Tous ceux qui tombent ist ein Text für das Radio. Sie hat dessen Wortinhalt gelöscht und lediglich sowohl die Interpunktion (welche den oralen Charakter des Stückes bewahrt) als auch die zahlreichen szenischen Anweisungen beibehalten, die reich an Angaben zu einer Vielzahl von Geräuschen sind.51 Sie erstattet diesem als Hörspiel geschriebenen Stück auf diese Weise die akustischen Eigenschaften zurück, welche die gedruckte Ausgabe ihm genommen hatte. L’image ist ein kurzer Text, in welchem, dem Titel zum Trotz, keinerlei Bild auftaucht. Dies ist der Grund dafür, dass Claire Morel in ihrer Bearbeitung alle Worte entfernt hat, als ob sie es wären, die das Bild verhinderten, so auch den Titel und den 49 | [Morel, Claire]: La Folie du jour, [Mulhouse: Selbstverlag 2007]. 50 | »une lecture ralentie, redéfinie, éternisée, dérivée, ouverte à l’image.« Morel zu ihrem Buch, www.clairemorel.net/fr/oeuvres/serie/784/la-folie-du-jour/index/?of=0 vom 1.2.2012. 51 | [Morel, Claire]: Tous ceux qui tombent, [Mulhouse: Selbstverlag 2007].

257

258

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

Namen des Autors, um nur die sehr sparsam vorhandenen visuellen Zeichen beizubehalten (den Stern des Logos der Éditions du Minuit, ohne seinen Buchstaben ›M‹; die blaue Rahmenlinie; den Strichcode auf der Rückseite des Umschlags).52 Der Text von Beckett enthält keinerlei Satzzeichen. Claire Morel hat sie hinzugefügt, indem sie sich auf ihre eigene Lektüre mit erhobener Stimme (deren Rhythmus und Atem) stützt und indem sie den Satz des Textes auf den Seiten beibehält (Abb. 13). Der visuellen Dimension des Buches, welche durch die Streichung aller Sprachelemente und die Hinzufügung einer Interpunktion hervorgehoben wird, wird also eine diskrete orale Dimension hinzugefügt. Im visuellen Sinne lässt dieses Buch an Prix Nobel von Carl Fredrik Reuterswärd und „Reality“ von Jarosław Kozłowski denken, die Morel nicht kannte.53 Wie dem auch sei, jedes einzelne dieser Bücher hat bei ähnlichem Erscheinungsbild eine sehr andersgeartete Bedeutung. Wie in all ihren Büchern (bis heute elf an der Zahl), hat Claire Morel Format, Layout, Druck des Originals auf dem selben Papier akribisch genau rekonstituiert. Das persönliche Engagement der Künstlerin bei jeder ihrer »Lektüre-Nachschriften« Abb. 13: [Claire Morel]: [L’Image], [Mulhouse: Selbstverlag 2008].

52 | [Morel, Claire]: [L’Image], [Mulhouse: Selbstverlag 2008]. 53 | Vgl. Reuterswärd, Carl Fredrik: Prix Nobel, Stockholm: Bonniers 1966; Kozłowski, Jarosław: „Reality“, Poznan: [Selbstverlag] 1972. Vgl. dazu Thurmann-Jajes und Amslinger in diesem Band.

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

sei, so sagt sie, unerlässlich: Jedes Mal tippt sie den ganzen Text im Originalumbruch ab; sie erklärt ebenfalls, dass ihr die methodische, geduldige, mechanische Arbeit des Kopisten gefällt. Sie teilt diese Neigung mit Darboven und Blank. Dass sie sich nicht des Offset-Drucks bedient, liegt schlicht daran, dass man die Druckarbeit an andere übertragen muss: Sie druckt ihre Bücher also selbst, die Buchumschläge im Siebdruck, die inneren Seiten im Digitaldruck. Sie verlegt und vertreibt ihre Bücher selbst und hinterlegt sie nur ungern zum Kommissionsverkauf, selbst in spezialisierten Buchhandlungen. Das Löschen, Verwischen, Ersetzen, Hinzufügen haben nicht das Ziel, etwas zu zerstören (sie wählt nur Texte aus, an denen ihr besonders liegt), sondern einen Text einem anderen Lektüreniveau zugänglich zu machen. In ihren Büchern gibt es eine Revanche des Bildes gegenüber dem Wort, der visuellen Kontinuität gegenüber der Segmentierung des gedruckten Textes, des simultanen Raumes der Buchseite gegenüber der Linearität des Textes, des Buches als materiellem Gegenstand gegenüber dem Druckerzeugnis als transparentem Medium des Inhalts: sie gibt an, von der Lektüre McLuhans und dessen Kritik an den Beschränkungen des Buches geprägt worden zu sein. Aber sie sucht das Buch von innen heraus zu korrigieren, indem sie der Lektüre die ihr fehlenden Dimensionen hinzuzufügt: Visualität, Simultanität, Vielsinnigkeit. Das veraltete Werkzeug Jérémie Bennequins ist der Tintenradierer, wie er in der Schule benutzt wird. Bennequin radiert, einem genau festgelegten Ablauf folgend, gedruckte Bücher aus. Seine Autoren, deren Bücher er sehr gut kennt, wählt er mit großer Sorgfalt, was ihm erlaubt, seine Ausradierungsarbeiten mit subtilen Reflexionen zum Ausgangsbuch und mit aufschlussreichen Kommentaren zu der Art, es zu behandeln, zu begleiten. Er nennt seine Ausradierungsarbeiten, welche zugleich Hommagen an die gewählten Texte sind, »Ommage«.54 Das Paradoxon, das darin besteht, einen Text zu feiern, indem man ihn zum Verschwinden bringt, ist ihm dabei vollkommen bewusst. Auch er hat sich zunächst für Mallarmés Un coup de dés interessiert, und, den vollen Titel des Gedichtes Un coup de dés jamais n’abolira le hasard beim Wort nehmend, hat er beschlossen, eine partielle Löschung von Mallarmés Gedicht in der Gestaltung der Originalausgabe vorzunehmen, indem er während öffentlicher Performances die Würfel wirft. Die Würfel entscheiden über die zu löschende Silbe (mit dem Radierer oder auf dem Computerbildschirm). Die Silbe, nicht das Wort, denn die Silbe ist die kleinste Einheit (der ›Versfuß‹) des poetischen Textes. Die Tilgung schreitet also von Würfelwurf zu Würfelwurf bis zum Ende des Textes fort und hinterlässt Leerstellen in den Versen Mallarmés (Abb. 14). Man könnte Bennequin entgegenhalten, dass er die Konstruktion des Gedichts verwüstet, während es Mallarmé 54 | Das französische Wort für Ausradierung ›gommage‹ erlaubt es Bennequin, mit der klanglichen Nähe zu ›hommage‹ zu spielen und diese beiden Worte im persönlichen Neologismus »Ommage« zu vereinen, indem er ihnen sozusagen die Anfangsbuchstaben wegradiert [A.d.Ü.].

259

260

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

darum ging, dass das Gedicht einer vollkommenen Notwendigkeit folgt; aber er ist andererseits der negativen Poetik des Dichters, seiner Thematisierung der Stille und des Weißen sowie seiner Konzeption einer Schöpfung durch Elimination treu: »Ich habe mein Werk allein durch Elimination geschaffen [...] Die Zerstörung war meine Beatrice.«55 Bennequin hat die Ergebnisse seiner Mallarmé’schen Ausradierungen in mehreren kleinen Büchern veröffentlicht: Die ersten sind von einem die Arbeit erklärenden Text begleitet, der auch eine wohlinformierte Meditation über die Dichtung Mallarmés ist. Die späteren Bücher werden durch eine rekapitulierende Abbildung der nacheinander gefallenen Würfelaugen eingeleitet.56 Das bis heute anspruchsvollste Projekt Bennequins ist seine noch im Werden begriffene Arbeit zu Prousts Meisterwerk À La Recherche du temps perdu. Bennequin hat sich vorgenommen, die dreitausend Seiten des Buches in der Ausgabe der Collection blanche bei Gallimard mit dem Radierer auszulöschen, indem er pro Tag eine Seite bearbeitet (man kann den Fortschritt der Arbeit verfolgen und sich die Seite des Tages auf einem Blog ansehen).57 Er betont nachdrücklich die Wichtigkeit Abb. 14: Je eine Seite aus Jérémie Bennequin: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Omage, Dé-composition 1.1 und 1.2, Paris: La Bibliothèque Fantastique 2009-2010, o.S.

55 | »Je n’ai créé mon œuvre que par élimination. [...] La Destruction fut ma Béatrice.« Mallarmé, Stéphane in einem Brief an Lefébure vom 17.5.1867, in: Correspondance complète 1862-1871 suivi de Lettres sur la poésie 1872-1898, hg. v. Bertrand Marchal, Paris: Gallimard 1995, 348-349, 349. 56 | Bennequin, Jérémie: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. Omage, Dé-composition, bisher 7 Bde., Paris: La Bibliothèque Fantastique 2009-2011. Vgl. Magnus Wieland in diesem Band, 211-213. 57 | Vgl. http://jbennequin.canalblog.com/

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

des rituellen, obsessiven, wiederholenden Aspekts dieser manuellen Operation. Er verbindet »die Suche nach der verlorenen Zeit« mit seinem eigenen Zeitverlust. Die Worte werden, wie er sagt, »einer spontanen Auswahl«58 folgend ausradiert: Manche Worte bleiben als Reste eines Textes lesbar, dessen Spuren die Struktur der gedruckten Schriftzeichen auf der Seite bewahren. Sobald er das Ausradieren eines Bandes vollendet hat, veröffentlicht er ihn als Faksimile unter seinem Namen, der den Prousts ersetzt. Jeder Band wird von einem anderen Band des Künstlers über die absolvierte Arbeit begleitet, der ebenfalls mit dem Buchumschlag von Gallimard und mit einem Titel versehen wird, der dem Inhalt angemessen ist. Die ersten beiden sind Kommentare59, der dritte ein Flipbook aus Fotografien, welche die Radierarbeit auf einer Seite, von oben nach unten, zeigen.60 Die beiden Bände sind jeweils durch eine rote Bauchbinde (selbstverständlich im Rot Gallimards) verbunden (Abb. 15). Im ersten Fall (À la recherche du temps perdu I, 2008) ist der Band von Kommentaren ein recht langer Text, in welchem der Künstler den Sinn seiner Arbeit, den Text von Proust zu »ruinieren« (so das von ihm gewählte Wort), darlegt.61 Er beruft Abb. 15: Jérémie Bennequin: À la recherche du temps perdu I : Du côté de chez Swann. Un amour de Swann. Mit Ommage III: Statement, 2 Bde., Paris: [Selbstverlag] 2010, Cover mit Bauchbinde und 92-93.

58 | »choix spontanés«, Bennequin, Jérémie: „Engagement“, in: Ders.: Ommage III: Statement, Paris: [Selbstverlag] 2010, o.S. 59 | Bennequin, Jérémie: À la recherche du temps perdu I: Du côté de chez Swann. Mit Ommage I: Une perte de temps recherché, 2 Bde., Paris: [Selbstverlag] 2008; Ders.: À la recherche du temps perdu II: Du côté de chez Swann. Combray II. Mit Ommage II: Le Roi du silence et les enfants de la nuit, 2 Bde., [Paris: Selbstverlag] 2009. 60 | Bennequin, Jérémie: À la recherche du temps perdu I: Du côté de chez Swann. Un amour de Swann. Mit Ommage III: Statement, 2 Bde., Paris: [Selbstverlag] 2010. 61 | »[...] le livre que je ruine [...]«, Bennequin: Ommage I: Une perte de temps recherché, 10.

261

262

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

sich darin auf »eine aktive Reflexion zum so überaus aktuellen Begriff des Gebrauchs der Zeit«62. Er rechtfertigt seine nostalgische Wahl des Tintenradierers als handwerkliches Mittel und die Nähe seiner Unternehmung zu der Prousts (»muss man seine Zeit nicht verlieren, um sie vielleicht eines Tages wiederzufinden?«63). Vor allem erklärt er sich im Bezug auf die paradoxe Huldigung, welche die Arbeit der Zerstörung darstellt, die er als »gewissenhaftes Opfer«64 bezeichnet. Man muss das Wort »Opfer« in seiner ursprünglichen Bedeutung begreifen, welche in der Etymologie des französischen Wortes »sacrifice« (lat. sacer-facere) erhalten bleibt: eine rituelle Weihgabe, welche sich durch die Zerstörung des Geopferten charakterisiert, welches so seinerseits die Weihe erlangt. Dem selben religiösen Register treu bleibend bewahrt Bennequin die Abfälle der Ausradierungen der Bücher auf und nennt sie »Reliquien«65. Der vierte, 2011 erschienene Band radiert jenen aus, den Proust Noms de pays: le nom betitelt hat: ein Buch, welches dem Künstler zufolge ein besonderes Klangpotential birgt, da es sich mit Namen befasst. Daher ist es dieses Mal von einer Box mit acht CDs begleitet, welche die akustischen Aufnahmen (ein Titel pro Doppelseite) der Ausradierungen des Buches enthalten. Diese Box, die sich ebenfalls wie ein Buch in der Gestaltung von Gallimard präsentiert, ist mit dem Titel Variation à la gomme und dem Untertitel Noms de pays: le son versehen.66 Zumal es um Klänge geht und Bennequin seine Worte sorgfältig wählt, darf man dem Wort »Variation« gewiss eine musikalische Bedeutung beilegen, das heißt: Modifikation und Entwicklung eines (in diesem Fall im Titel von Prousts Buch selbst) gegebenen Themas. Dessen ungeachtet sind diese CDs für Bennequin jedoch nicht dazu bestimmt, gehört zu werden, er stellt allerdings heraus: »Diese Box enthält eine Dauer, die dem Flipbuch der vorangegangenen Ommage abgeht und von dessen schnellem Durchlauf beinahe bestritten wird.«67 Um dem Einwand des destruktiven Charakters einer solchen Arbeit zu begegnen, merkt Bennequin an, dass es tatsächlich nicht das Werk ist, das zerstört wird, sondern nur ein gedrucktes Buch. Zweifelsohne. Allerdings geht die Ausradierung eines Textes weit darüber hinaus, nur ein einfaches Exemplar von vielen anderen zu zerstören: Den Text zu zerstören, bedeutet, ihn selbst anzutasten, um ihn zu tilgen.

62 | »une réflexion active sur la notion, ô combien actuelle, d’emploi du temps«, ebd., 62. 63 | »ne faut-il pas perdre son temps pour pouvoir, un jour peut-être, le retrouver?«, ebd., 18. 64 | »sacrifice scrupuleux«, ebd., 22. 65 | »relique«, ebd., 24. 66 | Bennequin, Jérémie: À la recherche du temps perdu Tome 1: Du côté de chez Swann. Noms de pays: le nom. Mit Ommage Opus IV: Variation à la gomme. Noms de pays: le son, Paris: [Selbstverlag] 2011 [mit 8 CDs in einer Box]. 67 | »Ce coffret contient une durée, absente, presque nié par le passage rapide du flipbook de l’ommage précédent.« Bennequin in einer E-Mail an die Verf. vom 26.4.2011 [Herv. i. O.].

V ON DER KÜNSTLERISCHEN A NEIGNUNG LITERARISCHER W ERKE IN K ÜNSTLERBÜCHERN

Man kann insofern davon ausgehen, dass das Werk eines Schriftstellers in jedem einzelnen Exemplar seines Buches vollkommen gegenwärtig ist. Mit demselben Gedanken bezüglich der Einzigkeit des Werkes innerhalb der Vielzahl seiner Exemplare kommentiert Bennequin die Zweideutigkeit seiner Arbeit, welche »genau darauf hinausläuft, eine einfache Replik [eines der zahlreichen Exemplare von der Proust-Ausgabe bei Gallimard] in eine einzigartige religiöse Reliquie [das ausradierte Exemplar] zu verwandeln«68, welche anschließend ihrerseits reproduziert, verlegt, also von neuem vervielfältigt wird. Das hat vor Bennequin bereits Tom Phillips getan, der von Hand jede Seite eines Exemplars von A Human Document bearbeitet hat, um A Humument, ein in unbegrenzter Auflage verlegbares Buch, zu erstellen, das sogar zweimal (1987, 1997) jeweils in einer »revised version« wiederverlegt wurde: Dieses Buch ist für Jérémie Bennequin ein Schlüsselwerk. Vor Kurzem hat er im selben Geiste die vier ›Opera‹ seiner Ausradierungen der vier Bände von Du coté de chez Swann, die zuvor jeweils im Selbstverlag in fünfzig oder hundert Exemplaren erschienen sind, in einer unlimitierten Ausgabe versammelt.69 Die Frage, die wir in diesem Text nicht gestellt haben und die gesondert behandelt werden müsste, ist: Warum ist, zumindest was Künstlerbücher angeht, der von der Literatur eingenommene Platz unter den Aneignungspraktiken, welche die heutige Kunst kennzeichnen, so bedeutend geworden? Woher rührt das scheinbar wachsende Interesse an literarischen Texten gerade bei den Jüngeren, einer Generation zumal, welcher nachgesagt wird, weniger zu lesen als die vorherigen? Doch richtet sich dieses Interesse auf die Texte oder auf die Bücher? Wenn sie von gedruckten Büchern ausgehen, ist es dann nicht die Aura des literarischen Buches als prominentes Kulturobjekt, das mit dem Namen eines bekannten Autors versehen und von Verlagshäusern verlegt wird, deren Namen selbst von hohem Prestige umgeben sind (in unseren letzten Beispielen Gallimard und Les Éditions de Minuit), um die es in gleichem Maße geht wie um die Aura des Textes selbst (der zum Beispiel Tom Phillips keinerlei Respekt zollt, indem er sich im Gegenteil entscheidet, einen gänzlich marginalen Text umzuformen)? Es bleibt dieses fruchtbare Paradoxon: Von Künstlern umgestaltet, die sie auf die eine oder andere Weise zum Verschwinden bringen oder unsichtbar machen, gewinnen literarische Texte, die als Schöpfungen des Geistes dazu bestimmt sind, sich an das lesende intellektuelle Auge zu richten, gerade durch ihr Verschwinden einen sichtbaren und fühlbaren Körper, der herausstellt, was die Literatur meist vernachlässigt: Einerseits existiert der Text nicht ohne seine materielle Einschreibung 68 | »revient exactement à transformer une simple réplique en une relique singulière«, Bennequin: Ommage I: Une perte de temps recherché, 24. 69 | Bennequin, Jérémie: Ommage. À la recherche du temps perdu: Du côté de chez Swann, Paris: &: Christophe Daviet-Théry 2012.

263

264

A NNE M ŒGLIN -D ELCROIX

in ein Buch (das, was bleibt, wenn man den Text ganz oder teilweise getilgt hat); andererseits ist auch die Lektüre eine körperliche Aktivität (der Hände, aber auch der Stimme und des Atems). Das heißt in allgemeinerem Sinne, dass das weit verzweigte Phänomen der künstlerischen Aneignung nicht homogen ist und es ohne Simplifizierung nicht, wie so oft geschehen, ausschließlich der formalistischen Perspektive einer rein konzeptuellen Übung zugeschrieben werden kann. (Übersetzung: Jochen Matthies)

Noch einmal im Samizdat Aneignungsstrategien von Bildern, Texten und Büchern im Moskauer Konzeptualismus Sabine Hänsgen

An der Wende zu den 1970er Jahren bildete sich der Moskauer Konzeptualismus als ästhetische Strömung in der inoffiziellen sowjetischen Kunst- und Literaturszene heraus. Die Künstler und Schriftsteller dieses Kreises interessierten sich besonders für das ideologische Milieu, in dem sie lebten, für die Symbole, Mythen und Rituale der sowjetischen Massenkultur. Die semiotischen Systeme, die das Funktionieren der Kultur gewährleisten, sowie der Umgang mit ihnen rückten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese Haltung führte zu weitreichenden Veränderungen nicht nur im Verständnis des Künstlers, sondern auch im Verständnis des Kunstwerks. Es ging den konzeptualistischen Künstlern und Schriftstellern nicht länger darum, eigene originale Schöpfungen hervorzubringen, über einen zitierenden und reproduzierenden Gestus strebten sie vielmehr die Auseinandersetzung mit den sie umgebenden, vorfindlichen Zeichen-, Symbol- und Textwelten an.1 Die Aneignungsstrategien von Bildern, Texten und Büchern sollen im Folgenden am Beispiel von Künstlerpublikationen aus dem Moskauer Konzeptualismus betrachtet werden, die unabhängig von der staatlichen Zensur im sogenannten Samizdat (Selbstverlag) erschienen. Von den offiziellen Publikationskanälen und den durch sie monopolisierten Printmedien ausgeschlossen, machten nicht sanktionierte Autoren aus ihren handschriftlichen oder maschinenschriftlichen, illustrierten Büchern künstlerische Gegenstände. Diese Publikationen existierten oft nur in einem Exemplar, manche hatten eine Auflage in der Größenordnung von Schreibmaschinendurchschlägen. Sie zirkulierten in der intimen Öffentlichkeit

1 | Allgemein zu den Aneignungsstrategien im Moskauer Konzeptualismus vgl. Weitlaner, Wolfgang: »Aneignungen des Uneigentlichen. Appropriationistische Verfahren in der russischen Kunst der Postmoderne«, in: Wiener Slawistischer Almanach 41 (1998), 147-202, und 42 (1998), 189-235.

266

S ABINE H ÄNSGEN

eines beinahe familiären Kreises befreundeter Künstler, Schriftsteller, Theoretiker und Kritiker. Die sowjetischen Künstlerpublikationen unterscheiden sich also in ihrem Status von den westlichen Künstlerpublikationen, die – wenn auch zuweilen in einer kleinen oder limitierten Auflage – im Druck erscheinen konnten und somit von vornherein für eine größere, anonyme Öffentlichkeit bestimmt waren.

I L’ JA K ABAKOV Die Auseinandersetzung mit den offiziellen ideologischen Bild- und Textwelten der sowjetischen Alltagswirklichkeit lässt sich insbesondere an den soz-artistisch geprägten Arbeiten Il’ja Kabakovs verdeutlichen. Die Verdrängung des genialisch schaffenden, romantischen, aber auch des produzierenden avantgardistischen Künstlers durch den zitierenden und reproduzierenden Künstler ist ein internationaler, die Postmoderne kennzeichnender Vorgang, der jedoch in Russland spezifische Züge trägt. Programmatisch kommt dies im Begriff der Soz Art, einer Spielart des Moskauer Konzeptualismus, zum Ausdruck. Der Begriff verweist auf das spannungsvolle Verhältnis von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zu entsprechenden westlichen Strömungen. Soz Art ist ein Begriffszwitter aus Pop Art und Sozialistischer Realismus. So wie die Pop Art reproduziert diese Kunst vorgefundene Bildklischees der Massenkultur. Doch im Unterschied zur glitzernden und erotisch besetzten Warenwelt der Reklamefotos beziehen sich die russischen Künstler auf eine andere Art von Vorlagen. Sie imitieren die Bilderwelten des sozialistischen Realismus, jener ideologisch bestimmten offiziellen Kunst in der Sowjetunion. Nicht Optimismus des Konsums, sondern Optimismus der überlegenen politischen Doktrin wird von dieser Kunst inszeniert. Die Bilderwelten des sozialistischen Realismus illustrieren geradezu das große Epos des historischen Fortschritts, das der Ideologie des historischen Materialismus zugrunde liegt. In Il’ja Kabakovs Werk Überprüft (Proverena, 1981), das sich auf die Parteisäuberungen in den 1930er Jahren bezieht, ist der Appropriationsprozess mehrfach gestaffelt und verläuft über eine Reihe unterschiedlicher Medien. Kabakov beginnt den Prozess mit der malerischen Wiederholung eines verschollenen Gemäldes der Stalinzeit, das lediglich in einer schlechten s/w-Fotoillustration in einem Bildband von 1938 überliefert ist. Die kleine technisch reproduzierte Abbildung überführt Kabakov in ein klassisches Tafelbild zurück, wobei er Farbe, Malweise etc. des Originals imaginiert. Indem Kabakov das Gemälde nach der überlieferten Fotovorlage rekonstruierend nachschafft, leistet er gewissermaßen einen Beitrag zu einer Ethnografie der Sowjetkultur: Die tabuisierte, verdrängte und ausgrenzte Dimension stalinistischer Mentalität wird auf diese Weise wieder vor Augen geführt und in das gesellschaftliche Bewusstsein der Gegenwart gebracht. Der Appropriationsprozess endet jedoch nicht mit dieser Gemäldewiederherstellung: In einer Samizdatkünstlerpublikation erstellte Il’ja Kabakov einen inoffiziellen

N OCH EINMAL IM S AMIZDAT

Katalog zu seiner Rekonstruktionsarbeit. Bei diesem Katalog handelt es sich um eine eigenwillige Präsentationsform für das in der sowjetischen Öffentlichkeit der 1980er Jahre nicht ausstellbare Werk, das die Tabugrenzen in der Auseinandersetzung mit der Stalinzeit überschritt. Die äußere Form des Katalogheftes weist wesentliche Merkmale einer Samizdatpublikation auf: Die Titelgestaltung (Autor/Titel/Jahr) ist auf einem braunen Pappdeckel, der auf die Dominanz bürokratischer Strukturen in der sowjetischen Kultur anspielt, handschriftlich mit einem roten Farbstift realisiert. Hinzu kommt am rechten Rand die ebenfalls handschriftliche Widmung für Andrej Monastyrskij, einen Künstlerfreund aus dem Kreis des Moskauer Konzeptualismus. Diese Widmung unterstreicht den Status einer solchen Publikation, die eine wichtige Rolle im ästhetischen Kommunikations- und Austauschprozess der subkulturellen Szene spielte. Zugleich bedeutet diese Katalogpublikation aber auch eine ironische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Kultästhetik, insbesondere mit der Inszenierung von Kultbildern in sowjetischen Bildbänden. Der fotografischen Abbildung der malerischen Wiederholung des stalinistischen Gemäldes, die auch die Bildlegende des Vorgängerbildes (I. Alechin: Überprüft! Bei der Parteisäuberung (Proverena! Na partijnoj čistke), 1938) umfasst, geht ein mit dem handschriftlichen Katalogeintrag (Titel, Maße, Technik, Jahr) versehenes Pergamentpapier voraus, welches als eine erst umzublätternde Abdeckung nicht nur einen Schutz für das nachfolgende Bild darstellt, sondern für dieses auch eine besondere Aufmerksamkeit schafft (Abb. 1). Im zweiten Teil der Publikation tritt dann das Bild als solches in den Hintergrund, und es folgen in maschinenschriftlicher Form Katalogtexte, die die Reproduktion durch psychologische, historiografische und formanalytische Kommentare rahmen und so den Anspruch des Moskauer Konzeptualismus maniAbb. 1: Il’ja Kabakov: Überprüft (Proverena), Moskau 1981.

267

268

S ABINE H ÄNSGEN

Abb. 2+3: Il’ja Kabakov: Energieübertragung (Peredača ėnergii), Moskau o.J.

fest werden lassen, sich in einer künstlerischen Forschung mit der eigenen Kultur und auch deren totalitärer Vergangenheit auseinanderzusetzen.2

2 | Ein Wiederabdruck ist in einer Übersetzung erschienen: Kabakov, Ilya: »Geprüft! (Bei der Parteisäuberung) / Tested (At a Party Purge)«, in: Groys, Boris/Hollein, Max/ Junco, Manuel Fontán del (Hgg.): Die totale Aufklärung. Moskauer Konzeptkunst 1960-1990, Ostfildern: Hatje Cantz 2008, 376-387.

N OCH EINMAL IM S AMIZDAT

Energieübertragung (Peredača ėnergii, o.J.), ein anderes Samizdatobjekt Il’ja Kabakovs, ist durch einen doppelten Appropriationsprozess gekennzeichnet. Es besteht aus einem Exemplar der populären sowjetischen Illustrierten Ogonek, in das s/w-Fotografien eines eigenen künstlerischen Werks, und zwar des Albums Spaßvogel Gorochov (Šutnik Gorochov) eingeklebt sind. Diese doppelte Appropriation verweist auf die Spezifik der konzeptualistischen künstlerischen Forschung. Der Künstlerforscher versteht sich selbst als Teil der Kultur, mit der er sich auseinandersetzt. Eine solche Forschungshaltung ließe sich mit dem Begriff der teilnehmenden Beobachtung bezeichnen. Il’ja Kabakov charakterisiert sich selbst als Menschen, der »unablösbar« und »tragisch« mit dem ihn umgebenden Sozium verbunden ist, der nur mit und in diesem »vibriert und existiert« und sich auf keine Art und Weise aus diesem entfernen kann.3 In dem Samizdatobjekt wird dieser Zusammenhang eindrücklich durch die Schnurverbindungen materiell umgesetzt, die die unterschiedlichen Schichten des collagierten Werks durchziehen, das die massenkulturelle sowjetische Zeitschriftenästhetik mit dem eigenen Kabakov’schen Genre der Alben zusammenbringt (Abb. 2). Bei den Alben handelt es sich um Bildgeschichten aus Serien von grafischen Einzelblättern, die Kabakov in aufwendig hergestellten Schachteln aufbewahrte und in Form eines häuslichen Theaters einem kleinen Publikum aus Freunden selbst vorführte. Gerade die unansehnlichen Fotoreproduktionen der Albumblätter, also der aus der lebendigen Situation ihrer Rezeption isolierten Relikte, bieten Kabakov in der Samizdatpublikation Anlass für weitere Bearbeitungen. Der Autor schreibt die seinerzeit durch ihn selbst auf die Originalblätter des Albums aufgetragenen, kalligrafischen Tuschschriften, die nun in der schlechten Fotoreproduktion nicht mehr entzifferbar sind, ein weiteres Mal ab, mit Kugelschreiber auf den Rändern der Illustriertenseiten. Das äußerliche, technische Reproduktionsverfahren der Fotoabbildungen wird hier durch eine handschriftliche, individuelle Wiederholungsgeste konterkariert (Abb. 3). 3 | »Čelovek – ėto est’ to, čto živet v obščestve i prinadležit polnost’ju ėtomu obščestvu. To est’, on vibriruet, suščestvuet i nikakie formy otstranenija ot sociuma, esli govorit’ o ego čelovečeskoj strukture, nevozmožno. Vot ėta nevozmožnost otleplenija, postojannaja vvergnutost’ čeloveka, normal’naja, a ne iskusstvennaja vnesennost’ čeloveka v socium i sostavljaet, mne kažetsja, vot ėtu tragičeskuju podosnovu vzaimootnošenija, vzaimodejstvija social’nogo iskusstva.« (»Der Mensch ist das, was in der Gesellschaft lebt und ganz dieser Gesellschaft gehört. D.h., er vibriert, existiert und jede Form der Distanzierung vom Sozium, wenn wir von seiner menschlichen Struktur sprechen, ist unmöglich. Diese Unmöglichkeit einer Ablösung, dieses ständige Hineingeworfensein des Menschen, dieses normale und nicht künstliche Einbezogensein des Menschen in das Sozium macht, wie mir scheint, die tragische Grundlage der spezifischen Wechselbeziehung und Wechselwirkung in der sozialen Kunst aus.«) Kabakov, Il’ja: Social’noe iskusstvo, Moskva: Samizdat-Typoskript 1982, 11f. [Wenn nicht anders angegeben, alle Übers. S.H.].

269

270

S ABINE H ÄNSGEN

D MITRIJ A LEKSANDROVIČ P RIGOV Dmitrij Aleksandrovič Prigov appropriiert in seiner Ab- und Umschrift von Aleksandr Puškins Versepos Evgenij Onegin, die er im Jahr 1992 auf der Schreibmaschine in zwölf Samizdatbänden herstellte, ein kanonisches Werk der Literaturgeschichte. Über den Akt des Kopierens schreibt er sich zudem den Rang einer Autorschaft zu: Auf dem Titelblatt des sechsten Samizdatbandes, der in einer bibliophilen Re-Edition für ein größeres Publikum veröffentlicht wurde, steht D.A. Prigov als Autor und als Werktitel erscheint Evgenij Onegin Puškina (Evgenij Onegin von Puškin)4 (Abb. 4). Prigov benutzt das Medium des Samizdat noch zu einer Zeit, als es in einer neuen Öffentlichkeitssituation nach der Perestrojka bereits seine eigentliche Funktion, verbotene Literatur jenseits der Zensur zu publizieren, eingebüßt hatte. Als Motivation für seinen Schreibakt gibt er an, es sei ihm darum gegangen, eine hohe, vom Staat angeeignete Literaturtradition in eine inoffizielle Sphäre zurückzuführen, die durch ein lebendiges und intimes Verhältnis zum Text gekennzeichnet sei: »[...] die Hauptsache war ein mönchisch-demütiges Abschreiben eines sakralen Textes (eines sakralen Textes der russischen Literatur).«5 Prigov reagiert so auch auf den Puškin-Kult in der Stalinzeit, durch den Puškin – jenseits aller romantischer Ironie – auf ein fortschrittliches, protokommunistisches Heldentum reduziert wurde und der kanonische Text zu einer Ansammlung von Klischees zu verkommen drohte. Im Prozess des Abschreibens ersetzt Prigov alle Adjektive durch die Wörter »wahnsinniger«/»bezumnyj« und »überirdischer«/»nezemnoj«. Selbst sah er darin eine Übersteigerung und Überhöhung der romantischen Tradition, die als ›Lermontovisierung Puškins‹ bezeichnet werden könnte. Zugleich führt dieses Verfahren aber auch zu einer Sinnentleerung des Textes, der die Welt nicht mehr sinnvoll zu ordnen vermag. Die literarischen Klischees erscheinen nur noch als Formgerüste, die im mechanischen Prozess ihrer maschinenschriftlichen Repro4 | Brigitte Obermayr hat auf dem Titelblatt des vierten Samizdatbandes darüber hinaus auch eine Selbstzuschreibung des eigentlichen Werks durch Prigov entdeckt, die allerdings als Tippfehler korrigiert ist und somit gleich wieder zurückgenommen wird: Evgenij Onegin Prigova Puškina (Evgenij Onegin von Prigov Puškin): Obermayr, Brigitte: »P-rigov wie P-uškin. Demystifikation der Autorfunktion bei D.A. Prigov«, in: Frank, Susi et al. (Hgg.): Mystifikation – Autorschaft – Original, Tübingen: Narr 2001, 283-311. Vgl. darüber hinaus Gilbert, Annette: »Geliehene Sonette. Appropriationen des Sonetts im Conceptual Writing (Dmitrij Prigov, Ulises Carrión, Michalis Pichler)«, in: Greber, Erika/ Zemanek, Evi (Hgg.): Sonett-Künste. Mediale Transformationen eines klassischen Genres, Dozwil: Edition Signathur 2012, 455-489. 5 | »No, konečno že, osnovnym bylo monašeski-smirennoe perepisyvanie sakral’nogo teksta (sakral’nogo teksta russkoj literatury).« Prigov, Dmitrij A.: Evgenij Onegin Puškina. Faks. vosproizvedenie [Faks. d. Samizdat-Ausg., Moskva 1992]. Mit Zeichnungen von Aleksandr Florenskij, St.-Peterburg: Mitkilibris 1998, o. S.

N OCH EINMAL IM S AMIZDAT Abb. 4+5: Dmitrij A. Prigov: Evgenij Onegin von Puškin (Evgenij Onegin Puškina), St.-Peterburg: Mitkilibris 1998 [Faksimile der Samizdat-Ausg.], o. S.

duktion dem Abschreiber eine meditative Erfahrung von Leere ermöglichen. Andererseits kommt es für den Rezipienten zum Effekt einer Unlesbarmachung des Textes. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Lesefluss im Schreibmaschinentyposkript, das als solches schon schlechter lesbar ist als der Gutenberg’sche Buchdruck, durch eine Vielzahl von Tippfehlern gestört wird (Abb. 5). Die nach dem Ende der sowjetischen Zensur anachronistische Form des Samizdat rückt also zum einen den Schreibakt ins Zentrum, über den sich der Kopist im individuellen Nachvollzug eine große Textmenge aneignet, zum anderen wird durch die Samizdattypografie und die verfremdende Umschrift der Lektüreprozess bis zum Effekt der Unlesbarkeit erschwert – mit dem Ziel, im Leser eine neue Sensibilität für einen Text der literarischen Tradition zu erzeugen.

A NDREJ M ONASTYRSKIJ Die konzeptualistische ästhetische Praxis ist durch den Versuch gekennzeichnet, die Grenzen des Textes zu überschreiten und ihn für die Situation der Performance zu öffnen. Dies lässt sich am Umgang mit kanonischen Buchausgaben durch Andrej Monastyrskij und die Gruppe Kollektive Aktionen (Kollektivnye dejstvija) zeigen.

271

272

S ABINE H ÄNSGEN Abb. 6: Andrej Monastyrskij: Deržavin (Buchobjekt / Kniga-ob’’ekt), Moskva 1984.

In dem Buchobjekt Deržavin6, einem Unikat aus dem Jahr 1984, unterzieht Andrej Monastyrskij einige Seiten einer Buchausgabe von Gedichten des klassizistischen Odenautors Gavrila R. Deržavin7 einer tautologischen Bearbeitung. Von Hand realisierte Schablonenschrift und Schreibmaschinentypografie treten dabei in ein Spannungsverhältnis zum Gutenberg’schen Medium des Buchdrucks (Abb. 6). Auf den Seiten 366 und 367 sind die Überschriften Herkules (Gerkules) und Reichtum (Bogatstvo) in großen schwarzen Buchstaben wiederholt und werden dadurch besonders akzentuiert. Auf diese Weise ist ebenfalls die Datierung der Neuauflage als Künstlerbuch mit 1984 eingetragen. Die Seiten 368 bis 374 sind zusammengeklebt; die auf diesen Seiten abgedruckten Gedichte wurden mit der Schreibmaschine abgetippt, auf Pappe aufgeklebt und zwischen den Seiten 374 und 375 eingelegt (Abb. 7). Auf der Seite 375 sind über dem Gedicht An mich selbst (K samomu sebe) als Verzierung kleine goldene Metallflügel angebracht, die die schwarzen Flecken der durchgefärbten Schablonenschrift verdecken. Durch diese Bearbeitung einer vorliegenden Ausgabe wird im Buchobjekt Deržavin die Aufmerksamkeit nicht nur auf das materielle Artefakt gelenkt, es wird zugleich auch der Prozess der Lektüre durch den – auf dem Vorsatzpapier mit dem eingeklammerten bürokratischen Kürzel AM bezeichneten – Autor der 6 | Eine Dokumentation zu diesem Buchobjekt findet sich bei A.M.: »Tri raboty«, in: Kollektivnye dejstvija: Poezdki za gorod. 2-3, Vologda: Biblioteka moskovskogo konceptualizma 2011, 472 und 618-619. 7 | Deržavin, Gavrila R.: Stichotvorenija, Moskva: Gosud. izdat. chudož. literatura 1958.

N OCH EINMAL IM S AMIZDAT

Abb. 7: Andrej Monastyrskij: Deržavin (Buchobjekt / Knigaob’’ekt), Moskva 1984.

Re-Edition reflektiert. Die Wiederholung einzelner Worte durch große schwarze Schablonenbuchstaben kann etwa von einer besonderen Intensität der Wahrnehmung dieser Textpassagen zeugen – genauso wie das Abtippen einzelner Gedichte, die noch dazu auf einem selbstgestalteten Einlegekarton als eine Art Lesezeichen fungieren. Schließlich wird nicht nur der Prozess der Lektüre, sondern auch der Prozess der Herstellung des Buchobjekts selbst thematisiert, wenn die im ersten Schritt der Bearbeitung entstandenen Flecken durch eine weitere Verzierung überdeckt werden. Dadurch, dass der Autor der Re-Edition die Lektüre in eine Handlung überführt, wird auch beim Rezipienten eine Haltung herausgefordert, in der die Handhabung des Objekts eine Verlagerung von der Visualität zur Taktilität des Lektüreprozesses bewirken soll: Der Leser/Betrachter wird selbst zum Ausführenden in der Situation einer Performance.

K OLLEKTIVE A KTIONEN Die Verschiebung des künstlerischen Interesses vom Text zur Situation steht bei der Gruppe Kollektive Aktionen (Kollektivnye dejstvija), der seit 1976 Andrej Monastyrskij, Nikita Alekseev, Georgij Kizeval’ter, Nikolaj Panitkov, Elena Elagina, Igor’ Makarevič und Sergej Romaško u.a. angehörten, im Zentrum des ästhetischen Programms. Die Aktionen unter dem Titel Reisen aus der Stadt (Poezdki za gorod) intendieren eine Entfernung von den Zeichenwelten der Metropole und finden

273

274

S ABINE H ÄNSGEN Abb. 8-10: Kollektive Aktionen (Kollektivnye dejstvija): Bibliothek (Biblioteka), Gebiet Moskau 1997.

N OCH EINMAL IM S AMIZDAT

meistens in der ländlichen Umgebung Moskaus statt, wo der unbesetzte Naturraum zu einer Bühne für minimale Handlungen wird. Das Aktionsereignis bleibt aber nicht auf das unmittelbare Erleben einer Situation beschränkt, sondern wird in einer widerspruchsvollen Spannung wiederum auf den kommentierenden Diskurs ausgedehnt. Die Samizdatbände der Gruppe umfassen ganz unterschiedliche Dokumentationsgenres (Beschreibungstexte, Fotos, Erzählungen der Teilnehmer, theoretische Spekulationen, Diskussionen), die zu einem Dokumentationskunstwerk zusammenwachsen. Unter unserer Fragestellung, bei der es um die Appropriation von Büchern geht, ist die Aktion Bibliothek (Biblioteka, 1997) aus einer späteren Entwicklungsphase der Gruppe von besonderem Interesse, die bereits auf die Buchform der eigenen Dokumentationen Bezug nimmt und bei der Bücher in einem ästhetischen Handlungszusammenhang Verwendung finden.8 Bei der Aktion Bibliothek wurden in 13 Bücher vorwiegend ideologischen Inhalts, deren Erscheinungsjahre (1976-1996) mit Jahren zusammenfielen, in denen auch die Gruppe Aktionen organisierte, Dokumentationsmaterialien der entsprechenden Aktionen (auf die linken Seiten Beschreibungstexte und auf die rechten Fotografien) eingeklebt (Abb. 8). Folgende Bücher kamen dabei zum Einsatz: t L.I. Brežnev: Fragen der Wirtschaftslenkung in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, 1976 (Aktion Zelt), t E.F. Erykalov/B.N. Kameškov: Das Lenin’sche ZK – der Stab des Großen Oktober, 1977 (Aktion Komödie), t Zehnte Sitzung des Obersten Sowjet der UdSSR (neunte Einberufung). Stenografisches Protokoll, 1978 (Aktionen Dritte Variante, Zeit der Handlung), t A.G. Charčev: Ehe und Familie in der UdSSR, 1979 (Aktion Ort der Handlung), t Materialien des XXVI. Parteitages der KPdSU, 1981 (Aktion Zehn Erscheinungen), t Chinesische Dokumente aus Dung Hua, 1983 (Aktionen M, Darstellung eines Rhombus), Nicht-proletarische Parteien Russlands, 1984 (Aktionen Beschreibung der Handlung, Schuss), t V.I. Chljupin: Die Söhne Russlands, 1985 (Aktionen Russische Welt, Winde), t Die UdSSR im Kampf gegen den Neokolonialismus, Bd. 2, 1986 (Aktion Schuhe), t Die UdSSR und Indien, 1987 (Aktion Ein Werk der bildenden Kunst – das Bild), t M. Gorbačev: Ausgewählte Reden und Aufsätze, Bd. 6, 1989 (Aktionen Für I. Makarevič, Für S. Romaško, Umplatzierung der Zuschauer, Spaziergänger in der Ferne – ein überflüssiges Element der Aktion, Anruf nach Deutschland, Hangare im Nordwesten), 8 | Die Aktion Bibliothek ist in folgender Edition dokumentiert: Kollektivnye dejstvija: Poezdki za gorod. 6-11, Vologda: Biblioteka moskovskogo konceptualizma 2009, 112-113. Zu einer Analyse dieser Aktion vgl. Witte, Georg: »Die Kunst der Selbstkanonisierung«, in: Cheauré, Elisabeth (Hg.): Kunstmarkt und Kanonbildung. Tendenzen in der russischen Kultur heute, Berlin: Berlin Verlag 2000, 99-117.

275

276

S ABINE H ÄNSGEN

t Die Fauna der UdSSR. Hautflügler, Bd. 3, 2. Lieferung, 1990 (Aktion Einweckgläser), t N.G. Voločkov: Immobilienhandbuch, 1996 (Aktion Negative).9 Anschließend wurden die Bücher in Silberfolie verpackt, mit Pech übergossen und auf einer kleinen Waldlichtung vergraben. Die Idee der Aktion bestand darin, die Buchpäckchen nach dem Stehenbleiben eines Kontrollweckers, der mit Batterien von ungefähr 10 Jahren Lebensdauer ausgestattet war, wieder auszugraben und unter den Teilnehmern der Aktion zu verteilen (Abb. 9 und 10). Bei den Buchobjekten, die während der Aktion hergestellt wurden, fällt auf, dass – ähnlich wie bei der Kabakov’schen Energieübertragung – in ein Buch, das der ideologischen Sphäre der offiziellen sowjetischen Kultur entstammt, Zeugnisse inoffizieller, subkultureller künstlerischer Handlungen, d.h. deren Dokumentation integriert werden. Aus der retrospektiven Sicht entsteht so der Effekt einer Verwandtschaft zwischen zwei Sphären der Kultur, die sich in der Sowjetära unversöhnlich gegenüberzustehen schienen. Nun werden sie in ein Verhältnis der wechselseitigen Kommentierung gebracht, sie scheinen sich geradezu wechselseitig energetisch aufzuladen, und als komplementäre Totalität verkörpern sie eine zu Ende gehende historische Epoche. Texte aus der offiziellen und aus der inoffiziellen Kultursphäre werden in einer gemeinsamen Hülle konserviert und in einem gemeinsamen ›Sarg‹ beerdigt – nach dem Ende der Sowjetunion werden sie gewissermaßen in Reliquien verwandelt. Die Perspektive des Wiederausgrabens der Buchobjekte und ihres Verteilens spielt darüber hinaus auf die Auferweckungs- und Auferstehensmotivik der klassischen russischen Avantgarde an, etwa auf die Konzeption der Auferweckung des Wortes (Voskrešenie slova) bei Viktor Šklovskij.10

9 | L.I. Brežnev: Voprosy upravlenija ėkonomikoj razvitogo socialističeskogo obščestva, 1976 (Palatka); E. F. Erykalov/B. N. Kameškov: Leninskij CK – štab Velikogo Oktjabrja, 1977 (Komedija); Desjataja sessija Verchovnogo Soveta SSSR (Devjatyj sozyv). Stenografičeskij otčet, 1978 (Tretij variant, Vremja dejstvija); A.G. Charčev: Brak i sem’ja v SSSR, 1979 (Mesto dejstvija); Materialy XXVI s’’ezda KPSS, 1981 (Desjat’ pojavlenij); Kitajskie dokumenty iz Dun’chuja, 1983 (M; Izobraženie romba); Neproletarskie partii Rossii, 1984 (Opisanie dejstvija; Vystrel); V. I. Chljupin: Syny Rossii, 1985 (Russkij mir; Vorot); SSSR v bor’be protiv neokolonializma, t. 2, 1986 (Botinki); SSSR i Indija, 1987 (Proizvedenie izobrazitel’nogo iskusstva – kartina); M. Gorbačev: Izbrannye reči i stat’i, t. 6, 1989 (I. Makareviču; S. Romaško; Peremeščenie zritelej; Progulivajuščiesja ljudi v dali – lišnij ėlement akcii; Zvonok v Germaniju; Angary na severo-zapade); Fauna SSSR. Perepončatokrylye, III. Vypusk 2, 1990 (Banki); N. G. Voločkov: Spravočnik po nedvižimosti, 1996 (Negativy). 10 | Šklovskij, Viktor: »Voskrešenie slova/Die Auferweckung des Wortes«, in: Stempel,Wolf-Dieter (Hg.): Texte der russischen Formalisten, München: Fink 1972, Bd. II, 2-17.

N OCH EINMAL IM S AMIZDAT

Es handelt sich um eine offene Perspektive, und während der Aktion erscheint es als ein ungewisses Schicksal, was aus den Buchobjekten nach ihrem Ausgraben in einer anderen historischen Situation werden wird: Ob sie erhalten bleiben, ob die Texte entzifferbar sind, ob sie gelesen werden, welche Rezeption sie erfahren, von welchen Lesern und Betrachtern in welchen Kontexten? Welche Wirkung sie entfalten können? Ob sie vielleicht sogar neue Handlungen stimulieren können?11

J URIJ A L’ BERT UND VADIM Z ACHAROV Wie werden nun die Aneignungsstrategien des Moskauer Konzeptualismus nach dem Ende der Sowjetunion von der nächsten Generation weiterentwickelt? Seit den späten 1980er Jahren verlässt Jurij Al’bert mit seinen künstlerischen Reflexionen über Sprachen und Schriften den Rahmen der sowjetischen Kultur und überführt die Problematik in einen internationalen Kontext. Ideologische Zeichen und Texte werden dabei in seinen Konzeptarbeiten durch die Kunst als solche betreffende Aussagen ersetzt. Im Jahr 1995 produzierte Jurij Al’bert ein umfängliches Künstlerbuch mit dem Titel Selbstportrait mit geschlossenen Augen (Avtoportret s zakrytymi glazami).12 Dieses Buch enthält Vincent van Goghs Briefe mit dessen Bildentwürfen, die nach der sowjetischen Buchausgabe wiedergegeben werden und als Blindenschrift in weiße Kartonblätter geprägt sind. Eine eigentlich visuelle Realisierung dieser Bildentwürfe van Goghs gibt es nicht, sie existieren nur als verbale Beschreibungen. Diese schriftlichen Texte werden von Al’bert wiederum in eine nicht sichtbare, nur durch Ertasten zu entziffernde Brailleschrift übertragen. Eine solche doppelte Verschriftung, d.h. die doppelte Devisualisierung des Bildes zielt bei ihm auf eine neue Imagination »mit geschlossenen Augen« (Abb. 11). In einem weiteren Schritt realisierte Jurij Al’bert aus dem Buch eine Installation, die er als Aktionsraum für die Betrachter konzipierte.13 Die einzelnen mit Brailleschrift versehenen Kartonblätter wurden in Form von Bildtafeln an den Wänden des Ausstellungsraums aufgehängt. Dabei war von Jurij Al’bert geplant, das gewöhnliche Kunstpublikum mit blinden Besuchern zu konfrontieren. Er ging davon aus, dass 11 | Die Aktion Bibliothek ist noch nicht abgeschlossen. Bis jetzt wurden lediglich 5 der 13 Bücher (4 davon gut erhalten) wieder ausgegraben und an das in einer Liste dem jeweiligen Buch zugeordnete Gruppenmitglied ausgehändigt. Das Wiederausgraben der Bücher stellte ein zentrales Handlungselement in den Aktionen Bibliothek-2005 (Biblioteka-2005) und Bibliothek-2007 (Biblioteka-2007) dar. 12 | Ein Kommentar Jurij Al’lberts zu der Arbeit Selbstportrait mit geschlossenen Augen findet sich in Hirt, Günter/Wonders, Sascha (Hgg.): Präprintium. Moskauer Bücher aus dem Samizdat. Mit Multimedia CD, Bremen: Edition Temmen 1998, 123-124. 13 | Die aus dem Buch entstandene Installation ist dokumentiert in: Oroschakoff, Haralampi (Hg.): Kräftemessen. Eine Ausstellung ost-östlicher Positionen innerhalb der westlichen Welt, Ostfildern: Cantz 1996, 91-93.

277

278

S ABINE H ÄNSGEN Abb. 11+12: Jurij Al’bert: Selbstportrait mit geschlossenen Augen (Avtoportret s zakrytymi glazami), Köln 1995, Buch und Installationsansicht mit J. A.

.

die Zuschauer aus dem Kunstpublikum die Texte in Blindenschrift zwar nicht lesen können, dafür aber die Installation möglicherweise als minimalistischen Bildraum wahrnehmen. Den blinden Besuchern, die die Briefe van Goghs tastend entziffern und so zu einer Imagination seiner Bildentwürfe gelangen können, entzieht sich aus seiner Sicht jedoch die ästhetische Reflexion der Installation im Kontext der zeitgenössischen Kunst (Abb. 12). Die für den Moskauer Konzeptualismus kennzeichnende Thematisierung der umgebenden Text- und Bildwelten wird bei Jurij Al’bert aus dem sowjetischen Kon-

N OCH EINMAL IM S AMIZDAT Abb. 13: Vadim Zakharov: Auf einer Seite. Dante Alighieri: Die Hölle, Pastor Zond Edition 1998.

text herausgelöst und erfährt auf diese Weise eine Verallgemeinerung. Die Sprachen der Kunst stellt Al’bert in seinen Arbeiten dieser Zeit den Sprachen von Blinden und Taubstummen oder auch der Fachsprache der Seeleute gegenüber. Im Wechselverhältnis zwischen den unterschiedlichen Sprachen und Fachsprachen werden – verstärkt durch vielfache mediale Übersetzungen – die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der einzelnen semiotischen Systeme einer Analyse unterzogen. Als beispielhaft für die Appropriationsprozesse in der postsowjetischen Epoche kann ebenfalls die Arbeit des Künstlers, Layouters und Verlegers Vadim Zacharov betrachtet werden, der seine Editionstätigkeit als wesentlichen Bestandteil seiner künstlerischen Praxis ansieht. Zacharov geht es weniger um die Neuschöpfung als vielmehr um die formvollendete Gestaltung vorfindlicher Texte über ein Layout, das in seinem Verständnis den professionellen Kriterien der zeitlosen, klassischen Buchgestaltung zu genügen hat. Zacharov stilisiert sich in einer seiner Künstlerrollen als Typograf, der eine bescheidende Haltung einzunehmen hat, der sich anderen in den Dienst stellt und seine Fähigkeiten dazu einsetzt, die Texte anderer möglichst perfekt zur Geltung zu bringen.14 So hat Zacharov nach seiner Ausreise in den Westen im Jahr 1989 in Köln seine Pastor Zond Edition gegründet, eine Art Hausverlag, in dem er eine Reihe von Werken und Projekten des Moskauer Konzeptualismus veröffentlichte. Hier gibt er auch die bisher in acht Ausgaben erschienene thematische Zeitschrift Pastor heraus, die unter dem Zeichen des Hirten, der die nun über die Welt verstreuten Künstlerfreunde aufspürt und zusammenhält, ein konzeptualisti14 | Zur verlegerischen Tätigkeit der Pastor Zond Edition vgl. Zakharov, Vadim: »Die Methode ›Shivas‹. Archiv, Sammlung, Verlag, Künstler«, in: Schulze Altcappenberg, Hein-Th. (Hg.): Moskauer Konzeptualismus. Sammlung Haralampi G. Oroschakoff – Sammlung, Verlag und Archiv Vadim Zakharov, Köln: Walther König 2004, 93-101, und Zwirner, Dorothea: »Vadim Zakharov – Sammlung, Verlag, Archiv. Zwischen Bewahren-Wollen und Verschwinden-Müssen«, in: Ebd., 145-151.

279

280

S ABINE H ÄNSGEN

sches Diskussionsforum darstellt. Die Zeitschrift Pastor steht noch in der Tradition der handgefertigten Publikationen des Samizdat, allerdings wird sie nicht mehr auf der Schreibmaschine erstellt, sondern erscheint nun im Computerlayout, jedoch in einer kleinen Auflage, die kaum über den Freundeskreis und einige Sammler hinausreicht.15 In einer nächsten Entwicklungsphase nutzt Zacharov dann dieses Computerlayout, um sich den großen Werken der Weltliteratur zuzuwenden. In deren künstlerischer Appropriation wird die semantische Textdimension weitgehend zurückgenommen, und im Gestaltungsprozess entfalten Objekt, Material und Layout ihre Eigenwertigkeit. Auf dem häuslichen Laserdrucker druckt Zacharov nach und nach auf einer Seite, d.h. auf einem Blatt Papier alle Seiten des jeweiligen Werks übereinander aus – mit dem Effekt, dass der Text nicht mehr zu lesen ist, der Ausdruck dagegen eine eigene fühlbare, objekthafte Faktur erhält (Auf einer Seite: Dantes Hölle, 1998, Saint-Exupérys Kleiner Prinz, 1998 und Russische Volksmärchen, 2001) (Abb. 13). Zum einen findet sich in diesen Layoutobjekten das Verfahren der Unlesbarmachung von Texten, das auch in der sowjetischen Periode des Moskauer Konzeptualismus kennzeichnend war, zum anderen scheinen sich diese Buchobjekte den Formen des Künstlerbuchs immer mehr anzuverwandeln, die wir aus der Kultur kennen, in der Zacharov nun auch seine Künstlerpublikationen herstellt.

15 | Inzwischen ist eine russischsprachige Re-Edition der Zeitschrift Pastor im Druck erschienen: Pastor. Sbornik izbrannych materialov opublikovannych v žurnale Pastor, 1992-2001, Vologda: Biblioteka moskovskogo konceptualizma 2009.

Übermalte Bücher Christoph Benjamin Schulz

D IE Ü BERMALUNG ALS STRATEGIE DER A NEIGNUNG Die künstlerische Appropriation von Büchern stellt in der so genannten Appropriation Art einen ungewöhnlichen und bisher von der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft wenig beleuchteten Sonderfall dar. Im Folgenden sei der Fokus auf eine bestimmte Form der künstlerischen Aneignung und des Sich-zu-eigenMachens von Büchern gelegt, nämlich auf die Übermalung. Dabei zeigt sich die künstlerische Appropriation (wie sie sich als Praxis der bildenden Kunst vor allem in der Folge der von Douglas Crimp kuratierten Ausstellung Pictures in dem alternativen New Yorker Ausstellungsort Artists’ Space im Herbst 1977 etabliert hat) als ein interdisziplinäres künstlerisches Verfahren, das (jenseits der Kanonisierung der Appropriation Art, wie sie in den späten 1970er Jahren von der New Yorker Galerie Metro Pictures betrieben wurde) eine Ausprägung parallel in der bildenden Kunst und in der Literatur gefunden hat. Die Bandbreite der in diesem Zusammenhang zu untersuchenden Werke umfasst daher sowohl Beispiele aus dem Bereich der experimentellen Literatur wie auch Künstlerbücher und Buchobjekte bildender Künstler. Dabei ist anzunehmen, dass sich Strategien der Appropriation im literarischen und im Kontext der bildenden Kunst vermutlich weitgehend unabhängig voneinander entwickelt haben – zumindest datieren einige der hier vorzustellenden Werke aus dem Bereich der experimentellen Poesie gut fünfzehn Jahre vor Crimps einschlägiger Ausstellung.1 Letztlich liegt mit Jorge Luis Borges’ Erzählung Pierre Menard, autor del Quichote (1939) auch eine literarische Quelle für eine – wenn auch nur fiktiv konzipierte – Appropriation Art avant la lettre vor. Im Folgenden geht es nicht um Appropriationen im Sinne von Bild- oder Textzitaten, Anspielungen und Verweisen, sondern um Übernahmen ganzer Bücher

1 | Es ist natürlich zu konstatieren, dass die Aneignung fremden Materials sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur eine weiter zurückreichende Tradition hat, die die Appropriation Art als Ismus der Kunstgeschichte zuspitzt und radikalisiert.

282

C HRISTOPH B ENJAMIN S CHULZ

und Prozesse der Aneignung, in deren Verlauf an den verwendeten Werken massive Verfremdungen vorgenommen wurden. Die Rede ist von Streichungen und Kürzungen, Schwärzungen einzelner Zeilen oder Passagen sowie vom großzügigen Überdrucken und Übermalen ganzer Seitenfolgen – kurz: vom partiellen oder vollständigen Unkenntlich- und Unlesbarmachen der appropriierten Vorlage. Diese Eingriffe beziehen sich nicht nur auf den verwendeten Text, sondern zumeist auch gezielt auf das Buch als dessen materiellen Träger – respektive auf eine bestimmte Ausgabe eines Werks. Teils reagieren die Künstler dabei in der Überarbeitung sensibel auf das zugrundeliegende Werk, indem sie gezielt auf den Inhalt des Textes eingehen; teils zwingen sie ihm gewaltsam eine neue und eigene Ebene auf, die einigermaßen brüsk auf das Werk projiziert wird. Es geht demnach um eine Form der Einmischung, die sich ausnimmt, in fremden Texten und Büchern eigenmächtig, ungebeten und ohne Einverständnis Veränderungen vorzunehmen. Der verwendete Text, auf den sich die Übermalung bezieht, stellt dabei vor allem eine inhaltliche Herausforderung dar, an der sich der eingreifende Künstler abarbeitet, die er zunächst als Gegner versteht, eher denn als dialogischen Gesprächspartner. Je mehr, je intensiver der Text übermalt und somit unsichtbar gemacht wird, desto mehr wird er zum Schweigen gebracht – respektive desto mehr lässt die Übermalung ihn durch die Verfremdung, die nicht zuletzt eine Form der Verfälschung ist, etwas anderes sagen. Zwar könnte man die Überarbeitung auch als eine Form des Dialogs, der kritischen Auseinandersetzung beschreiben, doch hat weder der verwendete Text noch sein Autor die Möglichkeit, auf die Eingriffe zu reagieren und sich gegebenenfalls zur Wehr zu setzen. Derartige Übergriffe auf Texte und Bücher muten gerade in einem künstlerischen Kontext seltsam an und irritieren, kennt man sie doch vor allen Dingen als Akt politischer Willkür, die potentiell kritische Inhalte verschwinden lässt. Dass sich Literatur und Kunst nicht gezwungen sehen, sich mit Versuchen von politischer Zensur auseinandersetzen zu müssen, ist dabei sowohl historisch als auch geografisch eher eine Ausnahmesituation als der Regelfall. Dass sich Bücher aber auch der Gefahr ausgesetzt sehen, von Künstlern überarbeitet, verfremdet, unkenntlich gemacht und in diesem Sinne zensiert zu werden, ist ein durchaus bemerkenswerter Umstand.2 Das Recht auf freie Meinungsäußerung, worunter ja nicht zuletzt auch die Freiheit künstlerischen Ausdrucks fällt, sollte gerade den Künstlern, insofern sie sich nicht als Mitarbeiter oder Sprachrohr eines politischen Systems verstehen, ein zentrales Anliegen sein. Dabei steht der künstlerische Eingriff in einem Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit des eigenen künstlerischen Ausdrucks und dem zu respektierenden Recht auf Meinungsäußerung des übermalten Autors.

2 | In der Geschichte der Zensur finden sich dabei durchaus auch Rechtfertigungen der Legitimität von Zensur von Seiten hochrangiger Schriftsteller, Philosophen und Intellektueller wie Leibniz oder Claudius. Vgl. Knoche, Michael: »Einführung in das Thema«, in: Raabe, Paul (Hg.): Der Zensur zum Trotz. Das gefesselte Wort und die Freiheit in Europa, Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft 1991, 23-41, 23.

Ü BERMALTE B ÜCHER

Natürlich soll nicht behauptet werden, dass die im Folgenden vorgestellten Künstler in einem politischen Sinne zensieren. Vielmehr zitieren sie die Ästhetik politischer Zensur, um sie zu thematisieren und den Prozess des Eingriffs zu reflektieren.3 Es geht im Folgenden also nicht um die Zensur als »Herrschaftsinstrument finsterer Diktatoren«4 oder totalitärer politischer Regime. Und es geht auch nicht um den »Eingriff des Staates oder einer in seinem Auftrage handelnden Behörde […], die entweder das Recht beansprucht, jede Veröffentlichung vorher zu prüfen […], oder die nach der Publikation Verbreitungsverbote oder die Beschlagnahme des ganzen Werkes oder bestimmter Teile […] anordnen kann.«5 Vielmehr geht es darum, wie sich Künstler eine Geste des Eingriffs aneignen, die aus politischen Kontexten bekannt ist, wie sie einschlägige Verfahren der politischen Zensur aufgreifen und im Sinne einer Verfremdung als ästhetische Verfahren ausprobieren und weiterentwickeln. Dabei soll auch untersucht werden, ob und inwiefern sich diese Übergriffe nicht nur zu der appropriierten Vorlage, sondern darüber hinaus auch zu Strategien politischer Zensur reflexiv verhalten. Als Mimikry politischer Zensur, so die These, nutzen Künstler in der politischen Praxis erprobte und etablierte Methoden und Instrumente, wie das Streichen und Kürzen bestimmter Passagen, das Schwärzen, das Überdrucken, das Ausschneiden oder Übermalen, um eine zweite Ebene in das appropriierte Buch einzuziehen. In unserem Zusammenhang erweist sich gerade die so genannte Nachzensur als besonders relevant, hat sie doch eine sinnlich wahrnehmbare und visuelle Qualität. Vor allem mit dem Schwärzen von Textzeilen und dem Überdrucken von Bildern hat sie eine ›Ikonografie‹ an einschlägigen und sofort erkenntlichen Strategien der Unsichtbarmachung etabliert. So verfügt die Zensur nicht nur über eine lange politische Tradition und einen eigenen philologischen Forschungszweig, sondern auch über eine spezifische Ästhetik mit einem hohen Wiedererkennungsgrad. Natürlich begnügen und erschöpfen sich die in unserem Zusammenhang relevanten künstlerischen Übermalungen nicht damit, das Aussehen politischer Zensur lediglich zu kopieren oder einfach anzuwenden. Die Bezüge zeigen sich in den vorzustellenden Beispielen in unterschiedlichen Abstraktionsgraden – manchmal explizit durch das zeilenweise oder flächige Schwärzen, manchmal aber auch durch vergleichsweise schöne Übermalungen, die auf Grund ihrer eigenen ästhetischen Qualität die Geste des Eingriffs als einen Akt des Übergriffs fast vergessen lassen. Von politischer Zensur unterscheiden sich diese Eingriffe vor allem darin, dass sie nicht von einer institutionalisierten Instanz gefordert respektive einer institutionellen Struktur durchgesetzt, sondern künstlerisch motiviert und von einem identi3 | Der Begriff ›Ästhetik‹ ist hier nicht im Sinne einer normativen oder instruktiven ›Poetik‹ zu verstehen, sondern als die sichtbare Manifestation des zensierenden Eingriffs. 4 | Knoche: »Einführung in das Thema«, 23. 5 | Dittmar, Paul: Lob der Zensur. Verwirrung der Begriffe, Verwirrung der Geister, Köln: Kölner Universitätsverlag 1987, 32.

283

284

C HRISTOPH B ENJAMIN S CHULZ

fizierbaren Autor vollzogen wurden. Insofern sind ihnen Züge einer Guerilla-Taktik nicht fremd, die eher unterwandert und unterminiert als dass sie im Sinne einer autoritären Durchsetzung von Normen einem erzwungenen Konsens gehorcht. Von zentraler Bedeutung ist auch, dass die Geste des Eingriffs zu einem ästhetischen Verfahren umfunktioniert wird, das zum Zwecke des künstlerischen Ausdrucks als Verfremdung eingesetzt wird. Es handelt sich demnach um eine künstlerische Inszenierung von Zensur, die sich als performativer Eingriff, als eine zweite, aufgepfropfte Autorschaft ostentativ zu erkennen gibt. Politischem wie ästhetischem Eingriff ist dabei gemeinsam, dass sie das Augenmerk erst gezielt auf das lenken, was sie zu verstecken suchen. In diesem Sinne verschafft Zensur Aufmerksamkeit: für Tabu- und Regelbrüche und für Konventionen, vor allem aber für das Zensierte selbst. Zu konstatieren ist weiterhin, dass diese künstlerischen Interventionen die Existenzberechtigung der verwendeten Vorlage nicht in Frage stellen oder deren Zirkulation behindern – noch diese ersetzen. Sie sind daher vor allem als Kommentar zu verstehen und fordern auf der Ebene der Rezeption eine Lektüre, die zwischen der Vorlage und dem Eingriff oszilliert, diese zueinander in Beziehung setzt. Politisch, in einem zeitgenössischen und erweiterten Sinne, sind sie hinsichtlich ihrer Infragestellung traditioneller ästhetischer und mit der künstlerischen Produktion verbundener juristischer Begriffe wie Original, Kopie, Fälschung, Autor oder Urheberschaft. Im künstlerischen Kontext stellen die übermalten Bücher eine ganz eigene Kategorie dar, die mit Begriffen wie Plagiat, Kopie, Wiederholung oder Zitat genauso wenig befriedigend zu fassen ist wie die Appropriation Art selbst. Weder die Appropriation Art als Ismus der Kunstgeschichte noch der vorgeschlagene Bezug zur politischen Zensur sind dabei die einzig möglichen Referenzen, um über die Übermalungen von Büchern zu sprechen. Man könnte, weniger politisch, von der Übermalung auch als einer Schichtung im Sinne eines Palimpsests sprechen oder als postmoderner Strategie der Autorschaft. Doch scheint mir gerade der Umstand, dass die hier vorzustellenden Bücher in den 1960er und 70er Jahren entstehen, nicht zuletzt ein Indiz dafür zu sein, dass ein impliziter politischer Bezug konstatiert werden kann.

Ü BERMALUNGEN IM K ONTEXT VON K ÜNSTLERBUCH UND D ESTRUCTION A RT Dass es überhaupt legitim ist, von solchen künstlerischen Eingriffen vor dem Hintergrund politischer Zensur zu sprechen, mag der Blick auf zwei kunsthistorische Bezüge zeigen. Gemeint ist zum einen die Etablierung des Buchs als Werkform der bildenden Kunst, zum anderen ein erweitertes Verständnis künstlerischer Autorschaft, wie es in der Destruction Art zum Ausdruck kommt. Einen historischen Vorläufer des überarbeiteten, insbesondere des übermalten Buchs könnte man in den Kollaborationen zwischen Malern und Dichtern sehen,

Ü BERMALTE B ÜCHER

wie man sie unter den Malerbüchern der klassischen Moderne findet. Der Bezug zu diesem spezifischen Typus des Künstlerbuchs ist nicht zuletzt deshalb hilfreich und instruktiv, weil er zwischen Kollaboration und Eingriff sowie zwischen illustrierter Ausgabe und appropriiertem und verfremdetem Buchobjekt zu unterscheiden hilft. Er schärft den Blick für den Bezug zur Zensur und den Eingriff in seiner zensierenden Funktion. Vor diesem Hintergrund plausibilisiert sich letztlich auch die Referenz der hier vorzustellenden Werke zur Zensur als politischer Praxis. Bei illustrierten Ausgaben, basieren diese nun auf einer kollaborativen Zusammenarbeit von Dichter und Maler oder auf im Nachhinein hinzugefügten bildgrafischen Zusätzen, stehen Text und Bild im Buch konventionellerweise räumlich getrennt nebeneinander. Selbst bei avancierteren Versuchen, die Text- und die Bildebene synästhetisch zu verschmelzen und die Grenze zwischen Text- und Bildraum aufzulösen, greifen beide Ebenen zwar ineinander, überlagern sich aber nicht so, dass die Bildebene die Textebene verdecken und unkenntlich machen würde. Zu den bekanntesten Beispielen dieses Typs gehören Pierre Bonnards Buch Parallèlement mit einem Text von Paul Verlaine (Paris 1900) und Sonia Delaunay-Terks La Prose du Transsibérien et de la petite Jehanne de France mit einem Text von Blaise Cendrars (Paris 1913). Und sogar wenn sich Text- und Bildebene tatsächlich partiell überlagern – hier ist an Fernand Légers La fin du Monde, filmée par l’ange N.-D. (Paris 1919) zu denken, ebenfalls mit einem Text von Blaise Cendrars, aber auch an Pablo Picassos Le Chant des Morts mit einem Text von Pierre Reverdy (Paris 1948) – scheint der Text durch die Bildebene hindurch und bleibt lesbar. Der respektvolle Umgang der beiden Ebenen miteinander, ihre gleichberechtige Koexistenz ist durch die Transparenz der Bildebene gewährleistet. Von solchen kollaborativen Gemeinschaftsproduktionen, illustrierten Ausgaben und synästhetischen Text-Bild-Kombinationen unterscheiden sich die vorzustellenden Beispiele zensierender, d.h. nicht durch gegenseitiges Einvernehmen legitimierter Eingriffe signifikant. Denn hier greift die Bildebene tatsächlich in das appropriierte Buch ein, überlagert und verunstaltet den Inhalt und macht ihn so, zumindest partiell, unkenntlich.6 Übermalte und anderweitig zensierend überarbeitete Bücher sind ein relativ junges Phänomen der Kunst- und Literaturgeschichte. Selbst im Kontext des Künstlerbuchs stellen sie einen zwar konturierten, aber bisher kaum beleuchteten Typus dar. Das früheste mir bekannte Beispiel künstlerischer Buchübermalung stammt aus der Zeit der klassischen Moderne von dem Maler Louis Soutter. Insgesamt siebzehn übermalte respektive mit Zeichnungen und Skizzen versehene Bücher von Louis Soutter sind bekannt – unter anderem auch literarische Werke wie Gustave Flauberts Salammbô, François Mauriacs Le baiser au lépreux oder Marcelle Vioux’ Les 6 | Auch wenn diese Eingriffe nicht das Ergebnis einer Zusammenarbeit sind, kann man die Geste des Eingriffs konzeptuell vor dem Hintergrund erweiterter Konzepte von künstlerischer Autorschaft, insbesondere von kollaborativen und multiplen Autorschaften, verstehen.

285

286

C HRISTOPH B ENJAMIN S CHULZ

amants tourmentés.7 Armin Zweite hat zwei übermalte Bücher des Architekten Le Corbusier eingehender untersucht. Zwar sind diese Beispiele im Zusammenhang mit der Zensur im Sinne des Unsichtbarmachens der Vorlage wenig ergiebig, weil die Eingriffe sich im Wesentlichen auf die Marginalien beschränken und eine Kommentarfunktion erfüllen. Doch kann dank Zweites Analyse exemplarisch nachvollzogen werden, dass im Prozess der Überarbeitung eine intensive kritische Auseinandersetzung mit den verwendeten Büchern stattfand. Auch hinsichtlich anderer Beipiele von Buchübermalungen kann davon ausgegangen werden, dass es sich um einen durchaus reflektierten und reflexiven künstlerischen Vorgang handelt.8 Der zweite kunsthistorische Bezug zur Einordnung dieses Phänomens des aggressiven künstlerischen Übergriffs betrifft das erweiterte Verständnis künstlerischer Autorschaft und, damit einhergehend, ein invertiertes Verständnis des künstlerischen Schöpfungsakts, wie er beispielsweise in der so genannten Destruction Art Ausdruck findet. Hierbei ging es um das Explorieren des Potentials einer insofern negativen Schöpfungsidee, als Prozesse der Zerstörung zu künstlerischen Verfahren umfunktioniert und auf ihr ästhetisches und semantisches Potential hin untersucht wurden. Als beispielhaft für diese Tendenz kann das »Destruction in Art Symposium« gelten, kurz: DIAS, das vom 9.-11. September 1966 in London stattfand und in dessen Rahmenprogramm auch Bücher Gegenstand künstlerisch motivierter Zerstörungsakte wie des »Sprengen[s], Verbrennen[s], Zerreißen[s], Zertrümmern[s], Zerschneiden[s]« waren.9 Doch war es gerade im Kontext der neueren Buchkunst 7 | Vgl. Zweite, Armin: »Keine Fenster mehr, diese unnützen Augen – Louis Soutter und Le Corbusier oder Geflecht und Geometrie«, in: Ders. (Hg.): Louis Soutter, Zeichnungen, Bücher, Fingermalereien, München: Publica 1985, 47-72. 8 | Hinsichtlich der Übermalung von Une maison – un palais schreibt Zweite: »Betrachtet man alle Illustrationen im Zusammenhang, dann wird evident, wie Soutter die zentralen Thesen von Une maison – un palais konterkariert, den Optimismus der Schrift unterhöhlt und immer wieder zeichnet, wogegen Le Corbusier sein Leben lang kämpfte. Soutter zeigt Vergangenes, wo jener schwärmerisch in die Zukunft blickt, lässt groteske Wesen erscheinen, wo Le Corbusier für Klarheit und Rationalität plädiert, beschwört die Kraft des Dunkels, wo der Architekt von lichtdurchströmter Weite spricht.« (Ebd., 62) An anderer Stelle heißt es: »Dem Essay mit seinen suggestiven Bildbeispielen, die immer wieder auf strukturelle Ähnlichkeiten abheben, steht ein zäher Bewusstseinsstrom gegenüber, der angesichts der Offenheit der Gedanken Le Corbusiers selbstreflexiv und in die eigenen, meist traumatischen Erinnerungen verstrickt ist.« Ebd., 64. 9 | Stiles, Kristine: »Die Geschichte des Destruction in Art Symposiums und der ›Dias-Affekt‹«, in: Breitwieser, Sabine (Hg.): Gustav Metzger – Geschichte Geschichte, Ostfildern: Hatje Cantz 2005, 41-68, 42. Dabei ist konzeptuell zu unterscheiden zwischen der künstlerisch motivierten Zerstörung von Gegenständen oder Kunstwerken und der Vernichtung von Werken, die erst für die Zerstörung geschaffen wurden respektive dem Verfall preisgegeben werden. Natürlich hat das DIAS die künstlerische Zerstörung nicht erfunden; und natürlich war das Thema nicht genuin neu – interessant ist daher vor allen Dingen die konzeptuelle Zusammenführung von Aspekten künstlerischer Zerstörung im histo-

Ü BERMALTE B ÜCHER

und des Künstlerbuchs bereits weitgehend etabliert, mit Hilfe von die Materialität des Buchs angreifenden Verfremdungen über den gesellschaftlichen Status des Buchs oder den Wert bestimmter Texte nachzudenken.10 Die künstlerische ›Zerstörungswut‹ entfaltet also nicht nur ein breites Spektrum unterschiedlicher Motivationen, Intentionen und Realisationen, sie zeigt sich vor allem als ein gradueller Prozess verschiedener Stadien des Zerstörens und der Zerstörung. In diesem Sinne verdeutlichen diese Arbeiten, dass die Zerstörung, ästhetisch betrachtet, auch als eine Verwandlung verstanden werden kann, als ein Prozess, der positiv konnotiert ist. Entsprechend reicht das Spektrum der künstlerischen Zensur vom bloßen Unzugänglichmachen, beispielsweise dem symbolischen Verschließen oder Verstecken bestimmter Bücher bei Hubertus Gojowczyk, Klaus Staeck oder Konrad Balder Schäuffelen, bis hin zu ihrer totalen Vernichtung, so dass nur noch die Dokumentation des Prozesses Zeugnis von der Tat und vom einstigen Buch ablegt. Übermalte oder überarbeitete Bücher stellen demnach eine spezifische Facette der Buchzerstörung und graduellen Verfremdung appropriierter Bücher dar.

Ü BERMALTE B ÜCHER IN DER E XPERIMENTELLEN P OESIE Im literarischen Kontext entstehen die ersten künstlerisch überarbeiteten Bücher in der Visuellen und Konkreten Poesie der 1960er Jahre. Sie verweisen auf unterschiedliche Art und Weise auf die Ästhetik und Funktion politischer Zensur, indem sie diese zitieren respektive persiflieren. Vor allem Gerhard Rühm beschäftigt sich seit 1962 in verschiedenen Arbeiten intensiv mit solchen zensierenden Eingriffen und Verfremdungen appropriierten Materials. Hierzu gehört ein Buchobjekt mit dem Titel Übermaltes Buch aus dem Jahr 1962, das 1977 in der dem Künstlerbuch gewidmeten Sektion auf der Documenta 6 ausgestellt war – der ersten Documenta, die eine Sektion mit Künstlerbüchern zeigte.11 Es handelt sich um eine übermalte Ausgabe der von Hans Reich herausgegebenen Anthologie Lyrik aus Ungarn. Die Zensur, im Sinne des zerstörerischen Eingriffs, ist hier in der Übermalung des Buches mit schwarzer Tusche zu sehen, die nicht nur einzelne Textzeilen respektive den Satzspiegel, sondern die gesamte Seite mit einer schwarzen Farbschicht überzieht und nur punktuell einzelne Wörter ausspart. Die Übermalung bildet demnach aus rischen und politischen Kontext der Kunst der 1960er Jahre. Wie in Douglas Crimps Ausstellung zur Appropriation Art wurden auch hier rezente Tendenzen gebündelt und vorgestellt. 10 | Für einen Überblick über künstlerische Buchzerstörungen vgl. Endlich, Stefanie: »Übermalung, Verschnürung, Schwärzung. Buchverwandlungen in der Gegenwartskunst«, in: Körte, Mona/Ortlieb, Cornelia (Hgg.): Verbergen – Überschreiben – Zerreißen, Berlin: Erich Schmidt 2007, 293-311. 11 | Abgebildet in: documenta 6. handzeichnungen, utopisches design, bücher, Bd. 3, Kassel: Paul Dierichs KG & Co 1977, 340. Zu Rühm vgl. auch Moldehn, Dominique: Buchwerke. Künstlerbücher und Buchobjekte 1960-1994, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 1996, 98.

287

288

C HRISTOPH B ENJAMIN S CHULZ

dem Textmaterial des Buches einen neuen Text aus sporadisch auf den Seiten verstreuten ›harmlosen‹ Worten, der erst als Konsequenz der massiven Überarbeitung erscheint. Dabei ist die schwarze Farbe so lasierend aufgetragen, dass die darunterliegenden Texte, wenn auch nur mit einiger Anstrengung, zumindest partiell lesbar bleiben und die ausgesparten Wörter sowohl als Folge extrahierter Wörter wie auch in ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelesen werden können. In diesem Sinne produziert der Eingriff eine Art schwebender Lesbarkeit, indem er vorführt, wie er die Lesbarkeit einschränkt und verändert. Rühm radikalisiert und ironisiert hier das Verfahren politischer Zensur, indem er das übliche Verhältnis von Gestrichenem und im Text Belassenem umkehrt und lediglich einzelne Wörter ausspart. Diese Umkehrung spiegelt sich in der Bezeichnung des angewandten Verfahrens wider. Mit Blick auf eine Serie von zensierten Titelblättern der Österreichischen Neuen Tageszeitung, die Rühm bis auf die Kopfzeile und die Vorkommnisse des Worts »und« geschwärzt hat, ist von »Selektionen«12 die Rede. Als poetisches Verfahren steht die Selektion in einer Reihe mit anderen Textgattungen der Konkreten und Visuellen Poesie wie der Konstellation oder dem Ideogramm und in einer Traditionslinie künstlerischer Reduktion, die durch die Fokussierung eine Zuspitzung und Steigerung der künstlerischen Aussage erreichen will. Rühm ging es bei der Übermalung der Tageszeitung wohl weniger um eine Zensur öffentlicher Berichterstattung als vielmehr um einen kritischen Blick auf die Auswahl der Ereignisse, von denen die Redaktion des Blatts auf der Titelseite berichtet. In der Reduktion auf die Konjunktion »und« spiegelt sich eine kritische Reflexion der Überbietung von Sensationsmeldungen und Aufmachern wider, die eher die Attraktivität der Zeitschrift und die Verkaufszahlen fördern, als dass sie das tagtägliche politische und gesellschaftliche Leben dokumentieren und reflektieren. Hinsichtlich der Appropriation und Verfremdung von Büchern ist ein weiteres, 1968 im Rainer Verlag erschienes Werk Rühms mit dem Titel Kleine Billardschule von Interesse. Es ist dem übermalten Buch von 1962 insofern ähnlich, als dass es ebenfalls ein geschwärztes Buch ist, bei dem lediglich einzelne Worte ausgespart sind. Der Titel der Arbeit ist dabei auch der Titel der appropriierten Vorlage. Es handelt sich somit nicht um eine literarische Quelle, sondern um eine Anleitung zum Billardspielen. Bei der Schwärzung der Seiten spart Rühm gezielt solche Worte und Begriffe aus, die aus dem Zusammenhang gerissen und isoliert eine erotische Konnotation gewinnen können, und suggeriert so einen impliziten sexuellen Subtext, der aber natürlich erst das Resultat von Rühms Zensur ist. Sogar die in dem Buch enthaltenen grafischen Darstellungen von Spielzügen und Stellungen sind in das Spiel mit erotischen Anspielungen eingebunden. Der aus der Spielanleitung extrahierte neue fragmentarische Text lautet:

12 | So der Oberbegriff der Werkgruppe in Weibel, Peter (Hg.): Die Wiener Gruppe – Ein Moment der Moderne 1954-60, Wien/New York: Springer Verlag 1997, 453.

Ü BERMALTE B ÜCHER »Vorwort / musterhaft / ergriffen / den ersten Stoß / straff gespannt / und doch elastisch / Durchstoß / Zurückgleiten / die neue Stellung, / seitlich gestoßen / in wechselnder Stärke / die vorwärtstreibende Kraft, / beschleunigend, / ja / trifft. / wie sie Fig. 6 zeigt / leicht berühren / die Wirkung / hören kann? / Plätze tauschen / in beiden Fällen / zeigt / Umwege / haarscharf / unbeengt / nicht gleich aufschlitzen, / Tiefstoß / nun / nur leichte Stöße, / als Sieger«

Während in der Übermalung von Reichs Anthologie ungarischer Lyrik eine Kritik an der Zensur politisch unliebsamer Autoren und ihrer Werke auszumachen war, besteht die Intention hier wohl vor allem in der Kritik an der Zensur von als sexuell anstößig empfundenen Inhalten. Dass gerade eine augenscheinlich so unverfängliche Vorlage wie eine Spielanleitung zum Billard als Vorlage diente, mag zwar davon inspiriert sein, dass in der Rhetorik dieses Sports Begriffe wie ›Stoßen‹ oder ›Einlochen‹ tatsächlich eine Rolle spielen. Es ist vor allem aber wohl als eine ironische Geste zu verstehen, die in der Wahl der Vorlage kritisch reflektiert, dass man selbst in dem vermeintlich harmlosesten Text noch eine die öffentliche Moral zersetzende Ebene ausmachen kann, wenn man nur genug Text streicht. Anders als in der institutionalisierten politischen Zensur, die die erotischen Passagen unkenntlich machen würde, hat Rühm alles um die erotisch konnotierbaren Worte herum weggestrichen, diese somit erst hervorgehoben und eine Textaussage entstehen lassen, die eher auf einer Projektion als auf einer Interpretation der Vorlage beruht. Gerade vor dem Hintergrund der Zensur von als obszön empfundenem Material ist ein weiteres Rühm’sches Buchobjekt mit dem Titel Lust und Schmerz zu sehen, das ebenfalls aus dem Jahr 1962 datiert. Rühm griff hierbei auf eine kuriose Schrift mit dem Titel Vorträge über Praktischen Okkultismus aus der Reihe der PranaBibliothek aus dem Theosophischen Verlagshaus Leipzig zurück. Anders als bei den bisher vorgestellten Beispielen ist die Übermalung hier allerdings formal-grafisch und konzeptueller angelegt. Sie läßt nicht einzelne Wörter frei und schafft mit diesen einen zweiten Text aus dem Vorhandenen, sondern gestattet nur durch einen Spalt einen Blick auf den darunterliegenden Text. Der Satzspiegel ist mit schwarzer Farbe so übermalt, als läge darunter ein zweispaltig gesetzer Text, so dass mittig eine schmale vertikale Öffnung von der Breite eines Buchstabens entsteht. Das zugrundeliegende Werk ist somit vollkommen unlesbar geworden. Die Verweigerung des Blicks auf den Text forciert die Perspektive des Voyeurs, der durch einen Türspalt oder ein Peephole auf eine versteckte erotische Szenerie schaut. Insofern mag die visuell-grafische Umsetzung dieses Blicks auch an eine Schlüssellochszene erinnern, wie sie häufig einleitend als Frontispiz in Büchern mit erotischer Literatur vorangestellt wurde.

289

290

C HRISTOPH B ENJAMIN S CHULZ

Ü BERMALTE B ÜCHER IN DER BILDENDEN K UNST Konnten die bisher vorgestellten Beispiele von Gerhard Rühm durch den schmucklosen und spröden Einsatz von Schwärzungen gut auf die pragmatische Ästhetik politischer Zensur bezogen werden, seien abschließend drei Beispiele vergleichsweise kunstvoll übermalter Bücher vorgestellt, die den Begriff der Zensur – und den Bezug zur Geschichte politisch motivierter Eingriffe in Bücher – zumindest auf den ersten Blick arg zu strapazieren scheinen. Es handelt sich um Buchobjekte von Arnulf Rainer, Tom Phillips und Anselm Kiefer – von bildenden Künstlern also, die vor allem als Maler in Erscheinung getreten sind. In allen drei Fällen spielt die Ikonografie politischer Zensur, wie wir sie bisher reflektiert gefunden haben, kaum mehr eine Rolle. Doch auch wenn sich die Übergriffe hier besonders offensichtlich als künstlerische und somit nicht politisch motivierte Eingriffe zu erkennen geben, zerstören sie gleichzeitig die verwendeten Vorlagen, insofern als sie diese unter sich begraben und unlesbar machen. Auch diese Beispiele stammen aus den 1960er und 70er Jahren. Sie lassen sich in ein Spektrum künstlerischer Strategien von Zensur integrieren und als eine Facette ihrer künstlerischen Thematisierung verstehen, wie sie offensichtlich gerade zu dieser Zeit für viele Künstler literarischer und künstlerischer Provenienz in ästhetischer, formaler und poetologischer Hinsicht eine Herausforderung darstellte.

Arnulf Rainer Kenner des Werks von Arnulf Rainer wissen, dass er ein manischer Übermaler vorgefundenen Bildmaterials ist. Was zunächst als Aneignung und Übermalung eigener Arbeiten begann, weitete sich nach 1960 auf Grafiken anderer Künstler aus, beispielsweise von Piero Manzoni, Georges Mathieu, Emilio Vedova, Sam Francis, Friedensreich Hundertwasser, Victor Vasarely, Marcel Gromaire, Jean Miró und Alberto Giacometti, von denen ihm manche ihre Arbeiten zu diesem Zweck zur Verfügung stellten. Weniger bekannt ist, dass Rainer zwischen 1964 und 1989 auch weit über einhundert Bücher übermalt hat. Wie Barbara Catoir herausgearbeitet hat, haben die übermalten Bücher für Rainer den Charakter von Studien- oder Skizzenbüchern und sind somit sehr nahe am Prozess des künstlerischen Schaffens zu verorten. Das zeigt sich unter anderem darin, dass selten das ganze Buch konsequent übermalt wird, sondern meist nur sporadisch einzelne Passagen. Meist sind es die Illustrationen, die Rainer zur Übermalung anregen, seltener auch der Text. Manche Bücher hat Rainer im Prozess der Aneignung auseinandergenommen und sie dann wieder binden lassen oder die übermalten Teile als Ausgangspunkt für grafische Zyklen genommen. Die Bandbreite der verwendeten Bücher – meist handelt es sich dabei um aufwendig gestaltete Ausgaben – reicht von naturwissenschaftlichen Werken zu Zoologie und Botanik bis hin zu Werken zur Anatomie und Physiognomik,

Ü BERMALTE B ÜCHER

von Büchern mit Portraits bis hin zu Büchern über Totenmasken berühmter Persönlichkeiten. In unserem Zusammenhang ist die erste der Rainer’schen Buchübermalungen von besonderem Interesse, die zudem eine der wenigen ist, die einen literarischen Bezug aufweist: eine Ausgabe des Gilgamesch-Epos. Mit dem Gilgamesch-Epos wählte Rainer für seinen ersten Versuch einer Buchübermalung bezeichnenderweise ein kanonisches Großepos der Weltliteratur in einer aufwendig gestalteten und limitierten Ausgabe mit elf expressionistischen Originalradierungen von Robert Janthur, die der Berliner Gurlitt Verlag 1919 herausgebracht hatte. Die Gestaltung des Textes folgt den zwölf Tafeln des Epos, die Initialen sind illuminiert, Vignetten zeigen Beginn und Ende der ursprünglichen Tafeln an. Von den meisten anderen der von Rainer übermalten Bücher unterscheidet sich dieses darin, dass es einer vollständigen Überarbeitung unterzogen wurde, die sich sowohl über die Illustrationen als auch über den Text und die Vorder- und Rückseite des Buchs erstreckt. Wie Catoir berichtet, hat Rainer zunächst die Illustrationen übermalt, dann, allerdings erst drei Jahre später, nahm er sich die Vignetten und Initialen vor und griff punktuell in den Text ein.13 Dass dieses bearbeitete Buch schließlich den Status eines eigenständigen und vollwertigen Kunstwerks erhält, wird dadurch belegt, dass der Prozess der Aneignung auf dem Titelblatt vermerkt und signiert wurde: »Übermalt oder umgezeichnet und verschmutzt von A. Rainer«. Als solches erschien es 1979 faksimiliert in einer limitierten Ausgabe von eintausend nummerierten und signierten Exemplaren im Verlag Ceresit Werke. Auch wenn Rainer hier keine politische Ambition unterstellt werden soll, ist es mit Blick auf die Funktion politischer Zensur, die Ausbreitung bestimmter Werke zu behindern, durchaus kurios, dass mehr Exemplare der zensierten Rainer’schen Ausgabe kursieren als von der eigentlichen Originalausgabe mit den Janthur’schen Illustrationen. Deren Übermalungen sind für das Auge undurchdringliche schwarze Schichten impulsiv gestischer Striche, die formal wenig sensibel oder gezielt auf die jeweilige Radierung einzugehen scheinen. Den Nachvollzug der Bezugnahme verhindert Rainer dabei konsequent, indem er die ursprünglichen Radierungen fast gänzlich zum Verschwinden bringt. Es haftet diesen hektischen Überkritzelungen etwas Angstvolles und Nervöses an, etwas Unheimliches und Verstörendes.14 Die Aggressivität der Aneignung des Epos durch Rainer spiegelt sich in Catoirs Beschreibungen auf der Ebene der sprachlichen Formulierung wider. Die Rede ist dort von Deformation und Demontage, Maskierung, Sabotage und Auslöschung, sogar von einem »Akt der geistigen Vergewaltigung«15. »Was Rainer Dialog nennt«, so Catoir, »ist letztlich ein parasitärer Überwucherungsprozeß, mit dem er die Pflanze, an der 13 | Vgl. Catoir, Barbara: Arnulf Rainer – übermalte Bücher, München: Prestel 1989, 29. 14 | Andere Übermalungen Rainers, auch Buchübermalungen, sind deutlich feiner und subtiler angelegt, so dass das Dialogische im Prozess der Überarbeitung besser nachzuvollziehen ist. 15 | Ebd., 21.

291

292

C HRISTOPH B ENJAMIN S CHULZ

er sich rankt, erstickt.«16 Er übermale aus einer Lust am künstlerischen Verbrechen, führe an den Tatort des Geschehens und ließe den Betrachter an diesem teilhaben.17 Im Falle des Gilgamesch-Epos scheint es sich bei dem angedeuteten Verbrechen um das des Bildersturms respektive des Büchersturms zu handeln, also um einen Biblioklasmus verbunden mit einem Ikonoklasmus. Anders als die etablierte Ästhetik der politischen Zensur erwecken die Rainer’schen Eingriffe eher einen spontanen als einen strategischen Eindruck. Gerade diese private und persönliche Natur des Eingriffs scheint mir bemerkenswert. Das Auslöschen der Bilder ist kein sachlich-kühler, kein rein funktionaler Akt, sondern das Ergebnis eines leidenschaftlichen und energiegeladenen Prozesses, dessen Spuren den Eingriff umso eindringlicher und drastischer wirken lassen. Es scheint somit mindestens ebenso sehr um das ostentativ Prozessuale des Eingriffs selbst zu gehen wie um die eigentliche Sache – ist der Gilgamesch-Epos doch kein Buch, das die politische Zensur auf den Plan rufen würde. Als künstlerischer Eingriff ist Rainers Zensur eben nicht pragmatischer Natur, sondern Ergebnis eines schöpferischen Ausbruchs, der sich vor allem an den Bildern des Buchs entzündet und deren Funktion als Illustrationen grundsätzlich in Frage zu stellen scheint. Rainers Überarbeitung in diesem Sinne als Kommentar zum Text-Bild-Verhältnis verstehend folgert Catoir: »Indem der epische Ereignischarakter der Illustrationen Janthurs in unzähligen Strichlagen wie hinter einer dunklen Wolke verschwindet, offenbart sich der Text in seiner Dunkelheit.«18 Demnach wird die angenommene intendierte Wirkung der Janthur’schen Illustrationen durch die Rainer’sche Übermalung noch intensiviert, erfahren sie eine Steigerung ihres Ausdrucks. »Das Bild«, so Catoir, »illustriert nicht mehr den Text, sondern der Text kommentiert das Bild in seinem Charakter der Auslöschung.«19

Tom Phillips Während den »aktionalen Übermalungen«20 Rainers etwas Eruptives zu eigen ist und ihnen semantisch etwas Hermetisches und Dunkles anhaftet, bezieht sich Tom Phillips in A Humument, einer Übermalung von W. H. Mallocks viktorianischem Roman A Human Document (1892), nicht nur viel intensiver auf den Text, er geht auch deutlich planerischer vor, indem er die partielle Überarbeitung des Textes vor allem zur Generiererung eines neuen Textes einsetzt. Die Idee zu der Übermalung eines Buches bestand dabei schon vor der Entscheidung für ein bestimmtes Werk. In den Notes on A Humument zeigt sich Phillips inspiriert von William Burroughs’ 16 | Ebd. 17 | Vgl. ebd., 23. 18 | Ebd., 27. 19 | Ebd., 28. 20 | Ebd., 29.

Ü BERMALTE B ÜCHER

Technik des Cut up wie von der Literatur der französischen Tel Quel-Gruppe und der strukturalistischen Literaturkritik. Die Wahl, so wollte es die selbstauferlegte Spielregel, sollte auf das erste Buch fallen, das Phillips zum Preis von Threepence erstehen konnte. »The initial attack on the book«21, so Phillips, fand 1966 statt, wobei das Buch nicht linear, also Seite für Seite bearbeitet wurde, sondern punktuell. Insgesamt sieben Ausgaben des Romans hat Phillips für A Humument auseinandergenommen, die einzelnen Seiten bearbeitet und dann wieder zusammengesetzt. Erstmalig publiziert wurde das auf diesem Weg vollständig übermalte Buch 1973. Eine der Motivationen Phillips bestand darin, sich in der Übermalung kritisch mit Mallocks Roman auseinanderzusetzen, dessen Misogynismus und Antisemitismus er sich keineswegs undistanziert anschließen wollte. In diesem Sinne ging es ihm – und das ist hinsichtlich der Zensur als verfälschendem Eingriff relevant – auch darum zu demonstrieren, »[h]ow Mallock can be made ironically to speak for causes against his grain.«22 Es nimmt nicht Wunder, dass sich das Interesse Phillips’ an der Übermalung als kreativem und schöpferischem Prozess zwischen literarischer Produktion und künstlerischer Appropriation einer literarischen Vorlage im Laufe der Zeit verändert. Phillips äußert sich zu dieser Entwicklung wie folgt: »I scored out unwanted words with pen and ink. It was not long though before the possibility became apparent of making a better unity of word and image, intertwined as in a medieval miniature. This more comprehensive approach called for a widening of the techniques to be used and of the range of visual imagery.« 23

Da die Überarbeitung der Seiten nicht linear erfolgte, ist der Nachvollzug einer solchen Entwicklung jedoch nicht zu rekonstruieren. Gerade dieses Beispiel zeichnet sich durch seinen Reichtum an Referenzen zur Ästhetik politischer Zensur aus, wie es gleichzeitig durch die künstlerische Abstraktion und Weiterentwicklung eines im doppelten Wortsinn hässlichen Verfahrens etwas ganz Neues entstehen läßt. So reichen die Verfahren der Unsichtbarmachung des Textes von transparenten grafischen Überarbeitungen der Seiten über Schraffuren, bei denen der Subtext gut lesbar ist und die zensierten Worte noch gelesen werden können, bis hin zu einem malerischen, pastosen Farbauftrag, der sich flächig über die Seite ausbreitet und einzelne Textfragmente wie in einer biomorphen Sprechblase hervortreten lässt (vgl. z.B. S. 352 und 190). Immer wieder zeigt sich dabei eine Nähe zur Ästhetik politischer Zensur, beispielsweise wenn Zeilen mithilfe der Schreibmaschine mit ›X‹ überschrieben werden (vgl. S. 92, 109, 348) oder jedes Wort einzeln unkenntlich gemacht 21 | Phillips, Tom: »Notes on A Humument«, in: Ders.: A Humument – A Treated Victorian Novel, London: Thames & Hudson 1982. Die Paginierung der übermalten Seiten des Romans folgt der der verwendeten Ausgabe. Das Nachwort ist unpaginiert. Vgl. zu den Regeln auch Bernhard Metz in diesem Band. 22 | Ebd. 23 | Ebd.

293

294

C HRISTOPH B ENJAMIN S CHULZ

wird (vgl. S. 99). Und manchmal ergibt sich aus dem Spiel mit der Streichung von Zeilen durch Verschiebung oder durch den Einsatz verschiedener Farben ein virtuoses optisches Muster (vgl. S. 364). Auf manchen Seiten sind Spuren von Schnitten erhalten geblieben, scheinen Textfragmente eingefügt (vgl. S. 105, 174, 328). Die zensierenden Eingriffe stehen demnach eindeutig in einem ästhetischen und nicht in einem pragmatisch-funktionalen Verhältnis zu dem Text, auf den sie sich beziehen. Explizite Anleihen an die Ästhetik und Ikonografie politischer Zensur finden sich eingebettet in eine Bandbreite sehr unterschiedlicher Stile, Techniken und Verfahren der visuellen Verfremdung. Auch hier ist die Zensur kein pragmatisch-sachlicher Eingriff, sondern entwickelt formal und inhaltlich ein komplexes ästhetisches und semantisches Spiel mit zahlreichen kunsthistorischen Querverweisen.24 »Much of the pictorial matter in the book follows the text in mood and reference«, schreibt Phillips, »much of it also is entirely non-referential, merely providing a framework for the verbal statement and responding to the disposition of the text on the page.«25 Der Eingriff erschöpft sich nicht in der Zerstörung, er begnügt sich nicht mit der Tilgung des Textes, sondern wertet das Buch auf, indem er es virtuos ausschmückt. Insofern scheint sich die künstlerische Zensur hier im Sinne einer Inversion zu ihrem politischen Counterpart zu verhalten. Die destruktive Verfremdung ist als künstlerische Weiterentwicklung zu verstehen, die die geistesgeschichtliche Vorstellung von künstlerischer Kreativität als genialischer Schöpfung aus den Tiefen des Künstlerindividuums in Frage stellt. Das Zensieren ist hier demnach als eine Funktion des Filterns, Selektierens, Unterdrückens und Akzentuierens zu verstehen, mit dessen Hilfe sich Neues aus Altem generieren lässt. In diesem Sinne ist gerade dieses das beste Beispiel dafür, wie aus der Geste der Übermalung und der Überarbeitung eine neue Autorschaft entsteht.

Anselm Kiefer Das letzte Beispiel in dieser Reihe von Buchübermalungen durch bildende Künstler ist ein von Anselm Kiefer übermaltes Exemplar einer 1963 erschienenen geopolitischen Studie mit dem Titel Über Räume und Völker in unserer Zeit – ein geographisch-politisches Handbuch, die als Künstlerbuch nun den verkürzten Titel Über Räume und Völker trägt.26 Kiefer hatte das Buch in einem Antiquariat entdeckt und 1976 zu überarbeiten begonnen, als die historische politische Situation des Kalten 24 | Es gibt zahlreiche stilistische Verweise auf Pointillismus und Impressionismus (S. 298, 299), auf einzelne Künstler wie Cézanne (S. 271) sowie nicht zuletzt auf verschiedene Genres der Malerei wie insbesondere die Landschaftsmalerei (S. 151, 264), Seestücke (S.265), Interieurs (S. 70, 71) oder Portraits (S. 27, 68). 25 | Phillips: »Notes on A Humument«, o. S. 26 | Kiefer, Anselm: Über Räume und Völker, hg. v. Klaus Gallwitz, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990. Zu Kiefers Bucharbeiten vgl. insbesondere Schütz, Sabine: Geschichte als Material. Arbeiten 1969–1983,

Ü BERMALTE B ÜCHER

Krieges, wie sie sich beim Erscheinen des Buches noch darstellte – respektive wie sie in dem Buch dargestellt wurde – schon nicht mehr aktuell war. Gerade die Wandelbarkeit historischer Realitäten und Ideologien ist dabei das Thema von Kiefers Übermalung. Wie die Eingriffe Arnulf Rainers und Tom Phillips’ hat auch dieser auf den ersten Blick kaum etwas mit politischer Zensur zu tun. Am ehesten erinnert noch der extensive Einsatz dunkelgrauen Graphits an die flächigen Schwärzungen oder die zeilenweisen Ausstreichungen politischer Zensur. Darüber hinaus kommen aber auch Tinte, Wasserfarbe und Filzstift zum Einsatz. Mit der Übermalung zieht Kiefer eine zweite Ebene in das Buch, die die Vorlage mit einer in sich geschlossenen bildnerischen Narration überlagert – wobei diese das Buch streckenweise unter sich begräbt, aber auch immer wieder nachvollziehbar auf die Vorlage reagiert, sich von ihr inspiriert zeigt oder sich in diese einklinkt. Formal-stilistisch besteht sie passagenweise aus klar erkennbar gegenständlich-referentiellen Darstellungen, fast wie in einem Bilderbuch, teils aber auch aus abstrakt anmutenden und sich dem GestischUngegenständlichen annähernden Passagen. »Die […] Überzeichnungen Kiefers beginnen mit einer Sequenz von Weltbildern, die einer Schöpfungsgeschichte entsprechen«, beginnt Klaus Gallwitz die Zusammenfassung der narrativen Ebene der Kiefer’schen Übermalung: »Aus den Fluten zeichnen sich Horizonte ab, Vegetation entsteht, und allmählich formieren sich die Kontinente. Am Schluß des Buches überwächst ein tropischer Wald, von Sauriern bewohnt, mehr und mehr die Seiten. Es ist das bildhafte Ende eines Erdzeitalters, das lange vor dem Erscheinen der Menschen vergeht. Die ›Geschichte‹ spielt sich dazwischen ab. Weltverkehr und Weltwirtschaft treten mit den Erdteilen auf, immer wieder durchwachsen von urzeitlichen Farnen, durchströmt von Wasserläufen, unterbrochen von Weltbränden und radarbestückten Nachtlandschaften. […] Von fossilen Formationen eingeholt sind Begriffe der Gegenwart: Entwicklungshilfe, Atlantikpakt, Eiserner Vorhang. Radarschirme und Helme, Schornsteine und Organisationszahlen gehören zur Ausstattung eines organisierten Universums, das Kiefer immer wieder mit erdgeschichtlichen Metaphern versetzt.« 27

Auch wenn weder Kiefer in dem das Faksimile begleitenden Interview noch dessen Herausgeber Klaus Gallwitz einen Bezug zur Praxis und Ästhetik politischer Zensur herstellen, sei das Buch in unserem Zusammenhang vor diesem Hintergrund betrachtet. Auch hier gilt, dass die Überarbeitung ganz offensichtlich eine ästhetische ist, die sich als eigenständiges künstlerisches Werk behauptet. Und doch macht sie sich, um in der geografischen Terminologie des Titels zu bleiben, in fremdem Terrain breit, das sie sich gleichsam unterwirft. Dabei macht sie nicht nur den Inhalt Köln: Rowohlt 1999, sowie Adriani, Götz et al. (Hgg.): Anselm Kiefer. Bücher 1969-1990, Ostfildern: Hatje Cantz 1990, und Endlich: »Übermalung, Verschnürung, Schwärzung«, insb. 300-303. 27 | Gallwitz, Klaus: »Nachwort zu Anselm Kiefers ›Über Räume und Völker‹«, in: Kiefer: Über Räume und Völker, 169-175, 170f.

295

296

C HRISTOPH B ENJAMIN S CHULZ

des Buches unlesbar, sondern auch die Urheberschaft des zu Grunde liegenden Werks fast vollständig unkenntlich. Sowohl die Angabe des Autors als auch jegliche das Buch identifizierende bibliografische Information fallen der Übermalung zum Opfer. Wäre in den erwähnten Paratexten des publizierten Faksimiles nicht explizit auf die Vorlage hingewiesen worden, wäre die Referenz kaum mehr zu rekapitulieren, würde die Übermalung das verwendete Buch vollkommen anonymisieren. Die gewählte Vorlage ist eine historiografische Bestandsaufnahme der geopolitischen Situation zu Zeiten des Kalten Krieges und somit ein politisches Dokument seiner Zeit.28 Als eine solche Bestandsaufnahme impliziert das von Kiefer bearbeitete Buch eine politische Positionsbestimmung, es vollzieht eine Setzung von vermeintlich objektiven Tatsachen, die unvermeidlich ideologische Grundannahmen kolportiert, ohne diese explizit zu machen oder kritisch zu reflektieren. Die Darstellung politischer, territorialer und nationaler Bezüge, oder allgemeiner: die Geschichtsschreibung als Form der Vergewisserung von historischer Entwicklung, kann bekanntlich nicht objektiv verfahren. Genau darauf scheint Kiefer in seiner Übermalung zu reagieren, wenn er die historische Bedingtheit und Relativität des zugrundeliegenden Buches sichtbar macht und dessen ›Zensiertsein‹ im Sinne einer tendenziösen Darstellung durch seine Überarbeitung veranschaulicht. Insofern sind die Überwucherungen von Daten und Fakten, von Statistiken und Diagrammen, von Landkarten und Schemata als eine Kritik an der Geschichtsschreibung zu verstehen, die notwendig selektiert und simplifiziert und somit potentiell beschönigt und verfälscht. Anselm Kiefers Interesse an Prozessen der Geschichtsschreibung in Büchern ist natürlich auch im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit der Tradition der Historienmalerei in der bildenden Kunst zu betrachten, wie sie sich in seinem malerischen Werk niederschlägt. Kiefers Übermalungen, so Gallwitz, »vermeiden eindeutige Aussagen und Stellungnahmen. Sie paraphrasieren und ironisieren die ideologische Doktrin, die der Vorlage zugrundeliegt[,] mit suggestiven bildnerischen Mitteln und Chiffren, die einen völlig neuen Umgang mit gebräuchlichen Begriffen und Anschauungen vorschlagen.«29 Was in der Übermalung unkenntlich gemacht und getilgt wird, erscheint nun als Zensiertes selbst zensiert – und ergänzt um eine Perspektive, die schon das Ansinnen des Versuchs von Geschichtsschreibung fraglich werden lässt.30 Im Gegensatz zu den Beispielen aus dem Bereich der experimentellen Poesie der 1960er und 70er Jahre, die die Ästhetik politischer Zensur vergleichweise offensicht28 | Vgl. ebd., 169-171. 29 | Ebd., 172. 30 | Vgl. noch einmal Klaus Gallwitz: »Kiefers Denkbahnen durchlaufen die jüngste Geschichte ebenso wie die Sagen und Mythen der grauen Vorzeit. Diese ist immer ›in unserer Zeit‹, wie sich umgekehrt die geostrategischen Planspiele des Kalten Krieges auf die Vision einer erdgeschichtlichen Apokalypse projizieren lassen.« Ebd.

Ü BERMALTE B ÜCHER

lich zitieren, diese allerdings meist auf unpolitische Texte anwandten, haben wir es hier mit einem insofern verkehrten Verständnis von Zensur zu tun, als die Vorlage eine explizit politische und die Art der ›Zensur‹ eine ausdrücklich künstlerische und dezidiert malerische ist. Auch wenn die Ikonografie politischer Zensur hier also keine Rolle spielt, ist dieses vielleicht das politischste der hier vorgestellten Beispiele.

297

Erasure Poetry Zwischen Poesie und Kunst, Appropriation und Conceptual Writing Viola Hildebrand-schat

Abb. 1: Jesse Glass: Man’s Wows, Wisconsin: Black Mesa Press 1982, 5 (Ausschnitt).

Dieser auf den ersten Blick wie ein Gedicht anmutende Text (Abb. 1) entstammt einem 1982, in kleiner Auflage von der Black Mesa Press gedruckten Werk mit dem Titel Man’s Wows und stellt den Anfang einer größeren Ansammlung ähnlicher Texte dar. Autor ist der 1954 in Amerika geborene Künstler Jesse Glass. Glass begann unter dem Einfluss von Richard Kostelanetz’ Assembling Magazine mit experimenteller Poesie und hat seither gleichermaßen Anerkennung wie Bekanntheit in der experimentellen Szene erhalten. Sein von vereinzelten Worten, bruchstückhaften Sätzen und fragmentarischen Zusammenhängen bestimmter Text, dessen Erscheinungsbild von Leerstellen, bisweilen sogar Lücken und Löchern im Textblock markiert wird, ist ein Beispiel sog. Erasure Poetry. Die durch Freistellen kenntlichen Auslassungen sind weniger einem Innehalten geschuldet, das Sprachzweifel oder das Wissen um die Unmög-

300

V IOLA H ILDEBRAND -S CHAT

lichkeit angemessener sprachlicher Artikulation signalisiert, als vielmehr den Vorgaben eines bereits vorhandenen Textes, mit dem hier gezielt weitergearbeitet wurde, aus dem heraus ein neuer Text geschöpft wurde und in dem der alte buchstäblich mitwirkt, wenngleich seine eigenen Inhalte nur noch unterschwellig spürbar sind. Jesse Glass hat seinem Buch ein Werk von Johann Georg Hohman zugrunde gelegt und bereits beim Titel Man’s Wows die Methode des Auslöschens angewandt, so dass dieser nur mehr einen vagen Rückschluss auf die Quelle zulässt. Diese besteht in einer 1820 zunächst in deutscher Sprache unter dem Titel Der lange verborgene Freund publizierten Sammlung von Gebeten und volkstümlichen Rezepten, die 1846 vom Autor selbst ins Englische übertragen wurde, allerdings in einer so unbeholfenen Weise, dass der Text massive Einbußen erlitt und kaum noch flüssig zu lesen war. Bis 1856 kursierte er unter dem Titel The Long Secreted Friend or a True Christian Information for Every Body, um dann in einer verbesserten Übersetzung und mit verändertem Titel neu aufgelegt zu werden. Diese neue Fassung Pow Wows, or, Long Lost Friend: a Collection of Mysterious and Invaluable Arts and Remedies for Man as well as Animals, with Many Proofs nimmt Glass zum Ausgangspunkt. Aus ihr erklärt sich auch der Titel seines Werks. Von dem langen Satz sind nicht mehr als zwei Worte übriggeblieben. »Man’s Wows« ist zudem aus einzelnen Buchstaben mehrerer Worte (»man« und »as« bzw. »well«, »with« und »proofs«) neu zusammengefügt und führt zugleich auf den Titelbeginn des Originals zurück, der mit »Pow Wows« wiederum das »Wow« enthält. Überschriften der einzelnen Abschnitte aus Hohmans Traktat liefern auch weiterhin Anhaltspunkte, die Glass als Quelle dienenden Texte mit seiner Überarbeitung in Beziehung zu setzen. Zwar werden sie nur in den seltensten Fällen so vollständig beibehalten wie bei dem mit »Heliotrope (Sun-Flower) A Means to Prevent Calumniation« überschriebenen Abschnitt, der in Glass’ Version mit der von Hohman identisch ist. Meistens unterschlägt Glass den Anfang, der bei Hohman häufig »A good remedy of« oder »A good remedy against« lautet und auf die Funktion des zur Rede stehenden Texts hinweist. Verändert gegenüber der Vorlage ist auch die Reihenfolge der Rezepte und Gebete. Der oben zitierte, bei Glass an den Anfang gestellte Text folgt bei Hohman an deutlich späterer Stelle. Er basiert auf einem Rezept, das Sonnenblumen als Wirkmittel gegen Verleumdung vorschlägt und gleichermaßen Vorgehen wie Erfolg beschreibt: »The virtues of this plant are miraculous. If it be collected in the sign of the lion, in the month of August, and wrapped up in a laurel leaf together with the tooth of a wolf. Whoever carries this about him, will never be addressed harshly by anyone, but all will speak to him kindly and peaceably. And if anything has been stolen from you put this under your head during the night, and you will surely see the whole figure of the thief. This had been found true.« 1 1 | John George Hohman’s Pow-Wows; or, Long Lost Friend: a Collection of Mysterious and Invaluable Arts and Remedies, for Man as well as Animals, with Many Proofs Of their Virtue and Efficacy in Healing

E RASURE P OETRY

Von diesem Text löscht Glass in jeder Zeile so viele Worte, dass die noch stehengebliebenen einen vagen Sinn, wenn auch natürlich einen anderen als den des Ausgangstexts, ergeben. Dennoch ist Glass’ Vorgehen keineswegs als sinndestruierend zu bezeichnen. Immerhin entsteht ein neuer Sinn, der auf seine Weise auf den ursprünglichen zurückführt und nicht zuletzt auch die Verformung durch die erste krude Übersetzung in Erinnerung ruft. Die grammatikalisch unvollständigen Sätze und die gebrochenen Zusammenhänge entfalten einen Duktus des Kryptischen, der an Zaubersprüche denken lässt. Damit stehen sie in unmittelbarem Bezug zum Anliegen des ursprünglichen Textkorpus, der magische Praktiken, von Gebeten und Volksglauben geleitet, als Mittel gegen allerlei Unbill vorschlägt. Ein Beispiel ist Hohmans Rezept gegen Fieberanfälle, das auf einem weißen Stück Papier geschrieben, in Leinen gewickelt und um den Hals des Kranken gehängt, seine Wirkung entfalten soll: »TO BANISH CONVULSIVE FEVERS. Write the following letters on a piece of white paper, sew it on a piece of linen or muslin, and bang it around the neck until the fever leaves you: AbaxaCatabax AbaxaCatabax AbaxaCataba AbaxaCatab AbaxaCata AbaxaCat AbaxaCa AbaxaC Abaxa Abax Aba A b« 2

Schon typografisch ist es so angelegt, dass, losgelöst vom Inhalt, allein dem aus Buchstabenreihen gebildeten Dreieck magische Kraft zugeschrieben werden kann. Dieser Eindruck spitzt sich in Glass’ Adaption zu (Abb. 2): Unterliegt bereits der einleitende Satz Kürzungen, so bleiben von den zum Dreieck angeordneten Buchstaben nur mehr die ersten jeder Zeile erhalten, so dass schließlich nur noch eine Säule aus großen »A« zurückbleibt.

Diseases, etc., the Greatest Part which was never published until they appeared in print for the first time in the U.S. in the year 1820, 21, in: http://www.sacred-texts.com/ame/pow/index.htm vom 9.8.2011. 2 | Ebd., 17.

301

302

V IOLA H ILDEBRAND -S CHAT Abb. 2: Jesse Glass: Man’s Wows, Wisconsin: Black Mesa Press 1982, 23 (Ausschnitt).

Alles in allem entfaltet die Abfolge von Glass’ veränderten Textappropriationen ihre Wirkung vor allem im Erscheinungsbild. Das Wechselspiel aus Verdichtung der Schrift und Freiräumen führt zu zeichenhaften Gebilden, die den einzelnen Textabschnitten eine vom Ausgangstext losgelöste Bedeutung zuweisen. Quadratische Textblöcke werden von stufenartig angeordneten Zeilenfolgen, diese von Wortteppichen oder auch punktuell vereinzelten Wortfolgen abgelöst und dadurch das gesamte Schriftbild regelrecht zum Ideogramm. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass Erasure Poetry in einer Tradition des experimentellen Schreibens steht, wie sie mit Visueller und Konkreter Poesie, aber auch den Romanen Raymond Federmans oder Maurice Roches gegeben ist. Auch an Raymond Roussels vom Gleichklang der Worte ausgehende Methode ist zu denken, wie er sie in Comment j’ai écrit certains de mes livres 1935 offenlegt.

D IE BEGRIFFLICHE D IMENSION VON E RASURE P OETRY Wörtlich übersetzt verbirgt sich hinter der Bezeichnung ›Erasure Poetry‹ zunächst nicht mehr als Auslöschpoesie. In erster Linie ist damit Poesie umschrieben, die aus einem schon bestehenden, häufig poetischen Text hervorgeht, wobei in dem Ausgangstext Worte und Satzteile gelöscht werden und die zurückgelassenen Worte einen neuen Text bilden, der seine poetische Form ursächlich durch das Auslöschen erhält. So können auch banale, aus dem Alltagskontext genommene Texte, wie Zeitungsartikel, Werbung oder politische Slogans und Reden, neue ästhetische Qualitäten erhalten.

E RASURE P OETRY

Die Verfahrensweisen können unterschiedlich sein und sowohl das Gewicht auf die gelöschten Stellen legen als auch durch eine bildkünstlerische Überarbeitung neue Qualitäten erschließen. Zum Einsatz kommen beim Auslöschen Verfahren wie Radieren, Weißen, Schwärzen, Schneiden, Streichen, daneben Übermalungen, die bisweilen der Textfläche eine kartografische Anmutung verleihen, sie zum Irrgarten aus Texturen und Strukturen werden lassen. Die alte Anordnung kann unberührt und mit all den entstehenden Lücken belassen werden. Ebenso können aber auch die verbleibenden Worte in eine neue Ordnung gebracht werden. Da den aus Erasure-Verfahren hervorgehenden Texten immer ein fremder Text, sei es ein bewusst ausgewählter, sei es ein zufällig aufgefundener, in jedem Fall aber ein von einer anderen Person verfasster Text zugrunde liegt, ist die Erasure Poetry als eine Form von Appropriation zu verstehen, auch wenn sie bisher noch kaum in diesem Zusammenhang betrachtet worden ist. Das Auslöschen der Worte kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, mit künstlerischer Gestaltung einhergehen oder neue typografische Setzungen schaffen. Ausradieren, Weglöschen, Schwärzen oder Überschreiben von Zeilen besteht neben zeichnerischen und malerischen Ergänzungen, für die unterschiedliche Techniken wie Wasserfarbe, Tinte, Tusche und Collage zum Einsatz kommen. Die Gestaltung kann referentiellen Bezug zum Text aufnehmen, also eine Visualisierung der Inhalte oder der Vorgehensweise sein, ebenso aber auch nur als dekorativer Rahmen zum Werk dienen, indem die Überarbeitung als Bild den Textinhalt überlagert und das Gesamtergebnis weniger ein zum Lesen gedachter Text ist, als er sich in seiner visuellen Gestalt vordrängt. Zentral aber für all diese Praktiken ist das Vorhandensein eines bereits fertigen Textes, der gewissermaßen als Palimpsest dem neuen zugrundeliegt, diesem jedoch nicht vollständig weicht, vielmehr seine Inhalte, Aussagen oder auch seinen Kontext in der neuen Gestalt geltend macht. Zwangsläufig bleiben so die beiden Texte in einem Bezug, der vom Autor gleichermaßen gewollt ist wie auch für die neue Sinnschöpfung fruchtbar gemacht wird. Der Begriff selbst ist jünger als das Phänomen. Das Auslöschen als kreatives Verfahren findet man bereits bei Man Ray, den Dadaisten und nicht zuletzt in den Gedichten von Bob Brown, um dann in der experimentellen Poesie mehr und mehr Anwendung zu finden. Collagen aus Textfragmenten, Überschreiben, Übermalen und Überkleben solcher Texte sind gängige Praxis avantgardistischer Strömungen vom Dadaismus bis zur Konkreten Poesie. Zu denken ist hier nicht nur an Kurt Schwitters’ berühmte Merz-Collagen, die wegweisend für sein Schaffen wurden, sondern auch an die Bildgedichte der tschechischen Poetisten. Nicht von ungefähr bindet Craig Dworkin die Erasure Poetry in ein weites Feld von künstlerischen Äußerungen ein, die auch die Situationistische Bewegung miteinschließt.3 3 | Vgl. Dworkin, Craig: »The Fate of Echo«, in: Ders./Goldsmith, Kenneth (Hgg.): Against Expression. An Anthology of Conceptual Writing, Evanston, Ill.: Northwestern University Press 2011, xxiii-liv, xxiii.

303

304

V IOLA H ILDEBRAND -S CHAT

Für die Erasure Poetry wesentlich ist weiterhin, dass spätestens mit den 1960er Jahren sich in Kunst und Literatur eine Auffassung durchsetzt, die nicht nur das Arbeiten mit vorgefundenen Materialien, mit Müll und Resten aus anderen Schaffenszusammenhängen akzeptiert, sondern zudem in Zerstörung und Auslöschung einen kreativen Akt sieht. Zu denken ist hier an die Decollagen der Nouveaux Réalistes, die Schießbilder von Niki de Saint Phalle, die sich selbst zerstörenden Maschinen von Jean Tinguely oder die pyromanischen Performances von Bernhard Luginbühl. Den Auftakt zu dieser neuen Sichtweise hatte 1953 Robert Rauschenbergs Erased de Kooning gegeben, einer der wohl spektakulärsten Akte von Kunstauslöschung, der sich im vollen Einverständnis beider Künstler vollzog. Mit dem Radiergummi führte Rauschenberg einen Akt des Zeichnens aus. Anstelle etwas aufs Papier zu bringen, entfernte er das Vorhandene, um schließlich die Zeichnung ganz in die weiße Fläche zu überführen. Wie die Autoren von Erasure Poetry stützt sich der Künstler auch hier auf etwas bereits Vorhandenes, auch er nimmt die Arbeit eines Kollegen zum Ausgangspunkt seiner eigenen Kreation, mit der er das Vorgegebene in seinen Urzustand, nämlich das Nichts oder vielmehr etwas Nicht-(mehr-) Sichtbares und damit schwer zu Vermittelndes zurückführen will. Indem er zeigt, was Zeichnung nicht ist, soll geklärt werden, was Zeichnung in ihrer Essenz ist.

Z UR M OTIVIERUNG VON L ÖSCHUNG UND L EERSTELLEN IN LITERARISCHEN W ERKEN Gerade weil den künstlerischen Eingriffen in den Text keine Grenzen gesetzt sind, gestalten sich die Übergänge von Erasure Poetry zu anderen Formen von Experimenten mit Text, Typografie und Gestaltung fließend. Je nachdem, wie eng oder weit man den Begriff der ›Erasure Poetry‹ fasst, lassen sich frühe Erscheinungen von Textlöschung bereits bei Lawrence Sternes aufgrund seiner ungewöhnlichen Textstruktur wiederholt zitiertem The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman ausmachen. Textauslassungen, Störungen im Layout oder leere Seiten werden aus der Erzählung heraus begründet, die Eingriffe in den Text sind Teil des Inhalts und werden auch als solche berücksichtigt. Das heißt, der Text verändert sich nicht gegenüber einem ursprünglich anders angelegten Konzept, vielmehr ist er von Anbeginn mit seinen Lücken, Löchern und Fehlstellen geplant. Die Wortabstände überbrückenden Striche bezeichnen einen Gedankensprung oder eine Pause, bevor ein neuer Gedanke einsetzt. Gänzlich leere Seiten werden einem Versehen des Setzers oder Buchbinders angelastet, etwa wenn noch der Vermerk zu lesen ist: »The Binder is requested to put marble-coloured paper, the size of the page, on each side of the blank leaf«4. Oder der Leser wird aufgerufen, eine noch leere Seite nach eigenem Geschmack zu füllen: »To conceive this right, – call for pen and ink; – here’s 4 | Sterne, Lawrence: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, London 1810, Bd. III, 115.

E RASURE P OETRY

paper ready to your hand. – Sit down, sir, paint her to your own mind; – as like your mistress as you can, – as unlike your wife as your conscience will let you, – ’tis all one to me, – please but your own fancy in it.«5 Wie unterschiedlich jedoch diese Anweisungen gehandhabt werden, gleichsam dem jeweils subjektiven Eingreifen in einen Quellentext in Verbindung mit Erasure Poetry vorausgreifend, zeigt sich an den verschiedenen Ausgaben des Tristram Shandy. In der englische Ausgabe von 1772 ist die für das marmorierte Papier freigelassene Seite aus der Paginierung ausgespart, lediglich mit einer in eckige Klammern gestellten Seitenzahl auf die Stelle hingewiesen, wo die sonst leere Seite einzufügen ist. Anstelle eines marmorierten Blattes ist mit Farben direkt auf der Buchseite eine Marmorierung imitiert, die Rückseite des Blattes bleibt leer. In der deutschen Ausgabe von 17746 ist die Marmorierung ebenfalls gemalt, hier aber beidseitig. Die Paginierung der Seiten setzt die der Textseiten fort, lediglich vertauscht, so dass die höhere Zahl vor der niedrigeren erscheint. Bei beiden Ausgaben ist unter der Bemalung kein Hinweis für den Binder eingedruckt. Andere Ausgaben, etwa die Cooke’s Edition von 1800, enthalten weder einen Hinweise auf marmoriertes Papier noch eine entsprechende nachgemalte Seite. Dass die Ausgabe von 1810 ohne Handkolorierung bleibt, statt dessen nur der Vermerk für den Buchbinder eingedruckt ist, erklärt sich damit, dass es sich hier um eine einfache Volksausgabe handelt, die aus Kostengründen auf die zusätzliche Bearbeitung verzichtet, dennoch aber, um den Vorgaben des Autors zu entsprechen, mit einem entsprechenden Vermerk reagiert. Auch das mit Mademoise betitelte Schreibheft des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers, posthum 1986 publiziert, greift die Verschränkung von einem durch Leerstellen bestimmten Erscheinungsbild und Inhalt auf. Hier sind es die im Text erwähnten Tiere, die zu allerhand Störungen im Textgebilde führen, etwa weil sie eigenständig ihren Platz verlassen und sich auf andere Seiten begeben und dabei die Seiten in Unordnung gebracht haben, oder weil sie – wie die Maus auf Seite 4 – die Seiten angeknabbert oder – wie die Fliege auf Seite 14 – die Pagina abgedeckt haben, was zu Sinnentstellungen oder auch leeren Stellen führt. Doch da es sich um »un livre, qui est écrit par des animaux«7, handelt, sind die von den Tieren hinterlassenen Spuren wie ein Text zu lesen und im Gesamtzusammenhang sinnstiftend. Ähnlich verhält es sich bei den Texten von Mallarmé, wie Un coup de dés oder dem niemals abgeschlossenen Le Livre. In beiden Fällen sind die Leerstellen inhalt5 | Sterne, Lawrence: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. A new edition, Altenburgh (Printed for G. E. Richter, and committed to A. F. Boehme Bookfeller in Leipzig), 1772, Bd. 5, 24. Bis auf den zitierten Satz bleibt die Seite unbedruckt. In anderen Ausgaben hingegen ist die gesamte nachfolgende Seite bis auf lebenden Kolumnentitel, Fußzeile und Pagina leer, so in der von Donsley, London 1768 gedruckten Ausgabe, 147. 6 | Vgl. Sterne, Lawrence: Tristram Schandis Leben und Meynungen, Hamburg 1774, 176 und 175. 7 | Broodthaers, Marcel: Mademoise. Édition en facsimilé, imprimée 1986 sur les presses des établissements Malvaux à Bruxelles 1986.

305

306

V IOLA H ILDEBRAND -S CHAT

lich bedingt, visualisieren sie Schweigen, gedankliche, inhaltliche oder ästhetische Freiräume oder auch einfach nur ein dem Rezipienten zur weiteren Sinnerschließung frei zur Verfügung gestelltes Material. Die Aufladung der visuellen Erscheinungsformen mit inhaltlicher Bedeutung, die gleichermaßen den einzelnen Buchstaben und die Leerräume wie auch die Seite als solche oder die Abfolge von Seiten bedeutsam werden lässt, findet ihre Fortsetzung und Ausgestaltung in den Sprachexperimenten von Dadaismus, Futurismus, Lettrismus, Zaum’, OuLiPo und Konkreter Poesie. Im Unterschied zur Erasure Poetry und zu den zuvor genannten Beispielen liegt hier der Akzent aber weniger auf der Absicht, neuen Sinn aus Fragmenten vorgegebenen Materials zu konstruieren, und auch nicht auf der Idee, einen neuen Text mit bewusst komponierten und motivierten Leerstellen und Lücken zu schaffen, als vielmehr darauf, die (Schrift-) Sprache als Material zu gebrauchen, das gleichermaßen textuell als auch bildgestaltend eingesetzt werden kann und spielerische Bezüge zur Fläche eingeht. Dadaistische und futuristische Ansätze fokussieren zudem auf Sprachzerstörung als Kritik an den Möglichkeiten, mit Sprache überhaupt einen Sinn erzeugen zu wollen, was im Weiteren zu einer grundlegenden Kritik an einer gegenwärtigen Kultur ausgeweitet wird, die durch Traditionsübernahmen mehr rückwärts als vorwärts gewandt ist. Anders hingegen verhält es sich bei dem 1974 von Marcel Broodthaers vorgelegten Buch mit dem Titel Pauvre Belgique. ABC, das, gleichwohl es eine kulturkritische Stellungnahme ist, sehr wohl mit Erasure Poetry zu vergleichen ist. Die Seiten von Pauvre Belgique. ABC stimmen exakt mit einer von Claude Pichois 1951 herausgegebenen Baudelaire-Ausgabe überein. Broodthaers hat daraus die Seiten 1318 bis 1457 übernommen, die Baudelaires Aufsatz Sur la Belgique. Pauvre Belgique wiedergeben, nur enthalten die Seiten in seinem Buch keinerlei Text. Bis auf den lebenden Kolumnentitel sind sie leer. Broodthaers hat auf die Wiedergabe des Texts, der Baudelaires Erfahrungen mit Belgien und seine Bemühungen um Anerkennung enthält, verzichtet. Baudelaires Polemik gegen Land und Leute und seiner Enttäuschung über die nur zögerliche Akzeptanz als Dichter setzt Broodthaers Wortlosigkeit entgegen, die Schilderungen Baudelaires münden bei ihm in ein beredetes Schweigen, insofern die blanken Seiten eben jene vom Dichter beschriebene Situation widerspiegeln, in der er förmlich totgeschwiegen wird. Sie werden so zu einem sinnlich erfassbaren Erfahrungsraum. Anders als Sterne oder Mallarmé legt Marcel Broodthaers seiner Arbeit einen fremden Text zugrunde, dessen Bedeutung nachhallt und damit sein Vorgehen wie auch die Aussage der leeren Seiten begründet. Intendiert ist nicht ein eigener neuer Text, vielmehr die Fort- oder Umschreibung einer Quelle, die für die neue Konzeption sinnstiftend ist. Pauvre Belgique. ABC ist nicht das einzige Beispiel, bei dem Broodthaers auf vorhandenem Textmaterial aufbaut. Sein künstlerisches Konzept besteht im Wesentlichen im Bezug auf Literaturquellen, die ihm zur Ausformulie-

E RASURE P OETRY

rung seines eigenen Standpunktes dienen.8 Leere Seiten, Ersetzung typografischer Elemente, Abkürzungen und die Art und Weise, wie Text als Bild definiert wird, sind Beispiele für die vielfältigen Möglichkeiten, die sich unter dem Begriff von ›Erasure Poetry‹ ausbreiten. So sehr die oben genannten Werke mit Auslöschen und Leerstellen arbeiten, sind sie bislang allerdings weder mit dem Begriff ›Erasure Poetry‹ noch mit dem Phänomen in Verbindung gebracht worden.

Z UR ZEITGENÖSSISCHEN E RASURE P OETRY Im Laufe der Jahre hat die Erasure Poetry geradezu inflationäre Ausmaße angenommen, was unter anderem mit den neuen Technologien, der elektronischen Verfügbarkeit von Texten, bild- und textverarbeitenden Programmen und den daran geknüpften schier unendlichen Möglichkeiten der Textgenerierung in Verbindung zu bringen ist. In die daraus hervorgehende Fülle neu entstehender poetischer Textformen wie Ergodic Literature, Spam Lit oder Spoetry reiht sich Erasure Poetry ein.9 Angeeignet und verändert werden Texte aus allen Epochen und aller Genres. Die ›Auslöscher‹ scheinen vor keiner Textsorte und keiner Autorität zurückzuschrecken. Doris Cross nimmt in Columns von 1982 die Textspalten von Webster’s Secondary School Dictionary als Ausgangspunkt, Ronald Johnson nutzt Miltons Paradise Lost und Ezra Pounds Cantos, Jen Bervin greift in Nets von 2004 auf Sonette von Shakespeare zurück, Janet Holmes in The ms of m y kin von 2009 auf Gedichte von Emily Dickinson und Jérémie Bennequin nimmt sich 2010 sämtliche Bände von À la recherche du temps perdu von Proust vor und versucht, den Text auszuradieren. Der auf diese Weise ausgelöschte Proust materialisiert sich in einer Box voll Radiergummikrümel, während auf den Seiten von À la recherche du temps perdu die Schatten der ausradierten Schrift zurückbleiben. Bleiben hier vom ausgelöschten Text zumindest noch Spuren erhalten, sei es als Rückstände auf dem Papier oder als in einer jeglichen Lesbarkeit enthobenen Variante, die sich in den Resten des Radiergummis niederschlägt, ist eine gegenüber Abdecken durch Überschreiben oder Übermalen von Satzteilen radikalere Variante das Wegschneiden der Zeilen, wie es Jonathan Safran Foer an einem Text des 1892 in Drohbycz im österreichisch-ungarischen Galizien geborenen Bruno Schulz vollzieht, um zu seiner eigenen Publikation Tree of Codes zu gelangen.10 Während die Frankfurter Künstlerin Corinna Krebber, die 8 | Vgl. Gabriele Mackert im vorliegenden Band. 9 | Diese Formen sind Ausdruck einer Veränderung der zeitgenössischen amerikanischen Poesie, deren Beginn Somers-Willett mit Joseph Epsteins Editorial »Who killed poetry« von 1988 ansetzt, in: Commentary 2 (1988), 14-15. Vgl. Somers-Willett, Susan B. A.: The Cultural Politics of Slam Poetry. Race, Identity and the Performance of Popular Verses in America, Ann Arbor: University of Michigan Press 2009, 1. 10 | Vgl. Foer, Jonathan Safran: Tree of Codes, London: Visual Editions 2010.

307

308

V IOLA H ILDEBRAND -S CHAT

in vergleichbarer Weise zeilenweise Schnitte in Bücher legt, sich auf den Objektcharakter des Buches konzentriert und auf die Durchlässigkeit des Buchkörpers hinarbeitet, schreibt Foer eine Geschichte der Juden, die in einer Art symbolischen Nachvollzugs ihres Schicksals besteht. Nicht zufällig legt er seinem Vorgehen eine Sammlung von Geschichten Bruno Schulz’ zugrunde. Sie sind das, was von seinem Briefe, Zeichnungen und Erzählungen umfassenden künstlerischen Werk übrig geblieben ist. Als 1941 die Deutschen Drohobycz besetzten, teilte Schulz sein Werk unter Freunden auf. Darunter befand sich auch das Manuskript seines Romans Messiah. Doch war von alledem außer zwei schmalen Erzählbänden, die nun die Quelle für Jonathan Safran Foers Erasure Poetry bildeten, nichts mehr aufzufinden. Das der Überlieferung verlorengegangene Werk ist zugleich die Geschichte des Jahrhunderts. Schulz’ überlebendes Werk zeugt von all jenen Texten, die er noch angefertigt hätte, wenn er überlebt hätte: »For years I had wanted to create a die-cut by erasure, a book whose meaning was exhumed from another book. I had thought of trying the technique with the dictionary, the encyclopedia, the phone book, various works of fiction and non-fiction, and with my own novels. But any of those options would have merely spoken to the process.« 11

R ONALD J OHNSONS R ADI O S ALS ›K LASSIKER ‹ DER E RASURE P OETRY Mit den neuen Techniken, die zur Produktion von Erasure Poetry eingesetzt werden, lockert sich auch der Bezug zwischen Quellentext und Zieltext. Häufig besteht er nur mehr in formaler oder kontextueller Hinsicht. Eine direkte Nutzung des vorhandenen Textmaterials hingegen findet sich beispielsweise in Ronald Johnsons auf Ezra Pounds Cantos basierendem Zyklus ARK, der Johnson von 1970 an rund zwanzig Jahre in Anspruch nahm.12 In seiner Struktur am Tagesverlauf orientiert, aufgeteilt in drei große Abschnitte, die wieder in 33 untergliedert sind, greift Johnson mit ARK die Tradition des amerikanischen Epos auf, wie es mit William Wordsworth’ Excursion, Walt Whitmans Leaves of Grass bis zu Ezra Pounds Cantos bedeutende Vorbilder hat. Im ersten, mit Foundations überschriebenen Abschnitt von ARK greift Johnson auf Psalme der Bibel zurück, in denen er wenigstens ein Wort verändert, wobei auch aus »Psalm« »Palm« wird, was er, wie auch das weitere Auslöschen des Buchstaben »s«, kommentiert mit: »I took out the snakes [laughs].«13 11 | Foer, Jonathan Safran: »Author’s Afterword. This Book and The Book«, in: Ders.: Tree of Codes, London: Visual Editions 2010, 137-139, 138. 12 | Vgl. Johnson, Ronald/O’Leary, Peter: »An Interview with Ronald Johnson«, in: Chicago Review 1 (1996), 32-53. 13 | Ebd., 44.

E RASURE P OETRY

So lang das gesamte Epos auch ist, so konzentriert sind doch die einzelnen Abschnitte in sich. ARK 66, Finial for Ez etwa lautet: »so Ossa pale upon Pelion« 14

Dieser kleine Satz liefert nicht nur eine kongeniale Zusammenfassung von Pounds Canto LXXIV, das in »Cloud over mountain, mountain over cloud« gipfelt, sondern ist ebenso ein Rekurs auf die griechische Mythologie. Die Geschichte von den Aloiden, den Söhnen des Aloeus, die versuchten den Himmel zu erreichen, indem sie den Berg Ossa auf den Olymp und den Pelion auf den Ossa türmen wollten, wird hier in wenigen Worten wiedergegeben. Auch wenn ARK voll von sprachspielerischen Formulierungen und visueller Kraft ist und die neu entstehenden Textteile in engem Bezug zu den originalen stehen, wendet Johnson die Erasure-Technik im engeren Sinne nur bei einem Teil von ARK, nämlich der mit Radi os betitelten Passage an. Radi os ist das Ergebnis einer Bearbeitung von John Miltons Paradise Lost aus einer Ausgabe von 1892. Dem Autor zufolge sollte Radi os einen Zusammenschluss der bereits vorangegangenen drei Bücher von ARK liefern und durch den Bezug auf Milton das eigene Schaffen abrunden.15 Den Anstoß hierfür erhielt Johnson durch eine Schallplattenaufnahme der Baroque Variation von Lukas Foss. Um eine Komposition von Händel in neuem Licht erscheinen zu lassen, in gewisser Weise moderner, hatte Foss einfach Teile daraus fortgelassen und die verbleibenden übergangslos aneinander gefügt.16 So willkürlich ein solches Vorgehen auch erscheinen mag, so bedachtsam hat Johnson es angewandt. Bevor er mit dem Streichen von Stellen in Paradise lost begann, konzentrierte er sich zunächst ganz auf den Sinn der einzelnen Worte, um darauf bauend seine eigenen Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen: »I believe in form, and make up my own rules.«17 Auch schrieb er den Quellentext nicht ab, wie es andere Autoren von Erasure Poetry machen, sondern legte seinem Writing through Fotokopien zugrunde, an denen er mit seinen Ausstreichungen ansetzte, um erst abschließend den reduzierten Texte abzuschreiben. Als »writing through« hat John Cage ein Vorgehen bezeichnet, mit dem er sich von einem sinnhaften Verstehen zu befreien suchte, indem er auf einen vorhandenen Text eine zuvor festgelegte Methode anwandte, etwa das Auszählen von Worten

14 | Johnson, Ronald: »ARK 66, Finial for Ez«, in: Chicago Review 1 (1996), 20. 15 | Vgl. Selinger, Eric: »›I compose the holes‹: Reading Ronald Johnson’s Radi os«, in: Contemporary Literature 1 (1992), 46-73, 68. 16 | Vgl. Johnson/O’Leary: »An Interview with Ronald Johnson«, 43. 17 | Johnson, Ronald: »From ›Hurrah for Euphony‹«, in: Chicago Review 1 (1996), 25-31, 27.

309

310

V IOLA H ILDEBRAND -S CHAT

oder Buchstaben.18 Aus den solchermaßen ausgewählten Wörtern und Buchstaben – letztere durch Großschreibung hervorgehoben – entstehen neue Worte, die Akrostichen sind und sich auch nicht mehr zeilenweise, sondern vertikal erschließen. In eine ähnliche Richtung zielten Jackson Mac Lows Arbeiten, für die er den Begriff »diastics« geprägt hat, abgleitet aus dem griechischen »dia« (dt. durch) und »stichos« (dt. Vers). Die darauf beruhende Methode stellt formale Aspekte inhaltlichen voran, d.h. der Autor legt zuvor die Kriterien seines Vorgehens fest. In der Regel sucht er im Ausgangstext Worte und linguistische Einheiten, die sowohl in ihrer Abfolge wie auch ihrer Anordnung die Buchstaben des gesuchten Schlüsselwortes an der jeweils nötigen Position enthalten. Das Schlüsselwort lässt sich dann wie ein Akrostichon aus den Buchstaben mehrerer Zeilen zusammenlesen, nur mit dem Unterschied, dass sich diese nicht sämtlich am Versende oder -anfang, sondern an eben genau den Stellen in den Zeilen befinden, die das Schlüsselwort erfordert: »A diastic structure uses words or phrases with letters in places corresponding to those in the index word or phrase.«19 Andere Autoren legen ein rechnerisches System zugrunde, bei dem sie von einem bestimmten Begriff ausgehen, der häufig dem Titel ihrer Quelle entnommen ist, und nach der dort auftretenden Buchstabenfolge die Abfolge der Worte ihres zu generierenden Texts festlegen. Ziel ist bei all dem eine Textgenierung durch formale Zwänge, wie sie etwa auch die OuLiPoten angestrebt haben.20 Manche Contrainte, verstanden als eine strengen Richtlinien folgende Methode, verzichtet gar gänzlich auf die Worte, übernommen werden nur mehr die Satzzeichen, wodurch umfangreiche Texte auf wenige Seiten verdichtet werden, dafür aber nicht mehr in herkömmlicher Weise lesbar sind. Solche Strategien stehen in der Tradition der postmodernen Poetik der Absenz, für die George Perecs leipogrammatischer Roman La disparition (Paris: Denoël 1969) oder Paul Virilios Schrift Esthétique de la disparition (Paris: Libraire générale française 1980) einstehen. Es darf aber nicht übersehen werden, dass Johnson im Gegensatz zu diesen eben genannten eher formalistischen Contraintes nicht ein Zufallsprodukt als Endprodukt anstrebt. Bei Johnsons eher auf inhaltlichen Kriterien beruhendem Ansatz 18 | Vgl. Bernstein, Charles: »Foreword«, in: Rothenberg, Jerome: Writing through, Translations and Variations, Middletown, CT: Wesleyan University Press 2004, xi-xiv. 19 | Mac Low, Jackson: »36th Light Poems (Buster Keaton)«, zit. n. Mc Caffery, Steve: Prior to meaning: the protosemantic and poetics (Avant-Garde & Modernism Studies), Evanston, Ill.: Northwestern University Press 2001, 282. 20 | Nicht zufällig drängt sich hier auch die Methode der Ergodic Literature auf, bei der die Zusammenstellung von Sätzen und Versen so offen bleibt, dass der Leser ihre Abfolge frei und immer wieder neu wählen kann. Ein Beispiel hierfür ist Raymond Queneaus 1961 bei Gallimard erschienener Band Cent Mille Milliards de Poèmes. Er enthält zehn Sonette, die nach dem gleichen Reimschema aufgebaut sind, wobei jedes einzelne durch Zerlegen der Buchseiten in Streifen versweise zusammengesetzt werden kann, was eine schier unendliche Anzahl von Kombinationen ermöglicht.

E RASURE P OETRY

bleibt von einzelnen Zeilen häufig nicht mehr als ein Wort erhalten. Geradezu wörtlich wird umgesetzt, was William Blake als »infernal method« bezeichnete21, wobei sich dieser damit allerdings auf die Technik bezog, mit der er seine Druckplatten aufbereitete. Anders als bei Radierung oder Kupferstich werden dabei von den metallenen Druckplatten all jene Stellen weggeätzt, die nicht drucken sollen. Als Grate stehen bleiben die auf dem Blatt erscheinende Schrift und die Zeichnung, womit Blake auf eine für seine Zeit einzigartige Weise Bild und Text gemeinsam drucken konnte und damit nicht nur eigene Texte wie The Marriage of Heaven and Hell, aus dem der Vergleich mit der teuflischen Methode stammt, sondern auch Paradise Lost interpretierte. So erhellend ein solcher Bezug für Radi os auch sein mag, so gestaltet sich die Lektüre des Texts dennoch höchst voraussetzungsvoll. Aus dem Text erschließt sich zunächst wenig. Das Erscheinungsbild erinnert an andere moderne Autoren wie Ezra Pound, für dessen Lyrik charakteristisch ist, dass Bedeutung aus Fragmenten und unzusammenhängenden Teilen entsteht.22 Durch die Textorganisation auf der Seite legt Radi os eine Leseweise nahe, die weniger von einem horizontalen als vielmehr von einem vertikalen Blickverlauf ausgeht. Johnsons Text entspricht einer ›apokalyptischen Konstellation‹, mit der er grundsätzliche Veränderungen gleichermaßen an Stil wie Inhalt seiner Quelle vornimmt, dabei jedoch nicht auf den gesamtschöpferischen Anspruch verzichtet, der Miltons Paradise Lost innewohnt. Gerade die Auslassungen werden bedeutsam, weil sie auf den abwesenden Text hinführen und gleichzeitig den Verlust spürbar werden lassen, den Gottes Geschöpfe durch die Vertreibung aus dem Paradies erfahren haben. Laut einer Stelle in Blakes The Marriage of Heaven and Hell zeigt sich die Unendlichkeit der Schöpfung in einer von Allem befreiten Auffassung. Dies wiederum entspricht dem Bild des Erwachens bei Johnson23, wie er es auf den ersten Seiten des fünften Teils von Radi os vermittelt (Abb. 3). Neben den auffallenden Leerstellen zwischen den Zeilen liefern Stellen wie »Adam waked« oder »sets off the face of things« leitende Stichworte. Auf die widerstreitenden Vorstellungen der Schöpfung bei Milton reagiert Johnson mit der Manipulation sämtlicher Zeilen, die dem Disput zwischen Gott und Satan folgen. Den Selbstzweifeln an der eigenen Schöpfung begegnet er, indem er durch einen geringfügigen Eingriff auf die inhaltliche wie textuelle Überein21 | »This I shall do by printing in the infernal method, by corrosives, which in Hell are salutary and medicinal, melting apparent surfaces away, and displaying the infinite which was hid.« Blake, William: »The Marriage of Heaven and Hell«, Plate 14, in: Ders.: Complete Writings, New York: Oxford University Press 1966, 154. 22 | Von Redundanzen befreit entsprach die Ökonomie seiner Schreibweise der Ökonomie des zeitgenössischen Lebensstils. Vgl. Kenner, Hugh: The Pound Era, Berkeley: University of California Press 1971, 67. 23 | Vgl. Selinger: »›I compose the holes‹: Reading Ronald Johnson’s Radi os«, 52.

311

312

V IOLA H ILDEBRAND -S CHAT Abb. 3: Ronald Johnson: The Book of Adam. In: Chicago Review, 2/3 (2007), 163-187, 164-165.

stimmung der Begriffe »word« und »world« hinweist. »WOR(L)D« hatte Johnson zunächst als Titel anstelle von Radi Os vorgesehen, wobei er durch das Einklammern des Buchstaben »L« bewusst auf eine doppelte Leseweise hinführen wollte.24 Diese Überlegung schließt eine Auseinandersetzung mit der Schöpfungsgeschichte ein, wie sie das Johannesevangelium gleich zu Beginn vermittelt. Hier wird die Weltentstehung aus dem Wort hervorgehend gedacht, das Wort bzw. die Begrifflichkeit geht den Taten voraus. »Alle Dinge sind durch dasselbige [Wort] gemacht«25. Johnson sucht so auf subtile Weise die Bedeutung hervorzukehren, die der Arbeit mit dem bloßen Wortmaterial zukommt. Johnson scheint auf diese Weise die Essenz aus Miltons Epos herauszufiltern. Selinger gebraucht hierfür den Vergleich mit einer Röntgenaufnahme. Das Bild belegt er mit einer wortgetreuen Übersetzung des Titels: »radi« lässt sich als Strahl, »os« als lateinische Übersetzung von Knochen lesen. Johnsons Bearbeitung erscheint als Modernisierung von Miltons visionärer Sicht, die durch moderne Vorstellungen vom Ursprung der Welt erweitert ist. Es ist ein letzter Versuch, aus der 24 | Vgl. Johnson/O’Leary: »An Interview with Ronald Johnson«. 25 | Johannes 1, 3.

E RASURE P OETRY

Mythologisierung des Ichs auszubrechen. Der Leser soll sich nicht mit Adam, dem Teufel oder Gott identifizieren, sondern nur mit dem Dichter, der ebenso als Leser auftritt, der Empfänger eines Materials ist, das er lediglich bearbeitet und der damit jegliche Vorstellung, etwas Neues schaffen zu wollen, endgültig preisgibt. »The originals«, schreibt Emerson in Quotation and Originality, »are not original.«26 Zu begrenzt ist die menschliche Erfindungsgabe. Radi os liefert die Bestätigung von der Unmöglichkeit, ein grundsätzlich neues Epos erschaffen zu können. Im bildkünstlerischen Schaffen hat sich diese Auffassung in einer Kunstform manifestiert, die als Appropriation Art bezeichnet wird.

26 | Emerson, Ralph Waldo: »Quotation and Originality«, in: Ders.: The Complete Works, Boston: Houghton 1875, Bd. 8, 180.

313

The kite is nothing without the string – Appropriation und Contrainte / Appropriation als Contrainte Bernhard Metz In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. J. W. G OETHE : DAS SONETT (um 1800)

A PPROPRIATION UND C ONTRAINTE Was enorme Freiheiten zu implizieren scheint – die beliebige Appropriation, Anverwandlung, Verfügbarmachung bestehender Materialien –, bringt vielfache Beschränkungen und Einschränkungen mit sich. Wer einen (literarischen) Text bzw. ein Buch appropriiert, verliert durch die Wahl genau dieses Textes bzw. Buches Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Erasure Poetry bspw. ist in aller Regel vom Text bzw. spezifischen Buch, die appropriiert werden, direkt abhängig; die Appropriation kann sich immer nur auf den sprachlichen bzw. (typo)grafischen Bahnen dessen bewegen, was bereits existiert. So kann Ronald Johnsons Radi os immer nur enthalten, was sich in den ersten vier Büchern von Paradise Lost bzw. der von Johnson verwendeten Milton-Ausgabe von 1892 an Ausgangsmaterial bereits befindet, Jen Bervins Nets oder The Desert immer nur, was Shakespeares Sonette oder John Van Dykes The Desert enthalten, und Janet Holmes The ms of m y kin lediglich, was Emily Dickinson von 1861 bis 1862 geschrieben hatte bzw. was für diesen Zeitraum gedruckt bzw. ediert vorliegt.1

1 | Johnson, Ronald: Radi os. OI-OIV, Berkeley, Cal.: Sand Dollar 1977; vgl. Milton, John: The Poetical Works, New York/Boston: Thomas Crowell 1892; Bervin, Jen: Nets, Brooklyn, N.Y.: Ugly Duckling Presse 2004; Bervin, Jen: The Desert, New York: Granary Books 2008; vgl. Van Dyke, John Charles: The Desert. Further Studies in Natural Appearances, New York: Scribner 1901; Holmes, Janet: The ms of m y kin, Exeter: Shearsman Books 2009; vgl. Dickinson, Emily: The Poems. Reading Edition, hg. v. Ralph William

316

B ERNHARD M ETZ

Von Belang ist, welcher Grad von Materialgerechtigkeit oder Nachbildungstreue bezüglich des Prätexts im appropriierten Kunstwerk umgesetzt und auf welche Kanäle das Augenmerk gerichtet wird. Was die Appropriation von (literarischen) Texten bzw. Büchern in Büchern angeht, gibt es zwei Typen von Materialgerechtigkeit bzw. einfach zwei Verfahren, die sich parallel dazu in den eher textorientierten Literatur- bzw. eher materialitätsorientierten Buch- und Kunstwissenschaften 2 disziplinär ausdifferenzieren: Ein linguistisch-immaterielles, bei dem das Buch auf digital kopierbaren, sprachlich verfassten Text reduziert wird, der entsprechend neu geschrieben oder gesetzt und arrangiert wird, die typische Form des Zitats (Textappropriation); und ein bibliografisch-materiales, bei dem ein appropriiertes Buch in seinen wesentlichen Gestaltungsbestandteilen wie Format, Satz, Druckfarbe, Einband, Ausstattung übernommen wird (Buchappropriation). Die Textappropriation setzt darauf, Text zu übertragen, die Nähe zur ursprünglichen Gestaltung und Materialisierung in Schrift und Buch ist nicht mehr relevant, was auf den größeren Teil der Appropriationsliteratur zuzutreffen scheint; die Buchappropriation reproduziert und kopiert Objektdaten (so genau wie möglich) und imitiert eine ursprüngliche Buchgestaltung (bspw. Michalis Pichlers Der Einzige und sein Eigentum3) oder arbeitet ein bestehendes Buch als originales Objekt um, wovon es seinerseits wieder Reproduktionen geben kann (bspw. Johnsons Radi os). Beide Verfahren weisen eine Schnittmenge auf und schließen sich nicht gegenseitig aus, wie wieder Bervins Nets oder Holmes’ The ms of m y kin zeigen, die auch nichtlinguistische Eigenschaften ihrer Prätexte wie Zeichenpositionierungen übernehmen, den dort vorfindlichen Zeichenstand aber zitieren bzw. typografisch neu setzen und nicht faksimilierend reproduzieren.4 Franklin, Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press 1999. Vgl. zur Erasure Poetry zudem die von Christoph Benjamin Schulz, Viola Hildebrand-Schat und Anne Mœglin-Delcroix in ihren Beiträgen vorgestellten Beispiele, besonders die von letzterer behandelten Mallarmé- und ProustArbeiten von Jérémie Bennequin (vgl. die Dokumentation unter http://jbennequin.canalblog.com). 2 | Vgl. exemplarisch für dieses literaturwissenschaftliche Selbstverständnis die Überlegungen im Beitrag von Tomasz Waszak zum Status der neuen Materialisierung durch die »Textappropriation«, wonach das »Maximalzitat« aus Cervantes’ Don Quijote in Borges’ Pierre Menard im »Posttext […] mit dem Prätext identisch« (91) sei. 3 | Pichler, Michalis: Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Anhang/With an Appendix, Berlin: »greatest hits« 2009; vgl. Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, hg. v. Ahlrich Meyer, Stuttgart: Reclam 1972. 4 | Ich möchte Annette Gilbert (neben vielem anderen) auch für ihren Hinweis auf zwei Erasures danken, die ebenfalls dieser Gruppe zuzurechnen sind: Manson, Peter: Englisch in Mallarmé, Publishing the Unpublishable/ubu editions 2006 (http://www.ubu.com/ubu/unpub/Unpub_010_Manson_ Mallarme.pdf), wo auf Grundlage der Gesamtdichtung Mallarmés bzw. der Poésies alle Zeichen beibehalten wurden, die als englisches Vokabular lesbar sind, sowie Henderson, Derek: Thus &, Manchester: if p then q 2011, eine Bearbeitung von Ted Berrigans The Sonnets von 1964 nach der 2005-California

THE KITE IS NOTHING WITHOUT THE STRING

Das bibliografisch-materiale Verfahren ist das mit den größeren Einschränkungen, auch wenn sich die meisten Appropriationen, die keine exakte Nähe zum Prätext aufweisen, häufig Regeln und Einschränkungen bei der Verwendung ihres Materials unterwerfen und dieses nach bestimmten Kriterien umarbeiten und organisieren.5 Beschränkungen liegen durch die Referenz auf den vorgängigen Text bzw. das vorgängige Buch immer vor; gleichwohl besteht darin die eigentliche Chance der Appropriation, wenn man es positiv wendet: Aus einem beschränkten Set an Möglichkeiten, einer geringen Auswahl dessen, was es überhaupt gibt, etwas Neues, Nichtvorgesehenes zu schaffen und in produktive Spannung mit dem Ausgangsmaterial zu setzen. Beschränkung gerät so zur Voraussetzung künstlerischer Freiheit, appropriierendes Uncreative Writing zum kreativen und Kreativität generierenden Verfahren par excellence, was in vielen Selbstaussagen reflektiert wird. Holmes etwa schreibt zu ihrer Dickinson-Appropriation The ms of m y kin: »The idea is that my poems would look identical to what you’d see in the Franklin Reading Edition of Dickinson if I were to go through it with white-out and preserve only the words you now see on the page. And in fact, in my typescripts of the poem, I actually type in the poem and then ›color‹ the erased words white. They’re there, but they don’t show up when printed. […] I use Dickinson’s poems of 1861 and 1862 as my source texts. My rules for the erasure were this: t*NVTUVTFBUMFBTUPOFXPSEGSPNFWFSZQPFN t5IFXPSETNVTUCFVTFEJOPSEFS t5IFQMBDFNFOUPGXPSETPOUIFQBHFNVTUSFGMFDUUIFPNJUUFEXPSET t*XPVMEMFUWBSJPVTTQFBLFSTFNFSHFBTUIFMBOHVBHFEJDUBUFE The technique of erasure might be regarded as an Oulipian restriction. The poet is limited to the vocabulary of the chosen text, to the order of the words and their placement on the page. From my perspective, and why I refer to it as ›collaboration‹, erasure allows a second set of poems to emerge from within the originals.« 6

University Press-Ausgabe seiner Collected Poems, wo alle einmaligen typografischen Zeichengruppen wiedergegeben werden. In beiden Fällen gibt es keine bildhaften Reproduktionen der appropriierten Prätexte, die relevanten Zeichengruppen wurden aus der New Baskerville bzw. der Palatino neu gesetzt und mehr oder weniger exakt an den Positionen, die sie ursprünglich aufwiesen, platziert. 5 | Was nicht heißt, dass es nicht materiale Beschränkungen gibt, die zu textuellen Verfahren unter Verzicht auf exakte Kopie und Nachbildung zwingen, wie die Samizdat-Beispiele zeigen, die Sabine Hänsgen diskutiert. 6 | Holmes, Janet zu ihrem Buch auf http://www.shearsman.com/pages/books/catalog/2009/holmes. html vom 20.12.2011. Vgl. Holmes, Janet: »From The ms of m y kin«, in: Notre Dame Review 24 (2007), 109-113, 113.

317

318

B ERNHARD M ETZ

Hier kommt ein Konzept ins Spiel, das in literarischen Texten (und entsprechenden Poetiken und Poetologien, erinnert sei an das Stichwort ›Regelpoetik‹) seit je mehr oder weniger offensichtlich virulent ist, aber erst in den 1960er Jahren explizit benannt und in der Folge systematisch erforscht wurde und als ›Contrainte‹, ›Constraint‹, ›Restraint‹, ›Restriktion‹, ›Regel‹ etc. bezeichnet wird. Als selbstauferlegte Regel oder Spielregel – auch als Ideengenerator, Einfallsmaschine oder Inspirationsstimulator – ist die Contrainte für Kunst seit dem 19. Jahrhundert zunehmend bedeutsam. Gerade weil es Regeln, Einschränkungen, Formzwänge, Zwangsbedingungen, Verpflichtungen bzw. Contraintes gibt, bspw. im Sonett 14 Zeilen aus zwei Quartetten und zwei Terzetten mit entsprechendem Reimschema zu dichten, wird so etwas wie Ideenreichtum, Kreativität, Inspiration allererst möglich: »The kite is nothing without the string.«7 Johanna Drucker führt zur Appropriation folgendes aus: »A book may be transformed from an appropriated or found original through physical or conceptual means – or parts of a work can be cut out and used to make a new work. The book as a form is already a received idea, loaded with cultural and historical values and resonances. But it is a form which permits invention and innovation. The convention of the book is both its constrained meanings (as literacy, the law, text, and so forth) and the space of new work (the blank page, the void, the empty place). But working on an existing book is not quite the same as either of these – it is not a replication of a conventional form and it is not a completely new statement within the existing vocabulary of forms. The transformed book is an intervention.« 8

A PPROPRIATION UND C ONTRAINTE BEI O U L I P O So hat die mittlerweile langlebigste Künstlervereinigung der Welt, der Ouvroir de la Littérature Potentielle (OuLiPo), die Werkstatt potentieller Literatur, sich mit Formzwängen und Contraintes ausgiebig auseinandergesetzt und diese in den Mittelpunkt der eigenen literarischen Tätigkeit gestellt. 1960 von François Le Lionnais 7 | Von wem stammt dieses wahrhaft geflügelte Wort? Ich kann nur folgenden Beleg anbieten, wonach Lawrence Wallis es Colin Banks zuweist: Wallis, Lawrence W.: Typomania. Selected Essays on Typesetting and Related Subjects, Upton-upon-Severn: Severnside Printers 1993, 105. Vgl. das folgende Picasso-Zitat: »Forcing yourself to use restricted means is the sort of restraint that liberates inventing, said Picasso. It obliges you to make a kind of progress you cannot even imagine in advance.« Zit. n. Bartram, Alan: Typeforms. A History, London/Newcastle: The British Library/Oak Knoll 2007, 117, sowie die Formulierung Baudelaires, wonach Ideen umso intensiver hervorsprudeln, sobald formale Einschränkung einen Zwang ausübe: »Parce que la forme est contraignante, l’idée jaillit plus intense.« Baudelaire, Charles: Brief vom 18. Februar 1860 an Armand Fraisse, in: Ders.: Correspondance, hg. v. Claude Pichois/Jean Ziegler, Paris: Gallimard 1973, Bd. 1, 674-677, 676. 8 | Drucker, Johanna: The Century of Artists’ Books, New York: Granary Books 1995, 108-109.

THE KITE IS NOTHING WITHOUT THE STRING

und Raymond Queneau als »Séminaire de Littérature Expérimentale« gegründet, zählt OuLiPo derzeit 37 Mitglieder (wobei die Mitgliedschaft mit dem Tod nicht endet).9 Gründungsmitglieder von OuLiPo waren neben Le Lionnais und Queneau u.a. Jacques Bens, Claude Berge, Jacques Duchateau, Jean Lescure und Jean Queval, in den Folgejahren kamen u.a. Marcel Bénabou, Italo Calvino, Paul Fournel, Harry Mathews, Michèle Métail, Georges Perec und Jacques Roubaud hinzu. Letzterer, Mitglied seit 1966, fasste die Bedeutung der Contrainte für OuLiPo folgendermaßen zusammen: »The aim of the Oulipo is to invent (or reinvent) restrictions of a formal nature (contraintes) and propose them to enthusiasts interested in composing literature.«10 Harry Mathews, Mitglied seit 1973, gab folgende Definition, die mit Holmes’ »Oulipian restriction« korrespondiert: »The usual French word for the basic element in Oulipian practice has been variously translated […] as constraint, restriction, restrictive form, and other comparable terms. All these expressions denote the strict and clearly definable rule, method, procedure, or structure that generates every work that can be properly called Oulipian.« 11

Das literarische Schreiben oder generell künstlerische Arbeiten unter Contraintes weist einen spielerischen Charakter auf, ist auch ein eminent praxisbezogenes Probieren und Herumwerkeln an Aufgabenstellungen und Materialien. Literatur ist für OuLiPo eine praktische Tätigkeit, keine Konzeptliteratur, die wie die Konzeptkunst unausgeführt bleiben kann;12 sie entsteht immer erst durch die Ausführung.13 Im ersten OuLiPo-Manifest steht u.a.:

9 | »Certains de ces membres sont excusés aux réunions pour cause de décès.« Oulipo: La Bibliothèque Oulipienne, Bègles: Castor Astral 1997, Bd. 4, 4; vgl. http://www.oulipo.net/oulipiens vom 20.12.2011. 10 | Roubaud, Jacques: »The Oulipo and Combinatorial Art« [1991], in: Mathews, Harry/Brotchie, Alastair (Hgg.): Oulipo Compendium. Revised and Updated, London/Los Angeles: Atlas Press/Make Now Press 2005, 37-44, 38-39 [Herv. i. O.]. 11 | Mathews, Harry: »Contrainte«, in: Ders./Brotchie (Hgg.): Compendium, 131 [Herv. i. O.]. 12 | Vgl. etwa: »When an artist uses a conceptual form of art, it means that all of the planning and decisions are made beforehand and the execution is a perfunctory affair. The idea becomes a machine that makes the art«, LeWitt, Sol: »Paragraphs on Conceptual Art«, in: Alberro, Alexander/Stimson, Blake (Hgg.): conceptual art. a critical anthology, Cambridge, MA/London 1999, 12-16, 12; und »1. The artist may construct the work / 2. The work may be fabricated / 3. The work need not be built / Each being equal and consistent with the intent of the artist.« Weiner, Lawrence: o. T., in: De Vries, Gerd (Hg.): On Art. Artists’ Writing on the Changed Notion of Art After 1965 / Über Kunst. Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965, Köln 1974, 248. 13 | Vgl.: »La poésie est un art simple et tout d’exécution. Telle est la règle fondamentale qui gouverne les activités tant créatrices que critiques de l’OuLiPo.« Le Lionnais, François: »Le second Manifeste«, in: Oulipo: La littérature potentielle (Créations Re-créations Récréations), Paris: Gallimard 1973, 19-23,

319

320

B ERNHARD M ETZ »Toute œuvre littéraire se construit à partir d’une inspiration (c’est du moins ce que son auteur laisse entendre) qui est tenue à s’accommoder tant bien que mal d’une série de contraintes et de procédures qui rentrent les unes dans les autres comme des poupées russes. Contraintes du vocabulaire et de la grammaire, contraintes des règles du roman (division en chapitres, etc.) ou de la tragédie classique (règle des trois unités), contraintes de la versification générale, contraintes des formes fixes (comme dans le cas du rondeau ou du sonnet), etc. […] Ce que certains écrivains ont introduit dans leur manière, avec talent (voire avec génie) mais les uns occasionnellement (forgeages de mots nouveaux), d’autres avec prédilection (contrerimes), d’autres avec insistance mais dans une seule direction (lettrisme), l’Ouvroir de Littérature Potentielle (OuLiPo) entend le faire systématiquement et scientifiquement […].« 14

Dabei sind einige der oulipotischen Methoden bzw. Restriktionsverfahren wiederum solche, die auf der Veränderung, Aneigung oder eben Appropriation anderer Texte beruhen, bspw. das S+7-Verfahren: Ein bestehender Text wird dergestalt verändert, dass alle Substantive durch diejenigen Substantive ersetzt werden, die sich in einem gegebenen Wörterbuch sieben Stellen weiter hinten befinden.15 Beim »Chimère« genannten Ersetzungsverfahren (in der griechischen Mythologie ist die Chimaira ein Mischwesen mit Ziegenkopf auf einem Löwenkörper mit Schlangenschwanz) werden bei einem bestehenden Text die Substantive durch solche aus einem anderen Text, die Verben aus einem weiteren und die Adjektive aus einem dritten vertauscht; ein von Harry Matthews auf Grundlage von T. S. Eliots Waste Land kreiertes Beispiel von erstaunlich hoher Qualität16 wäre:

19; wieder in: Bénabou, Marcel/Fournel, Paul (Hgg.): Anthologie de l’OuLiPo, Paris: Gallimard 2009, 792-797, 792. 14 | Le Lionnais, François: »La Lipo«, in: Dossiers du Collège de ‘Pataphysique 17 (1961) [22 sable 89 EP], 7-10; wieder als »La LiPo (Le premier Manifeste)«, in: Oulipo: La littérature potentielle, 15-18, 16-17, wieder in: Bénabou/Fournel (Hgg.): Anthologie, 787-791, 788-789. 15 | Vgl. Oulipo: »S+7«, in: Dass.: Atlas de littérature potentielle, Paris: Gallimard 1981, 166-170; vgl. Bénabou/Fournel (Hgg.), Anthologie, 511-528. 16 | Vgl. Queneaus Kommentar zu seiner ›Haikuisierung‹ von Mallarmés Le vierge, das er unter dem Motto »La redondance chez Mallarmé« auf die reimenden Wörter reduziert: »Quel intérêt? Primo, j’obtiens un nouveau poème qui, ma foi, n’est pas mal et il ne faut jamais se plaindre si l’on vous offre de beaux poèmes. […] Tous les poèmes ne sont pas haï-kaïsables, c’est-à-dire tout poème ne se laisse pas traiter – ou maltraiter ainsi.« Queneau, Raymond: »Littérature potentielle« [1964], in: Ders.: Batôns, chiffres et lettres. Édition revue et augmentée, Paris: Gallimard 1965, 317-345, 336-337.

THE KITE IS NOTHING WITHOUT THE STRING »Given the subject text: April is the cruellest month; Claude G. Bowers, My Mission To Spain provides the nouns June and credentials; Lewis Caroll’s Symbolic Logic, Book I the verb contain; Kingsley Amis’s Lucky Jim the adjective silly; the chimera reads: June contains the silliest credentials.«17

Textappropriationen sind für OuLiPo zentral, so wenn Perec in »35 Variations sur un thème de Marcel Proust« in Anlehnung an Queneaus Exercices de Style den ersten Satz von Prousts Recherche (»Longtemps je me suis couché de bonne heure«) alphabetisch reorganisiert (»B CC D EEEEEEEE G HH I J MM NNN OOO P R SSS T UUU«), ana- und lipogrammatisiert, negiert oder vielfach permutiert, invertiert und verändert.18 Queneaus Les fondements de la littérature d’après David Hilbert appropriert Hilberts Grundlagen der Geometrie, indem alle ›points‹, ›droites‹ und ›plans‹ jeweils durch ›mots‹, ›phrases‹ und ›paragraphes‹ ersetzt werden und das Resultat mit Kommentaren und Scholien versehen wird, nicht ohne wiederum in Paul Brafforts Le désir (les désirs) dans l’ordre des amours wenig später selbst appropriiert zu werden.19 Oder es kommt zu direkten Übernahmen von anderen Stilen oder gleich Texten, so wenn Perec Les Choses als Flaubert-Pastiche schreibt oder Un homme qui dort, seine Réécriture bzw. sein Remake von Melvilles Bartleby, als Cento anlegt.20 Dieser Text besteht (vermutlich) ausschließlich aus literarischen Zitaten bzw. Übersetzungszitaten, hauptsächlich von Kafka und Melville, auch der Titel ist ein Proust-Zitat. Perec äußerte zu seinem Remake später:

17 | Mathews, Harry: »Chimera«, in: Ders./Brotchie (Hgg.): Com pendium, 124-125, 124. 18 | Perec, Georges: »35 variations à partir de Marcel Proust«, in: Ders.: »Qu’est-ce que la littérature potentielle?«, in: Magazine Littéraire 94 (1974), 22-23, wieder als »35 Variations sur un thème de Marcel Proust« in der Bibliothèque Oulipienne mit einer englisch- (»35 Variations on a theme from Shakespeare«) und deutschsprachigen Variante (»35 Variationen auf ein Stammtischthema von Goethe«) auf Grundlage von »To be or not to be, that is the question« sowie »Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan« in: Perec, Georges/Mathews, Harry/Pastior, Oskar: Variations, Variations, Variationen, Paris: OuLiPo 1997, 5-9. Als fünfsprachige Ausgabe zusätzlich mit »35 Variazoni supra uno themo [sic] di Giosuè Carducci« (»T’amo, pio bove!«) sowie »35 Variaciones sobre un téma de Leopoldo Alas ›Clarín‹« (»La heroica ciudad dormía la siesta«): Perec, George et al.: 35 Variations, Bègles: Castor Astral 2000. 19 | Queneau, Raymond: Les fondements de la littérature d’après David Hilbert, Paris: OuLiPo 1976; vgl. Hilbert, David: Les fondements de la géométrie, Paris: Dunod 1971; Braffort, Paul: Le désir (les désirs) dans l’ordre des amours, Paris: OuLiPo 1982. 20 | Perec, Georges: Les Choses. Une histoire des années soixante, Paris: Julliard 1965; ders.: Un homme qui dort, Paris: Denoël 1967.

321

322

B ERNHARD M ETZ » C’est un procédé qui me séduit beaucoup, avec lequel j’ai envie de jouer. En tout cas, cela m’a beaucoup aidé; à un certain moment, j’étais complètement perdu et le fait de choisir un modèle de cette sorte, d’introduire dans mon sujet comme des greffons, m’a permis de m’en sortir. […] Bien sûr, mon ambition n’est pas de réécrire le Quichotte, comme le Pierre Ménard de Borges, mais je voulais par exemple refaire la nouvelle de Melville que je préfère, Bartleby the Scrivener. C’est un texte que j’avais envie d’écrire: mais comme il est impossible d’écrire un texte qui existe déjà, j’avais envie de la réécrire, pas de le pasticher, mais de faire un autre, enfin le même Bartleby, mais un peu plus … comme si c’était moi qui l’avais fait. C’est une idée qui me semble précieuse sur le plan de la création littéraire, beaucoup plus prometteuse que ce simple fait du bien-écrire […] C’est la volonté de se situer dans une ligne qui prend en compte toute la littérature du passé. « 21

Perec versteckt in La Vie mode d’emploi je zehn Zitate von 20 Autoren von Rabelais bis Calvino und baut um diese herum die 99 Kapitel seines Textes auf.22 Calvino imitiert in Se una notte d’inverno un viaggiatore in jedem der zehn Romanpastiche-Anfänge ein anderes literarisches Genre, vom Agententhriller bis zum Kriminalroman, und ahmt keine Autoren oder Stile, sondern Romantypen nach.23 Das Neue ist oftmals nur das Alte; für OuLiPo gibt es keine Erfindungen, nur Auffindungen oder Entdeckungen, auf die niemand im Sinne eines Urheberrechts Anspruch hat. Le Lionnais schreibt am Ende des Zweiten Manifests: »On peut se demander ce qui arriverait si l’OuLiPo n’existait pas ou s’il disparaissait subitement. A court terme on pourrait le regretter. A terme plus long tout rentrerait dans l’ordre, l’humanité finissant par trouver, en tâtonnant, ce que l’OuLiPo s’efforce de promouvoir consciemment.«24 In Bezug auf poetische Verfahren und Methoden der Textgenerierung, die es häufig schon früher gegeben hat und für die OuLiPo die Kategorie des vorweggenommenen Plagiats eingeführt hat, heißt es ebenfalls dort zur »question du plagiat«:

21 | Bénabou, Marcel/Marcenac, Bruno: » Georges Perec s’explique: ›Le bonheur est un processus … on ne peut pas s’arrêter d’être heureux‹«, in: Les lettres françaises 1108 (1965), 14-15, 15. 22 | Perec, Georges: La Vie mode d’emploi. Romans, Paris: Hachette 1978; vgl. ders.: Cahiers des charges de ›La vie mode d’emploi‹, hg. v. Hans Hartje/Bernard Magné/Jacques Neefs, Paris: CNRS 1993. 23 | Calvino, Italo: Se una notte d’inverno un viaggiatore, Mailand: Einaudi 1979; vgl. Calvinos spätere Darstellung in ders.: »Il libro, i libri« [1984] in: Ders.: Saggi 1945-1985, hg. v. Mario Barenghi, Milano: Mondadori 2007, Bd. 2, 1846-1860, 1856-1857. 24 | Le Lionnais: »Le second Manifeste«, 23. Gleichwohl unterscheidet er zwischen zwei prinzipiellen Perspektiven auf Contraintes und mögliche Literatur, einer analytischen mit Blick auf literaturgeschichtliche Phänomene sowie einer synthetischen, die systematisch vorgeht und bislang nicht erkundete neue Möglichkeiten fokussiert: »La tendance analytique travaille sur les œuvres du passé pour y rechercher des possibilités qui dépassent souvent ce que les auteurs avaient soupçonné. […] La tendance synthétique est plus ambitieuse; elle constitue la vocation essentielle de l’OuLiPo. Il s’agit d’ouvrir de nouvelles voies inconnues de nos prédécesseurs.« Le Lionnais: »La LiPo (Le premier Manifeste)«, 17.

THE KITE IS NOTHING WITHOUT THE STRING »Il nous arrive parfois de découvrir qu’une structure que nous avions crue parfaitement inédite, avait déjà été découverte ou inventée dans le passé, parfois même dans un passé lointain. Nous nous faisons un devoir de reconnaître un tel état de choses en qualifiant les textes en cause de ›plagiats par anticipation‹. Ainsi justice est ren due et chacun reçoit-il selon ses mérites.« 25

Zumindest bei OuLiPo liegen Appropriation und Contrainte eng beisammen; hinzu kommt, dass es Kopplungen von Contraintes gibt, also kein Grund besteht, einen Text durch Anwendung nur einer einzigen zu gestalten. Im Idealfall tritt die zum Schreiben eines Textes herangezogene Contrainte in den Hintergrund, sobald ein Text sein literarisches Eigenleben beginnt: Dass äußerst erfolgreiche Romane wie Perecs La Vie mode d’emploi, Calvinos Il castello dei destini incrociati und Se una notte d’inverno un viaggiatore oder Mathews’ Cigarettes Contraintes-Romane sind, ist den meisten ihrer Leser unbekannt.26 OuLiPo geht es auch um die Suche nach den glücklichen Regeln, die im besten Fall herausragende literarische Texte konstituieren, die ohne diese Regeln nicht hätten entstehen können, am Ende ohne ein Wissen um diese Regeln hervorragend funktionieren. Denn im Ideal- oder eben Glücksfall passen Contrainte und Text so gut zusammen, dass sie sich gegenseitig bedingen, es passen (bzw. passieren), um Oskar Pastior zu zitieren, »Spielregel und Glücksfall im Material so optimal, daß beide sich notwendig und möglich machen […][.] Denn ›im Glücksfall‹ stimmt ein Text. […] Das Risiko ist permanent die Chance. Es ist Spielregel des Materials wie Material der Spielregel.«27 Die Idee einer Korrelation von Appropriation und Contrainte wäre – unabhängig von Appropriationen und Appropriation Art – ausweitbar über Künstlerbücher oder Literatur hinaus auf andere Bereiche, was bspw. die 1980 gegründete OuPeinPo (Ouvroir de Peinture Potentielle), OuCinePo (Ouvroir de Cinématographie Potentielle) oder OuMuPo (Ouvroir de Musique Potentielle) zeigen, oder Matthew Barneys Drawing Restraint-Zyklus.28 Zu fragen ist, ob es Appropriationen ohne Restriktionen, Regeln oder Contraintes überhaupt geben kann und ob hier nicht eine notwendige Verbindung besteht. Diskutiert werden soll dies an zwei Beispielen, die mit OuLiPo nichts zu tun haben: Walter Abishs 99: The New Meaning und Tom Phillips’ A Humument. Abishs 99 steht dabei für die Textappropriation, die frei25 | Le Lionnais: »Le second Manifeste«, 23; vgl. Bayard, Pierre: Le plagiat par anticipation, Paris: Minuit 2009, 21-29. 26 | Calvino, Italo: Il castello dei destini incrociati, Turin: Einaudi 1973; vgl. ders.: »Le Château des destins croisés«, in: Oulipo: Atlas de littérature potentielle, 382-386; Mathews, Harry: Cigarettes, Normal, Ill.: Dalkey Archive Press 1987. 27 | Pastior, Oskar: »Spielregel, Wildwuchs, Translation«, in: Ritte, Jürgen/Hartje, Hans (Hgg.): OULIPO. Affensprache, Spielmaschinen und allgemeine Regelwerke, Berlin: Edition Plasma 1996, 73-81, 76-77 [Herv. i. O]. 28 | Vgl. Barney, Matthew: Prayer Sheet with the Wound and the Nail. 12. Juni bis 3. Oktober 2010 Schaulager Basel, Basel: Schwabe 2010.

323

324

B ERNHARD M ETZ

ere und eher linguistisch orientierte Übernahme und Appropriation von Material, Phillips’ A Humument für die bibliografisch-materiale Buchappropriation. Beide Verfahren demonstrieren, wie Appropriation und Contrainte, freie Aneignung und unfreie Verhaftung ans Appropriierte, zusammenhängen.

TEXTAPPROPRIATION : 99: THE N EW M EANING VON WALTER A BISH Walter Abish gehörte zwar nie zu OuLiPo, verfasste aber etliche Texte, die in der oulipotischen Tradition stehen.29 »99: The New Meaning« ist Teil einer gleichnamigen Buchpublikation, die aus fünf kürzeren Texten anderer besteht, die zuvor in Zeitschriften veröffentlicht wurden (»What Else«, »Inside Out«, »Skin Deep«, »Reading Kafka in German« und »99: The New Meaning«). Abish kommentiert einleitend die Sammlung: »These works were undertaken in a playful spirit– not actually ›written‹ but orchestrated. […] In using selected segments of published texts authored by others as the exclusive ›ready made‹ material for these five ›explorations‹, I wanted to probe certain familiar emotional configurations afresh, and arrive at an emotional content that is not mine by design.«30 Abish führt aus, was (auch in der Wahl der Autoren) an Perec erinnert: »The titlepiece, ›99: The New Meaning‹, consisting of no less than 99 segments by as many authors, each line, sentence or paragraph appropriated from a page bearing that same, to me, mystically significant number 99, and the European pseudo-autobiography, ›What Else‹, obtained from 50 selfportraits, journals, diaries, and collected letters, ineluctably led to the subsequent fictional probes on Flaubert and Kafka. […] I have omitted the names of the 18th, 19th and 20th century sources from which the segments were obtained, not wishing to add to or distract from the newly synthesized texts. In each case, the challenge was to generate a self-contained work that advanced a picture, especially one not inimical to the one I have of these two major literary figures, Flaubert and Kafka.« 31

29 | Zumindest wird Abish im Oulipo Compendium mit dem ersten Eintrag geehrt, wo es heißt: »An American writer born in Vienna, Abish has published eight books, three of them novels, of which the first, Alphabetical Africa, is one of the most remarkable Oulipian works by an author not belonging to the group.« Mathews, Harry: »Abish, Walter«, in: Ders./Brotchie (Hgg.): Compendium, 45. Abishs Alphabetical Africa ist ein aus 52 Kapiteln auf 152 Seiten bestehender Roman mit vielen Roussel-Bezügen, dessen erstes Kapitel (»Ages ago«) nur Wörter enthält, die mit A/a beginnen, das zweite (»Before African Adjournment«) nur solche, die mit A/a oder B/b einsetzen, bis im 26. und 27. Kapitel Wörter anzutreffen sind, die mit allen Buchstaben des Alphabets beginnen. Anschließend wird der Buchstabenbestand wieder kontinuierlich reduziert, so dass das letzte Kapitel (»Another Abbreviation«) wieder nur Wörter mit A/a enthält. Vgl. Abish, Walter: Alphabetical Africa, New York: New Directions 1974. 30 | Abish, Walter: 99: The New Meaning, Providence: Burning Deck 1990, 9. 31 | Ebd., 9-10.

THE KITE IS NOTHING WITHOUT THE STRING

Abishs Buch weist Parallelen zu Perecs Les Choses und Un homme qui dort auf, sein Verfahren ist aber weit radikaler, die Contrainte zumindest für den titelgebenden Text viel rigoroser: »99: The New Meaning« besteht aus 99 nichtmarkierten und nicht ausgewiesenen Zitaten von 99 Autoren aus 99 Buchpublikationen, die dort jeweils auf Seite 99 gedruckt waren.32 Es handelt sich dabei nicht nur um Texte literarischer Autoren, sondern bspw. auch um solche von Roland Barthes, Walter Benjamin, Noam Chomsky oder Paul Klee. Auffällig ist dabei, dass Abish den Textblöcken immer noch die Wortanzahl der appropriierten Textteile voranstellt, was auf ihre Reihenfolge keinen Einfluss zu haben scheint; der kürzeste Text weist zwei Worte auf: »2 [/] You’re a …?«33 und ist aufgrund dieser Kürze wohl nie sicher korrekt einer Quelle zuzuweisen. Insgesamt besteht 99 bei 110 Seiten aus 301 (30 + 20 + 79 + 73 + 99) Partien Fremdmaterial. Für die Textauswahl auf den jeweiligen Seiten scheint sich Abish keine weitere Contrainte auferlegt zu haben – vielleicht mit Ausnahme davon, dass er vollständige Sätze zitiert, also nichts verwendet hat, was auf den Seiten 98 oder 100 stand.34 Das Ergebnis ist erstaunlich; es mit einem Cento zu tun zu haben, ist aus dem Kontext und der typografischen Einrichtung heraus offensichtlich, nicht aber unmittelbar evident, wenn man sich dem Text unbefangen nähert: »99: The New Meaning« ist sicherlich schwierig zu lesen, aber nicht unbedingt als Konglomerat aus 99 appropriierten Textteilen zu erkennen. Gemeinsam ist den Zitaten häufig ein Ich-Erzähler, störend wirken sich viele unterschiedliche Eigennamen aus, die eine konsistente Lektüre erschweren, die einzelnen Segmente werden nicht zusammengerückt.35 Im Vergleich bspw. zu stärker aleatorisch arbeitenden Texten wie William Burroughs’ Cut up-Romanen ist vieles gleichwohl leicht verständlich und plausibel. Im Resultat ist »99: The New Meaning« ein (teilweise) erotisch unterminierter Text, der durch Partien aus Texten wie J. G. Ballards Crash, Burroughs’ The Ticket that exploded oder John Cheevers Falconer und anderen (sonst unverfänglichen) Texten leicht sexualisiert wird (allerdings wären auf den jeweiligen Seiten dieser Texte weitaus drastischere Passagen zu finden gewesen). Viele der Partien kommentieren sich

32 | Die relativ strikte Vorgabe, nur Material zu verwenden, dass auf einer Seite 99 zu finden ist, markiert nicht zuletzt einen Unterschied bspw. zu Kosuth, Joseph: Purloined. A Novel, Köln: Salon Verlag 2000. Die dort neu arrangierten 120 Seiten aus 48 Texten sind ohne eine weitere Contrainte (mit Ausnahme ihrer Nähe zum Genre der Detektivgeschichte) frei ausgewählt worden – Purloined ist allerdings näher am Verfahren der Buchappropriation als Abishs Zitatmontage. Auch mein Wissen um Kosuth verdanke ich Annette Gilbert. 33 | Abish: 99, 40. 34 | Zu »What Else« wird ursprünglich angegeben: »My method was to scan an author’s text until a passage or a line I could use hit my eye.« Abish, Walter: »What Else«, in: Conjunctions 1 (1981), 105119, 105. 35 | Vgl. »Juan liked to tell her stories with a certain artistic disorder […]«, Abish: 99, 96.

325

326

B ERNHARD M ETZ

bzw. Abishs Verfahren dabei wechselweise, was die folgende Reihung zeigen kann, die sich auf Seite 99 von 99 befindet: »28 July 11? 12? 1862–sinking deeper and deeper into sexual deliriums–obsessed by fantasies of hanging and death in orgasms–Once in India I saw a man hanged. 6 Sarah laughed. You’re making it up. 31 Marianne. Evidently … it’s funny in French … in the end, words often mean the opposite to what they are supposed to mean. We say ›evident‹ about things that aren’t evident at all.« 36

»99: The New Meaning« ist nicht zuletzt ein Text über das Erzählen (oder über das Zitieren) und darüber, dass ohnehin längst alles gesagt (oder zitiert) wurde. Konsequent heißt es: »43 [/] Everything that can be said has been said many times. I have no new observations to make«37 – was als Zitat natürlich noch evidenter wirkt. Oder der zweite Text der Sammlung »Inside Out« schließt mit einem Textsegment aus der englischen Übersetzung von Roland Barthes’ Le plaisir du texte: »31 [/] The more a story is told in a proper well-spoken straightforward way, in an even tone, the easier it is to reverse it, to blacken it, to read it inside out.«38 Dass unter den appropriierten Texten die eigenen nicht fehlen dürfen, versteht sich von selbst, allerdings verwendet Abish einen seiner theoretischen Texte, der die Frage »Why write?« aufwirft.39 Abishs Aussage zur Wortanzahl des Quellentextes ist zumindest doppeldeutig, wenn er schreibt: »The numbers above each segment of the five literary probes indicate the total of ›appropriated‹ words from each independent source.«40 Denn nicht in allen Fällen stimmen die Angaben mit den tatsächlichen Zahlen überein, allein in »99: The New Meaning« gibt es fünf Abweichungen, in den anderen Teilen weitere. Will man Fehler bei der Auszählung, Erfassung oder Drucklegung des Textes41 ausschließen, wäre hier vielleicht ein Hinweis auf die Reihenfolge der Textteile 36 | Ebd., 99. Vgl. Burroughs, William: The Ticket that exploded, New York: Grove Press 1967, 99; Friedman, B. H.: Museum. A Novel, New York: Fiction Collective 1974, 99; Godard, Jean-Luc: Pierrot le fou. A Film, übs. v. Peter Whitehead, New York: Simon & Schuster 1969, 99. 37 | Abish: 99, 105. 38 | Ebd., 45. 39 | Abish, Walter: »The Writer-To-Be: An Impression of Living«, in: Sub-Stance 9:2 (1980), 101-114. 40 | Abish: 99, 9. 41 | Was nicht unplausibel wäre, immerhin gibt es rätselhafte und unerklärliche Umbrüche auf den Seiten 63, 102, 109, falsche Zeichensetzung u.a. auf Seite 57, fehlende Worttrennung auf den Seiten 43-44, 70-71 und vielfach Un genauig keiten bei Akzenten und Diakritika.

THE KITE IS NOTHING WITHOUT THE STRING

zu finden; u.U. würde sich ihre Auswahl und Anordnung ebenfalls einer Contrainte verdanken, die Abish nicht preisgibt.42

B UCHAPPROPRIATION : THE H UMUMENT. A TREATED VICTORIAN N OVEL VON TOM P HILLIPS Tom Phillips’ Humument, seit 1966 in Arbeit, ist eine buchkünstlerische Arbeit, die in den Jahren 1970 bis 1975 erstmals publiziert wurde, 1980 als Volksausgabe bei Thames & Hudson erschien und 1987, 1997 sowie 2005 wiederaufgelegt wurde. Die Ausgaben unterscheiden sich seitenweise stark voneinander.43 Ausgehend von Burroughs’ Cut up-Technik appropriiert The Humument ausschließlich einen Prätext, William Hurrel Mallocks A Human Document – entsprechend lautet der Untertitel A Treated Victorian Novel.44 Mallocks Roman wird durch verschiedene Verfahren wie Schwärzung, Weißung, Kolorierung bzw. Collagierung, indem Teile des Textes ausgeschnitten und an anderer Stelle wieder eingeklebt werden, zu etwas Neuem umgearbeitet. Phillips zufolge war die Auswahl des Prätextes durch eine einfache Regel oder eben Contrainte vorgegeben, nämlich das erste zusammenhängende Buch im Wert von drei Groschen, das er 1965 in einem Trödelladen in London auffinden konnte, zur Grundlage dieser Arbeit zu machen; Fortsetzungsromane oder Teile größerer Romane waren somit ausgeschlossen:

42 | Dies wäre aus Reihen (in »99: The New Meaning«) wie 59 – 15 – 16 – 13 – 10 – 51 – 9 – 4 – 5 – 29 – 33 – 48 – 62 [61] –27 – 16 – 7 – 49 [48] – 25 – 20 – 58 – 53 – 63 – 18 – 28 – 6 – 31 – 6 – 19 – 25 – 20 – 14 – 3 – 74 – 62 [61] – 53 – 69 – 19 – 52 – 13 – 17 – 7 – 37 – 24 – 24 – 16 – 56 – 73 – 75 – 25 – 63 – 51 – 29 – 18 – 11 – 9 – 56 [55] – 78 – 42 – 37 – 9 – 18 – 47 – 44 – 13 – 4 – 36 – 43 – 64 – 12 – 41 – 37 – 57 [55] – 29 – 56 – 25 – 19 – 23 – 43 – 43 – 3 – 18 – 10 – 9 – 17 – 8 – 27 – 7 – 47 – 11 – 31 – 18 – 73 – 43 – 4 – 35 – 39 – 8 – 7 zu erschließen. Die Korrekturen an fünf Textsegmenten durch Tilgung wären dann womöglich nötig geworden, um die entsprechenden Zitate in dieses Zahlensystem zu integrieren, das gleichzeitig die Auswahl aus einem größeren Textkorpus gesteuert haben könnte und vielleicht noch die Anordnung und relative Reihen folge der Textteile; so gibt es kein einziges Segment mit genau 99 Wörtern, was als Ausschlusskriterium herangezogen worden sein mag, die Zitate sind eher kurz, und Abish führt, was wegen der reflexiven Zitatnennung naheliegen würde, »No, but please don’t ever quote me.« aus Friedmans Museum bspw. nicht an. 43 | Phillips, Tom: A Humument. A Novel After W. H. Mallock, London: Tetrad Press 1970-1975; Ders.: A Humument. A Treated Victorian Novel, London: Thames & Hudson 42005; 31997; 21987 (1980). Der Einfachheit halber beziehe ich mich im folgenden ausschließlich auf die 1980 erschienene Handelsausgabe; warum die Verwendung von Volks ausgaben Vorteile aufweisen kann, wird im Folgenden klar hervortreten. Die Humument-Homepage dokumentiert dieses Work in progress, zu dem immer wieder neue Bearbeitungen hinzukommen, vgl. http://www.humument.com 44 | Mallock, William Hurrel: A Human Document. A Novel. New Edition, London: Chapman & Hall 1892.

327

328

B ERNHARD M ETZ »I made a rule; that the first (coherent) book that I could find for threepence (i.e.  1¼ new pence) would serve. […] I found, for exactly threepence, a copy of A Human Document by W. H. Mallock published by Chapman Hall Ltd. in 1892 as a popular one volume reprint of a successful three-decker: it was already in its seventh thousand at the time of the copy I acquired and cost originally three and sixpence. I had never heard of W. H. Mallock: it was fortunate for me that his stock had depreciated at the rate of a halfpenny a year to reach the desired threepenny level.« 45

Zwar neigen solche Entdeckungsgeschichten zu Mystifikation und Legendenbildung, aber Phillips ist seinem Verfahren insoweit treu geblieben, als er bis heute, d.h. annähernd 50 Jahre lang, an A Humument weitergearbeitet hat und eigenen Aussagen zufolge alle Versuche, mit anderen Büchern ähnliche Bookworks zu schaffen, nie einen vergleichbaren Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten ergaben. Eine zweite Regel lautet, nur Material aus diesem einen Buch zu verwenden und nichts anderes (Farbe oder Schreibmaschinenübertippungen sind allerdings anzutreffen), weswegen die Menge an verwendbaren und neu arrangierbaren Zeichen über den Zeichenbestand der 367 Seiten aufweisenden Originalausgabe erst einmal nicht hinausgehen kann. Phillips schreibt weiter: »However, for what were to become my purposes, his [sc. Mallock’s] book is a feast. I have never come across its equal in later and more conscious searchings. Its vocabulary is rich and lush and its range of reference and allusion large. I have so far extracted from it over six hundred texts, and have yet to find a situation, statement or thought which its words cannot comprehend or its phrases be adapted to cover. […] Thus painting (in acrylic gouache) became the basic technique, with some pages still executed in pen and ink only, some involving typing and some using collaged fragments from other parts of the book (since a rule had grown up that no extraneous material should be imported into the work).« 46

Zusätzlich zu den beiden Haupfiguren aus Mallocks Roman, Robert Greenville, einem Dichter-Philosophen und Finanzmanager, sowie Irma Schilizzi, einer unglücklich verheirateten Frau, der Greenville nachstellt, gesellt sich eine dritte Figur, Bill Toge. Dieser erscheint nur (bzw. notwendig immer, das wäre eine dritte Contrainte) auf Seiten, die in Mallocks Roman »altogether« oder »together« enthalten, weil »Toge« aus anderen Wörtern nicht gebildet werden kann.47 Toge ist daher häufig abwesend, verzehrt sich in Liebe nach Irma, die nichts mit ihm zu schaffen haben will, wird vor offenen Fenstern gezeigt und von den typografischen Gießbächen, den vertikalen Weißgebilden beeinflusst, die sich durch zu weite Abstände und Löcher zwischen Worten in der Zeile ergeben: Toges »amoeba-like ever-chan45 | Phillips, Tom: »Notes on A Humument«, in: Ders.: Works. Texts. To 1974, Stuttgart: Edition Hansjörg Mayer 1975, 215-218, 215. 46 | Ebd., 215-216. 47 | Vgl. ebd., 216-217.

THE KITE IS NOTHING WITHOUT THE STRING

ging shape is always constructed from the rivers in the type.«48 Mehr lässt sich über die Handlung des Humument kaum sagen, da es sich immer noch verwandelt und bei jeder Neuedition ca. 50 Seiten verändert werden, wobei die Seiten immer für sich stehen und isoliert gelesen werden können und die ursprüngliche Linearität von Mallocks Roman aufsprengen. Phillips verbindet Zeichen und Zeichengruppen, die bei Mallock nichts miteinander zu tun haben, und schreibt dem Vorgängertext dadurch in parodistischer Manier witzige, konträre, obszöne, banale Nebenbedeutungen ein, die der Prätext längst enthält, so wie im »glove«, im Handschuh, immer auch die Liebe, »love«, steckt. Mallock wäre sicher erstaunt darüber gewesen zu sehen, was er selbst geschrieben hatte, was aber erst durch Tilgung und Verdeckung von über 90 % des ursprünglichen Materials überhaupt sichtbar wird. Dabei verbinden häufig die Gießbäche die sichtbar gemachten Partien, produzieren Kombinationen, die sich bei der Drucklegung des Textes durch zufällige, vom Setzer vorgenommene Positionierungen und Trennungen ergaben: »The only means used to link words and phrases are the rivers in the type of the original: these, if occasionally tortuous, run generously enough and allow the extracted writing to have some flow so that it does not become (except where this is desirable) a series of staccato bursts of words.«49 In gewisser Weise hätte die schwer zu überprüfende Contrainte, wonach der erste vollständige Dreigroschenroman die Grundlage des späteren Buchwerks bilden sollte, in diesem einen Fall (zufällig)50 einen Prätext ausgewählt, der auch thematisch überaus gut passt, schließlich wird in einer Herausgeberfiktion in Mallocks Roman von einem unvermuteten Manuskriptfund erzählt. William H. Gass sprach in diesem Zusammenhang von der »happiest of coincidental ironies«51. Mallocks Human Document ist auch insofern ein besonders dankbarer Appropriationstext, da der Roman mit einem Satz beginnt, wie ihn Phillips sich besser kaum hätte ausdenken können: »The following work, though it has the form of a novel, yet for certain singular reasons hardly deserves the name.«52 Zur glücklichen Regel bzw. Auffindung des richtigen Textes zählt Phillips’ Erkenntnis, als er nach jahrelanger Suche die dreibändige Erstausgabe von Mallocks Roman in Händen hielt, dass die typografische Einrichtung der von ihm bislang 48 | Ebd., 217. 49 | Ebd., 216. 50 | So wendete Phillips einige aleatorische Verfahren an, die u.a zum Titel Humument führten: »Occasionally chance procedures have been used. […] The title itself was arrived at through a chance phenomenon: folding one page over and flattening it on the page beneath makes the running title read A HUMUMENT, i.e. A HUM(AN DOC)UMENT.« Ebd. 51 | Gass, William H.: »Tom Phillips: A Humument: A Treated Victorian Novel, 1973«, in: Art Forum 35 (1996), 80-81, wieder unter: http://www.humument.com/essays/gass.html vom 20.12.2011. 52 | Mallock: Human Document, 1; allerdings zeigt dies keine der A Humument-Ausgaben, weil der Beginn immer überarbeitet wurde.

329

330

B ERNHARD M ETZ

verwendeten einbändigen Volksausgabe etliche Vorteile aufwies, ohne die seine Appropriation gar nicht so glücklich hätte verlaufen können: »The recent find of the original three-decker first printing has been somewhat of a disappointment. Its letters are big and, with its broad type-rivers and wide spacings it lacks the tight look of the single volume. Each word seems to have fewer neighbours.«53 Die dreibändige Erstausgabe ist mit 277 + 291 + 303 Seiten erheblich umfangreicher als die einbändige Volksausgabe mit nur 367 Seiten, derer sich Phillips bediente.54 Kurzum, was A Humument zeigen kann, wenn man das Thema Appropriation aus der Perspektive von (freiwillig gewählten) Contraintes untersucht, ist Folgendes: Aufgrund einer einfachen Regel wurde ein zu appropriierender Text ausgewählt, der (hier könnte man von Pastiors Glückensbedingungen sprechen) perfekt passte; hinzu kamen weitere Beschränkungen wie etwa die Entscheidung, lediglich Material aus diesem einen Buch zu verwenden und sich nicht vorschnell einem anderen zuzuwenden, bevor nicht seine Möglichkeiten ausgeschöpft waren.55 Die Qualität von A Humument besteht vielleicht gerade darin, Beschränkungen anzuerkennen und sich mit dem, was der appropriierte Prätext enthält, genau und minutiös auseinanderzusetzen, also eine spezifische Form von Materialgerechtigkeit und Werktreue (wenn man so von einem appropriierten Text sprechen kann) zu wahren.

53 | Phillips, Tom: »Notes on A Humument«, in: Ders.: Works and Texts. With an Introduction by Huston Pascal, London: Thames & Hudson 1992, 255-260, 259, wieder in: Rothenberg, Jerome/Clay, Steven (Hgg.): A Book of the Book. Some Works & Projects About the Book & Writing, New York: Granary Books 2000, 423-430, 428. 54 | Mallock, William Hurrel: A Human Document. A Novel. In Three Volumes, London: Chapman & Hall 1892; die dreibändige Ausgabe ist (auch durch den Reprint New York: Garland 1976) relativ gut greifbar, die einbändige New Edition freilich nicht. Allerdings liegt das Exemplar der Stanford University Library (823.6 .M25HU) über The Internet Archive bzw. GoogleBooks digitalisiert vor und kann bequem konsultiert werden (http://www.archive.org/details/ahumandocumenta00mallgoog), gleichfalls die dreibändige Erstausgabe nach verschiedenen Exemplaren. 55 | Es gibt weitere Kunstwerke, in denen Phillips Mallocks Text verarbeitete, Kunstgloben, ein Opernlibretto und diverse andere Bilderzyklen, vgl. Phillips: Works. Texts, 1975 und ders.: Works and Texts, 1992.

Appropriiertes Übersetzen Neu(an)ordnungen des Materials in Morris’ Re-Writing Freud und beaulieus Flatland Janet Boatin

Die Appropriation von Büchern in Büchern ist für literaturwissenschaftliche Fragestellungen ein erst zu expedierender Gegenstand. Warum sollte man sich mit den Erzeugnissen der Conceptual Writers, selbsternannt nichtkreativer Autoren, beschäftigen? Warum die baugleiche Kopie mit derselben Aufmerksamkeit bedenken, die dem zumeist kanonischen Original über einen langen Rezeptionsweg zuteil wurde? Was also soll das Appropriieren von Büchern dem Leser, sei er nun interessierter Laie oder Literaturwissenschaftler, zeigen, was sie/er nicht längst schon weiß? Indem literarische Appropriationen dezidiert keine neuen Texte produzieren, erinnern sie uns als ideale Versuchs- und Anschauungsobjekte an die elementare Frage: was und ab wann ist etwas ein Buch? Indem sie Unkreativität als kreative Praxis vorführen1, wird ein zentrales Konzept zur Diskussion gestellt, das sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts nicht nur als Kriterium für die rechtliche Stabilisierung des Systems Kunst durchgesetzt hat, sondern auch ideell bei der Wertung eines ›authentischen‹ Artefakts wirkt: Originalität. Indem schließlich appropriierendes Kopieren den Fokus auf materielle Details lenkt, etwa auf kleinste Änderungen in Schriftbild oder das Impressum, wird eine anspruchsvolle Rezeptionshaltung eingefordert: ein Close Reading mit Lupe. Jede literarische Appropriation setzt wiederum die Marke, geistiges Eigentum zu sein, und begründet mindestens eine neue Geschichte; sie hat aber auch eine. Historische Vorläufer des in den letzten Jahren insbesondere im angelsächsischen Raum zunehmenden Phänomens sind moderne Avantgardepositionen in der bildenden Kunst der 1910er Jahre, wie Duchamps Readymades oder Man Rays fotografische

1 | Vgl. Perloff, Marjorie: Unoriginal Genius. Poetry by other Means in the New Century, Chicago: University of Chicago Press 2010.

332

J ANET B OATIN

Objekte, und der 60er Jahre, wie Andy Warhols Warenkunst oder Performances im Fluxus. So nahe es liegt, altbekannte (poststrukturalistische) Gewährsmänner wie Benjamin, Barthes und Debord als theoretische Bezugsgrößen zu zitieren2, gründet appropriative Konzeptliteratur auf einer basalen (vormodernen) Operation: dem dynamischen Deuten und Wiederdeuten literarischer Texte und ihrer Sinngehalte. Sie steht somit sowohl im Zeichen Echos als auch Hermes’. Dem griechischen Verb »hermenéuein« wohnt neben dem Erklären auch die Konnotation »übersetzen« inne.3 Das Kopieren von Büchern ist nichts Anderes als eine über Formzitate und Textstrategien verfolgte Übersetzung eines Artefakts in die Gegenwart. Dass literarische Appropriationen Übersetzungen sind, wenn auch nicht immer so variationsreich an das Wortfeld und die Gebrauchsformen der Translation4 anschlussfähige, soll im Folgenden an zwei Beispieltexten illustriert werden. Bei den ausgesuchten Konzeptbüchern handelt es sich um Simon Morris’ Re-Writing Freud und derek beaulieus Flatland. a romance in many dimensions. Beide Appropriationen basieren auf spezifischen Übersetzungspraktiken, beide sind im Verlag information as material erschienen, beide nicht mühelos zu ›lesen‹. Das Buch des Erstgenannten eignet sich einen wissenschaftlichen Fachtext an, der sich zeitgenössisch fiktionalitätseigener Strategien bediente, um Wissenschaftsdenken paradigmatisch zu reformieren, das des Letztgenannten einen fiktionalen Originaltext, der mit populärwissenschaftlichem Anspruch auftrat, um die Gesellschaft seiner Zeit zu reformieren. Morris und beaulieu erschaffen in ihren kreativen Arbeiten mit starker Signatur im wahrsten Wortverstand Science Fiction.

FREUD MIT L ACAN . S IMON M ORRIS ’ Ü BERSETZEN IN R E -WRITING FREUD 2002 gründete Simon Morris den in York ansässigen Verlag information as material als unabhängiges Imprint für konzeptuelle Publikationen, Ausstellungsformate, Lesungen und webbasierte Projekte, die durch künstlerische Arbeit am Material Systematiken von Wissensbeständen durcheinanderzubringen beabsichtigen. Unter den von iam repräsentierten Künstlern sind es immer wieder Kenneth Goldsmith und Craig Dworkin, die über paratextuelle Kommentare und editorische Beiträge als Theoretiker in Erscheinung treten. In der 2011 erschienenen Anthologie Against

2 | Vgl. Pichler, Michalis: »Statements on Appropriation/Statements zur Appropriation«, in: Fillip 11 (2010), 44-47. Wiederabgedruckt im vorliegenden Band, 27-30. 3 | Vgl. Gordin, Jean: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt: WBG 2001, 36-40. 4 | Vgl. Kades Explikation der Übersetzung als einer »Translation eines fixierten und demzufolge permanent dargebotenen bzw. beliebig oft wiederholbaren Textes der Ausgangssprache in einen jederzeit kontrollierbaren und wiederholt korrigierbaren Text der Zielsprache.« Kade, Otto: Zufall und Gesetzmäßigkeit in der Übersetzung, Leipzig: Verlag Enzyklopädie 1968, 35.

A PPROPRIIERTES Ü BERSETZEN

Expression5 stellen sie wichtige Thesen auf über unkreatives Konzeptschreiben und nichtoriginelle Autorschaft und insbesondere über deren Historizität. Dass der Computer dazu animiere, »to mimic its workings«6, unterscheide heutige ästhetische Replikate weder von den Arbeiten Dan Grahams, Sol LeWitts oder Sherrie Levines noch von Verfahren wie Cut up oder Sampling. Eine Zäsur zu appropriativen Formen, die sich in allen Künsten seit den 1960er Jahren etabliert haben, ist Goldsmith zufolge allein medienevolutionär begründbar. Computer-, zumal internetgestützte Medien würden ungeahnte Möglichkeiten für Schreibpraktiken eröffnen wie ein Cut up eines ganzen Buches in relativ kurzer Produktionszeit. Zugleich würden Digitalisate und die unermessliche Informationsfülle im Internet geradezu ein aktives Management durch Autoren erfordern, die sich einem neuen Ethos des Schreibens verpflichtet fühlten7: nichts Neues hinzuzufügen, sondern mit dem Bestehenden umzugehen. Diese nicht originalitätsnormativ, sondern ideengestalterisch ausgerichtete Ethik mache potentiell jeden zum Autor, schlussfolgert Dworkin, schließlich würden sich alle Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft derselben quantifizierbaren Datenmenge bedienen.8 Dennoch waltet auch in der Appropriationskunst die Kraft des Faktischen: »The point is not that anyone could do these works – of course they could – but rather that no one else has.«9 Appropriieren im 21. Jahrhundert dürfe sich demnach nicht im bloßen Wiederholen von Taktiken erschöpfen, sondern müsse mit originären Konzepten und konkret faktisch die Idee umsetzen, wie anders (textuelle) Welt sein könnte. 2005 erschien Simon Morris’ Re-Writing Freud, eine Appropriation von Sigmund Freuds Die Traumdeutung, an der der Psychiater von 1897 bis 1899 schrieb und die 1900 im S. Fischer Verlag veröffentlicht wurde. Morris’ Buch entstand in etwa drei Tagen. Der gesamte Wortbestand der englischen Übersetzung The Interpretation of Dreams wurde durch ein von Christine Morris geschriebenes Computerprogramm gelesen und in eine zufällige Reihenfolge gebracht. Das Resultat ist ein zwar lesbarer, doch in weiten Strecken sich grammatischen Regeln widersetzender und semantisch unsinniger Text, der eine fixierte Version des Freud’schen Quellcodes unter einer sehr großen Anzahl möglicher Versionen darstellt. Dass einer computergenerierten Textherstellung veränderte Vorstellungen von Lesen, Schreiben und mithin Autorschaft zugrundeliegen, machen bereits die Angaben auf der Haupttitelseite der Appropriation deutlich (Abb. 1). Sie wird vom Verlagsnamen in Majuskeln angeführt, mit einem Punkt davon abgesetzt folgen der 5 | Vgl. Dworkin, Craig/Goldsmith, Kenneth (Hgg.): Against Expression. An Anthology of Conceptual Writing, Evanston, Ill.: Northwestern University Press 2011. 6 | Goldsmith, Kenneth: »Why Conceptual Writing? Why Now? «, in: Ebd., xvii-xxii, xviii. 7 | Vgl. ebd., xxi. 8 | Vgl. Dworkin, Craig: »The Fate of Echo«, in: Ders./Goldsmith (Hgg.): Against Expression, xxiii-liv, xxxvi. 9 | Ebd., xxxix.

333

334

J ANET B OATIN

Abb. 1: Simon Morris: Re-Writing Freud, York: information as material 2005, Titelseite.

Werktitel in Kapitälchen und Simon Morris’ Name in Groß- und Kleinschrift. Durch einen weiteren Punkt, größeren Zeilenabstand und per Kursivierung wird schließlich ein eigener Absatz für die binnenhierarchisierte Nennung folgender Akteure markiert: »Translated by Lingo algorithm, / programmed by Christine Morris / Edited by Craig Dworkin.« Als Übersetzer wird zuerst das Programm vorgestellt, nur durch ein Komma von seiner Programmiererin und vom Herausgeber durch einen großen Anfangsbuchstaben getrennt. Im unteren Drittel der Seite befindet sich das kreisrunde blaue Signet der belgischen Künstlerbuchdruckerei Imschoot. Re-Writing Freud ist eine Komposition gleich mehrerer Translationen, Fassungen und Auflagen des Freud’schen Schlüsselwerks. Typografisch folgt Morris’ Appropriation einer 1976 bei Penguin erschienenen, von James Strachey besorgten Übersetzung des Originals ins Englische. Morris’ Buchdeckel kopiert das – deutliche Gebrauchsspuren aufweisende – Cover dieser an eine breitere Leserschaft gerichteten Paperbackausgabe, das ein um die Jahrhundertwende entstandenes Porträt Sigmund Freuds abbildet. Auch die Kapiteleinteilung und Länge der Paragraphen in Morris’ Buch richtet sich nach der 1976er Ausgabe. Das zur computer generierten Resyntagmisierung verwendete Textmaterial entstammt jedoch der insgesamt 223.704 Wörter umfassenden Übersetzung von A. A. Brill aus dem Jahre 1913, die sich auf die dritte überarbeitete Auflage von Freuds Traumdeutung bezieht. Aus Brills Übersetzung wurden darüber hinaus der Fußnotenapparat, drei Vorworte und zwei Bibliografien in das vom Lingo-Algorithmus neu zu sortierende Korpus integriert. Morris’ Text wird von einem editorischen Vorwort von Craig Dworkin eröffnet, welches das nicht allein kommentierende, sondern das insbesondere in Appropria-

A PPROPRIIERTES Ü BERSETZEN

tionen zutage tretende lektürelenkende Potential von Paratexten offenlegt. Dworkin erklärt die Varianz von Morris’ Quellen aus urheberrechtlicher Sicht, da der Text der Penguinausgabe »still under copyright« sei, »while Brill’s translation of the earlier edition has passed into the public domain.«10 Dieser pragmatisch-juridische Erklärungsansatz lenkt den Blick auf gegenwärtige Potentiale im Umgang mit rechtefreien, webbasierten Texten, die jedem zur freien Verfügung stehen, er entfernt ihn jedoch sogleich vom eigentlichen Prätext, schließlich könnte man die Entscheidung für ebenjene Übersetzung und mithin Auflage ohne Weiteres mit Freud selbst plausibilisieren. In seinem Vorwort zur dritten Auflage traute sich Freud nämlich die angesichts der mit variierenden Textfassungen operierenden Appropriation durchaus relevante Prognose zu, »nach welchen anderen Richtungen spätere Auflagen der Traumdeutung – falls sich ein Bedürfnis nach solchen ergeben würde – von der vorliegenden abweichen werden. Dieselben müßten […] einen engeren Anschluß an den reichen Stoff der Dichtung, des Mythus, des Sprachgebrauchs und der Folkore suchen«11. In Morris’ Re-Writing Freud vollzieht sich der durch Freuds Vorhersage projektierte »Anschluß«, nur auf entgegengesetztem Wege. Freuds Text selbst dient nun als »reiche[r] Stoff der Dichtung«. Zunächst stellt sich wie bei jeder Appropriation die Frage nach der Auswahl des Prätextes: Warum Freud, warum gerade Die Traumdeutung? Sie ist nicht nur der koketten Selbsteinschätzung ihres Autors zufolge, sondern auch aufgrund ihrer überaus erfolgreichen Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte als das zentrale methodologische Werk in die Annalen der Psychologie- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen. Freud positionierte sich mit seiner Studie gegen das seinerzeit hegemoniale szientifische Paradigma in der Psychologie, welches das Träumen als einen primär physiologischen Vorgang deutete. Zusammen mit seinem 1895 publizierten Entwurf einer Psychologie bildet Die Traumdeutung ein kohärentes Gegentheorem, das den Traum als Weg zum Unbewussten begreift. Wurden Träume vormals mithilfe von in Lexika festgelegten Sinnzuschreibungen ›entziffert‹, verwies Freud anhand von über 200 Patienten- und 43 eigenen Träumen darauf, dass latente Gedanken hinter Traumnarrativen durch die Zerlegung des Trauminhalts und freies Assoziieren in der Therapiesituation gedeutet werden könnten. Auf die hitzig debattierte Fundamentalfrage, was Träume sind, antwortete Sigmund Freud: »im Grunde nichts anderes als eine besondere Form unseres Denkens, die durch die Bedingungen des Schlafzustandes ermöglicht wird. Die Traumarbeit ist es, die diese

10 | Dworkin, Craig: »Editor’s Introduction. Grammar Degree Zero«, in: Morris, Simon: Re-Writing Freud, York: iam 2005, 11-18, 15. 11 | Freud, Sigmund: »Vorwort zur dritten Auflage«, in: Ders.: Die Traumdeutung. Freud-Studienausgabe, Frankfurt/M.: Fischer 1972, Bd. II, 24-25, 25.

335

336

J ANET B OATIN

Form herstellt, und sie allein ist das Wesentliche am Traum, die Erklärung seiner Besonderheit«.12 Die Traumdeutung ist mit vorliegender Appropriation nicht zum ersten Mal Gegenstand von Simon Morris’ Aneignungs- und Kopierlust geworden. Bereits 2003 hat der Konzeptkünstler mit 78 Studenten die Aktion The Royal Road to the Unconscious durchgeführt, die sich instruktiv an Ed Ruschas Royal Road Test (1967) anlehnte.13 Während Ruscha, am Lenker eines Buicks, Baujahr 1963, mit dem Schriftsteller Mason Williams und dem Fotografen Patrick Blackwell an Bord, mit hoher Geschwindigkeit auf einem verlassenen Highway 122 Meilen südwestlich von Las Vegas fuhr, warf Williams eine Schreibmaschine aus dem Fenster. Die im Künstlerbuch festgehaltenen Fotos bilden ironisch eine forensische Bestandsaufnahme der gewaltsamen Verteilung eines textverarbeitenden Geräts und seiner Typen vor uramerikanischer Kulisse ab. In Morris’ kollaborativer Aktion wurden 122 Meilen südwestlich von Freuds Wirkstätte in England Textschnipsel von jedem einzelnen Wort aus einer in der Dokumentation nicht näher bestimmten Ausgabe von Freuds The Interpretation of Dreams aus einem fahrenden Renault Clio geworfen. Dass es sich beim Fortbewegungsmittel um ein französisches Fabrikat handelt, ja selbst das Baujahr von Ruschas Buick, werden sich im Verlauf folgender Deutung von ReWriting Freud als Bedeutung tragende Details erweisen. Die Aktion wurde gefilmt, unter der Regie des Analytikers Howard Britton fotografisch festgehalten, im Freud Museum ausgestellt und zuletzt in einem von Pavel Büchler designten Buch publiziert.14 Morris formulierte damals sein Interesse an Freuds Traumdeutung wie folgt: »In dreams, objects can often appear the wrong size, words are disconnected from meaning and ideas can seem arbitrary and unrelated. Freud’s text explores these ideas but his writing adopts the opposite form. His words are highly considered, his sentences carefully structured and his arguments carefully crafted. What would happen if you subjected his entire random act of utter madness?« 15

Noch bevor Re-Writing Freud in einer 1.000er-Auflage als Buch auf den Markt kam, wurde im Frühjahr 2005 das Programm, welches das Freud’sche Werk neuanordnete, in einer Wanderausstellung öffentlich gemacht. Die Besucher in der von Yann Sérandour kuratierten Ausstellung Un art de lecteurs (Rennes) konnten über einen

12 | Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Über den Traum, Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud/ E. Bibrig/W. Hoffer, Frankfurt/M.: Fischer 92008, Bd. II/III, 510 [Herv.i.O.]. 13 | Vgl. Ruscha, Edward/Blackwell, Patrick/Williams, Mason: Royal Road Test, Los Angeles 1967. 14 | Vgl. die Dokumentation auf der Website des Freud Museums London: The Royal Road to the Unconscious, http://www.freud.org.uk/exhibitions/10522/the-royal-road-to-the-unconscious/ vom 20.11.2011. 15 | Ebd.

A PPROPRIIERTES Ü BERSETZEN

Touchscreen mit Play und Pause in die Arbeit des Computers eingreifen und über einen angeschlossenen Drucker die generierten Texte ausdrucken.16 Craig Dworkin setzt in seinem Vorwort zu Morris’ Buch »the cut-up method of Re-Writing Freud« mit Freuds eigenem Theorem der Traumarbeit in Bezug. Morris’ Konzeptwerk kopiere das methodische Vorgehen eines Analytikers, der den Patienten seinen Traum nacherzählen lässt und das Gesagte so zerlegt, dass der Patient assoziativ neue Bedeutungen freilegen kann17; so würden sich in Morris’ Buch sowohl der Leser seines Werks als auch die Sprache des Freud’schen Originals auf die analytische Couch legen. Dass sich an manchen Stellen in Re-Writing Freud trotz der zufälligen Verteilung plötzlich sinnhafte Verknüpfungen ergeben – beispielsweise die Kombination »covered Dichtung«18 anstelle der originären Kapitelüberschrift »The Relation of Dreams to Waking Life« –, zeuge nicht nur von einer »emancipation of syntax«19 hinter Morris’ appropriativem Verfahren, sondern vom Selbstzeugungs- und -erhaltungstrieb der Sprache selbst.20 Dworkins Lesart überdeckt allerdings den zentralen Aspekt in Morris’ Buch, der bereits im Titel anklingt: das (Wieder-)Schreiben. Während der Paradigmenwechsel, den Die Traumdeutung im zeitgenössischen Kontext einläutete, in einem neuen Umgang mit Träumen im Rahmen der therapeutischen Arbeit, also mündlicher Kommunikationspraktiken besteht, wirkt in Simon Morris’ Re-Writing Freud eben nicht die freie Assoziation, sondern ein Zufallsgenerator. Dieser trifft aus einer begrenzten Menge an Elementen Entscheidungen, und zwar mittels einer technisch bedingt berechenbaren Neutralität, die von menschlicher Assoziationskraft weit entfernt ist. Die Buchform von Morris’ Re-Writing Freud kopiert somit nicht Freuds tiefenpsychologische Methodik, die mit der Traumdeutung die Wissenschaftsgeschichte einschneidend verändern sollte. Das zugrundegelegte aleatorische Technikkonzept bringt vielmehr die psychoanalytische Methodik eines der prominentesten Freud-Interpreten in Anwendung: Jacques Lacans. Freuds englische Übersetzung wird in Morris’ Appropriation Re-Writing Freud, wie im Folgenden belegt werden soll, wiederum mit Lacan übersetzt. Jacques Lacan war es, der seine Theorie als konsequente Rückkehr zum Begründer Freud verstanden wissen wollte21 und, nachdem er im Streit aus der etablierten Société Psychanalytique de Paris ausgetreten war und zusammen mit Lagache 16 | Vgl. das Ausstellungsheft Un art de lecteurs unter http://www.rearsound.net/projets/2005/ lecteurs/unartdelecteurs.pdf sowie Bilder der Ausstellung auf Sérandours Homepage http://www. rearsound.net/html/index_news.htm vom 7.12.2011. 17 | Dworkin, Craig: »Editor’s Introduction«, 16. 18 | Morris: Re-Writing Freud, 33 [dt. i.O.]. 19 | Dworkin: »Editor’s Introduction«, 13. 20 | Ebd., 17. 21 | 1966 bekräftigte Lacan zum Beispiel in einem Interview, »daß alles, was ich geschrieben habe, gänzlich bestimmt ist durch das Werk Freuds. Das ist der erste Titel, auf den ich Anspruch erhebe:

337

338

J ANET B OATIN

und Dolto eine neue französische Gesellschaft für Psychoanalyse gegründet hatte, in seinen bis 1963 (dem Baujahr in Ruschas Performance) kontinuierlich abgehaltenen Seminar-Vorlesungen vehement die These vertrat: »L’inconscient est structuré comme un langage.«22 Das von Freud eingeführte Unbewusste sei wie, oder besser: als Sprache strukturiert, da es nur im Sprechen mit dem Anderen, in artikulierter Weise in Erscheinung treten könne. Somit sei das Unbewusste auch als rein formales Zeichensystem dechiffrierbar, wie Benveniste, Jakobson und Lévi-Strauss gezeigt hätten, in deren strukturaler Tradition Lacan sich verortete. Während Freud über die Funktionsweise des unbewussten Seelenlebens festgestellt hatte, dass alle vom Es geleiteten Gedanken und Handlungen dem Lustprinzip folgten und man in Träumen und Phantasien erkennen könne, wie der psychische Apparat arbeite: beispielsweise in Form der Darstellung a) mehrerer bildlicher Vorstellungen durch ein Element (Verdichtung) oder b) der Übertragung einer bildlichen Vorstellung auf eine assoziativ verknüpfte (Verschiebung), ersetzte Lacan diese Mechanismen des Unbewussten durch die linguistischen Begriffe a) Metapher und b) Metonymie, »um darauf hinzuweisen, daß damit sprachliche Vorgänge gemeint sind, keine psycho-logischen.«23 Darüber hinaus interessierte Lacan weniger Physiologisches im psychischen Apparat als das Verhältnis zwischen Subjekt und Gesellschaft. Er definierte das Subjekt als dezentriertes, das sich nur sprachlich konstituieren könne, sich jedoch einer nicht-individuellen Sprache bedienen müsse. In der Frühphase seiner Lehre setzte sich Lacan nicht nur mit den zeitgenössischen Strukturalisten, sondern auch mit den Untersuchungen des russischen Mathematikers Andrej Markov auseinander, der Anfang des 20. Jahrhunderts nach dem mathematischen Beweis für die Übergangswahrscheinlichkeit von aufeinanderfolgenden Buchstabenkombinationen suchte. Von 1913-1916 führte Markov am Beispiel von Puškins kanonischem Versroman Evgenij Onegin Berechnungen durch24, deren Ergebnisse als Theorie verketteter Zufallsgrößen über Fachgrenzen hinweg großen

ich bin der, der Freud gelesen hat«. Lacan zit. n. Braun, Christoph: Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin: Parodos 2 2008, 8. 22 | Lacan, Jacques: Le Séminaire Livre XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse, Paris : Seuil 1973, 137. Vgl. auch Lang, Hermann: Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973. 23 | Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk, Wien: Turia + Kant 1997, 74. 24 | Markov, Andrej: »Beispiel einer statistischen Untersuchung am Text ›Evgenij Onegin‹ zur Veranschaulichung der Zusammenhänge von Proben in Ketten«, in: Hilgers, Philipp von/Velminski, Wladimir (Hgg.): Andrej A. Markov. Berechenbare Künste. Mathematik, Poesie, Moderne, Zürich/Berlin: diaphanes 2007, 75-87.

A PPROPRIIERTES Ü BERSETZEN

Einfluss üben.25 Markov zerlegte das Wortmaterial in Puškins Roman in Vokale und Konsonanten. Ungeachtet aller Interpunktionszeichen und Spatien ordnete er »die ersten 20000 Buchstaben aus Evgenij Onegin in 200 Buchstabenblöcke mit jeweils 10 Zeilen und Spalten an. Markovs exegetische Sektion des Untersuchungsobjekts verdeutlicht, dass es dem Mathematiker um ein Modell geht, dem die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen Vokal und Konsonant zu entnehmen und somit auch auf Grund des vorhergehenden Buchstabens Aussagen über den nächsten Buchstaben zu treffen sind.« 26

Der Mathematiker erkannte aus der zeitlichen Ereignisfolge des literarischen Texts den wahrscheinlichkeitstheoretischen Mechanismus, ob ein Vokal oder Konsonant auf den vorherigen Buchstaben folgt. Der Deutungsweg von Freud zu Lacan über Markov zurück zu Morris gründet nicht nur auf der medientechnologischen Tatsache, dass sogenannte versteckte Markovketten bis heute als Grundrechenoperation im Computerwesen angewendet werden, sondern auf einem Zitat und einer Idee von Jacques Lacan, der in einer Vorlesung auf ein Gedankenexperiment zu sprechen kam. Wenn das Unbewusste wie ein Text verfasst sei und wenn in einem Entzifferungsspiel ein Mensch gegen eine Rechenmaschine anträte, »dann ist nicht undenkbar, dass eine moderne Rechenmaschine über alle gewohnten Proportionen hinaus im Spiel ›Grad oder Ungrad‹ gewänne, indem sie den Satz freigelegte, der ohne sein Wissen und auf lange Sicht die Wahlakte eines Objekts moduliert.«27 In anderen Worten ist Lacan zufolge nicht auszuschließen, dass eine Maschine das Unbewusste besser ›verstehen‹ und modellhaft simulieren könne als ein Mensch, eine Maschine das geeignetere Medium sei, um den Weg zum textuellen Es zu finden. Re-Writing Freud macht mit dem Einsatz von Lingo die Probe aufs Exempel: Eine Rechenmaschine legt die sozusagen im Originaltext unbewussten Sätze frei, die unabhängig von Wissen über das Unbewusste auf rein stochastischem Weg zustande kommen. Inhaltlich bleibt damit Die Traumdeutung in der psychoanalytischen Familie, das Meisternarrativ des Vaters wird in Morris’ Appropriation allerdings um die Ansichten des (französischen) Sohnes Lacan historisiert und dahingehend einer methodologischen Übersetzung unterzogen. Dass diese Übersetzungsleistung nicht überbietungsgestisch, sondern würdigend gegenüber der väterlichen 25 | Wie die Ergebnisse einer Schlagwortsuche zeigen, kommen Markovketten in disparaten Bereichen zur Anwendung. Vgl. beispielsweise Sommereder, Markus: Modellierung von Warteschlangensystemen mit Markov-Ketten. Grundlagen – Konzepte – Methoden, Saarbrücken: VDM-Verlag Müller 2008; Ullah, Mukhtar: Stochastic Modelling of Subcellular Biochemical Systems, Unveröff. Diss., Rostock 2009. 26 | Velminski, Wladimir: »Der Speck am Text. Die Entstehung der Genetik aus der Berechenbarkeit der Literatur«, in: Hilgers/Velminski: Andrej A. Markov, 101-126, 103. 27 | Lacan, Jacques: Das Seminar Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin: Quadriga 21991, 227.

339

340

J ANET B OATIN

Instanz gemeint ist, macht Re-Writing Freud direkt auf dem Cover deutlich. Wo auf der Vorlage das Logo vom weltweit größten Publikumsverlag für Sachbücher Penguin Books thront, prangt auf Morris’ Buchdeckel ein gedruckter Sticker mit einer orangefarbenen Comicfigur (vgl. Abb. 6 im Beitrag von Tobias Amslinger). Die Comicfigur überdeckt die originale Verlagssignatur und dreht dem Betrachter den Rücken zu, auf dem in großen Lettern »Big Daddy« steht. Das Spiel mit dem Kosename »Big Daddy« ist nur oberflächlich als respektlose verniedlichende Geste gegenüber der Autoritätsperson Freud zu verstehen, denn zum einen ist der Sticker in die Einbandgestaltung integriert, zum anderen wendet sich die Comicfigur ihrem Gegenstand zu. Bei genauem Hinsehen handelt es sich um eine Anspielung darauf, dass Freuds Traumdeutung selbst im Schatten einer imaginären Vaterfigur steht, der Autor selbst sein Werk, wie er im Prolog der zweiten Auflage formulierte, »als ein Stück [s]einer Selbstanalyse, als [s]eine Reaktion auf den Tod [s]eines Vaters, als auf das bedeutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes«28 geschrieben hat. Zusammengefasst stellt Re-Writing Freud somit ein mehrschichtiges Übersetzen aus: ein hermeneutisches Übersetzen im editions- (Kombination verschiedener Translationen und Auflagen), autorschafts- (kollaborative Arbeit), medien(hier liest und übersetzt eine Maschine) und schrifttheoretischen (gelesen wird eine Datenmenge mithilfe eines Codes) sowie methodologischen Sinne (Freud mit Lacan). Simon Morris’ appropriative Poetik arbeitet mit der Supplementierung einer ästhetischen Idee, seine Beschäftigung mit Freuds epochalem Werk verwirklicht sich als Arbeit in Fortsetzung. Morris’ verschiedene Freud-Appropriationen sind selbstständige, über spielerische Verweisungsstrukturen miteinander in Verbindung stehende Einzelwerke. Jedes Werk ist eine sich denselben Prätext aneignende und ihn rekontextualisierende Interpretation, jede Idee stammt von Morris. Ihre Umsetzung wird jedoch von einer Gruppe von Künstlern als eigenständigen Urhebern bewerkstelligt, die sowohl unterschiedliche Techniken des Dokumentierens (filmische, fotografische, buchgestalterische, kuratorische Dokumentation) als auch verschiedene Technologien in Anschlag bringen. Das jüngste technologische Supplement zu Re-Writing Freud ist ein von Christine Morris entwickeltes App für iPad oder iPhone, mit dem die Wortbausteine aus Freuds Text vom User selbst arrangiert werden können, mit höherer (taktiler) Eingriffsmöglichkeit als am ausgestellten Touchscreen 2005. Mit seiner Appropriation lotet Morris, selbst zugleich Künstler und Wissenschaftler, darüber hinaus das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft aus. Er rekurriert in seinen Werken häufig auf epistemologische Theorien, die nicht nur das akademische Denken seit dem 20. Jahrhundert einschneidend verändert haben. Auf die Frage nach dem Stellenwert von Theorie in seiner artistischen Praxis antwortete Morris 2007: 28 | Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe, 24.

A PPROPRIIERTES Ü BERSETZEN »The artist works to explode contradictions. He or she has a different relation to theory from that of the academic or the scientist. The artist is not trying to establish some law or rule based on reason. Quite the opposite, he or she explores the potential of the irrational…they celebrate the nonsensical.« 29

Das Programm, das Re-Writing Freud geschrieben hat, operiert mit Bravour auf diese irrationale, unsinnige Weise, indem Sprache als Datenmenge fernab jeglicher Semantik oder Wissensbestände behandelt wird. Auch in Statements von Morris, wonach er »philosophically irresponsible« sei und Die Traumdeutung niemals gelesen habe30, äußert sich ein expliziter Anspruch auf Kunstautonomie. Solchen Aussagen zum Trotz zeugt die Untersuchung seiner Appropriation jedoch von einer intensiven persönlichen Beschäftigung des Autors mit Freud, der Freud’schen Epistemologie und der Geschichte der Psychoanalyse. Die Zufälligkeit, mit der Lingo waltet, darf nicht vergessen machen, dass im appropriativen Konzept nichts dem Zufall überlassen, nichts willkürlich ist. Selbst wenn Morris vernunftgeleitetes Ableiten als den anderen Zugang zu Welthaltigem ausweist und von Kunst abgrenzt, ermöglicht letztlich allein eine genaue Erschließung von epistemologischen wie überlieferungsgeschichtlichen Kontexten von Der Traumdeutung, Re-Writing Freud hermeneutisch deuten zu können. Das macht selten der Laie; es ist der genuine Vermittlungsauftrag von Wissenschaft.

D EREK BEAULIEUS B UCH FÜR F RAUEN: FLATLAND Komplexe Gegenstände verständlich aufzubereiten, war auch das Anliegen Edwin A. Abbotts, als er 1884 Flatland. A Romance of Many Dimensions veröffentlichte. Plastisch veranschaulicht Abbott in einem kurzen Science-Fiction-Roman vermittlungsbedürftige Erkenntnisse der Höheren Mathematik. Die Handlung spielt in einer zweidimensionalen Welt, die von einfachen Polygonfiguren – Quadraten, Dreiecken und Linien – bewohnt wird. Die anthropomorphisierten Figuren ahnen nicht, dass es höhere Dimensionen gibt, bis zu dem Zeitpunkt, als der quadratische Held der Geschichte die dritte Dimension erfährt. Die Bemühungen des Quadrats, seine Zeitgenossen in Flatland aufzuklären, sind zwar zum Scheitern verurteilt, am Ende der satirischen Bildungsgeschichte von Abbott, seines Zeichens Theologe und Schulleiter der City of London School, gehen jedoch das Streben nach Wissen und der Glaube an die Existenz möglicher Welten als moralische Sieger hervor.31

29 | Dupeyrat, Jérôme: Entretien avec Simon Morris (Janvier-Mars 2007), http://www.jrmdprt.net/doc/ Entretien%20avec%20Simon%20Morris.pdf vom 7.12.2011, 10. 30 | Ebd., 3. 31 | Vgl. Garnett, William: »Introduction«, in: Stewart, Ian: The Annotated Flatland. A Romance of Many Dimensions by Edwin A. Abbott, Cambridge: Perseus Press 2002, 13-27.

341

342

J ANET B OATIN

Der kanadische Konzeptkünstler derek beaulieu appropriierte Abbotts Roman und brachte 2007 sein Flatland. a romance of many dimensions32 in einer Auflage von 250, darunter 26 handsignierten, Exemplaren auf den Markt. Es handelt sich um eine 101 Seiten umfassende Serie schwarzer, vertikaler, chaotisch sich kreuzender Linienformationen auf weißem Papier. Bei der Herstellung seiner Appropriation kombinierte beaulieu Elemente aus Grafikdesign und Drucktechnik. Er kopierte jede der 101 Seiten des Haupttextes aus der 1991 in der Reihe Princeton Science Library erschienenen Ausgabe von Abbotts Buch33 auf Einzelblätter, separierte sie anders formuliert zunächst als eigenständige Textblöcke aus dem semantischen Gesamtzusammenhang. Jeder kopierten Seite wurde ein unbeschriebenes Blatt Papier aufgelegt. Auf einem Leuchttisch markierte beaulieu daraufhin, jeweils in der ersten Zeile beginnend, wo jeder Buchstabe nach seiner ersten Erscheinung in den folgenden Zeilen wieder zuerst vorkommt. Mit Lineal und Tinte wurden diese Identifizierungspunkte schließlich verbunden. Beaulieus Linien verfolgen demnach das Erstauftreten jeder Letter in Abbotts Prätext. An fünf Positionen, wo in den Text der Princeton University Press-Ausgabe Grafiken stehen, bleiben in beaulieus Werk Auslassungen, d.h. nicht bedruckter Freiraum, zurück. Maßstabsgetreu wurden hingegen die der Haupttitelseite vorangestellte und die der letzten Romanseite angehängte Grafik aus der Vorlage übernommen; beide bilden eine topografische Karte vom Flächenland ab. Diese diffizile Baukonstruktion für die Übertragung von Abbotts Textvorlage in beaulieus buchstabenlose Appropriation brauchte ein Jahr. Die buchgestalterische Arbeit übernahm der kanadische Grafikdesigner Jason Dewinetz, der sich vage, wie es im Impressum heißt, an der Typografie der Ausgabe von 1991 orientierte. Die Gestaltung des Covers basiert auf der Vorlage von Carmina Alvarez-Gaffin, im Vergleich zu ihren leuchtenden Farben wie Magenta setzte Dewinetz für Beaulieus Buch auf Unbuntes: Schwarz, Grautöne und Weiß. Das Cover und der Rückdeckel sind gleich strukturiert und angeordnet. Anstelle der Schlagwortzuordnung »Mathematics/Computers« steht auf beaulieus Einband »Conceptual Literature«, anstatt einer kurzen bio-bibliografischen Vorstellung Abbotts und Thomas Banchoffs (Mathematikprofessor an der Brown University), der ein Vorwort zu Abbotts Roman schrieb, finden sich Kurzinformationen zu beaulieu und Marjorie Perloff (emeritierte Professorin für Englische Literatur und Komparatistik in Stanford), die ein Nachwort zur Appropriation beisteuerte. Das historische Vorwort aus Abbotts zweiter Auflage, das im Reprint wiederabgedruckt ist, wurde, wie sich im späteren Verlauf erklären wird, bewusst nicht in beaulieus Buch übernommen. Angesichts der ›unleserlichen‹ Appropriation ist die Bedeutung der ausgewählten Kurzkommentare auf dem Einband erheblich. So wie sie beaulieus grafischem Werk als Ganzem ein theoretisches Fundament gießen, betonen sie Einzelaspekte 32 | Vgl. beaulieu, derek: Flatland. a romance of many dimensions, York: iam 2007. 33 | Vgl. Abbott, Edwin Abbott: Flatland. a romance of many dimensions, New York: Princeton University Press 61991.

A PPROPRIIERTES Ü BERSETZEN

und machen das Buch anschlussfähig an verschiedene diskursive Neuverortungen. Deskriptiv wird beaulieus Appropriation somit auf die Schwelle zur Architektur, bildenden Kunst und bildgebenden Technologie gestellt. Der Architekt Marc Boutin macht auf beaulieus Behandlung der Seiten wie Körper aufmerksam und versteht die Arbeit des Kanadiers als Aushebung eines »fertile ground between form and content, gesture and geography, and word and meaning«34 . Kenneth Goldsmith sieht in beaulieus Werk »a new kind of flatness«35 umgesetzt, die sich heutzutage allgegenwärtig in Flatscreen-Monitoren widerspiegele und bereits 1960 von Clement Greenberg zum Charakteristikum des Modernismus erklärt wurde.36 Greenberg vertrat in seinem Aufsatz Modernistische Malerei die These, dass moderne Malerei die Oberfläche von Bildträgern betone, um das »modernistische Gemälde zuerst als Bild«37 wahrnehmbar zu machen und damit ihre eigene Medialität zu reflektieren: »Denn nur die Flächigkeit ist ausschließlich der Malerei eigen.«38 Die ›Verflachung‹ der modernen bildenden Kunst wirkt auch literaturgeschichtlich nach, wie die Poetologien konkreter Poeten belegen. Flächigkeit im experimentellen Schreiben wie dem derek beaulieus, darauf weisen Goldsmith’ Andeutungen auf dem Einband hin, stellt immer zugleich sein eigenes Medium aus. Beaulieus Flatland ist eine Übersetzung erstens im koordinationssytematischen Sinne, denn vielmehr als die kreuz und quer verlaufenden Linien grafisch repräsentieren, »how language covers a page«39, stellen sie ein kartografisches Koordinatensystem dar, das die raumzeitliche Buchstabenverteilung der Reprintausgabe dokumentiert. Statt einer diskursiven Verräumlichung wie im originalen Prätext geben beaulieus Linien die Abfolge und Entfernung der jeweiligen Schriftzeichen in der 1991er Ausgabe wieder. Dass Karten »›Mischwesen‹ [sind], angesiedelt zwischen Bild und Sprache und in ihrem Darstellungspotenzial von beiden symbolischen Ordnungen zehrend«40, bewahrheitet sich auch in der Appropriation, deren ›Haupttext‹ zwar buchstabenlos ist, aber von den beschrifteten topografischen Karten des 34 | Boutin, Marc auf dem Einband zu beaulieu: Flatland. 35 | Goldsmith, Kenneth ebd. 36 | Vgl. Post, Anna-Maria: »Flache Literatur. Die Frage nach der Übertragbarkeit von Clement Greenbergs flatness-Begriff auf die Literatur«, in: kunsttexte.de 1 (2011), http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2011-1/post-anna-maria-4/PDF/post.pdf vom 7.12.2011. 37 | Greenberg, Clement: »Modernistische Malerei«, in: Ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, Amsterdam: Verlag der Kunst 1997, 265-278, 269. 38 | Ebd., 268. 39 | Beaulieu zit. n. Ewart, Chris: »I want a Flat-Screen Colour TV. Derek Beaulieu’s Flatland and Local Colour«, in: The Poetic Front 2:1 (2009), http://journals.sfu.ca/poeticfront/index.php/pf/article/ view/18 vom 7.12.2011, 2. 40 | Krämer, Sybille: »Karten – Kartenlesen – Kartographie. Kulturtechnisch inspirierte Überlegungen«, in: Helas, Philine et al. (Hgg.): Bild/Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin: Akademie Verlag 2007, 73-82, 76.

343

344

J ANET B OATIN

Originals vorne und hinten eingerahmt wird. Beaulieus Appropriation übersetzt das Original zweitens in einem notationssystematischen Sinne: Abbotts Schriftsprache aus dem Jahre 1884 weicht nämlich der Linie, einem der mathematischen wie geometrischen Notationssemiotik zugehörigen Symbolelement. Vermittels dieser neuen Schreibweise wird im Flatland von 2007 drittens das Potential der Flächigkeit reflektiert, die aus der Praxis und Theorie der bildenden Kunst auf die Literatur übertragen und in ihre Mittel übersetzt wird. Perloff führt in ihrem Nachwort ins Feld, dass sich beaulieus experimentelles Schreiben gegen solche literarischen Schreibweisen richtet, in denen »›confession and reflection‹ have become ›flattened into a sameness‹«41. Wenn Bekenntnisse und Reflexionen in Literatur so verflacht seien, warum dann nicht Tiefsinn in flacher Literatur? In diesem Sinne verdreht beaulieu die poetische Verszeile in die Vertikale, stellt sie auf den Kopf.42 Genauso wie sich Flatland gattungstraditionell zu Vorläufern wie OuLiPo oder bpNichol43 zuordnen lässt, könnte es als Graphic Novel durchgehen. Denn entgegen der augenfälligen Unleserlichkeit und Behandlung sprachlicher Zeichen als contentfreier Datensatz vermittelt beaulieus Appropriation eine Geschichte. Der »text without text«44 übersetzt auch auf der Ebene einer textimmanenten Lektüre – nämlich die erzählte Welt von Abbotts Original in ein Gegennarrativ im 21. Jahrhundert. Die Appropriation ist, wie im Folgenden gezeigt wird, ein Buch für Frauen. Bereits der Erzählsituation des originalen Flatland ist eine Übersetzungskonstellation eingeschrieben. Die Geschichte wird erzählt von einem autodiegetischen Erzähler, der sich als »Square« an eine jenseits seiner Weltgrenzen befindliche Leserschaft wendet, glücklicherweise »privileged to live in Space«45, um ihr zurückliegende Ereignisse zu schildern. Früh erfahren wir von ihm, dass er, »the sole possessor of thruths of Space and of three Dimensions«, für sein Wissen um die Dreidimensionalität bestraft wurde, »as if [he was] the maddest of the mad!«46 Die im ersten Teil vorstellte fiktive Welt, die der quadratische Erzähler der Verstän41 | Perloff, Marjorie: »Afterword«, in: beaulieu: Flatland, 105-109, 107. 42 | Vgl. Gregory Betts reads derek beaulieu’s Flatland. Friday, September 26, 2008, http://lemonhound. blogspot.com/2008/09/gregory-betts-reads-derek-beaulieus.html vom 7.12.2011. 43 | Von 1975 bis 1979 arbeitete der kanadische konkrete Poet bpNichol an einem Serienprojekt, das er als zeitlich unbegrenzt verstand. Unter dem Titel Translating Translating Apollinaire interpretierte er zusammen mit Künstlerkollegen wie Karl Young sein erstes veröffentlichtes Gedicht Translating Apollinaire auf Schreibmaschine neu. Es entstanden »as many translation/ transformation processes as i & other people could think of.« bpNichol: »An Int(o)ro(nto)duction«, in: Ders.: Translating Translating Apollinaire, Milwaukee: Membrane Press 1979, o. S., auch online unter http://www.thing.net/~grist/ l&d/bpnichol/lnichol1.htm vom 7.12.2011. In einer Translation wurden die Buchstabenvorkommnisse des Gedichts mit Linien verbunden. 44 | So zitiert Ewart beaulieu in: »I want a Flat-Screen Colour TV«, 2. 45 | Abbott: Flatland, 3. 46 | Ebd., 7.

A PPROPRIIERTES Ü BERSETZEN

digung halber »flatland« nennt, ist eine ebene Umgebung mit den uns bekannten vier Himmelsrichtungen, ohne Sonne oder andere Himmelskörper. Flatland ist zivilisiert und gesellschaftlich konstituiert. Die Flatlanders wohnen in fünfseitigen geometrischen Figuren mit zwei Eingängen – einem im Westen liegenden großen Eingang für Männer, einem im Osten liegenden kleinen für die Frau – und leben nach den strengen Normen und Verhaltensregeln eines hierarchisch aufgebauten Sozialwesens, in dem die gesellschaftliche Stellung einer Figur von der Anzahl ihrer Seiten abhängt. Im zweiten Teil des Romans träumt der Ich-Erzähler vom eindimensionalen Königreich Linienland, deren Bevölkerung verschieden lange Strecken auf einer Geraden sind. Vergeblich versucht das Quadrat den linienländischen Monarchen von der Existenz einer weiteren Dimension zu überzeugen. Am Silvesterabend des Jahres 1999 erscheint dem Erzähler ein Fremder, der ihm in einigen Gedankenschritten und vermittels der Anschauung von oben, einem Rundflug über Flatland, die Existenz einer dritten Dimension offenbart. Als das Quadrat visionär schlussfolgert, dass auch höher dimensionale Welten vorstellbar seien, wendet sich der kugelrunde Fremde bloßgestellt ab. Zurück in seiner zweidimensionalen Welt stößt das Quadrat mit seiner Erkenntnis auf Unglauben und wird letztlich als Aufrührer inhaftiert. Beaulieus appropriatives Verfahren, die Geschichte in Linien zu übersetzen, lenkt den Blick auf die Frauen in Abbotts Romanhandlung, die in Linien verkörpert sind. Weibliche Figuren stehen in der originalen Diegese auf der untersten gesellschaftlichen Stufe. »Our Women are Straight Lines«47, erklärt der bildungsbürgerliche Erzähler, über ihnen stehen Soldaten, Arbeiter (gleichschenklige Dreiecke), Angehörige der Mittelklasse (gleichseitige Dreiecke), des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums (Quadrate), des Adels (Figuren mit sechs und mehr Seiten) und schließlich Angehörige des Klerus »when the number of the sides becomes so numerous, and the sides themselves so small, that the figure cannot be distinguished from a circle«48. Frauen haben sich in Flächenland unter Androhung der Todesstrafe in öffentlichen Räumen stets von rechts nach links zu bewegen, um nicht übersehen zu werden. Darüber hinaus müssen sie einer rigiden Legislatur gehorchen: »1. Every house shall have one entrance in the Eastern side, for the use of Females only; by which all females shall enter ›in a becoming and respectful manner‹ and not by the Men’s or Western door. 2. No Female shall walk in any public place without continually keeping up her Peace-cry, under penalty of death. 3. Any Female, duly certified to be suffering from St. Vitus’s Dance, fits, chronic cold accompanied by violent sneezing, or any disease necessitating involuntary motions, shall be instantly destroyed.« 49

47 | Ebd., 8. 48 | Ebd., 9. 49 | Ebd., 13.

345

346

J ANET B OATIN

Abbott war nach der Veröffentlichung von Flatland harsch für die fiktionale Gesellschaftsaufteilung, insbesondere die Darstellung von Frauen als Unterprivilegierte kritisiert worden; seine Verteidigung folgte im Vorwort seiner zweiten Auflage. In einer Herausgeberfiktion stellte er zunächst fest, dass der quadratische Protagonist aus der Erstauflage nicht mehr derselbe sei. Nach dem Verbüßen der siebenjährigen Gefängnisstrafe sei er zu reiferen Einsichten gelangt, die er den Herausgeber als Medium kundzutun gebeten habe. Der Herausgeber, sprich Abbott, müsse das Quadrat allerdings gegen die Vorwürfe, es sei ein »woman-hater«50, in Schutz nehmen. Es habe lediglich als beobachtender Historiker die Konventionen seiner Gesellschaft, sprich der viktorianischen, wiedergegeben, teile sie aber nicht: »Personally, he now inclines to the opinion of the Sphere that the Straight Lines are in many important respects superior to the Circles.«51 Das ironische Spiel des Theologen, sich unter dem Deckmantel der Fiktion zu verstecken und zugleich aus ihm zurückzuschießen, ist so unwichtig nicht, schließlich stellte es seine hehre aufklärerische Programmatik in ein anderes, ein bigottes Licht. Seine Leser sollten zwar durch Literatur in Mathematik erzogen werden, der Erziehungsauftrag schloss jedoch die Vermittlung gesellschaftspolitischer Werte wie der Selbst- und Eigenständigkeit weiblicher Körper aus. Dass beaulieu das der erzählten Welt inhärente Normenkorsett für Frauen kritisch unterläuft und den im Original auf den sozialen Bodensatz reduzierten Frauen Raum verschafft, indem er allein den Linien Raum gewährt, lässt sich anhand der Titelei untermauern, die in eine neue Reihenfolge gebracht wurde. Während in der Princeton-Ausgabe dem Impressum die Seite mit Abbotts Widmung folgt, schließen sich dem Impressum in der Appropriation eine Danksagung und erst dann eine Widmung an (Abb. 2+3). Beide Widmungen, linker Hand beaulieus Dedikation, rechter Hand die aus Abbotts Prätext, sind an reale Personen gerichtet. Abbott gedachte pamphletartig der (außertextuellen) Einwohnerschaft im Raum, seiner Leserschaft und insbesondere seines Kollegen H.[oward] C.[andler]52; beaulieus Dedikation fällt im Vergleich dazu sehr viel kürzer aus. »Nan« ist zum einen ein Akronym für keine Zahl: »Not a Number«. Der Begriff bezeichnet in der Informatik einen spezifischen Wert für eine zu komplexe oder ungültige Rechenoperation, die nicht vom Rechner dargestellt werden kann. Der computerarithmetische Terminus fügt sich insofern in beaulieus appropriative Idee ein, als Programmiersprachen das Vorzeichen, die Zahl und jede Nachkommastelle von so genannten Gleitkommazahlen individuell skalieren, so wie auch in beaulieus Buch keine Linie einer anderen gleicht. Sie (die Linie und die Frau) wird – faktisch wie symbolisch – individualisiert. Angesichts der Jahreszahlen scheint es sich darüber hinaus um eine persön-

50 | Abbott, Edwin A.: »Preface to the Second and Revised Edition, 1884, by the Editor«, in: Ders.: Flatland, o. S. 51 | Ebd. 52 | Vgl. Stewart: The Annotated Flatland, 7.

A PPROPRIIERTES Ü BERSETZEN Abb. 2+3: derek beaulieu: Flatland. a romance in many dimensions, York: information as material 2007,Widmung, und Edwin Abbott Abbott: Flatland. a romance of many dimensions, New York: Princeton University Press 61991 [1884], Widmung.

liche Widmung des Autors zu handeln, die sich vermutlich an derek beaulieus im Erscheinungsjahr der Appropriation verstorbene Großmutter richtet. Die Aufwertung von Frauen lässt sich buchstäblich auch daran ablesen, dass beaulieus Inhaltsverzeichnis drastisch gekürzt wurde. Es erwähnt nur noch die Kapitelüberschriften des ersten und zweiten Teils: »Part I: This World«, »Part II: Other Worlds« und das kursiv gesetzte »Afterword, by Marjorie Perloff«, als werde damit die Gegenüberstellung von disparaten Weltansichten angekündigt; das letzte Wort habe dabei eine Frau, eine Wissenschaftlerin. So ist beaulieus Appropriation linientreu von Frauenstimmen gerahmt: am Anfang das Andenken an eine Frau, am Ende die Zueignung einer weiteren Frau. Das Afterword, das in der norwegischen Zeitschrift Audiatur erstveröffentlicht wurde, stammt von der Avantgardetheoretikerin ersten Ranges. Wie in Abbotts Reprint stellt also eine wissenschaftliche Expertise Hintergrundinformationen bereit. Marjorie Perloffs Epilog ist jedoch im Vergleich zu Banchoffs Vorwort weniger verzichtbar und insofern mehr als ein kommentierender Beitext. Perloff übersetzt die wortlose Flächentextur, sie erklärt beaulieus Vorgehen, stellt es wie die Zitate auf dem Einband in einen diskursiven Kontext und bringt somit die Linien in Flatland zum Sprechen. Derek beaulieu stellt sich mit seiner hier als feministische Position gedeuteten Appropriation an die Seite von beispielsweise Sherrie Levines Appropriationskunst.

347

348

J ANET B OATIN

Levines Kritik an der Dominanz männlicher Protagonisten in der Moderne und ihre eher dekonstruktive denn frauenbewegte Position sind beaulieus Verfahren eingeschrieben. An dieser Stelle rückt die Wahl der angeeigneten Textausgabe ins Blickfeld. Der Verlag Princeton University Press hat sich mit der Reihe Princeton Science Library dazu verpflichtet, Beiträge von so genannten »leading scientists«53 in preisgünstigen Paperbackeditionen einer breiten professionellen und Laienleserschaft, explizit einer »new generation of scientists and teachers, students and lay readers«54, zugänglich zu machen. Die schlagende Mehrheit der vertretenen Forschungsbeiträge entstammt Köpfen von männlichen (Natur-)Wissenschaftlern. Beaulieus Appropriation stellt dieser männlich dominierten, wahrheitsbeanspruchenden Hegemonialwelt eine weiblich dominierte, interartifizielle Version von Konzeptliteratur für eine neue Generation von Wissenschaftlerinnen und Lehrerinnen, Studentinnen und Laienleserinnen entgegen. Und dieses Konzept kommt ohne Tiefe daher, es ist flach. In Abbotts Vorlagentext folgt dem Kapitel, das die Frauen vorstellt, ein Kapitel über die Wahrnehmung der flächenländischen Einwohner, die sich gegenseitig über einen sehr gut entwickelten Gehörsinn akustisch wahrnehmen oder fühlen. Alle müssen stetig ihre Wahrnehmung trainieren, um sich (wieder) zu erkennen. Beaulieus Appropriation erprobt über ihre Flächigkeit auch die Wahrnehmung des Rezipienten, zunächst das ›Schriftbild‹, die Medialität des grafischen Textes zu sehen, um eine neue Generation von Literatur zu verstehen.

53 | Princeton Science Library, http://press.princeton.edu/catalogs/series/psl.html vom 7.12.2011. 54 | Ebd.

In den Zwischenräumen der Wissenschaften Zu Appropriationen theoretischer Texte Tobias Amslinger

E INLEITUNG Vertreter der Appropriation Art, des Conceptual Writing oder Uncreative Writing betonen häufig den Primat des Konzepts oder der Idee über den individuellen Ausdruck.1 Entsprechend sind viele ihrer Werke durch einen hohen Grad an theoretischer Reflexion gekennzeichnet. Zahlreiche Arbeiten beziehen sich auf Hauptwerke der Philosophie, Psychologie oder anderer Wissenschaften und nutzen diese theoretischen Texte als künstlerisches Material. Trotz ihrer Nähe zur Theorie wird die künstlerische Arbeit als Tätigkeit sui generis verstanden: »Conceptual writing doesn’t really have much to do with mathematics, philosophy, or any other mental discipline. […] The philosophy of the work is implicit in the work and it is not an illustration of any system of philosophy«2, so Kenneth Goldsmith in seinen Paragraphs on Conceptual Writing. Dennoch steht zu vermuten, dass in den Werken, die auf bekannte theoretische Texte und somit auf entsprechendes Vorwissen des Rezipienten rekurrieren, der semantische Gehalt jener Theorien für das Werk bedeutsam wird. Ein Theoriekonzept, auf das sich ein Künstler bezieht, wird automatisch Teil der künstlerischen Konzeption. Wenn im Folgenden eine Auswahl von Appropriationen theoretischer Texte vorgestellt wird, gilt es also im Auge zu behalten, in welchem Zusammenhang das künstlerische Konzept jeweils mit der appropriierten Theorie steht und welche Besonderheiten die künstlerische Form gegenüber der wissenschaftlichen aufweist. Im Mittelpunkt stehen Bücher, die sich auf Werke von Immanuel Kant, Ludwig Wittgenstein, Søren Kierkegaard und Sigmund Freud beziehen.

1 | Vgl. etwa: »In uncreative writing the idea or concept is the most important aspect of the work«, heißt es in Goldsmith, Kenneth: »Paragraphs on Conceptual Writing«, in: Open Letter 7 (2005), 108111, 108. 2 | Ebd.

350

TOBIAS A MSLINGER

J AROSŁAW K OZŁOWSKI : »REALITY« Zu den Pionieren der Appropriation von Büchern gehört der polnische Konzeptkünstler Jarosław Kozłowski. Für sein Buch »REALITY« von 1972 griff er auf das Unterkapitel Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena aus Kants Kritik der reinen Vernunft3 zurück. Kozłowski gibt die Interpunktionszeichen des Textes unverändert wieder, behält auch deren Position auf der Seite bei, spart jedoch alle Buchstaben aus, sodass die Seiten fast leer sind (Abb. 1 a+b). In einem zwei Jahre später veröffentlichten Text zu diesem Buch gibt Kozłowski an, dass es sich um eine exakte Kopie des Kant-Originals handele.4 Außerdem erteilt er Auskunft darüber, welche (sprach-)philosophischen Überlegungen seinem Werk zugrunde liegen. Überraschenderweise geht er gar nicht von Kants Philosophie aus, sondern von Thesen der von Wittgenstein beeinflussten logischen Empiristen. Wie Kozłowski in seinem Text ausführt, gibt es nach Auffassung dieser Philosophen (Carnap, Russell, Schlick u.a.) basale sprachliche Äußerungen, die ein Bild der Realität darstellen, Sätze wie: »Dieser Stuhl ist gelb.« Wenn ein solcher Satz auf etwas in der außersprachlichen Realität verweise, das nicht existiere, so sei der Satz falsch. Auf diesen »Elementarsätzen« (Wittgenstein) bzw. »Protokollsätzen« (Carnap)5 beruhe unser gesamtes empirisches Wissen über die Wirklichkeit. Sie verwiesen direkt auf physisch wahrnehmbare Dinge und bildeten die Basis einer jeder Sprache. Ihnen übergeordnet seien komplexe bzw. zusammengesetzte Sätze, die u.a. Junktoren wie »und« oder »alle« enthielten. Ein Beispiel für einen komplexen Satz wäre: »Alle Stühle sind gelb.« Besonders komplizierte zusammengesetzte Sätze fänden sich, so Kozłowski weiter, in Kants Kritik der reinen Vernunft. Ein zusammengesetzter Satz sage nichts über die Wirklichkeit aus, sondern nur etwas über seine sprachlichen Bestandteile. Er verweise nicht auf ein physisch wahrnehmbares Ding, sondern – innerhalb der Sprache – auf untergeordnete einfache Sätze der oben beschriebenen Art. Zusammengesetzte Sätze modellierten so aus einfachen Sätzen eine metasprachliche Realität. Dabei bleibe der Wahrheitsgehalt der einfachen Sätze von den Fakten der außersprachlichen Realität abhängig. Kozłowski folgert daraus, dass Sprache nie selbst zur Realität werden kann: »language […] cannot itself be reality and itself it is not reality.«6 Ganz an3 | Kant, Immanuel: »Kritik der reinen Vernunft 1«, in: Ders.: Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, Bd. III, 267-285. 4 | Vgl. Kozłowski, Jarosław: »Prolegomena to ›Jarosław‹ ›Kozłowski’s‹ ›REALITY‹«, in: Ders.: Con-text, Kraków: Bunkier Sztuki 2009, 68-72, 68. Kozłowski bearbeitet allerdings nicht den deutschen Originaltext, sondern eine polnische Kant-Übersetzung: Krytyka czystego rozumu, Warszawa: PIW 1957. 5 | Kozłowski vereinfacht in seinem Text einige Theoreme. So wurde die Gleichsetzung von Protokollund Elementarsätzen von Wittgenstein selbst nie akzeptiert. 6 | Kozłowski: »Prolegomena to ›Jarosław‹ ›Kozłowski’s‹ ›REALITY‹«, 71.

I N DEN Z WISCHENRÄUMEN DER W ISSENSCHAFTEN Abb. 1 a+b: Jarosław Kozłowski: »REALITY«, Poznań: ZPAP 1972, Cover und Doppelseite.

ders sehe es im Fall der Interpunktionszeichen aus: »these notations have no meaning external to themselves.«7 Sie modellierten keine Form der Wirklichkeit, sondern seien völlig referenzlos. »›REALITY‹ [Kozłowskis Buch] means reality.«8 Die Überlegungen des Künstlers haben eine ungewöhnliche Auffassung von Buch und Text zur Folge. Das Buch ist hier kein Medium, das mittels Sprache Inhalte 7 | Ebd. 8 | Ebd., 68 [Herv. i. O.].

351

352

TOBIAS A MSLINGER

vermittelt. Vielmehr ist der auf die Satzzeichen reduzierte ›Text‹, der nichts außerhalb von sich selbst sagt, der einzige ›Inhalt‹. Da es keinen Sinn gibt, der erfasst werden könnte, ist es nicht notwendig, dieses Buch linear zu ›lesen‹. Man blättert hin und her, lässt den Blick mal hier, mal dort über die Satzzeichen schweifen. Während das Innere des 24-seitigen Buches nichts als die Satzzeichen enthält, finden sich auf dem Umschlag durchaus Wörter. So steht auf dem Frontcover: »›Jarosław‹ ›Kozłowski‹«, »›REALITY‹«, »›MCMLXXII‹«. Auffällig ist, dass diese Angaben in Anführungszeichen gesetzt sind. Damit soll offenbar angedeutet werden, dass alles – selbst der Autor – auf der eigenen Realitätsebene der Interpunktionszeichen angesiedelt ist. Diese ist »the only ›REALITY‹ reality of ›Jarosław‹ ›Kozłowski‹«9. Entsprechend ist auch die Angabe des Kant-Quelltextes auf der Innenseite des Umschlags Wort für Wort in Anführungszeichen gesetzt. Nicht in Anführungszeichen gesetzt sind hingegen der Erscheinungsort und der Hinweis auf die Polnische Künstlervereinigung (ZPAP), die das Buch verlegt hat. Hier soll die gewohnte referentielle Funktion der Sprache offenbar erhalten bleiben, um das Kunstwerk in der Wirklichkeit des Buch- und Kunstmarktes zu verorten. Kozłowski zieht den Kant-Text also nicht heran, um sich im Detail mit ihm auseinanderzusetzen. Es wäre durchaus denkbar, dass er eine andere Quelle künstlerisch bearbeitet hätte, wobei die epistemologischen Fragestellungen Kants ebenfalls eine Form der Wirklichkeitsreflexion darstellen und sich so gut ins künstlerische Konzept einfügen. Vor allem aber dient ihm der Kant-Text als Sprachmaterial, um Überlegungen vor einem anderen philosophischen Hintergrund, dem des logischen Empirismus, zu explizieren. Die Gedanken, die Kozłowski im separat veröffentlichten Erläuterungstext ausführt, helfen sicher, den Zugang zum Kunstwerk zu erleichtern. Unbedingt notwendig ist ihre Kenntnis indes nicht, um zu erkennen, worum es Kozłowski geht: die eigene Wirklichkeit der Interpunktionszeichen herauszustellen, die sonst in der Fülle von Sinn und Bedeutung verschwindet.

M ICHAEL G ERARD M ARANDA : THE THREE CRITIQUES OF I MMANUEL K ANT Der kanadische Buchkünstler Michael Gerard Maranda10 ist in den vergangenen Jahren mit einer ganzen Reihe von Arbeiten hervorgetreten, die sich auf klassische Texte der philosophischen Tradition beziehen. Seine Nähe zu Theorietexten erstaunt nicht vor dem Hintergrund, dass der Künstler eine Zeit lang selbst wissenschaftlich tätig war und an einer diskursanalytischen Dissertation über kategoriale Konzepte der Kunstgeschichte (z.B. Stil, Periode oder Kanon) gearbeitet hatte, die er jedoch nicht abschloss. Auch in seiner Kunst interessieren ihn Fragen nach dem Aufbau 9 | Ebd., 72. 10 | Zur künstlerischen und verlegerischen Arbeit Marandas vgl. auch Léonce W. Lupette in diesem Band, insb. 399f.

I N DEN Z WISCHENRÄUMEN DER W ISSENSCHAFTEN Abb. 2: The Three Critiques of Immanuel Kant as edited by Parasitic Ventures Press, Toronto: Parasitic Ventures Press 2010, i.

und der diskursiven Einbettung von Texten: »I undertake a form of rogue editing, drawing out structural themes and motifs that make the primary text possible.«11 Dass sich dieses »rogue editing« (»schurkische Herausgeberschaft«) keineswegs um akademische Gepflogenheiten schert und nicht ohne Ironie aufzufassen ist, zeigt Marandas Ausgabe von Kants drei Kritiken. The Three Critiques of Immanuel Kant. As analyzed by Michael Gerard Maranda erschien erstmals im Jahr 2000 in zwei ledergebundenen Bänden und einer Auflage von lediglich drei Exemplaren. Der erste Band enthält auf 1.743 Seiten das gesamte Buchstabenmaterial der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der praktischen Vernunft sowie der Kritik der Urteilskraft – und zwar alphabetisch sortiert. Einem Abschnitt mit Großbuchstaben (z.B. »Majuscule A«, Abb. 2) folgt jeweils ein Abschnitt mit Kleinbuchstaben (z.B. »Miniscule a«), wobei sich auf einer vollständig bedruckten Seite exakt 1.000 Zeichen befinden12 . Die »Analyse« von Kants Werk, 11 | Maranda, Michael G.: editing as practice. statement …, in: http://www.michaelmaranda.com/gen. htm vom 1.10.2011. 12 | Wie Kozłowski greift Maranda nicht auf den deutschen Originaltext zurück. Sein Bezugstext ist die englische Übersetzung von J. M. D. Meiklejohn, Thomas Kingsmill Abbot und James Creed Meredidth. Darin findet sich die Erklärung für den irritierenden Umstand, dass sich in allen drei Werken Kants insgesamt nur zwei »Z«-Majuskeln befinden sollen, denn das Englische weist weitaus weniger mit »Z« beginnende Wörter als das Deutsche auf. Dem stehen 427 »z«-Minuskeln gegenüber. Zum Vergleich:

353

354

TOBIAS A MSLINGER

die der Untertitel verspricht, geschieht hier also nicht in der gewohnt argumentativen Form; analysiert wird nicht der Inhalt des Textes, sondern der Text an sich, konkret: die Häufigkeit einzelner Buchstaben. Diese Analyse von Buchstabenhäufigkeiten führt freilich nicht zu tiefer gehenden Erkenntnissen über Kants Werk. Thematisiert wird kein inhaltlicher Aspekt, sondern der Umgang mit dem philosophischen Text. Das Wort »analyzed« lässt nicht ohne Grund an die analytische Philosophie denken, deren Methode vor allem in der Analyse von Sprache besteht, etwa indem alltagssprachliche Aussagen logisch formalisiert werden. Die analytische Philosophie, die zuerst im angloamerikanischen Raum Schule machte, steht in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zu ›kontinentalen‹ Denkströmungen wie der Existenzphilosophie. Wenn Maranda, als Angloamerikaner, den klassischen deutschen Philosophen Kant auf der textuellen Oberfläche bis zur Unkenntlichkeit ›analysiert‹, dann bildet er in überspitzter, fast satirischer Form den Grabenkampf zwischen analytischer und ›kontinentaler‹ Philosophie ab. Auf diese Weise – so die Botschaft – wird man Kant nicht gerecht. Trotzdem ist Marandas Appropriation natürlich mehr als ein ironischer Seitenhieb auf die analytische Philosophie. Als Kunstwerk steht das Buch für sich und überzeugt durch den visuellen Reiz der mit identischen Schriftzeichen gefüllten Seiten. Der Statistik und Visualisierung von Buchstabenhäufigkeiten stellt Maranda im zweiten Band ein Verfahren gegenüber, das an Kozłowskis »REALITY« erinnert. Auf 1.215 Seiten finden sich lediglich die Satzzeichen und Nummerierungen von Sätzen und Paragraphen Kants, entsprechend ihrer Position im Ursprungstext über die Seiten verteilt. Im Unterschied zu Kozłowski bearbeitet Maranda nicht nur ein einzelnes Kapitel, sondern, wie im ersten Band, alle drei Kritiken.13 Während Kozłowski einen exemplarischen Textauszug für eine nicht zwingend an Kant geknüpfte, sprachphilosophische Reflexion verwendet, geht es Maranda hier um ein weiteres ›analytisches‹ Verfahren, das einen überraschenden, neuen Blick auf Kants Werk eröffnet. In den Vordergrund tritt nun das ›rhetorische Temperament‹ des Philosophen. Im Text finden sich zahlreiche Gedankenstriche sowie Klammern, die das parenthetische Moment von Kants Denkens augenfällig werden lassen. Man fühlt sich an den »Satzzeichen«-Aufsatz Adornos erinnert, in dem dieser das »geschichtliche Wesen der Satzzeichen«14 konstatiert und zum Ausdruck bringt, dass ein

Auf 1.034 »A« (= 2 Seiten) folgen 115.946 »a« (= 117 Seiten). Welche Rolle die (oft fehlerhafte) Übersetzung wissenschaftlicher Werke für deren Rezeption spielt, thematisiert Maranda explizit in einer Bearbeitung eines Buches von Lacan, das er unter dessen Namen publizierte: Lacan, Jacques: ERRATUM OF The Four Fundamental Concepts of Psycho-Analysis, Toronto: Parasitic Ventures Press 2011. 13 | Rund 30 Jahre später kann er auf digitalisierte Vorlagen zurückgreifen und zur Bearbeitung sowie Produktion digitale Techniken einsetzen, was den Umgang mit großen Textmassen enorm erleichtert. 14 | Adorno, Theodor W.: »Satzzeichen«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, Bd. II, 106-113, 107.

I N DEN Z WISCHENRÄUMEN DER W ISSENSCHAFTEN

bestimmter Gebrauch von Satzzeichen immer an bestimmte Zeiten und Autoren gebunden ist. Im Jahr 2010 veröffentlichte Maranda in seinem eigenen Verlag Parasitic Ventures Press eine Neuausgabe von The Three Critiques, die einige Unterschiede zur ersten Ausgabe aufweist. So verzichtete er auf die Publikation des zweiten Bandes, da die zwischenzeitlich etablierte Reihe Syntactic Analyses15 eine erneute Veröffentlichung der Interpunktionszeichen unnötig machte. Auch ist Marandas Autorenname nicht mehr im Buch zu finden. Der Untertitel ändert sich von »as analyzed by Michael Gerard Maranda« zu »as edited by Parasitic Ventures Press«. Damit verschiebt sich der Fokus von der ›Analyse‹ zur ›Edition‹. Nicht mehr die Rezeption des philosophischen Textes steht im Vordergrund, sondern dessen Distribution. Die Ersetzung des eigenen Namens durch den seines Verlags Parasitic Ventures Press durchzieht seit 2006 einen großen Teil von Marandas buchkünstlerischem Werk. Darin deutet sich ein das eigene Konzept radikalisierender Verzicht auf die Autorschaft an, ebenso das ›parasitäre‹ Moment, das Marandas Bearbeitungen von Vorgefundenem explizit kennzeichnet. Die Neuausgabe ist nicht als aufwendiges Künstlerbuch konzipiert, sondern durch die Herstellung als Broschur im Digitaldruckverfahren (POD) preisgünstig zugänglich.16 Dies ist sicher ein Zeichen dafür, dass Maranda seine Arbeiten keineswegs nur in den relativ abgeschlossenen Zirkeln der Kunst(buch)szene positionieren will. Immer wieder stellt er die Werke, die er schlicht als »Bücher« bezeichnet, in alltägliche Kontexte, in denen sie natürlich recht befremdlich wirken: »Where possible, I prefer to display and contextualize this work in situ, as books (e.g., not as artist books) that infiltrate the structures of the dissemination of the primary texts themselves.«17 Zumindest vorstellbar ist, dass es Maranda gelingt, seine ungewöhnlichen Editionen in philosophische Bibliotheken unterzubringen. Ein Bibliotheksbenutzer, der sich über Kant informieren möchte und Marandas Buch auf Grund des viel versprechenden Untertitels für seine Recherchen heranzieht, dürfte von dessen Inhalt dann einigermaßen irritiert sein. Genau diese Irritation scheint ein Ziel der »schurkischen Herausgeberschaft« sein. Die bewusste Verletzung editorischer Standards, die sich der Künstler erlauben kann, schärft das Bewusstsein dafür, dass die wissenschaftliche Wahrnehmung eines Werks immer bestimmten Publikationsbedingungen und mitunter willkürlichen Eingriffen von Herausgebern unterworfen ist. 15 | Die Buchreihe aus dem Jahr 2004 umfasst 100 bekannte Theoriewerke, die jeweils auf die Satzzeichen reduziert wurden. Neben Kants Kritik der reinen Vernunft finden sich hier u.a. Editionen von Marx’ Kapital und Hobbes’ Leviathan, die zu einem Vergleich ihrer syntaktischen Strukturen einladen. 16 | Im Kontrast dazu sind die Schriftzeichen des Buchtitels so gestaltet, als wären sie mit Bleilettern gedruckt. In dieser Gegenüberstellung von altem Buchdruck und modernem Digitaldruck zeigt sich, dass Maranda die Entstehungs- und Publikationsbedingungen seiner Bücher unentwegt mitreflektiert. 17 | Maranda: editing as practice.

355

356

TOBIAS A MSLINGER

M ICHAEL G ERARD M ARANDA : WITTGENSTEIN ’S CORRECTIONS Wittgenstein’s Corrections von 2003 geht zurück auf den Faksimiledruck eines frühen Manuskripts von Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus.18 Maranda gibt die Handschrift aus dem Jahr 1918 wieder, die seit ihrer Publikation als Prototractatus19 bezeichnet wird, tilgt jedoch den gesamten Text bis auf die charakteristische Nummerierung der Sätze, die Paginierung sowie Wittgensteins Anmerkungen und Korrekturen (Abb. 3). Das Buch ist, wie The Three Critiques, in zwei Ausgaben erhältlich: als handgebundenes Künstlerbuch in einer Auflage von 10 Exemplaren sowie als Broschur in 200 Exemplaren. Das mag der Logik folgen, dass eine teure Künstleredition dem Gelderwerb und eine günstige Ausgabe der Verbreitung dient. Inzwischen bietet Maranda einen großen Teil seiner Arbeiten – darunter Wittgenstein’s Corrections – auch kostenlos als E-Book an. Das Cover der Paperback-Ausgabe besteht aus einer reproduzierten Manuskriptseite mit dem ursprünglich von Wittgenstein vorgesehenen Titel: »Logisch-Philosophische Abhandlung«. Darunter findet sich, ebenfalls in der Handschrift des Philosophen, dessen Name: »Ludwig Wittgenstein«. Zwischen beides hat Maranda seinen Titel gesetzt: »Wittgenstein’s Corrections«. Die von ihm verwendete Schrift American Typewriter verweist darauf, dass dem Prototractatus noch drei korrigierte Typoskripte20 folgten, von denen eines schließlich zum Erstdruck führte. Auch diesen Text, 1921 unter dem Titel Logisch-Philosophische Abhandlung in der Zeitschrift Annalen der Naturphilosophie erschienen, korrigierte Wittgenstein noch einmal, weil bei der Drucklegung sinnentstellende Fehler eingebaut worden waren. 1922 erschien der endgültige Text in Buchform unter dem auf G. E. Moore zurückgehenden Titel Tractatus logico-philosophicus. Inhaltlich ist der Prototractatus weitgehend identisch mit dem Tractatus. Dennoch weicht er an rund 400, wenn auch meist unbedeutenden Stellen von ihm ab.21 So ist beispielsweise die Nummerierung der Sätze nicht vollständig identisch. Entsprechend finden sich im von Maranda

18 | Wittgensteins Werk hat mehrere Künstler zu Appropriationen angeregt. Von herman de vries stammt ein zweibändiges Künstlerbuch, das im ersten Band fünf Aussagen des Tractatus in Frageform wiedergibt; der zweite Band enthält leere Seiten (the wittgenstein papers I & II, Bern: verlag artists press 1974). Joseph Kosuth bearbeitet in Letters from Wittgenstein, Abridged in Ghent (Gent: Imschoot 1992) Briefe des Philosophen an den befreundeten Architekten Paul Engelmann. Mark Rutkoski bereitet ein Buch vor, das sich auf die Bemerkungen über die Farben bezieht. 19 | Wittgenstein, Ludwig: Prototractatus. An early version of Tractatus Logico-Philosophicus, hg. v. B. F. McGuinness/T. Nyberg/G. H. von Wright, Oxford: Routledge 1971. 20 | Zwei Typoskripte befinden sich in der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien. Das dritte, das vermutlich als Vorlage für den Erstdruck diente, befindet sich in der Bodleian Library, Oxford. 21 | Vgl. von Wright, Georg Henrik: »Die Entstehung des ›Tractatus‹«, in: Ders.: Wittgenstein, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, 77-116.

I N DEN Z WISCHENRÄUMEN DER W ISSENSCHAFTEN Abb. 3: Michael Gerard Maranda: Wittgenstein’s Corrections, Toronto/Montreal: Parasitic Ventures Press/Silent Press & Burning Books 2003, 3.

wiederabgedruckten Faksimile Satznummern, die im Druck des Tractatus nicht vorhanden sind.22 Wer die Appropriation betrachtet, blickt mitten in Wittgensteins Werkstatt hinein. Indem Maranda die Korrekturen und Anmerkungen des Philosophen erhält, den eigentlichen Text hingegen tilgt, betont er das Ringen um Ausdruck, den wechselhaften Denk- und Schreibprozess, der einem fertigen Werk vorausgeht. Das Persönliche der Handschrift tritt außerdem in einen scharfen Gegensatz zur strengen logischen Form des vollendeten Tractatus. Nicht die Rezeption oder Distribution eines Werks – wie im Fall der Kant-›Analyse‹ – steht hier im Vordergrund, sondern dessen Produktion. Passend dazu gibt Maranda auf seiner Website einen Auszug aus einem Brief Wittgensteins an Ludwig von Ficker wieder, in dem der Philosoph über die Gestaltung seines Vorworts nachdenkt: »Ich wollte einmal in das Vorwort [zum Tractatus] einen Satz geben, der nun tatsächlich nicht darin steht, den ich Ihnen aber jetzt schreibe […]. Ich wollte nämlich schreiben, mein Werk besteht aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade

22 | Irritierend wirkt zunächst auch die doppelte Paginierung der Seiten. Sie lässt sich dadurch erklären, dass die zweite Seitenzählung (rechts oben) von einer anderen Person zusätzlich in Wittgensteins Manuskript eingefügt wurde. Vgl. Geschkowski, Andreas: Die Entstehung von Wittgensteins Prototractatus, Bern 2001, 38.

357

358

TOBIAS A MSLINGER dieser zweite Teil ist der wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von innen her begrenzt« 23 .

Dieses Zitat führt weiter zu einer inhaltlichen Interpretation von Marandas Buch im Kontext von Wittgensteins früher Sprachphilosophie. Im Tractatus möchte Wittgenstein »dem Denken eine Grenze ziehen«24. Er geht der Frage nach, was sich überhaupt denken, d.h. sprachlich sinnvoll ausdrücken lässt, und was demgegenüber unsagbar bleiben muss, was nicht wahr oder falsch sein kann, sondern in sprachlogischer Hinsicht »einfach Unsinn«25 ist. Einen Satz betrachtet er – wie im Abschnitt zu Kozłowskis »REALITY« angedeutet – als »Bild der Wirklichkeit«26. Unter Wirklichkeit versteht Wittgenstein das »Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten«27. Nur was der Fall ist, oder was nicht der Fall ist, aber doch sein könnte, lässt sich in einen sinnvollen Satz fassen. Daraus folgt, dass bestimmte Bereiche – etwa die Metaphysik oder die Ethik – nicht sprachlich ausgedrückt werden können: »Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.«28 Der Philosoph sollte »immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte«, diesem nachweisen, »daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat.«29 Konsequenterweise lautet der letzte Satz des Tractatus: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.«30 Auch wenn Wittgenstein bestimmte Lebensfragen (z.B. nach dem Sinn des Lebens oder nach Gott) als unwissenschaftlich und unsinnig aus der Philosophie ausschließt, folgt daraus nicht, dass ihn diese nicht beschäftigen würden – im Gegenteil: »Wir fühlen, daß selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.«31 Im Brief an von Ficker spricht er einen zweiten Teil seines Werks an, der sich eben jenen Problemen widmen würde, der aber ungeschrieben bleiben muss. Das Ethische kann nur »von innen her«, mittels der Reflexion über die Funktionsweise der Sprache

23 | Wittgenstein, Ludwig: Briefe, hg. v. B. F. McGuinness/G. H. von Wright, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, 96 [Herv. i. O.]. Auf Marandas Website findet sich eine englische Übersetzung des Zitats, vgl. Maranda, Michael G.: Wittgenstein’s Corrections. statement …, in: http://www.michaelmaranda.com/ documents/projects/witt/statement.htm vom 1.10.2011. 24 | Wittgenstein, Ludwig: »Tractatus logico-philosophicus«, in: Ders.: Werkausgabe, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, Bd. 1, 9. 25 | Ebd. 26 | Ebd., 26 (Satz 4.01). 27 | Ebd., 14 (Satz 2.06). 28 | Ebd., 83 (Satz 6.42). 29 | Ebd., 85 (Satz 6.53). 30 | Ebd. (Satz 7). 31 | Ebd. (Satz 6.52).

I N DEN Z WISCHENRÄUMEN DER W ISSENSCHAFTEN

begrenzt werden. Es befindet sich dort, wo nicht mehr sinnvoll gefragt werden kann: »Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.«32 Maranda begibt sich in seiner Appropriation auf die Suche nach dem Unaussprechlichen, nach dem ungeschriebenen und unschreibbaren zweiten Teil von Wittgensteins Werk. Die weitgehend leeren Seiten in Wittgenstein’s Corrections können als das Schweigen verstanden werden, von dem der Philosoph spricht. Sie verweisen auf das Nicht-Sagbare, öffnen ein Fenster in einen Raum hinter der Sprache. Wittgenstein: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.«33 Dieses Mystische lässt der Blick erahnen, der die fragmentarischen Sprachfetzen, die die ganze Welt fassen wollen, in ihrer Verlorenheit vor dem Hintergrund der weißen Seite in Marandas Buch betrachtet.

PAUL H EIMBACH : TEXTBETRACHTUNG Das 1998 erschienene Werk Textbetrachtung34 des Kölner Künstlers Paul Heimbach geht zurück auf einen Textabschnitt aus Søren Kierkegaards Entweder – Oder von 1843.35 Kierkegaard wird auf dem Cover nicht namentlich genannt; eine bekannte Porträtzeichnung verweist jedoch deutlich auf den dänischen Philosophen. Der kurze, nur eine Seite umfassende Kierkegaard-Abschnitt ist in der deutschen Übersetzung Heinrich Fautecks am Ende von Heimbachs Buch vollständig auf weißem Papier abgedruckt. Die übrigen Blätter sind leicht transparent und einseitig bedruckt. Auf ihnen findet sich der Kierkegaard-Text noch einmal – und zwar auf jeder Vorderseite die Vorkommnisse eines Buchstabens des Alphabets an ihrer jeweiligen Position im Ausgangstext. Das erste Blatt enthält alle »A«- und »a«-Buchstaben, die zweite alle »B«- und »b«-Buchstaben aus dem Kierkegaard-Text usw. Wären die Blätter vollständig transparent, würde beim Aufschlagen der ersten Seite der zusammenhängende Text lesbar werden. Da die Blätter allerdings nur leicht durchschei32 | Ebd. 33 | Ebd. (Satz 6.522) [Herv. i. O.]. 34 | Im Jahr 1999 erschien das Werk auch in dänischer Sprache: »Tekstbetragtning«, in: Hvedekorn 3 (1999). 35 | Obwohl der Schwerpunkt von Heimbachs Schaffen nicht in der Bearbeitung vorgefundener Texte liegt, stellt Textbetrachtung keinen Einzelfall innerhalb seines Œuvres dar. Ein ähnliches Verfahren wandte der Künstler 1989 an, als er die Buchstaben einiger Zeitungen, ebenfalls alphabetisch sortiert, mit Tusche auf 26 Blätter aus transparentem Papier übertrug. Diese Blätter kopierte er in einer Auflage von 26 Exemplaren und stellte sie in einem originalen Halter der jeweiligen Zeitung aus. Für eine aleatorische Variation dieses Verfahrens griff er auf 26 verschiedene Ausgaben des Kölner StadtAnzeigers zurück (vgl. Heimbach, Paul: Werkverzeichnis der Bücher und Auflagenobjekte, Köln: [Selbstverlag] 2009, 31ff.). 1999 hat Heimbach mit DAS ALPHABET. Nach R.W. ein Buch vorgelegt, in dem ein kurzer Text von Robert Walser auf ähnliche Weise wie in Textbetrachtung bearbeitet wird.

359

360

TOBIAS A MSLINGER

nend sind, sind lediglich die auf den nachfolgenden oder vorhergehenden Blättern gedruckten Buchstaben sichtbar (Abb. 4). An die Stelle linear erfassbarer Sätze tritt ein grafisches Geflecht von Buchstaben, die sich überlagern, verweben und einen Text im ursprünglichen Sinn (lat. textus: Gewebe) bilden. In diesem Gewebe bleibt der Blick hängen, anstatt, mit Assmann zu sprechen, schnell und schlau durch die Oberfläche hindurchzugehen. Das Lesen (»reading«) wird zum »Starren« (»gazing«), und dem »Drang zur verflüssigenden Spiritualisierung tritt die Materialisierung des Textes als ein Veto entgegen.«36 Diese visuell orientierte Rezeption wird auch im Titel des Buches benannt: Textbetrachtung. Der von Heimbach wiedergegebene Kierkegaard-Abschnitt stammt aus dem Kapitel über »Das Musikalisch-Erotische« und enthält eine Reflexion über die Unterscheidung verschiedener künstlerischer Medien. Der »Ästhetiker A«, den der Philosoph sprechen lässt, ist der Überzeugung, dass die Sprache das »absolut geistig bestimmte Medium und also das eigentliche Medium der Idee«37 sei. Das Sinnliche in ihr sei »ein bloßes Werkzeug«38 und werde beständig negiert. Ganz anders in der Skulptur oder Malerei: Hier gehöre der sinnliche Anteil wesentlich dazu, und es wäre »eine seltsam verkehrte Betrachtung«39, das Sinnliche in einer Plastik oder Abb. 4: Paul Heimbach: Textbetrachtung, Köln: Selbstverlag 1998, Cover und Doppelseite.

36 | Assmann, Aleida: »Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose«, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hgg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, 237-251, 240f. 37 | Kierkegaard, Søren: Entweder – Oder. Teil I und II, hg. v. Hermann Diem/Walter Rest, München: dtv 1998, 81. 38 | Ebd. 39 | Ebd., 82.

I N DEN Z WISCHENRÄUMEN DER W ISSENSCHAFTEN

einem Gemälde zu ignorieren. Die Sprache sei hingegen erst dann ein »vollkommene[s] Medium, wenn alles Sinnliche darin negiert«40 werde. Der Ästhetiker A begründet seine Auffassung mit der typischen Rezeptionsweise eines Lesenden, der nicht jeden einzelnen Buchstaben in seiner Sinnlichkeit wahrnehme, sondern die Idee dahinter zu erfassen suche: »wenn jemand ein Buch so läse, daß er beständig jeden einzelnen Buchstaben sähe, so läse er schlecht.«41 Heimbach führt dem Betrachter nun aber gerade jeden einzelnen Buchstaben vor Augen. Mit Kierkegaard, bzw. dem Ästhetiker A, müsste sein Buch als äußerst unvollkommenes sprachliches Werk aufgefasst werden, denn in diesem dominiert das Sinnliche der Schriftzeichen. An anderer Stelle schreibt der Philosoph: »Die Sprache hat ihr Element in der Zeit, alle übrigen Medien haben den Raum zum Element«42. Die zeitliche Linearität einer sprachlichen Äußerung durchbricht Heimbach, wenn er Kierkegaards Text zergliedert und im Buchraum verteilt. In seinem Buch folgen die Buchstaben der einzelnen Wörter nicht unmittelbar aufeinander, sondern sie liegen über- und untereinander, sind auf verschiedene Seiten verteilt und treten so in ein räumliches Verhältnis zueinander. Heimbach führt Kierkegaards Medienreflexion fort. Er begibt sich in einen Grenzbereich zwischen Text, Bild und dreidimensionaler Skulptur, von dem Kierkegaard noch nichts ahnen konnte und der im 20. Jahrhundert etwa von den Vertretern der Konkreten und der Visuellen Poesie (Gomringer, Gappmayr, Kriwet u.a.) intensiv ausgelotet wurde. Noch einen Schritt weiter im intermedialen Umgang mit Text und Schrift geht Heimbach in der digitalen Version seines Werks.43 Hier löst sich der Text, der zu Beginn vollständig gezeigt wird, auf dem Bildschirm auf, indem die einzelnen Buchstaben nach und nach verschwinden. Gleichzeitig setzt er sich an anderer Stelle neu zusammen. Die Medienreflexion wird so auf den zu Kierkegaards Zeiten noch nicht existierenden, multimedialen Computer ausgedehnt.

R ODNEY G RAHAM : FREUD S UPPLEMENT (170 A –170 D) Rodney Graham44 hat sich in den 1980er Jahren intensiv mit dem Werk Sigmund Freuds auseinandergesetzt. Die Beschäftigung mit den Schriften des Begründers der Psychoanalyse ging so weit, dass der kanadische Künstler sogar eine eigene Tätigkeit als Psychoanalytiker erwog: »Ich habe eineinhalb Jahre damit verbracht, nur über Freud zu forschen, und habe in der Zeit nichts anderes getan. Ich hatte die Kunst

40 | Ebd. 41 | Ebd. 42 | Ebd., 83. 43 | Vgl. http://www.paul-heimbach.de/eu/books/1990/98_05b.htm vom 1.10.2011. 44 | Zu Rodney Graham vgl. auch Michael Glasmeier in diesem Band.

361

362

TOBIAS A MSLINGER

praktisch aufgegeben; ich dachte darüber nach, Psychoanalytiker zu werden.«45 Diesen Schritt vollzog Graham freilich nicht – ebenso wenig, wie er sich dazu entschloss, andere Neigungen zu professionalisieren und z.B. ein Popsänger zu werden. Die amateurhafte Beschäftigung mit Freud, insbesondere mit dessen bekanntestem Werk Die Traumdeutung (1899), ersetzte nicht die künstlerische Tätigkeit, sondern floss in neue Kunstwerke ein. Lerm Hayes ist der Auffassung, dass das traum- und flaneurhafte Wandeln durch die Welt, die Untersuchung »unterbewusster Daseinsstrukturen«46 charakteristisch für viele von Grahams Arbeiten sei. Das erste Werk, das unmittelbar auf Grahams psychoanalytische Studien zurückgeht und den Beginn einer ganzen Reihe von Freud-Arbeiten markiert, ist Freud Citation (1983): eine Fotografie des Buchcovers von Friedrich Hildebrands Botanik-Fachbuch Die Gattung Cyclamen L. Graham bezieht sich damit auf den Abschnitt »Der Traum von der botanischen Monographie« aus der Traumdeutung, in dem Freud einen eigenen Traum schildert: »Ich habe eine Monographie über eine gewisse Pflanze geschrieben. Das Buch liegt vor mir, ich blättere eben eine eingeschlagene farbige Tafel um. Jedem Exemplar ist ein getrocknetes Specimen der Pflanze beigebunden, ähnlich wie aus einem Herbarium.«47 Die Analyse des Traums ruft verschiedene Assoziationen und Erinnerungen bei Freud hervor. Er erinnert sich daran, wie er ein Exemplar von Hildebrands Buch Die Gattung Cyclamen in einem Schaufenster erblickte, was ihn daran gemahnt, dass er seiner Frau nie deren Lieblingsblume Cyclamen (Alpenveilchen) mitbringt. Die Monographie lässt ihn außerdem an seinen frühen Aufsatz über die Wirkung der Kokapflanze denken. Weiterhin ruft ihm die getrocknete Pflanze Versäumnisse im Studium der Botanik ins Gedächtnis etc. Auf diesen Traum bezieht sich Graham auch in seinem späteren Buch Freud Supplement (170a–170d), das 1989 in einer Auflage von 100 Exemplaren erschien.48 Dem Titel »Supplement« entsprechend, enthält es einen aus Briefen Freuds kompi45 | Rodney Graham zit. n. Meschede, Friedrich: »Pantomime parlée und Fortgesetzte Magie, oder, die Zauberkraft der Kunst, so auf den Nutzen und die Belustigung angewandt worden, von William Rodney Graham, Künstler, mit zahlreichen Bildtafeln«, in: Graham, Rodney: Through the Forest, Ostfildern: Hatje Cantz 2010, 32-62, 58. 46 | Lerm Hayes, Christa-Maria: »Rodney Graham: Literatur und was ein Künstler damit macht«, in: Graham: Through the Forest, 64-84, 68. 47 | Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, Leipzig/Wien: Deuticke 1900, 114. 48 | Bereits ein Jahr vor der Publikation des Buches erschien ein kürzerer Text Freud Supplement (170a170d) in der kanadischen Zeitschrift Parachute 50 (1988), 30-31. Auf Freuds Traum rekurriert Graham außerdem in der Arbeit Die Gattung Cyclamen L. (Installation for Münster) (1987). Darin stellt er 24 exakte Reproduktionen von Hildebrands Buch in Schaufenstern von Münsteraner Buchhandlungen aus und bildet so die von Freud erinnerte Situation nach. In Die Traumdeutung (1986) integriert Graham ein Freud-Buch in nachgebaute minimalistische Skulpturen des Amerikaners Donald Judd und erhebt so das Buch zur Skulptur. In diese Reihe von Freud-Arbeiten fügt sich auch seine Arbeit Standard Edi-

I N DEN Z WISCHENRÄUMEN DER W ISSENSCHAFTEN

lierten Zusatztext, den Graham mitten in einen Satz Freuds auf Seite 170 im 4. Band der englischen Werkausgabe (The Standard Edition of the Complete Works of Sigmund Freud) einschob. Die Analyse Freuds wird unterbrochen und assoziativ in eine andere Richtung gelenkt: »This phantasy had led on to reflections of how awkward it is, when all is said and done, for a physician to ask [for] medical treatment for himself from his professional colleagues. The Berlin eye-surgeon would not know me, and I should be able to pay his fees like anyone else. It was not until I recalled another event that the significance of this ›question of the fee‹ became apparent to me. I had only recently begun to repay a rather ancient debt, accrued during the course of my student years and comprising a sum of money which had been largely spent on the books and monographs from which I loved to study.« 49

Format und Gestaltung von Grahams Buch sind der Standard Edition nachempfunden. Zudem erinnert die Zahl von insgesamt 24 Buchseiten an die 24 Bände der Gesamtausgabe. Grahams Buch ist ebenso in Kunstleder gebunden, weist jedoch zusätzlich einen vom Künstler gestalteten Schutzumschlag auf, der den Aufbau des Buches illustriert (Abb. 5). Das Buch besteht zum einen aus dem 16-seitigen Faksimile des 13. Druckbogens von Band 4 der Standard Edition. Der Text von The Interpretation of Dreams setzt in Grahams Buch entsprechend mit der Seite 166

Abb. 5: Rodney Graham: Freud Supplement (170a–170d), Brüssel/New York/Villeurbanne/ Köln: Yves Gevaert/Christine Burgin Gallery/ Galerie Nelson/Galerie Johnen + Schöttle 1989, Cover. tion (1988) ein, die alle 24 Bände der englischen Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud versammelt. Graham fertigte zudem skulpturale Buchhüllen für Freud-Bände an. 49 | Rodney Graham zit. n. Arnold, Grant: »›It Always Makes Me Nervous When Nature Has No Purpose‹: An Annotated Chronology of the Life and Work of Rodney Graham«, in: Graham, Rodney: Rodney Graham: A Little Thought, Toronto et al.: Art Gallery of Ontario et al. 2004, 181-196, 187 [Grahams Einschub ist hier kursiv gesetzt, T. A.].

363

364

TOBIAS A MSLINGER

ein. Graham lässt den Druckbogen unverändert, bindet zwischen ihn jedoch acht neue Seiten ein. Die ersten vier davon, die auf die Seite 166 folgen, sind leer. Nach ihnen kommen die originalen Freud-Seiten 167-170. Die vier weiteren neuen Seiten sind mit 170a-d paginiert. Auf ihnen findet sich der von Graham eingeschobene Text. Der eigentliche Freud-Text setzt dann wieder auf Seite 171 ein. Die Idee des »Supplement«, des Einschubs, kann auch noch in einem größeren, über den einzelnen Band hinausgehenden Kontext betrachtet werden: als »Ergänzungsband« zur Freud-Gesamtausgabe.50 Nachdem Graham bereits die 24-bändige Standard Edition (1988) als ›Skulptur‹ ausgestellt hatte, liefert er mit Freud Supplement (170a–170d) gewissermaßen einen Ergänzungsband zur Werkausgabe nach. Konsequenterweise stellte er diesen in einer Installation mit dem Titel Blue Standard Edition with Supplement (1990-1991) ohne Schutzumschlag zwischen den beiden Traumdeutung-Bänden 4 und 5 der Werkausgabe aus. Grahams Appropriation ist als Fortführung der oben beschriebenen amateurhaften Auseinandersetzung des Künstlers mit der Psychoanalyse zu verstehen. Indem Graham Freuds Text unterbricht und etwas Neues einfügt, wendet er ein Verfahren an, das an Freuds eigene Analysemethode erinnert. Freud forderte seine Patienten zum völlig zwanglosen Sprechen und freien Assoziieren auf, um zu latenten Traumgedanken hinter manifesten Trauminhalten vorzustoßen. Auch in der Analyse seines eigenen Traums reiht Freud assoziativ Erinnerungen aneinander. Damit zeigt Freud Supplement (170a–170d) ein Bestreben, das auch in Marandas Wittgenstein’s Corrections erkennbar ist: sich in den Schreibprozess eines anderen Autors hineinzubegeben und diesen in dessen Sinne fortzuführen. Maranda begibt sich in Wittgensteins Werkstatt hinein, indem er auf eine handschriftliche Vorstufe des Tractatus zurückgreift und den von Wittgenstein konstatierten zweiten, ungeschriebenen Teil seines Werks herzustellen versucht. Graham wiederum klinkt sich in Freuds Traumanalyse ein und erweitert den Text mit einer Kompilation von Briefzitaten, mit Freuds eigenen Worten also. Was auf diese Weise entsteht, hat Freud so zwar nicht geschrieben – er hätte es aber schreiben können.

S IMON M ORRIS : R E -W RITING FREUD Auf Die Traumdeutung bezieht sich auch der britische Autor Simon Morris in ReWriting Freud aus dem Jahr 2005.51 Im Unterschied zu Freud Supplement (170a–170d) von Graham handelt es sich dabei nicht um ein aufwendiges, nur zu hohen Preisen 50 | Das Supplement ist ein wiederkehrendes Verfahren in Grahams Œuvre. Häufig wird in seinen Werken etwas Neues zu Bestehendem hinzugefügt. So fügt Graham im Künstlerbuch [La Véranda] (1989) in eine Kurzgeschichte Herman Melvilles ein kleines Detail ein: ein laubüberwachsenes Kapitell an einer Veranda. 51 | Vgl. dazu auch Janet Boatins Beitrag in diesem Band.

I N DEN Z WISCHENRÄUMEN DER W ISSENSCHAFTEN

erhältliches Künstlerbuch, sondern um eine Broschur mit ISBN, die regulär über den Handel zu beziehen ist. Der leichten Erhältlichkeit entspricht allerdings keine einfache inhaltliche Zugänglichkeit. Schlägt man das Buch auf, wird man überrascht feststellen, dass zwar von Lesbarkeit, jedoch nicht von Verständlichkeit die Rede sein kann. Der erste Satz lautet: »to vitality et release analyses the children is which come and his identify I for reasons, of whatever merely purchase derived dreams pair situation.«52 Die Erklärung für dieses Kauderwelsch liegt darin, dass Morris alle 223.704 Wörter von The Interpretation of Dreams mittels eines Zufallsgenerators neu gemischt hat. Sein Text enthält alle Buchstaben und Satzzeichen Freuds und ist dennoch unverständlich.53 Der nicht mehr durch Syntax und Grammatik organisierte Text ist dabei nicht völlig formlos, sondern wird durch die angeeignete typografische Gestaltung der englischen Freud-Taschenbuchausgabe von 1976 (Pelican Freud Library) zusammengehalten. So weisen die Absätze in beiden Ausgaben dieselbe Länge auf. Die Fußnotentexte und Literaturangaben sind bei Morris zwar im Haupttext aufgegangen; beibehalten wurde jedoch am Ende des Buches eine der Original-Bibliografie entsprechende Zahl von Seiten, die im für Literaturverzeichnisse typischen Format gesetzt sind (kleinere Schrift, Einrückungen).54 Auch die Kapitelüberschriften sind durch zufälliges Wortmaterial ersetzt worden, wobei ihre Formatierung erhalten blieb. Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede finden sich weiter auf den Titelblättern: An die Stelle des Vermerks »THE PELICAN FREUD LIBRARY / VOLUME 4« setzt Morris den Namens seines Verlages »INFORMATION AS MATERIAL«. Unter dem Titel und dem Namen des Verfassers heißt es in der Pelican-Ausgabe: »Translated by James Strachey / Edited by James Strachey […]«. Bei Morris wird aus dem menschlichen Übersetzer ein maschineller: »Translated by Lingo algorithm, / programmed by Christine Morris / Edited by Craig Dworkin«. Anstelle der originalen Einleitung zu Freuds Werk findet sich bei Morris ein Vorwort des Herausgebers Craig Dworkin – abgesehen von den Umschlagtexten der einzige verständliche Text des Buches. Die Pelican Freud Library basiert auf der (auch von Graham verwendeten) Übersetzung James Stracheys. Morris griff aus urheberrechtlichen Gründen nicht auf 52 | Morris, Simon: Re-Writing Freud, York: information as material 2005, 19. 53 | Der Zufallsgenerator war zuvor Teil einer interaktiven Installation und konnte von Betrachtern über ein Touchpad bedient werden. Mittlerweile existiert die Software auch als iPhone-App. Voraus ging dem Werk eine Performance, die der Künstler gemeinsam mit Studenten durchgeführt hatte: Zettel mit jedem einzelnen Wort der Traumdeutung wurden aus dem Fenster eines fahrenden Autos geworfen und so zufällig verteilt. Diese Performance stellt ihrerseits ebenfalls eine Appropriation dar. Bereits 1967 hatte Ed Ruscha eine Schreibmaschine aus dem Fenster eines fahrenden Buicks geworfen und die Aktion fotografisch in einem Künstlerbuch dokumentiert: Royal Road Test (mit Mason Williams und Patrick Blackwell), Los Angeles 1967. 54 | Morris: Re-Writing Freud, 731-752.

365

366

TOBIAS A MSLINGER

Stracheys geschützte Freud-Übersetzung zurück, sondern auf den inzwischen gemeinfreien englischen Text von A. A. Brill (1913). Daran zeigt sich, dass Künstler, die mit appropriativen Verfahren arbeiten, schnell mit urheberrechtlichen Fragen konfrontiert werden.55 Auch die kleinen Unterschiede in der weitgehend identischen Umschlaggestaltung von Original und Appropriation sollen offenbar vor rechtlichen Schwierigkeiten schützen. Morris kopierte ein gealtertes, zerlesenes Exemplar der Pelican Freud Library, das vergilbt ist und Risse, mithin Unterschiede zum Original aufweist (Abb. 6). Ein Aufkleber mit dem Schriftzug »BIG DADDY« verdeckt die Stelle, an der sich eigentlich das Pelican-Logo befindet, und räumt so urheberrechtliche Hindernisse aus. Der Sticker aus einer Packung der amerikanischen Frühstücksflocken Sugar Puffs56 ist aber auch inhaltlich lesbar. Er deutet den unbefangenen, spielerischen Umgang mit dem Opus magnum des Vaters der Psychoanalyse an. Weiterhin weist er auf Freuds Theorie vom Ödipuskomplex, die dem Vater eine autoritäre und restriktive Rolle gegenüber dem eifersüchtigen Sohn zuschreibt. Wie der Herausgeber Dworkin in seinem Vorwort ausführt, erinnert die Methode, die Re-Writing Freud zugrunde liegt, an bekannte literarische Verfahren, etwa die

Abb. 6: Simon Morris: Re-Writing Freud, hg. v. Craig Dworkin, York: information as material 2005, Cover. 55 | Der künstlerisch-aneignende Umgang mit vorgefundenen Werken stellt auch Rechtsexperten vor Schwierigkeiten. Im Urheberrechtskommentar von Dreier/Schulze heißt es: »Die sog. appropriation art [...] wird man unter Berufung auf die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG allenfalls in engen Grenzen für zulässig erachten können. Jedenfalls muss der künstlerische Zweck eindeutig überwiegen und es darf nicht zu einer Ersetzung des Originals kommen«. Dreier, Thomas/Schulze, Gernot: UrhG. Urheberrechtsgesetz, Urheberrechtswahrnehmungsgesetz, Kunsturhebergesetz. Kommentar, München: C. H. Beck 2008, Rn 24 [Herv. i. O.]. 56 | Vgl. http://rewritingfreud.com/about/ vom 1.10.2011.

I N DEN Z WISCHENRÄUMEN DER W ISSENSCHAFTEN

dadaistischen Zufallsgedichte aus zerschnittenen Zeitungen oder die Cut up-Poesie von William S. Burroughs. Re-Writing Freud steht damit im Widerspruch zu gängigen Vorstellungen von Literatur als komponierter Sprache. Weder findet sich hier ein besonders kunstvoll gestalteter Inhalt noch ist das Wortmaterial grammatikalisch, syntaktisch oder rhythmisch geordnet. Wo der Text ungeformt, zufällig zusammengesetzt ist, muss die Form an anderer Stelle gesucht werden, in diesem Fall »at the level of the book«57. Die Gestaltung des Buches – Umschlag, Satz, Typografie –, die für die meisten Werke von untergeordneter Bedeutung ist, ist hier zentral. Die kunstvolle Imitation der Pelican-Gestaltung, der anspielungsreiche »BIG DADDY«-Aufkleber, der unverständliche Text – all das gehört untrennbar zusammen. Re-Writing Freud erfordert ein unkonventionelles Verständnis von Literatur, das die Buchgestaltung als zum Text zugehörig betrachtet. Zum äußeren Rahmen, der dem Text hier seinen Sinn gibt, gehört neben der Gestaltung die psychoanalytische Theorie. Dworkin führt aus, dass einige prominente Begriffe Freuds – Chaos, Aphasie, Kastration und Verschiebung – auch zur Beschreibung von Morris’ Werk dienlich seien, wenn auch in einem eher wörtlichen denn psychoanalytischen Sinne.58 Eine zumindest grobe Analogie kann darin gesehen werden, dass Morris’ Zufallstext aus einem Ursprungstext hervorgeht, der zwar latent im Buch vorhanden, aber nicht direkt lesbar ist. In ähnlicher Weise entsteht nach Freud der Trauminhalt aus verborgenen Traumgedanken. Freud spricht u.a. von der »Leichtigkeit der Verschiebung psychischer Intensitäten […], so daß oft im manifesten Traum ein Element als das deutlichste und dementsprechend wichtigste erscheint, das in den Traumgedanken nebensächlich war«59. Bei Morris werden nebensächliche Fußnoten in den Haupttext ›verschoben‹. Mit dem Unterschied allerdings, dass hier nicht aus bestimmten Gründen etwas verdrängt werden soll, sondern die Verschiebungen der sinnlosen Willkür des Zufallsgenerators unterliegen. Eine weitere Analogie findet sich, wenn man – wie im Falle von Grahams Appropriation – Freuds Analysemethode einbezieht. Dworkin erinnert an eine Aussage Freuds, dass es produktive Assoziationen bei einem Klienten hervorrufe, wenn man diesem seinen Traum in Einzelteile zerlegt vorlege. In ähnlicher Weise assoziiert auch der Leser von Re-Writing Freud. Obwohl die Sinnhaftigkeit des Textes eliminiert wurde, nimmt er die Wörter als bedeutungsbehaftete Zeichen wahr. Wir können nicht nichts lesen: »We still recognize even the most non-referential language as part of a symbolic system, and in Re-Writing Freud we can clearly see the return

57 | Dworkin, Craig: »Editor’s Introduction: Grammar Degree Zero«, in: Morris: Re-Writing Freud, 11-18, 15. 58 | Vgl. ebd., 16. 59 | Freud, Sigmund: »Abriß der Psychoanalyse«, in: Ders.: Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt/M./Hamburg: Fischer 1953, 7-61, 27 [Herv. i. O.].

367

368

TOBIAS A MSLINGER

of its repressed referential drive.«60 Der Leser, der sich auf Morris’ Buch einlässt (und es nicht sofort wieder zuschlägt), kann sich in eine Art Laborsituation versetzen und dabei beobachten, wie er bei der Lektüre eines augenscheinlich sinnlosen Textes trotzdem Sinn zu produzieren versucht. Re-Writing Freud kann so zu neuen Erkenntnissen über die Funktionsweise des Verstehensprozesses führen.

S CHLUSS Die vorgestellten Bücher greifen allesamt auf klassische Theorietexte zurück, die zumindest in den Grundzügen in einer breiten Leserschaft als bekannt vorausgesetzt werden können. Das verwundert nicht, denn eine zumindest rudimentäre Kenntnis des jeweils appropriierten Textes scheint unabdingbar für das adäquate Verständnis eines Werks. Dass ein grobes theoretisches Wissen ausreichend ist, heißt umgekehrt, dass sich die Appropriationen nicht in erster Linie an ein wissenschaftliches Fachpublikum richten. Trotz der Bearbeitung wissenschaftlicher Texte handelt es sich bei allen Büchern um Kunst oder Literatur, und zwar eine, die einen unbefangenen, erfrischend-provokativen Umgang mit den oft genug versteinerten Klassikern der Wissenschaftsgeschichte pflegt. Obwohl man es als anmaßend empfinden mag, wie hier mit Autoritäten umgegangen wird, ist doch festzustellen, dass keine der Arbeiten zum Ziel hat, ein Werk einseitig zu travestieren, persiflieren oder zu verunglimpfen. Alle Werke zeigen eine intensive, im besten Sinne amateurhafte oder dilettantische Auseinandersetzung mit den gewählten Autoren. Mehrfach findet sich der Impuls, sich in einen vorgedachten Denkprozess einzuklinken und diesen produktiv mit künstlerischen Mitteln weiterzudenken. Zudem ist ein großes Interesse für die Persönlichkeit eines Denkers vorhanden, wenn etwa Maranda die Handschrift Wittgensteins zum Vorschein und in einen Gegensatz zu dessen formallogischen Überlegungen bringt oder wenn Graham Briefe Freuds zu einem neuen Text kompiliert. Die vielschichtigen Annäherungen an Autoren und ihre Werke können deshalb als Formen der Hommage begriffen werden. Indem Theorietexte in die Kunstwelt überführt werden, treten an ihnen Aspekte zu Tage, die sonst weniger deutlich sind. Es fällt auf, dass es sich bei den appropriierten Werken keineswegs um trockene akademische Prosa handelt. Kierkegaards Entweder – Oder weist ebenso wie Die Traumdeutung außerordentliche literarische Qualitäten auf; die strenge sprachliche Form des Tractatus fasziniert Dichter und Künstler bis heute. Die Literarizität eines theoretischen Textes wird also durch dessen Appropriation hervorgehoben. Dass sich die Bücher außerhalb des akademischen Diskurses befinden, heißt nicht, dass dieser für die Künstler bedeutungslos wäre. Wenn Maranda das gesamte 60 | Dworkin: »Editor’s Introduction«, 16.

I N DEN Z WISCHENRÄUMEN DER W ISSENSCHAFTEN

Buchstabenmaterial von Kants Kritiken alphabetisch sortiert, hinterfragt er den oft als reduktionistisch empfundenen Umgang der gegenwärtigen analytischen Philosophie mit klassischen Texten. Auch in der Bearbeitung ganz bestimmter Textausgaben und Übersetzungen spiegelt sich das Interesse der Künstler für Rezeptions- und Distributionswege in der Wissenschaft. Eine Appropriation, und sei sie noch so different zum Original, kann als neue Ausgabe eines Textes verstanden werden. Damit streift die Appropriation den Bereich der Edition. Maranda spricht dies explizit aus, wenn er die zweite Auflage von The Three Critiques of Immanuel Kant mit dem Untertitel »as edited by Parasitic Ventures Press« versieht. Künstlerische Neueditionen haben das Potential, den oftmals erstarrten Blick auf kanonische Texte neu zu öffnen. Da Appropriationen außerdem als Formen des Zitats begriffen werden können und häufig urheberrechtliche Grenzen ausloten, thematisieren sie indirekt die in der wissenschaftlichen Diskussion immer virulente Frage nach Zitat und Plagiat. Appropriationen theoretischer Texte sind in erster Linie künstlerische Werke. Kein Kant-Forscher wird ernsthaft die Bücher Marandas oder Kozłowskis für seine eigene Arbeit heranziehen. Dennoch beschäftigen sich die Künstler intensiv und ernsthaft mit den von ihnen appropriierten theoretischen Werken. Dies geschieht auf jeweils spezifische Weise und ist stets mehr als bloße Illustration eines philosophischen Systems. Gleichzeitig thematisieren die Künstler in ihrer unkonventionellen Herangehensweise immer wieder Fragen der Methodik, Rezeption und Distribution von Wissenschaft. Vielleicht lässt sich für ihre Bücher mit besonderem Nachdruck behaupten, was Roland Barthes für die Literatur generell konstatierte: »[D]ie Literatur arbeitet in den Zwischenräumen der Wissenschaften: sie ist ihnen gegenüber immer in Verzug oder ihnen voraus, dem Stein von Bologna vergleichbar, der des Nachts ausstrahlt, was er am Tag gespeichert hat, und durch diesen indirekten Lichtschein den neuen kommenden Tag erleuchtet.« 61

61 | Barthes, Roland: Leçon/Lektion. Antrittsvorlesung im Collège de France, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, 27.

369

Institutionell

Das Buch des Künstlers als Künstlerbuch Albert Coers

D ER B LICK IN DIE B IBLIOTHEK DES K ÜNSTLERS Bei einem Besuch in einer fremden Wohnung gilt das Interesse oft zunächst den Bücherregalen, um Aufschluss über den Bewohner zu bekommen. Man meint beim Blick in die Bibliothek – wie auch in andere private Bereiche des Haushalts wie Küche und Kühlschrank – seinen Stoffwechsel ablesen und nach dem Motto »der Mensch ist, was er isst« eine Verbindung zwischen den einverleibten Büchern und ihrem Besitzer herstellen zu können. »Der für die Edition Ex Libris eingeladene Künstler wählt ein für seine Arbeit, sein Kunstverständnis bedeutendes Buch aus, das er unter seinem Namen als Reprint präsentiert. So wird das ›Buch aus der Bibliothek des Künstlers‹ […] zu ›seinem‹ Buch«1 – so kündigt der Salon Verlag eine 2002 begonnene und seither auf 20 Ausgaben angewachsene Edition von Künstlerbüchern an. Damit sind einerseits Autorschaft und Besitz auf interessante Weise verknüpft, andererseits ist die Neugier auf einen intimen Blick in die Bibliothek des Künstlers und damit in seinen Prozess von Rezeption und Produktion geweckt, eine Neugier, die noch wächst, wenn es sich um bekannte Künstler handelt wie in der Edition Ex Libris. Hier überschneiden sich das Private und das Öffentliche. Das Einkleben eines Ex Libris, das als wichtiger materialer Bestandteil die Reihe und deren Namen prägt, bedeutet eine Auszeichnung des jeweiligen Exemplars, Markierung, Besitzergreifung. Es lässt die Besitzbeziehung manifest werden, trägt aber auch, als Grafik mit Signatur, einen Anteil traditioneller Autorschaft in sich, der in diesem Fall mit der Anzeige des ehemaligen Besitzes in eins fällt. Das Verfahren, ein Buch aus der Bibliothek eines Künstlers zum Künstlerbuch zu erklären und wiederaufzulegen, bedeutet eine Neudefinition des Begriffs ›Künstlerbuch‹2, das ja

1 | http://www.salon-verlag.de/index.htm?Ex Libris.htm vom 11.04.2011. 2 | Vgl. die Vereinbarungsdefinition in: Bader, Barbara: »Künstlerbücher: Von Institutionskritik zu Institutionalisierung«, in: Thesis. Cahier d’histoire des collections et de muséologie 4 (2004), 55-64, 55.

374

A LBERT C OERS

herkömmlich ›ein von einem Künstler gemachtes‹ Buch ist. Der Genitivus Possessivus, des Besitzes, wird zum Genitivus Auctoris, der Urheberschaft. Man könnte von einer definitorischen Macht des Besitzes sprechen, ›Appropriation‹ bedeutet hier Aneignung im wörtlichen Sinn. Wie aber wird der Prozess der Aneignung nachvollziehbar, der ja in der Gestaltung des Ex Libris und im Akt der materialen Besitzergreifung nicht aufgeht? Während in der literarischen Produktion Rezeptionsprozesse sich manchmal aus dem Textmaterial eingängig begründen lassen, etwa aus Exemplaren mit Anstreichungen und Anmerkungen, aus Notizen und Exzerpten, scheinen sie in der bildenden Kunst weniger eindeutig. Das Finden, Auswählen, Publizieren und Wiederauflegen von Quellen, eigentlich eine Domäne von Philologien und Bildwissenschaften, wird dabei zum Teil von den Produzenten selbst übernommen. Die Ex Libris-Reihe sieht sich dezidiert in diesem Kontext, indem sie verspricht, »Quellenwerke für das Verständnis der Arbeit zeitgenössischer Künstler«3 zugänglich zu machen.

O FFENLEGUNG DES WERKPROZESSES VON K ÜNSTLERSEITE Dieses Interesse von Wissenschaft und Rezipienten an der Arbeit mit vorhandenem Material und an der Offenlegung der Rezeptionsprozesse und Vorlagen trifft sich mit dem der Künstler. Ein Klassiker in dieser Hinsicht ist der Atlas Gerhard Richters, der ab 1989 mehrfach ausgestellt wurde, zudem in Buchform veröffentlicht und inzwischen auch online zu finden ist, mit Zuordnung von Vorbildern und Bildern.4 In den letzten Jahren erschienen aber auch Kataloge mit vergleichbarem Ansatz von Daniel Richter, Rachel Whiteread5 oder von Luc Tymans, wo es heißt: »This book is an invitation to the reader, to look beyond the paintings. [...] The artist has recently opened up a part of his artistic practice, in the form of Polaroids and other documents, that was previously out of sight. It is now possible as never before to chart his fascinations and working processes.« 6

3 | http://www.salon-verlag.de/index.htm?Ex Libris.htm vom 11.04.2011. 4 | Richter, Gerhard/Jahn, Fred (Hgg.): Atlas, München: Jahn 1989; Ders./Friedel, Helmut (Hgg.): Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen, Köln: Walther König 1997; Ders.: Atlas, Köln: Walther König 2006. Vgl. auch http://www.gerhard-richter.com/art/atlas/ 5 | Vgl. Richter, Daniel/Ermacora, Beate (Hgg.): Billard um halbzehn, Kiel: Kunsthalle Kiel 2001; Whiteread, Rachel/Wood, Catherine (Hgg.): Embankment, London: Tate Publishing 2005. Das letzte Drittel des Katalogs besteht aus einer Fotomaterialsammlung der Künstlerin zum Motiv des Kartons/der Schachtel. 6 | Tuymans, Luc/Vermeiren, Gerrit (Hgg.): I don’t get it, Gent: Ludion 2007 (Klappentext).

D AS B UCH DES K ÜNSTLERS ALS K ÜNSTLERBUCH

Auch ein Künstler wie Thomas Demand, der längere Zeit eine restriktive Bildpolitik betrieben hat, was die Abbildung von Vorlagen für seine Papierskulpturen und Fotoarbeiten angeht, stellte das für die Arbeit Grotte (2006) gesammelte Bildmaterial zusammen und machte den Werkprozess zum Gegenstand eines aufwendigen Künstlerbuches mit dem anspielungsreichen Titel Processo Grottesco7 [dt. grotesker Prozess/Prozess der Grotte], einer Materialsammlung zum Motiv der Höhle, die nicht nur Bilder, sondern auch eine Vielzahl von Texten enthält. Künstler betreiben somit das, was einst die Domäne der Kunstwissenschaftler war: Sie sichern die Quellen, edieren sie und machen sie verfügbar; dabei steuern sie aber auch die Rezeption ihrer Werke und legen Zusammenhänge fest.8

D IE K ÜNSTLERBIBLIOTHEK ALS K UNSTWERK Die Offenlegung der Quellen ist in engem Zusammenhang zu sehen mit kuratorischen oder künstlerischen Projekten, die auf die Künstlerbibliothek fokussieren und dabei die Verknüpfung der einzelnen Bücher mit dem Künstler unterschiedlich herstellen und gewichten. Für die Ausstellung mentalscape [eine Bibliothek] (2003) etwa wurden von einem Kurator Künstler der Region München eingeladen, aus ihrer Bibliothek zwischen drei und zehn für sie wichtige Bücher auszuwählen, die einer temporären Kollektivbibliothek einverleibt wurden. »Mit den Büchern sollte, in Form eines indirekten Statements, die Möglichkeit einer vermittelten Form gegeben werden für das, was den Künstlern wichtig ist […] – und, gerade weil es Hintergrund der Arbeit ist, in den Werken selbst vielleicht nicht zum Tragen kommt«9, heißt es im Einführungstext des Katalogs. Dieser Aspekt scheint auch im Hinblick auf die Reihe des Salon Verlags interessant: Geboten wird dem Künstler also die Möglichkeit, nicht auf der offensichtlichen Ebene seiner bekannten und von ihm erwarteten Themen- und Formensprache agieren zu müssen, sondern auf einer subtileren, die mit der der Arbeiten nicht unmittelbar in Beziehung steht. Durch die Möglichkeit, mehrere Bände auswählen zu können, und die relativ hohe Zahl der Beteiligten entstand mit mentalscape eine Art Querschnittsbibliothek mit über 500 Bänden von ca. 80 Künstlern, in der sich natürlich auch viel Bekanntes und Kanonisches fand, etwa moderne und zeitgenössische Philosophie 7 | Demand, Thomas/Celant, Germano (Hgg.): Processo Grottesco. Yellowcake, Mailand: Fondazione Prada 2007. 8 | Vgl. dazu: Schneemann, Peter J.: »Eigennutz – Das Interesse von Künstlern am Werkkatalog«, in: Gelshorn, Julia (Hg.): Legitimationen. Künstlerinnen und Künstler als Autoritäten der Gegenwartskunst, Bern: Lang 2004, 205-221. 9 | Kramatschek, Christoph (Hg.): mentalscape [eine Bibliothek] – oder ein Bild einer Ausstellung, München: FOE 156 2003, o.S.

375

376

A LBERT C OERS

von Adorno bis Žižek. In dieser Bibliothek stand die Präsentation eines kollektiven Fundus gegenüber der eines individuellen Buches eines einzelnen Künstlers im Vordergrund. Dies spiegelte sich in der Aufstellung der Bücher wider, die nicht nach leihgebenden Künstlern geordnet waren, sondern nach Autoren oder Titeln. Die Zuordnung eines Buches war nur anhand des Ausstellungskatalogs möglich, der als Bibliografie die Bücher und ihre Besitzer verzeichnete; daneben gab es keine Markierung, die den Besitz signalisiert hätte, anders als in der Ex Libris-Edition des Salon Verlags. Es stellt sich hier und auch bei anderen Projekten, die Künstlerbibliotheken zum Gegenstand haben, die Frage, wie plausibel die Aufnahme der ausgewählten Bücher in die Bibliotheken ist oder ob hier einzig die definitorische Macht des Besitzes zum Zug kommt. Auch liegt die Frage nahe, ob Künstler ihr Werk zu intellektualisieren, ihm Hintergrund und Tiefe zu verleihen suchen, womit sie zugleich dem Verlangen des Rezipienten nach solchen Bezügen entgegenkommen. Eine dezidiert persönliche Künstlerbibliothek stellte Thomas Hirschhorn zusammen, etwa zeitgleich zur Kollektivbibliothek mentalscape, in der die Auswahl dramatisiert und im Akt der Appropriation medial stärker ausgeprägt ist. Für seine Emergency Library (2003) fotografierte Hirschhorn etwa 40 Cover seiner Bücher, darunter Kataloge von Duchamp und Beuys, und baute sie später in überlebensgroßem Format als Skulpturen nach. Der Akt der Ab- und Nachbildung, besonders in seiner skulpturalen Form, stellt gleichzeitig einen Akt der Aneignung dar. Das Auswahlkriterium ist hier, wie bei der erwähnten Kollektivbibliothek, das der Wichtigkeit der Bücher für den Künstler, gesteigert aber hier zur Unverzichtbarkeit.10 Der Titel bezieht sich auf die bekannte Vorgabe einer Extremsituation, die eine Beschränkung auf das Notwendigste auferlegt, etwa das Ausgesetztsein auf einer einsamen Insel. Auf einem Foto (Abb. 1) zeigt sich der Künstler stehend vor der monumentalen Serie, mit nacktem Oberkörper, was die existentielle Verbundenheit mit den Büchern und die demonstrative Offenlegung des Innersten unterstreichen soll. Der Künstler entblößt sich, zeigt sich als nacktes Mängelwesen, das auf Bücher angewiesen ist, deren Präsenz und Einfluss auch durch die Größenrelation zum menschlichen Körper betont ist. Die konkrete Beziehung der einzelnen Bücher zum Künstler geht aus der Arbeit jedoch nicht hervor. Sie muss über andere Arbeiten Hirschhorns erschlossen werden, in denen Autoren in Form von Textzitaten, einzelnen Büchern oder ganzen Referenzbibliotheken auftauchen, beispielsweise Robert Walser, Friedrich Nietzsche, Georges Bataille. Hirschhorns Installationen fordern zur Teilnahme

10 | Vgl. Hirschhorn, Thomas et al. (Hgg.): Thomas Hirschhorn, London: Phaidon 2004, 113-117. Im Zusammenhang einer nach dem Kriterium der Wichtigkeit ausgewählten Künstlerbibliothek erwähnt sei die Arbeit von Fifty Books I Have Read More than Once (2007) von Douglas Coupland, mit der Visualisierung der Relevanz durch skulpturale Balkendiagramme.

D AS B UCH DES K ÜNSTLERS ALS K ÜNSTLERBUCH

Abb. 1: Thomas Hirschhorn vor Emergency Library.

auf.11 Die Aneignung wird von ihm als modellhaft verstanden und nach außen getragen. Eine andere, nüchterne und systematischere Aneignung und Verarbeitung der eigenen Bibliothek hat Hermann Pitz betrieben, zu dessen Arbeitsweisen das Katalogisieren und Ordnen eigener Arbeiten und auch Arbeitsmittel gehört. In Ausstellungskatalogen publiziert Pitz diese Listen, unterstreicht damit ihren Stellenwert innerhalb seines Werks und spielt gleichzeitig mit autoreferentiellen Verweisen bis hin zur Mise en abyme, etwa im Falle eines Katalogs im Katalog. 1994 veröffentlichte er einen ausführlich kommentierten Katalog seiner Bibliothek12 , einige Jahre später eine kommentierte Liste seiner Werkzeuge, die 2003 im Zeppelin Museum Friedrichshafen ausgestellt wurden.13 Dies betont den Status der Bücher als Arbeitsmittel noch stärker. Sie sind nach einer detaillierten Systematik geordnet, der auch ihr Katalog folgt. Dokumentarisch-sachliche Schwarz-Weiß-Fotografien der einzelnen Regalabschnitte sind als Abbildungen der jeweiligen Auflistung vorangestellt. Diese führt nicht nur die Daten, sondern auch die Herkunft der Bücher genau auf, die biografischen Umstände ihres Erwerbs, sich entwickelnde Interessen sowie künstlerische Projekte, die mit ihnen in Zusammenhang standen. Der Katalog-Kommentar ist damit zugleich Autobiografie.

11 | Vgl. beispielsweise seine Arbeit Bataille Monument auf der Documenta 11 2002. 12 | Pitz, Hermann: Libros y obras/Bücher und Werke, Valencia: Instituto Valenciano de Arte Moderno 1994. 13 | Pitz, Hermann: Licht aus Bozen, Werkzeug aus Düsseldorf, Lindenberg: Fink 2003.

377

378

A LBERT C OERS

A PPROPRIATION ALS VERLEGERISCHES P ROJEKT Bei einer Reihe, wie sie der Salon Verlag vorlegt, stellt sich die Frage nach übergeordneten Prinzipien und Interessen, die zu genau dieser Auswahl an Künstlern und Büchern geführt haben. Damit rückt auch die Figur des Verlegers in den Vordergrund, denn die einzelnen Bücher sind ja nicht in erster Linie auf die Initiative der Künstler zurückzuführen, sondern auf die des Verlegers, der Künstler einlädt, sich mit einem Buch eigener Wahl an der Verlagsreihe zu beteiligen. Es handelt sich also um ein zweistufiges Auswahlverfahren. Eine Art von institutionalisierter Appropriation könnte man das nennen – wäre die Bezeichnung ›Institution‹ für einen Einmann-Verlag wie den Salon Verlag denn angemessen. Durch die Beteiligung des Verlegers wird das Konzept der Appropriation und damit der Autorschaft um einen weiteren Mitspieler erweitert. Die wiederaufgelegten Bücher sind auch die des Verlegers; Herausgeberschaft und Autorschaft sind hier eng verknüpft, im Gegensatz zum autonomen Künstlerbuch, das selten einen Herausgeber hat, enger auch als beim Ausstellungskatalog, wo die Herausgeberschaft oft eine institutionell bedingte Formalie ist. Der Einfluss des Herausgebers beschränkt sich im Fall der Ex Libris-Reihe nicht auf die Initiative zur Reihe und die Auswahl der ihm zum Teil aus vorhergehender Zusammenarbeit bekannten Künstler; teilweise reicht er auch in die Auswahl der Bücher selbst, wenn ein Vorschlag diskutiert und durch eine Alternative ersetzt wird. Durch dieses diskursive Verfahren ist das Konzept einer unilateralen Autorschaft abermals ausgehöhlt, das ja bereits durch Wiederauflage eines ›fremden‹, in der Regel nicht mit dem Künstler identischen Autors in Frage gestellt ist. Der für den Verlag gewählte Name »Salon« ist also Programm: ein Ort der Austausches, ohne übergeordnete Autorität oder enge Vorgaben. Die Funktion eines diskursiven Forums wird noch klarer, wenn man sich die Anfänge der Verlagspraxis ansieht: Bereits Ende der 1970er Jahre, als Student an der Kunstakademie Düsseldorf, begann Theewen mit der Produktion des Magazins Salon, zu dem er Mitstudenten, lokale, aber auch internationale Künstler einlud. Dies stellte sich schließlich langfristig als der Weg heraus, an künstlerischer Produktion teilzuhaben, ohne selbst unmittelbar etwas zu produzieren. Theewen selbst beteiligte sich zunächst auch künstlerisch am Diskurs um Autorschaft in Fotoserien, die bereits existierende Fotografien reproduzierten, die er mit Freude am Oxymoron als »Originalreproduktion« bezeichnete.14 In einem Gespräch äußert Theewen: »Ich hab für mich eigentlich ‘76/‘77 entschieden, dass es mein Ding nicht ist […] mir etwas auszudenken und zu realisieren und dann Jahre später festzustellen, dass das irgend jemand ähnlich oder schon 14 | Theewen publizierte Anfang der 1980er Jahre u.a. zwei Künstlerbücher mit reproduzierten Fotografien, darunter Die komplette Pin-Up-Sammlung / The complete Collection of Pinups, München: Verlag Hubert Kretschmer 1980.

D AS B UCH DES K ÜNSTLERS ALS K ÜNSTLERBUCH besser gemacht hat. Deswegen war für mich eigentlich immer Arbeitsmotto: Das Beste vom Besten ist gerade gut genug, um von mir entdeckt und reproduziert zu werden.« 15

Dieses Prinzip, das erinnert an Douglas Hueblers bekanntes Diktum von der mangelnden Notwendigkeit, dem bereits Existierenden noch etwas hinzuzufügen, findet sich in der Reihe des Salon Verlags fortgeführt.

P RINZIP W UNDERKAMMER Beim editorischen Konzept der Reihe des Salon Verlags mit der Wiederauflage von vergriffenen Titeln mag man auch an ähnliche Konzepte und Reihen im belletristischen Bereich denken, am bekanntesten ist wohl die 1984 bis 2004 von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene und bis heute fortgeführte DIE ANDERE BIBLIOTHEK.16 Bei aller Unterschiedlichkeit – Enzensberger handelte stark aus aufklärerisch-gesellschaftspolitischem Impetus – gibt es doch Gemeinsamkeiten: Die Motivation durch die Unzufriedenheit mit der bisherigen Publikations-/ Editionspraxis verbindet Enzensberger17 und Theewen. Dieser empfand bisherige Editionsprojekte, vor allem in formaler Hinsicht, als zu eng begrenzt. Aus diesem Ungenügen heraus entstand die Edition separée, eine Serie, bei der das Augenmerk auf die Einheitlichkeit der einzelnen Beiträge gelegt wurde. Wie kommt es nun aber dazu, dass die Ex Libris-Reihe auf einen Reprint älterer, vergriffener Bücher hinausläuft, im Gegensatz etwa zur Emergency Library von Hirschhorn, bei der allein inhaltliche Kriterien eine Rolle zu spielen scheinen? Es handelt sich um ein Zusammenspiel verschiedener Kriterien und Prioritäten, die zur Auswahl eines Buches führen: Zuvorderst spielt auch hier die Bedeutung des jeweiligen Buches für den Künstler eine entscheidende Rolle, dann aber auch der Wegfall des Copyrights eines älteren vergriffenen Buches und die damit verbundene Kostenersparnis. Innerhalb der Reihe haben allerdings auch noch lieferbare Bücher Verwendung gefunden; in diesem Fall wurde das Buch gekauft (was die Produktion vereinfachte) und die Übernahme per neu gestaltetem Schutzumschlag signalisiert,

15 | »Rockabilly rules ok« [Gerhard Theewen im Gespräch mit Stephan Dillemuth und Thomas Ruff], in: Societyofcontrol 1 (1995), http://www.societyofcontrol.com/akademie/theewen_ruff.htm vom 10.3.2011. 16 | Vgl. »Zur Geschichte der Reihe DIE ANDERE BIBLIOTHEK«, in: http://www.die-andere-bibliothek. de/index.php?id=81 vom 10.4.2011. 17 | »[…] Unzufriedene gibt es immer. Wir zählen uns zu ihnen. Deshalb wollen wir anfangen, DIE ANDERE BIBLIOTHEK zu veröffentlichen.« Ebd.

379

380

A LBERT C OERS

so bei den Büchern von Peter Piller18, Wolfgang Tillmans19 und Norbert Schwontkowski20. Diese Bücher sind aber in der Minderheit gegenüber den vergriffenen. Damit wird das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden: Die Wiederauflage eines entlegenen, älteren Werks vereinfacht die Frage nach den Rechten, was gleichzeitig dem Interesse des Lesers des ausgewählten Buches, aber auch des Produzenten entgegenkommt. Es ist kein Zufall, dass den ersten Band in der Reihe des Salon Verlags ein Barocktraktat über Raritäten- und Wunderkammern bildet, ausgewählt von Mark Dion.21 Der Titel steht stellvertretend für die gesamte Reihe: Wie es der Wunderkammer entspricht, die ihren Reiz nicht nur aus dem einzelnen Objekt, sondern auch aus dem Kontrast und dem assoziationsförderndem Neben- und Durcheinander bezieht, ist in der Ex Libris-Reihe ganz Verschiedenes versammelt: handliche Taschenbücher mit glattglänzendem hellblauen Einband (Lawrence Weiner22), spröde Pappbände (Thomas Demand23), biegsam-farbstarke Magazine (Hans-Peter Feldmann24); Format, Einbandart, Farben, Papier, Typografie sind sehr unterschiedlich, ebenso das Alter ihrer Quellen. Durch Faksimiledruck können Werke aus dem Barock neben einer Kunstzeitschrift der 1950er Jahre liegen (Abb. 2). Die Umschläge als ›Gesicht‹ des Buches sind bereits Teil der Appropriation: Ihre Gestaltung ist Sache des jeweiligen Künstlers, im Rahmen der Vorgabe, von Bestehendem auszugehen. Dabei gibt es unterschiedliche Grade der Mimesis, der von der Abwandlung eines bestehenden Modells (Weiner) über die Nachempfindung von Typografie und Illustrationsstil (Dion) bis zur unveränderten Übernahme (Feldmann) reicht. Für den Rezipienten sind Art und Umfang des künstlerischen Eingriffs nicht sofort ersichtlich, er wird zu Spekulationen über die Gestalt des Originalbuches animiert und dazu, es sich zu besorgen und zu vergleichen. 18 | Theewen, Gerhard (Hg.): Peter Piller präsentiert Gottfried Benn: Altern als Problem für Künstler, Köln: Salon Verlag 2010 [Berlin: Alexander 2006]. 19 | Theewen, Gerhard (Hg.): Wolfgang Tillmans präsentiert Jiddu Krishnamurti: Freedom From the Known, Köln: Salon Verlag 2006 [New York: HarperCollins 1975]. 20 | Theewen, Gerhard (Hg.): Norbert Schwontkowski präsentiert Roberto Bazlen: Der Kapitän, Köln: Salon Verlag 2007 [Klagenfurt/Salzburg: Wieser 1993]. 21 | Theewen, Gerhard (Hg.): Mark Dion präsentiert Die geöffnete Raritäten- und Naturalien-Kammer, Köln: Salon Verlag 2002 [Hamburg 1704]. 22 | Theewen, Gerhard (Hg.): Lawrence Weiner: Bremerhaven, Köln: Salon Verlag 2005 [Within Forward Motion/Innerhalb vorwärtsgerichteter Bewegung, Bremerhaven: Kabinett für aktuelle Kunst 1973, Towards A Reasonable End/Auf ein vernünftiges Ende zu, Bremerhaven: Kabinett für aktuelle Kunst 1975, With A Touch Of Pink/Mit einem Hauch von Rosa, Bremerhaven: Kabinett für aktuelle Kunst 1978]. 23 | Theewen, Gerhard (Hg.): Thomas Demand präsentiert Rudolf Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit, Köln: Salon Verlag 2006 [Berlin: Weltkreis 1928]. 24 | Theewen, Gerhard (Hg.): Hans-Peter Feldmann präsentiert abstrakte Kunst. Querschnitt 1953, Köln: Salon Verlag 2008 [Sonderausgabe der Zeitschrift Das Kunstwerk, Baden-Baden: Klein, 1954].

D AS B UCH DES K ÜNSTLERS ALS K ÜNSTLERBUCH Abb. 2: Cover der Bände der Ex Libris-Reihe von Mark Dion, Peter Piller, Lawrence Weiner, Thomas Demand, Klaus-Peter Feldmann.

Der äußeren Mannigfaltigkeit entspricht die inhaltliche: Die Bücher stammen aus ganz verschiedenen Sparten, Wissensgebieten und Zeiten. Neben dem Wunderkammer-Traktat, das zugleich Handbuch ist, gibt es Künstlerbiografien (Günter Förg25), Werke aus Geografie (Candida Höfer26), Architektur (Thomas Huber27, Thomas Struth28), akademischer und fernöstlich-lebenspraktischer Philosophie (Thomas Demand, Wolfgang Tillmans), ein Kindersachbuch (Rachel Whiteread29) und manches, was sich auf den ersten Blick nicht einordnen lässt, etwa das Receuil des Secrets de Louise Bourgeois von 1635. Der Reiz der Reihe erschöpft sich nicht in der bloßen Diversität der Gegenstände, sondern liegt, wieder nach dem Prinzip der Wunderkammer, in der Vielfalt ihres Beziehungsgeflechts, im Jonglieren mit dem, was der Rezipient von den Künstlern weiß oder woran er sich zu erinnern glaubt; etwa im Fall des Buches über Stadtfotografie von Thomas Struth, dessen frühe Architekturfotografien man vielleicht 25 | Theewen, Gerhard (Hg.): Günther Förg präsentiert Karl von Pidoll: Aus der Werkstatt eines Künstlers. Erinnerungen an den Maler Hans von Marées, Köln: Salon Verlag 2003 [Augsburg: Dr. B. Filser, 1930]. 26 | Theewen, Gerhard (Hg.): Candida Höfer präsentiert Dr. K. von Spruner‘s Historisch-Geografischer Schul-Atlas, Köln: Salon Verlag 2009 [Gotha: Perthes 1860]. 27 | Theewen, Gerhard (Hg.): Thomas Huber präsentiert Benedikt Huber: Das Haus Huber in Riehen, Köln: Salon Verlag 2009 [Riehen: Benedikt Huber 2004]. 28 | Theewen, Gerhard (Hg.): Thomas Struth präsentiert A. E. Brinckmann: Deutsche Stadtbaukunst in der Gegenwart, Köln: Salon Verlag 2010 [Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt 1921]. 29 | Theewen, Gerhard (Hg.): Rachel Whiteread presents M. Sasek: Mike and the modelmakers, Köln: Salon Verlag 2008 [London: Lesney 1970].

381

382

A LBERT C OERS

gesehen hat, dessen Präsenz in der Bilderwelt aber inzwischen von ganz anderen Sujets geprägt ist. Man sucht nach der Bedeutung von Hans von Marées’ Lebensbeschreibung für Günther Förg oder glaubt tatsächlich auf Bildvorlagen für künstlerische Arbeiten zu stoßen, etwa in Thomas Ruffs Astronomiebuch.30

D IE A NEIGNUNG DES E IGENEN – THOMAS H UBER UND L AWRENCE WEINER Wie stellt sich die Aneignung, die Herstellung der Beziehung von Künstler und Buch im Einzelnen dar – lassen sich bestimmte Muster oder Strategien erkennen? Ein Modus ist der Biografische: So wählt Thomas Huber eine Dokumentation seines Vaters, eines Architekten, über das Haus seiner Familie aus. Diese Schrift geht über die unmittelbare persönliche Bedeutung hinaus, denn es handelt sich bei dem Haus um ein Beispiel für das Neue Bauen Ende der 1920er Jahre und damit um ein Stück Architekturgeschichte. Huber kontextualisiert das Buch durch ein Vorwort, ein Verfahren, das sich auch in seiner künstlerischen Arbeit findet, in der Texte eine große Rolle spielen und die u.a. aus Vorträgen in Kombination mit Bildern besteht. Einen Gegensatz bildet das Buch von Lawrence Weiner, obwohl sich auch hier biografisch argumentieren lässt: Der Veteran der textbasierten Konzeptkunst wählt eigene vergriffene Künstlerbücher als Vorlage aus. Was zunächst als Ausweichen vor der Themenstellung, bestenfalls als sehr selbstbezogen erscheint, erweist sich bei näherer Überlegung als mit dem Werk Weiners kompatibel: Das Künstlerbuch als der Reprint eines Künstlerbuches erscheint als eine Tautologie, eine Form, die Weiner auch in zahlreichen Textarbeiten verwendet, die auf dem Prinzip der Übereinstimmung von Titel und Inhalt, von visueller Erscheinung eines Textes und Textinhalt beruht. Die Vorgabe, »ein für seine Arbeit bedeutendes Buch« auszuwählen, hat Weiner ganz wörtlich aufgefasst. Dass genau drei Bücher ausgewählt wurden, ist eine weitere Selbstreferenz: In den einzelnen Künstlerbüchern spielt die Zahl Drei als Gliederungsstruktur oder als Anzahl von Textzeilen auf einer Seite eine große Rolle.

N ACHAHMUNG UND R EALISMUSSTREIT – THOMAS D EMAND Thomas Demand hat Scheinprobleme in der Philosophie von Rudolf Carnap (1928) ausgewählt, eine konzentrierte und spröde Abhandlung. Sie ist so unbekannt, dass sie sich zur renommistischen Demonstration intellektueller Fähigkeiten nicht recht eignet, auch nicht als Zitat oder als Gegenstand von Dekonstruktion, anders als kanonische Werke der Philosophie, man denke an die Appropriationen der 1970er 30 | Theewen, Gerhard (Hg.): Thomas Ruff präsentiert Johann Müller: Atlas zum Lehrbuch der kosmischen Physik, Köln: Salon Verlag 2004 [Braunschweig: Vieweg 1861].

D AS B UCH DES K ÜNSTLERS ALS K ÜNSTLERBUCH

Jahre, etwa Kants durch Joseph Beuys in Ich kenne kein weekend (1972/80) oder des Gesamtwerks Hegels durch Dieter Roth in seinen Literaturwürsten (1974). Worin liegt Demands Aneignung? Das Ex Libris, das in vielen anderen Fällen der Reihe die Verbindung Künstler–Buch deutlich macht, scheint kryptisch (Abb. 3). Es besteht aus einem Kartonstück, pfeilartig zugeschnitten, auf der einen Seite farbig bedruckt, auf der anderen signiert. Die Funktion der Beigabe erhellt sich im Kontext: Im Vorsatz findet sich ein Bild aus Demands Fotoserie Klause (2006), das auf einer Fensterbank eine vertrocknete Yuccapalme zeigt (Abb. 4). Im Topf der Pflanze steckt ein Kartonstück, eine Pflanzenpflegekarte, die genauso aussieht wie das Ex Libris. Es erweist sich über die anfängliche Irritation hinaus als anregend: Beidseitig bedruckt bzw. beschriftet sperrt es sich gegen das Einkleben und dadurch gegen eine eindeu-

Abb. 3+4: Gerhart Theewen (Hg.): Thomas Demand präsentiert Rudolf Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie, Köln 2006, Cover mit Ex Libris und 2-3.

383

384

A LBERT C OERS

tige Funktionalisierung; es hat Objektcharakter und könnte auch in einem anderen Gebrauchszusammenhang fungieren, etwa als Buchzeichen. In der Schriftlosigkeit der einen Seite verweist es auf das Fehlen bzw. Auslöschen von Informationen, auf einen Abstraktionsprozess, dem Demand seine Bildmotive generell unterwirft. Diese Leerstelle lässt sich auch im Zusammenhang des Fotos zu Beginn des Buches betrachten: Ist das Fehlen von Angaben zur Pflege vielleicht verantwortlich für das Vertrocknen der Pflanze? Ein Bestandteil des fotografierten Objektes scheint sich aus dem Bild herausgelöst zu haben und greifbar in die Welt des Betrachters eingetreten zu sein. Realitätsebenen überschneiden sich – was sich thematisch zum ausgewählten Buch fügt. Am Ende des Buches ist das Foto noch einmal abgebildet, allerdings nun entleert von der Pflanze. Das Verschwinden von Objekten stellt wieder einen Bezug zum Text Carnaps her, in dem dieser zeigen will, dass es sich bei der Frage nach der körperlichen Realität oder Fiktionalität des Wahrgenommenen nur um ein Scheinproblem handelt.31 Gleichzeitig steht das Thema der An- und Abwesenheit im Zusammenhang mit dem Kontext der Fotoserie, aus der das Einzelbild stammt: ein Fall von Kindsmissbrauch, bei dem trotz langer Recherchen Fragen offen blieben, auch die nach dem Verbleib eines der Opfer. Der Pappeinband des Buches besteht aus ähnlichem Material, wie Demand es für seine Skulpturen verwendet, und wie diese ist er puristisch frei von Informationen; kein Titel, kein Verlagslogo findet sich auf ihm. Man könnte das Buch von außen durchaus für eine aus Pappe gebaute Attrappe, für ein illusionistisches Artefakt des Künstlers halten.

K OMMENTARLOSIGKEIT ALS K ONZEPT – H ANS -P ETER FELDMANN UND P ETER P ILLER Während dieser Pappband den strengen Geist der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre, in denen Carnaps Buch erschien, recht authentisch zu verkörpern scheint, hat man beim Umschlag der von Hans-Peter Feldmann ausgewählten Zeitschrift Das Kunstwerk von 1953 vielleicht zunächst Zweifel, ob es sich um ein ›Original‹ handelt: Die leuchtend bunten Farbflächen mit dem krakeligen, primitivistischholzschnittartigen Schriftzug »abstrakte Kunst« sehen wie eine Parodie aus, erinnern an die Kombination von Versatzstücken ›moderner‹ Kunst etwa eines Sigmar Polke. Man kann sich durch Recherche in Antiquariatskatalogen und Bibliotheken aber davon überzeugen, dass das Cover bis auf die diskrete Aktualisierung des Verlagslogos getreu reproduziert ist. Dies entspricht der Arbeitsweise Feldmanns, die 31 | »Die Wissenschaft kann in der Realitätsfrage weder bejahend noch verneinend Stellung nehmen, da die Frage keinen Sinn hat.« Carnap, zit. n. Theewen: Thomas Demand präsentiert Rudolf Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie, 35.

D AS B UCH DES K ÜNSTLERS ALS K ÜNSTLERBUCH

Abb. 5: Gerhart Theewen (Hg.): Hans-Peter Feldmann präsentiert abstrakte Kunst, Köln 2008, 51.

eben nicht in Veränderung, sondern in trocken-kommentarloser Wiedergabe des Vorhandenen besteht. Dabei regt gerade der Verzicht auf Kontextualisierung zu Überlegungen an: Ist die Zeitschrift als biografisch wichtiges Dokument für Feldmanns eigene, gar erste Begegnung mit der damals zeitgenössischen Kunst zu lesen, was ja zeitlich immerhin möglich wäre (Feldmann ist 1941 geboren), oder als ein interessantes Dokument der Zeit, in der über gegenstandslose Kunst mit heute kaum verständlichem Eifer debattiert wurde, oder eher als realsatirische Abrechnung mit dem Zeitgeist der 1950er Jahre, der pathetisch-entschlossene, im heutigen Kunstdiskurs kaum mehr übliche Sätze prägte wie etwa »Hier oder nirgendwo läuft der Pfad, den die Kunst beschreiten muss«32? Der Künstler enthält sich eines Kommentars. Anzunehmen ist, dass der Bildersammler Feldmann die Zeitschrift wegen ihres Reichtums an Abbildungen ausgewählt hat, die man sich auch gut in einer Serie, in einem Heft Feldmanns vorstellen könnte, so etwa den Pfeife rauchenden, kritisch sein Bild beäugenden Maler33 (Abb. 5) oder Motive und Slogans aus dem zeittypischen Anzeigenteil. Man beginnt unwillkürlich, sein eigenes Feldmann-Album zusammenzustellen. Peter Piller ist einer der wenigen Künstler der Ex Libris-Reihe, die einen kanonischen Schriftsteller auswählen: Gottfried Benn. Aber auch hier wurde nicht etwas Bekanntes wie Benns Lyrik ausgesucht, sondern das eher Entlegene: die Schriftfassung einer Rede über »Altern als Problem für Künstler« von 1954. Pillers Ex Libris, ein Farbfoto einer jungen, aus einer dürren Wurzel sprießenden Pflanze, lässt sich bildassoziativ als Gegensatz zum Thema des Alterns lesen. Anhand ihrer zarten Blätter kann man sie als Mimose identifizieren, die besonders sensibel auf Berührungen reagiert und damit emblematisch für den Künstler stehen kann, sowohl für Piller als auch für Benn, was einen gewissen Widerspruch aufbaut zum vorherrschen32 | Zit. n. Theewen: Hans-Peter Feldmann präsentiert abstrakte Kunst, 64. 33 | Vgl. ebd., 52.

385

386

A LBERT C OERS

den Bild von Benn als robustem, kalt sezierenden Künstler. Das Bild stammt nicht aus dem Archiv von Zeitungsfotos, für das Piller in erster Linie bekannt ist. Wurde dem Künstler das Altern etwa umso stärker bewusst, je mehr er sich mit dem chronologischen, ephemeren Medium der Tageszeitung auseinandersetzte? Hier wird, ähnlich wie bei Feldmann, eine offene, trotz des ›schweren‹ Themas auch unterhaltsame Möglichkeit der Verknüpfung von ausgewähltem Buch und sonstigem Werk geboten. Dies entspricht auch der Absicht Pillers, sich nicht auf ein Thema oder ein Medium festlegen zu lassen. Neben den Fotos bilden z.B. Zeichnungen einen größeren Teil seines Œuvres. Die neu aufgelegten Bücher der Ex Libris-Reihe sind dadurch interessant, dass aus dem Fundus der Künstler das ausgewählt wurde, was auf den ersten Blick nicht unbedingt repräsentativ sein mag, aber zu einer näheren Beschäftigung mit dem weiteren Werk und zu Assoziationen einlädt. Ohne einen prätentiösen Hintergrund aufzubauen, aber auch ohne beliebig zu sein, sind die appropriierten Bücher in ein Beziehungsgeflecht eingebunden und behalten gleichzeitig ihre Autonomie. Die Neugier nach einem Einblick in die Bibliothek des Künstlers und seinen Schaffensprozess wird befriedigt, ohne gleichzeitig erschöpfende Erklärungen anzubieten. So gibt es in den Büchern und den begleitenden Epitexten wie der Webseite des Verlags keinen Kommentar der Künstler selbst zu ihren Büchern. Eine Sammlung von Statements der Künstler ist laut Theewen einem separaten Band der Reihe vorbehalten, was eine informationspolitische Entscheidung ist.

A PPROPRIATION EINER I DEE? D IE »O UT OF P RINT B OOKS « VON O THER C RITERIA Außer dem Salon Verlag hat auch der Verlag Other Criteria das Konzept des Vertriebs von durch Künstler ausgewählten Publikationen in sein Programm aufgenommen.34 Im Unterschied zum auf Kunstbücher und Editionen spezialisierten Salon Verlag ist Other Criteria eine neuartige Mischung aus Laden, Galerie und Onlineshop zum Merchandising von Produkten wie Multiples, Kleidung, Schmuck, Designobjekten und unter anderem auch Büchern. Gegründet wurde er 2005 von Damien Hirst zur Vermarktung seiner eigenen Produktion, inzwischen hat sich das Programm auf andere Künstler ausgeweitet. So ist auch der erste von bisher acht Bänden der »Out of Print Books«, Elvis: The Last 24 Hours von Albert Goldman (1990), »Chosen by Damien Hirst«35 (Abb. 6). Im Stempel im Vorsatz aller Bücher der Reihe heißt es: »selected by […]«. Das scheint recht nah an dem Wortlaut des Salon Verlags, wo die Titel vorgestellt werden mit 34 | Vgl. https://www.othercriteria.com/browse/all/new/7477/ vom 10.7.2011. Für den Hinweis herzlichen Dank an Annette Gilbert. 35 | Zit. n. Theewen: Hans-Peter Feldmann präsentiert abstrakte Kunst, 64.

D AS B UCH DES K ÜNSTLERS ALS K ÜNSTLERBUCH

»N.N. präsentiert«. Doch betonen »Chosen by« und »selected by« eher den Akt der Auswahl und zugleich den Wählenden, sie werten die Bücher zu einem wertvollen, exklusiven Produkt auf, ähnlich wie in der Produktwerbung durch Prominente. Diese Geste der Auswahl wird unterstützt durch ein auffälliges Piktogramm in Form eines »x« auf dem Plastikschuber, in dem das Buch präsentiert wird. Damit assoziiert man das Kreuz auf Multiple-Choice-Tests, Wahlscheinen und Fragebögen. Dagegen impliziert die Formulierung des Salon Verlags »präsentiert« neben der Auswahl vor allem den Akt der Vorstellung und deutet somit auf eine stärkere Involviertheit des Künstlers hin.

Abb. 6: Albert Goldman: Elvis: The Last 24 Hours, New York: St. Martin᾽s Press 1990. Chosen by Damien Hirst, London: Other Criteria 2011, in Schuber aus Plexiglas.

In der Tat sind die Grade der künstlerischen Bearbeitung der Bücher in beiden Verlagsreihen unterschiedlich hoch. Bei der Reihe des Salon Verlags gestalten die Künstler die Cover und die für die Reihe namengebenden Ex Libris, fügen manchmal auch einführende Texte (Thomas Huber) und Bibliografien (Mark Dion) hinzu; bei der Other Criteria-Reihe beschränkt sich die Aneignung fast ausschließlich auf den Akt der Auswahl; die Cover der Originale sind unverändert übernommen und tragen auch keine auf die Reihe hinweisenden Paratexte. Diese sind ausgelagert auf die Schuber aus transparentem Plastik, die mit der Aufschrift »Artist Selected Rare Book«, dem Verlagsnamen und dem erwähnten Choice-Kreuz versehen sind. Die Paratexte legen sich dank der Transparenz des Schubers über Vorder- und Rückseite, ohne jedoch Teil des ›eigentlichen‹ Buches zu sein. Buch und äußerlicher Eingriff sind bewusst getrennt. Auch wird der Charakter eines Readymade bei den »Out of Print Books« betont. Hier liegt ein ganz wesentlicher Unterschied zur Reihe des Salon Verlags: Es handelt sich nicht um Nachdrucke, sondern um Originalexemplare, die aufgekauft werden und durch den Akt der Auswahl und Präsentation in der Verlagsreihe den Status von Kunstwerken erhalten. Dies wird deutlich, wenn man sich die unterschiedlichen

387

388

A LBERT C OERS

Coverversionen des von Hirst ausgewählten Buches ansieht, die auf der Webseite vom Hinweis begleitet werden: »The cover of this book may vary«36. Es handelt sich um drei verschiedene Auflagen desselben Buches, was die Zahl der in Frage kommenden, anzubietenden Exemplare innerhalb der Verlagsreihe von Other Criteria steigert. Bei einem Nachdruck wäre die Variation der Buchgestaltung konzeptionell nicht einleuchtend und würde nur die Druckkosten erhöhen. Ein weiterer Hinweis sind die relativ geringen Auflagen: Das Hirst-Buch wird nur in 50, andere nur in 20 (S.C.U.M.37) oder gar nur 10 Exemplaren (The Raven38) angeboten, was sich offensichtlich im Rahmen der auf dem antiquarischen Markt noch verfügbaren Ausgaben bewegt. Diese Herangehensweise führt zwangsläufig zu einer Homogenisierung der ausgewählten Bücher im Hinblick auf ihr Publikationsdatum, das vorwiegend im 20. Jahrhundert liegt. Barocktraktate, wie sie Mark Dion oder Louise Bourgeoise für den Salon Verlag auswählten, ließen sich kaum in genügender Anzahl und zu vertretbarem Preis beschaffen. Das Readymade-Kriterium schließt aber auch Bücher aus, die bereits den Status (und damit auch den entsprechenden Preis) von Kunstwerken haben wie etwa die Künstlerbücher Weiners. Im Gegensatz zum Wunderkammerprinzip beim Salon-Projekt verleiht die durchgängige Präsentation im Schuber aus Plexiglas der Other Criteria-Serie eine größere Einheitlichkeit. Auch im Innenteil ist die Individualität des Eingriffs zurückgenommen: Es gibt kein Ex Libris, sondern einen einheitlichen Stempel. Die Materialität des transparenten Kunststoffschubers ist der der Bücher konträr, sie bietet kein haptisch-bibliophiles Erlebnis. Der Objekt- und Warencharakter ist betont und auch im Kontext der Vermarktungsplattform zu lesen. Die Distanzierung vom Betrachter durch die steril-perfekte Art der Präsentation erinnert an Hirsts andere künstlerische Arbeiten, an seine Schaukästen mit Medikamenten und an die mit transparenter Flüssigkeit gefüllten Behälter, in denen ehemals lebendige Objekte konserviert sind. In diesem Zusammenhang fällt die Affinität zum Morbiden auf, das in Hirsts Arbeiten immer wieder auftaucht. The last 24 Hours of Elvis Presley hat nicht nur den Zeitraum vor dem Tod des Popstars im Blick, sondern sucht auch die These vom Selbstmord als Todesart zu untermauern. Death Notebooks von Anne Sexton, das Rachel Howard in die Reihe einbringt, führt den Tod explizit im Titel. Von Olivier Garbay ausgewählt wurde Edgar Allan Poes The Raven, das von Todesmystik und nächtlichen Erscheinungen durchwoben ist, und einen Raben mit schwarzen, Unheil dräuenden Schwingen auf dem Originaleinband trägt. S.C.U.M. ist verfasst von der Feministin Valerie Solanas, die einen Mordversuch an Andy Warhol unternahm. Das Motiv des Schockierenden und des Todes 36 | Ebd. 37 | Solanas, Valerie: S.C.U.M. Manifesto, New York: Olimpia Press 1968. Chosen by Sue Webster, London: Other Criteria 2011. 38 | Poe, Edgar Allan: The Raven/Le Corbeau, Lausanne: Guilde du Livre 1949. Chosen by Olivier Garbay, London: Other Criteria 2011.

D AS B UCH DES K ÜNSTLERS ALS K ÜNSTLERBUCH

verschränkt sich mit dem des Starkults, der bereits in der Elvis-Biografie auftaucht. Das schwarze Kreuz auf dem transparenten Schuber lässt sich auch als Todessymbol lesen, wie es auf mehreren Buchcovers und Postern Hirsts zu finden ist, außerdem als Geste des Durchstreichens und Auslöschens, die sich über das Bild auf dem Cover legt. Es gibt also eine programmatische Ausrichtung der ausgewählten Titel, angesichts derer die meisten Titel der Salon-Reihe wie die Biografie Marées, das Traktat Carnaps oder ein Kinderbuch schwer vorstellbar wären. Bei der Ex Libris-Reihe ist Buntheit und Vielfalt auch in inhaltlicher Hinsicht Programm, umgekehrt würden einige provokant-morbide Titel wenig zu ihr passen. Auch die Informationspolitik von Other Criteria ist eine andere, direktere: Auf der Webseite finden sich die erklärenden Statements der auswählenden Künstler meist gleich mitgeliefert – was beim Salon Verlag überwiegend nicht der Fall ist. Trotz der großen Unterschiede ist die Ähnlichkeit des Grundkonzepts frappierend: die Auswahl und Präsentation eines für einen Künstler wichtigen Buches und die Transformation dieses Buches in ein Kunstobjekt. Handelt es sich bei der Reihe der »Out of Print Books« um die Appropriation einer bereits existierenden Idee? Möglicherweise, aber häufig zirkulieren ähnliche Gedanken auch unabhängig voneinander, lassen dabei Rückschlüsse auf eine allgemeine Interessenlage zu. Es zeigt sich – erstaunlich unbeeindruckt von den Abgesängen auf das Buchmedium oder gerade durch sie befeuert – die Fortdauer und Attraktivität der Vorstellung, dass Bücher einen nachhaltigen Einfluss auf die künstlerische Produktion ausüben, ja, dass der Künstler sich in ›seinen‹ Büchern selbst manifestiert.

389

Edition. Distribution. Programm Appropriation und Verlage Léonce W. Lupette

Als besondere Praxis der Kunst und Literatur bedarf Appropriation ebenso besonderer Umstände, um realisiert werden zu können. Es stellt sich daher die Frage nach den Strukturen, die es Büchern, die mit appropriationistischen Verfahren arbeiten, ermöglichen, zu entstehen und ihren Platz in der Kunst- und Literaturwelt zu finden. Anhand prägnanter Beispiele lassen sich diese Strukturen und deren Entwicklungen seit Mitte des 20. Jahrhunderts gut darstellen. Dabei geht es sowohl um Kontinuitäten als auch um Veränderungen des künstlerischen und verlegerischen Selbstverständnisses sowie der Produktionsbedingungen. Außerdem wird geprüft, inwiefern die Produktion appropriationistischer Bücher nicht selten mit politischen Motivationen einhergeht.

V ERLEGEN ALS KONZEPTUELLE , KÜNSTLERISCHE UND POLITISCHE P RAXIS : DIE 1960 ER BIS 1990 ER J AHRE Bereits in den 1950er und 1960er Jahren gibt es Bestrebungen, namentlich bei Zeitschriften, das Verlegen und Veröffentlichen selbst zur künstlerischen, konzeptuellen und gar gesellschaftlichen Praxis zu machen.1 So entstehen etwa im Umfeld der Beat-Generation kleine, oft von Dichtern geführte Verlage, die Texte publizieren, welche zu verlegen sich die großen Verlage nicht trauen. Das Publizieren wird früh mit anderen Praktiken künstlerischer und konzeptueller Art verknüpft, was zu einer schnellen Ausweitung der Produktion von Künstlerbüchern führt (dieser Begriff ist im weitesten Sinne zu verstehen2). Handelt es sich zunächst meist um hand1 | Man denke zum Beispiel an die Zeitschriften spirale (1953-1964), material (1957-1959), Dé-coll/age (1962-1969) oder My own Mag (1964-1966). 2 | Einen guten Überblick zu Geschichte und Begriff des Künstlerbuchs bieten Drucker, Johanna: The Century of Artists’ Books, New York: Granary Books 1995; Mœglin-Delcroix, Anne: Esthétique du livre

392

L ÉONCE W. L UPETTE

gemachte Unikate oder um Bücher mit sehr geringer Auflage, die nicht in Buchhandlungen erhältlich sind und deren Rezeption kaum über die begrenzten lokalen Zirkel hinausgeht, so entsteht in den 1970er Jahren bei vielen Künstlern in der westlichen Kunstwelt das Bedürfnis, gewisse Produktions- und Vertriebsstrukturen aufzubrechen und selbst in die Hand zu nehmen – einerseits, um dem Verlegen und Veröffentlichen als konzeptuelle und gesellschaftliche Praxis Rechnung zu tragen; andererseits ist dies eine nötige Voraussetzung, um dem eigenen künstlerischen Tun eine weitreichende Beachtung und Rezeption zu ermöglichen. So gründet der Fluxus-Künstler Dick Higgins schon 1964 einen eigenen Verlag in New York, die Something Else Press. Neben der Publikation von Higgins’ eigenem Werk ist es ein wichtiges Ziel dieses Hauses, radikal andere Bücher einem breiteren Publikum zuzuführen. Higgins trifft die strategische Entscheidung, seinen Büchern ein handelsübliches Format zu geben, damit sie unverdächtig mit anderen Büchern in den Buchhandlungen konkurrieren können – kleine Wölfe im Schafspelz. Außerdem produziert er größere Auflagen, um die Erschwinglichkeit der Bücher zu sichern – ein weiterer erfolgreicher Schachzug. Als der Ein-Mann-Verlag 1974 seine Tätigkeit aufgrund gesundheitlicher Probleme Higgins’ einstellen muss, umfasst das Gesamtprogramm neben Newslettern, Karten und Postern über 60 Titel aus sehr unterschiedlichen Richtungen: Konkrete Poesie, Fluxus, Theorie, Musik, Bücher von Künstlern und eben auch appropriationistische Werke wie Higgins’ foew&ombwhnw (1969), das äußerlich ein Gebetsbuch nachahmt.3 Wie viele andere und spätere Verlage, die appropriationistische Werke produzieren, zeichnet sich Something Else Press durch die Radikalität des Programms und durch einen Namen aus, der Programm ist: Higgins’ Bücher sind tatsächlich etwas Anderes. Sie unterscheiden sich sowohl von Hochglanzkunstbüchern als auch von handgemachten Lyrikbändchen. Das Verwenden handelsüblicher Formate für unübliche Bücher kann ebenfalls als Form der Appropriation betrachtet werden, denn hierbei handelt es sich um die Aneignung bestehender Strukturen und Systeme für die eigenen künstlerischen und ideellen Zwecke. Trotz großer Erfolge wie Emmett Williams’ An Anthology of Concrete Poetry (1967), von der über 15.000 Exemplare verkauft werden können, finden Something Else Press und ihr Programm nicht den Weg in die etablierten Medien und die breite Öffentlichkeit; zumindest in gewissen Avantgardekreisen aber, namentlich in den USA, wurde Higgins’ Verlag zu einer beachtlichen Autorität: »[Something Else d‘artiste, Paris: J.-M. Place, Bibliothèque nationale de France 1997 und Bright, Betty: No Longer Innocent: Book Art in America 1960-1980, New York: Granary Books 2005. Vgl. auch Lyons, Joan (Hg.): Artists’ Books: A Critical Anthology and Sourcebook, Layton: Peregrine Smith Books 1985. 3 | Ausführliche Informationen zu Higgins und seinem Verlag finden sich in Frank, Peter: Something Else Press. An annotated bibliography, New Paltz: Mc Pherson 1983. Vgl. auch Clay, Steven/Phillips, Rodney: A Secret Location on the Lower East Side: Adventures in Writing 1960-1980, New York: New York Public Library 1998.

E DITION . D ISTRIBUTION . P ROGRAMM

Press] was the most influential small press in the U.S. artist’s books community.«4 Freilich zeigt sich bereits hier, wie schwierig es ist, mit dem Stempel der Bildenden Kunst im herrschenden Literatur- und Verlagssystem Fuß zu fassen – ein Problem, das trotz aller theoretischen und praktischen Anstrengungen und trotz der vielbeschworenen Verwischung aller Genres und Grenzen bis heute fortbesteht. Als Something Else Press schon beinahe zehn Jahre alt ist, beginnt die Künstlerbuchbewegung zu florieren und es entstehen viele unabhängige Verlage und Institutionen, auch in Westeuropa. Ein wichtiger Motor dieser Entwicklung neuer Verlagspraktiken ist das Verlangen nach alternativen Räumen jenseits der hegemonialen kommerziellen und hierarchischen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsverhältnisse: »What function does an artwork which is cheap, portable and potentially unlimited serve? It functions, as so many artists are aware, as alternative space—a channel which circumvents the exclusivity of galleries and the critical community. […] The book was recognized by artists as a portable unit which could disseminate art ideas efficiently, and a means by which to influence the general public. Many artists’ records, books, cassette tapes and magazines are being packaged for distribution through commercial channels, and artists are familiarizing themselves with marketing techniques in hopes of selling their works to the potentially broad audience outside the artworld. This marks a healthy tendency towards decentralization in the arts which is likely to make an impact through colleges and secondary schools, and spread into American homes. My hope is that soon artists’ books will be as commonplace as cereal boxes, read over and over again in a leisurely way in people’s living rooms, or given as gifts instead of stationary and soap. In conclusion, artists’ books and periodicals provide alternative space, exhibition outside the gallery system, which will alter the complexion of future art and the public’s experience of art.«5

Auch dieses Zitat aus dem einflussreichen Beitrag Artists’ Books as Alternative Space von Martha Wilson aus dem Jahr 1978 zeugt von dem Wunsch, mit Büchern die etablierte Sphäre der bildenden Kunst zu transzendieren und von einer großen Masse rezipiert zu werden. Den Begriff der Alternative könnte man geradezu als das Mantra dieser Zeit bezeichnen. Er findet sich von Beginn an bei wichtigen Akteuren wie Ulises Carrión, den Gründern von Printed Matter oder Richard Kostelanetz. Dieser bezeichnet »books that long-established houses would not do« als Markenzeichen »of truly alternative publishing«6. Die neuen Praktiken versprechen nicht nur Selbstverwirk4 | Bright: No Longer Innocent, 110. 5 | Wilson, Martha: »Artists Books as Alternative Space«, in: The New Art Space, Los Angeles: The Los Angeles Institute of Contemporary Art 1978, 35-37, online http://www.franklinfurnace.org/research/ related/artists_books_as_alternative_space.php vom 06.09.2011. 6 | Kostelanetz, Richard: »Alternative Book Publishers«, in: Ders.: The End of Intelligent Writing: Literary Politics in America, New York: Sheed and Ward 1974, 289-316, 291.

393

394

L ÉONCE W. L UPETTE

lichung, sie sind auch Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses der Beteiligten, und nicht zuletzt ermöglichen sie neue Definitionen alter Kategorien. Die Vorstellung dessen, was ein Verlag oder gar was ein Buch ist, verändert sich radikal. So formuliert der mexikanische Künstler und Schriftsteller Ulises Carrión 1975 sein grundlegendes Manifest The New Art of Making Books, in dem er bis dato nie geund unerhörte Definitionen aufstellt, die für das Verständnis und Selbstverständnis von Künstlerbüchern und auch von appropriierten Büchern noch heute maßgeblich sind: »A writer, contrary to the popular opinion, does not write books. A writer writes texts. [...] the book is an autonomous space-time sequence. In the new art writing a text is only the first link in the chain going from the writer to the reader. In the new art the writer assumes the responsibility for the whole process. In the old art the writer writes texts. In the new art the writer makes books. The words in a new book might be the author’s own words or someone else‘s words. The text of a book in the new art can be a novel as well as a single word, sonnets as well as jokes, loveletters as well as weather reports.« 7

Das Büchermachen wird hier geradezu zum Selbstzweck erklärt, zu einer Praxis, bei der es um viel mehr als um das Herausgeben eines von vorne bis hinten zu lesenden Textes geht: Alles am Buch, also auch dessen Entstehungsbedingungen sowie die Produktionsprozesse selbst, ist wichtig. So überrascht es kaum, dass die Geburtsorte der new books mehr sind als bloße Druckereien oder Verlagsbüros. 1975, gleichzeitig mit dem Erscheinen des Manifests, gründet Carrión in Amsterdam die Buchhandlung Other Books and So, die zugleich Galerie, Veranstaltungsort, Treffpunkt sowie Verlag und Produktionsstätte der neuen Bücher ist.8 Produktion, Präsentation und Vertrieb dieser Bücher können auf diese Weise effektiv gebündelt und frei nach den Vorstellungen der Beteiligten gestaltet werden. Auch hier ist der Name Programm. Wieder geht es um andere Bücher, zugleich jedoch nicht nur um das Buch als solches, sondern noch um mehr, wie das bewusst vage gehaltene »and So« deutlich sagt; die Bücher sind sowohl »alternative« als auch »space«.9 Schon zuvor setzt Carrión sich theoretisch und praktisch intensiv mit der Einbindung bzw. Subversion offizieller, institutioneller Strukturen auseinander: Er ist 7 | Carrión, Ulises: »The New Art of Making Books«, in: Schraenen, Guy: Ulises Carrión – »We have won! Haven’t we?«, Amsterdam: Idea Books 1992, 51-61. 8 | Für einen kurzen Überblick über die Geschichte von Other Books and So vgl. van Rook, Gerrit Jan: »Ulises Carrión and Other Books and So«, in: Metropolis M 5 (2010), 66-71. 9 | Carrión: »The New Art of Making Books«. Beide Begriffe werden dort mehrfach explizit erwähnt.

E DITION . D ISTRIBUTION . P ROGRAMM

eine wichtige Figur innerhalb der Mail-Art-Bewegung, die das Postsystem usurpiert, um Kunst zu schaffen, zu verbreiten und auszutauschen. Auch hoheitliches Material wie Postwertzeichen wird appropriiert und zum Bestandteil einer Kunst, für die, wie auch im Falle der new books, der gesamte Entstehungsprozess konstitutiv ist: Produktion durch Zirkulation und Kommunikation. Bücher, die unter solchen oder ähnlichen Umständen entstehen, können nicht isoliert betrachtet werden, sondern entfalten ihre volle Bedeutung erst aus dem Kontext heraus, in dem sie entstanden sind. Ebenso wenig können die Bücher, die im Kontext von Other Books and So entstehen, erscheinen und vertrieben werden, unabhängig voneinander betrachtet werden. Sie bedingen einander wechselseitig. Wie ein Großteil vergleichbarer Projekte ist auch Other Books and So nicht als lukratives Geschäft konzipiert: »Other Books & So is not a business, it’s a process«10. Natürlich hat das Projekt schnell mit Problemen pekuniärer Art zu kämpfen. Nachdem Carrión sich drei Jahre lang sowohl eines gewissen Erfolgs in der Amsterdamer Kunstszene bis hin zur teilweisen Refinanzierung der Bücher über ihren Verkauf als auch der finanziellen Unterstützung durch beteiligte Künstler und Freunde erfreuen kann, übergibt Carrión die Buchhandlung 1978 an Karen Kvernes, als immer wieder zugesicherte öffentliche Fördermittel nicht gezahlt werden. Die Buchhandlung läuft unter dem Namen Art Something zwei Jahre lang weiter, während Carrión seine Galerie in Other Books and So Archive umwandelt. Wenige Jahre nach seinem Tod im Jahr 1989 ist Carrión zumindest in den Niederlanden beinahe dem Vergessen anheimgefallen. Seit einigen Jahren ist jedoch wieder ein verstärktes weltweites Interesse mit Ausstellungen in Porto Alegre, London und Birmingham zu verzeichnen. Carrións zunehmende Bedeutung lässt sich auch daran ablesen, dass heutige Künstler seine Theorien und Werke aufgreifen.11 Bei der Gründung von Other Books and So ist Carrión von einem weiteren mexikanischen Künstler in Europa beeinflusst: Anfang der siebziger Jahre leitet Felipe Ehrenberg zusammen mit David Mayor, Chris Welch und Martha Hellion Beau Geste Press in Großbritannien, wo auch Carrión sich zu dieser Zeit aufhält. Der Verlag veröffentlicht 1972 auch dessen erstes Offset gedrucktes Buch Arguments. Beau Geste Press ist eng mit der Fluxus-Bewegung verbunden und produziert – im bewussten Gegensatz zu Hochglanzkatalogen – Künstlerbücher aus billigen Alltagsmaterialien. Der Verlag entsteht auf einem Hof in Cullompton, Devon, der Lebensraum, Arbeitsplatz, Ausstellungsstätte und Treffpunkt für mehrere Künstler ist – in erster Linie natürlich für die Verlagsgründer. Im Zuge der Vorbereitungen für eine

10 | »PROFILE: ulises carrion: an end and a beginning«, in: Umbrella 5:2 (1979), 120-121, 120f. 11 | Vgl. z.B. Michalis Pichlers »Statements on Appropriation/Statements zur Appropriation«, in: Fillip 11 (2010), 44-47, und seine Appropriation von Carrións SONNET(S) in SOME MORE SONNET(S), einsehbar auf http://www.buypichler.com/sonnets.html. Zu Carrións Einfluss auf die amerikanische Künstlerbuchbewegung vgl. auch Bright: No Longer Innocent, 186-193.

395

396

L ÉONCE W. L UPETTE

Fluxus-Wanderausstellung gegründet, soll Beau Geste Press zunächst helfen, Mayors Sammlung von Fluxus-Dokumenten zu reproduzieren und zu bündeln. Das Projekt nimmt immer größere Ausmaße an und am Ende entsteht der für die Bewegung wichtige und einflussreiche Katalog Fluxshoe.12 Neben der Publikation weiterer Fluxus-Bücher etwa von Ken Friedman oder Takako Saito dient der Verlag, wie schon bei Higgins und Carrión, nicht zuletzt auch dazu, die eigenen Werke zu verlegen. Auch bei Beau Geste Press handelt es sich also um einen Verlag, bei dem sich weniger von einem verlegerischen Programm im klassischen Sinne sprechen lässt als davon, dass er selbst Teil eines Programms, einer umfassenden künstlerischen Praxis ist. In den USA entsteht 1976 mit Printed Matter eine hybride Institution rund um Künstlerbücher. Printed Matter wird in New York von einigen Künstlern – unter ihnen Sol LeWitt – und anderen in der Kunstbranche Tätigen zunächst als alternativer Raum zur Selbstverwirklichung mit durchaus kommerziellen Ambitionen gegründet, dann aber schnell in einen gemeinnützigen Verein für die Produktion, Promotion, den Vertrieb und die generelle Unterstützung von Künstlerveröffentlichungen umgewandelt.13 Printed Matter ist folgerichtig sowohl Buchhandlung als auch Verlag, frei zugängliche Bibliothek, Ausstellungs- und Veranstaltungsraum sowie Veranstalter. Gegenüber den meisten anderen Projekten dieser Zeit zeichnet sich der Verein durch seine Langlebigkeit aus. Während etwa Something Else Press, Beau Geste Press oder Other Books and So nach wenigen Jahren ihre Arbeit einstellen, ist Printed Matter heute die weltweit größte Einrichtung dieser Art. Das Anliegen ist auch hier unter anderem ein politisches: Von vornherein geht es um eine Demokratisierung der Kunst. Printed Matter spezialisiert sich auf Bücher, die in Auflagen über hundert Exemplaren zu erschwinglichen Preisen zu haben sind – heute liegt der Durchschnittspreis eines Titels bei 20 US-Dollar. In dem öffentlichen Leseraum können mittlerweile über 15.000 Titel von mehr als 5.000 Künstlern aus aller Welt angeschaut und erworben werden. Das Internet trägt ebenfalls zur Demokratisierung bei. Im Angebot finden sich auch kuratierte Listen zu bestimmten Themen, unter anderem zur Appropriation (kuratiert von Michalis Pichler). Dies zeigt, dass diese als eigenständige Praxis im Künstlerbuchbereich anerkannt und gefragt ist. Neben Titeln anderer Verlage werden auch appropriationistische Bücher aus dem eigenen Hause gelistet, so zum Beispiel Derek Sullivans Persistent Huts von 2008, das sowohl Ed Ruschas Every Building on the Sunset Strip als auch Martin Kippenbergers Psychobuildings appropriiert.

12 | Mayor, David (Hg.): Fluxshoe, Cullompton: Beau Geste Press 1972. Vgl. auch Fluxshoe [Interview mit Felipe Ehrenberg, Stuart Reid und Barry McCallion], http://www.artcornwall.org/interview_ fluxshoe_stuart%20reid_felipe_ehrenberg2.htm vom 06.09.2011. 13 | Weitere Informationen zur Gründung und Geschichte von Printed Matter finden sich in More about Printed Matter, http://www.printedmatter.org/about/more.cfm. Einen guten Überblick bietet außerdem Bright: No longer innocent, 198-206.

E DITION . D ISTRIBUTION . P ROGRAMM

Letzteres ist übrigens an sich schon eine Appropriation von Kippenbergers eigenem Buch Frauen, das 1980 im Merve Verlag erschienen war. Psychobuildings erschien 1988 im Verlag der Buchhandlung Walther König, einem wichtigen Katalysator für die Praxis appropriationistischer Bücher im Deutschland der 1970er und 1980er Jahre. Der Verlagssitz Köln galt damals aufgrund der vielen Galerien und der Präsenz vieler Künstler als innovatives Zentrum der zeitgenössischen Kunst. Hier gründet Walther König mit seinem Bruder Kasper 1968 einen Verlag und eröffnet eine Buchhandlung – es entsteht der Verlag der Buchhandlung Walther König. Auch in diesem Fall handelt es sich um einen multifunktionalen Ort, bei dem das Künstlerbuch in untrennbarer Verbindung zu anderen Praktiken steht: Aufführungen und Ausstellungen, Produktion und Vertrieb. Und die Buchhandlung ist selbst ein Kunstwerk, da Martin Kippenberger das Schaufenster mitgestaltet und Gilbert & George einen Auftritt darin haben. Daniel Birnbaum, ehemaliger Rektor der Städelschule in Frankfurt und Kurator, zitiert Walther König in einem Essay über das Köln der 1980er Jahre: »We provide neutral ground. In an art world of competing galleries, and of groups of artists who stand for incompatible things, a space like ours is very important because everyone can come here. And in fact everyone always has come here.«

Und Birnbaum ergänzt: »He’s not exaggerating: Over the decades the Buchhandlung has been the Cologne artworld’s most important meeting place. Artists, writers, dealers, and their friends even used to leave messages there for visitors to the city, as the safest and often the quickest way to reach someone who had just arrived in town.« 14

Das Verlagskonzept besteht zunächst darin, dass die Künstler ihre Veranstaltungen in der Buchhandlung jeweils mit einer kleinen Publikation begleiten müssen. Dabei handelt es sich zu Beginn noch um Büchlein von ca. 16 Seiten, wobei auch die Freude am Erstellen einer Publikation eine wichtige Rolle spielt. Durch das ludische Experimentieren mit dem Buch seitens der Künstler ist die stete Erneuerung der Form und der Definition dessen, was ein Buch ist, gewährleistet. Laut Birnbaum bedauert Walther König, dass es heute bei Künstlerbüchern oft um karriere- und statusbezogene Zwecke gehe15 – dabei liegt das Hauptaugenmerk der Königs längst selbst auf der Kommerzialisierung. Derzeit hat die Buchhandlung Filialen in ganz Deutschland mit einer verlagseigenen Backlist von mehreren hundert Titeln von Paperbacks bis

14 | Beide Zitate in Birnbaum, Daniel: »Ripening on the Rhine«, in: Artforum International 41:7 (2003), 216-221, 219f. [Herv. i. O.]. 15 | Vgl. ebd.

397

398

L ÉONCE W. L UPETTE

Künstlerbüchern in geringen Auflagen, darunter einige Appropriationen wie Kippenbergers Psychobuildings und Cerith Wyn Evans’ »…«. Delay von 2009. Als Verleger und Katalysator ist Walther König auch für einen anderen wichtigen deutschen Künstlerbuchverlag, den Salon Verlag von Gerhard Theewen, von Bedeutung. Hier erscheint mit Ex Libris eine eigene Appropriationsreihe.16 Während seines Studiums an der Kunstakademie in Düsseldorf wird Theewens Interesse an der Sammlung, Archivierung und Veröffentlichung von Kunst geweckt und so entsteht 1976 das auf zwölf Ausgaben angelegte Kunstmagazin Salon, in dem Theewen doppelseitige Beiträge verschiedener internationaler Künstler alphabetisch geordnet versammelt. Dazu sagt er: »Durch meine Kontakte zu Walter [sic] König war mir auch klar, daß Salon so gut sein muß, daß er dazu bereit wäre, es in seinem Laden zu verkaufen. […] König gefiel diese erste Nummer sehr gut und aufgrund dieser positiven Resonanz habe ich mich direkt mit anderen Kunstbuchhandlungen in Verbindung gesetzt: In Hamburg, in Berlin, Wien, Zürich, Basel. Die Akzeptanz war erstaunlicherweise sehr gut […].« 17

Theewen konzentriert sich immer mehr auf das Magazin, das er »vom Einladen der Künstler bis hin zu der Drucküberwachungen [sic], dem Vertrieb, der Buchhaltung und dem Päckchen packen [sic]« im Alleingang produziert, und so begreift er Salon als seine »eigentliche künstlerische Arbeit«.18 Nach mehreren Jahren Pause beschließt er 1995, diese Arbeit in Form eines Verlages weiterzubetreiben, um so Künstler umfangreicher präsentieren und ihnen möglichst große Freiräume geben zu können und zugleich »eine Diskussion über die Qualität von Kunst in unserer Zeit anzuregen.«19 Ähnlich anderen Verlegern aus den 1970er Jahren vergleicht auch Theewen seine verlegerische Arbeit mit der einer Galerie, jedoch mit einem grundlegenden Unterschied in der Distribution und Zirkulation: »Die Galerien verschicken ihre Einladungen und die Leute müssen zu ihnen kommen, ich schicke meine Bücher zu den Leuten […] oder zumindest in die Buchhandlungen; meine Bücher sind überall zu haben.«20 Wie in den meisten Fällen deckt der Verkauf der Bücher auch hier die Produktion kaum und meistens müssen Stipendiengelder oder Künstler- und Galerieanteile einfließen oder aber Vorzugsausgaben produziert und verkauft werden. Verglichen mit Projekten wie Beau Geste Press oder Other Books and So sind sowohl der Verlag der Buchhandlung Walther König als auch der Salon 16 | Vgl. Albert Coers im vorliegenden Band. 17 | Chodzinski, Armin/Theewen, Gerhard: »Wie gründet man einen Verlag?« [Interview], in: Revision 1 (1998), http://www.revisionsverlag.de/revisionsverlag/revision/theewen/theewen.html vom 08.09.2011. 18 | Ebd. 19 | Ebd. 20 | Ebd.

E DITION . D ISTRIBUTION . P ROGRAMM

Verlag mittlerweile eher als traditionelle Verlage zu bezeichnen, die ohne subversive Ansprüche auf professionelle Weise Bücher produzieren.

S UBVERSION UND I NTERNET : V ERLAGE UND A PPROPRIATION IN DER G EGENWART Dagegen gibt es auch heute einige kleine Verlage, bei denen sich dies anders verhält. Zu ihnen gehört der 2006 vom kanadischen Künstler Michael Maranda gegründete Verlag Parasitic Venture Press.21 Zunächst ist auffällig, dass Parasitic Venture Press nahezu ausschließlich Bücher produziert, die mit appropriationistischen Verfahren arbeiten. Die entsprechende Reihe heißt konsequenterweise »Saprophagous series«, benannt nach saprobiontischen Parasiten, die sich vom Material toter Organismen ernähren. Zu seiner verlegerkünstlerischen Praxis schreibt Maranda: »I undertake a form of rogue editing, drawing out structural themes and motifs that make the primary text possible. Important to my practice is that the work I produce is a secondary text, written ›over top‹ of existing texts. […] The execution of this work is as important as necessary as the pre-figured thought that goes into its planning. […] Where possible, I prefer to display and contextualize this work in situ, as books (e.g., not as artist books) that infiltrate the structures of the dissemination of the primary texts themselves.« 22

Die Stichworte »rogue editing«, »parasitic« und »infiltration« lassen sich zunächst darauf beziehen, dass Marandas Appropriationen nicht von den entsprechenden Rechteinhabern autorisiert sind. Ferner geht es, wie das Zitat betont, um ein spezielles Verhältnis zu den bereits existierenden Büchern und Texten, die appropriiert werden. Das vorhandene Textmaterial wird einem Parasiten gleich einverleibt und nach einer Bearbeitung, die man mit der Verdauung gleichsetzen könnte, in veränderter Form wieder ausgeschieden, d.h. publiziert. So ›vertilgt‹ Maranda etwa Prousts Roman À la recherche du temps perdu, von dem er nur noch bestimmte Elemente, nämlich alle Eigennamen und Satzzeichen, stehen lässt.23 Es wird so deutlich, in welchem Ausmaß Namen den Text Prousts dominieren. Durch Marandas Eingriff wird also ein Strukturelement des Originaltexts offengelegt, ohne dass diesem dabei etwas hinzugefügt wird. Darüber hinaus werden hier die Autorität und Autorschaft problematisiert, insofern Marandas Name im Buch selbst nicht mehr auftaucht,

21 | Vgl. die Webseiten vom Autor und vom Verlag: http://www.parasiticventurespress.com und http://www.michaelmaranda.com/ 22 | Maranda, Michael: editing as practice. statement …, http://www.michaelmaranda.com/gen.htm vom 06.09.2011. 23 | Proust, Marcel: All the Names of ›In Search of Lost Time‹, Vancouver: Parasitic Ventures Press 2006.

399

400

L ÉONCE W. L UPETTE

lediglich der Name des Verlags ist auf dem Cover und Titelblatt aufgeführt. Diese Heraushebung des Verlags im Vergleich zum Autor zeugt vom Verständnis der verlegerischen als eigentliche künstlerische Praxis. Im Unterschied zu den meisten bereits genannten Einrichtungen fungiert Parasitic Ventures Press nicht als Galerie oder Buchhandlung oder sozialer Treffpunkt. Es ist kein physischer, multifunktionaler Ort wie Other Books and So, die Buchhandlung Walther König oder information as material, ein junger, auf Appropriationen spezialisierter Verlag aus Großbritannien von Simon Morris mit ebenfalls subversivem Selbstverständnis.24 Parasitic Venture Press setzt ganz auf das Internet als Vertriebs- und Kommunikationsstruktur, und Maranda betonte in einem Mailwechsel, dass er seine Arbeit ohne diesen virtuellen Raum nicht bewerkstelligen könnte. Zugleich werden aber bestimmte Strukturen des traditionellen Vertriebssystems ganz bewusst nicht genutzt, wie zum Beispiel die des Online-Händlers Amazon, aus dem Maranda sich aus politischen Gründen zurückgezogen hat, da Amazon kleine Buchhandlungen bedrohe, indem das Unternehmen die Buchhändler dazu zwinge, die Preise drastisch zu senken, womit auch die Existenz kleiner Verlage aufs Spiel gesetzt werde.25 Auch in der autonomen Arbeitsweise Marandas finden sich Differenzen beispielsweise zu Theewen, der zwar ebenfalls seinen Verlag allein kontrolliert, mit den einzelnen Arbeitsschritten aber größtenteils Fachleute wie Layouter, Typografen, Bildbearbeiter und Druckereien beauftragt. Maranda übernimmt alle Aufgaben selbst, neuerdings auch wieder das Drucken und Binden, wobei ersteres durch die Einrichtung eines heimischen Print-on-Demand-Systems ermöglicht werden soll. Wie für den Vertrieb und die Textverarbeitung sind also auch hier die neuen digitalen Produktionstechniken von substantieller Bedeutung. Als weiterer wichtiger auf Appropriationen spezialisierter Verlag ist der in Berlin ansässige »greatest hits« von Michalis Pichler zu nennen.26 Der Künstler gründete »greatest hits« 2006 als Konsequenz aus Kommunikationsproblemen mit anderen Verlagen und aus dem Bedürfnis heraus, eine Werkserie unter einem Dach zusammenhalten zu wollen. Dennoch gibt es immer wieder strategische Partnerschaften mit anderen Verlagen als Produktions- und Distributionspartnern, unter anderem mit Printed Matter oder auch mit MOCA Skopje, Mazedonien, und Zavod P.A.R.A.S.I.T.E. in Ljubljana.

24 | So heißt es in der Selbstdarstellung des Verlags, das Ziel sei es »[to] disrupt the existing order of things. The imprint’s activities involve publishing, exhibiting, curating, web-based projects, and invited lectures.« http://informationasmaterial.com/iam/about/ vom 06.09.2011. 25 | Michael Maranda in einer Mail an den Autor vom 13.04.2011. In Kanada ist die Situation noch fataler als in Deutschland, da es dort keine Buchpreisbindung gibt. 26 | Vgl. die Webseiten vom Verlag und vom Autor: http://www.g-r-e-a-t-e-s-t-h-i-t-s.com/ und http://www.buypichler.com/

E DITION . D ISTRIBUTION . P ROGRAMM

Eine weitere Strategie für die Distribution der eigenen Bücher ist die Verwendung von ISBN, damit die Bücher im Buchhandel gelistet sind. Zugleich bezeichnet Pichler die ISBN als »Seriositätsattrappe«27, womit er ein pikareskes Verhältnis zum Literatur- und Buchbetrieb offenbart. Auch das Platzieren appropriationistischer Werke nicht auf dem Kunst-, sondern bewusst auf dem Literaturmarkt, wobei mit Vorliebe auch das Layout bestimmter Bücher und Verlage imitiert wird, erinnert an Dick Higgins’ Vorgehensweise und birgt trotz oder gerade wegen der impliziten Ernsthaftigkeit ebenfalls pikareske Züge. Dass der Verlagsname hier ebenfalls programmatisch zu verstehen ist, ist offensichtlich. In einer Art Manifest, den Statements zur Appropriation, expliziert Pichler: »Wenn ein Buch einen bestimmten historischen oder zeitgenössischen Vorläufer in Titel, Stil, und/oder Inhalt paraphrasiert, wuerde [sic] ich diese Technik einen ›greatest hit‹ nennen.«28 Daran anschließend wird auch die Frage nach dem Autor explizit gestellt: »Dass eine Appropriation immer eine bewusste strategische Entscheidung eines Autors darstellt, ist vielleicht genauso naiv wie der Glaube an einen ›originalen‹ Autor an erster Stelle.«29 Zu Pichlers »›greatest hits‹« zählen Appropriationen von Ed Ruschas Twentysix Gasoline Stations und Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum, in denen Layout und Format der Originale fast eins zu eins übernommen werden.30 Beim Stichwort »Eigentum« drängt sich die noch nicht angesprochene Frage nach eventuellen rechtlichen Problemen beim Verlegen von Appropriationen auf: Immer wieder ist das Verhältnis appropriationistischer künstlerischer Praktiken zum Urheberrecht rechtliches und (rechts-)wissenschaftliches Thema.31 In den meisten Fällen geht es eben nicht darum, vor der Appropriation um Erlaubnis zu fragen. Michael Maranda weist im Mailwechsel darauf hin, dass es bis jetzt keine größeren Skandale bei der Appropriation von Büchern gegeben habe und dass die Gefahr diesbezüglich auch weniger von den appropriierten Verlagen und Autoren ausgehe als von großen Konzernen, die auf das TRIPS pochen.32 Dementsprechend 27 | Michalis Pichler in einer Mail an den Autor vom 30.03.2011. 28 | Pichler, Michalis: »Statements on Appropriation/Statements zur Appropriation«, wiederabgedruckt im vorliegenden Band, 27-30, 27. 29 | Ebd., 27. 30 | Pichler, Michalis: TWENTYSIX GASOLINE STATIONS, Berlin/New York: »greatest hits«/Printed Matter 2009. Ders.: Der Einzige und sein Eigentum, Berlin: »greatest hits« 2009. 31 | Dies gilt allerdings hauptsächlich für die Bildende Kunst und das Copyright an Bildern und Abbildungen. Vgl. auch Rebbelmund, Romana: Appropriation Art: die Kopie als Kunstform im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Lang 1999 sowie Blume Huttenlauch, Anna: Appropriation Art – Kunst an der Grenze des Urheberrechts, Baden-Baden: Nomos 2010. 32 | TRIPS ist das Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights [dt. Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum]. Das 1994 von der WTO verabschiedete Abkommen wird von Umwelt- und Menschenrechtsbewegungen vehement kritisiert, da es als Instrument kapitalistischer Herrschaftsstrukturen angesehen wird, das u.a. äußerst strenge

401

402

L ÉONCE W. L UPETTE

ist rechtlich gesehen Pichlers heikelstes Werk auch Monsanto Company Earnings Call Transcript von 2010, das einen Geschäftsbericht des Saatgut-Konzerns inhaltlich unverändert, jedoch im typografischen Dispositiv eines Dramentextes wiedergibt und die Copyright Policy des Konzerns als expliziten Bestandteil des Werks anhängt.33 Das politische Moment dieser Form von Appropriation illustriert Pichler im Klappentext mit einem Zitat von Kenneth Goldsmith: »If we wished to critique globalism, for example, I can imagine that reproducing / framing the transcript as from yesterday’s G8 summit meeting where they refused to ratify climate control threats would reveal much more about the truth of the situation than I could possibly say. Often, I feel it’s better to let the text be what it is – generally, as in the case of the G8, they’ll incriminate and hang themselves with their own stupidity. I call this poetry.« 34

Ezequiel Alemian, Mitverleger des argentinischen Verlags Spiral Jetty, der unter anderem auch appropriationistische Bücher herausbringt, meint gar, dass es bedenklich sei, die Aneignung fremden Materials überhaupt zu problematisieren, da dies die bereits erkämpften Freiräume und die Souveränität der Künstler in der Praxis gefährden könne.35 Auch Maranda betont die politische Dimension seines verlegerischen Schaffens: »The true unsung heroes of radical history are the printers, they’ve always been the last bastion of radical thought.«36 In diesem Zusammenhang lässt sich die mit Appropriationen verbundene Verweigerungs- und Widerstandshaltung der derzeit aktiven Verlage bzw. Verleger durchaus ebenfalls als Ausdruck einer neuen Tendenz zur Bildung und Behauptung von Freiräumen im Sinne eines Alternative Space deuten, wie er schon einmal in den 1960/70er Jahren zur Debatte stand. Diesmal allerdings scheint es weniger um Alternativen zu Galerien, Museen und Kunstbetrieb zu gehen als vielmehr um Alternativen zum herrschenden Literatur- und Verlagssystem. Damit wird nicht nur die Frage nach der Diskrepanz zwischen bildender Kunst und Literatur gestellt. Ebenso angesprochen ist damit die Frage, inwiefern appropriationistische Bücher Literatur sind oder, noch fundamentaler, was ein Buch ist. So zählt Pichler die Verfügbarkeit, also eine relativ hohe Auflage, einen akzeptablen Preis und höchstmögliche Verbreitung, zu den notwendigen Bedingungen, die ein

Patente auf Saatgut, Pflanzen, Medikamente und chemische Strukturen ermöglicht, vor allem zum Nachteil von Entwicklungsländern. 33 | Pichler, Michalis: Monsanto Company Earnings Call Transcript, Berlin/Skopje: »greatest hits«/MOCA 2010. 34 | Ebd. 35 | Vgl. Ezequiel Alemian in einer Mail an den Autor vom 29.03.2011 und die verlagseigene Webseite http://spiraljettyed.blogspot.com/. 36 | Michael Maranda in einer Mail an den Autor vom 07.04.2011.

E DITION . D ISTRIBUTION . P ROGRAMM

Werk erst zu einem Buch machen. Pichlers Der Einzige und sein Eigentum z.B. ist mit 12 Euro relativ günstig, im Buchhandel mit ISBN gelistet und in einer Auflage von 2.000 Stück erschienen. Teure Künstlerbücher in geringer Auflage hingegen wären nach Pichlers Auffassung eher Objekte oder Skulpturen.37 Auch andere Kleinverlage, die mit Appropriationen arbeiten, parodieren und kritisieren gewisse Elemente des Literaturmarkts. Ritmo D. feeling the blanks von Riccardo Boglione (2009), in dem alle Zeichen bis auf die Interpunktion aus Boccaccios Decameron getilgt sind, ist als PDF auf einer einschlägigen Online-Plattform für Conceptual Writing frei verfügbar.38 Auf die Coverrückseite ist ein Barcode gesetzt, unter dem freilich »NO BARS WHATSOEVER« steht. Das ist eine deutliche Absage an den herrschenden Kommerz und Vertrieb, eine Weigerung, das Werk zur Ware zu machen. Zugleich impliziert die Formulierung die Forderung nach Abschaffung sämtlicher Absperrungen, Riegel und Gitterstäbe: eine knappe, vielleicht naive, aber radikale Parole, die einen politischen Impetus offenbart, ähnlich dem der 1960er und 70er Jahre. Ein weiterer Verlag, der sich gegen Marktmechanismen auflehnt, ist La Bibliothèque Fantastique von Antoine Lefebvre. Der Verlag existiert seit 2009 und bietet seine Bücher ausschließlich als Dateien an, die man sich frei herunterladen und ausdrucken kann: »En effet, les livres de LBF n’ont pas d’existence physique prédéterminée, ils vivent à l’état de potentialité sur la toile, en attente de devenir. Ils n’ont pas non plus de prix[,] vous pouvez vous les procurer sans débourser le moindre centime. Ils n’ont pas d’ISBN, car ce sont des œuvres d’art, pas de couleur n’ont plus, pour que l’on puisse les imprimer sur toutes les imprimantes sans exceptions.«39

Vor allem aber unterliegen die Bücher von La Bibliothèque Fantastique einer an Kunstwerke angepassten Form des Copylefts40, der Licence Art Libre: »Durch die Lizenz ›Freie Kunst‹ wird die Erlaubnis verliehen, Kunstwerke uneingeschränkt zu kopieren, zu verbreiten oder zu verändern – in voller Berücksichtigung der allgemeinen Urheberrechte. Hierbei handelt es sich nicht um ihre Aufhebung, da ihre Rechtmäßigkeit nach wie vor anerkannt und respek-

37 | So Michalis Pichler in einem Gespräch auf dem Workshop Wiederaufgelegt im Mai 2011 in der Literaturwerkstatt Berlin. 38 | Vgl. http://ubuweb.com/contemp/boglione/Ricardo-Boglione_Ritmo-D-%20Feeling-the-Blanks _2009.pdf vom 06.09.2011. 39 | Antoine Lefebvre: What?/Quoi?, http://labibliothequefantas.free.fr/index.php?/about-this-site/ vom 06.09.2011. 40 | Der Begriff ›Copyleft‹ stammt ursprünglich aus dem Bereich der Open-Source-Software. Für eine ausführliche Definition und Erklärung vgl. Teupen, Christian: »Copyleft« im deutschen Urheberrecht, Berlin: Duncker & Humblot 2007, 57ff.

403

404

L ÉONCE W. L UPETTE tiert wird, sondern um die Neuformulierung der Rechtslage, die der Allgemeinheit einen freien und kreativen Umgang mit Kunstwerken ermöglicht.« 41

Hier geht es also nicht darum, das Copyright grundsätzlich infrage zu stellen oder gar zu zerstören, sondern es geht, wieder einmal, um das Denken und Schaffen einer Alternative, eines Alternative Space.

P RODUKTIONS - UND D ISTRIBUTIONSMÖGLICHKEITEN HEUTE Bereits Dick Higgins und Martha Wilson haben die technologischen Veränderungen in Bezug auf die Möglichkeiten der Buchproduktion und -distribution reflektiert. Diese Frage hat auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren, zumal seit den 1970er Jahren einige Neuerungen, die Veröffentlichungsmöglichkeiten für Autoren und Künstler betreffend, hinzugekommen sind, über die abschließend ein kurzer Überblick gegeben werden soll. Durch den Digitaldruck ist es zunächst billiger geworden, eigene Bücher im Selbstverlag herauszugeben und kleine Auflagen im niedrigen bis mittleren zweistelligen Bereich drucken zu lassen. Hierbei trägt der Künstler aber sowohl die Produktionskosten als auch den Aufwand des Vertriebs. Allerdings bietet das Internet die Möglichkeit des schnellen und weltweiten Zugriffs und Vertriebs, zum Beispiel über eine eigene Website. Das Book-on-Demand-Verfahren wiederum ermöglicht es sowohl Autoren als auch Verlagen, Bücher im Falle einer Bestellung kurzfristig drucken zu lassen, ohne Kapital in einer Auflage binden zu müssen. Andere Autoren und Verlage nutzen Drucker und Kopierer, die immer erschwinglicher und professioneller werden. Was den Vertrieb betrifft, so werden häufig auch ausgewählte Buchhandlungen angefragt, ob diese bereit wären, die selbstverlegten Werke anzubieten. So vertreibt etwa Spiral Jetty die Eigenproduktionen auf der eigenen Webseite sowie in einigen Buchhandlungen, ohne an ein bestimmtes Vertriebssystem angeschlossen zu sein. Ferner ist es möglich, systematisch den konventionellen Buch- und Medienhandel zu nutzen, sei es durch eine eigene Verlagsgründung und die Verwendung von ISBN, so wie es Michalis Pichler tut, sei es durch Platzierung der Werke auf kommerziellen Seiten wie Amazon. Allerdings sind auch diese Wege mit Kosten verbunden, die der Künstler selbst tragen muss, sofern es nicht etwa öffentliche Förderung oder Stipendiengelder gibt. Letzteres ist allerdings oft ebenfalls vonnöten, wenn der Weg gewählt wird, der Autoren aus dem Literaturbetrieb allzu bekannt ist: das Einsenden von Manuskripten bei bestimmten Verlagen. Der Vorteil hierbei ist, dass im Falle einer Veröffentlichung die vorhandenen Strukturen und die professionelle 41 | Lizenz Freie Kunst, http://artlibre.org/licence/lal/de vom 06.09.2011. Zu dieser Definition führt ein direkter Link von der Verlagsseite.

E DITION . D ISTRIBUTION . P ROGRAMM

Erfahrung in der Produktion, im Vertrieb und in der Finanzierung genutzt werden können. Dennoch weisen Verlage wie information as material auf ihren Webseiten explizit darauf hin, dass die Durchführung eines Projekts nicht nur davon abhängt, ob es ihnen gefällt, sondern auch davon, ob und wie viel der Künstler/Autor zum Budget beisteuern kann.42 Ähnliches gilt für den Salon Verlag oder den Verlag der Buchhandlung Walther König, wenngleich es hier ist wie im literarischen Betrieb seit jeher: In den renommierten Verlagen unterzukommen ist nicht einfach und hängt von vielen Faktoren, nicht zuletzt auch von Kontakten ab. Sollten sich bei der Verlagssuche unüberwindbare Hindernisse auftun, appelliert Simon Morris in seinem Manifest Do or DIY vom Juni 2011, sich ein Beispiel zu nehmen an Autoren und Autorinnen wie Luther, Sterne, Woolf, Proust und Walcott, die einst ihre heute als wegweisend geltenden Werke mit den eigenen – meist kärglichen – Mitteln finanzierten: »With platforms for self-publishing today being so much cheaper and easier than letterpress was for Leonard and Virginia Woolf, there are fewer and fewer excuses for not distributing your work – no inky fingers, no strained back, and you don’t have to agree on the bulldog either. After seeing what the publisher at the London Art Book Fair have to offer, show them what you can do. Get online; cut and paste; search and destroy; share and share alike. Remember the lessons of literary history. Don’t wait for others to validate your ideas. Do it yourself.« 43

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass appropriationistische Bücher in den meisten Fällen in einem Kontext entstehen, der über das bloße Herstellen und Vertreiben von Büchern hinausgeht und häufig mit der Suche nach einem Alternative Space verbunden ist. In der Konsequenz werden die üblichen Herstellungs- und Vertriebswege ebenso infrage gestellt wie scheinbar selbstverständliche Kategorien (Buch, Verlag, Text, Autorschaft). Die Definition dessen, was Bücher und Verlage sind, ändert sich mit der Schaffung eigener Produktions- und Handelsstrukturen und der Schaffung von Räumen, die einer ganzen Lebenshaltung und allumfassenden künstlerischen Praxis gerecht werden sollen. Auch der Versuch der Subversion des bestehenden Systems durch äußerliche Anpassung an das Buchhandelssystem mittels des äußeren Erscheinungsbildes, der Auflage, ISBN und/oder Einbindung bestimmter Vertriebspartner trägt dazu bei. Welche politische Schlagkraft, Tragweite und Konsequenzen sich daraus tatsächlich und dauerhaft ergeben, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

42 | Vgl. »Submissions«, http://informationasmaterial.com/?page_id=752 vom 06.09.2011. 43 | Morris, Simon/information as material: Do or DIY, unveröffentlichtes Manuskript Juni 2011, 8f.

405

Anhang

Abbildungsnachweise C OPYRIGHTNACHWEIS © für die abgebildeten Werke von Jurij Al’bert, derek beaulieu, Jérémie Bennequin, Irma Blank, Amir Brito Cadôr, Paul Heimbach, Thomas Hischhorn, Kollektive Aktionen, Jarosław Kozłowski, Gareth Long, Michael (Gerard) Maranda, Kris Martin, Andrej Monastyrskij, Claire Morel, Simon Morris, Aurélie Noury, Michalis Pichler, Carl Fredrik Reuterswärd, Gerhard Rühm, Elaine Sturtevant, Bernard Villers und Vadim Zakharov (Zacharov) beim Künstler bzw. bei der Künstlerin. © für die abgebildeten Werke von information as material, Parasitic Ventures Press, Éditions Lorem Ipsum, Other Criteria und Salon Verlag beim Verlag. © für die abgebildeten Werke von Christian Boltanski, Marcel Broodthaers, Hanne Darboven, I’lja Kabakov (Ilya Kabakov), Jean Le Gac (JEAN LE-GAC), Guido Molinari, Bruce Nauman, Dmitrij Prigov (DMITRIJ ALEKSANDROVICH PRIGOV), Carl Fredrik Reuterswärd, Endre Tót (Endre Toth) bei der VG Bild-Kunst, Bonn 2012. © für die abgebildeten Werke von Marcel Broodthaers außerdem: Estate Marcel Broodthaers (S. 164, 166, 171, 172); Maria Gilissen/Estate Marcel Broodthaers (S. 170); Courtesy Archiv Wide White Space, Antwerpen (S. 172); Courtesy Sammlung M. Schmidt, Todenmann (S. 80). © für das abgebildete Werk von Rodney Graham: mit freundlicher Genehmigung vom Studio Rodney Graham und Kristien Daem. © für das abgebildete Werk von Karl-Dietrich Roth (Dieter Roth): mit freundlicher Genehmigung der Edition Hansjörg Mayer, London. Trotz sorgfältiger Recherche war es nicht in allen Fällen möglich, die Rechteinhaber zu ermitteln. Bei berechtigten Ansprüchen wird um Mitteilung gebeten.

F OTONACHWEIS Bruno Bani: S. 255. Jérémie Bennequin: S. 211, 260, 261. Bibliothèque nationale de France: S. 236, 246, 251, 253.

410

A BBILDUNGSNACHWEISE Bettina Brach/Studienzentrum für Künstlerpublikationen, Weserburg, Bremen: S. 11, 12, 20, 79, 80 (2x), 111, 113, 114, 116, 117, 140, 141 (2x), 142, 149, 197, 200, 203, 205, 207, 209, 224, 228. Marcel Broodthaers, Kat. The Tate Gallery, London 1980, 61 und Marcel Broodthaers, Kat. Galerie nationale du Jeu de Paume, Paris 1991, 137-139: S. 164, 166, 170, 171. Kristien Daem: S. 363. Paul Heimbach: S. 360. Jarosław Kozłowski: S. 351. Claire Morel: S. 257, 258. Hubert Renard: S. 240, 241, 243, 245.

Autorinnen und Autoren

Amslinger, Tobias , M.A., lebt als Autor und Literaturwissenschaftler in Berlin. Studium der Philosophie, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Gemeinsam mit Léonce W. Lupette und Norbert Lange Herausgeber der Internet-Zeitschrift karawa.net. In seinem Lyrik-Debüt Einzimmerspringbrunnenbuch (mit Léonce W. Lupette, 2009) kommen zahlreiche appropriative Verfahren zum Einsatz. In wespennest 161 (2011) rezensierte er Der Einzige und sein Eigentum von Michalis Pichler. Boatin, Janet, Dr. des., Studium der Germanistik und Geschichte in Bochum und Göttingen. Sie lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Göttingen und vertritt derzeit eine Juniorprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Interart, Experimentelle Literatur sowie Wissenschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Coers, Albert, M.A., Studium der Germanistik, klassischen Philologie und Kunstgeschichte in München und Pisa. Kunststudium an der Akademie der Bildenden Künste München, Staatsexamen. Promotion an der HfG Karlsruhe bei Wolfgang Ullrich zum Ausstellungskatalog als Medium zeitgenössischer Kunst. Publikationen v.a. zum Dilettantismus, zur Architekturgeschichte und -theorie. Mehrere Künstlerpublikationen, u.a. I SOLITI TITOLI, 2011, und Müde Bücher, 2012. Gilbert, Annette, Dr. phil., Dilthey Fellow der VolkswagenStiftung am Peter SzondiInstitut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: experimentelle Literatur u. Kunst; Materialität u. Medialität von Literatur; Ästhetik des Skripturalen; Buch, Artists’ Books; InterArt Studies. Publikationen (Auswahl): Re-Print. Appropriation (&) Literature, 2012 (im Druck); »Geliehene Sonette. Appropriationen des Sonetts im Conceptual Writing (Dmitrij Prigov, Ulises Carrión, Michalis Pichler)«, in: Greber, Erika/Zemanek, Evi (Hgg.): Sonett-Künste. Mediale Transformationen eines klassischen Genres, 2012, 455489; Bewegung im Stillstand. Erkundungen des Skripturalen bei Carlfriedrich Claus, Elizaveta Mnatsakanjan, Valeri Scherstjanoi und Cy Twombly, 2007.

412

A UTORINNEN UND A UTOREN Glasmeier, Michael, Professor für Kunstwissenschaft an der Hochschule für Künste Bremen, zahlreiche Veröffentlichungen zur Kunstgeschichte und zur Theorie und Praxis zeitgenössischer Kunst, Kurator von Ausstellungen u.a. zum kleinen Format (2011), zu Komik und Kunst (2009), zum 50jährigen Jubiläum der documenta in Kassel (2005), zu Tableaux vivants (2002), Barock und zeitgenössischer Kunst (2001), Samuel Beckett und Bruce Nauman (2000), Kriminalität und Kunst (1999), Künstlerbüchern (1994), Künstlerschallplatten (1989) und visueller Poesie (1987). Publikationen (Auswahl): Das Ganze in Bewegung. Essays zu einer Kunstgeschichte des Gegenwärtigen, 2008; (Hg. mit Elke Bippus): Künstler in der Lehre. Texte von Ad Reinhardt bis Ulrike Grossarth, 2007; (Hg. mit Johannes Zahlten): Erwin Panofsky: Was ist Barock?, 2005; (Hg. mit Dagmar Bosse u. Agnes Prus): Der Ausstellungskatalog. Beiträge zur Geschichte und Theorie, 2004; (Hg. mit Gaby Hartel): Samuel Beckett: Das Gleiche nochmal anders. Texte zur bildenden Kunst, 2000; Die Bücher der Künstler. Publikationen und Editionen seit den sechziger Jahren in Deutschland, 1994; buchstäblich wörtlich – wörtlich buchstäblich. Eine Sammlung konkreter und visueller Poesie der sechziger Jahre in der Nationalgalerie Berlin, 1987. Hänsgen, Sabine, Dr. phil., Studium der Slavistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Bochum. DAAD-Stipendium an der Filmhochschule Moskau, Promotion mit einer Arbeit zum sowjetischen Film. Forschung und Lehre an den Universitäten Bochum, Bielefeld, Bremen, Köln, Basel, FU Berlin, zur Zeit Gastprofessorin für Kulturen Mittel- und Osteuropas am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Tätigkeit als Kuratorin, Herausgeberin und Übersetzerin. Seit 1984 Teilnahme an den »Kollektiven Aktionen« sowie Aufbau eines audiovisuellen Archivs zum Moskauer Konzeptualismus. Publikationen (Auswahl): Beiträge als Kuratorin in: Kollektive Aktionen: Reisen aus der Stadt 1976-2009 (Dossier), in: Christ, Hans D./Dressler, Iris (Hgg.): Subversive Praktiken. Kunst unter Bedingungen politischer Repression 60er-80er / Südamerika / Europa, 2010, 291-334; PRIGOV. Die Textarbeiten des Dmitrij Aleksandrovič, 2010; Präprintium. Moskauer Bücher aus dem Samizdat, 1998; Lianosowo. Gedichte und Bilder aus Moskau, 1992; unter dem Pseudonym Sascha Wonders (mit Günter Hirt): Kulturpalast. Neue Moskauer Poesie und Aktionskunst, 1984. Hildebrand-Schat, Viola , Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt »Das Künstlerbuch als ästhetisches Experiment. Geschichte und Poetik einer hybriden Gattung« der Bergischen Universität Wuppertal. Habilitation am Kunsthistorischen Institut der Goethe-Universität Frankfurt/M. zur Rezeption von Literatur im Werk von Marcel Broodthaers, DFG-Projekt »Literaturrezeption im bildkünstlerischen Werk von Marcel Broodthaers«. Arbeitsschwerpunkte: zeitgenössische Kunst allgemein, 18. und 19. Jahrhundert, Text-Bild-Verhältnis, Künstlerbücher und die russische Kunst von der Avantgarde bis zur Gegenwart.

A UTORINNEN UND A UTOREN Lupette, Léonce W. , lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Literaturwissenschaftler in Buenos Aires und Frankfurt/M. Studium der Komparatistik, Lateinamerikanistik und Philosophie. Mitherausgeber der Literaturzeitschriften karawa.net und ALBA – Lateinamerika lesen. Publikationen (Auswahl): a|k|va|res, 2010; mit Tobias Amslinger: Einzimmerspringbrunnenbuch, 2009. Übersetzungen (Auswahl): Juana Manuela Gorriti: Der schwarze Handschuh, 2012; Esteban Echeverría: Der Schlachthof, 2011; mehrere Gedichte in Ashbery, John: Ein weltgewandtes Land, 2010. Mackert, Gabriele, Autorin und Kuratorin. Studium der Kunst, Kunstwissenschaft, Germanistik. 2010 Dissertation, HBK Braunschweig: »A mes amis… Les Lettres Ouvertes als Beispiel der Poetisierungsstrategien im Werk Marcel Broodthaers’«. 2005-2008 Direktorin der Gesellschaft für Aktuelle Kunst (GAK) Bremen, zuvor Kuratorin der Kunsthalle Wien. Publikationen (Auswahl): »Modell statt Meisterwerk. Buch statt Bild. Broodthaers’ Mallarmé-Konstellation«, in: Folie, Sabine (Hg.): Un Coup de Dés. Bild gewordene Schrift, 2008, 39-46, 213-219 (dt./engl.); »Marcel Broodthaers. Interview with a cat«, in: Felderer, Brigitte (Hg.): phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, 2004, 395-396; »Der Künstler als Geste. Marcel Broodthaers’ ›La Pluie‹, die Mittelbarkeit des In-der-Sprache-Seins, der Künstlerkörper und das Kino«, in: Kritische Berichte 4 (2004), 36-46; »Katalog statt Ausstellung«, in: Glasmeier, Michael (Hg.): Der Ausstellungskatalog. Beiträge zur Geschichte und Theorie, 2003, 100-115; »Realität statt Realismus. Performative Reflexivität auf unsicherem Terrain«, in: Mackert, Gabriele et al. (Hgg.): Marcel Broodthaers, 2003, 13-37. Metz, Bernhard , Studium der Philosophie, Neueren Deutschen Literatur und Linguistik in Berlin, Pisa, Konstanz und Baltimore (1995-2004), 2002 Magister Artium an der Universität Konstanz, 2011 Promotion an der Freien Universität Berlin, seit 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Mœglin-Delcroix, Anne, Absolventin der École Normale Supérieure, Dozentin für Philosophie, Promotion in Philosophie, emeritierte Professorin für Kunstphilosophie an der Sorbonne (Université Paris I). Spezialistin für Schriften und Veröffentlichungen zeitgenössischer Künstler und Herausgeberin der Arbeitshefte von Jean Hélion (Journal d’un peintre, 1992). Von 1979 bis 1994 war sie für die Künstlerbuchsammlung der Abteilung Grafik und Fotografie der Bibliothèque nationale de France verantwortlich. Autorin von zahlreichen Artikeln und Austellungskatalogen zu diesem Thema sowie von drei Büchern: Livres d’artistes, 1985, Sur le livre d’artiste. Articles et écrits de circonstance 1981-2005, 2006 (Neuaufl. 2008), Esthétique du livre d’artiste 1960-1980: une introduction à l’art contemporain, 1997 (erw. Neuaufl. 2012). 2007 wurde ihr der Leonardo da Vinci World Award of Arts verliehen.

413

414

A UTORINNEN UND A UTOREN Orlich, Max Jakob , Dr. phil., lebt und arbeitet als Soziologe, Journalist und Fotograf in Freiburg, Offenburg und Köln. Von 1999 bis 2006 Studium der Soziologie und der wissenschaftlichen Politik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Während des Studiums diverse Lehrtätigkeiten als Tutor/wissenschaftl. Hilfskraft. Von 2006 bis 2009 Stipendiat im DFG Graduiertenkolleg 1288 »Freunde, Gönner und Getreue« mit einer soziologischen Dissertation zur Verflechtung von Freundschaft und Theorieentwicklung bei der Situationistischen Internationale. 2010 Promotion bei Prof. Dr. Wolfgang Eßbach. Forschungsschwerpunkte: Kunst-, Kultur- und Gruppensoziologie sowie urbanistische und alltagssoziologische Fragestellungen. Publikationen (Auswahl): Situationistische Internationale. Eintritt, Austritt, Ausschluss. Zur Dialektik interpersoneller Beziehungen und Theorieproduktion einer ästhetisch-politischen Avantgarde (1957-1972), 2011. Pichler, Michalis, lebt und arbeitet in Berlin. Architekturdiplom an der Technischen Universität Berlin und Studium der Bildhauerei an der Kunsthochschule BerlinWeißensee. Zahlreiche Präsentationen und Lesungen, u.a. Osloo/Dänischer Pavillion, Venedig (2011), Literaturwerkstatt Berlin (2011), Overgaden, Kopenhagen (2011), Goethe-Institut New York (2010), Museum of Contemporary Art, Skopje (2010), Stichting Perdu, Amsterdam (2010), Badischer Kunstverein, Karlsruhe (2009), MoMA PS1, New York (2009 & 2011). Publikationen (Auswahl): Der Einzige und sein Eigentum, 2009; TWENTYSIX GASOLINE STATIONS, 2009; UN COUP DE DÉS JAMAIS N’ABOLIRA LE HASARD (sculpture), 2008; Hearts, 2008; Working Drawings and Other Visible Things on Paper Not Necessarily Meant To Be Viewed, 2008. Ramtke, Nora, M.A., Stipendiatin der Research School Bochum, wissenschaftl. Hilfskraft am Lehrstuhl Neugermanistik, insb. deutsche Literatur von der Frühen Neuzeit bis zum 18. Jahrhundert bei Prof. Dr. Nicola Kaminski an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2009 Arbeit an einem Dissertationsprojekt zu Autorschaft und Anonymität mit Bezug auf die sog. ›falschen‹ Wanderjahre. Ihre MA-Arbeit wurde mit dem Bochumer Studierendenpreis ausgezeichnet. Forschungsschwerpunkte: Systemdestabilisierende Veröffentlichungsformen (Fälschung, Plagiat, unautorisierte Fortsetzungen, Nachdruck), Anonymität, Paratextualität, Zeitschriftenliteratur. Publikationen (Auswahl): Mitherausgeberin der Edition des Unpartheyischen Bedenken (1742) mit einer Einleitung zum Zusammenhang von Plagiats- und Originalitätsdiskurs im frühen 18. Jahrhundert (im Erscheinen). Ripplinger, Stefan , Studium der Komparatistik und Linguistik an der FU Berlin (ohne Abschluss), freier Autor. Publikationen (Auswahl): Bildzweifel, 2011; (Hg.): Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen und andere Schriften zur Begründung der Autonomieästhetik, 2009; Auch. Aufsätze zur Literatur, 2006.

A UTORINNEN UND A UTOREN Römer, Stefan , Prof. h.c., Dr. phil., tätig als Künstler mit den Aktionsfeldern de-konzeptuelle Kunst, Kritik des öffentlichen Raums, Bild- und Textverhältnisse in Kunst und Neuen Medien sowie Transkulturalität; regelmäßige Ausstellungen und Publikationen in Zeitschriften und Magazinen. Auszeichnung mit dem Preis für Kunstkritik des Arbeitskreises deutscher Kunstvereine (AdKV) im Jahr 2000. Publikationen: Berichte aus dem Conceptual Paradise/Reports from the Conceptual Paradise, 2007; Temporäre Architektur/temporary architectures, Fotobuch, 2005; Corporate Psycho Ambient. The (never ending) movie, dt./engl. Filmskript, 2003; Begegnungen mit Deutschen/Encounters with Germans, Fotos und Text, 2003; Corporate Psycho Ambient. Fotobuch, 2001; Künstlerische Strategien des Fake – Kritik von Original und Fälschung, 2001; Fake als Original. Ein Problem für die Kunstkritik, 1999. Filme (Auswahl): (mit Franz Wanner): Loop Unlimited, 2011; Boulevard of Illusions – Learning from New Belgrad, 2007; Conceptual Paradise, 2006; The Analysis of Beauty, 2005; Corporate Psycho Ambient, 1999. Schmitz-Emans, Monika, seit 1995 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1992 bis 1995 Professorin für Europäische Literatur der Neuzeit an der Fern-Universität Hagen. Herausgeberin des Jahrbuchs der Jean-Paul-Gesellschaft. Leiterin des Forschungsprojekts »Enzyklopädien des Imaginären« an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Bilder, Literatur und andere Künste, Literatur und Wissensdiskurse, Geschichte der Poetik. Publikationen (Auswahl): Poetiken der Verwandlung, 2008; Fragen nach Kaspar Hauser. Entwürfe des Menschen, der Sprache und der Dichtung, 2007; Einführung in die Literatur der Romantik, 2004; Seetiefen und Seelentiefen. Literarische Spiegelungen innerer und äußerer Fremde, 2002; Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, 1999; Die Sprache der modernen Dichtung, 1997; Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens, 1995. Schulz, Christoph Benjamin, M.A., Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, Freien Universität und Humboldt Universität Berlin und in Paris. Seit 2008 wissenschaftl. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Komparatistik im Rahmen des DFG-Projekts »Literarische Experimente mit der Gestalt des Buchs unter medienästhetischen, wissenspoetologischen und darstellungsreflexiven Aspekten« und seit 2011 assoziiertes Mitglied des DFG-Projekts »Das Künstlerbuch als ästhetisches Experiment«. Seit 2005 als Ausstellungsmacher an nationalen und internationalen Museen tätig. Forschungsschwerpunkte: Bezüge zwischen Literatur und Bildender Kunst, insb. das Künstlerbuch, Text-Bild-Bezüge in Literatur und bildender Kunst, Experimentelle Literaturen, Materialität literarischer Kommunikation. 

415

416

A UTORINNEN UND A UTOREN

Publikationen: (Hg. mit Gavin Delahunty): Alice in Wonderland – Through the visual arts, 2011; (Hg. mit Monika Schmitz-Emans u. Kai L. Fischer): Enzyklopädien des Imaginären – J. L. Borges im literarischen und künstlerischen Kontext, 2011; (Hg.): Matts Leiderstam – Seen From Here, 2010; »Textmasken – Über geschriebene Gesichter und typographische Portraits«, in: Kurt Röttgers/M. Schmitz-Emans (Hgg.): Masken, 2009, 233-263; »Das Buch im Spiegel des Buches«, in: Dies. (Hgg.): Spiegel, Echo, Wiederholungen, 2008, 131-151; (Hg. mit Daniel Gethmann): Apparaturen bewegter Bilder, 2006; (Hg. mit D. Gethmann): Daumenkino – The Flip Book Show, Ausstellungskatalog 2005. Thurmann-Jajes, Anne , Dr., Leiterin des Studienzentrums für Künstlerpublikationen in der Weserburg | Museum für moderne Kunst in Bremen. Lehrt an der Universität Bremen im Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Geschichte der publizierten und vervielfältigten Kunst international, Künstlerschriften, Fotografie und die Kunst der Massenmedien, Kunst und Politik. Kuratorin zahlreicher Ausstellungen sowie Autorin und Herausgeberin einer Reihe von Ausstellungskatalogen und anderer Publikationen. Publikationen (Auswahl): (Hg. mit Lilijana Stepančič u. Sylvie Boulanger): Manual für Künstlerpublikationen. Aufnahmeregeln, Definitionen und Beschreibungen, 2010 (dt. Ausgabe, zs. mit Susanne Vögtle); (Hg. mit Sigrid Schade): Artists’ Publications. Ein Genre und seine Erschließung, 2009 (dt./engl.). Waszak, Tomasz , Dr. habil., Mitarbeiter am Lehrstuhl für Germanistik der NikolausKopernikus-Universität in Toruń (Thorn). Forschungsschwerpunkte: Rezeptionsforschung, Fiktionstheorie, irrationale Tendenzen in der Literatur des 20. Jh. Publikationen (Auswahl): Das Zerstreute Kunstwerk und die Zusammenleser. Über Multitextualität als literarisches Motiv, theoretisches Konzept und empirische Rezeptionspraxis, mit besonderer Berücksichtigung eines Bernhardschen Multitexts, 2005. Wieland, Magnus, Dr. des., wissenschaftl. Mitarbeiter am Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern. Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. 2011 Promotion über Jean Pauls Digressionspoetik an der Universität Zürich. Publikationen (Auswahl): »Fußnoten über1 Fußnoten. Am Beispiel von Renaud Camus2 , David Foster Wallace3 und Michael Stauffer4«, in: Bernhard Metz/Sabine Zubarik (Hgg.): Den Rahmen sprengen. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten II, 2012 (im Druck); »Jean Pauls Sudelbibliothek. Makulatur als poetologische Chiffre«, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 46 (2011), 97-119; »Lebenssammlung statt Gesamtausgabe. Hugo Balls ›nachgelassene‹ Bibliothek«, in: Hugo Ball Almanach. N.F. 2 (2011), 104-126.

A UTORINNEN UND A UTOREN Zboya, Eric , PhD, arbeitet als experimenteller Dichter und Künstler und lebt in Calgary, Kanada. Er schloss die University of Calgary mit Auszeichnung in Englischer Literatur ab. Seine Arbeiten fokussieren, wie Grafikprogramme mithilfe von Algorithmen Texte visuell übersetzen und umformen, und untersuchen konzeptuelle Schnittmengen zwischen molekularen Strukturen und textilen Kommunikationssystemen (z.B. dem Braille-Alphabet) sowie deren Interaktion in visuellen Medien. Publikationen in literarischen Zeitschriften in ganz Nordamerika, z.B. Canadian Literature Quarterly, 2010, Western Humanities Review, 2011. Internationale Ausstellungen: Convergence Literary Art Exhibit, Golden Thread Gallery Belfast, 2011, und in der Whitechapel Gallery London, 2011.

417

Namensindex

Fett hervorgehoben sind Abbildungen. Abbott, Edwin Abbott 341-346, 347, 348 Abish, Walter 95, 323-326 Adorno, Theodor W. 151, 354, 376 Al’bert, Jurij 17, 277, 278, 279 Alemian, Ezequiel 76, 402 Andersch, Alfred 98, 156 Arendt, Hannah 56 Barthes, Roland 14, 29, 60-62, 125, 170, 325, 326, 332, 369 Bataille, Georges 39, 376, 377 Baudelaire, Charles 80, 81, 169, 252, 253, 306, 318 Baudrillard, Jean 46 beaulieu, derek 17, 92, 93, 332, 341-346, 347, 348 Beckett, Samuel 257, 258 Beckford, William 187 Benjamin, Walter 14, 29, 53, 93, 325, 332 Benn, Gottfried 385, 386 Bennequin, Jérémie 18, 93, 196, 211, 212, 213, 259, 260, 261, 262, 263, 307, 316 Bervin, Jen 307, 315, 316 Beuys, Joseph 376, 383 Blanchot, Maurice 193, 213, 217, 218, 222, 257 Blank, Irma 18, 252, 254, 255, 256, 259 Boccaccio, Giovanni 403

Bochner, Mel 237, 238, 239, 247 Boetti, Alighiero 150, 188 Boglione, Riccardo 151, 403 Boltanski, Christian 233, 239, 240, 242 Borges, Jorge Luis 10-13, 52, 67, 68, 8789, 91, 92, 96, 99, 100, 123-137, 193, 194, 281, 316, 322 Broodthaers, Marcel 13, 15, 20-23, 29, 62, 80, 81, 93, 158, 163, 164, 165, 166, 167-169, 170, 171, 172, 173175, 196, 199, 200, 201-204, 206, 208, 210-211, 213, 215, 223, 224, 225, 227, 229, 230, 242, 247, 250, 305, 306 Brown, Bob 199, 200, 303 Büchner, Georg 188, 189 Burroughs, William S. 51, 292, 325-327, 367 Byars, James Lee 243 Cadôr, Amir Brito 20, 21 Cage, John 50, 51, 94, 179, 180, 182, 203, 204, 309 Calvino, Italo 318, 322, 323 Camnitzer, Luis 59, 63 Carnap, Rudolf 350, 382-384, 389 Carrión, Ulises 29, 44, 82, 393-396 Cervantes, Miguel de 10-13, 79, 80, 87, 96, 99, 100, 124, 125, 131, 132, 136, 137

420

N AMENSINDEX Claus, Carlfriedrich 144, 145, 154 Constant 31, 44, 45 Crimp, Douglas 54, 155, 281, 287 Danto, Arthur C. 10, 67, 77, 78, 92, 100, 128, 129 Darboven, Hanne 18, 252, 253, 254, 256, 259 De Certeau, Michel 60, 168 De Man, Paul 172, 196 Debord, Guy 14, 29, 31-47, 51, 206, 332 Deleuze, Gilles 55, 164, 186 Demand, Thomas 375, 380, 381, 382, 383, 384 Derrida, Jacques 77, 99, 206, 213, 224 Di Matteo, Gabriele 240, 242 Dickinson, Emily 307, 315, 317 Dion, Mark 380, 381, 387, 388 Dostoevski, Fedor 78 Ducasse, Isidore (→ Lautréamont) Duchamp, Marcel 49-51, 55, 59, 61, 62, 65, 77, 78, 181, 187, 215, 233, 242, 331, 376 Dumas, Alexandre 15, 167, 168 Dworkin, Craig 13, 47, 51, 62, 90, 99, 105, 113, 116, 157, 193, 195, 201, 223, 224, 229, 303, 332-335, 337, 365-368 Ehrenberg, Felipe 395 Eliot, T. S. 29, 320 Feldmann, Hans-Peter 239, 242, 380, 381, 384, 385, 386 Flaubert, Gustave 43, 52, 67, 69, 76-78, 84, 85, 88, 107, 108, 110, 189, 193, 285, 321, 324 Foer, Jonathan Safran 9, 307, 308 Foucault, Michel 54, 60, 63, 65, 75-78, 170 Freud, Sigmund 39, 93, 187, 188, 332341, 349, 361-368

Genette, Gérard 17, 40, 74, 82, 91, 92, 103, 104, 107, 118, 119, 189, 208, 236 Glass, Jesse 299, 300, 301, 302 Goethe, Johann Wolfgang 93, 97, 188, 315, 321 Goldsmith, Kenneth 24, 30, 47, 50-52, 55, 56, 58, 59, 61-64, 89, 90, 103, 104, 111-114, 119, 151, 156, 157, 248, 332, 333, 343, 349, 402 Gomringer, Eugen 197, 198, 361 Goodis, David 81, 250, 251 Goodman, Nelson 10, 67-73, 81, 92, 100, 128, 129 Graham, Dan 50, 333 Graham, Rodney 13, 19, 78, 84, 177-190, 247, 248, 361, 362, 363, 364, 365, 367, 368 Greenberg, Clement 54, 59, 343 Handke, Peter 51, 76-78, 95 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 39, 40, 94, 156, 188, 383 Hegemann, Helene 21, 53 Heimbach, Paul 17, 77, 359, 360, 361 Heine, Heinrich 167, 252, 253 Hemingway, Ernest 142, 143-146, 148, 153, 154 Higgins, Dick 154, 182, 392, 396, 401, 404 Hirsch, Antonia 77, 151 Hirschhorn, Thomas 101, 376, 377, 379 Hirst, Damien 16, 386, 387, 388, 389 Holmes, Janet 307, 315-317, 319 Homer 134, 135, 137 Huber, Thomas 381, 382, 386 Huebler, Douglas 13, 14, 30, 47, 238, 379 Humperdinck, Engelbert 178-180 Jean Paul 186, 193, 194 Johnson, Ronald 307-311, 312, 315, 316 Jorn, Asger 31, 37, 40, 41 Joyce, James 43, 79, 151, 189

N AMENSINDEX Judd, Donald 177, 362 Kabakov, Il’ja 266, 267, 268, 269, 276 Kafka, Franz 147, 148, 321, 324 Kant, Immanuel 20, 193, 207, 349, 350, 352-355, 357, 369, 383 Kerouac, Jack 18, 110-113, 248, 249 Kiefer, Anselm 290, 294-296 Kierkegaard, Søren 181, 349, 359-361, 368 Kippenberger, Martin 396-398 Klopstock, Friedrich Gottlieb 194, 195 König, Walther 397, 398, 400, 405 Kostelanetz, Richard 299, 393 Kosuth, Joseph 50, 65, 95, 325, 356 Kozłowski, Jarosław 17, 92, 150, 151, 258, 350, 351, 352-354, 358, 369 Kristeva, Julia 14, 30 Lacan, Jacques 207, 332, 337-340, 354 La Fontaine, Jean 164, 173 Lautréamont 14, 29, 31, 38, 39, 45, 47 Lazzarato, Maurizio 56, 65 Le Gac, Jean 244, 245, 246 Le Lionnais, François 318-320, 322, 323 Lefebvre, Antoine 14, 43, 403 Lenz, Reinhold Michael 188 Levine, Sherrie 21, 43, 52, 63, 67-70, 7478, 81, 84, 85, 88, 100, 107-110, 113, 124, 125, 333, 347, 348 LeWitt, Sol 58, 59, 62, 63, 319, 333, 396 Long, Gareth 79, 80, 83 Mac Low, Jackson 310 Magritte, René 164, 171, 173 Mallarmé, Stéphane 18, 20, 22, 23, 55, 61, 62, 70, 93, 167, 169-171, 173-175, 187, 193, 196, 197, 198-206, 208-217, 218, 219, 220-225, 227-230, 257, 259, 260, 305, 306, 316, 320

Mallock, William Hurrel 92, 292, 293, 327-330 Manson, Peter 70, 316 Maranda, Michael Gerard 17, 93, 114, 116, 117, 196, 207, 208, 209, 210, 213, 352, 353, 354-356, 357, 358, 359, 364, 368, 369, 399-402 Markov, Andrej 338, 339 Martin, Kris 78, 79, 81, 82, 83 Marx, Karl 34, 39, 40, 53, 56, 57, 65, 355 Mathews, Harry 319, 321, 323, 324 Mayor, David 395, 396 McLuhan, Marshall 259 Melville, Herman 78, 114, 115, 116, 117, 118, 187, 188, 193, 207, 247, 321, 322, 364 Menard, Pierre 10, 11, 12, 13, 52, 67, 68, 77, 87-89, 91-102, 123-125, 129, 131134, 136, 137, 193, 281, 316, 322 Milton, John 307, 309, 311, 312, 315 Molinari, Guido 93, 215, 216, 223, 225, 226, 227, 229, 230 Monastyrskij, Andrej 267, 271, 272, 273 Monk, Jonathan 21, 235 Morel, Claire 151, 256, 257, 258 Morris, Simon 17, 18, 93, 110, 111, 112, 113, 235, 248, 249, 331-333, 334, 335-337, 339-341, 364, 365, 366, 367, 368, 400, 405 Nauman, Bruce 183, 235, 236 Nietzsche, Friedrich 181, 186, 376 Noury, Aurélie 11, 12, 13 Olson, Charles 220 Pastior, Oskar 321, 323, 330 Peirce, Charles S. 16, 72 Perec, Georges 10, 39, 310, 319, 321-325 Phillips, Tom 21, 92, 250, 263, 290, 292295, 323, 324, 327-330

421

422

N AMENSINDEX Picasso, Pablo 233, 285, 318 Pichler, Michalis 13, 14, 27-30, 47, 59, 89, 92, 93, 105, 106, 107, 196, 202, 203, 204, 206, 213, 223, 227, 228, 229, 230, 235, 316, 332, 395, 396, 400-404 Piller, Peter 380, 381, 384-386 Pitz, Hermann 377 Poe, Edgar Allan 169, 187, 388 Pollock, Jackson 240, 242 Popper, Simon 43, 93 Postman, Neil 13, 90 Pound, Ezra 307-309, 311 Prigov, Dmitrij Aleksandrovič 18, 76, 270, 271 Proust, Marcel 20, 207, 211, 242, 260263, 307, 316, 321, 399, 405 Puškin, Aleksandr 76, 151, 270, 271, 338, 339 Queneau, Raymond 77, 310, 319-321 Rainer, Arnulf 290-292, 295 Rancière, Jacques 61, 62 Rauschenberg, Robert 304 Ray, Man 201, 303, 331 Renard, Maurice 244-246 Reuterswärd, Carl Fredrik 13, 17, 139, 140-142, 143-148, 149, 150-154, 258 Rot, Diter (auch Roth, Dieter) 13, 16, 21, 94, 151, 155-158, 159, 160-162, 233, 244, 383 Roussel, Raymond 151, 187, 248, 302, 324 Rühm, Gerhard 13, 16, 18, 80, 81, 287290 Ruppersberg, Allen 29, 30, 241, 242, 249 Ruscha, Ed 235, 236, 336, 338, 365, 396, 401 Satie, Erik 180 Scherübel, Klaus 61, 210

Schulz, Bruno 307, 308 Schwitters, Kurt 30, 164, 303 Shakespeare, William 20, 130, 307, 315, 321 Soutter, Luis 285, 286 Stein, Gertrude 50, 151, 254-256 Sterne, Laurence 184-186, 304, 305, 405 Stirner, Max 14, 30, 105, 106, 316, 401 Sturtevant, Elaine 12, 13, 123-125, 136, 137, 156 T, Ernest 240-242 Theewen, Gerhard 378, 379, 386, 398, 400 Thurston, Nick 91, 248 Tót, Endre 20, 240, 241, 242 Valéry, Paul 101, 167, 177, 203 Van Gogh, Vincent 277, 278 Villers, Bernard 81, 250, 251, 252, 256 Virno, Paolo 56, 57, 65 Wagner, Richard 167, 178, 179 Wall, Jeff 177, 188, 189 Walser, Robert 359, 376 Warhol, Andy 50, 64, 332, 388 Weiner, Lawrence 50, 319, 380, 381, 382, 388 Whiteread, Rachel 374, 381 Williams, Emmett 142, 149, 150, 392 Winckelmann, Johann Joachim 89, 90 Wittgenstein, Ludwig 147, 152, 153, 207, 349, 350, 356-359, 364, 368 Wyn Evans, Cerith 93, 196, 202, 204, 205, 206, 213, 398 Zacharov, Vadim (auch Zakharov, Vadim) 14, 18, 277, 279, 280 Zboya, Eric 215, 230

Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts November 2012, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

Peter Braun, Bernd Stiegler (Hg.) Literatur als Lebensgeschichte Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart April 2012, 412 Seiten, kart., mit farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2068-9

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart August 2012, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin November 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur April 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende August 2012, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

Andrea Ch. Berger Das intermediale Gemäldezitat Zur literarischen Rezeption von Vermeer und Caravaggio Juli 2012, 264 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2069-6

Matteo Colombi (Hg.) Stadt – Mord – Ordnung Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa September 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1918-8

Roman Halfmann Nach der Ironie David Foster Wallace, Franz Kafka und der Kampf um Authentizität Juni 2012, 242 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2117-4

Anne-Kathrin Hillenbach Literatur und Fotografie Analysen eines intermedialen Verhältnisses April 2012, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1970-6

Annabelle Hornung Queere Ritter Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters

Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes Divina Commedia Mai 2012, 290 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1

Thomas Lischeid Minotaurus im Zeitkristall Die Dichtung Hans Arps und die Malerei des Pariser Surrealismus Juli 2012, 354 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2103-7

Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne November 2012, ca. 450 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 September 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Miriam N. Reinhard Entwurf und Ordnung Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung Juni 2012, 248 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2010-8

Oktober 2012, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 48,80 €, ISBN 978-3-8376-2058-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

www.transcript-verlag.de