Wie Governance gelingen kann: Auf der Suche nach Antworten mit Dirk Baecker und Friedrich Glasl [1. Aufl.] 978-3-658-24113-1;978-3-658-24114-8

Die Pädagogische Hochschule und die Gebietskrankenkasse Oberösterreich als maßgebliche Akteurinnen des Bildungs- und des

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Wie Governance gelingen kann: Auf der Suche nach Antworten mit Dirk Baecker und Friedrich Glasl [1. Aufl.]
 978-3-658-24113-1;978-3-658-24114-8

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Führung im System der Governance (Dirk Baecker)....Pages 1-19
Gedanken über die Governance im System der Pädagogischen Hochschulen (Paul Reinbacher)....Pages 21-26
Die Gesundheitsreform 2012 in Österreich im Spiegel politischer Steuerungsinstrumente (Wolfgang Hable, Andrea Wesenauer)....Pages 27-44
Dirk Baecker über „Führung“ (Josef Oberneder)....Pages 45-54
Konflikte im Umgang mit Diversität (Friedrich Glasl)....Pages 55-73
Vielfalt als Erfolgspotenzial (Stefanie Karner)....Pages 75-84
Überlegungen zum Konflikt im Kern der Pädagogischen Hochschulen (Paul Reinbacher)....Pages 85-89
Friedrich Glasl und Josef Oberneder über „Konflikte“ (Markus Rohrhofer)....Pages 91-96

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Andrea Wesenauer Josef Oberneder Paul Reinbacher Hrsg.

Wie Governance gelingen kann Auf der Suche nach Antworten mit Dirk Baecker und Friedrich Glasl

Wie Governance gelingen kann

Andrea Wesenauer · Josef Oberneder Paul Reinbacher (Hrsg.)

Wie Governance gelingen kann Auf der Suche nach Antworten mit Dirk Baecker und Friedrich Glasl

Hrsg. Andrea Wesenauer Linz, Österreich

Paul Reinbacher Linz, Österreich

Josef Oberneder Linz, Österreich

ISBN 978-3-658-24114-8  (eBook) ISBN 978-3-658-24113-1 https://doi.org/10.1007/978-3-658-24114-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Systeme der Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Eine Annäherung Andrea Wesenauer, Josef Oberneder und Paul Reinbacher Führung im System der Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Übung Dirk Baecker

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Gedanken über die Governance im System der Pädagogischen Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Reinbacher

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Die Gesundheitsreform 2012 in Österreich im Spiegel politischer Steuerungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Hable und Andrea Wesenauer

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Dirk Baecker über „Führung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interview: Josef Oberneder

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Konflikte im Umgang mit Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Glasl

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Inhaltsverzeichnis

Vielfalt als Erfolgspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die oberösterreichische Gebietskrankenkasse am Weg zum „Whole Brain Thinking®“ Stefanie Karner

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Überlegungen zum Konflikt im Kern der Pädagogischen Hochschulen . . Paul Reinbacher

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Friedrich Glasl und Josef Oberneder über „Konflikte“. . . . . . . . . . . . . . . Interview: Markus Rohrhofer

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Jedes System ist ein System der Freiheit und der Notwendigkeit zugleich. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) Das Genie ist der Fehler im System. (Paul Klee)

Systeme der Governance Eine Annäherung Andrea Wesenauer, Josef Oberneder und Paul Reinbacher

Auch im 21. Jahrhundert wird die gesellschaftliche Entwicklung noch immer begleitet von Forderungen, die Folgen der soziokulturellen Evolution und der funktionalen Differenzierung sowie der damit einhergehenden Steuerungsdefizite in einzelnen Funktionssystemen – wie beispielsweise im Gesundheits- und im Bildungssystem – durch Integration auf einer höherer Ebene zu kompensieren. Allerdings entpuppt sich die hierarchische Integration gesellschaftlicher Bereiche durch die „sichtbare Hand“ der Politik zunehmend als Illusion der Moderne und allenthalben ist ihr eindrucksvolles Scheitern zu beobachten. Gleichzeitig stehen jedoch auch liberale Marktmodelle – nicht zuletzt aufgrund der weithin sichtbaren unerwünschten Nebenwirkungen der „unsichtbaren Hand“ – immer stärker in der Kritik. Die sichtbare und die unsichtbare Hand der hierarchischen Bürokratie und des Wettbewerbs auf Märkten stoßen als einfache und vor allem eindimensionale Koordinationsmechanismen ganz offensichtlich immer öfter an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Damit wiederum drängen sich Fragen nach heterarchischen Formen der Koordination und der Steuerung auf, um den Herausforderungen der Postmoderne in der politischen und vor allem auch in der organisationalen Praxis entsprechend Paroli bieten zu können. Möglicherweise sind deshalb „fluide“ Sozialformen wie Netzwerke, Communities etc. sowie laterale Steuerungsmodelle wie jene der „Governance“ angemessenere Antwortstrategien im Umgang mit den komplexen Veränderungsdynamiken, denen wir in großen gesellschaftlichen Politikfeldern begegnen? Entsprechende Versuche, neue, hybride Koordinationsmechanismen und Organisationsmuster zur Steuerung zu implementieren, führen allerdings ihrerseits IX

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Andrea Wesenauer, Josef Oberneder und Paul Reinbacher

zu Eigenlogiken in ihrem Verhalten und zu Dynamiken mit besonderen Herausforderungen – und zwar sowohl für die interne (also: die intraorganisationale) als auch für die übergreifende (also: die interorganisationale) Systementwicklung. Angemessene Steuerungs- und Führungsverständnisse für diese neuen, komplexen und vielschichtigen Systeme der „Governance“ erfordern deshalb fundiertes und reflektiertes Wissen über jene qualitativen Veränderungen, die mit solchen neuen Strukturen einhergehen. Andernfalls läuft ihr Management Gefahr, von unerwünschten Nebenwirkungen in Form von unbeabsichtigten Nah-, Fern- und Wechselwirkungen unvorbereitet auf dem falschen Fuß erwischt zu werden. Zu den zeitgemäßen Kernkompetenzen für Management und Leadership zählt demnach insbesondere der konstruktive Umgang mit Konflikten aufgrund von „Diversity“, denn: Sind nicht heterarchische Koordination zwar flexibler, gleichzeitig aber konfliktanfälliger, weil in fluiden Sozialformen – die den Zugang in vielen Fällen nicht formal regeln können (oder: gar nicht formal regeln wollen) – die „Vielfalt“ zwar im Sinne von „requisite variety“ (W. Ross Ashby) nützlich, aber zugleich problematisch ist – sodass auch gelingende Kooperation nicht vorausgesetzt werden kann? Vor diesem Hintergrund haben sich die Pädagogische Hochschule und die Gebietskrankenkasse Oberösterreich – als zwei große nationale Player auf den immer wieder im Interesse der öffentlichen Aufmerksamkeit stehenden Feldern der Gesundheits- und der Bildungspolitik – zum Ziel gesetzt, im Rahmen einer Reihe periodischer Veranstaltungen für ihre Führungskräfte mit hochkarätigen Expertinnen und Experten ein solchermaßen angemessenes Steuerungs- und Führungsverständnis zu entwickeln und dieses anhand sowohl theoretisch reflektierter als auch praktisch realisierbarer Lösungsvorschläge für die Arbeit in der Organisationsentwicklung zu konkretisieren. Dieser Einladung sind im Rahmen der ersten beiden Veranstaltungen Dirk Baecker und Friedrich Glasl gefolgt. Als Ausgangspunkt für die Untersuchung der eingangs skizzierten Problemund Fragestellungen boten sich dabei jene systemisch-konstruktivistischen, mitunter auch systemtheoretischen Ansätze an, die ebenfalls spätestens im 20. und 21. Jahrhundert einen erstaunlichen Aufschwung erlebt haben. Bekanntlich konnten mit ihrer Hilfe in so unterschiedlichen Disziplinen wie in der Biologie (L. v. Bertalanffy, H. v. Foerster), in der Mathematik (G. Spencer-Brown, N. Wiener), in der Medizin und in der Psychotherapie (G. Bateson, F. B. Simon), aber auch in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (T. Parsons, N. Luhmann, D. Baecker) zahlreiche Phänomene bearbeitet werden, die sich bis dahin sowohl einer theoretischen Analyse als auch einer praktischen Nutzung für (politische, unternehmerische und ganz allgemein organisationale) Steuerungsfragen gleichermaßen entzogen hatten.

Systeme der Governance

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Die Auftaktveranstaltung im Jahr 2016 hatte in diesem Sinne unmittelbar zum Ziel, die zeitgenössische Systemtheorie in der Tradition von Niklas Luhmann auf ihre aktuelle Bedeutung für die zwei zentralen gesellschaftlichen Politikfelder Bildung und Gesundheit am Beispiel Österreich zu befragen. Für diese Tagung begann Dirk Baecker seine „Übung“ (so die für den Eröffnungsvortrag von ihm selbst gewählte Bezeichnung) zur Führung im System der Governance mit einem „Crash Kurs in Systemtheorie“, bevor er sich der eigentlichen Problemstellung, nämlich der Suche nach einem systemischen Verständnis für die Steuerung und Führung in komplexen Strukturen Governance, zuwandte. Die anschließende Diskussion drehte sich einerseits um Fragen der Interpretation, andererseits um die mögliche Anwendung auf konkrete Problemstellungen der beiden Organisationen, wie von Paul Reinbacher in seinen Gedanken über die Governance im System der Pädagogischen Hochschulen sowie von Wolfgang Hable und Andrea Wesenauer in ihren Ausführungen über Die Gesundheitsreform 2012 in Österreich im Spiegel politischer Steuerungsinstrumente illustriert. Im Zuge der Veranstaltung konnte außerdem Josef Oberneder ein Interview mit Dirk Baecker über „Führung“ führen, in dem dieser sich – in bekannt pointierten Formulierungen – zu „postheroischer Führung“ äußerte und in diesem Zusammenhang für eine Überwindung des individuellen Narzissmus zugunsten systemischer Selbstorganisation plädierte. Die darauffolgende zweite Veranstaltung im Jahr 2017 rückte Fragen der Diversität in Systemen sowie den Nutzen der sich daraus ergebenden Kooperations- und Konfliktpotenziale in den Fokus der Aufmerksamkeit. In zwei Vorträgen erläuterte der prominente Konfliktforscher und Berater in Organisationen und in Friedensprozessen, Friedrich Glasl, welche systemischen Effekte ausgehend von Unterscheidungen wie Diversität/Homogenität, Diversität/Polarität etc. möglicherweise zu erwarten sind. Immerhin haben sowohl Konflikt als auch Kooperation ihren Kristallisationskern in einer Differenz (z. B. „ich“ versus „der andere“ bzw. „die andere“, „meine Interessen“ versus „die Interessen anderer“). Diesen Ball nahmen Stefanie Karner in ihrem von der Praxis inspirierten Plädoyer Vielfalt als Erfolgspotenzial. Die oberösterreichische Gebietskrankenkasse am Weg zum „Whole Brain Thinking®“ und Paul Reinbacher in seinen kurzen analytischen Überlegungen zum Konflikt im Kern der Pädagogischen Hochschulen als Ergänzung auf. An diesem Tag führte Markus Rohrhofer von der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ überdies ein Interview mit Friedrich Glasl und Josef Oberneder über „Diversity und Leadership“, das sehr persönliche Einblicke in den beruflichen und privaten Alltag zweier Führungskräfte mit breitem nationalem und internationalem Erfahrungshintergrund gewährt.

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Andrea Wesenauer, Josef Oberneder und Paul Reinbacher

So wollen die Beiträge dieses, nun nach den ersten beiden Jahren vorliegenden Bandes nicht nur als Resümee, sondern darüber hinaus als Einladung zum breiteren Nach-Denken über diese aus Sicht der Praxis anspruchsvollen Veranstaltungen verstanden werden. Dies ist insbesondere deshalb von Nutzen, weil auf diesem Weg die von Dirk Baecker und Friedrich Glasl angestoßenen Irritationen im Zuge des alltäglichen Handelns ihre Bedeutung und ihre nachhaltige Wirkung für die organisationale Praxis entfalten können – und zwar über den engeren Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Pädagogischen Hochschule und der Gebietskrankenkasse Oberösterreich hinaus.

Linz, im Frühjahr 2018

Führung im System der Governance Eine Übung Dirk Baecker

1 Jeder Arbeit mit dem Systembegriff fällt es schwer, das Missverständnis zu vermeiden, Systeme seien Dinge, die man draußen in der Welt vorfindet. Tatsächlich hat noch niemand ein System gesehen, es sei denn als Formel oder Grafik oder Diagramm auf einem Blatt Papier. Der Systembegriff ist ein Begriff eines Beobachters, der mit seiner Hilfe bestimmte Vorkommnisse in der Welt zählt, ordnet und so aufeinander bezieht. Er beschreibt etwas als Funktion von etwas anderem und stellt so eine Relation her, die für einen Beobachter der Fall ist, während sie möglicherweise für andere Beobachter nicht der Fall ist. Wer von einem System spricht, sollte daher immer den Beobachter benennen, für den ein System ist, was es ist. Dieser Beobachter müsste von sich absehen, um das System als ein Ding zu verstehen, das man draußen in der Welt vorfindet. Tatsächlich ist jedoch der Einschluss des Beobachters in die Welt, die er beschreibt, eine der wichtigsten Zielsetzungen, die der Systembegriff verfolgt.

2 Ein beobachterabhängiger Systembegriff reibt sich an einem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis, das sich die Objektivität der Beschreibung der Welt auf die Fahnen geschrieben hat. Beschreibungen müssen „evidence-based“, wie man dann gerne sagt, so angefertigt werden, dass sie von jedem Beobachter geteilt werden © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Wesenauer et al. (Hrsg.), Wie Governance gelingen kann, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24114-8_1

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können, der sich derselben Voraussetzungen der Beobachtung, etwa bestimmter Begriffe, Axiome oder Instrumente, bedient. Der Beobachter darf keinen Unterschied machen. Erst die Entdeckungen der blinden Flecken jeder Beobachtung und damit des Nischencharakters auch der wissenschaftlichen Beobachtung hat zur Formulierung einer Erkenntnistheorie geführt, die nicht mehr objektivistisch, sondern konstruktivistisch ist (Watzlawick 1976, 1981, Watzlawick & Krieg 1991). Der vielleicht wichtigste Vorteil einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie liegt darin, dass der Beobachter, der sich an sie hält, aus jeder Beobachtung von etwas auch etwas über sich selber lernt. Wenn der Beobachter in der eigenen Beschreibung von Sachverhalten in der Welt, die er vornimmt, selber vorkommt, kann er beginnen, auch sich selber zu beobachten. Der einzige Haken daran ist, dass dies immer erst im Anschluss möglich ist. Man kann nicht zugleich etwas und sich selber beobachten. Man muss zuerst beobachten – und kann dann fragen, was aus dieser Beobachtung für den Beobachter folgt, der sie vorgenommen hat. Schlimmer noch, ein Beobachter, der sich selber beobachtet, wird, wie jede Philosophie von Sokrates über Descartes bis Fichte unterstrichen hat, sich selber unbeobachtbar. Denn er muss ja, um sich beobachten zu können, eine Beobachtung anstellen, die er in diesem Moment nicht selber beobachten kann.

3 Wir sind schon mittendrin in der Governance-Problematik. Governance ist ein System der wechselseitigen Beobachtung von Organisationen. Governance ist ein System der Führung, in dem Führung darin besteht, die Abhängigkeit der einen Organisation von anderen Organisationen positiv und negativ, das heißt das eine annehmend und das andere ablehnend, zu gestalten. Governance ist ein System, das ohne die Reflexion auf die eigene Verantwortung für das Zustandekommen eines Systems nicht funktionieren würde. Ohne diese Reflexion ist Governance schlicht die neueste Variante eines Herrschaftssystems (Mayntz 2005); mit dieser Reflexion wird sie zu einer strategischen Variable der Gestaltung von Abhängigkeitsbeziehungen. Und „Gestaltung“ heißt hier wie immer: Wahrnehmung von Unabhängigkeitschancen zur Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen der Abhängigkeit. Wer aber soll diese Unabhängigkeitschancen wahrnehmen und sich mit der Verschiedenheit der Formen der Abhängigkeit auseinandersetzen, wenn nicht der Beobachter, der seine eigene aktive Rolle genau darin erkennt? Governance heißt, Heteronomie autonom zu gestalten, das heißt sich eigene Gesetze (griech. autós nomós) zu geben, die bestimmen, wie man fremden Gesetzen (griech. heteros nomós) folgt. Die in dieser Formulierung liegende Paradoxie ist

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kein Widerspruch zur Möglichkeit der Governance, sondern, wie jede politische Führungslehre seit Machiavelli weiß, die Bedingung ihrer Möglichkeit. Und so formuliert auch die Kybernetik, die Modellwissenschaft der Systemtheorie (Glanville 2012): Kontrollieren kannst du nur, wenn du dich kontrollieren lässt.

4 Gehen wir daher schrittweise vor. Klären wir zunächst die Grundbegriffe, die jeder Systementwicklung zugrunde liegen, und schauen wir uns dann an, wie sich die Paradoxie einer heteronomen Autonomie durch die Kunst der Führung in einem Governance-Zusammenhang entfalten lässt.

5 Der vielleicht wichtigste und sicherlich schwierigste Begriff ist dabei der der Systementwicklung selber. Denn Systementwicklung, wir ahnen es, ist die Entwicklung eines Systems durch einen Beobachter, der andere Beobachter einlädt, sich auf ein System einzulassen, das sich aus deren Perspektive anders darstellt als aus der eigenen. Wenn wir daher nicht davon ausgehen wollen und können, dass wir die Mittel dazu haben (Gewalt, Geld, Ideologie), uns alle anderen Beobachter zu unterwerfen, so dass sie unseren Blickwinkel teilen oder zumindest hinreichend viele Gründe haben, so zu tun und zu handeln, als würden sie ihn teilen, müssen wir mit der Divergenz der Beobachter, ihrer Perspektiven und der daraus resultierenden Beobachtungen starten. Die Divergenz der Beobachter ist der empirische Ausgangspunkt jeder Systemtheorie. Sollte diesem Ausgangspunkt jemand widersprechen, der etwa meint, als „Menschen“ sähen wir ohnehin alle dasselbe und als „vernünftige Menschen“ könnten wir auch dazu gebracht werden, alle diesbezüglichen Irrtümer zu korrigieren, wäre auch das eine Bestätigung des Ausgangspunkts, nämlich eine abweichende Meinung.

6 Mit der Systementwicklung begeben wir uns mitten hinein ins Dickicht unübersichtlicher Abhängigkeitsbeziehungen, in dem wir dennoch nicht darauf verzichten wollen, unsere Unabhängigkeitschancen zu steigern. Wir tun dies nicht, um eine abstrakte Unabhängigkeit zu erreichen und irgendwann unsere Autonomie feiern

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zu können, sondern wir tun dies, um in diesem Dickicht bessere Chance zu haben, unsere Abhängigkeitsbeziehungen mitgestalten zu können. Und wir ahnen, wenn wir von der Divergenz der Beobachter ausgehen, dass die Steigerung oder auch nur Sicherstellung unserer relativen Unabhängigkeit dazu dient, uns im Netzwerk der Abhängigkeiten attraktiver zu machen, das heißt mehr Auswahl unter verschiedenen Möglichkeiten zu haben, uns abhängig zu machen. Fragen der Führung in einem System der Governance lassen sich nur als Fragen einer gleichzeitigen und wechselseitigen Steigerung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit formulieren. Jede Führungslehre beginnt daher damit, mit dieser Paradoxie vertraut zu werden. Wer sich stattdessen auf eine eindeutige Welt verlassen möchte, ist zur Übernahme von Aufgaben der Führung nicht geeignet.

7 Wir beginnen mit dem Systembegriff. Wenn ein System kein Ding da draußen in der Welt ist, sondern eine Relation, die ein Beobachter zwischen verschiedenen Sachverhalten, Ereignissen und, möglicherweise, weiteren Beobachtern herstellt, kann man das System nicht als positives Subjekt definieren. Das System „ist“ nicht. Das System gibt es selbst dann nicht, wenn man, wie Niklas Luhmann, davon ausgeht, dass es Systeme gibt (Luhmann 1984, S. 31, vgl. Baecker 2016a). Denn dieser Ausgangspunkt ist genau das: der Ausgangspunkt eines Beobachters, eine Setzung, eine Konstruktion. Luhmann begann mit dieser Setzung, weil er sich nicht auf erkenntnistheoretische Zweifel einlassen wollte, von denen man weiß, dass in mühseligen Überlegungen allenfalls vertieft, aber nicht ausgeräumt werden können. Er ließ sich stattdessen auf den Trick ein, mit der Annahme zu starten, dass es Systeme gibt, und irgendwann auf ein weiteres System zu stoßen, nämlich auf den Beobachter in seiner soziologischen Fachdisziplin der Wissenschaft, der genau dann auch genauer untersucht werden kann. Das heißt, er wählte den Weg einer Wirklichkeitskonstruktion statt des Weges einer erkenntnistheoretischen Klärung. Allerdings hatte er in dem Buch, in dem er diese Vorgehensweise wählte, auch noch 600 Seiten vor sich – ganz abgesehen davon, dass sich dieses Buch auch wieder nur als „Einleitung“ in eine Theorie der Gesellschaft verstanden wissen wollte, die dann in weiteren 8 Büchern erschien –, in denen sich immer wieder die Gelegenheit ergab, auf die Beobachterabhängigkeit jeder Systembeschreibung hinzuweisen. Luhmann verzichtete darauf, die Selbstreferenz seiner Beobachtungen zum Thema zu machen, indem er jedem System eine Selbstreferenz unterstellte und die eigene Beobachtung somit zu einem Fall unter anderen relativierte. Der Preis für diese Vorgehensweise ist nicht unerheblich. Er liegt darin, die Selbstrefe-

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renz eines Systems als das zu verstehen, was sich jeder externen Beobachtung und auch der Selbstbeobachtung entzieht. Die Selbstreferenz „läuft mit“, wie Luhmann formuliert (Luhmann 1984, S. 604f). Sie entzieht sich jedem verdinglichenden Zugriff. Der Vorteil aus dieser Begriffslage wiederum liegt darin, dass das System in seiner Selbstreferenz als das Konstrukt eines Beobachters verankert wird, dem es zugleich entzogen wird. Schärfer kann man Vorsichtsmaßnahmen gegenüber einer allzu raschen Subjektivierung und Substanzialisierung des Systems nicht formulieren. Als was es Systeme gibt, wenn es Systeme gibt, ist grundsätzlich offen.

8 Es lohnt sich daher, den mindestens dreistelligen Charakter eines Systems zu unterstreichen, indem man bereits die Ausgangsdefinition gegen den Strich jeder Dinglichkeit oder gar eindeutigen Einheit bürstet. „Dreistellig“ soll heißen, dass ein Beobachter (1. Stelle) zwischen mindestens zwei Sachverhalten oder Ereignissen (2. und 3. Stelle) eine Relation herstellt, in die das Faktum des Hergestelltwerdens mit hineingerechnet wird. System heißt daher wörtlich: „aus mehreren Einzelteilen zusammengesetztes Ganzes“ (griech. sýstēma), wobei systematisch offenbleibt, wer die Zusammensetzung vornimmt, das System selber und/oder der Beobachter. In seiner Auseinandersetzung mit dem Systembegriff übersetzt Martin Heidegger die griechische Herkunft des Wortes in die Formel: „Ich füge in eine Ordnung derart, (…) daß dabei die Ordnung selbst erst entworfen wird“ (Heidegger 1988, S. 45). Und es bleibt offen, so ergänzt er, wie diese Ordnung zu verstehen ist, als „inneres Gefüge, äußeres Geschiebe (oder) Rahmen“ (ebd.). Theodor W. Adorno empfiehlt ganz in diesem Sinne, ein System nicht als „positives Subjekt“, sondern als „objektive Negativität“, als die Erfahrung von Heterogenität zu verstehen (Adorno 1973, S. 31). System ist Widerstand, nicht etwa Reibungslosigkeit. Bestenfalls lässt sich sagen, dass ein System positive Arbeit an objektiver Negativität ist. Und dies gilt auf der sachlichen Ebene. Auf der zeitlichen Ebene, das unterstreicht Luhmann, bestehen Systeme ebenso sehr aus dem Aufbau von Elementen aus vorherigen Elementen wie aus dem laufenden Zerfall der Elemente und damit: aus ihrem eigenen Zerfall (Luhmann 1984, S. 77ff und S. 394). Und auf der sozialen Ebene schließlich, das hatten wir schon gesagt, bestehen Systeme aus der Divergenz von Beobachterperspektiven, das heißt aus der Möglichkeit von Konsens ebenso wie Dissens. Ein System zu denken, heißt, Negativität, Zerfall und Dissens zu denken.

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9 Es ist demnach keine Koketterie, wenn Systemtheoretiker darauf hinweisen, man benötige die Systemtheorie, um vor dem Systembegriff zu warnen.

10 Von Heinz von Foerster, dem Begründer der Kybernetik zweiter Ordnung, der Kybernetik nicht nur beobachteter (1. Ordnung), sondern beobachtender Systeme (2. Ordnung), stammt ein Vorschlag, mit diesen Komplikationen des Systembegriffs elegant umzugehen. Im Anschluss an die Physiologie des Gehirns, deren Entwicklung im 19. Jahrhundert die Systemtheorie außerordentlich viel verdankt, empfiehlt von Foerster, davon auszugehen, dass Systeme von Beobachtern als doppelt geschlossen konstruiert werden können (von Foerster 1993a). Auf einer ersten Ebene sind Systeme operational geschlossen. Das heißt, was immer sie tun, muss der Bedingung genügen, dass anschließend Anderes und Weiteres möglich ist. Operationen folgen auf Operationen. Jedes Ende ist zugleich ein Anfang. Systeme verlieren damit einen Freiheitsgrad, wie von Foerster formuliert, und gewinnen die Möglichkeit, ihre Operationen auf eine unendlich vielfältige Weise fortzusetzen, solange nur die eine Bedingung erfüllt ist, dass jedes Ende zugleich ein Anfang ist. Auf diese Art und Weise kann man sich vorstellen, dass Systeme durch die Wirklichkeit driften und dabei jede Chance wahrnehmen, sich zu reproduzieren, solange sie nur auf Material, Anlässe oder Widerstände stoßen, die ihnen dies ermöglichen. Hinzu kommt jedoch, dass Systeme auch auf einer zweiten Ebene geschlossen sind, auf der Ebene der Regulation dieser Operationen. Wiederum sind das Gehirn und der Organismus dafür die Vorbilder. Auf dieser zweiten Ebene gilt, dass das System laufend versuchen kann, den eigenen Operationen einen besseren Halt zu geben oder auch sich für eigene Zwecke vorhersehbar und steuerbar zu machen, indem sich das System Strukturen gibt, an denen sich die Operationen orientieren können. Und auch hier ist grundsätzlich alles möglich, solange nur Regulationen allenfalls dann abgeschafft werden, wenn neue Regulationen eingeführt werden. Organisationen sind dafür ein schönes Beispiel, weil alle formale Organisation, die auf explizite Steuerung hinausläuft, hier im Nu durch informelle Organisation supplementiert wird, die ihre eigenen Regeln hat, so dass die Reproduktion des organisierten Systems zwischen beiden Ebenen – wiederum: unvorhersehbar – wechseln kann.

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11 Der Gewinn aus dieser Ebene einer zweiten Schließung besteht darin, dass die Unzuverlässigkeit der eigenen Operationen gesteigert werden kann. Bereits auf der ersten Ebene der operationalen Schließung gilt, dass sich das System insgesamt auch dann reproduzieren kann, wenn die einzelnen Elemente oder Operationen unzuverlässig sind. Da es auf die Anschlussoperation ankommt, ob oder ob nicht die Reproduktion gelingt, kann die Anschlussoperation jeweils genutzt werden, die Irrtümer oder Vagheit der vorherigen Operation zu heilen. In diesem Sinne hat John von Neumann die Reproduktion verlässlicher Organismen aus unzuverlässigen Elementen beschrieben und unterstrichen, dass der Einbau des Rechnens mit Unzuverlässigkeit den Vorteil hat, Irrelevantes als solches bezeichnen und gegenüber diesem Irrelevanten das Relevante profilieren zu können (von Neumann 1956). Die doppelte Schließung baut diese Möglichkeit des Gewinns von Relevanz aus, indem die Relevanzkriterien auf der Ebene der Regulation explizit gemacht und dann auch explizit ausgetauscht werden können. Auch dann allerdings gilt, dass die sichergestellte Relevanz nicht etwa dafür sorgt, dass nur noch Relevantes geschieht, sondern dafür sorgt, dass umso mehr Operationen, Elemente und Ereignisse als irrelevant erkannt werden können. Das System erhöht die Chance der Erkenntnis der eigenen Unzuverlässigkeit – und jeder Versuch, dies zu korrigieren, steigert diese Chance.

12 Ganz ähnlich wie dieser Begriff einer doppelten Schließung ist Humberto R. Maturanas und Francisco J. Varelas Begriff der Autopoiesis gelagert (Maturana & Varela 1980). Denn hier wird die Reproduktion der Elemente des Systems durch die Elemente des Systems (1. Schließung) von der Reproduktion des Netzwerks unterschieden (2. Schließung), in dem diese Reproduktion der Elemente stattfindet. Dieses Netzwerk in einer der typischen „strange loops“ der Systemtheorie beziehungsweise Theorie selbstreferentieller Systeme (Hofstadter 1985), in dem gerade eben unterschiedene Ebenen gleich anschließend wieder ineinander kollabieren, ist selbst ein Element des Systems, das im Netzwerk seiner Elemente seine Elemente reproduziert. Man kann jedoch die Einführung dieses Netzwerkbegriffs nutzen, um etwas Soziologie nachzufüttern und darauf hinzuweisen, dass auch ein Netzwerk die präzise Funktion erfüllt, die Ungewissheit, mit der ein System umgehen muss, nicht etwa zu reduzieren, sondern zu steigern, somit explizit zu machen und erst auf dieser Ebene dann den Umgang mit ihr zu ermöglichen. In

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diesem Sinne hat Harrison C. White Netzwerke als Ungewissheitskalküle verstanden (White 1992, 2008): Beziehungen in einem Netzwerk sind grundsätzlich Beziehungen, die jederzeit durch attraktivere Beziehungen ausgetauscht werden können. Das gilt für mich, wenn ich mich umorientiere. Und es gilt für andere, wenn sie Adressen, Sachverhalte, Geschehnisse entdecken, die für sie attraktiver sind als diejenigen, die ich zu bieten habe. Wer sich in ein Netzwerk begibt, räumt sich und anderen die Chance alternativer Beziehungen ein. Es wird ungewiss, wie lange man mit wem in welchen Hinsichten zu tun hat. Zum Kalkül wird der Umgang mit diesem Typ von Ungewissheit dann, wenn ich meine Arbeit an einer Identität als eine Arbeit verstehe, die die Attraktivität dieser Identität für andere zu ihrem Maßstab macht. Kontrollieren, so White, kann man die eigene Existenz und Arbeit in einem Netzwerk genau dann, wenn es gelingt, die eigene Identität attraktiv auszuweisen und Signale zu setzen, auf welche Identität anderer man unter Umständen bereit ist sich einzulassen. Identitäten werden ihrerseits relativ und relational. Genauer gesagt: Sie waren es immer schon, doch konnten wir sie für stabil und eindeutig halten, solange wir in Netzwerkbeziehungen standen, die familiär, beruflich und ideologisch so stabil waren, dass sie als solche noch nicht einmal thematisiert werden mussten.

13 Die Systemtheorie lässt sich nicht zufällig auf so viel Widersprüchlichkeit und Ungewissheit ein. Sie ist Zeitgenosse einer Gesellschaft, die sich ihrerseits seit der Einführung der Elektrizität, des Computers und seiner Netzwerke auf einen neuen Grad von Komplexität einlässt, der nicht mehr den modernen Erwartungen einer vernünftigen Gestaltung von Gesellschaft genügt (Kucklick 2014). Im Umgang mit unsichtbaren Maschinen, konnektiven Algorithmen und explodierenden Datenbeständen wird die Gesellschaft unübersichtlich und zwingt zur Entwicklung einer Begrifflichkeit, die eher ökologischen als rationalen Prinzipien folgt. Das ökologische Denken ist ein Denken in Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Nischen, die ihrerseits keinem Supersystem unterworfen sind.

14 Umso wichtiger ist es dementsprechend auch, die Nischen zueinander in ein Verhältnis setzen zu können. Die beste Voraussetzung dafür erfüllt der Begriff eines Beobachters, der dazu einlädt, bei allen Beobachtungen die Perspektive mitzu-

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denken, aus der heraus ein Beobachter nur beobachten kann. Und es versteht sich zumindest in der Kybernetik und der Systemtheorie, dass hier ein denkbar allgemeiner Begriff der Beobachtung verwendet wird, der darin besteht, eine Beobachtung als das Treffen einer Unterscheidung zu verstehen. Das geht visuell, aber auch mit dem Gehör, dem Tastsinn, dem Geschmack und dem Gefühl. Es geht auf der Basis von mündlicher Sprache, aber auch von Texten, Formeln, Modellen, Bildern und Tönen. Eine Beobachtung ist eine kognitive, also eine Erkenntnis gewinnende Operation, die als diese Operation zugleich den Organismus, das Gehirn, das Bewusstsein oder welches System auch immer reproduziert, dem ein Beobachter diesen Typ von Beobachtung zurechnet. Auch Theorien sind Beobachtungen, die mit Unterscheidungen arbeiten und diese Unterscheidungen in dem Moment, in dem sie mit ihnen arbeiten, nicht ihrerseits beobachten können. Darin besteht der blinde Fleck jeder Theorie. Deswegen muss man davon ausgehen, dass die Theorie sich ebenso einmischt wie jede andere Beobachtung. Auch für sie gilt: „Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“ (Maturana 2000, S. 25). „Und alles, was gesagt wird, wird zu einem Beobachter gesagt“ (von Foerster 1993b, S. 84f). Es lohnt sich, nicht nur Worte und Sätze, sondern auch Zeichen und Symbole, Punkte und Absätze, Spiegelstriche und grafische Trennlinien, Pausen und Schweigen in diesem Sinne als Beobachtungen zu verstehen, mit denen von einem Beobachter etwas zu einem Beobachter „gesagt“ wird.

15 Machen wir die Probe auf das Exempel. Nutzen wir die hier skizzierten Grundbegriffe einer Systemtheorie der Beobachtung, um einige Überlegungen zur Führung im System der Governance anzuschließen.

16 Wir wissen: Führung beobachtet und wird beobachtet. Wir wissen auch: Governance ist Führung in einem System der Abhängigkeit zwischen unabhängigen Organisationen. Das Governancemodell der Führung entspricht einem weltweiten Organisationswandel unter Unternehmen, Behörden, Krankenhäusern, Armeen, Kirchen, Schulen und Universitäten von einem hierarchischen Modell der direkten zu einem heterarchischen Modell der indirekten Kontrolle. Governance läuft im Wesentlich darauf hinaus, der Aufforderung von oben zu folgen, sich von außen kontrollieren zu lassen. Und es heißt: die eigene Kontrolle so zu dokumentieren,

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dass Netzwerkpartner, die dazu auch keine Möglichkeit mehr hätten, auf die direkte Kontrolle verzichten zu können. Man spricht von einem Qualitäts- und Risikomanagement in einer „Audit Society“, einer Gesellschaft wechselseitiger Beziehungen der Wirtschafts-, Politik-, Rechts- und sonstigen Prüfung (Power 1997, 2007, Baecker 1999). Während die Hierarchie darin bestand, für jedes System eine einheitliche und „heilige“ (griech. hieros) Spitze anzunehmen, die über alles andere herrscht (griech. archē, im Sinne eines unverhandelbaren Ursprungs), besteht die Heterarchie darin, im System dafür zu sorgen, dass Steuerung und Lenkung jeweils von dem Punkt im System ausgehen, an dem die höchste Kompetenz zum Umgang mit der jeweiligen Problemstellung vermutet wird (von Foerster 1993c). Es herrscht (griech. archē) immer wieder ein anderer (griech. heteros); und die wichtigsten Funktionen der Gesamtführung im System bestehen darin, für die Möglichkeit dieses Führungswechsels zu sorgen, die entsprechenden Kompetenzvermutungen zu überprüfen und darauf zu achten, dass niemand sich anschickt, Führungskompetenzen zu monopolisieren. Governance heißt, von zahlreichen und durchaus verwickelten Hierarchien im System auszugehen, die untereinander in einem heterarchischen Verhältnis stehen. Eine jüngere Variante dieser Arbeit an der Heterarchie ist die Holokratie (Robertson 2015), die Herrschaft eines immer wieder neuen Ganzen (griech. holos, „das Ganze“, und krateîn, „herrschen“ im Sinne einer änderbaren Verfassung).

17 Welche Unterscheidungen kann ein Beobachter treffen, um sich die Arbeitsweise eines Governancemodells und die Chancen auf Wahrnehmung von Führungskompetenzen in diesem Modell verständlich zu machen?

18 Führung findet nur dann statt, wenn Anweisungen gegeben und befolgt werden. Es gehören zwei zu jeder Führung: jemand, der die Anweisungen gibt, und jemand, der sie befolgt. Dabei muss es sich nicht unbedingt um Personen handeln; auch Gewohnheiten, Institutionen, Praktiken, Techniken, ja sogar der Verzicht auf Reflexion kann in diesem Sinne führen. Wir greifen auf George Spencer-Browns Formkalkül und die von ihm entwickelte Notation zurück (Spencer-Brown 2008), um diese erste Unterscheidung von Führung in einem Governancemodell festzuhalten und durch weitere Unterscheidungen ergänzen zu können:

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19 Anweisungen werden oft mit einer Form der Kommunikation verwechselt, die Eindeutigkeit schafft. Das ist auch nicht ganz falsch, doch es handelt sich um eine Eindeutigkeit im Kontext von Alternativen. Zunächst einmal macht jede Anweisung auf eine Alternative aufmerksam: Man könnte diese Anweisung geben und befolgen, man könnte auch eine andere Anweisung geben und befolgen. Und nicht zuletzt kann man darauf verzichten, Anweisungen zu geben, etwa weil man nicht riskieren möchte, dass sie nicht befolgt wird; und man kann auch darauf verzichten, sie zu befolgen, etwa weil das ohne weitere Konsequenzen möglich ist. Die Anweisung eröffnet somit zunächst einmal einen Raum der Entscheidung, ja der Freiheit:

20 In Organisationen ist es üblich, dass dieser Raum der Entscheidung, ja der Freiheit, durch das Programm der Organisation, der Abteilung oder der Stelle besetzt wird. Anweisungen im Kontext von Alternativen beziehen sich auf ein Programm, das es der Organisation, der Abteilung oder der Stelle ermöglicht zu entscheiden, ob die Anweisung oder eher eine ihrer Alternativen sinnvoll ist. Anweisungen sind Schließungen der Organisation auf einer ersten Ebene, Programme auf einer zweiten Ebene:

21 Auch hier ist es wichtig, dass die Benennung von Programmen als Unterscheidungen von Beobachtern einen weiteren Raum weiterer Möglichkeiten eröffnen. Jedes Programm kann dem Vergleich ausgesetzt werden, schafft also neue Alter-

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nativen. Ein Programm, das im ersten Moment wie eine Festlegung aussieht und es für die Begründung von Anweisungen im Kontext von Alternativen auch ist, erschließt sich dem zweiten, dem unterscheidenden Blick als das Ergebnis einer oder mehrerer Entscheidungen in der Organisation oder über die Organisation, die auch anders hätten fallen können. Das Programm ist das Produkt einer Willkür, das heißt einer freien, sich nur selber festlegenden Entscheidung. Wir haben uns in der deutschen Sprache ein negatives Verständnis von Willkür angewöhnt, so als sei diese grundsätzlich unbegründet. Tatsächlich belegen wir mit diesem Verständnis nur unsere eigene Bereitschaft zur Unterwerfung, unsere eigene Existenz als Angestellte. Willkür im positiven Sinne konzedieren wir nur dem Künstler; und dann nennen wir sie Kreativität, die jüngst, das wird allerorten diskutiert (Reckwitz 2012, Ullrich 2016), auch wieder Einzug in die Organisationswelt hält. In Wirklichkeit ist Willkür die Fähigkeit, aber ebenso die Notwendigkeit zu einer Entscheidung, für die keinerlei Notwendigkeit zitiert werden kann. Damit jedoch ist Willkür das Medium schlechthin, aus dem Organisationen gewonnen werden. Erst anschließend behaupten diese dann ihre eigene Notwendigkeit:

22 Willkür ist das Medium, aus dem Organisationen gewonnen werden. Luhmann hat gezeigt, dass eine einzige Entscheidung, wenn sie von weiteren Entscheidungen aufgegriffen wird, genügt, um in der Organisation einen Alternativenraum zu schaffen, der anschließend von der Organisation erkundet und ausgebeutet werden kann (Luhmann 2000; vgl. March 1991). Und Willkür, gemäß einer anderen Sprachregelung, macht auf Macht aufmerksam. Wer die Möglichkeit zu einer freien Entscheidung hat, übt in genau diesem Maße Macht aus, über sich oder über andere. Konnten wir bis hierhin so tun, als bewegten wir uns mit einem Governancemodell der Führung in einem durch und durch sachlich bestimmten Raum, so werden nun auch soziale Determinanten deutlich. Zwar muss auch die Macht nicht von Personen ausgeübt werden; sie kann ebenso von Gewohnheiten, Praktiken und mangelnder Reflexion, auch von Mutlosigkeit und Resignation ausgeübt werden, und dies wieder auf den beiden Seiten des Machthabers ebenso wie des Machtunterworfenen, aber sobald sie auffällt, wirft sie die Frage auf, wie die Willkür durchgesetzt werden kann. Macht wird immer dann ausgeübt und akzeptiert, wenn

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die Willkür bestimmter Anweisungen im Kontext von Drohungen stehen, dass andernfalls Konsequenzen zu erwarten sind, die von keiner Seite für wünschenswert gehalten werden. Macht ist daher einerseits die Betonung der Festlegung im Kontext von Drohungen und andererseits auch dann wieder eine Unterscheidung, die man im Hinblick auf Alternativen überprüfen kann: Stehen hinter der Drohung auch genügend Mittel, sie durchzusetzen? Was geschieht, wenn man Unterstützung durch Dritte findet? Womit könnte man selber drohen?

23 Sobald der Blick auf die Macht fällt, fällt er auch auf den Raum ihrer Möglichkeiten. Einerseits wäre es ohne die Existenz von Macht wohl kaum möglich, auf die Idee zu kommen, Freiheit für wünschenswert zu halten (erst ihre Einschränkung macht sie beobachtbar), und andererseits weitet sich der Blick sofort über die Macht hinaus und fragt nach deren Ressourcen, die entweder in einer Art unbefragter Autorität liegen können oder aber, und davon reden wir in einem Governancemodell, in der Entscheidung über Existenz oder Nichtexistenz der jeweiligen Organisation. Macht hat es immer und wie kleinformatig auch immer mit einer Art Ultima Ratio zu tun. Ich greife hier eine weitere Idee von Luhmann auf, der vorgeschlagen hat, zwischen den Programmen einer Organisation und ihrer Codierung zu unterscheiden (Luhmann 1986, S. 90f). Programme beschreiben im Alternativenraum von Anweisungen Sowohl/Als auch-Operationen, mit deren Hilfe all das miteinander kombiniert wird, was die Organisation aus welchen Gründen und aufgrund welcher Geschichten für sinnvoll hält. Codierungen hingegen sind Entweder/Oder-Operationen, die es erlauben, über Erfolg oder Misserfolg, Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Falschheit, Gewinn oder Verlust zu entscheiden. Erst diese Codierung, so meine These, erlaubt es, Alternativen als Zwangslagen auszuweisen, die in der Lage sind, Macht zu legitimieren (Baecker 2009). Mit diesen Codes gewinnt die Organisation Anschluss an gesellschaftliche Orientierungen an Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion oder Kunst, die die Führung mit Referenzen auf legitime Machtausübung ausstatten:

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24 Hätten wir es nur mit den vernünftigen Organisationen einer rationalen Moderne zu tun, könnten wir unseren Algorithmus mit dem Hinweis auf wechselnde Codierungen beschließen. Unternehmen hatten es mit dem Code der Wirtschaft (Zahlung/Nicht-Zahlung), Behörden mit den Codes des Rechts (Recht/Unrecht) und der Politik (Regierung/Opposition, Universitäten mit den Codes der Erziehung (bestanden/nicht bestanden) und der Wissenschaft (wahr/falsch) zu tun und die vielen Ausnahmen, die sich diesem Bild nicht fügten, konnten als Ausnahmen behandelt werden. In unserer nicht mehr rationalen, sondern ökologischen nächsten Gesellschaft der elektronischen und digitalen Medien haben wir es jedoch mit Organisationen zu tun, die in vielfältige Netzwerke zerfallen und in vielfältige Netzwerke eingebunden sind. Eben das versucht ein Governancemodell zu beschreiben. Hier stellt sich die Frage, wie sich Führungsinitiativen in einem heterarchischen Modell ineinander verschachtelter Hierarchien bewähren können, wenn selbst die Codes keine Eindeutigkeit mehr liefern können, an denen sich die Macht orientieren könnte.

25 Wir ergänzen Luhmanns Unterscheidung von Programmen und Codes durch die dritte Ebene der Kritik. Kritik formulieren wir als das Ergebnis von Weder/ Noch-Operationen, ähnlich den NOR-Gates in der Logik elektronischer Schaltungen, von denen Henry Maurice Sheffer gezeigt hat, dass aus ihnen alle anderen Operationen (Konjunktionen, Disjunktionen und Negationen) gewonnen werden können (Sheffer 1913). Diese Weder/Noch-Operationen halten die Sowohl/Als auch-Operationen der Programme und die Entweder/Oder-Operationen der Codes gleichermaßen auf Abstand (Baecker 2016b). Diese Kritik kann überall ausgeübt werden, in Gremien und auf dem Flur, innerhalb von Organisationen und Abteilungen und zwischen ihnen, vertikal, horizontal und lateral. Es handelt sich um die Fähigkeit, Nein zu sagen und erst einmal offen zu lassen, was daraus folgt. Während jedoch offen ist, was daraus folgt, reflektiert diese generelle Negation, dieses Weder/Noch, den gesamten Raum der Möglichkeiten. Diese Reflexion erfolgt für

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jedermann sichtbar, für Führung, Management, Mitarbeiter und Partner. Erst an dieser Stelle schließt sich unser Modell:

Es schließt sich an der Stelle, an der sich die Kritik zurück auf jede einzelne Anweisung bezieht und in dieser Kritik reflektiert wird, welche Alternativen sich im Hinblick auf welche Programme angesichts welcher Willkürchancen in welchem Machtkalkül mit Blick auf welche Codes formulieren lassen. Das Weder/Noch springt zurück in ein Sowohl/Als auch im Kontext eines Entweder/ Oder. Dies ist kein Sprung zurück in Dasselbe; und wenn doch, dann mit guten Gründen. Deswegen besteht gute Führung in einem gelungenen Governancemodell darin, die Organisation in ihrem Netzwerk an allen relevanten (siehe oben) Stellen für ihre Kritik durch sich selbst zu öffnen.

26 Diese Überlegungen sind nur eine erste grobe Skizze eines möglichen Governancemodells. Sie lassen alle institutionellen Ausfaltungen außen vor. Sie sind so empiriefrei wie möglich gehalten, weil ich davon ausgehe, dass Organisationen der ökologischen Netzwerkgesellschaft nur noch individuell und nicht mehr allgemein synthetisch bestimmt werden können. Im Raum des Allgemeinen bleibt uns nur die analytische Bestimmung der Bedingungen einer Möglichkeit. Das haben wir hier versucht. Und das Ergebnis ist die Formulierung einer Form mit 8 Variablen (den „unmarked state“ auf der Außenseite der Form mitgezählt), 6 Unterscheidungen und 1 Re-entry. Diese Form schließt das System der Führung in einem Governancemodell auf einer ersten Ebene („Anweisungen“) und mehreren ineinander verschachtelten zweiten Ebenen („Programm“, „Code“, „Kritik“). Die Form generiert Freiheit in Form einer Willkür, die sie zugleich auch wieder einschränkt. Sie ruft Macht auf, um auch sozial im Netzwerk der Beobachter kenntlich zu sein. Und sie erschließt einen Alternativenraum, den es nicht gäbe, wenn nicht immer wieder irgendjemand versucht, eine Anweisung es zu geben oder zu vernehmen. Das Gesamtsystem, wo immer man seine Grenzen zieht (was in einem Netzwerk nicht mehr möglich ist), ist hochgradig unzuverlässig und bezieht, wie man aus der Systemforschung weiß (Moray 1984), gerade daraus seine Intelligenz im Umgang mit sich selbst.

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27 Wie also können wir die gewonnene Form interpretieren? Wir interpretieren sie als jene Form, die sich im Medium der Unzuverlässigkeit des Systems und angesichts des laufenden Zerfalls des Systems als Konvergenz divergenter Beobachterperspektiven immer wieder neu durchsetzt: als Hypothese eines Beobachters im Umgang mit einer komplexen Lage. Wir können die Form als Eigenwert eines rekursiv geschlossenen Systems verstehen (von Foerster 1993d): Was immer geschieht – und grundsätzlich gibt es nichts, was nicht geschehen kann –, zugleich setzt sich eine Bezugnahme aller Operationen im System auf das System durch, die dadurch bestimmt ist, dass sie den Variablen der Formgleichung bestimmte Werte verleiht. Die Werte selber sind nur empirisch, das heißt nur im Einzelfall zu bestimmen. Was wir jedoch wissen beziehungsweise postulieren, ist, dass jeder der zu findenden Werte nur im Rahmen der Bestimmung aller Werte zu bestimmen ist. Genau das sagt ihre Unterscheidung im Rahmen weiterer Unterscheidungen aus. Die Werte stehen in einem durch die im System arbeitenden Beobachter bestimmten Interdependenzzusammenhang, der es erlaubt, auch wenn alles ungewiss ist, aus jedem einzelnen Wert mögliche Konsequenzen für alle anderen abzuleiten. Der Eigenwert aller Werte in ihrem Interdependenzzusammenhang ist zugleich nach Belieben skalierbar, das heißt, was das System jeweils ist, zeigt sich in jeder einzelnen Anweisung (wenn man nur genügend Zeit hat, sie synthetisch in allen ihren Bezügen zu bestimmen) ebenso wie auf der Gesamtebene der Heterarchie aller Hierarchien (wie immer man diese zu fassen bekommt).

28 Auf welcher Ebene ist dieser analytisch abgeleitete und synthetisch nur empirisch zu bestimmende Eigenwert, die Form der Führung im System der Governance, verankert? Zum kleineren Teil handelt es sich um explizierbare Führungsideen, so wie sie im System gängig sind. Zum größten Teil jedoch handelt es sich um ein in Erfahrung und Intuition verankertes, das heißt immer wieder getestetes und verunsichertes Wissen, das nicht explizierbar ist, aber im Gefühl und vor allem in der Interaktion von Führung, Management und Mitarbeiter so trennscharf verankert ist, dass man weiß, was dazu gehört und was nicht. Die Form der Führung im System der Governance ist Teil eines durch Praxis gewonnenen und in der Praxis bewährten impliziten Wissens auf der sozialen Ebene der Interaktion aller Beteiligten. Man verlässt die Organisation – und versteht das Spiel schon nicht mehr, das in ihr gespielt wird. Das macht es entsprechend schwierig, ein Governance-

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-regime neu zu entwickeln. Mit Sicherheit verstößt es gegen alle möglichen ungeschriebenen Regeln. Andererseits ist es jedoch genau deswegen auch möglich, ein neues Regime zu entwickeln und zu etablieren: Man kann sich darauf verlassen, dass die Interaktion aller Beteiligten schon weiß – auch wenn keine Führungskraft, kein Manager und kein Mitarbeiter das zu formulieren wüsste –, wie man sich der neuen Herausforderung stellt und wie man sie in die gewohnten Praktiken einbettet. Man darf von der sozialen Intelligenz auch einer Organisation im Umgang mit immer wieder neuen Führungsideen sprechen.

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Führung im System der Governance

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Gedanken über die Governance im System der Pädagogischen Hochschulen Paul Reinbacher

„Jeder Arbeit mit dem Systembegriff fällt es schwer, das Missverständnis zu vermeiden, Systeme seien Dinge, die man draußen in der Welt vorfindet. […] Der Systembegriff ist ein Begriff eines Beobachters […]. Wer von einem System spricht, sollte daher immer den Beobachter benennen, für den ein System ist, was es ist.“ – Mit dieser Überlegung beginnt Dirk Baecker seine Ausführungen über „Führung im System der Governance“. Und sie ist in der Tat von Bedeutung im Diskurs der Beobachter aus den Pädagogischen Hochschulen und aus dem für diese verantwortlichen Bundesministerium: Nicht selten entsteht der Eindruck, hier („oben“) stünde das Ministerium als ein System und dort („unten“) fänden sich die Systeme der Hochschulen als nachgeordnete Dienststellen des Ministeriums, zu deren Steuerung man sich einer „ministeriellen Mechanik“ bedienen könne – eine Illusion, die da wie dort trotz vielfach besseren Wissens und zahlreicher abweichender Alltagsbeobachtungen aufrechterhalten wird (vgl. z. B. Reinbacher 2014):

Abb. 1

Systembegriff im Alltag

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Wesenauer et al. (Hrsg.), Wie Governance gelingen kann, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24114-8_2

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Dieser Einsatz des Systembegriffs, der sich fürs Erste auf nicht viel mehr bezieht als auf die unübersichtliche, komplizierte und gegebenenfalls komplexe Zusammensetzung kollektiver Akteure (wie des Bundesministeriums und der Pädagogischen Hochschulen) aus miteinander in Verbindung stehenden Elementen, ist ein naheliegender bzw. nahe an der Lebenswelt liegender, jedoch nur ein möglicher. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass sich nicht sowohl die Hochschulen als auch das Bundesministerium – schon allein um im Alltag handlungsfähig zu sein – jeweils selbst als System verstehen, also: beobachten müssen (X), was sie können, sofern sie über Möglichkeiten – zum Beispiel in der Form von Management – verfügen (Z), ihre Grenzziehung gegenüber bestimmten Umwelten, wie beispielsweise gegenüber der Wissenschaft, der Politik oder der Bildungslandschaft (Y) durch Wiedereinführung der Grenze des Systems in das System – genannt „re-entry“ – beobachtbar zu machen (vgl. Spencer-Brown 2008 [1969] und dazu z. B. Baecker 1993, 2000, 2011 sowie den vorangegangenen Beitrag von Dirk Baecker in diesem Band):

Dass dabei eine bestimmte Perspektive des Management (z. B. die Hochschule verortet in der Bildungslandschaft oder als Player in der Politik) nicht mit möglichen anderen Perspektiven der Mannschaft (z. B. die Hochschule im Kontext der Wissenschaft oder im Kontext des akademischen Arbeitsmarktes) kompatibel sein muss, liegt auf der Hand – und führt mitunter zu Meinungsverschiedenheiten in der Zusammenarbeit, die durch institutionelle (seien es machtbasierte, monetäre, meinungsbildende oder anderweitig motivierende) Mechanismen und Medien überwunden bzw. zumindest übertüncht werden müssen. Interessant scheint an dieser Stelle des Weiteren die damit verbundene Einsicht, dass im Umfeld der institutionalisierten Akteurskonstellation „hier Ministerium, dort Hochschule“ bzw. „hier Hochschule, dort Ministerium“ unzählige sachlich, sozial und zeitlich ausdifferenzierte Subsysteme (mit jeweils intern ausdifferenzierten Codes und Programmen zur Steuerung) entstehen, die dann orthogonal zu diesen institutionalisierten und damit dem alltäglichen Beobachten und Beschreiben gut zugänglichen Akteuren liegen. Man denke beispielsweise an Budget- oder Personalangelegenheiten, die sowohl auf ministerieller als auch auf hochschulischer Seite von unterschiedlichen Stellen verantwortet und verhandelt werden – ganz zu schweigen von echten inhaltlichen, also genuin pädagogischen Fragestellungen, die davon zu unterscheiden (wenngleich wohl kaum davon zu trennen) sind.

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Dies wird unter anderem im Fall der Kooperationsverbünde (Cluster) zwischen Pädagogischen Hochschulen und Universitäten im Zuge der neu gestalteten Ausbildung für das Lehrpersonal der Sekundarstufe deutlich, wo beispielsweise das System der Curriculumsentwicklung nicht nur im Umfeld hochschulischer und universitärer Spieler oder im Einflussbereich der Ministerialbürokratie agiert, sondern sich ebenso im Kontext von Ressourcenfragen oder im Lichte der Erziehungswissenschaften operierend – und damit stets unterschiedlich – verstehen kann, denn: „Existence is a selective blindness […] we cannot produce a thing without coproducing what it is not.“ (Spencer-Brown 2008 [1969]):

Damit sind auch wir bereits wieder mitten im Feld der Governance als einem „System der wechselseitigen Beobachtung von Organisationen“, wie Dirk Baecker es charakterisiert, also in einem System neuartiger Abhängigkeiten zur (wechselseitigen!) Beschränkung von Unabhängigkeit, was nicht zuletzt für die Verantwortlichkeiten – an den (nicht mehr so eindeutig abhängigen) Hochschulen aber insbesondere in den (nicht mehr so eindeutig unabhängigen) Ministerien – eine neue Erfahrung darstellt: Mit der Etablierung von Governance-Regimen entstehen (wieder) neue Systeme, die sich zwar einerseits dem strukturellen Zugriff durch jene, die sie erfunden (oder immerhin ermöglicht) haben, entziehen, jedoch andererseits keineswegs bloß ihre eigenen Herren sind: „Governance heißt, Heteronomie autonom zu gestalten, das heißt sich eigene Gesetze […] zu geben, die bestimmen, wie man fremden Gesetzen […] folgt“, wie Dirk Baecker schreibt.

Während also die Pädagogischen Hochschulen mehr Autonomie einfordern und das Bundesministerium sich diesbezüglich noch nicht sicher oder zumindest noch nicht so ganz einig zu sein scheint (denn einerseits wird die Vergrößerung des autonomen Bereichs und damit der Eigenverantwortung für die Hochschulen begrüßt, andererseits folgt entsprechenden Entwicklungen oft die konterkarierende Korrektur auf dem Fuß), zeigt die Praxis, dass es bei all dem um die „Entstehung einer inneren Steuerungsebene des Systems“ geht, die jene Strukturen hervorbringt, „die von allen Versuchen der externen Fremdkontrolle des Systems be-

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nutzt werden müssen“, und die erst dazu führen, dass sich ein System „externe Abhängigkeiten […] leisten [kann]“ (Stichweh 2014; vgl. als Beispiel dazu auch z. B. Reinbacher 2014). Hinzu kommt, dass die damit einhergehenden Systembildungstendenzen durch ihre Grenzziehungen die Systeme an deren Umwelt binden, und zwar egal aus welcher Richtung man auf die Grenze blickt – man denke erneut an Spencer-Brown (2008 [1969]) und dessen Beobachtung, wonach „Distinction is perfect continence“. Daher ist Fremd- auch immer Selbstbindung (das Einfordern von Berichten von den Hochschulen macht früher oder später deutlich, ob diese im Ministerium aufmerksam gelesen werden oder nicht, durch den Eingriff in hochschulische Entscheidungsprozesse machen sich ministerielle Akteure ungewollt mitverantwortlich für die Folgen, etc.) und ist Autonomie stets begrenzt durch die Heteronomie der Umwelt, die bestimmte Formen des autonomen Handelns erlaubt, andere verbietet. Mit Rudolf Stichweh: „Autonomie bezeichnet also ein Steigerungsverhältnis von Fremd- und Selbstkontrollen.“ Und mit Dirk Baecker: „Kontrollieren kannst du nur, wenn du dich kontrollieren lässt.“ Lassen sich Akteure – wie Ministerium und Hochschulen – durch den jeweils anderen kontrollieren, so entstehen Systeme des Geführtwerdens, für die eine Leitdifferenz von Anpassung und Abweichung in Bezug auf Anweisungen des Führenden zentral ist:

Bezogen auf die Anweisungen des Führenden stellt sich für die Geführten natürlich die Frage der Interpretation (die bekanntlich von der Intention des die Anweisung gebenden Führenden abweichen kann), sodann aber bereits rasch auch die Frage nach deren Befolgung – also ob die eigenen Einstellungen, das eigene Handeln etc. an die Anweisung angepasst werden sollen (was sich in einer prominenten Unterscheidung von Niklas Luhmann (1969) als kognitive anstelle einer normativen Reaktion – mithin als Lernen – bezeichnen lässt), oder ob man beharrlich entgegen der Anweisungen denken, handeln etc. soll (was einer Abweichung von der Anweisung gleichkommt und im Gegenzug dem – damit nicht mehr? – Führenden eine Anpassung seiner Einstellungen, seines Handelns etc. abverlangt). Dass sich die Unterscheidung zwischen Anpassung und Abweichung in diese Unterscheidung wiedereinführen lässt, entspricht der Beobachtung (vgl. prominent Brunsson 1989 und für das gegenständliche Beispiel des Bundesministeriums und der Pädagogischen Hochschulen z. B. Reinbacher 2014), dass sich angesichts der in

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Aussicht gestellten Sanktionen (z. B. Ressourcenverteilung) sowie in Abhängigkeit von den Zielen, Motiven etc. dann auf beiden Seiten formale Anpassungsstrategien entwickeln lassen, die ein informelles Abweichen ermöglichen.

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Hochschulprof. Dr. Paul Reinbacher leitet nach beruflicher Tätigkeit in unterschiedlichen Branchen und Positionen derzeit auf einer Professur für Bildungs- und Qualitätsmanagement den Aufbau der Koordinations- und Servicestelle Qualitätsmanagement an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz.

Die Gesundheitsreform 2012 in Österreich im Spiegel politischer Steuerungsinstrumente Wolfgang Hable und Andrea Wesenauer

Sachpolitik im Umfeld moderner politischer Steuerungslogiken weist einen oft widersprüchlichen Charakter auf. Einerseits gilt es, rasche Entscheidungen in einem zunehmend unübersichtlich werdenden Netzwerk unterschiedlicher Stakeholder zu treffen. Andererseits ist die Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen und Erwartungen zentral für Legitimation und Implementierung solcher Entscheidungen. Hierarchisches Command-and-Control wird dabei nach und nach ersetzt durch strukturell dezentriertes Regieren, ausgedrückt im Begriff des „networked Governance”. Das Management dieser Unübersichtlichkeit und der Verlust hierarchischer Steuerungsmöglichkeiten im Konzert multipler und oft instabiler Netzwerke ist seit vielen Jahren eine der zentralen Herausforderungen für Politik. Die Gesundheitsreform 2012 in Österreich hat versucht, dieser hybriden Steuerungslogik durch den Einsatz von Werkzeugen zu begegnen, die zwar einen festen Platz im Kanon der Managementinstrumente haben, die aber völlig neu sind im Anspruch, ein gesamtes Politikfeld umfassend zu steuern. Durch die Integration der wesentlichen, für Finanzierung und Organisation verantwortlichen Akteure des österreichischen Gesundheitswesens in ein gemeinsames und gesetzlich verpflichtendes Zielsteuerungssystem wurde erstmals ein ganzer Politikbereich einem Balanced Scorecard-ähnlichen Modell unterworfen. Dieser Beitrag zeigt anhand der Gesundheitsreform 2012, wie die Implementierung politischer Entscheidungen zur Steuerung von Gesundheitspolitik in Österreich jenseits tradierter Tools of Government erfolgen kann.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Wesenauer et al. (Hrsg.), Wie Governance gelingen kann, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24114-8_3

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Ausgangslage Das Gesundheitswesen ist in den meisten OECD-Staaten der größte Wirtschaftszweig. Mit einem Anteil von 11,1 % (2015) am Bruttoinlandsprodukt und etwa 350 000 Beschäftigten ist das Gesundheitswesen auch in Österreich von großer Bedeutung. Private und öffentliche Ausgaben inklusive Pflege haben die 37,5 Mrd. Euro-Grenze bereits überschritten. Eine vergleichbare Ausgaben- und Beschäftigungswirksamkeit kann in praktisch allen entwickelten Volkswirtschaften beobachtet werden. Das Gesundheitswesen ist von überragender Wichtigkeit für technologische Entwicklung, soziale Absicherung, Wettbewerbsfähigkeit und gesamtgesellschaftlichen Wohlstand eines Landes. Die Gestaltung und Steuerung des Gesundheitswesens sowie die erfolgreiche Umsetzung von Innovation im Gesundheitssystem stehen daher immer mehr im Zentrum nationaler Politik. Dies umso mehr, als eine Reihe von Problemen des österreichischen Gesundheitswesens Probleme der richtigen Steuerung sind (Auer 2013). Dazu gehören insbesondere vielfältige Problemlagen im Spitalsbereich (gleichzeitig Über-, Unter- und Fehlversorgung, inadäquate Finanzierungs- und Steuerungsanreize aus den derzeitigen Finanzierungsmodellen des stationären Bereichs und der Ambulanzen, zu wenig Angebot im tagesklinischen Bereich), fehlende Aufgaben- und Rollenbeschreibungen der einzelnen Versorgungsebenen und -einrichtungen (fehlende Beschreibung des notwendigen Leistungsspektrums von Hausärzten, Fachärzten, Ambulanzen etc.) inklusive einer Definition dessen, wo bestimmte medizinische Leistungen am besten angeboten werden (Best Point of Service), die Stärkung der Primärversorgung, mangelnde Transparenz über das Leistungsgeschehen (fehlende bzw. nicht vergleichbare Daten zum Versorgungsgeschehen und der Angebotsstruktur), Mangel an zielgerichteter und wirksamer Gesundheitsförderungs- und Präventionsmaßnahmen sowie unzureichende gemeinsame Planung des medizinischen Leistungsgeschehens durch soziale Krankenversicherung und Länder inklusive der damit einhergehenden Schnittstellenprobleme. Über diese wesentlichen Herausforderungen wurde zwischen den wichtigsten Akteuren der österreichischen Gesundheitspolitik in den vergangenen Jahren weitgehende Übereinstimmung erzielt1.

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Eine Aufzählung findet sich insbesondere in Art. 5 der Art. 15a B-VG Vereinbarung „Zielsteuerung Gesundheit“ (BGBl. 2017/97) aus dem Jahr 2017 in Form einer Darstellung der inhaltlichen Ziele der Gesundheitsreform (siehe auch die aktuelle Aufzählung bei Wesenauer 2015, S. 25ff).

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Der regulatorische Rahmen für Gesundheitspolitik in Österreich Die staatsrechtlichen Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Bearbeitung dieser Problemlagen und damit für eine wirksame Steuerung der Gesundheitspolitik in Österreich sind ungünstig. Gerade die Aufteilung der Gesetzgebungs- und Vollzugskompetenzen auf unterschiedliche Gebietskörperschaften in Kombination mit hochkomplexen Finanzierungsmechanismen insbesondere im Spitalsbereich (dazu Czypionka et al. 2015) führt zu fragmentierten Verantwortlichkeiten, Doppelgleisigkeiten und enormen Koordinationsaufwand (plakativ beispielsweise Rebhahn 2010, S. 69-72). So ist gemäß Art 10 Bundesverfassungsgesetz (B-VG) der Bund für Gesetzgebung und Vollziehung im Gesundheitswesen zuständig. Das bedeutet, dass der Bund bezüglich Finanzierung und Organisation für den niedergelassenen Bereich (insbesondere Ärzte, Ambulanzen, Transporte, Physio-, Logo-, Psychotherapien, Hörgeräte, Orthopädieschuhmacher, Medikamente) verantwortlich ist. Dieser bedient sich dabei nicht staatlicher Behörden, sondern der Träger der sozialen Krankenversicherung2 zur Vollziehung und teilweise Regulierung und lagert damit Kompetenzen gleichsam auf die gesetzlichen Krankenversicherungsträger aus. Diese agieren zwar innerhalb bestimmter bundesgesetzlicher Rahmen, die im Wesentlichen in den Sozialversicherungsgesetzen festgeschrieben sind. Hinsichtlich wesentlicher Gestaltungselemente – etwa der Verhandlung von Verträgen über Art und Abgeltung medizinischer Leistungserbringung mit den unterschiedlichen medizinischen Dienstleistern – verfügen sie über ein hohes Maß an Handlungsautonomie (sogenannte Selbstverwaltung). Im Bereich der Krankenanstalten sieht demgegenüber Art 12 B-VG zwar eine Kompetenz des Bundes für die Rahmengesetzgebung vor, die einzelnen Bundesländer sind jedoch für Ausführungsgesetzgebung und Vollziehung zuständig. Sobald also ein Patient in Berührung mit einem Spital kommt, endet die Zuständig-

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Das sind die neun Gebietskrankenkassen (GKKS), daneben gibt es eigene Sozialversicherungsträger für öffentlich Bedienstete (BVA), Bauern (SVB), Gewerbetreibende (SVA) und in Eisenbahn- und Bergbau Beschäftige (VAEB), die teilweise neben der Krankenversicherung auch noch für Unfall- oder Pensionsversicherung zuständig sind. Dazu gibt es noch fünf Betriebskrankenkassen, die nur für die Beschäftigen eines Unternehmens tätig sind, in Summe also 18 Krankenversicherungsträger sowie 15 sogenannte Krankenfürsorgeeinrichtungen, die für die Krankenversicherung bestimmter Gruppen öffentlich Bediensteter zuständig sind.

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keit des Bundes bzw. der Sozialversicherung3 und er betritt die Welt der Länder mit eigenen (oft anderen) Regeln, Abrechnungsmechanismen und Leistungen. Dieser staatsrechtliche Rahmen des Gesundheitssystems steht offenkundig in Widerspruch zu Behandlungsverläufen in der medizinischen Realität – man denke insbesondere an chronisch kranke, multimorbide Menschen, die oft abwechselnd mit dem niedergelassenen und dem stationären Bereich in Kontakt treten. Um die daraus resultierenden Nahtstellenprobleme überhaupt politisch bearbeiten zu können, ohne dass es zu ständigen Kompetenzüberschreitungen der beteiligten Gebietskörperschaften (und damit zu Verfassungsbrüchen) kommt, sieht das österreichische Bundesverfassungsrecht das Instrument der Gliedstaatsverträge vor, sogenannte Art 15a B-VG Vereinbarungen. Mit deren Hilfe können Bund und Länder über Angelegenheiten ihres jeweils eigenen Wirkungsbereichs Verträge abschließen.4 Die außerordentliche Komplexität von Gesundheitspolitik in Österreich ist daher zu einem wesentlichen Teil auf eine staatsrechtliche „Spezialität“ in der österreichischen Bundesverfassung zurückzuführen. Sie rührt daher, dass anders als in den meisten anderen Politikfeldern in Österreich und anders als in vergleichbaren Gesundheitssystemen die Kompetenzen zu Finanzierung, Organisation und Steuerung des Gesundheitswesens in aus heutiger Sicht dysfunktionaler Art und Weise auf unterschiedliche Gebietskörperschaften, also Bund mit Sozialversicherung auf der einen Seite und Bundesländer auf der anderen, aufgeteilt ist. Dieser Befund darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass allein eine Veränderung der Finanzierungsströme oder der staatsrechtlichen Kompetenzverteilung in Österreich – die aufgrund unterschiedlicher machtpolitischer Interessenlagen unwahrscheinlich erscheint – die Probleme der Versorgungspraxis nicht lösen würde.5 Dazu kämen enorme Transaktionsaufwände aufgrund der durch eine Änderung der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung notwendigen organisatorischen und regulatorische Umstellungen (beispielsweise Änderungen der Eigentümerstrukturen von Krankenanstalten). Diese würden die Kräfte der Akteure 3

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Diese Zuständigkeit bezieht sich nur auf die Regulierungskompetenz. Im Bereich der Finanzierung der Spitäler und insbesondere der Ambulanzen tragen die Träger der sozialen Krankenversicherung die Hauptlast. Diese müssen dann, um unmittelbar Geltung zu erlangen, vom Bund und Ländern in Form von Gesetzen und gegebenenfalls Verordnungen noch umgesetzt werden. Diese Probleme sind insbesondere überdurchschnittlich häufige Arztbesuche, nicht zeitgemäße Organisationsstrukturen bei vielen medizinischen Leistungserbringern, veraltete Ausbildungen für Ärzte und andere Medizinberufe, Ausgabensteigerungen im Heilmittelbereich, eine zu hohe Inanspruchnahme von Krankenanstalten, mangelnde Gesundheitskompetenz der Bevölkerung, geringer Stellenwert von Prävention und Public Health.

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Bund und Länder über Jahre hinweg blockieren. Die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Themen der Gesundheitsreform wie Best Point of Service, Organisation der Primärversorgung, Aufgaben- und Rollenbeschreibung auf den einzelnen Versorgungsebenen, Gesundheitsförderung und Prävention oder verbesserte Organisation der Nahtstellen würde darüber zwangsläufig in den Hintergrund treten und die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens nachhaltig blockieren. Insbesondere die Gestaltung der Nahtstellen zwischen ambulant und stationär bzw. zwischen Bundes- und Landeszuständigkeiten sowie einer gemeinsamen Planung und Organisation im Gesundheitswesen ist hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit des Gesundheitssystems von entscheidender Bedeutung.

Die Gesundheitsreform 2012: Steuerungsdefizite und die „Tools of Government“ Das Ziel einer gemeinsamen, sowohl den ambulanten als auch den stationären Sektor einschließenden Planung und Steuerung des Gesundheitswesens wurde bereits in der 1997 abgeschlossenen Art 15a-Vereinbarung über die Reform des Gesundheitswesens für die Jahre 1997 bis 2000 formuliert. Mit der Gesundheitsreform 2005 sollte die Kooperation zwischen den Akteuren Bund und Länder weiter ausgebaut werden. Es wurden die Gesundheitsplattformen als Organe der Landesgesundheitsfonds6 geschaffen. Eine ihrer ursprünglichen Aufgaben war es auch, Sozialversicherung und Ländern eine institutionalisierte Plattform zu geben, um dort Lösungen für Nahtstellenprobleme, die sich aus den unterschiedlichen Zuständigkeiten ergeben, zu finden. Zur gemeinsamen, sektorenübergreifenden Planung wurde dabei der Österreichische Strukturplan Gesundheit (ÖSG) ins Leben gerufen, der der integrierten Planung der österreichischen Gesundheitsversorgung und des Ressourceneinsatzes auf allen Ebenen und in allen Teilbereichen dienen soll. Diesem folgten wenig später regionale Strukturpläne Gesundheit (RSGs) für jedes Bundesland. Verstärkt und befeuert durch eine Finanzierungs- und Liquiditätskrise einiger Krankenversicherungsträger7 rückten ab 2008 Fragen von Steuerung, Finanzierung und Organisation immer mehr in den Mittelpunkt. Die Problematik mündete, ausgehend von einem Sozialpartnerpapier8, zunächst nur teilweise in eine Gesetzgebung (hier ist insbesondere das Budgetbegleitgesetz 2009 zur 6 7 8

Ihre Hauptzuständigkeit liegt in der Abwicklung der Krankenanstaltenfinanzierung. WGKK, NÖGKK, BGKK, StGKK, KGKK, TGKK (insg. 1,2 Mrd. EUR) „Zukunftssicherung für die soziale Krankenversicherung“ (Presseunterlage des Bundesministeriums für Gesundheit zur Pressekonferenz vom 07.04.2008)

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Einrichtung eines Kassenstrukturfonds und der finanziellen Sanierung der gesetzlichen Krankenversicherungsträger zu nennen). Im Jahr darauf begannen zentrale Akteure des Gesundheitssystems, konkurrierende Modelle für eine umfassende Systemreform in den politischen Prozess einzuspeisen, in der Hoffnung, den anschwellenden öffentlichen Diskurs über die Dringlichkeit eines „großen Wurfes“ in der Neuorganisation des Gesundheitssystems zu beeinflussen. Kurz hintereinander gingen der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (HVB) im November 20109 und die Bundesländer im März 201110 mit derartigen Policy-Papieren an die Öffentlichkeit. Ausgangsbasis war ein medialer Diskurs, der vor allem ein „Hin- und Herschieben“ von Patienten zwischen niedergelassenem Arzt und Krankenhäusern, hohe Gesundheitsausgaben sowie insgesamt die Kritik an der hohen Spitalslastigkeit der medizinischen Versorgung in Österreich zum Inhalt hatte. Zentraler Punkt dieser Vorstöße war der Versuch, eine funktionale Kooperationsstruktur innerhalb des außerordentlich komplexen Geflechts an zahlreichen gesundheitspolitischen Akteuren auf Bundes- und Landesebene zu entwerfen, ausgehend von der Erfahrung, dass Kooperationen insbesondere an den Nahtstellen zwischen niedergelassenem und stationärem Bereich traditionell nur begrenzt erfolgreich waren11. Parallel dazu wurde bereits seit April 2010 im Zuge einer auf höchster politischer Ebene angesiedelten Gruppe eine umfassende Reform der Steuerung des österreichischen Gesundheitssystems verhandelt. Daran beteiligt waren wesentliche Vertreter der drei zentralen, für Organisation und Finanzierung zuständigen Steuerungsebenen im österreichischen Gesundheitssystem, nämlich Bund, Länder und Sozialversicherung.12 Im Dezember 2012 kam es gegen den massiven Widerstand der Ärztekammern, die vor allem fehlende Versorgungsziele und die

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Der sogenannte „Masterplan Gesundheit“ (Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger 2010) Länderpositionspapier zur Reform des Gesundheitswesens (Entwurf LH Dr. Josef Pühringer vom Februar 2011) So insbesondere die sogenannten Reformpools, die Teil der Gesundheitsreform 2005 waren und deren Ziel es war Projekte zu finanzieren, die medizinische Leistungen aus dem stationären in den ambulanten Bereich (und umgekehrt) verschieben, wenn diese dort kostengünstiger erbracht werden können und deren tatsächliche Erfolge überschaubar waren. Das Verhandlungsteam bestand von Seiten des Bundes aus den Bundesministern für Gesundheit und Finanzen, von Seiten der Länder aus dem Landeshauptmann und Gesundheitsreferenten von Oberösterreich sowie der Wiener Gesundheitsstadträtin und von Seiten der Sozialversicherung aus der Vorsitzenden der Trägerkonferenz und dem Vorsitzenden des Verbandsvorstandes.

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Etablierung eines zentralen Steuerungssystems ohne Beteiligung der Ärzteschaft kritisierten (so etwa Huber & Mühlgassner 2012), zu einer politischen Einigung über die Eckpunkte der Gesundheitsreform. Im ersten Halbjahr 2013 erfolgte die komplexe rechtliche Umsetzung in Form eines neuen Gliedstaatsvertrages (Art 15a B-VG Vereinbarungen zur Zielsteuerung Gesundheit), der Ergänzung eines bestehenden Gliedstaatsvertrages (Art 15a B-VG Vereinbarung zur Finanzierung des Gesundheitswesens), einem Bundesgesetz (Gesundheitszielsteuerungsgesetz – G-ZG, BGBl. Nr. 81/2013) zur Umsetzung auf Bundesebene und in weiterer Folge von neun Landesgesetzen zur Umsetzung auf Ebene der Bundesländer. In dieser Reform wurde eine Reihe inhaltlicher Zielsetzungen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung formuliert. Insbesondere aber ging es um die Frage, wie gesundheitspolitische Ziele künftig gemeinschaftlich erarbeitet, operationalisiert, umgesetzt und evaluiert (im Sinne von Controlling und Monitoring) werden können. Im Kern ging es darum, ein taugliches Implementierungs- bzw. Strategieumsetzungsmodell für gesundheitspolitische Entscheidungen gesetzlich zu verankern. Die Gesundheitsreform war damit der Versuch, nicht nur dringliche inhaltliche Herausforderungen des Gesundheitswesens zu adressieren, sondern gleichzeitig auch eine Antwort auf die vorliegenden gravierenden Steuerungsdefizite zu geben und „Steuerungsintelligenz“ im österreichischen Gesundheitssystem herzustellen (Auer 2013). Für den Bund sollte ein gemeinschaftliches Zielsteuerungssystem („Zielsteuerung Gesundheit“) die Möglichkeit bieten, Gestaltungsautonomie im Gesundheitswesen zu gewinnen. Für die soziale Krankenversicherung und die Länder dagegen ging es insbesondere darum, vor dem Hintergrund zunehmender Finanzierungssorgen ihre Handlungsfähigkeit in Form der Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen medizinischen Dienstleistungen langfristig zu sichern. Neben den inhaltlichen Schwerpunkten der Reform stand daher insbesondere die Art, wie politische Entscheidungen umgesetzt werden, im Zentrum der Reform. Denn Politik entscheidet nicht nur über das, was von Politik (also etwa Pflichtversicherung oder Versicherungspflicht, soziale oder private Krankenversicherung, Höhe der Krankenversicherungsbeiträge oder bestimmte Gesundheitsprogramme), sondern auch über die Art und Weise, wie derartige politische Entscheidungen umgesetzt werden. Dabei ist die „Wahl der Werkzeuge“, um eine politische Entscheidung tatsächlich umzusetzen, dem Grunde nach nicht weniger politisch als die inhaltliche Entscheidung selbst. Einer klassischen, auf Hood (1983) zurückgehenden Systematisierung von Werkzeugen zur Umsetzung politischer Entscheidungen (sogenannte policy tools) folgend, kann Politik dabei auf vier Typen von Instrumenten zurückgreifen: Nodality, Authority, Treasure und Organization. Nodality bezeichnet dabei die Kapazität von Regierungen als ein (nicht notwendi-

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gerweise der) zentraler Information Broker in einem Politik-Netzwerk zu agieren, gewissermaßen als zentrale Informations- und Kommunikationsdrehscheibe, ohne diese die Implementierung politischer Entscheidungen nicht möglich ist. Beispiele dafür könnten öffentliche Informationskampagnen, konzertierte Kommunikationsaktivitäten zur Bewirkung direkter Verhaltensänderungen aber auch spezielle Forschungs- und/oder Informationsorganisationen oder Untersuchungskommissionen sein. Diese dienen dazu, die Wahrnehmungen oder Einstellung politischer Akteure zu beeinflussen. Authority bezeichnet die Möglichkeiten der Politik, mittels hierarchischer top down-Regulierung und rechtlicher Vorgaben (in ihrer gängigsten Form mittels command and control-Gesetzgebung), aber auch – besonders bedeutsam im Gesundheitssystem – durch selbstverwaltete Organisationen oder andere Formen der Übertragung von Regulierungskompetenz politische Entscheidungen umzusetzen. Treasure bezeichnet die Möglichkeit, materielle Ressourcen (etwa mittels der Zuteilung von Budgets, Abgaben, Steuern oder Subventionen) zu verteilen. Organization bedeutet schließlich, dass Regierungen Aufgaben direkt und unmittelbar selbst erfüllen oder Dienstleistungen selbst erbringen können (insbesondere durch die Mitarbeiter ihrer Verwaltungsapparate), dass die Aufgabenerfüllung durch ausgelagerte Unternehmen erfolgt oder schließlich durch die Auflösung von Monopolen und der Schaffung wettbewerblich organisierter Märkte (dazu etwa Howlett & Ramesh 2003, S. 91-116, Buse, Mays & Walt 2012, S. 138f). Die Kombination dieser vier Werkzeuge bestimmt das Instrumentenset, das den politisch Verantwortlichen in einem bestimmten Politikfeld zur Verfügung steht und das auch tatsächlich eingesetzt wird.

Balanced Scorecard als Instrument zur Steuerung eines Politikfeldes – die Zielsteuerung Gesundheit Im Laufe der eben skizzierten Entstehung der Reform entstand bei den beteiligten Akteuren vor dem Hintergrund der Erfahrung mit den vorangegangenen Gesundheitsreformen immer mehr die Überzeugung, dass Gesetze und Verträge unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen nicht in der Lage sein würden, die notwendige Steuerung des Gesundheitswesens zu leisten13. Dies untergrub 13

So waren zwar beispielweise scharfe Konsequenzen bei Verstößen gegen die Art 15a-Vereinbarung vorgesehen, gleichzeitig ließ die „Realverfassung“ derartige Konsequenzen ohnehin nicht zu. Man brauchte also vielmehr ein Arbeits- und Entwicklungsinstrument, das sicherstellen konnte, dass gemeinsam an der Lösung der Probleme in der Gesundheitsversorgung gearbeitet werden konnte, und das sicherstellen konnte, dass sich die Arbeit an gemeinsamen Zielen orientierte.

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den Glauben in die Leistungsfähigkeit an traditionelle Tools of Government. Des Weiteren erkannten Bund und Länder, dass die vielgewünschten verfassungsrechtlichen Kompetenzveränderungen im Gesundheitswesen extrem schwierig umzusetzen und auch eine Reihe politischer Risiken (insbesondere das Risiko des eigenen Machtverlustes) bargen. Die Sozialversicherung verfügte zu diesem Zeitpunkt darüber hinaus über eingehende Erfahrung nicht nur mit der Anwendung eines Zielsteuerungssystems auf Ebene der einzelnen Krankenversicherungsträger („Träger-BSC“), sondern auch auf Ebene aller im Hauptverband der Sozialversicherungsträger zusammengefassten Sozialversicherungsträger („Hauptverbands-BSC“) und vereinzelt auch mit Kooperations-Zielsteuerungssystemen (dazu Wesenauer 2008b), die über die Sozialversicherung hinaus auch mit zentralen medizinischen Leistungserbringern abgeschlossen wurden, so insbesondere die „Kooperations-BSC“ zwischen Oberösterreichischer Gebietskrankenkasse und Oberösterreichischer Ärztekammer (Wesenauer 2008a). Begünstigt wurde diese Entwicklung noch dadurch, dass der zu diesem Zeitpunkt verantwortliche Bundesgesundheitsminister, der selbst im Topmanagement einer Gebietskrankenkasse tätig war, ein genauer Kenner dieses Instruments war. So wurde der Boden dafür aufbereitet, dass sich Bund, Länder und Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger darauf einigten, sich im Werkzeugkasten der Umsetzung unternehmenspolitischer bzw. organisationaler Entscheidungen und Strategien zu bedienen: Die Reform installierte die oben genannte „Zielsteuerung Gesundheit“, im Rahmen derer künftig inhaltliche Entscheidungen zur Gestaltung des Gesundheitswesens getroffen werden sollen14. Im Kern handelt es sich bei der „Zielsteuerung Gesundheit“ um eine Balanced Scorecard (BSC). Das bedeutet, dass mit Hilfe einer Vision („Wohin wollen wir uns als Gesundheitssystem weiterentwickeln?“), eines Systems gemeinsamer gesundheitspolitischer Ziele auf strategischer Ebene, daraus abgeleiteter operativer Teilziele und messbarer Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele eine gemeinsame Steuerung wesentlicher Teile des österreichischen Gesundheitssystems erreicht werden sollte. Die BSC wurde ursprünglich für den for profit-Sektor entwickelt. Sie ist ein Management-Modell zur Übersetzung von Vision und Strategie einer Organisation in einen umfassenden Katalog von Zielen und Kenngrößen. Gleichzeitig bildet sie im Rahmen eines Kennzahlensystems die Grundlage für die Erfolgsmessung

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Dass manche der dort grundsätzlich gemeinschaftlich ausgehandelten Entscheidungen ihrerseits in Gesetze gegossen werden sollen (das Primärversorgungsgesetz), tut der hier getroffenen Systematisierung keinen Abbruch.

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in der Umsetzung15. Im Kern ist die BSC ein Instrument zur Implementierung organisationaler Strategien. Sie enthält vier unterschiedliche Perspektiven16, auf die sich eine Organisation in der Strategieumsetzung gleichermaßen konzentrieren soll: Finanzen, Kunden, interne Prozesse und Lernen sowie Entwicklung. Diese Basiselemente waren zur Zeit der Entstehung des Modells nicht neu und finden sich schon in den Klassikern der Managementliteratur, so etwa bei Drucker (2006 [1954]). Die wesentliche Neuerung der BSC ist jedoch die Betonung der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller vier Zielperspektiven und die Betonung der Strategieimplementierung (Johnsen 2001, S. 312-322). Soll die BSC außerhalb des Bereichs erwerbswirtschaftlich orientierter Organisationen im Bereich des Public Managements zum Einsatz kommen, bedarf es jedoch einiger Anpassungen, ohne die der Einsatz einer BSC leicht zu unbeabsichtigten negativen Folgen führen kann (Johnsen 2001, siehe auch Wesenauer 2008a bezüglich des Einsatzes einer BSC in einem Krankenversicherungsträger). Besonders in einer erweiterten Form scheint dieses Modell darüber hinaus geeignet für die Steuerung eines auf Dauer ausgerichteten, komplexen Verhandlungssystems unter Einbeziehung mehrerer Organisationen, wie das Gesundheitswesen eines ist (Wesenauer 2008b, 2015) und in dem künftig inhaltliche Entscheidungen grundsätzlich in einem Verhandlungssetting getroffen werden sollen. Damit wurde ein Steuerungsansatz gewählt, der in dieser Form im politischen System Österreichs neu ist und der den Anspruch erhebt, ein Politikfeld vollständig zu erfassen. Dazu wurde in der Art 15a B-VG Vereinbarung zur Zielsteuerung Gesundheit festgehalten, dass die strategischen Ziele und die zu setzenden Maßnahmen zur Zielerreichung (und damit die eigentlichen inhaltlichen Ziele der Gesundheitsreform) in einem sogenannten Zielsteuerungsvertrag auf Bundesebene zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherung sowie operationalisiert auf Landesebene in sogenannten Landes-Zielsteuerungsübereinkommen zwischen jeweiligem Land und gesetzlicher Krankenversicherung festzuhalten sind (§ 10 G-ZG). Die inhaltlichen Ziele der Reform selbst sind darin nur stichwortartig genannt. In ihrer Detailausführung wurden diese nicht – wie sonst üblich – Umsetzungsgesetzen auf Bundes- und Landesebene überlassen. Vielmehr wurden neue Entscheidungsstrukturen auf Bundes- und Landesebene geschaffen, die dafür sorgen

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Das ursprüngliche Modell wurde von Kaplan und Norton in drei Aufsätzen in der Zeitschrift Harvard Business Review und anschließend als Buch veröffentlicht (Kaplan & Norton 1996). Durch diese Gleichgewichtung soll eine Überbetonung der Finanzziele – ein wesentlicher Kritikpunkt von Kaplan & Norton, der am Ausgangspunkt der Entwicklung der BSC stand – vermieden werden.

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sollen, diese inhaltlichen Ziele erst auszuarbeiten, dann zwischen den Parteien des Zielsteuerungssystems abzustimmen und zu beschließen, umzusetzen und schließlich zu evaluieren. Mit dieser Konstruktion der Zielsteuerung wurde der gesamte Politik-Kreislauf mit Agendasetting, Formulierung/Entscheidung, Implementierung und Evaluierung (zum Grundkonzept siehe Lasswell 1956) nachgebildet. Die Grenzen der eigenen Organisation werden damit gleichsam geöffnet und die Umwelt der jeweils eigenen Institution systematisch in die Gestaltung miteinbezogen.17 Die politische Logik des Zielsteuerungssystems ist dadurch charakterisiert, dass der hierarchische Ansatz einer top-down Steuerung durch generelle Rechtsnormen und anschließender linearer Umsetzung durch nachgeordnete Verwaltungsorgane durch einen gemeinschaftlich-planerischen Ansatz ersetzt bzw. ergänzt wurde. Auf Grundlage der oben geschilderten rechtlichen Rahmen wird die Zielsteuerung in Form von Verträgen, in denen die gemeinsamen gesundheitspolitischen Ziele vereinbart werden, umgesetzt. Aufbauend auf gemeinsamen, an Public Health orientierten gesundheitspolitischen Grundsätzen wurden Prinzipien, Ziele und Handlungsfelder der Zielsteuerung Gesundheit vertraglich festgelegt. Der Zielsteuerungsvertrag und die neun Landeszielsteuerungsübereinkommen folgen alle diesem einheitlichen, an einer BSC orientierten Aufbau. Konkret enthält der zwischen Bund, Ländern und Hauptverband der Sozialversicherungsträger 2017 für die bereits zweite Zielsteuerungsperiode (2017-2021) abgeschlossene Zielsteuerungsvertrag zunächst ein gemeinsam vereinbartes Zukunftsbild (in der Sprache des strategischen Managements eine Vision) und gemeinsame handlungsleitende Prinzipien (Werte – in der Sprache des strategischen Managements ein Leitbild). Unter diesem strategischen Überbau hängen die vier Steuerungsbereiche (in der Sprache der BSC die sogenannten Perspektiven), die übersetzt auf die Gesundheitspolitik aus Versorgungsstrukturen, Versorgungsprozessen, Ergebnisorientierung und Finanzzielen bestehen. Jedem dieser Steuerungsbereiche ist ein strategisches Ziel18 zugeordnet. Diesen strategischen Zielen sind wiederum mehrere operative Ziele19 unterteilt, die durch eine Reihe operativer Maßnahmen auf Bundes- und Landesebene zu erreichen sind. Um eine Über-

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Resultat ist aber auch ein zunehmend komplexer werdendes Muster an Abstimmungsund Kooperationsbeziehungen zwischen den beteiligten Akteuren. So ist beispielsweise dem Steuerungsbereich Versorgungsstrukturen das strategische Ziel ‚Stärkung der ambulanten Versorgung bei gleichzeitiger Entlastung des akutstationären Bereichs und Optimierung des Ressourceneinsatzes zugeordnet.‘ Im obigen Beispiel lautet das derartige operative Ziel beispielsweise ‚Primärversorgungsmodelle auf- und ausbauen.‘

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wachung der Zielerreichung zu ermöglichen, wurden die operativen Ziele mit konkreten Messgrößen und Zielwerten unterlegt. Flankiert werden diese Steuerungsbereiche durch Festlegungen zur Finanzzielsteuerung und insbesondere durch Finanzierungs- und Verrechnungsmechanismen, die sicherstellen sollen, dass die finanziellen Folgen von Leistungsverschiebungen (das heißt, wenn durch bestimmte Maßnahmen Leistungen, die bisher im Spital erbracht wurden, künftig im niedergelassenen Bereich erbracht werden und damit die Kosten von der sozialen Krankenversicherung und nicht mehr vom Land zu tragen sind – oder auch umgekehrt) ausgeglichen werden. Schließlich enthält der Vertrag noch ein Monitoring und ein Berichtswesen mit konkreten Ablauf- und Terminplänen. Auf Ebene der einzelnen Bundesländer waren im nächsten Schritt zwischen dem Bundesland und der Sozialversicherung ebenfalls für den Zeitraum bis 2021 sogenannte Landeszielsteuerungsübereinkommen abzuschließen. Darin werden die im Zielsteuerungsvertrag vereinbarten Maßnahmen auf Landesebene operationalisiert. Die neun Landeszielsteuerungsübereinkommen folgen ebenfalls einer einheitlichen Logik und entsprechen in Form und Aufbau weitgehend dem Zielsteuerungsvertrag, insbesondere hinsichtlich Vision, Leitbild und strategischen Zielen. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die gemeinsame Steuerung durch alle Vertragspartner auf Bundes- und Landesebene erfolgreich sein kann (Wesenauer 2015, S. 41).

Institutionelle Veränderung und „Networked Governance“ Die Ergänzung traditioneller Tools of Government durch partnerschaftliche Implementierungsinstrumente aus dem Werkzeugkasten des strategischen Managements bedeutete eine nicht zu unterschätzende Anpassungsleistung für die Partner des Zielsteuerungssystems, die lange noch nicht abgeschlossen ist. Während es in der österreichischen Sozialversicherungslandschaft bereits seit dem Jahr 2000 (Einführung eines BSC-Systems in der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse) Erfahrung mit diesem Instrument gibt, so war dieses Instrument ein kultureller Bruch für die in traditionellen Verwaltungskategorien agierenden Gebietskörperschaften. Dieser, in der österreichischen Gesundheitspolitik durch das Zielsteuerungssystem notwendig gewordene Kulturänderung wurde dadurch der Boden bereitet, dass auch in Österreich der Gedanke des New Public Managements (NPM) seit Ende der 1980er-Jahre vor allem in der Bundesverwaltung (Dearing 1998), mit etwas Verzögerung auch auf Länder- und Kommunalebene (Thanner 1998) verbreitet wurde und sich die staatliche Verwaltung so bereits an Implementierungs-

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instrumente, die aus dem privaten Sektor stammen, „gewöhnt“ haben. Denn die grundlegende Ausgangsidee von NPM (vgl. Hood 1991) war die Überlegung, dass öffentliche Institutionen effizienter und effektiver werden müssen und sich dazu der öffentliche Sektor jener Werkzeuge bedienen soll, mit denen private Organisationen, insbesondere erwerbswirtschaftlich orientierte Unternehmen, ihre Ziele erreichen. Zu diesen Werkzeugen gehört etwa die Etablierung von Wettbewerbsmechanismen, verstärkte Kundenorientierung, Projektmanagement, Controlling oder Personalmanagement. Auch die BSC ist eines dieser Instrumente (Haldemann, Heike & Bachmann 2011).20 Unterstützt wurde diese Veränderung dadurch, dass mit der Gesundheitsreform 2012 auch organisationale Gefäße und damit ein institutioneller Rahmen bereitgestellt wurden, innerhalb derer die Kooperation zwischen den einzelnen Akteuren institutionalisiert und stabilisiert wurde. Diese sind zum Teil gesetzlichen Ursprungs, zum Teil das Resultat der zwischen den Akteuren in der Implementierungspraxis notwendig gewordenen Zusammenarbeit zur Erreichung der gemeinsam vereinbarten Ziele. Auf gesetzlicher Ebene wurde der bereits bestehenden Bundesgesundheitsagentur21 ein zusätzliches Organ hinzugefügt, nämlich die Bundes-Zielsteuerungskommission, in der über die Kooperationsthemen im Rahmen des Zielsteuerungssystems Beschlüsse gefasst werden, insbesondere hinsichtlich der Koordination, Abstimmung und Festlegung aller aus dem Zielsteuerungsvertrag resultierenden Aufgaben inklusive des ÖSG als wesentlicher Planungsgrundlage (§ 26 G-ZG). Die Bundes-Zielsteuerungskommission wird paritätisch von der Bundesregierung, dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger und den Ländern beschickt. In vergleichbarer Weise wurden auf Ebene der einzelnen Länder die bereits bestehenden Gesundheitsplattformen an die Reform angepasst und als neues Organ die Landes-Zielsteuerungskommissionen hinzugefügt. In dieser sind die Gebietskrankenkassen inklusive eines Vertreters eines bundesweiten Trägers auf Seiten der Sozialversicherung und die Vertreter des Landes gemeinsam befugt, wie auf Bundesebene insbesondere Beschlüsse hinsichtlich der Koordination, Abstimmung und Festlegung aller aus dem jeweiligen Landes-Zielsteue20

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Typische Muster des NPM auf der Makroebene sind Dekonzentration und Delegation (etwa durch die Schaffung ausgelagerter Gesellschaften oder autonomer Regulierungsbehörden) sowie Dezentralisierung staatlicher Aufgaben (Peters 2008, S. 2f). Dieser Trend wurde seit den 1990er-Jahren auch in der globalen Diskussion über Reformen im Gesundheitswesen dominant (Roberts et al. 2004). Die Bundesgesundheitsagentur (BGA) ist ein öffentlich-rechtlicher Fonds mit eigener Rechtspersönlichkeit und das zentrale Organ zur Planung, Steuerung und Finanzierung des Gesundheitswesens auf Bundesebene. Er ist beim Bundesministerium für Gesundheit angesiedelt.

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rungsübereinkommen resultierenden Aufgaben zu fällen. Darüber hinaus gibt es auf Bundes- und Landesebene eine komplexe Struktur an Arbeitsgruppen22 und Unterarbeitsgruppen, innerhalb derer kooperativ an der operativen Umsetzung der inhaltlichen Themen der Gesundheitsreform gearbeitet wird. Das dominante Bild des österreichischen Gesundheitssystems ist damit nicht mehr das eines hierarchischen, staatlichen Steuerungs- und Implementierungsapparates, sondern das eines komplexen, letztlich durch Verhandlung und Überzeugung steuernden Geflechtes unterschiedlicher Organisationen, ausgedrückt im Bild des networked Governance (Rhodes 1997, Hajer & Wagenaar 2003). Keiner der beteiligten Akteure ist darin in der Lage, Entscheidungen völlig autonom zu treffen und umzusetzen. Das gilt in gleicher Weise für Bund, Länder und die Sozialversicherung. Die Akteure sind dabei typischerweise sogar auf Zusammenarbeit angewiesen, wollen sie ihre ureigensten organisationalen Ziele erreichen (Goodin, Rein & Moran 2006, S. 11ff). In gewisser Weise war das zwar in unterschiedlichem Ausmaß schon immer politische Realität jenseits verfassungsrechtlicher Kompetenzzuweisungen. Die österreichische Gesundheitspolitik zeichnete sich aber dennoch durch ein sehr hohes Maß institutioneller Eigenständigkeit aus: Die Stellen- und Honorarpolitik bei niedergelassenen Ärzten war (und ist) Angelegenheit der Krankenversicherungsträger, die Krankenhausplanung Angelegenheit der Länder, nur um zwei wichtige Beispiele zu nennen. Die Gesundheitsreform 2012 hat diese strikten Trennungen jedoch aufgeweicht. Welche Konsequenzen das für die Gestaltung des Gesundheitswesens in der Praxis hat, ist indes auch nach Ablauf der ersten Steuerungsperiode 2013 bis 2017 und den daraus gewonnen Erkenntnissen und Anpassungen noch in vielen Bereichen offen.

Grenzen und Risiken der Zielsteuerung Gesundheit – ein Ausblick Die Reformagenda der Gesundheitsreform 2012 ist hinsichtlich ihres Steuerungsund Implementierungsanspruchs ein interessantes Beispiel dafür, wie Gesundheitsreformen umgesetzt werden können. Dies gilt sowohl für andere Staaten (Hofmarcher 2014, S. 8) als auch für andere Politikfelder innerhalb Österreichs. Bei aller Innovativität des neuen Zielsteuerungssystems darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass wesentliche Teile der Gestaltung des Gesundheitssys22

Auf Bundesebene sogenannte Fachgruppen samt Unterarbeitsgruppen zu den Themen Versorgungsstruktur, Versorgungsprozesse, Public Health, e-Health (Stand März 2018).

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tems von der Zielsteuerung gar nicht umfasst sind. Damit sind gleichzeitig die Grenzen des Zielsteuerungssystems abgesteckt: Denn letztlich ist ein alternatives Steuerungs- bzw. Umsetzungsmodell wie die Zielsteuerung Gesundheit nur insofern möglich, als dafür ein staatsrechtlicher Rahmen durch die Politik zur Verfügung gestellt wird. Es sind somit die institutionellen und staatsrechtlichen Bedingungen, welche die Umsetzung eines (gesundheits-)politischen Programms erst ermöglichen (Evans, Rueschemeyer & Skocpol 1985, Steinmo & Watts 1995). Im Zuge der Gesundheitsreform 2012 wurden die kompetenzrechtlichen Grundlagen jedoch nicht geändert: So liegen Finanzierung und Organisation der Krankenanstalten nach wie vor in der Hand der Länder, auch wenn gemeinsame Planung und gegenseitige Informationsverpflichtungen durch das neue System der Zielsteuerung Gesundheit eine wesentlich stärkere Integration der Träger der sozialen Krankenversicherung zur Folge hatten. Gleichzeitig liegt beispielsweise die Verhandlung der Honorare und der Stellenplanung mit den medizinischen Dienstleistern (also insbesondere mit den niedergelassenen Ärzten, aber auch mit anderen wie zum Beispiel Transporteure, Orthopädieschuhmacher, Hörgeräteakustiker, Optikern usw.) nach wie vor in der alleinigen Kompetenz der Krankenversicherungsträger und der Ärztekammern – die aber nicht Partner der Zielsteuerung sind. Die Gesundheitsreform 2012 wurde nur von Bund, Bundesländern und Sozialversicherung verhandelt. Wesentliche, insbesondere für die Implementierung verantwortliche Akteure waren höchstens indirekt daran beteiligt. Allen voran gilt das für die medizinischen Dienstleister wie etwa Ärzte und Spitäler. Dies ist neu in der österreichischen Gesundheitspolitik und stieß (und stößt immer noch) auf massiven Widerstand der Ärzteschaft. Die Umsetzbarkeit und damit der Erfolg der wesentlichen inhaltlichen Ziele der Gesundheitsreform sind jedoch vom Mitwirken dieser Professionen bzw. Organisationen abhängig. Ohne die Involvierung der unmittelbar für die Umsetzung verantwortlichen Personen oder Organisationen ist etwa im Gesundheitswesen die erfolgreiche Implementierung politischer Programme erheblich erschwert (Lipsky 1980). So ist beispielsweise eine neue Primärversorgung im niedergelassenen Bereich durch Primärversorgungszentren (sogenannte Primary Health Care Centers, PHCs) neben der regulatorischen, finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen schlicht davon abhängig, ob sich genügend Ärzte, Krankenpflegepersonal und medizinisch-technische Dienstleister finden, die in solchen neuen Formen der Zusammenarbeit arbeiten wollen. Ein Ausweg könnte eine Intensivierung des Systems der Zielsteuerung und damit eine Vertiefung der interorganisationalen Integration sein, ohne dass dabei die beteiligten Akteure ihre Unabhängigkeit verlieren müssen. So zeigt sich etwa am Beispiel Oberösterreich, dass neben dem System der Zielsteuerung, in dem nur Land und soziale Krankenversicherung (und formal der Bund) eingebunden sind,

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auch andere formalisierte Modelle der Zusammenarbeit mit den wesentlichen Akteuren des Gesundheitssystems praktiziert werden müssen23. Dies erscheint unabdinglich, um die Akzeptanz des Zielsteuerungssystems, die Implementierung der aus den einzelnen Zielen abgeleiteten Maßnahmen und damit letztlich den Erfolg der Gesundheitsreform 2012 sicherzustellen. Ein letztes, wesentliches Risiko besteht in einem möglichen Schwinden des Commitments der Partner der Zielsteuerung. Dieses Risiko kann dann schlagend werden, wenn sich seitens der Politik die überzogene Erwartungshaltung aufbaut, bereits innerhalb kurzer Zeit versorgungswirksame Veränderung im österreichischen Gesundheitswesen zu erzielen. Ein Resultat könnte sein, dass statt der beabsichtigten kooperativen Kultur im Gesundheitswesen ein von Machtinteressen geprägter Wettstreit der Systempartner entsteht und letztlich das System der gemeinsamen Zielsteuerung scheitert (Wesenauer 2015, S. 48f). Ein anspruchsvolles und aus einer Steuerungsperspektive heraus betrachtet sehr komplexes Instrument durch altbekannte Tools of Government, insbesondere durch mehr oder weniger simple hierarchische Normsetzung zu ersetzen, könnte dann für einige Partner des Zielsteuerungssystems als eine attraktive Alternative gesehen werden.

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So wurde in Oberösterreich zwischen der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse und der Ärztekammer Oberösterreich eine organisationsübergreifende, gemeinsame BSC installiert. Darüber hinaus wurde in Zusammenhang mit dem Zielsteuerungssystem Gesundheit von Land Oberösterreich und der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse zur sektoren- bzw. organisationsübergreifenden Zusammenarbeit und der Einbindung anderer wichtiger Akteure des Gesundheitssystems in die Zielsteuerung das Gremium WEG OÖ (Weiterentwicklung Gesundheit Oberösterreich) mit Ärztekammer, Krankenanstalten, Rotem Kreuz und anderen geschaffen.

Die Gesundheitsreform 2012 in Österreich im Spiegel …

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Literatur Auer, Clemens M. (2013): Steuern statt rudern. In: Stöger, Alois (Hrsg.): Weg mit den Gartenzäunen! Vom Überwinden gesundheitspolitischer Grenzen in Österreich. Wien: Bundesministerium für Gesundheit, S. 53-62. Buse, Kent, Mays, Nicholas & Walt, Gill (2012): Making Health Policy. Maidenhead: Open University Press. Czypionka, Thomas, Röhrling, Gerald, Kronemann, Frank & Reiss, Miriam (2015): Health System Watch. Schwerpunkt Spitalsfinanzierung: Woher kommt das Geld? In: Soziale Sicherheit 41 (3), S. 121-136. Dearing, Elisabeth (1998): Verwaltungsreform in der Bundesverwaltung. In: Neisser, Heinrich & Hammerschmid, Gerhard (Hrsg.): Die innovative Verwaltung. Perspektiven des New Public Management in Österreich. Wien: Signum Verlag, S. 437-456. Drucker, Peter (2006 [1954]): The Practice of Management. New York: Harper Collins. Evans, Peter B., Rueschemeyer, Dietrich & Skocpol, Theda (Hrsg.) (1985): Bringing the State Back in. Cambridge: Cambridge University Press. Goodin, Robert E., Rein, Martin & Moran, Michael (2006): The Public and its Policies. In: Dies. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Public Policy. Oxford: Oxford University Press, S. 3-35. Hajer, Marten A. & Wagenaar, Hendrik (2003): Editors Introduction. In: Dies. (Hrsg.): Deliberative Policy Analysis: Understanding Governance in the Network Society. Cambridge: Cambridge University Press, S. 1-30. Haldemann, Theo, Heike, Michael & Bachmann, Martin (2011): Balanced Scorecard in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben. Erfahrungen und Empfehlungen für das Strategische Public Management. Bern: Haupt. Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (2010): Masterplan Gesundheit. Einladung zum Dialog. Strategische Handlungsoptionen zur Weiterentwicklung des österreichischen Gesundheitswesens aus Sicht der Sozialversicherung, http:// www.hauptverband.at/portal27/portal/hvbportal/content/contentWindow?&contentid=10008.564144&action=b&cacheability=PAGE, abgerufen am 11.08.2015. Hofmarcher, Maria M. (2014): The Austrian health reform 2013 is promising but requires continuous political ambition. In: Health Policy 118 (1), S. 8-13. Hood, Christopher (1983): The Tools of Government. London: MacMillan. Hood, Christopher (1991): A Public Management for All Seasons? In: Public Administration 69 (1), S. 3-19. Howlett, Micheal & Ramesh, M. (2003): Studying Public Policy. Policy Cycles and Policy Subsystems. Oxford: University Press. Huber, Marion & Mühlgassner, Agnes M. (2012): Protestkonvent: Diese Reform wollen wir Ärzte nicht! In: Österreichische Ärztezeitung, 22/25.11.2012. Johnsen, Age (2001): Balanced Scorecard: Theoretical Perspectives and Public Management Implications. In: Managerial Auditing Journal 16 (6), S. 319-330. Kaplan, Robert S. & Norton, David P. (1996): The Balanced Scorecard. Translating Strategy into Action. Boston: Harvard Business School Press. Lasswell, Harold (1956): The Decision Process: Seven Categories of Functional Analysis. College Park: University of Maryland Press.

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Dirk Baecker über „Führung“ Interview: Josef Oberneder

JO: Herr Professor Baecker, vielen Dank für Ihr Kommen. Wir beide reden im heutigen Workshop über das Thema „Führung“. Ich wurde aber auch noch gebeten, eine persönliche Frage an Sie zu richten: Woher nehmen Sie Ihre Produktivität? Was machen Sie sonst noch – außerhalb des Forschungsbetriebes, wenn Sie nicht Bücher schreiben, nicht an einer Universität sind oder nicht unterwegs sind, wie hier in Linz? DB: Reicht das nicht? Na ja, ich koche gerne für die Familie, ich gehe gerne spazieren. Überhaupt bewege ich mich gerne zu Fuß, auch um – wie heute nach langer Zeit einmal wieder in Linz – ein Gefühl für den Ort zu bekommen. Und ich versuche, mich außerhalb der Universität auf möglichst wenige Termine einzulassen, um immer wieder Zeit für ein Nachdenken zu haben, das auf nichts festgelegt ist. JO: Das ist also da Geheimnis Ihrer Produktivität? DB: In der Zeit, in der ich auf nichts festgelegt bin, können Gedanken entstehen, die Zeit benötigen, um sich selber zu ordnen. Außerdem jedoch versuche ich, nur Texte zu schreiben, die nur ich schreiben kann. Das hilft, um immer wieder neue Anlässe zu finden. „Wozu Baecker?“, haben das meine Freunde einmal genannt, weil ich eine Reihe von Aufsatzsammlungen unter Titeln wie „Wozu Kultur?“, „Wozu Systeme?“, „Wozu Gesellschaft?“, „Wozu Soziologie?“, „Wozu Theater?“ und jüngst „Wozu Theorie?“ publiziert habe. Ich könnte auch sagen, dass ich versuche nur Texte zu schreiben, die jeder schreiben könnte, der eine Biografie hat, die mit meiner identisch ist. Tatsächlich bin ich der einzige Fall, auf den diese Bedingung zutrifft. Also muss ich Texte schreiben, um herauszufinden, auf welche © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Wesenauer et al. (Hrsg.), Wie Governance gelingen kann, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24114-8_4

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Interview: Josef Oberneder

Frage – wissenschaftlicher Art, versteht sich – meine Biografie die Antwort ist. Umgekehrt heißt das, allem aus dem Weg zu gehen, was dazu keinen Beitrag leistet. Selbst Einladungen wie die Ihre, über die ich mich sehr gefreut habe, nehme ich nur an, wenn ich ahne, dass sie nicht nur Sie, sondern auch mich weiterbringen. Daraus ziehe ich Energie. JO: Sie gewinnen Energie bei einer Veranstaltung? Ich interpretiere: Es geht Ihnen heute gut? DB: Ja, ich bin neugierig, auf welche Fragen wir uns heute einlassen. JO: Wir wollen das Mysterium der Führung durchleuchten, ohne dabei das Mysterium wirklich aufklären zu können. Führung ist eine kommunikative Leistung. Sie unterscheiden zwischen postheroischer und heroischer Führung. Was ist der Unterschied im kommunikativen Verhalten zwischen postheroischer und heroischer Führungskraft? DB: Ein Held ist jemand, der zwei Aufgaben hat. Die eine besteht darin, alle anstehenden Aufgaben lösen zu können; und die zweite darin, zu behaupten, ohne ihn wäre es nicht gegangen, wenn sie doch einmal ein anderer löst. Zwischenruf aus dem Publikum: Das sind dann die Politiker. DB: Ja, genau. Ein Heroe arbeitet dauernd daran, sich als Ressource für Problemlösungen zu inszenieren. Das ist Politik. Und das ist Führung, wenn Führung darin besteht, andere zu einem selbständigen Handeln zu ermächtigen. Ein Postheroe ist dann jemand, der für die Lösung sich selbst ebenso wie den anderen verantwortlich macht. Er stellt nicht seinen unvergleichlichen Durchblick, seine überragende Kompetenz, wie der Heroe, sondern die Interaktion mit anderen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sachlich läuft das auf dasselbe hinaus, denn auch der Heroe wäre ohne die anderen ein Nichts, aber sozial ist das postheroische System sehr viel intelligenter, weil es das System insgesamt und nicht nur einzelne Personen in den Blick nimmt. Führung wird so zur Moderation des Systems. JO: Dahinter steckt die Fähigkeit des Anstoßens von Selbstorganisationsprozessen? DB: Ja, richtig; und das ist leichter gesagt als getan. Zum Beispiel geht es nicht ohne die Überwindung des Narzissmus, in dem wir alle gefangen sind. JO: Führung wandert in der Systemhierarchie von Organisationen meist nach oben. In einer nächsten Gesellschaft werden sich aber Hierarchien verflachen – so Ihre These – und zu netzwerkartigen Organisationsformen transformieren. Welche neuen Herausforderungen werden in diesem Zusammenhang auf das Führungsverhalten zukommen? DB: Die größte Herausforderung besteht möglicherweise darin, die Verflachung von Hierarchien nicht mit ihrem Verschwinden gleichzusetzen. Wir benötigen Hierarchien, um Verantwortung anfordern und zuweisen zu können. Wir

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benötigen sie also von unten und von oben, wenn ich das so sagen darf. „Verflachung“ heißt in dem Zusammenhang jedoch, dass die Hierarchie – oder besser: viele kleine, begrenzte Hierarchien (im Plural) – in ein Netzwerk eingebettet ist, das seinerseits heterarchisch organisiert ist. In einer Heterarchie rotieren die Führungsrollen. Es ist in jedem Moment ein anderer (griech. heteros), der oder die herrscht (griech. archein) – im Gegensatz zur Hierarchie, in der es immer der eine und derselbe und deswegen „Heilige“ (griech. hieros) ist, der herrscht. In heterarchischen Netzwerken vieler kleiner Hierarchien wird es deswegen zur „postheroischen“ Führungsaufgabe, dafür zu sorgen, dass die Führung jeweils an die Stellen und in die Abteilungen wandert, die für die jeweilige Aufgabenstellung die größte Kompetenz mitbringen. Aber wie findet man das heraus? Und wie stellt man sicher, dass die Führung nicht genau dort festgehalten und monopolisiert wird, wo sich jeweils der letzte Engpass befand? Organisationen arbeiten gegenwärtig heftig an Antworten auf diese Fragen, etwa unter Titeln wie „Projektmanagement“, „agiles Management“ oder „Holacracy“ (die „Herrschaft“, kratein, des jeweils „Ganzen“, holos). Das Führungsverhalten kann sich interessanterweise darauf verlassen, dass sich Hierarchien spontan dort bilden, wo man sie benötigt. Das war schon die Erfahrung von Tom Peters, der in den 1980er-Jahren viel für die Entwicklung eines intelligent chaotischen Managementverständnisses getan hat: In seinen Teams von 25 McKinsey-Leuten hatte man es, kaum fing das Team an zu arbeiten, mit 25 Hierarchieebenen – oder besser: mit einer Hackordnung von 25 Stufen – zu tun. Wie also, so seine Frage, kann man sicherstellen, dass sich die Hierarchien auch wieder auflösen, wenn sie nicht mehr benötigt werden? Und welche Rolle spielen dabei welche Gruppengrößen? Sind kleine Gruppen beweglicher in der Bildung und Wiederauflösung von Hierarchien als große? Und welche Rolle spielen Organisationen in der Umwelt der jeweiligen Organisation? Haben wir es nicht laufend mit Partnern, Kunden, Aufsichtsorganen zu tun, die erwarten, eine Hierarchie vorzufinden, weil auch sie wissen wollen, wer wofür verantwortlich ist und haftbar gemacht werden kann? Vielleicht sind diese externen Anforderungen noch hartnäckiger und vor allem unverhandelbarer als die internen. JO: Stichwort Gruppengröße. In Ihrem Buch „Postheroische Führung“ beschreiben Sie in einem Kapitel das Phänomen der Gruppengröße. Welche Bedeutung hat die Größe einer Gruppe? Wann wird es schwierig? Wann ist Führung möglich? DB: Da muss ich weit ausholen, aber das wollen Sie ja. JO: Wir haben Zeit. DB: Es gibt von einem Anthropologen namens Robin Dunbar (1993) die sogenannte Dunbar-Zahl, die lautet 149. Kann man sich schon einmal merken, oder? 149.

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JO: Ja, ich kenne sie nicht, aber ich werde mir die Zahl merken. DB: 149 Leute ist die Anzahl derer, die sich das menschliche Gehirn inklusive Bewusstsein als persönlich mehr oder minder gut bekannt merken kann. Nicht mehr und nicht weniger. Und jetzt gibt es zwei interessante Entdeckungen: Erstens hat man festgestellt, dass sich diese Zahl im Laufe der Geschichte der Menschheit offenbar kaum geändert hat. Wir sind immer noch die Kinder desselben Neo-cortex, wenn man so will. Gleichgültig, ob man sich Stämme, Armeen, Kirchen, Klöster, Behörden oder Unternehmen anschaut, man stößt immer auf ca. 150 Leute, die einen Zusammenhang definieren, innerhalb dessen etwas funktioniert, einen Clan zum Beispiel oder eine Abteilung. Und zweitens hat man entdeckt, dass alle größeren und kleinere Einheiten, die es natürlich auch gibt, also etwa eine Armee mit 20 000 Leuten oder ein Team aus fünf bis sieben Leuten, sich als Brüche oder Vielfache der Zahl 149 mit dem Faktor 2,9 darstellen lassen (Zhou et al. 2005, auch Baecker 2015). Man stößt dann auf Einheiten, die sich ebenfalls in der Menschheitsgeschichte immer wieder feststellen lassen: kleine Cliquen von 3 bis 5 Leuten, die einander bei schweren Belastungen helfen; Gruppen von 12 bis 20 Leuten, zu denen man spezielle Bindungen hat und die man mindestens einmal im Monat trifft; Banden von 30 bis 50 Mitgliedern, mit denen man sich traut, ein gemeinsames Nachtlager zu unterhalten; Clans oder regionale Gruppen, die 150 Mitglieder umfassen; Megabanden, die 500 Leuten aufweisen; und Stämme, die 1 000 bis 2 000 Mitglieder haben, die eine linguistische Einheit bilden, also dieselbe Sprache sprechen. Interessant ist, dass sich der Faktor 2,9 innerhalb gewisser Schwankungsbreiten durchhält, also ein Fraktal bildet, das sich auf jeder Ebene wiederholt. Warum 2,9? Die anthropologische Literatur hat darauf keine Antwort. Aber die Soziologie hilft weiter, insbesondere Georg Simmel. Mit Simmel kann man vermuten, dass die 2 zu instabil ist, weil niemand da ist, der einen Streit schlichten kann, und dass die 3 ebenfalls instabil ist, weil sich zu leicht Koalitionen von zweien gegen einen bilden können. Bei 2,9 hat man es jedoch mit einem starken, aber abwesenden Dritten zu tun, der typischen „Schwiegermutter“, die Probleme sowohl auslösen als auch lösen kann, indem man auf sie hört oder sich gegen sie verbündet. Für unsere Frage nach einem postheroischen Führungsverhalten in selbstorganisierenden Organisationen heißt das, dass Organisationen gut beraten sind, sich an diese verschiedenen Gruppengrößen zu halten und entsprechende Sub- und Supereinheiten zu bilden, die entsprechend unterschiedliche Aufgabenstellungen haben. Und für neue Chefs, den sprichwörtlichen neuen Fürsten, von dem Machiavelli sprach, kann man die Empfehlung ableiten, die eingespielten Gruppengrößen durch eine Reorganisation erst einmal so durcheinanderzubringen, dass sich neue Gruppen und neue Arbeitsmuster bilden können. Andernfalls ändert sich ja nichts.

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Gruppen zu zerschlagen, ist ein ebenso systemischer Prozess – ein Prozess im System – wie die Ermöglichung von Selbstorganisation. JO: Wenn wir diese Fähigkeit des „Zerschlagens“ auf das Handeln von Führungskräften beziehen – was wäre das für eine Fähigkeit? DB: Das wäre die Fähigkeit, die Organisation so zu stören, dass sie auf einen neuen Führungsimpuls hören muss. Management bestand immer schon darin, die Mitarbeiter daran zu hindern, sich spontan selbst zu koordinieren. Denn man weiß, dass so nur Koordinationsmuster gefunden werden, die gemessen am Arbeitsergebnis und an der Arbeitszeit suboptimal sind. „Zerschlagen“ heißt dann nichts anderes, als die Devise auszugeben, dass alles auf ein neues Kommando hört. JO: Charles Handy hat in seinem Führungsverständnis gemeint, dass sich Führungskräfte bei jeder Handlung und Entscheidung fragen müssen, wie das Problem gelöst werden kann, damit die Fähigkeit anderer Leute entwickelt werden kann, mit dem Problem fertig zu werden. Also: Selbstorganisationsfähigkeit. Sie haben in Ihrem Buch „Organisation und Management“ gemeint: Manager sind sozusagen die Nachfolgefiguren modernen Aufklärer. Wie ist das zu verstehen? DB: Ein Aufklärer ist im 18. Jahrhundert – denken Sie an Voltaire – jemand, der sich für alles, was er sieht, eine vernünftigere Lösung vorstellen kann, vom Regierungssystem über eine philosophische Position bis zum Verständnis einer Ehe. Ein Aufklärer läuft durch die Stadt, die Salons, die Kirchen und die Bibliotheken und sieht überall verbesserungsfähige, also suboptimale Verhältnisse. Schlimmer noch, er glaubt zu wissen, die Lösung des Problems zu haben, nämlich die vernünftigere Gestaltung derselben Verhältnisse (fallweise auch: ihre Abschaffung). Der Manager steht dank der Betriebswirtschaftslehre, auf die er sich stützt, in genau dieser Tradition. Er diagnostiziert Suboptimalitäten und kann sich effizientere und effektivere Lösungen vorstellen. Aber das A & O ist die Diagnose von Suboptimalität. JO: Haben wir „BWLer“ im Raum? Publikum: Ja, haben wir! JO: Ich hatte soeben zu einer Kollegin geflüstert, Professor Baecker dürfte mit der Betriebswirtschaftslehre … DB: Wir sollten die Betriebswirtschaftslehre nicht unterschätzen. Die Tradition der Aufklärung ist ja keine schlechte Tradition, auch wenn die Vernunftphilosophen ebenso wie die Effizienzapostel einem schon ziemlich auf die Nerven gehen können. Außerdem ist die BWL ja schon deswegen ernst zu nehmen, weil sie von einem Volkswirt, Erich Gutenberg, gegründet worden ist. Es steckt also ökonomische Intelligenz in diesem Fach. Gutenberg wusste auch genau, was er tat! Er sagte ja, dass die BWL die tatsächliche Komplexität einer Organisation einklam-

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mern muss, um sie so in einen „Betrieb“ zu verwandeln, der Kriterien der Effizienz (Kosten/Nutzen-Kontrolle) und Effektivität (Zweck/Mittel-Kontrolle) (oder war es umgekehrt?) unterwerfen zu können. Er wusste noch, was er einklammert. Die heutige BWL scheint das zuweilen vergessen zu haben. Er wusste, dass er eine Organisation, die er als Betrieb bewirtschaften will, also einem Marktkalkül unterwerfen will, zunächst als „Organisation“ mit all ihrer Komplexität pflegen und stark machen muss. Andernfalls zerbricht sie am Marktkalkül. Interessant ist auch, dass zumindest in der deutschsprachigen Tradition zwar eine „Betriebswirtschaftslehre“, orientiert am Effizienzgedanken, aber keine „Betriebstechniklehre“, orientiert am Effektivitätsgedanken, entstanden ist. Das eine ist eine Handlungslehre, der es gelungen ist, sich an der Universität zu etablieren, das andere nur ein lockerer Zusammenhang von Instituten (in Deutschland: die Fraunhofer-Institute) in enger Kooperation mit der Industrie. JO: Also keine Gegenbewegung? DB: Nein, keine Gegenbewegung, sondern ein Supplement, eine Ergänzung. Die Betriebswirtschaftslehre hält einen mehr oder minder losen Kontakt zur Wissenschaft, je loser, desto normativer sie ist, die Betriebstechniklehre, die es nicht gibt, glänzt derweil durch eine anwendungsbezogene Forschungspraxis. JO: In den 1980er-Jahren gab es aber im Change Management starke Einflüsse der „Human Relation“ Bewegung, die ganz stark auf Motivation der Mitarbeiter und auf die Entwicklung von Organisationskultur abgezielt hat. DB: Ja, und ausgerechnet im Jahr 1968 publizierte Edmund Heinen ein Lehrbuch der Betriebswirtschaftslehre, in dem gefordert wurde, nicht den Betrieb, sondern den Menschen in den Mittelpunkt der Organisation zu stellen. Das bewährte sich nicht, denn niemand wusste, was das heißen sollte. Man fand zu diesem Zeitpunkt auch keine Organisationen mehr, die man so ohne Weiteres als „unmenschlich“ hätte bezeichnen können; die letzten dieses Typs waren ja 1945 aufgelöst worden, zumindest hierzulande. Man weiß also nicht recht, was sich die Betriebswirte vorstellten, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen wollten. JO: Das waren keine Systemtheoretiker. DB: Es war die späte Entdeckung des Humanismus durch die Betriebswirtschaftslehre. Aber auch hier musste man dann feststellen, dass der Humanismus zwar eine intellektuelle Bewegung (im Grunde genommen: der Ablösung Gottes durch den Menschen und seine Geschichte im Zentrum der menschlichen Aufmerksamkeit), aber keine Wissenschaft und erst recht keine Handlungslehre ist. JO: Die 1970er- und 1980er-Jahre waren natürlich auch intensiv geprägt von humanistischen Zugängen in der Organisationsentwicklung. DB: Die BWL hat sich mit und nach Gutenberg zu einer außerordentlich vielfältigen und hochgradig beweglichen Handlungslehre entwickelt, die „adhokratisch“

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(Richard Whitley), also ad hoc, auf Probleme dort reagiert, wo sie auftauchen, gleichgültig ob im Controlling oder im Marketing, in der Personal- oder Organisationsentwicklung, in der strategischen Planung oder im Change Management. Mich hat das immer fasziniert. Ein Soziologe ist ja jemand, der glaubt, dass nur die Praxis ihre Probleme lösen kann. Ein Betriebswirt, immer auf der Spur von Suboptimalitäten, glaubt hingegen, dass nur er die Lösung haben kann. Das versteift sich zuweilen sehr ins Normative. Aber es setzt auch unter einen nicht unerheblichen Innovationsdruck, von dem die Soziologie nur träumen kann. JO: (zum Publikum gerichtet) Gibt es ein Handzeichen? Haben Sie spontan eine Zwischenfrage? Zwischenruf aus dem Publikum: Heroisches Management oder postheroisches Management. Was sehen Sie vorherrschend? In der Wirtschaft und in der Politik? DB: Die Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik ist die Denke zuweilen noch sehr heroisch, zumal auch die Massenmedien entsprechende Darstellungen präferieren. Aber hier wie dort ist die Praxis zuweilen bereits sehr postheroisch, einfach weil es ohne interaktive Modelle einer rotierenden Führung gar nicht mehr geht. Das wurde allerdings lange Zeit nicht verstanden und dementsprechend auch nicht beschrieben. Wir Menschen haben ja eine erstaunliche Fähigkeit, das eine zu denken und das andere zu tun. Im Umfeld des sogenannten „agilen Managements“ vor allem technologisch orientierter Organisationen mit einer eher jüngeren Belegschaft scheint sich das allerdings gegenwärtig zu ändern. Hier wird zu einer neuartigen, eher chaotisch-assoziativen Praxis auch gleich eine neue Sprache entwickelt, die die Unterscheidung zwischen heroischem und postheroischem Management und Führungsverständnis glatt unterläuft. Hier kommt es eher darauf an, ein teamorientiertes Arbeiten zu ermöglichen, das über weite Zeitstrecken sowohl sich selbst überlassen als auch zu bestimmten Zeitpunkten dann wieder in größere Organisationszusammenhänge eingebettet werden kann. Man scheint hier mit Fragen der Unabhängigkeit wie der Abhängigkeit, also einer wechselseitig gesteigerten Autonomie und Heteronomie entkrampfter zurande zukommen. JO: Sie spielen auf den Faktor Zeit an. Die „Intelligenz“ einer Organisation zeichnet sich nicht dadurch aus, wie bestimmte Ziele und Aufgaben erreicht werden, sondern wie Einigung darüber erzielt wird, welche Aufgaben wie gelöst werden. Einigung braucht aber Zeit. Wann braucht es tatsächlich eine schnelle Entscheidung, die wenig Zeit in Anspruch nimmt? DB: Aus der ostasiatischen Weisheits- und Führungslehre wissen wir ja inzwischen, dass Langsamkeit und Schnelligkeit sich nicht ausschließen, sondern in einem komplizierteren Bedingungsverhältnis stehen. Oft muss monatelang „reifen“, was dann „blitzschnell“ entschieden werden kann. Das unterläuft auch unse-

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re Unterscheidung zwischen heroischem und postheroischem Management und Führungsverhalten: Zuweilen ist eine Führungskraft wochen- oder monatelang als Beobachterin unterwegs – um dann wie aus heiterem Himmel mit einer Initiative aufzuwarten, die alle überrascht und doch, wenn es gut geht, aus einer neuen Perspektive eine vertraute Problematik fruchtbar anzugehen erlaubt. Daneben gibt es natürlich auch den Schnelligkeitsbedarf in sogenannten Krisen. „Krisen“ signalisieren ja, dass jetzt etwas getan werden müsste – oder umgekehrt, dass ein Moment nach dem nächsten vergeht, ohne dass irgendjemand die Lösung wüsste. JO: Ist das dann der „Tipping Point“, der zur Steigerung der Performance führt? Und das ist ja die Kunst, den zu finden. DB: Von einem „Tipping Point“ werden Sie entweder überrascht oder Sie haben monatelang sorgfältig nach ihm gesucht. „Wirksam werden“ heißt nach ostasiatischem Verständnis ja wiederum genau das: zum richtigen Zeitpunkt, nämlich dann, wenn der Moment reif ist, ganz wenig tun, und nicht zum falschen Zeitpunkt mit aller Macht ganz viel tun (vgl. Jullien 1999). JO: Sie unterscheiden zwischen lernender und kompetenter Organisation. Und in dieser kompetenten Organisation agieren „kluge Führungskräfte“. Was ist eine „kluge Führungskraft“ in einer Pädagogischen Hochschule? DB: Das Stichwort „klug“ beziehe ich aus der sogenannten politischen Klugheitslehre des 16. und 17. Jahrhunderts, also von Autoren wie Niccolò Machiavelli (1978 [1532]) oder Balthasar Gracián (1978 [1647]). Dem Fürsten empfahl Machiavelli, immer so zu handeln, dass ihn die Untertanen sowohl lieben als auch fürchten, lieben, weil er Sicherheit schafft, und fürchten, weil er die Sicherheit nur schaffen kann, wenn er auch Gewalt ausüben kann. Klug zu sein heißt hier: beides zu tun und das eine nicht mit dem anderen zu verwechseln. Und dem Höfling am kastilischen Hofe von Isabel und Fernando empfiehlt Gracián, sich in diesem Hexenkessel wechselseitiger Beobachtung unter vielleicht 100 oder 150 Höflingen … Zwischenruf aus dem Publikum: (lachend) 149. JO: 149. Ja, jetzt haben wir es aufgeklärt, woher die Zahl kommt! DB: … ja, genau, 149 Höflingen, immer darüber im Klaren zu sein, dass alle gemeinsam und alle gegeneinander um die Gunst des Königs und, noch wichtiger, der Königin konkurrieren. Jeder agiert unter der dauernden Angst, sich lächerlich zu machen. Lächerlichkeit ist bei Hofe ein Todesstoß. Und man weiß, wie schnell man sich lächerlich machen kann, wenn man unter hochgradig künstlichen, eben höfischen Verhaltensanforderungen steht. In dieser Situation besteht die größte Klugheit, so Gracián darin, sich zu entziehen zu wissen, also mitten im Trubel eine intellektuelle Distanz aufzubauen, die es erlaubt einzuschätzen, welche Intrigen gerade laufen und wie man mit ihnen wohl am ehesten zurechtkommt. Sich

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zu entziehen zu wissen, heißt auch, die Dinge nicht persönlich zu nehmen, obwohl sie messerscharf auf die Person zurechnen. Es ist der Hof, der beobachtet, nicht der Einzelne. Also muss man den Hof und erst in zweiter Linie den Einzelnen, beobachten, wenn man sich klug verhalten will. Auf diese Tradition einer Klugheitslehre beziehe ich mich und ich kann nur empfehlen, sich diese Texte anzuschauen, die zu Zeiten entstanden, als die Verhältnisse noch ein klein wenig übersichtlicher waren, als sie es heute sind, ihre Dynamik jedoch bereits dieselbe war. JO: „Beobachter unter sich?“1 DB: Ja. JO: In Anbetracht der höfischen Rhetorik würde man in Österreich sagen: Ich darf mich zurückziehen. DB: Und ich muss stehen bleiben. JO: Ja, ganz genau. Sie müssen stehen bleiben. Vielen Dank für das Interview! DB: Sehr gerne!

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Beobachter unter sich ist der Titel eines Buches von Dirk Baecker (Berlin: Suhrkamp, 2013).

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Konflikte im Umgang mit Diversität Friedrich Glasl

Seit etwa hundertfünfzig Jahren finden in Europa radikale gesellschaftliche Veränderungen statt. Anstelle der Jahrhunderte währenden Stabilität von Herrschaftsstrukturen herrscht seither die Dynamik turbulenten Wandels vor, wodurch die nächste Zukunft unberechenbar geworden ist. Während früher Erfahrungen aus der Vergangenheit an die Jungen weitergegeben werden konnten, müssen wir jetzt – wie Claus Otto Scharmer betont – aus der Zukunft und für die Zukunft lernen (Scharmer 2009). Dafür sind rationale Berechnungen nicht wirklich hilfreich, sondern es sind Intuitionen und mutige Querdenk-Ansätze gefragt. Es lösen sich alte Muster einer Kultur auf, in der Blutsverwandtschaft – im Kleinen in der Familie wie im Großen in einer ethnischen Gruppe – für die Zusammengehörigkeit bestimmend war und in der traditionelle gesellschaftliche Normen als selbstverständlich gelebt wurden. An ihre Stelle kommt nach und nach eine Kultur des Individuums, in der die „Wahlverwandtschaft“ von Menschen mit ähnlichen Werten und Auffassungen für den sozialen Zusammenhalt entscheidend ist. Die Schwierigkeit besteht aber eigentlich darin, dass eine Orientierung nur schwer gefunden werden kann, weil sich vieles gleichzeitig ändert und es dabei keine Homogenität der Auffassungen gibt, die in ihrer verwirrenden Vielfalt inneren Halt bieten könnte. Die unterschiedlichsten Haltungen und Überzeugungen bestehen nebeneinander und beanspruchen Gültigkeit. Durch die global agierende Wirtschaft und die großen Migrationsbewegungen der letzten Dezennien begegnen und durchdringen einander Kulturen, die früher Kontinente weit auseinander lagen. An welche Regeln sollen wir uns halten? Was ist in der Situation noch die eigene Überzeugung, das eigene Wissen und Können wert? © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Wesenauer et al. (Hrsg.), Wie Governance gelingen kann, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24114-8_5

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Ist Diversität ein Problem oder eine Ressource? Das alles hat weitreichende Konsequenzen. Denn Kulturen und Strukturen unserer Gesellschaft sind nicht mehr „gottgegeben“ oder von souveränen „Herrschern aus Gottes Gnaden“ gesetzt, sondern sind von uns selbst zu schaffen. Der Souverän sind wir, das Volk, alle Individualisten miteinander. Und das geht nur in Auseinandersetzungen mit der Diversität von Wirklichkeitsbildern und Zielvorstellungen. Es ist der Preis der Demokratie, dass wir Spannungen und Differenzen aushalten müssen und respektvoll das Anders-Sein anderer Individualisten würdigen – nicht nur ertragen! Die Tatsache der Diversität liegt auch meinem Verständnis eines „sozialen Konflikts“ zugrunde: Differenzen zwischen Menschen, Gruppen, Völkern sind an sich noch nicht ein sozialer Konflikt (im Unterschied zu einem innerseelischen Konflikt) – dabei ist es gleichgültig, ob es sich bei den Differenzen bloß um geringe Meinungsunterschiede handelt oder um gegensätzliche Ideen und Werte, die einander auszuschließen scheinen. Es kommt vielmehr darauf an, wie die Menschen mit den Unterschieden umgehen, ob daraus ein Konflikt entsteht. Schätzen sie die Unterschiede als Erweiterung ihrer eigenen Sichtweise bzw. Ziel- und Werteorientierung? Oder fühlen sie sich durch das Ablehnen ihrer Position als Menschen oder Gruppen abgelehnt und in ihrem Selbstwert gekränkt? Ihr Verhalten kann nämlich ein wertschätzender Diskurs sein, vielleicht ein zähes Aushandeln eines Kompromisses. Erst wenn es ein Kampf ist, in dem es um Sieg oder Niederlage geht, erst dann ist ein sozialer Konflikt gegeben. Im sozialen Miteinander fällt es oft schwer, mit Diversität konstruktiv umzugehen, obwohl Verschiedenheit in vielen Lebensbereichen eine unabdingbare Notwendigkeit ist. In der Natur besteht alles Leben aus Differenzen, die als Polaritäten einander ergänzen und bedingen. In der Pflanzen- und Tierwelt und bei uns Menschen ist dies die Polarität von männlichen und weiblichen Qualitäten (physiologisch und psychologisch), von Säuren und Basen, Wachsen und Vergehen, Schlafen und Wachen, Spannung und Entspannung. Die unterschiedlichen Organe in Tier oder Mensch haben jeweils ihre Spezialaufgabe und Beschaffenheit, die erst im Zusammenwirken einen funktionstüchtigen Organismus bilden. – Im Sozialen ist es grundsätzlich nicht anders: Sinn und Zweck einer jeden Organisation ist, diverse Fähigkeiten zur Synergie zu führen, um eine Leistung zu ermöglichen, die der Einzelne gar nicht erbringen könnte. Differenzierung und Integration sind das Um und Auf jeder Arbeitsteilung, und diese Polarität ermöglicht durch Integration einen Mehrwert, den eine Fachdisziplin allein nicht schaffen würde. Auch der Blick auf das makro-soziale System eines Staates lässt deutlich erkennen, dass nur die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen politischen Auf-

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fassungen Vitalität und Innovationskraft ermöglicht. Deshalb zerbrechen Regierungen, die Kritik und konkurrierende Ideen unterdrücken, früher oder später an der eigenen Starrheit, wie dies die historischen Beispiele des südafrikanischen Apartheidsregimes, der ideologisch-dogmatischen Sowjetunion und der DDR zeigen. Jede reife Demokratie lebt vom respektvollen Zusammenspiel von Regierung und Parlament, wenn in der Volksvertretung Raum für Meinungsvielfalt besteht und der Opposition eine unverzichtbare Funktion zuerkannt wird. Dennoch tun sich Führungskräfte in der Politik und in der Wirtschaft oft schwer, Diversität und Differenzen als Ressource zu sehen und zu nutzen, wenn sie sich durch andere Ansichten in ihren eigenen Auffassungen in Frage gestellt empfinden. Doch dabei ist Diversität nicht das eigentliche Problem, sondern nur die Art und Weise, wie mit ihr umgegangen wird. Wenn eine Organisation Diversität abschaffen, negieren, unterbinden, verbieten oder unterdrücken wollte, würde sie ihre eigene Existenzgrundlage zerstören. Was sind nun wichtige Diversitäten in Organisationen, die zu einer guten Synthese zu bringen sind und zum Konfliktgegenstand werden können, wenn dies nicht gelingt?

Diversitäten in Organisation Funktionale Diversität ist mit jeder Arbeitsteilung gegeben, das bringt Sinn und Zweck einer Organisation nun einmal unausweichlich mit sich. In jeder Organisation ist sowohl formal wie auch informell geregelt, welche Funktionen zu erfüllen sind: Planung, Ausführung, Kontrolle, Kostenbewachung, Qualitätssicherung usw. Dies sind funktionsbedingte Diversitäten, die notwendig sind und einander ergänzen müssen (Simon 2010, Ballreich & Glasl 2011, S. 175ff; Faller, Fechler & Kerntke 2014). Sie können zum Konfliktpotenzial werden, wenn sie nicht einsichtig und klar und in ihrer Sinnhaftigkeit definiert worden sind. Dazu kommt noch die Art und Weise, wie die Funktionsinhaber ihre Aufgaben aufgrund ihrer Persönlichkeit interpretieren und ausüben – z. B. streng oder penetrant belehrend oder kollegial hilfsbereit – und wie sich das auf die Beziehung mit anderen Kolleginnen und Kollegen auswirkt. Was jemand aufgrund der Funktionsumschreibung und der Zielvorgaben tut, kann dann empfunden werden, als wäre das die persönliche Marotte des Funktionsinhabers. Der Konflikt wird dann „personifiziert“, d. h. dem Charakter einer Person zugeschrieben und ihr persönlich übelgenommen. Die funktionale Diversität ist also die eine Quelle möglicher Konflikte. Diversität von Haltungen, Fähigkeiten, persönlichen Werten und Überzeugungen sind eine zweite Quelle potenzieller Konflikte. Menschen bringen in eine

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Organisation ganz unterschiedliche Haltungen und Fähigkeiten ein, die zu Spannungsfeldern werden können. Es gibt eine Diversität von Diversitäten! Auf einige besondere Differenzen wird hier in kompakter Form eingegangen: 1. In verschiedenen Entwicklungsphasen des Lebens wandelt sich mit dem Älterwerden, durch Lebenserfahrung und Reifung die Sicht auf das eigene Leben und auf die Mitmenschen; 2. Menschen haben aufgrund ihres Temperaments unterschiedliche Problemlösungsmuster; 3. kognitive Fähigkeiten können in unterschiedlichen Denkstilen zur Entfaltung kommen; 4. eine wichtige Führungskompetenz ist der Umgang mit der Zeit; 5. Handlungsqualitäten können sich darin zeigen, wie Polaritäten von Führungsaufgaben gemeistert werden; 6. Im Zuge der globalen Verflechtungen der Wirtschaft und der Politik haben heute Menschen miteinander zu kooperieren, die durch unterschiedliche Kulturen geprägt worden sind. Dies sind nur einige ausgewählte Spannungsfelder, die häufig zu schaffen machen. Auf sie gehe ich in den nächsten Abschnitten näher ein.

Verschiedene Entwicklungsphasen eines Menschen Im Laufe des Lebens eines Menschen ändert sich dessen Sicht auf die Welt. Die Entwicklungspsychologie charakterisiert zusätzlich zu den „Jahrsiebten“, die auch biologisch bedingt sind, drei Hauptabschnitte des Lebens: als „rezeptive Phase“ (von der Geburt bis zum Alter von ca. 21 Jahren), als „expansive Phase“ (von ca. 21 bis 42 Jahren) und als „soziale Phase“ (ab einem Alter von ca. 42).1 In der „rezeptiven Phase“ geht es um Lernen und das Gewinnen eigener Erfahrungen. Was nicht selbst empfunden und durchlebt worden ist, hat keine nachhaltige persönlichkeitsformende Wirkung. In der frühen Kindheit wird durch Nachahmen gelernt, im Schulalter durch den Respekt vor einer Autorität und dem Nachstreben von Vorbildern und mit der Pubertät wird der eigene Gefühlskosmos entdeckt und ausgelotet. Nachdem Distanz zur elterlichen Prägung geschaffen worden ist, werden mit ca. 18 Jahren Lebensentwürfe gemacht, die sich an Idealen 1

Siehe für Details die umfassenden Darstellungen von Lievegoed (1991), Treichler (1981), Borysenko (2001).

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oder Idolen orientieren und bei denen sich ein Engagement für eigene Werte abzeichnet. Auf Akzeptanz und Rückmeldung von Gleichaltrigen wird größter Wert gelegt. In der „expansiven Phase“ geht es im Jahrsiebt 21-28 darum, im Experimentieren durch Erfolge und Fehler zum Erkennen der eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu finden. Emotionen dominieren vor der Ratio. Direkte, zeitnahe und ehrliche Rückmeldungen sind deshalb sehr wichtig, wenngleich sie als sehr schmerzlich empfunden werden können. Nach der Emotionalität der Zeit von 21-28 beginnt nun die Vorherrschaft des Rationalen. Genaue Analysen der Situation, das Nutzen von Statistiken, nüchternes Planen, Kalkulieren von Risiken und Erfolgschancen, pragmatisches Handeln und systematisches Auswerten der Ergebnisse sind starke Bedürfnisse. Selbstbeurteilung wird wichtiger als das Feedback von anderen. Nachdem ein Mensch in dieser Phase seine Position in der Gesellschaft geschaffen hat, kommt es trotz äußerer Erfolge gegen Ende dieser Phase oft zu einer beunruhigenden Krise, der vielzitierten „Midlife-Crisis“. In ihr stellen sich Fragen nach der im Leben erreichten Rolle sowie der Authentizität und Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns. Die „soziale Phase“ beginnt, wenn die Lebensmitte-Krise gut bewältigt werden konnte und ein „innerer Umbau“ gelungen ist. Dann werden in den Jahren 42-49 oft Pionier-Initiativen für berufliche oder private Neuerungen ergriffen, während das bloße Ändern der äußeren Umstände eventuell nur eine Flucht vor der tieferen Auseinandersetzung mit sich selbst sein könnte. Das Jahrsiebt nach 49 zeichnet sich durch eine Orientierung auf umfassende und langfristige Problemlösungen aus. Wenn verschiedene Denkweisen bisher als unvereinbar betrachtet worden sind, wird jetzt eine Meta-Sicht auf berufliche und gesellschaftliche Herausforderungen angestrebt und eine Synthese von vorhin als gegensätzlich empfundenen Sichtweisen. Die eigene Position auszubauen und zu sichern ist weniger wichtig als die Förderung der jüngeren Generation und das Bemühen um Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit. Es werden Dinge eingeleitet, auch wenn sie nur langfristig den gewünschten Erfolg bringen und andere Menschen dafür Lob und Anerkennung ernten dürfen. Diese kurze Charakterisierung lässt erkennen, dass es im Laufe der Reifung – wenn diese nicht unterbunden oder massiv gestört wird – um eine Verschiebung von Wertigkeiten und Erwartungen geht. Menschen stellen in jeder Entwicklungsphase andere Ansprüche an sich selbst und an Kolleginnen/Kollegen oder Führungskräfte. Wer als älterer Partner die früheren Entwicklungsabschnitte selber schon durchlebt und positiv bewältigt hat, kann leichter Verständnis aufbringen für die Haltung von Menschen in anderen Lebensphasen als jemand, der sich noch mitten in ihnen befindet. Es ist jedoch für die betroffene Person und deren Um-

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gebung problematisch, wenn in einer Phase die besonderen Qualitäten nicht ausgelebt werden konnten und später versucht wird, dies nachzuholen. Wenn dies nicht mehr zum physischen Alter passt, kann dies doch befremdend wirken. Für eine fruchtbare Zusammenarbeit ist deshalb entscheidend, ob die besonderen Qualitäten jeder einzelnen Entwicklungsphase in ihrem Wert anerkannt und als Ressource angesprochen werden. Dadurch können Einseitigkeiten rechtzeitig erkannt und ausgeglichen werden. Projekte gelingen dann gut, wenn jugendliche Experimentierfreude der einen Person durch überlegtes, planmäßiges Vorgehen der älteren Person ergänzt und in der Waage gehalten wird und das Ganze durch Altersweisheit in einen langfristig relevanten Rahmen gestellt wird. In den Sechziger- und Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts setzten viele Unternehmen auf die Fähigkeiten von Menschen in der expansiven Phase. Und sie betrachteten Mitarbeiter/innen, die älter als 45 Jahre waren, als „zum alten Eisen gehörig“. Das hatte wegen des Pragmatismus und der kurzfristigen Erfolgsorientierung grobe Einseitigkeiten zur Folge, die oft erst später erkennbar waren als Umweltschäden und als Zerstörung der Generationen-Solidarität. Denn die Lösung der dadurch geschaffenen gesellschaftlichen Probleme wurde verantwortungslos auf die nachfolgenden Generationen abgeschoben. Heute hat sich die Einsicht herumgesprochen, dass die phasentypischen Haltungen und Fähigkeiten einander ergänzen sollten, um ausgewogen entscheiden und handeln zu können. Sie sind eine Ressource, wenn füreinander Verständnis besteht und keine Seite Ausschließlichkeit beansprucht, sondern erkennt, was ihre eigene Qualität ist und worin auch deren Einseitigkeit bestehen könnte. Um die richtige Balance zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig zu finden, ist die Methode des „Wertequadrats“ von Friedemann Schulz von Thun zu empfehlen (Schulz von Thun 2015; Pörksen & Schulz von Thun 2014, S. 115ff). Mit dem Wertequadrat wird deutlich, dass es zu jeder Tugend eine komplementäre „Schwestertugend“ gibt, die je nach den situativen Anforderungen einmal mehr und einmal weniger Raum bekommen müsste, denn es geht um Polaritäten. Weiter unten gehe ich darauf noch ein.

Die Diversität der Temperamente Wenn unterschiedliche Temperamente aufeinandertreffen, kann dies zu Spannungen führen. Vielen Menschen fällt es schwer, mit Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten, die ein konträres Temperament aufweisen, weil sie sehr unterschiedlich empfänglich sind für Reize ihrer Umgebung und darauf erstaunlich anders reagieren können. Die klassische Lehre von den Temperamenten, die

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durch neueste Forschungen wieder neu bestätigt worden ist, unterscheidet die vier Grundtypen: 1) Choleriker/in, 2) Melancholiker/in, 3) Sanguiniker/in, 4) Phlegmatiker/in. Im zwanzigsten Jahrhundert hat die Naturwissenschaft diese Typologie verworfen, weil sie im antiken Griechenland mit der Dominanz von vier verschiedenen „Säften“ in Verbindung gebracht wurde (Blut, Galle etc.), die bei den vier Typen physiologisch nicht in signifikanter Weise festgestellt werden konnten. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die „Säfte“ von den Hippokratikern überhaupt nicht materialistisch-stofflich gemeint waren (Berner-Hürbin 1997, S. 25ff und S. 299ff), sondern als verschiedene Energie-Formkräfte verstanden wurden, wofür die Bezeichnung als „Säfte“ nur metaphorisch gemeint war. Durch die materialistische Interpretation war die Säftelehre missverstanden und somit trivialisiert worden. Reizempfänglichkeit

Abb. 1

stark

gering

1) Choleriker/in sehr sensibel, feuriges und schnelles Agieren, macht Druck

2) Melancholiker/in nimmt wenig wahr aber nimmt es zu Herzen, reagiert stark und nachhaltig

schwach

Reaktionsfähigkeit

hoch

3) Sanguiniker/in nimmt alles um sich ständig wahr, flüchtig und wenig ausdauernd in der Aktion

4) Phlegmatiker/in nimmt schwach wahr, zeigt nur wenige bzw. schwache aber ausdauernde Reaktionen

Die vier Temperamente

Das Schema zeigt, wie sich die vier Temperamente hinsichtlich der zwei Hauptmerkmale Reizempfänglichkeit und Reaktionsfähigkeit unterscheiden. Menschen mit hoher Reizempfänglichkeit nehmen schon schwache Signale gut bzw. intensiv wahr, wie dies bei Cholerikerinnen/Cholerikern und Sanguinikerinnen/Sanguinikern der Fall ist. Sie sind eher der Gefahr ausgesetzt, dass sie auf jeden noch so geringen Reiz eingehen, während Menschen mit geringer Reizempfänglichkeit vieles erst wahrnehmen, wenn es besonders kräftig, laut, grell, spektakulär oder wiederholt auftritt, wie dies für Melancholiker/innen und Phlegmatiker/innen typisch ist. Das andere Hauptmerkmal ist die Reaktionsfähigkeit. Menschen mit starker Reaktionsfähigkeit werden impulsiv aktiv, wobei Choleriker/innen schnell, feurig und heftig agieren und sich vielleicht nach einiger Zeit wieder anderen Dingen zuwenden, während Melancholiker/innen zunächst etwas verhalten reagieren, dann aber stark und mit einer beachtlichen Beständigkeit. Bei Menschen mit

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schwacher Reaktionsfähigkeit gibt es große Unterschiede, weil Sanguiniker/innen zwar relativ schnell, aber flüchtig und wenig ausdauernd reagieren, im Unterschied zu Phlegmatikerinnen/Phlegmatikern, die schwache, jedoch recht konstante Reaktionen zeigen, also lange bei einer Sache bleiben können. In der schematischen Gegenüberstellung werden unterschiedliche Qualitäten eines jeden Temperaments sichtbar, die sich je nach der Aufgabenstellung als Stärken oder Schwächen erweisen. Sanguinikerinnen/Sanguinikern fällt es leicht, vielfältige innovative Impulse aufzugreifen und kreative Ideen zu generieren; aber es ist nicht ihre Sache, längere Zeit mit Routineaufgaben zu verbringen. Sie müssen vielmehr darauf achten, sich nicht zu verzetteln und hinter jeder Neuigkeit herzulaufen. Choleriker/innen bewähren sich als Projektleiter/innen, deren Begeisterung ansteckend wirken kann; die negative Kehrseite ist, dass sie dazu neigen können, ihre Ideen durchzudrücken und auf Empfindlichkeiten anderer Menschen weniger Rücksicht zu nehmen. Die besondere Stärke von Melancholikerinnen/Melancholikern liegt in der Fähigkeit, herausfordernden Dingen gut auf den Grund zu gehen und eigene Interessen dabei zurückzustellen; ihr Grübeln und die Neigung, primär Probleme und nicht Chancen zu sehen, kann Irritationen auslösen. Phlegmatiker/ innen lieben es, lange an einer Sache dranzubleiben und sie von allen Seiten ruhig, gründlich und genau zu bearbeiten, während Sanguiniker/innen und Choleriker/ innen dafür oft nicht die nötige Geduld aufbringen können. An dem Schema lässt sich auch erkennen, dass die Leichtigkeit und Frohnatur der Sanguiniker/innen und der Ernst und die Schwere der Melancholiker/innen gegenseitig als Antipoden erlebt werden. Das gilt auch für die Gegensätze zwischen den Cholerikerinnen/Cholerikern, die voller Tatendrang sind, und den Phlegmatikerinnen/Phlegmatikern, die nach dem Motto „Gut Ding braucht Weile“ leben. Aber auch hier ist das Wissen um die verschiedenen Dispositionen hilfreich, um die Stärken eines jeden Temperaments zu würdigen und gleichzeitig Verständnis für die Schwächen zu haben, welche die Kehrseiten der Medaillen sind. Wenn das bei der Zuteilung von Aufgaben beachtet wird, kommt es allen Beteiligten zugute.

Unterschiedliche Denkstile Menschen können sehr unterschiedliche Denkgewohnheiten haben, wenn sie die Lösung von Problemen versuchen. Dazu gibt es viele Spielarten, die sich zumeist als Polaritäten darstellen lassen. Eine wichtige Unterscheidung ist, ob wir an Analysen oder Entscheidungen mit dem „mikroskopischen“ oder „makroskopischen Blick“ herangehen, die Joel de Rosnay (1977) einander gegenüberstellt:

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Tab. 1

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Unterschiedliche Denkstile

MIKROskopischer Blick betrachtet die Elemente isoliert Präzisierung ohne Sicht aufs Ganze geht vom Detail aufs Ganze denkt in linearer Kausalität verändert bei Versuchen ein Element denkt monodisziplinär anerkennt quantitativ-rationale Methoden

MAKROskopischer Blick betrachtet Beziehungen zwischen Elementen erkennt Ganzes, Muster, Zusammenhänge geht vom Ganzen aufs Detail denkt in zirkulärer Kausalität verändert bei Versuchen ganze Cluster von Elementen denkt multidisziplinär und interdisziplinär anerkennt wissenschaftliche und künstlerische Methoden

Eine rationale und mikroskopisch detaillierte Denkart kann genau richtig sein für das Entwickeln kurzfristiger Ziele. Sie ist jedoch ungeeignet, wenn es um mittel- oder langfristige Ziele geht. Denn langfristige Ziele sind qualitativ anders als „kurzfristige Ziele mal 3“! Für diese ist ein makroskopischer Blick erforderlich. Bei Entscheidungen, die über 2 Jahre gehen, wird eine detaillierte quantitative Präzisierung der Ziele problematisch, weil zu viele Unsicherheiten bestehen. Viel besser ist es, qualitative Aussagen zu machen, Trends und deren Dynamik zu beschreiben und Spielräume zu belassen. Dafür wird die makroskopische Art des Schauens benötigt. Der niederländische Psychologe Jaap Hollander hat hierzu die „Metaprofilanalyse (MPA)“ vorgestellt, die als „Röntgenbild des Denkens“ signifikante Unterschiede von Denkstilen in 13 Dimensionen erfasst. Beispielsweise bedeutet die Polarität „weg von – hin zu“ (Dimension 2), dass die einen Menschen mehr problemvermeidend denken, während die anderen lösungsorientiert vorgehen. Die Polarität „global – spezifisch“ (Dimension 8) besagt, dass die einen sehr auf das Große und Ganze schauen, andere sich hingegen auf Details konzentrieren; dies entspricht der Polarität makroskopisch und mikroskopisch. Oder die Polarität „Konzept – Nutzen“ (Dimension 10) bedeutet, dass jemand Denkgebäude errichtet, die an sich logisch stimmig und beeindruckend sind, während ein anderer primär an einer Lösungsidee arbeitet, die konkreten Nutzen verspricht und intellektuell weniger attraktiv ist. Weitere Polaritäten sind u. a. „Zukunft versus Vergangenheit“, „proaktives versus reaktives Handeln“ etc., die ihren Niederschlag auch im Wahrnehmen der Hauptfunktionen des Führens finden (siehe dazu unten). Auch hier kann das Konfliktpotenzial entschärft werden, wenn wir unseren eigenen Denkstil kennen und uns bewusst sind, dass unser Vorgehen nicht die Norm für alle ist, sondern dass es auch ganz anders sein könnte. Probleme entste-

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hen dann, wenn wir unsere eigene Präferenz als Selbstverständlichkeit verteidigen. Es ist hilfreich, sich das Denken möglichst auf Skalen vorzustellen und die eigene Position etwas außerhalb der Mitte befindlich, und dann zu fragen, wie wohl ein konträres Denken aussehen könnte. Damit werden wir uns der Relativität des eigenen Denkstils bewusst und können uns überlegen, für welche Fragestellungen ein anderes Denken auch zweckdienlich sein könnte, vielleicht sogar mehr als unseres. Wenn wir bei Streitgesprächen anderer Menschen merken, welchen Denkstil sie vertreten, könnten wir „Übersetzerdienste“ anbieten und den betroffenen Personen bewusst machen, was für ihren Denkansatz charakteristisch ist.

Der Umgang mit der Zeit als „Zeitspannen-Fähigkeit“ Der englische Psychologe Elliot Jaques (1951, 1962) hat bei Untersuchungen mit Tausenden von Führungskräften entdeckt, dass ihre Qualifikation für untere, mittlere oder höhere Managementfunktionen wesentlich von ihrer Fähigkeit abhängt, für bestimmte Zeiträume realistisch planen zu können, und dafür die Umsetzung ihrer Ziele und Pläne verbindlich zu betreiben und die Unsicherheit so lange auszuhalten, bis eine Ergebnisrückmeldung die Richtigkeit ihrer Entscheidung bestätigt. Die Länge dieser Gesamt-Zeitspanne nennt er „Time-Span-Capacity“, d. h. „Zeitspannen-Fähigkeit“. Für verschiedene Management-Instrumente, die im folgenden Schema gezeigt werden, sind unterschiedliche Zeitspannen-Fähigkeiten erforderlich, damit sie realistisch und verbindlich eingesetzt werden. Das heißt aber nicht, dass sie diese dann stur verfolgen. Auch wenn Menschen z. B. mit einer Zeitspannen-Fähigkeit von 2 Jahren ihrem strategischen Ziel treu bleiben, können sie im Einsatz der Weg-Instrumente durchaus flexibel sein. Tab. 2

Zeitspannen-Fähigkeit nach E. Jaques

Zeitspanne 1 Monat 3-4 Monate 8 Monate 1 Jahr 2 (4-6) Jahre 10-12 Jahre 28-30 Jahre

Ziel-Instrumente Monatsziele, „targets“ Quartalsziele, Etappenziele Meilensteine, periodische Zielvereinbarung Jahresziel, „objectives“ Strategische Ziele, Portfolio Leitbild, langfristige Unternehmensziele Vision, Fernziele, Goals, Purpose, Mission

Weg-Instrumente Aktivitätenplan, Maßnahmenplan Aktionsplan Aktionsprogramm Jahresprogramm, Jahresbudget Strategie, strategischer Plan Leitsätze, Policy Unternehmensphilosophie

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Jaques hat auch herausgefunden, dass erst ab einem Alter von ca. 24 Jahren die wirkliche Zeitspannen-Fähigkeit eines Menschen gut gemessen werden kann. Und er hat beobachtet, dass mit dem Übergang in ein nächstes Jahrsiebt, d. h. rund um das 28., 35., 42. oder 49. Lebensjahr, eine Entwicklung in die nächsthöhere Kategorie möglich ist – vorausgesetzt, dass Menschen nicht auf Grund einer beengenden Funktionsumschreibung oder durch einschränkendes Führungsverhalten ihrer Vorgesetzten an der weiteren Entfaltung behindert oder sogar zurückgeworfen werden. Etwa mit dem 24. Lebensjahr kann sich herausstellen, dass jemand über einen „Start-Time-Span“ von 4 Monaten verfügt, der im 28. Lebensjahr zu einem Time-Span von 8 Monaten wächst und rund um das 35. Lebensjahr zu 1 Jahr. Vielleicht hat jemand damit seinen Plafond erreicht oder entwickelt sich dann noch weiter. Wenn beispielsweise eine vierundzwanzigjährige Frau über einen „StartTime-Span“ von 8 Monaten verfügt, kann ihre Zeitspannen-Fähigkeit mit 28 auf 1 Jahr, mit 35 vielleicht auf 2 Jahre und unter günstigen Bedingungen mit 42 zu 12 Jahren heranreifen und vielleicht dann ihren Zenit erreicht haben. In Organisationen entstehen oft Spannungen, wenn das obere Management nur noch in Strategien und Unternehmenspolitik denkt und spricht und vergisst, diese für Menschen mit kürzerer Zeitspannen-Fähigkeit zu konkretisieren. Dann empfinden die Mitarbeiter/innen weiter unten in der Hierarchie die kommunizierte Strategie und Policy als „leeres Gerede realitätsferner Theoretiker/innen“. Und umgekehrt ist das höhere Management verärgert über das „kleinkarierte Denken der Leute da unten“. In diesem Fall sind Konflikte die Folge fehlender Verbindungsglieder. Spannungen dieser Art treten nicht auf, wenn hierarchie-abwärts oder -aufwärts auf die passende „Übersetzung“ geachtet wird. Dieses Konfliktpotenzial hängt mit den Denkstil-Dimensionen „global – spezifisch“ eng zusammen, bzw. mit der „makroskopischen oder mikroskopischen“ Sichtweise.

Polaritäten wichtiger Führungsaufgaben Bernard Lievegoed (1974, S. 85) hat an einem Modell von Peter Schlenzka (1959) die „6 Kernaufgaben der Führung“ erkannt, dass es dabei eigentlich um 6 Funktionen geht, die als 3 Polaritäten zueinanderstehen und als siebte Aufgabe jeweils zu einem integrativen Ausgleich gebracht werden müssen: 1. Ziele setzen 2. Unternehmenspolitik 3. Planen

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4. 5. 6. 7.

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Organisieren Innovieren Kontrollieren Ausbalancieren von 1.+6., 2.+5., 3.+4. und alle integrieren

Zum besseren Verständnis bedarf es einiger Erläuterungen: Funktion 1 umfasst das Entwickeln von Visionen, Leitbildern, kurz-, mittelund langfristigen Zielen, Funktion 6 ist vor allem das Überprüfen und Evaluieren der Ergebnisse, die mit den Zielen erreicht werden sollten – es geht bei Funktion 1 und Funktion 6 um die Spannung von Zukunft und Vergangenheit. Funktion 2 betrifft Strategie- und Konzeptentwicklung und das Stiften von Übersicht, Zusammenhang und Dauer; dem steht Funktion 5 gegenüber, bei der es um Innovieren geht, und das bedeutet immer Mut zur Diskontinuität, zum Experiment. Hier handelt es sich um die Spannung von globalem Denken versus spezifischem Denken. Funktion 3 bedeutet, dass Initiativen ergriffen werden und die Umsetzung konkretisierend vorausgedacht und geplant wird; mit Funktion 4 wird dies aufgegriffen und in die bestehende Organisation eingefügt, indem dafür dauerhafte Organe und Verfahren geschaffen werden. Dieses Spannungsfeld ist als Polarität von proaktivem versus reaktivem Handeln zu verstehen. Auch hier ist unschwer zu erkennen, dass es nicht um ein Entweder-Oder geht, weil nicht die eine Funktion, die andere ausschließt, sondern immer zu beurteilen ist, in welchem Maße und in welcher Form eine Funktion zu verwirklichen ist; jede Einseitigkeit hat ihren Preis. Gleichwohl wird auch deutlich, dass es nicht um einen Kompromiss geht, bei dem von jedem Pol ein wenig berücksichtigt wird. Vielmehr ist immer eine Balance gefragt, eine doppelte Stimmigkeit in dem Sinne, wie Schulz von Thun sie generell umschreibt (Pörksen & Schulz von Thun 2014, S. 72ff): Das Verhältnis der Pole zueinander soll wesensgemäß sein, d. h. stimmig mit dem Werteverständnis der handelnden Person bzw. der Organisation, und es soll situationsgerecht sein, also den Erfordernissen der konkreten, gegenwärtigen Situation entsprechen. Die von Lievegoed beschriebenen Funktionen-Polaritäten sind integraler Teil eines umfassenden „Polarity-Managements“, das ich in Bezug auf Organisationen für jede Entwicklungsphase ausführlich dargestellt habe (Glasl & Lievegoed 2016, S. 187ff).

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Unterschiedliche Kulturprägungen Kulturen bestehen aus impliziten und expliziten Werten, aus Geboten und Verboten, aus Sichtweisen und Grundhaltungen, die durch Bildungssysteme, Gewohnheiten und Rituale weitergegeben werden und deren Befolgung durch positive oder negative Sanktionen – Belohnung oder Bestrafung – gesichert wird. Spannungen entstehen deshalb, weil diese Normen von Menschen der einen Kultur als „Selbstverständlichkeit“ gelebt werden und sie sich selten dessen bewusst sind, dass für Menschen aus anderen Kulturen ganz andere „Selbstverständlichkeiten“ bestehen könnten. Wenn dann die gegenseitigen Erwartungen bezüglich des Rollenverhaltens nicht übereinstimmen oder wenn für bestimmte Kulturen etwas tabu oder schambesetzt ist, was in einer anderen Kultur nicht als anstößig gilt, dann kommt es zu Irritationen. Und der Grund für das als normwidrig erlebte Benehmen wird dann diesem Menschen als persönliches Motiv unterstellt, so dass kollektive Kulturmuster den Individuen personifizierend zugeschrieben werden. Das geschieht häufig, da Kulturen die Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung von Menschen aus anderen Kulturen in hohem Maße bestimmen – was dann zu fatalen Karikaturen führen kann, wie immer wieder Pogrome bewiesen haben. Die in der Fachliteratur gängige Unterscheidung der folgenden Kulturtypen (Adler 1997, Godykunst & Ting-Toomey 1988, Hall 1981, Hofstede 1991) kann dazu beitragen, den Hintergrund eines befremdenden Verhaltens besser zu verstehen: • Kollektivistische oder individualistische Kultur: In einer kollektivistischen Kultur steht Sorge um die Familie, um die Sippe oder das Volk weit über den Interessen des Individuums. Hingegen spielen in einer individualistischen Kultur persönliche Interessen, Denkweisen und Gefühle die größte Rolle, womit auch die Bereitschaft einhergeht, persönlich Verantwortung für die Folgen seines Tuns zu übernehmen. • Kulturen mit hoher oder geringer Machtdistanz: In der erstgenannten Kultur gilt es als akzeptiert, dass zwischen Ständen, Klassen oder Ethnien große Unterschiede an Ansehen und Macht bestehen, während in anderen Kulturen Wert gelegt wird auf ein möglichst geringes Machtgefälle. • Kulturen mit maskuliner oder femininer Werteorientierung: Bei maskuliner Orientierung genießt kämpferisches und bestimmendes Verhalten mit starker Betonung von Sachlichkeit hohe Anerkennung, im Unterschied zu femininer Orientierung, in der pflegendes Verhalten und die Sorge um gutes soziales Klima größte Wertschätzung genießen.

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• Kulturen mit geringer oder großer Unsicherheitsvermeidung: Die erstgenannte Kultur stimuliert und belohnt riskantes Verhalten, während die andere Kultur großen Wert legt auf Sicherheit. • Kulturen mit Langzeit- oder Kurzzeit-Orientierung: Chinesische Untersuchungen (Chinese Culture Connection 1987) haben ergeben, dass die eben angeführten Unterscheidungen von Kulturtypen einer westlichen Kulturorientierung entstammen, in der die Zeitdimension keine Beachtung findet. Dies ist Ausdruck einer Kultur mit Kurzzeit-Orientierung, in der es um kurzfristige Erfolge geht, von der sich vor allem asiatische Kulturen unterscheiden, die traditionell mit einer Langzeit-Orientierung die Interessen kommender Generationen berücksichtigen und somit für Nachhaltigkeit sorgen. In realen Kulturen tritt oft eine Verknüpfung mehrerer dieser Kulturdimensionen auf: Für indische Kulturen (mit regionalen Unterschieden) ist charakteristisch, dass sie kollektivistisch sind, hohe Machtdistanz akzeptieren (Kastenwesen und Feudalismus) und von einer Langzeit-Orientierung bestimmt werden; hingegen ist z. B. für die Niederlande eine individualistische Kultur bezeichnend, in der geringe Machdistanz und hohe Risikofreude geschätzt werden. Auch hier ist zu beachten, dass die Unterscheidung von Kulturtypen nicht zu Stereotypen in der Beurteilung individueller Mitglieder einer bestimmen Herkunftskultur führen darf. Denn das Kernproblem interkultureller Konflikte ist gerade, dass gegenseitig Zerrbilder geschaffen werden, mit denen das kollektive Klischee die Sicht auf das Individuum verstellt. Es wäre ja beispielsweise durchaus möglich, dass ausgerechnet die Person, mit der wir konkret zu tun haben, die traditionellen Werte ihrer kollektivistischen Kultur ablehnt und eine ausgeprägte individualistische Haltung an den Tag legt. Deshalb kann das Wissen um bestimmte Kulturmuster nur den Stellenwert einer ersten Hypothese zum Verstehen eines Menschen haben, die jedoch ständig hinterfragt, überprüft und korrigiert werden muss. Heute geht es darum, dass viele Menschen interkulturelle Kompetenz erwerben, weil es in vielen alltäglichen Lebensbereichen Begegnungen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen gibt. Interkulturelle Kompetenz (Ting-Toomey 2001, Cnyrim 2016) besteht vor allem aus folgenden Kompetenzfeldern: • Wissen über andere Kulturen: Kenne ich die Wurzeln der Kultur, markante identitäts-relevante Ereignisse, typische Muster, „Helden“ oder Referenzpersonen etc. der anderen Kultur, die wichtige Werte repräsentieren? • Achtsamkeit: Bin ich sensibel für das Anders-Sein und kann ich Verhalten und körpersprachliche Signale gut wahrnehmen? Habe ich Bewusstheit für meine eigene emotionale Betroffenheit?

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• Interaktionsfähigkeit: Kann ich Interpretationen und Urteile zurückhalten bzw. „in Schwebe halten“ und den Kontext erfragen bzw. anderen erläutern? • Relativieren von Selbstverständlichkeiten: Bin ich fähig, mich und mein eigenes Denken und Tun selbstkritisch zu betrachten, es also nicht auf andere zu übertragen? • Bereitschaft und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel: Kann ich mich und das Geschehen auch mit den Augen der anderen sehen? • Metaposition: Kann ich die Wirkungen meines Denkens und Handelns wahrnehmen, Rückmeldungen annehmen? Kann ich bei allem Trennenden das gemeinsame, universell Menschliche sehen? In der Praxis hat sich gezeigt, dass Sensibilität und Interaktionsfähigkeit die Basis sind, durch die sich die anderen Kompetenzfelder erschließen. Denn sie ermöglichen ein gemeinsames Lernen mit Menschen aus einer anderen Kultur, weil sie spüren, dass sie wahrgenommen werden und dass Interesse für sie besteht. Dadurch werden sie in ihrer Würde anerkannt.

Möglichkeiten des konstruktiven Umgangs mit Diversitäten Ob Polaritäten und andere Spannungsfelder sich zu sozialen Konflikten verschärfen, hängt zum einen davon ab, ob die betroffenen Menschen aufmerksam sind und ein grundlegendes Verständnis der Dynamik von Differenzen und Polaritäten haben. Und zum anderen, wie sich ihre Anschauungen und Haltungen im Verhalten äußern. Sie können standhaft ihre Überzeugung vertreten und dennoch offen sein für die Haltungen und Überzeugungen anderer Menschen und nach einer stimmigen Balance suchen. Oder aber sie können sich anderen Sichtweisen verschließen und ihre Position als die einzig richtige vertreten. Letzteres wird zu Konflikten eskalieren, wenn sich die Gegenseite ähnlich verhält. Deshalb habe ich eingangs mein Verständnis eines „sozialen Konflikts“ so umschrieben, dass Differenzen zwischen Menschen, Gruppen, Organisationen oder Völkern an sich noch nicht soziale Konflikt sind, sondern dass es einzig darauf ankommt, wie die Menschen mit den Unterschieden umgehen, ob daraus ein Konflikt entsteht. Bei der kurzen Beschreibung der einzelnen Spannungsfelder habe ich immer wieder erwähnt, wie mit den Diversitäten konstruktiv so umgegangen werden kann, dass sie sich als Ressource und nicht als Problem erweisen. Zum Schluss möchte ich noch einige Hinweise etwas vertiefen. Oben habe ich auf die Methode „Wertequadrat“ von Friedemann Schulz von Thun hingewiesen, weil sie sehr wirksam herausführen kann aus einer wahrgenom-

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menen Wertedifferenz. Sie beruht auf der Erfahrung, dass jede Seite ein positiv gefärbtes Selbstbild der eigenen Haltung und ein negativ verzerrtes Bild der Haltung der Gegenseite hat. Schulz von Thun erläutert dies oft am Beispiel des Gegensatzes von „Geiz“ und „Verschwendungssucht“. Anton meint von sich, dass er mit Geld vernünftig und sparsam umgeht und findet von Beate, dass sie verschwenderisch ist. Beate sieht sich selbst als großzügig, wirft aber Anton vor, dass er knausrig, ja sogar ausgesprochen geizig ist. Jede Person sieht von sich nur die positive und gemäßigte Haltung und von der anderen Seite nur eine übertriebene, negative Ausprägung. Und je mehr sich Anton über die Verschwendungssucht Beates aufregt, desto knausriger geht er selbst mit dem Geld um. Genau so lässt sich Beate zu noch großzügigerem Verhalten anstacheln, wenn sie den „Geizkragen Anton“ beobachtet. Wenn immer sie miteinander zu tun haben, tendieren beide zu einer Steigerung ihres Verhaltens und bestätigen somit das bereits vorhandene Bild der Übertreibung. Mit dem Wertequadrat kann jetzt ein Weg aus der Polarisierung beschritten werden, wodurch es zum „Entwicklungsquadrat“ (Westermann 2007) wird. Dafür müssten Anton und Beate zu einem Gespräch bereit sein, in dem sie zuerst ehrlich aussprechen, welches Bild – d. h. welche subjektive Perzeption – sie vom anderen haben. Als wichtige Regel ist zu beachten, dass sie dabei niemals sagen „Du bist so und so …“ oder „Du hast das … getan …“, sondern dass sie möglichst jeden Satz mit einer Formulierung beginnen, mit der die Subjektivität ihres Bildes zum Ausdruck kommt: „Ich habe das Bild, …“ oder „Ich nehme dich so wahr, …“ oder „In meiner Erinnerung hast du … getan …“. Sie stellen also nicht Faktenbehauptungen in den Raum, sondern teilen einander nur mit, welche Wahrnehmungen sie voneinander haben (Ballreich & Glasl 2007, S. 118f). Auf Nachfrage können sie in Einzelheiten beschreiben, welches konkrete Verhalten sie wahrgenommen haben, wie sie es interpretiert haben und wie das bei ihnen zu dem Bild geführt hat, das sie gerade ausgesprochen haben. Das löst in der Regel auf beiden Seiten großes Erstaunen aus und trägt dazu bei, Verantwortung für die Wirkungen des eigenen Verhaltens zu übernehmen, gerade auch dann, wenn diese Wirkungen nicht beabsichtigt waren! An dieser Stelle ist auch den Gefühlen bewusst Raum zu geben, die durch die Wahrnehmungen und Deutungen ausgelöst worden sind. Denn sie zeigen an, dass sich jemand in seinem Werteverständnis verkannt oder eingeschränkt empfunden hat. Diese Emotionen sind eine Pforte, die zu den Haltungen, Bedürfnissen und Werten führt. Nach dem Abgleichen der gegenseitigen „Perzeptionen“ und dem Artikulieren der Emotionen sprechen Anton und Beate ehrlich aus, was sie wirklich beabsichtigt haben und welche Wirkungen sie eigentlich unerwünscht finden. Dadurch können sie darlegen, wie sie ihre Haltung verstanden wissen wollen. Und es wird deutlich, was sie selbst als Einseitigkeiten oder Übertreibungen sehen.

Konflikte im Umgang mit Diversität

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Im nächsten Schritt versuchen sich Beate und Anton vorzustellen, wohin eine einseitige Übertreibung ihrer Haltung führen müsste, wenn es kein Gegenspiel von der „Schwestertugend“ gäbe. Erst dadurch wird es möglich, dass beide miteinander eine Einigung über das rechte Maß treffen können. Und sie vereinbaren Verhaltensänderungen so konkret, dass sie nach einiger Zeit genau überprüft werden können. Die Logik dieses Vorgehens lässt sich so zusammenfassen, dass durch die Konfrontation mit den gegenseitigen Perzeptionen erkannt wird, welche Zerrbilder die Parteien voneinander haben und auf welchen Verhaltenswahrnehmungen diese konkret beruhen. Auf diese Weise erkennen sie, wie sich ihre eigene Haltung einseitig und übertrieben äußert und zu den Zerrbildern beigetragen hat. Nachdem die Filter der Zerrbilder aufgelöst worden sind, kann die eigentliche Haltung besser erkannt werden. Und dank den Rückmeldungen über die beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen ihres Verhaltens können sie ihr Verhalten so ändern, dass es ihre Haltung besser zum Ausdruck bringt. Dadurch finden beide Seiten gemeinsam zu dem „richtigen Maß“, da jede Haltung als „Tugend“ die komplementäre „Schwester-Tugend“ anerkennt und dadurch die Einseitigkeit überwindet. Die hier beschriebenen Schritte (Ballreich & Glasl 2007) folgen generell dem „mediativen U-Prozess“ und führen in Schritt 1 von der Wahrnehmungsklärung in Schritt 2, dem Anerkennen der Emotionen, zu Schritt 3, dem Erkunden der Haltungen, Bedürfnisse und Werte, die sonst durch den Ärger und die Vorurteile verdeckt waren. Dies ist die Basis für die Suche nach Handlungsalternativen, die in Verhaltensvereinbarungen für die Zukunft besiegelt werden, um die gemeinsame Beziehung neu zu gestalten. Konflikte und die durch sie signalisierten Probleme waren der Anlass, dass sich die betroffenen Menschen der Herausforderung stellten und durch eine konstruktive Auseinandersetzung mit Diversität in ihrer individuellen und gemeinsamen Entwicklung vorangekommen sind.

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Literatur Adler, Nancy L. (1997): International Dimensions of Organizational Behavior. Cincinnati: South Western Educational Publishing. Ballreich, Rudi & Glasl, Friedrich (2007): Mediation in Bewegung. Stuttgart: Concadora. Ballreich, Rudi & Glasl, Friedrich (2011): Konfliktmanagement und Mediation in Organisationen. Stuttgart: Concadora. Berner-Hürbin, Annie (1997): Hippokrates und die Heilenergie. Basel: Schwabe. Borysenko, Joan (2001): Das Buch der Weiblichkeit. Der 7-Jahres-Rhythmus im Leben einer Frau. München: Kösel. Chinese Culture Connection (1987): Chinese Values and the Search for Culture-Free Dimensions of Culture. In: Journal of Cross-Cultural Psychology 18 (2), S. 143-164. Cnyrim Andrea (2016): Interkulturelle Kompetenz: Kulturelle Unterschiede verstehen, mit Erfolg zusammenarbeiten. Freising: Stark. de Rosnay, Joel (1977): Das Makroskop. Stuttgart: Rowohlt. Faller, Kurt, Fechler, Bernd & Kerntke, Wielfried (Hrsg.) (2014): Systemisches Konfliktmanagement. Stuttgart: Schäffer Poeschel. Glasl, Friedrich & Lievegoed, Bernard C. J. (2016): Dynamische Unternehmensentwicklung. Bern: Haupt. Godykunst, William B. & Ting-Toomey, Stella (1988): Culture and Interpersonal Communication. Newbury Park: Sage. Hall, Edward T. (1981): Beyond Culture. New York: Anchor Press. Hofstede, Geert (1991): Cultures and Organizations: Software of the Mind. London: McGraw-Hill. Jaques, Elliott (1951): The Changing Culture of a Factory. London: Psychology Press. Jaques, Elliott (1962): Measurement of Responsibility. Cambridge: Harvard University Press. Lievegoed, Bernard C. J. (1974): Organisationen im Wandel. Bern: Haupt. Lievegoed, Bernard C. J. (1991): Lebenskrisen – Lebenschancen. München: Kösel. Pörksen, Bernhard & Schulz von Thun, Friedemann (2014): Kommunikation als Lebenskunst. Heidelberg: Carl Auer Verlag. Scharmer, Claus O. (2009): Theory U. Leading from the Future as it Emerges. San Francisco: Berrett-Koehler. Schlenzka, Peter A. (1959): Unternehmer, Direktoren, Manager. Düsseldorf: Econ. Schulz von Thun, Friedemann (2015): Das Potenzial der Gegensätze. DVD, Stuttgart: Concadora. Simon, Fritz B. (2010): Einführung in die Systemtheorie des Konflikts. Heidelberg: Carl Auer Systeme. Ting-Toomey, Stella & Oetzel, John G. (2001): Managing Intercultural Conflict Effectively. London: Sage. Treichler, Rudolf (1981): Die Entwicklung der Seele im Lebenslauf. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben. Westermann, Fritz (Hrsg.) (2007): Entwicklungsquadrat. Theoretische Fundierung und praktische Anwendung. Göttingen: Hogrefe.

Konflikte im Umgang mit Diversität

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Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich Glasl ist als Organisationsberater und Konfliktforscher seit 1967 als Mediator in Organisationen und bei Friedensprozessen weltweit im Einsatz. Er ist Gründer der „Trigon Entwicklungsberatung“ und wurde 2017 für sein Lebenswerk mit dem „Life Achievement Award“ der Weiterbildungsbranche ausgezeichnet.

Vielfalt als Erfolgspotenzial Die oberösterreichische Gebietskrankenkasse am Weg zum „Whole Brain Thinking®“ Stefanie Karner

Das Arbeitsumfeld der oberösterreichischen Gebietskrankenkasse (in Folge OÖGKK) ist in den letzten Jahren durch verstärkt veränderte gesundheits-, sozialpolitische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen gekennzeichnet. Trends, wie zum Beispiel die Digitalisierung, der demografische Wandel, die zunehmende Globalisierung und Urbanisierung, die Individualisierung sowie ein Wandel der Wertvorstellungen in Richtung flexiblere Arbeits- und Lebensmodelle, verändern kontinuierlich das Unternehmensumfeld. Aufgrund neuer Wertesysteme, unterschiedlicher Ansichten und Bedürfnissen steigt auch die Vielfalt der Mitarbeiter/ innen, Kundinnen/Kunden und Vertragspartner (z. B. Vertragsärztinnen und -ärzte) in der OÖGKK. Die OÖGKK ist mit über 2 000 Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern einer der größten oberösterreichischen Arbeitgeber im Gesundheitsbereich. Aufgrund der unterschiedlichen Aufgabenfelder innerhalb der Organisation, findet man eine Vielzahl an Berufsfeldern im Unternehmen. So zählen zum Beispiel Betriebswirte, Büroangestellte, Haustechniker, IT-Experten, Juristen, Lehrlinge, Mediziner, Pflegefachkräfte, Physiotherapeuten, Soziologen, Statistiker, Zahnärzte und Zahntechniker zu den Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern. Die unterschiedlichen Berufsgruppen und die damit einhergehenden spezifischen Fachkenntnisse innerhalb der Organisation, deren optimaler Einsatz, die „Kultur des Lernens voneinander“ sowie die stetige externe Weiterentwicklung unseres Wissensspektrums sind seit Jahren wesentliche Erfolgsfaktoren der OÖGKK. Ein weiterer wichtigerer Erfolgsfaktor beim Thema Vielfalt liegt im Chancengleichheitsplan. Der OÖGKK war es in den letzten Jahrzehnten ein besonderes © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Wesenauer et al. (Hrsg.), Wie Governance gelingen kann, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24114-8_6

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Anliegen, Vielfalt über das Thema Chancengleichheit zu fördern. So ist zum Beispiel der Frauenanteil in Führungspositionen der OÖGKK deutlich gestiegen. Ebenso bietet die Vielfalt bei der Altersstruktur der Mitarbeiter/innen der OÖGKK im Hinblick auf deren unterschiedliche Erfahrungen, Interessen und Ziele ein weiteres Erfolgspotenzial, welches auch genutzt werden soll.

Abb. 1 Mitarbeiter/innen OÖGKK 2018

Um weiterhin den erfolgreichen Weg der OÖGKK fortführen und auf die Veränderungen des Unternehmensumfeldes bestmöglich reagieren zu können, wurden die Handlungsfelder „Vielfalt nutzen“ und „Leistungsfähigkeit erhöhen“ in der Unternehmensstrategie der Organisation verankert. Mit dem Erfolgsplan® (vgl. Wesenauer 2008) verfügt die OÖGKK seit vielen Jahren über ein Zielsteuerungsinstrument, mit welchem es ihr gelungen ist, ihre kooperativ entwickelten strategischen Pläne konsequent weiterzuentwickeln und erfolgreich umzusetzen. So wurde ab 2016 bereits eine Vielzahl von in sich zusammenhängenden Arbeitssequenzen initiiert, in denen man sich intensiv mit dem Thema „Vielfalt und Leistungsfähigkeit“ in der Organisation auseinandersetzte. Im Zuge dessen, wurde für die OÖGKK

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ein innovatives Instrument für die Ortung der Potenziale der Mitarbeiter/innen identifiziert und in weiterer Folge auch vielfältig genutzt – das Herrmann Brain Dominance Instrument®.

Herrmann Brain Dominance Instrument® Das Herrmann Brain Dominance Instrument® (infolge HBDI®) ist ein Tool zur Potenzialanalyse anhand von Denkstilpräferenzen. Jede Person hat bevorzugte Denkweisen. Sie beeinflussen, wie Informationen aufgenommen und verarbeitet werden. Sie prägen die Art zu kommunizieren, zu entscheiden, Probleme zu lösen, im Team zu arbeiten, zu lernen und vieles mehr. Kennt und versteht die Person ihre Denkpräferenzen, eröffnen sich völlig neue Perspektiven. Talente und Potenziale, aber auch Vermeidungstendenzen werden sichtbar (www.hbdi.de). Im HBDI®-Profil lassen sich Denkpräferenzen leicht verständlich abbilden. Sich seiner Denkweisen bewusst zu sein, die eigenen Denkpräferenzen zu kennen und die Fähigkeit, außerhalb dieser Präferenzen zu agieren, wird „Whole Brain Thinking®“ genannt (vgl. www.hbdi.de).

Abb. 2

Modell des „Whole Brain Thinking®”

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Grundlagen und geschichtlicher Hintergrund Der Amerikaner Ned Herrmann (1922-1999) entwickelte ein Analyseinstrument, um die Denkstilpräferenzen eines Menschen in einem Vier-Quadranten-Modell abzubilden. Menschen unterscheiden sich signifikant in der Art und Weise, wie sie Informationen verarbeiten, Entscheidungen treffen, Probleme lösen oder ihre Aufmerksamkeit lenken. Das Instrument nannte er HBDI®, Herrmann Brain Dominance Instrument®. Ned Herrmanns Interesse an der Funktionsweise des Gehirns begann mit seiner Neugier über die eigene Dualität. Er war sowohl in Physik als auch in Musik sehr begabt. 1976 erfuhr er von den damaligen Pionierarbeiten in der Gehirnforschung von Roger Sperry, Paul MacLean und anderen. Sperry entdeckte die duale Spezialisierung des Gehirns und begründete die Hemisphärentheorie, die besagt, dass die linke und die rechte Gehirnhälfte für verschiedene Aufgaben zuständig sind. Er nahm an, dass sich in der linken Hälfte des Großhirns (linke Hemisphäre) für die Mehrzahl aller Menschen die Eigenschaften für Sprache, logisches und analytisches Denken befinden. Die rechte Gehirnhälfte war demnach für die Verarbeitung von Bildern, die Fantasie und Kreativität, das Emotionale und nonverbalen Ideen zuständig (vgl. Sperry 1961). Nach derzeitigem Stand der Forschung finden in den beiden Hirnhälften tatsächlich unterschiedliche Verarbeitungsprozesse statt, allerdings nur schwerpunktmäßig. Es gibt keine exklusiven Zuständigkeiten, vielmehr findet ein wechselseitiger Austausch statt (vgl. www.hbdi.de). Eine weitere bedeutende Theorie über die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns stellte Paul D. MacLean (1913-2007) mit seinem „Triune Brain“ auf. Er versuchte, das menschliche Gehirn nach verschiedenen Entwicklungsstufen in Anatomie und Funktion aufzuteilen. Sein Modell besagt, dass das menschliche Gehirn in drei Subsysteme unterteilt werden kann, das protoreptilische, paläo-mammalische und das neomammalische Gehirn. Diese seien wechselseitig miteinander verbunden und tauschen Informationen aus. Auch dieses Modell ist zwischenzeitlich umstritten und so nicht mehr haltbar, es bietet jedoch eine mögliche Orientierung für das Verhalten aus neurobiologischer Sicht (vgl. http://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/dreieiniges-gehirn/3014). Inspiriert von diesen Arbeiten entwickelte Ned Herrmann ein Modell, um Denkabläufe in einem metaphorischen Modell des Gehirns abzubilden. Das Ergebnis ist das Modell des „Whole Brain Thinking®“ mit den vier Denkstilquadranten. 1979 schließlich hatte er das Herrmann Brain Dominance Instrument® entwickelt, ein Analysetool, um die eigenen Denkstilpräferenzen zu ermitteln und in diesem Modell abzubilden (vgl. www.hbdi.de).

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Die HBDI®-Profile Im HBDI®-Profil werden die Denkstilpräferenzen in den vier Quadranten des Whole Brain Thinking® Modells abgebildet. Es gibt das Einzel-, Zwei-Personenund Teamprofil. Die vier Quadranten stehen für folgende Denkweisen:

Abb. 3

Vier-Quadranten Modell (vgl. www.hbdi.de)

• A: Das rationale Ich mit einer rationalen, logischen, analytischen Denkpräferenz. Es ist sachlich, liebt Zahlen und Fakten. • B: Das organisatorische Ich mit dem strukturiert und organisiert vorgehenden, detaillierten Denkstil. Es plant gern und kümmert sich um Details. • C: Das fühlende Ich ist intuitiv, zwischenmenschlich orientiert, kommunikativ, emotional, mitfühlend. • D: Das experimentelle Ich zeichnet sich durch konzeptionelles, einfallsreiches, intuitives und ganzheitliches Denken aus. Es ist kreativ, neugierig und risikofreudig.

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Beispiel HBDI®-Einzelprofil und Auszug aus einem Teamprofil-Report Die durchgehende Linie zeigt im Einzelprofil die grundlegenden Denkstilpräferenzen. Die gestrichelte Linie zeigt die Abweichung unter Stress, das sogenannte Stressprofil. Das Teamprofil zeigt in einem umfangreichen Report verschiedene Faktoren. Potenziale und Defizite werden sichtbar. Unterschiede, Ähnlichkeiten und Lücken im Team werden deutlich und können so thematisiert werden.

Abb. 4

HBDI® Einzelprofil (links) und Denkstildominanzen in einem Team (rechts) (vgl. www.hbdi.de)

Umsetzung des Whole Brain Thinking®-Modells Für die Implementierung des Whole Brain® Thinking-Modells nutzen Unternehmen mehrheitlich vier Anwendungsebenen (vgl. www.hbdi.de, WhitePaper „The Business of Thinking 2017“): 1. Bewusstsein: individuelle und teambezogene Erkenntnisse 2. Spezifische Gruppenziele: Kommunikation, Teamprozessoptimierung, … 3. Breiter Einsatz: Vertrieb, kreatives Denken, Innovationen, Forschung und Entwicklung, Kundenservice 4. Gelebter Wandel: Whole Brain Thinking® als Unternehmensphilosophie (Führung, strategisches Denken, Veränderungsmanagement, Unternehmenskultur) Das größte Einsatzfeld beim HBDI® ist die Entwicklung der Mitarbeiter/innen und die Teambildung. Dies entspricht der ersten Anwendungsebene im Whole

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Brain Thinking®-Modell. Ziel ist es, individuelles und gruppen-/teambezogenes Bewusstsein für Denkpräferenzen zu entwickeln. Die OÖGKK hat 2017 die Implementierung des Instruments gestartet und befindet sich auf der ersten Anwendungsebene. Mit der Ausbildung einer Mitarbeiterin zur zertifizierten HBDI-Trainerin war der Grundstein für die Einführung des Whole Brain Thinking®-Modells. Schritt für Schritt wird das Instrument nun in der OÖGKK umgesetzt:

Abb. 5

Einführung des Whole Brain Thinking®-Modells in der OÖGKK

Verankerung im Bildungsprogramm Bereits seit den 1990er-Jahren hat die OÖGKK einen sehr offensiven Zugang zur innerbetrieblichen Aus- und Weiterbildung. Mit der konsequenten Ausrichtung der Personalentwicklung unterstützt die OÖGKK die strategische Ausrichtung und Weiterentwicklung der Organisation. Die Personalentwicklung ist damit ein strategischer Erfolgsfaktor. Mit dem jährlichen, an die aktuellen Herausforderungen und strategischen Handlungsfelder angepassten Bildungsprogramm liegt den Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern der OÖGKK ein umfangreiches Angebot an verschiedensten Seminaren und Workshops zu definierten Kompetenzfeldern vor (vgl. North & Reinhardt 2005, S. 39ff). Im Zuge der Implementierungsphase des Whole Brain Thinking®-Modells wurden zwei Seminare „Eigene Potenziale erkennen und weiterentwickeln – Persönliche Denk- und Verhaltensweisen (HBDI®-Modell)“ und „Arbeiten mit der Potenzialanalyse – Whole Brain Thinking®-Modell und HBDI®“ im Bildungsprogramm verankert. Ziel ist es, eine wachsende Anzahl von Mit-

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arbeiterinnen/Mitarbeitern und Führungskräften zu generieren, die sich ihrer Denkstile bewusst sind, indem sie sich intensiv mit ihrem eigenen HBDI®-Profil auseinandersetzen. Durch die Entwicklung und Förderung der Selbst- und Fremderkenntnis kann nicht nur das Selbstbewusstsein aufgebaut, sondern auch durch entsprechende Berücksichtigung in der (Führungs-)Arbeit die Leistung signifikant gesteigert werden.

Basisausbildung bei neuen Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern Neu eintretende Mitarbeiter/innen in die OÖGKK durchlaufen ein zweiwöchiges Einführungsprogramm unter dem Titel „Let’s start together“. Hier lernen sie das Unternehmen, die Managementinstrumente, Strukturen sowie Arbeitsabläufe kennen und haben die Möglichkeit, erste Kontakte zu knüpfen. Sie sollen sich in der OÖGKK willkommen fühlen und so gut wie möglich auf ihr künftiges Tätigkeitsfeld vorbereitet werden. Um auch die neuen Mitarbeiter/innen von Beginn an mit dem Whole Brain Thinking® -Modell vertraut zu machen, ist das Kennenlernen und die Auseinandersetzung mit dem eigenen HBDI®-Profil ebenso Teil dieser zweiwöchigen Basisausbildung. Nur wenn es gelingt, die Mitarbeiter/innen bestmöglich auf ihr neues Aufgabengebiet vorzubereiten, können sie sich zu leistungsfähigen Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern entwickeln.

Proformer-Profil beim Recruiting Für jeden Beruf gibt es ein typisches HBDI®-Profil, welches sich entweder als Durchschnittswert aus vielen tausend Einzelbeispielen ergibt oder als Proforma-Profil aus den Anforderungen einer Aufgabe erstellt wird (vgl. www.hbdi.de – „Wie bunt sind Ihre grauen Zellen“). In der OÖGKK nutzen wir die Methodik des Proforma-Stellenprofils für den Recruiting-Prozess. Gemeinsam mit der Führungskraft werden die Anforderungen der auszuschreibenden Stelle analysiert und ein Proforma-Stellenprofil wird erstellt. Denn Personen mit ähnlichen Denkpräferenzen sind sich auf Anhieb sympathisch. Sie haben denselben Zugang, wie sie zum Beispiel an Aufgabenstellungen herangehen oder miteinander kommunizieren. Um nicht Gefahr zu laufen, überwiegend Personen mit ähnlichen Denkpräferenzen im Unternehmen einzustellen, ist es wichtig, bei den Führungskräften das Verständnis für andere Denkstile zu steigern. Aus diesem Grund soll das Proforma-Profil die Führungskraft beim Verfassen der Stellenbeschreibung und in weiterer Folge auch beim Durchführen der Bewerbungsgespräche unterstützen.

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Gruppenzusammensetzung bei Arbeitskreisen und Projekten Mit dem Whole Brain Thinking®-Modell und dem HBDI® können die Denkpräferenzen aller Personen einer Gruppe identifiziert werden. Dieses Wissen gibt dem Team die Möglichkeit, auf die unterschiedlichen Denkstile der Einzelnen zuzugreifen. Dadurch wird versucht der Gefahr des Gruppendenkens bzw. Groupthink entgegenzuwirken (vgl. O’Connor 2017, Fedotowsky 2004). Zudem haben die Denkstile der einzelnen Mitglieder in Teams großen Einfluss auf das Arbeitsergebnis. Besteht eine Gruppe aus ähnlichen HBDI®-Profilen, spricht man von einer homogenen, ansonsten von einer heterogenen Gruppe. So eignen sich homogene Gruppen besser für weniger komplexe Tätigkeiten, wo die Anforderungen klar definiert sind. Sie kommen auch schneller zu Ergebnissen und sind leichter zu führen. Sobald jedoch die Aufgabe an Komplexität zunimmt, bringt eine heterogene Gruppe aufgrund des Synergiepotenzials größere Vorteile. Da einer heterogenen Gruppe alle Denkstile zur Verfügung stehen, ist die Chance hoch, innovative Ergebnisse zu generieren. Die Führung einer heterogenen Gruppe ist jedoch schwieriger (vgl. www.hbdi.de, Klimoski & Jones 1995). Mit diesem Hintergrund versucht die OÖGKK die Gruppenzusammensetzung bei Arbeitskreisen und Projekten zielorientiert zu gestalten, um so weiteres Leistungspotenzial zu heben.

Zusammenfassung Aufgrund der vielfältigen Herausforderungen, welche Organisationen wie die OÖGKK zu bewältigen haben, bedarf es neuer Ansätze um das gesamte Potenzial zu heben. Um als Unternehmen rasch und flexibel auf die immerwährend veränderten Umwelten reagieren zu können, ist es wichtig die Potenziale, die Kreativität, das Wissen und die Vielfalt innerhalb der OÖGKK zu aktivieren und miteinander zu verknüpfen. Die von außen wahrgenommenen, immer wieder neuen Impulse müssen innerhalb der Organisation verstanden und verarbeitet werden, um somit die Leistungsfähigkeit des Unternehmens zu erhalten bzw. zu steigern. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, setzt die OÖGKK auf den Einsatz innovativer Methoden und Instrumente – so zum Beispiel auch um die strategischen Handlungsfelder „Vielfalt nutzen“ und „Leistungsfähigkeit erhöhen“ innerhalb der Organisation umzusetzen. Ziel dabei ist es, den Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern einen Raum und eine Struktur zu geben, im Rahmen dieser sie ihre Denk- und Arbeitsweisen analysieren, ihre vielfältigen Fähigkeiten einsetzen und ausbauen können und somit ihre individuelle und schlussendlich ihre organisationale Leistungsfähigkeit zu erhöhen.

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Überlegungen zum Konflikt im Kern der Pädagogischen Hochschulen Paul Reinbacher

„Funktionale Diversität ist mit jeder Arbeitsteilung gegeben, das bringt Sinn und Zweck einer Organisation nun einmal unausweichlich mit sich.“ – So stellt Friedrich Glasl gleich am Beginn seiner Ausführungen über „Konflikte im Umgang mit Diversität“ fest. Und in der Tat kann dies spätestens seit Emile Durkheim und seiner klassischen Studie „Über soziale Arbeitsteilung“ (Durkheim 1992 [1893]) als etablierte Einsicht in den Sozialwissenschaften gelten; und zwar nicht zuletzt angesichts der noch viel grundlegenderen Frage, wie im Lichte all dessen die Integration eines Gesamtsystems, also insbesondere der Gesellschaft, aber beispielsweise auch einer Organisation, gewährleistet werden kann. In zunehmendem Maße, so meinen E. Durkheim und F. Glasl gleichermaßen, beruht der zeitgenössische Zusammenhalt in sozialen Systemen dabei auf „organischer“ anstelle von „mechanischer“ Solidarität1 (vgl. in Anlehnung an Spencer-Brown 2008 [1969]):

Am damit angesprochenen „Dualproblem der Organisationsgestaltung“ aus Differenzierung bzw. Diversität einerseits und Integration bzw. Kooperation und Konflikt andererseits zeigt sich nicht nur die Janusköpfigkeit von Kooperation und Konflikt, die als zwei Seiten einer Medaille nur gleichzeitig in die (arbeitsteilige) 1

Mit G. Simmel ließe sich ergänzen: und auf Streit (vgl. Simmel 1908, S.186-255).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Wesenauer et al. (Hrsg.), Wie Governance gelingen kann, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24114-8_7

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Welt kommen können – was wohl auch gut ist, denn gegenüber einem alltagsweltlichen Verständnis, das mit moralischer Intuition meist der Kooperation gegenüber dem Konflikt den Vorzug zu geben geneigt ist, stellt sich dies aus sozialwissenschaftlicher Perspektive (und zwar nicht nur im Lichte konsequentialistischer Ethik) als komplizierter dar (vgl. z. B. Simmel 1908, S.186-255, Bonacker 2008). Vor allem aber verschärfen sich damit verbundene Problemlagen im Zuge organisatorischer Entwicklungsprozesse, weshalb D. Baecker nahezu apodiktisch formulieren kann: „Die Form der Veränderung ist der Streit, moderiert durch die Beratung“ (z. B. Baecker 2011a). Was aber tun, wenn kein Berater, keine Beraterin, keine Beratung zur Stelle ist? Dann muss wohl das Management (einschließlich der Manager/innen) selbst aktiv werden und sich selbst einerseits über alternative Möglichkeiten – beispielsweise der Differenzierung und Integration – informieren sowie andererseits entsprechende Entscheidungen treffen, um damit in der Form von Prämissen für künftige Entscheidungen die strukturellen Voraussetzungen – insbesondere Programme, Prozesse und Personal – zu schaffen (vgl. z. B. Baecker 2000, 2011b, Luhmann 2000). Eine zentrale Problemlage, die das Management einer Pädagogischen Hochschule im Zuge des aktuellen Entwicklungsprozesses – von den ehemaligen „Akademien“ der Lehrerinnen- und Lehrerbildung hin zu „echten“ tertiären Einrichtungen – zu beschäftigen hat, ist einem verbreiteten Verständnis nach wohl die Suche nach neuen Kombinationsmöglichkeiten von „Theorie“ und Praxis“ sowie deren Überführung in Prämissen für die hochschulische Programm-, Prozess- und Personalpolitik (vgl. dazu Reinbacher 2018). Dabei lässt sich mit einer funktionalen Perspektive, wie sie den hier skizzierten Überlegungen zugrunde liegt, zusätzlich den nach wie vor im Hochschulsektor – und keineswegs nur an Pädagogischen Hochschulen – verbreiteten essentialistischen Vorstellungen begegnen, die Konflikt und Kooperation zwischen „Theorie“ und „Praxis“ als ein Problem der „Substanz“ und nicht als eines der „Funktion“ (vgl. Cassirer 2000 [1910]) bzw. als ein Problem des „Inhalts“ und nicht als eines der „Form“ (vgl. Spencer-Brown 2008 [1969]) zu fassen versuchen. Damit ist beispielsweise gemeint, dass der Kern institutioneller Identitäten oft an der Ausstattung mit bestimmten Entitäten festgemacht wird – also beispielsweise an „Theorie“ und „Praxis“ als Inhalten, die aus unterschiedlichen Bereichen (beispielsweise aus der Wissenschaft oder aus dem beruflichen Handlungsfeld) stammen und die von bestimmten, über „Theorie“ und/oder „Praxis“ verfügenden Personen aus den Hochschulen „hinaus-“ oder in die Hochschulen „hineingetragen“ werden können. Damit erscheint der Hochschulsektor dann (kurzschlüssig) als Ansammlung von Hochschulen mit unterschiedlichen „Ausstattungen“ (bzw. besser: mit unterschiedlichen Ist- und Soll-Ausstattungen) an Theorie- und Praxis-Anteilen sowie

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mit deren unterschiedlichen, in Konflikte und Kooperation mündenden Kombinationsformen – insbesondere in den Kernaufgaben, nämlich in Lehre und Forschung:

Demgegenüber scheint es auf den zweiten Blick angemessener, an die Stelle der konventionellen Unterscheidung zwischen „Theorie“ und „Praxis“, an der sich klassisch das Konflikt- und Kooperationspotenzial zu entzünden scheint, die doppelte Unterscheidung zwischen „Theorie“ und „Empirie“ (als Funktion bzw. Form der Wissenschaft als Institution) einerseits und jene zwischen „Praxis“ und „Poiesis“ (als Funktion bzw. Form der Hochschule als Organisation im Kontext des beruflichen Handlungsfeldes) andererseits zu setzen. Eine ergänzende Berücksichtigung der „Governance“, also der dreifachen Unterscheidung zwischen „Markt“, „Hierarchie“ und „Profession“ als den zentralen sozialen Koordinationsmechanismen, ermöglicht es, die „funktionale Diversität“ (F. Glasl) von Pädagogischen Hochschulen als tertiären Einrichtungen neuen Typs formal, aber nichtsdestotrotz wirklichkeitsnahe zu fassen (vgl. auch ausführlich Reinbacher 2018):

Wissenschaft als gesellschaftliche Funktion und institutionalisierte „Praxis“ (zur Bearbeitung der Differenz von „Theorie“ und „Empirie“) einschließlich einer Auseinandersetzung mit dem organisierten Kontext der Leistung und der „Poiesis“ des Berufsfeldes bei Reflexion auf die eigene Rolle im Rahmen der gesamtsystemischen „Governance“ wird damit zum Charakteristikum bzw. zum Kern der „institutionellen Identität“ der österreichischen Pädagogischen Hochschulen. Allerdings vervielfachen sich damit auch jene Punkte, an denen sich im Kontext von Arbeitsteilung, also mit zunehmender Differenzierung, Diversität etc. das Konflikt- und Kooperationspotenzial entfalten kann (vgl. nochmals die Abbildung am Beginn dieses Beitrags). Konflikt- und Kooperationspotenzial bedeutet in diesem Fall allerdings (und man denke dabei nur an G. Simmel (1908) oder an G. Spencer-Brown (2008 [1969]) und dessen Diktum „distinction is perfect continence“), dass Konflikt und Kooperation nur zusammengenommen ein soziales Phänomen, das heißt einen

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Ausdruck der Vergesellschaftung darstellen, und dass sie damit letztlich im Sinne eines „genetischen Prinzips“ (P. Bourdieu) gerade in ihrer Kombination als Katalysator für soziale Systembildung wirken. Mit anderen Worten: Konflikt und Kooperation gewinnen als zwei Seiten einer Medaille ihren Sinn jeweils aus der Differenz, also aus der Unterscheidung als Vorderseite von ihrer Rückseite. Und zur Aufgabe von Management (sowie etwaig, also falls vorhanden, von Beratung) wird es dann, durch die Wiedereinführung der Unterscheidung in diese Unterscheidung via „re-entry“ (G. Spencer-Brown) genau dies beobachtbar und nach Möglichkeit kommunizierbar sowie letztlich einer Entscheidung zugänglich zu machen (vgl. z. B. Baecker 1993, 2000, 2011b). Beispielhaft mag man hierbei auf die Pädagogische Hochschule Oberösterreich blicken, wo dieser, über weite Strecken die Binnenstrukturierung betreffende Sachverhalt (man denke an die Prämissen: Programme, Prozesse und Personal) vom Management vergleichsweise früh erkannt und – entlang der Unterscheidung zwischen institutioneller Praxis der Wissenschaft und organisationaler Poiesis des Managements – als managementtheoretisch gerahmte Problemstellung in die heterarchische Lösungsform einer „Matrix“ zur Kombination der drei orthogonal zueinander liegenden Logiken – analog zu Profession, Markt und Hierarchie – gebracht worden ist (vgl. hierzu auch ausführlich Oberneder & Reinbacher 2015):

Funktionale Diversität als unausweichliche Folge organisierter Arbeitsteilung im Sinne von F. Glasl anzuerkennen und zu akzeptieren, bedeutet demnach, weder Konflikt- noch Kooperationspotenziale zu vernichten oder gar zu versuchen, wie mancherorts suggeriert wird, erstere in zweitere überzuführen und damit die Form des Konflikts in die Form der Kooperation zu bringen, weil dies bedeuten würde: die Größe der Medaille insgesamt, also mit ihrer Vorder- und ihrer Rückseite zu reduzieren. Vielmehr geht es darum, die mit Diversität einhergehende Differenz „Konflikt vs. Kooperation“ strukturell in der Organisation zu verankern, um sie gerade dadurch via Management in einem prinzipiell nicht abschließbaren Prozess bearbeitbar zu machen.

Überlegungen zum Konflikt im Kern der Pädagogischen Hochschulen

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Literatur Baecker, Dirk (Hrsg.) (1993): Kalkül der Form. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Baecker, Dirk (2000): Ausgangspunkte einer soziologischen Managementlehre. In: Soziale Systeme 6 (1), S. 137-168. Baecker, Dirk (2011a): Die Form der Veränderung ist der Streit, moderiert durch die Beratung. In: Ders., Organisation und Störung. Aufsätze. Berlin: Suhrkamp, S. 66-75. Baecker, Dirk (2011b): Welchen Unterschied macht das Management? In: Ders., Organisation und Störung: Aufsätze: Berlin: Suhrkamp, S. 26-54. Bonacker, Thorsten (2008): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Wiesbaden: VS. Cassirer, Ernst (2000 [1910]): Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Gesammelte Werke Band 6. Hamburg: Meiner. Durkheim, Emile (1992 [1893]): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen: Westdt. Verlag. Oberneder, Josef & Reinbacher, Paul (2015): Der lange Weg von der Fremd- zur Selbststeuerung. Transformationsschritte an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich. In: Zeitschrift für Hochschulmanagement 10 (1+2), S. 18-23. Reinbacher, Paul (2018, in Vorbereitung): Imitation oder Innovation? 10 Jahre Pädagogische Hochschulen in Österreich. In: Aichinger, Regina, Pausits, Attila & Unger, Martin (Hrsg.): Quo Vadis Hochschule? Beiträge der Hochschulforschung zur evidenzbasierten Hochschulentwicklung. Tagungsband der 1. Tagung des Österreichischen Netzwerks Hochschulforschung. Münster: Waxmann. Simmel, Georg (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker & Humblot. Spencer-Brown, George (2008 [1969]): Laws of Form. Leipzig: Bohmeier. Hochschulprof. Dr. Paul Reinbacher leitet nach beruflicher Tätigkeit in unterschiedlichen Branchen und Positionen derzeit auf einer Professur für Bildungs- und Qualitätsmanagement den Aufbau der Koordinations- und Servicestelle Qualitätsmanagement an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz.

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MR: Was ich schon immer einmal einen Konfliktforscher fragen wollte: Wann haben Sie sich zum letzten Mal so richtig geärgert? FG: Jetzt bringen Sie mich in Verlegenheit. Also so richtig geärgert, dass ich zornig war und gedacht habe: „Fritz, pass auf, beherrsche dich!“ – das ist jetzt schon länger her. MR: Dann können Sie ja heute völlig unaufgeregt darüber reden, oder? FG: Ich werde jetzt sicher keine Intimitäten ausplaudern. Nur so viel: Es hat mit Nachbarschaftsbeziehungen zu tun. Eigentlich der Klassiker: unterschiedliche Auffassungen am Gartenzaun. Meine Frau und ich wollen eine blühende Schmetterlingsweide haben und die Nachbarin möchte die totale Rasur. Die unterschiedlichen Sichtweisen prallen halt dann am Zaun manchmal aufeinander. Aber wenn Sie meine Nachbarin fragen würden, würde die viel mehr Situationen aufzählen können, wo sie sich über mich geärgert hat. MR: Kriegt man als Konfliktforscher immer die Kurve zum idealen Streit? Oder würde die Nachbarin auf Nachfrage sagen: ‚Nein, der schreibt das in seinen Büchern, aber die Praxis schaut ganz anders aus. Am Zaun ist der ein richtiges Gifthäferl.“ FG: Ich bin sicher kein jähzorniger Mensch. Aber ja, selbst als Konfliktforscher ist man nicht davor gefeit, dass in bestimmten Situationen die Emotionen das Tun lenken. In den „Salzburger Nachrichten“ ist einmal ein ganzseitiges Interview mit mir erschienen. Die Überschrift lautete damals „Hier ist der politische Wahlkampf sehr exzessiv bis unfair gewesen“. Ein gefundenes „Fressen“ für meine Nachbarin: Der Artikel hing längere Zeit hinter der Glasscheibe ihrer Eingangstür – mit ein © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Wesenauer et al. (Hrsg.), Wie Governance gelingen kann, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24114-8_8

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paar handschriftlichen Notizen. Sowas wie: ‚Na schau auf dich selber, lieber Nachbar.“ Da hat sie mir den Spiegel vorgehalten. MR: Herr Oberneder, als Vizerektor einer Pädagogischen Hochschule ist man doch in einer, manchmal vielleicht heiklen, Sandwich-Position: Es gibt die Professoren, es gibt die Studenten, es gibt das Bildungsministerium. Und alle gilt es zufriedenzustellen. Wie schwierig ist es das, gibt es da innere Konflikte, wenn man es allen Seiten recht machen will – oder besser muss? JO: Es ist nicht immer leicht. Ich denke, dass die Differenzierung der Rollen, die Sie ansprechen, eine ganz entscheidende ist. Es geht um das Bewusstwerden der Funktion, in der man beruflich tätig ist, sowie um meine Person und die damit verbundenen Werte und um die Rolle, die man möglicherweise in einem bestimmten beruflichen Kontext einnimmt. Was ganz sicher nicht funktioniert, ist, „everybody´s Darling“ zu sein. Es gibt in allen Organisationen Regeln. Die Einhaltung und Akzeptanz dieser Regeln spielen eine entscheidende Rolle. Insbesondere Führungskräfte haben als Handlungsgrundlage die gelebten Leitwerte und Regeln der Organisation. Die wesentliche Führungsaufgabe ist Reflexion. Auszeit zu definieren und darüber nachzudenken, wie ich eine Führungsrolle anlege. MR: Hat man eine Führungsrolle inne, bekommt man mitunter das Konfliktpotenzial oft sehr gefiltert übermittelt. Ist es dadurch nicht enorm schwierig richtig zu reagieren? FG: Ja, durchaus. Aber es gibt mehrere Möglichkeiten. Mir fallen ein paar spontan ein: Das eine ist, wenn eine Führungskraft einmal mit sich selber zu Rate geht und sagt: „Inwiefern fördere ich durch mein Auftreten, dass ich sozusagen mehr oder weniger nur geschönte Berichte bekomme.“ Ich habe bei einer großen Firma einmal eine Unternehmenskulturdiagnose gemacht, und da war es so, dass eigentlich nach oben nur berichtet werden durfte (das war die „heimliche Spielregel“), was den Erwartungen oben entsprochen hat. Das heißt, man hat die Dinge so geschönt, damit denen bestätigt wurde: „Ihr habt gut geplant, das Budget wird genau erfüllt, die Potenzialzahlen laufen so, wie ihr das in weiser Voraussicht gesehen habt!“ Es gab aber faktisch Abweichungen; die hat man dann versteckt. Ich habe dann mit Vorständen dieser Industriefirma an der Frage gearbeitet: Wie provoziert ihr selber, wie ladet ihr ein zu dieser Art der gefälschten Berichterstattung an euch und wie sanktioniert ihr Berichte/Informationen, die von unten nach oben gehen? Wie sanktioniert ihr positiv, wenn ihr auch mit schlechten Nachrichten konfrontiert werdet, sodass nicht das Gefühl geweckt wird, man darf nur das sagen, was denen gefällt. Dann haben die mal in den Spiegel geguckt und einiges entdeckt und sich vorgenommen – okay ich achte darauf! Eine Firma in der Computerbranche, mit der ich auch viele Jahre als Berater gearbeitet habe, hat ganz bewusst dafür gesorgt, dass Kommunikation immer eine Mischung fifty-fifty ist von formalen und

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regulierten Kommunikationswegen und 50 % auch von informellen Wegen. Indem dann eben auf jedem Stockwerk in den Großraumbüros eine Ecke mit Kaffeeautomaten und dergleichen eingerichtet war, wo der eine was von der Tante Emma mitbringen konnte und der andere den Vogelkäfig und dies und das, und wo es üblich war irgendwann dahinzugehen. Dort triffst du zufällig wieder Menschen aus ganz anderen Abteilungen, es gibt Smalltalk etc. Das Zweite, was auch dazugehört, ist, gerade bei einer sehr großen verzweigten Organisation, dieser Mix von formeller, geregelter Kommunikation und informaler Begegnung. Ein großes Industrieunternehmen hatte die Gepflogenheit, jede Woche aus allen Bereichen/Abteilungen die Menschen einzuladen zu einer gemeinsamen Jause, die in dieser Woche ihren Geburtstag feierten. Das ergab immer eine ganz bunte Mischung. Und jetzt, wo diese Menschen zusammensaßen, stellte er bestimmte Fragen und sagte: „Redet am Tisch und sagt mir dann, was sich am Tisch so als Tenor ergeben hat. Durch die Mischung „fifty-fifty“ formelle und informelle Kommunikation kommt vieles durch die Filter durch, was sonst hängen bleiben würde. MR: Gibt es solche Vogelkäfig-Treffen in der Pädagogische Hochschule? JO: Das ist mir nicht bekannt! MR: Was sind dann die Kommunikationspunkte? JO: Auch wir haben Formate, die informellen Austausch ermöglichen. Das Rektoratsfrühstück wird mit unterschiedlicher Zustimmung angenommen. Und dann gibt es natürlich noch normativ geregelte Kommunikationsformate: Hochschulleitungskonferenzen, Institutsleiterkonferenzen etc. In meiner beruflichen Biografie habe ich einen bemerkenswerten Unterschied erleben dürfen. In der Funktion als Berater von Organisationen waren meine Ratschläge sehr präzise, was Führung bedeutet, um Kommunikation zu forcieren. Nunmehr in meiner Rolle als Führungskraft erkenne ich oftmals die „hidden rules“ erst mit einer zeitlichen Verzögerung. Und ich sehe auch, wie viel Information gefiltert, gelöscht oder anders interpretiert wird. Und es wird vieles geben, was gar nicht zu mir kommt. Führung ist zusammengefasst ein hoch kommunikativer Prozess, der innerhalb der Organisation Kontrapunkte setzt und damit die Selbststeuerung forciert. So ist es möglich, viel Information zu erhalten. Dialogische Prozesse und Offenheit sind dafür die Grundvoraussetzung. In hierarchischen Organisationen ist das schwieriger. Bildungsorganisationen wie eine Pädagogische Hochschule sind viel netzwerkartiger organisiert und ermöglichen so recht vielfältige, heterarchische Kommunikationsformen. MR: Der gemeine Österreicher tut sich mit Veränderungen oft schwer. In Holland, Schweden etwa, ist man gerade im Schulwesen viel mutiger. Warum glauben Sie, Herr Glasl, ist das so?

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FG: Ich kann nur über Vermutungen sprechen, kann es jetzt nicht belegen. Aufgrund meiner Erfahrungen würde ich aber sagen, dass der Mut zur Veränderung insbesondere in südlichen, also romanisch sprechenden, Ländern sehr gering ist. In Österreich, und das bitte jetzt nicht missverstehen, herrschte sehr lange eine katholisch monolithische Kultur und damit auch ein ganz anderes Führungsverständnis vor. In Holland gab es hingegen lange Religions- und Glaubenskrieg-Auseinandersetzungen. Einmal haben die Einen alles dominiert und dann wieder die Anderen. Einmal mussten die Katholiken im Untergrund in geheimen Zusammenkünften feiern – und dann wurden wieder die Protestanten unterdrückt. Aber dieses Gehen durch die Phase des gegenseitigen Absprechens der Existenzberechtigung hat letztlich zu einer Pluralität in kulturellen, religiösen, philosophischen, weltanschaulichen, ideologischen Bereichen geführt. Deshalb hatte im niederländischen Schulwesen die Autonomie von Schulen immer einen sehr hohen Stellenwert. Denn wegen der religiösen Pluralität wollte sich niemand vom Staat vorschreiben lassen, was wie zu unterrichten ist; schließlich geht es bei Schulen auch immer um die Vermittlung von Werten. Und ich habe wirklich den Eindruck, das ist in Österreich in dem Maße so nicht geschehen. Der 30-Jährige Krieg hat den Protestantismus gebracht und wurde wieder abgewehrt – Reformation und Gegenreformation. Wenn ich an die Art und Weise denke, wie der Fürst-Erzbischof von Salzburg zu dieser Zeit die Protestanten vertrieben hat, dann zeigt sich deutlich: Es hat nicht zum gegenseitigen Anerkennen in dem Sinne geführt, dass man sich auf Augenhöhe begegnet. Und dieses monolithische und dominante einer bestimmten Richtung macht es auch in anderen Bereichen schwer, sich mit Diversität anzufreunden und vor allem darin das Bereichernde zu sehen. Zur Ehrenrettung muss ich aber sagen, wenn ich heute führenden Persönlichkeiten gerade im Katholizismus zuhöre, etwa Kardinal Christoph Schönborn, spürt man durchaus eine große Offenheit. Da hat sich wirklich viel geändert. Aber ich meine dennoch, dass da etwas im kollektiven Gedächtnis in anderen Ländern ist, was in Österreich in dem Maße nicht drinnen ist, bzw. es hat einen anderen Inhalt bei uns. Was nicht heißt, dass es nicht veränderbar ist. MR: Gerade der Politik wirft man gerne vor, mehr zu streiten als zu arbeiten. Ist dem so? FG: Wenn man mein neunstufiges Eskalationsmodell betrachtet, steht die heimische Politik oftmals an der Schwelle zur Eskalationsstufe 5. Es gibt ein Grundvertrauen; man kann ja unterschiedliche Ansichten haben, aber gibt es ein Grundvertrauen, das besagt, es lohnt sich mit dir die Differenzen wirklich auszudiskutieren. Also für mich ist es noch an der Schwelle, ob das Vertrauen wirklich fundamental angeschlagen ist oder ob es nur darum geht, wer sich auf Kosten des andern noch mehr profilieren möchte im permanenten Wahlkampf.

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MR: Das heißt, es gibt noch eine kleine Chance? FG: Es gibt eine große Chance, da möchte ich es nicht schlechter reden als es eh schon schlecht ist; Aber von der Untergangstufe 9 – „Zusammen in den Abgrund“ – sind wir noch weit entfernt. Sie müssen nur schauen, was sich in anderen Ländern abspielt, die wirklich auf der Eskalation sehr weit fortgeschritten sind. JO: Es wird weitergehen. Organisationen, somit auch politische Parteien sind in ihrer Robustheit sehr beständig. Die Politik wird damit leben müssen, dass sie von einem Problem zum anderen stolpert. In Organisationen werden wir noch viel intensiver lernen müssen, mit komplexen Fragestellungen umzugehen. Vielmehr besteht meine Angst darin, dass strukturelle Voraussetzungen in Organisationen die aktive Weiterentwicklung behindern oder zumindest oft stark verzögern. Was aber manchmal auch ganz hilfreich sein kann.

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Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich Glasl ist als Organisationsberater und Konfliktforscher seit 1967 als Mediator in Organisationen und bei Friedensprozessen weltweit im Einsatz. Er ist Gründer der „Trigon Entwicklungsberatung“ und wurde 2017 für sein Lebenswerk mit dem „Life Achievement Award“ der Weiterbildungsbranche ausgezeichnet. Josef Oberneder, MAS, MSc., MBA ist nach über zwei Jahrzehnten als Personal- und Organisationsentwickler, Trainer und Moderator seit Oktober 2012 Vizerektor für Hochschulmanagement und Schulentwicklung an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz. Markus Rohrhofer ist nach beruflicher Tätigkeit unter anderem beim Österreichischen Rundfunk (ORF) und bei der Austria Presse Agentur (APA) seit 2003 Oberösterreich-Korrespondent der Tageszeitung „Der Standard“.