Wöhlers Entdeckung - Eine andere Einführung in die Biochemie [1. Aufl.] 978-3-662-58858-1;978-3-662-58859-8

Nach Kekules Träume und Demokrit lässt grüßen entführt das neue Buch von Dieter Neubauer den interessierten Leser, Schül

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Wöhlers Entdeckung - Eine andere Einführung in die Biochemie [1. Aufl.]
 978-3-662-58858-1;978-3-662-58859-8

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit (Dieter Neubauer)....Pages 1-34
Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe (Dieter Neubauer)....Pages 35-76
Dritter Ausflug: Ins Grüne (Dieter Neubauer)....Pages 77-110
Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften (Dieter Neubauer)....Pages 111-135
Fünfter Ausflug: In ein Wunderland (Dieter Neubauer)....Pages 137-161
Sechster Ausflug: Durch dick und dünn (Dieter Neubauer)....Pages 163-190
Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone (Dieter Neubauer)....Pages 191-217
Back Matter ....Pages 219-232

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Dieter Neubauer

Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie

Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie

Dieter Neubauer

Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie

Dieter Neubauer Wachenheim an der Weinstraße Deutschland

ISBN 978-3-662-58858-1 ISBN 978-3-662-58859-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-58859-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung: Sarah Koch Zeichnungen: Wolfgang Zettlmeier, Barbing Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Die Welt der modernen Wissenschaften wird beherrscht von den Riesenreichen der Physik, der Biologie, der Medizin und der Chemie. Zwischen ihnen eingeschlossen und an alle vier angrenzend liegt ein Gebiet, das erst vor knapp 200 Jahren durch Friedrich Wöhler entdeckt und danach zügig von zahlreichen noch berühmteren Forschern erkundet wurde: die Biochemie. Sie hat im Gegensatz zu ihren großen Nachbarn den Reiz, naturverbunden und friedlich geblieben zu sein. Weder Explosionsgefahr noch Gestank, nicht ätzend, ohne Umweltschäden, keine ewig strahlende Abfälle, auch keine tödliche Waffen, stattdessen milde Bedingungen, schonende Verfahren, Arzneien und Teststreifen, neue Nutzpflanzen, Enzyme, Vitamine und Hormone – kurzum: eine vielversprechende sanfte Naturwissenschaft. Die noch dazu ehrfürchtiges Staunen vor dem Wunder des Lebens erweckt und sich als absolut unentbehrlich für das Verständnis unserer Welt herausstellt. Viele möchten sie deshalb näher kennenlernen (und manche müssen es sogar). Sie brechen hoffnungsvoll auf, um ihr zerklüftetes Gebiet zu erwandern. Aber unwegsame Pfade und schwer verständliche Wegweiser machen das Vordringen mühsam. Denen, die nicht aufgeben wollen, aber auf Hilfe hoffen, ist diese Einführung gewidmet. Sie ist anders als die anderen, aber vielleicht gerade deswegen von Nutzen. Ich bin zuversichtlich: Mit ihr wird der neugierige Wanderer schließlich doch die reizvollen Rück- und Ausblicke genießen, die ihn unterwegs erwarten und die ihm zuvor so unerreichbar schienen. Dieter Neubauer

V

Inhaltsverzeichnis

1 Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Ein wenig Rüstzeug für das Verständnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.2 Gute Nachrichten aus der Biochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.3 Die Bedeutung der Versuche von Stanley Miller. . . . . . . . . . . . . . 8 1.4 Von den Aminosäuren zum Protein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.5 Vom Ursprung des Lebens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.6 Asymmetrische Moleküle und optische Isomere. . . . . . . . . . . . . . 12 1.7 Wo blieben die D-Aminosäuren?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.8 Faserproteine: Wolle und Seide. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.9 Makroskopische Eigenschaften aus Strukturformeln ablesen. . . . 17 1.10 Chemiefasern, die auch Polyamide sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.11 Die vielseitige Rolle der Seitenketten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.12 Wie man ein Polypeptid beschreiben kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.13 Behinderte Drehbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.14 Ein Analogieversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.15 Die Rolle der Wasserstoffbrücken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.16 Ein Abstecher in Backstuben und Küchen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.17 Haare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.18 Von Haut, Horn und Huf zu den globulären Polypeptiden . . . . . . 29 1.19 Eiweißverbindungen in unserer Nahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1.20 Was aus dem Eiweiß unseres Körpers wird. . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.21 Wöhlers Entdeckung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.22 Noch ein Abschiedsblick in die Welt der Proteine. . . . . . . . . . . . . 33 2 Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe. . . . . . . . . . 35 2.1 Nur von Energie leben – geht das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.2 Wie Bakterien Traubenzucker verdauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.3 Fortsetzung der Glykolyse: Die Sauerkrautherstellung. . . . . . . . . 47 2.4 Hetzjagd und Muskelkater. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.5 Hier geht’s zum Tatort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.6 Der Zitronensäurezyklus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.7 Die Wiederholung ist die Mutter des Lernens. . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.8 Eine Art Bilanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.9 Der Zitronensäurezyklus und andere Abbaureaktionen. . . . . . . . . 60 VII

Inhaltsverzeichnis

VIII

2.10 2.11 2.12 2.13 2.14 2.15 2.16 2.17 2.18 2.19 2.20 2.21 2.22

Endlich: Die Atmungskette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Ein verblüffender Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Der Komplex I (NADH-Q-Oxidoreduktase). . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Eine Protonenpumpe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Der Komplex IV: Die Cytochrom-Oxidase. . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Der Komplex II: Succinat-Q-Reduktase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Wie Adenosintriphosphat entsteht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Ein Turbinenlaufrad in molekularer Größe. . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Warum sich das Turbinenrad dreht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Der Schauplatz der Glykolyse und des Krebszyklus. . . . . . . . . . . 73 Ein Shuttleservice für NADH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Wie die Atmungskette geregelt wird. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Ein Rückblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

3 Dritter Ausflug: Ins Grüne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.1 Die geniale Erfindung der Blaualgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.2 Woher kommt der Sauerstoff?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.3 Ein Nahrungsmittel aus Stoffwechselschlacken . . . . . . . . . . . . . . 80 3.4 Die Photosynthese der Eukaryoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.5 Das Kohlendioxid wird umgesetzt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.6 Die Dunkelreaktion der Photosynthese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.7 Eine Rückkopplung aus grauer Vorzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.8 Eine Synthese, die die Welt ernährt…. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.9 … und die Welt veränderte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.10 Die einfache Photosynthese der Schwefelbakterien . . . . . . . . . . . 88 3.11 Das Reaktionsprodukt Traubenzucker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.12 Alle Nahrungsmittel entstehen aus Traubenzucker. . . . . . . . . . . . 92 3.13 Der kleine Unterschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.14 Zwei verschiedene Traubenzuckermoleküle. . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.15 Optisch aktive Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.16 Pasteur sortiert optisch aktive Salzkristalle. . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.17 Van’t Hoff bestimmt die Richtung der Bindearme . . . . . . . . . . . . 102 3.18 Nahrungsmittel oder Baumaterial? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.19 Rohrzucker gibt es seit fast 2000 Jahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.20 Biochemische Zuckerspaltung in der Natur. . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.21 Von den Glukosiden zu den Glykosiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.22 Am Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4 Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.1 Rätsel über Rätsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.2 Was unter dem Mikroskop sichtbar ist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.3 DNA – eine alte Bekannte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.4 Ein Forscherwettlauf zur Strukturaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.5 Ein Molekül mit Doppelwendel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.6 Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms. . . . . . . . . . . . . . 117

Inhaltsverzeichnis

4.7 4.8 4.9 4.10 4.11 4.12 4.13 4.14 4.15 4.16 4.17 4.18 4.19

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Eine Geheimschrift aus vier Buchstaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Eine alternative Beschreibung der DNA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Die Replikation – oder Vermehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Die DNA-Polymerase ist nicht unfehlbar… . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 …aber sie korrigiert sich selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Ein berühmter Versuch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Von der Replikation zur Transkription. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Ein neuer Mitspieler: die RNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Schlittenfahrende Enzymkomplexe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Und jetzt: Die Translation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Ein Abstecher in die Mathematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Datensicherheit für die Erbinformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Jetzt ist Ausruhen angesagt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

5 Fünfter Ausflug: In ein Wunderland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5.1 Enzyme arbeiten zielgenau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.2 Auf den richtigen pH-Wert kommt es an. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.3 Ein Blick in die Werkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5.4 Das Enzym als Ordnungskraft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.5 Enzyme verknüpfen Reaktionen miteinander . . . . . . . . . . . . . . . . 144 5.6 Enzyme wirken spezifisch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5.7 Enzyme mit Hemmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5.8 Wir treffen alte Bekannte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5.9 Jetzt wird’s langweilig: Die Namen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 5.10 Grenzen der Wirksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5.11 Autos ohne Gaspedal und Bremsen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.12 Unentbehrliche Helfer: Die Cofaktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5.13 Die Klassengesellschaft der Enzyme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5.14 Ein enttäuschendes Ende?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 6 Sechster Ausflug: Durch dick und dünn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6.1 Zucker macht nicht dick! Oder doch?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6.2 Ein Weg vom Traubenzucker zur Palmitinsäure? . . . . . . . . . . . . . 164 6.3 Es gibt doch einen Weg – wir gehen ihn an. . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6.4 …und weiter zu den ungesättigten Fettsäuren…. . . . . . . . . . . . . . 169 6.5 Fette sind Ester der Fettsäuren mit Glycerin. . . . . . . . . . . . . . . . . 170 6.6 Ein Wort zur Fettverdauung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 6.7 Seifenmoleküle bei der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 6.8 Wie Fett abgebaut wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 6.9 Ein Abstecher zu anderen Lipiden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.10 Phosphoglyceride. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 6.11 Membrane, jetzt endlich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.12 Mit Fett und Wasser gleich gut Freund: der Emulgator. . . . . . . . . 188 6.13 Am Ende unseres sechsten Ausflugs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

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Inhaltsverzeichnis

7 Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone. . . . . . . 191 7.1 Mit Magellan über den Pazifik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 7.2 Vitamin C – ein Wundermittel?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 7.3 Chemie des Sehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 7.4 Ein Ruderschlag in molekularen Dimensionen. . . . . . . . . . . . . . . 196 7.5 Vitamin A und Carotin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 7.6 Eine rätselhafte Krankheit in Ostasien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 7.7 Ein Menschenversuch bringt Licht in das Dunkel. . . . . . . . . . . . . 199 7.8 Das Vitamin B1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 7.9 Flavin und andere Bekannte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 7.10 Ein paar rätselhafte Vorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 7.11 Ein vielseitiges Pflanzenhormon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 7.12 Ethylen als Postbote. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 7.13 Weiter zu den Langerhansschen Inseln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 7.14 Die Geschichte der Zuckerkrankheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 7.15 Insulinsynthese durch Spaltungsreaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 7.16 Die Ausschüttung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 7.17 Wie die β-Zelle Zuckerkonzentrationen misst. . . . . . . . . . . . . . . . 210 7.18 Was das Insulin mit dem Blutzucker macht. . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 7.19 Umkehr der Marschrichtung durch Glukagon. . . . . . . . . . . . . . . . 211 7.20 Andere Wirkungen des Insulins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 7.21 Das Adrenalin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 7.22 Ein winziges Körnchen Adrenalin genügt…. . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7.23 …weil es eine Lawine lostritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7.24 Synthese und Biosynthese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7.25 Ein Ausblick vom Gipfel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Safari: Zu einem eigenwilligen Element. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Sach- und Personenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

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Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

Drehen wir unsere Uhren zurück! Nicht bis zu Adam und Eva, sondern erheblich weiter, aber auch nicht bis zur Erschaffung oder Entstehung unserer Welt. Vier Milliarden Jahre sollen uns reichen, um innezuhalten und einen neugierigen Blick auf unsere Umgebung zu werfen. Sie sieht erheblich anders aus als heute. Allerorten speien Vulkane unermüdlich glutflüssige Lavafontänen in die Atmosphäre. Lavaströme wälzen sich über eine kaum erstarrte Erdoberfläche. Wo sie ins warme oder heiße Meer stürzen, entstehen unter Zischen und Fauchen riesige Wolken aus Wasserdampf. Diese steigen empor, kühlen sich ab, laden sich elektrisch auf und gehen unaufhörlich als sturzbachartige Gewitterregen nieder. Fortwährend erhellen grelle Blitze die Nacht – oder den Tag, der sich unter den dichten Wolkentürmen kaum von der Nacht unterscheidet. Von Tieren oder Pflanzen keine Spur. Nicht von jeglichem Leben. Kein Wunder, besteht doch die Atmosphäre nicht aus Stickstoff und Sauerstoff, sondern aus Wasserdampf, Ammoniak, Methan, Wasserstoff und Stickstoff, lauter erstickenden oder giftigen Gasen. Wie könnte da Leben entstehen? Diese Frage versuchte vor fast hundert Jahren ein russischer Chemiker namens Alexander Iwanowitsch Oparin1 zu lösen. Da er seine Theorie in einer weitgehend unbekannt gebliebenen Monografie auf Russisch veröffentlichte, muss er heute den Ruhm mit dem Engländer J.B.S Haldane2 teilen, der 1929 unabhängig von ihm ähnliche Überlegungen anstellte. Die beiden nahmen an, dass durch Sonneneinstrahlung und Blitzentladungen in einer reduzierenden – also sauerstofflosen – Uratmosphäre

1Alexander Iwanowitsch Oparin lebte von 1894–1980, meist in Moskau. Er war Leninpreisträger, Held der Sozialistischen Arbeit und Mitglied der Sowjetischen Akademie der Naturwissenschaften. 2John Burdon Sanderson Haldane war ein äußerst vielseitiger Biologe, der dem Atheismus und dem Kommunismus nahestand. Er lebte von 1892–1964, hauptsächlich in England, nahm aber wegen der Regierungspolitik in der Suez-Krise die indische Staatsbürgerschaft an und starb in seiner neuen Heimat.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Neubauer, Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58859-8_1

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1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

Abb. 1.1  Die Apparatur

Funkenstrecke

Kühlwasser

Heizflüssigkeit

Brenner

organische Moleküle entstanden, die fähig waren, in dieser „Ursuppe“ durch Anlagerung weiterer Moleküle zu wachsen und sich schließlich – umgeben und geschützt durch eine Membran – zu den ersten Lebewesen entwickelten. Diese Überlegungen prüften zwei Amerikaner, Harald C. Urey3 und Stanley Lloyd Miller4 ab 1953 mithilfe einer genial ersonnenen einfachen Versuchsapparatur nach. Aber wie kann ein Forscher im Laboratorium die Umweltbedingungen der Urzeit nachahmen? Die Apparatur, mit welcher Miller, damals noch Student, auf Anregung Ureys seine Experimente durchführte, zeigt unsere Abb. 1.1. Sie besteht im Wesentlichen aus einem geschlossenen Kreislauf, in dem Wasserdampf erzeugt und überhitzt wird, der dann eine Funkenstrecke durchläuft, sich anschließend durch Abkühlen wieder verflüssigt und durch Überlauf in den Siedekolben zurückkehrt. Die Apparatur füllte er mit Wasser und einer Gasmischung aus Methan, Ammoniak und Wasserstoff. Die Strukturformeln dieser vier Ausgangsstoffe sind in Abb. 1.2 dargestellt. Nach einer Betriebszeit von einer Woche konnte er Aminosäuren in der Reaktionsflüssigkeit nachweisen. Weil aus Aminosäuren Eiweißverbindungen entstehen können, hatte er Bausteine des Lebens aus rein anorganischen Rohstoffen hergestellt. Daneben findet man organische Moleküle wie Blausäure, Dicyan, Cyanacetylen, und Aldehyde. Die zugehörigen Formeln sehen Sie in Abb. 1.3.

3Harald Clayton Urey war ein US-amerikanischer Chemiker, der von 1893–1981 lebte. Nobelpreis 1934 für die Entdeckung des Schweren Wasserstoffs. Nach ihm sind ein Mondkrater und ein Asteroid benannt. 4Stanley Lloyd Miller wurde 1930 in Oakland (Kalifornien) geboren und starb 2007 in San Diego.

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

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Abb. 1.2  Die Rohstoffe

H

O

H H

H

Wasserdampf

Wasserstoff

N

C

H H

H

H

H

Ammoniak NH 3

Abb. 1.3  Reaktionsprodukte

H

H

Methan CH4

H H C N

C O H Formaldehyd

Cyanwasserstoff (Blausäure)

C O

N C C N

Kohlenmonoxid

Dicyan

N C C CH

H

Cyanacetylen H H H O H C C C H H H

H

O

N C C H

OH

Aminoessigsäure (Glycin)

Propionaldehyd

Millers Versuche wurden inzwischen vieltausendfach überprüft und abgewandelt, aber niemals widerlegt. Im Gegenteil fand man, dass auch in weniger reduzierender oder gar neutraler Atmosphäre Lebensbausteine wie Aminosäuren und deren Folgeprodukte, die Peptide, entstehen. Dass in diesem Falle längere Kreislaufzeiten erforderlich sind, ist kein Argument gegen die Behauptungen Oparins und Haldanes über die Entstehung von Vorstufen des Lebens aus anorganischen Substanzen. Und weiter: Durch systematische Abwandlung der Reaktionsbedingungen, Hinzufügen oder Weglassen von Ausgangsstoffen, Verwendung von ultraviolettem Licht oder Hitze statt elektrischer Entladungen ist es gelungen, eine ungeheure Vielzahl organischer Verbindungen zu erzeugen. Eine ganz beschränkte Auswahl dieser Endprodukte zeigt unsere Abb. 1.4 und einige Beispiele für die in der „Ursuppe“ stattfindenden Reaktionen finden Sie in Abb. 1.5. Sicher leuchtet es Ihnen ein, dass viele der geschilderten Reaktionsprodukte ihrerseits wieder in der heißen Flüssigkeit oder im Dampfraum auf vielfältige Weise miteinander weiterreagieren können. Die abgewandelten Versuche nach Urey-Miller zeigten aber auch, dass bei Anwesenheit von Sauerstoff im Dampfraum der Kreislaufapparatur keine „Ursuppe“ entstand.

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

4 Abb. 1.4  Noch mehr Reaktionsprodukte

O

O

H HO H H

OH

C

H C OH CH 3 Milchsäure

O

H C C OH C H C OH C OH CH 2OH

R

R C O + NH

R 3

H

H

2

R H

C

OH NH 2

H

R H

C

NH 2

R

R

O

O NH 2 O

H 2N C C

+ HOH NH 2

H

Ph en yla la n in – eine Aminosäure

H 2N C C H

H 2N C C

H

+ HO H

R

H2N C C N + HOH H

4

O

eine Harnstoffverbindung

C N

R

3

H

NH 2

+ H C N

H

+ NH

3

OH

1 bis 4: Aminosäuren aus Aldehyden und Blausäure R1

5

H

R2

O

O

+ H 2N C C

H 2N C C OH

H

R1

O R2

H 2N C C OH

H

Entstehung eines Dipeptids aus zwei Aminosäuren

6

5 HCN

?

N

N N

N H

Adenin aus Cyanwasserstoff

Abb. 1.5  Einige Reaktionen

O + HOH

N C C H H

NH 2

Purin

H O H 2N C C HCH OH

OH

C

N H

N C N

G l yc e r i n a l d e h yd

1

Pyrimidin

H

C H C OH H C OH H

N

N

Traubenzucker

N

N

N

OH

1.1  Ein wenig Rüstzeug für das Verständnis

5

1.1 Ein wenig Rüstzeug für das Verständnis Den hier folgenden Absatz können Sie getrost überblättern, wenn Sie schon anorganische oder organische Chemie gelernt und nicht vergessen haben. Dann erinnern Sie sich gewiss, dass es 118 Elemente gibt – das sind Stoffe, die sich mit keinem chemischen oder sonstigen Verfahren in Bestandteile zerlegen lassen, weil sie nur aus einer einzigen Sorte von Atomen bestehen. Die Chemiker haben sich angewöhnt, jedem Element einen oder zwei Buchstaben zuzuordnen. So zum Beispiel dem Schwefel ein S, dem Magnesium das Mg, dem Chlor das Cl. Diese Buchstaben erlauben es, Verbindungen zwischen den Elementen in den sogenannten Summenformeln zu beschreiben. So wird der Verbindung, die das Eisen (Fe) mit dem Schwefel (S) bildet, die Formel FeS zugeordnet. Dem Wasser, das weiß heutzutage jeder, schreibt man die Formel H2O zu und das bedeutet, dass in jedem Wassermolekül ein Sauerstoffatom (O) zwei Wasserstoffatome (H) festhält. Die meisten Verbindungen haben kompliziertere Summenformeln. Ziemlich gut bekannt ist die des Alkohols, der genauer „Ethylalkohol“ oder „Ethanol“ heißt, sie lautet C2H5OH. Eigentlich könnte man C2H6O schreiben, das wäre doch einfacher! Warum tut man es nicht? Weil es zwei „isomere“ Verbindungen mit dieser Summenformel gibt. Die andere heißt „Dimethylether“ und hat die Strukturformel H3C–O–CH3. Im Gegensatz zur zweideutigen Summenformel sind diese beiden „Strukturformeln“ eindeutig. Die des Dimethylethers besagt, dass das Sauerstoffatom (O) zwei Methylgruppen (-CH3) festhält und sie verrät außerdem, dass in jeder Methylgruppe ein Kohlenstoffatom (C) drei Wasserstoffatome (H) bindet. Man sieht auch sofort, dass in ihr alle sechs Wasserstoffatome gleichwertig sind, denn sie sind alle an ein Kohlenstoffatom gebunden. Demgegenüber zeigt die Strukturformel des Ethylalkohols, dass das Sauerstoffatom hier eine „Ethylgruppe“ (-C2H5) und ein Wasserstoffatom festhält. Wenn man sie ausführlicher anschreibt, nämlich H H3C C OH H

erkennt man, dass die Ethylgruppe aus zwei Kohlenstoffatomen besteht, die über eine Kohlenstoff-Kohlenstoffbindung aneinander hängen. Das eine der beiden hält wieder drei Wasserstoffatome fest, das andere nur zwei und den Sauerstoff der OH-Gruppe. Von den sechs Wasserstoffatomen ist eines an Sauerstoff, die übrigen fünf an Kohlenstoffatome gebunden – sie sind also nicht alle gleichwertig. Das an Sauerstoff gebundene Wasserstoffatom wird sich gegenüber bestimmten Reaktionspartnern anders verhalten als die übrigen fünf Wasserstoffatome. Sicher glauben Sie mir, dass schon ein bisschen kompliziertere Verbindungen wie zum Beispiel der Butylalkohol mit der Summenformel C4H10O noch viel

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

6

mehr Isomere haben5 und überhaupt nur mithilfe der Strukturformel oder (meist sehr viel umständlicher) mit einem eigenen Namen richtig beschrieben werden können. Noch viel komplizierter wird der Isomerenwirrwarr für Summenformeln wie C18H36O2 oder C12H22O11, um nur zwei weitere Beispiele von unglaublich vielen zu nennen. Summenformeln und Strukturformeln sind also keine Erfindungen böswilliger Chemiker, die dazu dienen, Schüler und Studenten unnötig zu quälen, sondern unentbehrliche Hilfsmittel, um sich im Dickicht der Verbindungen zurechtzufinden. Gewiss ist Ihnen auch aufgefallen, dass bei den bis jetzt vorgestellten Strukturformeln alle Kohlenstoffatome vier Bindungsarme ausstrecken, Sauerstoffatome zwei und Wasserstoffatome einen. Wenn Sie überdies die Strukturformel des Methans in Abb. 1.2 genauer betrachten, erkennen Sie die räumliche Anordnung der vier Wasserstoffatome rings um das Kohlenstoffatom. Sie besetzen nämlich die Ecken eines Tetraeders, in dessen Mittelpunkt das Kohlenstoffatom steht. Und gewiss atmen Sie erleichtert auf, wenn ich Ihnen versichere, dass diese tetraedrische Anordnung der vier Bindungspartner des Kohlenstoffs in fast allen Verbindungen, die wir kennenlernen werden, ebenfalls auftritt. Ganz ähnlich ist die räumliche Struktur des Ammoniakmoleküls, denn auch hier treffen wir die drei Wasserstoffatome in den Ecken eines Tetraeders, allerdings besetzt ein freies Elektronenpaar den Weg in Richtung zur vierten Ecke, ganz so, als ob es ein Bindungspartner wäre. Beim Wassermolekül ist es nicht ganz leicht, die tetraedrische Struktur zu erkennen. Wenn Sie aber akzeptieren, dass hier nur zwei Wasserstoffatome für zwei Tetraederecken zur Verfügung stehen und dass zwei Elektronenpaare in die Richtung der anderen Ecken weisen, dann erkennen Sie leicht den gleichen Bauplan. Das Wassermolekül ist deshalb gewinkelt gebaut mit einem „Bindungswinkel“, von dem uns die Mathematiker sagen, dass er 109° betragen muss. Diesen Wert hat der Bindungswinkel wegen der zugrunde liegenden Tetraederstruktur auch beim Stickstoff und beim Kohlenstoff.

1.2 Gute Nachrichten aus der Biochemie Gerade rechtzeitig vor unserer endgültigen Ermüdung erreichen uns aufmunternde Nachrichten. Wir werden nämlich in der Biochemie bei weitem nicht allen 118 Elementen begegnen, sondern nur einer Auswahl von 11 häufig und einem weiteren Dutzend selten oder sogar sehr selten. Unter den 23 Elemente, die das Leben für seine Chemie braucht, sind sieben Nichtmetalle und vier Metalle ziemlich häufig. Die erste Truppe besteht aus den Elementen Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H), Sauerstoff (O), Stickstoff (N), Schwefel (S) und Phosphor (P), leicht zu merken mit dem Kunstwort CHONSP.

5Es

gibt nicht weniger als 7 Isomere!

1.2  Gute Nachrichten aus der Biochemie

7

Dazu kommt das Chlor, meist als negativ geladenes Chlorid-Ion. Vom Kohlenstoff wissen wir bereits, dass er stets 4 Bindearme aufweist. Der Stickstoff hat 3 und viel seltener 5 Bindearme, Schwefel 2 (ausnahmsweise 4 oder 6) und der Phosphor üblicherweise 5. Die vier Metalle in der zweiten Truppe heißen Kalium, Natrium, Magnesium und Calcium. Kalium und Natrium haben je einen, die anderen beiden Metalle jeweils zwei Bindearme. Die übrigen 12 Elemente sind Spurenelemente: Eisen, Zink, Kupfer, Mangan, Kobalt, Molybdän, Iod, Fluor, Selen, Chrom, Silicium und Nickel. Gehen wir zu den Bindungsstrichen über, welche in den Strukturformeln eine chemische Bindung zwischen zwei Elementen anzeigen! Hier darf ich Ihnen nicht verschweigen, dass bei den Nichtmetallen jeder Bindungsstrich in Wirklichkeit aus zwei Elektronen (sogenannten Valenzelektronen) besteht, von denen jeder Bindungspartner eines beigesteuert hat. In der chemischen Bindung befinden sie sich zwischen den beiden Partneratomen und bewirken deren Zusammenhalt in der „homöopolaren“ oder auch „kovalenten“ Bindung. Es ist also ganz ähnlich wie bei der Ehe zwischen zwei wohlhabenden Partnern: Jeder trägt mit seinem Besitz zum Zusammenhalt der ehelichen Bindung bei – Liebe, Sex, Schulden und Kinder bei Seite gelassen. Die schlichte Definition der „homöopolaren“ oder auch „kovalenten“ chemischen Bindung als Elektronenpaar im Gemeinschaftsbesitz ist natürlich sozusagen die reine Lehre, denn genauer besehen, wird doch nicht immer ganz redlich geteilt. Das Sauerstoffatom sehnt sich nämlich derart stark nach Elektronen, dass es eines gern ein wenig zu sich herüber zieht, egal ob es nun eigentlich einem Kohlenstoffatom oder einem Wasserstoffatom gehört. Das habgierige Sauerstoffatom erhält dadurch eine negative Teilladung, der unfreiwillige Spender eine positive. Das Stickstoffatom hat eine ähnliche Vorliebe. Ein weiterer Vorteil unserer Schreibweise: Der Bindestrich verrät, dass sich die Atome an seinen beiden Enden wie Kugeln oder Räder um eine Achse drehen lassen. Diese einfachen Vorstellungen sind erfreulicherweise für fast alle Zwecke ausreichend und in der Vorstellungswelt der meist schlicht denkenden Chemiker durchaus richtig. Sicher fällt Ihnen bei der Betrachtung der Formeln in unseren Abbildungen auf, dass manchmal bei Stickstoff- oder Sauerstoffatomen nicht nur Bindungsstriche zu Nachbaratomen eingezeichnet sind, sondern auch am Atom anliegende Striche, die offensichtlich in dieser Verbindung nicht gebraucht werden. Wir haben uns aber schon bei Abb. 1.2 gemerkt, dass solche anliegende Bindestriche immer ein nichtbindendes Elektronenpaar bedeuten. Wenn Sie in einer Formel zwei Atome sehen, die mit zwei Bindungsstrichen aneinanderhängen, so haben Sie eine Doppelbindung vor sich, die logischerweise aus zwei Elektronenpaaren aufgebaut ist. Der Doppelstrich zeigt wieder sehr schön, dass es hier keine freie Drehbarkeit gibt. Eine Dreifachbindung kann auch vorkommen, sie besteht aus drei Elektronenpaaren, die sich die Bindungspartner redlich teilen. Die freie Drehbarkeit ist hier erst recht ausgeschlossen. Wichtig: Aus Bequemlichkeit lassen die Chemiker oft in ihren Strukturformeln bei Kohlenstoffatomen den Buchstaben C weg. Ein Kohlenstoffatom steht

8

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

dann da, wo in der Strukturformel ein Knick eingezeichnet ist. Von Wasserstoffatomen bleibt manchmal überhaupt nichts Sichtbares übrig. Räumliche Strukturen sind, wenn nötig, durch perspektivisch sich verdickende oder verdünnende Bindestriche angedeutet. Wenn Sie in der Wikipedia chemische Verbindungen aufsuchen, werden Sie solchen vereinfachten Strukturformeln oft begegnen. Mit etwas Übung lernt man leicht, sie korrekt zu interpretieren. Auch wir werden in Formeln und Abbildungen von ihnen Gebrauch machen. Für die Umwandlung solcher Strukturformeln in die klassische Schreibweise ist es immer hilfreich, dort ein Kohlenstoffatom anzunehmen, wo Bindungsstriche gewinkelt aneinander stoßen. Wasserstoffatome müssen Sie dort anschreiben, wo das Kohlenstoffatom weniger als vier Bindungen zu haben scheint. Nicht viel schwieriger sind die Bindungsarme der Metalle zu verstehen. Erfreulicherweise werden sie uns erst begegnen, wenn wir uns schon ziemlich sicher auf dem weiten Feld der Biochemie bewegen. Hier sei nur mitgeteilt, dass bei ihnen die Bindungselektronen nicht zum gemeinsamen Besitz gehören. Es ist vielmehr so, dass das Metallatom seine Bindungselektronen gar nicht behalten will und wenn möglich einem Nichtmetall aufdrängt – ganz so, als ob es Schulden wären. Weil, wie Sie sich vielleicht entsinnen, jedes Elektron eine negative elektrische Elementarladung trägt, wird durch diese Elektronenübertragung das Metallatom positiv und das Nichtmetallatom negativ aufgeladen. (Um beim Vergleich zu bleiben: der Schuldenbuckel wird reicher und der wohlhabende Partner ärmer – ein gerechter Ausgleich sozusagen). Die „heteropolare“ oder „Ionenbindung“ zwischen beiden entsteht, weil sich positiv und negativ gegenseitig anziehen. Oft schreibt man dann die Bindung nicht mit einem Bindestrich, sondern kennzeichnet die elektrisch geladenen Atome oder Atomgruppen – auch Ionen genannt – durch die Zeichen + oder −. Um weiter beim Vergleich zu bleiben: Auch Ehen zwischen Schuldenmachern und Geldgebern können durchaus fest zusammenhalten. Und in der Geschäftswelt besteht normalerweise zwischen Schuldner und Gläubiger ein durchaus stabiles, freundschaftliches, wenn auch nicht gerade liebevolles Verhältnis. Jetzt aber zurück zur Chemie und den Bestandteilen der Ursuppe! Wo wir da rätselhafte Dinge finden, wollen wir sie durch Fußnoten verständlich machen.

1.3 Die Bedeutung der Versuche von Stanley Miller Über die Aussagekraft der Versuchsergebnisse von Stanley Miller sind sich die meisten Menschen nicht im Klaren. Sie, lieber Leser, zählen zu der Minderheit, die aus ihnen richtige Schlüsse zieht, wenn Sie folgendes bedenken: Es gibt bis jetzt keine Hinweise darauf, dass unsere Naturgesetze irgendwo im Weltraum ungültig sein könnten. Die chemischen Reaktionen, die wir auf unserem Planeten beobachten oder durchführen können, sind auch auf anderen Planeten mit erdähnlichen Eigenschaften möglich. Das bedeutet, dass überall im Weltraum, wo es erdähnliche Planeten gibt, Vorläufersubstanzen des Lebens entstehen müssen! Und dass sich aus diesen Vorläufersubstanzen, wenn sie vor genügend langer Zeit

1.4  Von den Aminosäuren zum Protein

9

entstanden sind, wie auf unserer Erde zwangsläufig Leben entwickelt hat. Vielleicht sogar intelligentes Leben! Bei der ungeheuren Zahl an sonnenähnlichen Fixsternen im Weltall – es soll etwa 1020, also hundert Milliarden Milliarden6 davon geben, jeder fünfte hat nach den Messungen des Weltraumteleskops Kepler einen erdähnlichen Planeten – ist es so gut wie gewiss, dass mindestens auf einem einzigen dieser 20 Mrd. erdähnlichen Sonnentrabanten intelligentes Leben vorkommt. Inzwischen mehren sich tatsächlich die Indizien für Leben im Weltall. Es ist gelungen, mithilfe der Raumsonde Rosetta auf dem Kometen Tschuri die Aminosäure Glycin nachzuweisen. Schon vorher fand man Aminosäuren in Meteoriten. Sie überstehen offensichtlich die Reise im Weltall und die harte Landung auf der Erde unbeschädigt. In der Milchstraße haben die Astronomen das primitivste Zuckermolekül, den Glycerinaldehyd (Abb. 1.4) entdeckt, und auch N-Methylformamid, in dessen Molekül die für Eiweißverbindungen typische NH–CO-Bindung auftritt. Phantasievolle Forscher vermuten deshalb, dass Meteoriten uns die ersten Lebensbausteine von anderen Planeten aus den Weiten des Weltalls gebracht haben. Eine unnötige Annahme: Miller und seine Nachahmer haben in tausenden von Versuchen bewiesen, dass die Ursuppe auch auf der Erde entstand. Und drei oder vier Milliarden Jahre Zeit dürften für die Evolution ausgereicht haben, all die Lebensformen zu entwickeln, die wir heute vorfinden. Aber selbst wenn wir annehmen, dass die ersten Lebewesen oder ihre Vorformen, vielleicht sogar nur ihre Erbinformation, aus dem Weltall auf die Erde gekommen sind, ändert das an den Ergebnissen der Millerschen Versuche nichts, außer dass die Ursuppe in diesem Fall woanders und noch früher entstand. Nun hat zwar Wilhelm Busch recht, wenn er schreibt: „Wer kann behaupten, dass Naturgesetze ewig sind? Wir kennen nur das eine Ende davon.“ Aber es gibt eben auch keinen Grund, anzunehmen, dass sie nicht ewig sind.

1.4 Von den Aminosäuren zum Protein Von den Reaktionsprodukten der Ursuppe interessieren uns die Aminosäuren am meisten. Wir fragen uns natürlich neugierig, ob sie starke oder schwache Säuren sind. Die saure Reaktion, so erinnern wir uns, beruht darauf, dass das Wasserstoffatom der „Carboxylgruppe“ CO–OH aus Abneigung gegen das Sauerstoffatom der CO-Gruppe dazu neigt, sich unter Zurücklassung eines Elektrons zu verabschieden. Dadurch wird es zum positiv aufgeladenen Wasserstoff-Ion, auch Proton genannt (die verbliebene CO–O–Gruppe wird negativ aufgeladen):

H2 N−CHR−CO−OH → H2 N−CHR−CO−O− + H+

6Die ungeheure Größe dieser Zahl machen wir uns am besten klar, wenn wir uns eine Maschine denken, die pro Sekunde eine Million Fixsterne zählen kann. Wir schalten sie ein und warten, bis sie mit dem Zählen fertig ist. Das dauert aber lange, nämlich über 3 Mio. Jahre.

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

10

Aminosäuren sind aber zugleich auch Basen, denn ihre NH2-Gruppe neigt dazu, Wasserstoff-Ionen an das Stickstoffatom anzulagern. Dadurch nehmen in wässriger Lösung die OH−-Ionen zu, und die sind für alkalische oder basische Reaktion verantwortlich: − -NH2 + HOH → -NH+ 3 + OH

Bei Aminosäuren kann die NH2-Gruppe gleich das Proton aus dem eigenen Molekül anlagern. Dadurch wird die Säurestärke vermindert. Jede Aminosäure kann man also auch als Zwitter-Ion anschreiben, das auf den ersten Blick weder Säure noch Base ist:

H3 N+ −CHR−CO−O− Und damit ergibt sich, dass Aminosäuren keine starken Säuren sind. Aus demselben Grund sind sie auch keine starken Basen. Bei physiologischen Bedingungen liegen sie sogar fast immer als Zwitter-Ionen vor. Ihre wichtigste Eigenschaft ist aber: Sie sind fähig, so miteinander zu reagieren, dass kurze oder auch lange Molekülketten entstehen. Das schaffen sie dadurch, dass aus einem Wasserstoffatom der NH2-Gruppe einer Aminosäure und der OH-Gruppe einer zweiten Aminosäure ein Molekül Wasser entsteht. An den beiden Reaktanten werden dadurch Bindungskräfte frei. Was liegt näher, als dass sie sich sozusagen die Hand reichen – und dadurch eine neue Bindung entsteht: R

R

R

H2N C C O H + H2N C C OH H O

R

H2N C C NH C C O H + HO H

H O

H O

H O

Ein komplizierteres Molekül ist entstanden, ein „Dipeptid“, in dessen Formel R für ein Wasserstoffatom oder einen Kohlenwasserstoffrest, zum Beispiel eine Methylgruppe (-CH3) steht. Aber dieses Dipeptid hat immer noch an einem Ende eine NH2-Gruppe und am anderen eine CO–OH-Gruppe. Es kann also an beiden Enden mit je einem Molekül Aminosäure unter Wasserabspaltung weiter reagieren und so ein Tetrapeptid aus vier Einheiten bilden, wie das Abb. 1.6 zeigt. R1

R2

R3

R4

H2N C C NH C C O H + H2N C C NH C C O H H O

H O

H O

Dipeptid R1

H O

Dipeptid

R2

R3

R4

H2N C C NH C C NH C C NH C C OH + HOH H O

H O

H O

Tetrapeptid

Abb. 1.6  Weitere Aminosäure-Folgeprodukte

H O

1.5  Vom Ursprung des Lebens Abb. 1.7  … ein Oligopeptid

11 H N

C

O

H R2

C

C

H R1

N H

C O

H N

C

O

H R4

C

C

H R3

N H

C O

H N

H R6

O C

C

H R5

N H

C

C O

In ihm findet sich also das Kettenglied NH–CHR–CO- viermal aneinander gereiht. Auch das muss nicht das Ende der Fahnenstange bedeuten, es könnte sich nach bewährtem Muster ein weiteres Molekül Aminosäure anschließen oder noch viele. Innerhalb desselben Peptidmoleküls können durchaus unterschiedliche Kohlenwasserstoffreste für R stehen, was in der Abb. 1.7 durch R1, R2, R3 und so weiter dargestellt ist. Tatsächlich findet man solche „Oligopeptide“, die sich aus wenigen, eventuell sogar verschiedenen Aminosäuren gebildet haben, in der Ursuppe. Sie neigen dazu, sich in der Ursuppe „autokatalytisch“ zu vermehren, weil sie Aminosäuren mithilfe von zwischenmolekularen Anziehungskräften anlocken und so geschickt festhalten, dass die Atomgruppen, die miteinander reagieren sollen, sich nahekommen.7 Sie gelten als „Bausteine des Lebens“, denn man kann aus ihnen „Polypeptide“ also vielgliedrige eiweißähnliche Stoffe erhalten, wenn man sie mit Katalysatoren oder oberflächenaktiven Mineralien zusammen für einige Zeit auf höhere Temperaturen erhitzt. Und wie viele Aminosäurekettenglieder können in einem solchen „Protein“ aneinanderhängen? Das können wenige Dutzend, aber auch weit über 100 000 sein. Bei ihrer Entstehung wird allerdings Wasser aus den Ausgangsstoffen abgespalten und das gelingt nicht ohne weiteres in der wässrigen dünnen Ursuppe, ganz ähnlich, wie es nicht gelingt, in Fleischbrühe Braten zu machen.

1.5 Vom Ursprung des Lebens Die Forscher streiten, wie und wo aus den Oligopeptiden richtige „Polypeptide“ oder gar Eiweißklümpchen entstehen konnten. Vielleicht auf heißen Steinen vulkanischer Herkunft, die von Brandungswellen bei Flut mit Ursuppe bespritzt wurden und bei Ebbe trocken fielen. Oder an mineralischen Katalysatoren, die auf ihren Kristalloberflächen eine geordnete Anlagerung von reaktionsfähigen Oligopeptiden erlaubten und damit sozusagen die Molekülstruktur des Eiweißmoleküls hilfreich vorformten. Vielleicht sogar an den heißen Quellen in der Tiefsee! Oder in heißen Spalten ganz tief in der Erdkruste. Wir wissen es nicht und erst recht nicht, wie die nächsten Schritte bis zum ersten Urbakterium aussahen – es ist nur sicher, dass der Weg dahin noch weit war. Allerdings hatte die Ursuppe auch einige hundert Millionen Jahre Zeit, ihn zu finden.

7Wir werden später sehen, dass viele Katalysatoren bei ihrer Tätigkeit solche Ordnungskräfte einsetzen.

12

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

1.6 Asymmetrische Moleküle und optische Isomere Gegen Ende dieser Epoche oder vielleicht auch kurz danach fand wohl ein seltsamer Vorgang statt. Um ihn zu begreifen, wollen wir uns das Molekül der α-Aminopropionsäure, auch Alanin genannt, stellvertretend für alle an der Proteinsynthese beteiligten Aminosäuren ansehen. Beim genauen Betrachten der Strukturformel in Abb. 1.8 fällt uns auf, dass das in der Mitte des Tetraeders sitzende Kohlenstoffatom vier verschiedene Bindungspartner hat. Solch ein Kohlenstoffatom nennt man ein „asymmetrisches Kohlenstoffatom“, weil man es nicht durch einen Schnitt in zwei gleiche Hälften zerteilen kann. Jede Hälfte hat andere Bindungspartner! Allerdings kann man ein Spiegelbild dieses Moleküls herstellen, wenn man die Aminogruppe dort anbindet, wo in Abb. 1.8 das Wasserstoffatom sitzt und dieses auf den Platz der Aminogruppe versetzt. Anders ausgedrückt: Wenn man das Wasserstoffatom und die Aminogruppe Plätze tauschen lässt, wie dies Abb. 1.9 zeigt. Unsere Erkenntnis bedeutet, dass es zwei verschiedene Alaninmoleküle geben muss, die sich wie Bild und Spiegelbild oder wie die rechte und linke Hand voneinander unterscheiden. Der Unterschied ist minimal: Er besteht nur in der Anordnung der Bindungspartner. Deshalb leuchtet es Ihnen sicher ein, dass beide Moleküle gleich viel Energie enthalten, die sie zum Beispiel beim Verbrennen abgeben. In der Haldane-Suppe werden sie in gleicher Menge vorkommen, denn es besteht kein Grund dafür, dass eines der beiden „Enantiomeren“ bevorzugt entsteht. Auch sonst unterscheiden sie sich nicht – zum Beispiel hinsichtlich des Schmelzpunkts, der Löslichkeit oder der Reaktionsfähigkeiten. Allerdings drehen Lösungen der beiden Enantiomere die Schwingungsebene von polarisiertem Licht, und zwar im Uhrzeigersinn das eine und gleich stark entgegen dem Uhrzeigersinn das andere. Aus historischen Gründen nennen wir das Isomer der Abb. 1.8 „L-Alanin“ und das der Abb. 1.9 „D-Alanin“. Leicht zu merken: Wenn wir das Molekül so aufstellen, dass die sauerstoffreichste Gruppe oben ist und die Kohlenstoffkette nach unten verläuft, dann liegt bei der L-Verbindung der größere Ligand (also die NH2-Gruppe) links. Das gilt auch für andere L-D-Enantiomere.

Abb. 1.8  Bild …

COOH H 2N C H CH 3 L-Alanin

Abb. 1.9  … und Spiegelbild

COOH H C NH 2 CH 3 D-Alanin

1.8  Faserproteine: Wolle und Seide

13

1.7 Wo blieben die D-Aminosäuren? Der oben erwähnte seltsame Vorgang führte nun aus rätselhaften Gründen bei den Eiweißverbindungen und nicht nur bei ihnen zu einer ungeheuren Überzahl der L-Aminosäuren. D-Aminosäuren sind dagegen so selten, dass man sie lange Zeit überhaupt nicht fand. Erst Anfang der Neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden sie in manchen Pflanzen, wie Reis, Knoblauch und Erbsen entdeckt, sowie in manchen von Bakterien hergestellten Antibiotika. Irgendein Vorgang muss bei der Entstehung des Lebens dazu geführt haben, dass Eiweißverbindungen aus L-Aminosäuren viel, viel häufiger entstanden (oder „überlebten“) als ihre D-Isomeren. Für unsere Aufgabe, Biochemie zu verstehen, können wir glücklicherweise dieses Thema verlassen und zu der Polypeptid-Molekülkette zurückkehren, die wir aus dem Oligopeptid der Abb. 1.7 herausgelesen haben.

1.8 Faserproteine: Wolle und Seide Sicher sind wir uns einig, dass die Kette im Falle von Aminoessigsäure (Glycin) als Ausgangsprodukt aus vielen Einzelgliedern mit der Strukturformel

−NH−CH2 −CO− besteht, wie dies Abb. 1.10 zeigt. Etwas besorgt blicken wir nun um uns und fragen, ob es Molekülketten mit vielen Tausenden solcher Kettenglieder wirklich gibt. Damit wir nicht unnötig Abb. 1.10  Ein Polypeptid H H

NH C C O HN C

O C H H

NH C O C

O C

H

H

C HN

H

H

H H

NH C C O HN C

O C

H H

14

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

Zeit bei der Suche verlieren, versuchen wir, aus der Strukturformel einige Eigenschaften des gesuchten Eiweißkörpers vorherzusagen, also gewissermaßen einen Steckbrief des gesuchten Naturstoffs aufzustellen, und das geht so: Weil diese Eiweißverbindungen aus lang gestreckten Molekülketten bestehen, werden sie auch makroskopisch dazu neigen, lang gestreckte Fäden zu bilden. In diesen Fäden sind dann Milliarden von kürzeren oder längeren Molekülketten miteinander verzwirnt, ähnlich wie zum Beispiel die Hanffasern in einer Schnur. Wir dürfen erwarten, dass solche Fäden ziemlich reißfest sind, und zwar aus zwei Gründen: Einerseits ist jede Molekülkette extrem reißfest, weil beim Zerreißen eine kovalente Bindung auseinandergerissen werden muss und andererseits können auch die einzelnen Molekülketten nicht ganz leicht aneinander vorbeigleiten. Daran hindern sie elektrostatische Anziehungskräfte, denn die Sauerstoffatome der >C=O-Doppelbindung zerren die Elektronen etwas mehr an sich heran, als sie eigentlich dürften, und die Wasserstoffatome der >N-H-Bindung erlauben auch den Stickstoffatomen, die Bindungselektronen etwas stärker an sich zu ziehen, als ihnen eigentlich zusteht. Das Ergebnis ist, dass jedes Wasserstoffatom der >N-H-Bindungen eine positive Teilladung trägt und jedes Sauerstoffatom der >C=O-Gruppen eine negative. In jeder Molekülkette hält deshalb deshalb jede >N-H-Gruppe eine >C=O-Gruppe der Nachbarkette mittels elektrostatischer Anziehungskräfte fest und jede >C=O-Gruppe eine >NH-Gruppe der Nachbarkette. Man sagt auch, dass sich zwischen diesen Atomgruppen „Wasserstoffbrücken“ bilden. Diese Wasserstoffbrückenbindung ist zwar bei weitem schwächer als eine echte homöopolare Bindung, aber sie ist doch stark genug, um zwischen den einzelnen Polypeptidketten eine gewisse Ordnung zu schaffen und das Aneinandervorbeigleiten zu verhindern. Dieser Sachverhalt führt stattdessen dazu, dass Doppelstränge von Molekülketten entstehen, die aus zwei gegenläufigen Einzelketten bestehen und deshalb dem Zerreißen doppelten Widerstand entgegensetzen (Abb. 1.11). Und an beiden Seiten der Doppelkette kann sich das Anlagern mithilfe der Wasserstoffbrücken wiederholen, sodass äußerst reißfeste Bändchen oder Blättchen entstehen, die sich allenfalls verbiegen lassen, weil man sie gegeneinander fast ohne Widerstand verschieben kann – etwa so, wie wir die Blätter eines Blocks Papier durch Verbiegen desselben gegeneinander verschieben können. Wegen der Bindungswinkel am Kohlenstoffatom sind diese Blättchen genauer besehen Faltblättchen. Man spricht daher auch von einer β-Faltblattstruktur. Ähnliche Gebilde entstehen aus Papier, wenn man ein Blatt „ziehharmonikaähnlich“ knickt. Unser Polypeptid hat also außer einer Primärstruktur – der Polypeptidkette – eine Sekundärstruktur: das Faltblatt. Die Fäden aus lauter reißfesten Bändchen sind sehr zugfest, weil kovalente Bindungen, die jeweils Winkel von 109 ° einschließen, auseinander gebogen werden müssen (sicher erinnern Sie sich an diese Zahl, die uns die Mathematiker für tetraedrische Bindungen am Kohlenstoffatom angereicht haben). Aber von was für einem Faden ist hier die Rede? Welche Naturfaser ähnelt unserem Polypeptid am meisten? Eine Wollfaser oder eine Baumwollfaser? Eine andere Pflanzenfaser wie etwa Flachs? Oder ein Seidenfaden? Eine Verbrennungsprobe hilft uns, das zu entscheiden.

1.8  Faserproteine: Wolle und Seide Abb. 1.11  … mit Wasserstoffbrücken

15

H H

NH

C C O

HN C O C H H

H

H

H

C O NH

O C C

C O

O C

HN

H

H

H

H

NH

C O NH

O C C

C O C

O C

HN

H

H

H

H

H H

C

C HN

H H

C

C

C

H

HN

H

NH

HN

H

O C

C

H H

C O C NH

Versuch 1.1: Verbrennung von Naturfasern

Wir packen einen kleinen lockeren Wattebausch mit der Pinzette und halten ihn in die Flamme eines Spiritusbrenners. Er verbrennt rasch, geruchlos und ohne einen nennenswerten Rückstand (allenfalls ein wenig Asche) zu hinterlassen. Ähnlich verhalten sich andere Pflanzenfasern, wie sie etwa in Leinenfäden oder Hanfschnüren vorkommen. Demgegenüber verbrennt Wolle langsamer. Die Flamme verlöscht leichter, und es breitet sich ein Geruch nach verbrannten Haaren aus. Ein blasiger Rückstand bleibt übrig. Ein kleines Bündel von Naturseidefäden verhält sich sehr ähnlich. Woher rühren diese Unterschiede? Baumwolle ist praktisch reine Cellulose, und die besteht nur aus den Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff. Beim Verbrennen entsteht deshalb nur Kohlendioxid und Wasserdampf. Beide sind geruchlos und im Augenblick der Verbrennung gasförmig. Da andere Pflanzenfasern ebenfalls nur aus C, H und O bestehen, benehmen sie sich beim Verbrennen ähnlich wie Baumwolle. Allenfalls bleibt noch ein ganz klein wenig Asche übrig, die sich meist als feiner Rauch (ähnlich dem Zigarettenrauch) bemerkbar macht. Wolle und Seide enthalten jedoch außer den oben genannten Elementen auch noch Stickstoff. Der wirkt, wie der Name sagt, erstickend auf Lebewesen und Feuer. Deshalb verbrennt ein Wollfaden nicht ganz so schnell wie Baumwolle, die Flamme verlöscht leichter, ein blasiger Rückstand entsteht und ein Geruch nach verbrannten Haaren breitet sich aus. Unsere Polypeptidkette aus ehemaligen

16

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

Aminoessigsäuremolekülen enthält, genau wie Wolle oder Seide, ebenfalls die vier Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff. Sie wird demnach so verbrennen wie Wolle oder Naturseide. Baumwolle und andere Pflanzenfasern können wir also ausschließen, wenn wir den Naturstoff suchen, der am besten zu der Formel unseres Polypeptids passt. Mit einem weiteren Versuch können wir den Stickstoff in den Polypeptiden Wolle oder Seide nachweisen:

Versuch 1.2: Nachweis des Stickstoffs in Polypeptiden

Wir stellen uns im Reagenzglas eine konzentrierte Natronlauge her, indem wir zwei Granalien festes Natriumhydroxid in 2 ml Wasser lösen (Vorsicht! Es tritt starke Erwärmung auf! Natronlaugeverätzungen sind gefährlich, besonders für die Sehkraft! Daher Schutzbrille und Gummihandschuhe tragen!). In dieser Lösung kochen wir ein kleines Bündel Wollfäden oder Haare einige Minuten lang. Sie lösen sich allmählich auf und es entsteht ein Geruch nach Ammoniak und anderen Stickstoffverbindungen. Wir weisen sie nach, indem wir mithilfe einer Pinzette ein Stückchen feuchtes pH-Papier in den Dampfraum halten. Es färbt sich blau, weil das Ammoniak dem Wasser Wasserstoff-Ionen entzieht und dadurch Hydroxid-Ionen entstehen, die den pH-Wert erhöhen: − HOH + NH3 → NH+ 4 + OH

Der Versuch gelingt auch mit Seidenfäden oder Fingernagelabschnitten, nicht jedoch mit Baumwolle oder Hanfschnur. Warum entsteht Ammoniak aus Eiweißverbindungen wie Wolle oder Seide? Die Natronlauge zerlegt die für Polypeptide typische NH–CO-Bindung. Unter Wasseranlagerung zerfällt das Polypeptid in die Aminosäuren, aus denen es entstanden ist. Diese werden weiter durch Natronlauge angegriffen, wobei anstelle der NH2Gruppe eine OH-Gruppe in das Molekül eintritt und die CO–OH-Gruppe neutralisiert wird. Am Beispiel der Aminoessigsäure formuliert, verläuft die Reaktion also nach folgenden Gleichungen:

(-NH−CH2 −CO-)n + nHOH → nH2 N−CH2 −CO−OH H2 N−CH2 −CO−OH + HOH → HO−CH2 −CO−OH + NH3 HO−CH2 −CO−OH + NaOH → HO−CH2 −CO−O− Na+ + HOH H2 N−CH2 −CO−OH + NaOH → HO−CH2 −CO−O− Na+ + NH3 Die Reaktion gelingt mit allen Eiweißverbindungen. Im Falle von Fisch oder Fleisch ist sie auch auf biochemischem Wege leicht durchführbar:

1.9  Makroskopische Eigenschaften aus Strukturformeln ablesen

17

Versuch 1.3: Biochemische Zersetzung von Eiweiß

Wir prüfen ein winziges Stückchen Fisch oder Fleisch, das wir mit Wasser sorgfältig abgewaschen haben, mit pH-Papier und überzeugen uns, dass es einen annähernd neutralen pH-Wert (also etwa 6 bis 8) aufweist. Nach einigen Tagen, an denen wir es bei Zimmertemperatur in einem verschlossenen Marmeladenglas aufbewahren, macht sich ein unangenehmer Geruch bemerkbar. Mit feuchtem pH-Papier, das wir in unmittelbarer Nähe über die Probe halten, weisen wir durch Blaufärbung Ammoniak (oder Amine, also Abkömmlinge des Ammoniaks) nach. Der Versuch gelingt auch mit reifendem Käse.

1.9 Makroskopische Eigenschaften aus Strukturformeln ablesen Und was nun? Wolle oder Seide? Der faszinierende „Seidenglanz“ ist ein geradezu sprichwörtlicher Begriff. Er hat dazu beigetragen, dass Seide schon vor mehr als zweitausend Jahren auf einer eigens dafür eingerichteten Straße über zehntausende von Kilometern durch Karawanen transportiert und gehandelt wurde, dass sie in der Bibel als Luxushandelsware erwähnt wird (Offb 18, 11–12). Niemand rühmt dagegen den Glanz der Wolle. Die Kettenmoleküle unseres erdachten Polypeptids haben keine Seitenketten. Das Molekül ist also schön glatt. Instinktiv vermuten wir, dass es glänzende Oberflächen bildet. Zum Seidenglanz trägt aber vor allem Lichtreflexion an der Blättchenstruktur bei (die Blättchen wirken wie Spiegel!). Auch die dürfte sich bei Wolle, wahrscheinlich wegen sperriger Seitenketten, nicht so ohne weiteres ausbilden. Also entscheiden wir uns für Seide – von Wolle vermuten wir, dass sie viele und verschiedene Reste „R“ von ihren Molekülketten abspreizt, keine Blättchen bildet und deshalb viel weniger glänzt. Einer weitere Beobachtung spricht für Seide und gegen Wolle: Seidenfäden sind ähnlich wie unser Polypeptid sehr zugfest, während Wollfäden sich dehnen lassen, bevor sie zerreißen. Das Seidenhemd wird unwiderruflich zu eng, wenn wir an Gewicht zunehmen, während sich der Wollpullover den neuen Formen elastisch anpasst. Und wenn die Zugspannung aufhört, nehmen die Wollfäden wieder ihre ursprüngliche Länge an, beinahe wie Gummifäden! (Die Tatsache, dass das Seidenhemd gewebt und der Wollpullover gestrickt ist, verstärkt natürlich noch den Unterschied). Also Seide! Und tatsächlich besteht ein Seidenfaden überwiegend aus ehemaligen Aminoessigsäuremolekülen, die mit anderen Aminosäuren zu einem Polypeptid oder „Polyamid“ reagierten. Etwas seltener sind in die Molekülketten Aminopropionsäuremoleküle eingebaut, die dann die Methylgruppe seitlich von der Molekülkette abspreizen, und noch seltener tritt neben „Glycin“ und „Alanin“ die Aminosäure

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

18 H H N H

C

C O

H N

C

O

H H

C

C

H CH 2

N H

C O

H N

C

O

H H

C

C

H CH 3

N H

C O

H N

H H

O C

C

H CH 3

N H

C

C O

OH Glycin

Serin

Glycin

Alanin

Glycin

Alanin

Glycin

Abb. 1.12  Seide!

Serin mit einer Seitengruppe H–O–CH2- auf. Alle drei haben also keine oder kurze Seitenketten und wechseln sich in der hier vorgestellten Reihenfolge ab:

(-Gly-Ser-Gly-Ala-Gly-Ala-)n Spinnwebfäden sind übrigens ähnlich aufgebaut – auch sie sind ja glänzend und erstaunlich zug- und reißfest. Abb. 1.12 zeigt die Reihenfolge der Aminosäuren in der Seide etwas ausführlicher. Uff! Da ist es uns schon nach ganz wenigen Seiten anstrengender Lektüre gelungen, aus einer Strukturformel mechanische und optische Eigenschaften abzulesen!

1.10 Chemiefasern, die auch Polyamide sind Mitleidig blicken wir auf die Kunststoffchemiker herab, weil sie mit ihrem „Nylon 6“, auch „Perlon 6“, „Polyamid 6“ oder „Polycaprolactam“ genannt, dieses Bindungsprinzip nachahmen – nur dass sie sechs Kohlenstoffatome kettenförmig einbauen, wo bei der Seide zwei genügen.8 Seide bezeichnen sie folgerichtig als „Polyamid 2“, denn unabhängig von den abwesenden oder vorhandenen Seitenketten R folgen in der Peptidkette immer nur zwei Kohlenstoffatome aufeinander:

−NH−CHR−CO− Was aber passiert mit unserer Molekülkette, wenn sie wie die Wolle aus einem wilden Gemenge von verschiedenen Aminosäuren entstanden ist? Und etwas ängstlich fragen wir uns, ob „R“ vielleicht für nahezu unendlich viele verschiedene Molekülgruppen stehen kann. In diesem Falle wäre die Biochemie der Eiweißverbindungen nicht kompliziert, sondern unendlich kompliziert. Auch hier beruhigt uns die Antwort, denn sie lautet, dass es insgesamt nur 20 verschiedene Aminosäuren gibt, welche Proteine bilden können. Sie heißen deshalb auch „proteinogene Aminosäuren“. In Abb. 1.13 werden sie vorgestellt. Zweckmäßig unterteilt man sie in „essenzielle“ und „nicht essenzielle“ Aminosäuren. Die erstgenannten müssen dem Organismus mit der Nahrung zugeführt

8Also

Ketten, in denen sich die Struktur -NH−CH2 −CH2 −CH2 −CH2 −CH2 −CO- wiederholt.

1.10  Chemiefasern, die auch Polyamide sind

H

CH 3

Glycin

COOH H 2N C H

Alanin

COOH H 2N C H

CH 2

CH 2

OH

SH

COOH H 2N C H

COOH H 2N C H

COOH H 2N C H

CH 2

CH 2

C

C

C

OH

Glutaminsäure

COOH H 2N C H

COOH H 2N C H

CH 2

CH 2

CH 2

CH 2

CH 2

CH 2

CH 2 NH 3

Lysin COOH H 2N C H CH 2

O

NH 2

C

O

OH

Asparagin

Asparaginsäure

COOH H 2N C H

COOH H 2N C H CH 2

H 3C

CH CH 3

Valin

H 3C

CH CH 3

Leucin

NH H 2N

CH CH 3

Threonin

CH 2 O

HO

Cystein

CH 2

NH 2

COOH H 2N C H

Serin

CH 2

Glutamin

+

COOH H 2N C H

CH 2 C

O

COOH H 2N C H

CH 2 NH

COOH H 2N C H

N

COOH H 2N C H

19

Histidin COOH H 2N C H CH H 3C CH 2 CH 3 Isoleucin

+

NH 2

Arginin COOH H 2N C H CH 2

COOH H 2N C H CH 2

COOH H 2N C H CH 2

CH 2

H N

COOH Prolin

S CH 3

Phenylalanin

Methionin

OH

Tryptophan

Tyrosin

Abb. 1.13  Die 20 Eiweißbildner

werden, weil er sie nicht selbst herstellen kann. Beim Menschen sind 8 Aminosäuren essenziell und 2 „semiessenziell“, weil sie nur in bestimmten Situationen – beim Wachstum und beim Genesungsprozess – benötigt werden. Die restlichen 10 kann sich der menschliche Körper selbst basteln. Pflanzen sind da erheblich bessere Biochemiker: Sie machen alle 20 selbst.9 Und uns macht es nachdenklich, dass offenbar Pflanzen ganz gut ohne den Menschen (und ohne Tiere) auskommen, während wir und alle Tiere auf Pflanzen angewiesen sind.

9Man

hat inzwischen noch zwei weitere proteinogene Aminosäuren entdeckt, nämlich das Pyrrolysin und das Selenocystein. Sie kommen jedoch so selten vor, dass wir sie im Rahmen dieser Einführung vernachlässigen können.

20

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

1.11 Die vielseitige Rolle der Seitenketten Ganz erstaunlich ist für den Chemiker die Vielseitigkeit der Seitengruppen R. Es gibt solche, die nur aus Kohlenstoff und Wasserstoff bestehen wie die Methylgruppe des Alanins und die Phenylmethylgruppe des Phenylalanins. Sie machen das Protein wasserabweisend, wenn sie überwiegen. Kommen in der Seitengruppe R noch Sauerstoffatome dazu, so treten sie als OH-Gruppen oder als COOH-Gruppen auf. Erstere machen das Protein wasserfreundlich, nach dem Prinzip „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ können sie nämlich mithilfe von Wasserstoffbrückenbindungen Wassermoleküle anlagern. Letztere verleihen dem Protein Säureeigenschaften, weil sie dazu neigen, ein Wasserstoff-Ion abzugeben10. Aminogruppen, also NH2-Gruppen, führen dagegen zu basischen Eigenschaften, weil sie gern ein Wasserstoff-Ion anlagern und, falls dieses aus einem Wassermolekül stammt, die für Basen typischen OH−-Ionen zurücklassen. Woher nehmen aber die Pflanzen den Stickstoff, den sie für die Synthese der Aminosäuren und der Proteine brauchen? Erstaunlicherweise nicht aus der Luft, sondern aus dem Boden. Dort finden sie ihn in Form von Salzen, meist Nitraten, also Salzen der Salpetersäure. Ein gut gedüngter Boden enthält davon eine ausreichende Menge, ein schlecht gedüngter Boden zu wenig. Auf ersterem gedeihen die Pflanzen, auf letzterem darben sie. Entsprechend fallen die Ernten reich oder mager aus. Wir begreifen, warum gut gedüngte Böden für die Ernährung der Menschheit unentbehrlich sind. Dabei ist es im Prinzip gleichgültig, ob das Nitrat den Nutzpflanzen direkt in Form eines Mineraldüngers angeboten wird oder erst durch Mikroorganismen aus Harnstoff, Ammoniumsalzen, Stallmist, Jauche, Gülle oder Gründünger entstehen muss. Ein weites Feld für Vorurteile und heiße Diskussionen! Optimal wirtschaftet offensichtlich der Landwirt, der sowohl organischen wie auch mineralischen Dünger einsetzt. Rekordernten sind ganz ohne Mineraldünger ganz sicher nicht zu erwarten. Für die acht essenziellen gibt es übrigens den Merkspruch „Phänomenale Isolde trübt mitunter Leutnant Valentins lüsterne Träume“. Unschwer erinnern Sie die acht Wortanfänge an Phenylalanin, Isoleucin, Threonin, Methionin, Leucin, Valin, Lysin und Tryptophan. Immer bestrebt, uns das Leben so einfach wie möglich zu machen, entdecken wir beim genauen Betrachten der 20 Aminosäureformeln zwei Gesetzmäßigkeiten: alle tragen außer einer Aminogruppe (-NH2) und einer Carboxylgruppe (-CO–OH) die charakteristische Gruppe R an dem Kohlenstoffatom, das der CO–OH-Gruppe benachbart ist. Dieses Kohlenstoffatom bezeichnen die Biochemiker mit dem griechischen Buchstaben α. Und als zweite Gesetzmäßigkeit entdecken wir, dass auch die Aminogruppen (-NH2) am α-Kohlenstoffatom gebunden sind. Das erleichtert uns die Aufgabe, eine solche Polypeptidkette zu beschreiben.

10Siehe

dazu Dieter Neubauer „Kekulés Träume – eine andere Einführung in die Organische Chemie“, Springer Verlag Heidelberg 2014, S. 85.

1.12  Wie man ein Polypeptid beschreiben kann

21

1.12 Wie man ein Polypeptid beschreiben kann Die Biochemiker haben sich dazu auf folgendes Vorgehen geeinigt: 1. Sie beginnen auf der linken Seite eines Blatts Papier mit der NH2-Gruppe, die sich an einem Ende der Polypeptidkette befindet. Der zugehörigen ehemaligen Aminosäure geben sie die Nummer 1. Deren rechter Nachbar ist dann die Aminosäure mit der Nummer zwei. Darauf folgt die mit der Nummer drei und so geht das weiter bis zur letzten ehemaligen Aminosäure, deren CO–OH-Gruppe das andere Ende der Kette bildet. Falls das Polypeptid aus 245 Aminosäuren besteht, hat die letzte Aminosäure die Nummer 245. 2. Jedes ehemalige Aminosäureglied der Kette wird durch eine Abkürzung beschrieben. Die meistverwendeten Abkürzungen sind in Tab. 1.1 aufgelistet. Sie bestehen entweder aus drei Buchstaben oder (moderner) aus einem einzigen. Ein ganz einfaches Beispiel zeigt, wie leistungsfähig die Beschreibung ist: Die Tetrapeptidkette Ala-Gly-Ser-Cys oder A-G-S-C besteht aus Alanin, Glycin, Serin und Cystein und hat die Formel

H2 N−CHR1 −CO−NH−CHR2 −CO−NH−CHR3 −CO−NH−CHR4 −CO−OH Tab. 1.1  Die Abkürzungen

Alanin

Ala

A

Arginin

Arg

R

Asparagin

Asn

N

Asparaginsäure

Asp

D

Cystein

Cys

C

Glutamin

Gln

Q

Glutaminsäure

Glu

E

Glycin

Gly

G

Histidin

His

H

Isoleucin

Ile

I

Leucin

Leu

L

Lysin

Lys

K

Methionin

Met

M

Phenylalanin

Phe

F

Prolin

Pro

P

Serin

Ser

S

Threonin

Thr

T

Tryptophan

Trp

W

Tyrosin

Tyr

Y

Valin

Val

V

22 Abb. 1.14  Die Amidbindung – mesomere Grenzformeln

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit H

H N C

N C O

O

wobei R1 = CH3 R2 = H R3 = CH2 −OH und R4 = CH2 −SH sein muss. In diesem Molekül hat Serin (Ser) die Nummer 3, geschrieben Ser 3, und Cystein die Nummer 4, geschrieben Cys 4. Was allen Proteinen gemeinsam ist …. Es ist die Atomgruppierung CO–NH- oder „Säureamidgruppe“ also die Gruppierung, die aus der Aminogruppe eines Aminosäuremoleküls und aus der Carboxylgruppe eines anderen Aminosäuremoleküls durch Wasserabspaltung entstanden ist. Sie ist in der Kette des Proteins das Bindeglied zwischen den ehemaligen Aminosäuren, aus denen das Polypeptid sich zusammensetzt. Diese Atomgruppierung wollen wir uns auf der linken Seite der Abb. 1.14 genauer ansehen. Wir finden in ihr alles, was wir aufgrund unserer bisherigen Kenntnisse erwarten: Eine >C=O-Doppelbindung, die dem Sauerstoffatom zwei ungebundene Elektronenpaare übrig lässt, eine C-N-Einfachbindung und eine >NH-Gruppe, die mit Einfachbindungen an zwei Kohlenstoffatomen hängt, ein Wasserstoffatom trägt, und doch noch ein freies Elektronenpaar übrig hat. Diese Schreibweise stellt aber den tatsächlichen Sachverhalt nur unvollkommen dar. Das Sauerstoffatom hat nämlich eine derart heftige Sehnsucht nach Elektronen, dass es ein Elektronenpaar aus der >C=O-Doppelbindung an sich reißt und dadurch negativ aufgeladen wird. Dem Kohlenstoffatom fehlt jetzt ein Elektronenpaar. Mitleidig gibt das Stickstoffatom sein freies Elektronenpaar her, um die Lücke am Kohlenstoffatom zu füllen. Dadurch entsteht eine >C=N-Doppelbindung und das Stickstoffatom wird positiv aufgeladen (Abb. 1.14 rechts). Sicher ahnen Sie schon, dass auch dieses Bild den tatsächlichen Sachverhalt nur unvollkommen darstellt. Die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo zwischen den beiden Darstellungen, vielleicht in der Mitte. Das pflegen die Chemiker durch einen Doppelpfeil ↔ anzudeuten, den sie zwischen die beiden Extremvorstellungen setzen. Wichtig ist für uns jedoch, dass die C–N-Bindung offensichtlich einen Anteil an C=N-Doppelbindung hat und dadurch keine freie Drehbarkeit mehr zulässt. Eine weitere Konsequenz ist dann: Die vier beteiligten Atome C, H, N und O liegen alle in einer Ebene.11 Freie Drehbarkeit gibt es nur am α-Kohlenstoffatom. Hier begegnet uns zum ersten Mal ein Sachverhalt, der nicht mit einer einzigen Strukturformel beschrieben werden kann. Auch die Darstellung mit zwei oder mehr Strukturformeln, die man „mesomere Grenzformeln“ nennt, und die den wahren Zustand zwischen zwei oder mehr Extremen eingrenzen, befriedigt nicht ganz.

11Das

ist am leichtesten einzusehen, wenn man die beiden Striche der >C=CNH- und >CO-Gruppen innerhalb desselben Wendelmoleküls. Sie streben stets in die Längsrichtung der Wendel und treten regelmäßig nach durchschnittlich 3,6 -NH-CHR-CO-Kettengliedern auf. Die Wasserstoffbrücken stabilisieren dadurch die Wendel ganz ungemein, denn sie wirken wie senkrechte Stützen zwischen den Windungen einer Wendeltreppe. Das wird aus Abb. 1.15 ersichtlich. Sie zeigt die Sekundärstruktur der Wolle. Aber diese Stabilisierung hat Grenzen, denn wir wissen ja, dass die Wasserstoffbrückenbindung viel schwächer ist als eine echte kovalente Bindung (deren Bindungsenergie ist mehr als 10-mal größer). Wenn man an einem Wollfaden zieht, reißt man solche längs verlaufende Wasserstoffbrücken auf und die Wendeln dehnen sich wie in unserem Drahtversuch. Bei noch stärkerer Zugspannung wird die Wendelstruktur sogar auseinander gerissen und die Wolle nimmt Faltblattstruktur wie die Seide an. Lässt die Anspannung nach, ziehen die Wasserstoffbrücken die Wendel wieder auf ihre ursprüngliche Länge zusammen. Bei der Seide, so haben wir gelernt, sind praktisch alle >NH-Gruppen und alle >CO-Gruppen durch Wasserstoffbrücken miteinander verbunden. Bei der Wolle dagegen huldigen viele dem Müßiggang, weil ja immer erst nach 3,6 Aminosäure-Kettengliedern eine Wasserstoffbrücke beginnt. Die freien >NH-Gruppen machen sich aber anderweitig nützlich. Sie bilden nämlich eine Wasserstoffbrücke zu einem Wassermolekül, wenn die Wolle mit Wasserdampf in Kontakt kommt. Die freien >CO-Gruppen wollen beim Wasser halten auch nicht zurückstehen und tun das Gleiche auf ihre etwas andere Weise, wie Abb. 1.16 so schön zeigt. Die Folge dieses Anbändelns zwischen Atomen des Wassers und Atomen der Wolle ist die wunderbare Eigenschaft unserer Wollkleidung, dass sie bis zu 33 % ihres Gewichts an Wasserdampf aufnimmt und bei zunehmender Trockenheit auch wieder abgibt, ohne sich klamm anzufühlen oder ihre sonstigen Eigenschaften zu ändern. Wenn sie allerdings völlig durchnässt kräftig gedehnt wird, gibt sie resigniert die Wendelstruktur auf und nimmt die Faltblattstruktur der Seide an. Dann ist es vorbei mit dem elastischen Verhalten und der Wollpullover hängt wie ein nasser Sack am Körper. Glücklicherweise finden alle Kettenglieder

1.15  Die Rolle der Wasserstoffbrücken

25

Abb. 1.15  Wolle

N

R

N

R

O

N N

O

R N

R

O N

R

O N

R

O

N

O

R

NO

R

O O

Abb. 1.16  Wolle und Wasser

C O C

H

NH

H R2

C

HN

O H

R1

C O

H + 3 H

O

H

C O C

H R1

NH

H R2

H

C

HN

H O

C O

H H O

nach dem Trocknen wieder in ihre α-Helix zurück und das Kleidungsstück kann wieder seiner Hauptaufgabe nachgehen, uns vor kühlem Luftzug zu bewahren. Wunderbar, oder nicht? Noch ein Wort zu den Seitengruppen R der Wolle. Auch sie leisten einen Beitrag zur mechanischen Festigkeit der Wolle, indem sie zum Beispiel Schwefelbrücken zwischen zwei wendelförmigen Polypeptidketten bilden, wenn sich zwei

26 Abb. 1.17  Schwefelbrücken

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit O H H N C C

O H H N C C

CH 2 SH +

CH 2 S

– 2H

S

SH

CH 2

CH 2 C O

C

N H H

C O

C N H H

Seitenketten, die aus dem Cystein stammen und deshalb SH-Gruppen tragen, genügend nahe kommen (Abb. 1.17). Solche Schwefelbrücken zerbrechen übrigens, wenn Wolle zu heiß gebügelt oder zu heiß gewaschen wird. Weil sich die Schwefelbrücken nach dem übertriebenen Bügeln oder Kochen nicht mehr zurückbilden, entstehen so irreparable Schäden, wie die Hausfrau oder der Hausmann ungern bestätigen. Sogar heteropolare, also salzartige Bindungen können auftreten, wenn die eine Seitengruppe eine Carboxylgruppe und die andere eine Aminogruppe trägt. Dann gibt nämlich die CO–OH-Gruppe ein positiv geladenes Wasserstoffatom an die Aminogruppe ab. Die lagert es an das freie Elektronenpaar des Stickstoffs an und bildet so eine positiv geladene Ammoniumgruppe, während die schmählich im Stich gelassene COO−-Gruppe verständlicherweise negativ geladen zurückbleibt. Die Ionenbindung entsteht wie immer, weil sich negativ und positiv anziehen. Sie ist ähnlich beschaffen wie die Ionenbindung zwischen Na+ und Cl− im Natriumchlorid (Kochsalz). Der Bindungsmechanismus folgt dem Vorbild, das Ammoniak und Chlorwasserstoff abgeben, denn die finden sich nach dem gleichen Prinzip zu Ammoniumchlorid zusammen (Abb. 1.18). Insgesamt füllen die Seitengruppen den Raum zwischen den Wendelschleifen ziemlich vollständig aus.

1.16 Ein Abstecher in Backstuben und Küchen Apropos Natriumchlorid! Es hat eigentlich im süßen Kuchenteig nichts und im Brotteig fast nichts zu suchen. Dennoch verzichten Bäcker und Hausfrauen ungern darauf, wenigstens eine Prise Kochsalz einzuarbeiten. Ein Vorurteil oder eine antiquierte Gewohnheit? Gewiss nicht. Jedes Mehl enthält Eiweißmoleküle – zum größten Teil den von Überempfindlichen so gefürchteten Kleber, auch Gluten genannt. Er verleiht dem Teig unerwünschte Eigenschaften: mangelnde Dehnbarkeit beim Kneten, Neigung zum Abreißen der dünnen Teigwändchen zwischen den Gasbläschen beim Aufgehen des Teigs, Kleben natürlich, und und und … Makroskopische

1.17 Haare

27 H N

O C

H CH 2 O

O

H N

C

C

C

H

CH 2

CH 2

CH 2

C

C

OH

O

O

H

Polypeptidkette mit Glutaminsäure als Kettenglied H

N

H

H

+

H N H

CH 2 CH 2 CH 2

CH 2 CH 2

+H

CH 2

H CH 2 N H

C

C O

H CH 2 N H

C

C O

Polypeptidkette mit Lysin als Kettenglied Die beiden Polypeptidketten ziehen sich wegen der gegensätzlichen O

elektrischen Ladung der Gruppen

und

C O

H H N H

an.

Eine typische Ionenbindung ist entstanden.

Abb. 1.18  Gegensätze ziehen sich an

Eigenschaften, die auf Anziehungskräften zwischen positiven und negativen Teilladungen der verknäuelten Eiweißmoleküle beruhen. Na+ und Cl− sättigen derartige Kräfte ab, die Eiweißmoleküle wickeln sich aus zu langen, samtenen Fäden, der Teig wird dehnbarer, kurzum, die unerwünschten Effekte verschwinden! Ähnlich hilft auch Salz, wenn Eiklar zu Eischnee geschlagen wird.

1.17 Haare Beim Entstehen eines Haares geht die Natur ähnlich wie ein guter Seiler schrittweise zu immer festeren Gebilden voran. Aus zwei α-Helixmolekülen, an denen unpolare Seitengruppen eine Art Längsstreifen bilden, entsteht durch Verdrillen eine „coiled coil“ oder Superhelix. Bei diesem Vorgang verzahnen sich die unpolaren Seitenketten der beiden Helices miteinander. Etwa ein Dutzend solche Superhelices legen sich zu einem „Protofilament“ zusammen, Protofilamente werden zu Mikrofibrillen gebündelt und ein Bündel Mikrofibrillen bildet eine „Makrofibrille“. Bei diesen Vorgängen spielen Schwefelbrücken und

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

28

Wasserstoffbrücken eine wichtige Rolle. Die Makrofibrillen sind schon im Mikroskop sichtbar, sie füllen das Innere einer Haarzelle vollständig aus. Das fertige Haar besteht aus vielen längs gestreckten Haarzellen, die noch einmal von einer Cuticula – einer Haut – aus Fettschuppen und fettähnlichen Verbindungen umschlossen sind. Diese ist, ähnlich wie ein fettgetränktes Papier, wasserabweisend und verhindert, dass das Wollkleid der Tiere bei Regen nass wird. Zwischen den Schuppen kann jedoch Wasserdampf durchdringen, und zwar in beide Richtungen, von innen nach außen oder von außen nach innen. Wird das Haar gebogen, dann schieben sich die Schuppen verstärkt übereinander oder sie streben auseinander, je nachdem, ob sie auf der Biegungsinnen- oder -außenseite liegen. Wegen dieser wasserabweisenden Haut muss die Schafwolle vor ihrer Verarbeitung in der Spinnerei entfettet werden. Das menschliche Haar ist ganz ähnlich gebaut (Abb. 1.19). Ein Wunderwerk der Natur! Wenn Sie mitgezählt haben, werden Sie bestätigen, dass von den Aminosäuren über das Wendelmolekül bis zum fertigen Haar nicht weniger als sieben Organisationsschritte oder Hierarchiestufen aufeinander folgen. +HOL[

 +HOLFHV

6XSHUKHOL[ FRLOHG FRLO 0DNURILEULOOH

0LNURILEULOOH

6XSHUKHOL[

0LNURILEULOOH

0DNURILEULOOH

+DDU]HOOH &XWLFXOD

+DDU]HOOH Abb. 1.19  Ein Haar

+DDU

1.18  Von Haut, Horn und Huf zu den globulären Polypeptiden

29

Abb. 1.20  Myoglobin

1.18 Von Haut, Horn und Huf zu den globulären Polypeptiden Dem Prinzip der Wollstruktur begegnen wir in der Natur sehr häufig. Klauen, Federn und Nägel, Haut und Horn sind andere „α-Keratine“ deren Grundbaustein die α-Helix mit „intramolekularen“ Wasserstoffbrücken ist. Sie können erhebliche Härte erreichen – so kann man mit den Fingernägeln Gipskristalle ritzen, denen Mohs12 die Härte 2 zugesprochen hat – sie erreichen demnach fast die Mohs-Härte 3, ähnlich wie Kalkstein! Nimmt man noch die β-Faltblattstruktur der Seide hinzu, bei der die Wasserstoffbrücken von Kette zu Kette, also zwischenmolekular oder auch „intermolekular“ verlaufen, so hat man die typischen Bauelemente der „globulären“ Polypeptide beisammen. Zu denen zählen beispielsweise das Bluteiweiß, das Eiweiß unseres Immunsystems und viele Enzyme (das sind Biokatalysatoren, von denen unser Körper mehrere Tausend beschäftigt.). Sie sind annähernd kugelförmig gefaltet. Bei der Faltung sorgen wieder die partiellen Doppelbindungen der CO–NH-Gruppen mit ihrem ebenen Bau und der eingeschränkten Drehbarkeit dafür, dass es nur wenige Freiheitsgrade für die Faltung gibt und dass das ganze Gebilde zusammenhält. Abb. 1.20 zeigt in stark vereinfachter Darstellung das Myoglobin, den roten Farbstoff der Muskeln, dessen Aufgabe darin besteht, Sauerstoff zu speichern, bis der Muskel ihn zum flammenlosen Verbrennen von beispielsweise Traubenzuckermolekülen, also zur Energieerzeugung benötigt. Für diese Aufgabe hat das Myoglobin ein Molekül Häm in eine Art Falttasche eingebaut. Das Häm seinerseits ist ein ebenes Molekül, welches ein Eisenatom mit zwei positiven Ladungen komplex gebunden hat13. An dieses Eisenatom lagert sich ein Sauerstoffmolekül locker gebunden an, bei Bedarf wird es wieder abgegeben. Dem Myoglobin sprechen wir wegen der Kugelgestalt eine „Tertiärstruktur“ zu.

12Mohs

war ein deutscher Mineraloge, der schon 1822 die Mineralien nach zunehmender Ritzhärte ordnete. Dabei sprach er willkürlich dem Speckstein die Härte 1, dem Diamanten die Härte 10 zu. Glas und Stahl haben etwa 5, Quarz und Quarzsand 7. Smirgel und Rubin oder Korund 9. 13Zur Komplexbindung siehe „Demokrit lässt grüßen – Eine andere Einführung in die Anorganische Chemie“ von Dieter Neubauer, S. 173. Springer Verlag Heidelberg, 2016.

30

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

Abb. 1.21  Hämoglobin

Wie Sie sehen, keine ganz einfache Angelegenheit, die sich noch weiter kompliziert, wenn wir erfahren, dass der weitaus bekanntere Farbstoff des Blutes, das Hämoglobin, im Prinzip aus vier Molekülen Myoglobin aufgebaut ist und aus 574 Aminosäuremolekülen entsteht. Es nimmt den aus den Lungenbläschen in das Blut hineinwandernden Sauerstoff auf und gibt ihn dort, wo er zur Verbrennung unserer Nahrung benötigt wird, wieder ab. Wir wollen dieses Molekül, das konsequenterweise vier Taschen mit vier Häm-Komplexen aufweist und vier Moleküle Sauerstoff locker anlagern kann, denn auch nur zum Abschluss vorstellen (Abb. 1.21). Es ist nämlich so beschaffen, dass sich die Faltung geringfügig verändert, sobald eines der vier Hämmoleküle ein Molekül Sauerstoff aufgenommen hat. Die Veränderung bewirkt, dass die anderen drei Hämmoleküle in ihren Taschen noch leichter Sauerstoff aufnehmen können. Dadurch wird die Sauerstoffbeladung des Hämoglobins in der Lunge zu einem sehr rasch ablaufenden Vorgang. Umgekehrt erleichtert die Faltung die Abgabe von Sauerstoff an den Verbraucher, sobald erst einmal ein Molekül Sauerstoff sich vom Häm getrennt hat, weil nun die Faltung sukzessive wieder in den Ausgangszustand zurückkehrt. Vertieft auf dieses pumpenähnliche Verhalten einzugehen, hieße allerdings den Umfang unserer Einführung sprengen.

1.19 Eiweißverbindungen in unserer Nahrung Kohlehydrate, Fette und Eiweiß sind die Hauptbestandteile unserer Nahrung. Unter ihnen nehmen die Proteine eine Sonderstellung ein, denn wir können uns durchaus fettfrei oder ohne Kohlehydrate ernähren, aber nicht ohne Eiweiß. Schon ein Mangel an Eiweiß, wie er in den ärmsten Ländern unserer Erde häufig vorkommt, führt zu einer Fehlernährung, die sich durch Gewichtsverlust, Antriebslosigkeit und körperliche Schwäche bemerkbar macht, auch wenn der Magen mit

1.20  Was aus dem Eiweiß unseres Körpers wird

31

Kohlehydraten und Fett regelmäßig gesättigt oder sogar überversorgt wird. Um eine Eiweißmangelernährung zu vermeiden, sollten wir je kg Körpergewicht etwa 1 g Eiweiß täglich zu uns nehmen. Was geschieht mit dem Eiweiß in unserer Nahrung? Es gelangt ohne chemische Veränderung in unseren Magen. Dort trifft es auf den salzsäurehaltigen Magensaft und auf das Enzym Pepsin. Das ist ein Biokatalysator, der damit beginnt, die Eiweißmoleküle in kürzere Ketten zu spalten. Dabei werden Amidgruppen durch Reaktion mit Wasser getrennt: -NH−CHR1 −CO−NH−CHR2 CO- + HOH → −NH−CHR1 −COOH + H2 N−CHR2 CO-

Andere Enzyme, die der Dünndarm und die Bauchspeicheldrüse beisteuern, setzen sein Werk fort und gehen dabei so gründlich vor, dass schließlich alle CO– NH-Bindungen zerlegt werden. Aus dem Protein entstehen die Aminosäuren, aus denen es zusammengesetzt war und diese Aminosäuren werden durch die Zotten des Dickdarms in die Blutbahn eingeschleust. In den Zellen unseres Körpers werden daraus „körpereigene“ Eiweißverbindungen gebastelt.

1.20 Was aus dem Eiweiß unseres Körpers wird Natürlich werden die Eiweißverbindungen unseres Körpers irgendwann auch wieder enzymatisch abgebaut. Dabei entsteht aus ihren Kohlenstoffatomen durch die mehrfach erwähnte flammenlose Verbrennung Kohlendioxid (CO2), das wir über die Lungen ausscheiden, und aus den Wasserstoffatomen Wasser, welches als Urin, Schweiß oder Atemfeuchtigkeit unseren Körper verlässt. Was passiert mit den Stickstoffatomen? Sie werden ganz überwiegend in Harnstoff gebunden und mit dem Urin über die Nieren ausgeschieden. Eine kleine Menge Stickstoff bildet statt Harnstoff Harnsäure (Abb. 1.22). Letztere ist in Wasser nicht gut löslich. Produziert der Körper zu viel davon – vielleicht, weil die Nahrung zu viel Eiweiß enthält – dann lagern sich Harnsäurekristalle in den Nieren als Nierensteine ab oder sie verursachen in den Gelenken der bedauernswerten Gichtkranken heftige Schmerzen. Vögel und Amphibien scheiden übrigens Stickstoff nicht als Harnstoff, sondern ausschließlich als Harnsäure aus. Der Harnstoff ist ein hervorragendes Düngemittel, denn er wird durch im Boden vorkommende Bakterien in Nitrate umgewandelt. Der Kreislauf des Stickstoffs kann neu beginnen, wenn eine Pflanze aus diesem Nitrat mithilfe von Enzymen ihre Proteine baut. Abb. 1.22  Stickstoffhaltige Stoffwechselprodukte

H 2N

OH

H 2N Harnstoff

N

N

C O HO

N

N H

Harnsäure

OH

32

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

Abb. 1.23  Friedrich Wöhler. (© dpa/picture alliance)

1.21 Wöhlers Entdeckung Der Harnstoff hat in der Geschichte unserer Biochemie vor fast 200 Jahren eine entscheidende Rolle gespielt. Die Chemiker waren damals überzeugt, dass organische Verbindungen nur mithilfe einer rätselhaften „Lebenskraft“ entstünden. Sie forschten deshalb ziemlich mutlos, obwohl die Menschheit seit Jahrtausenden biochemische Verfahren zur Herstellung von Brot, Wein, Essig, Bier, Käse, Indigo, Purpur, Leder und Seife nutzte. In dieser Situation gelang dem deutschen Friedrich Wöhler14 erstmals die Synthese einer organischen Verbindung aus einem anorganischen Salz. Er hatte im Jahr 1828 wässrige Ammoniumcyanatlösung längere Zeit erwärmt, um sie einzuengen. Nach dem Abkühlen erkannte er mit geübtem Blick: der Brei, der sich aus der Lösung absetzte, bestand aus Harnstoffkristallen! Triumphierend schrieb er an seinen Lehrer Berzelius: „Ich kann so zu sagen mein chemisches Wasser nicht halten und muss Ihnen sagen, daß ich Harnstoff machen kann, ohne Nieren oder überhaupt ein Thier, sey es Mensch oder Hund, nötig zu haben.“ Und sein synthetischer Harnstoff erwies sich als völlig gleich mit Harnstoff, „den ich in jeder Hinsicht selbst gemacht habe.“ (Abb. 1.23).

14Friedrich

Wöhler (1800–1882) entdeckte Acetylen, Siliciumwasserstoff und Beryllium. Außer der Harnstoffsynthese gelang ihm auch die Herstellung von Oxalsäure aus rein anorganischen Verbindungen. Er gilt deshalb als der Begründer der Biochemie.

1.22  Noch ein Abschiedsblick in die Welt der Proteine

33

Die Theorie von der „Lebenskraft“ verlor in den nächsten Jahren immer mehr Anhänger und die von dieser Fessel befreite „Physiologische Chemie“ machte zusammen mit der „Organischen“ bald enorme Fortschritte. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde aus der ersteren die „Biochemie“.

1.22 Noch ein Abschiedsblick in die Welt der Proteine Eigentlich darf unser Ausflug in die graue Vorzeit der Erde hier noch lange nicht zu Ende gehen. Denn – gleichgültig wohin wir blicken – begegnen uns in jedem Lebewesen Proteine. Es gibt keine Zelle, die ohne sie auskommt. Sie sind dort für die vielfältigsten Aufgaben zuständig und völlig unentbehrlich. Ein Beispiel dafür entnehmen wir der „Wissen“-Seite der „Rheinpfalz am Sonntag“ vom 21. Mai 2017, die uns berichtet: „Das Ungleichgewicht zwischen den Eiweißen IRF1 und IRF4 könnte laut einer Studie der Universität Marburg Asthma begünstigen. IRF1 und IRF4 sind an der Entwicklung von T-Helferzellen beteiligt, die zur Immunabwehr des Körpers beitragen. Wie die Forscher in Versuchen mit Mäusen herausfanden, arbeiten IRF1 und IRF4 gegeneinander, wenn sich Helferzellen des Typs Th9 bilden. Die Helferzellen bilden das Eiweiß Interleukin 9, das Asthma fördert. IRF1 unterdrückt die Bildung des krankmachenden Interleukin 9, IRF4 dagegen fördert es. Die Vermutung der Wissenschaftler: Ein gestörtes Verhältnis von IRF1 und IRF4 könnte bei Asthmatikern zu einer erhöhten Interleukin 9-Produktion führen.“ Sie sehen, welch vielseitige Aufgaben und Wirkungen Eiweißmoleküle haben können. Umgekehrt finden wir Eiweiß nur dann, wen es in lebenden Zellen entstanden ist. Einen Grenzfall stellen die Viren dar. Sie bestehen im Grunde nur aus Eiweiß und Erbinformation. Wenn sie geeignete Bedingungen vorfinden, vermehren sie sich in beängstigender Geschwindigkeit, wenn es ihnen zu kalt wird, kristallisieren sie (!). Falls sie in den Körper eines Wirts eingedrungen sind, sortieren sie die Aminosäuren seiner Proteine nach ihrem eigenen Programm um. Das macht den Wirt krank. Die künstliche Herstellung von Eiweiß ohne Mithilfe lebender Zellen ist zwar theoretisch möglich, aber immer noch viel zu teuer und zu kompliziert15. Wenn sie eines Tages unter wirtschaftlichen Bedingungen gelingt, macht sie wohl einen Teil der Landwirtschaft überflüssig. So gesehen brechen wir eigentlich unseren Ausflug ab, gerade wenn er besonders interessant wird. Aber Papier ist nicht geduldig – irgendwann wird es knapp, wenn es für ein Buch mit begrenzter Seitenzahl reichen soll. Etwas atemlos sind wir hier am Ziel des ersten Ausflugs angekommen. Er begann vor langer Zeit unter den unwirtlichen Bedingungen der gerade erstarrten Erdoberfläche mit einer blitzdurchzuckten Uratmosphäre aus lauter erstickenden Gasen. In einer einfachen Versuchsapparatur ahmten wir die damaligen Verhältnisse nach und

15Die

Synthese eines Polypeptids aus 124 Aminosäuren, die in 369 Reaktionen miteinander verknüpft wurden, war automatengesteuert und erforderte mehrere Wochen Zeit. Sie gelang 1969.

34

1  Erster Ausflug: Eine Zeitreise in die Vergangenheit

erhielten nicht nur reaktionsfähige Zwischenprodukte, sondern eine ganze Palette von erstaunlich komplizierten Verbindungen. Unter ihnen entdeckten wir Aminosäuren und Oligopeptide, Vorprodukte der Proteine oder Eiweißverbindungen, also Bausteine des Lebens. Wir übersprangen den weiten Weg von da bis zu den ersten Lebewesen (vermutlich Bakterien, die sich mithilfe von Gärungsvorgängen am Leben hielten). Dafür widmeten wir unsere Aufmerksamkeit verstärkt einem auf dem Papier künstlich hergestellten Polypeptid, dessen Eigenschaften wir aus der Strukturformel abzuleiten versuchten. Verblüfft erkannten wir, dass Seidenraupen und Spinnen ein Polypeptid mit ähnlichen Qualitäten und ähnlicher Zusammensetzung schon lange herstellen. Zum Vergleich zogen wir die Wolle heran, die schlichtere Schwester der Naturseide. Nach einer gründlichen Besichtigung ihres atomaren Baus wurde uns klar, warum sie sich elastisch unserem Körper anschmiegt, warum sie Schweiß aufnimmt und trocknet, auch warum sie so trefflich wärmt, und sogar, warum sie ein zu heißes Bügeleisen nicht verträgt. Wir bewunderten den Bau unserer Haare und zogen von da Vergleiche zu Horn und Haut, Klauen, Federn und Nägeln. Ein kurzer Ausblick auf globuläre Polypeptide, Enzyme, Muskel- und Blutfarbstoffe ließ uns ahnen, wie vielseitig und kompliziert die Welt der Eiweißmoleküle ist. Wir verfolgten den Weg, den die Proteine unserer Nahrung in unserem Körper nehmen und lernten, dass er sie erst zu Aminosäuren zerlegt und dann wieder zu anderen, körpereigenen Proteinen zusammenbaut. Es wurde uns klar, dass Leben ohne Proteine gar nicht möglich ist und Proteine ohne Leben auch nicht entstehen. Verwundert fragen wir uns, wie es der Natur gelingt, derart komplizierte Bausteine fehlerfrei nachzubauen, sei es in einem Einzeller, in einem höheren Lebewesen oder gar in dessen Nachkommen. Die Antwort darauf wird uns bei einem der nächsten Ausflüge klar.

2

Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Es ist eine bekannte Tatsache, dass Unordnung leichter entsteht als Ordnung. Unser wohlaufgeräumter Schreibtisch verwandelt sich nach wenigen Tagen oder Wochen der Benutzung in ein unübersichtliches Gemenge von Gegenständen und Unterlagen. Den gleichen Gesetzen gehorcht offenbar unser Werkzeugkasten in der Garage oder der Nähkasten in unserer Kleiderkammer. Nur unter Energieaufwand lässt sich die verlorene Ordnung wiederherstellen. Ganz ähnlich erkennt man am allgemeinen Durcheinander, dass die Werkstatt längere Zeit für Arbeiten benutzt wurde, ohne dass Hilfskräfte Gelegenheit zum Aufräumen hatten. Das Stichwort Zeit veranlasst uns zu längerem Nachdenken über diese Phänomene. Es fällt uns ein, dass wohlgebaute Häuser allmählich verkommen, baufällig werden und schließlich zu einem wüsten Trümmerhaufen einstürzen, wenn der Besitzer keine Reparaturen vornimmt. Und unser Auto! Wenn es nicht beständig durch Wartungsarbeiten erneuert wird, verwandelt es sich von selbst in einen fahrenden Schrotthaufen, der zuletzt auch das Fahren verlernt. Unsere Freunde aus dem geologischen Institut versichern uns, dass im Laufe langer Zeiträume sogar riesige Gebirge erodieren, von immer tieferen Tälern durchschnitten, in Felsenmeere verwandelt und schließlich als Verwitterungsschutt weggeschwemmt werden. Es bedarf ungeheurer Energie aus dem Erdinneren, um neue Gebirge zu schaffen. Kurzum, wohin wir auch schauen, der unsympathische Ordnungsmuffel triumphiert mit seiner Behauptung, dass Unordnung von allein entsteht und Ordnung schaffen Energieverschwendung bedeutet. Tatsächlich scheint nirgends Ordnung von selbst zu entstehen. Kein Haus entsteht von allein aus Steinen und Mörtel, kein Auto aus herumliegenden Schrauben und Blechen, kein Gebirge aus einem Felsenmeer. Und sogar unseren Freunden aus der philosophischen Fakultät fällt hierzu ein Beispiel ein. Voller Stolz erinnern sie an die Büchse der Pandora, die wohlgeordnet alle Übel dieser Welt enthielt und die der leichtsinnige Epimetheus öffnete. Die Übel entwichen und kehrten nie mehr zurück. Unordnung ist einfach wahrscheinlicher als ihr Gegenteil. Und am schlimmsten trifft uns, dass unsere © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Neubauer, Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58859-8_2

35

36

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Freunde aus der Physik dem Ordnungsmuffel Recht geben! Sie murmeln Unverständliches über den Zweiten Hauptsatz der Wärmelehre und den Zusammenhang zwischen Entropie und Wahrscheinlichkeit. Weil bei jedem Vorgang in einem geschlossenen System die Entropie immer nur zunehmen könne, diese aber ein Maß für die Wahrscheinlichkeit sei, nehme auch die Unordnung beständig zu, sagen sie. Nie hätten wir gedacht, dass der Zweite Hauptsatz der Wärmelehre sogar auf unserem Schreibtisch und im Nähkästchen der Kleiderkammer seine unheilvolle Wirkung entfaltet! „Halt!“, höre ich Sie rufen. Gibt es nicht Lebewesen, die ein äußerst unwahrscheinliches Gebilde aus Atomen sind? Ist es nicht Tatsache, dass Atome sich sinnvoll zu Molekülen ordnen, die wiederum in Zellen koordiniert zusammenwirken, dass auch die Zellen ihrerseits in Organen zusammenarbeiten und die Organe einen wohlgeordneten Organismus bilden? Und ist es nicht so, dass solche äußerst unwahrscheinliche Organismen sich sogar vermehren? Da nimmt doch die Ordnung zu und ganz gewiss nicht ab! Unsere Freunde aus dem physikalischen Institut streiten das natürlich gar nicht ab. Nur weisen sie darauf hin, dass solche Organismen (auch unser eigener) zum Ordnung schaffen Energie brauchen. Im Klartext meinen sie chemische Energie, die wir seit der Geburt unablässig mit der Nahrung aufnehmen und für unseren Stoffwechsel durch Verdauung, eine flammenlose Verbrennung, freisetzen.

2.1 Nur von Energie leben – geht das? Wir beginnen jetzt, zu verstehen, dass es Lebewesen gibt, die keine Nahrung brauchen, sondern von Energie leben. Natürlich sind das keine Säugetiere oder Vögel, sondern primitive Einzeller wie zum Beispiel Hefepilze. Sie leben davon, dass sie mithilfe von Enzymen eine Gärungsreaktion in Gang setzen, bei der sie beispielsweise Traubenzucker in Alkohol und Kohlendioxid verwandeln und die dabei freigesetzte Energie dazu benutzen, ihren Körper (oft eine einfache Zelle) am Leben zu erhalten. Wenn ihnen das gut gelingt, vermehren sie sich sogar sehr rasch durch Zellteilung. Kurzum, sie benutzen die Energie dazu, Ordnung zu schaffen, in diesem Falle zu wachsen, die Zellflüssigkeit zu erneuern, Abfallprodukte auszuscheiden und neue Zellen aufzubauen. Bemerkenswert ist dabei, dass manche dafür nicht einmal Sauerstoff benötigen, sondern völlig „anaerob“ (das heißt „ohne Luft“) leben. Die Atome, aus denen ihre Zellen bestehen, entnehmen sie ihrer Umwelt.

2.2 Wie Bakterien Traubenzucker verdauen So ähnlich dürften die ersten echten Lebewesen gewirtschaftet haben, die nach endlosem Experimentieren der Evolution über längst verschollene Vorstufen aus den Polypeptiden der Ursuppe entstanden.

37

2.2  Wie Bakterien Traubenzucker verdauen

In ihr fanden sie für ihren primitiven „Stoffwechsel“ einen ziemlich seltenen Leckerbissen: Traubenzuckermoleküle, auch Glukosemoleküle genannt. Sie entstehen neben zahlreichen anderen Zuckern aus dem Ursuppenbestandteil Formaldehyd, wenn er in wässriger Lösung mit Calciumhydroxid längere Zeit Kontakt hat (und dieser Kontakt war in Zeiten der Ursuppe durchaus möglich). Dabei wirkt das Calciumhydroxid als Katalysator:

6 CH2 O → C6 H12 O6 Der Prozess, mit dem sie wahrscheinlich aus diesem Leckerbissen Energie gewonnen haben, läuft immer noch in der Natur, sogar in unserem Körper ab und ist seit vielen Jahrzehnten bestens bekannt. Er heißt „Glykolyse“ und besteht aus nicht weniger als 10 Teilschritten. Jeder Teilschritt erfordert ein eigenes, ganz spezifisch wirkendes Enzym. Die chemische Energie des Traubenzuckers wird dabei in handliche Portionen aufgeteilt. Diese Portionen werden von einem Molekül namens Adenosindiphosphat, kurz ADP genannt, aufgenommen. Dabei verwandelt sich das Adenosindiphosphat unter Aufnahme eines Hydrogenphosphations und eines Protons unter Wasserabspaltung in Adenosintriphosphat, kurz ATP. Dieses kann wandern und an einer anderen Stelle in einer Hydrolysereaktion die aufgenommene Energieportion wieder hergeben, indem es mit Wasser reagiert und sich wieder in ADP, Proton und Hydrogenphosphat zurückverwandelt. Die Struktur dieser beiden Moleküle zeigt Abb. 2.1. Sie ersehen daraus, dass sie jeweils aus drei Teilen bestehen: Einer Base (dem Adenin, Abb. 1.5 ), dem Zucker

Abb. 2.1  Energie speichern

NH 2 O– –

O–

N

O–

N

O P O P O P O CH2 O O O O H H

N N

H H

OH OH Adenosintriphosphat (ATP) NH 2 O– –

N

O–

N

O P O P O CH2 O O O H H

N N

H H

OH OH Adenosindiphosphat (ADP) ATP + HOH

ADP + HPO 4 2– + H + + 30,5 kJ

38

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Ribose und der Di- bzw. Triphosphatgruppe. Den Gesamtnamen hat man aus den unterstrichenen Silben zusammengebastelt). Dort finden Sie auch die Reaktionsgleichung, die dieses Wechselspiel beschreibt. Das ADP, so können Sie’s sich merken, arbeitet also wie die Batterie eines Elektroautos. Sie wird an der Ladestation (einer energiespendenden Reaktion) aufgeladen. In energiebeladenem Zustand heißt sie jetzt ATP. Dieses Molekül gibt die Energie an eine energieverbrauchenden Reaktion zum Ordnung­ schaffen wieder ab, ähnlich wie die Autobatterie Elektrizität an den Elektromotor zur Fortbewegung im Elektroauto. Das ATP wird durch die Energieabgabe wieder zu ADP, die beladene Batterie zur leeren. Der Kreislauf kann neu beginnen. Es ist recht bemerkenswert, dass die Energie durch eine Veränderung im anorganischen Teil des Moleküls gespeichert oder auch wieder abgegeben wird. Der organische Teil des Moleküls bleibt unverändert, während sich der Diphosphatrest mithilfe von Wärmeenergie und Abspaltung eines Wassermoleküls zum Triphosphatrest umgewandelt. Wenn das Ganze rückwärts abläuft und die Energie wieder frei wird, erweist sich ATP als ein echtes Energiespeichermolekül. Das dabei verbrauchte bzw. wieder entstehende Hydrogenphosphat-Ion wird von den Biochemikern gern mit Pi abgekürzt. Lassen Sie sich durch das i nicht verwirren, es bedeutet einfach „inorganic“. Überhaupt das ATP-Molekül! Im ersten Augenblick erscheint es uns bizarr, dass es hier überhaupt eine Rolle spielt. Wenn wir uns aber daran erinnern, dass Adenin ein Bestandteil der Ursuppe ist (es entsteht, wie wir gesehen haben, aus fünf Molekülen Blausäure (HCN), Abb. 1.5), dass auch Zuckermoleküle dort vorkommen und dass diese gern mit Polyphosphorsäuren verestern, geht ziemlich viel Unerklärliches über Bord. Dennoch: Warum so umständlich? fragen wir uns zu Recht. Es wäre doch viel einfacher, das Glukosemolekül mithilfe irgendeines hochwirksamen Biokatalysators in einer einzigen Reaktion abzufackeln und so den gesamten Wärmeinhalt der Glukose direkt zu gewinnen – also die Reaktion

C6 H12 O6 + 6 O2 → 6 CO2 + 6 H2 O + 2870 kJ ohne Umwege vollständig auszunutzen! Sozusagen zu klotzen statt zu kleckern! Die Antwort auf diese Frage ist nicht leicht. Aber wir sind auf dem richtigen Weg, wenn wir vermuten, dass wir kaum ein Energiespeichermolekül finden werden, das diese riesige Energiemenge aufnimmt, transportiert und auch wieder hergibt. Der Empfänger dieser Energiemenge dürfte sich erst recht schwertun mit der Bewältigung eines derart dicken Brockens. Sozusagen soll er mit dem Vorschlaghammer Ordnung schaffen! In den Mitochondrien, den oft als „Kraftwerk“ bezeichneten Organellen der Eukaryoten1 und in ihrer Zellflüssigkeit findet

1Eukaryoten

sind alle Lebewesen, deren Zellen mit einem Zellkern ausgestattet sind. Das sind alle Organismen außer Viren, primitiven Bakterien und Blaualgen, die ohne Zellkern zurechtkommen müssen.

2.2  Wie Bakterien Traubenzucker verdauen

39

stattdessen eine Gesamtreaktion statt, bei der nicht weniger als 32 Moleküle ATP nach der Teilgleichung

32 ADP + 32 Pi + 32 H+ + 32 · 30,5 kJ → 32 ATP + 32 H2 O also unter Verbrauch von 980 kJ entstehen und die wir mit der folgenden Gesamtgleichung beschreiben können:

C6 H12 O6 + 32 ADP + 32 Pi + 32 H+ + 6 O2 → 6 CO2 + 6 H2 O + 32 ATP + 32 H2 O + (2870−980) kJ Wie Sie sehen, bleiben vom gesamten Energieinhalt des Traubenzuckers 980 kJ in den ATP-Molekülen stecken – immerhin etwa 34 % – und die kann das ATP bei der Umwandlung in ADP abgeben. Pro Mol ATP sind das 30,5 kJ. Veraltet, aber anschaulich sei dieser Wert in Kalorien umgerechnet: er entspricht 7,3 kcal. Mit dieser Wärmemenge könnte man einen Liter Wasser um 7,3 °C erwärmen. Die restliche Energiemenge von 1890 kJ aus der Gesamtgleichung wird als Wärmeenergie frei und dient hauptsächlich zur Aufrechterhaltung der Körperwärme (auch bei wechselwarmen Tieren oder Lebewesen erhöht der Stoffwechsel die Körpertemperatur). Nach den Lehren der Thermodynamik bewirkt sie außerdem, dass die Gesamtreaktion freiwillig abläuft.2 Aber, so höre ich Sie murren, selbst wenn man akzeptiert, dass die direkte Verbrennung von Glukose viel zu viel Energie auf einmal hergibt, ist nicht recht einzusehen, warum ein so kompliziert gebautes Molekül wie ATP als Energieträger herhalten muss! Warum nützt die Natur nicht einfach die Umwandlung von Triphosphat in Diphosphat und verzichtet auf das organische Beiwerk des ATP? Die Antwort ist wieder die, dass dann die Energiepakete zu groß sind. Das Triphosphatmolekül muss sozusagen durch das angehängte Adenin und den Zucker verdünnt werden, ähnlich wie man Butter mit Brot unterlegt, bevor man sie verzehrt. So viel zur Gesamtreaktion. Die Glykolyse führt nicht bis zu diesem Ende, sondern bleibt nach den erwähnten 10 Einzelreaktionen bei einem Zwischenprodukt, einem Salz der Brenztraubensäure, meist nach ihren Salzen „Pyruvat“ genannt, einfach stehen. Bis dahin bilden sich nur 2 der 32 Moleküle ATP. Die Glykolyse nutzt also nur einen winzigen Teil der Möglichkeiten aus, ATP aus Glukose zu synthetisieren. Sie hat aber zum Ausgleich dafür einen ungeheuren Vorteil, der in der erstickenden Uratmosphäre entscheidend war: sie braucht nämlich keinen Sauerstoff. Typisch für eine Gärung! Aber jetzt zu den ersten fünf Teilreaktionen der Glykolyse. Sie dienen ausschließlich zur Vorbereitung einer Spaltungsreaktion, mit welcher das sechs Kohlenstoffatome enthaltende Glukosemolekül in zwei Bruchstücke mit je drei Kohlenstoffmolekülen zerlegt wird. Wir sehen uns nun die einzelnen Teilschritte an.

2Siehe dazu auch „Demokrit lässt grüßen, Eine andere Einführung in die Anorganische Chemie“, S. 152 f.

40

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Abb. 2.2  Glukose verestern …

HO C H2 H HO

O H OH

H

H

OH

H

+ ATP OH

O– –

O P O C H2 O H HO

O H OH

H

H

OH

H

+ ADP + H + OH

Enzym: Hexokinase

Die erste Reaktion ist eine Veresterung3. Glukose reagiert mit ATP an ihrem sechsten Kohlenstoffatom4, genauer gesagt, an der CH2OH-Gruppe zu Glukose6-Phosphat und ADP (Abb. 2.2). Dabei wird keine Energie erzeugt, sondern im Gegenteil sogar ein Molekül ATP als Energiespender benötigt. Der Zweck dieser Reaktion ist eine Art Fesselung der Glukose. Sie ist durch die Zellwand in das Zellinnere hereingekommen – mit einer Phosphat-Fußfessel wird verhindert, dass sie ähnlich leicht wieder entschwindet. Da die Reaktion ein Molekül ATP als Anschub benötigt, führt sie zunächst vom Ziel, ATP zu gewinnen, weg! ATP ist dabei nicht nur Energie- sondern auch Phosphatlieferant. Die zweite Reaktion ist eine Umlagerungsreaktion am Zuckermolekül. Der Sechsring der Glukose verwandelt sich in den Fünfring der Fruktose, des Fruchtzuckers, die Veresterung des Zuckermoleküls mit Phosphorsäure bleibt bestehen (Abb. 2.3). Durch die Verengung des Ringmoleküls hat das erste Kohlenstoffatom der Glukose eine neue Seitenkette CH2OH gebildet. Sie entsteht neben dem Sauerstoffatom des Fünfrings. Die dritte Reaktion verestert die neu entstandene CH2OH-Gruppe wiederum mithilfe eine Moleküls ATP, ganz ähnlich, wie das in der ersten Reaktion geschah. Es entsteht Fruktose-1,6-bisphosphat und ADP (Abb. 2.4). Die Reaktion enttäuscht uns abermals, denn auch sie verbraucht ATP anstatt es zu erzeugen, führt also noch weiter von unserem Ziel weg. Aus unserem

3Bei

einer Veresterung reagiert ein Alkohol mit einer Säure unter Wasserabspaltung zu einem Ester. In unserem Falle dient ATP als Lieferant für die Phosphatgruppe. 4Die Nummerierung der sechs Kohlenstoffatome beginnt neben dem Sauerstoffatom des Sechsrings mit „1“ und schreitet im Uhrzeigersinn bis zur CH2OH-Gruppe fort.

41

2.2  Wie Bakterien Traubenzucker verdauen Abb. 2.3  … isomerisieren …

O– O–



O P O CH 2 O H HO

O H OH

H

H

OH



O P O CH2 O

H

O

H H

OH

OH

CH 2OH

HO OH H

Enzym: Phosphoglukose-Isomerase

Abb. 2.4  … nochmal verestern …

O– –O

P O CH2 O O

H H

C H2OH

HO OH

OH

+ ATP

H

O– –O

O–

C H2 O P O –

P O CH2 O O

H H OH

HO OH

O

+ ADP + H +

H

Enzym: Phosphofruktokinase

sechseckig ringförmigen Glukosemolekül ist jetzt ein fünfeckig ringförmiges Fruktosemolekül mit zwei schweren Anhängseln geworden. Das kann nicht lange gut gehen! Wilhelm Busch hat geschildert, was passieren wird: Die Seele schwingt sich in die Höh – Der Bauch liegt auf dem Kanapee.

Wie befürchtet, zerreißt das Enzym Aldolase unser schwer vorbelastetes Fruktose-1,6-bisphosphat in der vierten Reaktion in zwei Bruchstücke mit je drei Kohlenstoffatomen. Jedes Bruchstück ist ein Phosphorsäureester. Das linke Bruchstück der Abb. 2.5 ist der Ester des Glycerinaldehyds. Weil die Estergruppe am dritten Kohlenstoffatom5 dieses Kettenmoleküls sitzt, heißt er auch Glycerinaldehyd-3-phosphat, kurz G3P. Das rechte Bruchstück ist ein Phosphorsäureester des Dihydroxyacetons, also ein Dihydroxyacetonphosphat, kurz DHAP genannt. Das Dihydroxyacetonphosphat wird nun in der fünften Reaktion umgelagert. Und – Überraschung! Es verwandelt sich in ein zweites Molekül Glycerinaldehyd3-Phosphat (Abb. 2.6).

5Man beginnt die Nummerierung der Kohlenstoffatome bei der Aldehydgruppe mit „1“; das Kohlenstoffatom am anderen Ende hat dann die Nummer 3.

42

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Abb. 2.5  … zerreißen …

O– –O

O–

C H2 O P O –

P O CH2 O O

O

H H HO OH OH H

O– –O

O–

OH

P O H 2C O

H

H O

G3P

C H2 O P O – O

O

HO H

H DHAP

Enzym: Aldolase

Abb. 2.6  …. Bruchstücke angleichen …

H2 C OH O– C O O P O– H2 C

H

O C H C OH O – H2 C O P O–

O DHAP

O G3P

Enzym: Triosephosphat-Isomerase

Hier halten wir erschöpft inne und ziehen die Bilanz über die ersten fünf Reaktionen der Glykolyse. Sie haben unser schönes Glukosemolekül mithilfe von fünf Enzymen und zwei Molekülen ATP in zwei Moleküle Glycerinaldehyd-3phosphat zerlegt. Aus einem Sechsringmolekül mit einer Seitengruppe sind über ein Fünfringmolekül mit zwei Seitengruppen schließlich zwei gleich gebaute Kettenmoleküle mit je drei Kohlenstoffatomen entstanden. Zwei Phosphatmoleküle wurden als Ester gebunden, wir finden sie an je einem der beiden Gycerinaldehydmoleküle unverändert wieder. Das Grundgerüst, der Glycerinaldehyd, ist das einfachste Zuckermolekül – es begegnete uns auch schon im Weltall, als wir über die Ursuppenversuche von Miller nachdachten (Abb. 1.4). Nur unserem Ziel, ATP zu synthetisieren und dessen Energieinhalt zum Aufbau hoch geordneter Lebewesen bereitzustellen, sind wir nicht näher gekommen – ganz im Gegenteil! Aber vielleicht können primitive Bakterien oder ihre Vorläufer den primitivsten Zucker, sprich Glycerinaldehyd, eher verdauen als das hoch komplizierte Glukosemolekül. Mit anderen Worten: Es sieht so aus, als wären wir doch auf dem richtigen Weg und als ob uns nur Geduld fehlte.

43

2.2  Wie Bakterien Traubenzucker verdauen H O–

O P O CH2

H H O NH 2

+

O

+ H–

H H

OH

O–

NH 2

O P O CH2

N

H H O

O

O

H H O

OH

N

OH

H H OH

NH 2 N N

O P O CH2 O O– H H

H H

OR

OH

+

NAD : R = H O– NADP+ :

R= P O

N

N

O P O CH2 O O–

N

H H

OH

NH 2 N

N

N

H H OR

NADH : R = H O– –

O

NADPH: R = P O – O

Abb. 2.7  Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid

Bei der sechsten Reaktion tritt ein neues Molekül erstmals in Aktion. Es hat den nicht ganz leicht zu merkenden Namen „Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid“ 6, wird dementsprechend NAD+ genannt, und hat die – ganz wie befürchtet – kompliziert wirkende Formel der Abb. 2.7. Das ist eine Verbindung, welche am Stickstoffatom des Nicotinamids eine positive Ladung trägt und die wichtige Eigenschaft besitzt, anderen Molekülen ein Wasserstoffatom samt beiden Bindungselektronen (also ein Hydrid-Ion H−) zu entreißen. Dieses negativ geladene Wasserstoff-Ion lagert sich an das dem Stickstoffatom gegenüber liegende Kohlenstoffatom des Nicotinamids an. Dadurch ändern sich die Bindungsverhältnisse im Nicotinamid, der aromatische Charakter7 mit den drei konjugierten Doppelbindungen im Sechsring geht verloren und die positive Ladung des Stickstoffatoms wird neutralisiert. Es entsteht NADH nach der Gleichung

6Ein Nukleotid ist eine Verbindung aus drei Teilmolekülen: einer Stickstoffbase, einem Zucker und einem Phosphatrest. In unserem Falle ist die Stickstoffbase das Nicotinamid (oben), und der Zucker ein Ribosemolekül (das perspektivisch dargestellte Fünfeck, das in der Abbildung an den oberen Phosphatrest gebunden ist). Der untere Phosphatrest trägt ein zweites Ribosemolekül mit angeschlossener Base (in unserem Fall Adenin). Deshalb ist das Ganze ein „Dinukleotid“. In diesem ungewohnten Wort steckt das lateinische Wort „nucleus“ (= Kern), ein Hinweis darauf, dass solche Verbindungen im Zellkern vorkommen. „Di“ deutet darauf hin, dass zwei Basen an das Phosphat gebunden sind. 7Mehr zum „aromatischen Charakter“ in „Kekulés Träume“ von Dieter Neubauer, S. 161 ff.

44

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

NAD+ + H− → NADH Bei unserer sechsten Reaktion raubt das NAD+ dem G3P ein Hydrid-Ion. Dadurch wird aus der Aldehydgruppe CHO des G3P eine positiv geladene CO+-Gruppe., Die positive Ladung sitzt natürlich am Kohlenstoffatom, das nach dem Verlust des Hydrid-Ions nur noch drei Valenzelektronen hat und deshalb eine schmerzliche Elektronenlücke aufweist. Da trifft es sich gut, dass ein Molekül teildissoziierte anorganische Phosphorsäure8 rechtzeitig vorbei kommt, um im Gesamtgeschehen mitzumischen. Sie gibt bereitwillig ihr letztes verbliebenes Wasserstoff-Ion ab und füllt mit einem Elektronenpaar des verlassenen Sauerstoffatoms die Lücke auf. So entsteht aus der Aldehydgruppe des G3P durch die Einwirkung des NAD+ und der Phosphorsäure eine CO–O–PO32−-Gruppe, ein Proton H+ fällt als Nebenprodukt an. Sie ist Bestandteil eines neu entstandenen Moleküls, des 1,3-Diphosphoglycerats (auch 3-Phosphoglyceroylphosphat genannt). Weil wir ja zwei Moleküle Glycerinaldehyd-3-phosphat zur Verfügung haben, entstehen folgerichtig auch zwei Moleküle der neuen Verbindung Die Gesamtreaktion und den Molekülbau des 1,3-Diphosphoglycerats zeigt Abb. 2.8. Wir warten immer noch sehnsüchtig auf die Entstehung des Energiespeichermoleküls ATP – und jetzt endlich, bei der siebenten Teilreaktion wird unsere Hoffnung erfüllt. Zwei Moleküle Adenosindiphosphat nähern sich zufällig (?) den beiden Molekülen 1,3-Diphosphoglycerat und werden mit je einem Phosphat-Ion beschenkt. Dadurch entstehen endlich, endlich zwei Moleküle Adenosintriphosphat. Zurück bleiben zwei Moleküle 3-Phosphoglycerat. In Abb. 2.9 sind diese Vorgänge dargestellt. Was ist das nun für eine Substanz und warum ist bei diesem Vorgang endlich so viel Energie entstanden, dass sich zwei Moleküle ATP bilden konnten? Wenn wir das eine, nackte Ende des 3-Phosphoglycerats genau betrachten, so fällt uns dort eine CO–O−-Gruppe auf, wie sie auch in der Essigsäure vorkommt. Diese „Carboxylgruppe“ steht da, wo vorher die Aldehydgruppe CHO des Glycerinaldehyds zu sehen war. Die Aldehydgruppe wurde also oxidiert – ohne dass Luftsauerstoff mitwirken musste und ohne dass Feuer ausbrach. Wir erleben hier ein anschauliches Beispiel für die mehrfach erwähnte Tatsache, dass Nahrung bei Stoffwechselvorgängen flammenlos verbrannt wird. Möglich wurde die flammenlose Oxidation durch die Einwirkung des NAD+, das ja dem Glycerinaldehyd-3-phosphat ein Hydrid-Ion entrissen hat. Durch den Wasserstoffentzug hat sich der Sauerstoffgehalt des Restmoleküls erhöht – das ist eine Oxidation, und die ist üblicherweise mit der Erzeugung von Wärmeenergie verbunden. Auch der Verlust von Elektronen bedeutet eine Oxidation.9

8Phosphorsäure

hat die Formel H3PO4, anders geschrieben (HO)3PO. Bei physiologischen Bedingungen hat sie zwei Protonen abgegeben und eines behalten, also dementsprechend die ­Formel HOPO32−. Das Dihydrogenphosphat kann ebenfalls auftreten. 9Siehe dazu „Demokrit lässt grüßen“ S. 77.

45

2.2  Wie Bakterien Traubenzucker verdauen Abb. 2.8  dehydrieren …

O

H O– C + NAD + + H O P O – H C OH O – H2 C O P O– O O

G3P

O– O P O–

O

C O + NADH + H + H C OH O – – O P O H2 C

O 1,3-Diphosphoglycerat Enzym: Glycerinaldehyd-3-phosphatDehydrogenase

O

O– O P O–

O– C + ATP H C OH O – O P O– H2 C

O

C O + ADP H C OH O – H2 C O P O– O

O

1,3-Diphosphoglycerat

3-Phosphoglycerat

Enzym: Phosphoglycerat-Kinase

Abb. 2.9  … endlich ATP erzeugen …

Bis jetzt allerdings haben die neu entstandenen zwei Moleküle ATP nur die beiden schon in der dritten Reaktion verbrauchten ausgeglichen. In der Gesamtbilanz wurde also aus dem Traubenzuckermolekül noch kein ATP gewonnen. Wir halten Ausschau nach weiteren energiespendenden Reaktionen und werden durch die achte Reaktion abermals enttäuscht. In ihr verwandelt sich das 3-Phosphoglycerat in 2-Phosphoglycerat (Abb. 2.10).

Abb. 2.10  … nochmal isomerisieren …

O

C

O–

O –

H C OH H2 C

O O P O–

C

H C

O–

O– O P O–

H2 C OH

O

O 3-Phosphoglycerat

2-Phosphoglycerat

Enzym: Phosphoglyceromutase

46 Abb. 2.11  … Wasser abspalten …

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe O

C

H C

O–

O

O– O P

H2 C OH

O–

O

C

O–

C C H2

2-Phosphoglycerat

O– O P O–

+ HOH

O

Phosphoenolpyruvat

Enzym: Enolase

Wie Sie sicher sofort erkannt haben, wandert hier die Phosphatgruppe ein Kohlenstoffatom weiter in Richtung der CO–OH-Gruppe, sonst passiert nichts. Aber die neue Verbindung ist bereit, in der neunten Reaktion ein Molekül Wasser abzugeben. Sie bastelt es aus der endständigen OH-Gruppe und einem Wasserstoffatom des benachbarten (mittleren) Kohlenstoffs. Zwischen den Nachbarn verwandelt sich die Einfachbindung in eine Doppelbindung (Abb. 2.11) und es entsteht Phosphoenolpyruvat 10: Bei der zehnten Reaktion wird nun dieser Phosphorsäureester gespalten. Es entsteht Phosphat und Enolpyruvat, das sich aber sofort und ausnahmsweise ohne Mithilfe eines Enzyms in die tautomere Ketonverbindung Pyruvat umwandelt (Abb. 2.12). Das freiwerdende Phosphat wird von einem Molekül Adenosindiphosphat aufgenommen und dadurch entsteht jetzt endlich Adenosintriphosphat (ATP). Da wir ja seit der Spaltung des C6-Moleküls der Glukose in zwei C3-Moleküle immer mit zwei Molekülen zu tun haben, steht uns ein weiteres Molekül Phosphoenolpyruvat zur Verfügung, und so erhalten wir gleich zwei Moleküle ATP. Damit ist die Glykolyse komplett. Und hat in der Gesamtbilanz endlich zwei Moleküle ATP erbracht. Viel Lärm um fast nichts! Uff! Das war hart und mühsam. Das Ganze betrachten wir mit ehrfürchtigerer Bewunderung. Zehn biochemische Reaktionen in einem Rutsch finden mithilfe von zehn Enzymen statt, alle laufen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit und mit hoher Ausbeute hintereinander ab (das ist typisch für viele enzymkatalysierte Reaktionen) und das alles findet in der Zellflüssigkeit eines primitiven Bakteriums statt. Wir beginnen zu begreifen, dass die Evolution wahrscheinlich viele Millionen Jahre endlosen Experimentierens gebraucht hat, um dem Bakterium den Genuss zu verschaffen, Glukosemoleküle auf diese Weise zu verdauen. Bei allem Stolz auf unsere frisch erworbenen Kenntnisse beschleicht uns dennoch das ungute Gefühl, dass das noch nicht das Ganze sein kann. Denn so sehr wir uns in der Natur umsehen, finden wir fast nirgends Brenztraubensäure oder

10„Enol“-Verbindungen tragen immer eine Atomgruppe, in der ein Kohlenstoffatom sowohl eine C = C-Doppelbindung als auch eine alkoholische OH-Gruppe aufweist, also –CH = COH–. Diese Alkenole neigen dazu, sich in Ketone umzuwandeln. Die beschriebene Atomgruppe wird dann zu einer –CH2–CO-Gruppe. Nur ausnahmsweise verläuft die Reaktion nicht vollständig, sondern bleibt bei einem Gleichgewicht stehen. Man bezeichnet die beiden Moleküle als „Keto-Enol-Tautomere“ und nennt das Ganze „Keto-Enol-Tautomerie“.

47

2.3  Fortsetzung der Glykolyse: Die Sauerkrautherstellung O

C

O–

C C H2

O

O– O P O – + ADP + H + O

C

O–

C O H + ATP C H2

Phosphoenolpyruvat

Enol-Pyruvat Enzym: Pyruvat-Kinase

O

C

O–

C O spontan, C H3 kein EnzymPyruvat bedarf

Abb. 2.12  … ergibt endlich ATP und Pyruvat!

ihre Pyruvate genannten Salze in nennenswerter Menge. Folglich muss es biochemische Reaktionen geben, bei denen Pyruvat unter Energiegewinnung weiter um- oder abgebaut wird. Beginnen wir mit der Einfachsten von allen, einer Reaktion, die auch in unserem Körper abläuft und die von einer heute lebenden Bakterienart zum Lebensunterhalt benutzt wird, der Milchsäuregärung.

2.3 Fortsetzung der Glykolyse: Die Sauerkrautherstellung Die moderne Landwirtschaft hat dazu geführt, dass ein früher vielen deutschsprachigen Bürgern aus eigener Anschauung geläufiger biochemischer Prozess heute den meisten Zeitgenossen sehr wenig vertraut ist. Wer weiß denn noch, wie man Sauerkraut herstellt? Fast niemand aus der jüngeren Generation. Der im „Krautgarten“ angebaute Weißkohl wurde geerntet, halbiert und von einem Krautschneider, der von Haus zu Haus zog, auf einem großen feststehenden Hobel geschnitten. Es war Aufgabe der heranwachsenden Jugend, unter großem Hallo mit frisch gewaschenen Füßen oder einem schweren „Krautstempel“ portionsweise das geschnittene Kraut in einen Holzkübel zu stampfen. Mehrfach wiederholte reichliche Salzzugabe und sorgfältiges Abdecken mit sauberen Krautblättern, Brettern und schweren Steinen bewirkten, dass in den folgenden Wochen aus den zerquetschten Blattzellen noch mehr fruchtzuckerhaltiger Saft austrat. Ihn verwandelten die allgegenwärtigen Milchsäurebakterien nach und nach in Milchsäurelösung. Die bewahrt zusammen mit dem Kochsalz das Kraut vor Fäulnis und verleiht ihm den unnachahmlichen Geschmack, den inzwischen auch französische Liebhaber beim „Choucroute de Strasbourg“, dem Straßburger Sauerkraut, zu schätzen wissen. Im Herbst konnte die Hausfrau erste Kostproben des Sauerkrauts mit Schweinefleisch, Hausmacher-Wurst und Kartoffeln oder Knödeln kochen und servieren. Weil das Kochen lange dauert und wenig Aufsicht erfordert, blieb Zeit für andere Arbeiten und so wurde dieses Essen die beliebteste Mahlzeit für einen Waschtag oder auch für das ländliche Schlachtfest. Wilhelm Busch macht uns auf eine weitere Köstlichkeit aufmerksam:

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

48 Eben geht mit einem Teller Witwe Bolte in den Keller, Dass sie von dem Sauerkohle Eine Portion sich hole, Wofür sie besonders schwärmt, Wenn er wieder aufgewärmt.

Die biochemische Herstellung von Milchsäure für Konservierungszwecke ist dabei keineswegs eine deutsche Erfindung. Schon in der Römerzeit, vermutlich sogar seit dem Ende der Steinzeit kannte man in Europa und im fernen Osten Rezepte für saure Bohnen und andere Gemüse. Mit dem nachfolgenden Versuch 2.1 machen wir dieses uralte Verfahren etwas durchschaubarer:

Versuch 2.1: Biochemische Herstellung von Milchsäure

Wir benutzen hierfür ein sauberes Marmeladenglas mit Schraubdeckel von etwa 250 ml Rauminhalt, in das wir einen gestrichenen Esslöffel Fruchtzucker rieseln lassen (ersatzweise können wir auch einen Esslöffel Honig einsetzen – er besteht aus gleichen Teilen Traubenzucker und Fruchtzucker). Anschließend wird mit Leitungswasser aufgefüllt und gerührt, bis alles vollständig gelöst ist. Man fügt noch einen halben Teelöffel möglichst fettfreien Trinkjoghurt hinzu – er enthält Milchsäurebakterien – und rührt nochmals gründlich um. Eine Messung des pH-Werts mit pH-Papier ergibt je nach Trinkwasserbeschaffenheit 6 bis 8, also annähernd neutrale Reaktion. Jetzt verschließt man das Glas fest und lässt es 2 bis 4 Wochen bei Zimmertemperatur stehen. Allenfalls ein- bis dreimal wird es in dieser Zeit kurz geöffnet, um die Veränderung des pH-Werts zu ermitteln. Er fällt nach und nach bis auf 3, zeigt also saure Reaktion an und wird durch die entstandene Milchsäure unter den eingestellten Bedingungen nicht weiter erniedrigt (auch Sauerkraut ist nicht stärker sauer). Wir ahnen, dass die Milchsäurebakterien in aller Stille die Reaktionen der Glykolyse praktizierten. Sie vollenden allerdings diesen biochemischen Prozess durch die Umwandlung von Brenztraubensäure in Milchsäure. Wieder begegnet uns eine dieser enzymgesteuerten Reaktionen – diesmal ist es eine einfache Hydrierung. Bewerkstelligt wird sie mithilfe von NADH – vielleicht erinnern Sie sich, dass zwei Moleküle dieses Reduktionsmittels in der sechsten Reaktion der Glykolyse entstehen. Die Milchsäurebakterien recyceln dieses Glykolysenebenprodukt, indem sie es zur Hydrierung einsetzen und dabei wieder in NAD+ zurückverwandeln. Abb. 2.13 zeigt die entsprechende Reaktionsgleichung.

49

2.4  Hetzjagd und Muskelkater O

C

O–

O

C O + NADH + H +

C

O–

H C O H + NAD +

C H3

C H3

Pyr u va t

La ct a t Enzym: Lactat-Dehydogenase

Abb. 2.13  Milchsäuregärung

Die mehrfache Verwendung des NAD+ wird nicht nur mithilfe dieser Reaktion ermöglicht. Sie ist auch nicht auf das Stoffpaar NADH/NAD+ beschränkt, sondern erst recht bei ATP/ADP oder ähnlichen Coenzymen11 gang und gäbe. Und sie ist absolut lebensnotwendig! Denn jeder erwachsene Mensch braucht in 24 h etwa 70 kg ATP. In seinem Körper finden sich allerdings nur 50 g – also wird jedes Molekül jeden Tag etwa 1400 mal regeneriert und neu eingesetzt! 12 Natürlich reicht die Milchsäuregärung dafür bei weitem nicht aus – andere Reaktionen müssen dazuhelfen.

2.4 Hetzjagd und Muskelkater Erstaunlicherweise produziert auch der menschliche Körper Milchsäure auf biochemischem Wege, und zwar dann, wenn aufgrund einer lang andauernden Anstrengung in einigen seiner Muskeln der Sauerstoffbedarf derart zunimmt, dass das Blut sie nicht mehr genügend damit versorgen kann. Jetzt wird der Traubenzucker im Muskel nicht mehr mithilfe enzymkatalysierter Reaktionen bis zum Kohlendioxid und Wasserdampf abgebaut, sondern nur noch bis zum Pyruvat und weiter bis zur Milchsäure. Diese verstärkt dann anscheinend die Beschwerden, die gemeinhin unter dem Begriff „Muskelkater“ bekannt sind. Die Hetzjagd oder Parforcejagd führt den Sauerstoffmangel in den Muskeln des bedauernswerten Jagdwilds dadurch herbei, dass es durch Hunde und berittene Jäger längere Zeit gehetzt und dann erst erlegt wird. Die Milchsäure verleiht dem Fleisch einen säuerlichen Geschmack, der von manchen Feinschmeckern geschätzt wird. In Deutschland und in vielen seiner Nachbarländer ist die grausame Parforcejagd, die früher vor allem ein fürstliches „Vergnügen“ war, seit etwa einem Menschenalter verboten. Die Buschmänner der Kalahari praktizieren sie aber immer noch – zu Fuß und tagelang – nicht aus kulinarischen Gründen, sondern

11Substanzen,

die eine enzymkatalysierte Reaktion ermöglichen, nennt man Coenzyme. Von ihnen kennen wir bereits vier: ATP, ADP, NAD+ und NADH. 12In der Fachliteratur findet man auch andere Zahlen: Für einen ruhenden Erwachsenen soll der Tagesbedarf bei 80 kg ATP liegen und in seinem Körper sollen sich 250 g ATP dauerhaft aufhalten. Das ergäbe eine Recyclingrate von über 300. Immer noch viel!

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

50 Abb. 2.14  Alkoholische Gärung

O H 3C C C + H + O O– Pyruvat

O + CO 2

H 3C C H

Acetaldehyd

Enzym: Pyruvat-Decarboxylase O + NADH + H +

H 3C C H

A c e t a l d e h yd

H H3C C OH + NAD + H E tha nol

Enzym: Alkohol-Dehydrogenase

weil sie nur so dem Wild nahe genug kommen, um es mit einem Bogenschuss sicher zu erlegen. Eine andere Weiterverwertung des Pyruvats läuft bei Sauerstoffmangel sehr flott ab. Sie wird durch andere Enzyme katalysiert, welche von Hefepilzen beigestellt werden. Jetzt beginnen Sie zu ahnen, dass wir von der alkoholischen Gärung reden! Bei ihr entsteht aus Brenztraubensäure durch eine „Decarboxylierung“ Acetaldehyd und Kohlendioxid. Das dafür zuständige Enzym heißt „Pyruvat-Decarboxylase“; es benötigt als Coenzym Thiamindiphosphat und Magnesium-Ionen. Der Acetaldehyd wird wieder von unserem vielseitigen Coenzym NADH zu Ethanol, meist einfach „Alkohol“ genannt, hydriert. NADH verwandelt sich dabei in NAD+ zurück und dieses kann erneut in der sechsten Reaktion der Glykolyse seinen Dienst antreten. Zink-Ionen sind für die Hydrierung des Acetaldehyds notwendig und natürlich das Enzym „Alkoholdehydrogenase“. Abb. 2.14 zeigt die Reaktionsgleichungen für die Decarboxylierung der Brenztraubensäure und die anschließende Hydrierung des dadurch entstandenen Acetaldehyds zu Ethanol. Unsere Ungeduld wächst mit jeder Formel und jeder Abbildung. Milchsäuregärung und alkoholische Gärung haben zwar Brenztraubensäure verbraucht und neue Produkte erbracht, aber wir warten immer noch auf die Reaktionen, die so richtig viel ATP ergeben. Ihnen wollen wir uns nun widmen.

2.5 Hier geht’s zum Tatort Bevor wir nun den Zitronensäurezyklus genauer betrachten, suchen wir den Ort des Geschehens auf und stellen fest, dass bei den Eukaryoten13 alle Reaktionen des Zitronensäurezyklus in den „Mitochondrien“ stattfinden, das sind Organellen, die man auch gern als Kraftwerke der Zellen bezeichnet. Sie sind durch eine

13Eukaryoten

gibt es seit etwa 1,5 Mrd. Jahren. „Eukaryonten“ ist eine andere Schreibweise.

51

2.5  Hier geht’s zum Tatort

Membran von der Zellflüssigkeit abgetrennt. Allerdings ist diese äußere Membran von Poren durchsiebt und für viele Stoffe durchlässig, sodass die Zusammensetzung des Zellsafts (auch „Cytoplasma“ genannt) auf beiden Seiten der Membran ziemlich gleich ist. Hinter dieser äußeren Membran der Mitochondrien gibt es aber einen „Matrix“ genannten Innenraum, der durch eine zweite Mem­bran umschlossen wird. Diese zweite, stark gefältelte Membran ist im Gegensatz zur ersten für viele Moleküle und Ionen undurchlässig. Besonders wichtig ist für unsere Zwecke, dass sie keine Wasserstoff-Ionen durchlässt. In dieser „Matrix“, also klammheimlich hinter zwei Membranen finden die Reaktionen statt, die der weiteren Energiegewinnung dienen und die wir unter dem Begriff „Zitronensäurezyklus“ kennenlernen werden. Die zellkernlosen Prokaryonten haben keine andere Wahl, als die Reaktionen der Glykolyse und des Zitronensäurezyklus in der Zellflüssigkeit ablaufen zu lassen, da sie keine Mitochondrien besitzen. Eine Eukaryotenzelle ist in Abb. 2.15 zu sehen, ein Mitochondrium zeigt Abb. 2.16.

Golgi-Apparat (Dyktiosom) Golgi-Vesikel Lysosom Zellmembran glattes

Zellkern

Endoplasmatisches Retikulum (ER) raues

Chromatin Ribosom Mitochondrium Cytosol Abb. 2.15  Eine Eukaryotenzelle

52

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Abb. 2.16  Ein Mitochondrium

äußere Membran innere Membran Matrix Intermembranraum

2.6 Der Zitronensäurezyklus Wir beginnen mit einem Anlauf. Er führt zur Herstellung eines weiteren Coenzyms. Es heißt Acetyl-Coenzym A oder abgekürzt Acetyl-CoA, entsteht aus Pyruvat – dem Hauptprodukt der Glykolyse – und zwar in einer Reihe von fünf Teilreaktionen, die durch den Enzymkomplex Pyruvatdehydogenase katalysiert werden. Dabei wird Kohlendioxid abgespalten, greift ein Molekül NAD+ als Oxidationsmittel ein und ein Molekül Coenzym A steht als Thioalkohol zur Verfügung, um mit der CH3–CO+-Gruppe einen Acetyl-Thioester zu bilden. Reaktionsprodukte sind dann außer dem schon erwähnten Kohlendioxid Acetyl-Coenzym A, NADH und ein Proton. Das Acetyl-Coenzym A, ein sehr reaktionsfähiges Veresterungsmittel, wird in Abb. 2.17 vorgestellt, die Reaktionsgleichung und der fertige Thioester, das Acetyl-Coenzym A14 in Abb. 2.18. Als Zwischenprodukt entsteht kein Acetaldehyd, wie wir dies bei der alkoholischen Gärung gelernt haben (Abb. 2.14), weil das Enzym Pyruvat-Decarboxylase fehlt. Wie Sie sehen, besteht das Coenzym A, das wir hier einsetzen dürfen, im Prinzip aus vier Bausteinen. Oben rechts entdecken wir mit Wiedersehensfreude ein Molekül ADP, es ist allerdings am dritten Kohlenstoffatom der Ribose phosphoryliert. Am Ende seiner Diphosphatgruppe ist es mit der uns bisher unbekannten Pantothensäure, (die zugleich ein Vitamin ist!) verestert. Diese wiederum besteht

14Vereinfacht

dargestellt. Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass man die Acetylierung des Coenzyms A noch viel einfacher erreichen kann, wenn man aus Brenztraubensäure durch Decarboxylieren Acetaldehyd herstellt, diesen zu Essigsäure oxidiert und anschließend mit der HS-Gruppe reagieren lässt: H3C–CO–CO–OH → CO2 + H3C–CHO; H3C–CHO + 0,5O2 → CH3–COOH; CH3– COOH + H-Coenzym A → CH3–CO-Coenzym A + HOH. Die Biologie ist jedoch auf schonende Bedingungen angewiesen und geht deshalb kompliziertere Wege, auf denen jeder Schritt durch ein eigenes Enzym katalysiert wird. Dennoch bezeichnet man Acetyl-Coenzym A auch als „aktivierte Essigsäure“, weil es besonders leicht den Acetylrest (CH3–CO-) überträgt.

53

2.6  Der Zitronensäurezyklus Abb. 2.17  Coenzym A

phosphoryliertes ADP NH 2 O–

O

N



N

O P O P O CH2 O O O Pa n t h o t en sä u r e

CH 2

H H

H3C C CH 3

OH

O P O–

C O NH

N

H H

O

H C OH

N

O–

CH 2 CH 2 C O HN CH 2 CH 2 S H Cysteamin

Abb. 2.18  Acetyl-Coenzym A – Herstellung und Strukturformel

a

H3C C COOH + NAD+ + H S CoA O H3C C S CoA + O

NADH + H + + CO 2

b

NH 2 O–

N

O–

N

O P O P O CH2 O O O CH 2 H3C C CH 3 H C OH C O NH

H H O

O P O–

N N

H H OH O–

CH 2 CH 2 C O HN CH 2 CH 2 S C CH 3 O

aus einer abwechslungsreichen Kohlenstoff-Stickstoffkette mit Amidbindung und trägt mithilfe einer weiteren CO–NH-Bindung am anderen Ende ein Molekül Cysteamin (H2N–CH2–CH2–SH). Dieses Cysteamin seinerseits war so freundlich, seine schon weiter oben erwähnte H–S-Bindung mithilfe seiner vielen Elektronenpaare dem Acetylrest CH3–CO- als Bindungspartner anzubieten.

54

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Das Acetyl-Coenzym A wird jetzt als Brennstoff in den Zitronensäurezyklus eingespeist. Im Verlauf dieses Kreisprozesses wird drei Mal NAD+ als Oxidationsmittel benötigt und jedes Mal als NADH wieder ausgeschleust, einmal tut das ähnlich wirkende FAD den gleichen Dienst, ergibt aber FADH2, und außerdem entweichen zwei Moleküle Kohlendioxid. Daneben entsteht ein einziges Molekül ATP. Am Ende des Kreislaufs besteht Gelegenheit, ein zweites Molekül Acetyl-Coenzym A einzuschleusen und mit ihm den nächsten Kreisprozess zu starten. Ein einziges Molekül ATP! Nicht mehr? höre ich Sie rufen. Nein, nicht mehr. Aber wir werden noch sehen, dass jedes Molekül NADH 2,5 Moleküle ATP erzeugen kann. Weil FADH2 immerhin 1,5 Moleküle ATP zusätzlich beisteuert, entwickelt ein Durchlauf des Zitronensäurezyklus 1 + 3 ·  2,5 + 1,5 = 10 Moleküle ATP. Dazu kommt noch das Molekül NADH, das beim „Anlauf“ (der Zersetzung von Pyruvat) entstand. Also haben wir jetzt 12,5 Moleküle ATP als Gesamtausbeute. Und es kommt noch besser: Weil wir aus einem Molekül Glukose bei der Glykolyse zwei Moleküle Pyruvat oder Brenztraubensäure erhielten, müssen wir, um beide abzubauen, den Zyklus zwei Mal durchlaufen und werden deswegen 25 ATP-Moleküle erhalten. Wenn wir dann noch daran denken, dass uns die Glykolyse schon vorher zwei Moleküle ATP und zwei Moleküle NADH beschert hat, kommen wir zu einer Gesamtausbeute von stolzen 25 + 2 + 2 · 2,5 = 32 Molekülen ATP! Zufrieden? Nein? Nicht ganz, denn Sie haben vielleicht aus anderen Quellen höhere Zahlen (bis zu 38) für das ATP kennengelernt. Keine Tragödie! Das kommt von daher, dass die Zahlen 2,5 oder 1,5 nicht ganz genau stimmen – man liest auch 3 beziehungsweise 2 und erhält dann höhere Ergebnisse. Zweifellos betreiben auch die vielen verschiedenen Typen von Eukaryoten den Zitronensäurezyklus und die ATP-Synthese mit unterschiedlichem Erfolg und führen dadurch zu nicht ganz übereinstimmenden Ausbeutezahlen für ATP. Was es allerdings bedeutet, dass aus einem Molekül Glukose 32 Moleküle ATP entstehen, wollen wir mithilfe der Molekulargewichte überschlagen. Wir nehmen an, dass unser Körper 1 Mol15 Traubenzucker verarbeitet. Das sind wegen dessen Summenformel C6H12O6 und den zugehörigen Atomgewichten in runden Zahlen 6 ·  12 + 12  ·  1 + 6  · 16 = 180 g. Aus den Reaktionen der Glykolyse, des Zitronensäurezyklus und der Atmungskette erhält er 32 Mol ATP. Dessen Summenformel ist C10H16N5P3O13 und das Molgewicht 507. Weil wir 32 Mol ATP erhalten, dürfen wir 507 mit 32 multiplizieren und erhalten demnach 16.224 g oder mehr als 16 kg ATP. Der Einsatz von 180 g Glukose erscheint nur auf den ersten Blick hoch, wenn wir aber bedenken, dass Brot oder Nudeln durch unseren Verdauungsapparat auch weitgehend in Glukose umgewandelt werden, ist das gar nicht so viel als Tagesration. Allerdings würde diese Menge Traubenzucker nicht ausreichen, um den

151

Mol sind so viele Gramm wie das Molgewicht angibt. Das Molgewicht hinwiederum ist die Summe aller Atomgewichte. Die Atomgewichte sind aus dem Internet abrufbar.

55

2.6  Der Zitronensäurezyklus Abb. 2.19  C4 + C2 ⟹ C6 (Citrat …

H2C COO – O C COO –

+ HOH

H H2C C S CoA O

H2C COO – HO C COO – + H S CoA H2C COOH

Enzym: Citratsynthase

weiter oben angegebenen Tagesbedarf von 70–80 kg ATP zu decken. Es muss also Nahrungsmittel geben, die erheblich mehr Energie enthalten als Glukose und ebenfalls über das Trio Glykolyse – Zitronensäurezyklus – Atmungskette abgebaut werden. Sie ahnen vermutlich, dass hier von Fetten und Ölen die Rede ist. – Die werden uns beim sechsten Ausflug begegnen. Nachdem wir den segensreichen Effekt des Zitronensäurezyklus so ausführlich betrachtet haben, wird es allmählich Zeit, sich klarzumachen, welche enzymbeschleunigte Reaktionen in diesem Kreisprozess eigentlich nacheinander stattfinden. Wenn wir nach dem Anlauf mit einem Molekül Acetyl-Coenzym A in den Kreislauf einsteigen, treffen wir auf ein Molekül Oxalacetat. Es wird zu Zitronensäure, genauer: zu einem Salz der Zitronensäure (Citrat) acetyliert. Dabei wird ein Molekül Wasser verbraucht.16 Das Acetyl-Coenzym A hat dafür die Acetylgruppe hergegeben und sich wieder in das nackte „vorgefertigte“ Coenzym A zurückverwandelt. Dieses sieht keine Zukunft im Zyklus und verlässt denselben schleunigst, um sich für den nächsten „Anlauf“ bereit zu machen. Abb. 2.19 zeigt diese Vorgänge. Das dafür zuständige Enzym heißt „Citrat-Synthase“. Wir ziehen Bilanz und stellen folgendes Zwischenergebnis fest: Ein Molekül Pyruvat wurde abgebaut. Dabei entstand ein Molekül Kohlendioxid und mithilfe von NAD+ ein Acetylrest, der an ein Molekül Coenzym A gebunden wurde. Das Acetyl-Coenzym A verwandelte ein Molekül Oxalacetat in Citrat und wurde dadurch wieder nacktes Coenzym A. Dieses steht für den nächsten Anlauf zur Verfügung. Aus dem NAD+ wurde NADH, von dem die Kunde geht, dass es 2,5 bis 3 Moleküle ATP erzeugen wird. Wenn wir nur die Kohlenstoffgerüste der Moleküle betrachten, wird aus C3 (Pyruvat) C1 (Kohlendioxyd) und C2 (Acetylrest). Das ist das Fazit des Anlaufs. In der ersten Reaktion des Zitronensäurezyklus verwandelt dieses C2 ein C4 (Oxalacetat) in C6 (Citrat). Erfreulicherweise bleibt es in der zweiten Reaktion des Zyklus bei C6, denn hier wird nur Citrat in Isocitrat umgewandelt (Abb. 2.20). Wie das? Die Reaktion verläuft über das Aconitat, das aus Citrat durch Wasserabspaltung und Ausbildung einer C = C-Doppelbindung entsteht. An eben diese Doppelbindung wird dann Wasser „umgekehrt“ angelagert. Warum das? Weil dem Isocitrat erheblich leichter

16Im

Folgenden werden wir gelegentlich statt der Salz-Ionen, die unter physiologischen Bedingungen überwiegend vorhanden sind, die zugehörigen Säuren nennen. Säure und Salz-Ion stehen miteinander im Gleichgewicht, weil die „Dissoziationsreaktion“ Säure  →  Salz-Ion− + H+ sowohl von links nach rechts wie auch von rechts nach links verlaufen kann.

56

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Abb. 2.20  … isomerisieren …

H2C COO –

H2C COO –

HO C COO –

H C COO –

H2C COO –

HO C COO – H

Enzym: Aconitase

Abb. 2.21  … CO2 abspalten und dehydrieren …

H2C COO – H C

COO –

H2C COO – +

H+

HO C COO – H H2C COO – H C H

+ NAD +

H C H

+ CO2

HO C COO – H H2C COO – H2 C

+ N A DH + H +

HO C COO – O C COO – H Enzym: Isocitrat-Dehydrogenase

zwei Wasserstoffatome entrissen werden können als dem Anion der Zitronensäure! Das hier wirksame Enzym erinnert mit seinem Namen „Aconitase“ an das kurzlebige Zwischenprodukt. Eine Etappe zum Ausruhen! Aber in der dritten Reaktion verliert das Isocitrat schon wieder Kohlendioxid und ein Molekül NAD+ greift wieder ein, um eine >CHOH-Gruppe zu einer >CO-Gruppe zu oxidieren. Der Verständlichkeit zu Liebe haben wir diese Vorgänge in Abb. 2.21 in zwei Einzelschritte zerlegt. Sie zeigen, wie aus dem Isocitrat das α-Ketoglutarat (und dazu ein Wasserstoff-Ion) entsteht. Das NAD+ verwandelt sich dabei in das nächste NADH. Die dritte Teilreaktion des Zitronensäurezyklus gehört also zu den Zwischenschritten, bei denen Energieträger entstehen. Betrachten wir wieder nur die Kohlenstoffketten, so wird hier durch das Enzym „Isocitrat-Dehydrogenase“ aus C6 ein C5 und ein C1 (schlichter ausgedrückt: CO2).

2.7 Die Wiederholung ist die Mutter des Lernens Die vierte Reaktion hat eine auffallende Ähnlichkeit mit dem „Anlauf“, denn ähnlich wie dort die Brenztraubensäure Kohlendioxid verlor und mithilfe von Coenzym A und NAD+ Acetyl-Coenzym A bildete, verliert hier die α-Ketoglutarsäure Kohlendioxid und bildet mithilfe von Coenzym A und NAD+ die neue Verbindung Succinyl-Coenzym A! Und das ist eine „aktivierte Bernsteinsäure“! Die Kohlenstoffkette hat jetzt abermals ein Glied verloren, aus C5 wurde C4 und C1. Außerdem ist erneut ein Molekül NADH entstanden, wie Sie in Abb. 2.22 sehen. All das bewirkt das Enzym „Alpha-Ketoglutarat-Dehydrogenase“.

57

2.7  Die Wiederholung ist die Mutter des Lernens Abb. 2.22  … nochmal CO2 abspalten ergibt SuccinylCoenzym A …

H2C COO – H2C C COOH + NAD+ + H S CoA O H2C COO – H2C C S CoA + CO 2 + NADH + H + O Enzym: -Ketoglutarat-Dehydrogenase

In der fünften Kreislaufreaktion nähert sich ein Molekül Guanosindiphosphat (GDP) und – sicher erraten Sie es schon: ein Molekül Wasser zerlegt das Succinyl-Coenzym A in nacktes Coenzym A und Bernsteinsäure oder besser gesagt, Succinat (englisch: „succinic acid“ = Bernsteinsäure) und ein Proton. Die dabei frei werdende Energie bewirkt, dass ein Molekül anorganisches Phosphat (Pi) das Guanosindiphosphat (GDP) in Guanosintriphosphat (GTP) und Wasser umwandelt. Das Guanosintriphosphat enthält etwa gleich viel Energie wie das ATP, kann deshalb auch als Energielieferant ATP ersetzen. Durch Reaktion mit ADP erzeugt es ein Molekül ATP und wird wieder zu GDP. Wir zählen deshalb etwas vereinfacht ein Molekül ATP als Produkt der fünften Reaktion. Das regenerierte Coenzym A steht für das nächste ankommende Ketoglutarsäuremolekül bereit. Das Wirken der Succinyl-Coenzym A-Synthase zeigt Abb. 2.23. Bei der sechsten Kreislaufreaktion verliert das Succinat mithilfe der „Succinatdehydrogenase“ zwei Wasserstoffatome, die sich ein Molekül FAD (nicht NAD+, weil es als Oxidationsmittel zu schwach ist!) krallt. Dementsprechend verwandelt es sich zu FADH2 und es entsteht Fumarat. Die Kohlenstoffkette behält ihre vier Glieder, und das ändert sich nicht mehr bis zum Ende des Kreislaufs. Abb. 2.24 beschreibt das Geschehen, Abb. 2.25 das FAD, dessen voller Name „FlavinAdenin-Dinukleotid“ heißt. Um die Veränderung des FAD-Moleküls leichter auffindbar zu machen, habe ich die beiden Stickstoffatome, die je ein H aufnehmen, mit einem * markiert. Abb. 2.26 zeigt den für FADH2 typischen Teil des Riesenmoleküls.

Abb. 2.23  … und das wird Succinat! …

H2C COO –

H2C COO –

H2C C S CoA + HOH

H 2C C O – + H +

O

O + H S CoA + Energie

GDP + Pi + Energie

GTP + HOH

GTP + ADP

GDP + ATP

Enzym: Succinyl-Coenzym A-Synthase

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

58 Abb. 2.24  Succinat dehydrieren …

COO – H C H H C H

H + FA D –OOC

COO –

C C

COO – + FA DH2 H

Enzym: Succinat-Q-Reduktase = Succinat-Dehydrogenase

* N

H 3C

NH

N N CH 2 *

H 3C Riboflavin (Vitamin B2 )

O O

H C OH H C OH H C OH

NH 2

CH 2 O –

N

O–

O P O P O CH2 O O O H H OH

N

N

Adenin

N

H H OH

Abb. 2.25  Flavin-Adenin-Dinukleotid (FAD) Abb. 2.26  FADH2

H 3C H 3C

H N

O

N N H CH 2

NH O

Bei der siebenten Reaktion wird ein Molekül Wasser an die Doppelbindung des Fumarats angelagert. Das Enzym Fumarase bewirkt so die die Entstehung von L-Malat, einem Salz der Äpfelsäure (Abb. 2.27). Dem Malat entreißt in der achten Reaktion ein Molekül NAD+ wie schon gewohnt ein Hydrid-Ion. Aus NAD+ wird NADH und es entsteht nach bewährtem Muster ein Proton und eine α-Ketosäure, die Oxalessigsäure, genauer ihr Salz, das Oxalacetat. Wenn Sie das Geschehen der Abb. 2.28 mit dem Geschehen der dritten Reaktion, dargestellt in Abb. 2.21 unten vergleichen, springt Ihnen die Ähnlichkeit ins Auge. Hier wirkt die „Malat-Dehydrogenase“. Und damit sind wir erschöpft, aber glücklich am Ende des Zyklus angekommen. Denn das Oxalacetat steht für die Verarbeitung des nächsten hereingereichten Acetyl-Coenzym A-Moleküls bereit. Reaktion 1 kann erneut stattfinden

59

2.8  Eine Art Bilanz Abb. 2.27  … Wasser anlagern …

H –OOC

C C

COO –

COO –

HO C H

+ HOH

H C H

H

COO – Enzym: Fumarase

Abb. 2.28  … und dehydrieren ergibt Oxalacetat!

COO – HO C H

COO – + NAD +

H C H COO –

C O H C H

+ NADH + H +

COO –

Enzym: Malat-Dehydrogenase

und damit beginnt die Verarbeitung unseres zweiten Moleküls Pyruvat aus der Glykolyse in einem zweiten Durchlauf durch den Zyklus. Es lohnt sich sehr, hier innezuhalten und wieder eine Art Bilanz zu ziehen. Doch zuvor wollen wir die Leistung des im Jahre 1900 geborenen deutschen Arztes Hans Adolf Krebs würdigen, dem wegen seiner jüdischen Abstammung von den Nationalsozialisten 1933 die Lehrerlaubnis entzogen wurde. Er floh nach England, studierte in Cambridge Biochemie und entdeckte den Zitronensäurezyklus 1937, der alternativ nach ihm „Krebs-Zyklus“ benannt ist. Sechszehn Jahre später erhielt er dafür den Nobelpreis. Obwohl inzwischen längst naturalisierter und geadelter Brite, blieb er bis zu seinem Tod (1980) Deutschland und seiner Heimatstadt Hildesheim emotional anrührend eng verbunden. Von ihm ist der Ausspruch überliefert: „Hitler hat mich zum Juden gemacht.“ Sein Schicksal (und schlimmere) teilten zahlreiche deutsche Chemiker und Biochemiker jüdischer Abstammung – unter vielen anderen auch der Nobelpreisträger und hochdekorierte Weltkrieg-I-Veteran Richard Willstätter.

2.8 Eine Art Bilanz Vor lauter Einzelreaktionen ist uns der Hauptzweck des Zitronensäurezyklus ziemlich aus den Augen geraten. Wir wollten mit seiner Hilfe ein Molekül Pyruvat flammenlos verbrennen (oxidieren) und dabei einen möglichst großen Anteil der freiwerdenden Energie in handliche Pakete verpacken. Pyruvat enthält drei Kohlenstoffatome. Folglich müssen drei Moleküle Kohlendioxid entstanden sein. Wir schauen nach: tatsächlich ergaben die dritte und die vierte Reaktion je ein Molekül Kohlendioxid. Fehlt doch noch eines! Es ist bereits beim Anlauf, der Herstellung von Acetyl-Coenzyn A entwichen. Tief durchatmen! Aber nun fällt uns auf, dass bis jetzt nur die Kohlenstoffatome des Traubenzuckers zu Kohlendioxid „verbrannt“ wurden. Alle Wasserstoffatome wurden dagegen vermutlich durch NAD+ oder FAD als NADH oder FADH2 eingefangen.

60

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Aus einem Molekül Traubenzucker entstanden so bei der Glykolyse 2 NADH (in der Reaktion Nummer 5), beim Krebs-Zyklus wegen der beiden Durchläufe 2 × 3, also 6 Moleküle NADH. Dazu kommt zweimal ein Molekül FADH2 aus dessen Reaktion Nummer 6, und Sie sehen, alle 12 H sind eingefangen. Wir vermuten deshalb, dass die Evolution eine weitere Kette von Reaktionen erfunden hat, bei der den Verbindungen NADH und FADH2 die Wasserstoffatome abgeluchst und anschließend mithilfe von Sauerstoff zu H2O „verbrannt“ werden. Mit anderen Worten: NADH und FADH2 sind für die Mitochondrien, in denen diese Reaktionen ablaufen, energiereiche Brennstoffe! Und auch sie enthalten, ähnlich wie die Glukose, immer noch so viel chemische Energie, dass sie nicht direkt verbrannt werden können, sondern in „Kleingeld“ umgewechselt werden müssen – mit anderen Worten in ATP. Tatsächlich bringt uns die „Atmungskette“ die weiter oben versprochenen zusätzlichen Moleküle ATP. Aber bevor wir uns diese Reaktionsfolge näher ansehen, wollen wir die Atmungskette zeitlich einordnen. Sie erfordert, wie gesagt, Sauerstoff und kann deshalb von der Evolution erst erfunden worden sein, nachdem durch die Photosynthese der Sauerstoff zum Bestandteil der Atmosphäre wurde. Die Photosynthese ist etwa zweieinhalb Milliarden Jahre alt. Eine Milliarde Jahre brauchte sie, um den Sauerstoffgehalt der Atmosphäre so weit anzuheben, dass ein oxydativer Stoffwechsel möglich war. Die Atmungskette gibt es demnach seit ungefähr eineinhalb Milliarden Jahren.

2.9 Der Zitronensäurezyklus und andere Abbaureaktionen Alles in allem ist der Zitronensäurezyklus eine derart nützliche Erfindung der Evo­ lution, dass die Lebewesen ihn nicht nur zur flammenlosen Verbrennung von Glukose einsetzen. Sie verstehen es zum Beispiel, die langen Kohlenwasserstoffketten der Fettmoleküle nach und nach abzubauen. Dies geschieht, wie wir noch sehen werden, in Schritten, bei denen jeweils zwei Kohlenstoffatome abgetrennt und in Essigsäure verwandelt werden. Jedes Essigsäuremolekül wird in den „Anlauf“ eingespeist und ergibt Acetyl-Coenzym A, das dann wie oben beschrieben, in den Zyklus eintreten und abgebaut werden kann. Ähnlich können auch die proteinbildenden Aminosäuren für die Verbrennung im Zyklus hergerichtet werden. Das ist allerdings komplizierter und nur eine Notmaßnahme, die den Abbau von körpereigenen Proteinen voraussetzt und die der Körper erst ergreift, wenn durch längeres Fasten seine Fett- und Kohlehydratreserven aufgezehrt sind. Umgekehrt dienen Zwischenprodukte des Zitronensäurezyklus als Rohstoffe für die biochemische Herstellung von Porphyrin, Fettsäuren, Cholesterin und anderen Verbindungen. Sogar die Neuherstellung von Glukose aus dem Malat, also dem Salz der Äpfelsäure (Reaktion 7) ist möglich. Diese „Glukoneogenese“ ist ebenfalls eine Notmaßnahme des Körpers, zu der er greift, wenn ihm mit der

2.10  Endlich: Die Atmungskette

61

Nahrung zu wenig Kohlehydrate angeboten werden. Freunde der „Low Carb“Diät, die weitgehend auf Kohlehydrate verzichten und sich davon segensreiche Effekte versprechen, bringen damit die Glukoneogenese erst richtig in Schwung. Sie sehen, der Zitronensäurezyklus ist eine ungeheuer vielseitige Schlüsseltechnologie der eukaryotischen Zellen und – soweit sie ihn praktizieren, auch der Prokaryonten.

2.10 Endlich: Die Atmungskette Wie nach der Glykolyse halten wir auch nach der Beschreibung des Zitronensäurezyklus kurz für eine Meditation inne. Wir erinnern uns, dass bis jetzt erst die Kohlenstoffatome des Traubenzuckers in Kohlendioxid überführt wurden – die Wasserstoffatome dagegen sind an die Energieträgermoleküle NADH und FADH2 gebunden und harren noch der weiteren Verarbeitung zu H2O. Die Energieträger müssen dringend von ihnen befreit werden, weil sie als NAD+- und FAD-Moleküle im Zitronensäurezyklus erneut gebraucht werden. Aber wieder ist der einfachste Weg, diese Wasserstoffatome direkt mit Sauerstoffmolekülen zu verbrennen, etwa so, wie das mit der Gleichung

NADH + H+ + 0,5 O2 → NAD+ + H2 O beschrieben wird, versperrt, weil bei dieser Reaktion 221 kJ Energie frei werden. Das ist ein immer noch zu großer Energiehappen. Die flammenlose Verbrennung von NADH und FADH2 muss vielmehr, wie schon gewohnt, in mehreren Etappen ablaufen und kleinere, leicht speicherbare Energieportionen ergeben, die von ADP bei der Herstellung unseres Energiespeichermoleküls ATP oder eines ähnlichen aufgenommen werden können (ADP braucht dafür, wie Sie wissen, 30,5 kJ oder etwas mehr als 7 kcal Energie). Gewissermaßen müssen die groben Klötze FADH2 und NADH durch mehrere Beilhiebe kaminfeuergerecht kleingehackt werden, damit sie sich zur Herstellung von ATP eignen. Diese Aufgabe löst die Atmungskette. Ihr Wirkungsort sind bei eukaryotischen Zellen abermals die Mitochondrien, die ja auch als „Kraftwerke“ bezeichnet werden. Dort spielen sich lebhafte Austauschreaktionen zwischen ihrem inneren und äußeren Raum ab; die innere Membran des Mitochondriums, die eigentlich gegenüber Protonen (und erst recht gegenüber großen Molekülen) undurchlässig ist, wird also irgendwie mehrfach durchbrochen. Um dies zu begünstigen, ist sie vielfach gefältelt – bietet also viel Platz für den Einbau der Enzyme oder besser Proteinkomplexe, die den Austausch mit trickreichen Verfahren schließlich doch ermöglichen.17 Den Durchbruch schaffen tatsächlich drei große Enzymkomplexe, welche in riesiger Zahl in der inneren Membran stecken und mit einem Ende in den inneren Raum, die Matrix des Mitochondriums, und mit dem anderen Ende in

17Beim

Menschen beträgt die gesamte Oberfläche der inneren Mitochondrienmembranen 14.000 m2. Das entspricht zwei Fußballfeldern!

62

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Intermembranraum I

III IV II

Matrix

ATP-Synthase

Abb. 2.29  Die Enzymkomplexe im Mitochondrium

den Zwischenraum oder Intermembranraum zwischen innerer Membran und äußerer Membran hineinragen (Abb. 2.29). Ein vierter Komplex sitzt einseitig auf der inneren Membran – er ragt nur in den Zentralraum des Mitochondriums hinein. Allen vieren ist gemeinsam, dass sie Phospholipide18 enthalten. Sie werden mit römischen Ziffern durchnummeriert. Ein Schönheitsfehler ist dabei, dass sie in der Reihenfolge I, III, IV tätig werden, um NADH kleinzuhacken. Der „einseitige“ Komplex II widmet sich dagegen ausschließlich der Verarbeitung von FADH2. Was er dabei als Zwischenprodukt erzeugt, gibt er über einen Zwischenträger, den „Q-Pool“, an Komplex III zur weiteren Behandlung ab. Das Geschehen in der Atmungskette werden wir leichter verstehen, wenn wir jetzt zu einem kurzen Abstecher in die Literaturgeschichte aufbrechen.

2.11 Ein verblüffender Vergleich „Durch die Kette fliegt der Eimer“, heißt es in Schillers „Lied von der Glocke“, wenn der Dichter das Löschen einer Feuersbrunst durch herbeigeeilte Bürger beschreibt, die mit einer Menschenkette Wasser vom Brunnen zum Brandherd befördern. Jedes Mitglied der Menschenkette übernimmt vom linken Nachbarn den vollen Eimer, dreht sich um und gibt ihn an den rechten Nachbarn weiter. Nach abermaliger Drehung – jetzt mit leeren Händen – ist er bereit, den nächsten Eimer zu übernehmen. Und so wandern die Eimer mit dem Löschwasser durch die Kette weiter bis zum Brandherd! Ganz ähnlich greift sich jedes Glied der Atmungskette Wasserstoff-Ionen und/ oder Elektronen aus der Vorstufe und gibt sie an das nächste Glied weiter, wird dadurch bereit, erneut zuzugreifen, greift erneut zu, gibt weiter, wird erneut bereit 18Den

Phospholipiden begegnen wir beim 6. Ausflug.

2.12  Der Komplex I (NADH-Q-Oxidoreduktase)

63

und so fort. Sie sehen, ähnlich wie die Wassereimer fliegen bei der Atmungskette anfangs Wasserstoff-Ionen und Elektronen, dann nur noch Elektronen von Kettenglied zu Kettenglied, von Komplex zu Komplex, und dabei wird immer wieder Energie in handlichen Portionen frei, bis schließlich molekularer Sauerstoff die Elektronen übernimmt und mit Wasserstoff-Ionen aus einer der Vorstufen gefahrlos Wasser bildet. (Hier beginnt der Vergleich, zu hinken, denn das ist kein Löschwasser!). Bei jeder Zwischenstufe nähert sich das reagierende Molekül in seiner oxidierten Form, übernimmt Elektronen aus der Vorstufe und reduziert sich dadurch. Es bleibt aber nicht in der reduzierten Form, sondern reicht die frisch erworbenen Elektronen in die Folgestufe weiter und oxidiert sich, sobald sich deren Trägermolekül nähert. Das liegt ebenfalls in der oxidierten Form vor, übernimmt die Elektronen und reduziert sich dadurch, gibt sie an das nächste Enzym ab und so geht das in der Kette weiter. In den einzelnen Stufen wird immer wieder Energie in handlichen Happen frei, die letzten Endes sorgfältig in ATP-Moleküle verpackt werden (wir werden noch sehen, wie das zugeht). So zähmen die eukaryotischen Zellen die zerstörerische Knallgasreaktion

H2 + 0,5 O2 → H2 O + 278 kJ und gewinnen aus ihr die Energiebausteine, mit denen sie Ordnung schaffen und jene äußerst unwahrscheinlichen Gebilde aufbauen, die wir Lebewesen nennen. „Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehn!“ fordert der Theaterdirektor im Vorspiel zu Goethes „Faust“ und wir wollen nun wirklich die erste Reaktion der Atmungskette kennenlernen. Wie es sich gehört, findet dieselbe im Proteinkomplex I, dem fleißige Forscher ein Molgewicht von etwa 960.000 zuschreiben, statt.

2.12 Der Komplex I (NADH-Q-Oxidoreduktase) Dieser Enzymkomplex wird auch NADH-Dehydrogenase genannt, weil in ihm das NADH dehydriert wird, das heißt, sein Wasserstoffatom verliert. Und das geht so: Ein Molekül NADH überträgt ein Hydridion auf ein Protein, das die Biochemiker Flavinenzym nennen. Das wiederum trägt als aktive („prosthetische“) Gruppe Flavinmononukleotid (FMN). Weil noch ein Proton mitspielt, wird FMN zu FMNH2 und aus NADH entsteht NAD+ nach der Gleichung

NADH → NAD+ + H− FMN + H− + H+ → FMNH2 NADH + FMN + H+ → NAD+ + FMNH2 Dem FMN verhilft eine Flavingruppe, wie sie in Abb. 2.25 am oberen Ende der Formel dargestellt ist, zur Fähigkeit, zwei Wasserstoffatome zu binden. Seine Strukturformel wird Ihnen in Abb. 2.30 vorgestellt, natürlich auch in hydrierter Form. Das neu entstandene NAD+ kann sich nun erneut seinen Aufgaben im

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

64

H N

O

H 3C H 3C

N

N H

O H 3C

N

H 3C

N N CH 2

NH O

CH 2

NH O

H C OH H C OH

FMNH 2

H C OH CH 2 O –

O P O– O FMN

Abb. 2.30  Flavinmononukleotid (FMN) und FMNH2

Zitronensäurezyklus zuwenden, und das heißt: sich dort abermals ein Hydrid-Ion besorgen. Es hat dabei die Wahl zwischen dem „Anlauf“, der dritten, vierten oder achten Reaktion. Gleichgültig wie es sich entscheidet, wird es dadurch wieder zu NADH. Das FMNH2 regeneriert sich jetzt zum FMN. Dabei gibt es zwei Protonen und zwei Elektronen ab:

FMNH2 → FMN + 2H+ + 2e− Reaktionspartner ist ein Eisen und Schwefel enthaltendes Protein19. In ihm ist das Eisen als Fe3+ gebunden und dies ist dem Eisen nicht sehr angenehm. Zwei solche elektrisch aufgeladene, aber unzufriedene Eisen-Ionen nehmen mit Begeisterung je ein Elektron auf und reduzieren sich dadurch zum Fe2+, ohne deswegen das schwefelhaltige Protein zu verlassen.

2 Fe3+ + 2 e− → 2 Fe2+ Dadurch wird so viel Energie frei, dass andere Proteine 4 Wasserstoff-Ionen aus der Matrix in den Membranzwischenraum pumpen können.

2.13 Eine Protonenpumpe Wie sie das bewerkstelligen, verstehen wir am leichtesten, wenn wir annehmen, dass sie an dem Molekülende, das in die Matrix hineinragt, ein Wasserstoff-Ion binden können. Durch eine Änderung der Atomanordnung im Proteinmolekül, die Energie verbraucht, stoßen sie dann am anderen Ende ein Wasserstoff-Ion in

19Bei

der Bindung des Eisens an Schwefel spielt natürlich das Cystein mit seiner HS-Gruppe eine wichtige Rolle.

65

2.13  Eine Protonenpumpe

den Intermembranraum hinein. Ein Protonenshuttle, der die Sperrmauer der inneren Membran mit einem einfachen Trick überwindet! Eine weitere Änderung der Atomanordnung macht die Elektronenpumpe bereit, das nächste Proton aus der Matrix aufzunehmen …. Aber jetzt nähert sich ein neuer Mitspieler. In einer zweiten Stufe reagiert nämlich das neu gebildete FMNH2 mit einem weiteren Protein, dessen aktive Gruppe ein Chinonmolekül ist. Das „Ubichinon“20 (UQ von englisch Ubiquinone) genannte Protein ist beweglich, schwimmt in großer Anzahl im Inneren der Membran und pendelt zwischen den Komplexen I und III hin und her, schließt auch einen Kontakt mit II nicht aus, wenn es seine Aufgaben erfordern. Es nimmt die beiden Wasserstoffatome, über deren Erwerb sich das Flavinmononukleotid gerade gefreut hat, diesem wieder weg und wird zu einem Dihydro-Ubichinon (UQH2), auch Ubichinol genannt, hydriert21:

FMNH2 + UQ → UQH2 + FMN Selbstverständlich geschieht auch diese Reaktion genau genommen, weil das FMNH2 zwei Protonen und zwei Elektronen an das Ubichinon weiterreicht. Da Wasserstoffaufnahme immer bewirkt, dass der Sauerstoffgehalt des Moleküls abnimmt, ist die Hydrierung immer auch eine Reduktion. Abb. 2.31 zeigt den Ubichinonrest mit seiner langen, doppelbindungsreichen Kohlenwasserstoffkette aus lauter Isopreneinheiten22, und natürlich auch seine hydrierte Form. Das Dihydro-Ubichinon ist nun seinerseits sehr leicht oxidierbar. Es gibt, wenn ihm ein passendes Oxidationsmittel als Reaktionspartner angeboten wird, gern zwei Wasserstoff-Ionen und gleichzeitig zwei Elektronen ab und regeneriert sich dadurch zum Ubichinon (welches umgehend zu seinen Pflichten in der Atmungskette zurückkehrt und bei Komplex I abermals zwei Wasserstoff-Ionen und zwei Elektronen abholt). Die Reaktionsgleichung lautet:

UQH2 → UQ + 2 H+ + 2 e− Wir werden die beiden Wasserstoff-Ionen, die nach dieser Gleichung entstehen, mit der letzten Reaktion der Atmungskette verbrauchen und legen sie deshalb sozusagen schon mal für die spätere Verwendung beiseite. Den Elektronen ist ein anderes Schicksal beschieden. Was tut der Ubichinonrest mit ihnen? Er wandert zum Komplex III und gibt sie dort ab. Und was passiert dort?

20Heißt

so viel wie „Überall-Chinon“ und wurde so benannt, weil man es in vielen biochemischen Präparaten findet. 21Der Reaktionsschritt verläuft in zwei Stufen. Zwischenprodukt ist ein Semichinolradikal, also eine Verbindung, die sowohl ein einzelnes ungepaartes Elektron wie auch eine einzelne OH-Gruppe trägt. 22Das Isopren, auch Methylbutadien genannt, hat die Formel CH  = CCH –CH = CH Es kann 2 3 2. polymerisieren, zum Beispiel zu Kautschukmolekülen. Die Molekülkette besteht dann aus –CH2– CCH3 = CH–CH2-Einheiten, wie sie im Ubichinon und in anderen Naturstoffen vorkommen.

66

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Abb. 2.31  Ubichinon und Ubichinol

O

O

O CH 3

O H 3C

CH 3

2H

O H 3C

O

CH 3

OH CH 3

HO

Protein

Der Enzymkomplex III heißt auch QH2-Cytochrom c-Reduktase (kürzer Cytochrom c-Reduktase). Man schreibt ihm eine Molmasse von 270.000 Dalton zu. Er besteht natürlich wieder aus verschiedenen Enzymen. Eines davon, auch Rieske-Zentrum genannt, enthält Eisen und Schwefel, wobei das Eisen als Fe3+ vorliegt. Das andere, Cytochrom b, enthält als prothetische Gruppe zwei Häm-Moleküle. Sie haben unterschiedliche Neigung, Elektronen aufzunehmen, weil ihre Protein-Umgebung verschieden ist. Ein drittes Enzym, Cytochrom c1 trägt eine weitere Häm-Gruppe.23 Im Häm kann Eisen als Fe3+ oder als Fe2+ gebunden sein. Fe3+ lässt sich in dieser Situation leicht zu Fe2+ reduzieren, indem es ein Elektron aufnimmt; umgekehrt lässt sich Fe2+ leicht zu Fe3+ oxidieren, indem es ein Elektron abgibt. Nichts prinzipiell Neues, denn, wie Sie schon gelernt haben, verhält sich das Eisen in dem Protein mit den Eisen-Schwefel-Clustern des ersten Komplexes genauso. Abb. 2.32 zeigt den Bau eines Häm-Moleküls, wie es in Cytochrom b gebunden ist, ausführlich. In Cytochrom c1 ist es anders substituiert und über Schwefelatome homöopolar an Protein gebunden. Im Komplex III übernimmt zunächst das „Cytochrom b“ die beiden Elektronen, die das Ubichinon herüberreicht. Wir dürfen annehmen, dass sie von zwei Fe3+Ionen, die in Hämgruppen gebunden sind, übernommen werden – wobei jeweils das Fe3+ zu Fe2+ reduziert wird:

23Wir

haben dieses farbige Komplexmolekül beim ersten Ausflug kennen gelernt – es ist auf Abb. 1.20 und 1.21 stark vereinfacht dargestellt. Der Name „Cytochrom“ macht sehr schön deutlich, dass das Enzym einerseits mit dem Cytoplasma (Zellsaft) in Kontakt und andererseits wegen der Hämgruppen farbig ist: „chromos“ (griech.) = Farbe.

67

2.14  Der Komplex IV: Die Cytochrom-Oxidase Abb. 2.32  Häm

C H3 –OOC

CH 3 N

N

CH 2

Fe –

OOC

N

N C H3

C H3

C H2

2Fe3+ + 2e− → 2Fe2+ Nun greift das nächste Eisen und Schwefel enthaltende Protein ein, um den beiden Cytochrom b-Gruppen die zwei Elektronen abzunehmen. Aber selbst hier haben die Elektronen keine dauerhafte Bleibe, denn sie werden von zwei Cytochrom c1 übernommen. Deren Fe3+ wird dadurch zu Fe2+ und insgesamt wird im Komplex III so viel Energie frei, dass vier Wasserstoff-Ionen aus der Matrix in den Membranzwischenraum gepumpt werden können.

2.14 Der Komplex IV: Die Cytochrom-Oxidase Indessen – Sie ahnen es gewiss – auch das Cytochrom c1 mit seinen Fe2+-Ionen darf sich nur kurze Zeit über die neu erworbenen Elektronen freuen, denn sie werden ihm durch ein zum Komplex IV gehöriges Cytochrom c entrissen. Das ist ein kleines, außerordentlich bewegliches und sehr gut untersuchtes Protein, das Elektronen transportiert, indem es von Komplex zu Komplex wandert (ähnlich wie das Ubichinon). Es stellt sich beim Komplex III als oxidiertes, also Fe3+ im Häm enthaltendes Enzym vor, verlangt für zwei seiner Moleküle mit Erfolg zwei Elektronen vom Cytochrom c1, schleppt sie zum Komplex IV und gibt sie dort an Cytochrom a a3 weiter. Dieses enthält zwei Hämgruppen (Häm a und Häm a3) sowie – Überraschung! – drei Kupferzentren. Es benutzt ein Elektron, um ein Häm mit dem unzufriedenen Fe3+ -Ion zu reduzieren, das andere, um ein Kupfer-Ion aus den drei Kupferzentren nach folgender Gleichung zu reduzieren:

Cu2+ + e− → Cu+ Jetzt endlich sind die beiden Elektronen energetisch so weit heruntergekommen, dass man ihnen gefahrlos Sauerstoff – also O2 – anbieten kann. Dieser reißt die zwei Elektronen an sich. Sie erraten sicherlich, dass eines davon aus dem Häm des Cytochrom c und das andere aus einem Kupfer-Zentrum stammt. Dadurch wird das O2 zu einem O22−-Ion:

O2 + 2 e− →



O−O−

68

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Dieses krallt sich jetzt die beiden vom Ubichinon beiseitegelegten Wasserstoff-Ionen, wartet in aller Seelenruhe einen zweiten Durchlauf der Atmungskette ab und verwendet dann auch dessen zwei Elektronen und zwei Wasserstoff-Ionen, um ganz friedlich zwei Moleküle Wasser zu bilden. Das geschieht über Zwischenprodukte mit peroxidischen O–O-Bindungen nach der Gleichung + + − O2− 2 + 2 H + 2 H + 2 e → 2 H2 O

Im Komplex IV wird noch ausreichend Energie frei, um bei jedem Durchgang zwei weitere Wasserstoff-Ionen aus der Matrix in den Membranzwischenraum zu pumpen. Insgesamt haben wir also 4 + 4 + 2 = 10 Elektronen in den Zwischenraum befördert. Und was ist mit dem FADH2, das der sechsten Reaktion des Zitronensäurezyklus entspringt? Und wozu gibt es überhaupt den Komplex II der Atmungskette? höre ich Sie fragen. Sie haben Recht! Aber die Antwort ist verblüffend einfach: Der Komplex II dient der Oxidation des aus dem Krebs-Zyklus kommenden FADH2 zu FAD.

2.15 Der Komplex II: Succinat-Q-Reduktase Wir waren uns einig, dass er auf der Innenseite der Membran zwischen Matrix und Zwischenraum sitzt und keine direkte Verbindung in den Zwischenraum a­ ufweist, also auch nicht Protonen in den Zwischenraum schmuggeln kann. Er heißt auch „Succinat-Dehydrogenase“ und besteht hauptsächlich aus einem Protein, das als aktive Gruppe wieder Eisen-Schwefel-Cluster enthält. Ein Cytochrom ist ebenfalls vorhanden, aber seine Funktion ist nicht ganz klar. Hier verliert das FADH2 die ­beiden Wasserstoffatome in Ionenform samt zugehörigen Elektronen. Sie werden auf das vielseitige und bewegliche Ubichinon aus dem Pool übertragen und dieses wird dadurch (in zwei Teilreaktionen über das Semichinolradikal) zum Ubichinol reduziert:

FADH2 → FAD + 2 H+ + 2 e− UQ + 2 H+ + 2 e− → UQH2 FADH2 + UQ → FAD + UQH2 Das FAD kehrt pflichtbewusst zu seiner Aufgabe im Zitronensäurezyklus zurück und das bewegliche Ubichinol gibt zwei Elektronen und zwei Protonen am Komplex III ab, wodurch es sofort zum Ubichinon oxidiert wird. Jetzt geht es mit den Elektronen und Protonen wie oben beschrieben holterdipolter weiter hinunter auf der Energieleiter, über Komplex IV bis zum Endprodukt Wasser. Das FADH2 lässt also den Komplex I links liegen und steigt nach einer ordentlichen Vorbereitung im Komplex II erst bei Komplex III in die Atmungskette ein. Dem entsprechend erzeugt seine Oxidation auch weniger Energie und jetzt begreifen wir unsere frühere Mitteilung, dass ein Molekül FADH2 nicht 2,5, sondern nur 1,5 Molekülen

2.16  Wie Adenosintriphosphat entsteht

69

Adenosintriphosphat entspricht. Auf dem weiteren Weg seiner Elektronen durch Komplex III und IV entsteht zwar immer noch so viel Energie, dass 4 + 2 = 6 Protonen in den Membranzwischenraum gepumpt werden können, aber nicht zehn wie beim Oxidieren des NADH. Die vier Wasserstoff-Ionen, die Komplex I in den Membranzwischenraum pumpt, fehlen eben definitiv. Wir halten hier inne und holen tief Luft. Die Komplexe I, III, und IV der Atmungskette haben aus dem Wasserstoff des NADH, einem Wasserstoff-Ion und aus einem halben Molekül Atmungssauerstoff letzten Endes ein Molekül Wasser erzeugt. Die dabei entstandene Energie benutzten sie, um insgesamt 12 Wasserstoff-Ionen aus der Matrix in den Membranzwischenraum zu pumpen. Aus einem Molekül FADH2 ist nach dem Durchlaufen der Komplexe II, III und IV ein weiteres Molekül Wasser entstanden, dabei wurden sechs Protonen in den Zwischenraum gepumpt. Soweit wäre also alles in bester Ordnung! Nur haben wir bisher kein Wort darüber verloren, auf welche wundersame Weise die in den Zwischenraum gepumpten Wasserstoff-Ionen letzten Endes in ATP verwandelt werden. Ganz einfach kann das nicht sein, denn Protonen sind positiv geladene Wasserstoffatome, ATP enthält außer Wasserstoffatomen Sauerstoff, Phosphor, Stickstoff und Kohlenstoff. ATP scheint also aus beinahe nichts zu entstehen. Der Frage, wie das zugehen mag, wollen wir uns jetzt zuwenden.

2.16 Wie Adenosintriphosphat entsteht Durch die eingepumpten Wasserstoff-Ionen hat sich der pH-Wert im Membranzwischenraum erniedrigt. Es ist Ordnung entstanden: Viele Wasserstoff-Ionen im Zwischenraum, entsprechend weniger in der Matrix. Ein unwahrscheinlicher Zustand, den Mutter Natur, den Aussagen des Zweiten Hauptsatzes der Wärmelehre zufolge, gern abbauen möchte. Das heißt: Die Protonen möchten in die Matrix zurückkehren, und zwar so lange, bis auf beiden Seiten der trennenden Membran gleiche Konzentrationen herrschen. Das wird allerdings durch die protonenundurchlässige Membran verhindert. Das System gleicht einem Stausee, in dem sich Wasser sammelt, weil es durch die Staumauer am Abfließen gehindert wird. Auch elektrisch hat sich was getan: Durch die eingepumpten H+-Ionen ist positive Elektrizität im Zwischenraum gespeichert worden. Das ist ebenfalls ein unwahrscheinlicher Zustand! Die Natur möchte, dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gehorchend, die „Protonenmotorische Kraft“ wieder abbauen, kann aber nicht, wieder weil die protonenundurchlässige Membran es verhindert. Das System gleicht einer geladenen Batterie. Wanderungsvorgänge wie die hier verhinderten sind als „Osmose“ seit langem bekannt. Die Atmung wird deshalb auch als ein „chemiosmotischer“ Vorgang bezeichnet. Diese Wortschöpfung soll ausdrücken, dass durch chemische Vorgänge (Redoxreaktionen) eine Osmose ermöglicht wird. Sie stammt von dem Entdecker

70 Abb. 2.33  ATP-Synthase

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Rotor F0 c

H+

F0 a

Stiel F 1 F0 b

ADP ATP

H+

dreilappiger Polypeptidkomplex F1 ( )3

der ATP-Synthese, dem Engländer Peter Dennis Mitchell (1920–1992), der seine lange Zeit höchst umstrittene Hypothese 1961 veröffentlichte und 1978 dafür den Nobelpreis erhielt. Er behauptete, die Energie, die beim irgendwie dann doch zustande kommenden Rückstrom der Protonen frei wird, könne zur Herstellung von ATP aus ADP und einem Molekül anorganischem Phosphat (Pi) dienen:

ADP + Pi + 30,5kJ → ATP + H2 O Die eigentlich unlösbare Aufgabe schafft, wie so oft in der Biochemie, ein Enzym. Es führt den verheißungsvollen Namen „ATP-Synthase“ und besteht wieder aus einem Komplex von vielen verschiedenen Eiweißmolekülen, der in die Membran eingebaut ist und mit seinen Enden einerseits in den Zwischenraum und andererseits in die Matrix hineinragt. Sie ahnen sicher schon, dass er an dem Ende, das in den Zwischenraum hineinreicht, Protonen aufnehmen und am anderen Ende in die Matrix abgeben kann, ganz ähnlich, wie eine Turbine im Wasserkraftwerk Wasser aus dem Stausee aufnimmt, dadurch in Rotation gerät und in den tiefer gelegenen Bach oder See wieder abgibt. In Abb. 2.33 ist das Enzym schematisch dargestellt.

2.17 Ein Turbinenlaufrad in molekularer Größe Die Analogie ist tatsächlich verblüffend. Denn die aus dem Zwischenraum durch einen Halbkanal einströmenden Wasserstoff-Ionen treffen auf ein Laufrad in molekularen Dimensionen. Es besteht aus 12–14 Polypeptidspiralen F0c, die kreisförmig um einen wahrscheinlich aus Phospholipiden bestehenden Stiel F1γ angeordnet sind. Alle diese Polypeptide sind aufgrund ihrer Nebengruppen wasserabweisend. Die Polypeptidspiralen, ab jetzt „Schaufeln“ genannt, sind so bemessen, dass sie die Membran gerade überbrücken. Der Stiel wird durch einen weiteren Polypeptidkomplex F1 geführt, der aus drei symmetrisch angeordneten

2.17  Ein Turbinenlaufrad in molekularer Größe

71

Polypeptidlappen F1(αβ)3 besteht.24 Diese sind durch sorgfältig ausgewählte Seitenketten hydrophil, ragen in die Matrix des Mitochondriums hinein und zwar so, dass das Laufrad sich mit dem Stiel als Achse im Zentrum der drei Lappen drehen kann. F0a und F0b sind in der inneren Membran des Mitochondriums verankert. Sie bestehen jeweils aus zwei Polypeptidketten und dienen der Kraftübertragung. Die Wasserstoff-Ionen geben, wie wir noch sehen werden, Energie ab, treiben dadurch das Turbinenrad an und verlassen müde das Laufrad in Richtung Matrix – durch die Rotation wird also der Konzentrationsunterschied abgebaut. Mit ihm schwindet auch der Ladungsunterschied, die Batterie wird entleert. Die undurchlässige Membran wird dadurch abermals elegant überbrückt – hier allerdings nicht durch einen energieverbrauchenden Pumpvorgang, wie wir ihn schon kennengelernt haben, sondern im Gegenteil durch eine Turbine, die der Energiegewinnung dient. Der rotierende Stiel ist nicht rotationssymmetrisch. Er überträgt die Rotationsenergie auf den dreilappigen Unterkomplex von wasserfreundlichen Polypeptidmolekülen F1(αβ)3, die in die Matrix hineinragen. Durch die Energiezufuhr ändern sie ihre Atomanordnung („Konformation“) und ermöglichen dadurch die katalytische Herstellung von ATP aus ADP und Pi. Dabei zwingt ihnen die rotierende Achse nacheinander drei unterschiedliche Zustände auf: • Im „L-Zustand“ fangen sie ADP- und Pi-Moleküle aus der Matrix ein und halten sie fest; • im „T-Zustand“ basteln sie daraus ATP, indem sie die beiden Reaktanten einschließen und so gezielt aneinanderpressen, dass die Reaktion leicht stattfindet, und • im „O-Zustand“ stoßen sie das fertige ATP-Molekül in die Matrix hinein. Dort kann es zu seinen Aufgaben im Krebs-Zyklus zurückkehren. Die drei Zustände werden jeweils nach 120 ° Drehung erreicht. Die Polypeptidlappen sind nun wieder bereit, das Spiel neu zu beginnen, das heißt, dass der zuletzt im O-Zustand befindliche in den L-Zustand zurückkehrt, ADP und Pi einfängt und dann den T-Zustand annimmt. In diesem Zustand bastelt er das ATP. Nun nimmt er den O-Zustand an und stößt ein weiteres fertiges ATP in die Matrix ab. Und so fort! Auf einen Schritt der Polypeptidlappen kommen 4 Schaufelpeptidbewegungen von je 30° (weil es 12 Schaufeln gibt und 360: 12 = 30 ist), die jeweils ein Proton abliefern. So erklärt sich zwanglos, dass immer aus 4 Protonen ein Molekül ATP entsteht. Sie sehen – sicher sehr beeindruckt: Die ATP-Synthase ist die kleinste Kraftwerksturbine der Welt! Sie misst etwa 10 Millionstel eines Millimeters, wäre also in einem millionenfach vergrößernden Mikroskop gerade als einen Zentimeter großes feinstmechanisches Kunstwerk sichtbar. In dieser Turbine rotiert zugleich das älteste Rad der Erde, denn ihr „Schaufelrad“ dreht

24Jeder

Lappen besteht wieder aus zwei Teilen α und β, daher αβ!

72

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

sich wohl seit eineinhalb Milliarden Jahren in den Zellen der Mitochondrien. Hier will ich Ihnen nicht verschweigen, dass es mir rätselhaft ist, wie und aus welchen Vorstufen die Evolution dieses Wunderwerk entwickelt hat. Besonders schwierig ist zu verstehen, wie es die Wasserstoff-Ionen schaffen, bei ihrem Durchgang durch die ATP-Synthase die Miniturbine anzutreiben. Vermutlich geht das so:

2.18 Warum sich das Turbinenrad dreht Es dreht sich, wenn auf eine der 12 Turbinenschaufeln eine Kraft einwirkt. Die Kraft kommt zustande, wenn sich eine Turbinenschaufel (ein Protein mit einem Asparaginmolekül als 61. Aminosäure) einem feststehenden Eiweißmolekül („Stator“) nähert, das ihm die Nebengruppe R eines Argininmoleküls entgegenstreckt. Dessen positive Ladung (an den protonierten Stickstoffatomen) bewirkt, dass die Schaufel ein Proton abgibt, das durch einen Halbkanal in Richtung Matrix entschwindet. Die Asparaginsäure der Schaufel ist dabei die große Verliererin, denn ihre R–CO–OH-Gruppe verwandelt sich dadurch in eine R–CO–O−-Gruppe. Diese wird, weil negativ geladen, von den positiv geladenen N-Atomen des Argininmoleküls am Stator magisch angezogen und dabei verbogen, etwa wie eine Feder, die man spannt. Nun nähert sich – von der negativen Ladung der R– CO–O−-Gruppe angezogen, um nicht zu sagen: herbeigerufen – durch einen hier endenden anderen Halbkanal ein Proton aus dem Zwischenraum und lagert sich an die R–CO–O−-Gruppe an. Die wird dadurch zur R–CO–OH-Gruppe und alle Gründe für eine Verbiegung entfallen. Die zurückschnellende Feder (das verbogene Schaufelpeptid) stößt sich am Stator ab. Diese Abstoßung dreht das Turbinenrad um eine Schaufel weiter – dadurch gerät das nächste Schaufelpeptid in die Nähe des Stators, verliert sein Proton in die Matrix und verbiegt sich, zieht ein Proton aus dem Zwischenraum an, entspannt sich und stößt sich dabei wieder am Statorpeptid ab. Das Turbinenrad wird abermals weiter gedreht und so wiederholt sich der Vorgang erneut … Abb. 2.34 ist eine Momentaufnahme des Schaufelrads und zeigt, wie der Stator die Schaufel 1, die gerade ihr Proton verloren hat, anzieht und verbiegt. Schaufel 2 hat ihr Proton bereits aufgenommen, sich gestreckt und sich dadurch vom Stator abgestoßen. Schaufel 12 gerät allmählich in die Nähe des Stators und wird deshalb gleich ein Proton abstoßen. Gleich wird sie sich auch noch verbiegen!

Abb. 2.34  Der Antrieb 1

Stator 12 11

2

3

2.19  Der Schauplatz der Glykolyse und des Krebszyklus

73

Sie sehen, dass jedes neu aus dem Zwischenraum gekommene Proton in den Genuss einer vollständigen Rundfahrt auf dem Turbinenrad kommt, bevor es in die Matrix gestoßen wird und dass tatsächlich jede Schaufelbewegung das Rad um 360: 12 = 30 ° weiter dreht. Ein Wunderwerk der Evolution, das bei verschiedenen Lebewesen verschieden gestaltet ist25 und sich auch im menschlichen Körper dreht! Die hier beschriebene Variante rotiert in den Mitochondrien des Bakteriums Escherichia Coli, das in Fäkalabwässern vorkommt und volkstümlich „Colibakterium“ genannt wird. Die Aufklärung des Vorgangs verdanken wir dem 1918 in Utah geborenen US-Amerikaner Paul D. Boyer, der dafür 1997 den Nobelpreis erhielt, zusammen mit dem 1941 geborenen Briten John E. Walker, dem es gelang, die ATP-Synthase zu kristallisieren und ihre Struktur zu ermitteln. Nicht zuletzt gelang es ihm, mit raffiniert gesteuerten Laserblitzen und lichtempfindlichen Farbstoffmolekülen die Rotation des Turbinenrads zu beweisen. Die Nobelpreiskommission machte damals ganze Arbeit und vergab ein weiteres Drittel des Preisgelds an den 1918 geborenen Dänen Jens P. Skou, der schon 1957, also 40 Jahre zuvor die erste Protonenpumpe beschrieben hatte. Die Reaktionen der Atmungskette und der ATP-Synthese bezeichnet man auch gern als Oxidative Phosphorylierung, weil bei ihnen die Wasserstoffatome von NADH und FADH2 mithilfe von Sauerstoff zu Wasser oxidiert werden und gleichzeitig Adenosintriphosphat aus Adenosindiphosphat und anorganischem Monophosphat entsteht, ersteres also „phosphoryliert“ wird.

2.19 Der Schauplatz der Glykolyse und des Krebszyklus Bei den Prokaryonten finden beide Vorgänge im Zellsaft, dem Cytoplasma statt. Die Eukaryoten haben dafür verschiedene Schauplätze: Der Glykolyse ist das Cytoplasma vorbehalten, dem Zitronensäurezyklus dagegen die Matrix der Mitochondrien, der sogenannten Kraftwerke der Zellen. Diese Organellen26 haben meist eine Größe von etwa 0.001 mm, sind also in einem tausendfach vergrößernden Mikroskop als stecknadelkopfgroße Gebilde sichtbar. Jede Zelle enthält 1000 bis 2000 Mitochondrien, wobei riesige Abweichungen von diesen Zahlen vorkommen27. Sie sind wahrscheinlich einmal urtümliche Bakterien mit besonderen

25Wegen

der unterschiedlichen Bauweise (zum Beispiel 14 statt 12 Schaufeln) gibt es auch unterschiedliche Ausbeuten an ATP. In der Literatur findet sich deswegen auch die Angabe, dass aus einem NADH drei und aus einem FADH2 zwei Moleküle ATP erzeugt werden (statt 2,5 bzw. 1,5). 26Organellen sind organähnlich arbeitende Bestandteile der Zellen. 27Reife Spermien des Menschen enthalten weniger als zehn, Eizellen dagegen mehrere Hunderttausend Mitochondrien. Mitochondrien haben ihre eigene Erbinformation. Bei der Befruchtung der Eizelle geht die Erbinformation der Mitochondrien in den Spermien zugrunde. Allein die der Eizelle wird weitergegeben. Von daher die Behauptung, alle Menschen stammten von einer einzigen Frau (Eva?) ab.

74

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

Fähigkeiten gewesen, die von größeren Zellen eingefangen und nicht verdaut, sondern zu einer Symbiose überredet wurden. Hier die Arbeitsteilung: Sie erhielten aus dem Zellsaft der Wirtszelle das Endprodukt der Glykolyse, also Brenztraubensäure (oder Pyruvat), und machten sich für die Wirtszelle nützlich, weil sie es verstanden, daraus nochmals viel Energie in Form von ATP-Molekülen zu gewinnen. Ihr Know-how war der Zitronensäurezyklus und die Atmungskette, ihre Abfälle bestanden aus Kohlendioxid und Wasser – leicht zu entsorgen oder sogar als Reaktionspartner zu verwenden. Das waren hochwillkommene, leicht zu integrierende Immigranten! Die Zellen boten ihnen zum Ausgleich außer dem Nahrungsmittel Pyruvat zusätzlichen Schutz durch die Außenhaut. Die Mitochondrien aber gaben ihre Gewohnheit, den Zitronensäurezyklus hinter zwei Membranen in der Matrix durchzuführen, nicht auf, auch nicht die Ansiedlung der Atmungskette mit ihren Komplexen I, III und IV in der inneren Membran, jeweils mit Eingang in der Matrix und Ausgang in den Zwischenraum (Abb. 2.29). Wie schon erwähnt, ist zwar die äußere Membran porenreich und deshalb für alle Bestandteile des Zellsafts durchlässig, die innere Membran verwehrt dagegen den Wasserstoff-Ionen und großen Molekülen wie NADH oder FADH2 den Durchgang. Vor unserem inneren Auge türmt sich jetzt ein neuer Berg von Schwierigkeiten auf. Denn wir erinnern uns genau, dass wir schon bei der Glykolyse ein Molekül NADH erhalten haben. Wir haben es in der Atmungskette stillschweigend mit verarbeitet – ganz so als ob es fähig wäre, aus dem Cytoplasma durch die innere Membran bis in die Matrix einzudringen! War das ein Fehler? Offensichtlich nicht, denn wenn dieses NADH aus der Glykolyse nicht in der Atemkette mit oxidiert würde, müsste es sich im Cytoplasma anreichern und die Gesamtausbeute an ATP wäre geringer. Wie überbrückt also das NADH die unüberwindliche innere Membran, wenn es nicht bei anderen Synthesen (zum Beispiel bei der Milchsäuregärung) verbraucht wird?

2.20 Ein Shuttleservice für NADH Wieder begegnen wir bei unserem Ausflug einem Shuttleservice. Er funktioniert verblüffend einfach. Das NADH reagiert mit einem Molekül Dihydroxyacetonphosphat – das ist bei der vierten Reaktion der Glykolyse entstanden. Es drängt ihm nach der uns bekannten Gleichung

NADH → NAD+ + H− ein Hydridion auf. Unter Mitwirkung eines Protons entsteht dadurch Glycerin-3-phosphat: Dihydroxyacetonphosphat + NADH + H+ → Glycerin-3-phosphat + NAD+ Für dieses zierliche Molekül gibt es ein Transportsystem durch die innere ­Membran des Mitochondriums in die Matrix hinein und das G3P benutzt es natürlich gern.

2.21  Wie die Atmungskette geregelt wird

75

Dort trifft es überraschend auf ein Molekül FAD, das ihm die beiden neu erworbenen Wasserstoffatome wieder entreißt und sich selbst zu FADH2 umwandelt. Aus dem derart malträtierten Glycerin-3-phosphat bildet sich erneut Dihydroxyacetonphosphat: Glycerin-3-phosphat + FAD → Dihydroxyacetonphosphat + FADH2 und das kehrt schleunigst durch die Membran in das Cytoplasma zurück. Dort kann das Spiel neu beginnen! Haben Sie etwas bemerkt? Die beiden Wasserstoffatome, die das Glycerin-3-phosphat mithilfe von NADH erhalten hat, sind mit ihm in die Matrix gewandert, aber nicht mit dem Dihydroxyacetonphosphat zurückgekehrt! Aber wo sind sie dann geblieben? Das FAD hat sie natürlich übernommen; es hat sich zu FADH2 hydriert. Das NADH wurde also gar nicht durch die Membran geschleust oder gepumpt, sondern nur zwei Wasserstoffatome. Allerdings nicht kostenlos, denn in der Gesamtbilanz wurde ein NADH im Zwischenraum umgetauscht gegen ein FADH2 in der Matrix. Das erbringt etwas weniger ATP in der Amungskette (statt 2,5 nur 1,5 Moleküle, wie wir wissen), aber bei einer Gesamtausbeute von etwa 32 ATP aus Glykolyse, Krebszyklus und Atmungskette ist das verschmerzbar. Beiläufig sei erwähnt, dass es auch einen Transfer für NADH gibt, der sozusagen gebührenfrei ist, also die ATP-Ausbeute nicht mindert. Er heißt „Malat-Aspartat-Shuttle-System“, funktioniert prinzipiell ähnlich, ist allerdings komplizierter und nicht so leicht zu verstehen wie das Glycerinphosphat-Shuttle.-

2.21 Wie die Atmungskette geregelt wird Wir stellen uns vor, unser Bakterium gelangt – vielleicht sogar durch eigene Bewegung – in ein bakterielles Schlaraffenland. Plötzlich gibt es Nahrung in Hülle und Fülle. Es schaltet natürlich seine Verdauungsfunktion – Glykolyse, Krebs-Zyklus und Atmungskette auf Höchstleistung, es vermehrt sich rasch und exponentiell durch Zellteilung – und dennoch tritt kein Mangel an Glukose ein. Wird es vielleicht an Überfütterung zugrunde gehen oder eine Art Kollaps erleiden? Das wird nicht geschehen, weil vorher ein Mangel an ADP eintritt. Die überaus hohe Produktion von ATP verknappt die Vorräte an diesem Rohstoff, und die Knappheit bremst die Rotation der Turbine in der ATP-Synthase. Weil dadurch auch die Synthese von ATP verlangsamt wird, tritt keine Überhitzung der Kreisläufe ein. Umgekehrt wird durch Glukosemangel die Produktion von ATP gebremst. Dem entsprechend sinkt der Verbrauch an ADP. Da aber das Bakterium nach wie vor Ordnung schafft, indem es ATP zum Anschieben von trägen Reaktionen verbraucht, fällt ADP nach wie vor als Zersetzungsprodukt des ATP in Mengen an. Das Angebot an ADP steigt und dadurch werden die Turbinen der ATP-Synthase so weit beschleunigt, wie es das knappe Angebot an Glukose zulässt. Ein äußerst einfaches Regelungsverfahren!

76

2  Zweiter Ausflug: Zum mühsamen Leben in der Ursuppe

2.22 Ein Rückblick Ziemlich erschöpft sind wir endlich am Ziel unseres zweiten Ausflugs angekommen. Er begann mit dem Blick auf ein primitives Bakterium der Urzeit, das durch Gärungsvorgänge lebenswichtige Energie aus einem seltenen Leckerbissen der Ursuppe gewann. Dabei zeigte sich, dass es wahrscheinlich nicht weniger als 10 enzymkatalysierte Reaktionen benutzte, um diese Aufgabe zu bewältigen, und dass es dabei ganz ohne Sauerstoff auskam. Neugierig geworden, begaben wir uns auf die Suche, wo und wie fortschrittlichere Bakterien oder höhere Lebewesen die karge Ausbeute der Glykolyse aufbessern, indem sie das Hauptprodukt der Glykolyse, ein Salz der Brenztraubensäure, weiter verarbeiten. Fündig wurden wir im Zentralraum ihrer Mitochondrien, der Matrix. Dort sahen wir eine Art Riesenrad von acht enzymkatalysierten Reaktionen, in das nach einem verheißungsvollen Anlauf das aufbereitete Pyruvat eingespeist wird. Erneut erhielten wir Wasser und Kohlendioxid als Abbauprodukte, daneben zwei Coenzyme als Wasserstofffänger. und sahen, dass das letzte Reaktionsprodukt, Oxalacetat, den nächsten Kreislauf der acht Reaktionen starten kann. Die wirklich große Ausbeute an Rohmaterial für Energiebausteine fanden wir allerdings erst, als wir sahen, wie in der Atmungskette NADH und FADH2 Protonen und Elektronen auf die Reise durch eine Kette von Enzymkomplexen schicken, bis sie übermüdet und kraftlos mit Sauerstoff gefahrlos Wasser bilden. Überraschend entdeckten wir bei Schiller das Geschehen vorbeschrieben. Ein ungeahnter Höhepunkt unseres Ausflugs war dann der Blick auf die älteste und kleinste Turbine der Welt und auf das darin rotierende Schaufelrad aus Proteinen, das von Protonen angetrieben wird und mithilfe eines umschaltbaren Stators ATP-Moleküle produziert. Verblüfft besahen wir einen Shuttle-Dienst für Wasserstoffatome, der dafür sorgt, dass ein Molekül NADH zu NAD+ oxidiert wird, obwohl es gar nicht mit den Enzymen der Atmungskette in Berührung kommt. Ein langer und anstrengender Ausflug ging damit zu Ende. Der nächste wird erholsamer; er wird uns zum Glück ins Grüne führen.

3

Dritter Ausflug: Ins Grüne

Wir kehren zu einem zweiten Besuch in die Urzeit der Erde zurück. Seit unserer ersten Stippvisite vor 4 Mrd. Jahren, bei der wir die Ursuppe untersuchten und Bausteine des Lebens fanden, sind vielleicht 500 Mio.ionen Jahre vergangen. Diesmal sehen wir immer noch Lavaströme, sintflutartige Regen, Blitze und dichte Wolken. Inzwischen sind aber nach endlosem Experimentieren der Evolution im Urozean die ersten Lebewesen entstanden, primitive Bakterien, die sich mithilfe der Glykolyse oder anderen Gärungsvorgängen mühsam ernähren. Sie haben sich auch schon vermehrt, und zwar so sehr, dass Nahrungsmittel knapp geworden sind, weil die ewigen Gewitter nicht genügend nachliefern können. In letzter Zeit hat sich deshalb der Wettkampf um das Überleben bedrohlich zugespitzt. Ein anderer Stoffwechsel, der etwa so, wie wir es gewöhnt sind, durch biochemisches Verbrennen der Nahrung im Zitronensäurezyklus und in der Atmungskette mehr Energie gewinnt, wäre ein entscheidender Vorteil im Überlebenskampf, ist aber leider ganz unmöglich, denn in der Atmosphäre kommt kein Sauerstoff vor. Sie besteht immer noch aus lebensfeindlichen, oft sogar giftigen Gasen wie Ammoniak, Methan, Blausäure, Stickstoff, Wasserstoff, Kohlenmonoxid und Kohlendioxid.

3.1 Die geniale Erfindung der Blaualgen Not macht erfinderisch! Deshalb haben ein paar pfiffige Mikroorganismen vor vielleicht zweieinhalb Milliarden Jahren einen biochemischen Weg entdeckt, sich selber Nahrung herzustellen. Sie produzieren aus Kohlendioxid und Wasser einen Leckerbissen, den sie schon seit einiger Zeit als seltenen Bestandteil der Ursuppe kennen und einigermaßen verdauen gelernt haben: den Traubenzucker. Ganz formal folgt die dazu nötige Reaktion der folgenden Summengleichung:

6 CO2 + 6 H2 O → C6 H12 O6 + 6 O2

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Neubauer, Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58859-8_3

77

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

78

Die Entstehung von Sauerstoff aus Wasser und Kohlendioxid, zwei sehr stabilen, höchst energiearmen Verbindungen, ist so überraschend, dass wir sie uns in einem Versuch ansehen wollen:

Versuch 3.1: Photosynthese

Wir füllen ein Einmachglas mit Wasser, geben einige Zweige Wasserpest oder eine andere grüne Wasserpflanze hinein, bedecken diese mit einem umgekehrten Trichter und stellen es ins Sonnenlicht. Nach kurzer Zeit beobachten wir, dass an den Zweigen der Wasserpest Gasbläschen entstehen, die durch das Wasser im Trichter aufsteigen. Wir können sie mithilfe eines wassergefüllten Reagenzglases sammeln, das wir umgekehrt in die Flüssigkeit eingetaucht haben. Dies erfordert eventuell einige Tage Belichtungszeit. Zuletzt nehmen wir das gasgefüllte Reagenzglas behutsam aus dem Wasser, wobei wir es provisorisch mit dem Daumen verschließen, und führen einen noch glimmenden Holzspan in den Gasraum ein. Der Span brennt hell auf und zeigt damit an: das Gas war Sauerstoff.

3.2 Woher kommt der Sauerstoff? Es ist eine spannende Frage, ob dieser Sauerstoff aus dem Kohlendioxid stammt oder aus dem Wasser. Instinktiv neigen wir, die wir von Chemie etwas verstehen, dazu, das stabile Wassermolekül unangetastet zu lassen und den Sauerstoff dem Kohlendioxid zu entziehen, also folgende Teilgleichungen anzunehmen:

6 CO2 → 6 C + 6 O2

(1)

6 C + 6 H2 O → C6 H12 O6

(2)

So dachten auch die maßgeblichen Chemiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Weil sie sich vorstellten, das Wassermolekül sei „irgendwie“ an den Kohlenstoff gebunden, prägten sie konsequent die Bezeichnung „Kohlenhydrate“, die sich bis heute erhalten hat. Sie bedeutet nichts anderes, als dass das Kohlenhydratmolekül aus Kohlenstoff durch Wasseranlagerung entstanden sein müsste. Die Alternative, bei der das Wassermolekül gespalten wird und sich der Wasserstoff „irgendwie“ an das Kohlendioxid anlagert, kommt uns dagegen ziemlich unwahrscheinlich vor. Dennoch wollen wir auch dafür folgende Teilgleichungen anschreiben:

6 H2 O → 6 H2 + 3 O2

(3)

6 CO2 + 6 H2 → C6 H12 O6 + 3 O2

(4)

Die Entscheidung zwischen den beiden Alternativen brachten Experimente mit Wasser, das in geringer Konzentration radioaktiven Sauerstoff enthielt. Wenn

3.2  Woher kommt der Sauerstoff?

79

Gl. (1) und (2) richtig sind, muss der radioaktive Sauerstoff aus dem Wassermolekül in das Traubenzuckermolekül gelangen, im Falle der Alternative (3) und (4) wird er im Reaktionsnebenprodukt Sauerstoff zu finden sein. Und tatsächlich: Nach der Reaktion fanden die Forscher höchst überraschend die radioaktiven Sauerstoffatome nicht im Traubenzucker, sondern im elementaren Sauerstoff. Demnach wird das Wassermolekül gespalten; die Alternative mit den Teilgleichungen (3) und (4) ist richtig. Es lohnt sich unbedingt, diese Reaktion ein wenig näher zu betrachten. Zwei Dinge fallen uns dabei sofort ins Auge. 1. Rein chemisch gesehen wird den Wassermolekülen Wasserstoff entzogen, sie werden „dehydriert“; Sauerstoff bleibt übrig. Dies geschieht nach folgender Reaktionsgleichung: H2 O → 2 H+ + 0,5 O2 + 2 e− 2. Wobei e− wie schon gewohnt das Zeichen für ein Elektron sein soll. Weil der Sauerstoff statt der Oxidationszahl –2 im Wassermolekül nun die Oxidationszahl 0 des elementaren Sauerstoffs annimmt, kann man auch sagen, dass er oxidiert wurde. Und diese Aussage kann man auch auf das Wassermolekül ausdehnen, denn sein Sauerstoffgehalt nimmt wegen der Atomgewichte von Wasserstoff (1) und Sauerstoff (16) durch die Photosynthese von (16:18) · 100, also rund 89 % auf die exakt 100 % des elementaren Sauerstoffs zu. Wenn aber Wasser durch Abgabe von Wasserstoff oxidiert wird, dann muß es diesen Wasserstoff an einen Reaktionspartner abgeben. 3. Dieser Reaktionspartner ist das Kohlendioxid. Ihm wird der Wasserstoff aufgehalst, es wird „hydriert“. Dies geschieht aber gezielt. Es nimmt nämlich nicht so viel Wasserstoff wie möglich auf (dann entstünde ja CH4), sondern wunderbarerweise weniger, und zwar so viel, dass einerseits sieben Kohlenstoff-Wasserstoff-Bindungen und fünf Kohlenstoff-Kohlenstoffbindungen entstehen sowie andererseits Kohlenstoff-Sauerstoffbindungen erhalten bleiben, denn das Traubenzuckermolekül hat die Strukturformel, die Sie in Abb. 3.1 sehen. Obwohl also die Hydrierungsreaktion nicht bis zum bitteren Ende Methan läuft, führt sie doch dazu, dass in der Gesamtbilanz sechs Moleküle Kohlendioxid in ein sauerstoffärmeres Molekül umgewandelt werden. Warum? Weil im Kohlendioxid zwei Atome Sauerstoff auf ein Atom Kohlenstoff kommen, während im Traubenzuckermolekül auf jedes Atom Kohlenstoff nur ein Atom Sauerstoff kommt. Daran sehen wir, dass tatsächlich das Kohlendioxid reduziert wurde, und zwar durch das äußerst reaktionsträge und unwillige Reduktionsmittel Wasser. Hier sind zwei Ausrufezeichen angebracht!! Abb. 3.1  Glukose

H HO

CH 2OH

C HO

C H

C H

O

H C OH

C H

OH

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

80

3.3 Ein Nahrungsmittel aus Stoffwechselschlacken Wir haben demnach in doppelter Hinsicht eine äußerst ungewöhnliche Reaktion vor uns, denn einerseits wird das extrem stabile Wassermolekül gespalten und andererseits das ähnlich stabile Kohlendioxid gezielt unvollständig hydriert. Und, um unser Staunen noch weiter zu erhöhen, entsteht aus sechsmal zwei einfachen, energiearmen anorganischen Molekülen, beide Abfallprodukte des Stoffwechsels, ein hoch geordnetes, energiereiches Nahrungsmittelmolekül. Unsere Hochachtung vor der biochemischen Leistung jener pfiffigen Mikroorganismen bleibt selbst dann ungeschmälert, wenn wir von ihren neiderfüllten menschlichen Konkurrenten erfahren, dass sie wohl hunderte von Millionen Jahren brauchten, um ihre Synthese zu entwickeln und dass sie dabei glücklicherweise auf Vorstufen aufbauen konnten. Nach allem, was wir über solche unwahrscheinliche Reaktionen in der anorganischen Chemie gelernt haben, brauchen sie viel Energie, um abzulaufen. Einerseits muss nämlich unter hohem Energieaufwand das Wassermolekül zerlegt werden, und zusätzliche Energie wird benötigt, um aus den ungeordnet herumfliegenden, einfach gebauten Molekülen eines Gases und einer Flüssigkeit ein so wohlgeordnetes Feststoffmolekül wie den Traubenzucker zu basteln (Ordnung machen erfordert Energie – denken Sie an den zweiten Hauptsatz der Wärmelehre!). Deshalb haben sich unsere winzigen Biochemiker rechtzeitig nach einer Energiequelle umgesehen und beschlossen, die leistungsfähigste und dauerhafteste Energiequelle der Erde für ihre Zwecke anzuzapfen: die Sonne!

3.4 Die Photosynthese der Eukaryoten Zu diesem Zweck erfanden sie einen Stoff, der den blauen und roten Teil des Sonnenlichts einfängt und deshalb gelbgrün aussieht: das Chlorophyll oder Blattgrün, eine komplexe Pyrrolverbindung (s. Abb. 3.2), die dem Häm verblüffend ähnelt, aber anstelle des Eisenions ein Magnesium-Ion enthält. Im Folgenden wollen wir schauen, wie die Eukaryoten, zu denen ja unsere wichtigsten Nährpflanzen gehören, mit der Erfindung der Blaualgen umgehen.

Abb. 3.2  Chlorophyll

H2C

CHO

H3C N

N

CH3

Mg N

N

H3C C20 H39

O

CH3 O O

O OCH3

3.4  Die Photosynthese der Eukaryoten Abb. 3.3  Ein Chloroplast

81 &KORURSODVW lX‰HUH0HPEUDQ LQQHUH0HPEUDQ *UDQXP 7K\ODNRLG /XPHQ 6WURPD

Erfreulicherweise betreten wir dabei nicht lauter Neuland, sondern finden immer wieder Ähnlichkeiten mit der Atmungskette. Denn während die Eukaryoten für die Atmungskette Mitochondrien als Symbiosepartner aufgenommen haben, dienen ihnen für die Photosynthese die meist annähernd kugelrunden Chloroplasten. Auch dies sind ehemals selbstständige Organellen, welche noch eine eigene Erbinformation aufweisen, selbst einige Eiweißverbindungen zusammenbasteln können und hinter mehreren Membranen Biochemie betreiben. Hatten wir bei den Mitochondrien eine porenreiche Außen- und eine protonenundurchlässige Innenmembran zu durchdringen, bis wir über den Membranzwischenraum in die Matrix gelangten, so stellen uns die Chloroplasten außer diesen beiden schon gewohnten Hindernissen im Innenraum eine dritte Membran entgegen. Sie umschließt die Thylakoide. Das sind kissenförmige Membransäckchen, von denen immer mehrere aufeinander gestapelt sind. Die Stapel heißen auch „Grana“ (Lateinisch für Körner) und sind über Röhrchen miteinander verbunden. Sie entstanden aus der inneren Membran durch Knospenbildung und Ablösung. Die Membran ist für Protonen undurchlässig und umschließt den „Lumen“ genannten Innenraum der Thylakoide – sie schwimmen im „Stroma“. Auf diese Weise wird eine riesige Oberfläche für eingebaute Enzymkomplexe geschaffen – wir erinnern uns, dass dies die Mitochondrien durch Fälteln der inneren Membran erreichen. Abb. 3.3 zeigt den Aufbau eines Thylakoids im Querschnitt. In die Membran der Thylakoide sind drei große Enzymkomplexe – die Photosysteme PS II und PS I und der dazwischen liegende Cytochrom-bf-Komplex so eingebaut, dass ihre Enden sowohl in das Lumen wie auch in das Stroma hineinragen. Beide Photosysteme enthalten je einige Hundert an Proteine gebundene Chlorophyllmoleküle, von denen die allermeisten nur dem Einsammeln von Lichtenergie dienen. Zur Leistungsverstärkung gibt ihnen die Pflanze andere Farbstoffmoleküle bei, die als „Antennenmoleküle“ zum Beispiel grünes Licht verschlucken und deshalb rot aussehen – das Carotin ist das bekannteste von ihnen.1

1Die roten Blattfarbstoffe werden als Herbstlaubfärbung sichtbar, sobald das Blattgrün abgebaut wird. Unvergesslich schön im „Indian summer“ Canadas und der nördlichen Vereinigten Staaten!

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

82

An Chlorophyll gebundene Proteinmoleküle reichen die Lichtenergie weiter zu den selteneren photochemisch aktiven Chlorophyllmolekülen des Photosystems II.2 Je zwei von diesen Chlorophyllmolekülen, P680 genannt, geraten unter dem Einfluss eines Photons hν in einen angeregten Zustand3 und verlieren dabei ein Elektron:

P680 + hν → P680+ + e− Dieses wird von einem magnesiumfreien Chlorophyll, dem Phäophytin, das sozusagen als Elektronenausgang aus dem Photokomplex II funktioniert, gnädig aufgenommen. Wir werden sehen, was mit dem Elektron passiert, kümmern uns aber vorher um das P680, das jetzt sein abgegebenes Elektron schmerzlich vermisst. Es reißt sich ein Ersatzelektron von einem Wassermolekül ab. Dabei ist ihm ein komplex gebundenes Mangan-Ion als Katalysator behilflich. Mit dem erbeuteten Elektron kehrt unser Chlorophyllmolekülpaar in den elektrisch neutralen Zustand und zur unaufgeregten Gemütslage zurück:

P680+ + e− → P680 Und das heißt, dass es erneut ein Photon einfangen und sich erregen kann. Das Spiel beginnt von vorn. Wenn sich dieser Vorgang wiederholt, kommt dem Wassermolekül ein zweites Elektron abhanden und es zerfällt unter diesen Schicksalsschlägen in Protonen und Sauerstoff. Die Reaktion

H2 O + 2 hν → 2 H+ + 0,5 O2 + 2 e− , an die wir wenige Seiten zuvor nicht recht glauben wollten, findet also tatsächlich statt, weil sie von Photonen angeschoben wird und das Chlorophyll die Elektronen gierig an sich reißt. Was geschieht mit den Reaktionsprodukten? Der Sauerstoff verlässt die Blätter der grünen Pflanzen in Richtung Luft über eigens für den Gasaustausch bestimmte Kanäle und Blattöffnungen. Die Protonen werden in das Lumen geschickt. Dort bleiben sie wegen der undurchlässigen Thylakoidenmembran bis auf weiteres eingesperrt. Die Elektronen werden (nur bei fortdauernder Belichtung) von den aktiven Chlorophyllmolekülen weitergereicht, und zwar über das oben erwähnte magnesiumfreie Chlorophyll, das Phäophytin (das Elektronen-Ausgangstor), an ein niedrigmolekulares Plastochinon Q, das in der

2Es

wurde nach dem Photosystem I entdeckt und hat diese irreführende Nummerierung nie mehr abgelegt. Seine Chlorophyllmoleküle können Photonen bis maximal 680 nm Wellenlänge verarbeiten und werden deshalb auch bei paarweisem Auftreten mit P680 bezeichnet. 3Den „angeregten Zustand“ erreichen sie, wenn durch die aufgenommene Lichtenergie ein Elektron auf eine höhere Umlaufbahn gehoben wird. Das wiederum ist die Vorstufe zum Verlust des Elektrons, der Oxidation des P680 zum P680+. Das P680+ wiederum ist wegen seiner Gier nach einem Elektron ein starkes Oxidationsmittel – stärker als Sauerstoff. So stark, dass es sogar dem Wasser Elektronen entzieht.

3.4  Die Photosynthese der Eukaryoten

83

Thylakoidenmembran herumschwimmt. Das Plastochinon transportiert sie im Pendelverkehr zum Cytochrom bf des gleichnamigen Enzymkomplexes4. Dort geben sie, ganz wie in der Atmungskette, einen Teil ihrer Energie ab, (wobei ihnen ein Eisen-Schwefel-Zentrum katalytisch hilft) – mit der pumpt der Cytbf-Komplex weitere Protonen in das Lumen. Sie treffen dort auf die bereits eingeschlossenen Artgenossen. Uns beschleicht der Verdacht, sie könnten dort für eine spätere ATP-Erzeugung aufgestaut werden. Die energieärmeren Elektronen werden dann mithilfe des Plastocyanins PC zum Photosystem I weitertransportiert. Das Plastocyanin ist ein verhältnismäßig kleines Enzym, das ebenfalls im Inneren der Membran schwimmt und ähnlich wie das Cytochrom c der Atmungskette seine Aufgaben im Pendelverkehr erledigt. Cu2+-Ionen, die an seine Proteine gebunden sind, nehmen am Cytochrom bf-Komplex je ein Elektron an, werden dadurch zu Cu1+-Ionen und geben bei Ankunft am Photosystem I das Elektron wieder ab, wodurch sie wieder zu Cu2+-Ionen oxidiert werden. Im Photosystem I5 kommen die Elektronen ziemlich energiearm an. Photochemisch aktive Paare von Chlorophyllmolekülen P 700+ nehmen sich ihrer an. Sie befinden sich in angeregtem Zustand, sind gerade frisch belichtet und haben ein Elektron abgegeben. Sie stopfen das angekommene Elektron gierig in ihre Elektronenlücke, regen sich ab und machen sich dadurch bereit, erneut ein Photon anzunehmen. Sobald ihnen das gelungen ist, geben sie das gerade eben aufgenommene Elektron in den Zellsaft (Cytosol) des Intermembranraums ab. Dort wartet es, bis ein zweiter Durchgang ein weiteres Elektron als Verstärkung schickt. Über einige Zwischenstufen gelangen die zwei Elektronen zu einem Protein namens „Ferredoxin“, das im Stroma gelöst ist. Diesem gelingt es, damit und mithilfe von Fe-Ionen ein uns schon fast bekanntes Dinukleotid NADP+ zu hydrieren:

NADP+ + H+ + 2 e− → NADPH Das Enzym Ferredoxin-NADP+-Reduktase katalysiert diese Reaktion. NADPH ist ein außerordentlich starkes Reduktionsmittel. Diese Eigenschaft ermöglicht nun den zweiten Teil der Photosynthese, nämlich die gezielte Teilhydrierung des Kohlendioxids zum Traubenzucker. Die Strukturformel der Wundersubstanz ist in Abb. 2.7 zu erkennen, wenn man in der OR-Gruppe der Ribose für R einen Phosphatrest anschreibt. Bevor wir uns diesem Teil der Photosynthese zuwenden, interessiert uns natürlich noch, was mit den Protonen passiert, die vom Photosystem II und dem Cytochrom-bf-Komplex ins Lumen der Thylakoide geschickt wurden. Sie haben dort den pH-Wert erniedrigt (von etwa 8 auf ungefähr 5) und wegen ihrer positiven Ladung ein elektrisches Potenzial aufgebaut, das dem 2. Hauptsatz der Wärmelehre folgend eigentlich durch Protonenrückwanderung ausgeglichen werden sollte.

4Wir

erinnern uns: Bei der Atmungskette übernahm das „Ubichinon“ ähnliche Aufgaben. Blattgrünmoleküle können Photonen mit Wellenlängen bis zu 700 nm verarbeiten und heißen deshalb auch P700. 5Seine

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

84

3KRWRV\VWHP ,

(QHUJLH

3 H±

3KRWRV\VWHP ,, 3



H± 3K







4

)G H

±

1$'3  + 1$'3+ &\W EI H± 3F

 +2  +  2 

:DVVHU VSDOWXQJV ]HQWUXP 0Q ± 0Q H î

H± 3

3

3KRWRQ

$736\QWKHVH

3KRWRQ

+ LP 7K\ODNRLGOXPHQ $736\QWKHVH

Abb. 3.4  Photosynthese bis zur Dunkelreaktion

Aber hier wie bei der Atmungskette hindert die protonenundurchlässige Membran diesen Vorgang. Er findet dennoch statt, denn in die Membran sind ebenfalls die feinstmechanischen Wunderwerke der ATPase eingebaut, also jene Miniturbinen, die wir schon beim vorigen Ausflug kennengelernt haben und die aus Protonen, Phosphat und ADP das Energiespeichermolekül ATP erzeugen. Fachleute schätzen, dass acht Photonen ausreichen, um ein Molekül O2, zwei Moleküle hydriertes Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid-Phosphat und drei Moleküle ATP zu erzeugen. Das ganze Geschehen zeigt Abb. 3.4.

3.5 Das Kohlendioxid wird umgesetzt Der gezielten Teilhydrierung des Kohlendioxids zum Traubenzucker haben wir bis jetzt nur wenige dürre Worte gewidmet. Für diese gebremste Reduktion ist der reaktionsfähige Wasserstoff des NADPH nötig. Dieses wird nun aber nicht einfach auf das Kohlendioxid losgelassen. Denn es ist heillos überfordert, wenn es allein das Traubenzuckermolekül aufbauen soll. Es kann beim besten Willen nicht einfach sechs teilhydrierte Kohlendioxidmoleküle zum sauerstoffhaltigen Sechsring mit Seitenkette und richtig angeordneten Substituenten (Abb. 3.1) zusammenpuzzeln. Das Kohlendioxid wird vielmehr biokatalytisch mit einem Molekül Wasser und einem vorfabrizierten zweifach phosphorylierten Zuckermolekül aus fünf Kohlenstoffatomen, dem Ribulose-1,5-bisphosphat, umgesetzt. Dabei entstehen in einer nicht ganz leicht zu durchschauenden Reaktion zwei Moleküle des uns wohlbekannten

85

3.5  Das Kohlendioxid wird umgesetzt

a

O– O H2 C C O H C OH H C OH H2 C O

P

O–

O–

O H2 C H C OH C O OH + O OH C H C OH O H2 C

O + CO 2 + H OH O– P O– O

P O– O

O– P O– O

(Q]\P 5LEXORVHELVSKRVSKDW&DUER[\ODVH2[\JHQDVH Ä5XELVFR³

b

O

OH C H C OH O– H2 C O P O– O + NADPH +

O

H C H C OH O– O P O– H2 C O

H+

+ NADP+ + HOH

Abb. 3.5  Erste Schritte der Dunkelreaktion

3-Phosphoglycerats, wie das Abb. 3.5 a zeigt. Das dafür zuständige Enzym ist mengenmäßig das bedeutendste Enzym überhaupt und heißt Ribulose-1,5-bisphosphat-Carboxylase/Oxygenase. Seine 19 Silben verkürzen die Biochemiker gern zu dem wohllautenderen „Rubisco“. Betrachten wir nur die Kohlenstoffatome, so entstehen aus einem C5-Zuckermolekül und Kohlendioxid zwei C3–Moleküle. Was dann passiert, kommt uns merkwürdig vertraut vor, denn jedes Phosphoglyceratmolekül wird unter ATP-Verbrauch durch NADPH zu dem uns ebenfalls wohlbekannten Glycerinaldehyd-3Phosphat („G3P“) reduziert (siehe Abb. 3.5 b unten). Nanu? Wenn wir zu Abb. 2.9 und danach Abb. 2.8 zurückschlagen, auf denen uns die beiden Wohlbekannten erstmals vorgestellt wurden, gehen wir sozusagen den Weg der Glykolyse rückwärts, nämlich von der siebenten zur sechsten Reaktion. Und wenn wir diese Marschrichtung konsequent beibehalten, kommen wir – immer mithilfe von Enzymen – zum Traubenzuckermolekül, dem Rohstoff der Glykolyse. Er ist das Endprodukt der Photosynthese, entstanden durch Wasserspaltung und Teilhydrierung von Kohlendioxid mithilfe von Sonnenenergie. Glückwunsch! Sie haben die Photosynthese verstanden. Allerdings wird nur jedes sechste Molekül 3-Phosphoglycerat auf diesen Weg (ein Teilstück der „Glukoneogenese“) geschoben. Die anderen fünf verwandeln sich über mehrere Zwischenstufen in das Ribulose-1,5-bisphosphat, das erneut im „Calvin-Zyklus“ seiner Aufgabe nachgehen kann, Kohlendioxid und Wasser einzufangen und seine C3-Bruchstücke dem NADPH zur Hydrierung anzubieten. (Das hat nichts mit Calvinismus zu tun, sondern mit Melvin Calvin, einem amerikanischen

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

86

Biochemiker, der die Dunkelreaktion erforschte und von 1911 bis 1997 lebte). Stark vereinfacht, folgt die Einarbeitung des Kohlendioxids also folgendem Schema:

C−C−C−C−C + C → C−C−C + C−C−C → C−C−C−C−C−C

3.6 Die Dunkelreaktion der Photosynthese Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass Photonen nicht mehr benötigt werden, wenn erst einmal das NADP+ zu NADPH reduziert ist. Tatsächlich läuft von da an die vielstufige Synthese des Traubenzuckers auch im Dunkeln weiter. Die Regenerierung des Ribulose-1,5-bisphosphats verbraucht allerdings Energie, und die wird nun von dem Energiespeichermolekül ATP beigestellt, das gewissermaßen als Nebenprodukt der Photosynthese durch die Turbinen der ATP-Synthase beigestellt wurde.

3.7 Eine Rückkopplung aus grauer Vorzeit Wenn die Photosynthese an einem strahlenden Sommertag sehr flott läuft, kann die Dunkelreaktion so viel ATP verbrauchen, dass unser Energiespeichermolekül selten wird. Aber die erfinderischen Eukaryoten haben für diesen Fall eine Art Umleitungsreaktion erdacht, mit welcher das Photosystem I ATP statt NADPH herstellen kann, indem sein Ferredoxin Elektronen an den Cyt-bf-Komplex zurückgibt. Der verstärkt dann seine Protonenproduktion und damit die ATP-Synthese. Durch diese „cyclische Photophosphorylierung“ wird die energieverbrauchende Dunkelreaktion wegen NADPH-Mangel wirksam gebremst und andererseits die Erzeugung der Energiespeichermoleküle verstärkt. Eine echte Rückkopplung aus der Zeit vor eineinhalb Milliarden Jahren!

3.8 Eine Synthese, die die Welt ernährt … Uff! Das war hart! Die Biochemie der Photosynthese zeichnet sich nicht durch einfache Reaktionsmechanismen und übersichtliche Moleküle aus. Umso größer ist unsere Hochachtung vor den Blaualgen, „dummen“, einzelligen Mikroorganismen, die sie erfunden haben und bis heute so souverän benutzen, um sich aus Abfallprodukten des Stoffwechsels mithilfe von eingefangenem Sonnenlicht ihre Nahrung selbst herzustellen. Kein Wunder, dass sie rasch Nachahmer fanden, die ihre Reaktionen sozusagen in Lizenz übernahmen. Alle unsere grünen Pflanzen arbeiten nämlich nach diesem oder einem ähnlichen Prinzip und zwar so effizient, dass sie (meist unfreiwillig) gleich die Nahrung für tierische Pflanzenfresser mitproduzieren. Die wiederum sind – ebenfalls unfreiwillig – Nahrung für Fleischund Allesfresser. So können wir getrost sagen: die Photosynthese ernährt die belebte Welt und sorgt auch für den reichhaltig gedeckten Tisch der Menschen. Ohne sie könnten wir und die Tiere nicht leben (während die Pflanzen mit ihrer Hilfe auch ohne uns und ohne Tiere ganz gut zurechtkämen).

3.9  … und die Welt veränderte

87

3.9 … und die Welt veränderte Mehr noch: die Blaualgen und die grünen Pflanzen haben mithilfe der Photosynthese nach und nach das Kohlendioxid der Uratmosphäre bis auf einen kleinen Rest aufgezehrt und durch Sauerstoff ersetzt. Zunächst oxidierte dieser das Fe2+ des Urozeans zu Fe3+, aber dann sammelten sie und ihre Nachahmer so viel Sauerstoff in der Luft an, dass andere Mikroorganismen eine weitere epochemachende Erfindung machen konnten: die Atmung, die den Sauerstoff für eine sparsame, flammenlose biochemische Verbrennung der Nahrung verwendet. Dadurch wird die Energie gewonnen, die für den Aufbau und Erhalt ihres Körpers erforderlich ist. Jetzt wird uns nebenbei auch klar, warum man den Energieinhalt unserer Nahrung in Kilojoule oder Kilokalorien angeben kann. Bei der Verbrennung werden die in der Nahrung enthaltenen Kohlenstoffatome wieder in Kohlendioxid verwandelt, die Wasserstoffatome ergeben Wasser. Das Kohlendioxid scheiden wir mit der Atemluft aus, das Wasser über die Nieren, die Atemluft und die Haut. Damit entstehen erneut die energiearmen Stoffwechselendprodukte, aus denen die Pflanzen mithilfe der Photosynthese Traubenzucker herstellen. Das Spiel kann sich beliebig oft wiederholen, der Kohlenstoff läuft dabei im Kreis. Ähnlich läuft der Sauerstoff im Kreis: durch die Photosynthese wird er aus Wasser produziert, durch die Atmung wird er verbraucht. Dabei entsteht wieder Wasser. Sogar für den Wasserstoff können wir einen Kreislaufprozess formulieren, denn durch die Photosynthese wird er aus dem Wasser auf das Traubenzuckermolekül übertragen, durch die biochemische Verbrennung wird er wieder zu Wasser oxidiert. Was allerdings nicht im Kreis läuft, ist die Energie. Denn durch die Photosynthese wird Sonnenenergie eingefangen und in dem energiereichen hochgeordneten Nahrungsmittelmolekül Traubenzucker als chemische Energie gespeichert. Bei der biochemischen Verbrennung des Traubenzuckers zu Kohlendioxid und Wasserdampf entstehen chaotisch ungeordnete Gase. Die Entropie wird erhöht, ein Teil der eingefangenen Sonnenenergie erhöht also das chaotische Durcheinander, das bekanntlich immer nur zunimmt. Da ist es kein Trost, dass ja ein anderer Teil unserer Nahrung dazu verwendet wurde, die wunderbare Ordnung in unserem Körper zu schaffen. Denn nach unserem Tode werden Mikroorganismen dafür sorgen, dass er verwest. Kohlendioxid und Wasser werden die Hauptprodukte dieses Vorgangs sein – ein ungeordnetes Gas und eine wenig geordnete Flüssigkeit. Unser Leib gibt der Natur zurück, was sie ihm für ein kurzes Leben geliehen hat: Atome. Insgesamt verwandelt die Photosynthese der grünen Pflanzen das wertlose Stoffwechsel-Endprodukt Kohlendioxid mithilfe der Sonnenenergie immer wieder in essbare Nahrung. Es kann sich deshalb nicht in der Umwelt anreichern und zuletzt alles höhere Leben auslöschen. Sie ist deshalb auch unser bester Verbündeter, wenn wir gegen die von den Menschen verursachte Zunahme des Kohlendioxids in unserem Treibhaus Erde ankämpfen.

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

88

Freilich hat die Photosynthese auch der Ursuppe allmählich den Garaus gemacht. Die entsteht nämlich nur in Abwesenheit von Sauerstoff unter den gewittrigen Bedingungen der Uratmosphäre. Mit der Ursuppe verschwanden die primitiven Vorläufer der Blaualgen, die sich von ihr ernährt haben, für immer aus dem Urozean. Schade! Hätten Sie in irgendeiner ökologischen Nische, einem Urbiotop sozusagen, bis heute überlebt, dann könnten wir sie untersuchen und wüssten genauer, wie die ersten primitiven Lebewesen in der Ursuppe entstanden und wie sie sich weiterentwickelten. Aber mit der Ursuppe verschwand ihre Nahrung. Andere, modernere und leistungsfähigere Lebewesen traten an ihre Stelle: Die Welt, wie wir sie kennen, entstand. Nur noch im Labor können wir die Ursuppe erzeugen. Wir können auch nicht Jahrmilliarden warten, bis sich in ihr die ersten Spuren eines primitiven Lebens zeigen. Deswegen sind wir hinsichtlich der Entstehung des Lebens wahrscheinlich für immer auf Vermutungen und Hypothesen angewiesen. Ähnlich wie ein geschickter Indianer die Spuren hinter sich verwischt, hat auch das Leben mithilfe der Photosynthese die Umwelt vernichtet, in der es entstanden ist. Der neugierige Mensch, der die Frühgeschichte des Lebens studieren möchte, ist mehr als drei Milliarden Jahre zu spät geboren. Da ist es ein Trost, dass wenigstens ein Vorläufer der Blaualgen als lebendes Fossil erhalten blieb.

3.10 Die einfache Photosynthese der Schwefelbakterien Tatsächlich gibt es Bakterien, welche die Photosynthese mit nur einer Sorte von Chlorophyllmolekülen erfolgreich betreiben. Sie arbeiten also mit einfacherer Ausrüstung als die Blaualgen und deren Nachfolger. Diese Ausrüstung stellt aber auch nicht so viel Energie zur Verfügung, wie für beide Teilreaktionen erforderlich ist. Solche Bakterien können zwar das Kohlendioxid zu Traubenzucker reduzieren, aber nicht das Wasser als Reduktionsmittel einsetzen, weil es dafür zu reaktionsträge ist. Sie benötigen für diese Aufgabe ein besseres, aktiveres und setzen deshalb statt H2O den ähnlich gebauten Schwefelwasserstoff (H2S) ein. Die Summengleichung für ihre Photosynthese lautet dann:

6 CO2 + 6 H2 S → C6 H12 O6 + 6 S Zweifellos hätten sie in der Evolution mehr Nachahmer gefunden, wenn ihr Reduktionsmittel nicht den Nachteil hätte, dass es im Vergleich zu Wasser ziemlich selten in der Natur vorkommt (nämlich fast nur in aktiven oder noch nicht lange erloschenen Vulkanen).

3.11 Das Reaktionsprodukt Traubenzucker Wir haben es bereits beim zweiten Ausflug als seltenen Leckerbissen der Ursuppe kennengelernt und mehr oder weniger unbesehen in der Glykolyse verarbeitet. Es ist an der Zeit, es jetzt etwas genauer zu untersuchen.

3.11  Das Reaktionsprodukt Traubenzucker

89

Wenn wir uns das in Abb. 3.1 dargestellte Traubenzucker- (oder „Glukose“6) Molekül ansehen, fallen uns sogleich einige Besonderheiten auf: 1. Das Molekül enthält fünf OH-Gruppen. Es ist also mit unserem altvertrauten Ethylalkohol C2H5OH verwandt. Die Verwandtschaft ist allerdings eine ziemlich entfernte, denn Ethanol hat nur eine einzige OH-Gruppe. Deshalb ist auch der Geschmack sehr verschieden – süß beim Traubenzucker, brennend scharf beim Alkohol. Näher verwandt scheint uns das Glykol mit der Formel HO–CH2–CH2– OH, das wir vielleicht in der Kunststoffchemie als Veresterungskomponente der Polyester und als Gefrierschutzmittel im Kühler unseres Autos kennengelernt haben. Tatsächlich ist der Glukose und dem Glykol der süße Geschmack gemeinsam. Offensichtlich wird dieser durch die Häufung von Alkoholgruppen im Molekül hervorgerufen. Zur Bestätigung untersuchen wir das Glycerin mit seinen drei Alkoholgruppen ausnahmsweise sprachwissenschaftlich: Der Name, der von demselben griechischen Wort abstammt wie „Glykol“ und „Glukose“, verrät, dass auch diese Verbindung süß schmeckt. Wir finden eine ähnliche Häufung von alkoholischen Hydroxidgruppen in vielen anderen süß schmeckenden Stoffen, so zum Beispiel im Milchzucker, Fruchtzucker, Rohrzucker, Malzzucker, aber auch im Mannit, einem Alkohol mit sechs Kohlenstoffatomen und sechs OH-Gruppen. Ihn dürfen Diabetiker unbedenklich genießen: HO−CH2 −CHOH−CHOH−CHOH−CHOH−CH2 −OH Wir halten also fest: Zucker schmecken süß, weil sie in ihren Molekülen gehäuft Alkoholgruppen enthalten. 2. Das Traubenzuckermolekül enthält sieben C–O-Bindungen. Sie sind aus den insgesamt 12 C = O-Doppelbindungen hervorgegangen, die in den sechs Kohlendioxidmolekülen vorhanden waren, aus denen das Traubenzuckermolekül gebastelt wurde. Jedes Kohlenstoffatom trägt eine C–O-Bindung, nur das Kohlenstoffatom rechts außen zwei. Wenn wir die Verbindungsklassen der organischen Chemie vor unserem inneren Auge Revue passieren lassen und mit dem Glukosemolekül vergleichen, finden wir zunächst eine gewisse Ähnlichkeit mit den Ethern, die ja der allgemeinen Formel R–O–R′ gehorchen. Es stört uns überhaupt nicht, dass hier ein sesselförmig gewellter Sechsring mit einem Sauerstoffatom im Ring vorliegt, denn das Sesselmolekül kennen wir vom Cyclohexan in Abb. 3.6 oben und einen cyclischen Ether lernen wir mit dem dort ebenfalls vorgestellten Tetrahydrofuran kennen. Was uns eher befremdet, ist die Tatsache, dass das Kohlenstoffatom rechts unten nicht nur an der Etherbindung beteiligt ist, sondern eine zweite C–O-Bindung in Form einer alkoholischen OH-Gruppe trägt. Jetzt erinnern wir uns vielleicht! Verbindungen mit zwei C–O-Bindungen an ein und demselben C-Atom, von denen die eine etherartig und die andere alkoholartig ist, trafen wir in der organischen Chemie bei den Halbacetalen, jenen merkwürdigen Anlagerungsverbindungen von

6Kommt

von griechisch glykos = süß.

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

90 H H

H

H

C H

C

C H

C

H

CH 2

H 2C

C H

H

H C

H

H 2C

H

Cyclohexan

O

CH 2

Tetrahydrofuran

H H3C C O C2 H5

ein Halbacetal

OH entstanden aus Acetaldehyd und Ethanol nach der Gleichung H

H H 3C C

H3C C O C2 H5

+ HO C 2H5 O

OH

H H3C C O C2 H5

ein Acetal

O C2 H5

Abb. 3.6  Entfernte Verwandte der Glukose

einem Molekül Alkohol an ein Molekül Aldehyd (Abb. 3.6 unten zeigt ein Beispiel). Offensichtlich ist der Traubenzucker ein solches Halbacetal. Aber welcher Aldehyd und welcher Alkohol stecken in unserem Glukosemolekül? Wenn wir an diesem besonderen Kohlenstoffatom mit der Nummer 1 die Aldehydgruppe wiederherstellen wollen, müssen wir die etherartige Bindung zum Kohlenstoffatom Nummer 5 aufbrechen7. Dieses Kohlenstoffatom erhält das Sauerstoffatom der etherartigen Bindung, das Sauerstoffatom raubt sich das Wasserstoffatom der OH-Gruppe von Nummer 1 und wird dadurch eine stinknormale OH-Gruppe am Kohlenstoffatom Nummer 5. Dem Kohlenstoffatom Nummer 1 bleibt dadurch gar keine andere Wahl, als mit dem ihm verbliebenen Sauerstoffatom eine Doppelbindung auszubilden. Kurzum, es entsteht hier eine Aldehydgruppe und insgesamt ein Aldehyd aus sechs Kohlenstoffatomen mit fünf Alkoholgruppen: O

C

H

H C OH HO C H H C OH H C OH CH 2OH

7Wie

Sie sehen, beginnt die Kohlenstoff-Nummerierung am Ringsauerstoffatom und läuft im Uhrzeigersinn bis zur CH2OH-Seitenkette.

3.11  Das Reaktionsprodukt Traubenzucker

91

Erstaunlicherweise ist also das Nahrungsmittel Traubenzucker ein 2,3,4,5,6Pentahydroxyhexan-1-al, oder einfacher ausgedrückt, ein Aldehyd mit sechs Kohlenstoffatomen und fünf alkoholischen OH-Gruppen, welcher mit der OH-Gruppe seines fünften Kohlenstoffatoms ein ringförmiges Halbacetal bildet. Wir könnten auch sagen: Ein verkappter Aldehyd. Als solcher gibt er sich zum Beispiel in der Reaktion mit ammoniakalischer Silbernitratlösung zu erkennen. Wenn wir ihn damit erhitzen, scheidet sich an der (sauberen!) Reagenzglaswand ein wunderschöner Silberspiegel ab. Allerdings legt er die halbacetalische Tarnkappe nicht immer ab. Es gibt durchaus Aldehydreaktionen, die er nicht mitmacht. Umgekehrt können wir Traubenzucker mit einer Reaktion nachweisen, zu der wiederum die gewöhnlichen Aldehyde nicht fähig sind:

Versuch 3.2: Nachweis von Traubenzucker

Wir mischen in einem Reagenzglas gleiche Mengen von Fehlingscher Lösung I mit Fehlingscher Lösung II8 und fügen unter Schütteln tropfenweise wässrige Ammoniaklösung hinzu, bis sich der anfangs entstandene hellblaue Niederschlag wieder auflöst und die Flüssigkeit tiefblau wird. In diese Mischung bringen wir etwas wässrige Traubenzuckerlösung und erwärmen anschließend bis fast zum Sieden. Allmählich fällt ein zuerst gelber, dann prächtig roter Niederschlag von Kupfer-I-oxid (Cu2O) aus. Diese Reaktion gelingt nicht mit jeder Art von Zucker. Wir überzeugen uns, dass sie zum Beispiel mit unserem im Haushalt verwendeten Rohr- oder Rübenzucker9 ausbleibt. Offensichtlich hat der Traubenzucker die zweifach positiv geladenen Ionen des Kupfersulfats zu den einfach positiv geladenen Ionen des Cu2O reduziert. Dabei wird der Traubenzucker zu einer Zuckersäure oxidiert. Am übersichtlichsten wird die Reaktion, wenn wir sie in Teilschritte zerlegen: Aus dem Kupfersulfat der Fehlingschen Lösung I und den OH−-Ionen der Lösung II entsteht Kupfer(II)-hydroxid: CuSO4 + 2 NaOH → Na2 SO4 + Cu(OH)2. Dieses wird durch Ammoniak und die Tartrate der Lösung II in einen tiefblauen Komplex verwandelt. Wir betrachten der Einfachheit halber, was mit dem Kupferhydroxid passiert, lassen also die Komplexbildner weg:

8Im Internet erhältlich. Man kann sie auch selbst herstellen: Fehling I: 7 g Kupfersulfat-Pentahydrat in 100 ml Wasser lösen. Fehling II: 35 g Kaliumnatriumtartrat und 10 g Natriumhydroxid in 100 ml Wasser lösen. 9Rohrzucker ist mit Rübenzucker völlig identisch, bis auf die Tatsache, dass er aus Zuckerrohr statt aus Zuckerrüben gewonnen wird. Der chemische Name ist „Saccharose“, abgeleitet von „Saccharum“, einem Wort, das aus dem Sanskrit stammt, Zucker bedeutet und über das Arabische in viele Sprachen übernommen wurde. Auch unser Wort „Zucker“ hat dieselbe Herkunft, ähnlich wie azúcar im Spanischen, sugar im Englischen und sucre im Französischen. Rohrzucker hat die Formel C12H22O11.

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

92

Dem Kupfer(II)-hydroxid wird durch den Traubenzucker Sauerstoff entzogen: 2 Cu(OH)2 → Cu2 O + 2 H2 O + O. Der Traubenzucker verwandelt sich dabei durch Sauerstoffaufnahme (Oxidation) in Zuckersäure: C6 H12 O6 + O → C6 H12 O7. Selbstverständlich ist es die Aldehydgruppe –CHO, die bei der Oxidationsreaktion in eine CO–OH-Gruppe verwandelt wird, ähnlich wie wir das einst bei der bei der Oxidation des Acetaldehyds zur Essigsäure gelernt haben.

3.12 Alle Nahrungsmittel entstehen aus Traubenzucker So weit, so gut. Wir haben gelernt, wie die grünen Pflanzen aus zwei wertlosen Abfallprodukten der Verbrennung, nämlich aus Wasser und Kohlendioxid das wertvolle Nahrungsmittel Traubenzucker synthetisieren. Aber das kann noch nicht die ganze Wahrheit sein, denn sonst müssten alle Pflanzenteile süß schmecken und sich in Wasser lösen. In Wirklichkeit enthalten nur einige Früchte Glukose, so zum Beispiel Weintrauben. Tatsächlich verwandeln die Pflanzen mithilfe biochemischer Reaktionen die Hauptmenge der Glukose in alle anderen organischen Substanzen, die sie für ihr Dasein benötigen. Diesen Satz sollten wir uns auf der Zunge zergehen lassen. Er besagt nämlich, das alle organischen Substanzen unserer Nahrung letzten Endes aus Traubenzucker hervorgegangen sind, auch wenn sie jetzt als Fleisch, Butter, Brot oder Fisch vor uns liegen.10 Mehr noch: Weil unser Körper durch biochemische Umwandlung unserer Nahrung entstand, können wir sagen, dass jedes organische Molekül unseres Körpers irgendwann in seiner Entstehungsgeschichte Traubenzucker (und vorher Kohlendioxid) war, ganz gleichgültig, ob wir von Molekülen der Haut, der Nägel, der Sehnen, des Hirns oder der Muskeln sprechen. Dabei ist die biochemische Herstellung von Eiweiß und Fett aus Traubenzucker ziemlich kompliziert – wir werden uns weiter unten damit beschäftigen. Viel einfacher ist zu verstehen, wie die Pflanzen Stärke und Zellstoff (Cellulose) aus Traubenzucker gewinnen. Dabei helfen uns folgende Versuche:

Versuch 3.3: Zersetzung von Stärke

Wir erhitzen langsam eine Spatelspitze Reis- oder Kartoffelstärke im Reagenzglas über dem Spiritusbrenner. Nach allmählicher Gelb- und dann Braunfärbung beginnt eine Zersetzungsreaktion, bei der Wasserdampf entweicht, der sich an kühleren Stellen des Glases in Tröpfchen abscheidet. Zurück bleibt schließlich eine schwarze Substanz, die nahezu ausschließlich aus Kohlenstoff besteht.

10Er

besagt übrigens auch, dass die Pflanze das Element Kohlenstoff nicht mithilfe der Wurzeln aus dem Boden, sondern ausschließlich über die Blätter aus der Luft aufnimmt, und zwar als Kohlendioxid. Diese Tatsache hat noch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts als erster der Deutsche Justus von Liebig erkannt.

3.12  Alle Nahrungsmittel entstehen aus Traubenzucker

93

Offensichtlich ist auch die Stärke ein Kohlenhydrat, das heißt, eine Verbindung, die formal aus Wasser und Kohlenstoff besteht. Könnten wir die Reaktion mengenmäßig genauer verfolgen, so würden wir die Zusammensetzung C6H10O5 finden.

Versuch 3.4: Zersetzung von Cellulose

Wir wiederholen Versuch 3.3, verwenden aber einen kleinen Bausch naturbelassene Watte als Ausgangsstoff (Watte besteht zu praktisch 100 % aus Cellulose). Der Versuch führt zum gleichen Ergebnis. Auch Zellstoff hat die Zusammensetzung C6H10O5. Sind also Stärke und Cellulose identisch? Die Unlöslichkeit in Wasser, die beide Substanzen auszeichnet, spricht auf den ersten Blick dafür. Aber Stärke ist ein Nahrungsmittel, Zellstoff dagegen ein völlig unverdaulicher „Ballaststoff“ (aus ihm bestehen zum Beispiel die Zellwände von Obst und Gemüse). Auch chemisch gibt es deutliche Unterschiede, wie der nächste Versuch zeigt:

Versuch 3.5: Nachweis von Stärke

Wir schütteln eine kleine Spatelspitze Reis- oder Kartoffelstärke mit einigen Millilitern Wasser und fügen dann einen Tropfen Iodtinktur hinzu. Die vorher weißen Stärkekörner färben sich tiefblau; sie haben sich in Iodstärke verwandelt. Wir überzeugen uns, dass der Versuch misslingt, wenn wir Watte anstelle von Stärke einsetzen. Es tritt keine Reaktion ein. In den Versuchen 3.3 und 3.4 haben wir Stärke und Cellulose durch brutales Erhitzen zersetzt. Versuch 3.5 bewies, dass die beiden Substanzen trotz gleicher Summenformel chemisch verschiedene Isomere sein müssen. Bei schonender durchgeführten Abbaureaktionen zeigen die beiden Substanzen aber erneut eine verblüffende Ähnlichkeit:

Versuch 3.6: Biochemischer Abbau von Stärke

Wir kauen ein Stückchen Brot mindestens zwei Minuten lang. Es beginnt, süß zu schmecken. Wir maischen das gekaute Brot mit etwas Wasser an, rühren gut durch und filtrieren den verdünnten Brei. Einige Tropfen des klaren Filtrats verwenden wir bei einer Wiederholung von Versuch 3.2 anstelle von Traubenzucker. Der rote Niederschlag zeigt an, dass Glukose entstanden ist. Offensichtlich hat unser Speichel mithilfe eines Enzyms einen schonenden Abbau der Stärke des Brots bewirkt und dabei ist Traubenzucker entstanden.

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

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Nur Optimisten werden diesen Versuch mit Watte anstelle von Stärke wiederholen. Wir verwenden lieber einen anorganischen Katalysator zum schonenden Abbau von Cellulose:

Versuch 3.7: Katalytischer Abbau von Cellulose

Wir übergießen einen kleinen Wattebausch im Reagenzglas mit etwa drei Milliliter entmineralisiertem Wasser, fügen vier Tropfen verdünnte Schwefelsäure11 als Katalysator hinzu und heizen das Ganze dreißig Minuten lang auf 100 °C, indem wir den unteren Teil des Glases in siedendes Wasser tauchen. Von Zeit zu Zeit gießen wir so viel Wasser in das Reagenzglas nach, wie durch Verdunsten verloren gegangen ist. Nach dem Abkühlen filtrieren wir und neutralisieren das Filtrat im Becherglas unter häufigem Schütteln durch vorsichtiges Eintropfen von verdünnter Natronlauge (Schutzbrille verwenden, weil ein Spritzer Natronlauge sehr rasch die Augenhornhaut zersetzt. Erblindungsgefahr!), bis uns ein Streifen pH-Papier anzeigt, dass ein pH-Wert von 7 bis 9 erreicht ist. Nun wiederholen wir Versuch 3.2, verwenden aber unser neutralisiertes Filtrat an Stelle von Traubenzucker. Der rote Niederschlag von Kupfer-I-oxid beweist uns, dass auch beim Abbau von Cellulose Traubenzucker entsteht! Unsere Verwirrung nimmt zu: Zwei völlig verschiedene Naturstoffe ergeben beim schonenden Abbau ein und dasselbe Produkt, nämlich Traubenzucker. Daraus dürfen wir umgekehrt schließen, dass die Pflanzen bei der biochemischen Herstellung von Stärke und Zellstoff von ein und demselben Rohstoff, nämlich Glukose ausgehen. Man gelangt von der Summenformel der Glukose zu der Summenformel von Stärke oder Zellulose nach folgender Gleichung:

n C6 H12 O6 → (C6 H10 O5 )n + n H2 O Weil offensichtlich außer Biokatalysatoren keine weiteren Reaktionspartner mitspielen, liegt es nahe, anzunehmen, dass eine Art Polymerisation stattfindet. Sie beginnt vermutlich mit zwei Traubenzuckermolekülen, zwischen denen ein Wassermolekül austritt. Die beiden Restmoleküle verbinden sich miteinander über ein Sauerstoffatom als Brücke:

C6 H11 O5 OH + HOC6 H11 O5 → C6 H11 O5 −O−C6 H11 O5 + H2 O An dieses „Disaccharid“ (Zweifachzucker) lagert sich nach dem gleichen Mechanismus ein drittes Glukosemolekül an:

11Falls

wir die verdünnte Schwefelsäure selbst herstellen müssen, lassen wir vorsichtig 1 ml konzentrierte Schwefelsäure in 4 ml entmineralisiertes Wasser einlaufen (niemals umgekehrt!). Vorsichtig umschütteln oder umrühren und auf Raumtemperatur abkühlen lassen. Schutzbrille und Gummihandschuhe verwenden!

3.12  Alle Nahrungsmittel entstehen aus Traubenzucker

95

C6 H11 O5 −O−C6 H10 O5 OH + HOC6 H11 O5 → C6 H11 O5 −O−C6 H10 O5 −O−C6 H11 O5 + H2 O Dann ein viertes, fünftes und so fort, bis eben ein Riesenmolekül von Stärke oder Cellulose entstanden ist, ein „Polysaccharid“ (wörtlich: Vielfachzucker). Seine Zusammensetzung entspricht ziemlich genau der des vielfach wiederholten Kettenglieds (C6H10O5)n, das in der Mitte des obigen Trisaccharids erstmals erscheint. Bei genauerer Betrachtung des Traubenzuckermoleküls können wir sogar erraten, welche der vielen OH-Gruppen am wahrscheinlichsten für die Wasserabspaltung infrage kommt. Es ist natürlich diejenige, die am Kohlenstoffatom Nummer 1 sitzt. Sie ist ja die einzige, die aus einer Aldehydgruppe durch die Bildung eines Halbacetals entstanden ist. Und ähnlich leicht, wie die OH-Gruppe der Halbacetale durch abermalige Reaktion mit Alkohol unter Wasserabspaltung Acetale bilden, wird sie wohl auch mit einer alkoholischen OH-Gruppe des benachbarten Glukosemoleküls reagieren. Selbst unter den fünf alkoholischen OH-Gruppen des benachbarten Glukosemoleküls können wir eine als bevorzugte Reaktionspartnerin erkennen. Es ist die am Kohlenstoffatom Nummer 4, und zwar aus zwei einleuchtenden Gründen: 1. Sie ist am weitesten von dem Kohlenstoffatom Nummer 1 entfernt. Wenn die Pflanze eine möglichst lange Molekülkette bilden will, kann sie so den gesamten Durchmesser des sesselförmigen Sechsrings ausnützen (Abb. 3.7). 2. Es ist die einzige OH-Gruppe, die nicht notwendigerweise ein geknicktes Kettenmolekül ergibt. Im Gegenteil lässt sich das mit ihrer Hilfe gebildete Kettenmolekül wunderbar geradeziehen, wenn man jede zweite Traubenzuckereinheit um 180° dreht, also sozusagen auf dem Rücken liegend einbaut (Abb. 3.8 oben). Damit hätten wir erklärt, wie die Riesenmoleküle der Stärke und der Cellulose zustande kommen. Aber der Unterschied zwischen beiden Naturstoffen ist uns immer noch ein Rätsel. Jetzt hilft uns eine Beobachtung weiter: Stärke tritt immer in „Körnern“ auf. Das sind rundliche Gebilde, die im Mikroskop bei 100 bis 300facher Vergrößerung sichtbar werden und für jede Pflanze eine eigentümliche Form haben. Cellulose dagegen finden wir häufig in Fasern, also lang gestreckten Gebilden, aus denen der Mensch seit Jahrtausenden Fäden spinnt, Seile dreht und Tücher webt. Die Ähnlichkeit mit den tierischen Fasern Seide, Wolle und den künstlichen Abb. 3.7  Wie Glukose mit Glukose reagiert

H HO

6

C

4

HO

CH2 OH 5C

3

C

H

H

O

H C

2

H 1

OH

C

H

OH + HO

6

C

4

HO

CH2 OH 5C

3

C

H

H

96 Abb. 3.8  Cellulose und Stärke

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

O

O O

O

O O

O O

Polyesterfasern ist unverkennbar. Die bestehen aus kettenförmigen Molekülen; hier liegen offensichtlich ebenfalls Kettenmoleküle, allerdings aus Traubenzuckereinheiten vor. Fast sicher handelt es sich um sehr lange Ketten, denn nur solche können so extrem wasserunlöslich sein, wie dies Cellulosefasern sind. Man kann solche Fasern auch künstlich herstellen, und manche Firmen tun dies in großem Maßstab. Die im Textilhandel übliche Bezeichnung „Kunstseide“ für diese Fasern ist allerdings irreführend, denn bei der Naturseide sind, wie wir beim ersten Ausflug gelernt haben, Aminosäureeinheiten zu einem Riesenmolekül verknüpft. Chemisch zutreffender wäre „Kunstbaumwolle“. So hätten wir allein durch ein paar Experimente und scharfsinniges Nachdenken die Struktur der Cellulosemoleküle aufgeklärt.12 Auch wenn wir dabei einige Sachverhalte nur erraten und nicht durch unwiderlegbare Versuche bewiesen haben, zeigen unsere Gedankengänge doch, mit welche Methoden die Chemiker und Biochemiker die Gestalt von Molekülen erforschen. Rätselhaft bleibt allerdings immer noch, wodurch sich die Stärkemoleküle von den langen Kettenmolekülen des Zellstoffs unterscheiden. Weil die Stärke immer in Form von Körnern auftritt, vermuten wir, dass die Stärkemoleküle im Gegensatz zu den lang gestreckten Kettenmolekülen der Cellulose verknäuelt oder irgendwie aufgerollt sein dürften. Aber warum ist das so?

3.13 Der kleine Unterschied Hier hilft uns die Rückbesinnung auf die räumliche Darstellung des Traubenzuckermoleküls (Abb. 3.1). Denn jetzt fällt uns auf, dass wir die OH-Gruppe am Kohlenstoffatom 1 etwas willkürlich so angeschrieben haben, dass sie ungefähr in der Ringebene liegt. Das H-Atom, das an Kohlenstoffatom Nummer 1 gebunden ist, besetzt dagegen den Bindungsarm, der nach unten zeigt. 12Dabei

haben wir allerdings die räumliche Struktur des Glukosemoleküls als bekannt vorausgesetzt. Deren Aufklärung erfordert selbstverständlich weitere Versuche, die wir mit unseren bescheidenen Mitteln nicht durchführen können. Für sie erhielt der berühmte Deutsche Emil Fischer (1852–1919) im Jahre 1902 den Nobelpreis.

3.14  Zwei verschiedene Traubenzuckermoleküle

97

Das war natürlich reine Willkür, denn mit dem gleichen Recht hätten wir auch umgekehrt verfahren können: Das H-Atom liegt ungefähr in der Ringebene und die OH-Gruppe taucht dafür nach unten weg. In diesem Fall entsteht ein Glukosemolekül, das nicht mehr fähig ist, mit einem zweiten gleichartigen zu einem gestreckten Kettenmolekül zu reagieren. Auch wenn man die zweite Glukoseeinheit auf den Rücken dreht, bleibt ein Knick zwischen den beiden Sechsringen (Abb. 3.8 unten). Ein weiterer Knick in die gleiche Richtung entsteht beim Anbau der dritten, vierten, kurzum, jeder weiteren Einheit. Das Kettenmolekül wird also immer krummer; es könnte sich zum Ring schließen, tut dies aber nicht. Es windet sich stattdessen zu einer Wendel, die einen röhrenförmigen Hohlraum umschließt. Frei nach Wilhelm Busch (und streng genommen nicht ganz richtig) können wir uns also merken: …..es krümmt voll Quale Das Molekül sich zur Spirale.

In diesen Hohlraum lagert sich das Iod bei der Herstellung von Iodstärke (Versuch 3.5) ein. Noch häufiger als solche Wendelmoleküle, die etwa 200 Glukoseeinheiten enthalten („Amylose“), sind gebogene verzweigte Ketten aus etwa 1000 Glukoseeinheiten („Amylopektin“). Damit wird plausibel, dass Stärke im Gegensatz zur Cellulose eher Körner als Fasern bildet. Aus modifizierter Stärke bestehen übrigens die biologisch abbaubaren Kunststoffe, aus denen man neuerdings Müllbeutel, Flaschen und Behälter herstellt. Ihr Hauptvorteil ist der, dass man sie sorglos wegwerfen kann, weil sie irgendwann biochemisch abgebaut werden – ihr Nachteil, dass sie aus Nahrungsmitteln entstehen, die in ärmeren Ländern knapp sind.

3.14 Zwei verschiedene Traubenzuckermoleküle Offensichtlich gibt es also das Traubenzuckermolekül in zwei räumlich verschiedenen Isomeren, die sich nur ein winziges bisschen, nämlich in der Stellung der halbacetalischen OH-Gruppe an Kohlenstoffatom 1 unterscheiden. Beim Polymerisieren führt allerdings dieser kleine Unterschied zu zwei sehr verschiedenen Produkten, nämlich Cellulose oder Stärke. Es ist wie mit zwei Uhren, von denen eine pro Stunde eine Sekunde vor-, die andere eine Sekunde nachgeht. Weil sich die winzige Differenz Stunde um Stunde verstärkt, zeigen die beiden bald ganz verschiedene Zeiten an. Neugierig fragen wir uns, ob es tatsächlich diese beiden Isomere gibt (oder ob wir uns vergaloppiert haben). Die Antwort lautet: Ja, es gibt sie. Aus historischen Gründen heißen sie α-D-Glukose und β-D-Glukose. Stärke entsteht, wenn α-DGlukose unter Wasserabspaltung polymerisiert, kettenförmige Cellulosemoleküle entstehen aus β-D-Glukoseeinheiten. Aber die beiden isomeren Glukosemoleküle sind nur in kristalliner Form beständig. Wenn man sie in Wasser auflöst, bilden sie ein Gleichgewicht, bei

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

98

dem die β-Glukose überwiegt. Das heißt im Klartext: 100 g α-Glukose, in Wasser gelöst, ergeben nach ein paar Stunden eine Mischung von 35 g α- und 65 g β-Glukose. Zum gleichen Resultat gelangt man, wenn man den Versuch mit 100 g β-Glukose beginnt. Woher weiß man das so genau? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ein wenig weiter ausholen.

3.15 Optisch aktive Moleküle Im Jahre 1815 entdeckte der französische Physiker Biot13 bei einigen organischen Flüssigkeiten und Festkörperlösungen eine merkwürdige Eigenschaft, die wir uns im nächsten Versuch ansehen wollen.

Versuch 3.9: Optisch aktive Moleküle

Wir basteln mithilfe eines Laubsägebogens einen etwa 8 cm hohen Tisch mit 10 × 10 cm Tischfläche. In der Mitte der Tischplatte haben wir ein kreisförmiges Loch von 2 cm Durchmesser ausgespart, auf das wir ein Polarisationsfilter aus unserer Fotoausrüstung mittig auflegen. (Es genügt auch ein Polarisator aus Kunststoff, wie ihn manche Experimentierbaukästen für optische Versuche enthalten). Wir sichern dieses Filter gegen Beschädigung und unabsichtliches Verrutschen durch eine passend ausgeschnittene Blende aus Sperrholz, die wir auf der Tischplatte festkleben. Jetzt bauen wir einen ähnlichen zweiten Tisch mit 14 cm hohen Beinen dergestalt, dass wir das zentrale Loch mit einem zweiten Polarisationsfilter oder einer polarisierenden Kunststoffscheibe abdecken können. Diesen höheren Tisch schrauben wir auf der Platte des niedrigeren Tischs fest. Auch das obere Polarisationsfilter sichern wir durch eine möglichst genau passende Sperrholzblende, die wir auf dem oberen Tisch festkleben. Mithilfe eines Winkelmessers markieren wir an der Blende, die das obere Filter im Zentrum der Platte drehbar einfasst, eine Winkeleinteilung mit Teilstrichen von jeweils 10°. Wenn wir richtig gearbeitet haben, muss es jetzt möglich sein, von oben senkrecht durch die beiden Filter auf ein hell beleuchtetes Blatt Papier herunter zu blicken, auf das wir unser Instrument gestellt haben. Die ganze Konstruktion zeigt Abb. 3.9). Nun drehen wir das obere Filter so lange, bis wir beim Blick durch beide Filter das weiße Papier möglichst stark verdunkelt sehen. Die jetzige Position des oberen Filters markieren wir, indem wir einen Strich auf der Filterfassung anzeichnen und auf der Gradeinteilung der Blende ablesen, wo der Markierungsstrich steht. Statt eines Filzstifts können wir eventuell auch einen farbigen Klebestreifen zum Markieren verwenden.

13J. B. Biot

lebte von 1774–1862. Er war Professor am Collège de France in Paris.

3.15  Optisch aktive Moleküle

99

Abb. 3.9  Unser Polarisationstisch

Wir haben in dieser Versuchsanordnung erreicht, dass das vom Papier ausgehende Licht durch das untere Filter polarisiert wird14 und nur noch in einer Richtung schwingt, die vom oberen Filter genau ausgelöscht wird. Drehen wir jetzt das obere Filter um 90°, so können wir das Papier wieder gut sehen, weil nun das obere Filter das vom unteren kommende polarisierte Licht durchlässt. Jetzt füllen wir ein schlankes Wasserglas mit dünnem Boden oder ein Becherglas von etwa 10 cm Höhe 6 cm hoch mit Wasser und stellen es vorsichtig auf den unteren Tisch. Ohne Schwierigkeit können wir wieder das Papier verdunkeln, indem wir das obere Polarisationsfilter um 90° auf den abgelesenen Skalenstrich zurückdrehen. Das Wasser hat also an der

14Polarisiertes

Licht entsteht, wenn gewöhnliches Licht durch einen „Polarisator“ geleitet wird. Es schwingt dann nur noch in einer einzigen räumlichen Richtung, etwa so wie ein Seil, das man an einem Ende angebunden hat und am anderen Ende auf- und abwärts bewegt. Unpolarisiertes Licht schwingt dagegen in allen räumlichen Richtungen, also nicht nur auf und ab, sondern auch nach links und rechts, schräg von links unten nach rechts oben usw. Ein guter Polarisator ist zum Beispiel ein Kalkspatkristall oder ein in der Fotografie verwendbares „Polarisationsfilter“.

100

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

ursprünglichen Versuchsanordnung nichts verändert: Das obere Filter löscht wieder das vom unteren polarisierte Licht aus. Dann lösen wir unter behutsamem Umschütteln oder Umrühren in unserem Wasserglas 70 g Rohrzucker in 50 g Wasser. Es entstehen 85 Kubikzentimeter Lösung. Wenn wir diese Lösung nun zwischen die beiden Polarisationsfilter auf die untere Tischplatte stellen, beobachten wir, dass das vorher abgedunkelte Papier deutlich sichtbar ist. Um stärkste Verdunkelung zu erreichen, müssen wir das obere Filter im Uhrzeigersinn drehen. Im Gegensatz zum Versuch mit reinem Wasser tritt keine vollständige Verdunkelung ein; die stärkste Abschattung verrät sich jedoch durch einen auffälligen Farbumschlag von blaugrün nach rot. Wir können den dafür notwendigen Drehungswinkel an unserer Gradeinteilung ablesen. Er beträgt zum Beispiel etwa 33°, wenn die Zuckerlösung in unserem Wasserglas eine Füllhöhe von 6 cm hatte. Bei größerer Füllhöhe, also bei Verwendung von mehr Lösung oder eines schlankeren Glases, vergrößert sich der Winkel entsprechend. Die Bestimmung des Ablenkungswinkels ist besonders leicht, wenn wir während der Messung den Raum zwischen den beiden Tischplatten durch ein entsprechend gefaltetes Papier verdunkeln. Natürlich ergibt unser selbst gebasteltes Polarimeter keine sehr genauen Messwerte. Hätten wir mit einem anspruchsvolleren Instrument und mit monochromatischem gelbem Licht gearbeitet, so hätten wir unter gleichen Bedingungen einen Winkel von 36° gemessen. Offensichtlich hat es die Zuckerlösung fertiggebracht, die Schwingungsebene des polarisierten Lichts um diese 36° zu drehen. Biot fand, dass sich manche organische Flüssigkeiten wie Terpentinöl, aber auch Weinsäurelösungen, wenn sie mit polarisiertem Licht durchstrahlt wurden, ähnlich verhielten. Die Drehung der Schwingungsebene des polarisierten Lichts ist dabei umso stärker, je länger der Weg ist, den das Licht in der Lösung oder Flüssigkeit durchläuft. Konzentrierte Lösungen drehen stärker als verdünnte. Bald nannte man derartige Stoffe „optisch aktiv“. Schon Biot vermutete, die optische Aktivität sei eine Eigenschaft der Moleküle, denn sie bleibt erhalten, auch wenn man die Substanz mit einer Flüssigkeit verdünnt. Die Tatsache, dass manche Kristalle beim Durchstrahlen die Schwingungsebene des polarisierten Lichts drehen (Quarzkristalle haben zum Beispiel diese Eigenschaft), erklärte er dagegen als eine Eigenschaft der Kristalle, denn beim Schmelzen solcher Festkörper verschwindet die optische Aktivität vollständig. Bei kristallografischen Arbeiten über die Weinsäure und ihre Salze gewann der später so berühmte französische Forscher Louis Pasteur15 als junger Mann die

15Louis

Pasteur, geboren in Dôle (Jura), lebte von 1822 bis 1895. Er lehrte Biologie und Chemie an den Universitäten Dijon, Straßburg, Lille und an der Sorbonne in Paris. Berühmt wurde er durch seine scharfsinnigen Arbeiten über die Schutzimpfung sowie über die Konservierung von Lebensmitteln. durch „Pasteurisieren“ (Erhitzen zur Abtötung der Keime von Mikroorganismen).

3.16  Pasteur sortiert optisch aktive Salzkristalle

101

Erkenntnis, dass die Moleküle optisch aktiver organischer Verbindungen immer in zwei isomeren Formen vorkommen, die sich wie die rechte und linke Hand verhalten, oder wie Bild und Spiegelbild. Solche „optische Isomere“ gleichen sich in allen chemischen und physikalischen Eigenschaften und unterscheiden sich nur in der Drehung der Schwingungsebene des polarisierten Lichts. Dabei drehen die beiden Isomeren gleich stark, aber in entgegengesetzter Richtung, das eine nach links (also gegen die Laufrichtung der Uhrzeiger), das andere nach rechts. Die Mischung beider Isomeren im Verhältnis 1:1 war dagegen optisch inaktiv, drehte also gar nicht! In der chemischen Literatur hatte sie schon 1831 Berzelius als „Traubensäure“ beschrieben.

3.16 Pasteur sortiert optisch aktive Salzkristalle Pasteur war ein ungewöhnlich begabter Beobachter. So fand er bald heraus, dass sich manche Salze der beiden optisch aktiven Weinsäuren doch auch in der Kristallform unterscheiden. Und wieder verhielten sich die Kristalle wie Bild und Spiegelbild! Das konnte kein Zufall sein. Offensichtlich führte die Atomanordnung in den Molekülen der optisch aktiven Weinsäureisomere einerseits zu spiegelbildsymmetrischen Salzkristallen und rief andererseits in Lösung optische Aktivität in jeweils gegensätzlicher Richtung hervor. Die Erkenntnis war so revolutionär, dass der 48 Jahre ältere skeptische Biot vor der Bekanntmachung in der Akademie der Wissenschaften (1848) selbst Traubensäure herstellte, ihre optische Inaktivität nachprüfte und dann Pasteur bat, mit Substanzen aus seinem (Biots) eigenen Labor die optisch aktiven Salze herzustellen und deren Kristalle vor seinen Augen unter dem Mikroskop zu sortieren. Tief beeindruckt stellte er fest: die Kristallsammlung, von der Pasteur vorhersagte, sie sei in Lösung linksdrehend, war tatsächlich linksdrehend. Pasteur schloss aus seinen Versuchen auf eine spiralförmige Anordnung der Atome in der Art einer links- beziehungsweise rechtsdrehenden Schraube oder, so fragte er sich, „stehen sie in den Ecken eines unregelmäßigen Tetraeders?“. Das war 1860, gerade ein Jahr nach der ersten Veröffentlichung Kekulés16 über seine Strukturlehre. Der hatte „Wurstformeln“ für die Darstellung der Bindearme des Kohlenstoffs benutzt – von irgendeiner räumlichen Vorstellung war er meilenweit entfernt. Ähnliche Ergebnisse wie Pasteur erhielt der Deutsche Johannes Wislicenus bei seinen Arbeiten über die Milchsäure. Sie inspirierten 1874 den damals gerade 22jährigen Niederländer Jacobus Hendricus van’t Hoff17 zu einer verblüffend

16Friedrich

August Kekulé wurde 1829 in Darmstadt geboren und starb 1896 als Professor der Universität Bonn, einige Jahre zu früh für den Chemie-Nobelpreis. Er ist der Begründer der Strukturlehre für Kohlenstoffverbindungen und der Entdecker der Benzolformel. 17Van’t Hoff wurde 1852 in Rotterdam geboren, studierte bei Wurtz in Paris und bei Kekulé in Bonn, erwarb den Doktortitel in Utrecht und war dann Professor in Amsterdam. Er starb 1911 in Steglitz nahe Berlin.

102

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

einfachen Erklärung. Er behauptete nämlich, optische Aktivität trete nur bei solchen Molekülen auf, die mindestens ein Kohlenstoffatom mit vier verschiedenen Liganden enthalten. Dieses Kohlenstoffatom nannte er ein „asymmetrisches Kohlenstoffatom“. Er nahm an, dass es im Mittelpunkt eines Tetraeders sitze und seine vier Bindungsarme in die Ecken des Tetraeders ausstrecke. Wenn nun an jedem der vier Bindungsarme ein anderer Ligand hängt, gibt es tatsächlich vom gleichen Molekül, zum Beispiel der Milchsäure oder dem Alanin zwei verschiedene Isomere, die sich wie Bild und Spiegelbild verhalten (Abb. 1.8 und 1.9). Keine noch so raffinierte Drehung oder Wendung führt dazu, dass die beiden Moleküle im Bau übereinstimmen. Ebenso wenig können wir rechte und linke Handschuhe verwechseln oder rechte und linke Hände oder Füße, weil auch sie sich wie Bild und Spiegelbild verhalten. Und tatsächlich hatte jede der 13 damals bekannten optisch aktiven Verbindungen mindestens ein asymmetrisches Kohlenstoffatom im Molekül!

3.17 Van’t Hoff bestimmt die Richtung der Bindearme Damit waren gleich zwei neue Erkenntnisse gewonnen: Einerseits die tetraedrische Ausrichtung der Bindearme des Kohlenstoffatoms – nur durch einen „Indizienbeweis!“ – und andererseits die Ursache der optischen Isomerie. Van’t Hoff erhielt für seine Entdeckung 1901 den ersten Chemie-Nobelpreis. Sein Studienkollege und Freund Le Bel, der völlig unabhängig von Pasteurs Arbeiten ausgehend, mit 27 Jahren einen Monat nach van’t Hoff eine ähnliche Theorie veröffentlicht hatte, ging dagegen leer aus. C’est la vie! Wir begreifen nach diesem Abstecher in die Geschichte der „Stereochemie“ sehr leicht, warum unser Traubenzucker zu den optisch aktiven Verbindungen zählt, denn er hat nicht nur ein, sondern sogar fünf asymmetrische Kohlenstoffatome (nämlich die mit der Nummer 1, 2, 3, 4 und 5).18 Es ist also kein Wunder, dass er die Schwingungsrichtung des polarisierten Lichts ablenkt, und zwar nach rechts, also im Uhrzeigersinn (deshalb wird er auch „Dextrose“ genannt; dieses Wort ist aus dem lateinischen Wort dexter für rechts abgeleitet). Das Drehvermögen der Glukose zeigt uns der nächste Versuch:

18Deshalb

gibt es theoretisch nicht weniger als 2 · 2 · 2 · 2 · 2 = 32 verschiedene optische Isomere des Traubenzuckermoleküls. Erstaunlich, dass in der Natur bei weitem nicht alle vorkommen. In unserem Falle, der α-D-Glukose und β-D-Glukose sind es die Isomeren, bei denen die OH-Gruppen am weitesten voneinander Abstand halten. Nur diese beiden kann unser Körper als Nahrungsmittel verwerten. Auch sonst zeigt das Leben eine ausgeprägte Vorliebe für bestimmte Stereoisomere. Ihre pharmakologische Wirkung kann sehr unterschiedlich sein. Wie wir beim ersten Ausflug gesehen haben, weisen fast alle optisch aktiven Aminosäuren der Proteine die sogenannte L-Konfiguration auf. Bei den Zuckern erkennt man die D-Enantiomeren, wenn man die aldehydische Form so anschreibt, dass die CHO-Gruppe oben steht und die Kohlenstoffkette nach unten verläuft. D-Zucker tragen dann die OH-Gruppe des untersten asymmetrischen Kohlenstoffatoms rechts.

3.17  Van’t Hoff bestimmt die Richtung der Bindearme

103

Versuch 3.10: Traubenzuckerlösung und polarisiertes Licht

Wir wiederholen Versuch 3.9, verwenden aber statt der Haushaltszuckerlösung eine Lösung von 40 g reinem Traubenzuckerhydrat (in der Apotheke als „Dextropur“ erhältlich) in 80 g Wasser. Wieder beobachten wir eine Ablenkung der Schwingungsebene des polarisierten Lichts im Uhrzeigersinn, und zwar um etwa 23°, wenn die entstehenden 104 ml Lösung auf einer Strecke von 6,5 cm von polarisiertem Licht durchstrahlt wurden. Aber nach einer Viertelstunde beträgt die Ablenkung nur noch 21°, 45 min nach der ersten Messung 17°, nach einer weiteren Stunde 13° und ganz zuletzt bleibt sie bei 12° konstant! Verrückterweise lässt sich der Versuch wiederholen, wenn wir unsere Traubenzuckerlösung eindunsten und mit dem Rückstand eine frische Lösung ansetzen. Diese höchst merkwürdige Eigenschaft der Glukose wurde bereits 1846 beobachtet. Sie tritt auch bei manchen anderen Zuckern auf und heißt „Mutarotation“ (abgeleitet aus dem Lateinischen, sinngemäß etwa Veränderungsrotation, denken Sie an die Mutationen der Vererbungslehre). Mit der Erklärung des Phänomens haperte es allerdings noch fast drei Jahrzehnte lang. Erst van’t Hoffs Theorie von den asymmetrischen Kohlenstoffatomen ließ den Verdacht aufkeimen, dass es auftritt, wenn sich die räumliche Anordnung der Liganden an den Kohlenstoffatomen derartiger Zuckermoleküle ändert. Wenn wir nun unser Traubenzuckermolekül kritisch durchmustern, um herauszufinden, welches der asymmetrischen Kohlenstoffatome seine räumliche Konfiguration in Lösung ändern könnte, so gerät abermals das Kohlenstoffatom Nr. 1 in starken Verdacht. Denn dieses trägt als einziges zwei Sauerstoffatome als Liganden. Es kann in wässriger Lösung die halbacetalische Bindung an das Kohlenstoffatom Nr. 5 aufgeben und unter Sprengung der Ringstruktur eine aldehydische C = O-Doppelbindung bilden. Wenn sich dann das Molekül reumütig erneut zum halbacetalischen Ring schließt, kann die neu entstehende OH-Gruppe entweder nach unten weisen (also die α-D-Glukose entstehen) oder nach rechts (womit die β-D-Glukose gebildet wird). Dies zeigt Abb. 3.10. Wenn wir dabei wie in unserem Versuch 3.10 von einer Glukose ausgehen, die zu 100 % in der α-Form vorliegt, entsteht in Lösung über die Aldehydform allmählich eine Mischung von α-Form und β-Form. Ähnlich könnten wir eine reine β-D-Glukose in Wasser lösen. Auch sie würde sich über die aldehydische Form in ein gleich zusammengesetztes Gemisch von α- und β-Form umwandeln. Das Endergebnis wäre unverändert. Weil man den Drehwert der reinen Formen kennt (er beträgt 113° für die reine α-D-Glukose und 19° für die reine β-D-Glukose19) und für das entstehende 19Er

wird immer angegeben für Lösungen, die 100 g Glukose in 100 ml enthalten und auf einer Strecke von 10 cm vom polarisierten Licht durchlaufen werden. Arbeitet man wie wir mit verdünnteren Lösungen und kürzeren Strecken, so muss man die Resultate entsprechend hochrechnen.

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

104 H HO

HO

H

CH2 OH

C

C H

C H

O

HO

H C

H

C

OH

CH2 OH

C HO

OH

C

O

H C OH

H

-D-Glucose

C

OH

H

-D-Glucose

H HO

C H

CH2 OH

C HO

C H

C H

OH

H C OH

C

H

O

Aldehydform

Abb. 3.10  Mutarotation

Gemisch 52° gefunden hat, kann man leicht ausrechnen, dass in ihm fast zwei Drittel β-Glukose einem guten Drittel α-Glukose gegenüberstehen. Dabei bleibt die Konzentration an aldehydischer Form immer sehr niedrig (deshalb zeigt ja Traubenzucker nicht alle typischen Aldehydreaktionen, wie wir schon erkannten). Mit anderen Worten: die aldehydische Zwischenform wird sehr rasch durchlaufen. Auch wenn sich das Gleichgewicht zwischen α- und β-Form eingestellt hat, bleiben die Moleküle nicht untätig. Nach wie vor wandeln sie sich in die jeweils andere Form um, aber in der Zeiteinheit laufen gleich viele Umwandlungen in jede der beiden Richtungen, und an der Zusammensetzung von 65:35 ändert sich trotz der wilden Aktivität der beteiligten Moleküle nichts mehr. Der Chemiker nennt dieses unruhige Hin- und Herreagieren ein „dynamisches Gleichgewicht“. Es herrscht auch in einem Land, aus dem jedes Jahr zwar viele Menschen auswandern, in das aber im gleichen Zeitraum gleich viele einwandern. Deshalb ändert sich an der Bevölkerungszahl nichts, und die gleichbleibende Bevölkerungsdichte täuscht einen Stillstand vor, obwohl genau besehen bei den Meldebehörden und nicht nur da hektische Betriebsamkeit herrscht. Wieder einmal ist es uns mit detektivischem Spürsinn gelungen, eine Reaktion aufzuklären; diesmal eine, bei der nur zwei Atomgruppen an einem Kohlenstoffatom die Plätze tauschen. Wir brauchten dafür lediglich die richtige Strukturformel der D-Glukose (die natürlich Emil Fischer für uns entdeckt hat), unser „Polarimeter“ und die Kenntnisse über Halbacetale, die wir uns kürzlich angeeignet hatten. Erstaunlich finden wir, dass die grünen Pflanzen offenbar aus dem Gleichgewicht zwischen α- und β-Form, das sich ja auch in der Zellflüssigkeit einstellt, jeweils das optische Isomere herauspicken, das sie für den Bau des Stärke- oder Cellulosemoleküls brauchen. Erstaunlich ist auch, dass wir mit unserem Polarimeter das Fortschreiten des Platzwechsels bis zum Gleichgewicht direkt verfolgen konnten.

3.19  Rohrzucker gibt es seit fast 2000 Jahren

105

3.18 Nahrungsmittel oder Baumaterial? Die Pflanze trifft also unmittelbar nach der Entstehung von Glukose durch die Photosynthese eine wichtige Entscheidung, nämlich die, ob sie daraus ein Nahrungsmittel – Stärke – oder eine Stützsubstanz – Zellstoff – herstellen will. Entscheidet sie sich für den ersten Weg, so speichert sie Stärkekörner als Nahrungsmittelvorrat bevorzugt in Früchten oder Wurzeln, ausnahmsweise auch im Mark der Stämme und Zweige. Auffallende Beispiele sind die Getreidesorten Reis, Mais, Weizen, Roggen, Gerste, Hafer und Hirse, die Kartoffelpflanze und die Sagopalme. Im Bedarfsfall kann sie daraus jederzeit mithilfe von Enzymen biokatalytisch wieder Traubenzucker gewinnen und diesen verzehren. Auch unser Verdauungstrakt baut Stärke zu Glukose ab, bevor die Darmzotten diese Zuckermoleküle in die Blutbahn befördern. Das Blut transportiert den Traubenzucker in die Muskeln und Organe, wo er biochemisch über Glykolyse, Krebs-Zyklus und Atmungskette flammenlos zu Kohlendioxid und Wasserdampf verbrannt wird. Nur beim Zuckerkranken bleibt er teilweise unumgesetzt und wird dann mit dem Urin ausgeschieden. Entscheidet sich dagegen die Pflanze für den Aufbau von Zellwänden, Fasern, Blatthaaren oder Holz, so benutzt sie den Syntheseweg, der zur Cellulose führt. Jetzt wissen wir also, wie Watte und Baumwolle als Haarfortsatz der Baumwollsamen entstehen und können uns vorstellen, wie Lein, Sisal, Nessel, Kokospalme und Hanf ihre Fasern erzeugen. Im Falle der Verholzung lagern die Pflanzen auch noch „Lignin“-Moleküle zur Versteifung ein.

3.19 Rohrzucker gibt es seit fast 2000 Jahren Dass sie auch andere Produkte aus Traubenzucker erzeugen, haben wir schon erwähnt. Ein weiteres leicht verständliches Beispiel dafür ist der Rohrzucker, der mit dem Rübenzucker identisch ist und schon vor mehr als 1700 Jahren in Nordindien aus Zuckerrohr gewonnen wurde. Er kam um 700 n. Chr. als importierter „Steinhonig“ nach China. Nach Europa brachten ihn etwa zur gleichen Zeit die Araber. Er wurde auch bald von fleißigen maurischen Bauern in Spanien hergestellt und lange Zeit – bis ins 17. Jahrhundert – fast nur in den Apotheken als teure Arznei verkauft. Erst durch den Zuckerrohr-Anbau auf den Plantagen der Antillen und in Südamerika wurde er so billig, dass ihn die Hausfrauen anstelle des altvertrauten Honigs als Süßungsmittel einsetzten. Ganz knapp wurde er noch einmal am Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Engländer gegen Napoleon die Kontinentalsperre verhängten und konsequent alle Einfuhrhäfen unseres Kontinents blockierten. Not macht erfinderisch! Tüchtige Chemiker erfanden daraufhin ein Extraktionsverfahren, um ihn aus der Runkelrübe zu gewinnen, und hartnäckige Bauern züchteten daraus die Zuckerrübe, die heute etwa genau so viel Saccharose enthält wie das Zuckerrohr (nämlich etwa 20 %), allerdings pro Hektar weniger Zucker ergibt.

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

106

Vor mehr als 160 Jahren fanden die Chemiker, dass Rübenzucker zu den Kohlenhydraten gehört. Nicht nur sein süßer Geschmack, sondern vor allem die Summenformel C12H22O11 sprach für die Zugehörigkeit zu dieser Stoffklasse. Natürlich blieb seine Strukturformel noch für geraume Zeit ein ungelöstes Rätsel. Für die Aufklärung erwies sich die Vermutung als hilfreich, dass das Rohrzuckermolekül eigentlich aus zwei Molekülen C6H12O6 entstehen könnte, wenn man aus ihnen ein Molekül Wasser abspaltet:

C6 H12 O6 + C6 H12 O6 → C12 H22 O6 + H2 O Sollte hinter einem der beiden C6-Moleküle wieder unser Traubenzuckermolekül stecken? Wenn ja, was verbirgt sich hinter der anderen C6-Formel? Darüber soll uns der nächste Versuch etwas verraten.

Versuch 3.11: Biochemische Zerlegung von Rohrzucker

Wir lösen einen Teelöffel Zucker in 200 ml Leitungswasser und fügen eine Messerspitze Backhefe hinzu. Danach lassen wir die Mischung im verschlossenen Glas 48 Stunden bei Zimmertemperatur stehen. Dann filtrieren wir die Hefezellen ab. Wir wiederholen nun Versuch 3.2, verwenden aber statt einer Glukoselösung unser Filtrat. Die Entstehung von rotem Kupfer(I)-oxid zeigt, dass aus dem Rohrzucker Traubenzucker (oder ein anderer reduzierender Zucker) abgespalten wurde. Die Spaltung bewirkt ein Enzym, das die Hefezellen beistellen. Es heißt „Invertase“. Der Versuch macht verständlich, wie aus Zuckerrohr oder Zuckerrüben Alkohol gewonnen werden kann, denn nach einigen Tagen beginnt unsere Versuchslösung unter Kohlendioxidentwicklung zu gären. Mit besseren Laborgeräten könnten wir nachweisen, dass außer Glukose Fruchtzucker (Fruktose) entstanden ist. Dieses Kohlehydrat hat ebenfalls die Summenformel C6H12O6, aber eine ganz andere Strukturformel, nämlich die der Abb. 3.11. Die Strukturformel kommt uns bekannt vor. Tatsächlich! Ein Rückblick auf die zweite Reaktion der Glykolyse zeigt uns das Molekül mit einem Molekül Phosphorsäure verestert und wir erinnern uns an die dritte Reaktion, bei der es sogar zweifach verestert wird (Abb. 2.3 und 2.4). Wieder fällt uns auf, dass eines der Kohlenstoffatome zwei Sauerstoffbindungen trägt. Wenn wir an dieser Stelle den Fünfring ähnlich auftrennen, wie Abb. 3.11  Fruktose

HO CH2 O H H

HO

OH H

OH

CH2OH

3.20  Biochemische Zuckerspaltung in der Natur

107

wir dies mit dem Sechsring des Traubenzuckermoleküls getan haben, erhalten wir ein Keton mit fünf alkoholischen OH-Gruppen. Daher zählt man den Fruchtzucker zu den Keto-Zuckern oder „Ketosen“. Gerade dieses namengebende Kohlenstoffatom mit den zwei Sauerstoffbindungen bindet sich im Rohrzuckermolekül an das Kohlenstoffatom Nr. 1 des Glukosemoleküls in α-Stellung. Die Bindung kommt durch Wasserabspaltung zustande.

3.20 Biochemische Zuckerspaltung in der Natur Mithilfe von Invertase spalten auch die Bienen den Rohrzucker, den sie in den Blüten oder von Blattläusen sammeln, in ein Gemisch von gleichen Teilen Traubenzucker und Fruchtzucker, das die Menschheit seit dem Altertum als Honig kennt und schätzt20. Es fällt uns auf, dass bei der Stärke, der Cellulose und dem Rohrzucker es immer wieder das Kohlenstoffatom Nr. 1 mit seiner halbacetalischen OH-Gruppe ist, das die Bindung zum Nachbarmolekül herstellt. Dabei reagiert die halbacetalische OH-Gruppe mit einer alkoholischen OH-Gruppe; es wird Wasser abgespalten und eine Sauerstoffbrücke zum entsprechenden Kohlenstoffatom des Nachbarmoleküls geschlagen. Tatsächlich ist die halbacetalische OH-Gruppe des Kohlenstoffatoms Nr. 1 um ein Vielfaches reaktionsfähiger als die rein alkoholischen OH-Gruppen der übrigen Kohlenstoffatome. Man hat deshalb die Verbindungen, die so zustande kommen, in eine eigene, recht mitgliederstarke Stoffgruppe eingereiht und ihnen den Namen „Glukoside“ gegeben. Die Glukoside sind in der Natur weit verbreitet. Milchzucker (Laktose) und Malzzucker gehören in diese Stoffklasse. Weniger bekannt ist das Salicin, ein Glukosid des Salicylalkohols. Die Bindung entsteht zwischen β-D-Glukose und der phenolischen OH-Gruppe des Salicylalkohols (Abb. 3.12). Dieses Glukosid kommt in der Rinde der Salweide vor. Es hat entzündungshemmende und schmerzstillende Wirkung, die bereits Hippokrates, dem berühmten Arzt des Altertums, bekannt war – er verordnete Weidenrinde gegen rheumatische Beschwerden. Im 19. Jahrhundert entdeckten fleißige Naturstoffchemiker, dass sich Salicin im Darm enzymatisch spaltet. Neben Glukose entsteht Salicylalkohol, der in der Leber zu Salicylsäure oxidiert wird. Diese Verbindung verursacht die schmerzstillende Wirkung, schmeckt aber als Arznei eingenommen widerlich und schädigt den Magen. Anfang des 20. Jahrhundert löste der junge Chemiker Felix Hoffmann bei den Farbwerken Bayer das Problem, indem er die phenolische OH-Gruppe der Salicylsäure mit Essigsäure zu Acetylsalicylsäure veresterte. So wurde das Aspirin erfunden! Es bleibt im Magen unverändert und spaltet erst im Darm, wo sie keinen Schaden anrichten kann, Salicylsäure ab.

20Siehe

2 Mose 3, 8. Die Ausscheidungen von Blattläusen sehen honigähnlich aus. Bei starkem Befall von Bäumen kann dieser „Honig“ tatsächlich über den Boden fließen.

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

108 H HO

CH2 OH

C HO

C H

C H

O

H C

CH2 OH

CH2 OH OH

Salicin

C

O

H

OH Salicylalkohol

Abb. 3.12  Ein Glukosid und sein Alkohol

Mit diesem neuen, seither in riesigen Mengen hergestellten und immer noch verwendeten Medikament konnte Hoffmann seinem kranken Vater helfen, der unter den Nebenwirkungen der Salicylsäure sehr zu leiden hatte. Ein anderes Glukosid, das Amygdalin, kommt im Bittermandelöl vor. Noch viel bekannter ist das Vanillin aus der Vanillerinde oder das Coniferin, das im Holz von Nadelbäumen vorkommt.

3.21 Von den Glukosiden zu den Glykosiden Auch andere Zucker können ähnliche Bindungen eingehen. Die so entstehenden Stoffe fasst man dann in der übergeordneten Stoffklasse der „Glykoside“ zusammen. Sie spielen in der Natur eine wichtige Rolle. Bekannt sind die „Herzglykoside“, äußerst wirksame Arzneimittel aus dem roten oder weißen Fingerhut (Digitalis). Aber auch die Anthocyane (das sind rote und blaue Blütenfarbstoffe), die Saponine (das sind schaumbildende Stoffe aus dem Pflanzenreich), viele Schleimstoffe und manche Pfeilgifte afrikanischer oder amerikanischer Naturvölker finden sich in dieser Stoffklasse. Berühmt wurde das Antibiotikum Streptomycin, das ebenfalls hierher gehört und unter anderem gegen manche Formen der Tuberkulose wirkt. Statt mit alkoholischen OH-Gruppen kann auch mit Stickstoffverbindungen, genauer mit ihren >NH-Gruppen Wasserabspaltung stattfinden. Dadurch ­werden Stickstoffbasen an Zuckermoleküle gebunden. Die Chemiker erweisen sich hier als großzügig und zählen auch diese Stoffe zu den Glykosiden. Wir haben mit einem derartigen Glykosid bereits beim zweiten Ausflug Bekanntschaft geschlossen: Es ist das vielseitige Energieträgermolekül Adenosintriphosphat (ATP, Abb. 2.1). Bei ihm und dem ADP fungiert das Adenin (Abb. 1.5) als Stickstoffbase, Ribose als Zuckermolekül. Eine Glykosid-Bindung entdecken Sie auch beim NAD+, NADH und natürlich bei deren phosphorylierten Abkömmlingen NADP+ und NADPH. Als Base wirkt hier das Nicotinsäureamid, als Zucker wieder die Ribose. Jenseits der Diphosphatgruppe beglückt uns ein zweites Ribosemolekül mit einer zweiten Glykosidbrücke zum schon altvertrauten Adenin. Ähnlich gebaut ist das FAD. Sein Name „FlavinAdenin-Dinukleotid“ verrät die Stickstoffbasen Flavin und Adenin (Abb. 2.25). Sogar im Coenzym A entdecken wir eine glykosidische Bindung (Abb. 2.17).

3.22  Am Ziel

109

Anders als das NAD+ ist das FMN oder Flavinmononukleotid (Abb. 2.30) nur mit einer glykosidisch gebundenen Base ausgestattet und mit einem Molekül Monophosphorsäure verestert, daher also „Mono“. Denken Sie an die Monogamie, die eheliche Verbindung mit nur einem Partner! Hier blicken wir also noch einmal kurz zum Anfang dieses Ausflugs zurück, denn dort haben wir ATP, NADP+ und NADPH mit ihren glykosidischen Bindungen als unentbehrliche Mitwirkende der Photosynthese kennengelernt. Deren Hauptprodukt, der Traubenzucker, erwies sich als die Schlüsselsubstanz, aus der Lebewesen letzten Endes alle organischen Verbindungen kunstvoll herstellen. So kann es uns nicht sehr erstaunen, dass Zucker fast überall in der Biologie eine Rolle spielen. Sie bilden die äußerste Molekülschicht der Zellwände, bald finden wir sie an Fette, bald an Eiweißmoleküle gebunden. Zellen kommunizieren miteinander mithilfe von Zuckermolekülen als „Botenstoffe“, sie finden sich aber auch in giftigen Naturstoffen, die als Arzneien wirken. Sie sitzen auf der Oberfläche der roten Blutkörperchen und bestimmen dadurch die Blutgruppe A oder B. Deshalb vertragen wir eine Bluttransfusion schlecht, wenn wir Blutgruppe A haben und Blut der Gruppe B für uns verwendet wird. Blutgruppe 0 ist besser verträglich, weil bei ihr die Zuckermoleküle fehlen. Ein besonders berühmtes Glykosid ist die Trägerin der Erbinformation, die „DNS“ oder (im angelsächsischen Sprachgebrauch) „DNA“. Sie wird uns beim nächsten Ausflug begegnen. Zucker und Glykoside überall! Ja, das Leben ist nicht immer süß, aber ohne Zucker ist es gar nicht möglich.

3.22 Am Ziel Wir sind glücklich am Ende unseres dritten Ausflugs angekommen. Er begann mit einer Zeitreise in die Vergangenheit, bei der wir erstaunt feststellen mussten, dass primitive Einzeller schon vor dreieinhalb Milliarden Jahren eine hoch komplizierte Zuckersynthese mit Sonnenlicht als Energiequelle erfanden. Der dabei entstehende Sauerstoff stammt – wieder verblüffend! – aus dem Wassermolekül. Er hat nicht nur der Ursuppe und den meisten ihrer primitiven Bewohner den Garaus gemacht, sondern schuf auch allmählich die Bedingungen, unter denen höhere Lebewesen atmen können. Das Hauptprodukt Traubenzucker dagegen erwies sich als die Schlüsselsubstanz für alle unsere Nahrungsmittel, seien sie nun pflanzlichen oder tierischen Ursprungs. Deshalb, so wurde uns bald klar, sind alle Kohlenstoffverbindungen unseres Körpers über Zwischenstufen aus Traubenzucker entstanden. Dieser wiederum hat alle seine Kohlenstoffatome aus dem Kohlendioxid der Luft bezogen. Nach unserem Tode werden wir der Natur ihre Leihgabe, „unsere“ Atome, ohne Ausnahmen zurückerstatten. Das Traubenzuckermolekül ließ uns auch nach diesen beinahe philosophischen Betrachtungen nicht ruhen. Wir spürten seinen einfachsten Polymeren, der Stärke und der Cellulose nach, erkannten, dass es zwei natürliche Traubenzuckermoleküle gibt und beobachteten im polarisierten Licht, wie die eine Form sich

110

3  Dritter Ausflug: Ins Grüne

in die andere verwandelt. Bald darauf erschloss sich uns die Formel des Rohrzuckers und durch sie lernten wir mit den Glykosiden eine Stoffgruppe kennen, die überall im Leben mitmischt, sei es bei Arzneien, Blütenfarbstoffen, Schleim, Pfeilgift, Zellstoffwechsel oder bei der Vererbung. Selbst für die Herstellung des Traubenzuckers durch die Photosynthese sind einige ihrer Vertreter unentbehrlich. Bei unserem nächsten Ausflug wollen wir erkunden, mit welchen Kunstgriffen die DNA Erbinformation weitergibt und Eiweißmoleküle gezielt herstellt.

4

Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

Die Welt ist voller Wunder, an die wir uns dermaßen gewöhnt haben, dass sie uns nicht mehr als Wunder erscheinen. Dazu gehört das Wunder der Vererbung. Ein Samenfaden dringt in die Eizelle ein, ein Mensch entsteht, der seinen Eltern gleicht. Vom Vater hat er die braunen Augen und das Temperament, von der M ­ utter die natürlichen Locken und die Intelligenz. Entzückt erkennen Großtanten und Omas die Ähnlichkeit des Babys mit beiden Eltern in Babyjahren – auch Goethe hat darüber nachgedacht und sich gefragt: Vom Vater hab ich die Statur Des Lebens ernstes Führen, Vom Mütterchen die Frohnatur, Und Lust, zu fabulieren. Urahnherr war der Schönsten hold, Das spukt so hin und wieder; Urahnfrau liebte Schmuck und Gold Das zuckt so durch die Glieder. Sind nun die Elemente nicht Von dem Komplex zu trennen, Was ist dann an dem ganzen Wicht Original zu nennen?

4.1 Rätsel über Rätsel Aus dem winzigen Samenkorn entsteht der Weizen, eine etwa 1 m hohe Graspflanze. Sie stirbt noch im selben Jahr, nachdem sie neue Samenkörner als Vermächtnis hinterlassen hat. Warum entsteht aus dem noch viel kleineren, winzigen Samenkorn der Feige ein riesiger Baum, der, wenn er denn weiblich ist, Dutzende von Jahren lang regelmäßig drei Ernten trägt? Woher weiß die mikroskopisch kleine Spore des Farns, wie sie einen Vorkeim entwickeln soll, auf dessen Blattunterseite bei © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Neubauer, Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58859-8_4

111

112

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

Regenwetter männliche Schwärmzellen mithilfe ihrer Geißeln zu den Eizellen in den Archegonien schwimmen, um sie zu befruchten? Woher weiß die befruchtete Eizelle, wie sie zur neuen Farnpflanze heranwachsen soll? Und nicht zu irgendeiner Farnpflanze, sondern zu einer derselben Art, die erneut einen Generationenwechsel zum Vorkeim mit beweglichen Schwärmzellen und Eizellen anstößt! Woher weiß der Monarchfalter, dass er im Herbst zu einer 3000 km weiten Reise von Ontario nach Mexico aufbrechen soll, in riesigen Schwärmen von Individuen, welche allenfalls den Rückweg aus ihrer Jugendzeit kennen? Oder die Amerikanischen Königslibellen, die Tausende von Kilometern nach Süden wandern, um dort zu sterben. Den Rückweg tritt die nächste Generation an – er führt für alle durch ein ihnen unbekanntes Land in unbekannte Weiten, aber gewiss zu den Futterplätzen weit weg im Norden Amerikas. Wie finden sie den Weg? Woher weiß die Kreuzspinne, mit welchem Verfahren sie ihr kunstvolles Netz herstellen muss? Unmöglich, dass sie es von Eltern gelernt oder von Artgenossen abgeschaut hat. Ähnlich die Arbeitsbiene, die ein winziges Stückchen zum kunstvollen Bau der regelmäßig sechseckigen Waben beiträgt – zusammen mit Hunderten Arbeitsbienen aus demselben Stock! Rätsel über Rätsel, Wunder über Wunder! Und wir könnten noch lange so fortfahren, auch mit Wanderzügen der Aale, Lachse, Schildkröten, Gänse, Kraniche, Störche oder Singvögel verblüffen. Solche Fragen haben schon lange Forscher und Denker bewegt. Arthur Schopenhauer bestaunte „die Sorgfalt, mit der das Insekt eine Zelle oder Grube oder Nest bereitet, ein Ei hineinlegt nebst Futter für die im kommenden Frühling daraus hervorgehende Larve und dann ruhig stirbt…“, verstand dies alles als ­Manifestation des Willens zum Leben und als einen Beweis für die Wiedergeburt nach dem Tode, den er mit dem Schlaf verglich. Erst gegen die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde es erlesenen Köpfen unter den Biologen und Biochemikern klar, dass überall in der Natur Informationen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Allerdings hatte niemand eine Ahnung, wie diese Informationsübergabe f­unktionieren könnte. Dass sie Gesetzen gehorcht, hatte schon 100 Jahre vorher der Mönch Gregor Mendel mit seinen Blumenversuchen bewiesen. Noch zu seiner Zeit und erst recht viel früher herrschten aberwitzige Vorstellungen, die sogar in die Bibel gelangten. Die erheiternde Geschichte von den erfolgreichen Zuchtmaßnahmen, die Jakob an den Herden seines geizigen Schwiegervaters vornimmt, gibt davon ­Zeugnis (3 Mose 30, 25–43).

4.2 Was unter dem Mikroskop sichtbar ist Immerhin führte aber die sorgfältige mikroskopische Beobachtung von Zellteilungsvorgängen zu einigen Erkenntnissen: 1. Bei der Zellteilung wird der Zellkern ebenfalls geteilt. Im teilungsbereiten Zellkern anzutreffende „Chromosomen“ sind die Träger der Erbinformation. Jedes eukaryotische Lebewesen hat eine charakteristische geradzahlige Anzahl

4.2  Was unter dem Mikroskop sichtbar ist

113

von Chromosomen. Ihr Verhalten ist geisterhaft: Erst kurz vor der Zellteilung werden sie sichtbar, lassen sich von vorher ebenfalls unsichtbaren Fäden ­auseinanderziehen und entmaterialisieren sich wieder nach der Zellteilung. 2. Die Chromosomen haben typische Formen. Sie treten paarweise auf, sind meist gestreckt gebaut, die Paare werden bei der Zellteilung getrennt. Jede der beiden Tochterzellen behält oder erhält einen vollständigen Satz Einzelchromosomen. Anschließend stellt die neue Zelle zu jedem Chromosom den gleichgeformten Partner her und kommt daher wieder auf die volle Anzahl von Chromosomen. Die Chromosomenzahl des Menschen ist 46, entsprechend 23 Paaren. Der Schimpanse hat genau wie der Gorilla und der Tabak 48 Chromosomen, die Fruchtfliege Drosophila 8, die allerdings riesig groß sind und deshalb viel untersucht werden, das Zuckerrohr 20, Hefe 32. Den Negativrekord hält ein Wurm mit 2. Wie Sie sehen, herrscht hier weder Regel noch Gesetz, eher die reine Willkür. 3. Männliche Individuen haben ein einziges Chromosomenpaar, beim Menschen xy genannt, dessen Formen voneinander abweichen. Weibliche haben stattdessen zwei gleichgeformte x-Chromosomen. 4. Spermien enthalten nur halb so viele Chromosomen wie die übrigen Körperzellen, aber sie haben von jedem Chromosomenpaar ein Chromosom. Es gibt deshalb zwei Arten Spermien: solche mit dem x-Chromosom und solche mit dem y-Chromosom. Beide sind gleich häufig und gleich bewegungsstark. 5. Eizellen enthalten ebenfalls nur halb so viele Chromosomen wie andere ­Zellen. Auch hier ist von jedem Chromosomenpaar eines vorhanden. Alle Eizellen ­enthalten ein x-Chromosom. 6. Bei der Befruchtung dringt ein Spermium in die Eizelle ein und verschmilzt seinen Zellkern mit dem der Eizelle. Dadurch wird sie zur Zygote und kommt wieder zu Chromosomenpaaren. Fortan vermehrt sie sich durch normale Zellteilung und wird nacheinander zum Embryo, Fötus, Neugeborenen, Säugling, Kleinkind, Heranwachsenden, Pubertierenden, Mann oder Frau, Greis oder Greisin bis er oder sie schließlich hochbetagt stirbt. 7. Falls das erfolgreiche Spermiun ein x-Chromosom enthielt, entsteht ein Individuum, dessen Chromosomensatz zwei x-Chromosomen enthält, also ein Mädchen. Alle seine Chromosomen treten paarweise auf, aber eines stammt immer vom Vater und das andere von der Mutter. 8. Hat das erfolgreiche Spermium ein y-Chromosom mitgebracht, dann entsteht ein Junge mit dem ungleichen x,y-Chromosomenpaar. Auch bei ihm stammt die eine Hälfte der Chromosomen vom Vater, die andere von der Mutter. Mit diesem Wissen konnten die Biologen prinzipiell verstehen, wie sich die ­Eigenschaften der Eltern auf die Nachkommen vererben. Mit mühsamen Kreuzungsexperimenten konnten sie auch – besonders bei der Fruchtfliege – nach und nach die Funktion einiger „Gene“ (das sind Teilstücke der Chromosomen, die eine Eigenschaft weiter vermitteln) aufklären. Aber gerade beim Menschen waren und sind Kreuzungsexperimente unmöglich. Ausgerechnet da, wo es am Interessantesten wurde, waren ihnen die Hände gebunden, so stellten sie resignierend fest.

114

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

Fleißige Biochemiker, Biologen und Ärzte ermittelten unterdessen weiter und machten schließlich 1943 eine Substanz aus dem Zellkern, die „Desoxyribonucleinsäure“, kurz DNS oder bei den Angelsachsen DNA1 genannt, als die eigentlich Verantwortliche für die Weitergabe von Information fest.

4.3 DNA – eine alte Bekannte Es war eine alte Bekannte. Der Schweizer Friedrich Miescher hatte sie in unreiner Form schon 1869 in Tübingen aus Eiterzellen oder Fischrogen isoliert und „­Nuklein“ genannt, weil sie aus deren Zellkernen stammt. Bald fand er sie auch in anderen Zellen, entdeckte sogar ihren Gehalt an Phosphor. 20 Jahre später zerlegte der Deutsche Richard Altmann das Nuklein in ein Protein und die Nukleinsäure, nach weiteren fünf Jahren entdeckte der Deutsche Albrecht Kossel ihre vier Basen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin. Deren Strukturformeln zeigt Abb. 4.1. Der Litauer Phoebus Levene fand den dazugehörigen Zucker und schlug bereits 1919 eine kettenförmige Struktur vor, bei der Phosphatreste die Kettenglieder zusammenhalten. Im Jahr 1943 wies dann der Kanadier Oswald Avery durch Versuche mit Bakterien nach, dass die Desoxyribonukleinsäure tatsächlich Trägerin der Erbinformation ist und bestätigte damit einen Verdacht, den schon neun Jahre zuvor die Deutschen K. Voit und Hartwig Kuhlenbeck2 geäußert hatten. Selbstverständlich wollen auch wir diese berühmte Substanz mit einem Versuch isolieren und kennenlernen.

Versuch 4.1: Desoxyribonukleinsäure aus den Zellen der Mundschleimhaut

Wir lösen einen gestrichenen Teelöffel Kochsalz in möglichst wenig ­Wasser und verdünnen dann die konzentrierte Lösung mit der doppelten Menge Wasser. Jetzt reinigen wir sorgfältig die Zähne und spülen den Mund ­gründlich mit Wasser aus. Noch bevor er sich wieder mit Speichel füllt, schwenken wir einen Schluck Salzlösung eine halbe Minute lang kräftig in der Mundhöhle hin und her. Dann das Ganze in ein kleines hohes Glas spucken und eine Mischung von einem Teelöffel Spülmittel mit 3 Teelöffeln Wasser hinzufügen. Das Gemisch wird jetzt noch fünf Minuten mit dem Glasstab umgerührt, wobei möglichst wenig Schaum entstehen soll. Nun verdünnen wir 20 ml vergälltes Ethanol (Brennspiritus) mit 10 ml Wasser und lassen die möglichst eiskalte Mischung langsam und vorsichtig an der Wand entlang in das schlanke Glas mit der bearbeiteten Kochsalzlösung einlaufen. Die verdünnte Spirituslösung bildet auf der wässrigen

1DNA = Desoxyribonucleic

acid“. der berühmte Arzt Hartwig Kuhlenbeck (1897–1984) emigrierte wegen Hitlers Rassegesetzen. Er starb in Philadelphia (USA).

2Auch

4.3  DNA – eine alte Bekannte

115

Salzlösung eine klare Schicht. Nach einiger Zeit entstehen auf der Trennfläche verknäuelte weiße Fäden, die langsam in die Ethanolmischung hineinwachsen. Sie bestehen aus Desoxyribonukleinsäure. Was ist passiert? Die Kochsalzlösung hat aus unserer Mundschleimhaut Zellen abgelöst und ihre Zellwände gesprengt. Das Spülmittel löst die Membran der Zellkerne auf – dadurch wird die DNA frei. Sie ist in Wasser löslich, aber nicht in Alkohol. Deshalb scheidet sie sich an der Trennfläche zwischen den beiden Flüssigkeiten ab. Der Versuch macht verständlich, warum kriminalistische DNA-Untersuchungen oft mit einem Watteabstrich aus der Mundhöhle oder mit einer Speichelprobe der Verdächtigen vorgenommen werden. Ein zweiter Versuch soll zeigen, wie man DNA aus Pflanzenzellen isolieren kann:

Versuch 4.2: DNA aus Tomaten

Wir zerstampfen eine fein zerschnittene Cocktailtomate im Mörser sorgfältig und übergießen sie dann mit einer Mischung aus 15 ml filtriertem Zitronensaft, 2 ml Spülmittel, 1 g Kochsalz und 20 ml Wasser. Anschließend wird die Mischung nochmals mithilfe des Stößels eine Minute lang durchgewalkt und dann filtriert. Nun übergießen wir 2 ml des Filtrats mit 10 ml Brennspiritus und vermischen beide Flüssigkeiten gründlich. Nach etwa 10 min scheidet sich die Desoxyribonukleinsäure in Form weißer Flocken ab.

Abb. 4.1  Die vier Basen

NH 2 N

N

N

N

O CH 3

HN N

O

H

H

Adenin

Thymin

O N N

NH 2 NH

N

H Guanin

NH2

N O

N H

Cytosin

116

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

Allmählich nahm die Kenntnis dieser Verbindung zu und es war nicht immer leicht, eine klare Übersicht zu bewahren. Ende der Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts sorgte der aus Österreich stammende US-Amerikaner ErwinChargaff3 mit vier nach ihm benannten Regeln für Klarheit: 1. Die Basenzusammensetzung der DNA ist von Spezies zu Spezies unterschiedlich. 2. DNA-Proben aus verschiedenen Organen oder Geweben eines Individuums sind gleich. 3. Die Basenzusammensetzung der DNA einer Spezies ist unabhängig von Alter, Ernährungszustand und Lebensraum. 4. In allen DNA-Molekülen gilt für die Zahl der Basenmoleküle A = T und C = G sowie A + G = C + T, wobei A = Adenin, T = Thymin, G = Guanin und C = Cytosin bedeutet.

4.4 Ein Forscherwettlauf zur Strukturaufklärung Vor allem die vierte Regel gab einen klaren Hinweis auf die noch unbekannte Strukturformel. Jetzt setzte ein Wettlauf zur endgültigen Strukturaufklärung ein, an dem sich auch der weltberühmte doppelte Nobelpreisträger Linus Pauling beteiligte. Zwei Außenseiter, der Amerikaner James Watson und der Brite Harry Crick, machten Anfang 1953 mithilfe des neuseeländischen Physikers Maurice Wilkins4 das Rennen. Watson war erst zwei Jahre vorher als promovierter Stipendiat für Molekularbiologie nach England gekommen, Crick werkelte in Cambridge erfolglos an ­seiner Doktorarbeit über die Kristallstruktur des Hämoglobins. In einem Gespräch mit Chargaff äußerte Watson, er wolle das Erbgut entschlüsseln, ohne Chemie lernen zu müssen, und machte im selben Gespräch noch dazu allerlei unpassende Bemerkungen, Crick verriet seine mangelhaften Kenntnisse der Chemie, weil er wichtige Molekülstrukturen „vergessen“ hatte, sodass Chargaff nach dem Gespräch äußerte, sie seien „wissenschaftliche Clowns“.

4.5 Ein Molekül mit Doppelwendel Als Watson Ende 1952 Wilkins im „King’s College“ in London besuchte, zeigte ihm der Neuseeländer außer eigenen Arbeiten zur Röntgenstrukturanalyse der DNA auch Forschungsergebnisse der jungen Britin Rosalind Elsie Franklin (ohne 3Der

im heutigen Polen geborene österreichische Biochemiker Erwin Chargaff (1905–2002) emigrierte 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung von Berlin über Paris in die USA. 4Der Brite Francis Harry Compton Crick lebte von 1916 bis 2004, der US-Amerikaner James Dewey Watson wurde 1926 geboren. Der Neuseeländer Maurice Hugh Frederick Wilkins (1916– 2004) war Physiker und bewies mit einer Röntgenstrukturanalyse die Annahmen Cricks und Watsons über den Bau der DNA.

4.6  Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms

117

ihr Einverständnis und ohne sie später in der Veröffentlichung zu erwähnen). Weil ja laut der vierten Regel von Chargaff die vier Basen gleich häufig auftreten, konnten daraufhin Watson und Crick die berühmte D ­ oppelwendelstruktur herleiten und Wilkins sie mit seiner Strukturanalyse bestätigen. Es war ein ­ Meilenstein der Erkenntnis, für den die drei 1962, vier Jahre nach Rosalind Franklins Tod, mit dem Nobelpreis geehrt wurden. Leider ließen sie auch die Gelegenheit der Dankesrede verstreichen, ohne den unfreiwilligen Beitrag der jungen Forscherin5 zu würdigen. Jetzt konnten die Biochemiker verstehen, mit welcher Geheimschrift die ­Erbinformation weitergereicht wird: mit der Basenabfolge („Sequenz“) der DNA. Die Entschlüsselung des menschlichen „Genoms“ (der Gesamtheit aller Gene) war jetzt „nur“ noch eine Frage der Zeit und des Rechenaufwands.

4.6 Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms Sie gelang 2001 dem 1997 gegründeten Start-up-Unternehmen Celera des Amerikaners John Craig Venter und etwa gleichzeitig dem internationalen „Human Genome Project“. Damit und mit seinen unzähligen Patenten noch nicht zufrieden, schuf Venter 2017 einen künstlichen Erbgutsatz und pflanzte ihn einem Bakterium ein – es war lebensfähig! Über den Wust an Daten, die sich ergeben, wenn man die 20 000 bis 30 000 menschlichen Gene sequenziert, geben uns die mehr als 100 Bände mit je 1000 kleinstmöglich bedruckten Seiten eine Vorstellung, die eine vollständige Information über die 3,4 Mrd. Basenpaare enthalten. Diese ausgedruckte Genbibliothek befindet sich im „Medicine now“-Raum der Wellcome Collection in London. Ohne leistungsfähige Computer wäre sie wohl nie zustande gekommen. Kein Wunder! Es heißt, dass die kettenförmigen Moleküle der in einem einzigen Zellkern enthaltenen DNA hintereinander gereiht 2 m lang sind. Alle DNA-Moleküle eines menschlichen Körpers zusammen und hintereinander überbrücken 200 Mrd. km, das ist siebzig Mal die Entfernung zwischen der Sonne und dem Ring­ planeten Saturn. Dass die 2 m DNA im winzigen Zellkern zusammengerollt Platz ­finden und bei der Zellteilung wieder aufgedröselt werden, grenzt an das Wunderbare und erfüllt jeden nachdenklichen Menschen mit Ehrfurcht und Staunen. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, wir wollten lernen, mit welchen Schritten es die DNA schafft, die Erbinformation weiterzureichen. Dazu müssen wir uns ihre wundersame Struktur genauer ansehen.

5Die

Engländerin Rosalind Elsie Franklin wurde 1920 geboren und verstarb 1958 an Gebärmutterhalskrebs, vier Jahre zu früh für den Nobelpreis, der nur an lebende Forscher vergeben werden darf. Sie kam unabhängig von Wilkins mithilfe einer Röntgenstrukturanalyse zur richtigen Kenntnis der DNA-Moleküle.

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

118

O

H2C H H

–O

Base

H H

O H P O O

O

H2C H H

Base

H H

H O P O

–O

O

O

H2C H H O

Base

H H H



O P O O

Abb. 4.2  Desoxyribonukleinsäure

Die „Desoxyribonukleinsäure“ oder „Desoxyribonucleic Acid“ enthält ein Zuckermolekül namens Desoxyribose,6 das einerseits am Kohlenstoffatom Nr. 1 ein Glykosid mit einer der vier verschiedenen Stickstoffbasen bildet und andererseits mithilfe zweier alkoholischer OH-Gruppen (am Kohlenstoffatom Nr. 3 und Nr. 5) mit zwei Molekülen Phosphat verestert ist. Jedes Phosphatmolekül bindet nun seinerseits ein weiteres Molekül Desoxyribose, das wieder eine Stickstoffbase glykosidisch festhält und über eine zweite alkoholische OH-Gruppe die Esterbrücke zu einem weiteren Phosphatmolekül schlägt. Dieses Spiel setzt sich beliebig fort und Sie sehen aus Abb. 4.2, dass so eine Kette aus sich abwechselnden Desoxyribose- und Phosphatmolekülen entsteht, die an jedem Desoxyribosekettenglied eine glykosidisch gebundene Stickstoffbase trägt. Das Molekül kommt nur ausnahmsweise allein vor. Normalerweise hat es sich ein Double zugelegt, das es mithilfe von Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den Basenmolekülen festhält. Wir können uns die beiden Kettenmoleküle wie Holme einer Leiter vorstellen; die Wasserstoffbrückenbindungen entsprechen in diesem Vergleich dann den Sprossen. Aber damit noch nicht genug: das gesamte

6Die Desoxyribose unterscheidet sich von der uns bereits bekannten Ribose (siehe z. B. Abb. 2.1) nur dadurch, dass sie ein Sauerstoffatom weniger enthält. Dies wird im Namen angedeutet: „Desoxy“ heißt so viel wie „sauerstoffärmer“. Das Sauerstoffatom fehlt am Kohlenstoffatom Nr. 2 der Ribose. Die Desoxyribose trägt dort statt einer OH-Gruppe und einem Wasserstoffatom nur zwei Wasserstoffatome.

119

4.6  Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms



P

O –

O

Thymin

Adenin

O

N

O O

N

O

N

HN

N

OH N

O

O

O–

O

O

NH 2

P

O

CH 3

NH 2

O



O

O

N

N

O P

O –

O

CH 3 O O

N

O

„Leiterholm“

N

N

H 2N

O

P

N

HN

O

„Leiterholm“

O

O O

O

H 2N

NH

N

P

N

O O O

O P

O –

O

O

N

N

O

O–

N

O O HO

N

H 2N

O NH N

NH 2

Guanin

N

O– P

O

O N

O

Cytosin

O O

O– O

P

O



„Sprossen“

Abb. 4.3  Das unverdrillte Leitermolekül der DNA

Leitermolekül ist in der Gestalt einer Wendel verdrillt. Dabei bilden die beiden Holme sozusagen zwei übereinanderliegende Aufgänge. Ein gedachtes Wesen, das sich auf einem der beiden Schraubengänge nach oben windet, wird einem zweiten Wesen, welches mit demselben Ziel auf dem anderen Schraubengang unterwegs ist, niemals begegnen. (Im Schloss Chambord an der Loire ist eine solche Doppeltreppe zu besichtigen – Leonardo da Vinci hat sie vermutlich gebaut.) Das gesamte Molekül kann eine beträchtliche Länge erreichen. Es wird im Zellkern gespeichert und nimmt dort auf einem der sogenannten Chromosomen eine typische Stelle ein. In Abb. 4.3 ist es dargestellt. Sie fragen sich bestimmt mit Recht, wie es so ein zugegebenermaßen interessantes, aber doch eigentlich nichtssagendes Molekül fertigbringt, die hoch komplexe Bauanleitung für ein Individuum der nächsten Generation zu liefern.

120

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

4.7 Eine Geheimschrift aus vier Buchstaben Die Antwort auf diese Frage verbirgt sich in den vier verschiedenen Stickstoffbasen, die uns Abb. 4.1 vorstellt. Sie funktionieren gewissermaßen wie vier ­verschiedene Buchstaben eines Codes, und sie können in beliebiger Reihenfolge glykosidisch an die einzelnen Desoxyribosemoleküle der Kette gebunden sein. Die Erbinformation steckt dann, wie wir schon weiter oben bemerkten, verschlüsselt in der Reihenfolge. Es leuchtet uns ein, dass ein sehr langes Kettenmolekül sehr viele verschiedene Reihenfolgen („Sequenzen“) der vier Basenmoleküle aufweisen kann. Ähnlich können sehr viele sinnvolle oder sinnlose Wörter aus vier Buchstaben gebildet werden, wenn nur die Buchstabenreihen lang genug sind. Aus jeweils drei aufeinanderfolgenden Basen, einem „Codon“ entsteht eine klare Einbauanweisung für ein bestimmtes Aminosäuremolekül. Das nächste Basentrio legt das nächste Aminosäuremolekül fest und so geht das Spiel weiter, bis sich unsere genetische Geheimschrift in ein gezielt gefertigtes Eiweißmolekül aus verschiedenen Aminosäuren umgewandelt hat. Das ist in groben Zügen der Mechanismus der Vererbung. Jetzt zu den Einzelheiten! Es ist hilfreich, wenn wir uns dafür eine alternative Beschreibung desselben Moleküls ansehen.

4.8 Eine alternative Beschreibung der DNA Die DNA können wir nämlich auch als eine Kette von Nukleotiden ansehen, wenn jedes Nukleotid aus einer glykosidisch gebundenen Base, dem Desoxyribosemolekül und dem damit veresterten Phosphorsäurerest besteht. In anderen Worten ist sie eine Kette aus lauter Desoxyribonukleotiden. Da nur vier Basen vorkommen, gibt es bei ihr auch nur vier verschiedene Desoxyribonukleotide: Desoxyadenosinmonophosphat (dAMP), Desoxythymidinmonophosphat (dTMP), Desoxyguanosinmonophosphat (dGMP), und Desoxycytidinmonophosphat (dCMP). Ihre Strukturformeln zeigt Abb. 4.4. In großen DNA-Molekülen sind nicht weniger als 1 bis über 100 Mio. dieser Nukleotide aneinandergereiht(!). Allzu neu, allzu schwierig? Wenn wir Abb. 4.4 mit Abb.2.1 (Adenosintriphosphat) vergleichen, zeigt sich, dass wir längst schon mit Nukleotiden zu tun hatten – es sind immer Verbindungen, bei denen eine Base glykosidisch an einen Zucker gebunden ist, und dieser esterartig an einen Phosphat-, Diphosphat- oder Triphosphatrest. (In Abb. 2.7 hatten wir sogar mit einem Dinukleotid zu tun, einem Molekül mit zwei Basen und zwei Zuckermolekülen.) Neu ist also im Prinzip nur die Kettenstruktur der DNA. Für sie sorgen die Phosphorsäurereste. Die Ribosemoleküle bieten ihnen zwei alkoholische OH-Gruppen zum Verestern: einerseits das Kohlenstoffatom Nr. 3 und andererseits

121

4.8  Eine alternative Beschreibung der DNA O

NH 2 N

O– –O

P O CH2 O

N

O

H H OH

N

H 3C

O– –O

N

P O CH2 O

H H

OH

Desoxyadenosinmonophosphat (dAMP)

N

O

H H

H

NH

H H H

Desoxythymidinmonophosphat (dTMP) NH 2

O N

O– –

N

O P O CH2 O O H H OH

O

NH N

H H H

Desoxyguanosinmonophosphat (dGMP)

NH 2

N

O– –

N

O P O CH2 O O H H OH

O

H H H

Desoxycytidinmonophosphat (dCMP)

Abb. 4.4  Die vier Desoxyribonukleotide

das Kohlenstoffatom Nr. 5.7 Das gibt uns die Möglichkeit, die Richtung einer Kette zu definieren. Ganz einfach können wir festlegen, dass wir eine 3′,5′-Kette vor uns haben, wenn wir auf ihr wandernd zuerst einem Phosphatrest am Kohlenstoffatom Nr. 3 begegnen und dann einem am Kohlenstoffatom Nr. 5. Bei einer 5′,3′-Kette ist das genau umgekehrt. An den hochgestellten Strichen hinter den Zahlen 3 und 5 sollten Sie sich nicht stören – sie bedeuten nur, dass von Kohlenstoffatomen der Desoxyribose und nicht von Kohlenstoffatomen der Basenmoleküle die Rede ist. Der Abb. 4.3 entnehmen wir dann, dass die linke Holmkette als 3′,5′-Kette von unten nach oben und die rechte entgegengesetzt von oben nach unten läuft. Ungewohnt ist aber auch dieses zweite gegenläufige DNA-Kettenmolekül, das den anderen Holm der Leiter bildet, und die Verdrillung des Ganzen zur Doppelwendel mit Sprossen aus Basenpaaren. Die Basenmoleküle haben nämlich keine Freiheiten. Immer muss Adenin mit Thymin anbandeln, Guanin mit Cytosin. Das ist nur schwer zu merken? Da hilft Ihnen ein Merkspruch, der angesichts neuerlicher Christenverfolgungen im Vorderen Orient an Aktualität gewonnen hat: „Armer Teufel, Guter Christ!“.

7Die Nummerierung der fünf Kohlenstoffatome beginnt wieder neben dem Sauerstoffatom des Fünfrings mit „1“ und schreitet im Ring im Uhrzeigersinn bis zur CH2OH-Gruppe fort.

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

122 Abb. 4.5  Die Replikation (vereinfacht)

5

3

A G C T C T T A G C A T T A C G G C A T T A

3 T C G Helicase A G A A T C G T A A T G C C G T A A T 5

Schuld an diesen Beschränkungen, die einer Zwangsehe gleichen, sind die Wasserstoffbrückenbindungen, die keine anderen Paarungen zulassen. In Abb. 4.3 sind sie als gepunktete Linien eingezeichnet. Der Unterschied liegt schon in ihrer Anzahl, denn beim Basenpaar A-T gibt es davon zwei und bei G-C drei. Wenn also die DNA durch das Enzym Helikase in zwei Einzelmoleküle (die Leiterholme) gespalten wird, kann jedes Einzelmolekül sich aus der Zellkernflüssigkeit die Bestandteile besorgen, die für den Neubau eines Partnermoleküls notwendig sind. Das sind die oben beschriebenen und in Abb. 4.4 vorgestellten Nukleotide, die aber als Triphosphate vorkommen. Die Energie für den Zusammenbau entsteht, weil sich die Triphosphate in Diphosphat und Nukleosidmonophosphate aufspalten und das Diphosphat anschließend in zwei Moleküle Phosphat zerfällt. Diese energieliefernde Reaktion ähnelt derjenigen des Adenosintriphosphats (ATP), von dem wir ja gelernt haben, dass es Energie l­iefert, wenn es sich in ein anorganisches Phosphat-Ion (Pi) und Adenosindiphosphat (ADP) aufspaltet. Hier lautet die Gleichung vereinfacht

dATP → dAMP + 2 Pi + Energie Die Abfolge der vier Basen A, T, G und C wird beim Neubau der Tochtermoleküle kopiert und zwar in umgekehrter Reihenfolge, also gegenläufig. Theoretisch gibt es bei dieser „Replikation“ keine Fehlermöglichkeiten. Abb. 4.5 zeigt stark vereinfacht das Wirken der Helicase und die Herstellung der Tochtermoleküle.

123

4.9  Die Replikation – oder Vermehrung

DNA-Polymerase

RNA-Primer Primase Topoisomerase

5

Folgestrang DNA-Ligase Okazaki-Fragment

Helicase 3

5

Leitstrang

5

DNA-Polymerase

einzelstrangbindendes Protein

Abb. 4.6  Die Replikation – detailliert

4.9 Die Replikation – oder Vermehrung So entstehen aus dem DNA-Molekül zwei neue, genau gleiche Tochtermoleküle. Jedes verdrillt sich wieder zur Doppelwendel mit den beiden Holmen, sprich gegenläufigen Strängen des Kettenmoleküls, beide gleichen haargenau dem Elternmolekül, aber jedes Tochtermolekül hat eine Wendel von der M ­ utter und eine neue, dazu gegenläufige selbst gebaute Tochterwendel. Es l­euchtet ein, dass auf diese Weise die Zellteilung stattfinden kann, ohne dass dabei die Erbinformation verloren geht. Für den Hausgebrauch ist diese vereinfachte ­ ­Vorstellung durchaus nützlich. Schön wär’s natürlich, wenn das tatsächlich so einfach ginge. Genauere Studien ergaben nämlich, dass hier ein Geleitzug von mehreren Enzymen hintereinander auf der DNA-Molekülkette wandert, wobei die einzelnen Enzyme verschiedene Aufgaben erledigen. Das zeigt mit mehr Details die Abb. 4.6. Ganz vorn wandert das Enzym Topoisomerase. Es dröselt die Doppelwendel des DNA-Muttermoleküls in ein einigermaßen geradliniges Leitermolekül auf. Hinter ihm bleibt also ein Stück unverdrilltes Leitermolekül zurück – mit zwei parallelen Einzelholmen und den Basenpaaren als Sprossen dazwischen. H ­ inter der Topoisomerase wandert das Enzym Helicase, das unter beträchtlichem Energieverbrauch die Wasserstoffbrückenbindungen der Basenpaare auftrennt. Die Energie wird pflichtschuldigst von ATP-Molekülen beigesteuert, die sich dabei in Phosphat und ADP aufspalten (wir kennen das schon!). Aus der Leiter mit zwei Holmen und Sprossen entstehen also hinter der Helicase zwei Einzelstränge mit den zugehörigen halben Sprossen – genauer gesagt, den Basensequenzen des Muttermoleküls. Einer der beiden Stränge verläuft in 5′→3′-Richtung (auf der Abbildung von rechts nach links), der andere ist gegenläufig in 3′→5′-Richtung. Jeder Einzelstrang wird in der Nähe der Trennungsstelle durch stabilisierende Proteinmoleküle umhüllt.

124

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

Am 3′-Ende des 5′,3′-Strangs wird jetzt mithilfe des Enzyms RNA-Primase ein „Primer“ aufmontiert. Er besteht aus einem ziemlich kurzkettigen RNA-Molekül,8 das sich mithilfe eigener Basen an das Strangmolekül anklammert. Sein Zweck besteht darin, den Anbau des neuen komplementären DNA-Strangs zu ermöglichen und zu starten. Das Enzym DNA-Polymerase nimmt sich dieser Aufgabe an und rückt jetzt auf die Trennungsstelle zu – die sich natürlich nicht einfangen lässt, sondern ihrerseits in Richtung zum 5′-Ende weiter die Doppelkette in zwei Einzelketten zerschneidet. Die Enzyme Topoisomerase und Helicase tun nämlich dort weiter ihre Arbeit. Die DNA-Polymerase fängt beim Vorrücken des Enzymgeleitzugs die von den Basen des „Leitstrangs“ gewünschten Nukleosidtriphosphate9 aus der Zellflüssigkeit ein und fügt diese unter Energieverbrauch sachkundig zu einer komplementären Tochterkette aneinander. Die Energie dafür liefern die Triphosphatbindungen, die dabei zunächst in Monophosphatgruppen und Diphosphat zerfallen – das Diphosphat hydrolysiert unter Energieabgabe weiter zu Phosphat (Pi). Das neu entstandene Leitermolekül verdrillt sich hinter der Polymerase wieder zur Doppelwendel. Wenn dann der ganze Enzym-Geleitzug am 5′-Ende des Leitstrangs angekommen ist, kratzt noch ein weiteres Enzym den Primer am 3′-Ende wieder ab und ersetzt ihn durch ein passendes Stück DNA. Alle Enzyme steigen aus. Die neue DNA besteht aus dem „leading“-Strang des Muttermoleküls und dem so kunstvoll hergestellten gegenläufigen Tochter-Komplementärstrang.

4.10 Die DNA-Polymerase ist nicht unfehlbar… Bei ihrem Kettenbildungswerk ist die DNA-Polymerase erstaunlich z­uverlässig. Man hat ausgerechnet, dass sie statistisch gesehen 104 bis 105 Kettenglieder anbaut, bevor sie sich einmal vertut und ein falsches Nukleosidphosphat ­verwendet. Erstaunlicherweise merkt sie den Irrtum selbst und zwar daran, dass die Base des falsch eingesetzten Nukleotids nicht an die Partnerbase des Mutterstrangs binden kann. Noch viel mehr erstaunt, dass sich die DNA–Polymerase selbst korrigiert, indem sie kurz zurückfährt und mithilfe eines ihrer Enzyme (3′-Exonuclease genannt) den Blindgänger entfernt. Selbstverständlich ersetzt sie ihn durch das richtige Nukleotid, bevor sie ihre Fahrt in Richtung zum 5′-Ende wieder aufnimmt.

8Weiter

unten wird die Ribonukleinsäure (RNS oder im Englischen RNA) genauer vorgestellt. Nukleosid besteht aus einer Base, die glykosidisch an einen Zucker gebunden ist. Wird der Zucker auch noch mit Phosphat verestert, erhalten wir ein Nukleotid. Deshalb gilt auch: Ein Nukleosidphosphat ist ein Nukleotid.

9Ein

4.11  …aber sie korrigiert sich selbst

125

4.11 …aber sie korrigiert sich selbst Dieses „Korrekturlesen“ betreibt die Polymerase mit erstaunlicher Zuverlässigkeit, denn auch dabei passiert ihr nur ein einziger Fehler pro 104 oder 105 Korrekturen. Die Fehlerhäufigkeit nach Korrektur liegt also bei einem Falscheinbau pro Milliarde Nukleotide. Wenn man diese Zahl auf ein Chromosom mit 1 Mio. Basenpaaren anwendet, dann ergibt sich ein falsch eingebautes ­Nukleotid pro 1000 Zellteilungen! Eine derart hohe Zuverlässigkeit ist natürlich lebensnotwendig, weil ein einmal eingebauter Fehler in die Tochterzellen weitergereicht wird und letzten Endes nach vielen Zellteilungen zum Versagen des Organismus oder eines Organs führen kann. Was aber passiert dem 3′,5′-Komplementärstrang des Muttermoleküls? Wir haben ihn kurz hinter der Schnittstelle aus den Augen verloren. Er befindet sich in einer ungleich schwierigeren Situation, denn die DNA-Polymerase kann ihm nicht in der 3′,5′-Richtung (auf der Abbildung von links nach rechts) mit allen ihren Hilfskräften einen Tochterstrang zusammenbauen, weil sie in dieser ­Richtung nicht vorzurücken vermag. Sie lässt sich also von der RNA-Primase zunächst einen Primer auf die Kette setzen und erlaubt der DNA-Polymerase, kleine vorgefertigte passende Bruchstücke des Tochterstrangs (man nennt sie auch „Okazaki-Fragmente“10) anzubauen. Nach jedem Bruchstück muss sie einen neuen Primer anfordern, um das nächste Fragment mithilfe der DNA-Polymerase anzuhängen. So entsteht aus lauter Bruchstücken die komplementäre Tochterkette – wenn am Ende noch fleißige Enzyme die Primer wieder abkratzen und durch DNA ersetzen. Fehlt noch was? Ja, die einzelnen Okazaki-Fragmente müssen zu einer durchgehenden Kette zusammengeschweißt werden – auch dafür gibt es natürlich ein Enzym. Uff! Fertig! Es grenzt an ein Wunder, dass selbst bei ­dieser „diskontinuierlichen“ Arbeitsweise, die an das Vorgehen eines Pflasterlegers erinnert, kaum Fehler vorkommen. Den gesamten Vorgang nennen die Biochemiker „semikonservative Replikation“. Die etwas befremdliche und ganz unpolitisch gemeinte Bezeichnung „semikonservativ“ soll klarmachen, dass die Tochtergeneration ihre Erbinformation nur von einem der beiden DNA-Stränge bezogen hat, und nicht von beiden). Sie als nachdenklicher Leser fragen sich natürlich, wie man ein derart kompliziertes Verfahren entdecken und durchschauen konnte.

10Der

Japaner Reiji Okazaki (1930–1975) entdeckte 1968 solche DNA-Bruchstücke aus jeweils etwa 1000 Nukleosidphosphatmolekülen mithilfe radioaktiv markierter Schlüsselatome. Unter seinen Mitarbeitern war auch seine Frau Tsuneko Okazaki (geb. 1933).

126

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

4.12 Ein berühmter Versuch Das gelang den US-Amerikanern Meselson und Stahl11 im Jahre 1958 mit einem Versuch, der sie berühmt machte und heute nach ihnen benannt wird. Sie z­ üchteten Escherichia-Coli-Bakterien auf einem Nährmedium, das als Stickstoffquelle Ammoniumchlorid (NH4Cl) enthielt, und zwar nicht Stickstoff mit der typischen Massenzahl 14, sondern schweren Stickstoff mit dem Atomgewicht 15 (also 15NH Cl). Die Bakterien bauten dieses schwerere Stickstoffisotop ahnungslos in 4 die Nukleotide ihrer DNA ein und gaben es natürlich auch an ihre Nachkommen weiter. Die beiden Forscher erhielten deshalb nach einigen Generationen nur eine einzige Schicht von „schweren“ DNA-Molekülen, wenn sie die DNA der Bakterien in einer konzentrierten Caesiumchloridlösung lösten und stundenlang in der12 Dichtegradientzentrifuge schleuderten. Solche Zentrifugen verstärken die Schwerkraft der Erde durch hohe Drehzahlen von 1 g13 bis auf unvorstellbare 280 000 g und bewirken damit, dass sich auch Substanzen mit sehr geringfügig verschiedener Dichte voneinander trennen. Spezifisch schwerere Moleküle reichern sich weiter unten im Zentrifugiergefäß an, leichtere bilden weiter oben eine Schicht. Einem solchen Bakterienstamm boten sie nun zur Vermehrung gewöhnliches Ammoniumchlorid an und untersuchten das Erbgut der nächsten Generation. Sie fanden eine einzige Schicht von DNA-Molekülen, die alle einen schweren Strang vom Muttermolekül übernommen hatten und sich einen leichten Strang selbst dazu gebaut hatten. Wenn die beiden Forscher diese gemischte DNA zusammen mit einer gleich großen Menge schwerer und leichter DNA zentrifugierten, fanden sie die gemischten Moleküle genau in der Mitte über den schweren und unter den leichten. Beim Weiterzüchten mit gewöhnlichem Ammoniumchlorid fanden sie im ­Erbgut der folgenden Generationen immer weniger Moleküle aus einer „schweren“ und einer „leichten“ DNA-Kette und immer mehr DNA-Moleküle, die aus zwei „leichten“ Ketten bestanden. Die Mengen entsprachen genau der Vorhersage, wenn man die semikonservative Replikation als Erbmechanismus annimmt.

4.13 Von der Replikation zur Transkription Wir haben nun verstanden, wie die Erbinformation bei der Zellteilung sozusagen kopiert und weitergegeben wird. Aber wir wissen noch nicht, wie die Information zur Herstellung neuer Proteine und damit letzten Endes zu einem neuen Organismus führt. Mit anderen Worten: wie die Information entschlüsselt und in eine Bauanleitung umgesetzt wird. 11Matthew Stanley Meselson wurde 1930 in den USA geboren, sein Landsmann Franklin William Stahl ein Jahr früher. 12g bedeutet hier nicht etwa Gramm, sondern die Beschleunigung eines Körpers beim freien Fall. Sie beträgt 9,81 m/sec2. Dieser Wert wird bekanntlich beim Starten einer Weltraumrakete übertroffen, und erst recht in der Dichtegradientzentrifuge. 13Ähnlich bewirkt die Schwerkraft, dass sich beim Goldwaschen die Nuggets am Boden des Waschgefäßes absetzen und leichtere Mineralien (z. B. Sandkörner) weiter oben.

4.14  Ein neuer Mitspieler: die RNA

127

4.14 Ein neuer Mitspieler: die RNA Während die Replikation im Zellkern stattfindet, ist für die Proteinsynthese die Zellflüssigkeit der Ort des Geschehens. Für diese Aufgabe tritt ein neuer Akteur auf die Bühne. Er heißt RNS oder im Angelsächsischen RNA. Ja, Sie haben richtig geraten: es ist die „Ribonukleinsäure“ oder englisch „ribonucleic acid“. Der sympathische Geselle (sympathisch, weil er an unsere Lernbereitschaft nur bescheidene Ansprüche stellt) kommt im Gegensatz zur DNA meist in Einzelstrangmolekülen vor, ist ähnlich kettenförmig gebaut, besteht ebenfalls aus Nukleotiden, die aber als Zucker die Ribose enthalten, die wir beim zweiten Ausflug im ATP-Molekül (Abb. 2.1) vorgefunden haben. Dem RNA-Molekül fehlt das Thymin. Es verwendet stattdessen die ziemlich ähnliche Base Uracil (Abb. 4.7). Wie Sie beim Vergleich der beiden Moleküle feststellen, fehlt dem Uracil die Methylgruppe am Sechserring – das ist der einzige Unterschied. Natürlich hat der keinen Einfluss auf die Richtung und Zahl der Wasserstoffbrücken, mit denen sich das Uracil am Adenin festkrallen kann. Kurze Stücke des RNA-Moleküls sind uns bereits begegnet: sie haben bei der semikonservativen Replikation als „Primer“ gedient. Solche Primer bestehen aus etwa 40 Nukleotiden. Jetzt, wo wir die Ähnlichkeiten zwischen DNA und RNA kennen, verstehen wir auch, warum sich die RNA-Primermoleküle so leicht an der DNA-Kette festhalten können. Das Enzym „RNA-Polymerase“ hat die Ehre, bei der Transkription die Vorhut zu bilden. Es zieht auf einem Abschnitt der DNA die Doppelhelix auseinander, so dass wenigstens eines der beiden Helix-Moleküle die Basenabfolge dieses Abschnitts nach außen kehrt und gewissermaßen schamlos vorzeigt. Auf diese offengelegte Information greift die RNA zu, wenn sie nun aus den Nukleosidtriphosphaten der Zellkernflüssigkeit ihr Molekül aufbaut. Wo Adenin am DNA-Strang sitzt, baut die RNA ein Uracil in ihre Kette, das Guanin der DNA bewirkt den Einbau von Cytosin, das Thymin der DNA zaubert ein Molekül Adenin in die RNA und das Cytosin ein Molekül Guanin. Alle Paarungen laufen also wie gewohnt, wenn auch mit dem Ersatz von Thymin durch Uracil auf Seiten der RNA. Die RNA-Polymerase schiebt sich auf dem Strang immer weiter voran und hinter ihr wächst das RNA-Molekül. Noch weiter hinten schließt sich die Doppelwendel der DNA wieder, als ob nichts gewesen wäre. Selbstverständlich können sich mehrere RNA-Polymerase-Komplexe mit geziemendem Abstand hintereinander auf dem DNA-Molekül vorantasten und so ein zweites, drittes, viertes oder n-tes RNA-Molekül erzeugen. Abb. 4.8 zeigt die RNA-Polymerase am Werk und das dadurch entstehende RNA-Molekül. Abb. 4.7  Die fünfte Base

O

O

O CH 3

HN N

H

HN O

N

H

H

Thymin

Uracil

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

128

RNA-Polymerase 3 5

5

mRNA

3

5 3

Abb. 4.8  Die RNA-Polymerase bei der Arbeit

Das solcherart wachsende RNA-Molekül hat dann eine Basensequenz, die mit der des kopierten DNA-Strangs gleich, aber gegenläufig ist. Die ­RNA-Polymerase fährt auf dem freigelegten DNA-Strang immer weiter, bis sie an ein Stopcodon gelangt. Das ist eine Folge von drei Basen, die „Halt!“ bedeutet. Die RNA-Polymerase gehorcht sofort und verabschiedet außerdem das neu entstandene RNA-Molekül. Es hat „nur“ etwa 1200 Nukleotide in der Kette und trennt sich auch vom freigelegten DNA-Strang. Seine Aufgabe besteht darin, das abgekupferte Stück Basenfolge als Sendbote in das Cytoplasma zu transportieren und heißt ­deshalb sehr zutreffend „Messenger-Ribonukleinsäure“ oder kurz mRNA.14 Bevor es sich nun auf den Weg vom Zellkern in die Zellflüssigkeit begibt, stehen ihm allerdings noch einige Veränderungen bevor. Es ist noch „unreif“, weil es wahllos wichtige Teilstücke („Exons“) und unwesentliche Teilstücke („Introns“) enthält. Bei den Eukaryoten findet jetzt ein Reifungsprozess statt, bei dem die Introns herausgeschnitten und die zurückbleibenden Exons miteinander verbunden werden. Die Tätigkeit, die hier das RNA-Molekül mithilfe von Enzymen ausübt, gleicht der altehrwürdigen Technik des „Spleißens“, die von den Seilern entwickelt wurde, um aus einem langen Seil ein schadhaftes Teilstück zu entfernen.15 Englisch heißt dieser Vorgang „splicing“. Das Spleißen muss mit äußerster Sorgfalt vorgenommen werden – beim ­Seiler wie auch bei der mRNA. Bei ersterem aus Gründen der Reißfestigkeit, bei letzterer aus Gründen der Datenübertragung. Wenn nämlich dabei auch nur ein Nukleotid verloren geht, ändert sich die Basenabfolge der RNA und damit die Botschaft, die der „Messenger“ überbringt. An seinem Bestimmungsort entsteht eine falsch zusammengesetzte Proteinkette. Das kann zu einem lebensunfähigen Nachkommen führen, zu einer Erbkrankheit oder zu einem Mutanten. Um das zu verhindern, bildet das Intron vor dem Spleißen eine lassoförmige Schleife. Die Enden der Schleife rücken ganz nahe zusammen. Dadurch kommen sich auch die miteinander zu verbindenden Enden der Exons so nahe, dass in einer

14Von

englisch „messenger“ = Bote. schneiden es nämlich heraus und dröseln die neuen Seilenden ein Stück weit auf. Dann schieben sie die aufgedröselten Seilfasern zusammen, wobei sie auf eine gute Vermischung von links und rechts achten, und drehen sie zum Seil.

15Sie

4.15  Schlittenfahrende Enzymkomplexe

129

kombinierten Operation gleichzeitig und sozusagen am selben Ort die Schleife herausgeschnitten wird und die Schnittstellen miteinander verbunden werden. Dass logischerweise dabei ein 5′-Ende des Exons an ein 3′-Ende des benachbarten Exons anknüpft, erleichtert die Operation und macht sie ziemlich narrensicher. Nutzlose Informationsabschnitte erkennen die Enzyme an typischen Basensequenzen, die an ihrem Anfang und am Ende auftreten. Dass es vorteilhaft ist, die Erbinformation zu entschlacken, leuchtet natürlich ein. Die Prokaryonten haben diesen Schritt bis heute noch nicht richtig gelernt. Das ist vielleicht mit ein Grund, warum primitive Einzeller und Viren so rasch gegen bestimmte Gifte oder ­Arzneimittel resistent werden. Alles erledigt? Immer noch nicht ganz. Das reifere mRNA-Molekül erhält schon früh noch am 5′-Ende eine Tarnkappe in Form einer leicht veränderten ­Guanin-Base, die über ein Triphosphatmolekül esterartig angebunden wird und am 3′-Ende einen Schwanz mit mehreren Adeninmolekülen. Erstere hilft beim Durchschlüpfen der Zellkernmembran auf dem Weg ins Cytoplasma, letzterer kommt in verschiedenen Varianten vor und bestimmt anscheinend die Lebensdauer des mRNA-Moleküls. Fertig! Jetzt endlich schlüpft das mRNA-Molekül durch die Zellkernmembran und gelangt in das Cytoplasma. Treibende Kraft ist wieder der Konzentrationsunterschied, der eingeebnet werden soll, wie es der zweite Hauptsatz der Wärmelehre verlangt, denn im Zellkern ist die mRNA-Konzentration hoch, im Cytoplasma niedrig. Dieser Unterschied muss verringert werden! Im Zellsaft angekommen, erledigt es seine Aufgabe, als Botengänger die Erbinformation weiterzureichen. Und das heißt, dort die Basenabfolge als Bauanleitung für ein Eiweißmolekül zur Verfügung zu stellen. Natürlich gibt es einen kleinen Unterschied, weil die mRNA überall statt Thymin Uracil eingebaut hat, und einen noch kleineren, weil die Ribose eine OH-Gruppe mehr hat als die Desoxyribose. Aber das hindert sie nicht, ihre Aufgabe als Botengänger anzugehen. Jetzt muss sie dringend ein Ribosom ­ suchen! Und was ist das nun wieder?

4.15 Schlittenfahrende Enzymkomplexe Ribosome sind Komplexe aus Proteinmolekülen und Ribonukleinsäure. Und zwar mit einer besonderen RNA: sie heißt „rRNA“16, weil sie sich von der mRNA und von der uns nachher begegnenden tRNA unterscheidet. Ihre Moleküle haben Kettenlängen von 1200 bis gut 3700 Nukleotiden, werden in drei Hauptklassen eingeteilt und haben Aufgaben bei der Translation wahrzunehmen. Sie sind bei weitem die häufigste Art von RNA – man sagt, sie stellten 75 bis 80 % der ­gesamten RNA-Masse in einer Zelle. Die weiter unten auftretende tRNA stellt etwa 15 %, die uns bereits wohlbekannte mRNA den spärlichen Rest.

16r

von „ribosomale RNA“.

130

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

Ribosome haben einen Durchmesser von etwa 20 nm (oder 20 Millionstel Millimeter) und eine Molmasse von 3 600 000.17 Und sind abermals Enzymkomplexe, die auf einer Molekülkette wie auf einer Schiene wandern können. Man kann sie dabei mithilfe eines Elektronenmikroskops beobachten, weil sie groß genug dafür sind. Sicher haben Sie schon erraten, dass sie als Schiene mit Vergnügen das Kettenmolekül unserer frisch angekommenen Boten-RNA benutzen.

4.16 Und jetzt: Die Translation In der Zellflüssigkeit haben Enzyme Vorarbeit geleistet. Sie haben nämlich aus frei in der Zellflüssigkeit herumschwimmenden Aminosäuremolekülen und „­Transfer-Ribonukleinsäure“-Molekülen Verbindungen geschaffen, die aus einer Aminosäure und einer „Transfer-RNA“ (abgekürzt tRNA) bestehen. Diese Vorarbeit stellt Abb. 4.9 dar. Die damit beschäftigten Enzyme heißen „Aminoacyl-tRNA-Synthetasen“. Hauptakteur ist wieder die RNA, hier aber in einer neuen Aufmachung und einer neuen Rolle. Die tRNA-Moleküle sind ­nämlich kurz (sie bestehen aus etwa 80 Nukleotiden) und haben eine entfernt kleeblattähnliche Sekundärstruktur. Ein gutes Stück hinter dem Kopfende des Moleküls bieten sie in einer Schleife eine Abfolge von drei Basen zu Paarungsreaktionen an. Die Aminoacyl-tRNA-Synthetase bindet nun die Aminosäure am Schwanzende der tRNA an, die zu dem „Anticodon“ am Kopfende passt. Wegen der Kleeblattstruktur liegen Kopf- und Schwanzende des tRNA-Moleküls ­einigermaßen nahe beieinander. Jede der 20 proteinbildenden Aminosäuren hat eine eigene, für andere Aminosäuren völlig unbrauchbare Aminoacyl-tRNA-Synthetase, aber alle arbeiten nach dem gleichen Verfahren. Es war zu erwarten, dass jetzt, nach erledigter Vorarbeit, die mit einer Aminosäure beladene Transfer-RNA sich dem Ribosom anvertraut und von diesem sachkundig weiter verarbeitet wird. Im Ribosom wird nämlich die Transfer-RNA mit ihrem Anticodon an die Stelle der mRNA gebunden, an der die Basenabfolge genau passt. Im Klartext heißt dies: Dort, wo die mRNA genau das Codon für die von der tRNA mitgebrachte ­Aminosäure vorzeigt. Jetzt ist das tRNA-Molekül am Ziel! Schleunigst lässt es hier seine Aminosäure los. Die ist damit an der richtigen Stelle des zukünftigen Proteinmoleküls angekommen und wird sofort mit enzymatischer Hilfe an eine hinter dem Ribosom wachsende Proteinkette angebaut. Geschafft! Das Ribosom wandert auf der Messenger-Ribonukleinsäure drei Basen weiter und die nächste Transfer-Ribonukleinsäure mit dem passenden Anticodon dockt an. Erneut lässt die Transfer-RNA mit dem passenden Anticodon ihr mitgebrachtes

17Zur Erinnerung und zum Vergleich: Wasser hat wegen der Formel H O und den Atomgewichten 2 1 für Wasserstoff und 16 für Sauerstoff die Molmasse 2 · 1 + 16 = 18. Man kann auch sagen: Ein Molekül Wasser hat die Masse von 18 Wasserstoffatomen, ein Ribosom demnach die Masse von 3 600 000 Wasserstoffatomen!

131

4.16  Und jetzt: Die Translation

A C C

+

A C C

Alanin

CGU

Alanin

CGU

Enzym: Eine Alanin-tRNA-Synthetase CGU: Anticodon des Alanins Abb. 4.9  t-RNA sucht Aminosäure

Aminosäuremolekül los und bewirkt so den Weiterbau der Proteinkette. Das ­Ribosom rückt abermals drei Basen weiter, lässt die t-RNA mit dem passenden Anticodon ihr segensreiches Werk tun ….. Sie sehen, so geht das immer weiter. Auch hier fahren mehrere Ribosome mit Sicherheitsabstand auf der m-RNA-Schiene hintereinander her und erzeugen jeweils eine eigene Proteinkette. Ganz wichtig: im entstehenden Proteinmolekül wird immer die nächste Aminosäure da eingebaut, wo die m-RNA das zugehörige Codon vorzeigt. Noch eine Besonderheit: Die Translation beginnt immer mit einem Methionin-Molekül an der Stelle, wo das Codon des Methionins auf der tRNA sitzt. Dieses Startcodon ist AUG, also die Basenabfolge Adenin-Uracil-Guanin. Das Startcodon hat also eine Doppelfunktion: Einerseits ist es das Signal für den Beginn der Translationsfahrt auf dem mRNA-Molekül, andererseits bewirkt es an dieser Stelle den Einbau der Aminosäure Methionin. Die Proteinkette löst sich von dem Ribosom ab, wenn das Ribosom an einem Haltesignal, also an einem Stopcodon ankommt. Dieses Stopcodon passt zu keiner der 20 proteinbildenden Aminosäuren, hat also wirklich nur eine Aufgabe, nämlich „Halt“ zu rufen. Fast hätten wir vergessen, was mit der tRNA nach dem Andocken ans Codon der mRNA und Loslassen ihrer Aminosäure passiert. Die Natur arbeitet hier wieder mit einem Kreislauf, denn das Ribosom klaubt die t-RNA wieder von der m-RNA-Kette ab und schickt sie in die Zellflüssigkeit zurück. Dort kann sie sich mithilfe der zu ihr passenden Aminoacyl-tRNA-Synthetase erneut mit ihrer Aminosäure beladen und zum Ribosom zurückkehren. Das Werken des Ribosoms zeigt Abb. 4.10. Den gesamten Vorgang nennen die Biochemiker „Translation“.

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

132

Peptidkette

Asp

Ala

Ribosom

CU

A

C GU GC A GAU

Peptidkette Ala

Asp

Ribosom

CG

U G

C UA GAU A C

Abb. 4.10  Was alles im Ribosom passiert

Ihnen als scharfsinnigem Leser sind natürlich einige Tatsachen nicht verborgen geblieben. Sie haben sicher bemerkt (und es wurde auch schon kurz erwähnt), dass die Aminoacyl-tRNA-Synthetase, welche die tRNA mit einem Aminosäuremolekül belädt, dies nicht wahllos tun darf, sondern immer das Anticodon am Kopfende des t-RNA-Moleküls sorgfältig mit der dazu passenden Aminosäure am Schwanzende kombinieren muss. Andernfalls kommt die falsche Aminosäure zum Einbau in die

4.17  Ein Abstecher in die Mathematik

133

Kette. Genau genommen sind also eigentlich die Synthetasen verantwortlich dafür, dass die Codonabfolge der m-RNA korrekt in eine Aminosäureabfolge des Eiweißmoleküls übersetzt wird. Deshalb hat jede Aminosäure ihr eigenes Enzym und ihr eigenes t-RNA-Molekül mit dem richtigen Anticodon für den Beladevorgang zur Verfügung. Für eine weitere auffällige Tatsache müssen wir ein wenig Mathematik bemühen, und zwar die Kombinatorik.

4.17 Ein Abstecher in die Mathematik Die Erbinformation ist in einem System von vier Basen entsprechend den vier Buchstaben A, T, G und C verschlüsselt. (Bei der RNA sind das die Buchstaben A, U, G und T wegen des kleinen Unterschieds). Drei nebeneinander eingebaute Basen bilden ein Codon, das den Befehl zum Einbau einer bestimmten Aminosäure gibt. Wie viele Codons sind dann überhaupt möglich? Die Kombinatorik lehrt uns, dass es 43 =  64 verschiedene Codons gibt. Geduldige Tüftler können das nachprüfen. Ungeduldigere Zweifler nehmen spaßeshalber an, es seien nur zwei Buchstaben für ein Codon erforderlich. In diesem Falle finden sie 42 = 16 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten, nämlich AA, AT, AG, AC, TA, GA, CA, TT, TG, TC, GT, CT, GG, GC, CG und CC. Jetzt glauben sie schon eher, dass Codons mit zwei Buchstaben 42 = 16 und solche mit 3 Buchstaben 43 = 64 Möglichkeiten bieten. 16 wären leider zu wenige für 20 Aminosäuren. Codons mit nur 2 Buchstaben sind also nicht geeignet und deshalb hat die Evolution auf Codons mit drei Buchstaben und 43 Möglichkeiten zurückgegriffen. Tab. 4.1  Codons von Start bis Stop Anzahl Aminosäure Methionin 1 Tryptophan 1 Tyrosin 2 Phenylalanin 2 Cystein 2 Asparagin 2 Asparaginsäure 2 Glutamin 2 Glutaminsäure 2 Histidin 2 Lysin 2 Isoleucin 3 Glycin 4 Alanin 4 Valin 4 Threonin 4 Prolin 4 Leucin 6 Serin 6 Arginin 6 keine Aminosäuren 3

Codon AUG (Startcodon) UGG UAU UAC UUU UUC UGU UGC AAU AAC GAU GAC CAA CAG GAA GAG CAU CAC AAA AAG AUU AUC AUA GGU GGC GGA GGG GCU GCC GCA GCG GUU GUC GUA GUG ACU ACC ACA ACG CCU CCC CCA CCG CUU CUC CUA CUG UUA UUG UCU UCC UCA UCG AGU AGC CGU CGC CGA CGG AGA AGG UAA UAG UGA (Stopcodon)

134

4  Vierter Ausflug: Zu verschlüsselten Botschaften

Aber 64 sind zu viele! Was tun? Die Mathematik erlaubt keine Zwischenlösung. Selbst wenn wir von den 64 möglichen Codons noch die drei Stop-Codons abziehen, die es gibt, bleiben immer noch 61 Codons für 20 Aminosäuren. Und die werden auch alle benutzt. Viele Aminosäuren haben also 2 oder mehr Codons, die inzwischen natürlich ausnahmslos bekannt sind. Das ist vorteilhaft, weil die Aminoacyl-tRNA-Synthetase beim Beladungsvorgang für eine solche einzubauende Aminosäure leichter ein t-RNA-Molekül mit passendem Anticodon findet und weil weniger Fehler passieren. Ein Verzeichnis der Codons und ihre Zuordnung zu den Aminosäuren finden Sie in der Tab. 4.1.

4.18 Datensicherheit für die Erbinformation Den sparsamen Lesern fällt natürlich die ungeheure Verschwendung von ­Ressourcen auf, die beim Weitergeben der Erbinformation mit der DNA herrscht. Wäre es nicht einfacher, fragen sie, wenn die DNA ähnlich wie die RNA in der Zellflüssigkeit schalten und walten könnte, wo doch ohnehin die Biosynthese der Proteine stattfindet? Die mRNA könnte sich dann den mühsamen Weg aus dem Zellkern in das Cytoplasma sparen. Ja, die mRNA wäre dann sowieso ü­ berflüssig, und es würde genügen, dass die Aminoacyl-tRNA-Synthetase mit dem ­richtigen Anticodon die richtige Aminosäure für den Einbau ins Proteinmolekül ­beibringt – auch so würde die richtige Proteinkette entstehen. Und wozu überhaupt die Doppel­ wendel der DNA? Nur der Schönheit wegen, wie Leonardo da Vincis Doppeltreppe in Chambord? Eine Einzelwendel hätte doch Vorteile! Abermals bräuchte man überhaupt keine und erst recht keine RNA-Polymerase, sondern könnte die Ribosome direkt auf der DNA-Kette wandern und Codons ablesen lassen. Kurzum, die Weitergabe der Erbinformation ist unnötig kompliziert, so urteilen sie, und deshalb auch unnötig schwierig zu begreifen. Die Evolution lässt einen sparsamen Umgang mit ihren Ressourcen vermissen. Zweifellos könnte ein dergestalt vereinfachtes Vorgehen funktionieren – ­allerdings wären Ablesefehler viel häufiger und mit jedem Fehler ginge ein Teil der Erbinformation unwiederbringlich verloren. Ganz abgesehen davon, dass die so entstehenden Mutationen gefährlich oder im Gegenteil ganz lebensuntüchtig sein könnten. Die Doppelwendel hat Ersatz für eventuell verloren gegangene Information und damit die Möglichkeit, schadhafte Information zu reparieren. Sie ist im Zellkern sicher aufbewahrt und lässt wie ein Museum nur Kopien nach draußen kommen. Dort im Zellkern gelingt natürlich auch die Teilung der Chromosomenpaare, auf denen die Doppelwendeln sitzen, zuverlässiger als im Cytoplasma. Und schließlich ist die Doppelwendel für die Basenpaare eine genau angepasste „Wohnhöhle“: Wasserstoffbrücken entstehen nur zwischen den kleinen Sechsringmolekülen (T und C) einerseits und den großen Doppelringmolekülen (A und G) andererseits. Groß + groß passt nicht in die Röhre, klein + klein ergibt in der Mitte eine Lücke, welche die Wasserstoffbrücken nicht überspannen können. Verwechslungen werden dadurch sehr unwahrscheinlich, so gut wie ausgeschlossen, Mutationen selten. Sie sehen, dass die Datensicherheit in der Evolution einen hohen Stellenwert genießt. Notwendigerweise!

4.19  Jetzt ist Ausruhen angesagt

135

4.19 Jetzt ist Ausruhen angesagt Etwas außer Atem sind wir hier am Ziel unseres vierten Ausflugs angekommen. An seinem Anfang bewunderten wir erstaunliche Vererbungsvorgänge – bei Pflanzen, Menschen und Tieren. Sie führten uns zu der Überzeugung, dass hier Information von Generation zu Generation mit erstaunlicher Zuverlässigkeit, aber auch geheimnisvoll verschlüsselt weitergereicht wird. Mikroskopische Studien und die Erkenntnisse längst verstorbener Forscher wiesen immer deutlicher die DNA, eine Substanz aus den Zellkernen der eukaryotischen Lebewesen, als Informationsträger aus. Wir erlebten den spannenden Wettlauf der Tüchtigsten zu ihrer Strukturaufklärung und den überraschenden Sieg eines nicht allzu sehr von Skrupeln geplagten Außenseiterteams. Wer hätte auch gedacht, dass die Erbinformation in den Sprossen einer zur Doppelwendel verdrillten Leiter verborgen ist und mit vier Buchstaben auskommt? Von da ging es weiter zur Aufklärung des menschlichen Genoms – einer ­wahren Bibliothek von Rechenergebnissen und Computerdaten. Doch auch da war uns nur eine kurze Rast vergönnt. Hartnäckig erkundeten wir dann den Weg, den die Information beschreitet, wenn sich die Zellen eines Lebewesens teilen. Keineswegs einfacher war die Methode, mit der die Erbinformation zum Einbau von Aminosäuren in Eiweißmoleküle führt. Bewundernd folgten wir beweglichen Enzymkomplexen bei ihrer Schlittenfahrt auf der Schiene eines Botenmoleküls und erkannten schließlich, mit welchem Code eine rätselhafte Basenabfolge in den Klartext eines bestimmten Proteins übersetzt wird. Wir lernten, dass der Weg dahin von Heerscharen an Enzymen geebnet wird. Das soll uns ermuntern, jetzt der Frage nachzugehen, was ein Enzym eigentlich ist und was es kann. Was die DNA und ihre kleinere Schwester RNA kann, haben wir gelernt. Was die beiden nicht können, wollen wir am Ende dieses anstrengenden Ausflugs mit ein paar Zahlen ermitteln. Wir haben gelernt, dass das menschliche Genom 3,4 Mrd. Basenpaare enthält. Optimisten erhofften sich von seiner Aufklärung rasche und riesige Fortschritte in der Genforschung – das Ende von Erbkrankheiten, die Erzeugung neuer Nutzpflanzen und Nutztiere, vielleicht sogar die gezielte Züchtung besserer Menschen durch Eingriffe in die Keimbahn… Die Entdeckung der CRISPR-Methode im Jahr 2014, einer Art Gen-Schere, die es erlaubt, mit unglaublicher Genauigkeit unerwünschte Abschnitte eines Gens herauszuschneiden oder erwünschte einzusetzen, hat die Euphorie nochmals verstärkt. Dennoch ist Ernüchterung angebracht. Heute wissen wir, dass viele entscheidende Vorgänge nicht im Genom stattfinden, sondern durch Eiweißmoleküle verursacht werden. Die Beziehungen zwischen dem Genom (der Gesamtheit aller Gene) und dem Proteom (der Gesamtheit aller zugehörigen Proteine) sind keineswegs einfach. Und es gibt unvorstellbar viele verschiedene Proteinmoleküle. Mathematiker sagen, dass die 20 proteinbildenden Aminosäuren 10260 unterschiedliche Eiweißmoleküle bilden können, immer vorausgesetzt, dass die Polypeptide aus nicht mehr als 200 Aminosäuremolekülen bestehen. Mit anderen Worten: Ein Feld haben wir beackert – ein Kontinent harrt noch der Bearbeitung. Tief durchatmen!

5

Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

Es ist nicht für jedermann ein Paradies, in das uns dieser Ausflug führt. Es ist aber ein Wunderland für alle, die organische Chemie kennengelernt haben. Denn sie sind an langsame Reaktionen gewöhnt, die häufig unvollständig bleiben, weil sie in einem frustrierenden Gleichgewicht verharren. Teerartige Schmieren oder pechähnliche Festkörper treten als unerfreuliche Nebenprodukte auf, bisweilen zehren hohe Reaktionsdrücke und/oder hohe Temperaturen an der Rentabilität. Manche Reaktionen laufen nur mit beständigem Erhitzen – andere sind selbst dann zu langsam. Nicht immer hilft ein Katalysator, sie zu beschleunigen – viele Wunschreaktionen sind schlicht unmöglich. Oder sie sind zu schnell, neigen zur Explosion! Wieder andere führen zu Nebenprodukten, für welche die kaufmännische Abteilung vergeblich Abnehmer sucht, oder – noch schlimmer – die nur mit hohen Kosten abzutrennen sind. Dazu vielleicht feuergefährliche Lösungsmittel, die man hinterher aufwendig und aus Umweltschutzgründen vollständig zurückgewinnen muss… Und das ist nur ein kleiner Auszug aus dem langen Katalog von Frustrationen, welchen die organische Chemie für den fleißigen Forscher bereithält. Da reibt er sich die Augen, wenn ihn der Kollege aus der Biochemie in sein Reich führt. Zielgenau laufende Reaktionen, „physiologische“ Bedingungen, also gemäßigte Temperaturen und kein erhöhter Druck, Wasser als Lösungsmittel, pH-Wert nahe bei 7, Ausbeuten in der Nähe von traumhaften 100 % – verblüffend hohe Reaktionsgeschwindigkeiten scheinen den Alltag des beneidenswerten Kollegen zu bestimmen. Und das alles bewirken anscheinend immer biochemische Katalysatoren, „Enzyme“. Ja, mehr noch – viele der Reaktionen, die sich den Bemühungen des Organikers so hartnäckig entziehen, laufen mithilfe von Enzymen wie durch ein Wunder glatt und von selbst. Enzyme katalysieren Redoxreaktionen, hydrolytische Spaltungen, übertragen funktionelle Gruppen, beschleunigen Additionsreaktionen, isomerisieren unerwartet Verbindungen oder verknüpfen Moleküle. Eine ziemlich umfangreiche und keineswegs vollständige Jobbeschreibung! Sie sind ganz offensichtlich vielseitige Fast-Alleskönner. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Neubauer, Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58859-8_5

137

138

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

Und die Biokatalysatoren tun ihre Pflicht meistens schon in geringen Mengen. Blanker Neid erfasst den Besucher angesichts der traumhaften Ausbeuten, muss er sich doch oft anstrengen und endlos experimentieren, damit seine anorganischen oder organischen Katalysatoren irgendwie mühsame 70 oder 80 % erreichen. Dass der Biokatalysator ähnlich wie sein gewöhnlicher Bruder aus der von ihm beschleunigten Reaktion unversehrt und erneut brauchbar hervorgeht, hat der Organiker zwar aus eigener Erfahrung erwartet, verstärkt aber natürlich seine Neidgefühle. Und dass Enzyme, die dem Biochemiker die Kassen füllen, sogar im Handel erhältlich sind, hebt erst recht nicht seine Stimmung. Kurzum: das Enzym feiert Siege auf der ganzen Linie, weckt lebhafte Zweifel an seiner Berufswahl, erregt allerdings auch seine Neugier. Wir wollen uns ihm anschließen, wenn er sich jetzt aus berufenem Mund über sie aufklären lässt.

5.1 Enzyme arbeiten zielgenau Das Stichwort „Zielgenauigkeit“ führt uns zu einer weiteren verblüffenden Eigenheit der Enzyme. Viele von ihnen eignen sich nämlich nur für eine einzige Reaktion und passen zu dieser wie ein Schlüssel zum Schloss, ganz anders als die Katalysatoren der anorganischen oder der organischen Chemie, die oft eine erstaunliche Vielseitigkeit vorweisen. Dort gibt es doch typische Hydrierkatalysatoren wie zum Beispiel das Platin oder das fein verteilte Nickel, viele Reaktionen werden durch Wasserstoff-Ionen oder durch Hydroxid-Ionen beschleunigt. Auch das Wasser ist ein vielseitiger Katalysator, denn ohne jede Spur von Wasser gehen manche Reaktionen überhaupt nicht oder unglaublich langsam. Bei den Enzymen ist es dagegen eher die Ausnahme, wenn eines mehrere Reaktionen katalysiert. Man kann jedem Enzym ein „Substrat“ zuordnen. Das ist nichts anderes als die Substanz, die durch das Enzym so verändert wird, dass sie die für das Enzym typische Reaktion eingeht. Anschauliches Beispiel: Die Entstehung von Fruktose-6-phosphat aus Glukose-6-phosphat wird durch das Enzym Phosphoglukose-Isomerase katalysiert. Das Substrat ist in diesem Falle das Glukose6-phosphat (Abb. 2.3). Und das führt uns nun unvermeidbar zu der Frage, wie es die Enzyme überhaupt bewerkstelligen, so zielgenau eine bestimmte Reaktion des Substrats so ungeheuer stark zu beschleunigen. Man kann sich vorstellen, dass das Enzym mit dem Substrat vorübergehend eine Bindung eingeht. Der so entstehende Komplex aus Enzym und Substrat ist dann vielleicht reaktionsfähiger als das Substrat allein. Weil das Enzym zum Substrat passt wie der Schlüssel zum Schloss, nimmt man auch an, dass Enzym und Substrat räumlich oder chemisch gut zusammenpassen, etwa so, wie das Abb. 5.1a schematisiert zeigt. Diese schlichte Vorstellung erklärt allerdings nicht so recht, warum der neu entstandene Komplex leichter weiterreagiert als das Substrat selbst – ist er doch vermutlich äußerst stabil! Die Schwierigkeit verschwindet mit den Annahmen der

5.2  Auf den richtigen pH-Wert kommt es an Abb. 5.1  Schlüssel, Schloss und induzierte Passform

139

a

b Substrat Enzym

EnzymSubstratKomplex

„Induzierten Passform-Theorie“. Hier passen Enzym und Substrat einer Reaktion erst zusammen, wenn sie sich einander angepasst haben. Die Anpassung kann für das Enzym oder für das Substrat oder für beide notwendig sein. Das Endergebnis sieht äußerlich wie in Abb. 5.1a aus, ist aber sozusagen wegen innerer Spannungen reaktionsfähiger als seine Komponenten. Die Angelsachsen nennen das „Induced-fit-theory“. Sie stammt von dem US-Amerikaner Daniel Koshland und erklärt auch mühelos, warum manche Enzyme mehr als eine Reaktion beschleunigen können: offensichtlich passen sie sich mehr als einem Substrat an. Ihre Nachgiebigkeit macht sie vielseitiger als die Unnachgiebigen, nach deren starrem „Schlüssel- und Schlossprinzip“ immer nur ein Substrat zu einem Enzym passt. Wir fragen uns natürlich, welcher Art die Bindung zwischen Substrat und Enzym ist. Die Antwort lautet: Alles ist möglich. Es können kovalente Bindungen auftreten, aber auch Ionenbindungen. Darüber hinaus spielen oft Wasserstoffbrücken oder Nebenvalenzbindungen eine bindende Rolle, oder auch räumliche Behinderungen und Begünstigungen, Abstoßungskräfte, wie wir sie zwischen Fett und Wasser beobachten, oder Anziehungskräfte elektrostatischer Art wie die zwischen Wasser und Salz1 oder Wasser und Alkohol.

5.2 Auf den richtigen pH-Wert kommt es an Unsere Abb. 5.2 zeigt eine Art Ionenbindung zwischen einem positiv geladenen Substrat und einem Enzym mit einer negativ geladenen „prosthetischen Gruppe“ (so nennt man die reagierende Atomgruppe des Enzyms). Wenn wir annehmen, dass dies die wesentliche Bindung zwischen beiden Reaktionsteilnehmern ist, dann wird ein Angebot an Hydroxid-Ionen das Substrat neutralisieren und dadurch die Reaktion behindern. Ein Angebot an Wasserstoff-Ionen wird umgekehrt das

1Wenn man eine konzentrierte Lösung von Kochsalz in Wasser herstellt, tritt ein Volumenschwund ein, weil sich Wassermoleküle an Natrium- und Chlorionen anlagern. Ein ähnlicher Effekt tritt auf, wenn man Alkohol mit Wasser mischt. Siehe „Demokrit lässt grüßen“ S. 119– 120.

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

140 Abb. 5.2  Hemmungen

Substrat mit positiv geladener Andockstelle Enzym mit negativ geladener Bindungsstelle

Komplex

O H

Substrat durch OH–-Ion blockiert

H+ Enzym durch H+ -Ion blockiert

Enzym neutralisieren und damit seine katalytische Wirksamkeit beeinträchtigen. Mit anderen Worten: das Enzym wird nur in neutralen Lösungen effizient arbeiten können, wenn weder Laugen noch Säuren in nennenswerter Konzentration vorhanden sind – also nur beim pH-Wert 7 oder in seiner Nähe. Unser einfaches Beispiel erklärt sehr schön, warum Enzyme oft die Einhaltung eines bestimmten pH-Werts erfordern. So hat menschliches Blut einen pH-Wert von 7,4, der mithilfe eines Kohlensäure-Hydrogencarbonat-Puffers eingehalten wird. Ein wesentliches Über- oder Unterschreiten dieses Werts kann tödlich enden,2 weil es lebenswichtige Enzyme blockiert. So führt zum Beispiel die Übersäuerung des Blutes durch das Abbauprodukt Ameisensäure bei einer Methanolvergiftung zu Erblindung und Tod.

2Zu

Puffergemischen siehe „Demokrit“ S. 191–193.

5.3  Ein Blick in die Werkstatt

141

5.3 Ein Blick in die Werkstatt Aber ehrgeizig und wissensdurstig wie wir sind, genügt uns dieses Beispiel einer Hemmung nicht. Wir begehren Einblick in die Werkstatt eines Enzyms und wollen sehen, wie dieses eine interessante Reaktion beschleunigt. Als Reaktionstyp wählen wir eine Spaltungsreaktion, bei welcher das Substrat in zwei (ungleiche) Hälften zerrissen wird. Ein Beispiel haben wir beim Zerfall des Fruktose-1,6-bisphosphats zu Glycerin-3-phosphat und Dihydroxyacetonphosphat kennengelernt (Abb. 2.5). Das dafür zuständige Enzym hieß „Aldolase“. Wie könnte wohl die Aldolase eine solche Reaktion bewirken? Wenn wir nun zur Abb. 5.1b zurückblättern, drängt sich uns eine Idee auf. Dort haben wir dargestellt, wie nach dem Prinzip der induzierten Passform aus einem modifizierten Enzym und dem Substrat ein reaktionsfähiger Komplex entsteht. Wir waren uns einig, dass dieser innere Spannungen auszuhalten hat. Solche kommen vielleicht zustande, weil das Enzym das Substrat an dafür geeigneten Atomgruppen, wahrscheinlich den Phosphatgruppen, packt und dann auseinanderzieht. Dieses Anpacken verändert aber nicht nur die Form des Substratmoleküls, sondern auch das anpackende Enzym. Vielleicht bringt es Molekülgruppen zusammen, die sich gegenseitig kräftig anziehen, aber bisher zu weit voneinander entfernt waren, um von dieser Anziehungskraft etwas zu merken. Oder Atomgruppen, die bisher zu weit entfernt waren, um mit anzupacken, geraten jetzt in die Nähe des Substratmoleküls und wirken beim Zerren an ihm mit. Durch das Anpacken werden also im Enzym zusätzliche Kräfte wirksam, die das gepackte Substrat noch stärker auseinanderziehen, und schließlich so weit, dass es zerreißt. In unserem Falle behält jeder Phosphatrest drei Kohlenstoffatome für sich, es entsteht einerseits Glycerinaldehyd-3-phosphat und andererseits Dihydroxyacetonphosphat. Das Zerreißen hätten wir damit plausibel erklärt, aber wie geht es weiter? Die zusätzlichen starken Kräfte im Enzym haben ihr Ziel erreicht. Durch das Zerreißen des Substrats ist eine neue Situation eingetreten. Das Enzym hält jetzt nur noch zwei Bruchstücke fest. Das Festhalten oder Anpacken ist schwieriger geworden, denn die Bruchstücke, so können wir uns vorstellen, zappeln mehr an der Bindungsstelle herum als dies das schwerfällige, an mindestens zwei Stellen festgehaltene Substratmolekül tun konnte. Das Zappeln wird sehr schnell so stark, dass das Enzym loslassen muss. Die Bruchstücke entfernen sich schleunigst aus dem Kerker des Enzyms. Dieses hat nichts mehr zum Anpacken. Es kehrt in den Anfangszustand zurück und entspannt sich auch innerlich. Die Atomgruppen, die durch das Anpacken so nahe gekommen sind, dass ihre Anziehungskräfte verstärkend wirksam wurden, streben wieder auf ihre ursprünglichen Plätze in größerer Entfernung zurück und dadurch werden auch diese Anziehungskräfte unwirksam. Das Enzym ist jetzt erneut bereit, ein Molekül Substrat einzufangen und zu zerbrechen. Das Spiel kann also neu beginnen! Klar ist, dass die Vorgänge, die wir hier so breit geschildert haben, mit ungeheurer Geschwindigkeit und äußerst zielgenau hintereinander her ablaufen, sobald überhaupt erst einmal ein Molekül Substrat zum Enzym geschwommen

142

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

(„diffundiert“) ist. Plausibel wird außerdem, dass bei solchen Vorgängen asymmetrische Kohlenstoffatome im Substrat unverändert erhalten bleiben, wenn sie nicht unmittelbar vom Zerreißen betroffen sind.3 Das deckt sich gut mit experimentellen Beobachtungen und bestärkt unser Gefühl, im Großen und Ganzen die Vorgänge richtig beschrieben zu haben.

5.4 Das Enzym als Ordnungskraft Was uns nun noch fehlt, ist ein Mechanismus, der uns anstelle einer Zersetzung eine Synthese verstehen lässt. Hilfreich ist dabei eine kleine Abschweifung, die zeigt, wie wichtig es sein kann, zueinander passende Reaktionszentren einander anzunähern. Denn es ist klar, dass bei komplizierteren Molekülen die reaktive Gruppe nicht immer ganz leicht zu finden ist – sie sitzt irgendwo und ein möglicher Reaktionspartner trifft sie keineswegs sicher und sofort, wenn auch er unübersichtlich gebaut ist und seine zugehörige reaktive Gruppe ziemlich versteckt trägt. Dann bleibt das Zusammentreffen der beiden Reaktanten oft unfruchtbar, es findet kaum Reaktion statt. Wenn es das Enzym fertigbringt, die Moleküle so aneinander zu schmiegen, dass sich die reaktiven Zentren ganz nahe kommen, dann wird die vorher träge Reaktion vermutlich ungeheuer beschleunigt. Doch diese Theorie sollten wir durch ein paar solide Versuchsergebnisse untermauern. Wir betrachten dazu eine Ringschlussreaktion, und zwar die Bildung eines cyclischen Dicarbonsäureanhydrids aus einem Dicarbonsäuremonoester. Sie gelingt auch ohne die Mithilfe eines Enzyms. Aber der Ringschluss verläuft umso schneller, je leichter die freie Carboxylgruppe CO–O− der Abb. 5.3 an die veresterte Carboxylgruppe herankommt oder herangeführt wird. Das Molekül A hat zwischen den beiden reagierenden Atomgruppen eine Kette von vier C–C-Einfachbindungen, die alle freie Drehbarkeit zulassen. Die Kette -CH2–CH2–CH2–CO–O− kann sich deshalb wie ein Katzenschwanz verbiegen und dem entsprechend kommen sich die beiden Reaktionsgruppen ziemlich selten nahe. Die Ringschlussreaktion verläuft also recht langsam. Wir geben der Reaktionsgeschwindigkeit willkürlich den Wert 1. Das Molekül B, ein Bernsteinsäuremonoester, ist ganz ähnlich gebaut, hat aber nur drei Bindungen mit freier Drehbarkeit. Die Kette ist also um ein Glied kürzer und weniger beweglich. Die reaktionsfähigen Gruppen kommen sich leichter nahe – tatsächlich reagiert B sage und schreibe 230-mal schneller als das Molekül A zum zyklischen Anhydrid. Wenn man die Rotationsmöglichkeiten der Kettenglieder weiter einschränkt, indem man eine C=C-Doppelbindung einbaut, wie das beim Molekül C (einem Maleinsäuremonoester) der Fall ist, steigt die Geschwindigkeit der Ringschlussreaktion nochmals um den Faktor 44. Und eine abermalige Steigerung um den

3Die

Katalysatoren der anorganischen und der organischen Chemie erzeugen dagegen fast immer „racemische Gemische“ aus gleichen Teilen der optisch aktiven Isomere.

5.4  Das Enzym als Ordnungskraft

143

O

O

C O R C

X

C R

O–

O

O +

–O

X

C O

Reaktionsgleichung

CH 2 R = H 2C

H 2C

O

1

C

H 2C CH 2

O

Reaktionsgeschwindigkeit

C

H 2C

O O

R =

H 2C

H 2C

H 2C

H 2C

C

O

230

C O

H R = H

O C

120°

HC

C

120°

HC

C 10 100

O C O O

R =

109,5° 109,5°

C

O

53 000

C O

Abb. 5.3  Nähe macht Bindung leichter

Faktor 5,2 gelingt, wenn man die Bindungswinkel an beiden Seiten der Doppelbindung, die aus geometrischen Gründen je 120° betragen, mit Einsatz des Moleküls D auf 109,5° absenkt. Dieser Winkel ist typisch für einen ebenen Fünfring aus vier Kohlenstoffatomen und einem Sauerstoffatom, wie er in unserem Dicarbonsäureanhydrid vorliegt. D reagiert also sage und schreibe 230 · 44 · 5,2 = 52624-mal schneller als A! Diese Versuchsreihe des Nordamerikaners Daniel Koshland4 zeigt, welche Steigerungen der Reaktionsgeschwindigkeit möglich sind, wenn ein Enzym das Substrat oder die Substrate so festhalten kann, dass ihre reaktiven Atomgruppen aneinander stoßen oder leicht zusammenfinden. Schon in der Ursuppe war das Prinzip des gezielten Aneinanderreihens von Reaktionspartnern wirksam: bei der „autokatalytischen“ Vermehrung von Oligopeptiden haben wir es kennengelernt.

4Daniel

E. Koshland (1920–2007) wurde als Sohn jüdischer Eltern in New York geboren und starb in Kalifornien. Er ist auch der Vater der oben erwähnten „Induced-fit-Theory“.

144

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

5.5 Enzyme verknüpfen Reaktionen miteinander Glutaminsäure kann man mit Ammoniak neutralisieren. Es entsteht ein Ammoniumsalz, das Ammoniumglutamat. Mit Papier und Bleistift kann man eine Reaktion formulieren, bei der aus diesem Ammoniumsalz durch Wasserabspaltung Glutamin entsteht (Abb. 5.4). Wir stellen deshalb eine Lösung von Ammoniumglutamat her und hoffen auf die spontane Entstehung von Glutamin. Eine Enttäuschung erwartet uns! Die Reaktion findet unter physiologischen Bedingungen nicht statt. Wie uns die Physikochemiker erklären, liegt das daran, dass die Reaktionsprodukte Wasser und Glutamin zusammen mehr innere Energie (oder genauer Enthalpie5) enthalten als das Ausgangsprodukt Ammoniumglutamat. Primitiver, aber anschaulich ausgedrückt, stehen die Reaktionsprodukte höher auf der Energieleiter als das Ausgangsprodukt, man muss also hochsteigen, um sie zu erreichen. Da kommt uns eine blendende Idee in den Sinn. Warum sollten wir nicht eine gehörige Portion unseres vielseitigen Energiespendermoleküls ATP hinzufügen? Es zerfällt ja, wie wir schon lange wissen, in ADP und Phosphat, und dabei wird Energie frei. Diese Energie wird dann ja wohl die Reaktion anschieben! Leider zeigt der Versuch, dass die Idee doch nicht so gut war wie erhofft. Denn tatsächlich bringt das Adenosintriphosphat Energie in das Gemisch ein, indem es mit Wasser zu ADP und Pi reagiert. Aber sie wird einfach als Wärmeenergie frei, die Temperatur der Lösung steigt etwas an, und das ist auch schon alles. Kein Glutamin in Sicht – nirgends. Die eine Reaktion schläft weiter, die andere weckt sie nicht auf. Wir bleiben hartnäckig kreativ und fügen nun ein Enzym hinzu. Aber welches? Wir entdecken eines mit dem verheißungsvollen Namen „Glutaminsynthetase“, und tatsächlich! Es erfüllt augenblicklich alle unsere Erwartungen. Die Reaktion kommt in Gang und ergibt sofort Glutamin. Unser Enzym hat also die beiden Teilreaktionen mit einander verknüpft, und zwar dadurch, dass es zunächst ein Zwischenprodukt aus ATP und Ammoniumglutamat herstellt. Das ist das Glutamylphosphat, ein gemischtes Anhydrid aus Glutaminsäure und Phosphorsäure. Zu seiner Herstellung wird das ATP verbraucht, es hat also vom ATP freie Energie aufgenommen und steht jetzt auf der Energieleiter über dem Glutamin. Kein Wunder, dass es mit Ammoniumionen spontan zerfällt – in Glutamin und Dihydrogenphosphat. Die zugehörigen Reaktionsgleichungen zeigt Abb. 5.4 ebenfalls. Das Enzym bringt es also fertig, immer dann, wenn ein Molekül Glutamylphosphat aus ATP und dem Glutamatmolekül entsteht, pünktlich und zuverlässig ein Ammonium-Ion bereitzustellen, das nun seinerseits mit dem neu entstandenen Glutamylphosphat weiterreagiert. Es kann dieses Dreiertreffen organisieren, weil es an seiner Oberfläche Bindungsmöglichkeiten für Glutamat-Ionen, Ammonium-Ionen

5Über

die Freiwilligkeit einer Reaktion siehe „Demokrit lässt grüßen“ S. 151–154.

145

5.5  Enzyme verknüpfen Reaktionen miteinander

+

COO –

H3N CH CH 2 CH 2 COO – + NH4 + +

COO –

H3N CH CH 2 CH 2 CO NH 2 + H 2 O Die Reaktion verläuft bei Anwesenheit von Glutaminsynthetase und ATP über Glutamylphosphat: O– R CO O P O – + ADP

R C O COO – + ATP

O Glutamylphosphat reagiert mit Ammoniumionen: O– R CO O P O

O– –

+ NH 4

O wobei +

+

R CO NH 2 + HO P OH O

COO –

R = H3N CH CH 2 CH 2

Abb. 5.4  Glutaminsynthese

und ATP ganz nahe beieinander aufweist. An sie koppeln sich die drei Reaktionsteilnehmer an – dadurch verändert sich auch das Proteinmolekül des Enzyms nach dem Prinzip der Induced-fit-theory und die beiden Teilreaktionen Phosphorylierung und Umsatz mit dem Ammonium-Ion werden ungeheuer beschleunigt. Daniel Koshland lässt mit seiner oben beschriebenen Versuchsreihe und seiner Induced-fittheory grüßen! Selbstverständlich ist die Glutaminsynthetase nicht das einzige Enzym, das mit solchen nahe beieinander liegenden Bindestellen arbeitet. Weil die Proteinmoleküle außer einer Sekundärstruktur (vielleicht wie bei der Wolle) meist noch eine Tertiärstruktur (ähnlich wie wir sie beim Myoglobin und beim Hämoglobin kennengelernt haben) aufweisen, kommen sich ziemlich unerwartet Aminosäuren mit ihren Seitengruppen nahe, die eigentlich in der Polypeptidkette weit voneinander entfernt sind. Dies ist zum Beispiel der Fall beim Trypsin, einem Enzym, das in einer inaktiven Vorform, dem Proenzym oder Zymogen, in der Bauchspeicheldrüse gebildet und dann im Dünndarm aktiviert wird.6 Es widmet sich der Aufgabe, die Proteine unserer Nahrung in Aminosäuren zu zerlegen und hat dafür zwei weitere Enzyme als Helfer. Alle drei sind ähnlich

6Wenn die Bauchspeicheldrüse das Trypsin sofort in seiner aktiven Form herstellt, verdaut das Trypsin die Drüse. Deshalb also der Umweg über das Proenzym. Im Darm kann es keinen Schaden anrichten, weil dieser mit einer Schleimhaut ausgekleidet und dadurch geschützt ist. Den Schutz bewirken glykosidisch gebundene Zuckermoleküle.

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

146

gebaut und haben sich spezialisiert: Trypsin auf basische Aminosäurebausteine mit positiv geladenen Seitenketten R, zum Beispiel Arginin und Lysin, Chymotrypsin auf Aminosäuren mit großen unpolaren Seitenketten, also zum Beispiel Phenylalanin, und Elastase bevorzugt Aminosäuren mit kurzen Seitenketten, also zum Beispiel Alanin oder Serin. Alle drei haben ziemlich genau 245 Aminosäuren in der Kette. Im Folgenden betrachten wir die Polypeptidkette des Trypsins. Mithilfe von Disulfidbrücken und einer raffinierten Faltung sind sich die Aminosäuren mit den Nummern 42 und 58 besonders nahe (aber auch 23 mit 157, 144 mit 201, 168 mit 182, 131 mit 232 und 191 mit 220!). Ganz überraschend geraten dadurch die drei Aminosäuren His 57, Asp 102 und Ser 195 in derart enge Nachbarschaft, dass sie eine Art Reaktionszentrum bilden. Abb. 5.5 zeigt dies genauer, wenn auch immer noch schematisiert. Im Reaktionszentrum fühlt sich die CO–O−-Gruppe der Asparaginsäure ohne Wasserstoff-Ion besonders unwohl. In ihrer Not verstärkt sie eine bestehende Wasserstoffbrückenbindung zum Imidazol-Fünfring des benachbarten Histidins so lange, bis dieser das Wasserstoffatom hergibt. Er sieht sich natürlich nach Abb. 5.5  Das Reaktionszentrum des Trypsins

(245) NH CHR COOH

As

p1

02

Ser195 CH 2 O

C

O

O

CH 2

H



HN

N

H 2C

His57

C CHR (1) O

NH 2

(245) NH CHR COOH

As p1

02

Ser195 CH 2 O

C



OH

N

CH 2 O

H N

H 2C

His57

C CHR (1) O

NH 2

5.5  Enzyme verknüpfen Reaktionen miteinander

147

Ersatz um und findet ihn dadurch, dass er eine Wasserstoffbrückenbindung zum H-Atom der CH2–OH-Gruppe des benachbarten Serins verstärkt und dadurch das Wasserstoffatom an sich heranzieht. Wenn zwei sich streiten, freut sich der dritte! Das Wasserstoffatom benutzt das Gerangel zwischen den beiden, um sich davon zu machen – unter Zurücklassung eines Elektrons am Sauerstoff – kurzum, das Wasserstoffatom der OH-Gruppe des Serins wird als Proton abgespalten, ganz als ob die alkoholische OH-Gruppe eine Säure wäre! Was danach geschieht, ist auf der nächsten Abbildung dargestellt (Abb. 5.6). Das Proton wirft sich nämlich der >NH-Gruppe eines Substrats (sprich: eines Proteinmoleküls) an den Hals, genauer: es lagert sich vertrauensvoll an deren freies Elektronenpaar an, und ruiniert dadurch die zugehörige NH–CO-Bindung. Die geht natürlich zwischen N und C in die Brüche – einerseits entsteht eine NH2Gruppe und andererseits ein CO-Rest, dessen Kohlenstoffatom nur drei Valenzelektronen aufweist und deswegen positiv aufgeladen ist.

(245) NH CHR COOH

As

p1

02

Ser195 CH 2 O

C



OH

N

N



O

CH 2

HN HCR C O NH HCR

H+

H 2C

O

His57

Eine Substratkette nähert sich ...

C

C CHR (1) O

NH 2

(245) NH CHR COOH

As

p1

02

Ser195 H 2C O

CH 2 O

C

OH

N

H 2C

His57

Abb. 5.6  Spaltung des Substrats

N





HN HCR O +C H NH HCR O

... wird gespalten ... ... und teilweise an Ser195 gebunden.

C

C CHR (1) O

NH 2

148

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

In seine schmerzliche Elektronenlücke passt wunderbar ein Elektron der verwaisten CH2–O−-Gruppe des Serins, die das entwichene Proton zurückgelassen hat. Die so entstandene Acylverbindung zerfällt allerdings, sobald sich ein Wassermolekül nähert. Es dissoziiert zu H+ und OH− und bringt so einerseits das Wasserstoff-Ion herbei, welches für die Wiederherstellung der CH2–OH-Gruppe des Serins benötigt wird, und andererseits das OH−-Ion, das dem unzufriedenen Kohlenstoffatom des Substratbruchstücks für die Ausbildung einer schön stabilen CO–OH-Atomgruppe und zum Ausgleich der positiven Ladung fehlt (Abb. 5.7). Gesamtbilanz: Das Substratmolekül wurde an einer HN–CO-Bindung gespalten, die >NH-Gruppe wurde zur NH2-Gruppe am Anfang eines neuen, kürzeren Polypeptids und aus der >CO-Gruppe wurde das CO–OH-Ende des anderen Polypeptid-Bruchstücks. Durch die besänftigende Wirkung des Wassermoleküls haben die drei Aminosäuren des Reaktionszentrums nun Gelegenheit, zur Ausgangslage zurückzukehren und das Spiel kann neu beginnen.

5.6 Enzyme wirken spezifisch Das eigentlich wirksame Spaltungsreagens ist überraschenderweise ein schlichtes Proton, das über einen ziemlich komplizierten Elektronenmechanismus mit der zugehörigen Abwanderung eines Wasserstoff-Ions aus der CH2–OH-Gruppe des Serins entsteht und sich an das freie Elektronenpaar einer >NH-Gruppe des Substrats anlagert. Etwas verwundert fragen Sie sich, warum die Evolution einen derartigen Aufwand entwickelt hat, um dieses Wasserstoff-Ion zu erzeugen. Wäre es nicht einfacher, so fragen Sie mit Recht weiter, ein Proton aus einer Säure – vielleicht Essigsäure? – für diese einfache katalytische Aufgabe einzusetzen? In der Tat! Es wäre einfacher – ginge aber ohne den Biokatalysator Trypsin, allein mit dem Proton, erheblich langsamer. Um brauchbare Reaktionsgeschwindigkeiten zu erzielen, müsste die Temperatur angehoben werden und zwar so weit, dass die Protonen anderweitige Schäden anrichten können. Dadurch ginge die Spezifizität zum Teufel, die ja unserem Enzym eigen ist und die es befähigt, nur NH–CO-Bindungen anzugreifen, und alle übrigen Bindungen intakt zu lassen. Und gerade bei den NH–CO-Bindungen gibt es ja darüber hinaus die oben beschriebene Arbeitsteilung zwischen den drei Enzymen Chymotrypsin, Trypsin und Elastase. Klar, dass das Proton als einziger Katalysator derartiges keinesfalls zustande bringt. Aber wie gelingt die Spezialisierung den drei Enzymen? Das geschieht mithilfe von unterschiedlich gestalteten Taschen, die jedes Enzym durch intelligente Faltung seiner Polypeptidkette baut. Das Trypsin bildet eine tiefe schlanke Tasche mit einem negativ geladenen Taschenboden. Sie ist hervorragend geeignet, die positiv geladene lange Nebengruppe R von Arginin oder Lysin aufzunehmen und festzuhalten, bis die Spaltungsreaktion an dieser Aminosäure vollzogen ist. Die findet sozusagen am oberen Taschenrand statt.

5.6  Enzyme wirken spezifisch

149 (245) NH CHR COOH

As p1

02

Ser195 H 2C O

CH 2 O

C

OH

N

N

HN HCR C O

+ H OH Ein Wassermokekül nähert sich ...



H 2C

His57

C CHR (1) O

NH 2

... stellt die –CH2 OH-Gruppe des Serins wieder her ...

(245) NH CHR COOH

As

p1

02

Ser195 H 2C OH +

CH 2 O

C

OH

N

N

HN

HCR HO C O ... das zweite Substratbruchstück wird frei ...



H 2C

His57

C CHR (1) O

NH 2

(245) NH CHR COOH

As

p1

02

Ser195 CH 2 O

C

O

O H



HN

N

CH 2 ... und das Reaktionszentrum kehrt zufrieden in die Ausgangsstellung zurück.

H 2C

His57

Abb. 5.7  Zurück zum Anfang

C CHR (1) O

NH 2

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

150 Abb. 5.8  Eine Spezifitätstasche des Trypsins

NH

H C

O

H

C

C

NH

CH 2

R

C

Substrat

O

H 2C H 2C NH H 2N

C

+

NH 2

O– O C Asp

Das Chymotrypsin dagegen hat eine weite und ziemlich tiefe, elektrisch neutrale Tasche, die ideale Unterkunft für die voluminöse Seitenkette des Phenylalanins. Und die Elastase benutzt eine flache Mulde, die für die kurze Seitenkette von Alanin und Konsorten vollkommen ausreicht. Die Arbeitsteilung zwischen den drei Enzymen wird dabei nicht streng befolgt, sondern eher flexibel respektiert. Am wenigsten wählerisch ist natürlich die Elastase mit ihrer Reaktionsmulde. In Abb. 5.8 ist die Tasche des Trypsins samt Inhalt schematisch dargestellt.

5.7 Enzyme mit Hemmungen Solche Taschen können natürlich anstelle der Aminosäureseitenketten auch andere, ähnlich gebaute Moleküle oder Atomgruppen aufnehmen. Wenn das in großem Maßstab geschieht, wird die Aktivität des Enzyms naturgemäß gehemmt. Ist das fremde Molekül etwa ähnlich locker gebunden wie die Seitenkette des Substrats, so kann die Hemmung durch ein Überangebot an Substrat verhindert oder sogar rückgängig gemacht werden. Es besteht also eine Art Wettbewerb unter den beiden möglichen Taschenbenutzern, und die Biochemiker sprechen dann von „kompetitiver Hemmung“.7 Ein solches kompetitives Katalysatorgift ist das Benzidinium-Ion. Das Trypsin kann es nicht vom Lysin unterscheiden und nimmt es stattdessen ahnungslos in seine Tasche auf. In Abb. 5.9 ist das dargestellt. Sicher vermuten Sie bereits, dass ähnliche Vorgänge auch zur Regulierung von Enzymaktivitäten dienen können. Wird das Katalysatorgift jedoch in der Tasche für immer fest eingebaut, so spricht man von „nichtkompetitiver Hemmung“. Sie ist nicht umkehrbar, sondern ruiniert das betroffene Enzym endgültig. Ein Beispiel zeigt Abb. 5.10.

7Kompetitiv

hat den selben Wortstamm wie das englische „competition“ (= Wettbewerb).

5.8  Wir treffen alte Bekannte

151

Abb. 5.9  Kompetitive Hemmung

H 2N

C

+

NH 2

O– O C Asp

Abb. 5.10  Nicht kompetitive Hemmung

O– CH 3 CH O P O CH H3 C CH 3 F + H3 C

OH CH 2

– HF

O– CH 3 CH O P O CH H3 C CH 3 O H3 C

CH 2 Ser 195

Ser 195

Fehlt noch was? Ja, die Polypeptidkette, die gespalten werden soll, wird festgehalten, bis die Prozedur vollzogen ist. Dafür sind kurze Aminosäurekettenstücke in unmittelbarere Nachbarschaft des Reaktionszentrums zuständig. Sie benutzen zum Festhalten elektrostatische Anziehungskräfte, wie sie uns bei der Faltblattstruktur der Seide begegneten. Sie sehen: solche Enzyme sind ein Wunderwerk der Evolution, das wir mit ehrfürchtigem Respekt bestaunen. Und dabei haben wir nur die Arbeitsweise einer Dreiergruppe von Enzymen verstanden, drei von 3000 Enzymen, die in jeder Zelle unseres Körpers zusammenwirken. Die Biochemie hat also noch einen schönen Vorrat an Themen für künftige Doktorarbeiten.

5.8 Wir treffen alte Bekannte Nur beim ersten Ausflug zur Ursuppe und den Polypeptiden ist uns keiner von diesen Alleskönnern aufgefallen. Ab dem zweiten Ausflug waren Enzyme zum Ausgleich dafür unsere beständigen Begleiter. Man kann sagen, dass es fast keine biochemische Reaktion ohne Enzym gibt. Mit einer schlichten Phosphorylierung der Glukose, die durch das Enzym Hexokinase schnell und genau gezielt zum Glukose-6-phosphat umgewandelt wird, beginnt die Glykolyse. Der skeptische Organiker hätte eine langsame Reaktion mit Bildung eines wilden Gemischs von mindestens 5 möglichen Verbindungen (nämlich Glukose-1-phosphat bis zum Glukose-6-phosphat) erwartet, vielleicht sogar noch mehr mit zwei veresterten alkoholischen Hydroxidgruppen!

152

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

Und so ging es holterdipolter weiter mit klangvoll, bisweilen zungenbrecherisch benannten Enzymen durch alle 10 Stufen der Glykolyse bis zum Pyruvat. Nach der Hexokinase wirkten Phosphoglukose-Isomerase, Phosphofruktokinase, Aldolase, Triosephosphat-Isomerase, Glyceraldehyd-3-phosphat-Dehydrogenase, Phosphoglycerat-Kinase, Phosphoglyceromutase, Enolase und Pyruvat-Kinase auf die jeweiligen Zwischenprodukte ein, Sie, lieber Leser, finden alle auf Abb. 2.2 bis Abb. 2.12 in lakonischer Kürze8 angegeben. Auch das Endprodukt der Glykolyse, das Pyruvat ist enzymatisch angreifbar – wir wissen, dass die Milchsäurebakterien es mithilfe von NADH und dem Enzym Lactat-Dehydrogenase zur Milchsäure hydrieren, während Hefezellen bekanntlich Alkohol, genauer Ethanol daraus fabrizieren. Das tun sie mit den Enzymen Pyruvat-Decarboxylase – sie spaltet CO2 aus Pyruvat ab, es entsteht Acetaldehyd als Zwischenprodukt – und Alkoholdehydrogenase. Letztere bewirkt, dass NADH den Acetaldehyd zu Ethanol hydriert. Die Reaktionsgleichungen haben wir seinerzeit in Abb. 2.13 und 2.14 kennengelernt. Und nicht zu vergessen: Vom Pyruvat führt ein Weg mit Anlauf in den Zitronensäurezyklus, den das „Coenzym A“ zusammen mit der Pyruvatcarboxylase ebnet! Also Enzyme überall, wohin wir schauen.

5.9 Jetzt wird’s langweilig: Die Namen Namen sind Schall und Rauch! Vor allem, wenn wir uns darunter nichts vorstellen können. Da hilft uns die Beobachtung, dass sie – von wenigen historisch bedingten Ausnahmen wie Pepsin oder Trypsin abgesehen – alle auf -ase enden, wenigstens ein bisschen weiter. Erfreulicherweise sind auch die Silben davor nicht irgendwie willkürlich gewählt, sondern beschreiben meist in noblem Latein und Griechisch und leider manchmal ziemlich ungenau, was das genannte Enzym eigentlich tut. So die Phosphofruktokinase: sie verwandelt Fruktose-6-phosphat in Fruktose-1,6-bisphosphat (Abb. 2.4), oder die Triosephosphat-Isomerase, welche ein Triosephosphat,9 nämlich das Dihydroxyacetonphosphat zu Glycerinaldehyd-3phosphat isomerisiert (Abb. 2.6). Aufgeregt und voller Entdeckerfreude finden wir auch die Phosphoglycerat-Kinase in Abb. 2.9 durchaus richtig benannt, wenn wir bedenken, dass sie 1,3-Diphosphoglycerat in 3-Phosphoglycerat verwandelt und dass „Kinase“ an das Kino mit seinen sich wandelnden Bildern erinnert. Die Phosphoglyceromutase der Abb. 2.10 erzeugt aus dem 3-Phosphoglycerat das 2-Phosphoglycerat, sozusagen eine Mutation des ersteren. Erst recht führt die Enolase

8„Lakonisch“

weil die Lakonier im alten Griechenland für die wortkarge Kürze ihrer Botschaften bekannt waren. So beantworteten sie eine Drohung Alexanders des Großen „Wenn ich nach Sparta komme, werde ich…“ nur mit „Wenn!“. 9Eine Triose ist ein Zucker mit drei Kohlenstoffatomen im Molekül. Dementsprechend ist die Glukose ebenso wie die Fruktose eine Hexose und die Ribose eine Pentose. Wie Sie sehen, ist es in der Chemie ein Vorteil, wenn man altgriechischen Zahlen kennt.

5.9  Jetzt wird’s langweilig: Die Namen

153

der Abb. 2.11 einen zutreffenden Namen und die Pyruvat-Kinase der Abb. 2.12 lässt sich ebenfalls ohne inneren Widerstand unsererseits in die Menge der richtig benannten Enzyme einreihen. Aber unsere Haare sträuben sich heftig bei der Milchsäuregärung in Abb. 2.13. Die „Lactat-Dehydrogenase“ hydriert das Pyruvat und bewirkt doch nicht den genau umgekehrten Vorgang der Dehydrierung von Lactat! Auch die Alkohol-Dehydrogenase bei der alkoholischen Gärung scheint uns völlig falsch benannt zu sein, denn sie katalysiert doch gerade die Hydrierung des Acetaldehyds zu Ethanol und eben nicht den umgekehrten Vorgang der Dehydrierung von Alkohol zu Acetaldehyd (Abb. 2.14)! Und laut rufen wir nach sofortiger Korrektur durch die für solche Probleme zuständige Enzyme Commission of the International Union of Biochemistry. Doch unser Ruf verhallt ungehört, weil die beiden Enzyme tatsächlich auch die Umkehrreaktion katalysieren. Mit anderen Worten: Bieten wir der Alkoholdehydrogenase Alkohol und NAD+ als Rohstoffe an, so dehydriert sie ersteren zu Acetaldehyd. Umgekehrt hydriert sie den Acetaldehyd zu Ethanol, wenn der zusammen mit NADH als Rohstoff angeboten wird. Es kommt also auf die Konzentrationen der Reaktionspartner an, und es ist nicht schwer, sich auszumalen, was passiert, wenn wir eine enzymkatalysierte Hydrierung des Acetaldehyds starten. Sie folgt der Gleichung.

CH3 −CHO + NADH + H+ → CH3 −CH2 −OH + NAD+ Weil das Enzym jetzt schnell Acetaldehyd verbraucht, nimmt dessen Konzentration ab. Die Hydrierung wird immer langsamer, weil gleichermaßen das NADH verbraucht wird, denn das Enzym kann die beiden Rohstoffe nur miteinander umsetzen, wenn es sich mit beiden trifft. Wenn die Rohstoffmoleküle durch den Fortschritt der Reaktion immer seltener werden, wird auch das Dreiertreffen immer schwieriger und seltener. Die Reaktion geht einem Stillstand entgegen, weil sich ihre Antriebskräfte abgeschwächt haben. Aber nicht nur das! Denn inzwischen sind die Moleküle der Reaktionsprodukte Ethanol und NAD+ immer häufiger geworden. Die Wahrscheinlichkeit, dass jetzt das Enzym ein Dreiertreffen mit Ethanol und NAD+ organisieren kann, hat zugenommen. Diese Art von Dreiertreffen führt aber zur Rückreaktion in Richtung Acetaldehyd:

CH3 −CH2 −OH + NAD+ → CH3 −CHO + NADH + H+ und die wurde zuletzt immer schneller. Wann kehrt Ruhe ein? Zweifellos dann, wenn die Geschwindigkeiten der beiden Reaktionen gleich groß geworden sind. Dann herrscht zwar immer noch ein lebhaftes Hin und Zurück, aber zum Mindesten äußerlich betrachtet ändert sich nichts mehr. Mit anderen Worten: Wenn ein „dynamisches Gleichgewicht“ erreicht ist, weil in der Zeiteinheit gleich viele Moleküle Ethanol entstehen wie durch die Rückreaktion verbraucht werden.

154

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

5.10 Grenzen der Wirksamkeit Durch diese Überlegungen sind wir unversehens zu einer allgemeinen Eigenschaft der Enzyme gelangt, denn sie erhöhen zwar in geradezu abenteuerlichem Ausmaß die Reaktionsgeschwindigkeit, können aber nicht die Lage eines Reaktionsgleichgewichts verändern. Dazu braucht man andere Maßnahmen. Der ausgebildete Chemiker zählt uns aus dem Kopf die wichtigsten her: Reaktionstemperatur verändern, Konzentration eines Rohstoffs erhöhen oder eines Reaktionsprodukts erniedrigen, Druck verändern, Wärmeenergie einsetzen oder abführen, das sind so die am häufigsten benutzten Werkzeuge aus seinem Bastelkasten. Nachdenkliche Leser sehen sich jetzt vor einem Scherbenhaufen. Wenn alle durch ein Enzym beschleunigten Reaktionen doch nur bis zu einem Gleichgewicht führen, sagen sie vorwurfsvoll, wieso haben Sie, Herr Neubauer, uns dann die Reaktionen der Glykolyse, des Zitronensäurezyklus, der Atmungskette und der Vererbungslehre so dargestellt, als ob sie nur in einer Richtung liefen? Nirgendwo haben wir einen der typischen Doppelpfeile zwischen den Reaktanten gesehen, mit denen man in der Chemie ein Gleichgewicht kennzeichnet! Und Sie jubelten über nahezu hundertprozentige Ausbeuten! Müssen wir jetzt damit rechnen, dass jede Teilreaktion unumgesetzte Rohstoffe als Verunreinigungen hinterlässt? Natürlich haben sie recht. Aber der Autor hat auch recht. Denn es gibt bei all diesen Reaktionsfolgen in unregelmäßigen Abständen immer wieder Reaktionen, bei denen das Gleichgewicht unter physiologischen Bedingungen so extrem weit rechts, also aufseiten der Reaktionsprodukte liegt, dass man praktisch die Rückreaktion nach links vernachlässigen darf. Bei der Glykolyse ist das zum Beispiel schon der erste Schritt, die Entstehung von Glukose-6-phosphat. Diese Phosphorylierung verläuft (fast) „quantitativ“, ein anderes Wort für „vollständig“. Die nächste vollständig ablaufende Reaktion ist die Herstellung des Fructose-1,6-bisphosphats. Das heißt nicht nur, dass die erwartete Menge an Fructose-1,6-bisphosphat entsteht, sondern auch, dass der Rohstoff dieser Reaktion, das Fructose-6-phosphat, (fast) vollständig verbraucht wird. Das wiederum verursacht eine Art Sogwirkung auf das Gleichgewicht der vorhergehenden Reaktion: Weil es dort jetzt an Fructose-6-phosphat mangelt, lagert sich das Glukose-6-phosphat schleunigst und fast vollständig zum Fructose-6-phosphat um.10 Endergebnis: Die vollständig verlaufende dritte Reaktion der Glykolyse zieht die zweite Reaktion

10Diese

„Sogwirkung“ kann man mathematisch erfassen, wie dies ausführlich in „Demokrit lässt grüßen“ S. 198–201 beschrieben ist. Für eine qualitative Betrachtung ist auch der Zweite Hauptsatz der Wärmelehre geeignet, denn das Gleichgewicht wird durch den Mangel an einem der Reaktionsprodukte so verschoben, dass dem Mangel abgeholfen wird – anders ausgedrückt: Die unwahrscheinlichen Ordnung „viel Rohstoff, kein Reaktionsprodukt“ wird abgebaut, indem sich das Gleichgewicht in Richtung Reaktionsprodukt verschiebt. Der Kenner erinnert sich, dass dies auch das „Gesetz vom kleinsten Zwang“ fordert: Eine Reaktion wird durch einen auf sie ausgeübten Zwang in die Richtung verschoben, die den Zwang vermindert. Wenn der Zwang also bedeutet: viel Rohstoff, dann weicht die Reaktion so aus, dass der Zwang vermindert wird, sie setzt also Rohstoff zu Reaktionsprodukt um. Siehe auch „Demokrit lässt grüßen“, S. 202.

5.11  Autos ohne Gaspedal und Bremsen?

155

hinter sich her in Richtung auf einen ebenfalls vollständigen Ablauf. Und so geht das weiter, denn die Entstehung von Pyruvat aus dem Phosphoenolpyruvat der Abb. 2.12 ist ebenfalls unumkehrbar. Da wären wir schon am Ende der Glykolyse und haben doch tatsächlich gefunden, dass alle Reaktionen praktisch vollständig verlaufen, weil die Gleichgewichte entweder auf der Seite der Reaktionsprodukte liegen oder dahin gezogen werden. Ähnlich geht das auch beim Zitronensäurezyklus und bei unglaublich vielen anderen Reaktionsfolgen der Biochemie. Tief durchatmen!

5.11 Autos ohne Gaspedal und Bremsen? Dennoch beschleicht uns das ungute Gefühl, dass dies noch nicht die ganze Wahrheit sein kann. Denn dann würde unser Stoffwechsel ja wie ein Auto ohne Gaspedal und Bremse immer gleich schnell auf Höchstgeschwindigkeit laufen. In Wahrheit wissen wir, dass er zum Schlafen verlangsamt, beim Sport beschleunigt wird und sich überhaupt stufenlos dem Bedarf ziemlich rasch anpasst. Es muss also Regelmechanismen geben, welche die Geschwindigkeit der enzymkatalysierten Reaktionsfolgen steuern. Die Evolution hat solche Steuerungsmechanismen entwickelt. Sie funktionieren geradezu genial einfach, indem sie eine Rückkopplung zwischen Reaktionsteilnehmern und Enzymaktivität herstellen. Das klingt komplizierter als es wirklich ist. Am Beispiel der dritten Glykolysereaktion wollen wir sehen, wie es funktioniert. Das hierfür zuständige Enzym Phosphofructokinase hat nämlich die Eigenschaft, durch unser Energiespeichermolekül ATP in seiner Aktivität gebremst zu werden. Umgekehrt wird es durch ADP zu Höchstleistungen angestachelt. Und das ist schon alles? höre ich Sie fragen. Ja, das ist tatsächlich fast alles. Denn wenn wir annehmen, dass die Glykolyse und der Krebs-Zyklus des Sportlers wegen eines Weltrekordversuchs auf vollen Touren laufen, wird jede Minute ATP in großer Menge für die Herstellung des Fruktose-1,6-bisphosphats verbraucht und in ADP umgewandelt. Das Mengenverhältnis ADP: ATP ist also groß und das überwiegende ADP hält die Aktivität des Enzyms Phosphofruktokinase auf der Höhe. Was geschieht mit der vorgeschalteten Reaktion? Weil ihr Endprodukt Fructose-6-phosphat mit Hochgeschwindigkeit verbraucht wird, entsteht ein Sog in Richtung Fructose-6-phosphat und das Enzym Phosphoglukose-Isomerase liefert es so schnell wie möglich nach. Hier sehen wir wieder das Wirken des Zweiten Hauptsatzes der Wärmelehre. Die unnatürliche Ordnung: Wenig Fructose-6-phosphat (weil es rasch verbraucht wird) auf der rechten Seite der Reaktionsgleichung und viel Glukose-6-phosphat als Rohstoff auf der linken Seite wird abgebaut, indem das Enzym Phosphoglukose-Isomerase das Mangelprodukt möglichst rasch herstellt. Und ähnlich überträgt sich die hohe Enzymaktivität auch auf die erste Reaktion der Glykolyse.

156

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

Und die nachgeschalteten Reaktionen? Sie galoppieren mit, wenn sie viel Rohstoff erhalten, weil ihre Vorgängerreaktionen auf Hochtouren laufen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die hohe Reaktionsgeschwindigkeit, welche die Phosphofruktokinase wegen der hohen ADP-Konzentration vorgibt, sowohl die vorhergehenden als auch die nachfolgenden Reaktionen mitreißt. Nach dem Marathonlauf des Sportlers ruht er sich aus – also kein nennenswerter Verbrauch an unseren Energiemolekülen ATP mehr. Konsequenz: Die Konzentration an unverbrauchtem ATP steigt an. Das gewissermaßen arbeitslose ATP bremst jetzt die katalytische Aktivität der Phosphofructokinase. Pro Minute wird weniger Fructose-1,6-bisphosphat erzeugt, weil das Verhältnis ADP: ATP jetzt klein ist. Die Nachfolgereaktionen werden ebenfalls abgebremst, weil sie bald alle unter Rohstoffmangel leiden. Was geschieht mit der vorgeschalteten Reaktion, der Entstehung von Fructose6-phosphat aus Glukose-6-phosphat? Weil die Weiterreaktion zum Fructose1,6-bisphosphat jetzt langsamer verläuft, wird kurzfristig die Konzentration an Fructose-6-phosphat erhöht. Dieses trifft sich jetzt leichter mit dem Enzym Phosphoglukose-Isomerase und dadurch wird die Rückreaktion zum Glukose-6-phosphat beschleunigt, während die Hinreaktion gebremst wird. Das Enzym der ersten Reaktion schließlich, die Hexokinase wird ähnlich wie die Phosphofruktokinase durch ATP gehemmt und verlangsamt seinerseits ebenfalls die Entstehung von Glukose-6-phosphat. Gesamtergebnis: Wenn viel ATP wegen einer sportlichen Höchstleistung verbraucht wird, läuft die Glykolyse auf vollen Touren, weil das dadurch entstehende ADP die Phosphofructokinase zu Höchstleistungen anregt und alle Reaktionen der Glykolyse solidarisch mitmachen. Wenn in einer Ruhepause wenig ATP verbraucht wird, bleibt „arbeitsloses“ ATP übrig und das vermindert die Aktivität der Phosphofruktokinase. Auch bei deren langsamerer Gangart machen sämtliche Reaktionen der Glykolyse mit. Alles klar? Vorsorglich noch ein dazu passender Vergleich: Die Phosphofruktokinase wirkt auf die Reaktionen der Glykolyse und des Zitronensäurezyklus wie ein Drosselventil in einer Wasserleitung. Ist es weit offen, fließt vor ihm und hinter ihm das Wasser schnell, ist es weitgehend geschlossen, dann fließt vor ihm und hinter ihm das Wasser langsam. Natürlich ist unsere Darstellung sehr vereinfacht. Denn die Phophofruktokinase ist nicht der einzige Steuermann, der das Riesenschiff Glykolyse + Zitronensäurezyklus + weitere nachgeschaltete Synthesen als Ganzes schneller oder langsamer fährt. Schon die Glykolyse hat zwei Eingänge: einen für die freie Glukose, die entweder direkt aus der Nahrung stammt oder durch Abbau von anderen Kohlehydraten wie Rohrzucker und Stärke beigestellt wird, und einen zweiten für Glukose-1-phosphat, das aus dem in der Leber gespeicherten Glykogen entsteht. Beide Eingänge werden durch Enzyme kontrolliert und reguliert. Sie funktionieren etwa wie der Warmwasserhahn und der Kaltwasserhahn in der Dusche, die beim Öffnen oder Zudrehen die Temperatur der Mischung verändern. Wir erinnern uns, dass der Glykolyse weitere Reaktionen nachgeschaltet sind (Milchsäuregärung oder alkoholische Gärung), und dass ganze Reaktionsfolgen in

5.11  Autos ohne Gaspedal und Bremsen?

157

den Zitronensäurezyklus einmünden oder aus ihm abzweigen können. So akzeptiert er die Endprodukte des Aminosäurenabbaus und des Fettsäurenabbaus und ermöglicht Synthesen für verschiedene Aminosäuren. Deshalb gibt es an mehreren Stellen solche Rückkopplungen, wie wir sie eben kennengelernt haben. Es muss dann nicht immer das ADP: ADP-Verhältnis sein, das bremsend oder beschleunigend wirkt – nein, da wo zum Beispiel NAD+ und NADH mitspielen, wirkt eines der beiden hemmend und das andere aktivierend auf das zuständige Enzym. Aber das Prinzip der Rückkopplung ist ganz ähnlich: Jedes Mal wirkt das Reaktionsprodukt fördernd und der Rohstoff hemmend auf die katalytische Aktivität des Enzyms ein. Wir begreifen, dass dann das Ganze dem Wasserleitungsnetz einer Kleinstadt gleicht, in das verschiedene Quellen Wasser einspeisen und von dem Versorgungsleitungen bis zu den Verbrauchern abzweigen. Auch solche Systeme funktionieren mit Regel- oder Absperrventilen an den wichtigsten Einmündungen und Verzweigungen. Sie verhindern einerseits, dass der Vorratstank leer wird oder überläuft und stellen andererseits sicher, dass jeder Verbraucher versorgt wird. Der Worte sind genug gewechselt – können wir wieder sagen – lasst uns nun endlich in Versuchen sehen, wie Enzyme wirken und was sie dafür brauchen.

Versuch 5.1: Alkoholische Gärung

Wir lösen einen gestrichenen Esslöffel Traubenzucker in 200 ml destilliertem oder entmineralisiertem Wasser und fügen eine Spatelspitze Backhefe als Enzymlieferanten hinzu. Dann rühren wir gründlich um, bis sich die Hefezellen gleichmäßig im Wasser verteilt haben. Den Deckel des Marmeladenglases setzen wir auf, schrauben ihn aber nicht fest zu. Jetzt stellen wir das Glas in eine große Kunststoffschüssel, da wir Schaumentwicklung befürchten. Nach 48 h bei Raumtemperatur sehen wir erwartungsvoll nach und stellen enttäuscht fest, dass die alkoholische Gärung noch nicht so recht begonnen hat, denn es entsteht kaum Kohlendioxid. Offensichtlich können die relativ wenigen eingebrachten Hefezellen den Traubenzucker nur sehr allmählich angreifen und verbrauchen. Wir vermuten, dass sie sich nicht richtig vermehren können, weil ihnen das entmineralisierte Wasser lebenswichtige Nährsalze vorenthält und fügen deshalb noch eine kräftige Spatelspitze Düngesalz hinzu, welches laut Etikett Stickstoff, Phosphat und Kalium sowie kein Magnesium enthält. Aber auch so kommt die Gärung nicht recht in Gang, selbst wenn wir nun auch noch einen Cocktail aus 1 cm2 gründlich geglühten Eierschalen (als Calciumquelle), 2 ml Essig und einer Spatelspitze Eisensulfat hinzufügen. (Wenn das Düngesalz bereits Magnesium enthält, beginnt die Kohlendioxidentwicklung spätestens jetzt.) Eine Prise Kochsalz, die wir gewissenhaft einrühren, um den Hefezellen Natrium- und Chlorid-Ionen anzubieten, ändert auch nicht viel.

158

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

Nach abermals 48 h vergeblichen Wartens lösen wir ein wenig elementares Magnesium11 in möglichst wenig farblosem Weinessig und gießen die Lösung in unser Gärungsgefäß. 24 h später beobachten wir deutlich aus der Maische aufsteigende Gasbläschen, also „Gärungskohlensäure“ – aber der erwartete Geruch nach Alkohol bleibt ziemlich aus. Stattdessen irritiert uns ein fruchtiger Geruch nach unreifen Äpfeln, der im Laufe der nächsten drei Wochen deutlicher wird – er ist typisch für Acetaldehyd. Die Hefezellen scheinen sich nun kräftig zu vermehren. Offensichtlich hat die Magnesiumgabe die Gärung in Gang gebracht, aber die Reaktion blieb beim Acetaldehyd stehen. Wenn die Entwicklung von Kohlendioxid aufhört und die Hefezellen sich abgesetzt haben, halbieren wir die aufgerührte Lösung. Zu der einen Hälfte fügen wir noch einen Milliliter einer Lösung von Zinknitrat hinzu, die wir aus Zinkblech, Zinkpulver oder aus einer verzinkten Schraube und ganz wenig verdünnter Salpetersäure hergestellt haben. Mit diesem Lebenselixier hoffen wir, die Hefezellen zu ihrer Pflichterfüllung zu stimulieren. Und tatsächlich! Nach wenigen Tagen macht der Geruch nach unreifen Äpfeln einem Geruch nach Alkohol Platz. Dabei vermehren sich die Hefezellen deutlich. In der anderen Hälfte der Versuchslösung, die kein Lebenselixier erhielt, setzt sich dagegen die Hefe wieder ab und der fruchtige Geruch bleibt ziemlich gut erhalten. Wir verwerfen das Reaktionsprodukt, bevor wir dafür Alkoholsteuer zahlen müssen. Was können wir aus diesem Versuch lernen? Fünferlei: 1. Hefezellen brauchen für ihre Vermehrung ähnlich wie Grünpflanzen Düngung, also letzten Endes Versorgung mit den 11 lebenswichtigen Elementen, die wir beim ersten Ausflug kennengelernt haben. Sie gedeihen nicht in entmineralisiertem Wasser, obwohl wir ihnen Traubenzucker als „Nahrung“ (genauer: Energiequelle) angeboten haben. 2. Die Hefezellen haben die 10 Reaktionen der Glykolyse durchgeführt und durchaus pflichtgemäß auch die beiden Enzyme Pyruvat-Decarboxylase und Alkohol-Dehydrogenase bereitgestellt, die das Pyruvat in Acetaldehyd und Kohlendioxid spalten und den Acetaldehyd zu Alkohol hydrieren sollten (wie dies in Abb. 2.15 dargestellt ist). Diese beiden konnten jedoch nicht aktiv werden, weil sie „Cofaktoren“ benötigen.

11Abgeschält

aus einer „Wunderkerze“, zerdrückt, mit etwas Wasser gewaschen und dann auf Filterpapier getrocknet.

5.12  Unentbehrliche Helfer: Die Cofaktoren

159

3. Magnesium-Ionen aktivieren als Cofaktor das Enzym Pyruvat-Decarboxylase. Es entsteht Acetaldehyd und Kohlendioxid, vorausgesetzt, dass auch Thiamindiphosphat als Cofaktor mitmachen darf (dafür sorgen die Hefezellen). 4. Zink-Ionen aktivieren als Cofaktor das Enzym Alkohol-Dehydrogenase, pflichtgemäß Alkohol durch Hydrierung von Acetaldehyd herzustellen. 5. Für alle diese Vorgänge wird kein Sauerstoff benötigt. Unser Reaktionsgefäß bleibt die allermeiste Zeit durch den locker aufgesetzten Deckel gegen Luftzufuhr verschlossen, über der darin enthaltenen Flüssigkeit steht fast immer Kohlendioxid. Hier begegnet uns mit dem Zink zum ersten Mal ein Schwermetall, das in höherer Konzentration giftig wirkt. Für seine Aufgaben bei der alkoholischen Gärung muss es nicht in großen Mengen verfügbar sein. Bei der Gärung von Traubensaft genügen die Spurenmengen, die aus dem Weinbergboden in die Trauben gelangt sind. Es wird erstaunlicherweise nicht als Salz an die Phosphorsäure gebunden, die ja im ADP und im ATP noch P–O−-Gruppen aufweist, sondern an die Proteinkomponente des Enzyms. Gleiches geschieht auch mit dem Magnesium. Und jetzt erinnern wir uns an die Enzyme der Atmungskette, von denen einige Eisen-Ionen für ihre Hämkomplexe brauchen und andere Kupfer-Ionen für Oxidationsreaktionen. Wir beginnen zu verstehen, warum Eisen, Zink und Kupfer zu den „Spurenelementen“ zählen, die auch für unseren Organismus durchaus lebenswichtig sind und uns vom Apotheker gern in zahlreichen „Nahrungsergänzungsmitteln“ angeboten werden.

5.12 Unentbehrliche Helfer: Die Cofaktoren Aber Metall-Ionen sind nicht die einzigen Cofaktoren, die es im Reich der Enzyme gibt. Auch organische Verbindungen können als Cofaktoren auftreten – man nennt sie dann Coenzyme. Viele davon werden wir bei unserem Ausflug zu den Vitaminen treffen. Ein Beispiel dafür kennen wir bereits: das Flavin-AdeninDinukleotid (FAD, Abb. 2.25), das beim Zitronensäurezyklus Succinat zu Fumarat dehydriert (es enthält das Vitamin Riboflavin als Bestandteil seines Moleküls). Ein anderes Dehydrierungsmittel, das Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid (NAD+, Abb. 2.7) zählen die Biochemiker ebenfalls zu den Coenzymen, ähnlich wie das energieliefernde Adenosintriphosphat (ATP) der Abb. 2.1. Und selbstverständlich rechnen sie auch die Umwandlungsprodukte der genannten Cofaktoren, also das FADH2, das NADH und das ADP dazu. Ein ganz wichtiges Coenzym ist uns beim „Anlauf“ zum Zitronensäurezyklus begegnet: das Coenzym A in seiner unbeladenen Form (Abb. 2.18) und beladen als Acetyl-Coenzym A (Abb. 2.19). Es ist – im Gegensatz zur Essigsäure – fähig, Oxalacetat in Citrat umzuwandeln, also aus einer Verbindung mit vier Kohlenstoffatomen eine sechsatomige zu machen.

160

5  Fünfter Ausflug: In ein Wunderland

5.13 Die Klassengesellschaft der Enzyme Schon unsere bescheidene Einführung in die Biochemie hat uns mit vielen Enzymen bekannt gemacht – es gibt natürlich unzählige mehr. Über 1000 sind bis jetzt näher untersucht worden und haben meist auch Namen erhalten. Ihre Gesamtzahl wird von mutigen Forschern auf mindestens 15 000 geschätzt. Um in diesem Wust von Enzymen wenigstens ein bisschen Ordnung zu schaffen, hat die oben erwähnte Kommission für Enzyme ein Nummerierungssystem erdacht. Es besteht aus Zahlen, die eine hierarchische Gliederung nach Aufgaben vornehmen. Die erste Ziffer ordnet das Enzym in eine der folgenden sechs Klassen ein: 1. Oxidoreduktasen oxidieren oder reduzieren das Substrat. Bei der Oxidation wird Sauerstoff aufgenommen oder Wasserstoff abgespalten. Auch die Oxidationsstufe eines im Substrat gebundenen Atoms kann erhöht werden, in diesem Falle durch Abgabe von Elektronen. Reduktion ist dagegen gekennzeichnet durch Sauerstoffabgabe oder Wasserstoffaufnahme beziehungsweise Elektronenaufnahme. Beispiele: Alkoholdehydrogenase (Abb. 2.14), Lactatdehydrogenase (Abb. 2.13), L-Malatdehydrogenase (verwandelt L-Äpfelsäure in Oxalessigsäure, siehe Abb. 2.28). 2. Transferasen übertragen funktionelle Gruppen auf das Substrat oder entfernen funktionelle Gruppen. Beispiel: Hexokinase (überträgt eine Phosphatgruppe auf Glukose, Abb. 2.2), Pyruvatkinase (entfernt eine Phosphatgruppe vom Phosphoenolpyruvat, Abb. 2.12). 3. Hydrolasen spalten verschiedene Bindungen durch Einwirkung von Wasser. Beispiel: β-Amylase spaltet von Stärke und einigen anderen Polysacchariden am Kettenende immer wieder ein Molekül Malzzucker (Maltose) ab. Andere Hydrolasen widmen sich der Zerlegung von Estern, Ethern, Glykosiden oder Peptiden. Letztere nennt man auch Peptidasen (Beispiel Trypsin, Chymotrypsin, Elastase, Abb. 5.5). 4. Lyasen. Sie erzeugen Doppelbindungen durch Abspaltungsreaktionen oder lagern umgekehrt an Doppelbindungen an. Beispiel: Fumarase katalysiert die Wasseranlagerung an Fumarat, die zu einem Salz der L-Äpfelsäure führt (Abb. 2.27). 5. Isomerasen wandeln organische Moleküle in Isomere um. Beispiel: Phosphoglukose-Isomerase führt von Glukose-6-phosphat zu Fruktose-6-phosphat (Abb. 2.3), oder Abb. 2.6, welche die Aktivität von Triosephosphat-Isomerase zeigt. 6. Ligasen. Sie verschaffen dem Substrat zusätzliche Bindungsgenossen. Beispiel: Ligasen beladen Transfer-Ribonukleinsäuren mit ausgewählten Aminosäuren (Abb. 4.9). Enzyme, bei deren Wirken eine Synthese im Vordergrund steht, heißen auch Synthasen (Beispiel: Fettsäuresynthasen, die uns beim nächsten Ausflug begegnen

5.14  Ein enttäuschendes Ende?

161

werden). Sie haben keine eigene EC-Nummer, wenn sie nicht zu den Lyasen oder Ligasen gestellt werden. Veraltet ist die Bezeichnung „Synthetasen“ für Enzyme, welche Synthesereaktionen mit ATP-Verbrauch beschleunigen. Während die erste Ziffer eines nummerierten Enzyms die Zuordnung in eine der sechs Klassen angibt, beschreiben die folgenden Ziffern seine Aufgabe. Beispiel: Die erste Ziffer einer Transferase ist immer die 2. Die zweite Ziffer einer Transferase bezeichnet die Atomgruppe, die übertragen wird, die dritte Ziffer beschreibt den Ort des Einbaus und die letzte Ziffer ergänzt Angaben zum Ort des Einbaus. Davor setzt man noch EC (für Enzym Commission). Unser Beispiel: Die Bezeichnung einer bestimmten Transferase kann EC 2.7.4.3. lauten und verrät dem Eingeweihten alles Wissenswerte über ihre Aufgabe.

5.14 Ein enttäuschendes Ende? Überraschend endet unsere Reise durch das Wunderland der Enzyme mit einer trockenen Klassifizierungsmethode. Ein wenig enttäuschend nach den bezaubernden Syntheseerlebnissen, die uns der Blick auf die Enzyme und ihre Substrate verschaffte! Wie Schlüssel und Schloss schienen die beiden notwendigerweise zusammenzupassen – aber bald lernten wir, dass hier – wie auch in unserem Alltag – geschickte Anpassung zu vielseitigeren Erfolgen führt. Modellvorstellungen machten uns klar, wie die Enzyme als Katalysatoren wirken – wir beobachteten sie beim Zerreißen von Molekülen, beim Verknüpfen von Teilreaktionen und beim energischen Zusammenfügen komplizierter Reaktionsteilnehmer. Verblüfft erlebten wir, wie stark die von ihnen eingeführte Ordnung eine Reaktion beschleunigen kann. Danach bewunderten wir die Arbeitsteilung einer dreiköpfigen Enzymfamilie, entdeckten deren Reaktionszentrum in ihrem raffiniert gefalteten Polypeptid und lernten, mit welchen Taschenspielertricks die Mitglieder ihre bevorzugten Substrate auswählen, festhalten und mithilfe von Wassermolekülen spalten. Von da bedurfte es nur noch einer kleinen Anstrengung, um auch die Regulierung oder endgültige Verhinderung einer enzymkatalysierten Reaktion besser zu verstehen. Zuletzt begegneten wir einigen Coenzymen, den wichtigsten Helfern der Enzyme. Da trafen wir gute Bekannte aus früheren Ausflügen. Der Absturz in die Nomenklatur der Enzyme und ihre Klassifizierung war gewiss ernüchternd, zeigte aber, wie vielfältig Enzyme in ihrem so angenehm temperierten Zauberland wirken. Zu welchen mechanischen Glanzleistungen erst Enzymkomplexe fähig sind, haben wir diesmal gar nicht erfahren – es ist uns schon bei vergangenen Ausflügen aufgefallen. Da gab es Protonenpumpen, Ribosome, die auf Nukleinsäureketten im Geleitzug Schlitten fahren, Korrektur lesen und Fehler reparieren oder gar protonengetriebene Turbinen in atomaren Dimensionen. Eine winzige Welt mit erstaunlicher physikalischer Ausrüstung und Ansätzen von Intelligenz! Wir sind zuversichtlich, dass wir den Enzymen, diesen sympathischen Burschen, auch in anderen, uns noch unbekannten Gefilden der Biochemie begegnen werden. Vermutlich gibt es überhaupt kaum eine biochemische Reaktion, die ohne Enzyme zustandekommt.

6

Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

Zucker macht dick! So lautet ein Schlachtruf der diätbesessenen Schlankheitsfanatiker. Der mit chemischem Grundwissen ausgestattete Skeptiker dagegen schüttelt ungläubig den Kopf. Wie sollen sich Kohlenhydrate in Fett umwandeln? Traubenzucker ist rein formal aus Kohlenstoff und Wasser zusammengesetzt – gehorcht also der Formel C6H12O6, Fett dagegen ist ein Ester aus Glycerin und Fettsäuren. Im Falle der Palmitinsäure rechnet er vor, dass das Glycerintripalmitat die Summenformel C51H98O6 hat, und um seinen Unglauben zu untermauern, stellt er die zugehörigen Strukturformeln ohne den für chemische Reaktionen typischen Pfeil einander gegenüber – er trennt sie lieber durch ein dickes Fragezeichen voneinander (Abb. 6.1).

6.1 Zucker macht nicht dick! Oder doch? Die Sache wird auch nicht dadurch besser, dass er etwa Rübenzucker oder Milchzucker einerseits und Glycerintristearat oder Glycerintrioleat oder gemischte Glycerinester andererseits anschreibt. So zählt er den anfangs zitierten Ausruf zu den zahlreichen Mythen und abergläubischen Ängsten, welche in naturwissenschaftlich unterbelichteten Köpfen herumspuken und geht kalt lächelnd seine zweite üppige Portion Zuckertorte an. Der Schlankheitsfanatiker wendet sich mit Grausen ab und lässt wie nebenbei das Zauberwort „Enzyme“ fallen. Aber selbst das bringt den angehenden Chemiker nicht aus der Ruhe und vom genüsslichen Verzehr seines dritten Tortenstücks ab. Er verdrängt den unziemlichen Einwand, vertraut auf Christian Morgenstern und zitiert innerlich den berühmten Palmström: Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Neubauer, Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58859-8_6

163

164 Abb. 6.1  Was nicht sein kann

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn H HO

CH 2OH

C HO

C

C H

H

O

H C OH

C

H

OH

O H 2C O HC O

O O

H 2C O

6.2 Ein Weg vom Traubenzucker zur Palmitinsäure? Erst Tage danach schießt ihm die Erinnerung an eine Lehrbuchseite durch den Kopf. Auf ihr stand zu lesen, dass alle organischen Verbindungen unseres Körpers dank der Photosynthese aus Kohlendioxid entstanden sind und dass dabei Traubenzucker das unumgängliche Zwischenprodukt war. Der Autor jener Zeilen verstieg sich sogar zu der Aussage, Glukose sei deshalb die wichtigste organische Verbindung überhaupt. Also doch Fett aus Glukose? Die fest gefügten Diätleitlinien unseres Freundes beginnen zu wanken, und das mysteriöse Wort „Enzyme“ taucht aus der Verdrängung wieder auf. Er denkt nach. Jawohl, schon immer ist ihm aufgefallen, dass alle natürlich vorkommenden Fettsäuren eine gerade Zahl von Kohlenstoffatomen aufweisen. Palmitinsäure hat deren 16, Stearinsäure und Ölsäure haben 18. Also zwei mehr! Sollte es vielleicht doch einen Weg vom Traubenzucker zu den Fetten geben, der über verschlungene Pfade zum Ziel führt? Etwa, weil aus den sechs Kohlenstoffatomen der Glukose zweiatomige Bausteine entstehen, die dann sukzessive über vieratomige, sechsatomige Und-so-weiter-Zwischenstufen 16 oder 18 Kohlenstoffatome zu den Kettenmolekülen der Fettsäuren zusammenfügen? Die dann noch fehlende Veresterung mit Glycerin wäre den Enzymen ganz sicher zuzutrauen. Und lernbereit, wie unser Freund nun mal ist, macht er sich an die Recherche. Er beginnt mit dem Abbau des sechs Kohlenstoffatome enthaltenden Glukosemoleküls. Bei der Fahndung nach einem reaktionsfreudigen Zweierbaustein durchsucht er gewissenhaft die zehn Stufen der Glykolyse. Er findet keinen Verdächtigen – das Endprodukt Brenztraubensäure (oder besser Pyruvat) hat immer noch drei Kohlenstoffatome im Molekül. Von ihm aus führt die Milchsäuregärung auch nicht weiter. Aber halt! Die alkoholische Gärung ergibt CH3–CH2– OH, und hier findet er tatsächlich die geforderten zwei Kohlenstoffatome vor.

6.3  Es gibt doch einen Weg – wir gehen ihn an

165

H3C −CHO + H3 C − CHO + H3 C −CHO + H3 C −CHO + H3 C −CHO + H3 C −CHO + H3 C −CHO + H3 C −CHO

– 7 H 2O H3C−CH=CH−CH=CH−CH=CH−CH=CH−CH=CH−CH=CH−CH=CH−CHO

+ 7 H2 H3C CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CHO

+O OH H3C CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 C

O

Abb. 6.2  Oder doch?

Und von da zur Palmitinsäure? Es ist zwar theoretisch möglich, aber doch extrem unwahrscheinlich, einen Weg zu finden. Ethanol ist einfach zu stabil, vornehmer ausgedrückt: zu energiearm. Und sein Vorläufer Acetaldehyd? Er ist sehr reaktionsfähig, also energiereicher und entsteht bekanntlich bei der alkoholischen Gärung, wenn als Cofaktor keine Zink-Ionen vorhanden sind, welche der Alkoholdehydrogenase ihre segensreiche Aktivität ermöglichen – er erinnert sich an Versuch 5.1. Tatsächlich! Das sieht schon verheißungsvoller aus. Vielleicht gibt es ein Enzym oder besser einen Enzymkomplex, der sieben Mal hintereinander eine Aldolkondensation mit anschließender Wasserabspaltung durchführt, den entstehenden doppelbindungsreichen Aldehyd schonend hydriert und schließlich die endständige Aldehydgruppe vorsichtig zur Palmitinsäure oxidiert, etwa so, wie das in Abb. 6.2 skizziert ist? Eine nochmalige Aldolkondensation ergäbe dann auch ein Isomer der Ölsäure, und von da wäre der Weg über die „richtige“ Ölsäure zur Stearinsäure nicht mehr weit, womit die wichtigsten Fettsäuren beisammen wären. Glycerin zu ihrer Veresterung findet sich dann in jeder Zellflüssigkeit. Derartige Gedankenspiele stürzen jedenfalls unseren Skeptiker in lebhafte Selbstzweifel an seiner früher so kategorisch abgelehnten These, dass Zucker dick machen.

6.3 Es gibt doch einen Weg – wir gehen ihn an Wir lassen ihn mit seinen Gewissensbissen hier allein und bestätigen ihm allenfalls, dass er den Anfang des steinigen Wegs von der Glukose zur Palmitinsäure richtig erahnt hat. Wenn wir den nun beschreiten, gehen wir natürlich als schlaue Biochemiker nicht vom Acetaldehyd, sondern vom Acetyl-Coenzym A aus. Das ist ebenfalls ein Abbauprodukt der Glukose – wir haben es beim Anlauf zum

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

166 Abb. 6.3  Malonylcoenzym A…

O

O C OH + H



CH 2 C

O

S CoA + ATP – ADP – H 2O O

O C CH 2 C



O

S CoA

Zitronensäurezyklus kennengelernt und wissen, dass es „aktivierte Essigsäure“ ist. Mit einigem Staunen sehen wir in Abb. 6.3, wie es mit einem Hydrogencarbonat-Ion reagiert. Ein Enzym aus dem Komplex der Fettsäuresynthase steht dabei Pate und ein Molekül ATP spendet die dafür notwendige Energie, wenn etwas überraschend ein Derivat der Malonsäure HO–CO–CH2–CO–OH, das Malonyl-Coenzym A entsteht: Wir gehen sicher richtig in der Annahme, dass dies nichts anderes ist als eine aktivierte Malonsäure, ganz ähnlich wie das Acetyl-Coenzym A eine aktivierte Essigsäure ist. Den nächsten Schritt gehen die beiden Coenzyme, von denen wir hier sprechen, gleichzeitig und in derselben Richtung: sie binden ihre Säuregruppe nämlich jeweils an ein Proteinmolekül, das deswegen den klangvollen Namen „Acyl-Carrierprotein“, abgekürzt und übersetzt „Acyl-Trägerprotein“ führt. Die Andockstelle des Proteins ist eine seiner HS-Gruppen. Wie Sie aus Abb. 6.4 sehen, wird dabei das nackte Coenzym A freigestellt, es kann sich gleich wieder aus der Anlaufreaktion zum Zitronensäurezyklus einen Acetylrest besorgen und damit die nächste Fettsäuresynthese einleiten, wenn es nicht in den Zitronensäurezyklus eingeschleust wird. Jetzt endlich sind die beiden Acylgruppen bereit, miteinander zu reagieren. Eigentlich müsste dabei nach dem Prinzip C2 + C3 → C5 eine C5-Verbindung entstehen, aber nein: Kohlendioxid entsteht neben dem vieratomigen Acetoacetylrest, also gilt C2 + C3 → C4 + C1 und das sehen Sie in Abb. 6.5.

O

O C CH 2 C



O

+ H S ACP S CoA

O

O C CH 2 C



O

O H 3C C

+ H S A CP S CoA

Abb. 6.4  … und sein Carrierprotein

+ H S CoA S ACP

O H 3C C

+ H S CoA S A CP

6.3  Es gibt doch einen Weg – wir gehen ihn an Abb. 6.5  Zwei Acylcarrieorproteine unter sich …

167 O

H 3C C

O +

O C CH 2 C

S ACP



O

S ACP

+ H+ O

O

H3C C CH 2 C

+ H S ACP + CO2 S ACP

Kettenverlängerung: Acetylcarrierprotein reagiert mit Malonylcarrierprotein, Kohlendioxid entsteht neben Acetoacetylcarrierprotein und ein Acylcarrierprotein wird frei.

Von den beiden ACP-Molekülen wird eines frei – natürlich nur, um für einen weiteren Schritt verfügbar zu sein. Die nächsten drei Schritte dienen der behutsamen Umwandlung der mittelständigen >CO-Gruppe in eine >CH2-Gruppe. Das geschieht, indem sie erst zu einer CHOH-Gruppe hydriert wird. Es entsteht ein β-Hydroxybutyryl-ACP, und zwar ausschließlich in der D-Konfiguration.1 Aus diesem wird dann mit der benachbarten >CH2-Gruppe Wasser abgespalten, um eine C=C-Doppelbindung auszubilden, Auch hier entsteht nur eines von zwei möglichen Isomeren, nämlich dasjenige, bei dem die Wasserstoffatome auf verschiedenen Seiten stehen, also das trans-Isomere. Zuletzt wird die C=C-Doppelbindung hydriert. Und siehe da: die ursprüngliche Acetylgruppe des Acetyl-Coenzyms A wurde durch die Reaktionsabfolge zu einer Butyrylgruppe mit zwei Kohlenstoffatomen mehr. Das Acyl-Carrierprotein bleibt dabei ein treues Anhängsel (Abb. 6.6). Die zuletzt vorgestellten drei Reaktionsschritte sind uns natürlich keineswegs neu. Wir haben sie in anderem Zusammenhang bereits kennengelernt. Wenn Sie zur Abb. 2.13 zurückschlagen, sehen Sie ein Beispiel für die Hydrierung der >CO-Gruppe, Abb. 2.27 rückwärts gelesen zeigt eine Wasserabspaltung mit Entstehung einer trans-HC=CH-Doppelbindung und auch Abb. 2.24 müssen Sie rückwärts lesen, um zu sehen, wie die C=C-Doppelbindung hydriert wird. Zum Rückwärtslesen berechtigt Sie die Tatsache, dass enzymkatalysierte Reaktionen immer Gleichgewichtsreaktionen zwischen Hin- und Rückreaktion sind. Nichts spricht dagegen, dass das Butyryl-ACP auch ein Kettenwachstum erleben darf. Also reagiert es mit einem unverbrauchten Malonyl-ACP unter Abspaltung von CO2 ganz wie gehabt zu einem Aceto-Butyryl-ACP, das in drei Stufen zur Capronylverbindung reduziert wird, womit wir bereits sechs Kohlenstoffatome in der Kette haben. Und so geht das weiter in rüstigen Zweierschritten 1Die

Butyrylgruppe CH3–CH2–CH2–CO– ist ein Bestandteil der Buttersäureformel CH3–CH2– CH2–CO–OH. Buttersäure entsteht bekanntlich beim Ranzigwerden der Butter und riecht dementsprechend unangenehm. Sie gehört zu den niedrigmolekularen Fettsäuren.

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

168 CH 3 C O + NADPH + H + H 2C C S A CP O

CH 3 HO C H H C H C S ACP O

H 3C H

C C

CH 3 HO C H + NADP + H 2C C S A CP O D- -Hydroxybutyryl-ACP H 3C H

C C

H + H2 O C S ACP O

trans -Crotonyl-ACP

H + NADPH + C S ACP O

H+

CH 3 CH 2 + NADP + H 2C C S ACP O Butyryl-ACP

Abb. 6.6  … schaffen die Kettenverlängerung

bis zum Palmityl-ACP mit seinen sechzehn Kohlenstoffatomen. Hier endlich hat das Acyl-Carrierprotein ausgedient. Es wird mit dem H eines Wassermoleküls abgespeist und dadurch regeneriert, während der Palmitylrest die OH-Gruppe an sich reißt und zur Palmitinsäure wird:

C15 H31 CO−S−ACP + HOH → C15 H31 COOH + HS−ACP Sie sehen hier ein Enzym aus der Klasse der Hydrolasen an der Arbeit. Wenn wir die Entstehung dieses Moleküls noch einmal Revue passieren lassen, erkennen wir, dass die beiden Kohlenstoffatome des Acetyl-Coenzyms A immer weiter von der >CO-Gruppe weggedrängt wurden. Sieben Mal hatte das Malonyl-ACP Gelegenheit, zwei seiner drei Kohlenstoffatome in die wachsende Kette einzubringen, während sich das Acetyl-ACP mit der Rolle des Starters begnügen musste. Dadurch landeten die beiden Kohlenstoffatome der Acetylgruppe an dem Ende der Kohlenstoffkette, das nicht die CO–OH-Gruppe trägt. Dieses letzte Kohlenstoffatom führt übrigens die Bezeichnung „ω-Kohlenstoffatom“ nach dem letzten Buchstaben des griechischen Alphabets. Von der Palmitinsäure ausgehend ist es für die Säugetiere ziemlich einfach, die wichtigsten anderen Fettsäuren herzustellen. Nach dem bisher so erfolgreich angewandten Prinzip des Kettenwachstums entsteht die Stearinsäure mit ihren 18 Kohlenstoffatomen, allerdings nicht einfach im Zellsaft von Leberzellen, sondern in speziellen Organellen, dem „endoplasmatischen Reticulum“ (Abb. 2.15), und nicht mithilfe der Fettsäuresynthase, sondern eines anderen Enzymkomplexes.

6.4  …und weiter zu den ungesättigten Fettsäuren…

169

Ein weiterer Entstehungsort für Stearinsäure sind die uns schon länger bekannten Mitochondrien. In denen wird allerdings ganz schlicht das Acetyl-Coenzym A zur Kettenverlängerung eingesetzt. „Warum nicht gleich?“, höre ich Sie rufen. Denn das ist doch einfacher als eine Kettenverlängerung durch Malonyl-Coenzym A, das ja erst aus Hydrogencarbonat und Acetyl-Coenzym A hergestellt wird und dann sein schönes neuerworbenes Kohlendioxidmolekül gleich wieder hergeben muss! Auch wenn dieses Kohlendioxid unter physiologischen Bedingungen sofort neues Hydrogencarbonat bildet und katalysatorartig in die Synthese zurückkehrt, erscheint uns doch dieses Herein und Heraus ziemlich planlos, unelegant und umständlich. Warum also hat die Palmitinsäure nur einmal Acetyl-CoA und siebenmal Malonyl-CoA verwendet, anstatt sich einfach achtmal mit Acetyl-CoA zu bedienen? Der Grund für dieses seltsame Gebaren wird uns klar, wenn wir weiter unten den Fettsäureabbau genauer untersuchen. Dort spielt nämlich das AcetylCoenzym A eine dominierende Rolle. Offensichtlich verhindert die Natur durch die Verwendung des Malonyl-Coenzyms A unschöne oder gar verhängnisvolle Verwechslungen und Kurzschlüsse.

6.4 …und weiter zu den ungesättigten Fettsäuren… Die wichtigsten dieser „Alkensäuren“ heißen Ölsäure, Linolsäure und Linolensäure. Alle drei enthalten 18 Kohlenstoffatome im Molekül und entstehen mithilfe von Desaturasen2 und Coenzymen aus Stearinsäure-ACP und Sauerstoff. Die Reaktion ist recht erstaunlich, weil das NADPH mitwirkt, das eigentlich ein Hydrierungsmittel ist. Hier dient es zum Abfangen der Hälfte des Sauerstoffmoleküls und sicher auch zum Verbrauchen eines Teils der Oxidations-Wärmeenergie: C17 H35 CO−SACP + O2 + NADPH + H+ → C17 H33 CO−SACP + 2H2 O + NADP+

Im Falle der Ölsäure entsteht zwischen dem 9. und 10. Kohlenstoffatom der Kette eine cis-Doppelbindung, bei der Linolsäure außerdem eine zweite zwischen dem 12. und 13. Kohlenstoffatom und schließlich bei der Linolensäure eine dritte zwischen den Kohlenstoffatomen Nr. 15 und 16. Nummeriert wird immer von der COOH-Gruppe ausgehend. Säugetiere und Menschen haben leider kein Enzym, das jenseits des zehnten C-Atoms eine Doppelbindung schaffen könnte. Sie benötigen aber Linolund Linolensäure, unter anderem, weil sie aus der ersteren über die vierfach ungesättigte Arachidonsäure wichtige entzündungshemmende Botenstoffe wie Prostaglandine und Leukotriene herstellen. Für sie sind deshalb Linolsäure und

2Zur Namenserklärung: „saturiert“ heißt „gesättigt“, eine Desaturase macht also eine Sättigung zunichte, indem sie z. B. aus einer CH2–CH2-Gruppe Wasserstoff abspaltet und diese dadurch in eine „ungesättigte“ CH=CH-Gruppe umwandelt.

170

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

Linolensäure „essenzielle Fettsäuren“ und damit unentbehrliche Bestandteile der Nahrung. Die in Leinöl und Lachs besonders reichlich enthaltene Linolensäure zählt zu den „Omega-3-ungesättigten“ oder „mehrfach ungesättigten“ Fettsäuren3. Sie haben unter Anhängern einer gesunden Ernährung eine gewisse Beliebtheit erlangt, weil man von ihnen erwartet, dass sie vorbeugend gegen Arteriosklerose, Cholesterinplaques und Entzündungsvorgänge wirken.

6.5 Fette sind Ester der Fettsäuren mit Glycerin Nachdem wir mit einigem Aufwand die wichtigsten Fettsäuren hergestellt haben, wollen wir ihren Estern mit dem Glycerin unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Sie entstehen in der Leber enzymatisch aus den Komponenten, und zwar nur dann, wenn ATP zur Synthese des Malonyl-Coenzyms A verfügbar ist, mit anderen Worten, wenn der Organismus gut mit Energie versorgt ist. Geregelt wird die biologische Fettsäure- und damit auch die Fettsynthese durch die Aktivität der Acetyl-Coenzym A-Carboxylase, die ja laut Abb. 6.3 die Reaktion von Hydrogencarbonat mit Acetyl-Coenzym A zu Malonyl-Coenzym A katalysiert. Dieses Enzym wird durch Citrat angespornt und durch das Endprodukt der Fettsäuresynthese, Palmityl-Coenzym A gebremst. Im Klartext heißt dies, dass Fette biochemisch aus Zucker entstehen, wenn der Zitronensäurezyklus flott in Betrieb, die Ernährungslage also gut ist. Ihre Entstehung wird verlangsamt, wenn schon viel Palmityl-Coenzym hergestellt wurde. Nicht ganz neu! Ein ähnlicher Mechanismus ist uns doch schon bei der Glykolyse begegnet. Das Glycerin ist beim Aussuchen seiner Reaktionspartner nicht wählerisch. Es verestert sich bereitwillig mit jeder Fettsäure etwa gleich gern. Folglich bestehen Fette aus einem wilden Gemisch von Verbindungen. Abb. 6.7 zeigt als Beispiel ein Molekül, in dem Palmitinsäure, Stearinsäure und Ölsäure am Glycerin zusammengefunden haben. „Und die Öle?“, werden Sie fragen. Die wurden bis jetzt stiefmütterlich behandelt. Sie sind chemisch nicht grundlegend anders als die Fette, haben aber mehr ungesättigte Fettsäuren eingebaut. Durch deren starre C=C-Doppelbindungen haben sie es schwerer, ihre Molekülketten in einem Kristall streng geordnet unterzubringen. Sie brauchen also stärkeren Zwang, sprich: tiefere Temperaturen, um zu kristallisieren, und das bedeutet, dass sie bei Zimmertemperatur flüssig bleiben, während die Ester mit überwiegend gesättigten Fettsäuren schon bei höherer Temperatur fest geworden sind. Abb. 6.7 zeigt deutlich, wie ein Ölsäurerest wegen seiner cis-C=C-Doppelbindung einen störenden Knick in der Kettenmitte aufweist, der sich auch nicht durch fleißiges Geradeziehen ausbügeln lässt. Linolsäure und Linolensäure als Veresterungspartner des Glycerins

3Man

bezeichnet in diesem Falle das endständige Kohlenstoffatom als „Omega“-Kohlenstoffatom und gibt ihm die Nummer 1, zählt also in Richtung zur COOH-Gruppe. Diese (veraltete) Nummerierung der Kohlenstoffatome hat den Vorteil, dass eine Omega-3-Fettsäure auch nach Kettenverlängerung eine Omega-3-Fettsäure bleibt.

6.6  Ein Wort zur Fettverdauung Abb. 6.7  Glycerin ist nicht wählerisch

171 O H 2C O HC O

O O

H 2C O

verstärken diesen Effekt, weil sie noch mehr Versteifungen in die Kohlenstoffkette einbringen. Sie ermöglichen im Falle des Leinöls sogar eine langsame Oxidation durch Luftsauerstoff, die das durchaus wohlschmeckende Leinöl zur Freude aller Ölbildmaler allmählich zu einem festen Harz eintrocknen lässt. Wir wollen mit einem einfachen Versuch die C=C-Doppelbindungen in den Molekülen des Olivenöls nachweisen.

Versuch 6.1: Nachweis der C=C-Doppelbindungen in Olivenöl

Wir schütteln 1 ml Olivenöl mit 1 ml einer Iod/Kaliumiodidlösung („Iodtinktur“). Die dunkelrotbraune Lösung wird entfärbt, weil sich das Jod an die Doppelbindungen des Olivenöls anlagert. Aus den HC=CH-Doppelbindungen entstehen CHI–CHI-Bindungen. Dieser einfache Versuch wird von Biochemikern und Nahrungsmittelkontrolleuren in verbesserter Ausführung angewandt, um den Gehalt an ungesättigten Fettsäuren in Fetten oder Ölen zu bestimmen. Man verwendet in diesem Fall natürlich eine genau abgewogene Menge Öl und titriert diese mit einer genau eingestellten Iodlösung, Sobald das Iod nicht mehr verbraucht wird, liest man an der Bürette den Verbrauch an Iodlösung ab und errechnet daraus die „Iodzahl“ des eingesetzten Öls. Sie gibt an, wie viele Gramm Iod durch 100 gm Öl verbraucht werden. Je höher sie ist, desto mehr ungesättigte Fettsäuren enthält das Öl.

6.6 Ein Wort zur Fettverdauung Selbstverständlich verestert sich das Glycerin auch mit Fettsäuren, die nicht aus Glukose hergestellt wurden, sondern aus den Fetten unserer Nahrungsmittel stammen (bei den essentiellen Fettsäuren hat es gar keine andere Wahl!). Die Fette werden in unserem Verdauungstrakt mithilfe von Lipasen4 aus dem Magen und der Bauchspeicheldrüse „verseift“ – das heißt: durch Einwirkung von Wasser zu

4Lipasen gehören zu den Hydrolasen. Sie werden mit Hilfe von genveränderten Mikroorganismen technisch hergestellt und vor allem modernen Waschmitteln zugesetzt. Klar, dass sie in der Wäsche Fettflecken restlos beseitigen!

172

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

Abb. 6.8  Hin und zurück

O H 2C O HC O

O + 3 HOH

O

H 2C O Veresterung

Verseifung O

H2C OH

HO

HC OH + HO H2C OH

O O

HO Enzym: Hydrolase

Glycerin, Glycerinmonoestern und Fettsäuren gespalten. Die Darmbewegung und Emulgatoren, welche aus der Gallenblase eingespeist werden, helfen dabei tatkräftig mit, indem sie das Fett in feinste Tröpfchen zerteilen. Die Veresterung wird also teilweise rückgängig gemacht. Aber nur kurz, und nur, damit die Fettsäuren in die Darmzellen aufgenommen werden können. In den Darmzellen angekommen, werden nämlich die Fettsäuren, Glycerin und Glycerinmonoester eilends wieder zu Fetten verestert, an das Blut abgegeben und mit dessen Hilfe in die Organe befördert, die sie benötigen oder speichern. Vor allem in den Muskeln werden die Fette verbrannt – sie sind deren Hauptenergielieferanten. Wie wir später noch sehen werden und auch auf Grund unserer Erfahrung als Biochemiker erwarten, geschieht dies flammenlos, also wieder mithilfe von Enzymen. Bei reichlichem Angebot werden die Fette in der Leber gespeichert oder, wenn es viel zu viele davon gibt, in eigens dafür bereitgestellten Zellen eingelagert. Bevorzugt auf der Hüfte oder auf dem Bauch! Zucker macht also doch dick – wie anfangs behauptet und von unserem gefräßigen Freund zu Unrecht bezweifelt. Abb. 6.8 zeigt am Beispiel des Glycerintripalmitats (etwas salopp auch „Tripalmitin“ genannt) die Verseifung des Esters und deren Umkehrung, die Veresterung des Glycerins, also die Wiederherstellung des Fetts. Vielleicht wundern Sie sich über das merkwürdige Wort „Verseifung“. Es klingt so gar nicht nach Biochemie, sondern erinnert eher an die ehrwürdige Zunft der Seifensieder, die bereits zu biblischen Zeiten ihrer Arbeit nachgingen.5 Anstelle von Gallenenzymen verwendeten sie alkalisch reagierende Sodalösungen oder

5Jer

2, 22. Die Herstellung von Seife durch Kochen von Fett mit Laugen geht auf die Sumerer zurück. Sie wurde unabhängig von den Galliern nochmals erfunden und dann von den Römern übernommen.

6.7  Seifenmoleküle bei der Arbeit

173

Natronlauge, um aus dem Fett die begehrte Seife zu gewinnen. Nach stundenlangem Kochen und Rühren wurde dann durch Zugabe von Kochsalz die Seife „ausgesalzt“ – sie scheidet sich als „Kernseife“ auf der erkaltenden Flüssigkeit ab. Da in unserem Darm alkalisches Milieu vorherrscht, gibt es auch dort Alkalisalze der Fettsäuren, also Seifenmoleküle(!). Warum brauchen die Seifensieder überhaupt Sodalösung oder Natronlauge? Sie machen sich – in früheren Zeiten ohne es zu wissen – die Reaktionsgleichung der Abb. 6.8 zunutze und bieten der Natronlauge Palmitinsäure zur Neutralisation an. Es entsteht Natriumpalmitat und Wasser. Weil die Palmitinsäure immer wieder wegneutralisiert wird, die Konzentration des Reaktionsprodukts also niedrig bleibt, wird das Reaktionsgleichgewicht in Richtung Palmitinsäureentstehung verschoben. Deshalb läuft die Verseifungsreaktion auch ohne Enzym ziemlich flott, allerdings erst bei Siedetemperatur, in der gewünschten Richtung einigermaßen vollständig.

6.7 Seifenmoleküle bei der Arbeit Wir können den Seifenmolekülen bei der Arbeit zuschauen – dies zeigt die folgende Versuchsreihe:

Versuch 6.2: Hydrophil und hydrophob

Wir feuchten die Ecke eines Stücks Kernseife an und erzeugen damit auf einem Objektträger einen Seifenfleck. Daneben schmieren wir etwas Butter oder Schmalz auf das Glas. Dann setzen wir mithilfe eines Glasstabs je einen Tropfen Wasser auf den Fettfleck, den Seifenfleck sowie neben die beiden Flecken. Es fällt uns auf, dass das Wasser offensichtlich von den Fettmolekülen abgestoßen wird, denn der Tropfen auf dem Fett ist klein, rund und hoch. Demgegenüber ist der Tropfen auf dem Seifenfleck flach und ausgedehnt. Der Tropfen auf dem Glas ist höher und kleiner als der auf der Seife, aber niedriger als der auf dem Schmalz. Auch in der Ausdehnung steht er zwischen den beiden Vergleichstropfen. Wir schließen daraus, dass sich Fett und Wasser gegenseitig abstoßen, während Seifenmoleküle offensichtlich Wassermolekülen freundlich begegnen. Fette bezeichnet man deshalb als „hydrophob“, Seife als „hydrophil“. Wir sind diesen Begriffen schon bei den Aminosäuren mit ihren Resten R begegnet. Es wundert uns nicht, dass Fette Wasser abweisen, denn sie haben ja drei Fettsäurereste im Molekül, die mit ihren vielen >CH2-Gruppen den langkettigen Kohlenwasserstoffen ähneln und deshalb wie diese dem Wasser die kalte Schulter zeigen. Erstaunlich ist schon eher, dass Seife wasserfreundlich sein soll, denn auch bei Natriumpalmitat und Konsorten gibt es eine lange Kohlenwasserstoffkette im

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

174

Molekül. Wir vermuten natürlich, dass die CO–O− Na+-Gruppe am Molekülende für die Freundschaft zum Wasser verantwortlich ist. Aber wie kann sich das wasserfreundliche Molekülende gegen den riesigen Rest an Wasserfeinden in der Kohlenstoffkette durchsetzen? Das wird uns erst im übernächsten Versuch klar. Der folgende verstärkt eher noch mehr unsere Verwirrung.

Versuch 6.3: Seifenlösung reagiert alkalisch, Fettsäuren sind schwer löslich

Wir bereiten eine möglichst konzentrierte Lösung aus zwei kleinen Schnitzeln Kernseife und einigen Millilitern lauwarmem entmineralisiertem Wasser. Ein Streifen eingetauchtes pH-Papier zeigt uns durch Blaufärbung alkalische Reaktion an. Der pH-Wert beträgt etwa 9. Säuern wir einen Teil der Seifenlösung durch Zugabe von etwas Essig oder Salzsäure an, so scheiden sich die Fettsäuren als eine fettige Schmiere ab, weil sie in Wasser fast unlöslich sind. Das Natriumpalmitat (wie auch andere Natriumsalze der Fettsäuren) reagiert mit Wasser, indem es diesem ein Proton entreißt und dadurch Hydroxid-Ionen erzeugt:

C15 H31 −CO−O− Na+ + HOH → C15 H31 −CO−OH + Na+ + OH− Die Reaktion verläuft jedoch unvollständig, weil auch die Rückreaktion möglich ist:

C15 H31 −CO−OH + Na+ + OH− → C15 H31 −CO−O− Na+ + HOH Es bildet sich ein Gleichgewicht zwischen den Reaktionspartnern aus, bei dem Palmitat-Ionen, Palmitinsäure, Wasser, Natrium-Ionen und Hydroxid-Ionen nebeneinander vorliegen. Wenn man durch Zugabe einer Säure (zum Beispiel Essigsäure oder Salzsäure) Wasserstoff-Ionen einträgt, werden die Hydroxid-Ionen neutralisiert und das Gleichgewicht verschiebt sich zugunsten der Entstehung von undissoziierter Palmitinsäure C15H33–CO–OH, die naturgemäß wegen der Übermacht ihrer vielen >CH2-Gruppen in Wasser unlöslich ist – trotz der einen polaren, wasserfreundlichen CO–OH-Gruppe am Molekülende. Wir fragen uns, warum dann Seifenmoleküle löslich sind. Sie haben doch auch nicht weniger wasserfeindliche >CH2-Gruppen als die Fettsäuren selber! Eine Erklärung liefert der nächste Versuch.

Versuch 6.4: Mizellen

Unsere Seifenlösung aus Versuch 6.3 wird nicht völlig klar, sondern opalesziert, auch wenn wir probeweise einen Kubikzentimeter davon mit Wasser verdünnen. Setzen wir einen Tropfen der konzentrierten Lösung auf einen Objektträger, decken ihn mit einem Deckgläschen ab und betrachten ihn bei 300–500facher Vergrößerung unter dem Mikroskop, so erkennen wir die

6.7  Seifenmoleküle bei der Arbeit

175

Ursache der Trübung. Es sind winzige farblose Kügelchen, die sogenannten Mizellen, die von den Wassermolekülen lebhaft herumgestoßen werden und deshalb eine eigentümliche Zitterbewegung vorführen. Sie entstehen, weil die langen Molekülketten der Fettsäuresalze mit ihren vielen >CH2-Gruppen vom Wasser abgestoßen werden, während die endständige CO–O− Na+Gruppe das Molekül wasserfreundlich macht. Die verstoßenen Molekülketten der fettsauren Salze suchen Trost, indem sie sich zu Tröpfchen zusammenballen. Ihre wasserfreundlichen CO–O− Na+-Gruppen müssen draußen bleiben – sie ragen aus der Oberfläche der Kügelchen heraus in das Wasser hinein, dem sie ja ohnehin freundlich zugetan sind. Manche von ihnen reagieren jetzt mit dem Wasser unter Bildung von CO–OH-Gruppen und Hydroxid-Ionen, ganz wie oben für das Natriumpalmitat beschrieben. Weil einige CO–O−-Gruppen übrig bleiben, verleihen sie den Mizellen eine negative Ladung. Das wiederum führt dazu, dass sich die Mizellen gegenseitig abstoßen und dadurch gehindert werden, sich zu größeren Gebilden zusammenzuballen.

Versuch 6.5: Die Mizellen sind negativ geladen

Wir basteln uns ein Elektrolysegefäß, indem wir eine Kunststoffflasche in der Mitte quer durchsägen. Die obere Hälfte verschließen wir mit einem gut passenden Korkstopfen, den wir mit einem 1,5 mm starken Nagelbohrer an zwei einander gegenüberliegenden Stellen durchbohrt haben. Durch die Löcher schieben wir jeweils ein 5 cm langes Stück einer 2 mm starken Grafitmine, wie wir sie im Schreibwarengeschäft für Wechselbleistifte erwerben können. Wir prüfen das Gefäß auf Dichtheit, bevor wir es in ein passend angefertigtes Holzgestell setzen. Darunter stellen wir eine 4,5 V Kastenbatterie so auf, dass ihre Pole mit jeweils einem der Grafitstäbe Kontakt haben (s. Abb. 6.9). Jetzt füllen wir das Gefäß etwa 4 cm hoch mit entmineralisiertem Wasser, in dem wir bei etwa 40 °C ein Eckchen fein geraspelte Kernseife gelöst haben. Fast sofort beobachten wir an der mit dem Pluspol der Batterie verbundenen „Anode“ einen weißen Überzug, der sich anscheinend ablöst, aber immer wieder nachgebildet wird. An der Kathode steigt ab und zu ein kleines Gasbläschen auf. 12 h später haben sich nahe der Oberfläche weiße Flöckchen angesammelt. Der pH-Wert der immer noch trüben Flüssigkeit ist auf etwa 6–7 abgefallen, beim Einblasen von Luft mithilfe eines Trinkhalms entstehen keine Schaumblasen. Unter dem Mikroskop sehen wir keine Mizellen mehr, wohl aber Flöckchen einer unlöslichen, vermutlich wachs- oder fettartigen Substanz. Tatsächlich: Wenn wir die Flüssigkeit einige Minuten bei etwa 80 °C rühren und dann abkühlen lassen, sind fast alle Flöckchen zu auf dem Wasser schwimmenden kleinen „Fettaugen“ zusammengeschmolzen.

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

176 Abb. 6.9  Elektrolyse von Seifenlauge

Kunststoffflasche Seifenlauge

Korken Graphitmine

4,5 V-Taschenlampenbatterie

Energy

4,5 V

Offensichtlich wurden die Seifenmizellen wegen ihrer negativen Ladung von der positiv geladenen Elektrode angezogen und verloren, weil dort ein schrecklicher Elektronenmangel herrscht, an jedem Seifenmolekül ein Elektron. Aus den R– CO–O−-Ionen entstanden instabile elektrisch neutrale Moleküle, die schleunigst CO2 abgaben. Dieses CO2 bildete mit den OH−-Ionen der Seifenlauge Hydrogencarbonat-Ionen – von daher die Verminderung des pH-Werts:

CO2 + OH− → HCO− 3 Übrig blieben die Reste R mit jeweils einem ungepaarten Elektron am Molekülende. Jeweils zwei von diesen „Radikalen“6 lagern sich sofort zu wachsartigem R–R zusammen (es entstehen also Kohlenwasserstoffe mit 2 · 15 bis 2 · 17 Kohlenstoffatomen):

R−CO−O− → e− + (R. CO2 ) (R. CO2 ) → R. + CO2 R. +. R → R−R Die Wachsflöckchen steigen im Wasser auf, weil sie geringere Dichte haben. Sie schmelzen bei Temperaturen um 70 °C und bilden dann die beobachteten „Fettaugen“, ähnlich wie Rinderfett auf der Fleischbrühe.

6Radikale

sind in der Chemie Verbindungen, die ein ungepaartes Elektron tragen. Sie sind äußerst reaktionsfähig und lagern sich, wenn sie keinen anderen Reaktionspartner finden, unter Ausbildung einer C–C-Einfachbindung zusammen.

6.7  Seifenmoleküle bei der Arbeit

177

An der Kathode entstand Wasserstoff, weil dort H+-Ionen durch Elektronen in Wasserstoffatome verwandelt wurden und diese sofort molekularen Wasserstoff bilden:

2 H+ + 2e− → 2 H 2 H → H2 Versuch 6.6: Wie Seife wäscht

Wir reiben den Zeigefinger mit einer Mischung von Ruß und Fett ein und waschen ihn anschließend in 2 ml unserer Seifenlösung. Danach untersuchen wir einen Tropfen der inzwischen dunkel gefärbten Waschlauge wie in Versuch 6.4 unter dem Mikroskop. Viele der vorher farblosen Mizellen haben rußiges Fett in ihr wasserfeindliches Zentrum aufgenommen und sind deshalb schwarz gefärbt. Beim Waschen ist also eine „Emulsion“ von Ruß, Fett und Seife in Wasser entstanden. Sie wurde möglich, weil die Mizellen Fett lösen, sich aber nach wie vor auch mit Wasser vertragen. Wir werden weiter unten mit dem Lecithin einen anderen, noch stärkeren Emulgator kennenlernen.

Versuch 6.7: Seifenblasen

Unsere Seifenlauge entwickelt beim Schütteln Schaum. Mithilfe eines Trinkhalms oder Glasröhrchens gelingt es uns auch, Seifenblasen zu erzeugen. Sie zerplatzen, wenn sie zu groß werden oder längere Zeit sich selbst überlassen bleiben. Der Versuch, den wir schon als Kinder durchgeführt haben, ist nicht so trivial, wie er auf den ersten Blick erscheint, wenn wir uns die Frage stellen, warum die Seifenmoleküle fähig sind, mit Wasser Blasen zu bilden, die ja durch eine dünne Haut Innen und Außen voneinander trennen. Das ist möglich, weil sie mit den hydrophilen CO–O−-Gruppen ins Wasser des Tropfens eintauchen, ihre langen Ketten mit den hydrophoben Kohlenwasserstoffresten dagegen in die Luft strecken. Beim vorsichtigen Einblasen von Luft bildet sich im Seifenlösungstropfen ein Hohlraum mit einer inneren Oberfläche, die sofort durch arbeitslose Seifenmoleküle besetzt und stabilisiert wird, weil auch hier die hydrophoben Kohlenwasserstoffketten in die Luft ragen und die hydrophilen CO–OH-Gruppen ins Wasser eintauchen. Mit mehr Luft wird der Hohlraum immer größer und die Abstände zwischen Innen und Außen (sprich: die Wanddicke) immer kleiner. Das Endergebnis ist eine Blase mit hauchdünner Wand aus Wasser und Seife, wie das Abb. 6.10 zeigt. Die Seifenblase platzt, wenn sie zu groß wird, weil dann die Dicke der Blasenwand so gering ist, dass sich die negativ geladenen

178

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

Abb. 6.10  Die Membran reißt

Das Platzen der Seifenblase

vereinfachte Darstellung von: O O–

CO–O−-Gruppen (und negativ polarisierten CO–OH-Gruppen) zu nahe kommen. Dann stoßen sie sich gegenseitig ab – das hält keine Membran aus. Ja, Sie haben richtig gelesen. Die Wand einer Seifenblase ist eine Membran. So ähnlich mögen die Schutzhüllen entstanden sein, welche die ersten Prokaryonten von der Ursuppe oder der Uratmosphäre trennten. Und wir werden noch sehen, dass ähnlich gebaute Membrane in den Zellen der Eukaryoten auch heute noch vorkommen. Dass sie für nicht allzu sperrige Moleküle durchlässig sind, wird uns dann ebenfalls einleuchten.

6.8 Wie Fett abgebaut wird Der nachdenkliche Leser hat wieder einmal allen Anlass, sich zu wundern. Mit Interesse hat er vermerkt, dass Kohlehydrate wie Stärke oder Traubenzucker in eleganten Reaktionsfolgen unter Energiegewinn bis zum Kohlendioxid und Wasser abgebaut werden. Er kann sich vorstellen, dass auch Proteine „irgendwie“ beim Stoffwechsel flammenlos verbrennen, und hat irgendwo gelesen, dass eine fettfreie Ernährung möglich ist – da fragt er sich wirklich, warum die Evolution überhaupt die Fette als Energiespender dazu erfunden hat, Substanzen, die sie mühsam in Trippel-Doppelschritten aus Acetyl-Coenzym A und Malonyl-Coenzym A aufbaut und anschließend in unschönen Fettpölsterchen ablagert! Aber beim Blättern in einem alten Ernährungsratgeber stößt er auf eine Kalorientabelle, die auflistet, wie viele Kilokalorien7 bei der Verbrennung von 100 g eines Nahrungsmittels 7Die

Kalorie (cal) ist als Maßeinheit für Wärmeenergie längst durch das Joule (J) abgelöst, hat aber den Vorzug der Anschaulichkeit, denn 1 kcal ist die Wärmemenge, die 1 kg Wasser benötigt, um von 14,5 auf 15,5 °C aufgeheizt zu werden. 1 cal entspricht 4,09 J. Ein ruhender Mensch benötigt etwa 2000 kcal pro Tag.

6.8  Wie Fett abgebaut wird

179

entstehen und da findet er die Fette an vorderster Stelle. 100 g davon liefern fast 1000 kcal! Demgegenüber verblasst der „Nährwert“ von Stärke, der bei kargen 420 kcal pro 100 g liegt und stark eiweißhaltige Nahrungsmittel erreichen nicht einmal das. Der Vorteil wird weiter ausgebaut, weil die Speicherkapazität unseres Körpers für Fett viel höher ausfällt als die für Eiweiß oder Kohlenhydrate. Jetzt begreift er, dass die Fettreserven manchen Warmblütern den Winterschlaf ermöglichen, dass sie den Zugvögeln für Ihre riesigen Flugstrecken unentbehrlich sind und sogar Pflanzenembryonen in Nüssen oder Samenkernen platzsparend mit Energie versorgen. Auch wir Menschen waren in der Eiszeit über Fettreserven froh, die uns den langen Winter mit seinem kargen Nahrungsangebot ertragen ließen. Derartige Überlegungen steigern natürlich die Neugier und unser Leser fragt sich, wie sein Körper die Energie aus den Fetten der Nahrung oder aus den Fettreserven gewinnt. Der Fettabbau beginnt – wie könnte es anders sein – mit einer Verseifung, für welche die uns wohlbekannten Lipasen sorgen. Sie führt einerseits zu Glycerin und andererseits zu Fettsäuren, wie dies Abb. 6.8 zeigt. Um die Verwertung des Glycerins müssen wir uns nicht viel kümmern – es wird unter Mithilfe von ATP enzymatisch oxidiert und phosphoryliert. Dabei entsteht Glycerinaldehyd-3phosphat, abgekürzt G3P; es ist uns aus der Glykolyse (Abb. 2.6) bestens bekannt. Die Abb. 2.8 bis Abb. 2.12 zeigen, wie es dort mit Energiegewinn bis zum Pyruvat weiter verarbeitet wird. Der Abbau der Fettsäuren ist nicht so einfach. Ihre Moleküle widerstehen den katalytischen Kunstgriffen der Enzyme ungerührt und unverändert. Sie müssen erst aktiviert, und das heißt: an Coenzym A gebunden werden.8 Wir wollen das am Beispiel der Stearinsäure untersuchen. Sie hat bekanntlich 18 Kohlenstoffatome in der Kette und gehorcht der Formel C17H35–CO–OH. Für unsere Zwecke ist es hilfreich, wenn wir stattdessen C15H31–CH2–CH2–CO–OH schreiben. Die Aktivierung geschieht in zwei Schritten: Zuerst reagiert die Stearinsäure mit dem vielseitigen ATP. Dabei entsteht Stearyl-Adenosinmonophosphat, und ein Molekül anorganisches Diphosphat wird frei, das unter Energieabgabe und Wasseraufnahme in zwei Moleküle Phosphat zerfällt (Abb. 6.11). In der zweiten Stufe reagiert Stearyl-Adenosinmonophosphat mit nacktem Coenzym A zu Stearyl-Coenzym A und Adenosinmonophosphat (AMP), wie das Abb. 6.12 zeigt. Die Aktivierung ist damit abgeschlossen – das Stearyl-Coenzym A wartet sehnsüchtig auf einen attraktiven Reaktionspartner. Dieser naht in Gestalt des altbewährten Dehydrierungsmittels FAD. Es entreißt dem Stearylrest zwei Wasserstoffatome, und zwar nicht irgendwo, sondern es geht der Nähe nach und beraubt ausschließlich die beiden Kohlenstoffatome, die der >CO-Gruppe am nächsten stehen. Dadurch entsteht eine CH=CH-Doppelbindung

8Wir haben „aktivierte Essigsäure“ beim „Vorlauf“ zum Zitronensäurezyklus kennengelernt (Abb. 2.18).

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

180 C 15 H31 CH 2 CH 2 COOH

+ ATP

C15 H31 CH 2 CH 2 CO AMP + Pi P

Pi P + H 2O

2 Pi + Energie

Abb. 6.11  Der Stearinsäureabbau beginnt … Abb. 6.12  … Coenzym A greift ein …

Abb. 6.13  … FAD dehydriert …

C15 H31 CH 2 CH 2 CO AMP + HS CoA C15 H31 CH 2 CH 2 CO S CoA + AMP + H +

C15 H31 H C H + FAD H C H C S CoA O

C 15 H31 H

C C

H + FADH

2

C S CoA O

und selbst die entsteht nicht irgendwie, sondern so, dass die verbleibenden Wasserstoffatome sich diagonal gegenüber stehen. Also eine trans-Doppelbindung! Diesen Schritt zeigt Abb. 6.13. Es folgt eine Wasseranlagerung an die Doppelbindung. Auch hier zeigt sich das verantwortliche Enzym von seiner leistungsfähigsten Seite. Es sorgt nämlich dafür, dass die OH-Gruppe ausschließlich am β-Kohlenstoffatom angelagert wird, das α-Kohlenstoffatom muss sich immer mit dem Wasserstoffatom begnügen. Aber das ist nicht das Erstaunlichste. Es entsteht ja hier ein Molekül mit einem asymmetrischen Kohlenstoffatom, die β-Hydroxystearinsäure9. Von dem gibt es, wie wir wissen, zwei räumlich verschiedene Isomere, eines in der D-Konfiguration, das andere mit der L-Konfiguration. Wäre ein gewöhnlicher Katalysator wirksam, so müssten beide optische Isomere in gleicher Menge entstehen. Aber nichts da: unser Enzym bringt es fertig, ausschließlich das L-β-Hydroxystearinsäuremolekül herzustellen (Abb. 6.14). Also ein einziges Reaktionsprodukt von vier möglichen! Selbstverständlich bleibt es bis auf weiteres mit dem Coenzym A verbunden. Wir fragen uns natürlich, warum das Enzym so viel Sorgfalt aufwendet. Und da erinnern wir uns, dass bei der Fettsäuresynthese das β-Hydroxystearinsäuremolekül ebenfalls auftritt – es ist Zwischenprodukt beim Weg von der Palmitinsäure zur Stearinsäure. Dort ist es nicht an Acetyl-CoA, sondern an Acyl-Carrierprotein gebunden und das dort wirksame Enzym erzeugt ausschließlich D-β-Hydroxystearinsäuremoleküle (ablesbar aus Abb. 6.6). Wir dürfen

9Statt

β-Hydroxystearinsäure kann man natürlich auch 3-Hydroxyystearinsäure sagen. In diesem Fall beginnt die Nummerierung der Kohlenstoffatome wie gewohnt mit 1 an der CO– OH-Gruppe.

6.8  Wie Fett abgebaut wird Abb. 6.14  … Wasser wird angelagert …

181 C 15 H31 H

C C

C15 H31 H C OH H C H C S CoA

H + H 2O C S CoA O

Abb. 6.15  … Wasserstoff abgespalten …

C15 H31 H C OH + NAD + CH 2 C S CoA O

O

C 15 H31 C O + NADH + H + CH 2 C S CoA O

vermuten, dass die Natur mit diesem Unterschied der Verwechslung und einem daraus entstehenden Kurzschluss zwischen Fettsäuresynthese und -Abbau einen weiteren Riegel vorgeschoben hat. Der nächste Schritt ist erneut eine Dehydrierung: Das Enzym mit dem gewohnt langwierigen, aber zutreffenden Namen D-β-Hydroxystearyl-Coenzym A-Dehydrogenase (19 Silben!!) katalysiert die Einwirkung von NAD+ auf unser optisches Isomer und bewirkt dadurch die Entstehung der β-Ketostearinsäure – natürlich nach wie vor an CoA gebunden. Weil das β-Kohlenstoffatom jetzt ein Sauerstoffatom festhält, bezeichnet man den Fettsäureabbau auch als „β-Oxidation“. Klar, dass die Wahl des β-Kohlenstoffatoms für die Oxidation bereits zwei Stufen vorher bei der genau gesteuerten Wasseranlagerung begonnen hat! Die Reaktion ist in Abb. 6.15 beschrieben.10 Die β-Ketostearinsäure wird im nächsten Verfahrensschritt zerlegt. Offensichtlich hat die α-CH2-Gruppe Schwierigkeiten, zwei Kohlenstoffatome mit je einem angehängten Sauerstoffatom fest zu binden, denn an dieser Stelle reißt das Molekül auseinander, wenn ein nacktes Molekül Coenzym A mit dem Enzym Acetyl-CoA-Acetyltransferase als Bundesgenosse angreift. Es entsteht einerseits das uns wohlbekannte Acetyl-Coenzym A („aktivierte Essigsäure“) und andererseits Palmityl-Coenzym A. Und – hoppla – ist das C18-Molekül der Stearinsäure in zwei Bruchstücke (C2 und C16) zerlegt! Abb. 6.16 zeigt diese verblüffende Reaktion. Natürlich gibt es für das neu entstandene Palmityl-Coenzym A kein Hindernis und kein Halten, wenn es dem soeben abgebauten Stearyl-Coenzym A nacheifern will. Es durchläuft seinerseits die Reaktionsfolge Dehydrierung – Wasseranlagerung – Oxidation zur β-Ketopalmitinsäure und deren Abbau zu einer C14-Fettsäure. Und so geht der Fettsäureabbau weiter. Aus C14 wird C12, C10, C8

10Die Reaktionsfolge Dehydrierung – Wasseranlagerung – Ausbildung einer Ketogruppe kommt auch beim Zitronensäurezyklus vor. Dort entsteht aus Succinat Fumarat, dann Malat und schließlich Oxalacetat (Abb. 2.24, 2.27 und 2.28).

182 Abb. 6.16  und danach Acetylcoenzym A!

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

C 15 H31 C O + HS CH 2 C S CoA O

C15 H31 C O S CoA CoA

+ CH 3 C S CoA O

und so fort bis zuletzt auch die Buttersäure (C4!) in zwei Moleküle „aktivierte Essigsäure“ zerlegt worden ist. Sic transit gloria mundi! Aber wo bleibt der versprochene Energiegewinn? werden Sie fragen. Er ist in den Nebenprodukten der ersten und der zweiten Dehydrierung versteckt. Denn da entstand ein Molekül FADH2 und ein Molekül NADH. Ersteres erzeugt in der Atmungskette 2 Moleküle ATP und letzteres 3 – wenn wir die höheren Zahlen verwenden, die wir beim zweiten Ausflug kennengelernt haben. Das wären 5 Moleküle ATP je Durchgang oder 5 · 30,5 = 152,5 kJ. Weil wir 8 Durchgänge brauchen, um die 18 Kohlenstoffatome in der Kette der Stearinsäure mit Zweierschritten zu 9 Molekülen (aktivierter) Essigsäure abzubauen, ergibt der Abbau eines Mols Stearinsäure 8 · 152,5 = 1220 kJ oder rund 300 kcal. Sie stecken in 8 · 5 = 40 Molekülen ATP. Das ist aber noch nicht der ganze Energiegewinn. Denn die 9 Moleküle Acetyl-Coenzym A werden natürlich in den Zitronensäurezyklus eingespeist und dort in neun Durchgängen weiterverarbeitet. Sie ergeben dabei 9 · 3 = 27 Moleküle NADH und 9 Moleküle FADH2 sowie 9 Moleküle ATP. Wir rechnen wieder aus, wie viel ATP in der Atmungskette aus NADH und FADH2 entsteht und kommen so auf 27 · 3 = 81 und 9 × 2 = 18 Moleküle ATP. Zusammen sind das jetzt 99 ATP. Dazu die obigen 9, die schon beim Zitronensäurezyklus anfielen, macht 108 ATP. Aus dem vorletzten Textabsatz stehen uns noch 40 ATP zur Verfügung. Insgesamt hat also die Umwandlung der Stearinsäure in Kohlendioxid und Wasserdampf 108 + 40 = 148 Moleküle ATP eingebracht. Das entspricht 148 · 30,5 = 4514 kJ oder 1104 kcal je 284 g (das ist das Molgewicht der Stearinsäure). Hätten wir die Stearinsäure brutal „abgefackelt“, wären uns 39,6 kJ je Gramm in den Schoß gefallen, also je Mol 284 · 39,6 = 11 246 kJ. Durch unser behutsames biochemisches Vorgehen haben wir davon 4514 kJ in ATP-Molekülen verpackt und damit zum Anschieben biochemischer Reaktionen nutzbar gemacht. Das sind etwa 40 % und das kann sich sehen lassen.11 Es überzeugt auch unseren skeptischen Freund, dass

11Der

Rest dient wieder zur Erhaltung der Körpertemperatur und für den freiwilligen Ablauf von Reaktionen, im Ausnahmefall – bei den Glühwürmchen und manchen Meeresbewohnern – für die Erzeugung von Licht.

6.9  Ein Abstecher zu anderen Lipiden

183

Fette leicht zu speichernde, äußerst energiereiche Nahrungsbestandteile oder Stoffwechselprodukte sind, unentbehrlich für lang andauernde Anstrengungen oder Hungerperioden. Umgekehrt begreift der sportlich orientierte Leser, warum es so mühsam ist, allein durch Energieverbrauch für Dauerlauf und Fahrradfahren Fettpölsterchen abzubauen. Es lohnt sich sehr, hier für eine kurze Betrachtung innezuhalten. Denn die 18 Kohlenstoffatome enthaltende Kette der Stearinsäure wird nicht durch Zweierschritte abgebaut, die an der CH3-Endgruppe des Moleküls beginnen, sondern durch Oxidation des β-Kohlenstoffatoms in der Nähe der Carboxylgruppe. Und das heißt, dass der Fettsäureabbau in umgekehrter Reihenfolge die Zweierschritte der Fettsäuresynthese wiederholt. Die beiden Kohlenstoffatome, die als Starter bei der Synthese wirkten und immer weiter vom Ort des Geschehens weggedrängt wurden, bis sie schließlich die CH3–CH2-Endgruppe der Stearinsäure bilden mussten, werden beim Abbau als letztes (aktiviertes) Essigsäuremolekül wieder frei, genauer gesagt, an das Coenzym A gebunden. Überraschend fühlen wir uns an das biblische „Die Ersten werden die Letzten sein“ erinnert.12 Schlichter denkende Gemüter merken sich nur, dass die Musik immer an der >CO-Gruppe spielt und nie am anderen Ende des Moleküls.

6.9 Ein Abstecher zu anderen Lipiden Inzwischen fragen wir uns, ob denn die Fette die einzigen biologisch wichtigen Moleküle mit langen Kohlenwasserstoffketten sind. Die Antwort ist „nein“, denn in der Natur spielen ähnlich wasserabweisende Verbindungen, die man unter dem Begriff „Lipide“ zusammenfasst, viele und vielseitige Rollen. Eine vereinfachte Übersicht zeigt Abb. 6.17. Wir entnehmen ihr, dass – abgesehen von der Fettähnlichkeit – gemeinsame Eigenschaften ziemlich rar sind. Umso vielseitiger sind ihre Aufgaben. Sie können, wie unsere bis jetzt behandelten Fettsäuren und Triglyceride hauptsächlich als Energiespeichermoleküle dienen, oder aber sie sind Hauptbestandteile von Zellmembranen wie die Phosphoglyceride, oder Emulgatoren wie die Phosphatidate. Auch lebenswichtige Botenstoffe kommen hier vor, wie die Steroidhormone, oder Mantelsubstanzen für Nervenleitbahnen wie die Ganglioside. Eine verwirrende Vielfalt an Substanzen und Aufgaben, deren Abhandlung den Rahmen dieser Einführung sprengen würde. Wir wollen uns deshalb im Folgenden auf die Phosphoglyceride konzentrieren und die übrigen Lipide den Spezialisten überlassen.

12Mt

19, 30.

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

184

Lipide Fettsäuren

Arachidonsäure Leukotriene

Steroide

Prostaglandine Thromboxane

Tr ig lycer id e

Phosphoglyceride

Plasmalogene

W a ch s e

Phosphatidate

Glykosphingolipide

Cerebroside Phosphatidylethanolamine

Sphingolipide Sphingophospholipide

Ganglioside

Phosphatidylcholine

andere Phospholipide Abb. 6.17  Zu fast allem fähig: die Lipide

6.10 Phosphoglyceride Das sind Ester des Glycerins mit Fettsäuren einerseits und Phosphorsäure andererseits. Anstelle von drei Fettsäuremolekülen hat bei ihnen das Glycerin nur zwei zur Veresterung angenommen. Seine dritte alkoholische Hydroxidgruppe benimmt sich extravagant, indem sie sich mit der anorganischen Phosphorsäure, genau genommen unter physiologischen Bedingungen mit einem Phosphat-Ion verestert. Das Ergebnis ist ein Triglycerid mit zwei langen, ziemlich reaktionsträgen unpolaren Kohlenwasserstoffketten und einem elektrisch interessanteren gemeinsamen Kopfstück, an dem uns zwei P–O−-Gruppen begegnen. Sie sind negativ geladen und können zwei Protonen anlagern oder mit zwei einwertigen Metall-Ionen Salze bilden. Typisch für eine Säure, für die uns nur noch der Namen fehlt. Wenn zwei Moleküle Palmitinsäure als Fettsäuren verestert wurden, entstand eine Dipalmitylphosphatidsäure. Sie gehört zu den einfachsten Phosphoglyceriden. Ein ungewöhnliches Molekül! Seine hervorragendsten Eigenschaften erkennen wir, wenn wir es mit dem einer Fettsäure vergleichen. Beide Verbindungen haben lange, nur aus Kohlenstoff und Wasserstoff zusammengesetzte Ketten, die das ganze Molekül wasserfeindlich stimmen. Aber während die Fettsäure nur eine solche Kette aufweist, schmückt sich die Phosphatidsäure mit zweien. Und wo die Fettsäure eine einsame, wasserfreundliche CO–OH-Gruppe vorzeigt, hat die Phosphatidsäure ein Phosphoratom mit zwei angehängten sauer-hydrophilen

6.10 Phosphoglyceride

185

Abb. 6.18  Eine Art SuperFettsäure

O O

O CH 2 O CH O CH 2 O P OH

Dipalmitylphosphatidsäure und zum Vergleich

OH

O

OH Palmitinsäure

OH-Gruppen, ein PO(OH)2. Um ein Molekül Fettsäure zu neutralisieren, benötigt man ein Molekül NaOH, es entsteht ein Seifenmolekül. Demgegenüber sind zwei Moleküle NaOH nötig, wenn unser Phosphoglycerid neutralisiert werden soll. Das entstehende Seifenmolekül ist eine Art Superseife, und die Phosphatidsäure können wir als eine Super-Fettsäure ansehen! Abb. 6.18 versucht, diese Zusammenhänge klar zu machen. Wichtiger wird unsere Phosphatidsäure, wenn sie bereit ist, eine ihrer zwei OH-Gruppen zu verestern. Als Veresterungspartner ist natürlich im Prinzip jeder Alkohol geeignet,13 aber sie tut gut daran, Ethanolamin auswählen, wenn sie den wasserfreundlichen Molekülkopf elektrisch abwechslungsreich gestalten will. Denn dieser Alkohol trägt eine NH2-Gruppe, die begierig ein Proton aufnimmt und dadurch zu einer NH+ 3 -Gruppe wird. Jetzt findet sich am Molekülkopf außer der übrig gebliebenen negativ geladenen P–O−-Gruppe auch noch eine positiv geladene NH+ 3 -Gruppe – mehr elektrische Polarität auf so engem Raum geht gar nicht! Und dieser hydrophile Molekülkopf ist als Ganzes elektrisch neutral, weil plus und minus sich gegenseitig aufheben, schleppt aber pflichtgemäß zwei lange hydrophobe Kohlenwasserstoffketten hinter sich her. Ein ähnliches, aber viel schwächer ausgeprägtes Verhalten haben wir bei den Natriumsalzen der Fettsäuren, den Molekülen der Kernseife mit ihrer einzigen Kohlenwasserstoffkette beobachtet. Das Aminoethylphosphatidat (es heißt auch Cephalin) ist sozusagen eine Super-Seife. Alle bewundernswerten Eigenschaften, die wir bei den Seifenmolekülen beobachtet haben, sind hier in gesteigertem Maße zu beobachten. Die Ähnlichkeit ist in Abb. 6.19 herausgearbeitet. Nun ist Aminoethanol eine Aminoverbindung, die sehr gern ein Proton anlagert, deshalb stark alkalisch reagiert (wie das auch andere Amine tun) und

13Mit

Ethanol als Veresterungspartner entsteht ein Ethylester der Phosphatidsäure, das Ethylphosphatidat, ganz ähnlich, wie aus Ethanol und Essigsäure das Ethylacetat entsteht: C2H5OH + HO– CO–CH3 → C2H5O–CO–CH3 + HOH. In der Natur kommt auch der Ester mit der Aminosäure Serin vor, die ja in der Seitenkette eine alkoholische OH-Gruppe aufweist.

186 Abb. 6.19  Cephalin – eine Art Super-Seife

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn O O

O CH 2 O CH O

+

CH 2 O P O CH 2 CH 2 NH 3 O– in vereinfachter Darstellung: O O

O O

O

O P O

+

NH 3

O– oder weiter vereinfacht so:

deshalb für die sanften Bedingungen der Biochemie wenig geeignet. Und seine protonierte NH2-Gruppe neigt dazu, bei Gelegenheit das Proton wieder abzugeben. Aminoethanol ist also immer noch kein idealer Reaktionspartner für die Phosphatidsäure. Viel neutraler wird das Verhalten der Aminoguppe, wenn man ihre Wasserstoffatome durch CH3-Gruppen ersetzt und statt eines Protons eine dritte CH3-Gruppe anlagert, sie also „quaterniert“. Dementsprechend sind die Ester, welche die Phosphatidsäure mit quaternären Aminoalkoholverbindungen bildet, in der Biochemie häufiger und viel wichtiger als die mit gewöhnlichem Aminoethanol. Unter Freunden der Lebensmittelchemie hat der Ester mit Cholin, dem Trimethylammoniumethanol, Ruhm und Ansehen gewonnen. Man nennt ihn auch „Lecithin“. Seine Formel und die des Cholins zeigt Abb. 6.20.

6.11 Membrane, jetzt endlich Und ähnlich, wie wir bei den Natriumsalzen der Fettsäuren mit Verblüffung gesehen haben, dass sie die Wand einer Seifenblase bilden können, trauen wir hier unserem Molekül sogar die Bildung von stabileren Membranen zu, denn Abstoßungskräfte zwischen seinen Molekülen, wie wir sie noch bei den Seifenblasen beobachtet haben und die letzten Endes zu ihrem Platzen bei zu geringer Dicke der Membran führten, treten hier nicht auf. Die Molekülköpfe sind zwar extrem polarisiert, aber elektrisch neutral (Abb. 6.20). Natürlich wollen wir uns das Verhalten des Lecithins in einigen Versuchen näher ansehen.

6.11  Membrane, jetzt endlich

187 O O

O CH 2 O CH O

CH 3 +

CH 2 O P O CH 2 CH 2 N CH 3 O–

CH 3

oder stark vereinfacht so:

CH 3 +

H O CH 2 CH 2 N CH 3

CH 3 Der Veresterungspartner Cholin

Abb. 6.20  Lecithin – ein Super-Emulgator

Versuch 6.8: Lecithinschaum

Wir schütteln einige Körnchen Soja-Lecithin mit 2 ml destilliertem oder entmineralisiertem lauwarmem Wasser. Es entsteht eine opalisierend trübe Lösung mit einer Krone aus kleinen Schaumblasen. Unter dem Mikroskop entdecken wir bei 300–500facher Vergrößerung Mizellen, die von den Wassermolekülen herumgestoßen werden und sich deshalb auf unregelmäßigen Zickzackbahnen durch die Flüssigkeit bewegen. Die Ähnlichkeit mit Versuch 6.4 ist auffallend. Im Gegensatz zu Versuch 6.3 beobachten wir jedoch keine Änderung des pH-Werts. Auch das Ansäuern mit Essig bleibt folgenlos. Ähnlich enttäuschend verläuft der Versuch, die Lecithinlösung so zu elektrolysieren, wie wir das mit der Seifenlösung in Versuch 6.5 getan haben. Wenn wirklich reines Lecithin eingesetzt wurde, leitet die Lösung keinen Strom und verändert sich nicht. Wir haben schon bei Versuch 6.7 und Abb. 6.10 vermutet, dass die Wand der Seifenblasen ein Vorbild für die Entstehung von Zellmembranen sein könnte. Die stark alkalische Reaktion der Seifenlösung und ihre Empfindlichkeit gegenüber Säuren sind jedoch Nachteile, welche ähnlich gebaute Membranen aus Lecithin und verwandten Phospholipiden nicht aufweisen. Deshalb hat die Evolution experimentiert, bis sie dieses ideale Baumaterial für Membrane entdeckte. Es bildet auch in unserem Körper Trennwände zwischen den Zellen oder zwischen Zellkern und Zellflüssigkeit, in den Mitochondrien zwischen Intermembranraum und Matrix, in den Chloroplasten zwischen Stroma und Lumen – um nur einige Beispiele

188

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

Abb. 6.21  Querschnitt durch eine Membran

zu nennen. Abb. 6.21 zeigt einen Querschnitt durch eine solche Membran. Dass sie Enzymkomplexe wie die der Atmungskette einbauen oder anheften kann, ist einleuchtend. Auch Poren oder Kanälchen, welche den Stoffdurchgang fördern oder wenigstens erlauben, sind möglich. Es gibt Kanälchen, die nur kleine Ionen oder Moleküle durchlassen oder sich aufgrund eines molekularen Signals schließen. Derartige Vorgänge sind zum Beispiel für die Impulsleitung durch Nervenzellen wichtig. Zur Verstärkung und zum Schutz sind die Wände der Membran manchmal mit einem Pflaster von Proteinplättchen abgedeckt.

6.12 Mit Fett und Wasser gleich gut Freund: der Emulgator Unser nächster Versuch zeigt eine Eigenschaft des Lecithins, die technisch sehr wichtig ist und auch im Haushalt genutzt wird.

Versuch 6.9: Emulsionsbildung

Wir fügen zu 5 ml Wasser 0,5 ml Speiseöl. Es entstehen zwei Schichten – das Öl schwimmt auf dem Wasser. Wenn wir das Reagenzglas heftig schütteln, entsteht eine Mischung von Öltröpfchen mit Wasser, die sich allerdings beim Stehenlassen rasch wieder in die beiden Phasen trennt, weil die Öltropfen sich miteinander zu immer größeren Tropfen vereinigen. Wenn wir den Versuch wiederholen, aber statt Wasser eine möglichst konzentrierte wässrige „Lösung“ von Lecithin einsetzen, entsteht eine stabile Emulsion von Öltröpfchen in Wasser. Sie trennt sich auch nach Stunden oder Tagen nicht in zwei Schichten. Schon unter einer starken Lupe sehen wir größere und kleinere Öltröpfchen, die nicht miteinander verschmelzen, sondern sich eher abzustoßen scheinen. Offensichtlich umhüllen Lecithinmoleküle die Öltröpfchen, indem sie ihre hydrophoben Kohlenwasserstoffketten in das Tröpfchen eintauchen und die hydrophilen Molekülköpfe ins Wasser hineinstrecken. Die Öl-Wasser-Emulsion ist gegen stark verdünnte Säuren oder Laugen unempfindlich. Sie kann fettigen Schmutz „lösen“ – die Öltröpfchen nehmen ihn auf.

6.13  Am Ende unseres sechsten Ausflugs

189

Der Versuch ähnelt sehr dem mit der Nummer 6.6. Auch dort entstand aus fettigem Ruß und Seifenlauge eine Emulsion, bei der die Seifenmoleküle als Lösungsvermittler zwischen Wasser und Fett auftraten. Das Lecithin ist aufgrund seiner beiden hydrophoben Kohlenwasserstoffketten und der ausgeprägten elektrischen Polarität des hydrophilen Kopfendes ein sehr leistungsfähiger Emulgator. Es wird meist aus Sojabohnen gewonnen und in der Lebensmittelindustrie eingesetzt, um zum Beispiel Mayonnaise oder Allioli aus wässrigen und fettigen Komponenten herzustellen. In der Natur kommt es besonders konzentriert im Eigelb vor. Auch beim Kochen und Backen schätzt man dessen emulgierende („bindende“) Wirkung. Seine seifenähnliche Wirkung können wir beobachten, wenn wir Eidotter als Haarwaschmittel einsetzen, wie dies Landfrauen vor einem Jahrhundert noch häufig getan haben.

6.13 Am Ende unseres sechsten Ausflugs haben wir eine längere Rast redlich verdient. Wir nützen natürlich die Zeit, um auf den Weg zurückzublicken. Am Anfang trafen wir jenen Skeptiker, der die Entstehung von Fettpölsterchen durch allzu viele Süßigkeiten energisch abstritt. Wir dagegen lernten, wie aus aktivierter Essigsäure, einem Zucker-Abbauprodukt, in Zweierschritten immer längere Kohlenwasserstoffketten mit Carboxylgruppen entstehen. Nach sieben Doppelschritten waren wir bei der Palmitinsäure angelangt – von da war es bis zur Stearinsäure und zur Ölsäure nur noch ein Katzensprung. Glycerin zur Veresterung lag überall am Wege herum – und schon hatten wir die Biosynthese eines Fettmoleküls vollzogen. Unser Freund blieb längst entnervt zurück – wir dagegen begriffen, warum ölsäurereiche Glyceride flüssig und ölsäurearme fest sind. Mit ein paar Erinnerungen an in der Schule Gelerntes über Fettverdauung gerieten wir überraschend in die Werkstatt eines Seifensieders. Erstaunt sahen wir, dass er seine Arbeit seit über zweieinhalb Jahrtausenden ziemlich gleichbleibend verrichtet. Die verblüffenden Eigenschaften seines Hauptprodukts beschäftigten uns danach mit Versuchen, bei denen wir Mizellen, Emulsionen und Membranen begegneten. Und damit lag das Thema Fettabbau schon ziemlich nahe. Wieder machten wir uns um das Glycerin wenig Sorgen. Selbst der Abbau der Fettsäuren war keineswegs ein schwieriges Hindernis – geschah er doch in den uns vertrauten Zweierschritten! Neun Essigsäuremoleküle und jede Menge Energiebausteine gab es in acht Schritten – und danach immer noch mehr Energie aus der flammenlosen Verbrennung der Essigsäure. Da wurde uns klar, warum Sport allein die Fettpölsterchen so langsam verschwinden lässt und warum Fettreserven bei strapaziösen Vogelflügen ebenso unentbehrlich sind wie beim geruhsamen Winterschlaf des Murmeltiers. Ein Abstecher führte uns dann zu den Phospholipiden. Wir lernten bei ihnen Superfettsäuren und Superseifen kennen und verstehen nun, was ihnen diese

190

6  Sechster Ausflug: Durch dick und dünn

Eigenschaften verleiht. Zugleich erwiesen sie sich als wichtigstes Baumaterial für tierische Membranen. Nach einer wohlverdienten Pause wollen wir zu unserem letzten großen Ausflug aufbrechen. Er wird uns in das Land der Vitamine und Hormone führen – ein faszinierendes Gebiet zwischen den Großreichen der Chemie, der Biologie, der Medizin und der Pharmazie.

7

Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

7.1 Mit Magellan über den Pazifik Wieder drehen wir unsere Uhren zurück – diesmal bis ins Jahr 1519. Fernando Magellan hat nach vergeblichen Bitten am Portugiesischen Hofe sein Vaterland verlassen und vom deutschen Kaiser Karl V., der zugleich König von Spanien ist, fünf Schiffe mit dem Auftrag erhalten, den westlichen Seeweg nach Indien zu erkunden. Er segelt südwärts über den Atlantik bis an die Grenzen des damals bekannten Südamerikas, schlägt eine gefährliche Meuterei seiner Mannschaften nieder, muss in einem Naturhafen überwintern und entdeckt schließlich die Meeresstraße zwischen Feuerland und dem Südende Patagoniens, die heute nach ihm benannt ist. Am 25. November 1520 erreicht er mit nur noch drei Schiffen den Pazifik und beginnt seine Überquerung. Die ruhige See und günstige Winde könnten die Reise zu einem Vergnügen machen – aber nach und nach erkrankt seine gesamte Mannschaft. Die Beschwerden beginnen mit Zahnfleischbluten und Zahnfleischwucherungen. Müdigkeit, Hautausschläge, Muskelschwund, Knochenschmerzen und Gelenkprobleme folgen, Fieber, Durchfall, Zahnverlust und Depressionen machen auch die Stärksten unter den Schiffsbesatzungen zu wankenden Skeletten. Neunzehn Seeleute, ein Patagonier und ein Indianer sterben, bevor Magellan nach drei Monaten und 20 Tagen Fahrt die „Diebsinseln“ – heute die Marianen – erreicht. Er gönnt seiner ausgezehrten Mannschaft eine Ruhepause. Endlich gibt es Abwechslung in der täglichen Kost. Und oh Wunder! Die Kranken gesunden. Nach wenigen Tagen verschwinden die Symptome bis auf irreversible Schäden. Was war geschehen? Die Besatzungen seiner Schiffe hatten sich monatelang von unzureichenden Portionen getrockneten Fleischs und Schiffszwiebacks ernährt. Der anhaltende Mangel an einer Substanz, die erst im 20. Jahrhundert

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Neubauer, Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58859-8_7

191

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

192

CH 2 OH C H +H2 C H Ni C OH C H C O H

HO HO H HO

HO HO H HO

CH 2 OH C H C H C OH C H CH 2 OH

– 2 [H] Acetobacter

CH 2 OH C O HO C H H C OH HO C H CH 2 OH + O 2 /Pt – H2 O

HO

O

O HO H HO C CH 2 OH Vitamin C

– H2 O + H 2O

COOH C O HO C H H C OH HO C H CH 2 OH

Abb. 7.1  Vitamin C aus Glukose

isoliert und „Vitamin C“ oder Ascorbinsäure1 genannt wurde, hatte Skorbut verursacht. Die Krankheit trat auch bei Belagerungen oder bei Hungersnöten auf, galt vielen als ansteckend, wurde schon von Ärzten des Altertums beschrieben und bis ins 18. Jahrhundert mit meist untauglichen Mitteln bekämpft. 1734 forderte erstmals der Arzt und Theologe Johann Friedrich Bachstrom, Skorbut mit Obst und frischem Gemüse zu heilen. Nochmals vergingen zwei Jahrzehnte, bevor der britische Schiffsarzt James Lind in einer Studie nachwies, dass Zitrusfrüchte helfen. Bald wurde an jedes Mitglied der Mannschaft eine Zitrone täglich ausgegeben, auf deutschen Handelsschiffen stattdessen Sauerkraut (von daher der Spitzname „Krauts“ für die Deutschen!). Der eigentlichen Ursache, dem Mangel an Vitamin C, kamen die Forscher erst auf die Spur, als sie 1907 erkannten, dass Skorbut auch bei Meerschweinchen auftritt (die meisten Tiere können selbst Vitamin C herstellen und erkranken deshalb nicht). Jetzt konnten sie mit Futterzusätzen experimentieren und tatsächlich entdeckten der Ungar Albert von Szent-Györgyi und der Amerikaner Charles Glen King 1932 Ascorbinsäure als „Vitamin C“. Ihre Kristallstruktur klärte der britische Zuckerforscher Walter Norman Haworth, der für seine Verdienste 1937 mit dem Nobelpreis belohnt wurde, durch eine Röntgenstrukturanalyse auf. Der Schweizer polnisch-jüdischer Herkunft Tadeus Reichstein schließlich erfand die erste technisch brauchbare Synthese und ab 1934 konnte die Schweizer Firma Roche die Herstellung aufnehmen. Dennoch blieb Skorbut im Zweiten Weltkrieg, in den Konzentrationslagern und den sowjetischen Gulags sowie unter Flüchtlingskindern eine verbreitete Krankheit. Selbst heute noch tritt sie bei Hungersnöten in der Dritten Welt auf. Abb. 7.1 zeigt den (vereinfachten) Syntheseweg und die Strukturformel der Säure. 1Der

Name ist von „Skorbut“ abgeleitet und enthält die verneinende Vorsilbe „a“.

7.2  Vitamin C – ein Wundermittel? Abb. 7.2  Wo die OH-Gruppen angebunden werden

193 COO – H C + CH 2 H 2N H 2C

CH 2

COO – H + C H 2N CH 2 H 2C

C OH H

Prolin COO – H 3N C H +

4-Hydroxyprolin COO – H 3N C H +

CH 2

CH 2

CH 2 CH 2

CH 2 HO C H

CH 2 +

NH 3

Lysin

CH 2 +

NH 3

5-Hydroxylysin

Inzwischen gibt es auch eine einstufige Herstellung durch die Gärungsreaktion eines genmodifizierten Bakteriums. Natürlich weiß man heute, was im menschlichen Körper bei Vitamin C-Mangel falsch läuft. Es ist ein Co-Faktor bei der Biosynthese des Collagens2– und das ist unser häufigstes Protein, unentbehrlich für Haut, Knochen, Knorpel, Zähne, Bänder und Sehnen. Dieses wiederum besteht aus einer rechtsgedrehten Wendel aus drei nach links gewendelten Einzelmolekülen mit jeweils 200 bis 1000 Aminosäuren. Bei diesen tritt die Reihenfolge Glycin-Prolin-Hydroxyprolin besonders häufig auf. Und jetzt kommt’s: Ohne den Co-Faktor Vitamin C gelingt die Umwandlung von Prolin zu Hydroxyprolin im fast fertigen Protein nicht richtig, auch der Umbau von Lysin, einer anderen wichtigen Aminosäure des Collagens, zu Hydroxylysin findet nicht statt. Die Hydroxidgruppen dieser beiden modifizierten Aminosäuren sind aber für die Stabilisierung der Wendeln unentbehrlich. Ohne Vitamin C entstehen deshalb fehlerhafte Collagene. Abb. 7.2 zeigt, wo die zusätzlichen OH-Gruppen am Prolin beziehungsweise Lysin gebunden sind.

7.2 Vitamin C – ein Wundermittel? Es ist recht bemerkenswert, dass Ascorbinsäure auch bei der sehr ähnlichen Hydroxylierung von Steroiden als Cofaktor benötigt wird. Bei der Biosynthese der Aminosäure L-Tyrosin, der Umwandlung von Cholesterol in Gallensäure, der

2Der

Name stammt aus dem Griechischen und heißt „Leimbildner“. Dies deshalb, weil Collagen der Hauptbestandteil des bei Tischlern früher gern verwendeten Knochenleims (und übrigens auch der Gelatine) ist.

194 Abb. 7.3  Oxidation der Ascorbinsäure

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone HO

O

O

O

O + [O] HO H HO C CH 2OH

O + H 2O O H HO C CH 2OH

Ascorbinsäure

Dehydroascorbinsäure

Entstehung von Carnithin, Serotonin und bei der Umwandlung von Dopamin zu Noradrenalin ist sie ebenfalls unentbehrlich. Kein Wunder, dass ihr von den Ärzten bisweilen geradezu wundersame Wirkungen als Arzneimittel oder Lebensmittelzusatz nachgesagt werden. Ihre wichtigsten Eigenschaften sehen wir beim

Versuch 7.1: Vitamin C

Wir versetzen eine Spatelspitze Vitamin C mit ein paar ml destilliertem Wasser: es löst sich darin auf. Die Lösung schmeckt sauer und färbt pH-Papier oder Lackmuspapier kräftig rot, weil die OH-Gruppe neben der Seitenkette ihren Wasserstoff als Proton abgeben kann. Wenn wir sie mit einer Kaliumpermanganatlösung versetzen, verschwindet die schön violette Farbe der letzteren sofort. Das Mangan wird von der Oxidationsstufe 7 bis auf 2 reduziert und die Ascorbinsäure zu Dehydroascorbinsäure oxidiert. Abb. 7.3 beschreibt stark vereinfacht diesen Vorgang, der sich auch abspielt, wenn man eine Ascorbinsäurelösung mehrere Tage lang an der Luft stehen lässt. Die Dehydroascorbinsäure macht sich dann durch eine schwache Gelbfärbung bemerkbar. Die Oxidation der Ascorbinsäure findet auch im menschlichen Körper statt. Das Vitamin C wirkt dort als vielseitiges Antioxidans. So soll es als Radikalfänger auftreten und dadurch schädliche Alterungsvorgänge bremsen, den Cholesterolspiegel im Blut senken, Arteriosklerose verlangsamen, das Immunsystem stärken, die Ausschüttung von Hormonen fördern, gegen Erkältungen helfen und vieles anderes mehr. Nicht alles, was ihm an Nutzen zugeschrieben wird, ist streng bewiesen, aber es gibt doch für vieles deutliche Anzeichen und gute Argumente. Der zweifache Nobelpreisträger Linus Pauling3 nahm es jahrzehntelang täglich in Mengen von bis zu 18 g ein und empfahl aller Welt, ihn nachzuahmen. Es sollte vorbeugend gegen Krebs und fast alles Mögliche wirken – er bedauerte nur, erst im Alter auf diese „Erkenntnis“ gekommen zu sein. Tatsächlich starb er mit 93 Jahren – an Prostatakrebs. 3Linus

Pauling (1901–1994) war ein US-amerikanischer Chemiker deutscher Abstammung. Er erhielt 1954 den Nobelpreis für Chemie dank seiner bahnbrechenden Arbeiten über die chemische Bindung. 1964 erhielt er den Friedensnobelpreis für seinen energischen Kampf gegen Atombombenversuche, Krieg und atomares Wettrüsten.

7.3  Chemie des Sehens

195

Andererseits gibt es klare Hinweise, dass starke und anhaltende Überdosierung Durchfälle verursacht, die Nieren belastet und die Entstehung von Oxalat-Nierensteinen begünstigen kann. Sicher ist bei ausgewogener obst- und gemüsereicher Ernährung keine zusätzliche Einnahme erforderlich. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt 100 mg/Tag im langfristigen Mittel. Man weiß aber auch, dass ein vorübergehender Überschuss an Ascorbinsäure über die Nieren ohne Schaden ausgeschieden wird. Unser erstes Ziel, Vitamin C oder Ascorbinsäure haben wir ausführlich besichtigt. Auf dem Weg dahin ist uns einiges klar geworden: 1. Vitaminmangel führt offenbar zu schweren Krankheiten. 2. Durch rechtzeitige Vitaminzufuhr sind diese rasch heilbar. 3. Die benötigten Mengen sind gering – typisch für katalytische Wirkung. 4. Vitamin C ist offensichtlich ein Coenzym. 5. Es enthält keine Aminogruppe, obwohl der Name das eigentlich behauptet. Im weiteren Verlauf unseres Ausflugs werden wir sehen, ob diese Erkenntnisse für alle Vitamine gelten.

7.3 Chemie des Sehens Weit über 90 % dessen, was der Mensch mithilfe seiner fünf Sinne lernt, lernt er mithilfe seiner Augen, den kläglichen Rest von weniger als zehn Prozent mithilfe der übrigen vier Sinnesorgane. Dennoch war bis vor wenigen Jahrzehnten der Vorgang des Sehens vollkommen rätselhaft. Während die Naturwissenschaftler des Altertums noch annahmen, das Auge erforsche mithilfe der „Sehstrahlen“ eine dunkle Umwelt, machten uns die Physiker im 19. Jahrhundert klar, dass das Licht ein Zwischending zwischen elektromagnetischen Wellen und Korpuskularstrahlung ist, wobei als Korpuskel die „Photonen“ auftreten. Irgendwie muss die Lichtenergie im Auge in elektrische Energie, also einen schwachen Strom umgewandelt werden, der dann durch den Sehnerv ins Gehirn geleitet wird und sich dort auf rätselhafte Weise in eine bildliche Vorstellung umwandelt, die zum Glück mit dem Gesehenen recht brauchbar übereinstimmt. Genau genommen entsteht demnach der Eindruck des Lichts als Helligkeit in unserem Gehirn; die Welt ist zwar voller Strahlen, aber eigentlich dunkel. Die Erkenntnistheoretiker unter den Philosophen haben daraus düstere Schlüsse über die Unzuverlässigkeit unserer Sinne gezogen und einige gingen so weit, die Existenz irgendwelcher Objekte außerhalb unseres Ichs lebhaft zu bezweifeln. Ihnen zufolge sollte es überhaupt unmöglich sein, über unsere Umwelt zuverlässige Erkenntnisse zu gewinnen. Zusätzliche Argumente lieferten ihnen physiologische Beobachtungen, wie etwa die, dass wir bei Druck oder Schlag auf unsere geschlossenen Augen die bekannten „Sterne“ sehen, dass unsere geblendeten Augen helle Objekte noch als Farbfleck wahrnehmen, wenn wir sie längst geschlossen haben, oder dass Schallwellen eigentlich lautlos sind und erst

196

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

in unserem Gehirn als Schall empfunden werden. Wir wissen auch, dass sich die Moleküle und Atome bei hoher Temperatur lebhafter bewegen als bei tiefer Temperatur, dass demnach erst das mehr oder weniger heftige Trommeln der Moleküle auf unserer Haut die Empfindung „warm“ oder „kalt“ hervorruft. Die Welt, so schließen einige unserer Freunde von der philosophischen Fakultät mit düsterer Miene, ist dunkel, still und weder kalt noch warm; Farben, Töne und Temperaturen entstehen erst in unserem Bewusstsein. Erstaunlicherweise bestätigen zwar unser Tastsinn und unser Gehör im Allgemeinen unsere optischen Eindrücke weitgehend, aber wer weiß, auf welchen raffinierten Sinnestäuschungen das nun wieder beruht?

7.4 Ein Ruderschlag in molekularen Dimensionen Chemiker lassen sich meist von solchen Bedenken nicht ausbremsen. Und so nimmt es nicht wunder, dass sie vor wenigen Jahrzehnten wenigstens teilweise aufklären konnten, mit welchem Trick das Auge Lichtquanten aufnimmt und in Nervenimpulse umsetzt. Sie fanden nämlich in der Netzhaut, genau genommen in deren Stäbchen, einen Farbstoff, das Rhodopsin, der sich bei Belichtung umwandelt und im Dunkeln wieder regeneriert. Er besteht aus einem Eiweißkörper, dem Opsin, das über ein N-Atom mit dem Vitamin A – dem Aldehyd Retinal – verbunden ist. Im Retinal (Abb. 7.4) kommen nacheinander fünf C=C-Doppelbindungen vor, sie sind jeweils durch eine C–C-Einfachbindung getrennt und haben alle eine trans-Konfiguration außer der Doppelbindung am Kohlenstoffatom Nr. 11. Weil die C=C-Doppelbindungen keine freie Drehbarkeit zulassen, ist das Retinal ein steifes, ebenes Molekül. Trifft nun ein Lichtquant (Photon) auf diesen Molekülteil, so wird seine Energie zum Umklappen von eben dieser einzigen cis-Doppelbindung am elften Kohlenstoffatom in die Transstellung verwendet, und es entsteht das All-transRetinal. Das Umklappen eines so großen, steifen Molekülteils gleicht einem Ruderschlag in molekularen Dimensionen, zumal der Sechsring am Ende einem Ruderblatt auffallend ähnelt. Natürlich bleibt der Ruderschlag nicht unbemerkt und folgenlos. Auf nicht ganz klare Weise, vermutlich mithilfe des Opsins, macht Abb. 7.4  Der Ruderschlag

Opsin-N

Opsin-N

7.5  Vitamin A und Carotin

197

unsere Netzhaut aus diesem mechanischen Vorgang einen elektrischen Nervenimpuls, der dann im Gehirn auf noch rätselhaftere Weise den Sinneseindruck „Licht“ oder „Farbe“ erzeugt.4 Es besteht eine gute Übereinstimmung zwischen dem Energieinhalt sichtbarer Photonen und dem Energiebedarf für den Umklappvorgang an der Doppelbindung des elften Kohlenstoffatoms. Die Photonen des Infrarotlichts sind dagegen so energiearm, dass sie das Umklappen nicht auslösen; sie bleiben deshalb unsichtbar. – Die Photonen des Ultraviolettlichts wiederum sind zu energiereich. Sie zerstören C–C-Einfachbindungen in diesem empfindlichen Molekül, der Ruderschlag bleibt aus und mit ihm der Nervenimpuls. Wir können sie deshalb ebenfalls nicht wahrnehmen. Um das nun entstandene All-trans-Retinal kümmert sich das Auge liebevoll im Dunkeln. Es spaltet diesen Molekülteil vom Stickstoffatom des Opsins ab, er wird biochemisch wieder am 11. Kohlenstoffatom in die cis-Stellung zurückgeklappt und danach auch vom Opsin über das N-Atom gnädig wieder aufgenommen, steht also nach einer kurzen Regenerationsphase, für die kein Licht notwendig ist, erneut im Rhodopsin für den nächsten Lichteindruck zur Verfügung. Die Paläontologen versichern uns, dass im Laufe der Evolution das Auge mindestens dreimal erfunden wurde – bei den Insekten, den Tintenfischen und den Wirbeltieren. Offenbar funktioniert es immer nach einem ähnlichen Prinzip (obwohl es auch Unterschiede gibt, denn Hunde sehen zum Beispiel keine Farben, Bienen sehen polarisiertes Licht und Ultraviolett). Zwar zeigt es uns – glücklicherweise! – die Welt nicht so dunkel, wie sie eigentlich ist, wählt aber aus dem riesigen Spektrum der elektromagnetischen Wellen nur diejenigen aus, deren Wellenlänge im engen Bereich zwischen 400 und 800 nm5 liegt und macht sie mithilfe eines einfachen chemischen Vorgangs sichtbar. Die Informationen, die mit seiner Hilfe in unser Bewusstsein gelangen, passen so wunderbar zu anderen Sinneseindrücken und zu unserem Bedarf für den Umgang mit der Welt, dass wir die Bedenken mancher Philosophen über seine angebliche Unzuverlässigkeit getrost bei Seite schieben können. Das Retinal gehört zu den Substanzen, die unser Körper nicht selbst aus unserer Nahrung aufbauen kann. Wir müssen es ihm weitgehend vorgefertigt anbieten; am besten als „Vitamin A“.

7.5 Vitamin A und Carotin Vitamin A kommt in pflanzlichen Nahrungsmitteln nicht vor, wohl aber in der Milch, Butter, Eiern, Fisch und im Lebertran. So gesehen, müssten Vegetarier der strikten Observanz („Veganer“) eigentlich wegen Vitamin A-Mangels erblinden.

4Der umgekehrte Vorgang ist sehr viel bekannter: durch elektrische Impulse regen die Nerven unsere Muskeln zur mechanischen Bewegung an. 51 Nanometer (nm) ist ein Milliardstel Meter oder ein Millionstel Millimeter.

198

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

Abb. 7.5  Retinol und Carotin Isopren OH

Vitamin A

Carotin

Glücklicherweise kann aber unser Organismus das Vitamin A aus dem Carotin, dem Farbstoff der Karotte oder Möhre herstellen, und der kommt auch in grünen Blättern reichlich vor. Abb. 7.5 zeigt, dass er zu diesem Zweck das Carotin genau in der Mitte oxidierend spalten muss. Dabei entstehen zwei Moleküle Vitamin A-Alkohol („Retinol“). Von da ist der Weg zum All-trans-Retinal für tüchtige Enzyme kein Problem. Wir leiten aus der Strukturformel mühelos ab, dass Vitamin A mit seiner langen Kohlenwasserstoffkette, die nur eine einzige CHO-Gruppe trägt, wasserunlöslich ist. Stattdessen löst es sich gut in fettigen Substanzen. Deshalb wird ein Überschuss bevorzugt in Fettzellen der Leber eingelagert. Weil er dort nicht ohne weiteres ausgeschieden werden kann, wirkt ein starker Überschuss giftig. So ist zum Beispiel die Leber von Eisbären und Robben wegen ihres hohen Vitamin A-Gehalts (zum Glück!) für Menschen nicht verzehrbar. Erfreulicherweise müssen wir dagegen vor dem „Provitamin“ β-Carotin keine Angst haben. Unser Körper verwandelt nur so viel davon in Vitamin A, wie er braucht, den Rest verwertet er als Antioxidans. Es ist völlig ungiftig. Wir ziehen erneut eine Zwischenbilanz. Abermals enthält Vitamin A keine Aminogruppe. Im Gegensatz zu Vitamin C ist es kein Coenzym, es wird aber ähnlich wie jenes nur in geringen Mengen gebraucht, wie ein Katalysator nach Gebrauch regeneriert und sein Mangel verursacht Nachtblindheit, Augenentzündungen und schließlich Blindheit, die durch spätere Vitaminzufuhr nicht mehr geheilt werden kann. Bei Kleinkindern und Jungtieren ist es für ein gesundes Knochenwachstum notwendig. Es ist, anders als Ascorbinsäure, vollkommen unlöslich in Wasser, wird in Fettzellen eingelagert, nur schwer wieder ausgeschieden und wirkt in höheren Mengen giftig.

7.6 Eine rätselhafte Krankheit in Ostasien Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts trat in China und Japan, bald auch in anderen Staaten oder Kolonien Asiens, eine schwere Krankheit epidemieartig auf. Besonders verwirrend war, dass sie keine eindeutigen Symptome aufwies und – unerkannt – in zwei verschiedenen Ausprägungen vorkam. Die von der einen Befallenen litten unter schweren Nervenstörungen, Schmerzen, Missempfindungen, Muskelschwäche

7.8  Das Vitamin B1

199

und Muskelabbau, Erbrechen, Sprachstörungen und Müdigkeit, sie waren apathisch, oft zum Skelett abgemagert, oder litten unter Bewusstseinsstörungen. Die andere Variante der Krankheit äußerte sich in Herzleistungsschwäche, Wasseransammlungen in den Geweben und Atembeschwerden. Bei schwerem Verlauf führte sie schon nach Stunden zum Tod durch Herzversagen. Die Säuglinge kranker Mütter starben, ebenfalls oft in kürzester Zeit. Die ohnehin nicht sehr eindeutigen Symptome waren oft überlagert oder wurden mit denen anderer Leiden wie Unterernährung, Lebensmittelvergiftung oder bakterielle Infektionen verwechselt. Die Ärzte, soweit überhaupt verfügbar, kämpften ratlos gegen eine oder mehrere Volkskrankheiten, deren Ursache viele Jahrzehnte lang im Dunkeln blieb. Dies, obwohl bereits zu Anfang des 17. Jahrhunderts der niederländische Arzt Dr. Nicolaes Tulp – ja, genau der, dessen Anatomievorlesung Rembrandt in einem seiner berühmtesten Bilder darstellte – die „Beri-Beri“-Krankheit zutreffend beschrieben hatte.

7.7 Ein Menschenversuch bringt Licht in das Dunkel Ein Marinearzt der kaiserlich-japanischen Flotte namens Takaki Kanehiro6 errang 1884 den ersten bedeutenden Sieg über die rätselhafte und unheimliche „neue“ Krankheit. Ihm fiel auf, dass sie hauptsächlich unter Matrosen auftrat, die sich vorwiegend von geschältem Reis ernährten. Offiziere und Ausländer, die sich auch teurere Lebensmittel leisten konnten, blieben von ihr verschont. Daraufhin veranlasste er den Tenno, zwei Kriegsschiffe auf eine mehrmonatige Reise nach Neuseeland und Südamerika zu schicken, bei der die Besatzungen mit verschiedener Kost ernährt wurden. Auf der Ryujo erhielten sie ausschließlich polierten Reis, auf der Tsukuba darüber hinaus Fleisch, Fisch, Gerste und Bohnen. Auf der Ryujo erkrankten 161 der 376 Besatzungsmitglieder, 25 davon tödlich. Auf der Tsukuba erkrankten nur 14 und zwar genau diejenigen, die heimlich die Zusatzkost verweigert hatten. Kanehiro schloss aus seinem Menschenversuch, dass geschältem Reis eine vermutlich stickstoffhaltige Substanz fehlt, die zuverlässig Beri-Beri vorbeugt. Das Bordessen der gesamten Marine wurde angepasst, die Krankheit ging dramatisch zurück und Kanehiro hatte seinen Spitznamen „Gerstenbaron“ verdient.

7.8 Das Vitamin B1 Erst mehr als 25 Jahre später gelang es dem Japaner Suzuki Umetaro,7 aus Reiskleie einen Stoff zu isolieren, den er „aberic acid“ nannte, richtig unter die essenziellen Nahrungsbestandteile einordnete und der nichts anderes war als das

6Takaki

Kanehiro wurde 1849 als Kind bürgerlicher Eltern in der japanischen Provinz geboren. Er studierte in England, wurde aufgrund seiner Verdienste zum Baron geadelt und starb 1920. 7Suzuki Umetaro (1874–1943) war der Sohn eines japanischen Bauern. Er studierte Chemie in Tokyo, in Deutschland bei Emil Fischer und in der Schweiz, kehrte dann nach Japan zurück und lehrte dort an der Universität Tokyo.

200

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

Abb. 7.6  Thiamin

+

N

N H 3C

CH 3

N

NH 2 S

OH

Thiamin oder Vitamin B1 (wir lernten es bereits als Thiamindiphosphat bei der alkoholischen Gärung kennen). Umetaro zog die richtigen Schlüsse aus Fütterungsversuchen und anderen Vorarbeiten des niederländischen Tropenarztes Christiaan Eijkman, der dafür 1920 den Nobelpreis erhielt. Der japanische Gelehrte wurde leider nicht gebührend wahrgenommen, obwohl seine Arbeit 1911 auch in deutscher Sprache erschien. Das Vitamin B1 hat nun wirklich eine Aminogruppe und stand Pate für die Wortschöpfung „Vitamin“, die auch nicht mehr auszurotten war, als klar wurde, dass nur wenige Vitamine Amine sind. Es ist wasserlöslich und wird im Körper nicht in nennenswerter Menge gespeichert. Wir wissen bereits: Es ist für die Umwandlung von Pyruvat zu Acetaldehyd als Coenzym unentbehrlich und dass sein Fehlen deshalb die alkoholische Gärung blockiert. Schlimmer noch: Auch die Umwandlung von Pyruvat zu Acetyl-Coenzym A beim Anlauf zum Zitronensäurezyklus wird verhindert. Wenn es fehlt, müssen schwerwiegende Stoffwechselstörungen entstehen! Die Strukturformel des Thiamins zeigt Abb. 7.6. Natürlich begegnen wir nun der stolzen Garde der übrigen Vitamine. Es sind nicht wenige, wie wir schon beim „Vitamin B12“ merken. Auch sie sind zur Verhütung schwerster Krankheiten wie Rachitis, Pellagra oder perniziöse Anämie unentbehrlich. Wir wollen uns jedoch darauf beschränken, nur einige Bekannte zu begrüßen, und zwar diejenigen, deren Funktion wir schon kennengelernt haben, ohne allerdings zu begreifen, wie sie ihre Aufgaben wahrnehmen.

7.9 Flavin und andere Bekannte Da ist das Flavin, Molekülbestandteil des beim Zitronensäurezyklus und bei vielen Dehydrierungsreaktionen unentbehrlichen Flavin-Adenin-Dinukleotids FAD und des bei der Atmungskette mitwirkenden Flavin-Mononukleotids FMN, die wir in Abb. 2.25 und 2.30 kennengelernt haben. Als „Vitamin B2“ ist sein reagierender Molekülteil Flavin an den Zuckeralkohol Ribitol8 gebunden, von daher der Name „Riboflavin“. Man findet es in der Milch, in Eiern, Gemüse, Fleisch und Fisch. Es ist schwerlöslich in Wasser, wird aber dennoch zu den wasserlöslichen Vitaminen gezählt. Seine gelbe Farbe hat die Verwendung als Lebensmittelfarbe E 101 ermöglicht. Der Tagesbedarf liegt bei 1 mg, er wird bei halbwegs gesunder Ernährung mühelos gedeckt. Es ist lichtempfindlich, widersteht aber sogar längerem Kochen.

8Ribitol ist ein Zuckeralkohol und zwar, wie der Name sagt, ein Derivat der Ribose. Es entsteht, wenn man die Ribose (am besten in Aldehydform angeschrieben) hydriert. Die CHO-Gruppe wird dann zur alkoholischen CH2OH-Gruppe; siehe auch Abb. 7.7.

7.9  Flavin und andere Bekannte

201

Mangel wird ziemlich selten beobachtet, er verursacht Wachstumsstörungen, Hautentzündung oder rissige Haut, besonders am Mund. Wir haben schon gelernt, dass es für die Synthese von Coenzymen, welche bei Redoxreaktionen mitwirken, unentbehrlich ist. In Abb. 7.7 wird es mit seinem neuen Bindungspartner Ribitol vorgestellt. Wenn schon das Flavin als Bestandteil des Coenzyms FAD eine zweite Karriere als Vitamin hinlegt, fragen wir uns mit Recht, ob nicht auch das Nicotinamid als Bestandteil des Coenzyms NAD+ (Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid) zu einer ähnlichen Leistung fähig ist. Und tatsächlich! Wir finden es zusammen mit der eng verwandten Nicotinsäure in der stattlichen Familie der B-Vitamine an prominenter Stelle: als „Vitamin B3“ oder „Niacin“. Abb. 7.8 stellt die beiden Bestandteile vor. Erstaunlicherweise kann unser Körper dieses Vitamin etwas mühsam selbst herstellen – er nimmt dabei die Mithilfe gewisser Darmbakterien gern in Anspruch und ist darauf angewiesen, dass er auch die Aminosäure Tryptophan vorfindet. Mangelerscheinungen sind deshalb auf Gegenden beschränkt, in denen Mais als Hauptnahrungsmittel dient und nur sehr wenig oder gar nicht durch Fleisch, Gemüse, Milch oder Vollkornprodukte ergänzt wird. Klar, dass sein Fehlen viele Redoxreaktionen unseres Stoffwechsels behindert, weil die Hydrierung von NAD+ zu NADH nicht stattfindet und das führt dann zu „Pellagra“, einer Krankheit, die sich durch Hautentzündungen (Dermatitis), Übelkeit, Appetitlosigkeit, Geistesstörungen und schwere Durchfälle bemerkbar macht und unbehandelt tödlich endet. Sie war vor zweihundert Jahren im Süden der USA weit verbreitet. Ein anderer Exot unter den Vitaminen ist das „Sonnenvitamin D“, ein ganzer Komplex von ähnlichen Verbindungen, dessen Vorstufen (unter anderem ein Derivat des vielgeschmähten Cholesterins) als Provitamine in unserer Haut

Abb. 7.7  Vitamin B2 und sein Zuckeralkohol

O H 3C

N

H 3C

N N CH 2

NH O

CH 2OH H C OH

H C OH

H C OH

H C OH

H C OH

H C OH

CH 2OH

CH 2

Ribitol

OH Riboflavin

Abb. 7.8  Vitamin B3

O

O OH

N Nicotinsäure

NH 2 N Nicotinamid

202

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

Abb. 7.9  Entstehung des „Sonnenvitamins“ D3

CH 3

H 3C CH 3 CH 3 CH 3

*

HO

: Spaltungsstelle

7-Dehydrocholesterin (das Kohlenstoffatom 7 ist mit * gekennzeichnet) H 3C CH 3

CH 3 CH 3

CH 2 HO

Vitamin D3 (Cholecalciferol)

vorkommen und bei Bestrahlung durch den ultravioletten Teil des Sonnenlichts in die aktiven Formen des Vitamins übergehen. Ohne Vitamin D kann unser Körper kein Calcium aufnehmen. Das ist besonders gefährlich für Säuglinge und Kleinkinder, die zum Aufbau des Skeletts viel Calcium benötigen. Sie erkranken dann an Rachitis und leiden lebenslang unter den schweren Knochenmissbildungen, welche die hinterlässt. Milch, Eier und Innereien – besonders die Leber – enthalten ausreichend Vorstufen oder Bestandteile dieses Vitamins.9 Nach den entbehrungsreichen Jahren am Ende des ersten Weltkriegs war Rachitis auch in Deutschland eine keineswegs seltene Vitaminmangelkrankheit. Abb. 7.9 zeigt die Strukturformel von Dehydrocholesterin (besser „Dehydrocholesterol“) und was das Sonnenlicht in unserer Haut damit macht. Es spaltet nämlich das Molekül an der durch einen Querstrich markierten Bindung, klappt den linken Teil des Moleküls um und erzeugt so das Vitamin D3 oder Cholecalciferol. Der Name ist gut ausgedacht, denn „Chole“ erinnert an Cholesterin, „calci“ spielt auf Calcium an, „fer“ kommt von dem lateinischen „ferre“ = tragen oder bringen und „ol“ steht für die alkoholiche OH-Gruppe am Kohlenstoffsechsring. Das Stichwort Cholesterol leitet uns ganz elegant zu den Hormonen weiter, denn viele dieser interessanten Stoffe sind Derivate oder Verwandte dieser Verbindung.

9Um

der Rachitis sicher vorzubeugen, müssen in vielen Familien die Kinder den ziemlich unbeliebten Löffel Lebertran täglich schlucken.

7.11  Ein vielseitiges Pflanzenhormon

203

7.10 Ein paar rätselhafte Vorgänge Die Blütenblätter haben ihren Dienst getan. Mit ihren auffallenden Farben haben sie den Schmetterling angelockt. Soeben hat er beim Nektarsaugen unabsichtlich einige Pollenkörner auf der Narbe der Blüte abgestreift. Sofort beginnt der Befruchtungsvorgang: Eines der Pollenkörner treibt einen Schlauch durch den Griffel hinunter zum Fruchtknoten, um sich dort mit der Samenanlage zu vereinigen. Ab jetzt sind die Blütenblätter überflüssig. Nein, viel schlimmer: eine nutzlose Last. Denn sie verbrauchen weiter Wasser und Nährstoffe, belasten den Blütenstängel, der bald eine schwere Frucht zu tragen hat. Es ist ein beträchtlicher Vorteil, wenn es der Pflanze gelingt, diesen Ballast abzuwerfen. Und zwar je eher, desto besser. Tatsächlich: Kurz nach der Befruchtung beginnt die Blüte zu welken. Die Blütenblätter fallen ab und mit ihnen alle anderen Bestandteile der Blüte, die jetzt nicht mehr benötigt werden, die Staubgefäße, Griffel und Narbe beispielsweise. Aber wie erfährt das Blütenblatt von der erfolgreichen Befruchtung, die doch in der Samenanlage, an einem ganz anderen Ort der Blüte stattfindet? Erhält es vielleicht einen Befehl zum Welken? Und warum welken die Fruchtblätter und Samenanlagen nicht? Bei den Nelken wurde die rätselhafte Signalübertragung aufgeklärt. Noch ehe der Pollenschlauch die Samenanlage erreicht hat, erzeugt die Narbe Ethylen. Es entsteht aus der Aminosäure Methionin, die in den Proteinen der Pflanze gebunden ist. Das Ethylen wandert durch den Griffel und den Fruchtknoten, ohne Schaden anzurichten, weil es keine Andockstellen findet. Erst wenn es zu den Blütenblättern kommt, findet es Reaktionspartner. Dort aktiviert es nun Gene, die ihrerseits noch mehr Ethylen erzeugen. Und dieses stößt dann nach einem noch ziemlich unbekannten Mechanismus Vorgänge an, die zu einem programmierten Zelltod führen: Die Blüte welkt.

7.11 Ein vielseitiges Pflanzenhormon Nicht alle Blütenpflanzen verwenden Ethylen als Botenstoff, um das Welken auszulösen, wohl aber eine deutliche Mehrheit. Das ist schon deshalb nicht verwunderlich, weil es auch bei der Reifung von Früchten eine entscheidende Rolle spielt. Reifende Äpfel zum Beispiel sondern Ethylen ab. Dieses Gas beschleunigt die Reifung benachbarter Früchte so, dass der Bauer alle zum gleichen Zeitpunkt ernten kann – obwohl sie doch an verschiedenen Tagen der Blütezeit befruchtet wurden! Für die Pflanze wäre es ein Nachteil, wenn die Äpfel nacheinander heranreiften, denn dann würden sie auch nacheinander alle gegessen. Die Riesenernte überfordert den Appetit der tierischen Apfelesser, es bleiben Äpfel übrig und die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass aus Apfelkernen neue Apfelbäumchen wachsen. Bei der Lagerung von reifen Früchten entsteht ebenfalls Ethylen. Wird der Lagerraum nicht gut belüftet, kann sich das Ethylen anreichern und den Reifungsprozess bis zur Fäulnis weitertreiben. So erklärt sich die uralte Beobachtung, dass eine überreife Frucht sehr rasch ihre Nachbarn verdirbt, wenn sie nicht rechtzeitig

204

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

ausgelesen wird. Geschickte Hausfrauen nutzen den Effekt seit langem für ihre Zwecke, meist ohne je von Ethylen gehört zu haben: Sie legen reife Früchte zwischen die unreifen und bedecken das Ganze mit einem Tuch. In modernen Lagerhäusern ist man umgekehrt daran interessiert, die Haltbarkeit des eingelagerten Obstes zu verlängern. Man sorgt deshalb dafür, dass das Ethylen rechtzeitig abgesaugt wird. Genauso gut kann man aber auch das Reifen von grün eingelagerten Bananen beschleunigen, indem man der Lagerhausluft Ethylen beimischt. Selbstverständlich ist es dabei vollkommen gleichgültig, ob das Ethylen auf biochemischem oder auf chemischem Weg entstanden ist.

7.12 Ethylen als Postbote Seit langem weiß man, dass Pflanzen auf Verletzungen und auf Schädlingsbefall sehr sinnvoll reagieren. Wird zum Beispiel ein Blatt mechanisch beschädigt – etwa durch Hagelschlag oder durch ein vorbeistreifendes Tier – so heilt die Pflanze diese Wunde, indem sie die dort liegenden Zellen verschorft. Bei Schädlingsbefall wehrt sie sich, indem sie Abwehrstoffe gegen Pilze oder Insekten produziert. Auch bei diesen Vorgängen übermittelt Ethylen die notwendigen Informationen und stößt die Herstellung der Abwehrstoffe an. Weil es als Gas zu den Nachbarpflanzen verweht wird, kann es bei diesen eine Art Alarm auslösen, der ebenfalls zur Bereitstellung von Abwehrstoffen führt. Unser wunderbares Gas wirkt also nicht nur als Botenstoff in der Pflanze, sondern auch als Postbote zu den Nachbarn! Ganz erstaunlich ist dabei die Vielseitigkeit der Reaktionen, die das Ethylen anstößt. Bei Reifungsvorgängen erzeugt es Stoffe, welche die harte Fruchthaut aufweichen. Bei Verletzungen werden dagegen Zellen mit besonders widerstandsfähigen Zellwänden gebildet. Bei Pilzbefall regt es die Bildung von Substanzen an, welche die Enzyme lahm legen, mit denen die Pilze das Protein der Pflanze abbauen; es zerstört also sozusagen die Waffen des Angreifers. Gegen Insekten entwickelt das Ethylen im Pflanzengewebe Giftstoffe, die deren harten Chitinpanzer auflösen. Doch allen Abwehrstrategien zum Trotz gewinnen die Pflanzen den Kampf gegen Schädlinge leider nicht immer, wie die frustrierende Erfahrung aller Hobbygärtner zeigt. Weniger auffällig, aber am längsten bekannt ist, dass Ethylen das Wachstum bestimmter Wurzelzellen verlangsamt. Wahrscheinlich können deshalb die Wurzeln ihren Hindernissen so elegant ausweichen. Das Ethylen ist also ein äußerst vielseitiger Botenstoff der Pflanzen – ein echtes Pflanzenhormon. Unwillkürlich stellen wir uns unter Hormonen hoch komplizierte Stoffe vor. Das Ethylen dagegen ist verblüffend einfach gebaut. Es ist der einfachste Kohlenwasserstoff mit einer Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung überhaupt, die Strukturformel passt in eine der hier gedruckten Zeilen: H2C=CH2. Anscheinend ermöglicht gerade dies zusammen mit der hohen Beweglichkeit des Gases die wunderbare Vielfalt seiner Reaktionen.

7.14  Die Geschichte der Zuckerkrankheit

205

7.13 Weiter zu den Langerhansschen Inseln Obwohl wir ein ganz einfach gebautes Pflanzenhormon betrachtet haben, hat es uns doch die wesentliche Aufgabe von Hormonen gezeigt: sie müssen Befehle transportieren. Aber sind dafür nicht die Nerven da? Gewiss doch! Aber es gibt Befehle, deren Ausführung Zeit erfordert – zum Beispiel die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale, oder – ein weniger spektakulärer Vorgang – der Abbau von Zucker in unserem Blut. Nerven sind da fehl am Platze. Sie sind für raschen Befehlsvollzug zuständig, zum Beispiel für die Muskelkontraktionen, die das Treten eines Elfmeters oder die Parade des Tormanns erfordert, nicht aber für die gleichmäßige Versorgung der Muskeln mit dem energiespendenden Traubenzucker – und zwar stundenlang. Klar, dass Nerven mit den Aufgaben, die Insulin und Glukagon zuverlässig wahrnehmen, völlig überfordert wären. Diese beiden Hormone entstehen in der Bauchspeicheldrüse, griechisch Pankreas genannt, genauer in den β- beziehungsweise α-Zellen der „Langerhansschen Inseln“.10 Sie sind dafür zuständig, den Blutzuckerspiegel Tag für Tag und Nacht für Nacht in gewissen Grenzen zu halten. Er soll vor einer Mahlzeit nicht weniger als 60–100 mg Glukose/dl und nach einer Mahlzeit nicht mehr als 90–140 mg/dl betragen. Zu hohe Werte sind typisch für die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus), sie machen sich bemerkbar durch unmäßigen Durst und vermehrte Harnausscheidung, Traubenzucker im Urin, schlechte Wundheilung und bald auch schwere Schäden an Augen und Gliedmaßen, die häufig amputiert werden müssen. Wenn weiter eine fachgerechte Behandlung unterbleibt, fällt der Patient ins Koma und stirbt. – Zu niedrige Werte sind typisch für eine Unterzuckerung („Hypoglykämie“), sie führt zum „hypoglykämischen Schock“, der Bewusstlosigkeit auslöst und lebensgefährlich ist. Er muss umgehend durch Einnahme von Traubenzucker bekämpft werden. Zuckerkranke fürchten ihn, wenn sie versehentlich zu viel Insulin gespritzt haben, die Ärzte raten ihnen deshalb, stets einige Tabletten Traubenzucker mit sich zu führen.

7.14 Die Geschichte der Zuckerkrankheit Die Krankheit war schon den Ärzten des Altertums bekannt. Der Inder Sushutra, der vermutlich um 500 v. Chr. lebte und lehrte, wusste bereits, dass der Harn der Kranken süß schmeckt. Wenn er die Geschmacksprobe, die bei vielen Naturvölkern noch heute üblich ist, nicht durchführen mochte, goss er den Urin auf die Erde. Machten sich dann Ameisen darüber her, so war die Diagnose klar.

10Diese

Zellhaufen wurden durch den Franzosen Edouard Laguesse 1893 nach ihrem Entdecker, dem vielseitigen deutschen Pathologen Paul Langerhans (1847–1888) so benannt. Der gebürtige Berliner starb früh an Tuberkulose, die er vergeblich durch Übersiedlung nach Madeira zu heilen versuchte.

206

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

Arzneien gegen das todbringende Leiden gab es nicht, auch nicht bei den hervorragenden griechischen und römischen Ärzten des Altertums, den arabischen Medizinern des Mittelalters und den europäischen der Neuzeit. Im 17. Jahrhundert prägte einer von ihnen aus altgriechischen und lateinischen Wörtern den Namen: „Diabetes mellitus“, was ungefähr „Durchfluss honigsüß“ bedeutet. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde allmählich klar, dass die Krankheit ausbricht, wenn die Bauchspeicheldrüse nicht normal funktioniert. Vergeblich versuchte man, den Patienten mit gemahlenen Bauchspeicheldrüsen zu helfen. Heute wissen wir, warum der Erfolg ausblieb: die Verdauungssäfte zerstören das Insulin. Nur eine strikte Diät ohne Zucker und ohne stärkehaltige Nahrungsmittel wirkte lebensverlängernd. Im Jahre 1921 gelang es Frederik Banting und Charles Best11 an der Universität von Toronto erstmals, Insulin aus Pankreasgewebe zu gewinnen. Sie testeten seine Wirksamkeit an einem Hund, dessen Bauchspeicheldrüse operativ entfernt worden war. Der Stoffwechsel des schwer zuckerkranken Tieres normalisierte sich! Nun wagten sie die Anwendung auf den Menschen. Mit ihrem Insulin retteten sie im Folgejahr dem 13jährigen Thomas Leonhard das Leben. Er litt seit eineinhalb Jahren an der Zuckerkrankheit und war bereits ins Koma gefallen (dank fachgerechter Behandlung wurde er dann über 70 Jahre alt!). Ab 1923 setzten sie regelmäßig Rinder- oder Schweineinsulin ein. Die Menschheit atmete auf: Noch im selben Jahr erhielten Banting und sein Institutsleiter John McLeod den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Ein wüster Streit war die Folge: Banting protestierte, weil sein Mitarbeiter Best leer ausging und McLeod die Arbeit nur gefördert hatte; er teilte deshalb demonstrativ sein Preisgeld mit Best. McLeod wollte ihm daraufhin nicht nachstehen; er teilte sein Preisgeld mit James Collip, dem Erfinder eines verbesserten Insulin-Extrakts. Bald wurde Insulin industriell aus Rinder- oder Schweinepankreas hergestellt und weltweit eingesetzt. 1962 gelang dem Deutschen Helmut Zahn12 in Aachen die chemische Synthese des Hormons. Das Verfahren war jedoch für die industrielle Anwendung nicht geeignet. Erst 1982 ermöglichten die Fortschritte der Gentechnologie die Herstellung von Humaninsulin durch genmanipulierte Bakterien – neuerdings gelingt das auch durch entsprechend modifizierte Hefen. Aus ideologischen Motiven verzögerten hessische Behörden jahrelang die industrielle Herstellung durch die Chemiefirma Hoechst, obwohl das Medikament in Deutschland angewandt werden durfte (die Start-up-Firma Eli Lilly produzierte es gentechnisch im französischen Straßburg und schickte es über die nahe Grenze). Die Genehmigung wurde

11Frederick

Grant Banting war Kanadier und lebte von 1891 bis 1941. John James Rickard McLeod wurde in 1876 in Schottland geboren und starb dort 1935 nach dem Zerwürfnis mit Banting, das zu seiner Rückkehr führte. Der US-Amerikaner Charles Herbert Best arbeitete als Student bei McLeod und Banting, er lebte von 1899 bis 1978. James Collip (1892–1965) war ein kanadischer Biochemiker. 12Helmut Zahn (1916–2004) war Hochschullehrer in Heidelberg und Aachen.

7.15  Insulinsynthese durch Spaltungsreaktionen

207

erst 1998 der Hoechst-Nachfolgerfirma Sanofi erteilt, als die Konkurrenten längst den Markt erobert hatten. Heute wird tierisches Insulin kaum noch eingesetzt, da es allergische Reaktionen auslösen kann (Rinderinsulin hat drei und Schweineinsulin eine abweichende Aminosäure im Molekül). Seine Menge würde auch nicht mehr ausreichen, um den gewaltig gestiegenen Weltbedarf zu decken.

7.15 Insulinsynthese durch Spaltungsreaktionen Wenn wir eine Mahlzeit einnehmen, steigt unmittelbar danach der Glukosegehalt des Bluts an. Er wird in den β-Zellen auf eine nicht ganz einfache Art, die wir weiter unten kennenlernen, „gemessen“. Übersteigt er den oben genannten Grenzwert, so wird zunächst gespeichertes Insulin ausgeschüttet. Nach etwa 15 min ist es verbraucht, weil es ziemlich rasch abgebaut wird. Inzwischen haben aber die β-Zellen die Eigenproduktion von Insulin angekurbelt und dieses übernimmt jetzt die Aufgabe, den Blutzuckerspiegel in Grenzen zu halten. Es ist ein Peptid, das aus zwei Ketten mit 21 und 30 Aminosäuren besteht. Die Langerhansschen Inseln verlieren jedoch keine Zeit mit einer echten Biosynthese, etwa mithilfe von Ribosomen und Transfer-RNA,13 sondern produzieren es schnell durch zwei aufeinanderfolgende Spaltungsreaktionen aus einem Vor-vor-Insulin – es heißt wirklich „Präproinsulin“! – das kein Hormon ist, sondern ein Polypeptid aus 110 Aminosäuren. Sie haben es ohne Eile mithilfe der Ribosomen des endoplasmatischen Retikulums14 auf Vorrat hergestellt. Die Vorlage dazu lieferte eine Messenger-RNA, die ihrerseits die Bauanleitung aus einem Gen des Chromosoms 11 bezog. Das Molekül ist nicht gefaltet. Man unterteilt es zweckmäßig in vier Teilabschnitte, und zwar wie folgt:

Signalsequenz L − B-Kette − C-Peptid − A-Kette. Die Signalsequenz L, in der angelsächsischen Fachliteratur “leader peptide” genannt, enthält 24 Aminosäuren, die B-Kette 30. Danach zählen wir zwei Aminosäuren, die bei der ersten Spaltungsreaktion abhanden kommen und 30 Aminosäuren im C-Peptid. Zwei weitere Verlustkandidaten bei der zweiten Spaltung schließen sich an, nach ihnen kommen endlich die 21 Aminosäuren der A-Kette. Das gesamte Molekül zeigt Abb. 7.10 oben. Es faltet sich mithilfe von Wasserstoffbrücken und zwei Disulfidbrücken; eine dritte Disulfidbrücke wirkt versteifend auf die so entstehende Sekundärstruktur. Das entfernt an eine Schneckenschale erinnernde Gebilde, das in der Mitte von Abb. 7.10 zu sehen ist, wandert dann durch die Membran des Endoplasmatischen Retikulums und benutzt diese Gelegenheit zu einer ersten Spaltungsreaktion.

13Abb. 4.10. 14Abb. 2.15.

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

208

Präproinsulin

L

B

C

A

B Proinsulin

A C

B Insulin A Abb. 7.10  Abbau in Stufen

Dabei verliert es die Signalsequenz, das „leader peptide“ L15 und die ersten zwei der oben erwähnten Aminosäure-Verlustkandidaten. Der verbliebene Rest von 84 Aminosäuren heißt jetzt „Proinsulin“, hat also ganz konsequent mit dem leader peptide auch eine Vorsilbe seines Namens eingebüßt. Es wird Ihnen, lieber Leser, in der Mitte der Abb. 7.10 vorgestellt. Das Proinsulin lässt sein leader peptide kaltherzig zur Wiederverwendung im Endoplasmatischen Retikulum zurück und zieht zum Golgi-Apparat weiter, wo es in „Zisternen“ gespeichert wird. Es ist immer noch als Hormon unwirksam. Auf Anforderung (etwas genauer: sobald der Glukosegehalt des Blutes 90 mg/dl übersteigt) verliert es weitere 31 Aminosäuren am Stück, das sogenannte „connecting peptide“ C und zwei Einzelexemplare, insgesamt also 33. Mit dem „connecting peptide“ kommt ihm die letzte Vorsilbe seines Namens abhanden. So entsteht biochemisch (und sprachlich!) Insulin. Die Spaltung beschleunigt sich, wenn der Blutzuckerspiegel weiter ansteigt. Das Endergebnis der beiden Spaltungsreaktionen zeigt Abb. 7.10 unten. Mehr Details mögen Sie der Abb. 7.11 entnehmen. Dort sehen Sie auch die oben erwähnten drei Disulfidbrücken. Die haben alle Spaltungsreaktionen unversehrt überstanden. Die zwei ersten verbinden jetzt die beiden Peptidketten B und A des Insulins, die aus 30 beziehungsweise 21 Aminosäuren bestehen. Sie beginnen und enden jeweils an

15Da

bei der Spaltung ein Molekül leader peptide pro Molekül Insulin entsteht, kann man aus der Menge des ersteren berechnen, wie viel Insulin die Bauchspeicheldrüse noch selber produziert. Eine Insulinbestimmung im Blut des Zuckerkranken sagt darüber nichts Verlässliches aus, weil sie eingespritztes Insulin mit erfasst und das Insulin bei seiner Tätigkeit rasch verbraucht wird.

7.16  Die Ausschüttung Abb. 7.11  Das fertige Insulin

209 H 2N

1

21

S

S

A-Kette

COOH

COOH 30

S H 2N

1

S S

Insulin

S

B-Kette

Cysteinmolekülen, und zwar verbindet die erste Cys-A7 mit Cys-B7 und die zweite Cys-A20 mit Cys-B19. Die dritte Disulfidbrücke ist auf die Peptidkette A beschränkt, sie reicht nur von Cys-A6 nach Cys-A11. Selbstverständlich bilden die Aminosäuren keine perlschnurähnliche Ketten, sondern die bekannten Wendelmoleküle der α-Helices, die uns schon bei der Wolle begegneten. Und diese falten sich ihrerseits zur Tertiärstruktur, einem annähernd kugelförmigen Gebilde mit Wendelfortsätzen. Ein schönes animiertes Modell finden Sie unter Insulin-DocCheck Flexikon im Internet. Nach allem, was wir gelernt haben, versteht es sich von selbst, dass beide Spaltungsreaktionen durch Enzyme (natürlich Peptidasen!) katalysiert werden und im Gegensatz zur Synthese des ­Präproinsulins sehr schnell verlaufen. Die Enzyme heißen Proprotein-Konvertase 1 und 2. Das fertige Insulin wird jetzt gespeichert, und zwar als Zink-Insulin-Komplex16 in Bläschen („Vesikeln“) des Golgi-Apparats, der bei den β-Zellen der Langerhansschen Inseln an der Zellwand anliegt.

7.16 Die Ausschüttung Sobald die Glukosekonzentration im Blut etwa 70 mg/dl übersteigt, durchbrechen die mit dem Hormon gefüllten Vesikel die Membran der β-Zelle und entleeren sich in das Blut. Das Insulin wird frei, da es sich gleichzeitig vom Zink trennt. In Lösung liegt es als Doppelmolekül vor, das hindert aber nicht seine Wirkung als Hormon. Natürlich fragen wir uns, wie es die β-Zelle schafft, den Blutzuckerwert von 70 mg/l zu messen und als Auslöser für die Ausschüttung zu benutzen. Sie hat für diese Aufgabe kein biochemisches Labor mit geschultem Personal, sondern ein „Blutzucker-Sensorsystem“. Neugierig geworden, sehen wir uns an, wie es denn wohl funktioniert.

16Dabei

lagern sich sechs Insulinmoleküle an ein Zink-Ion an. Durch Erhöhen der Zinkkonzentration hat man früher die Wirksamkeit von Insulingaben verlangsamt.

210

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

7.17 Wie die β-Zelle Zuckerkonzentrationen misst Zur Messung der Zuckerkonzentration muss die β-Zelle zunächst einmal Glukose ins Zellinnere aufnehmen. Das gelingt ihr mithilfe eines Glukosetransporters, welcher unabhängig vom Insulin funktioniert. Es gibt deren mehrere. Sie werden mit GLUT abgekürzt und nummeriert. Für die β-Zellen arbeitet hauptsächlich GLUT1. Das ist ein Eiweißkomplex, welcher die Zellmembran überbrückt, etwa so, wie in Abb. 6.21 vorgestellt. Mithilfe von Konformationsänderungen schafft er durch Kanäle Glukose aus dem Blut in die β-Zelle, und zwar umso mehr, je höher die Glukosekonzentration im Blut ist. In den β-Zellen wird die Glukose durch Glykolyse, Zitronensäurezyklus und Atmungskette verarbeitet, dabei entsteht das Energieträgermolekül ATP. Erneut gilt, dass aus mehr Glukose mehr ATP entsteht. Das ATP verschließt nun seinerseits als „second messenger“ Kalium-Ionen-Kanälchen und vermindert dadurch den Abfluss von Kalium-Ionen (K+). Je mehr ATP-­Moleküle auftreten, desto mehr wird der Abfluss gehemmt. Er ist aber notwendig, damit der Zellinhalt dauerhaft um 60 mV negativer aufgeladen ist als die Umgebung der Zelle. Wird der Abfluss durch die Schließung der Kanälchen behindert, so verringert sich das elektrische Potential zwischen Zellflüssigkeit und Umgebung. Sobald eine Spannungsdifferenz von nur noch 40 mV erreicht ist, öffnen sich spannungsgesteuerte Calciumkanäle. Calcium-Ionen strömen in die Zelle ein und bewirken, dass sich die Vesikel, soweit noch notwendig, der Zellmembran nähern und schließlich mit ihr verschmelzen. Der Vesikelinhalt – also das Insulin – gelangt dadurch aus der Zelle in das Blut. Der Ausstoß ist nicht gleichmäßig, sondern vollzieht sich in Schüben, die etwa alle 6 min aufeinanderfolgen. Er hält so lange an, wie die Traubenzuckerkonzentration im Blut ungefähr 70 mg/dl übersteigt. Wird dieser Wert unterschritten, reicht die ATP-Produktion in der Zelle nicht mehr aus, alle Kaliumkanälchen zu verschließen. Sie öffnen sich, Kalium-Ionen fließen wieder ab und das tun umso mehr, je weniger ATP zur Verfügung steht. Die Spannungsdifferenz steigt wieder in Richtung auf 90 mV an, die Calciumkanälchen schließen sich und die Vesikel haben keinen Grund mehr, mit der Zellmembran zu verschmelzen. Die Ausschüttung von Insulin hört auf.

7.18 Was das Insulin mit dem Blutzucker macht Die Hauptaufgabe von Insulin ist es nun, den nach einer Mahlzeit rasch ansteigenden Blutzuckerwert zu reduzieren. Zu diesem Zweck stimuliert es über Enzyme die Biosynthese von Glykogen, einem stärkeähnlichen Polykondensationsprodukt der Glukose, das in der Leber und in den Muskeln gespeichert wird. Das Insulin baut also dort einen Vorrat an polymerisiertem Traubenzucker auf und der Blutzuckerspiegel wird dadurch gesenkt. Sobald der Blutzuckergehalt die untere Grenze von etwa 70 mg/dl erreicht (also eine Unterzuckerung droht), wird der Insulinausstoß gestoppt

7.21  Das Adrenalin

211

und das entgegengesetzt wirkende Hormon Glukagon aus den α-Zellen der Langerhansschen Inseln ausgestoßen. Sie verwenden dafür ein ähnliches Messverfahren wie die β-Zellen.

7.19 Umkehr der Marschrichtung durch Glukagon Jetzt wird Glykogen in der Leber und den Muskeln rasch und problemlos enzymatisch zu Traubenzucker abgebaut und der Körper kann von dem zuvor aufgebauten Nährstoffvorrat zehren. Sollte das Glukagon mit seiner Aufgabe überfordert sein, so helfen ihm andere Hormon-Gegenspieler des Insulins wie das Adrenalin oder das Cortison.

7.20 Andere Wirkungen des Insulins Ähnlich wie das Pflanzenhormon Ethylen hat auch das Insulin mehr als eine Wirkung. Ganz wichtig ist, dass es an die Zellwand unserer Körperzellen andockt und dadurch das Eindringen von Glukosemolekülen ermöglicht. Eine Art Schlüsselfunktion! Dieser Teil des Blutzuckers wird dann in der Zelle durch Glykolyse, Zitronensäurezyklus und Atmungskette abgebaut, ohne jemals den Umweg über Glykogen beschritten zu haben. Das Insulin verschafft sich also mit den Zellen Bundesgenossen, die ihm seine Aufgabe erleichtern, den Blutzuckerwert in Grenzen zu halten. Aber es stimuliert auch in der Leber die Biosynthese und Speicherung von Fetten. Diabetiker fürchten deshalb nicht ganz zu Unrecht, durch das Spritzen von Insulin zuzunehmen (dagegen hilft Sport!). Logisch! Wenn es, wie oben beschrieben, das Eindringen von Glukose in die Zellen fördert, entsteht dort nach der Glykolyse auch viel Coenzym A und das kann ja, wie wir gelernt haben, Fettsäuren aufbauen. Insulin verstärkt ferner die Aufnahme von Aminosäuren in Muskel- und Fettzellen und es reguliert das Zellwachstum, indem es die Transkription der dafür zuständigen Gene kontrolliert. Und all das gleichzeitig! Ein echtes Multitasking-Hormon (auch wenn einige seiner Nebenwirkungen weniger erwünscht sind)!

7.21 Das Adrenalin Es zählt zu den wasserlöslichen Hormonen und genießt die Ehre, in die Reihe der sprichwörtlichen Redensarten aufgenommen zu sein: Wir sagen, dass „unser Adrenalinspiegel steigt“, wenn wir in eine schwierige oder ärgerliche Situation geraten sind. Tatsächlich ist unser Hormon dazu bestimmt, unsere Fähigkeit zur Überwindung einer Gefahr beträchtlich zu vergrößern. Es wirkt blutdrucksteigernd, erhöht die Herzschlagfrequenz, schüttet Glukose aus, die dann vermehrt abgebaut

212

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

und in Energie umgewandelt wird und fördert den Abbau von Fetten. Ergänzend drosselt es Aktivitäten, die im Augenblick nicht so wichtig sind – zum Beispiel die Darmtätigkeit. Alle diese Veränderungen bewirken, dass wir uns für kurze Zeit stärker und schneller bewegen können. Es fällt nicht schwer, zu erraten, wofür die Evolution uns dieses Hormon verschafft hat: Es hat unseren Vorfahren in ihrem gefährlichen Leben entweder den Mut und die Kraft zum Angriff oder zur beschleunigten Flucht verliehen. Wir Heutigen suchen den „Adrenalinkick“ beim Bungeespringen oder dem Start zum Drachenfliegen. Unser Hormon entsteht in den Markzellen der Nebennieren und hat auch von daher seine zwei Namen, denn lateinisch „ad“ heißt „bei“ und „ren“ „Niere“. Ursprünglich war Adrenalin ein Produktname, gebräuchlich ist deshalb auch „Epinephrin“, was dasselbe bedeutet, nun aber auf Griechisch („epi“ = „auf“ und „nephros“ = „Niere“). Es wird in erstaunlich kleinen Mengen ausgeschüttet: selbst beim Adrenalinstoß beträgt die Konzentration im Blut allenfalls ein Milliardstel Mol pro Liter. Weil das Molgewicht bei 183 Dalton liegt, bedeutet das eine Menge von 183 · 10–9 g/l oder 0,183 · 10–6 g/l oder 0,000183 mg/l! Und angesichts einer Blutmenge von etwa 6 l in unserem Körper kreisen also ganze 0,0011 mg Adrenalin mit dem Blut durch unseren Körper. Um eine klare Vorstellung von dieser Menge zu gewinnen, wollen wir uns in einem Versuch ein Gewicht von 0,001 mg herstellen.

Versuch 7.2: Ein Gewicht von 0,001 mg herstellen

Wir berechnen das Gewicht eines Nylonfadens von 0,2 mm Durchmesser und 1 m = 1000 mm Länge. Er ist zylinderförmig und hat ein Volumen von 0,12 · 3,14 · 1000 mm3 = 0,01 · 3,14 · 1000 mm3 = 31,4 mm3 und weil Nylon eine Dichte von ungefähr 1 mg/mm3 hat, wiegt unser Faden etwa 31,4 mg. Jetzt geht die Rechnung mit einem einfachen Dreisatz weiter: Wenn 31,4 mg Nylonfaden 1000 mm lang sind, dann ist 1 mg dieses Fadens 1000: 31,4 = 33 mm lang. 0,0011 mg Faden hat 0,0011 · 33 = 0,036 mm Länge. Ein derart kurzes Stück können wir ohne Hilfsmittel gar nicht von unserem Faden abschneiden. Der Versuch misslingt! Allenfalls können wir ihn mithilfe eines Mikrotoms unter dem Präparationsmikroskop durchführen. Mit einer zehnfach vergrößernden Lupe betrachtet, erscheint unser Gewicht von 0,0011 mg als ein Scheibchen von 2 mm Durchmesser und 0.36 mm Höhe. Mit unbewaffneten Augen ist es kaum zu sehen. Wenn wir bei unserem Hormon ebenfalls eine Dichte von etwa 1 mg/mm3 annehmen dürfen, können wir uns 0,0011 mg Hormon als ein annähernd würfelförmiges Kriställchen vorstellen, das ein Volumen von 0,0011 mm3 hat. Seine Kantenlänge entspricht der Kubikwurzel aus 0,0011 mm3 und die beträgt 0,103 mm. Ein Körnchen mit einer Kantenlänge von wenig mehr als einem Zehntelmillimeter ist mit bloßem Auge unsichtbar.

7.23  …weil es eine Lawine lostritt

213

Abb. 7.12  Adrenalin

OH HO

C H

HO

CH 2 HN

CH 3

Unter der zehnfach vergrößernden Lupe ist es einen Millimeter groß. Abb. 7.12 zeigt die Strukturformel dieses erstaunlichen Hormons.

7.22 Ein winziges Körnchen Adrenalin genügt… Es ist ganz unvorstellbar, dass eine unsichtbare Menge an Hormon in einem menschlichen Körper von 75 kg Gewicht den Blutdruck erhöhen, die Herzfrequenz steigern, Blutzucker ausschütten und Fett abbauen kann – und das alles gleichzeitig! Wie bringt das Adrenalin trotz dieser winzigen Menge alle seine Aufgaben zustande? Wir wollen hier einen Blick in seine Werkstatt werfen.

7.23 …weil es eine Lawine lostritt In einer ersten Reaktion dockt das Adrenalin an der Membran einer Muskelzelle an. Der Adrenalinrezeptor aktiviert nun unverzüglich das Enzym Adenylat-Cyclase, das an der Innenseite der Membran auf dieses Startsignal gelauert hat. Wie der Enzymname andeutet, katalysiert es die Entstehung eines cyclischen Adenosinmonophosphats („cAMP“) aus Adenosintriphosphat, und zwar mit maximaler Aktivität. Die Reaktion folgt der Gleichung

ATP → cAMP + PPi wobei PPi für ein Salz der Diphosphorsäure (H4P2O7) steht. Die Strukturformel des cyclischen Adenosinmonophosphats zeigt Abb. 7.13. Wie Sie sehen, bildet die Phosphorsäure in dieser Verbindung einen Ring mithilfe zweier Esterbindungen an den Kohlenstoffatomen 3′ und 5′ des Ribosemoleküls, daher auch der genauere Name 3′,5′-Cyclo-Adenosinmonophosphat.

Abb. 7.13  3′,5′-CycloAdenosin-monophosphat

NH2 N O CH2

H H O P O–

O

O

N

H H OH

N N

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

214

Diese Verbindung kommt im ruhenden Muskel in winzigen Mengen vor – aber durch das Adrenalin und die Adenylat-Cyclase wird ihre Konzentration auf mehr als das Hundertfache gesteigert. Wilhelm Busch meint: Denen, die der Ruhe pflegen Kommen manche ungelegen.

Nicht so die „Inaktive Phosphorylase-b-Kinase“, die in der Muskelzelle faul herumliegt. Sie scheint auf das cAMP geradezu gewartet zu haben, denn dieses versetzt unser Enzym in hektische Aktivität. Die Aktivierungsreaktion wird durch eine Proteinkinase katalysiert:

ATP + Inaktive Phosphorylase-b-Kinase → ADP + Aktive Phosphorylase-b-Kinase Sicher ist es Ihnen aufgefallen, dass hier das cAMP wie ein Hormon, also wie ein (innerzellulärer) Bote wirkt. Da es letzten Endes indirekt vom Adrenalin auf den Weg geschickt wurde, wird es auch als „second messenger“ bezeichnet.17 Die Aktive Phosphorylase-b-Kinase ihrerseits will natürlich auch als Biokatalysator wirken. Sie krallt sich ein Molekül ATP und benutzt dessen Energie, um eine untätig vor sich hin dösende Phosphorylase b als Phosphorylase a zu höchster Aktivität anzuspornen:

ATP + Phosphorylase b → Phosphorylase a Sicher fragen Sie sich inzwischen, wozu der ganze Wust aufeinander folgender Reaktionen gut sein soll und jetzt endlich erhalten Sie Antwort. Denn das Enzym Phosphorylase a katalysiert den Abbau von Glykogen zu Glukose und deren sofortige Veresterung mit Phosphorsäure:

Glykogen + Pi → Glukose-1-phosphat Das Glukose-1-phosphat aber reguliert als eine der beiden Eingangsverbindungen18 die Geschwindigkeit, mit der die Glykolyse abläuft. Und dank der Kaskade von Enzymaktivierungen, die wir eben bewundert haben, und die eher einer Lawine gleicht, welche durch einen Schneeball ausgelöst wird und sich dauernd verstärkend zu Tal donnert, liegt jetzt trotz der verschwindend geringen Konzentration an Adrenalin eine mehr als 5 Mio. mal stärkere Konzentration an Glukose-1-phosphat vor. Sprachen wir noch beim Adrenalin von einem Milliardstel Mol Hormon pro Liter Blut, so müssen wir jetzt von 5 mmol ausgehen. Bei einem Molgewicht von 260 sind das 5 · 260 = 1300 mg oder 1,3 g Glukose-1-phosphat je Liter Blut. Das ist eine gewaltig gesteigerte Konzentration. Die Glykolyse wird deshalb nicht nur gestartet, sie startet

17Der

second messenger ist uns nicht ganz neu. Bei der Zucker-Messung in den Pankreaszellen trat ATP als second messenger auf. 18Wir wissen noch vom fünften und zweiten Ausflug: Die andere ist Glukose-6-phosphat!

7.24  Synthese und Biosynthese

215

gleich durch! Samt Folgereaktionen! Und das dabei produzierte ATP ermöglicht die Höchstleistung, zu der uns die Gefahr mithilfe von Adrenalin angespornt hat. Nur ein ganz kleiner Teil des ATP wird zur Verstärkung der Enzymlawine verbraucht.

7.24 Synthese und Biosynthese Was fehlt uns noch beim Adrenalin? Richtig, die Biosynthese! Sie geht vom Phenylalanin aus und gelangt in vier enzymkatalysierten Stufen höchst elegant zum räumlich richtigen Isomer des Adrenalins (Abb. 7.14). Sie hat gleichzeitig den Charme, bei Bedarf dem Körper Zwischenprodukte zu liefern, die ebenfalls a COOH H 2N C H

COOH H 2N C H

COOH H 2N C H

CH 2

CH 2

PhenylalaninHydroxylase

CH 2

TyrosinHydroxylase

HO OH

OH

DOPA

Tyrosin

Phenylalanin

Aromatische AminosäureDecarboxylase

C O2 C H3 HN C H2

H 2N C H 2

HO CH

HO CH

MethylTransferase

HO

HO OH

Adrenalin

OH Dopamin

Noradrenalin

Cl C H2 O C Cl +

HO

Cl C H2

PO Cl 3

O C

– HCl HO

OH

CH 2

DopaminHydroxylase

HO OH

b

H 2N C H 2

C H3 NH C H2

+ H2N CH3

O C

– HCl HO

OH

C H3 NH r ed .

C H2 HO CH HO

OH

OH Adrenalin

Abb. 7.14  Florett oder schwere Säbel?

216

7  Siebenter Ausflug: In das Reich der Vitamine und Hormone

als Hormone interessant sind. So gilt das Dopamin als „Glückshormon“, weil es das Wohlbefinden steigert. Es wird bei der Parkinson-Krankheit verabreicht, ist allerdings – wie alle wirksamen Arzneien – nicht frei von unerwünschten Nebenwirkungen. Das Noradrenalin ist ähnlich wie das Adrenalin ein Stresshormon, wirkt aber außerdem bei der Reizleitung durch die Nervenzellen mit. Zum Vergleich ist in Abb. 7.14 unten die chemische Synthese von Adrenalin vorgestellt. Sie verwendet höchst aggressive, ätzende und giftige Reagenzien, zum Beispiel das Chloressigsäurechlorid, Phosphoroxytrichlorid und Methylamin. In drei Stufen führt sie zu einem racemischen Gemisch von zwei Enantiomeren, die in einer vierten Stufe mithilfe einer optisch aktiven Weinsäure mühsam getrennt werden müssen. Kein Trick führt daran vorbei, dass diese letzte Stufe maximal 50 % Ausbeute erreicht, weil das falsche Enantiomer unwirksam ist. (50 % in der Theorie! Die Praxis liefert einen noch niedrigeren Wert!). – Natürlich sind die Chemiker an den Umgang mit derlei Substanzen und Verfahren gewöhnt und beherrschen ihn sicher. Dennoch sei hier ein Vergleich erlaubt: Die Biochemiker fechten mit dem Florett, die Chemiker mit schweren Säbeln.

7.25 Ein Ausblick vom Gipfel Etwas außer Atem sind wir hier auf dem Aussichtsturm angekommen, der uns einen Rückblick auf unseren letzten Ausflug erlaubt. Wir begannen ihn als blinde Passagiere auf einem Schiff des Portugiesen Magellan, wo wir sahen, unter welchen Leiden seine Matrosen den Pazifik überquerten. Neunzehn von ihnen und alle zwei Passagiere starben vor unseren Augen an einer rätselhaften Krankheit, die nach der Entdeckung einer fruchtbaren Inselgruppe schneller verschwand als sie ausgebrochen war. Auch die nächste Seereise nach dem Ostasien des 19. Jahrhunderts zeigte uns das Elend der Armen, die sich fast ausschließlich von geschältem Reis ernähren mussten. Abgemagert bis zum Skelett starben sie auf den Straßen, ja, sogar auf den Schiffen der Kaiserlich-Japanischen Marine, bis das Menschenexperiment eines tüchtigen Marinearzts einen Lichtstrahl auf die Ursache des Leidens warf. Einem verdienstvollen niederländischen Tropenarzt wurde der Nobelpreis verliehen – ein japanischer Forscher ging leer aus, obwohl ihm als erstem die Isolierung des Vitamins B1 aus Reiskleie gelang.- Das Vitamin A interessierte uns bald danach, nicht nur, weil es uns einige Seitenhiebe auf die allzu skeptischen Kollegen von der philosophischen Fakultät erlaubte. Allerlei anderen Vitaminmangelkrankheiten und ihren Ursachen begegneten wir, bevor wir uns etwas übersättigt den Hormonen zuwandten. Ihre Wirkungsweise studierten wir am Beispiel eines Pflanzenhormons. Wir begriffen ihre Botenfunktion und – wenigstens teilweise – ihre Wirkung, als wir eine andere schwere Stoffwechselkrankheit studierten. Das Insulin – wie fast alle Substanzen dieses Ausflugs erst im 20. Jahrhundert isoliert, hergestellt und eingesetzt, besiegte

7.25  Ein Ausblick vom Gipfel

217

die längst bekannte und zu Recht gefürchtete Zuckerkrankheit, das Adrenalin bewunderten wir seiner leistungssteigernden Wirkung wegen – es ist sozusagen ein natürliches Dopingmittel unseres Körpers. Wie schon gewohnt, erholen wir uns von den Strapazen der Ausflüge durch eine Safari. Sie führt uns zu einem eigenwilligen Element. Wir kennen und bewundern es seit Langem, aber aus der Nähe betrachtet zeigt es eine unvermutete Willensstärke.

Safari: Zu einem eigenwilligen Element

Es entsteht im Inneren von massereichen Sternen aus Heliumatomen, von denen jeweils drei bei Temperaturen von 100 bis 200 Mio. °C zu einem einzigen neuen Kohlenstoffatom verschmelzen. Bei diesem Vorgang wird ein kleiner Teil der Masse in Wärmeenergie umgewandelt, die den Stern am Leuchten hält. Nach Millionen von Jahren stirbt der Stern mit einer unvorstellbar heftigen Explosion als „Supernova“. Dabei schleudert er seine Atome ins Weltall. Eine riesige Gaswolke entsteht. Die schwereren Atome – auch die des Kohlenstoffs – finden sich in ihr zu mikroskopischen Staubteilchen zusammen. Aus solchem Sternenstaub entstehen unter dem Einfluss der Schwerkraft die masseärmeren Sterne der zweiten oder einer noch späteren Generation – unsere Sonne gehört zu ihnen. Aus Sternenstaub entstehen die Planeten, welche um solche Sonnen kreisen. Sternenstaub ist deshalb auch das Baumaterial unserer Erde und unseres Körpers. „Unsere“ Atome sind also uralte Weltenbummler und stammen aus allen Teilen der Milchstraße. Die Astronomen versichern uns, dass manche von ihnen sogar von anderen Galaxien stammen. Seit etwa einem Jahrhundert wissen wir, wie sie beschaffen sind. Eines von ihnen wollen wir uns näher ansehen. Jedes Kohlenstoffatom besteht aus einem Kern, in dem sechs Protonen und (meistens) sechs Neutronen mithilfe der Starken Kernkraft zusammengehalten werden, sowie sechs Elektronen, die den Kern in zwei Schalen umkreisen. In der inneren Bahn bewegen sich zwei Elektronen, während auf der äußeren Bahn vier „Valenzelektronen“ unterwegs sind. Die sind es, die dem Element Kohlenstoff ermöglichen, Verbindungen einzugehen. Dabei hilft ihm die Tatsache, dass in seiner äußeren Elektronenschale noch Platz für weitere vier Elektronen besteht. In seinem erstaunlichen Bestreben, diese Lücken vollständig zu besetzen, besorgt es sich die fehlenden vier von anderen Atomen, wobei es gern bereit ist, den Gesamtbesitz an Valenzelektronen mit dem neuen Partner zu teilen. So kann ein Atom Kohlenstoff vier Wasserstoffatome an sich binden, oder zwei Sauerstoffatome, aber auch bis zu vier andere Kohlenstoffatome. Gleiches Recht für alle! Weil jedes Kohlenstoffatom diese Möglichkeit hat, heißt dies: Kohlenstoff kann geradlinige, verzweigte oder ringförmige Ketten bilden. Auch ebene Blätter oder dreidimensionale Gebilde bietet er als Baugerüste an.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Neubauer, Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58859-8

219

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Safari: Zu einem eigenwilligen Element

Aber alle diese erstaunlichen Eigenschaften verblassen vollständig gegenüber seinen Leistungen, wenn er andere Elemente als Partner findet. Weit über eine Million Kohlenstoffverbindungen sind genau bekannt und beschrieben, täglich werden es mehr. Wahrscheinlich gibt es viele Milliarden! Seine Fähigkeit, in die Ketten oder Ringe Doppelbindungen, Dreifachbindungen oder Fremdatome einzubinden, funktionelle Gruppen zu tragen oder Komplexe mit Metall-Ionen einzugehen, flächenhafte oder spiegelbildliche Isomere zu erzeugen, macht dieses Element einzigartig. Kein anderes ist ihm auch nur annähernd ebenbürtig! Denn alle anderen Elemente haben Mängel, welche die Möglichkeit, solche Verbindungen zu bilden, empfindlich einschränken. Betrachten wir seine Nachbarn im Periodensystem, die ihm noch am ehesten gleichen! Das Bor hat mit ganzen drei Valenzelektronen zu wenig, um die Vielfalt der Verbindungen zu erreichen, die den Kohlenstoff auszeichnet. Der Stickstoff hat mit fünf eines zu viel. Bei der Kettenbildung ist er deshalb ein Stümper. Zwei Stickstoffatome halten noch mit einer Einfachbindung im Hydrazin (H2N– NH2) ganz gut zusammen, obwohl uns die Tatsache, dass es ein energiereicher Raketentreibstoff ist, schon alarmieren sollte. Eine Kette von drei Stickstoff­ atomen haben dann nur noch die explosionsgefährliche Stickstoffwasserstoffsäure (HN3) und ihre Salze, die alle höchst gefährliche Initialsprengstoffe sind. Die fünf Valenzelektronen führen hier zu einem Molekül, das mithilfe einer N=N-Doppelbindung und einer N ≡ N-Dreifachbindung mühsam zusammenhält. Eine Kette aus noch mehr Stickstoffatomen hat noch niemand synthetisieren können. Die unbeschäftigten Valenzelektronen tun sich nämlich zu Elektronenpaaren zusammen und die stoßen sich, weil alle negativ geladen, dermaßen kräftig voneinander ab, dass sie die Atome des Kettenmoleküls auseinandertreiben. An Ringmoleküle ist nicht einmal zu denken. Das Silicium ist meist der Favorit, wenn Science-Fiction-Autoren von Leben ohne Kohlenstoff träumen. Tatsächlich hat es ähnlich wie Kohlenstoff vier Valenzelektronen. Sie kreisen aber in einer dritten Schale um den Atomkern und das macht Siliciumatome zu dick für stabile Doppelbindungen, von Dreifachbindungen ganz zu schweigen. Damit entfallen viele Möglichkeiten, die der Kohlenstoff ausnützt, um zum Beispiel „aromatische“ Verbindungen zu bilden, also solche, deren Ringmoleküle sechs bewegliche π-Elektronen aufweisen. Und noch schlimmer: Silicium-Wasserstoffverbindungen gehen an der Luft in Flammen auf und reagieren heftig mit Wasser. Darüber hinaus neigt das Silicium dazu, bei jeder Gelegenheit hochpolymeres, extrem unlösliches Siliciumdioxid zu bilden. Aus diesem Material besteht bekanntlich der Quarzsand. Deshalb kann es ganz gewiss Kohlenstoff in lebenden Zellen nicht ersetzen. Aluminium ist zu sehr Metall und Phosphor ähnlich wie Stickstoff zu reich an Valenzelektronen. Folglich gibt es wohl nirgends im All Leben ohne Kohlenstoff. Nur dieses eine Element kann so viele verschiedene und so vielseitig begabte Moleküle bilden, Verbindungen, die bisweilen ein genialer Architekt erfunden haben könnte – wie die Faltblattmoleküle der Seide, Wendelmoleküle von Wolle

Safari: Zu einem eigenwilligen Element

221

und Stärke oder die Doppelwendeln der DNA, ganz zu schweigen von den Dreifachwendeln des Collagens. Andere Moleküle des Kohlenstoffs – die Enzyme – wirken als Biokatalysatoren. Sie ermöglichen Reaktionen, die selbst dem versierten Chemiker nicht gelingen. Ihre Arbeit ist in den Zellen unersetzlich. Ohne sie wäre Leben nie entstanden und auch nicht möglich. Ihre Leistungen sind noch erstaunlicher, wenn sie in Enzymkomplexen zusammenarbeiten. Da gibt es Protonenpumpen und protonengetriebene Turbinen, Shuttledienste, Glukosetransporter, auf Kettenmolekülen schlittenfahrende Enzym-Geleitzüge, Enzymlawinen, sogar Korrektur lesende und ihre eigenen Fehler reparierende Gebilde! Erfindungen ohne Erfinder in submikroskopischen Bestandteilen der lebenden Zellen! Ausgewählte Zellen wiederum bringen es fertig, sich zu Geweben und Organen zusammenschließen. Die arbeiten in Pflanzen oder Tieren so sinnreich zusammen, dass Lebewesen entstehen, welche sich ernähren, atmen, wachsen und vermehren. Die Evolution sorgt beständig dafür, dass sich die Tüchtigsten von ihnen durchsetzen. Die am höchsten Entwickelten können sehen, riechen, hören, schmecken, fühlen, sich freuen, trauern, lieben, hassen, das Leben genießen und den Tod fürchten. Einige von ihnen erlangen ein Bewusstsein ihrer selbst, der Homo sapiens ist darüber hinaus als Einziger fähig, zu musizieren, zu philosophieren, das Weltall zu erforschen und es zu bereisen, den Bau der Atome und ihrer Verbindungen zu erkennen und seine eigene Entstehung aufzuklären. Kurzum, der Kohlenstoff ist ein höchst eigenwilliges Element, dessen einfachste Verbindungen, erzeugt und angetrieben von den Blitzen der Uratmosphäre und der Lava der Urkontinente, im Urozean zu Leben führten und sicher an geeigneten Orten im Weltall immer noch Leben und letzten Endes intelligentes Leben hervorbringen. Ein wunderbares, in Hierarchien gegliedertes Leben, das sich dank der Evolution fortwährend aus einfachen Bausteinen zu immer komplizierteren, höheren, intelligenteren Lebewesen weiterentwickelt. In anderen Worten: Kohlenstoffatome haben sich so sinnreich organisiert, dass sie über sich selbst und ihre Evolution nachdenken können. Auch wenn sie dafür die Mitwirkung anderer Atome und Milliarden Jahre Zeit gebraucht haben, sind hier zwei Ausrufezeichen angebracht!! Arthur Schopenhauer war es, der über den Willen zum Leben am meisten nachdachte. Er schrieb: „Alles drängt und treibt zum Dasein, wo möglich zum organischen, das ist zum Leben, und danach zur möglichsten Steigerung desselben: an der tierischen Natur wird es dann augenscheinlich, dass Wille zum Leben der Grundton ihres Wesens, die einzige unwandelbare und unbedingte Eigenschaft desselben ist.“ Hätte er schon unser Wissen über den Kohlenstoff gehabt, er hätte wohl keinen Augenblick gezögert, diesem Element einen eigenen Willen zum Leben zuzusprechen. Religiös Begabte werden hier ein unerwartetes Argument für das „Intelligent Design“ entdecken.

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Safari: Zu einem eigenwilligen Element

Der italienische Chemiker und Schriftsteller Primo Levi hat das ehrfürchtige Staunen über unser Element in seinem Buch „Das periodische System“ zu einer Kurzgeschichte verarbeitet, in der ein Kohlenstoffatom nach langer Gefangenschaft in einem Kalkgestein in ein Weinblatt gerät. Von da geht es weiter in den Leib eines Weintrinkers und über die Stationen Schmetterling, Holzwurm und Milch in jene Zelle seines Gehirns, die seiner Hand befiehlt, einen Punkt aufs Papier zu drücken: diesen. Es ist der Schlusspunkt seines Buchs und auch des unsrigen.

Sach- und Personenverzeichnis

3′,5′-Kette, 121 3′,5′-Komplementärstrang, 125 5′,3′-Kette, 121 A Abbau biochemischer, 93 katalytischer, 94 Abbaureaktion, 60 Ablesefehler, 134 Acetoacetylrest, 166 Aceto-Butyryl-ACP, 167 Acetyl-Coenzym A (CoA), 52, 159, 165, 169, 181 Acetylgruppe, 55 Acetylrest, 52 Acetylsalicylsäure, 107 Acetyltransferase, 181 Aconitase, 56 Aconitat, 55 Acyl-Carrierprotein (ACP), 166 Adenin, 37, 108, 114, 121, 127 Adenosindiphosphat (ADP), 37 Adenosinmonophosphat, cyclisches (cAMP), 213 Adenosintriphosphat (ATP), 37, 46, 69, 108 Synthase, 70, 71 Adenylat-Cyclase, 213 ADP s. Adenosindiphosphat Adrenalin, 211 Biosynthese, 215 Adrenalinkick, 212 Alanin, 12, 17 Aldehyd, 2 Aldehydform, 103 Aldehydgruppe, 44 Aldolase, 41, 141, 152

Alkohol-Dehydrogenase, 50, 152, 158 All-trans-Retinal, 196 α-Aminopropionsäure, 12 α-D-Glukose, 97, 103 α-Helices, 209 Alpha-Helix, 23 α-Keratin, 29 α-Ketoglutarat, 56 Alpha-Ketoglutarat-Dehydrogenase, 56 α-Ketoglutarsäure, 56 α-Ketosäure, 58 α-Kohlenstoffatom, 20, 22 Aminoacyl-tRNA-Synthetase, 130, 131 Aminoethylphosphatidat, 185 Aminosäure, 2, 9, 120 essenzielle, 18 proteinogene, 18 Synthese, 157 Aminosäureabbau, 157 Amygdalin, 108 Amylopektin, 97 Amylose, 97 Anaerob, 36 Anämie, perniziöse, 200 Anlauf, 52 Antennenmolekül, 81 Anthocyan, 108 Anticodon, 130 Anziehungskraft elektrostatische, 14 zwischenmolekulare, 11 Äpfelsäure, 58 Arginin, 72 Ascorbinsäure, 192, 193 Asparagin, 72 Aspirin, 107 Asthma, 33 Atmung, 87

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Neubauer, Wöhlers Entdeckung – Eine andere Einführung in die Biochemie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58859-8

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224 Atmungskette, 60, 61, 74, 75, 182, 211 Atomgewicht, 54 ATP s. Adenosintriphosphat ATPase, 84 B Bakterium, genmanipuliertes, 206 Ballaststoff, 93 Banting, F., 206 Basenabfolge, 117, 129 der RNA, 128 Basenpaar, 117, 134 Bauchspeicheldrüse, 205 Baumwolle, 15 Bedingung, physiologische, 10, 154 Beri-Beri-Krankheit, 199 Bernsteinsäure, 57 aktivierte, 56 Best, C., 206 β-Amylase, 160 β-Carotin, 198 β-D-Glukose, 97, 103 β-Faltblattstruktur, 14 β-Hydroxybutyryl-ACP, 167 β-Hydroxystearinsäure, 180 β-Ketopalmitinsäure, 181 β-Ketostearinsäure, 181 β-Oxidation, 181 Bindung chemische, 7 heteropolare, 8, 26 homöopolare, 7 kovalente, 7, 14, 23 Bindungsarm, 6 Bindungsenergie, 24 Bindungspartner, 6 Bindungsstrich, 7 Bindungswinkel, 6, 23 Biochemie, 137 Biosynthese, 215 Biot, J. B., 98 Blattgrün, 80 Blaualge, 77 Bluteiweiß, 29 Blutgruppe, 109 Blutzuckerspiegel, 205 Botenstoff, 203 Boyer, P. D., 73 Brenztraubensäure, 39, 48 Busch, W., 9, 41, 47, 97 Buttersäure, 167 Butyrylgruppe, 167

Sach- und Personenverzeichnis C Calvin, M., 85 Calvin-Zyklus, 85 cAMP, 213 Carboxylgruppe, 9, 44 Carotin, 197 Cellulose, 15, 92, 93, 105 katalytischer Abbau, 94 Struktur, 96 Cellulosefaser, 95 Cephalin, 185 Chargaff, E., 116 Chargaffs Regeln, 116 Chemie anorganische, 29 organische, 20, 137 physiologische, 33 Chemiefaser, 18 Chemiosmotisch, 69 Chlorophyll, 80 P 680, 82 P 700, 83 Chloroplast, 81 Cholecalciferol, 202 Cholesterin, 60 Cholesterol, 193 Cholin, 186 Chromosom, 113 Chromosomenpaar, 113 Chromosomenzahl, 113 Chymotrypsin, 146, 148 Citrat, 55 Synthase, 55 Codon, 120, 130 Coenzym, 49, 159 Coenzym A, 52, 159 Cofaktor, 158, 159 Coiled coil, 27 Coli-Bakterium, 73, 126 Collagen, 193 Coniferin, 108 Connecting peptide, 208 Cortison, 211 Crick, H., 116 CRISPR-Methode, 135 Cyclo-Adenosinmonophosphat, 213 Cysteamin, 53 Cystein, 26 Cytochrom a a3, 67 a, b, c, 66 bf, 83 bf-Komplex, 81

Sach- und Personenverzeichnis c1, 67 c-Reduktase, 66 Oxidase, 67 Cytoplasma, 51, 73, 128 Cytosin, 114, 121 D D-Alanin, 12 D-Aminosäure, 13 dAMP s. Desoxyadenosinmonophosphat dCMP s. Desoxycytidinmonophosphat Decarboxylierung, 50 Dehydrocholesterol, 202 D-Enantiomer, 102 Desaturase, 169 Desoxyadenosinmonophosphat (dAMP), 120 Desoxycytidinmonophosphat (dCMP), 120 Desoxyguanosinmonophosphat (dGMP), 120 Desoxyribonucleic Acid s. DNA Desoxyribonucleinsäure s. DNA Desoxyribonukleotid, 120 Desoxyribose, 118 Desoxythymidinmonophosphat (dTMP), 120 Dextrose, 102 dGMP s. Desoxyguanosinmonophosphat Diabetes mellitus, 205 Dihydro-Ubichinon (UQH2), 65 Dihydroxyacetonphosphat (DHAP), 41, 74 Dimethylether, 5 Dinukleotid, 43, 120 Dipalmitylphosphatidsäure, 184 Dipeptid, 10 Diphosphoglycerat, 44 Disaccharid, 94 DNA, 109, 114, 115, 118 Polymerase, 124, 125 DNS s. DNA Dopamin, 194, 216 Doppelbindung, 7 Doppelwendel, 134 der DNA, 221 Drehbarkeit behinderte, 23 eingeschränkte, 29 freie, 7, 22, 142, 196 dTMP s. Desoxythymidinmonophosphat Düngemittel, 31 Düngung, 158 Dunkelreaktion, 86 D-β-Hydroxystearyl-Coenzym A-Dehydrogenase, 181

225 E Eigenschaft basische, 20 makroskopische, 17 Eiweiß, 11 biochemische Zersetzung, 17 Eiweißmangel, 31 Elastase, 146, 148 Elektrizität, positive, 69 Elektrolysegefäß, 175 Elektron, delokalisiertes, 23 Elektronenlücke, 44 Elektronenpaar freies, 6 nichtbindendes, 7 Elementarladung, elektrische, 8 Element, 5, 6 Embryo, 113 Emulgator, 172, 177, 188 Emulsion, 177 Emulsionsbildung, 188 Enantiomer, 12, 216 Energie, chemische, 36, 87 Energieaufwand, 35 Energieinhalt unserer Nahrung, 87 Energiespeichermolekül, 38, 183 Energieverbrauch, 183 Enolase, 152 Enolpyruvat, 46 Enol-Verbindung, 46 Entropie, 36, 87 Entstehung des Lebens, 88 Enzym, 29, 37, 137, 141, 221 als Ordnungskraft, 142 Hemmung, 150 Klassifizierung, 161 Regulierung, 150 spezifische Wirkung, 148 verknüpfte Reaktionen, 144 Zielgenauigkeit, 138 Enzymaktivität, 155 Enzyme Commission, 153 Enzymklasse, 160 Enzymkomplex, 61, 161 Epinephrin, 212 Erbinformation, 9, 117, 120, 123, 129 Datenschutz, 134 Erbkrankheit, 128, 135 Escherichia Coli, 73 Essigsäure, aktivierte, 52 Ethanol, 5 Ethanolamin, 185

226 Ethylen, 203 Eukaryot, 38, 50, 178 Eukaryotenzelle, 51 Evolution, 9, 60, 77, 134, 151, 212, 221 Exon, 128 Exonuclease, 124 F FAD s. Flavin-Adenin-Dinukleotid FADH2, 57 Faltblattmolekül, 220 Faserprotein, 13 Ferredoxin, 83 Ferredoxin-NADP+-Reduktase, 83 Fett, 170 Fettabbau, 179 Fettsäure, 60, 170 essentielle, 170 Omega-3-ungesättigte, 170 ungesättigte, 169, 171 Fettsäureabbau, 157, 181, 183 Fettsäuresynthese, 181, 183 Fischer, E., 96, 104, 199 Flavin, 108, 200 Flavin-Adenin-Dinukleotid (FAD), 57, 108, 200 Flavinenzym, 63 Flavingruppe, 63 Flavinmononukleotid (FMN), 63, 65, 109, 200 FMN s. Flavinmononukleotid Fötus, 113 Franklin, R. E., 116 Freiwilligkeit einer Reaktion, 144 Fruchtfliege, 113 Fruchtzucker, 40, 48, 89, 106 Fruktose, 40, 106 Fruktose-1,6-bisphosphat, 40, 41 Fumarase, 58 Fumarat, 58 G G3P, 41 Gangliosid, 183 Gärung, 39 alkoholische, Versuch, 157 Gärungsreaktion, 36 Gärungsvorgang, 77 GDP s. Guanosindiphosphat Gelatine, 193 Gen, 113 Genom, 117, 135 Gesetz vom kleinsten Zwang, 154

Sach- und Personenverzeichnis Gewebe, 221 Gicht, 31 Gleichgewicht, dynamisches, 104, 153 Glukagon, 205, 211 Glukoneogenese, 60, 85 Glukose, 37, 89, 214 Aldehydform, 103 Drehvermögen, 102 Glukose-6-phosphat, 40, 151 Glukosemangel, 75 Glukoside, 107 Glutamin, 144 Glutaminsäure, 144 Glutaminsynthetase, 144 Glutamylphosphat, 144 Gluten, 26 Glyceraldehyd-3-phosphat-Dehydrogenase, 152 Glycerin, 170 Glycerin-3-phosphat, 74 Glycerinaldehyd, 9, 41 Glycerinaldehyd-3-phosphat (G3P), 41 Glycerinphosphat-Shuttle, 75 Glycerintripalmitat, 172 Glycin, 9, 17 Glykogen, 156, 210, 214 Glykolyse, 37, 39, 46, 48, 60, 73, 77, 151, 156, 211 Glykosid, 108 Goethe, J. W. von, 63 Golgi-Apparat, 208 Grana, 81 Grenzformel, mesomere, 22 Gruppe, prosthetische, 63, 139 GTP s. Guanosintriphosphat Guanin, 114, 121 Guanosindiphosphat (GDP), 57 Guanosintriphosphat (GTP), 57 H Haar, 27 Halbacetal, 89, 91 Haldane, J. B. S., 1 Häm, 29, 66 a3, 67 a, 67 Hämoglobin, 30 Harnsäure, 31 Harnstoff, 31, 32 Haut, 29 Hefepilz, 36 Hefezelle, 157 Helicase, 122, 123

Sach- und Personenverzeichnis Hemmung kompetitive, 150 nichtkompetitive, 150 Herzglykosid, 108 Hexokinase, 151 Hexose, 152 Hippokrates, 107 Hoff, J. H. van’t, 101 Hoffmann, F., 107 Honig, 107 Hormon, 204, 212 Horn, 29 Huf, 29 Humaninsulin, 206 Hydrid-Ion H−, 43 Hydrolase, 160, 168 Hydrophil, 173 Hydrophob, 173 Hydroxylysin, 193 Hydroxyprolin, 193 Hypoglykämie, 205 I Imidazol-Fünfring, 146 Immunabwehr, 33 Immunsystem, 29 Induced-fit-theory, 139, 145 Insulin, 205, 208 Insulinsynthese, 207 Intelligent Design, 221 Intermembranraum, 62 Intron, 128 Invertase, 106, 107 Iodzahl, 171 Ionenbindung, 8, 26 Isocitrat, 55 Dehydrogenase, 56 Isomer, 6 optisches, 12, 101 Isomerase, 160 Isomerie, optische, 102 Isopreneinheit, 65 K Kalorie, 39 Kanehiro, T., 199 Katalysator, biochemischer, 137 Kautschuk, 65 Keimbahn, 135 Kekulé, F. A., 101 Keto-Enol-Tautomer, 46

227 Ketonverbindung, 46 Ketose, 107 Keto-Zucker, 107 Klassifizierung, 161 Kohlenhydrat, 78, 93 Kohlenstoffatom, 219, 221 asymmetrisches, 12, 102, 142 Kohlenstoff-Kohlenstoffbindung, 5 Komplementärstrang, 124 Komplex, 63 I, 65, 67–69 II, 65, 67, 68 III, 65, 67, 68 IV, 67, 68 Konformation, 71 Koshland, D., 139, 143, 145 Kossel, A., 114 Kraft, protonenmotorische, 69 Krebs, H. A., 59 Krebszyklus, 59, 73 Kreislaufprozess, 87 Kreuzungsexperiment, 113 Kuhlenbeck, H., 114 Kunststoff, biologisch abbaubarer, 97 L Lactat-Dehydrogenase, 152 Laktose, 107 L-Alanin, 12 L-Aminosäure, 13 Langerhanssche Inseln, 205, 207 α-Zellen, 211 Leader peptide, 207 Leading-Strang, 124 Leben, 1, 9, 11 intelligentes, 9, 221 ohne Kohlenstoff, 220 Lebewesen, 36, 221 Lecithin, 186 Leinöl, 171 Leitstrang, 124 Levene, P., 114 Levi, P., 222 Licht, polarisiertes, 99 Liebig, J. von, 92 Ligase, 160 Lignin, 105 Linolensäure, 169 Linolsäure, 169 Lipase, 171 Lipid, 183 L-Konfiguration, 102

228 L-Malat, 58 L-Tyrosin, 193 Lumen, 81 Lyase, 160 Lysin, 193 M Makrofibrille, 28 Malat, 60 Aspartat-Shuttle, 75 Dehydrogenase, 58 Malonsäure, 166 Malonyl-Coenzym A, 166, 169 Maltose, 160 Malzzucker, 89, 107 Mannit, 89 Matrix, 51 Membran, 178, 186 Mendel, G., 112 Meselson, M. S., 126 Messenger-Ribonukleinsäure, 128 Metall, 6 Methionin, 131, 203 Miescher, F., 114 Mikrofibrille, 27 Milchsäure, 49 für Konservierungszwecke, 48 Milchsäurebakterium, 47 Milchsäuregärung, 47 Milchzucker, 89, 107 Miller, S., 8 Miller, S. L., 2 Mitchell, P. D., 70 Mitochondrien, 38, 50, 60, 61, 73, 169 Mitochondrienmembran, innere, 61 Mizelle, 175 Mol, 54 Molekül, optisch aktives, 98 Molgewicht, 54 Morgenstern, C., 163 mRNA, 128 Muskel, 29 Mutant, 128 Mutarotation, 103 Mutation, 134 Myoglobin, 29 N NAD+, 43, 108 NADH, 43 NADH-Dehydrogenase, 63 NADH-Q-Oxidoreduktase, 63

Sach- und Personenverzeichnis NADP s. Nicotinamid-Adenin-DinukleotidPhosphat Nahrung, 30, 36, 86 Nahrungsergänzungsmittel, 159 Nahrungsmittel, 80 Nährwert, 179 Nervenzelle, 188 Reizleitung, 216 NH–CO-Bindung, 9 Niacin, 201 Nichtmetall, 6 Nicotinamid, 43, 201 Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid (NAD+), 43 Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid-Phosphat (NADP), 84 NADP+, 83 Nicotinsäure, 201 Nicotinsäureamid, 108 Nierenstein, 31 Nitrat, 31 Noradrenalin, 194, 216 Nuklein, 114 Nukleinsäure, 114 Nukleosid, 124 Nukleosidphosphat, 124 Nukleotid, 43, 120, 128 Nylon 6, 18 O OH−-Ion, 10 Okazaki, R., 125 Okazaki-Fragment, 125 Öl, 170 Oligopeptid, 11 Ölsäure, 169 Omega-Kohlenstoffatom, 168 Oparin, A. I., 1 Opsin, 196 Ordnung, 35 Organ, 221 Organelle, 38, 73, 81 Oxalacetat, 55, 58 Oxalessigsäure, 58 Oxidation, flammenlose, 44 Oxidationszahl 0, 79 P Palmitinsäure, 164, 168 Palmityl ACP, 168 Coenzym A, 181

Sach- und Personenverzeichnis Pankreas, 205 Pantothensäure, 52 Parkinson-Krankheit, 216 Passform-Theorie, induzierte, 139 Pasteur, L., 100 Pauling, L., 194 Pellagra, 200, 201 Pentose, 152 Pepsin, 31 Peptid, 3 Peptidase, 160, 209 Perlon 6, 18 Pflanzenhormon, 203, 204 Phäophytin, 82 Phenylalanin, 20 Phosphatidat, 183 Phosphoenolpyruvat, 46 Phosphofruktokinase, 152 Phosphoglukose-Isomerase, 152 Phosphoglycerat, 44, 45 Phosphoglycerat-Kinase, 152 Phosphoglycerid, 183, 184 Phosphoglyceromutase, 152 Phosphorylase, 214 Phosphorylase-b-Kinase, 214 Photon, 195, 196 Photophosphorylierung, cyclische, 86 Photosynthese, 78, 86, 87 der Eukaryoten, 80 Photosystem PS I, 81, 83 PS II, 81, 82 pH-Wert, 140 Plastochinon Q, 82 Plastocyanin PC, 83 Polarität, elektrische, 185 Polyamid, 17 Polyamid 6, 18 Polypeptid, 11 beschreiben, 21 globuläres, 29 Polypeptidlappen F1(αβ)3, 71 Polypeptidspirale F0c, 70 Polysaccharid, 95 Porphyrin, 60 Präproinsulin, 207 Primärstruktur, 14 Primer, 124, 125 Proenzym, 145 Proinsulin, 208 Prokaryont, 129, 178 Prolin, 193 Proprotein-Konvertase, 209

229 Protein, 9, 11, 30 Proteinkomplex, 61 Proteinsynthese, 127 Proteom, 135 Protofilament, 27 Proton, 9 Protonenpumpe, 64 Provitamin, 198 Puffer, 140 Pyruvat, 39, 46 Decarboxylase, 50, 152, 158 Dehydogenase, 52 Kinase, 152 Q QH2-Cytochrom c-Reduktase, 66 Quantitativ, 154 R Rachitis, 202 Radikale, 176 Reaktionsgeschwindigkeit, 154 Reaktionsgleichgewicht, 154 Reaktionszentrum, 146 Reifungsprozess, 203 Replikation, 122, 123, 127 semikonservative, 125, 126 Reticulum, endoplasmatisches, 168, 207 Retinal, 196, 197 Retinol, 198 Rhodopsin, 196, 197 Ribitol, 200 Riboflavin, 200 Ribonucleic Acid s. RNA Ribonukleinsäure (RNA), 127 Basenabfolge, 128 Ribose, 38, 43, 52, 127 Ribosom, 129, 130 ribosomale RNA, 129 Ribulose-1,5-bisphosphat-Carboxylase/­ Oxygenase, 85 Richtung der Bindearme, 102 RNA-Polymerase, 127 RNA-Primase, 124, 125 RNA s. Ribonukleinsäure RNS s. Ribonukleinsäure Rohrzucker, 89, 100, 105 rRNA, 129 Rübenzucker, 91, 105 Rubisco, 85 Rückkopplung, 155

230 S Salicin, 107 Salicylalkohol, 107 Salicylsäure, 107 Sauerkraut, 47 Sauerstoff, 78 Säureamidgruppe, 22 Säureeigenschaft, 20 Schiller, F. von, 62 Schleimhaut, 145 Schlüssel- und Schlossprinzip, 139 Schopenhauer, A., 112, 221 Schwefelbakterium, 88 Schwefelbrücke, 25, 26 Schweineinsulin, 206 Science-Fiction, 220 Second messenger, 214 Seide, 13, 17 Seife, 177 Seifenblase, 177 Seifenmolekül, 173 Seitenkette, 20 Sekundärstruktur, 14 der Wolle, 24 Semichinolradikal, 65, 68 Sequenz, 120 der DNA, 117 Serin, 18 Signalübertragung, 203 Sinneseindruck s. Licht Skorbut, 192 Sonnenenergie, 87 Sonnenvitamin D, 201 Spinnwebfaden, 18 Spleißen, 128 Splicing, 128 Spurenelement, 159 Stärke, 92, 93, 97 biochemischer Abbau, 93 Verdauung, 105 Stärkekörner, 95 Startcodon, 131 Stearinsäure, 168 Stearyl Adenosinmonophosphat, 179 Coenzym A, 179 Sternenstaub, 219 Steroidhormon, 183 Stickstoffbase, 120 Stiel F1γ, 70 Stoffwechsel, 37, 44, 77, 155, 178 oxydativer, 60 Stoffwechselschlacke, 80

Sach- und Personenverzeichnis Stopcodon, 128, 131 Streptomycin, 108 Stroma, 81 Strukturformel, 5, 6, 17, 79 vereinfachte, 8 Substrat, 138 Succinat, 57 Dehydrogenase, 57, 68 Q-Reduktase, 68 Succinyl-Coenzym A, 56 Synthase, 57 Summenformel, 5, 6 Superhelix, 27 Symbiose, 74, 81 Synthase, 160 Synthetase, 161 T Teilladung, 7 Tertiärstruktur, 29 Tetraeder, 6 Tetrapeptid, 10 Thermodynamik, 39, 69 Thiamin, 200 Thiamindiphosphat, 50 als Cofaktor, 159 Thylakoid, 81 Thymin, 114, 121 Topoisomerase, 123 Transferase, 160 Transfer-Ribonukleinsäure, 130 Transfer-RNA, 130 Transkription, 126 Translation, 129 Traubensäure, 101 Traubenzucker, 37, 77, 88, 92, 164 Nachweis, 91 Strukturformel, 79 Treibhaus Erde, 87 Trimethylammoniumethanol, 186 Triosephosphat-Isomerase, 152 Tripalmitin, 172 tRNA, 130 Trypsin, 145, 148 U Ubichinol, 65, 68 Ubichinon, 65, 68 Umetaro, S., 199 Unordnung, 35 Unterzuckerung, 205

Sach- und Personenverzeichnis UQ, 65 UQH2, 65 Uracil, 127 Uratmosphäre, 87, 88, 221 Urey, H. C., 2 Urozean, 77, 221 Ursuppe, 2, 3, 8, 9, 11, 37, 178 V Valenzelektron, 44, 219 Vanillin, 108 Venter, J. C., 117 Verbindung, 5 Verbrennung, flammenlose, 36, 61 Verdauung, 36 Vermehrung, 123 autokatalytische, 143 Verseifung, 172, 179 Vitamin, 191 A, 196, 197 B1, 199–201 B2, 199–201 B3, 199–201 C, 192, 193 Mangel, 193 D, 202 D3, 202 W Wahrscheinlichkeit, 36 Wasserstoffbrücke, 24, 134 Wasserstoffbrückenbindung, 14, 20, 24, 118, 122 Wasserstoff-Ion, 9 Watson, J., 116 Weinsäure, 100 optisch aktive, 101

231 Wendel, 23, 97 Wendelmolekül, 220 Wilkins, M., 116 Wille zum Leben, 221 Wöhler, F., 32 Wolle, 13, 17, 23, 26 Schwefelbrücken, 25 Seitengruppen, 25 Sekundärstruktur, 24 X x-Chromosom, 113 Y y-Chromosom, 113 Z Zahn, H., 206 Zelle, 221 Zellkern, 112 Zellstoff, 92 Zellteilung, 112, 123 Zersetzung, biochemische, 17 Zitronensäure, 55 Zitronensäurezyklus, 50, 54, 60, 74, 156, 182, 211 Anlauf, 52 Zuckerkrankheit, 205 Zuckermolekül, glykosidisch gebundenes, 145 Zuckersäure, 92 Zustand, angeregter, 82 Zweiter Hauptsatz der Wärmelehre, 36, 69, 80, 155 Zwitter-Ion, 10 Zygote, 113 Zymogen, 145