Wesen und Geschichte der Weisheit. Eine Untersuchung zur altorientalischen und israelitischen Weisheitsliteratur

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Wesen und Geschichte der Weisheit. Eine Untersuchung zur altorientalischen und israelitischen Weisheitsliteratur

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einführung: Das Problem
1. Teil: Ägypten
2. Teil: Mesopotamien
3. Teil: Israel
Abkürzungen
Autoren und Literatur

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HANS HEINRICH SCHMID W E S E N U N D G E S C H I C H T E DER

WEISHEIT

HANS H E I N R I C H SCHMID

WESEN UND GESCHICHTE DER W E I S H E I T E I N E U N T E R S U C H U N G ZUR ALTORIENTALISCHEN U N D ISRAELITISCHEN WEISHEITSLITERATUR

1966

VERLAG ALFRED T Ö P E L M A N N

• BERLIN

BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR DIE ALTTESTAMENTLICHE

WISSENSCHAFT

H E R A U S G E G E B E N VON G E O R G F O H R E R

101

© 1966 by Alfred Töpelmann, Berlin 30, Genthiner Straße 13 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf photomedianisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und Drude: H. Heenemann KG, Berlin 31 Ardii v-Nr. 38 22 665

Meinen Eltern

Vorwort Die Frage nach der Weisheit liegt heute in der Luft: Man erkennt Beziehungen zwischen Prophetie und Weisheit, zwischen Recht und Weisheit, Jesus-Logien und Weisheit, Paulus-Texten und Weisheit u. ä. m. Doch selten wird ausgeführt, was dabei unter „Weisheit" zu verstehen ist. Eine grundsätzliche Beschreibung des Phänomens „Weisheit" fehlt seit J. F I C H T NER, Die altorientalische Weisheit in ihrer israelitisch-jüdischen Ausprägung, BZAW 62, Gießen 1933. Die vorliegende Arbeit möchte zur Schließung dieser Lücke beitragen, indem sie möglichst grundsätzlich nach dem Wesen weisheitlichen Denkens - und damit auch nach dessen Geschichte fragt. Sie hofft, so all jenen Untersuchungen, die auf Zusammenhänge zwischen Weisheit und anderen Denk- bzw. Sprachformen stoßen, Hinweise zum besseren Verständnis weisheitlicher Texte und Vorstellungen geben zu können. Die Arbeit wurde im Februar 1965 von der theologischen Fakultät der Universität Zürich als Dissertation angenommen. Ich darf der Fakultät hier meinen Dank dafür zum Ausdruck bringen, daß sie mir durch die Anstellung als Assistent die Möglichkeit gab, meine Promotion in Ruhe vorzubereiten. Meinem Lehrmeister und Freund Prof. W. B E R N E T verdanke ich die Einsicht in die theologische Relevanz der Weisheit und die Anregung, mich näher mit dem weisheitlichen Denken zu beschäftigen. Den Herren Professoren V. M A A G und H . W I L D B E R G E R danke ich für die große Anteilnahme an meiner Arbeit. Herr Prof. M A A G hat mir um den Preis größerer eigener Belastung in einem Maße Zeit für meine Arbeit eingeräumt, die das, was ein Dozent üblicherweise seinem Assistenten zugestehen kann, weit übersteigt. PD Dr. P. K A P L O N Y , Heidelberg-Zürich, danke ich für die Durchsicht des ägyptologischen, Prof. B . H A R T M A N N , Leiden, für diejenige des assyriologischen Teils. Meine Freunde, Dr. W. J. H O L L E N W E G E R , Pfr. F. N O E T Z L I und Pfr. W. BLUM, lasen das Manuskript und haben midi in ihrer Kritik nicht geschont. Ein besonderer Dank gilt darüber hinaus meinem verehrten Lehrer Prof. G . E B E L I N G ; der Einfluß seines Denkens wird dem Kenner zwischen den Zeilen auch da deutlich werden, wo auf ihn nicht ausdrücklich verwiesen ist. Herrn Prof. G . F O H R E R und dem Verlag danke ich schließlich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der BZAW und die Sorgfalt, die sie ihrer Drucklegung angedeihen ließen. Zürich, im August 1966

H . H . S.

Inhaltsverzeichnis EINFÜHRUNG: DAS PROBLEM

1

1. TEIL: ÄGYPTEN

8

I. Quellen

8

1. Lehren

9

a) Altes Reich b) Erste Zwischenzeit und Mittleres Reich c) Neues Reich und Spätzeit

9 11 12

2. Betrachtungen und Klagen

14

3. Biographische Inschriften

16

4. Onomastika

16

II. Die Grundstruktur ägyptischer Weisheit

17

1.Die kosmische Ausrichtung der Weisheit

17

a) b) c) d)

Maat Weisheit und Maat Weisheit und Mythos Gott

2. Herkunft und Ziel der Weisheit a) Tradition b) Erfahrung c) Hören und Verstehen 3. Die Zeitbezogenheit der Einzelforderung a) Die rechte Zeit b) Das rechte Maß

III. Die Geschichte der Weisheit im Rahmen der Geschichte Ägyptens 1. Der Kreis der Weisheitsträger A. Altes Reich B. Erste Zwischenzeit und Mittleres Reich C. Neues Reich und Spätzeit

17 20 22 24 27 27 29 31 33 33 34

36

36 36 40 42

X

Inhaltsverzeichnis

2. Die Themen der Weisheit

42

A. Altes Reich a) Die Lehren b) Die biographischen Inschriften

42 42 44

B. Erste Zwischenzeit und Mittleres Reich a) Maat b) Weisheit und Kult

46 47 50

C. Neues Reich und Spätzeit a) Die Lehren b) Die biographischen Inschriften

53 53 54

3. Die Verwirklichung der Weisheit A. Altes Reich a) Tat und Ergehen

b) Gott

56 56 56

59

B. Erste Zwischenzeit und Mittleres Reich a) Tat und Ergehen b) Maat c) Gott d) Totengericht e) Skepsis

60 60 61 61 64 66

C. Neues Reich und Spätzeit a) Gott b) Tat und Ergehen c) Das rechte Maß d) Das Ideal

68 68 69 71 71

IV. Die Krise der Weisheit

74

V. Zusammenfassung: Zu Wesen und Geschichte der Weisheit Ägyptens. Weisheit und Geschichte

79

2. TEIL: MESOPOTAMIEN

85

I.Quellen

85

1.Listen

88

2. Sprichwortsammlungen

89

3. Streitgespräche

90

4. Lehren

91

5. Weisheit in Omenform

93

6. „Hiob"-Dichtungen

93

Inhaltsverzeichnis

XI

II. Geschichte der Weisheit in sumerischer Zeit

94

1. Weisheit der Dinge

95

2. Weisheit der Werte

99

3. Weisheit der Vorgänge

101

4. Weisheit des Verhaltens A. Sprichwörter B. Lehren C. Andere Gattungen

104 104 108 109

5. Der Begriff „Me" als Parallelbegriff zu „Maat"?

115

III. D i e Weisheit der akkadischen Zeit

119

1. Das Problem der Übernahme sumerischer Weisheitsformen A. Die akkadischen Listen B. Die akkadischen Sprichwörter

119 119 120

2. Die spezifisch akkadischen Weisheitsformen A. Lehren B. Weisheit in Omenform C. Andere Gattungen

122 122 126 129

I V . D i e K r i s e der Weisheit

131

1. Der „sumerische Hiob"

133

2. ludlul

135

bei nemeqi

3. Die sogenannte babylonische Theodizee

137

4. AO 4462

139

5. Das Zwiegespräch zwischen einem Herrn und seinem Knecht

140

V . Zusammenfassung: Z u W e s e n und Geschichte der Mesopotamiens

Weisheit 141

3. T E I L : I S R A E L

144

I. D i e Theologisierung der Weisheit

144

1. Die ältere Weisheit Israels (Prov 10-29) a) Übersicht b) Tat und Ergehen c) Übrige Jahwe-Aussagen d) Folgerungen

145 145 146 147 148

2. Die Weisheit als Hypostase a) Texte b) Die Einheit der Wirklichkeit c) „Weisheit" und Jahwe

149 149 151 153

XII

Inhaltsverzeichnis

II. Die Anthropologisierung der Weisheit

155

1.Prov 10-15 a) Der Mensch im Zentrum b) Gerechter und Frevler c) Systematisierung der Weisheit? d) Tat (Haltung) und Ergehen

156 156 159 161 163

2. Die übrigen Abschnitte des Proverbienbuches Exkurs: Israelitische Weisheit und ugaritische Literatur

165 168

III. Ältere Elemente innerhalb der weisheitsgeschichtlichen Spätform der israelitischen Weisheit

169

IV. Die Krise der Weisheit

173

1. Die Hiobdichtung a) Hiob und die drei Freunde (Hi 3-31) b) Die Reden des Elihu (Hi 32-37) c) Die erste Gottesrede (Hi 38 f.) d) Die zweite Gottesrede (Hi 40 f.) e) Folgerungen

173 174 178 180 182 184

2. Das Buch Kohelet a) Die Frage Kohelets b) Die Welt Kohelets c) Die Lösung Kohelets d) Der Nachtrag Koh 12 13 f

186 186 188 192 195

V. Zusammenfassung: Zu Wesen und Geschichte der Weisheit Israels; Ausblicke

196

ANHANG: QUELLEN

202

ZUM 1. TEIL: ÄGYPTEN

202

I. Texte aus dem Alten Reich

202

1. Lehren Qu. 1 Die Lehre des Djedefhor Qu. 2 Die Lehre des Ptahhotep Qu. 3 Lehre für Kagemni

202 202 202 206

2. Inschriften Qu. 4-16

206 206

II. Texte aus der Ersten Zwischenzeit und dem Mittleren Reich • •

209

1. Sogenannte Betrachtungen und Klagen Qu. 17 Die Mahnworte des Ipuwer Qu. 18 Die Weissagungen des Neferti Qu. 19 Die Klagen des Cha-cheper-Re-seneb Qu. 20 Die Klagen des Bauern Qu. 21 Das Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba

209 209 211 212 212 213

Inhaltsverzeichnis

XIII

2. Lehren Qu. 22 Die Lehre für Merikare Qu. 23 Die Lehre des Amenemhet Qu. 24 Die Lehre des Cheti

214 214 216 216

III. Texte aus dem Neuen Reich und der Spätzeit

216

1. Lehren Qu. 25 Die Lehre des Anii Qu. 26 Die Lehre des Amenemope Qu. 27 Die Lehre des Papyrus Insinger

216 216 219 220

2. Inschriften Qu. 28-35

221 221

3. Verschiedenes Qu. 36 Die Lehre des Amennacht Qu. 37 Papyrus ehester Beatty

223 223 223

ZUM 2. TEIL: MESOPOTAMIEN

223

1. Listen Qu. 38-39 Sumerische Listen Qu. 40-41 Zweisprachig sumerisch-akkadische Listen

223 223 224

2. Sprichwörter Qu. 42 Sumerische Sprichwörter Qu. 43 Zweisprachig sumerisch-akkadische Sprichwörter

226 226 228

3. Streitgespräche Qu. 44 Emesch und Enten (Sommer und Winter) Qu. 45 Damuzi und Enkimdu (Hirt und Bauer) Qu. 46 Tamariske und Dattelpalme

229 229 230 230

4. Lehren Qu. 47-48 Die Lehre des Suruppak Qu. 49 Die "counsels of wisdom" Qu. 50 Die „Sprüche Achiqars"

231 231 232 233

5. Weisheit in Omenform Qu. 51 Der „Sittenkanon in Omenform" Qu. 52 Der „babylonische Fürstenspiegel"

234 234 235

6. „Hiob"-Dichtungen Qu. 53 Der „sumerische Hiob" Qu. 54 ludlul bei nemeqi Qu. 55 Die „babylonische Theodizee" Qu. 56 AO 4462

235 235 236 238 239

Abkürzungen

240

Autoren und Literatur

244

Einführung: Das Problem D i e Veröffentlichung der ägyptischen Weisheitslehre des A m e n e m o p e im Jahre 1923 1 hat nicht nur eine lange Reihe v o n Untersuchungen zur Verwandtschaft der Lehre mit dem biblisdien Proverbien-Budi, insbesondere P r o v 2217-2314, nach sich gezogen 2 , sondern v o r allem auch z u einer grundsätzlichen Besinnung über die „Weisheit" angeregt 3 . D a s in jenen Jahren konzipierte Bild der Weisheit ist bis in die jüngste Zeit k a u m modifiziert w o r d e n . Für die heutige Diskussion ist wichtig g e w o r den, daß m a n dabei die Weisheit einstimmig u n d unwidersprochen als in ihrer Grundstruktur „utilitaristisch u n d eudämonistisch" 4 , als „bloße Klugheitsmoral" 5 angesehen hat 6 . D a ß die überlieferten Weisheitssprüche 1

2

3

E. A. W. BUDGE, Facsimiles of Egyptian Hieratic Papyri in the British Museum, Second Series, London 1923, bes. Taf. I-XIV und S. 9-18, 41-51. Als wichtigste seien genannt: Die Besprechung der Veröffentlichung BUDGES durch A. ERMAN, in DLZ 45, 1924, Sp. 509 ff.; DS., Das Weisheitsbuch des Amen-em-ope, OLZ 27, 1924, Sp. 241-252; DS., Eine ägyptisdie Quelle der Sprüche Salomos, SAB 15, 1924, S. 86-93, Taf. VI-VIII; H. GRESSMANN, Die neugefundene Lehre des Amen-em-ope und die vorexilisdie Sprudhdiditung Israels, ZAW 42, 1924, S. 275296; Synopse bei P. HUMBERT, Recherches sur les sources égyptiennes de la littérature sapientale d'Israël, Neuchâtel 1929, S. 18 ff.; weitere Literatur bei W. BAUMGARTNER, Die israelitische Weisheitsliteratur, ThR NF 5, 1933, (S. 259-288) S. 259 f. H. GRESSMANN, Israels Spruchweisheit im Zusammenhang der Weltliteratur, Berlin 1925; P. HUMBERT, Recherches; DS., Art. Weisheit, RGG2 Bd. V, Sp. 1800-1803, und Art. Weisheitsdichtung, a. a. O., Sp. 1804-1809; W. O. E. OESTERLEY, The Book of

4 5 6

Proverbs, in: Westminster Commentaries, London 1929; L. DÜRR, Das Erziehungswesen im Alten Testament und im antiken Orient, MVAG Bd. 36, H. 2, Leipzig 1932; W. BAUMGARTNER, Weisheitsliteratur; DS., Israelitische und altorientalische Weisheit, SGV 166, Tübingen 1933; R. ANTHES, Lebensregeln und Lebensweisheit der alten Ägypter, AO 32,2, Leipzig 1933; J. FICHTNER, Die altorientalische Weisheit in ihrer israelitisch-jüdischen Ausprägung, BZAW 62, Gießen 1933; W. ZIMMERLI, Zur Struktur der alttestamentlichen Weisheit, ZAW 51, 1933, S. 177-204; O. RANKIN, Israels Wisdom Literature, Edinburgh 1936 (19542); B. GEMSER, Sprüche Salomos, HAT 1. Reihe, Abt. 16, Tübingen 1937 (19632). B. GEMSER, Sprüdie 1. A., S. 8. W. BAUMGARTNER, Israelitische und altorientalisdie Weisheit, S. 6. „Die gesamte altorientalisdie Weisheitslehre, besonders aber die ältere, ist ganz und gar von dem Gedanken an den bei dem Handeln herausspringenden Erfolg bestimmt" (J. FICHTNER, Altorientalisdie Weisheit, S. 60; ähnlidi S. 14, 24, 75 ff.). - „Inhalt und Geist dieser Weisheitslehren . . . ist mit einem Worte . . . praktische Lebensweisheit, Ertüchtigung zu einem moralischen, sittlichen Verhalten, im privaten

1 Schmid

2

Einführung: Das Problem

weitgehend religiös begründet sind, wurde nicht als Widerspruch dazu verstanden, sondern man setzte eine Entwicklung vom profanen zum religiösen Spruch voraus 7 . In besonderem Maße ließ sich die zunehmende religiöse Färbung an der israelitischen Weisheitsliteratur aufzeigen, wo die zunächst ganz im gemeinorientalischen Rahmen gehaltenen Aussagen über Gott allmählich verdrängt werden durch die speziell israelitischen Theologumena und Traditionen 8 . Wo es darum ging, Werturteile zu fällen, da stand der Vorrang der späteren, „religiösen" Weisheit vor der früheren, „profanen" eindeutig fest9. Dieses Bild der Weisheit wurde ergänzt durch die Feststellung, daß die Weisheit grundsätzlich geschichtslos und überzeitlich sei, indem sie in keiner Weise auf die geschichtlichen Gegebenheiten des jeweiligen Volkes Bezug nehme, sondern in ihrer „internationalen", allgemeinmenschlichen Art überall und immer Geltung beanspruche10. Leben wie in der Gemeinschaft" (L. DÜRR, Erziehungswesen, S. 22 f.; ähnlich S. 48 ff., 88 ff.). - „Weise ist, wer sein Leben so einrichtet, daß es zu einem guten Leben führt" (W. BAUMGARTNER, W e i s h e i t , S . 3 ) .

7

Ähnlich W. ZIMMERLI, Struktur, passim; P. HUMBERT, Art. Weisheit, Sp. 1800; DS., Art. Weisheitsdichtung, Sp. 1804, 1806 f.; W. O. E. OESTERLEY, Proverbs, S. lix; R . ANTHES, Lebensregeln, S. 13; u . a . m . „Bei näherem Zusehen trägt die Chokma ein Doppelgesicht. Auf der einen Seite ist sie profane Lebenserfahrung, die ihre Begründung in sich selbst trägt, in der Einsicht in die bekannten unausweichlichen Folgen allen Tuns . . . Auf der anderen Seite zeigt sie sich religiös fundiert." . . . „Dieser starke religiöse Grundton beherrscht nun den Großteil der Chokma und färbt schließlich auch auf diejenigen Sprüche ab, die für sich genommen rein profan klingen und es zunächst wohl auch sind" ( W . BAUMGARTNER, a . a . O . , S . 4 - 6 ) . Ä h n l i c h DS., W e i s h e i t s l i t e r a t u r , S . 2 8 3 ; L . D Ü R R ,

Erziehungswesen, S. 48; B. GEMSER, Sprüche 1. A., S. 8; u. a. m. 8 Einen breit angelegten Nachweis dieser Entwicklung bietet J . FICHTNER, Altorientalische Weisheit, s. z. B. S. 78 f.; 96 f.; 123 u. ä. Vgl. W. BAUMGARTNER, Weisheit, S. 27 ff.; u. a. m. » „Im ersten und jüngsten Buch von Proverbien (Kap. 1 - 9 ) geht jene religiöse Durdidringung tiefer als in den älteren Sammlungen, tiefer auch als irgendwo in der außerisraelitischen Weisheit. Hier sind Weisheit und Gottesfurcht völlig in eins verschmolzen und ist letztere ganz in den Mittelpunkt gerückt als Anfang und Ende aller Weisheit . . . Ihren Höhepunkt aber erreicht die israelitische Weisheit im Hiobbuch. Hier geht es nicht mehr um Anstandsregeln und Lebensklugheit. Hier ist es ein rein religiöses Problem, das gewaltige Ringen des Hiob mit seinem Gott und um seinen Gott" (W. BAUMGARTNER, Weisheit, S. 27, 29). „Das bezeichnendste Charakteristikum der älteren israelitischen Chokma . . . ist jedenfalls ihre Geschichtslosigkeit. Der Weise ist der Mensch, daß er Israelit ist, spielt keine Rolle. Die Weisheit ist vor der Welt geschaffen und erfreut sich während der Schöpfung an den Menschenkindern (Prov 8 31); wer durch rechtschaffenen Wandel nach ihr strebt, erhält sie, sie wird vom Vater auf den Sohn weiter überliefert (Prov

Einführung: Das Problem

3

Utilitaristisch, eudämonistisch, rational, ursprünglich profan, später religiös, geschichtslos, überzeitlich: das sind die Attribute, welche die Weisheit während der letzten dreißig Jahre zu tragen hatte. Es sind Untersuchungen zur ägyptischen Weisheitsliteratur gewesen, die dieses abgeschlossene Bild an einer zentralen Stelle erschüttert haben: Man erkannte, daß es gerade nicht utilitaristischer Eudämonismus ist, der den ägyptischen Weisen umtreibt, sondern die Frage nach der Maat (rrß'.t), der „Weltordnung", der „Richtigkeit", dem „Recht". Weisheit ist Unterordnung unter die Maat, Einfügung in die kosmische Ordnung 11 . Diese Erkenntnisse haben bereits die Grenzen der Ägyptologie überschritten. Die jüngsten Arbeiten zur biblischen Weisheitsliteratur versuchen, in der Weisheit Israels die gleichen Grundstrukturen und -kräfte nachzuweisen12. Damit ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit skizziert. Gerade dadurch, daß das Verständnis der altorientalischen Weisheitsliteratur in den letzten Jahren auf eine neue und sachgemäßere Grundlage gestellt worden ist, hat sich eine Reihe weiterer Fragen ergeben, die eine erneute Sichtung des Textmaterials rechtfertigen.

11

4 1.3 f.). Jeglidie nationale Farbe fehlt dieser Weisheitsfrömmigkeit" (J. FICHTNER, Altorientalische Weisheit, S. 125). Wenn man die Antwort des Weisen auf die Frage nach der Lebensbewältigung beschreiben wollte, „wäre der naive Optimismus und die Geschiditslosigkeit des Lebens als notwendige Ausstrahlung dieser rationalistischen Grundhaltung aufzuweisen" (W. ZIMMERLI, Struktur, S. 204). Als Entdecker dieser Zusammenhänge werden in der Regel A. DE BUCK, Het religieus karakter der oudste Egyptische wijsheid, NThT 21, 1932, S. 322 ff., und H. FRANKFORT, Ancient Egyptian Religion, New York 1948, angegeben. Hinweise, die in die gleiche Richtung weisen, finden sich aber sdion bei R. ANTHES, Lebensregeln, S. 15 f., und J . H. BREASTED, The Dawn of Conscience, New York - London 1934 (deutsch: Die Geburt des Gewissens, Zürich 1950), z. B. S. 145 der deutschen Ausgabe. Dieses neue Verständnis ist in der heutigen Ägyptologie allgemein anerkannt. In zufälliger Auswahl sei verwiesen auf: H. BRUNNER, Die Weisheitsliteratur, in H O 1/2, S. 93; J . SPIEGEL, Das Werden der altägyptischen Hochkultur, Heidelberg 1953, S. 455; E. OTTO, Ägypten. Der Weg des Pharaonenreiches, Urbanbücherei Bd. 4 Stuttgart 19583, S. 56; S. MORENZ, Ägyptische Religion. Die Religionen der Menschheit, hrsg. von C.M.SCHRÖDER, Bd. 8, Stuttgart 1960, S. 120 ff.; DS., Gott und Mensch im alten Ägypten, Heidelberg 1965, S. 118 ff.; W.WOLF, Kulturgeschichte des alten Ägypten, Kröners Taschenausgabe Bd. 321, Stuttgart 1962, S. 162 f.; H. GESE, Lehre und Wirklichkeit in der alten Weisheit, Tübingen 1958, S. 7 ff.

12 G. VON RAD, Die ältere Weisheit Israels, KuD 2, 1956, S. 54 ff. = DS., Theologie des Alten Testaments Bd. I, München 19582, S. 415 ff.; DS., Art. Sprüchebuch, RGG 3 , Bd. VI, Sp. 286 ff.; H. GESE, Lehre und Wirklichkeit, bes. S. 33 ff.; DS., Art. Weisheit, RGG 3 , Bd. VI, Sp. 1574-1577, und Art. Weisheitsdichtung, a. a. O., Sp. 1577-1581; B. GEMSER, The Spiritual Structure of Biblical Aphoristic Wisdom, Homiletica en Biblica, 21ste jrg., nr. 1, Den Haag 1962; DS., Sprüche Salomos, 2. A., 1963, bes. S. 1 0 ; H . RINGGREN, Sprüche, A T D 16, 1, G ö t t i n g e n 1 9 6 2 , bes. S . 1 0 ; U . SKLADNY,

Die ältesten Spruchsammlungen in Israel, Göttingen 1962, bes. S. 86 ff. l»

4

Einführung: Das Problem

In Rückgriff auf die Ergebnisse der Forschung wird zunächst der neuentdeckte kosmologische Horizont der Weisheit zu interpretieren sein. Welches Weltverständnis spricht sich darin aus, daß die Weisheit wesentlichen Anteil am Kosmos, d. h. an Welt und Wirklichkeit im großen zu haben beansprucht? Wie ist dieser Anteil strukturiert, wie erweist er sich im einzelnen als wirksam? Wie vollzieht sich in diesem Rahmen spezifisch weisheitliche Weltbewältigung - etwa in Abgrenzung zu magisch-mythischer? Vor allem aber soll das Verhältnis der Weisheit zu Zeit und Geschichte geklärt werden. Es wird deutlich werden, daß das Wesen der Weisheit erst dann richtig bestimmt werden kann, wenn das vielschichtige Verhältnis der Weisheit zur Geschichte erkannt wird; ja mehr: Es wird sich eine Geschichte der Weisheit darstellen lassen, die nicht zuletzt gerade als Geschichte des Verhältnisses der Weisheit zu Zeit und Geschichte zu beschreiben ist. Die bisherige Forschung hat sich den Blick dafür dadurch verbaut, daß sie einen sehr engen Begriff von Geschichte an die Weisheit herangetragen hat, der im weisheitlichen Denken tatsächlich nur wenig Entsprechung fand. „Geschichte" hieß für sie fast ausschließlich „Heilsgeschichte" im Sinne eines linearen, religiös-teleologisch verstandenen Zeitablaufs. Aus der Feststellung, daß die Weisheitsliteratur, besonders die ältere biblische, keine solchen heilsgeschichtlichen Strukturen und Inhalte aufweist, sowie aus der Beobachtung, daß eine ansehnliche Zahl weisheitlicher Maximen in ähnlicher Form gleichzeitig in den verschiedenen Kulturen des alten Orients belegbar ist, hat man daher sehr direkt auf eine grundsätzliche Zeit- und Geschichtslosigkeit weisheitlichen Denkens geschlossen. Was damals Ergebnis eines Schlußverfahrens war, steht heute als Axiom hinter fast jeder Beschäftigung mit der Weisheitsliteratur 13 . Gelegentlich wird es formuliert 14 , meist aber ist es nur unausgesprochen wirksam, so etwa in der erwähnten direkten Übernahme von Erkenntnissen zur ägyptischen Weisheitsliteratur in den biblischen Bereich. 13

u

Vgl. zu dieser Verschiebung die Formulierung FICHTNERS (o. Anm. 10) mit der Äußerung GESES (Art. Weisheit, Sp. 1576): „Ihre (der internationalen Weisheit) Geschichtslosigkeit ließ keine Berührung mit den theologischen Konzeptionen in Israel aufkommen." Bei FICHTNER diente der Begriff „Geschichtslosigkeit" als Interpretation, hier als Begründung der Tatsache, daß die israelitische Weisheit mit den offiziellen Theologumena Israels kaum in Verbindung steht! - In der Interpretation, die der Weisheit durch G. VON RAD (Theologie I, S. 415 ff.) zuteil geworden ist, ist das Axiom implizit gesprengt. H. GESE, Art. Weisheit, Sp. 1576 (s. o. Anm. 13); nach W. ZIMMERLI, Erkenntnis Gottes nach dem Buche Ezechiel, AThANT 27, Zürich 1954, S. 56 ( = DS., Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze, ThB 19, München 1963, S. 98), geht es bei der Weisheits-i&'äf um das „Erkennen und Lernen zeitlos wahrer Sätze eines Lehrgebäudes".

Einführung: Das Problem

5

"Wenn die vorliegende Arbeit zur Bestimmung des Wesens von „Weisheit" darnach fragt, wie sich das Phänomen der Geschichte im weisheitlichen Denken spiegelt bzw. ausspricht, so geht sie dabei absichtlich nicht von einem irgendwie festgelegten Geschichtsbegriff aus. Im Gegenteil: Sie möchte die Weisheit auf Beziehungen zu möglichst vielen und verschiedenen Aspekten von Geschichte und Geschichtlichkeit abhören und damit die Möglichkeit offenlassen, daß sich nicht nur für die Frage nach der Weisheit, sondern auch für die nach dem Begriff der Geschichte Klärungen ergeben könnten. So wird sich z. B. erweisen - um dies vorwegzunehmen - , daß sidi die Weisheit unter der in der religionsgeschichtlichen und alttestamentlichen Wissenschaft gängigen Antithese von geschichtlichem, d. h. linearem und mythischem, d. h. zyklischem Zeitverständnis nicht fassen läßt, indem sie die Zeit grundsätzlidi weder linear noch zyklisch versteht.

Die folgenden Beobachtungen und Fragen stecken die Richtung der Untersuchung ab: Die Behauptung der Zeit- und Geschichtslosigkeit der Weisheit wurde in der Regel für die sog. ältere Weisheit Israels erhoben - und von da aus verallgemeinert der eine jüngere gegenübersteht, in der die Dinge offensichtlich anders liegen. So sprach schon die Literatur der dreißiger Jahre von einer „Entwicklung" der Weisheit15, deren spätere Stufen bekanntlich die heilsgeschichtlichen Elemente Israels durchaus verarbeiten. Diese Ansätze zu einer Geschichte der Weisheit gilt es aufzunehmen. Sie regen zu weiteren Fragen an: Trifft es tatsächlich zu, daß die Weisheit auf die Geschichte ihres Volkes keine Rücksicht nimmt? Scheinen nicht die eben angedeuteten Verschiebungen anderes anzukünden? Es wird auf die starken Einflüsse etwa der politischen Geschichte auf die Weisheit Ägyptens oder die engen Verknüpfungen ägyptischer, mesopotamischer und israelitischer Weisheit mit den jeweiligen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und Gegebenheiten hinzuweisen sein. Es sind sehr wohl inhaltliche Wandlungen festzustellen, sowohl innerhalb ägyptischer, mesopotamischer und israelitischer Weisheit je für sich, wie auch im Vergleich dieser verschiedenen Weisheitsliteraturen untereinander. Die Weisheit denkt und formuliert nicht an ihrer jeweiligen Umwelt vorbei. Doch in welcher Art wird diese Umwelt relevant? Was ergibt sich daraus für die Frage nach dem weisheitlichen Wirklichkeitsverständnis, was für eine Beschreibung des Wesens der Weisheit? Was heißt dies is Von einer sachlichen Entwicklung spricht die Einsicht in die zunehmende religiöse Umgestaltung der Weisheit. Vgl. W. BAUMGARTNER, Weisheit, S. 1 f. u. ö., vgl. o. Anm. 8 und 9. Auf die (Form-)Geschichte der Weisheitsliteratur verweist W. BAUMGARTNER, Israelitische und altorientalische Weisheit, S. 7 f.; DS., Weisheitsliteratur, S. 277. Vgl. O. EISSFELDT, Einleitung in das Alte Testament, 1. A., Tübingen 1934, S. 8 8 f f .

6

Einführung: Das Problem

für die Frage nach der Geschichtsbezogenheit der Weisheit, für die Frage nach der Geschichte der Weisheit? Ist es wirklich erlaubt, mit ausdrücklicher oder implizierter Berufung auf die Geschichtslosigkeit der Weisheit Formulierungen und Erkenntnisse, die für einen Zweig der altorientalischen Weisheitsliteratur zutreffen, ohne weiteres auch auf andere zu übertragen? Schon an einzelnen, vorerst vielleicht nebensächlichen Beobachtungen könnte deutlich werden, daß gerade hier differenzierter gedacht werden müßte: E s f ä l l t z . B . a u f , d a ß s o w o h l GEMSER w i e R I N G G R E N i n i h r e n K o m m e n t a r e n

zu

Prov zwar in den Einleitungen in positivem Sinne auf das Ordnungsdenken der Weisheit zu reden kommen, es aber in der eigentlichen Auslegung nur ausnahmsweise zum Zuge bringen. Analog dazu weiß SKLADNY16 in den ersten elf Kapiteln seiner Arbeit kein Wort zu dieser Ordnung zu sagen, bezeichnet sie aber im zusammenfassenden zwölften Kapitel in Sperrdruck als „Kernfrage der Weisheit" - mit Verweis nicht etwa auf b i b l i s c h e T e x t e , s o n d e r n a u f d i e A r b e i t e n DE B U C K S , F R A N K F O R T S u n d G E S E S 1 7 .

dies dadurch bedingt sein, daß sich die kosmische Ausrichtung biblischen Texten gar nicht so deutlich nachweisen läßt wie in allenfalls zwischen ägyptischer und israelitischer Weisheit eine zustellen wäre, die einer vorschnellen Übertragung von widerrät?

Könnte

der Weisheit in den den ägyptischen, daß Verschiedenheit festForschungsergebnissen

Oder was heißt es, daß weder bei GESE™ noch bei VON R A D " die für die israelitische Weisheit typische, in der übrigen altorientalischen Weisheit aber fehlende Antithetik von Gerechtem und Gottlosem gewürdigt wird; daß bei VON RAD20 kein einziger dieser antithetischen Sprüche auch nur zitiert wird? Ist vielleicht diese Antithetik ein Spezifikum biblischer Weisheit, das sich mit den an ägyptischer Weisheit gebildeten Kategorien nicht fassen läßt?

Was heißt das alles für die Frage nach dem Geschichtsverständnis der Weisheit? Realisiert die Weisheit, daß ihre Umwelt eine Geschichte hat bzw. Geschichte ist? Weiß sie um eine Vergangenheit, eine Zukunft? Weiß sie, daß die Sprüche der Väter zunächst vergangen sind, der Geschichte angehören? Welches sind ihre hermeneutischen Methoden, sich diese vergangenen Worte gleichzeitig zu machen? Weiß die Weisheit etwas von der Geschichtlichkeit der Wahrheit? Welches sind ihre Kriterien, solche Geschichte zu übernehmen? Was hat schließlich die Geschichtsbezogenheit der Weisheit zur Frage nach dem Geschichtsbewußtsein zu sagen, das ja in der Regel dem außerisraelitischen alten Orient abgesprochen wird? Hält sich unter allen inhaltlichen Verschiebungen die eine weisheitliche Denkstruktur unverändert durch? Es wird deutlich werden, daß auch in dieser Hinsicht nicht von einer „Geschichtslosigkeit" der Weisheit 16

U . SKLADNY, D i e ä l t e s t e n

v 18 is 20

S. o. Anm. 11. Lehre und Wirklichkeit, Theologie I, S. 415 ff. Ebda.

Spruchsammlungen.

Einführung: Das Problem

7

gesprochen werden kann. Die Geschichte der Weisheit ist gleichzeitig eine Geschichte der Strukturwandlung weisheitlichen Denkens. Jeder der drei Weisheitskreise, Ägypten, Mesopotamien und Israel, hat auf seine Art an ihr teil; bemerkenswert ist, daß der übernationale Vergleich analoge Wandlungselemente aufweisen kann. Es wird, wie bereits notiert, zu zeigen sein, wie sich die Veränderungen der Struktur weisheitlichen Denkens im wesentlichen als Veränderungen gerade des Zeit- und Gesdiichtsverständnisses darbieten. Ist die Weisheit als „zeitlos" zu bezeichnen? Sind ihre Sätze Elemente eines immerwährend gültigen Lehrgebäudes? Die angedeuteten Veränderungen sprechen eine andere Sprache. Diese scheinen vielmehr von einer wesentlichen Relevanz der Zeit zu reden. Und selbst jene anerkanntermaßen auch vorhandenen Inhalte und Strukturmomente, die verschiedene Zeiten und geschichtliche Epochen überdauern, erlauben es nicht, ohne weiteres von der „Zeitlosigkeit" der Weisheit zu reden. Es wird deutlich werden, daß der Verwendung der überdauernden Elemente ein bestimmtes Zeitverständnis zugrunde liegt, das nicht als „Zeitlosigkeit" bezeichnet werden kann. So möchte die vorliegende Arbeit die Ergebnisse der neueren Forschung zu einer grundsätzlichen Beschreibung des Phänomens „Weisheit" ausweiten. Sie versucht, die wesentlichen Strukturen weisheitlichen Denkens — besonders hinsichtlich der Beziehungen der Weisheit zu Zeit und Geschichte - aufzudecken und von daher das in der Weisheit zum Ausdruck kommende Welt- und Wirklichkeitsverständnis nachzuzeichnen. Eine Vorbemerkung zur Auswahl der Texte: Es ist gelegentlich schon betont worden, daß „Weisheit" nidit nur ein literarischer, auch nicht nur ein - biblisch-exegetisch gesprochen - traditionsgeschichtlicher Begriff ist, sondern ebensosehr eine „bestimmte Geistesströmung" 21 , eine „geistige Bewegung" 22 , eine „Sprachform" 23 . Die Tragweite dieser Doppelbedeutung 2 4 ist bislang unterschätzt worden. Wer „Weisheit" sagte, meinte meistens „Weisheitsliteratur" oder „Weisheitstradition". Man wird hier genauer unterscheiden müssen. Es wird nach weisheitlichem Denken und weisheitlicher Sprache auch in literar- und traditionsgesdiichtlich anderen Zusammenhängen, für das Alte Testament insbesondere in Gesetzen und Prophetenworten, zu fragen sein. Doch das ist erst in zweiter Linie möglich. Vorerst ist das Bild der Weisheit nochmals grundsätzlich zu zeichnen. Dabei ist es gegeben, von der eigentlichen Weisheitsliteratur auszugehen und sich auf sie zu beschränken, im Wissen um den Zirkel, der sich notwendigerweise daraus ergibt: Was zur Weisheitsliteratur gehört, welche literarischen Werke ihr zuzurechnen sind, wird sich seinerseits erst ergeben müssen. » W. BAUMGARTNER, Weisheitsliteratur, S. 282. 22 H . GESE, Lehre, S. 1. 23 So der Sache nach G. VON RAD, Theologie I, S. 416. 24 Sie ist wohl nicht so additiv zu verstehen, wie es bei P . HUMBERT (RGG 2 Bd. V., Sp. 1804) den Anschein erweckt, wenn er sagt: „Die Weisheit bestand aus einer Geistesströmung und einer literarischen Gattung . . . "

1. Teil: Ägypten I. QUELLEN

Obwohl Ägypten immer wieder als das Land der Weisheit gepriesen wird, hat es, wer nach einer zutreffenden Beschreibung des Phänomens „Weisheit" sucht, in der ägyptischen Literatur nicht leicht. Schon das Wörterbuch sagt ihm, daß es einen dem hebräischen kakmä in Bedeutung und zentraler Wichtigkeit auch nur einigermaßen entsprechenden Begriff im Ägyptischen nicht gibt. Dennoch hat die Ägyptologie - von der alttestamentlichen Wissenschaft her - den Begriff „Weisheitsliteratur" übernommen, und er hat sich hier allgemein eingebürgert1. Allerdings sind sich die Ägyptologen nicht einig, was alles unter diesen Begriff zu subsumieren sei. Sind es nur die eigentlichen „Weisheitslehren"2 oder auch die sog. Betrachtungen und Klagen 3 , die Onomastika und Fabeln 4 und alles, was damit verwandt ist aus Schulschriften, Grabinschriften, Biographien oder Totenbuchtexten 5 ? Die Divergenz resultiert daraus, daß, wie in der Einführung bereits angetönt 6 , das Wesen der „Weisheit" nur bedingt literargeschichtlich erfaßbar ist. So sehr es eine typische Weisheitsliteratur gibt, d. h. so sehr „Weisheit" - alttestamentlich-exegetisch gesprochen - auch ein form- und gattungsgeschichtlicher Begriff ist (Weisheitslehre, Weisheitsspruch, Sprichwort, Fabel, Rätsel usf.), so wenig geht weisheitliches Denken darin auf. Weisheit kann sich auch in jeder anderen Gattung aussprechen. Und doch können wir der „Weisheit" nicht anders näherkommen als über die eigentliche Weisheitsliteratur. Es ist dabei angezeigt, den Ausgangspunkt da zu nehmen, wo alle Ägyptologen - trotz Unsicherheiten im einzelnen - in erster Linie von „Weisheit" sprechen, bei den Lehren; denn ohne Zweifel entsprechen sie in ihren Denk- und Sprach1

Daß diese Herkunft des Begriffes gelegentlich nodi bewußt ist, zeigen R.

ANTHES,

Lebensregeln, S. 8 f., und H . BRUNNER, H O 1/2, S. 90 Anm. 1; H . FRANKFORT, Reli-

gion, setzt „wisdom" durchgehend in Anführungsstriche. 2

H . BRUNNER, H O 1/2, S. 9 0 ff.; R. ANTHES, Lebensregeln; A . ERMAN, D i e Literatur

der Ägypter, Leipzig 1923, S. 86 ff. 3

J. FICHTNER, Weisheit, S. 5.

4 C. KÜHL, Art. Weisheitsliteratur, EKL Bd. III, (Sp. 1751-1754) Sp. 1752; G. FOHRER, Art. aller Sprüdie Jahwe- oder Königssprüche, in 28 f. 24,3°/» und in 161-2216 27,5 %>. 11 Nach U. SKLADNY, a. a. O., 12°/o aller Sprüdie. 12 Vgl. u. S. 159 ff., und U. SKLADNY, a. a. O., S. 21 f.; bezeichnenderweise finden sich im „weltlichen" Absdinitt Kap. 25-27 nur 4 von den Stämmen sdq oder rsc abgeleitete Begriffe gegenüber 94 in Kap. 10-15. U. SKLADNY, a. a. O., S. 7, Anm. 2. " S. dazu u. S. 163 f. " Vgl. BHK. « Vgl. BHK. 16 Zur Interpretation des Verbums vgl. K. KOCH, Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?, ZThK 52, 1955, (S. 1-42) S. 41 f. 17 Zu Ubersetzung und Interpretation s. K. KOCH, a. a. O., S. 8 f.

I. Die Theologisierung der Weisheit

147

c) Übrige Jahwe-Aussagen Die übrigen Jahwe-Aussagen lassen sich auf die folgenden vier Gruppen aufteilen: a) Es geschieht, was Jahwe will, nicht was die Menschen planen 18 ; ja mehr: b) Alles Geschehen und alle Dinge kommen von Jahwe, das menschliche Tun hat darauf keinen Einfluß19, Gott schenkt20; c) Was dem Menschen gut zu sein scheint, braucht es für Jahwe nicht zu sein21. d) Gottes Tun ist dem Menschen oft uneinsichtig22. H . GESE23 hat alle diese Stellen als typisch israelitische Bildungen verstehen wollen. Doch keine dieser Aussagen geht über das hinaus, was auch die mesopotamische oder ägyptische Weisheit von ihrem Gott sagen kann. Zu a): vgl. die ägyptische Fassung des Sprichwortes: „Der Mensch denkt, Gott lenkt" 2 4 , auch: „Noch niemals hat die Gewalttätigkeit des Menschen etwas zustande gebracht, sondern was Gott befiehlt, geschieht" (Qu. 2 c). „Eins ist ihr (der Menschen) Plan, etwas ganz anderes ist der des Herrn des Lebens (Gottes)" (Qu. 25 h). Zu b): „Der Mensch ist Lehm und Stroh (d. h. nichts anderes als lebloses Material), und der Gott ist sein Baumeister. Er zerstört täglich und erbaut täglich, er macht tausend Geringe nach seinem Belieben, und er macht tausend Leute zu Aufsehern" (Qu. 261)2®. Auch der Gott der ägyptischen Weisheit schenkt, vgl. Qu. 2 f. m; 25 d. Zu c): „Was ihm (dem Menschen) selbst gut erscheint, für Gott ist es schlecht. Was in seinem Herzen schlimm ist, für Gott ist es gut" (Qu. 54 d). Zu d): „Der Wille eines Gottes kann nicht verstanden werden, der Weg eines Gottes kann nicht erkannt werden, Jedes über Gott (ist schwierig) herauszubringen" (Qu. 43 g). Vgl. Qu. 22 k; 54 d; 55 g.

" Prov 161. 9 19 21 20 24 a. Prov 10 22 1 6 33 2 0 24 a 211. 30 f. 20 p r ov 18 22 19 14. Prov 16 2 21 2. 22 Prov 20 24 b. 23 Lehre und Wirklichkeit, S. 45 ff. 2« K. SETHE, „Der Mensch denkt, Gott lenkt", bei den alten Ägyptern, NGG 1925, S. 141-147; A. VOLTEN, Der Begriff der Maat, S. 76. 25 Weitere Belege bei H. BRUNNER, Der freie Wille Gottes in der ägyptischen Weisheit, SPOA, S. 103-117. Sind diese Aussagen vom freien Willen Gottes aber wirklich nidit-weisheitlichen, sondern eigentlich „religiösen" Ursprungs (so H. BRUNNER, a. a. O., S. 116 f.)? 10»

148

3. Teil: Israel

Die ältere israelitische Weisheit bewegt sich in ihrer Theologisierung ganz innerhalb gemeinorientalischer Vorstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Ein israelitisches Sondergut läßt sich hierin nicht feststellen. Daß zudem GESES Verständnis jener Stellen als (typisch israelitische) Durchbrechung der Tat-Ergehen-Ordnung 26 kaum haltbar ist, hat mit Recht U. SKLADNY27 betont: Jahwe handelt in allen vier Fällen, bevor der Tat-Ergehen-Zusammenhang überhaupt in Kraft treten kann. Er wirkt die Tat (was von GESE selbst herausgestrichen wird 28 ), der dann das entsprechende Ergehen erst folgt. Wenn man dabei von der „frei waltenden Gnade Gottes" 29 reden will, dann gilt dies nicht nur für Jahwe, sondern auch für den Gott der ägyptischen und den der mesopotamischen Weisheit. Soll man mit B. GEMSER30 und J. FICHTNER31 den Monotheismus als Sondergut der israelitischen Weisheit bezeichnen? Demgegenüber ist an die ausgeprägten monotheistischen Tendenzen auch in der ägyptischen und mesopotamischen Weisheitsliteratur zu erinnern. Daß das monotheistische Element in Israel besonders deutlich wird, ist zu erwarten, kann aber nicht als israelitisches Sondergut bezeichnet werden. Zudem melden sich in der jüngeren, theologisch noch viel stärker durchreflektierten Weisheit in der Ausbildung der Hypostasen-Vorstellung sogar eher polytheisierende Versuche an32. d) Folgerungen Es bleibt dabei: Die ältere Weisheit Israels geht in ihrer theologischen Explikation nicht über ihre altorientalischen Parallelen hinaus. Mit der spezifisch israelitischen, d. h. der durch den Jahwismus geprägten Anschauungswelt ist die Weisheit von Prov 10-29 kaum in Beziehung gesetzt worden - so wenig ägyptische und mesopotamische Weisheitsliteratur in enger Beziehung zur offiziellen Religion steht. So kann man mit Recht sagen, die Weisheit sei „ e t w a s . . . Interreligiöses"33. Aber ist

2« H . GESE, Lehre und Wirklichkeit, S. 50; DS., Art. Weisheitsdichtung, R G G 3 Bd. VI, Sp. 1580; ähnlich für Ägypten, H. BRUNNER, a. a. O., S. 111. 2 7 Spruchsammlungen S. 27, 75. 28 Lehre und Wirklichkeit, S. 47 f. Der von GESE dabei verwendete Begriff „Determination" ist mit B. GEMSER, Sprüche Salomos, S. 8 Anm. 2, als wenig glücklich zu bezeichnen. 2 9 H. GESE, a . a . O . , S. 50; vgl. auch G. VON RAD, Theologie I, S. 436. Gegen diesen Begriff wendet sich U. SKLADNY, Spruchsammlungen, S. 75. 3 0 Sprüche Salomos, S. 7 f. 3 1 Altorientalische Weisheit, S. 122; DS., Glaube und Geschichte, Sp. 145. 32 S. dazu u. S. 154 f. 3 3 G. VON RAD, Theologie I, S. 427; G. FOHRER, Tradition und Interpretation im Alten Testament, ZAW 73, 1961, (S. 1 - 3 0 ) S. 20.

I. Die Theologisierung der Weisheit

149

dieser Tatbestand so negativ oder doch so reserviert zu beurteilen, wie dies meist geschieht? Wäre es nicht möglich, daß sich auch in der Weisheit „Offenbarung" ereignete, zwar ohne Visionen, Auditionen und ohne Kultapparat, aber deshalb nicht weniger wahr? Und vor allem: Übt nicht die Weisheitsliteratur auch in Israel - gerade in ihrer interreligiösen, allgemein menschlichen Art - eine legitime Inventar-Funktion 3 4 aus? Liegt nicht ihre Aufgabe in der Bereitstellung des weisheitlidi Erfahrenen und Formulierten, das vom Glauben an den gesdiichtswirkenden Jahwe erst verarbeitet und immer wieder neu verwertet werden soll? Die alttestamentliche Forschung hat sich eingehend um das Problem der Nationalisierung und „Israelitisierung" der Weisheit gemüht. W ä r e es nicht an der Zeit, auch einmal die andere Frage zu stellen: Wie wird das Weisheits-Inventar in den Schriften der eigentlichen Jahwe-Religion aufgenommen und verwendet? Der Überblick über die altorientalische Weisheit hat ergeben, daß sidti eine Beschreibung der Weisheit nicht mit dem Aufzählen ihrer Inhalte begnügen kann, sondern daß die Frage nach der Weisheit die Frage nach ihrer Verwendung einschließen muß. So dürfte eine Untersuchung der eigentlich israelitischen Weisheit nidit an der Aufhellung ihrer Verwendung im Rahmen der israelitischen Religion vorbeigehen. Leider gibt uns das Proverbienbuch kaum einen Hinweis zur Verwendung seiner Worte, die Hiobdichtung und Kohelet nur indirekt. Die Frage nach der Anwendung weisheitlichen Denkens und weisheitlicher Erkenntnisse z. B. in den Prophetenbüchern, aber auch in den Geschichtswerken (Jahwist, Deuteronomium, ja selbst Priesterschrift) wird dringend gestellt werden müssen341.

2. Die Weisheit als

Hypostase

a) Texte Die jüngere Weisheitsliteratur hat die „Weisheit" - unmittelbar im Zuge weiterer theologischer Verarbeitung - nicht nur dichterisch personifiziert (Prov 1 20-33 81 ff-), sondern gelegentlich zu einer selbständigen Hypostase gemacht 35 (Prov 8 22 ff. Jes Sir 4 11-19 243-22 Sap Sal 6 - 9 äth Hen 4 2 1 f. 91 10 slav Hen 30 s 33 4 [Rez. A ] Bar 3 »-4 4); andere

34

Zum Begriff „Inventar" vgl. o. S. 97.

34a S. dazu u. S. 199 ff. 35

Idi verwende hier den Begriff der Hypotase unter der im Anschluß an S. MOWINCKEL ( R G G 3 Bd. II, Sp. 2065) formulierten Definition H . RINGGRENS ( R G G 3 Bd. III, Sp. 5 0 4 ) : „Er bezeichnet eine oft nur halb selbständige göttliche Wesenheit, die eine mehr oder weniger durchgeführte Personifizierung einer Eigenschaft, einer Wirksamkeit oder irgend eines Attributs einer höheren Gottheit darstellt."

150

3. Teil: Israel

Stellen zeigen die Weisheit auf dem Weg zwischen Personifikation und Hypostase (Hi 28 Prov 9 iff. Jes Sir 1 i-io)36. Die „Weisheit" ist die Naturordnung der Schöpfung. Sie konkretisiert sich im Gewicht des Windes, im Maß des Wassers, im Gesetz des Regens, im Weg der Gewitterwolke (Hi 28 23-27)37„ Sie wurde nach Prov 8 22 ff. von Jahwe als erster Erweis seiner Macht38 erschaffen39, als erstes seiner Werke, bevor es Wasser, Berge, Hügel, Land und Erde gab (s. neben Prov 8 22 ff. auch Jes Sir 1 2—4). Sie war als Liebling Gottes 40 bei der Erschaffung von Himmel und Meer dabei. Sie ist ein „Hauch der Kraft Gottes", ein „lauterer Ausfluß der Herrlichkeit des Allmächtigen", ein „Abglanz des ewigen Lichtes", ein „Abbild seiner Güte" (Sap Sal 7 25 f.). Sie ist „Werkmeisterin aller Dinge" (Sap Sal 7 22), ihr befahl Gott, den Menschen zu machen (slav Hen 30 s).

36

Vgl. zum folgenden W. SCHENCKE, Die Chokma (Sophia) in der jüdischen Hypostasenspekulation. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Ideen im Zeitalter des Hellenismus, Videnskapsselskapets Skrifter II. Hist.-Filos. Kl. 1912, 6, Kristiania 1913; J. GÖTTSBERGER, Die göttliche Weisheit als Persönlichkeit im Alten Testament, Münster 1919; P. HEINISCH, Personifikationen und Hypostasen im Alten Testament und im alten Orient, Münster 1921; DS., Die persönliche Weisheit des Alten Testaments in religionsgeschichtlicher Bedeutung, Münster 1923; W. BOUSSET-H. GRESSMANN, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter, Tübingen 19263, S. 342-357, 452—454; P. VAN IMSCHOOT, La Sagesse dans l'Ancien Testament - estelle une hypostase, Collationes Gandavenses 21, 1934, S. 3-10, 85-94; H . RINGGREN, Word and Wisdom, bes. S. 89-149; R.MARCUS, On Biblical Hypostases of Wisdom, H U C A 23, 1, 1950/51, S. 157-171; P. A. H . DE BOER, The Counsellor, VTS III, Leiden I960 2 , S. 43-71; vgl. aber auch die Kommentare zu den Stellen sowie die alttestamentlichen Theologien, insbesondere W. EICHRODT, Theologie des Alten Testaments, Bd. II/III, Göttingen 1961*, S. 50-56, G. VON RAD, Theologie I, S. 4 3 9 - 4 5 1 .

G . F O H R E R - U . WILCKENS, A r t .

oocpia, T h W B

Bd. VII,

S . 4 6 5 ff. b e s .

S. 4 9 0 flf., 4 9 8 ff. 37 38

39

40

Zum nicht ganz einfachen Text vgl. die Kommentare. Zur Übersetzung von drk nadi ugar. drkt „Herrschergewalt" s. W. F. ALBRIGHT, Some Canaanite-Phoenician Sources of Hebrew Wisdom, VTS III, Leiden I960 2 , (S.7-15) S.7 und J.B.BAUER, Encore une fois ProverbesVIII22, VT8, 1958, S.91 f. Die Übersetzung von qnh mit „erschaffen" ist heute allgemein anerkannt. L. KÖHLER, Kleinigkeiten, 3., ZAW 52, 1934, S. 160; P. HUMBERT, Qänä en hebreu biblique, Festschrift A. BERTHOLET, 1950, S. 259-266 = DS., Opuscules d'un Hébraïsant, Mémoires de l'Université de Neuchâtel, tome 26, Neuchâtel 1958, S. 166-174; für ugaritisdie Parallelen vgl. W. F. ALBRIGHT, a. a. O., S 7. Anders noch W. SCHENCKE, Die Chokma, S. 18 ff. Die Übersetzung von iamôn ist umstritten. Zur Übersicht s. R. B. Y. SCOTT, The Wisdom in Creation: The Bâmôn of Proverbs VIII 30, VT 10, 1960, S. 213-223; W. ViscHER, Der Hymnus der Weisheit in den Sprüchen Salomos 8 22-31, EvTh 22, 1 9 6 2 , (S. 3 0 9 - 3 2 6 ) S. 3 1 2 f . Z u d e n f ü n f , v o n SCOTT u n d VISCHER r e f e r i e r t e n V e r -

ständnismöglichkeiten kommt noch die sechste von P. A. H . DE BOER, The Counsellor,

I. Die Theologisierung der Weisheit

151

Nur ein kleiner Schritt ist es von hier zu jenen Stellen, an welchen die Weisheit als Offenbarungsmittlerin auftritt. Auf Gassen und Plätzen ruft sie den Menschen an (Prov 1 20 ff. 8 iff.), als Gegenspielerin der „Torheit", die als Aphrodite-Astarte zur heiligen Hochzeit verführen will 41 . Der apokalyptische Pessimismus des äth Henodi weiß zu berichten, daß die Weisheit unter den Menschen keinen Wohnsitz gefunden habe, darum zurückgekehrt sei und ihren Sitz unter den Engeln genommen habe (421-10). Von dort wird sie in der messianischen Zeit auf die Gerechten ausgegossen werden (48 1.7 49 1 ff. 91 10). Anders der Hymnus Jes Sir 24 3-22: Die Weisheit, die aus dem Munde des Höchsten hervorgegangen war, die ihren Wohnsitz in der Höhe hatte, bekam die Weisung, in Israel, in Jerusalem sich niederzulassen. D a breitete sie sich aus, da ist sie zu erlangen. Die Fortsetzung zeigt, was damit gemeint ist: „All dies gilt vom Bundesbuch des höchsten Gottes, vom Gesetz, das Mose uns anbefahl als Erbbesitz für die Gemeinde Jakobs" (Jes Sir 24 23).

Die Identifikation von Weisheit und Gesetz, die sich sdion in einzelnen kanonischen Psalmen anbahnte (Ps 1 19 s 3730 111 119 97 ff.), ist hier, bei Jesus Sirach, konsequent durchgeführt (1 5.26 a 6 37 15 ib 33 2a)42 und wird später zur Selbstverständlichkeit 43 . b) Die Einheit der Wirklichkeit Die Absicht dieser Texte ist deutlich: Was die Exegeten in der älteren Weisheitsliteratur vermissen, ist hier zu finden: Weisheit und Jahweglaube sind verbunden. Die Weisheit wird in die Heilsgeschichte eingegliedert und damit in ihrer theologischen Relevanz anerkannt. Beachtenswert ist die bevorzugte Stellung, die sie dabei einnimmt: Sie ist präexistent, Offenbarungsmittlerin, „eschatologische" Größe; ja fast: die dem Menschen zugewandte Seite Gottes. Ähnliche Prädikate trägt

41

42

43

S. 70; vgl. auch J. DE SAVIGNAC, La Sagesse en Proverbes 8 22-31, VT 12, 1962, S. 211 bis 215. S. dazu E. G. BAUCKMANN, Die Proverbien und die Sprüche des Jesus Sirach, S. 47 ff.; O. KAISER, Die Begründung der Sittlidikeit im Budie Jesus Siradi, ZThK 55, 1958, S. 51-63. Stellennachweise bei W. SCHENCKE, D i e C h o k m a , S . 34 f f . ; J . FICHTNER, D i e alt-

orientalische Weisheit, S. 95 f.; U. WILCKENS, ThWB VII, S. 498 ff. In Prov meint torä nie „Gesetz", sondern immer „Weisung" (sc. des Weisen). J. FICHTNER, a. a. O., S. 82-87; vgl. auch E. G. BAUCKMANN, a. a. O., S. 36 ff. Daß die L X X zu Prov torä noch nicht als „Gesetz" versteht, daß sie überhaupt mehr hellenistisch als streng jüdisch denkt, zeigt G. GERLEMAN, Studies in the Septuagint III, S. 45. 51 ff. G. BOSTRÖM, Proverbiastudien, Die Weisheit und das fremde Weib, LUA N F 1 Bd. 30 Nr. 3, 1934, S. 15 ff.

152

3. Teil: Israel

in der Theologie jener Zeit nur das Gesetz, das schließlich mit der Weisheit identifiziert wird. „Charakteristisch für diese weisheitlich-theologischen Reflexionen ist also das entschlossene Bemühen, das Phänomen der Welt, der ,Natur' mit ihren Schöpfungsgeheimnissen, mit der an den Menschen ergehenden Heilsoffenbarung . . . in Beziehung zu setzen." „Das Wort, das den Menschen zum Heil und Leben ruft, ist dasselbe, das schon bei der Schöpfung als Weisheit die Kreaturen umspielt hat; es ist dasselbe, dessen sich als eines Planes Gott selbst bei seiner Weltschöpfung bedient hat" 4 4 . Das heißt: Diese weisheits-theologische Bemühung greift das alte weisheitliche Postulat von der Einheit der Wirklichkeit auf: Die Welt der Weisheit ist gleichzeitig die Welt Gottes und umgekehrt. Aber die Art, wie dies geschieht, will beachtet sein: Früher konkretisierte sich die Einheit der Wirklichkeit in der bewußten Ausrichtung der einzelnen Handlung auf das Weltganze; d. h. darin, daß man dem weisen Verhalten Kosmos konstituierende Qualität zuerkannte. Jetzt wird das Weltganze in der systematischen Verbindung und Summierung aller Erscheinungen der Wirklichkeit sichtbar. Um dieser Sichtbarkeit willen ist die Weisheit personifiziert worden. Die Hypostase Weisheit verbindet als überzeitliches Kontinuum die verschiedenen, disparaten Einzelsituationen der Geschichte. Gewiß, auch in Ägypten wurde die Maat als die der Welt zugrunde liegende Schöpfungsordnung zur Göttin 45 . Doch die Differenz liegt auf der Hand: Wir treffen in Ägypten auf die personifizierte Maat in Grabund Tempelinschriften, in Mythen und Ritualen 46 , aber ausgerechnet in Weisheitstexten nicht. Die genuine Weisheit interessiert sich nicht für eine Göttin Maat, die irgendwo im Pantheon ihren Platz hat. Ihr ist die Maat als objektive Größe gleichgültig. Sie ist allein darum bemüht, daß Maat getan, verwirklicht, erschaffen wird 47 . Wenn auch die genuin weisheitliche Rede von der Maat objektivierende Formulierungen verwendet und verwenden muß, so ist doch immer wieder deutlich geworden, daß jene Objektivierung als notwendige Folge der sprachlichen Fixierung wesentlich darauf angelegt ist, zu neuer G. VON RAD, Theologie I, S. 447, 449. S. o. S. 19 f. H. DONNER, Die religionsgeschichtlichen Ursprünge von Prov Sal 8, ZAeS 82, 1957, S. 8-18, hat, wenn auch sehr vorsichtig, versucht, über die in Elephantine gefundene aramäisdie Fassung des Achiqar-Romans eine ursprüngliche Verbindung zwischen Maat und Chokma herzustellen. Wahrscheinlich wird man davon eher absehen müssen. Denn für die Juden von Elephantine scheinen neben Jahwe vor allem kanaanäisdie Gottheiten widitig gewesen zu sein. Zudem war „Maat" zu jener Zeit sdion längst zum Begriff der Rechtssprache verengt (s. o. S. 61). « Belege s. o. S. 19 Anm. 42-49. « Belege o. S. 21 f.

45

I. Die Theologisierung der Weisheit

153

Vergeschichtlichung zu kommen. Ganz anders liegen die Dinge bei der Hypostasierung der Chokma: Hier geschieht die Objektivation um der Objektivation willen, d. h. man will der „Weisheit" ihren Ort in einem objektivistisch verstandenen Wirklichkeitsganzen anweisen. Dieser Ort ergibt sich nicht nur aus dem Aufweis der Beziehungen zwischen Weisheit und den anderen wesentlichen Größen (Gott, Gesetz), sondern läßt sich darüber hinaus topographisch festlegen: Die Weisheit wohnt unter den Engeln im Himmel äth Hen 421, sitzt an Gottes Thron Sap Sal 94, Gott weiß den Weg zu ihr, kennt ihre Stätte Hi 28 23 u. ä. Die Weisheit ist dabei ebenso wie das Gesetz - und wohl auch Gott selbst - zu einer absoluten, überzeitlichen Größe geworden48. Mit dieser Formulierung darf zunädist keinerlei Wertung verbunden werden. Man wird damit redinen müssen, daß dies unter den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des hellenistischen Judentums vielleicht die einzig mögliche Form war, die Einheit der Wirklichkeit festzuhalten. Dennoch muß auf die grundlegenden Veränderungen im Verständnis von Wirklichkeit hingewiesen werden. Die Wirklichkeit wird in ein rational durchrechenbares System gebracht49. G. VON RAD möchte dabei den Begriff „Spekulation" vermeiden, „denn ihrem eigentlichen Wesen nach hat sich diese Weisheit doch immer als eine geschehende, als eine an den Menschen ergehende Offenbarung verstanden" 50 . Ob jedoch in diesem Satz das Wörtchen „immer" tatsächlich zu halten ist? c) „Weisheit" und Jahwe Was bedeutet es, daß in einer Zeit, in welcher die israelitisch-jüdische Religion den Monotheismus immer folgerichtiger durchführt, mehr und mehr Hypostasen 51 an die Seite Jahwes treten, ja ihn gelegentlich fast ersetzen52? Und was besagt es für die Interpretation weisheitlichen Denkens, daß gerade die Weisheit zu einer Hypostase geworden ist? Daß man das Gottesverständnis des Alten Testaments nicht undifferenziert als Monotheismus bezeichnen kann, ist bekannt. Der Mono48

Zur Erstarrung des Gesetzes vgl. vor allem M. NOTH, Die Gesetze im Pentateuch, bes. S. 70 ff. = Ges. Studien zum Alten Testament, S. 112 ff. 49 Dem entspricht der literarkritische Befund, daß die Dichtungen von Prov 1-9 „von Anfang an als Produkte einer schriftstellernden Theologie angesprochen werden müssen". G. VON RAD, Theologie I, S. 441. Daß Hypostasierung und systematisches Denken zusammengehören, notiert auch W. SCHENCKE, Die Chokma, S. 6. so Theologie I, S. 449. 51 Die wichtigsten Hypostasen neben der Weisheit sind: Das Wort, bzw. das Reden Gottes, die Schechina, d. h. die Gegenwart Gottes, der Name und der Geist Gottes. Vgl. die o. Anm. 36 genannte Literatur. 52 S. z. B. das Wort der Weisheit Prov 8 35: „Wer mich findet, findet das Leben"; dazu G. VON RAD, Theologie I, S. 443: „So kann doch eigentlich nur Jahwe reden".

154

3. Teil: Israel

theismus hatte in Israel seine Geschichte. Die großen Propheten, DeuteroJesaja, die nachexilische Zeit, das entstehende Diasporajudentum sind einige ihrer Stationen. Das beginnende Judentum hat die ererbten monotheistischen Vorstellungen folgerichtig ausgebaut, gleichzeitig aber - wohl ungewollt - nicht unwesentlich verändert. „ J e höher und reiner sidi die Gottesvorstellungen entwickeln, desto stärker wird audi die Gefahr einer unlebendigen, unpersönlichen Auffassung der Gottheit. Die jüdische Frömmigkeit ist dieser Gefahr hier und da entschieden unterlegen" 53 . Gott rückt in die Ferne; man nennt seinen Namen nicht mehr, sondern spricht von ihm als dem „Allmächtigen", dem „Erhabenen", dem „Großen", dem „Heiligen", dem „Himmel"; oder man verwendet Abstrakta und nennt ihn „die Höhe", „die Herrlichkeit", „die große Majestät" o. ä. 54 . Die Beziehung Gottes zum Menschen kommt zum Erliegen. Und doch strebt die hellenistische Zeit nach einer persönlichen Religion 55 . In dieses Vakuum treten Angelologie bzw. Dämonologie und Hypostasentheologie 56 . Es entstehen zahlreiche Mittlerwesen 57 , die den abbrechenden Kontakt zwischen dem einen Gott und den Menschen reaktivieren. In diesem Horizont ist die Hypostasierung der Weisheit zu verstehen. Sie hilft, den religiösen Charakter der Weisheit festzuhalten. Was der transzendente Gott mit der Weisheit zu tun haben soll, war nidit mehr einsehbar. Die Hypostase „Weisheit" macht die Welt der (Erfahrungs-) Weisheit wieder zur Welt Gottes. Sie übt damit eine genuin weisheitliche Funktion aus - allerdings gemessen an früheren Weisheitstexten unter stark gewandelten Voraussetzungen in stark veränderten Formen. So ergibt sich der eigenartige Tatbestand, daß die Weisheit im polytheistischen Raum Ägyptens und Mesopotamiens monotheistische Strömungen aufweist, sich im konsequent monotheistischen Raum dagegen jenen Tendenzen anschließt, die - mit allem Vorbehalt formuliert - eher als polytheisierend bezeichnet werden müßten. Beide Male geschieht es mit demselben Ziel: Die Welt der Weisheit als die Welt Gottes darzustellen 58 . Es wird niemand im Ernst die Hypostase „Weisheit" als selbständige Göttin bezeichnen und die Religion des Judentums polytheistisch nennen wollen. Die „Polytheisierung" hat mehr spielerischen Charakter, sie ist geboren aus der Praxis von Weisheit und Frömmigkeit. Ebenso-

53

W. BOUSSET-H. GRESSMANN, D i e Religion des J u d e n t u m s , S. 314.

54

B e l e g e b e i W . B O U S S E T - H . GRESSMANN, a . a . O . , S . 3 1 2 f f .

ss F . C . GRANT, A r t . Hellenismus, R G G 3 B d . I I I , ( S p . 2 0 9 - 2 1 2 ) S p . 212. W . B O U S S E T - H . GRESSMANN, a . a . O . , S . 3 2 0 - 3 5 7 . 57

Zum Begriff „Mittler" (hebr. särsör, aram. sarsora', „Unterhändler", „Makler", der „vorher beziehungslose Partner zusammenbringt", ThWß Bd. IV, S. 605); vgl. A . OEPKE, A r t . UECHTTIS, T h W B B d . I V , S. 6 0 2 - 6 2 9 ; K.GOLDAMMER, A r t . Mittler,

RGG3 Bd. IV, Sp. 1063 f. =8 Vgl. dazu o. S. 27.

II. Die Anthropologisierung der Weisheit

155

wenig wird man die monotheistischen Tendenzen der Weisheit Ägyptens und Mesopotamiens als bewußte Schritte in die Richtung eines durchreflektierten Monotheismus werten dürfen. Auch sie entspringen - so charakteristisch sie für spezifisch weisheitliches Empfinden sind - der in ihren Grundlagen intellektuell kaum bewältigten Weisheits-Praxis. So läßt sich die Weisheit weder als grundsätzlich monotheistische noch als grundsätzlich polytheistische Bewegung charakterisieren. Vielleicht könnte man sogar sagen: Die Weisheit hat aus ihrem ursprünglich in keiner Weise systematisierenden Wesen heraus überhaupt kein Interesse an irgendeinem (systematischen) -theismus. Weil sie von Gott wesentlich nur in enger Beziehung zum Vollzug weisen, d. h. Kosmos schaffenden Verhaltens spricht, ist sie vielmehr als grundsätzlich antitheistisch zu bezeichnen59. II. DIE ANTHROPOLOGISIERUNG DER WEISHEIT

Noch ein zweites, bis jetzt kaum beachtetes Charakteristikum israelitischer Weisheit ist zu betrachten: Die zunehmende Anthropologisierung resp. Anthropozentrierung weisheitlichen Denkens. Die nach der communis opinio zu den ältesten Teilen des Sprüchebuches gehörende Sammlung Prov 10 1 ff. beginnt mit dem Vers: „Ein weiser Sohn macht dem Vater Freude, aber ein törichter Sohn ist seiner Mutter Herzeleid" (Prov. 101).

Damit steht schon am Anfang der Sammlung, gleichsam als deren Uberschrift, die Form, die im folgenden immer wieder begegnet: Die Gegenüberstellung des Weisen und des Törichten, des Frommen und des Gottlosen, des Verständigen und des Uneinsichtigen - und wie die Kontrastbegriffe alle heißen60. - Diese Schwarz-Weiß-Malerei ist das erste, was dem unbefangenen Leser der Proverbien auffällt, sie ist daran schuld, daß die Weisheit des Pharisäismus bezichtigt worden ist, sie hat ihr das Verdikt der Wirklichkeitsferne eingetragen. Dabei kann dem, der sich in die Weisheitsliteratur des alten Orients eingelesen hat, nicht verborgen bleiben, daß - von verschwindend geringen Ansätzen abgesehen - weder die Weisheit Ägyptens noch diejenige Mesopotamiens ein solches Gegensatzdenken kennt. Darin unterscheidet sich die israelitische Weisheit von ihrer Umwelt; was dort nur ganz am Rande festzustellen war, ist hier zum tragenden Element geworden. Allerdings ist sofort zu differenzieren: Nicht das ganze Sprüchebuch ist von dieser Antithetik geprägt, es sind nur einzelne Teile, die gegen59

Zu diesen letzten Gedanken hat mich in dankenswerter Weise W. «0 10 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.10 usf.

BER.NET

angeregt.

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3. Teil: Israel

einander meist recht scharf abgrenzbar sind: In Kap. 1 - 8 fehlt sie fast ganz, in Kap. 9 meldet sie sich an und ist in Kap. 10-15 mit Riesengewicht da. In Kap. 16i-22i6 ist sie seltener, fehlt in Kap. 22 n-23 35 ganz und tönt in Kap. 24 von neuem an. Kap. 25 steht ihr fern, in Kap. 26 sowie 28 f. ist sie - in unterschiedlicher Häufung - wieder da und sie fehlt schließlich in Kap. 27 und 30 f. Diese Streuung wird erklärt werden müssen. Vorher aber soll am Abschnitt Kap. 10-15, wo diese Ausdrucksform am konsequentesten durchgeführt ist, gefragt werden: Was hat sich verändert? Welche Wirklichkeitsschau spricht sich in solchem konfrontierendem Reden aus und wie verhält sich diese zu genuiner Weisheitserfahrung?

1. Prov 10-15 a) Der Mensch im Zentrum Die sachzentrierte, kasuelle Sprache z. B. der ägyptischen Weisheit ist durch eine anthropologische Begrifflichkeit ersetzt. Die Frage, die den Weisen umtreibt, ist nicht mehr die nach dem rechten Verhalten in einer einzelnen, konkreten Situation, sei es bei Tisch, im Amtszimmer oder sonst im Umgang mit andern Menschen, sondern es ist die nach dem generellen Verhalten - oder noch häufiger: Ergehen - des Gerechten, Frommen, Weisen resp. Frevlers, Gottlosen, Toren 61 . Es geht nicht mehr darum, zur rediten Zeit das Richtige zu tun, sondern saddiq, „gerecht", „fromm" (103.6.7. Ii. 16.20 usf.), „weisen Herzens" (10 s), zu sein „unsträflich zu wandeln" (109), es geht um die „Lauterkeit der Redlichen", „die Falschheit der Treulosen" (113), die „Gerechtigkeit des Frommen", die „Bosheit des Bösen" (11 5 f.) usf. „Weisheit" bezeichnet nicht mehr die Fähigkeit, einer einmaligen, kontingenten Situation zu begegnen und sie zu meistern, sondern „Weisheit" meint hier vielmehr eine sittliche Qualität 62 . Das Anliegen der Weisheit ist nicht mehr ein kosmologisches, es geht ihr nicht mehr darum, daß (Welt-)Ordnung schaffend zur rechten Zeit das Rechte getan wird, sondern die Weisheit ist anthropozentrisch geworden. Es geht nicht mehr um die Frage: Wie helfe ich mit, die Welt im rechten Lauf zu halten, sondern: Wie habe ich mich zu verhalten, damit ich in Ordnung bleibe, und das heißt in der religiösen Sprache der biblischen Proverbien: daß ich zu den Gerechten, Frommen, Weisen gehöre. Als zwangsläufige Folge dieser Verschiebung wandelt sich auch

61

Daß die Sammlung Prov 10-15 auffallend wenig konkret ist, vermerkt auch U . SKLADNY, S p r u c h s a m m l u n g e n , S. 7 f.

62

Ähnlich U. SKLADNY, Sprudisammlungen, S. 11.

II. Die Anthropologisierung der Weisheit

157

die Anschauung vom Zusammenhang von Tat und Ergehen, er wird zur Zusammengehörigkeit von Haltung und Ergehen eines Mensdien63. „Jahwe läßt den Hunger des Gerechten nicht ungestillt 64 , die Gier der Gottlosen aber stößt er zurück" (Prov 103). „Der Gerechte wird nimmermehr wanken, aber die Gottlosen bleiben nicht wohnen im Lande" (10 30). „Die Lauterkeit der Redlichen leitet sie, aber die Falschheit der Treulosen verwüstet sie" (11 3)65. „Nichts nützt Reiditum am Tage des Zorns, aber Gerechtigkeit rettet vom Tode" (11 4). Vgl. Prov 10 2. 3. 4. 7. 9. 15. 17. 24. 25. 27. 28. 29. 11 5. 6. 7. 8. 10. 11. 17. 18 usf. Die gleiche, weisheitsgeschichtlich späte, spezifisch israelitisch-jüdische Ausdrucksweise begegnet auch bei Jes Sir (z. B. 21 11-28) und in der Sap Sal (vor allem 3 1-5 23). Die Sap Sal geht dabei bis zur Behauptung der Unsterblichkeit (ötdavaoia) des Gereihten: Während es bei Jes Sir 17 30 noch heißt: „Es kann ja nicht alles in den Menschen sein, denn der Mensch ist nicht unsterblich (oux ddavatog)", sagt bereits ein Zusatz zu Jes Sir 1919: „Die aber tun, was ihm (dem Herrn) gefällt, ernten vom Baum der Unsterblichkeit". Nach Sap Sal liegt im Aufmerken auf die Gebote (vöjioi) die Sicherung der Unsterblichkeit (618). In der „Verwandtschaft" mit der Weisheit liegt die Unsterblichkeit (8 17). 63

Es ist das Verdienst U. SKLADNYS, Spruchsammlungen, S. 22, auf diese Wandlung hingewiesen zu haben. Allerdings ist SKLADNYS Entschluß, den Haltung-ErgehenZusammenhang gegenüber dem Tat-Ergehen-Konnex als primär anzuerkennen (a. a. O., S. 77 f.), angesichts des gemeinorientalischen Vergleichsmaterials als Fehlschluß zu beurteilen. Darin wird die große Schwäche der Arbeit SKLADNYS wirksam: Wie zu vermuten ist, hat sich deren Verfasser kaum mit der außerisraelitischen altorientalischen Weisheitsliteratur befaßt. Wo er sich - selten genug - zur ägyptischen Weisheitsliteratur äußert, geschieht es nie mit Berufung auf Texte; an Sekundärliteratur scheint er zudem nur sehr weniges zu kennen. Noch weniger weiß der Verfasser von den babylonischen Weisheitstexten. Außer den beiden - indirekten negativen Pauschalurteilen auf S. 84 und 85 Anm. 8 wird nie auf sie Bezug genommen, jeder Hinweis auf Texte, wie auch auf Sekundärliteratur fehlt. Die Stärke des Buches von SKLADNY liegt unzweifelhaft in dessen statistischen Untersuchungen, die die Verschiedenheit der einzelnen Sammlungen des biblischen Proverbienbuches deutlich machen.

64

Wörtl.: Jahwe läßt die napas des Gerechten nicht hungern, napas ist dabei entweder als Sitz der Bedürfnisse und Begierden ( L . D Ü R R , Hebr. napas = akk. napistu = Gurgel, Kehle, Z A W 43, 1925, S. 262-269, bes. S. 267 f.) oder aber im Anschluß an ugar. nps als „Appetit" zu verstehen (vgl. M. DAHOOD, Proverbs and Northwest Semitic Philology, R o m 1963, S. 18). Es besteht keine Veranlassung, mit G. KUHN, Beiträge zur Erklärung des Spruch-

65

buches, BWANT 3. F. 16, Stuttgart 1931, S. 22 f., tänhem in t'nibem und säddem in jsqdm (pi. od. hi.) zu ändern.

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3. Teil: Israel

Auf sie dürfen die Seelen der Gerechten hoffen (3 4), sie macht schließlich gottähnlich (6 18)6«.

Worin ist diese Entwicklung begründet und welches ist ihre Bedeutung? Die Weisheit wird da anthropozentrisch werden müssen, wo der Mensch im Zuge fortschreitender Individuation den direkten Bezug zum Gesamt-Kosmos verloren hat - ob zu Nutz oder Schade bleibe dahingestellt. Wenn die empirisch-weisheitlichen Erfahrungen und Formulierungen nicht mehr darauf ausgerichtet sind oder sein können, zu je neuer Kosmos-Konstituierung beizutragen, wird sie der Mensch auf sich - als einzelnen - zentrieren. Denn nur so sind in der veränderten geistesgeschichtlichen Situation die weisheitlichen Erkenntnisse noch verwertbar. Es ist darum nicht zufällig, daß es im Räume der ägyptischen und mesopotamischen Weisheit weisheitsgeschichtlich späte Texte sind, die Ansätze in diese Richtung aufweisen 67 . Daß die biblische Weisheit gerade diesen Aspekt aufgreift und breit ausgestaltet, hängt mit der Grundstruktur alttestamentlichen Weltverständnisses zusammen. Das Alte Testament kennt keine Magie. Das Alte Testament kennt keine Einflußnahme auf kosmische Zusammenhänge. Für das Alte Testament ist Jahwe allein Schöpfer, dem Mensdien geht jede Kosmos konstituierende Potenz ab. Der orientalische Schöpfungsmythus wird historisiert, d. h. der menschlichen Verfügung und Begehung entnommen. Die Ausbildung einer anthropologischen Weisheitsform in Israel68 ist ohne Zweifel u. a. als Auswirkung dieses gegenüber Ägypten und Mesopotamien veränderten Verständnisses kosmologischer Zusammenhänge zu verstehen. Denn Verschiebungen im Kosmosverständnis mußten Verschiebungen im (ursprünglich wesentlich kosmologisch geprägten) weisheitlichen Denken nach sidi ziehen. 66

Zur Übersetzung von iyyvç mit „ähnlich" vgl. J . FICHTNER, Weisheit Salomos, HAT II/6, Tübingen 1936, z. St. - Zur Unsterblichkeitslehre der Sap Sal vgl. W. WEBER, Die Unsterblichkeit der Weisheit Salomos, ZWTh 48, 1905, S. 409 ff.; DS., Die Seelenlehre der Weisheit Salomos, ZWTh51, 1909, S. 314 ff.; DS., Der Auferstehungsglaube im eschatologisdien Buch der Weisheit Salomos, ZWTh 54, 1912, S. 205 ff.; R. SCHÜTZ, Les idées eschatologiques du livre de la sagesse, Strassburg 1935; H. BÜCKERS, Die Unsterblichkeitslehre des Weisheitsbuches, ATA XIII 4, München 1938; M. DELCOR, L'Immortalité de l'âme dans le livre de la Sagesse et dans les documents de Qumran, NRTh 77, 1955, S. 614-630; vgl. auch J. PEDERSEN, Wisdom and Immortality, VTS III 19602, S. 238-246. & Für Ägypten vgl. o. S. 72 f. (Papyrus Insinger); Ansätze in Qu. 21 b (Lebensmüder). Für Mesopotamien s. Qu. 50 h. f (Adiiqar) und o. S. 126. 68 Ei n e i n manchem noch ausgeprägter anthropologische Weisheitsform zeigt die LXX zu Prov. G. BERTRAM, Die religiöse Umdeutung, S. 167; G. GERLEMAN, Studies in the Septuagint III, S. 42.

II. Die Anthropologisierung der Weisheit

159

Doch w a s bedeutet es, daß Israel eine derart ausschließlich-antithetisch denkende Weisheitsform entwickelt hat? D i e Proverbien kennen bekanntlich die Möglichkeit einer Mitte zwischen Gerechten u n d G o t t losen nicht. M i t erstaunlicher Sicherheit, religiösem Anspruch und entsprechender Ausschließlichkeit w i r d die Menschheit in die zwei G r u p p e n aufgeteilt u n d ihr je eine H ä l f t e der Wirklichkeit - die positive oder die negative - zugeordnet. D a m i t hat sich mit dem neuen Verständnis des Menschen auch eine Veränderung im Verständnis der Wirklichkeit vollzogen: Auch die Welt muß sich aufteilen lassen können in die Antithetik von G u t e m und Bösem, Rechtem und Unrechtem 6 9 . W ä h r e n d die Weisheit ursprünglich die Geschehnisse und Gesetzmäßigkeiten der Welt ordnete unter dem A x i o m , daß es irgendeine O r d nung geben müsse - wobei aber gerade diese O r d n u n g die Unbekannte, das immer wieder neu z u Suchende und zu W a g e n d e w a r , ist nun diese O r d n u n g statisch fixiert u n d festgelegt. V o n ihr her ergibt sich das genaue Wissen, wer und w a s ein Gerechter, b z w . wer u n d w a s ein Gottloser ist. Welches sind die Wurzeln dieser Antithetik? b) Gerechter und Frevler A l s erstes wird zu bedenken sein: D e r Begriff s'daqä entspricht in seiner ursprünglichsten Fassung weitgehend dem der M a a t 7 0 . D i e Ausdrücke 'asä s'daqä u n d irj rrß'.t benennen ursprünglich beide ein (Welt-)Ordnung konstituierendes Verhalten des Menschen 7 1 . D a ß der hebräische S t a m m sdq im Z u s a m m e n h a n g der israelitischen Weisheitsliteratur wichtig wird, ist daher verständlich, j a sogar zu erwarten. Gleichzeitig ergibt sich daraus aber ein H i n w e i s auf die H e r k u n f t der ausschließenden Antithetik von sdq und rs c: E s fiel a u f , daß die ägyptische Weisheit das menschliche Verhalten in einer entsprechenden Ausschließlichkeit entweder dem Begriff M a a t oder aber dem des „Unrechts" (isf.t) b z w . der „ L ü g e " (grg) sub69

70

71

Hierher gehören die vielbesprochenen fo^-Sprüche, die doch wohl nicht komparativisdi zu fassen sind (Besser . . . als ...), sondern deren min exkludierend, privativ zu verstehen ist (Gut i s t . . . und nicht...). Vgl. A. UNGNAD, Hebräische Grammatik, Hilfsbüdier für den hebräischen Unterricht, Tübingen 1912, § 481, sowie Gen 3 8 26; I Sam 24 18 I Reg 2 32 Hi 4 17. Anders am profiliertesten W. ZIMMERLI, Struktur, S. 192 f. Auf diese Parallele ist gelegentlich hingewiesen worden: H. RINGGREN, Word and Wisdom, S. 49, 58; DS., Israelitische Religion, Die Religionen der Menschheit, hrsg. C. M. SCHRÖDER, Bd. 26, Stuttgart 1963, S. 75; F. HORST, Art. Gerechtigkeit Gottes, II. Im AT und Judentum, RGG 3 , (Sp. 1403-1406), Sp. 1404; K. KOCH, Wesen und Ursprung der „Gemeinschaftstreue" im Israel der Königszeit, ZEE 5, 1961, (S. 72 bis 90) S. 88 u. a. m. Eine differenzierte Untersuchung, die diesen Zusammenhang auswertet und audi die nötigen Abgrenzungen vollzieht, fehlt nodi. Daß für beide Ausdrüdke, in Ägypten wie in Israel, später eine Verengung auf den Bereich des Rechts festzustellen ist, steht dabei auf einem andern Blatt.

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3. Teil: Israel

sumiert hat. Eine menschliche Handlung kann in diesem Horizont nur entweder Ordnung oder aber Unordnung schaffen. Wird nun in Israel die Qualifikation mi c bzw. sdq nicht mehr auf die Tat, sondern auf den Täter bezogen, so resultiert daraus die Gegenüberstellung von saddiq und rasa' als Attribute zweier Klassen von Menschen. Den Weg dieser Übertragung wird man sich dabei so vorzustellen haben, daß ein Mensch zunächst im Blick auf eine einzelne, konkrete T a t als „ M a a t tuend" bzw. 'osä fdaqä — m* bzw. saddiq wurde. Ein zweiter, verallgemeinernder Schritt führte dann zur Verwendung von saddiq bzw. rasa' als Beschreibung einer andauernden Haltung. Von einer andern Seite her ist im Rahmen des Alten Testaments diese Entwicklung zur Antithetik zweifellos noch gefördert worden. Die gleiche Gegenüberstellung findet sich im Alten Testament außerhalb der Weisheitsliteratur noch im Bereich der Jurisdiktion 7 2 , sowohl der „profanen" 7 3 als auch der kultischen 74 . D o r t werden ja Derivate des Stammes sdq nicht nur zur Bezeichnung „rechten" (im Sinne des ägyptischen m$ c) Richtens verwendet 7 5 , d. h. ohne Annahme von Bestechung, ohne Ansehen der Person usw., sondern auch zur Qualifikation des zu Richtenden bzw. des Beurteilten 76 . So umschreibt L . K Ö H L E R den Begriff saddiq - für diesen Zusammenhang sehr richtig - mit: „Gegenüber Anschuldigungen als schuldlos erwiesen" und rasa' mit: „ A u f Anschuldigungen hin als schuldig erwiesen" 7 7 . Der Wahrspruch des Gerichtsforums kennt nur die beiden Möglichkeiten: schuldig oder unschuldig, saddiq oder rasa' 77. D a r a n wird zweierlei deutlich: saddiq oder rasa' ist einer zunächst im Hinblick auf eine einzelne, konkrete Tat 7 8 , und: saddiq bzw. rasa' wird einer durch einen deklaratorischen Akt 7 9 .

73

Die instruktivsten Stellen d a f ü r sind: E x 23 7 Dtn 25 1 I Reg 8 32 = II Chr 6 23 Jes 5 23. Gemeint: Der Rechtssprechung im T o r ; L.KÖHLER, Die hebräische Rechtsgemeinde, in Der hebräische Mensch, Tübingen 1953. Wieweit man dabei von „ p r o f a n " sprechen kann, ist bekannt und braucht hier nicht nochmals erörtert zu werden. Vgl. neben den in Anm. 72 genannten Stellen: D t n 16 19 Jes 29 21 u. ö.

G . VON RAD, „Gerechtigkeit" und „Leben" in den Psalmen, Festschrift für A. BERTHOLET, Tübingen 1950, S. 418—437 = DS., Gesammelte Studien zum Alten Testament, ThB 8, München 1958, S. 225-247; W. ZIMMERLI, Ezechiel, B K X I I I , 1959 ff., S. 398 f. 75 S o L e v 1915 D t n 1 16 1618 u. ö.

74

76 77 78 79

S. die in Anm. 72 und 73 genannten Stellen. L. KÖHLER, Theologie des Alten Testaments, Tübingen 1953 3 , S. 156. D a s zeigt sich noch an Stellen wie Gen 3 8 26 I S a m 2418 I Reg 2 32 u. ä. Vgl. die deklaratorische Formel säddtq hü' E z 18 9. Der Begriff der deklaratorischen Formel stammt von G . VON RAD, Die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit, T h L Z 76, 1951, Sp. 129 ff. = DS., Gesammelte Studien zum Alten Testament, S. 130 ff. Analoge Formeln ebda. Sp. 131 bzw. S. 132, und bei R. RENDTORFF, Die Gesetze in der Priesterschrift, F R L A N T 62 N F 44, Göttingen 1954, S. 74 ff.

II. Die Anthropologisierung der Weisheit

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Nun ist bekannt: Die Bibel faßt das Verhältnis zwischen Gott und Mensch mit Vorliebe in juridische Formeln und Begriffe (Bund, Gesetz u. a. m.). So übernimmt die religiöse Anthropologie des Alten Testaments, angeregt einerseits durch weisheitliche, andrerseits durcii juridische Vorstufen, die beiden Qualifikationen säddiq und rasa' - in ihrer ausschließenden Antithetik 80 : Der Mensch ist vor Gott entweder säddiq oder rasa', angenommen oder verworfen. Tertium non datur. Ja, sie weiß sogar nodi, daß einer nur säddiq ist, wenn und solange ihm Gott s'daqä zuspricht81. In diesem Zusammenhang ist die Begrifflichkeit von säddiq und rasa' in den biblischen Proverbien zu interpretieren. Denn sosehr die beiden Begriffe in Vorstellungswelt und Terminologie der Weisheit wurzeln, so werden sie im Rahmen des Alten Testaments selbstverständlich religiös verstanden: Der vor dem Forum der Weisheit säddiq Genannte ist ganz selbstverständlich säddiq vor dem Forum Jahwes, des Gottes Israels82. Die entscheidende Frage zur Interpretation der weisheitlichen Verwendung des Begriffspaares säddiq und rasa' ist nun: Wie wurden hier die beiden Begriffe verstanden? Wußte man noch, daß das Attribut säddiq eigentlich Bezeichnung einer Relation ist: weisheitlich derart, daß einer nur im Hinblick auf eine Einzeltat säddiq sein kann und religiös derart, daß einer nur säddiq sein kann, wenn Gott ihm s'daqä zuspricht? Oder ist säddiq bzw. rasa' zur Beschreibung einer sittlichen Qualität geworden? Kann man mit Recht von einer Selbst-Gereditigkeit des alttestamentlichen Weisen reden, d. h. spricht sich hier der Mensch die Gerechtigkeit selbst zu? Ist damit die Weisheit zu einem geschlossenen Lehrgebäude geworden, argumentiert sie von einem starren Bild der Wirklidikeit aus? c) Systematisierung der Weisheit? Für die Beantwortung dieser - wichtigen - Fragen muß wieder gelten: Der bloße Textbestand ist mehrdeutig. Erst die Art der Verwendung auch dieser antithetischen Sprüche könnte dazu Hinweise geben. Wenn es Prov 10i6 z. B. heißt: „Der Erwerb des säddiq gereicht zum Leben, das Einkommen des rasac aber zur Sünde",

kann dies sowohl in ursprünglichem Sinn verstanden werden: Wen Gott liebt, der wirkt sich das Leben; wen Gott haßt, der wirkt sich den Tod. 80 S. etwa Ps 7 10 11 5 1 4 5 31 19 52 8 5 5 23 5 8 11 6 8 4 69 29 75 11 u. ö. 81 Am schönsten in Gen 15 6, G. VON RAD, Die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit. Vgl. Ps 106 31 sowie Stellen wie Ps 24 5 u. ä. 82 Das wird in der jüngeren Weisheit Israels expliziert, nach der Furcht Jahwes Anfang der Weisheit, d. h. des säddiq-Seins, ist: Prov 1 7 9 10 Ps 11110 Jes Sir 1 14 u. ä. 11 SAmid

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3. Teil: Israel

Gleichzeitig ist aber auch das „pharisäische" Verständnis möglidi: Wir, die Frommen, werden leben, die andern, die Gottlosen, werden umkommen. Ob der gleiche Satz so oder anders redet, kommt auf seine Verwendung an. Leider läßt uns das Proverbienbuch in der Frage nach dem usus der Sprüche weitgehend im Stich. Vielleicht dürfte man sich einige Klärung von einer Untersuchung des Gebrauchs weisheitlichen Denkens in Gesetzen und bei Propheten erhoffen. Denn dort lassen sich zumindest einzelne Formen der Anwendung weisheitlicher Gedanken literarisch fassen. Im Sinne eines vorläufigen Versuchs mögen zum Proverbienbuch folgende Überlegungen erlaubt sein: Die Begriffe saddiq und rasa' stehen in Prov. 10-15 nicht allein. Neben ihnen steht eine Reihe von Parallelbegriffen. Da ist der Rechtschaffene, Lautere 83 , der Aufrichtige 84 , der Wohltätige 85 , der Gute 86 , der Zuverlässige, Treue 87 , der Demütige, der Barmherzige 88 , wer auf Gutes aus ist 8 ', wer Zucht hält und liebt 90 , wer auf Rüge achtet, wer das Gebot fürchtet, wer sich der Armen erbarmt, wer zum Frieden rät 9 1 , wer seinen Mund hütet 92 , wer Bestechung haßt, wer (in Notzeiten) Getreide verkauft und wer den Durstenden tränkt 9 3 . Und die Menschen der Gegenseite: sie sind dumm, schmähen Jahwe, zetteln Streit an 94 , haben Trug in ihrem Herzen und bringen Lügen hervor; sie schätzen ihren Nächsten gering 95 und bringen ihm Verderben 96 .

U. SKLADNY97 bemerkt dazu - m. E. richtig „Es werden verhältnismäßig selten konkrete Taten, Handlungen erwähnt (wie etwa in 11 26 b), meist sind die Sprüche allgemein gehalten und charakterisieren an Hand von Abstrakta wie tob oder '*mxt eine ganz bestimmte Haltung: die Haltung des Gerechten." Durch die Aneinanderreihung der verschie1 0 9 a. 29 a 11 3 a. 5 a. 20 b 13 6 a 14 32 b. 11 3 a. 11 a 12 6 b 14 2 a. 11 b 15 8 b. 8 5 11 25 a. 8 6 11 27 a 12 2 a 13 2 a. 22 a 14 14 b. 19 a. 22 b 15 3 b. 8 7 1113 b 12 17 a. 19 a. 22 b 13 17 b 14 5 a. 25 a. 8 8 11 2 b bzw. 17 a. 8 9 11 27 a 14 22 b. 9 ° 10 17 a 12 1 a. 91 13 18 b bzw. 13 b 14 31 b 12 20 b. 9 2 13 3 a, ähnlich 15 4 a. 9 3 15 27 b bzw. 11 26 b 11 25 b. 9 4 1 2 1 b bzw. 14 31a 1310 a. 9 5 12 20 b bzw. 14 5 b 14 21a. 9 6 11 9 a. Vorstehende Zusammenstellung nach U. SKLADNY, Die ältesten Spruchsammlungen, S. 8 f. 9 7 A. a. O., S. 8.

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II. Die Anthropologisierung der Weisheit

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denen, untereinander offensichtlich weitgehend austauschbaren Gegensatzpaare entsteht in der Tat der Eindruck, als sollte die Menschheit in zwei Gruppen verschiedener sittlicher Qualität aufgeteilt, d. h. systematisch geordnet werden. Die einst lebendige, forensische, an ihrem Ort sinnvolle Polarität von gerecht und ungerecht ist unverändert in einen neuen Zusammenhang hineingetragen worden. Es soll betont sein: Die Aneinanderreihung der antithetischen Formulierungen erweckt den Eindruck der Systematisierung. Wer den Einzelspruch liest, kann ihn durchaus in genuin-weisheitlicher Art verstehen und verwerten. Denn, zur rechten Zeit angewandt, kann die Gerecht/ Ungerecht-Antithetik gerade in ihrer Ausschließlichkeit sachgemäß sein. Damit zeigt sich auch hier die öfters schon festgestellte Ambivalenz weisheitlicher Sprache: Genuin-weisheitliches und weisheits-dogmatisdies Verständnis stehen als zwei grundsätzlich gleiche Möglichkeiten nebeneinander. Welches gelten soll, wird im aktuellen Verstehen der einzelnen Maxime entschieden. Für den Sammler scheint eher das systematische Verständnis anzunehmen zu sein. Anhangsweise ist anzumerken: Die Zentrierung der Weisheit um die antithetischen religiös-anthropologischen Begriffe säddiq und rasa' ist ein Spezifikum israelitischen Weisheitsdenkens. Dies müßte bedacht werden, wenn man undifferenziert davon spricht, daß die Weisheit von Prov 10 ff. keinerlei spezifisch israelitische Einflüsse aufweise. Das ist das Eigenartige und Bemerkenswerte, daß die Weisheit bei der Übernahme in den israelitischen Raum nicht in ihrer Theologie (die Theologisierung blieb wie ausgeführt innerhalb der Grenzen der gemeinorientalischen Möglichkeiten) modifiziert wird, sondern in ihrer Anthropologie! d) Tat (Haltung) und Ergehen Wo die Begriffe säddiq und ravsa' zu Eigenschaftswörtern werden, wandelt sich die Vorstellung vom Tat-Ergehen-Zusammenhang in diejenige eines /f