Wertvolle Werke: Reputation im Literatursystem [1. Aufl.] 9783839416365

Welche Bedeutung hat das Medium der Reputation für die Evolution literarischer Kommunikation? Eine Relektüre der wichtig

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Wertvolle Werke: Reputation im Literatursystem [1. Aufl.]
 9783839416365

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
THEORIETEIL
I. Reputation im Literatursystem
I.1 Bourdieus Kapitaltheorie
I.2 Symbolisches Kapital und Zirkel statuspositionaler Differenz
I.3 Der Reputationscode als Nebencode des Literatursystems
PRAXISTEIL
II. Der Reputationscode des Literatursystems am Beispiel literaturkritischer Zeitschriften im Übergang von Alteuropa zur funktionalen Moderne
I.1 Die Monats=Gespräche des Christian Thomasius (1688-1690)
II.2 Die Allgemeine Deutsche Bibliothek Friedrich Nicolais (1765-1806)
II.3 Der Teutsche Merkur Christoph Martin Wielands (1773-1810)
II.4 Das Athenäum der Gebrüder Schlegel (1798-1800)
ZUSAMMENFASSUNG
III. Fazit und Ausblick
III.1 Funktion und Operationsweise der Reputation konstruierenden Literaturkritik des Literatursystems
III.2 Abgrenzungen: Die Literaturkritik des Literatursystems und ihre Umwelten
III.3 Reputationsgenese und Konfliktsysteme
III.4 Reputationsgenese und soziales Gedächtnis der Literatur
Literatur

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Dominic Berlemann Wertvolle Werke

Dominic Berlemann (Dr. phil.) ist Studienrat für Deutsch und Englisch. Seine Forschungsinteressen sind systemtheoretische Literaturwissenschaft, Theorie des literarischen Feldes, Kanon- und Gedächtnisforschung sowie Luftkriegsliteratur.

Dominic Berlemann Wertvolle Werke. Reputation im Literatursystem

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 2009 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: ›Ramellis Bücherrad‹. Quelle: Ramelli, Agostino: Schatzkammer mechanischer Künste, Hannover: Curt R. Vincentz Verlag, 1976, S. 293. Mit freundlicher Genehmigung der Vincentz Network GmbH & Co. KG. Korrektorat & Lektorat: Dominic Berlemann Satz: Dominic Berlemann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1636-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung | 9

THEORIETEIL I. Reputation im Literatursystem | 17 I.1 Bourdieus Kapitaltheorie | 17

I.2 Symbolisches Kapital und Zirkel statuspositionaler Differenz | 32 I.3 Der Reputationscode als Nebencode des Literatursystems | 90

P RAXISTEIL II. Der Reputationscode des Literatursystems am Beispiel literaturkritischer Zeitschriften im Übergang von Alteuropa zur funktionalen Moderne | 153 I.1 Die Monats=Gespräche des Christian Thomasius (1688-1690) | 157

II.2 Die Allgemeine Deutsche Bibliothek Friedrich Nicolais (1765-1806) | 198 II.3 Der Teutsche Merkur Christoph Martin Wielands (1773-1810) | 241 II.4 Das Athenäum der Gebrüder Schlegel (1798-1800) | 316

ZUSAMMENFASSUNG III. Fazit und Ausblick | 365

III.1 Funktion und Operationsweise der Reputation konstruierenden Literaturkritik des Literatursystems | 367 III.2 Abgrenzungen: Die Literaturkritik des Literatursystems und ihre Umwelten | 374 III.3 Reputationsgenese und Konfliktsysteme | 388 III.4 Reputationsgenese und soziales Gedächtnis der Literatur | 396 Literatur | 405

V ORWORT

Auch wenn das vorliegende Buch den Namen nur eines Autors trägt, wäre es ohne Unterstützung von außen in dieser Form nie zustande gekommen. An dieser Stelle sei daher meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Niels Werber, ganz herzlich für viele wertvolle Ratschläge und die stets zeitnahen Rückmeldungen zu den einzelnen Kapiteln gedankt, die ganz erheblich zum erfolgreichen Abschluss dieser Studie beigetragen haben. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Gerhard Plumpe für die Bereitschaft zur Übernahme des Zweitgutachtens und die damit verbundenen Mühen. Bei Janina Sendler bedanke ich mich für die sachkundige Hilfe bei der Erstellung des Schaubildes am Ende der Arbeit. Nicht zuletzt hat meine Familie mir den Rücken freigehalten und in entscheidenden Augenblicken für die so wichtige emotionale wie moralische Unterstützung gesorgt, ohne die sich ein so umfangreiches Projekt nicht hätte realisieren lassen. Ihr sei daher diese Arbeit gewidmet.

Einleitung

Die vorliegende Arbeit, die sich als Beitrag zur systemtheoretischen Literaturwissenschaft versteht, verdankt ihre Entstehung einer ursprünglichen Irritation, die sich aus der Vorliebe des Autoren für zwei häufig als Antagonisten bezeichnete Soziologien speist, deren vielschichtiges Verhältnis sowohl von Differenz als auch von Korrespondenz geprägt wird. Gemeint ist – neben der funktional-strukturellen Systemtheorie Niklas Luhmanns – die machtanalytische Feldtheorie Pierre Bourdieus. Vergleicht man beide Paradigmen, die regelmäßig zu Wegbereitern oder gar Winner-Theorien ihrer Disziplin apostrophiert werden, springen zunächst die Unterschiede ins Auge. Zwar gehen beide Ansätze von einer Differenzierung der Gesellschaft in klar unterscheidbare Teilbereiche wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und eben Kunst bzw. Literatur aus, während Luhmann aber von einem gleichberechtigten Nebeneinander eigenständiger Sozialsysteme in einer polyzentrischen Welt ausgeht, postuliert Bourdieu eine prinzipielle Dominanz des ökonomischen Feldes, gegen dessen wirkungsmächtige Logik die übrigen Felder ihre Autonomie mehr oder minder erfolgreich zu behaupten versuchen. Auch die Konzeptionen des menschlichen Beitrags zur gesellschaftlichen Realität weichen signifikant voneinander ab. Für Luhmann, dem gelegentlich Antihumanismus vorgeworfen wurde, ist der Mensch nicht Teil der Gesellschaft, die sich aus Kommunikationen zusammensetzt; gleichwohl ist die Gesellschaft auf Bewusstseinsaktivitäten in ihrer Umwelt stets konstitutiv angewiesen. Bourdieu hingegen nimmt Abstand von der voluntaristischen Sichtweise eines frei sein Schicksal bestimmenden Subjektes und setzt dieser von Sartre geprägten, in Frankreich äußerst einflussreichen Auffassung seine Vorstellung einer sozialen Praxis entgegen, die von durch und durch sozialisatorisch vorgeprägten Akteuren bestritten wird, ohne dass sie sich dessen bewusst wären – ein Gedankengang, mit dem sich der Franzose zwar den Verdacht des Determinismus eingehandelt hat, der aber auch verdeutlicht, warum die Feldsoziologie Bourdieus bisweilen als ‚Psychoanalyse des Sozialen‘ gepriesen wird. Während Luhmann die Existenz autopoietischer Sozialsysteme behauptet, die sich selbst aus ihren eigenen Elementen reproduzieren, gilt für Bourdieu das agonistische Prinzip des Kampfes der

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Akteure1 um knappe und ungleich verteilte Ressourcen, die sowohl materieller als auch immaterieller Natur sein können, als Motor des gesellschaftlichen Wandels. Bourdieu agierte außerhalb des wissenschaftlichen Feldes als politisch engagierter linker Intellektueller, Luhmann wiederum mit selbstbewusster, ironischer Distanz gegenüber Kritikern, die ihm einen uneingestandenen Hang zur Affirmation der bestehenden Verhältnisse vorwarfen. An Gemeinsamkeiten schlägt indessen nicht nur die bereits angesprochene differenzierungstheoretische Ausrichtung von Systemtheorie und Feldtheorie zu Buche. Sowohl Luhmann als auch Bourdieu gründen ihre dem Konstruktivismus verpflichteten Paradigmen auf einer hochdynamischen Konzeption sozialer Strukturen. Jede Praxisform verändert bei Bourdieu potenziell den momentanen Zustand des betroffenen sozialen Feldes sowie die nach dem Muster der Stratifikation organisierten Relationen der Akteure untereinander. Dabei ist es allerdings der relativen Beständigkeit der psychischen Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Erzeugungsschemata des Habitus zu verdanken, dass ein Großteil der gesellschaftlichen Realität trotz aller Dynamik deutlich von empirisch nachweisbaren Reproduktionstendenzen gekennzeichnet ist. Bei Luhmann wird die unüberwindbare wechselseitige Undurchschaubarkeit der beteiligten Bewusstseine dafür verantwortlich gemacht, dass Kommunikationssysteme operativ dazu gezwungen sind, ständig die eigenen, von permanentem Verfall der Sinnkerne bedrohten Strukturen neu zu konstituieren und dabei gegebenenfalls zu modifizieren. Beide Soziologien verfahren in höchstem Maße selbstreflexiv und gestatten die Einnahme eines privilegierten Standpunktes außerhalb der jeweiligen Auffassung von Wissenschaft und Gesellschaft grundsätzlich nicht. Beide Ansätze zeichnen sich überdies durch eine außergewöhnlich hohe Reichweite aus und zeigen sich in der Lage alles, was in der Gesellschaft irgendwie kommuniziert oder praktiziert wird, theoretisch weitgehend konsistent zu erfassen, indem es ihnen gelingt, hinter den verschiedenartigsten sozialen Phänomenen Parallelen zu erkennen, die sich mithilfe einer hochgradig generalisierenden Nomenklatur, in deren Zentrum die Begriffe des ‚Systems‘ bzw. des ‚Feldes‘ stehen, benennen und beschreiben lassen. Luhmann wie Bourdieu eröffnen ihren Theorien damit ein hohes Maß an Anschlussfähigkeit an die ganze Vielfalt der Empirie, auch wenn dies im Falle der soziologischen Systemtheorie manchem Beobachter nicht immer ganz klar zu sein scheint. Die Nähe zur Empirie hat seit den 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum verstärkt dazu geführt, dass sowohl Luhmanns als auch Bourdieus Theorien von der Literaturwissenschaft übernommen und auf ihre Tauglichkeit hin abgeklopft worden sind – mit dem Ergebnis, dass sich beide Richtungen mittlerweile fest im Methodenkanon der Literaturwissenschaft etab-

1

Wenn in dieser Arbeit nur die männliche Form verwendet wird, dient das ausschließlich der Erhöhung der Lesbarkeit des Textes. Die weibliche Form ist dabei stets mitgemeint, sofern nicht anders gekennzeichnet.

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liert haben. Aus diesem Grunde verzichten wir auch auf weitere einführende Bemerkungen. Was für Luhmann und Bourdieu selbst gilt, kennzeichnet indessen auch die literaturwissenschaftliche Praxis der letzten Jahre: Die systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaft und die an Bourdieus Theorie des literarischen Feldes anknüpfende Literatursoziologie haben einander bislang weitgehend ignoriert bzw. nur sehr undifferenziert wahrgenommen. Soweit wir sehen, hat auch der 2004 von Armin Nassehi und Gerd Nollmann herausgegebene Sammelband Bourdieu und Luhmann nichts an diesem bedauernswerten Zustand ändern können – wohl auch deshalb, weil sich aus den dort veröffentlichten fachsoziologischen Artikeln keine unmittelbare Applikabilität für den engeren Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft ergab, die vielleicht zu einer Eindämmung der für beide Lager zu konstatierenden Berührungsängste hätte führen können. So bedauerlich dieser Zustand aber auch sein mag, eröffnet er dem Neuankömmling ohne einschlägige Veröffentlichung immerhin die Möglichkeit, in eine strukturelle Lücke vorzustoßen und auf diesem noch weitgehend unbeackerten Feld Pionierarbeit zu verrichten, die ihm vielleicht sogar ein wenig wissenschaftliche Reputation einbringt. Dass sich ohne Reputation in der Wissenschaft nur wenig bewegen lässt, ist freilich eine weitere Erkenntnis, die Luhmann und Bourdieu nicht nur biografisch, sondern auch theoriebautechnisch miteinander verbindet. Tritt bei Luhmann Reputation als Nebencode jedoch lediglich im Rahmen der Analyse des Wissenschaftssystems sowie vor der autopoietischen Wende allenfalls noch bei der Untersuchung von Organisationssystemen nennenswert in Erscheinung, spielt das symbolische Kapital, Bourdieus terminologisches Pendant zum Begriff der Reputation, in der Feldsoziologie eine entscheidende Rolle an zentraler Stelle des ganzen Theoriekonstruktes. Genau diese Disparität in der Gewichtung der Bedeutung von Reputation – hier als bloß sekundäres Kommunikationsmedium eines funktionalen Teilsystems der Gesellschaft, dort als die gesamte soziale Praxis strukturierende Machtressource – ist indessen für die eingangs erwähnte Irritation seitens des Verfassers dieser Studie hauptverantwortlich. Ihr wollen wir daher in dieser Arbeit gezielt nachzugehen versuchen. Die Exklusivität, mit der Luhmann die Einflussnahme von Reputation als Nebencode auf den Wissenschaftsbetrieb beschränkt, spiegelt sich freilich auch im Diskurs der systemtheoretischen Literaturwissenschaft wider: Keins der gängigen Konzepte liefert, bei allen unzweifelhaften Erkenntnisgewinnen, auch nur den leisesten Versuch eines konsequenten Einbezugs dieses auf den vormodernen Ehrbegriff zurückgehenden Mediums bei der Modellierung literarischer Kommunikationsprozesse. Das verwundert um so mehr, als allen Unkenrufen zum Trotz, die im Namen etwa der anonymen Sagbarkeitsregeln der Diskurse die sperrige These vom Tode des Autoren verkünden, literarische Werke als Kompaktkommunikationen nach wie vor untrennbar mit dem Namen und dem Ruf ihrer Verfasser identifiziert werden – auch dann, wenn sich das organische Substrat der schöpferischen Genies oder auch bloßen Schreiberlinge bereits wieder verflüchtigt hat und so-

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gar dann noch, wenn die Urheberrechte an den Werken längst abgelaufen sind. Offenbar besteht nach wie vor ein nicht nachlassender Bedarf, im Literatursystem erbrachte Leistungen in Form von Reputation personal zurechenbar zu machen, und hierfür muss es Gründe geben, die zunächst, bevor man sich auch der Ebene der Koevolution und den Intersystembeziehungen zuwenden könnte, in der literarischen Kommunikation selbst zu suchen wären. Eine Literatursoziologie, die diesen elementaren Sachverhalt nicht zur Kenntnis nähme, müsste sich allerdings zurecht die Vorhaltung blinder Flecken gefallen lassen. Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, diesem eklatanten Mangel entgegenzutreten und die Rolle, die unserer Überzeugung nach vom Medium der Reputation im Literatursystem gespielt wird, erstmals umfassend mit den Erkenntnismitteln der Systemtheorie auszuloten. Wir verfolgen damit das Fernziel einer systematischen Erweiterung des systemtheoretischen Verständnisses literarischer Kommunikation, um so einen noch größeren Ausschnitt der komplexen literarischen Wirklichkeit erfassen zu können. Dabei bildet das an der Ruhr-Universität Bochum von Gerhard Plumpe und Niels Werber in den 1990er Jahren entwickelte Modell literarischer Kommunikation, das unseres Erachtens nach wie vor mit den überzeugendsten Argumenten für seine spezifischen Vorentscheidungen hinsichtlich der Funktion und Leitdifferenz des Literatursystems aufwartet, den Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen. Um Antworten auf die Frage nach der Bedeutung des Mediums der Reputation für den Literaturbetrieb geben zu können, ist die vorliegende Arbeit in drei Abschnitte gegliedert, namentlich in einen Theorieteil (I), einen Praxisteil (II) sowie eine abschließende Zusammenfassung der Ergebnisse (III). Im einführenden Theorieteil erfolgt zunächst eine systemtheoretische Reformulierung der Kapitaltheorie Bourdieus vor dem Hintergrund der Luhmann’schen Auffassung des Verhältnisses von Bewusstsein und Kommunikation. Besonderer Wert wird dabei natürlich auf die zentrale Kategorie des symbolischen Kapitals gelegt, das sich als tiefenscharfes Theoriesegment erweist, dessen Erklärungskraft weit über die in den gängigen Übersichtsartikeln verbreitete, stark simplifizierende Gleichsetzung mit Ruhm, Prestige, Ansehen usw. hinausgeht. Anschließend wird der Versuch unternommen, Bourdieus Begriff des symbolischen Kapitals mit Luhmanns Basistheorem doppelter Kontingenz unter dem Stichwort des ‚Zirkels statuspositionaler Differenz‘ zu einer Synthese zu verschmelzen, die sozialtheoretisches Neuland erschließt und die wir hier erstmals in ihren literaturwissenschaftlichen Implikationen der Öffentlichkeit vorstellen möchten. Gleichwohl erstreckt sich der Geltungsbereich dieses Theoriekonstrukts prinzipiell über alle Funktionssysteme der Gesellschaft, was es, wie wir vermuten, auch für systemsoziologische Forschung, deren Gegenstandsbereich jenseits des Literarischen liegt, relevant werden lässt – insbesondere für diejenigen Zweige der systemtheoretisch orientierten Kulturwissenschaft, die sich mit den weiteren (neuen wie alten) Medien des Kunstsystems wie Fotografie, Film, Malerei, Bildhauerei, Plastik usw. beschäftigen. Bevor wir uns aber der literarischen

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Kommunikation selbst zuwenden, auf die wir uns in dieser Arbeit weitgehend konzentrieren wollen, werfen wir einen kurzen Blick auf das Wissenschaftssystem, also den einzigen Teilbereich der Gesellschaft, der laut Luhmann mit Reputation als Nebencode operiert. Die systeminternen Probleme, die Luhmann hierfür verantwortlich macht, werden im Folgenden in ihrer Übertragbarkeit auf die Literatur einer eingehenden Überprüfung unterzogen, die wir – neben weiteren Erwägungen aus dem Bereich der Sozialraumanalyse – als argumentative Grundlage für unsere Hauptthese heranziehen, die darin zu sehen ist, dass nicht nur die Wissenschaft, sondern auch das Literatursystem im Zeichen der Selbsterhaltung und Selbstreproduktion auf einen eigenen Reputationscode zurückgreift. Im zweiten Teil der Arbeit wenden wir uns der Literaturkritik als Haupturheberin Reputation konstruierender literarischer Wertungsakte zu, um die Gültigkeit unserer im Theorieteil aufgestellten Thesen anhand der Materialität literaturkritischer Kommunikation empirisch zu überprüfen. Dabei geht es uns nicht um die Analyse konkreter Buchbesprechungen, da diese meist auf eine Explikation ihrer zugrundegelegten Auffassung von Literaturkritik verzichten. Stattdessen nehmen wir die Programmebene in den Blick, also solche Texte, die sich ausdrücklich mit der Funktion der Literaturkritik sowie ihren spezifischen Verfahrensweisen auseinandersetzen. Die Auswahl der Texte, die allesamt bedeutenden literarischen Journalen bzw. deren kommunikativem Umfeld entnommen sind, erfolgt dabei nach dem Prinzip ihrer Repräsentativität für die Gesamtheit des literaturkritischen Diskurses, die sich z.B. an ihrer Auflagenstärke, ihrer Verbreitung und der retrospektiven Einschätzung ihrer literaturgeschichtlichen Bedeutung seitens der Literaturwissenschaft ablesen lässt. Um Einseitigkeiten zu vermeiden, aber auch um die evolutionäre Perspektive in ihr Recht zu setzen, haben wir uns dafür entschieden, vier literaturkritische Zeitschriften eingehend zu analysieren, die aus unterschiedlichen Literaturepochen Alteuropas sowie der Zeit der Umstellung auf funktionale Differenzierung stammen, d.h. aus dem Barock, der Aufklärung und der Frühromantik. Wir beginnen mit den Monats=Gesprächen (1688-1690) des Christian Thomasius, deren Bedeutung in ihrer wegweisenden Vorreiterrolle für eine allgemein rezipierbare Literaturkritik in deutscher Sprache zu sehen ist. Anschließend wenden wir uns der Allgemeinen deutschen Bibliothek (1765-1806) Friedrich Nicolais sowie dem Teutschen Merkur (1773-1810) Christoph Martin Wielands zu – Zeitschriften, die einen Querschnitt der literaturkritischen Praxis und ihrer Selbstreflexion im Zeitalter der Aufklärung bieten. Darauf folgt eine Untersuchung des in vielerlei Hinsicht bedeutend radikaleren, aber eher kurzlebigen Athenäum (1798-1800) der Gebrüder Schlegel, auf deren literaturgeschichtliche Signifikanz für die Herausbildung der modernen Literaturkritik im deutschsprachigen Raum die Germanistik immer wieder hingewiesen hat. Jedes dieser den Zeitschriften gewidmete Kapitel schließt mit einer kurzen Synopse, um die hinsichtlich unserer Fragestellung gewonnen Erkenntnisse noch einmal in aller Übersichtlichkeit zu bündeln.

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In der im dritten Teil erfolgenden Zusammenfassung wird dann noch einmal Rückschau gehalten und der Versuch unternommen, die im Theorieund Praxisteil gewonnenen Einsichten in ihrer Bedeutung für das systemtheoretische Bochumer Modell literarischer Kommunikation zu evaluieren – vor allem hinsichtlich der Position der Literaturkritik im Literatursystem, der Durchlässigkeit der Systemgrenzen, der systemintern anfallenden Konflikte sowie der Operationsweise des sozialen Systemgedächtnisses. Dabei werfen wir auch einen Blick auf die Literaturkritik der klassischen Moderne und der Postmoderne, um die von uns behauptete Relevanz des Reputationscodes für die Abwicklung literarischer Kommunikation bis in unsere Tage hinein vor Augen zu führen. In diesem Zusammenhang steht auch die Absicht, erste weiterführende Perspektiven für mögliche Anschlussforschungen zu entwickeln, die auf den in dieser Arbeit gemachten Beobachtungen aufbauen könnten – oder diese verwerfen.

THEORIETEIL

I. Reputation im Literatursystem

I.1 B OURDIEUS K APITALTHEORIE The POWER of a Man, (to take it Universally,) is his present means, to obtain some future apparent Good. And is either Originall, or Instrumentall. Naturall Power, is the eminence of the Faculties of Body, or Mind: as extra-ordinary Strength, Forme, Prudence, Arts, Eloquence, Liberality, Nobility. Instrumentall are those Powers, which acquired by these, or by fortune, are means and Instruments to acquire more: as Riches, Reputation, Friends, and the secret working of God, which men call Good Luck.1 (Thomas Hobbes)

I.1.1 Die Primärkapitalien Die Kapitaltheorie gilt mit Berechtigung neben der Habitus- und der Feldtheorie als einer der Grundpfeiler der gesamten Kultursoziologie Bourdieus. Sie stellt – so viel darf man getrost vorwegnehmen – ein primär machtanalytisches Instrumentarium zur Verfügung, das u.a. eine systematische Zuweisung ungleich verteilter Ressourcen unterschiedlichster Provenienz durch sozialwissenschaftliche Beobachter ermöglichen soll. Soziale Prozesse lassen sich laut Bourdieu nur adäquat beschreiben und erklären, wenn man in Rechnung stellt, dass alle sozialen Praktiken von den Ressourcen durchdrungen werden, über die alle einzelnen Akteure strategisch wie über Spieleinsätze disponieren. Dabei erfasst Bourdieu die unterschiedlichen Ressourcentypen unter dem Oberbegriff des Kapitals, den er zwecks detaillierterer Erfassung vertikaler Differenzierung in mehrere Subkategorien un1

T. Hobbes: Leviathan [1651], S. 48.

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terteilt. Je nach Umfang und Art der Ausstattung mit Kapitalien ergeben sich für die Akteure, wie in einem Gesellschaftsspiel, unterschiedlich geartete Entfaltungsmöglichkeiten: Die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Verteilungsstruktur verschiedener Arten und Unterarten von Kapital entspricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt, d.h. die Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über Erfolgschancen der Praxis entschieden wird.2

Kapital hat also eine Möglichkeiten einschränkende, d.h. kontingenzmindernde Funktion und strukturiert das gesamte Spektrum möglicher sozialer Praxisformen, zu denen neben Kommunikationen in allen Systemtypen auch Verhalten gezählt wird, das weder intentional darauf gerichtet ist, als mitgeteilte Information irgendwie verstanden zu werden, noch als zielgerichteter Kommunikationsversuch aufgefasst wird (z.B. die Wahl der Wohnungseinrichtung oder Essgewohnheiten). Bourdieu bezeichnet die Kapitalien daher auch als „Energie der sozialen Physik“3 bzw. als „soziale Energie“4, also als eine omnipräsente Kraft, ohne die sich nichts im sozialen Universum bewegen würde. Dabei geht er nicht von einer einheitlichen Gesellschaft, sondern von Ausdifferenzierung in partikulare Teilbereiche wie Wissenschaft, Politik, Wirtschaft etc. aus, die als relativ autonome Felder mit eigener Binnenlogik konzipiert werden. Gegenstand dieser Arbeit ist ausschließlich das literarische Feld bzw. die literarische Kommunikation, was allerdings nicht von einer soliden Beherrschung der grundlegenden Begriffe entlastet, die für alle sozialen Felder bzw. Sozialsysteme gelten. Im Gegensatz zur Luhmann’schen Systemtheorie kennt die Soziologie Bourdieus aber keine primäre Differenzierungsform der Gesellschaft. Vielmehr wird die Theorie moderner Gesellschaften bei Bourdieu getragen von der Vorstellung eines theoriearchitektonisch gleichberechtigten Nebeneinanders von Stratifikation und horizontaler Differenzierung. Die Verwendung des Begriffs ‚Kapital‘, der aus dem Traditionsbestand philosophischer Semantik stammt, verweist natürlich auf Karl Marx und den Historischen Materialismus. Allerdings erfährt der Kapitalbegriff im Rahmen des Theorieprojekts Bourdieus über die Einführung zusätzlicher Kapitaltypen einige Neubestimmungen, die insgesamt eine Abkehr von der im Grunde antipluralistischen Ontologie der marxistischen Gnoseologie hin zu einer konstruktivistisch geprägten Epistemologie markieren. Dabei verwendet die Kapitaltheorie eine ganze Reihe von beobachtungsleitenden Unterscheidungen, von denen die zwischen ‚Primär-‘ und ‚Sekundärkapital‘ für diese Arbeit von zentraler Bedeutung ist. Sekundäres symbolisches Kapital liegt immer dann vor, wenn die Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata 2 3 4

P. Bourdieu: „Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital [1983]“, S. 50. P. Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis [1972], S. 357. P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede [1979], S. 194.

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psychischer Systeme bei der Kapitalbildung in Anspruch genommen werden. Am deutlichsten drückt sich die Abkehr von der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie darin aus, dass Bourdieu jegliche Reduktion der Wahrnehmungsleistung involvierter Bewusstseinssysteme auf die optomechanische Widerspiegelung der objektiven Realität in den Empfindungen der Subjekte, wie sie Lenin vorschwebte, kategorisch ablehnt.5 Die Inanspruchnahme von Wahrnehmung kann immer zu völlig unterschiedlichen Resultaten führen, auch dann, wenn das gleiche Erkenntnisobjekt beobachtet wird. Allerdings geht der Konstruktivist Bourdieu davon aus, dass Wahrnehmung auch über ansozialisierte mentale Schemata abgewickelt wird und insofern sozial vorstrukturiert ist. Verbunden wird dies mit der Vermutung, dass sämtliche Wahrnehmungsvorgänge bei aller Individualität auch eine mehr oder minder deutlich ausgeprägte Milieuspezifik aufweisen. Der Unmöglichkeit des direkten Zugriffs auf psychische Prozesse wird mit statistischen Verfahren begegnet, die eine Validierung dieser Hypothese erbringen sollen. Der Einbezug von Perzeptionen, die sowohl kulturell überformt sind als auch Raum für Idiosynkrasien lassen, macht sekundäres symbolisches Kapital zu einer vergleichsweise komplexen begrifflichen Kategorie. Da soziale Systeme und insbesondere literarische Kommunikation aber immer konstitutiv auf die Wahrnehmungen der psychischen Systeme in ihren Bewusstseinsumwelten angewiesen sind, bietet die Kategorie sekundären symbolischen Kapitals von allen Kapitalsorten die besten Voraussetzungen dafür, kapitaltheoretische Erkenntnisse in einen kritischen Dialog mit der systemtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft zu bringen. Sekundäres symbolisches Kapital kann aber, wie sich zeigen wird, nicht isoliert von den übrigen Kapitalsorten betrachtet werden. Wenden wir uns daher zunächst den Primärkapitalien zu, die in Bourdieus Soziologie als ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital firmieren.6 I.1.2 Ökonomisches Kapital Eigentum. Eine der Grundlagen der Gesellschaft. – Heiliger als die Religion.7 (Gustave Flaubert) Money, n. A blessing that is of no advantage to us excepting when we part with it.

5

6

7

Siehe V.I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus [1909], S. 360. Vgl. auch S. 176 sowie das gesamte Kap. II, S. 125-177. Bourdieu spricht gelegentlich noch von weiteren Kapitalsorten wie z.B. staatlichem, physischem oder technologischem Kapital. Da diese jedoch für den Literaturbetrieb kaum Relevanz haben, gehen wir nicht näher auf sie ein. G. Flaubert: Das Wörterbuch der übernommenen Ideen [1913], S. 34.

20 | W ERTVOLLE W ERKE An evidence of culture and a passport to polite society. Supportable property.8 (Ambrose Bierce)

Bekanntlich hatte Karl Marx ab Mitte des 19. Jahrhunderts, getrieben von der beispiellosen Not der Arbeiterschaft in den Slums des bereits hochindustrialisierten Großbritannien, die Sphäre des Materiellen bzw. Ökonomischen als die alles überstrahlende Quelle gesellschaftlicher Determination in entwickelten Marktgesellschaften ausgemacht. Entscheidende Eckpfeiler der Marx’schen Theorie sind der Besitz von Produktionsmitteln sowie das Theorem der Kapitalakkumulation, in dem davon ausgegangen wird, dass Kapital Arbeit in Gestalt von Geld oder materiellen Gütern repräsentiert und überdies in dieser konservierten Form angesammelt und vermehrt werden kann. Zwar wird dem Besitz von Produktionsmitteln in Bourdieus Kapitaltheorie keine zentrale Position mehr eingeräumt (es stellt nur eine gleichberechtigte Form des juridisch garantierten Eigentums neben übrigem materiellem Besitz dar), wohl aber übernimmt Bourdieu die von Marx popularisierte, aber schon etwa in Thomas Hobbes’ eingangs zitierter Machtanalytik deutlich hervortretende Akkumulationslogik und den damit eng verbundenen Begriff der (finanziellen, zeitlichen usw.) Investition. Der Umstand, dass diese immanente Logik der Vermehrung auch für alle anderen Kapitalsorten Gültigkeit beansprucht, verweist darauf, dass das natürlich auf die Ebene der vertikalen Differenzierung rekurrierende Dual ‚mehr/weniger Ressourcen‘ als Leitdifferenz der gesamten Kapitaltheorie zu betrachten ist. Ökonomisches Kapital im engeren Sinne umfasst alle materiellen Besitzstände eines Akteurs und ist objektiv messbar und vergleichbar. Offensichtlich limitiert der Umfang des ökonomischen Kapitals den Horizont der jeweils aktualisierbaren sozialen Praktiken und wirkt insofern kontingenzmindernd, als manche Spielzüge mangels materieller Reserven ziemlich unwahrscheinlich oder gar unmöglich werden. Die Leitunterscheidung des ökonomischen Kapitals ließe sich dementsprechend als ‚mehr/weniger Eigentum besitzend‘ bestimmen. Bourdieu betont immer wieder, ökonomisches Kapital sei gesamtgesellschaftlich die tonangebende und am effektivsten einsetzbare Kapitalsorte. Das Marx’sche Primat der Ökonomie hält er aber in seiner wirtschaftszentrierten Radikalität für nicht mehr ausreichend komplex, um auch die Effekte horizontaler Differenzierung sozialtheoretisch adäquat modellieren zu können, u.a. auch deshalb, weil er nicht nur von der Möglichkeit materieller, sondern auch symbolischer Profite ausgeht, die sich nicht direkt in Geld oder Besitztümern ausdrücken lassen. Ökonomisches Kapital als einzige Kapitalressource zuzulassen, käme einer unzulässigen Verkürzung gesellschaftlicher Austauschbeziehungen auf deren rein dinglich-materielle Dimension gleich, auch wenn man akzeptiert, dass

8

A. Bierce: The Devil’s Dictionary [1911], S. 93.

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diese über die größte Durchschlagskraft aller Formen ‚sozialer Energie‘ auf der Ebene gesellschaftlicher Praxis verfügt. I.1.3 Kulturelles Kapital Ihr habt es getroffen, Kavalier! Man müßte Gesetze erlassen, zum Schutz der erworbenen Kenntnisse. Nehmt da zum Beispiel einen unserer guten Schüler, bescheiden, beflissen, der von seinen ersten Grammatikstunden an sein Heftchen mit Redewendungen angelegt hat. Der zwanzig Jahre an den Lippen seiner Professoren hängend sich schließlich eine kleine Barschaft von Geist zusammengespart hat: gehört sie ihm nicht, als wäre sie sein Haus und sein Vermögen?9 (Paul Claudel)

Um eine Engführung auf rein geldwerte Nutzenmaximierung zu umgehen, plädiert Bourdieu für eine strikte Trennung zwischen ökonomischem Kapital und anderen, nichtmateriellen Kapitalformen, die andere Leitunterscheidungen ins Feld führen sowie andere Profite versprechen. Die neben dem ökonomischen Kapital wichtigste Kapitalform sieht Bourdieu dabei in den Wissensbeständen und kulturellen Kompetenzen, über die soziale Akteure disponieren, womit sein Ansatz in eine nicht unbeträchtliche Nähe zur wirtschaftswissenschaftlichen Humankapitaltheorie gerät.10 Wohl nichts macht die kapitalähnliche Verwertbarkeit angesammelter kultureller Wissensbestände, von der etwa Thomas Hobbes, wie sich in seiner lediglich auf die ‚natürliche‘ Intelligenz (bzw. ‚Faculty of Mind‘) abhebenden Machttypologie zeigt, noch keinen Begriff hatte, deutlicher als die Notengebung im Bildungs- und Erziehungssystem, die einen schnellen und effizienten Vergleich zwischen den Eigentümern kulturellen Wissens etwa bei Bewerbungsverfahren gewährleisten soll. Daher optiert Bourdieu dafür, auch auf Bildungszuwächse abzielende Investitionen als Kapitalform zu betrachten, nämlich als kulturelles Kapital, das in mehreren Unterformen vorliegen kann und ebenfalls das Spektrum möglicher Praktiken beschränkt.

9 10

P. Claudel: Der seidene Schuh [1929], S. 205. Angesichts dieser konzeptionellen Verwandtschaft ist es einigermaßen irritierend, wenn Bourdieu unablässig in Bezug auf die Wirtschaftswissenschaften den Vorwurf des ‚Ökonomismus‘ wiederholt, stammt doch die Humankapitaltheorie, auf die er selber zurückgreift, gerade aus diesem Fachbereich.

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Das individuelle Verfügen über Kulturgüter im Sinne eines „juristische[n] Eigentum[s]“11, also der materielle Besitz etwa von Gemälden, Statuen oder großformatigen Fotobänden, Enzyklopädien, naturwissenschaftlichen Fachbüchern etc. bevor diese individuell angeeignet, genossen oder auf irgendeine andere Art und Weise rezipiert worden sind, bezeichnet Bourdieu als objektiviertes Kulturkapital. Natürlich handelt es sich beim Besitz einer Gemäldegalerie auch um ökonomisches Kapital, aber im Gegensatz etwa zu einem Haufen Goldbarren oder einer Aktentasche voller Dollarnoten, die nur ökonomisches Kapital sind, harrt das objektivierte Kulturkapital immer eines (wie auch immer gearteten) kognitiven Zugangs seitens potenzieller Rezipienten und der ihnen zur Verfügung stehenden Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata. Indem objektiviertes Kulturkapital von rein ökonomischem Kapital unterschieden wird, gewinnt Bourdieu eine analytische Kategorie, die es gestattet, den in einem engeren Sinne kulturell relevanten Besitz eines Akteurs unabhängig von seinen rein finanziellen Ressourcen in den Blick zu nehmen.12 Außerdem ermöglicht diese analytische Trennung eine differenziertere Sichtweise auf ökonomisches Kapital, das bisweilen eben rein materiell verwertbar ist, aber gelegentlich auch die Möglichkeit der kognitiven Bearbeitung eröffnet und so die Ansammlung anderer, nichtmaterieller Primärkapitalformen – etwa Wissen – überhaupt erst erlaubt. Objektiviertes Kulturkapital hat, wie auch ökonomisches Kapital, den Vorteil leichterer Handhabung; so kann es etwa durch Schenkung oder Vererbung schnell und effizient auf andere Akteure übertragen werden. Diese Erleichterung gilt jedoch nicht für die beiden übrigen Unterklassen kulturellen Kapitals, die insofern nicht objektiviert sind, als sie weder in Geld beziffert werden können noch in materieller Gestalt auftreten. Nicht objektiviertes Kulturkapital wird als körpergebundene Kapitalform konzipiert und erfordert immer eine individuelle kognitive Anstrengung seines zukünftigen Eigentümers. Kulturelles Kapital nimmt also in dieser Form einen gänzlich anderen Aggregatzustand an, da kulturelle Fertigkeiten in Gestalt kognitiver Schemata der Wahrnehmung, Beurteilung, Interpretation usw. erst über Lernen internalisiert und so „zu einem festen Bestandteil der Person“13 gemacht werden müssen. Erst nach erfolgreichem Lernen kann kulturelle Kompetenz als dauerhafter geistiger Besitzstand in Handlungssituationen überhaupt soziale Bedeutung als kommunikationsbegleitende psychische

P. Bourdieu: „Die drei Formen des kulturellen Kapitals [1979]“, S. 117. Wir widersprechen damit ausdrücklich der Sichtweise Markus Schwingels, der mit Blick auf das objektivierte Kulturkapital moniert, dass das Differenzkriterium, welches das „spezifisch kulturelle vom ökonomischen Kapital scheide [...] nicht so deutlich zu erkennen“ sei. (M. Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung, S. 86.) Objektiviertes Kulturkapital ist immer auch ökonomisches Kapital, das Spezifikum objektivierten Kulturkapitals besteht aber unserer Auffassung nach in seiner Offenheit für eine zeit- und sinnintensive Rezeption. 13 P. Bourdieu: „Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital [1983]“, S. 56. 11 12

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Größe erlangen, die im Bedarfsfall abgerufen werden kann, z.B. bei der Interpretation expressionistischer Lyrik, beim Erkennen von Bauhaus-Architektur oder bei der Berechnung von Zins und Zinseszins. Von der erleichternden Voraussetzung einer bildungsfreundlichen Sozialisation im Kindesalter einmal abgesehen, kommt der Verausgabe zeitlicher Kontingente bei der Akkumulation nichtobjektivierten Kulturkapitals eine entscheidende Bedeutung zu: „Die ‚Währung‘, mit der für die Verinnerlichung kulturellen Kapitals bezahlt wird, besteht [...] primär [...] in Zeit, genauer: in der Zeit, die zum Lernen und Aneignen von kulturellen Fertigkeiten notwendig ist.“14 Der Lernprozess der Verinnerlichung, den Bourdieu auch immer wieder mit Begriffen wie ‚Einverleibung‘ oder ‚Inkorporierung‘ belegt, führt dazu, dass das nichtobjektivierte Kulturkapital zu einer permanent verfügbaren Ressource wird, die allmählich in Fleisch und Blut übergeht und sich „dauerhaft in den Dispositionen des Organismus“15 festsetzt. Auffallend an dieser Semantik ist vor allem die enge Relation zwischen Wissen, Zeit und Körper, die stark an Foucaults genealogischen Machtbegriff und seine wissenssoziologische Konzeption einer engen Verschränkung von „Leib und Geschichte“16 erinnert. Genau geklärt hat Bourdieu das Verhältnis zwischen im Bewusstsein aktualisiertem Wissen und unbewussten, im Somatischen wurzelnden mentalen Schemata, also dem inkorporierten Kulturkapital, jedoch nicht, jedenfalls nicht im systemtheoretischen Sinne einer klaren Grenzziehung zwischen organischen und psychischen Systemen. Vielleicht wäre es deshalb angemessen, die unbewussten mentalen Schemata des inkorporierten Kulturkapitals als Form der relativ dauerhaften und unbemerkt sich vollziehenden strukturellen Kopplung zwischen Körper und Bewusstsein zu begreifen, da diese Schemata einerseits den Körper als organismisches Speichermedium verwenden und andererseits vom Bewusstsein bei der Formung von Gedanken im Medium des Sinns in Beschlag genommen werden, ohne jedoch selbst zu Komponenten psychischer Systeme oder gar zu Organen zu avancieren. Mentale Schemata regeln also die Systembeziehungen zwischen zwei Systemtypen, die als notwendige Umweltkomponenten für die Emergenz sozialer Systeme unverzichtbare psychophysische Beiträge leisten und von Bourdieu in die soziologische Theoriebildung einbezogen werden, während sie in Luhmanns Systemtheorie bloß eine Randstellung einnehmen und letztlich der Psychologie zugeschlagen werden. Die dritte Unterform kulturellen Kapitals ist an bestimmte Leistungen von Organisationen des Bildungs- und Erziehungssystems gebunden und lässt sich am besten an Hand ihrer Relation zum inkorporierten Kulturkapital darstellen. Der Erwerb von Wissen und Kulturtechniken setzt als Prozess geistiger Aneignung gehörige Zeitinvestitionen voraus, die sich an der Länge der Bildungsgänge ablesen lassen. Von schulischen und universi-

P. Bourdieu: „Die drei Formen des kulturellen Kapitals [1979]“, S. 114. P. Bourdieu: „Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital [1983]“, S. 53. 16 M. Foucault: Von der Subversion des Wissens [1974], S. 75. 14 15

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tären Institutionen über regulierende Prozeduren der Wissenskontrolle verliehene und garantierte Bildungstitel sind nun ihrerseits der Maßstab für den Umfang des institutionalisierten Kulturkapitals, über das ein Akteur verfügt, und das ohne den vorherigen Erwerb inkorporierten Kulturkapitals unerreichbar bleibt (wenn man einmal von korruptem Verhalten im Bildungssystem absieht). Schulischen, beruflichen und universitären Titeln kommt dabei über die Anwendung geregelter Verfahren ein Legitimierungseffekt zu und führt tendenziell zur allgemeinen Anerkennung der im psychophysischen Unterbau der Akteure verborgenen, auf die Schnelle nicht überprüfbaren kulturellen Kompetenz. Systemtheoretisch gesprochen führen die Institutionalisierungsakte des Bildungs- und Erziehungssystems also zu einer Generalisierung von Verhaltenserwartungen, die kulturelle Fertigkeiten betreffen. Wer ein bestimmtes Bildungsprädikat zu führen berechtigt ist, von dem erwartet man abstrakt eine entsprechende Sachverständigkeit, auch bei Nichtvorhandensein persönlicher Erfahrungen mit der betreffenden Person. Insofern wirkt institutionalisiertes Kulturkapital also auf der kommunikativen Ebene kontingenzmindernd, indem es die rollenbezogene Erwartungsbildung anregt, die sich mit Vorstellungen der jeweiligen kulturellen Fähigkeiten etwa von Abiturienten, Doktoranden oder Hauptschulabsolventen verbindet. Diesen überindividuellen Mechanismus der Generalisierung von Erwartungen erfasst Bourdieu mit dem Begriff der ‚Konsekration‘ bzw. der ‚kulturellen Weihe‘. Je größer der Grad der Konsekration ist, der einem Bildungstitel entgegengebracht wird, desto eher lassen sich Bildungsressourcen in materielle Profite ummünzen, vor allem durch die Möglichkeit der Bewerbung auf Arbeitsstellen, deren Dotierung an entsprechende Erwartungen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit geknüpft ist. Institutionalisiertes Kulturkapital lässt sich also in ökonomisches Kapital umwandeln und erlaubt, über verallgemeinerte bildungstitelspezifische Rollenerwartungen den hypothetischen „‚Wechselkurs‘ [zu] ermitteln, der die Konvertibilität zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital garantiert.“17 Darüber hinaus erhöht die Verfügung über institutionalisiertes Kulturkapital die Wahrscheinlichkeit der Annahme von Praxisformen bzw. Äußerungsakten, die sich auf das zugehörige Fachgebiet beziehen, es sei denn, die Autorität der verleihenden Institution wird in Zweifel gezogen und führt zur Befürchtung möglicher Inkompetenz.18 Im Gegensatz zu diesen kulturell Geweihten steht der Autodidakt, der keinen Bildungstitel innehat und permanent unter dem Zwang steht, die Adäquatheit seines Wissens unter Beweis zu stellen. Darü-

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P. Bourdieu: „Die drei Formen des kulturellen Kapitals [1979]“, S. 117. Das zunehmende Misstrauen vieler Ausbildungsbetriebe in die schulischen Bildungstitel hat z.B. in den letzten Jahren vielfach zur Einführung rein am Output orientierter Eignungstests im Wirtschaftssystem geführt, die schließlich seitens des Bildungs- und Erziehungssystems etwa in Nordrhein-Westfalen mit der Einführung teilzentraler Abschlussprüfungen und dem Zentralabitur für das Schuljahr 2006/07 gekontert wurden.

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ber hinaus sind ihm bestimmte Karrierechancen – etwa im Schuldienst – von vornherein verbaut, auch wenn seine kulturelle Kompetenz genauso groß oder sogar noch größer sein mag als die seiner Widersacher mit institutionell abgesichertem Kulturkapital. Da aber der Titel des Schriftstellers gesetzlich nicht geschützt ist, steht dem Autodidakten der Versuch der Teilhabe am Literaturbetrieb auch als Produzent durchaus offen. Bezüglich des kulturellen Kapitals differenziert Bourdieu also auf der Grundlage der Leitdifferenz ‚mehr/weniger gebildet‘ objektiviertes von „eng an die Person gebundene[m]“19 inkorporiertem Kulturkapital, das seinerseits durch bildungsspezifische Institutionalisierungsakte symbolisch geweiht werden kann und so zu einer Generalisierung von Verhaltenserwartungen mit der Gefahr der Enttäuschung führt. Kulturkapital kann in dinglicher Form als kulturelles Artefakt vorliegen, z.B. als Buch, Gemälde oder Plastik. Von gesellschaftlichem Wert ist aber auch rein körpergebundene Kulturkompetenz, insbesondere dann, wenn sie von den Organisationen des Erziehungssystems garantiert wird. Die scheinbare Verabsolutierung mentaler Strukturen durch die Rede von einem verinnerlichten Kulturkapital ruft, wie Bourdieu auch selbst konzediert, zunächst einen „etwas apodiktische[n] Eindruck“20 hervor und bringt natürlich den Verdacht einer aus konstruktivistischer Sichtweise unzulässigen Ontologisierung mit sich. Auf den ersten Blick entsteht durch die Verwendung des Kapitalbegriffs der Eindruck, als wäre es möglich, die Qualität und Quantität leibgewordener Strukturen von einem privilegierten archimedischen Punkt aus objektiv bestimmen und als absoluten Wert angeben zu können – ganz so, als handele es sich um ein Bündel Banknoten. Es ist aber eine Binsenweisheit, dass sich internalisiertes Wissen nicht in metrischen Kategorien beobachten lässt und sich direktem Zugriff durch andere psychische Systeme ohnehin entzieht. Erst in der konkreten, d.h. primär kommunikativen Praxis kann sich die genuin soziale Effektivität inkorporierter Kapitalressourcen performativ bekunden, die ansonsten gar nicht den Status sozial relevanter Phänomene erlangen würden und lediglich die Kognitionswissenschaft zum Beobachten neuronaler Netzwerke anreizen könnten. Es geht Bourdieu beim Kulturkapital aber nicht um eine mehr oder minder spekulative Rekonstruktion etwa der philosophischen Weltanschauung eines Akteurs im idealistischen Stil der Geistesgeschichte, sondern um objektiv messbare Daten, die sich aus dem materiellen Besitz an Kulturgütern, den Bildungstiteln und der Zeit, die in den Aufbau kultureller Kompetenz werden konnte, gewinnen lassen. So lässt sich der Besitz kultureller Artefakte offensichtlich leicht über Eigentumsverhältnisse feststellen. Der Erwerb von Bildungstiteln und Berufsbezeichnungen setzt immer auf Schriftlichkeit basierende und damit beobachtbare Institutionalisierungsakte voraus, z.B. das Ausstellen von Diplomen, Zeugnissen usw. Dabei sind die Bildungsprädikate wie Banknoten in eine stren-

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P. Bourdieu: „Die drei Formen des kulturellen Kapitals [1979]“, S. 114, Fn. 3. P. Bourdieu: „Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital [1983]“, S. 53.

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ge, wenngleich längerfristig veränderbare Wertigkeitshierarchie eingebunden, die es gestattet, „die Besitzer derartiger Titel zu vergleichen“.21 Zeitinvestitionen wiederum lassen sich an den Bildungsgängen, der Dauer des Studiums, der Dauer der Ausbildung, dem Beginn der Berufstätigkeit etc. objektiv ablesen. Kurz gesagt: Es geht Bourdieu darum, die Kulturkapitalreserven der Akteure im „empirisch einigermaßen Faßbaren“22 zu verorten. Die Verwendung des Kapitalbegriffs im Hinblick auf inkorporierte Wissensressourcen ist daher nicht in einem bloß metaphorischen Sinne zu verstehen, sondern als konzeptionelle Grundlage zur theoriegeleiteten Anwendung statistischer Verfahren im Rahmen der Sozioanalyse etwa auch literarischer Kommunikation. Und gerade diese empirische Fundierung macht die vielleicht größte Stärke der Theorie des literarischen Feldes aus, von der sich auch die systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaft irritieren lassen sollte, sofern sie ein ehrliches Interesse am Abschütteln des ihr immer wieder entgegengebrachten Elfenbeinturmverdachts aufzubringen vermag. I.1.4 Soziales Kapital To have friends, is Power: for they are strengths united.23 (Thomas Hobbes) Nullius boni sine socio iucunda possessio est.24 (Lucius Annaeus Seneca)

Bourdieu hält also, wie wir gesehen haben, neben materiellen Reserven auch kulturelle Fertigkeiten für einen unverzichtbaren Parameter der Sozioanalyse. Er belässt es aber nicht bei diesen beiden Primärkapitalformen, da er dem interpersonalen Beziehungsgeflecht, das einzelne Akteure und Gruppen von Akteuren miteinander in Verbindung bringt, ebenfalls hohe soziologische Erklärungskraft beimisst. Um diese gleichsam intersubjektive Dimension gesellschaftlicher Wirklichkeit theoretisch zu erfassen, konstruiert er eine weitere Kapitalart, die er als soziales Kapital bezeichnet und folgendermaßen definiert: Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders

P. Bourdieu: „Die drei Formen des kulturellen Kapitals [1979]“, S. 117. M. Zens: „Soziologie der symbolischen Formen und literarisches Feld“, S. 232. 23 T. Hobbes: Leviathan [1651], S. 48. 24 L.A. Seneca: Ad Lucilium Epistulae Morales I-LXIX [62-64], S. 30f. 21 22

R EPUTATION IM L ITERATURSYSTEM | 27 ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.25

Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren sind also das hervorstechende Charakteristikum sozialen Kapitals, weshalb Bourdieu bisweilen auch vom Beziehungskapital spricht. Bourdieus Konzeption sieht dabei vor, dass sich interpersonale Beziehungen netzwerkartig über die psychische Anerkennung konstituieren, die sich Alter und Ego wechselseitig entgegenbringen. Damit wird erneut auf die Bewusstseinsumwelten sozialer Systeme rekurriert, diesmal allerdings auf eine zirkuläre Weise, die durchaus an Luhmanns Theorem der doppelten Kontingenz denken lässt, ohne dass allerdings die Erwartungserwartungen in Anspruch nehmende Systembildung im Vordergrund stünde. Soziales Kapital liegt – bei offensichtlich wechselnden Graden der Institutionalisierung – nur dann vor, wenn Alter und Ego gleichermaßen ihr Gegenüber akzeptieren. Insofern handelt es sich beim sozialen Kapital – im Kontrast zu den beiden übrigen Primärkapitalformen, die „individuell akkumuliert werden können“26 –, um eine über den Horizont singulärer psychischer Systeme und ihrer Organismen hinausgehende Kategorie. Natürlich bleibt diese Anerkennung als psychische Tatsache für äußere Beobachtungen unerreichbar, nur in den tatsächlich vollzogenen Kommunikationen lassen sich also die Spuren auffinden, die diese Kapitalform hinterlässt. Insofern handelt es sich beim sozialen Kapital nicht um ein deskriptives, sondern um ein heuristisch-explanatives Analyseinstrument zur Aufdeckung sozial relevanter Tiefenstrukturen. Geht man vom Begriff der Institutionalisierung von Beziehungen aus, der auf die Organisationsform der durch gegenseitige Achtung konstituierten, latenten Beziehungen zwischen Akteuren abhebt, ruft das unweigerlich die Kategorie der sozialen Gruppe auf den Plan. Es gibt einerseits Gruppen, bei denen die internen Beziehungen eher informellen, impliziten Charakters sind und sozusagen auf ungeschriebenen Gesetzen sowie auf affektiven Regungen bzw. „subjektive[n] Gefühlen“27 beruhen, wie etwa im Falle von Freundschaften, Bekanntschaften, Cliquen, Freundeskreisen oder den in der Literatur des bürgerlichen Zeitalters so beliebten Salons. Dem stehen die Gruppen gegenüber, bei denen die internen Beziehungen einen hohen Organisationsgrad aufweisen, was sich darin ausdrückt, dass die Regelung der Beziehungen weitestgehend auf Schriftlichkeit beruht, z.B. im Falle von Parteien, Schulen, Verbänden, Vereinen, Clubs etc. mit ihren formalen Satzungen, Statuten usw. Hinzu kommen noch die Mischformen wie z.B. Familie und Ehe bzw. eingetragene Lebensgemeinschaften, deren innere Verfasstheit sowohl auf stillschweigenden Übereinkünften und geteilten Überzeugungen als auch auf expliziten rechtlichen Garantien und Regelun-

P. Bourdieu: „Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital [1983]“, S. 63. S. Albrecht: „Netzwerke als Kapital“, S. 204. 27 P. Bourdieu: „Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital [1983]“, S. 65. 25 26

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gen wie etwa der Übernahme des Familiennamens, dem Abschluss von Eheverträgen, dem Besuchsrecht usw. beruht bzw. die einen ausgeprägten juridischen Schutz genießen. Praxisvollzüge wie eben die Annahme eines gemeinsamen Familiennamens, der Erwerb eines Parteibuchs oder die Mitgliedschaft in einem Club, die die Zugehörigkeit eines Akteurs zu einer bestimmten Gruppe äußerlich kenntlich machen, wertet Bourdieu als Institutionalisierungsakte. Diese haben die Funktion, ein Sozialkapitalverhältnis gesellschaftlich zu garantieren und sollen andere Akteure „über das Vorliegen eines Sozialkapitalverhältnisses informieren.“28 Gewissermaßen wird das an sich unsichtbare Beziehungskapital durch solche kommunikativen Institutionalisierungsakte in eine spontan beobachtbare und damit manifeste, allgemein verständliche Form gebracht. Für Bourdieu erhält es dadurch gar „eine quasi-reale Existenz“.29 Der Funktion des Sozialkapitals ist nun aber nicht in der Beziehung an sich zu sehen, sondern in der Möglichkeit der Aktualisierung virtueller Ressourcen, die nur aufgrund dieser Beziehungen überhaupt erst disponibel werden. Gemeint ist damit die verlockende Aussicht auf ein Anzapfen des Kapitalvolumens und der dahinter verborgenen Kompetenzen derjenigen Akteure, mit denen eine freundschaftliche Verbindung besteht. Gegenseitiges Kennen und Anerkennen eröffnet also den Zugriff auf neue, außerhalb des Selbst liegende Machtmittel, die man dann, wie sich schon bei Hobbes’ Machttypologie durch die Wortwahl abzeichnet, für seine eigenen Ziele instrumentalisieren kann: Der Umfang des Sozialkapitals, das der einzelne besitzt, hängt demnach sowohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab, die er tatsächlich mobilisieren kann, als auch vom Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht.30

Solche Ressourcen können in günstigen Darlehen bestehen (ökonomisches Kapital), in Ratschlägen bzw. der Weitergabe von Informationen (kulturelles Kapital) sowie im Herstellen von Kontakten zu Dritten (soziales Kapital). Die Erleichterung des Zugriffs auf die Kapitalreserven derjenigen Akteure, mit denen man eine Sozialkapitalbeziehung unterhält, umschreibt Bourdieu auch mit dem Begriff der ‚Kreditwürdigkeit‘. Sie ruft eine Art Katalysatoreffekt hervor und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Akteure in konkrete ökonomische oder kulturelle Austauschbeziehungen treten. Nun wird das Beziehungsnetz eines Akteurs von Bourdieu weder als „soziale ‚Gegebenheit‘“ konzipiert, noch wird davon ausgegangen, dass es lediglich „aufgrund eines ursprünglichen Institutionalisierungsaktes ein für allemal fortbesteht“.31 Die Beziehungen zwischen den sozialen Akteuren, Ebd., S. 64. Ebd., S. 64. 30 Ebd., S. 64. 31 Ebd., S. 65. 28 29

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gegenseitige Anerkennung, Respekt und auch Affektivität sind nichts Gottgegebenes. Sie müssen – intentional oder unbewusst – aufgebaut bzw. als Beziehungskapital akkumuliert werden. Sozialkapitalverhältnisse „sind das Produkt einer fortlaufenden Institutionalisierungsarbeit. [...] Diese Institutionalisierungsarbeit ist notwendig für die Produktion und Reproduktion der dauerhaften und nützlichen Verbindungen, die Zugang zu materiellen oder symbolischen Profiten verschaffen“ und „früher oder später einen unmittelbaren Nutzen versprechen.“32 Bei wahrgenommenem Bestehen einer Sozialkapitalbeziehung ist also mit dem Aufbau psychischer Erwartungen zu rechnen, die auf Eigennutz und Reziprozität hinauslaufen und natürlich auch ein Enttäuschungsrisiko für den Fall mit sich bringen, dass sich Prognosen nicht erfüllen, die sich auf das zukünftige Verhalten anderer Akteure beziehen.33 Insofern muss man Sozialkapital als ungewisse Ressource begreifen, die sich deutlich in der Handhabung vom wesentlich leichter zu kalkulierenden ökonomischem Kapital unterscheidet. Wirklich sicher kann man sich seiner Freundschaft wohl nur sein, wenn es dem anderen dreckiger geht als einem selbst – a friend in need is a friend indeed. Und überdies können sich solche Allianzen natürlich auch wieder verflüchtigen: Partnerschaft und Freundschaft ebenso wie komplexere Beziehungsnetze verlangen nach Pflege; wer seine Beziehungen vernachlässigt, muss mit Gunst- und Liebesentzug rechnen und als Konsequenz auf die Kapitalressourcen der ehemaligen Freunde verzichten. Typische Beispiele für Austauschpraktiken, die zur Institutionalisierungsarbeit kontribuieren, sieht Bourdieu in der verbalen Kommunikation unter Anwesenden, aber auch im gegenseitigen Beschenken. Daran wird deutlich, dass es Bourdieu sowohl um die materiellen als auch um die symbolischen Aspekte solcher auf Beziehungskapitalakkumulation abzielenden Praxisformen geht. Offensichtlich ist die Bedeutung der symbolischen Ebene in puncto sprachlicher Kommunikation, aber auch die Gabe von Geschenken hat neben ihrer materiellen Seite eine auch zeichenhafte Bedeutung als Gunstbezeugung und dient potenziell der Festigung der Beziehung und der damit verbundenen Verpflichtungen. Irgend ein Geschenk wird von Alter ausgewählt (Selektion einer Information), das Geschenk wird auf eine bestimmte Weise überbracht oder überreicht (Selektion einer Mitteilungsform) um dann von Ego als hinreichender oder unzulänglicher Versuch der Bestätigung eines Sozialkapitalverhältnisses aufgefasst werden zu können (Verstehensselektion). Beim Schenken übernimmt das verschenkte Objekt sozusagen die Aufgabe des Signifikanten, das dahinter oszillierende Signifikat ist dann Gegenstand individueller Decodierung durch die beteiligten Psychen, bei der es um die Deutung der Intensität einer Beziehung geht und bei der sicherlich ökonomischer Wert, aber auch individuelle Aspekte der Auswahl des verschenkten Objekts eine Rolle spielen, wie etwa die Ein-

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Ebd., S. 65. Siehe S. Albrecht: „Netzwerke als Kapital“, S. 207.

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schätzung der Interessengebiete und Neigungen des Beschenkten, dessen Geschmack, Sinn für Exklusivität, Präferenz für bestimmte Themen etc. Auf der symbolischen Ebene werden so „die ausgetauschten Dinge zu Zeichen der Anerkennung.“34 Die materielle Komponente solcher auf Herstellung oder Bewahrung von Sozialkapitalbeziehungen ausgerichteten Kommunikationsversuche, die immer mit dem symbolischen Aspekt einhergeht, bezeichnet Bourdieu im Kontrast zur Institutionalisierungsarbeit als Beziehungsarbeit: „Bei der Beziehungsarbeit wird Zeit und Geld und damit, direkt oder indirekt, auch ökonomisches Kapital verausgabt.“35 Die Funktion der Beziehungsarbeit ist aber im Prinzip die gleiche wie bei der Institutionalisierungsarbeit: „Für die Reproduktion von Sozialkapital ist eine unaufhörliche Beziehungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten erforderlich, durch die sich die gegenseitige Anerkennung immer wieder neu bestätigt.“36 Damit bezeugt sich die Erweiterung des marxistischen Kapitalbegriffs auch auf der Ebene der Arbeitstheorie und schreibt sich solchermaßen in die Semantik der Kapitaltheorie Bourdieus ein. Gleichzeitig, so eine Selbstbeobachtung der Kapitaltheorie, versetzt die Unterscheidung zwischen Institutionalisierungs- und Beziehungsarbeit wissenschaftliche Beobachter in die Lage, soziale Praktiken differenziert zu betrachten, sodass man weder dem für die symbolische Sphäre unempfänglichen „Ökonomismus“ der Wirtschaftswissenschaften noch dem einseitig zeichen- und bedeutungsversessenen „Semiologismus“37 etwa des Strukturalismus oder auch des symbolischen Interaktionismus zu verfallen droht. Dispositionelle Grundvoraussetzung für den individuellen Erwerb von Sozialkapital ist ein gewisses Händchen bzw. Fingerspitzengefühl, oder, in Bourdieus Diktion, „eine besondere Kompetenz – nämlich die Kenntnis genealogischer Zusammenhänge und reeller Beziehungen sowie die Kunst, sie zu nutzen [...] Sie ist ebenso fester Bestandteil des Sozialkapitals, wie die (erworbene) Bereitschaft, sich diese Kompetenz anzueignen und zu bewahren.“38 Zum Sozialkapital werden also nicht nur der praxisförmige Aufbau und die Aktualisierung latenter Beziehungsnetze gezählt, sondern auch das alltagspraktische „Beziehungstalent“39, also die für den Latenzbereich maßgebliche Fertigkeit, solche Verbindungen überhaupt aufbauen und unterhalten zu können. Natürlich kann eine durch Sozialkapitalbeziehungen zusammengehaltene Gruppe nur dann eine gewisse innere Stabilität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wenn „das Anerkennen eines Minimums von ‚objektiver‘ Homogenität unter den Beteiligten“40 gewährleistet ist, wenn sie also über eine ver-

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P. Bourdieu: „Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital [1983]“, S. 66. Ebd., S. 67. Ebd., S. 67. Ebd., S. 71. Ebd., S. 67. Ebd., S. 77, Fn. 17. Ebd., S. 64.

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teilungsstrukturell einigermaßen vergleichbare Ausstattung an ökonomischem und kulturellem Kapital verfügen. Aber auch die gemeinsamen Werte, auf denen sich Gruppenidentitäten gründen, sind nichts Immerwährendes, sondern eine dynamische Größe und keineswegs nur auf gruppeninterne Gleichgesinntheit und Konformität ausgelegt. Sie sind Gegenstand innerer Auseinandersetzungen und unterliegen somit einem ständigen, mal mehr, mal weniger ausgeprägten Wandel. Modifiziert sich das eine Gruppe einigende Wertegefüge, kann sich der verfügbare Vorrat an Selbstbeschreibungen relativ schnell beträchtlich verändern. Als Folge solcher Identitätsverwerfungen ergibt sich, dass die Gruppengrenzen verschoben werden. Einzelne Akteure etwa verlassen die Gruppe, andere werden neu aufgenommen. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass Gruppen die Totalität ihrer Sozialkapitalreserven auf wenige oder sogar nur eins ihrer Mitglieder vereinigen – insbesondere dann, wenn dies scheinbar der Durchsetzung gemeinsam geteilter Interessen dient. In solchen Fällen, in denen es zur Konzentration von Sozialkapitalreserven kommt und in denen einzelne zu repräsentativen Sprechern für die ganze Gruppe werden, spricht Bourdieu vom „Delegationsprinzip“.41 Bei relativ gering ausgeprägtem Institutionalisierungsgrad, z.B. im Falle der Familie, geht Bourdieu von diffuser Delegation aus, da hier dem Familienoberhaupt nicht ausdrücklich, sondern stillschweigend das Recht zugewiesen wird, für die Gruppe zu sprechen. Bei hohem Institutionalisierungsgrad dagegen werden die Rechte und Pflichten der Mandatsträger sowie ihre „Verantwortungsbereiche explizit abgegrenzt“, z.B. das Anrecht darauf, „kompromittierende Individuen ausschließen oder exkommunizieren“ zu dürfen, was Bourdieu als „institutionalisierte Delegation“ bezeichnet.42 Als zentrales Differenzkriterium für die Zuweisung sozialen Kapitals dient also die binäre Opposition ‚mehr/weniger gegenseitige persönliche Anerkennung‘, die darüber entscheidet, ob jemand gegenüber anderen Akteuren in den Genuss des Privilegs zwischenmenschlicher Kreditwürdigkeit kommt. Je mehr Gruppenmitgliedschaften jemand aufweist, desto höher ist das entsprechende Niveau des Sozialkapitals. Dabei bereitet der weit gefasste Gruppenbegriff allerdings gewisse Probleme: Einerseits sind hier Beziehungsformen wie Ehe, Familie oder Vereine gemeint, die alle unterschiedliche Grade der Institutionalisierung aufweisen, andererseits umfasst der Begriff auch nicht explizit geregelte, eher affektiv gefärbte zwischenmenschliche Bindungen, die sich im nicht öffentlichen Raum von Interaktionssystemen etabliert haben, wie etwa Freundeskreise oder Bekanntschaften, bei denen schriftbasierte Kommunikation und juridische Absicherung eine untergeordnete Rolle spielen, und die daher oft nur schwer nachzuweisen sind. Die Praxis der Forschungen Bourdieus zeigt aber, dass er sich nicht in gefühlsduseligen Beschreibungen zwischenmenschlicher Be-

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Ebd., S. 67f. Ebd., S. 68.

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ziehungen ergeht, sondern eindeutig auf die zweckorientierten, institutionell geprägten Aspekte von Beziehungsformen hinaus will, die sich eindeutig in Gestalt schriftlicher Kommunikationen wie Heiratsurkunden, Eheverträgen, Aufnahmeanträgen, Mitgliedsausweisen etc. nachweisen lassen und die man wohl als konkret beobachtbare kommunikative Manifestationen von Sozialkapitalbeziehungen mit der Spitze des Eisbergs vergleichen darf.43 Trotzdem repräsentiert das soziale Kapital eine Sonderform sozialer Energie, die sich, vor allem bei vergleichsweise geringem Grad der Institutionalisierung, nicht objektiv messen lässt und die vermutlich deshalb bei der Bestimmung der Stellung eines Akteurs im vertikal differenzierten Gefüge des sozialen Raums im Vergleich zum ökonomischen sowie kulturellen Kapital eine eher untergeordnete, die Analyse ergänzende Rolle spielt.

I.2 S YMBOLISCHES K APITAL UND Z IRKEL STATUSPOSITIONALER D IFFERENZ The Value, or WORTH of a man, is as of all other things, his Price; that is to say, so much as would be given for the use of his Power: and therefore is not absolute; but a thing dependant on the need and judgement of another. […] And as in other things, so in men, not the seller, but the buyer determines the Price. For let a man (as most men do,) rate themselves at the highest Value they can; yet their true Value is no more than it is esteemed by others. The manifestation of the Value we set on one another, is that which is commonly called Honouring, and Dishonouring. To Value a man at a high rate, is to Honour him; at a low rate, is to Dishonour him. But high, and low, in this case, is to be understood by

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Neuere neurowissenschaftliche und psychiatrische Erkenntnisse, die den emotionalen Grundlagen des Denkens nachgehen wie etwa die Arbeiten Luc Ciompis, werden von Bourdieu nicht einbezogen. Wenn hier von ‚Gefühlsduseleien‘ die Rede ist, soll damit nicht die Bedeutung der Emotionen für kognitive Prozesse heruntergespielt, sondern lediglich der streng analytische Charakter der Vorgehensweise Bourdieus hervorgehoben werden. Vgl. L. Ciompi: Die emotionalen Grundlagen des Denkens.

R EPUTATION IM L ITERATURSYSTEM | 33 comparison to the rate that each man setteth on himselfe.44 (Thomas Hobbes)

Stand bislang ausschließlich die systemtheoretische Reformulierung der primären Kapitalsorten im Vordergrund dieser Arbeit, möchten wir im Folgenden bei der Rekapitulation des symbolischen Kapitalbegriffs einen Schritt weiter gehen und den Versuch unternehmen, die Kapitaltheorie Bourdieus als Baustein der Theorie des literarischen Feldes mit einigen Basistheoremen systemtheoretischer Literaturwissenschaft in eine fruchtbare Synthese zu bringen. Dabei bleibt aber die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung die Basis aller Betrachtungen, allerdings unter der Maßgabe, dass der kritische Dialog mit Bourdieus Kapitaltheorie dabei helfen soll, argumentative Defizite auf Seiten der systemtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft zu beseitigen. Ausgehend von dem in der Systemtheorie an prominenter Stelle vertretenen Theorem der doppelten Kontingenz wenden wir uns dem komplizierten Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation zu und werden anschließend Bourdieus Begriff des symbolischen Kapitals einer genauen Analyse unterziehen. Darauf aufbauend erfolgt dann der Versuch, wesentliche Aspekte des symbolischen Kapitalbegriffs in das Bochumer Modell literarischer Kommunikation Gerhard Plumpes und Niels Werbers einzuarbeiten, ohne dieses durch logisch inkompatible Theorieimporte zu verwässern. Einem Hinweis Luhmanns folgend, schließen dann einige Erläuterungen zu Luhmanns Modell symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien an, das gewisse konzeptionelle Analogien zu Bourdieus symbolischem Kapital aufweist. Verbunden wird dies mit dem Versuch, die Wichtigkeit von Reputation auch für den literarischen Kommunikationstyp nachzuweisen und somit einen ersten Brückenschlag zwischen der Theorie des literarischen Feldes und der systemtheoretischen Literaturwissenschaft zu bewerkstelligen. Dabei soll auch geklärt werden, welche effektiven Beiträge das symbolische Kapital zur Strukturierung literarischer Kommunikation zu leisten im Stande ist. I.2.1 Doppelte Kontingenz und das Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation Sieht man den Menschen als Teil der Umwelt der Gesellschaft an (statt als Teil der Gesellschaft selbst), ändert das die Prämissen aller Fragestellungen der Tradition, also auch die Prämissen des klassischen Humanismus. Das heißt nicht, dass der Mensch als weniger wichtig eingeschätzt 44

T. Hobbes: Leviathan [1651], S. 50.

34 | W ERTVOLLE W ERKE würde im Vergleich zur Tradition. Wer das vermutet (und aller Polemik gegen diesen Vorschlag liegt eine solche Unterstellung offen oder versteckt zu Grunde), hat den Paradigmenwechsel in der Systemtheorie nicht begriffen. Die Systemtheorie geht von der Einheit der Differenz von System und Umwelt aus. Die Umwelt ist konstitutives Moment dieser Differenz, ist also für das System nicht weniger wichtig als das System selbst.45 (Niklas Luhmann)

Treffen zwei psychische Systeme aufeinander, sind sie „füreinander undurchsichtig“46, sie können weder auf die Gedankeninhalte des jeweils anderen zugreifen noch dessen Verhalten präzise vorhersagen. Sie begegnen einander als völlig undurchschaubare ‚black boxes‘, deren Verhalten kontingent, also immer auch anders möglich ist – und das auch noch von zwei Seiten aus gleichzeitig! Nun liegt aber darin auch eine erste Gemeinsamkeit und das Fundament für die Entstehung einer wie auch immer gearteten sozialen Ordnung, denn das gemeinsam geteilte Problem wechselseitiger Undurchschaubarkeit führt zu einer – ganz abstrakt betrachtet – gleichartigen Problemlösung, indem die beteiligten psychischen Systeme verhaltensbezogene Erwartungen aufbauen, eine sinnbasierte „Orientierungsform“47, die sie an die Außenwelt richten und deren Projektionen entweder erfüllt oder enttäuscht werden können. Erwartungen fasst Luhmann als Strukturen, mittels derer ein psychisches System „die Kontingenz seiner Umwelt in Beziehung auf sich selbst abtastet.“48 Psychische Systeme rechnen z.B. damit, dass auf einen Blitz Donner folgt, aber sie gehen meist nicht davon aus, vom Blitz auch getroffen zu werden. Überdies vermuten sie auf der Basis ihrer Selbsterfahrung, dass auch andere psychische Systeme Erwartungen gegenüber systemexternen Ereignissen aufbauen. Das schließt die Erwartung ein, dass jene anderen ebenfalls von ihnen selbst etwas erwarten. Luhmann spricht diesbezüglich von ‚Erwartungserwartungen‘ oder auch ‚reflexiven Erwartungen‘, die für soziale Belange von großem Stellenwert sind. In sozialen Situationen sind es schließlich immer mindestens zwei Erwartungserwartungen aufbauende Bewusstseinssysteme, die zusammentreffen, mit dem Resultat der Entstehung wechselseitig aufeinander bezogener, aber unerreichbarer Projektionen. Luhmann nennt explizit als Prototypen solcher reflexiven Erwartungen zwei Beispiele. In der positiven Fassung heißt es: „Ich N. Luhmann: Soziale Systeme [1984], S. 288f. Ebd., S. 156. 47 Ebd., S. 362. 48 Ebd., S. 362. 45 46

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tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will.“49 Die archetypische Negativversion, die bei der Bildung parasitärer Konfliktsysteme strapaziert wird, lautet entsprechend: „Ich tue nicht, was Du möchtest, wenn Du nicht tust, was ich möchte.“50 Das erinnert insofern an Kants kategorischen Imperativ, als Ego eigenes Verhalten vom für möglich gehaltenen Verhalten Alters abhängig macht (und umgekehrt). Erwartungserwartungen gestatten psychischen Systemen, der unerträglichen Unvorhersehbarkeit der Verhaltensmöglichkeiten anderer mit selbstproduzierter Gewissheit zu begegnen und somit das Problem der wechselseitigen Undurchschaubarkeit zumindest aushalten zu können – denn lösen im Sinne einer vollständigen und endgültigen Eliminierung lässt sich die Dauerproblematik der doppelten Kontingenz nicht. Es bleibt dabei, dass prinzipiell nur die eigenen Erwartungen den psychischen Systemen zugänglich sind, wie gut sie auch immer das zukünftige Verhalten der anderen antizipieren mögen, und dieses Faktum macht sich die Kommunikation zunutze: Ein soziales System baut nicht darauf auf und ist auch nicht darauf angewiesen, dass diejenigen Systeme, die in doppelter Kontingenz stehen, sich wechselseitig durchschauen und prognostizieren können. Das soziale System ist gerade deshalb System, weil es keine basale Zustandsgewissheit und keine darauf aufbauenden Verhaltensvorhersagen gibt.51

Doppelte Kontingenz ist also die conditio sine qua non dafür, dass sich immer wieder aufs Neue Sozialsysteme autokatalytisch erzeugen können und müssen, um dieses Problem interpsychischer Intransparenz überhaupt erfolgversprechend bearbeiten zu können. Ohne wechselseitige Intransparenz der Bewusstseinssysteme würde kein Bedarf an kommunikativer Behandlung von Unsicherheiten hinsichtlich der persönlichen Motive und Verhaltensbeiträge des Gegenübers erwachsen. Alle diesbezüglich relevanten Schwierigkeiten könnten dann etwa durch Telepathie oder ähnliche Techniken direkten Gedankenaustauschs von Gehirn zu Gehirn bequem und geräuschlos beseitigt werden. Wann immer zwei einander fremde Akteure in einer Interaktionssituation aufeinander treffen, verfügen sie also zunächst über rein psychisch repräsentierte Erwartungserwartungen. Die Genese sozialer, d.h. bei Luhmann kommunikativer Ordnungsmuster, die sich in der stetigen autopoietischen Aneinanderreihung von Kommunikation an Kommunikation manifestieren, ist nun dringend auf die Koexistenz dieser reflexiven Erwartungen angewiesen, denn „nur in dem Maße, indem diese Erwartungserwartungen als Grundlage der Verkettung der Verhaltensbeiträge von Ego und Alter beansprucht und als tragfähige Basis der Interaktion bestätigt werden, funktio-

Ebd., S. 166. Ebd., S. 531. 51 Ebd., S. 157. 49 50

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nieren sie auch als Strukturen des sozialen Systems.“52 Gleichwohl werden die Erwartungserwartungen der Bewusstseinssysteme nicht selbst zu sozialen Strukturen. Mittels der Errichtung von Erwartungserwartungen durch psychische Systeme entstehen in der Umwelt von Sozialsystemen erst die strukturellen Voraussetzungen dafür, dass Kommunikation auf einem anderen Emergenzniveau aus Bewusstseinsbeiträgen hervorgehen und eine ganz andere Daseinsqualität als Bewusstseinsakte annehmen kann: „[Psychische] Erwartungen gewinnen mithin im Kontext von doppelter Kontingenz Strukturwert für den Aufbau emergenter Systeme und damit eine eigene Art von Realität“.53 Soziale Systeme nutzen die erwartungsstrukturelle Komplexität der in ihren Bewusstseinsumwelten kopräsenten psychischen Systeme, auf deren Vorhandensein sie existentiell angewiesen sind, um selbst eigene Strukturen aufzubauen – ein Prozess, für den Luhmann den vom chilenischen Erkenntnisbiologen Maturana entlehnten Begriff der „strukturellen Kopplung“54 bereithält. Dieses theoriearchitektonisch anspruchsvolle (und wohl teilweise noch revisionsbedürftige) Konzept besagt jedoch nicht, dass Bewusstsein und Kommunikation in einer einheitlichen Operationsweise irgendwie zu einer Art Supersystem verschmelzen würden. Bewusstsein und Kommunikation sind überschneidungsfrei operierende Systeme, die jeweils ihr ureigenes Emergenzniveau erreichen, indem sie eine dauerhaft eigene Operationsweise etablieren. Aber trotz dieser operativen Trennung gibt es eine Reihe von Mechanismen, die eine Art Gleichlauf dieser beiden Systemtypen bewirken und auf die wir im Folgenden eingehen wollen. Die indirekte Weiterverwendung psychischer Erwartungserwartungen auf dem Emergenzniveau der Kommunikation wird zunächst dadurch ermöglicht, dass sowohl Bewusstsein als auch Kommunikation auf der Basis des gemeinsamen Mediums Sinn operieren, verstanden als Einheit der Differenz aus Aktualität und Possibilität.55 Darüber hinaus denkt Luhmann Erwartungsbildung als sinnverarbeitende „Primitivtechnik schlechthin“56, die auch von Seiten der Kommunikation beherrscht wird. Luhmann postuliert damit, dass „soziale Strukturen nichts anderes sind als Erwartungsstruktu-

W.L. Schneider: Grundlagen der soziologischen Theorie, S. 260. N. Luhmann: Soziale Systeme [1984], S. 158. 54 N. Luhmann: „Die operative Geschlossenheit [1995]“, S. 31. 55 Der Hinweis auf die beidseitige Verwendung von Sinn durch Bewusstsein und Kommunikation, mit dessen Hilfe Luhmann sein Theorem struktureller Kopplung zu untermauern versucht, hat durchaus Kritik hervorgerufen. Dabei wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht gerade diese Gemeinsamkeit des Sinnbezugs unmöglich mache, Bewusstsein und Kommunikation als überschneidungsfrei operierende Systemarten zu denken, was einen Autor zu dem Verdikt führt, dass „kommunikative Systeme gegenüber personalen offenbar nicht jenen Grad der prozeduralen Eigenständigkeit gewinnen können, den Luhmann im Auge hat.“ M. Schmid: „Autopoiesis und soziales System“, S. 41. 56 N. Luhmann: Soziale Systeme [1984], S. 363. 52 53

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ren“57, d.h. auch die Kommunikation baut Erwartungsstrukturen auf, versteht es also, Sinn, jene „eigentliche ‚Substanz‘ dieser emergenten Ebene der Evolution“58, auf prinzipiell gleiche Weise zu prozessieren, zu generalisieren und zu verdichten wie psychische Systeme. Damit ist, neben der gemeinsamen Verwendung des Sinnmediums, ein zweiter Berührungspunkt zwischen Bewusstsein und Kommunikation gefunden, der zum Gesamtkonzept struktureller Kopplung gehört. Die eingangs erwähnten prototypischen Erwartungserwartungen sind hierfür exemplarisch. In ihrem fast schon universalen Charakter sind sie in der Lage, der kommunikativen Interaktion eine gewisse Grundierung oder Signatur zu geben, indem sie etwa die beteiligten Systeme dazu zwingen, sich zumindest über die möglichen Strebungen und Motive ihrer Mitmenschen Gedanken zu machen – was nicht heißt, dass sie diesen entsprechen müssen oder sie auch nur ansatzweise angemessen zu antizipieren brauchen. Sie sind aber doch gehalten, mit den Interessen ihrer Interaktionspartner in irgendeiner Weise zu rechnen und sich über mögliche Konsequenzen klar zu werden, sich also daran zu orientieren, was andere potenziell von ihnen erwarten und einzubeziehen, was ihnen selbst dann daraus erwachsen könnte. Dieses gegenseitige Ausrichten an den vermuteten Erwartungen anderer schränkt den Möglichkeitsspielraum kommunikativer Strukturbildung auf der Realitätsebene sozialer Systeme und damit den Horizont realisierbarer Anschlusskommunikationen natürlich deutlich ein. Ins Metaphorische gewendet könnte man sagen, dass „das soziale System der Kommunikation von gegenseitig ausgerichteten Erwartungen und Handlungen der beiden Akteure, von zwei unabhängigen Quellen gebildet“ wird, so wie Richard Münch dies getan hat.59 Im Gegensatz zu sehr monolithischen, auch juridisch codifizierten Normen bzw. religiös-moralischen Tabus wie ‚Du sollst nicht töten‘, die fast gar keinen Deutungsspielraum mehr offen lassen – höchstens etwa, ob das Töten im Krieg oder Abtreibungen auch unter diese Norm fallen – sind prototypische Erwartungserwartungen wie die genannten deutungs- und anwendungstechnisch flexibel und lassen eine Vielzahl situationsbezogener Aktualisierungen von Verhaltensbeiträgen zu. Keineswegs vermögen sie den Ablauf einer Interaktionssequenz so eindeutig festzulegen, als handele es sich lediglich um eine rituelle Praxis wie etwa einen Gottesdienst oder einen SED-Parteitag, der immer nach dem gleichen geregelten Duktus verfährt

Ebd., S. 397. Ebd., S. 141. 59 R. Münch: Soziologische Theorie Band 3, S. 186. Auch Luhmann greift auf die Quellen-Metapher zurück, um das Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation zu beschreiben: „Bewusstsein kann die Kommunikation nicht instruieren, denn die Kommunikation konstruiert sich selbst. Aber Bewusstsein ist für die Kommunikation eine ständige Quelle von Anlässen für die eine oder die andere Wendung der kommunikationseigenen operativen Verlaufs.“ N. Luhmann: „Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? [1995]“, S. 45. 57 58

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und somit relativ überraschungsarm bleibt (was solche Phänomene für orthodox-strukturalistische Untersuchungen interessant macht). Den eigenen Willen mit dem Willen anderer gewissermaßen verrechnen und dementsprechend die Reaktionen anderer aufs eigene Agieren prognostizieren zu müssen, eröffnet indessen immer noch allen Beteiligten ein relativ breites Spektrum möglicher Vorgehensweisen, das allerdings, so dürfen wir über Luhmann hinausgehend vermuten, in Abhängigkeit zur Wichtigkeit, die dem Gegenüber eingeräumt wird, schwankt. In ihrem hohen Grad an Unbestimmtheit lassen sich die oben angeführten zirkulären Imperative in praktisch jeder beliebigen sozialen Situation applizieren, sie müssen aber in Hinsicht auf reale Handlungsalternativen jeweils individuell konkretisiert werden. Es geht Luhmann also nicht darum zu zeigen, dass die an der Konstitution von Sozialität beteiligten psychischen Systeme über weitgehend identische Erwartungsmuster verfügen müssen, um überhaupt erfolgreich kommunizieren zu können. Es reicht aus, wenn hinreichend viele Korrespondenzen in Gestalt sehr abstrakter und vielseitig verwendbarer Erwartungserwartungen bestehen, d.h. für den Aufbau einer emergenten kommunikativen Ordnung werden lediglich ausschnittweise strukturelle Homologien auf der Ebene psychisch repräsentierter reflexiver Erwartungen benötigt. Luhmann betont ausdrücklich, „daß strukturelle Kopplungen hochselektive Zusammenhänge bilden, also keineswegs die Gesamtrealität der Umwelt mit dem System verknüpfen.“60 Eine Neuauflage der These eines kollektiven Bewusstseins im Gefolge der Durkheim-Tradition in der französischen Soziologie, der es ohnehin an empirischer Evidenz mangelt, schwebt Luhmann also nicht vor: In den Miniturbulenzen seiner Bewusstseinsumwelt kann ein Kommunikationssystem nur in Gang kommen und sich von Moment zu Moment fortzeugen, wenn es an sich selbst hinreichende Führung findet, wenn es sich also an die in der Kommunikation zum Ausdruck gekommenen Erwartungen hält und nicht an das, was in den schädeldachgedeckten Gehirnen oder im jeweils aktuellen Bewusstseinsverlauf einer Mehrzahl von Beteiligten wirklich vor sich geht.61

Eine „effektive Koordination“ gleichzeitig operierender psychischer Systeme bzw. eine „Bildung von Konsens in einem empirisch greifbaren Sinne“ ist nicht zu haben, und um eine ausreichende Führung an sich selbst zu finden, muss das Kommunikationssystem in der Lage sein, „in seiner Umwelt das dafür nötige Bewusstseinsmaterial zu aktivieren.“62 Dieses nötige Bewusstseinsmaterial ist lediglich in den abstrakten Erwartungserwartungen der psychischen Systeme gegeben, die der Kommunikation aber nicht diktieren können, wie sie konkret abzulaufen hat. Erreicht wird durch den partiellen Gleichklang der abstrakten Erwartungserwartungen aber ein MinN. Luhmann: „Die operative Geschlossenheit [1995]“, S. 31. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 46. 62 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 115. 60 61

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destmaß an Abstimmung der Verhaltensbeiträge der involvierten psychischen Systeme. Die kommunikative Interaktion erfährt dadurch eine gewisse, rein erwartungsstrukturell erzeugte, aber nicht unmittelbare Lenkung. Das schließt eine irgendwie herbeigeführte Gleichschaltung der Gesamtstruktur der psychischen Systeme aus und bewahrt sie vor dem Verlust ihrer unverwechselbaren Individualität. Auf ihrer Realitätsebene wiederum wird die Kommunikation durch die Inbeschlagnahme der psychischen Erwartungserwartungen in Eigenschwingungen versetzt und kann dann selbst Strukturen etablieren, die ihr den Weg ebnen, die „unkoordinierte Perspektivenvielfalt dieser endogen unruhigen Einzelsysteme“63 überhaupt tolerieren zu können. Positiv gewendet und stark simplifizierend könnte man auch sagen: Individualität ermöglicht Gesellschaft überhaupt erst, da die Unverwechselbarkeit der einzelnen Persönlichkeit unterschiedliche Erwartungslagen mit sich bringt und dadurch Kommunikationsbedarf schafft. Würden Bewusstseins- und Kommunikationssysteme haargenau die gleichen Erwartungsstrukturen teilen, müssten die psychischen Systeme bald die Erfahrung machen, dass ihre an den kommunikativen Prozess gerichteten Erwartungserwartungen immer erfüllt werden – die Autopoiesis der Kommunikation käme dann unweigerlich zum Stillstand, da sie keine Unsicherheitsabsorption mehr leisten müsste. Das strikte Beharren auf der operativen Differenz zwischen psychisch und kommunikativ prozessierten Erwartungsstrukturen, das dazu führt, dass Luhmann Individuen nicht mehr als Teil der Gesellschaft ansehen kann, wirft die essenzielle Frage danach auf, wie Sozialsysteme ihre Umweltbeziehungen zu den involvierten Bewusstseinssystemen weiterhin konkret gestalten. Luhmann betont gar: „Die gesamte Gesellschaftstheorie hängt von der Beantwortung dieser Frage ab.“64 Anders als das Theorem der operativen Schließung psychischer und sozialer Systeme auf den ersten Blick vermuten lässt und trotz der unterschiedlichen Emergenzniveaus, auf denen sie ihre Erwartungen bilden und ihre Autopoiesen entfalten, ist es nun keineswegs so, dass Bewusstsein und Kommunikation „nichts miteinander zu tun hätten.“65 An anderer Stelle heißt es dazu ebenso unmissverständlich: „Zwischen Bewußtsein und Kommunikation gibt es natürlich tiefgreifende Abhängigkeiten.“66 Auf beiden Seiten der konstitutiven Differenz Bewusstsein/Kommunikation wird, wie wir wissen, Sinn mithilfe von Erwartungen verarbeitet. Kausale Beziehungen zwischen Bewusstsein und Kommunikation, wie sie der Alltagsverstand zunächst suggeriert, scheiden jedoch aus, da der Begriff der strukturellen Kopplung mit der Vorstellung gleichzeitig operierender Systeme verbunden ist. Ein Kausalverhältnis nach dem Schema Ursache/Wirkung setzt jedoch Sequenzialität der Ereignisse voraus. Be-

Ebd., S. 94. Ebd., S. 100. 65 N. Luhmann: „Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? [1995]“, S. 39. 66 N. Luhmann: „Intersubjektivität oder Kommunikation [1995]“, S. 181. 63 64

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wusstsein und Kommunikation laufen dagegen im Fluss der Zeit kontinuierlich nebeneinander her und „operieren insofern analog.“67 Kommunikation wird also nicht aus Bewusstseinszuständen hergestellt, aber die Autopoiesis der Kommunikation geschieht immer unter der Voraussetzung, dass Bewusstsein (vor allem über Erwartungserwartungen und Wahrnehmung) als „gleichzeitig gegebenes Medium“68 koexistiert. Ohne Bewusstsein in ihrer Umwelt würde die Kommunikation erlöschen. Dabei wirkt das Bewusstsein wie ein Filter, der die Kommunikation vor Reizüberflutung schützt. Aus der Fülle der physikalischen, chemischen und biologischen Zustände sowie der denkbaren Gedanken nämlich trifft das Bewusstsein eine begrenzte Auswahl, indem es selektiv wahrnimmt, was es wahrnimmt, und indem es denkt, was es denkt. Nur diese begrenzte Auswahl kann dann überhaupt für die Kommunikation Relevanz erlangen, und zwar dann, wenn sie die Kommunikation irritiert und so zu eigenen Strukturbildungen anzuregen vermag. Es bleibt also bei der operativen Geschlossenheit der involvierten Systeme und kommt nicht zur Bildung eines Supersystems, das Gedanken und Kommunikationen zu einheitlichen Elementen amalgamiert. Die Kopplungen zwischen Bewusstsein und Kommunikation sind flüchtig und nur momenthaft, denn die Autopoiesen beider Systemarten beanspruchen schnell zerfallende Sinnkerne im Vollzug der Konstitution ihrer jeweiligen Elemente, die sie mit Zeitlichkeit ausstatten müssen, um überhaupt weiterarbeiten zu können, sowie um zu verhindern, dass sie in eine Art strukturellen Stupor verfallen: Die Ereignishaftigkeit der Elemente verhindert, dass sie aneinander kleben bleiben. Die momentane Übereinstimmung löst sich immer sofort wieder auf und im nächsten Moment kann das Bewusstsein abschweifen, etwas Nichtkommunizierbares denken, abbrechen oder pausieren, während die Kommunikationslast auf andere übergeht.69

Die angesprochene Reizbarkeit der Kommunikation durch Bewusstsein (und umgekehrt) ist aber keine Selbstverständlichkeit. Sie basiert, wie wir gesehen haben, auf der von beiden Systemarten praktizierten Verwendung von Erwartungserwartungen, mit deren Hilfe sie Sinn auf identische Weise verarbeiten. Darüber hinaus spielt aber auch die Verwendung von Sprache eine entscheidende Rolle für die wechselseitige Irritierbarkeit von Bewusstsein und Kommunikation. Sprache ist laut Luhmann das spezifische Medium der strukturellen Kopplung zwischen psychischen und sozialen Systemen. Im Gegensatz zum linguistischen Strukturalismus fasst Luhmann Sprache jedoch nicht als System auf, denn sie besitzt, anders als Bewusstsein und Kommunikation, keine ureigene operative Basis. Als Medium bedient sich die Sprache der Differenz Laut/Sinn und tritt als Menge lose gekoppelter Wörter in Erscheinung, die jeweils für sich sinnhafte Laute sind und durch N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 39. Ebd., S. 43. 69 N. Luhmann: „Sozialisation und Erziehung [1984]“, S. 185. 67 68

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ein kontinuierliches Koppeln von Wörtern zu Sätzen fest gefügt werden können. Sprache dient psychischen und sozialen Systemen gleichermaßen als Medium, denn Sprache eröffnet beiden Systemarten die Möglichkeit, auf der Grundlage der jeweils systemeigenen Operationsweise Gedanken und Kommunikationen konkrete sprachliche Formen aufzuprägen. Auch wenn Denken häufig nicht als die frühkindliche Egozentrik fortsetzender innerer Monolog vollzogen wird, ist das Bewusstsein doch bei Bedarf in der Lage, seine Denkoperationen unter Rückgriff auf sprachliche Formen ablaufen zu lassen – die Prämisse dafür, dass sich das Bewusstsein auf effektive Kommunikation überhaupt einlassen kann. Auch Kommunikation nimmt nicht immer Sprache in Anspruch, etwa wenn eine zufällige oder gewollte Gebärde als Mitteilung einer Information verstanden wird. Wenn aber hinsichtlich der Mitteilungsabsicht keine Zweifel aufkommen sollen, kommt man an sprachlicher Kommunikation nicht vorbei. Im Vergleich zu natürlichen Geräuschen wie Wasserrauschen oder Vogelgesang stellt die Sprache „eine extrem unwahrscheinliche Art von Geräusch“70 dar, das psychische Systeme zu faszinieren weiß, da die performative Verwendung von Sprache nur als intentional erzeugtes, nicht zufälliges Geräusch aufgefasst werden kann – zu einzigartig sind die Schallmuster, die in sprachlichen Mitteilungsakten aktualisiert werden. Die offensichtliche Mitteilungsabsicht, die hinter der Verwendung von Sprache steckt, motiviert dazu, sprachlichen Äußerungsakten gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken. Aber trotz dieses Rückgriffs auf das gleiche Medium bleibt es dabei, dass die Systemgrenzen undurchlässig sind: Psychische und soziale Ereignisse können, weil sie sofort wieder verschwinden, in hohem Maße zusammenfallen. Kommunikationen sind dann zugleich Bewusstseinsereignisse in den beteiligten psychischen Systemen. Das kann zwar nicht heißen, daß die Sozialität der Kommunikation im Vollsinne Bewusstseinsinhalt werden kann; und ebenso wenig, dass das, was sich im Bewusstsein während der Kommunikation abspielt, voll kommuniziert werden kann. Aber man kann doch davon ausgehen, dass sich, vor allem dank der formalen Prägnanz der Sprache, ein hohes Maß an laufender Übereinstimmung herstellt, so dass soziale Systeme davon ausgehen können, dass psychische Systeme erleben und wissen, was jeweils gesagt wird, und auf der anderen Seite psychische Systeme, wenn sie kommunizieren, dadurch in ihrer Gedankenarbeit mehr oder weniger stark gebunden sind.71

Die Indienstnahme von Sprache schafft also auf Seiten der Kommunikation Sicherheit darüber, dass die psychischen Systeme mit den von ihr unterbreiteten Kommunikationsofferten sinnhaft umgehen und so überhaupt erst ein Interesse entwickeln können, der Kommunikation aufmerksam zu folgen. Da es sich bei der Sprache um ein Medium handelt, „in das die Grenzen der Systeme sich nicht einzeichnen“72, kann es von beiden Seiten der N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 110. N. Luhmann: „Sozialisation und Erziehung [1984]“, S. 185. 72 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 112. 70 71

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Differenz Kommunikation/Bewusstsein aus zur gegenseitigen Irritierung verwendet werden, ohne zerstört oder verbraucht zu werden. Ermöglicht wird dies durch die sprachliche Verwendung generalisierter Symbole auf beiden Seiten. Sprache zeichnet sich durch Zeichenhaftigkeit aus, d.h. durch „die Fähigkeit, im Bewusstsein und in der Kommunikation das Bezeichnende (Worte) vom Bezeichneten (Dinge) zu unterscheiden. Nur das Bezeichnende eignet sich für symbolische Verwendung, nicht die bezeichneten Dinge selbst.“73 Sprachliche Symbole können also sowohl von psychischen als auch sozialen Systemen aus als Dasselbe behandelt werden, nämlich als die Differenz von bezeichnendem Symbol und bezeichnetem Gegenstand, ohne dabei zu Elementen des einen oder des anderen Systemtyps zu werden. Sprache leistet aber neben der Möglichkeit der Verwendung generalisierter Symbole auf beiden Seiten der Differenz Bewusssein/Kommunikation noch einen weiteren wichtigen Beitrag zur Synchronisierung jener beiden parallel laufenden Systemtypen. Alle sprachlichen Aktualisierungen lassen sich in einer bejahenden bzw. verneinenden Version gestalten, egal ob sie lediglich gedacht oder offen kommuniziert werden. Alles, was sprachförmig vorgestellt oder geäußert wird, muss immer in der Grundform der Negation oder der Affirmation codiert werden. Insofern spricht Luhmann bildlich auch davon, dass Sprache „analoge Verhältnisse in digitale“74 transformiere. Das Medium Sprache eröffnet so der Kommunikation, im Zuge ihres autopoietischen Selbstvollzugs ein angesprochenes Thema entweder im Konsens oder Dissens weiter zu behandeln: [D]ie Bifurkation des Kommunikationscodes Sprache eröffnet zugleich dem Bewusstsein die Option für die eine oder andere Seite der Form. Es kann sich mit diesem Minimum an Freiheitsgraden der Determination durch den Kommunikationsverlauf entziehen und sich der (für es selbst ja intransparenten) Selbstdetermination überlassen. Es sagt aus Gründen, die man nicht kennen kann, ja oder nein; nimmt an oder lehnt ab; unterstützt oder blockiert den weiteren Verlauf der Kommunikation; und all dies in einer kommunikativ verständlichen Weise auf der Grundlage von Motiven, die für es selbst und für andere unverständlich bleiben mögen und in der Kommunikation keine (oder nur ausnahmsweise eine) thematische Rolle spielen.75

Es findet also, überspitzt ausgedrückt, keine einseitige Unterwerfung ausgelieferter Subjekte durch die allmächtige, normensetzende Gesellschaftsordnung statt, wie man es etwa dem systemtheoretischen Ansatz von Parsons unterstellen könnte. Man sollte dies auch deshalb betonen, da die Systemtheorie bei manchem immer noch in dem Ruch steht, unterwürfige und gleichschaltungswillige Individuen vorauszusetzen – ein Gedanke, der wohl mit dem kalten Schauer entindividualisierter oder bürokratischer Allmacht verbunden ist, den die Verwendung des Systembegriffs bei vielen immer noch auslöst und die Kafka so eindringlich literarisch gestaltet hat. Die Ebd., S. 112. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 39. 75 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 113. 73 74

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Kommunikation kann die beteiligten Bewusstseinssysteme zwar reizen, irritieren oder überraschen und so ihre Strukturentwicklung indirekt beeinflussen. Sie kann aber nicht dekretieren, determinieren oder steuern, auf welche Weise die Bewusstseinssysteme ihre Autopoiesis vorantreiben. Bewusstseinssysteme sind in diesem Sinne völlig eigenständig. Allerdings müssen sich die involvierten Bewusstseinssysteme immer wieder mit den kommunikativen Angeboten der Gesellschaft gedanklich auseinandersetzen und sich zu diesen auf der allgemeinen Grundlage der Differenz Zustimmung/Ablehnung in Position bringen: Auf Seiten der sozialen Systeme wird dieser Eigenständigkeit psychischer Systeme vor allem dadurch Rechnung getragen, dass Kommunikationen ihre Themen so zuspitzen, dass der angebotene Sinn angenommen oder abgelehnt werden kann. Für alles, was kommuniziert wird, hält die Sprache eine Ja-Fassung und eine NeinFassung bereit. [...] Die Konsequenzen für eine Theorie der Sozialisation liegen auf der Hand. Sie hat es nicht einfach mit einer Übertragung von Konformitätsmustern zu tun, sondern mit der durch Kommunikation ständig reproduzierten Alternative von Konformität oder Anpassung, Abweichung oder Widerstand; und dies gilt auch dann, wenn man die zum Konflikt führende Kommunikation der Ablehnung scheut und die Ablehnung bei sich behält.76

Offene Opposition ist also nach Maßgabe systemtheoretischer Überlegungen im Gefolge Luhmanns prinzipiell immer möglich, genauso wie innere Emigration, egal unter welchen Diktatoren und Regimes. Ob sie auch nützlich oder durchführbar ist, stellt aber eine ganz andere Frage dar. Sprache gestattet den Aufbau relativ dauerhafter Kommunikationsstrukturen, d.h. einerseits das zähe diachrone Entstehen und Vergehen sprachlicher Regeln selbst, andererseits den „Aufbau sozialer Semantiken für die situative Reaktivierung wichtiger Kommunikationsmöglichkeiten.“77 Als Medium der strukturellen Kopplung denkt Luhmann Sprache dabei als systemtranszendentes Gebilde, das „relativ zeitbeständig fixiert sein muß“, sich also nur ganz allmählich verändern darf und eine hohe Beständigkeit aufweisen muss, da nur so gewährleistet werden könne, dass die gekoppelten Systeme „alle ihre autopoietisch möglichen Strukturentwicklungen“78, also ihren Umgang mit den eigenen Erwartungsstrukturen, mit dem Medium der Kopplung erfolgreich abzustimmen vermögen. Auf diesem Wege gewinnt die strukturelle Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation ein hohes Maß an Stabilität. Sie wird zu einer Einrichtung, auf die sich die beteiligten Systeme felsenfest verlassen können. Würden sich die sprachlichen Konventionen mit höherer Taktzahl verändern, bräche die strukturelle Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation allerdings sofort ab, da die gekoppelten Systeme überhaupt keinen gemeinsamen Halt mehr finden könnten. So aber stellt die Sprache dem Sprechen und Denken so etwas wie eine habituaN. Luhmann: „Sozialisation und Erziehung [1984]“, S. 185f. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 110. 78 Ebd., S. 102. 76 77

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lisierte, von allen Sprechern geteilte Grundlage aus Denotationen und grammatischen Regeln zur Verfügung, die im Gegensatz zu den ständig vom Verfall bedrohten Erwartungsstrukturen der beteiligten Systeme relativ dauerhaft ist. Eine Bewusstwerdung grammatischer Regeln oder ein lautes Nachdenken bzw. Sprechen über die richtige Wortwahl findet dabei nur im Ausnahmefall statt, etwa wenn sich Spezialisten über stilistische Fragestellungen verständigen. Als gemeinsames Medium psychischer und sozialer Systeme sorgt die Sprache so dafür, dass „Bewusstseinssysteme und Kommunikationssysteme vorweg aufeinander abgestimmt [sind], um dann unbemerkt koordiniert funktionieren zu können.“79 Luhmann spricht aber auch von einem „zweiten Kopplungsmechanismus, der labil und gleichsam lernfähig eingerichtet ist.“80 Das Prinzip dieses zweiten Kopplungsmechanismus besteht in der Verwendung abstrakter, generalisierter Schemata auf beiden Seiten der Differenz Bewusssein/Kommunikation, wie sie aus der Kognitionspsychologie zumindest für psychische Systeme bekannt sind. Schemata dienen psychisch wie sozial zur Anreicherung und Verdichtung von Sinnkombinationen, die in der kompakten Form des Schemas bei Bedarf spontan erinnert und wiederverwendet werden können, um neu eingehende Informationen auswählen und verarbeiten zu können, z.B. indem eine Situation bzw. ein Objekt als bereits geläufig wiedererkannt wird. Luhmann nennt explizit vier Typen solcher Schemata: • standardisierte Formen der Bestimmung von etwas als etwas, z.B. ‚Mord‘

als ‚Verbrechen‘ oder ‚Wein‘ als ‚Getränk‘ • Attributionsschemata, die nach dem Modell Ursache/Wirkung funktionie-

ren und bisweilen Schuldzuweisungen ermöglichen • Zeitschemata, die auf der Grundlage der Differenz vorher/nachher basie-

ren • Präferenzcodes, bei denen ein Codewert dem anderen generell als anzu-

strebender Designationswert vorgezogen wird, wie z.B. im Falle der Leitunterscheidungen gut/schlecht (Moral), wahr/unwahr (Wissenschaft), Eigentum/Nichteigentum (Wirtschaft) Die beidseitige Indienstnahme von Schemata erlaubt der Kommunikation die Annahme, dass die involvierten Bewusstseinssysteme verstehen, was grob gemeint ist, also etwa um welches Spektrum von Objekten bzw. Sachverhalten es sich drehen könnte, wenn von Getränken oder Morden die Rede ist. Die Verwendung der Schemata bedeutet jedoch nicht, dass alle beteiligten Psychen in konkreten Situationen einen Sachverhalt auf die gleiche Ursache zurückführen oder auf der gleichen Beurteilungsgrundlage als gut oder schlecht beurteilen würden. Auch bestimmen sie keineswegs, in welche Anschlussrichtung sich die Autopoiesis der Kommunikation weiterbewegen 79 80

Ebd., S. 106. Ebd., S. 110.

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wird. Die Schemata sind vielmehr flexible, Lernfortschritte potenziell berücksichtigende Gebilde, die mehrere Formen der Aktualisierung erlauben und somit bedarfsgerecht – je nach aktuellem Erkenntnisstand – angewandt werden können, z.B. in der Form „Prügel nützen/schaden der Erziehung.“81 Das Schema gibt nur vor, dass Prügel unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit bzw. Schädlichkeit für Erziehungsfunktionen betrachtet werden, nicht aber, ob sie es per se schon sind oder nicht. Das Schema dient in konkreten Situationen dazu, Lösungen zu suchen und Argumente zu finden, die für die Aktualisierung der einen oder der anderen Seite des Schemas sprechen. Sie reduzieren insofern strukturelle Komplexität, als sie sachverhaltbezogene Gedanken/Kommunikationen einfordern – es geht um Prügel in der Erziehung, nicht um Fußball oder Liebesbeziehungen. Sie steigern dann aber die operative Komplexität der gekoppelten Systeme, indem sie ihnen gestatten, mit dem Problem adäquat umzugehen, und sorgen gleichzeitig dafür, dass die strukturelle Kopplung Bewusstsein/Kommunikation flexibel und anpassungsfähig mit sich ändernden Vorgaben umgehen kann – man denke nur an die Verbannung der Prügelstrafe aus dem Schulwesen vor einigen Jahrzehnten und die im Jahr 2000 erfolgte, grundgesetzliche Garantie des Verbots körperlicher Züchtigung im Rahmen von Erziehungsprozessen ganz allgemein durch die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Fassen wir die Ergebnisse dieses Unterkapitels kurz zusammen. Die Minimalkoordination der Verhaltensbeiträge interagierender psychischer Systeme wird also laut Luhmanns Systemtheorie weder durch kollektives Bewusstsein noch durch eine einheitliche Operationsweise bewerkstelligt, die irgendwie Gedanken und Kommunikationen in eins setzt. Ein Ineinanderfallen psychischer und kommunikativer Erwartungsstrukturen ist laut Systemtheorie schon deshalb nicht zu haben, weil soziale und psychische Systeme unterschiedliche Operationsweisen besitzen, also operativ geschlossen und somit durch eine Emergenzbarriere separiert sind. Kommunikation ist aber auf psychisch prozessierte Erwartungserwartungen in ihren Bewusstseinsumwelten angewiesen, um ausreichend Führung zu gewinnen. Darüber hinaus sichert die gemeinsame Verwendung des Kopplungsmediums Sprache die notwendige wechselseitige Irritierbarkeit. Luhmann schreibt selbst dazu in synoptischer Verdichtung: Bewusstseinssysteme und Kommunikationssysteme bestehen mithin völlig überschneidungsfrei nebeneinander. Sie bilden zugleich aber ein Verhältnis struktureller Komplementarität. Sie können ihre eigenen Strukturen jeweils nur selbst aktualisieren und spezifizieren, daher auch jeweils nur selbst ändern. Sie benutzen einander aber zugleich zu einer gegenseitigen Auslösung solcher Strukturänderungen. Kommunikationssysteme können sich überhaupt nur durch Bewusstseinssysteme reizen lassen; und Bewusstseinssysteme achten in hohem Maße präferentiell auf das, was in der extrem auffälligen Weise von Sprache kommuniziert wird. Unser Argument ist: dass die überschneidungsfreie Separierung der jeweils geschlossenen Systeme eine

81

Ebd., S. 111.

46 | W ERTVOLLE W ERKE Voraussetzung ist für strukturelle Komplementarität, also für das gegenseitige Auslösen (aber eben nicht: Determinieren) der jeweils aktualisierten Strukturwahl.82

In Abwandlung dessen, was der Psychologe Wilhelm Wundt im Hinblick auf das Verhältnis von Körper und Psyche als ‚psychophysischen Parallelismus‘ bezeichnet hat, könnte man Luhmanns Sichtweise des Verhältnisses von Bewusstsein und Kommunikation vielleicht als ‚psychosozialen Parallelismus‘ bezeichnen. Wundt ging davon aus, dass organische Zustände ausschließlich „Bestandtheil einer physischen Causalreihe“ sein könnten, „wobei diese zwar nach dem Prinzip des Parallelismus mit psychischen Vorgängen in Beziehung stehen, nicht aber selbst zur Causalität derselben gehören.“83 Das Physische deutet Wundt dabei als „unerlässliche Nebenbestimmung“84 des Psychischen. Luhmann erweitert gewissermaßen diese auf die klassisch cartesianische Leib-Geist-Problematik bezogene Theorie Wundts auf das Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation. Wenden wir uns aber nun endlich Bourdieus Auffassung symbolischen Kapitals vor dem Hintergrund des Gesagten zu. I.2.2 Statuspositionen und das symbolische System der Unterscheidungszeichen Aber ich selbst bin immer ein Verheimlichungsgenie gewesen, dachte ich, ganz im Gegensatz zu Wertheimer, der im Grunde nichts verheimlichen konnte, auch über alles immer hat reden müssen, alles aus sich heraus veräußern hat müssen, solange er gelebt hat. Aber natürlich hatten wir zum Unterschied von den meisten andern, das Glück, kein Geld verdienen zu müssen, weil wir von Anfang an genug gehabt haben. Während Wertheimer aber jener gewesen ist, der sich dieses Geldes immer geschämt hat, habe ich selbst mich niemals dieses Geldes geschämt, dachte ich, denn das wäre doch das Verrückteste, sich des Geldes zu schämen, in das man hineingeboren ist, wenigstens wäre es meiner Ansicht nach eine Perversität, auf jeden Fall ein abstoßendes Geheucheltes, dachte ich. Wo wir hinschauen, heucheln die Leute, indem

N. Luhmann: „Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? [1995]“, S. 45f. W. Wundt: „Über psychische Causalität“, S. 107. 84 Ebd., 79. 82 83

R EPUTATION IM L ITERATURSYSTEM | 47 sie andauernd sagen, sie schämten sich des Geldes, das sie haben und das andere nicht haben, während es doch in der Natur der Sache ist, dass die einen Geld haben und die andern keins und einmal haben diese kein Geld und die andern haben eins und umgekehrt, daran wird sich nichts ändern, und die einen trifft keine Schuld daran, dass sie Geld haben, wie die andern, dass sie keins haben etcetera, dachte ich, was aber nicht verstanden wird, weder von den einen, noch von den andern, weil sie letztenendes doch nur die Heuchelei kennen und sonst nichts. Ich habe mir niemals den Vorwurf gemacht, Geld zu haben, dachte ich, Wertheimer machte sich andauernd diesen Vorwurf, ich habe niemals gesagt, ich leide darunter, reich zu sein wie Wertheimer, der das oft gesagt hat und der auch vor den unsinnigsten Spendenmanövern nicht zurückschreckte, die ihm letztenendes nichts genützt haben, diese Millionen nämlich, die er beispielsweise in die afrikanische Sahelzone geschickt hat und die dort, wie er später erfahren hat, niemals angekommen sind, weil sie von jenen katholischen Organisationen aufgefressen worden sind, an die er sie hat überweisen lassen.85 (Thomas Bernhard)

Es ist kein leichtes Unterfangen, vor dem Hintergrund der Luhmann’schen Konzeption des Verhältnisses von Bewusstsein und Kommunikation eine kohärente und widerspruchsfreie Rekonstruktion derjenigen Kapitalsorte abzuliefern, die Bourdieu als ‚symbolisches Kapital‘ bezeichnet. Das liegt zunächst einmal sicherlich daran, dass „symbolisches Kapital nicht so leicht zu zählen und zu messen ist wie Boden oder Vieh“86, sprich ökonomisches Kapital. Es handelt sich also wieder um keine rein objektiv messbare Größe. Darüber hinaus aber wäre zu konstatieren, dass Bourdieu im Rahmen seiner ‚Realpolitik der Begriffe‘ eine rigide und statische Definition seiner Konzepte ablehnt und, ähnlich wie Foucault, seine Grundtheoreme einer beständigen Revision sowie, darüber hinaus, einer empirischen Kontrolle unterzieht. Die Brüche in der Fortentwicklung der Theorie bei Bourdieu erschei-

85 86

T. Bernhard: Der Untergeher, S. 161f. P. Bourdieu: Sozialer Sinn [1980], S. 220.

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nen allerdings weit weniger markant als im Fall der Historischen Diskursanalyse. Trotz dieser Verwerfungen gibt es aber doch eine Reihe stets wiederkehrender Gedankengänge, die auf einen konzeptionellen Kern des Begriffs verweisen und die wir hier zunächst darzustellen versuchen wollen. Die Sphäre des Symbolischen denkt Bourdieu im Gegensatz zum Ökonomischen als Produkt von Beobachtungsoperationen erster Ordnung seitens psychischer Systeme, die im wirkungsmächtigen Kontext übergreifender sozialer Ordnungen, die das Subjekt dominieren und erst hervorbringen, vollzogen werden. Wissenschaftliche Beobachter können nun mittels des Bourdieu’schen Begriffsapparates auf der Ebene von Beobachtungen zweiter Ordnung diese Beobachtungen als ‚Handlungen‘ bzw. – weniger ontologisierend – als ‚Praxisformen‘ theoriegeleitet rekonstruieren. Allen denkbaren Praxisformen der Sozialwelt wird dabei ein primordialer Zeichencharakter unterstellt, d.h. Praxisformen werden prinzipiell als uneigentlicher, symbolartiger Ausdruck von Unterscheidungsmerkmalen behandelt, die auf die in der Sozialstruktur von den Akteuren objektiv eingenommene Stellung verweisen.87 Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um intentional auf Kommunikationsversuche ausgerichtete Akte seitens eines Akteurs handelt oder nicht, d.h. der Begriff der Praxisform umfasst einen Phänomenbereich, der sich von sprachlichen Äußerungsakten über Mimik und Gestik bis hin zu Manieren, Essgewohnheiten oder der Kleidungswahl erstreckt und davon absieht, ob einem Verhalten tatsächlich Mitteilungscharakter unterstellt wird. Bourdieus Auffassung sozialer Praxis umfasst also mehr als nur Kommunikation. Es handelt sich um ein Konzept von enormer Reichweite, das auch eine sozusagen ‚präinteraktionelle‘ Komponente aufweist. Die Sichtweise, den sozialen Praktiken und Verhaltensweisen Zeichencharakter zuzuschreiben, nimmt Bourdieu zum Anlass, den Systembegriff des linguistischen Strukturalismus, der sich im Gegensatz zur Luhmann’schen Systemtheorie nicht auf eine einheitliche Operationsweise stützt, in seinen kultursoziologischen Ansatz einzubauen und alle Praxisformen als Bestandteile einer einheitlichen Klasse von gleichartigen Elementen zu bestimmen, die er als ‚System der Unterscheidungszeichen‘ bezeichnet: Die relative Unabhängigkeit dieses Systems von Handlungen und Signalements oder, wenn man so will, Unterscheidungszeichen, kraft derer die Subjekte ihre Stellung in der Sozialstruktur ausdrücken und zugleich für sich selbst und die anderen (mitsamt ihrem Verhältnis zu ihrer eigenen Stellung) konstituieren, erlaubt es, da sie dabei eine ausdrückliche Verdoppelung der notwendig mit einer Klassenstellung verbundenen (im Sinne der Linguisten aufzufassenden) ‚Werte‘ vornehmen, eine spezifisch kulturelle Ordnung methodologisch zu autonomisieren. Daher kann dieser (nach Engels’ Worten) ‚systematische Ausdruck‘ der ökonomischen und sozialen Ordnung berechtigterweise als System aufgefaßt und behandelt und somit zum Gegenstand einer strukturalistischen Untersuchung erhoben werden.88

87 88

Siehe P. Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen [1970], S. 57f. Ebd., S. 57f.

R EPUTATION IM L ITERATURSYSTEM | 49

Alle sozialen Akteure besetzen also auf der Ebene vertikaler Differenzierung zunächst auf der Grundlage ihrer Verfügung über ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital im Verhältnis zu allen anderen Akteuren eine objektiv bestimmbare Position „in der Verteilungsstruktur der [...] wirksamen Machtmittel“89 bzw. aus der differenziellen Stellung der Akteure im geschlossenen „System der Statuspositionen“90 ergeben sich, solange nur ausreichend statistisches Datenmaterial verfügbar ist, deren objektive „Positionswerte, die einer jeden Stellung, einem jeden ‚Rang‘ in der Sozialstruktur anhaften“.91 Die okkupierten Stellungen im System der Statuspositionen lassen sich unter Verwendung eines Koordinatensystems, das auf der y-Achse das Gesamtkapitalvolumen sowie auf der x-Achse das proportionale Verhältnis zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital anzeigt, grafisch veranschaulichen. Alle Praxisformen lassen sich laut Bourdieu als ‚signifiants‘ begreifen, die auf der Signifikatenseite diese sozialen, d.h. insbesondere die ökonomischen und kulturellen Nichtübereinstimmungen als „Unterschiede zweiter Ordnung“ symbolisch reduplizieren. Diesen Prozess einer semiotischen Verdoppelung sozialer Unterschiede beschreibt Bourdieu auch als einen Vorgang, bei dem „ökonomische Güter in Symbole und auf ökonomische Ziele gerichtete Handlungen in kommunikative Akte (die auch Ausdruck einer Verweigerung der Kommunikation sein können) verwandelt“92 werden. Ihre Bedeutung als Unterscheidungszeichen gewinnen die sozialen Praktiken also nicht immanent aus ihrer spezifischen Substanz heraus, sondern aus ihren differenziellen Abständen zu den anderen Praktiken innerhalb des geschlossenen Systems der Unterscheidungszeichen. Die Totalität der Elemente dieses symbolischen Systems entwickelt gegenüber dem ökonomischen Bereich eine gewisse Selbständigkeit. Allerdings ist dabei zu beachten, dass Bourdieu dem System symbolischer Unterschiede gegenüber handfester ökonomischer Ungleichheit einen bloß sekundären Status zubilligt und somit letztlich auch hier an einer Art Panökonomismus festhält: Die ‚rein soziale Ordnung‘, wie Max Weber die Art der Verteilung des Sozialprestiges nennt, besitzt allenfalls relative Autonomie; denn sie hängt in mehr oder minder direktem und je nach Art der Gesellschaften schwächerem oder stärkerem Maße von der ökonomischen Ordnung, d.h. Gütererwerb, Güterverteilung und Verwendung der ökonomischen Leistungen ab; [...] sie verdankt dieser partialen Autonomie indessen die Fähigkeit, als Universum symbolischer Beziehungen eine ihr eigentümliche Logik zu entwickeln.93

P. Bourdieu: Sozialer Raum und ‚Klassen‘ [1982/84], S. 10f. P. Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen [1970], S. 73. 91 Ebd., S. 58. 92 Ebd., S. 62. 93 Ebd., S. 59. 89 90

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Damit befindet sich Bourdieu in der geistigen Nachbarschaft jenes Stranges der westeuropäischen Marx-Rezeption, der innerhalb des marxistischen Diskurses die relative Eigenständigkeit der Überbauphänomene gegenüber der ökonomischen Basis betont. Diese beschränkte Autonomie, die im Einklang mit dem Grad der gesellschaftlichen Differenzierung schwankt, drückt sich nun im Postulat einer eigenen Logik aus, die für die symbolische Welt der Zeichen proklamiert wird. Wie obiges Zitat erkennen lässt, besteht die wohl wichtigste Besonderheit dieser eigentümlichen Logik darin, dass die Vorrangigkeit des ökonomischen Kapitals im vom Materiellen abgenabelten Bereich des Symbolischen offensichtlich durch das Sozialprestige substituiert wird. In seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen als Ehre, soziales Ansehen oder Reputation entsteht das Sozialprestige, indem Egos Art der Ausführung bestimmter Praktiken bzw. Verhaltensweisen von Alter beobachtet und bewertet werden. Dabei sind immer völlig unterschiedliche, häufig milieuspezifische Klassifikationen möglich – was dem einen als abgehoben und snobistisch erscheint, präsentiert sich dem anderen als ganz natürlich und situationsadäquat. Die Handlungen bzw. Praxisformen, um den von Bourdieu präferierten Begriff zu verwenden, sind also, was ihre symbolische Würdigung angeht, nicht das, was sie sind, sondern das, wozu sie gemacht werden. Sie sind opak und Gegenstand von Konstruktions- und Rekonstruktionsleistungen, die aus verschiedenen Blickwinkeln und von unterschiedlichen sozialen Stellungen aus vollzogen werden. I.2.3 Doppelte Kontingenz und Arbitrarität von Statuspositionen als Ausgangsprobleme der Bildung symbolischen Kapitals ‘Bokanovsky’s Process is one of the major instruments of social stability!’ […] Standard men and women; in uniform batches. The whole of a small factory staffed with the products of a single bokanovskified egg. ‘Ninety-six identical twins working ninetysix identical machines!’ The voice was almost tremulous with enthusiasm. ‘You really know where you are. For the first time in history.’ He quoted the planetary motto. ‘Community, Identity, Stability.’ Grand words. ‘If we could bokanovskify indefinitely the whole problem would be solved.’94 (Aldous Huxley) 94

A. Huxley: Brave New World [1932], S. 9.

R EPUTATION IM L ITERATURSYSTEM | 51 Distance, n. The only thing that the rich are willing for the poor to call theirs, and 95 keep. (Ambrose Bierce)

Genau an diesem Punkt der Etablierung einer eigensinnigen symbolischen Sphäre setzt Bourdieus Begriff des symbolischen Kapitals an, mit dessen Hilfe die Distribution von Sozialprestige bzw. „Ehrenkapital“96 in der Gesellschaft erfasst werden soll. Immer wieder umkreist Bourdieu in seinen Schriften und Reden diesen Problemkomplex und offeriert auch diverse Ansätze zu einer präzisen Definition. Allerdings hat er sich im Laufe seiner Forscherlaufbahn nie zu einer feststehenden Formulierung durchringen können. Stattdessen wird, je nach Forschungsinteresse, mal der eine, mal der andere Aspekt hervorgehoben, was selbstverständlich die Rezeption nicht gerade erleichtert. Aus diesem Grunde ist es geboten, alle diese über Bourdieus ganzes Werk verstreuten Definitionsangebote beim Versuch der Rekonstruktion angemessen zu berücksichtigen. Immer wieder tauchen dabei drei Schlüsselbegriffe auf, nämlich ‚Wahrnehmung‘, ‚Anerkennung‘ und ‚Legitimation‘, die sich, systemtheoretisch gesprochen, sowohl auf psychische als auch soziale Prozesse der Sinnverarbeitung beziehen lassen und daher, genau wie das Problem der doppelten Kontingenz und das Theorem der strukturellen Kopplung, das Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation berühren, wenn auch im Kontext einer mit anderen Termini technici operierenden Theorie. Zunächst wollen wir uns mit dem Problem beschäftigen, das den Ausgangspunkt dafür liefert, dass symbolisches Kapital überhaupt gebildet wird, und – daran anschließend – die Frage stellen, inwiefern dieses Initialproblem dadurch einer Lösung zugeführt wird. Gehen wir erneut davon aus, dass zwei psychische Systeme bzw. Akteure aufeinander treffen. Für Bourdieu steht in solchen Interaktionssituationen nicht das Problem wechselseitiger Intransparenz und die damit zusammenhängende Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation im Vordergrund, sondern das Problem ungleicher Machtverteilung, statistisch objektivierbar qua Gegenüberstellung etwa ökonomischer, kultureller und sozialer Kapitalressourcen. Bourdieu setzt nun voraus, dass die Ausübung von Macht bzw. die Einnahme einer statushöheren Position innerhalb des Sozialgefüges praktisch immer nach Legitimation verlange, da prinzipiell keine natürliche Übereinstimmung zwischen Akteur sowie eingenommener Statusposition bestehe und Herrschaft insofern reiner Willkür gleichkomme.97 A. Bierce: The Devil’s Dictionary [1911], S. 27. P. Bourdieu: Sozialer Sinn [1980], S. 220. 97 Hier importiert Bourdieu erneut klassisch strukturalistisches Gedankengut in seine ungleichheitstheoretische Soziologie, nämlich de Saussures berühmtem Ersten Grundsatz hinsichtlich der arbiträren Natur des sprachlichen Zeichens, demzufolge der Vorstellungsinhalt ‚Tisch‘ durch unterschiedliche Lautketten wie 95 96

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Auf den sozioökonomischen Status der Akteure übertragen, heißt das: Prinzipiell könnte jede Statusposition auch von einem anderen Akteur besetzt werden, d.h. in diesem Sinne sind die Statuspositionen kontingent, auch anders möglich, und das setzt laut Bourdieu die Statushöheren einem unterschwelligen Rechtfertigungsdruck aus. Dabei erinnert dieser Gedankengang insofern an Luhmanns Vorstellung einer funktional differenzierten Gesellschaft, als dieser davon ausgeht, dass niemand grundsätzlich und unumkehrbar von bestimmten Funktionssystemen – etwa durch Geburt oder Stand – exkludiert sei. War die Oberschicht in der stratifizierten Gesellschaft noch in der Lage, ihre Standeszugehörigkeit als natürliches und von Gott gewolltes Privileg zu genießen, muss sie sich in der Moderne nun dazu erklären. In der ‚Natur der Sache‘ liegt also allenfalls, dass die Kapitalien ungleich distribuiert sind, und genau das kann man unseres Erachtens als Problem betrachten, das bei doppelter Kontingenz stets – mal mehr, mal weniger intensiv – im Hintergrund mitschwingt. Nicht nur die wechselseitige Undurchschaubarkeit steht nämlich zwischen den Akteuren, sondern auch ihre jeweilige Ansammlung von Kapitalreserven, die in Struktur und in Volumen ein erhebliches Differenzierungspotenzial aufweist. Schon Michel de Montaigne hat im 16. Jahrhundert auf diesen Umstand in seinem Essay ‚Über die Ungleichheit unter uns Menschen‘ hingewiesen: „Zwischen einem Idealmenschen und einem gewöhnlichen Menschen ist der Unterschied größer als der zwischen manchen Menschen und manchem Tier.“98 Je ausgeprägter diese Diskrepanz in der Verteilung der Kapitalreserven nun ist, so könnte man im Anschluss an Bourdieu formulieren, desto größer die soziale Dynamik, die vom Legitimierungsdruck losgetreten wird, also z.B. wenn der Bundeskanzler zu Arbeitslosen spricht oder der Vorstandsvorsitzende zu den entlassungsbedrohten Arbeitern des Unternehmens, das er vertritt. Die Mächtigen müssen sich herablassen, ohne herablassend zu wirken, indem die konkrete statuspositionale Differenz symbolisch außer Kraft gesetzt wird: Ich denke in diesem Zusammenhang an die von mir so genannten Strategien der Kondeszendenz, mittels deren Akteure mit einer höheren Position innerhalb einer der Hierarchien des objektiven Raums symbolisch die – gleichwohl noch weiterbestehende – soziale Distanz negieren und sich damit zusätzlich jene Profite sichern, die daraus erwachsen, dass die anderen die rein symbolische Negierung der Distanz anerkennen (‚er ist einfach‘, ‚für einen Professor ist er doch gar nicht so hochmütig‘ usw.). Kurz: Man kann sich der objektiven Distanzen so bedienen, dass man von Nä-

/teibl/, /tiš/ oder /tabl(ə)/ phonetisch repräsentiert werden kann, das es sich lediglich um eine Konvention des jeweiligen Sprachsystems und nicht um irgendeine Form natürlicher und damit universalisierbarer Übereinstimmung zwischen Signifikant und Signifikat handelt: „Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, ist beliebig.“ F. de Saussure: Grundlagen der Allgemeinen Sprachwissenschaft [1916], S. 79. 98 M. de Montaigne: „Über die Ungleichheit unter uns Menschen [1580]“, S. 137.

R EPUTATION IM L ITERATURSYSTEM | 53 he und Distanz gleichermaßen profitiert, das heißt von der Distanz und der Anerkennung der Distanz, die die symbolische Negierung der Distanz verschafft.99

Bei großer statuspositionaler Korrespondenz zwischen den aufeinander treffenden Akteuren verringert sich der Rechtfertigungszwang entsprechend. Dies liegt vor allem daran, dass Akteure, die im System der Statuspositionen „ähnliche oder benachbarte Positionen einnehmen, ähnlichen Lebensbedingungen und damit ähnlichen Konditionierungen unterliegen, sodass die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, dass sie auch ähnliche Dispositionen und Interessen aufweisen und ähnliche Praktiken. Die in der eingenommenen Position erworbenen Dispositionen implizieren eine Anpassung an diese Position, das, was Goffman ‚sense of one’s place‘ nannte. Es ist dieser ‚sense of one’s place‘, der die sogenannten ‚einfachen Leute‘ dazu bringt, sich ‚bescheiden‘ an ihren Platz zu halten, und die anderen, ‚Distanz zu wahren‘, mit den anderen ‚nicht gemein zu werden‘.“100 Das System der Statuspositionen sorgt also für unterschiedliche Vorstellungen und Standpunkte, von denen aus die soziale Welt wahrgenommen und beurteilt wird, aber trotz seiner Funktion als „Hauptfaktor für die Variation der Perzeptionen“101 determiniert das System der Statuspositionen die mentalen Strukturen der Akteure nicht in einem strengen Sinne. Es findet lediglich eine Vorstrukturierung der Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata statt, die über die Differenz statuspositionale Nähe/Distanz abgewickelt wird und nicht mechanistisch im Sinne einer Art prästabilierten (Dis-)Harmonie funktioniert, sondern lediglich unterschiedliche Probabilitäten schafft und somit auch Standardabweichungen zulässt. Allerdings bleiben Herrschende und Beherrschte meist unter sich, wenn es um die Bildung von Interaktionssystemen geht. Ein Aufeinandertreffen von statuspositional weit entfernten Akteuren wäre also eher der Ausnahmefall, aber keineswegs verliert Bourdieu diese Interaktionsmöglichkeit aus dem Blick: Obwohl überall eine Tendenz zur räumlichen Segregation zu beobachten ist – die im sozialen Raum nahen Personen also willentlich oder gezwungenermaßen sich tendenziell auch geographisch nahe stehen –, so können doch auch sozial fernstehende Menschen sich zumindest kurzfristig und mit Unterbrechungen im physischen Raum treffen, interagieren.102

Insofern scheint es angebracht, das Problem des Rechtfertigungsdrucks bei statuspositionaler Differenz als Sekundärproblem zu fassen, das dem Problem der doppelten Kontingenz nachgeordnet ist – schließlich geht Bourdieu ja selbst davon aus, dass der Tendenz nach primär Akteure mit relativ geringem Abstand im sozialen Raum miteinander interagieren, was den prekären

P. Bourdieu: Rede und Antwort [1987], S. 140. Ebd., S. 141. 101 Ebd., S. 145. 102 Ebd., S. 139. 99

100

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Legitimationszwang in gewissen Grenzen hält, ihn allerdings auch keineswegs, wie wir noch sehen werden, vollkommen neutralisiert. Es kommen aber noch weitere Argumente in Betracht, die für eine Nachordnung des Problems statuspositionaler Differenz sprechen: Während Luhmann mit dem Theorem der doppelten Kontingenz den absoluten „Nullpunkt sozialer Koordination einzufangen sucht“103, muss man Bourdieus Ansatz klar jenen Theorien zurechnen, die das Ungleichheitsdilemma unter der Prämisse bereits existierender Kommunikationsfähigkeit der involvierten Akteure analysieren und somit ein konstitutionstheoretisches Defizit aufweisen. Bevor aber überhaupt daran gegangen werden kann, die eigene Statusposition kommunikativ zu legitimieren, müssen erst einmal durch den Aufbau von psychischen Erwartungserwartungen in den Bewusstseinsumwelten der Kommunikation hierfür die strukturellen Voraussetzungen geschaffen werden. Überdies muss man an dieser Stelle bei Bourdieu eine an sich unnötige Engführung auf die mikrosoziologische Ebene von Interaktionen bemängeln. Wir gehen davon aus, dass das Problem des Rechtfertigungsdrucks über die Prämisse körperlicher Kopräsenz der Akteure hinausgeht und auch solche Kommunikationssequenzen betrifft, die beispielsweise über moderne Verbreitungs- und Telekommunikationsmedien abgewickelt werden. Das Problem der Willkürlichkeit statuspositionaler Differenz steht nämlich auch dann im Raum, wenn die Akteure einander physisch nie begegnet sind, einer von ihnen aber, neben hohem ökonomischem Kapital, bereits auch eine gewisse Prominenz erlangt hat, die ihm – bei allen Vorteilen eines hohen Bekanntheitsgrades – suggeriert, er müsse über sein Handeln und den daraus resultierenden Platz im oberen Bereich der gesellschaftlichen Hierarchie – etwa im Feuilleton, im Fernsehen oder im Internet – eine Art Rechenschaftsbericht ablegen. Gerade die Massenmedien verschärfen das Problem der Arbitrarität von Statusdifferenzen insofern noch ganz erheblich, als sie die von Bourdieu beschriebenen, im physischen Raum bestehenden Interaktionsbarrieren, die zu einer relativ geringen Wahrscheinlichkeit der dauerhaften Kopräsenz von Akteuren aus stark unterschiedlichen soziokulturellen Milieus führen, partiell aufheben. Gleichzeitig stellen die Massenmedien eine höchst effiziente Kommunikationstechnologie zur Verfügung, die Akteuren mit hohem Gesamtkapital die Gelegenheit gibt, ihre exaltierte Position mittels geschickt gesetzter Einzelaktionen, die dann allerdings millionenfach technisch reproduziert werden, erfolgreich zu legitimieren – oder bei diesem Versuch grandios zu scheitern. Zu beanstanden ist überdies, dass Bourdieu die Reichweite dieser statusdifferenziellen Problematik, auf die er selbst gestoßen ist und die an bekannte konflikttheoretische Paradigmen erinnert, unseres Erachtens sogar durchaus unterschätzt. Selbst zwischen sehr statusähnlichen Akteuren, die aus der gleichen Region des Raums der Statuspositionen kommen, also z.B. ein Studienrat und ein Oberstudienrat, deren Kapitalvolumina und Kapital-

103

R. Schützeichel: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann [2003], S. 75.

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strukturen annähernd übereinstimmen, kann sich schließlich ebenfalls eine ganz gehörige Rechtfertigungsdynamik einstellen. So kann schon der eigentlich eher geringe Einkommensunterschied seitens des Oberstudienrats dazu führen, dass sich dieser – bewusst oder unbewusst – gedrängt sieht, andauernd die Angemessenheit seiner besseren Bezahlung unter Beweis stellen zu müssen – gerade aufgrund der engen soziokulturellen Nachbarschaft dieser Stellungen, die Vergleiche geradezu provoziert, da sie die Akteure ständig auch physisch aufeinander treffen lässt. Schon Aristoteles hielt die Missgunst unter häufig zusammenkommenden Akteuren mit vergleichbarem Status für eine der wichtigsten Quellen sozialer Konflikte. Auf diesen Zusammenhang verweist er im zweiten Teil seiner Rhetorik: „Klar ist auch, wen man beneidet: [...] diejenigen nämlich, die bezüglich Zeit, Ort, Alter und Reputation in einem Nahverhältnis stehen. [[Daher sagt man auch: ‚Denn die Verwandtschaft versteht sich auf Neid.‘]]“104 Man könnte, metaphorisch gesprochen, die jeweilige Stellung eines Akteurs durchaus als dessen statuspositionalen Fingerabdruck auffassen. Je höher das Auflösungsvermögen der Unterscheidungen nämlich ist, mit deren Hilfe die statistischen Untersuchung der primären Kapitalressourcen aufeinander bezogener Akteure verfährt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, auf faktische statuspositionale Differenzen zu stoßen – etwa, wenn man neben dem monatlichen Einkommen auch noch den ererbten Besitz eines Akteurs im Rahmen etwa einer Fragebogenaktion statistisch erfasst, oder wenn man die Anzahl der vom Einkommen eines Akteurs lebenden Personen in die Sozialraumanalyse einbezieht. Dasselbe gilt natürlich ebenfalls für den Grad der Empfindlichkeit, mit dem die beteiligten Psychen ressourcenbezogene Asymmetrien wahrnehmen.105 Eine der Quintessenzen der ungleichheitstheoretischen Soziologie Bourdieus müsste dann wohl heißen: Man kann sich nicht nicht unterscheiden. Wir können also davon ausgehen, dass das basale

Aristoteles: Rhetorik, S. 107. Vgl. auch L.A. Coser: Theorie sozialer Konflikte [1956], S. 78-84. 105 In seinen Untersuchungen zu Interaktionssystemen konzediert auch der ansonsten gerne zu Bourdieu und dem Ungleichheitsdiskurs auf Distanz gehende Systemsoziologe André Kieserling, dass neben offensichtlichen äußerlichen Unterschieden in Körpergröße, Geschlecht, Alter und Hautfarbe auch eher implizite Unterschiede der „sozialen Stellung“ in Interaktionssituationen bis zu einem gewissen Grade perzipiert würden und insofern auf den Fortlauf der Interaktion Einfluss nähmen. Bezeichnenderweise betont Kieserling überdies, das „wahrnehmende Bewußtsein“ verfüge „wie selbstverständlich“ über eine beträchtliche „Komplexität des Unterscheidungsreichtums“, wofür er das Phänomen der strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation verantwortlich macht. Vgl. A. Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden, S. 115f. Unser hier im weiteren Verlauf vorgestelltes Modell stellt allerdings eine deutliche Radikalisierung und Generalisierung dieses hauptsächlich auf die Kommunikation unter Anwesenden bezogenen Ansatzes dar. 104

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Problem doppelter Kontingenz immer dann vom Sekundärproblem des Rechtfertigungsdrucks überlagert bzw. ergänzt wird, wenn die beteiligten Psychen eine statistisch verifizierbare statuspositionale Differenz als Problem wahrnehmen, und diese Ausgangslage schafft dann den Bedarf für die noch genauer zu reformulierende Bildung legitimierenden symbolischen Kapitals. Zwar ist die Sekundärproblematik der Legitimierung ökonomischer Herrschaft dem Problem doppelter Kontingenz konstitutionstheoretisch unterzuordnen, gleicht diesem aber insofern, als statuspositionale Differenz horizontal nicht an bestimmte Funktionssysteme (oder Felder bzw. Diskurse) gebunden ist. Die potenzielle Wahrnehmung statuspositionaler Differenz ist also kein lokales, sondern ein globales, d.h. gesellschaftsweites Problem, auch wenn es in dieser Arbeit nur in seiner Relevanz für den Literaturbetrieb berücksichtigt wird, wo sie, um eine Formulierung Jan Mukařovskýs zu gebrauchen, als „literarische Eifersucht“106 auch unter Freunden in Erscheinung tritt und vielgestaltige Rivalitäten begründet. Darüber hinaus lässt sich noch ein weiteres Argument anführen, das unseren theorienverbindenden Versuch stützen soll, das Problem der doppelten Kontingenz mit dem des auf hohen Statuspositionen lastenden Rechtfertigungsdrucks zu verknüpfen: Faktische statuspositionale Differenzen stellen ein Dauerproblem dar, das sich nicht verbraucht und immer wieder aufs Neue angegangen werden muss, da solche Differenzen, wenn sie wahrgenommen werden, in ihrer Willkürlichkeit den Gerechtigkeitssinn provozieren und häufig zu Nachfragen führen oder Streit auslösen. In ihrer Polemogenität ist statuspositionale Differenz insofern stets eine latente Bedrohung für die Stabilität des Gesellschaftssystems, als sich diese Problematik einer wirklich dauerhaften oder gar endgültigen Lösung prinzipiell entzieht. Eine solche Lösung könnte letztlich ja nur darin bestehen, dass alle Akteure zu jedem Zeitpunkt über exakt die gleiche Kapitalausstattung verfügen. Wie sollte ein solcher utopischer Zustand totaler Gleichheit von Akteuren aber herbeigeführt werden? Denkt man diesen radikal egalitären Gedanken bis zu seinem logischen Ende, führt das quasi automatisch aufs Minenfeld der Biogenetik: Wichtige organische Grundlagen für den Erwerb etwa des kulturellen Kapitals hängen, auch wenn sie sich in gewissem Umfang trainieren lassen, mitentscheidend von der Vererbung ab, also z.B. vom Intelligenzquotienten, der Begabung, dem Gedächtnis, der Geschwindigkeit der Auffassungsgabe usw. In der Intelligenzforschung herrscht die Mehrheitsmeinung, dass Vererbung und Umwelt zu etwa gleichen Teilen an der Entwicklung der Intelligenz beteiligt sind. Man müsste also schon die gesamte Menschheit aus einer einzigen Eizelle klonen, um diesen Aspekt des Problems der Entstehung sozialer Ungleichheit an seiner organischen Wurzel zu behandeln – ein Gedanke, der wohl eher in den Standardthemenpark der ScienceFiction oder ins Gruselkabinett gotischer Schauerromane gehört als in eine

106

J. Mukařovský: „Das Individuum und die literarische Evolution [1943/45]“, S. 227.

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seriöse Sozialtheorie.107 Theoriebautechnisch jedenfalls nimmt das symbolische Kapital, so betrachtet, eine ähnlich zentrale Position in der Feldsoziologie Bourdieus ein wie bei Luhmann das Theorem der doppelten Kontingenz, zumindest insoweit, als sich die fortlaufende Notwendigkeit der Legitimation dominanter Statuspositionen als soziales Universalproblem darstellt, das immer wieder mit wechselnder Intensität die Hervorbringung auf Legitimation gemünzter Praxisformen (und damit auch und vor allem: Kommunikationen) auslöst, in absehbarer Zeit jedoch keine endgültige Lösung erwarten oder befürchten lässt. I.2.4 Die Bildung symbolischen Kapitals über Wahrnehmung und Anerkennung Die Bildung symbolischen Kapitals ist also immer im Zusammenhang mit dem Problem statuspositionaler Differenz zu sehen. Gemäß unserer Rekonstruktion und Weiterführung gehen wir davon aus, dass das Problem statuspositionaler Differenz das von Luhmann an zentraler Theoriestelle platzierte Problem doppelter Kontingenz als Sekundärproblematik ergänzt und so die Kommunikation mal mehr, mal weniger stark zusätzlich belastet. Wie aber konzipiert Bourdieu nun theorieimmanent die Akkumulation dieser Kapitalsorte im Detail? In einem 1984 in Frankfurt am Main gehaltenen Vortrag führt er unter Bezugnahme auf ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital lakonisch aus, das symbolische Kapital repräsentiere die „als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renommee, usw. bezeichnet).“108 Zunächst also lässt sich feststellen, dass das symbolische Kapital eines Akteurs das Resultat eines Transformationsprozesses ist, der von den primären Kapitalsorten, also ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital ausgeht und diese irgendwie mit Legitimation und Anerkennung ausstattet. In einer 1991 in Amsterdam gehaltenen Rede ergänzt Bourdieu diesen Gedankengang:

Aber auch ein Massenklonen der gesamten Nachkommenschaft der menschlichen Gattung mittels ‚Bokanofsky’s Process‘ brächte keine wirkliche Dauerlösung der Statusdifferenzproblematik, solange noch die Kernfamilie entscheidende Funktionen innerhalb der Primärsozialisation wahrnimmt und nicht durch den ‚Neo-Pavlovian Conditioning Room‘ der Säuglingsstation ersetzt wird, wie in Huxleys Dystopie. Die Kernfamilie schafft die Grundlage für die Herausbildung der unterschiedlichsten biografischen Startvoraussetzungen, sie „vermittelt [...] ihren Kindern auf eher indirektem als direktem Weg ein bestimmtes [nicht institutionalisiertes] kulturelles Kapital und ein bestimmtes Ethos, ein System impliziter und tief verinnerlichter Werte, das u.a. auch die Einstellungen zum kulturellen Kapital und zur schulischen Institution entscheidend beeinflusst.“ P. Bourdieu: „Die konservative Schule [1966]“, S. 26. 108 P. Bourdieu: Sozialer Raum und ‚Klassen‘ [1982/84], S. 11. 107

58 | W ERTVOLLE W ERKE Das symbolische Kapital ist eine beliebige Eigenschaft (eine beliebige Kapitalsorte, physisches, ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital), wenn sie von sozialen Akteuren wahrgenommen wird, deren Wahrnehmungskategorien so beschaffen sind, daß sie sie zu erkennen (wahrzunehmen) und anzuerkennen, ihr Wert beizulegen, imstande sind.109

Legitimation entsteht also über die Wahrnehmungsleistung psychischer Systeme und aktiviert darüber hinausgehend Beurteilungsschemata, die zu einer seitens Ego zunächst rein psychisch prozessierten Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Kapitalausstattung Alters auf der Ebene von Beobachtungen erster Ordnung führen. Dabei ist die Wahrnehmungs- und Beurteilungsweise durch die jeweils okkupierte Statusposition sozial vorstrukturiert. Alle Praxisformen (bzw. Kommunikationsofferten) sind ja laut Bourdieu ohnehin mit Unterscheidungszeichen symbolisch aufgeladen; diese Unterscheidungszeichen müssen also über Wahrnehmung erkannt, interpretiert und auf der Grundlage des Präferenzcodes Alter hat seine Statusposition verdient/nicht verdient auf dem ontologisierenden Niveau von Was-Fragen positiv bewertet werden, damit symbolisches Kapital gebildet werden kann. Bei psychischer Ablehnung entsteht mithin kein symbolisches Kapital. Mit diesem theoriearchitektonischen Schachzug erschließt Bourdieu der Kapitaltheorie seiner Feldsoziologie konstruktivistisches Terrain. Die objektivierende strukturale Analyse des relationalen Systems der Statuspositionen allein mit ihrer sorgfältigen statistischen Erfassung des stratifizierten sozialen Raums weiß nicht zu befriedigen. Es genügt aber nicht, wenn einzelne Akteure einem anderen Akteur Anerkennung zollen, denn dann bewegte man sich immer noch auf der Ebene des Sozialkapitals und des persönlichen Kontakts. Der entscheidende Unterschied besteht unseres Erachtens darin, dass symbolisches Kapital dann gebildet wird, wenn die Praktiken und Ressourcen eines Akteurs mehr oder minder zeitnah von einer Vielzahl von ihn wahrnehmend beobachtenden Akteuren als positiv beurteilt werden. Es geht also nicht um das Ansehen, das ein konkreter Akteur bei einem anderen konkreten Akteur genießt, also um keine über das Beziehungstalent im Rahmen von ‚face-to-face‘Kommunikation aufgebauten Person-zu-Person-Erwartungen, die primär innerhalb kurzzeitig auftretender Interaktionssysteme aktiviert werden, sondern vielmehr um das im Verbund evozierte Quantum an „kollektive[r] Anerkennung“110, das einem Akteur entgegengebracht wird. Um aber eine Vielzahl von Akteuren überhaupt erreichen zu können, ist man selbstverständlich auf Verbreitungsmedien wie Buchdruck, Zeitschriften, Rundfunk, Fernsehen, Internet usw. angewiesen. Hinzu kommt, dass die wenigen Inhaber einer relativ hohen Statusposition einer proportional sehr viel größeren Anzahl an inferioren Akteuren gegenüberstehen und sie daher nicht jeden einzelnen unmittelbar davon überzeugen können, dass sie ihre privilegierte 109 110

P. Bourdieu: Praktische Vernunft [1994], S. 108. Ebd., S. 113.

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Stellung auch ‚verdienen‘. Daher sind sie auf indirekte, sozusagen anwesenheitsneutrale massenmediale Kommunikation angewiesen, um ihre Herrschaft erfolgreich legitimieren zu können.111 Daher ist es auch angemessen, die binäre Opposition ‚kollektive Anerkennung/Ablehnung‘, die auf die Nebencodierung ‚Legitimität/Illegitimität‘ verweist, als Leitdifferenz des symbolischen Kapitalkonzepts zu bestimmen. Massenhafte Anerkennung entsteht laut Bourdieu nun „über die Vorstellung, die sich die anderen insoweit von ihr machen, als sie einen Komplex von Überzeugungen teilen, die geeignet sind, sie bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen als ehrend oder entehrend wahrnehmen und einschätzen zu lassen.“112 Symbolisches Kapital kann also nur entstehen, wenn soziale Akteure trotz ihrer unterschiedlichen sozialen Herkunft und den damit verbundenen Unterschieden in der Wahrnehmungs- und Beurteilungsweise auch über gleichartige evaluative Schemata verfügen, die dazu führen, dass sie Kapitalreserven und Praktiken anderer auf ähnliche Weise bewerten. Das wirft die Frage auf, wie es zur Genese solch gleichartiger Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata kommen kann. I.2.4.1 Die Transformation von ökonomischem Kapital in symbolisches Kapital Ruhm und Kredit sind wie Himmel und Hölle unterschieden!113 (Karl Lessing)

Die über Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata der Akteure laufende Überführung primärer Kapitalsorten in sekundäres symbolisches Kapital erfolgt auf mehreren Prozessebenen in Abhängigkeit von der jeweils in symbolische Anerkennung zu transformierenden Ausgangskapitalsorte. Beginnen wir mit der wichtigsten Kapitalform, dem ökonomischen Kapital, von dem man auch sagen könnte, dass es die intensivsten Legitimierungsanstrengungen erforderlich macht. Laut Bourdieu kann der auf relative ökonomische Superiorität zurückgehende Rechtfertigungsdruck, der in der beschriebenen Weise die Bildung sozialer Systeme durchdringen kann, vor allem abgebaut werden, indem soziale Praktiken nicht als egoistische Verfolgung rein materieller Interessen, sondern als selbstlose, desinteressierte Unterfangen aufgefasst werden. Altruismus ist Trumpf: Die sozialen Praktiken ökonomisch dominierender Akteure lassen sich auch als vom ProfitkalHier deutet sich an, welches machtanalytische Potenzial eine Medientheorie entwickeln könnte, wenn sie in der Lage wäre, Luhmanns äußerst leistungsfähigen, abstrakten Begriffsapparat mit Bourdieus konkret-empirischem Kapitalkonzept zu vereinigen. 112 P. Bourdieu: Praktische Vernunft [1994], S. 108. 113 K. Lessing: „Von Karl Lessing [11.7.1773]“, S. 268. 111

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kül abgekoppelt perzipieren, solange sie nur überzeugend als Praxisformen ausagiert werden, die um ihrer selbst willen vollzogen werden – eben aus ‚Spaß an der Freud‘ – oder um anderen Gutes zu tun. Die auf diesem Wege kommunikativ erzielte Unsichtbarmachung von Machtrelationen, die auf Wahrnehmung in ihrer Umwelt sensorisch angewiesen bleibt, führt dazu, dass symbolisches Kapital eine sichere, schamfreie Kapitalanlage ist, die man nicht vor anderen zu verbergen braucht. Jeden Konnex mit konkreter ökonomischer Ausbeutung und/oder politischer Herrschaft weist es von sich. Wer mit dem Tarnkleid des symbolischen Kapitals ausgerüstet ist, braucht keine Bloßstellung seiner materiellen Interessen zu befürchten und bleibt somit satisfaktionsfähig. Das symbolische Kapital der Ehre gerinnt somit zu einer Machtform, die nicht als maliziös aufgefasst wird, sondern als rechtmäßige Forderung nach Anerkennung, Respekt, Wertschätzung, Ehrerbietung und dergleichen gilt. Beispiele hierfür gibt es genug: Man denke an einen wohlhabenden plastischen Chirurgen, der angibt, er habe seinen Beruf nicht im Hinblick auf die guten Verdienstmöglichkeiten gewählt, sondern um Menschen in Not helfen zu können. Man denke an den Politiker, der angibt, sein politisches Engagement sei dem Willen entsprungen, etwas fürs Volk zu tun. Ein weiteres Beispiel wäre der Erfolgsautor, der seinen kommerziellen Erfolg als Nebenprodukt seines Bestrebens darstellt, seinen leidgeplagten Lesern ein paar glückliche, unterhaltsame Stunden zu bereiten und dabei selbstverständlich niemals mit einem solchem Ergebnis gerechnet habe. Auf dem Gebiet der Produktion hochkultureller Güter ist dieser Vorgang der Negation materiellen Gewinnstrebens von eminenter Wichtigkeit. Gemeinhin gilt die Passion etwa für bildende Kunst oder Literatur als eine unschuldige Neigung – man denke nur an Kants wirkungsmächtige Ästhetik mit ihrem vielzitierten Schlagwort vom ‚uninteressierten Wohlgefallen.‘ Wer käme schon auf die Idee, den erhabenen Kunstgenuss mit Geld und Profit in Verbindung zu bringen, außer dem Galeristen, Produzenten oder Verlegern? Aus der Sicht der Autonomieästhetik lässt sich Kunst problemlos als uneigennütziger, rein geistesaristokratischer Phänomenbereich auffassen, dem man am besten von der hohen Warte der philosophischen Epistemologie aus mit Begriffen von transzendentaler Reichweite begegnet, selbstverständlich unter Auslassung schnöder ökonomischer Motive. Ökonomische, kulturelle, politische usw. Praktiken, die selbstverständlich immer auch handfeste Eigeninteressen umfassen, bringen mithin um so mehr symbolisches Kapital ein, je stärker sie als von den materiellen Interessen der Akteure abgetrennt wahrgenommen werden.114 Diese lediglich perzipierte Abkoppelung vom Profitkalkül – wir befinden uns immer noch auf dem Niveau der Beobachtung erster Ordnung durch die Akteure selbst – wirkt dabei in der Art einer unausgesprochenen Nobilitierung, es findet so etwas wie eine Veredelung originär eigennütziger Motive statt. In ihrer extremsten Ausprägung können solche auf kollektive soziale Anerken-

114

Siehe D. Swartz: Culture & Power, S. 90.

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nung ausgerichtete Praxisformen – aus dem fiktiven Blickwinkel einer moralisch ignoranten, reinen Profitmaximierungslogik betrachtet115 – sogar unsinnig sein, da ökonomisches Kapital ohne materielle Gegenleistung verausgabt wird (man denke nur an ‚Spendenmanöver‘ im Stile Wertheimers in Thomas Bernhards Untergeher oder an die massenmedial perfekt inszenierte Zehn-Millionen-Dollar-Spende Michael Schumachers für die Opfer der Flutkatastrophe in Südostasien vom 26. Dezember 2004).116 Das symbolische Kapital funktioniert also nach Maßgabe einer unökonomischen Logik. Dabei ist zu beachten, dass der Legitimitätseffekt sowohl die das symbolische Kapital Wahrnehmenden als auch seine Inhaber erfasst, was Bourdieu unter dem Stichwort der ‚Komplizenschaft‘ festhält. Die lediglich die psychisch prozessierte Umwandlung von Eigeninteresse in Interesselosigkeit täuscht zunächst einmal also die anderen Akteure, aber auch die Monopolisten symbolischen Kapitals selbst erliegen der süßen Verheißung dieser Kapitalsorte in einer Art Selbsttäuschung. Dieser Verdrängungsprozess erinnert in gewisser Hinsicht an den psychoanalytischen Terminus der Verneinung, da zwar alle Akteure das ‚unanständige‘ materielle Begehren als seelischen Motivationsfaktor vorbewusst erahnen und diese ‚Profitgeilheit‘ auch stillschweigend akzeptieren, diesen Bewusstseinsinhalt aber gleichzeitig in Bezug auf die eigene Person abwehren. „Es resultiert daraus eine Art intellektueller Annahme des Verdrängten bei Fortbestand des Wesentlichen an der Verdrängung“117, schreibt dazu der späte Freud. Offensichtlich auf der Basis dieser Analogie spricht Bourdieu auch bisweilen vom ‚verneinten Kapital‘, wenn vom symbolischen Kapital und seiner auf Profitmaximierung bezogenen Verschleierungs- bzw. Verdrängungsfunktion die Rede ist. Wir halten zusammenfassend fest, dass ökonomisches Kapital in sekundäres symbolisches Kapital transformiert werden kann, wenn es dem Kapitaleigner gelingt, sich absichtlich oder unbewusst als jemanden zu inszenieren, der von anderen psychischen Systemen als ökonomisch interessenlos und altruistisch wahrgenommen wird. Vielleicht liegt in dem von Bourdieu postulierten Zwang, die eigene hohe Statusposition permanent rechtfertigen zu müssen, ja eine der psychosozialen Quellen für die Scham, die Thomas Bernhard im Untergeher seinen Ich-Erzähler für dessen wohlhabenden, suizidalen Freund Wertheimer diagnostizieren lässt. Jedenfalls ist das vom begüter-

Dazu sei nur am Rande vermerkt, das heutzutage ein solcher rein mechanischer Profitmaximierungspurismus von vielen Volkswirten als reduktiv abgelehnt wird – ein Faktum, dessen sich Bourdieu nicht immer ganz bewusst zu sein scheint. 116 Im angelsächsischen Kulturraum ist es ein vertrautes Denkmuster, dass wohlhabende Individuen woanders dem Staat zugemutete ‚Welfare‘-Funktionen übernehmen, was ihnen die Möglichkeit eröffnet, durch Akte der Wohltätigkeit zu mehr gesellschaftlichem Ansehen zu gelangen. ‚Charity begins at home‘, heißt es in einer englischen Alltagsweisheit – sie endet aber eben dort nicht, wie das Beispiel Michael Schumachers zeigt. 117 S. Freud: „Die Verneinung [1925]“, S. 12. 115

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ten Pianisten Wertheimer offensichtlich vorgenommenen ‚Spendenmanöver‘ nur eine – allerdings wenig subtile – Alternative aus dem Spektrum der möglichen Handlungen, die geeignet sein könnten, den arbiträren Charakter seiner ökonomischen Dominanz erfolgreich zu verschleiern. I.2.4.2 Die Transformation von kulturellem Kapital in symbolisches Kapital Kommen wir nun zum kulturellen Kapital, also die im Akteur schlummernde Kompetenz, mit kulturellen Herausforderungen in adäquater Weise umgehen zu können. Entscheidende Bedeutung für die Sicherstellung von über den Einzelakteur hinausgehender Anerkennung haben hier jegliche Akte der Institutionalisierung, wie sie bereits in den vorhergehenden Kapiteln dargestellt worden sind – vor allem dann, wenn sie über das Bildungs- und Erziehungssystem staatlich garantiert sind: Durch den Erwerb von Bildungstiteln etwa wird inkorporiertes Kulturkapital zu institutionalisiertem Kulturkapital. Die titelverleihende Institution garantiert über standardisierte und teils zentralisierte Prüfungsverfahren dafür, dass die Akteure, denen sie bestimmte Bildungsprädikate verleiht, auch weitestgehend die damit verbundenen Erwartungen an ihre kulturelle Kompetenz erfüllen. Dies kann nur solange funktionieren, wie die betreffende Institution von einer hinreichenden Zahl von Akteuren auch als urteilssicher wahrgenommen und eingestuft wird, wofür der Staat, jener „Inhaber des Monopols auf legitime symbolische Gewalt“118, mit seiner Aufsichtsfunktion Sorge trägt – dann und nur dann werden aus den Bildungstiteln „regelrechte symbolische Eigentumstitel mit Anspruch auf Anerkennungsprofite.“119 Die kulturelle Kompetenz eines Akteurs erfährt auf diesem Wege allgemeine, die Einzelmeinungen überschreitende Bestätigung, d.h. sie geht von einem relativ diffusen in einen quasiobjektivierten Zustand amtlich garantierter Rechtmäßigkeit über: „Der Berufs- wie Bildungstitel stellt eine Art juristische Regel der gesellschaftlichen Wahrnehmung dar, etwas, dessen Wahrnehmung, wie eine Rechtsnorm, garantiert ist. Er ist institutionalisiertes, legales – und nicht mehr bloß legitimes – Kapital.“120 Der Staat als „alle Zertifikate garantierende Zentralbank“ sorgt dafür, dass jegliche Bildungstitel „ihrer Tendenz nach einen auf allen Märkten gültigen Wert“121 erhalten. Das Bildungs- und Erziehungssystem reguliert auf diesem Wege einen Teil der kulturellen Wahrnehmung und setzt bestimmte, sehr grundlegende und damit flexibel anwendbare Wahrnehmungs- und Beurteilungsprinzipien absolut, die dann zur Basis dafür werden, dass die ‚richtige‘, die ‚angemessene‘ Kompetenz im Umgang mit kulturellen Gütern überhaupt sichtbar wird, also z.B. der Einbezug innerwie außerliterarischer Kontexte bei der Analyse literarischer Texte oder die

P. Bourdieu: Rede und Antwort [1987], S. 151. Ebd., S. 149. 120 P. Bourdieu: Sozialer Raum und ‚Klassen‘ [1982/84], S. 26. 121 P. Bourdieu: Rede und Antwort [1987], S. 151. 118 119

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Beherrschung einer gepflegten Semantik, die es erlaubt, gesicherte Erkenntnisse ‚sachgerecht‘ zu formulieren. Auf diese Weise wird eine Art minimaler Minimalkonsens über notwendige kulturelle Fähigkeiten durchgesetzt, die in ihrer Gesamtheit ein Bild des allgemein anerkannten Alltagsverstandes ergeben, den Bourdieu auch als „objektive symbolische Ordnung“ bezeichnet. Diese entstehe „nicht nach der Art eines Marktpreises durch die bloß mechanische Summation der individuellen Ordnungen“, denn „bei der Festlegung der objektiven Klassifizierung und der Rangfolge der den Individuen und Gruppen zuerkannten Werte [besitzen] nicht alle Wertungen das gleiche Gewicht“122; vielmehr dominieren diejenigen Normen und Beurteilungsprinzipien jener Akteure und Gruppen, die über den größten Vorrat an symbolischem Kapital verfügen, also bereits bekannt und anerkannt sind. Diese im Alltagsverstand wurzelnde symbolische Ordnung entspricht nun – allerdings ungewollt in der Form einer nicht intendierten Konspiration – den Wertvorstellungen und Interessen derjenigen, die ohnehin schon im Besitz der Machtpositionen sind und daher ein Interesse an der Aufrechterhaltung der für sie angenehmen symbolischen Verhältnisse haben: Fast die gesamte Lehrerschaft mit Lehrbefähigung für die Sekundarstufe II und fast die gesamte Hochschullehrerschaft rekrutiert sich aus den Reihen der mittleren und oberen Mittelschicht. Von materieller Not weiß diese Schicht laut Bourdieu nichts bzw. kaum etwas; sie glaube mehrheitlich fest an die Autonomie des Bildungswesens und die damit verbundene Illusion der Chancengleichheit und könne sich deshalb den Luxus leisten, eine ruhige und distanzierte, am Formalen und der Tradition orientierte Einstellung zu kulturellen Gütern zu entwickeln, in ihren Schulklassen und Seminaren einzuüben und damit fortzuschreiben. Überdies sei sie mehrheitlich der „Begabungsideologie“ verfallen, die sie dazu verführe, in Absehung von der Bedeutung der familialen Sozialisation für den Umgang mit Wissen, „das als naturbedingte Unfähigkeit wahrzunehmen, was nur die Folge einer inferioren Lage ist“ und ihnen suggeriere, dass das Versagen gewisser Schüler ausschließlich „ihrer individuellen Natur, ihrem Mangel an Begabung geschuldet ist.“123 Als angemessen wahrgenommen und anerkannt werden kann eine kulturelle Kompetenz also nur dann, wenn sie diesen vorherrschenden Wahrnehmungs- und Erzeugungsprinzipien kultureller Güter gleichkommt und entsprechend über die Vergabe von Bildungstiteln abgesegnet bzw. konsekriert wird. Die Vielfalt und Heterogenität der im Raum der Statuspositionen vorzufindenden Wahrnehmungs- und Beurteilungsweisen wird also auf den Ausschnitt des sozialen Raums reduziert, den die kulturell Herrschenden bereits in Besitz genommen haben. Nur diese sind legitim und bringen Anerkennung seitens derer ein, die überhaupt in der Lage sind, Anerkennungsprofite zu verleihen.

122 123

Ebd., S. 150. P. Bourdieu: „Die konservative Schule [1966]“, S. 46.

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I.2.4.3 Die Transformation von sozialem Kapital in symbolisches Kapital Was die Wichtigkeit von Institutionalisierungsakten angeht, so gilt Ähnliches auch für das soziale Kapital in seinen verschiedenen Ausprägungen, also für die zwischen Akteuren auf der Basis von Kommunikation unter Anwesenden aufgebauten, mehr oder weniger affektiv gefärbten Verbindungen und Gruppenzugehörigkeiten. Nehmen wir den Fall einer Eheschließung: Die Heirat verhilft der zuvor rein privaten Beziehung – egal, ob sie auf Passion, Kalkül oder beidem basiert – über ein standardisiertes juridisches Einheitsverfahren zu einer wahrnehmbaren, „objektivierten und kodifizierten Form“124, die sich eventuell auch in der öffentlichen Übernahme eines gemeinsamen Familiennamens zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig verschafft diese Institutionalisierung der Verbindung Sicherheit darüber, welche Rechte und Pflichten die Ehepartner sich wechselseitig garantieren müssen, etwa was die gegenseitige Verfügung über die Kapitalreserven der einzelnen Partner angeht, wobei das staatlich organisierte und kontrollierte Rechtswesen als miterwartender Dritter nicht erfüllte Verpflichtungen sanktioniert. Wichtiger noch aber ist die Zugehörigkeit von Akteuren zu bestimmten Gruppen. Häufig weisen auch Gruppen eine rechtliche Absicherung etwa in Gestalt von Mitgliedsausweisen, Aufnahmeanträgen, Statuten usw. auf, und sie umfassen nicht nur zwei, sondern weitaus mehr Akteure (z.B. politische Parteien oder Sportvereine). Dabei besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Raum der Statuspositionen und der Konstituierung von Gruppen: Die politische Arbeit, die soziale Klassen im Sinne von ‚corporate bodies‘ schaffen soll, permanente Gruppen, die mit permanenten Vertretungsorganen, Siglen usw. ausgestattet sind, hat um so mehr Aussichten auf Erfolg, je näher sich die Akteure, die zusammengebracht, zu einer Gruppe vereinigt werden sollen, im sozialen Raum stehen.125

Das bedeutet letztlich nichts anderes, als dass die Gruppenmitglieder sich wieder tendenziell in der Art ihrer Wahrnehmung und Beurteilung der Praxisformen der sozialen Welt ähneln und sie mehrheitlich denjenigen Anerkennung entgegenbringen, die diesen Beurteilungsprinzipien am stärksten entsprechen. Daraus ergibt sich, „dass die Konstruktion der sozialen Wirklichkeit nicht nur ein individuelles Werk ist, sondern auch ein kollektives Unternehmen werden kann.“126 Kollektivität in diesem Sinne bedeutet also nicht, dass alle Akteure identische Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster teilen, sondern lediglich, dass es ausreichende Übereinstimmungen gibt, um eine relativ homogene Gruppe zu schaffen, die gemeinsame Ziele kooperativ verfolgt.

P. Bourdieu: Praktische Vernunft [1994], S. 109. P. Bourdieu: Rede und Antwort [1987], S. 142. 126 Ebd., S. 144. 124 125

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I.2.5 Die Funktion symbolischen Kapitals als Definitionsmacht Die Perzeption der sozialen Welt und damit das symbolische Kapital als wahrgenommene Form der drei primären Kapitaltypen hängt aber nicht nur von den mit der sozialen Stellung in Einklang gebrachten Beurteilungsschemata der Akteure ab, die im Normalfall die im sozialen Raum eingenommene Stellung vorreflexiv als ‚natürlich‘ und ‚gottgegeben‘ erscheinen lassen, obwohl diese ja – wie wir gesehen haben – arbiträr ist. Die objektiven Strukturen des Systems der Statuspositionen sorgten zwar einerseits dafür, dass „sich die soziale Welt als eine in hohem Maße strukturierte Realität“ präsentiere und „nicht als ein reines Chaos [...], frei von aller Notwendigkeit und auf eine beliebige Weise konstruierbar.“127 Insbesondere über die Unterscheidungen reich/arm sowie gebildet/ungebildet ist soziale Realität immer vorstrukturiert, geht vom System der Statuspositionen immer ein struktureller Zwang aus, der sich nicht einfach aus der Welt schaffen lässt. Andererseits macht der soziale Raum aber auch nur ein Teilsegment des sozialen Kosmos aus, der in seiner polysemantischen Vielschichtigkeit eine ständige Deutungsaktivität seitens der Akteure inspiriert, ja verlangt: Diese [soziale] Welt zeigt sich aber auch nicht völlig strukturiert und in der Lage, einem jeden perzipierenden Subjekt die Prinzipien seiner eigenen Konstruktion aufzudrängen. Über die soziale Welt können unterschiedliche Aussagen getroffen werden, sie kann unterschiedlich, nach unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Teilungsprinzipien konstruiert werden.128

Soziale Praktiken werden also nicht nur über die Leitdifferenzen reich/arm, gebildet/ungebildet oder anerkannt/abgelehnt wahrgenommen und beurteilt, und es gibt eine Vielzahl weiterer, nachgeordneter Differenzierungsmöglichkeiten, die andere Aspekte hervorheben und mit deren Hilfe die Akteure versuchen, der ‚Vielseitigkeit des Gegebenen‘ (Max Weber) gerecht zu werden. Den Grund für die diese Vielseitigkeit sieht der Sprachskeptiker Bourdieu darin, dass die Objekte der sozialen Welt „stets ein Moment von Unbestimmtheit und Unschärfe und zugleich einen bestimmten Grad an semantischer Elastizität beinhalten.“129 Den sozialen Kosmos zu objektivieren, also wissenschaftlich zu beobachten, heißt in diesem Kontext dann auch zu akzeptieren bereit sein, dass diesem einerseits ein Moment der Verschwommenheit anhaftet, andererseits die Sprache als ambivalentes Medium mit ihren oszillierenden Signifikaten und teilweise höchst idiosynkratischen Konnotationen diese Grundeigenschaft der sozialen Welt noch verstärkt:

Ebd., S. 145. Ebd., S. 145. 129 Ebd., S. 147. 127 128

66 | W ERTVOLLE W ERKE Dieses objektive Element von Unsicherheit – häufig verstärkt noch durch den Kategorisierungseffekt, wobei ein und dasselbe Wort unterschiedliche Praktiken abdecken kann – liefert eine Grundlage für die Pluralität von Weltsichten, die ihrerseits an die Pluralität der Gesichtspunkte gebunden ist; und in eins damit eine Grundlage für die symbolischen Kämpfe um die Macht zur Produktion und Durchsetzung der legitimen Weltsicht.130

Spätestens hier wird überdeutlich, dass sich das Konzept hervorragend mit konstruktivistischen Positionen vereinbaren lässt und dass es sich beim symbolischen Kapital keineswegs um eine ontologisierende Kategorie handelt – ein Generalverdacht, der bei der bloßen Verwendung des Kapitalbegriffs wegen dessen materialistischer Genealogie sowie politischen Dienstbarmachung durch den autoritären Marxismus verständlicherweise sofort aufblitzt. Es ist die Sprache, es sind „die Wörter und Namen, die die soziale Wirklichkeit sowohl konstruieren als auch zum Ausdruck bringen.“131 Sprache verstärkt also nicht nur die grundlegende Ambivalenz der Sozialwelt, sondern ruft diese mit hervor. Das vermöge der Wahrnehmungskategorien sinnlich Erfasste kann mithilfe der interiorisierten Klassifikationssysteme benannt und so für kommunikative Akte verfügbar gehalten werden, die allesamt für die Ausbildung sozialer Ordnung konstitutiv sind – wenn auch in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Graden der Objektivierbarkeit. Wenn es nun um die Durchsetzung einer spezifischen Weltsicht geht, tritt das symbolische Kapital auf den Plan: In die symbolischen Kämpfe um die Schaffung des Alltagsverstandes oder, genauer, um das Monopol auf legitime Benennung setzen die Akteure das symbolische Kapital ein, das sie in den vorangegangenen Kämpfen errungen haben.132

Symbolisches Kapital ist also eine Voraussetzung dafür, die eigene Weltkonstruktion nicht nur zu artikulieren, sondern gegenüber anderen Weltkonstruktionen auch zur Geltung bringen zu können, d.h. aus der rein persönlichen Weltsicht eine allgemein anerkannte, legitime Weltsicht zu machen. Die ‚Wahrheit‘ liegt laut Bourdieu aber nun nicht auf Seiten einer solchen besonders strapazierfähigen Weltsicht selbst, die sich gegenüber anderen durchgesetzt hat, sondern die „Wahrheit ist in den Kämpfen im Spiel, die zwischen den Akteuren ausgetragen werden, die über ungleiche Mittel verfügen, um zu einer absoluten, das heißt sich selbst verifizierenden Sicht zu gelangen. Durch die Legalisierung des symbolischen Kapitals gewinnt eine bestimmte Perspektive absoluten, universellen Wert und wird damit jener Relativität entzogen, die per definitionem jedem Standpunkt als einer bestimmten Sicht von einem partikularen Punkt des sozialen Raums aus im-

Ebd., S. 147. Ebd., S. 148. 132 Ebd., S. 149. 130 131

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manent ist.“133 Insofern ist symbolisches Kapital auch eine Form von Benennungsmacht bzw. Definitionsmacht, die letztlich im Stande ist, aus einer landläufigen, symbolisch konstruierten Wahrheit eine rechtmäßige, quasiobjektive Wahrheit zu machen – zumindest sofern ein Mindestmaß an argumentativer Stringenz und eine einigermaßen erfolgversprechende Primärkapitalausstattung vorausgesetzt werden können. Bourdieu spricht daher im Anschluss an Nelson Goodman auch davon, dass symbolisches Kapital als „Vermögen des ‚worldmaking‘“134 bzw. als „Macht, Dinge mit Wörtern zu schaffen“135, bezeichnet werden könne. Um zu demonstrieren, wie essenziell diese performative symbolische Macht sein kann, führt Bourdieu das Beispiel der Sternbilder an. Unzweifelhaft ist die bloße Möglichkeit zur Benennung einer bestimmten Himmelskonstellation an die schier physische Existenz und Sichtbarkeit von Sternen, also an die objektiv-materiale Realität gebunden. Welche Sterne aber zu einem Sternbild zusammengefügt werden und als solches von anderen Konstellationen unterschieden und bezeichnet werden, hängt von den Selektionen des Beobachters ab – und vor allem von seiner Fähigkeit, den getroffenen Selektionen zur Durchsetzung zu verhelfen. Ähnlich verhält es sich nun im Falle der Grenzziehung zwischen Gruppen, Klassen, Geschlechtern und Nationen, die „erst eigentlich zu existieren [beginnen], und zwar für die jeweiligen Mitglieder wie für die anderen, wenn sie oder es entsprechend einem bestimmten Prinzip von anderen Gruppen, Klassen usw. unterschieden wurde, das heißt vermittels Erkennen und Anerkennen.“136 Etwas auf der Basis einer Unterscheidung zu erkennen und zu bezeichnen, bedeutet eben immer auch, das zugrundeliegende Prinzip dieser Unterscheidung anderen Differenzierungsmöglichkeiten vorzuziehen, heißt also, sich beim Kampf um die ‚richtige‘ Definition auf eine Seite zu stellen und sich der auf dieser Seite konzentrierten Definitionsmacht zu beugen, die zum Urheber „des Prinzips legitimer Vision und Division“137 avanciert. Es geht also in der Gesellschaft darum, sich allgemein anerkannte Gliederungs- und Unterscheidungsprinzipien anzueignen und zunutze zu machen, mit deren Hilfe soziale Wirklichkeit symbolisch erzeugt wird.

Ebd., S. 150. Ebd., S. 151. 135 Ebd., S. 153. 136 Ebd., S. 153. 137 P. Bourdieu: Die Regeln der Kunst [1992], S. 216. 133 134

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I.2.6 Die Herausbildung von Zirkeln statuspositionaler Differenz Also Riches joyned with liberality, is Power; because it procureth friends, and servants: Without liberality, not so; because in this case they defend not; but expose men to Envy, as a Prey.138 (Thomas Hobbes) Success, n. The one unpardonable sin against one’s fellows. 139 (Ambrose Bierce)

Nachdem wir die Rekonstruktion der Bildungs- und Funktionsweisen des symbolischen Kapitals abgeschlossen haben, wollen wir nun den Versuch unternehmen, unseren theorienverbindenden Ansatz auszuweiten, dessen Ausgangspunkt wir, wie dargelegt, in der Ergänzung des Problems doppelter Kontingenz durch das Sekundärproblem statuspositionaler Differenz sehen, das über die multiperspektivische Wahrnehmung faktisch ungleich verteilter Primärkapitalsorten entsteht. Das Ziel ist dabei, wahrgenommene statuspositionale Differenz in ihren kommunikativen Implikationen zu betrachten und in ein systemtheoretisches Modell literarischer Kommunikation einzubinden. Wir gehen zunächst von funktionaler Differenzierung als primärer Form gesellschaftlicher Differenzierung aus. Treffen zwei psychische Systeme aufeinander, so besteht das Risiko, dass die auf wechselseitiger Intransparenz der Systeme beruhende Unsicherheit um das Problem der Notwendigkeit der Legitimation statuspositionaler Unterschiede erweitert wird. Statuspositionale Differenz stellt, einmal als solche erkannt, insofern eine Belastung für die Kommunikation dar, als sie bei ausbleibenden Legitimierungsanstrengungen die Wahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikationsofferten in einer Gesellschaftsform, die eine durch göttlichen Willen legitimierte ständische Ordnung nicht mehr kennt, in der Regel herabsetzen dürfte – man hört ohne weiteres niemandem zu, dessen Stellung man als ungerecht oder unverdient empfindet. In unbearbeitetem Zustand birgt wechselseitig wahrgenommene Asymmetrie der Kapitalressourcen also im Extremfall die Gefahr eines Abbruchs der gesamten Kommunikationssequenz. Sie ist somit grundsätzlich als Bedrohung der Autopoiesis sozialer Systeme aufzufassen, die daher Vorkehrungen treffen müssen, dieses von ihren Bewusstseinsumwelten ausgehende Risiko irgendwie wirkungsvoll zu minimieren. Dies gilt insbesondere für solche Fälle, in denen die involvierten 138 139

T. Hobbes: Leviathan [1651], S. 48. A. Bierce: The Devil’s Dictionary [1911], S. 144.

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Akteure nicht der gleichen Institution angehören und in denen die Statusniederen keine organisationssystemisch gestützten Sanktionen befürchten müssen. Wir gehen davon aus, dass statuspositionale Differenz die Autopoiesis der Kommunikation vor allem dann gefährdet, wenn der statushöhere Akteur nicht die institutionell garantierten Machtmittel besitzt, seine eigenen Interessen direkt durchzusetzen. Wann immer es in sozialen Situationen zur Begegnung faktisch statusungleicher psychischer Systeme kommt, was unseres Erachtens praktisch immer der Fall ist, da vollkommen gleich ausgestattete Akteure letztlich nur theoretisch konstruierbar sind, so verfügen beide zunächst über ihren ‚sense of one’s place‘, also über ein intuitives Gespür dafür, welche Statusposition ihre gleichsam ‚natürlich-angestammte‘ ist. Damit ist die soziale Situation aber laut Bourdieu noch nicht in allen ihren ungleichheitstheoretischen Dimensionen erfasst. Soziale Interaktion, so Bourdieu, lasse sich nicht einseitig „auf ein Goffmansches Ringen um die bestmögliche Inszenierung seiner selbst reduzieren: Vielmehr wird hier um eine Macht konkurriert, die nur andere Konkurrenten um dieselbe Macht verleihen können, eine Macht über die anderen, die ihre ganze Existenz den anderen verdankt, ihrem Blick, ihrer Wahrnehmung und Bewertung (sodass zwischen dem Hobbesschen homo homini lupus und dem homo homini Deus Spinozas keine Wahl bleibt)“.140 Die gesellschaftliche Bühne wird von unzähligen Akteuren bevölkert, und wer eine dominante Position einnimmt, zieht automatisch jede Menge beurteilender und bewertender Blicke auf sich. Da reicht es nicht aus, wenn lediglich ein Riecher für die eigene Statusposition entwickelt wird. Statuspositionale Differenz stellt kein substanzielles oder subjektives, sondern ein aus der Konfluenz verschiedener Perspektiven hervorgehendes Problem dar, in das faktisch ungleich distribuierte Kapitalressourcen eingehen. Genau so, wie man bei der Verwendung von Radargeräten auf eine Eigenlokalisation angewiesen ist, um die Position eines georteten Objektes exakt zu ermitteln, so kann Alter seine Statusposition nicht autistisch lediglich aus seiner Binnenperspektive heraus bestimmen, sondern nur in Relation zu den Statuspositionen der anderen Akteure, also in der wahrgenommenen Divergenz der Machtmittel. Ego muss mithin auch für die von Alter eingenommene Stellung ein instinktives Gespür entwickeln, also so etwas wie einen „sense of other’s place“141 – ein vielsagender Neologismus, mit dem Bourdieu an Goffmans populäre Terminologie anknüpft. Dann und nur dann, wenn eine solche Sensibilisierung für die Statusposition Alters tatsächlich vorliegt, erwächst unter bestimmten Wahrnehmungsbedingungen überhaupt erst die Möglichkeit, dass statuspositionale Divergenz bemerkt wird, indem Ego seine eigene Statusposition derjenigen Alters gegenüberstellt und auf differenzielle Abstände stößt, die das nagende Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, auslösen können.

140 141

P. Bourdieu: Meditationen [1997], S. 310. P. Bourdieu: Rede und Antwort [1987], S. 144.

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Wenn Bourdieu nun vom intuitiven Sinn sowohl für die eigene als auch für fremde Statuspositionen spricht, so ist dies unseres Erachtens eine Denkweise, die sich an systemtheoretische Konzepte durchaus anbinden lässt. Entscheidend ist hier der systemtheoretische Begriff der reflexiven Erwartung. Bleiben wir zunächst bei unserer Lesart Bourdieus: Der statuspositionale Sinn ist keineswegs zu verwechseln mit dem abgehobenen und distanzierten Blick des Sozialwissenschaftlers, der etwa mittels quantitativer Erhebungen wie Fragebögen usw. eine kriteriengeleitete und mit statistischen Verfahren arbeitende Bestimmung der Stellungen der Akteure im sozialen Raum leistet, aber nicht unmittelbar in die Praxis des tatsächlichen Aufeinandertreffens solcher Akteure verstrickt ist. Die konkrete praktische Interaktion kann sich auf solch langwierige und komplizierte Prozeduren nicht einlassen, sie verlangt nach schnellen, ja sogar oft nach vorschnellen Entscheidungen teils durchaus stereotyper Art (was vielleicht die hartnäckige Existenz von Vorurteilen erklärt). Spontaneität ist bei Bourdieu eins der konstitutiven Charakteristika sozialer Praxis, die nicht den Elfenbeinturmgesetzen der scholastischen Vernunft gehorcht, zumindest wenn man vom Wissenschaftsbetrieb als besonderem Praxisbereich einmal absieht. Dazu gehört auch, dass man sich, insbesondere beim Zusammentreffen mit Fremden, einen sofortigen Überblick über die spezifische Situation verschaffen muss, um dann die scheinbar ‚richtigen‘ bzw. ‚erfolgversprechenden‘ Spielzüge einzuleiten. Eine solche blitzartig durchgeführte und durchaus vorurteilsbeladene Evaluation der Lage umfasst selbstverständlich auch die Bildung impliziter Hypothesen, die sich auf die Statusposition des Gegenübers beziehen. Diese ist den Akteuren aber nun nicht gerade in die Stirn gemeißelt. Jeder Akteur ist aber über seinen Sinn für die soziale Stellung seines Gegenübers für alle möglichen Indikatoren offen, die eine Erleichterung der Hypothesenbildung versprechen. Der Horizont solcher Indikatoren, hinter denen sich natürlich nichts anderes als das bereits angesprochene System der Unterscheidungszeichen verbirgt, reicht von der Kleidung142, dem Geruch, der Körperhaltung, der Körpersprache, dem körperlichen Erscheinungsbild etc. bis hin zur sprachstilistischen Performanz nach dem Muster elaborierter/restringierter Code Basil Bernsteins. Auf der Grundlage dieser der Wahrnehmung zugänglichen Zeichen wird nun mit grobem Schnitt eine Art vorläufiges Statusprofil Alters erstellt, das immer auch Erwartungen an dessen zukünftiges Verhalten einschließt. Dazu gehört dann auch ein Abgleich mit bereits gemachten Erfahrungen, die sich auf der Basis analoger Merkmale in die Situation einfügen lassen. Solche Erfahrungen werden natürlich immer dann wirksam, wenn bereits persönlicher Kontakt erfolgt ist. Man darf aber auch annehmen, dass insbesondere bei Erstbegegnungen bestimmte Bündel von zutiefst idiosynkratischen Klassifizierungsmerkmalen

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Dass auch Kleidung systemtheoretisch als Medium der Kommunikation gedeutet werden kann, hat Cornelia Bohn vor einiger Zeit dargelegt. Vgl. Cornelia Bohn: „Kleidung als Kommunikationsmedium [2000]“, S. 111-135.

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an die wahrzunehmende Person herangetragen werden, die eine Zuordnung zu einem bestimmten Menschenschlag, also zu einem auf der Basis kommunikativer Vorgaben selbstkonstruierten Typus ermöglichen. Psychische Erwartungen werden von Luhmann wiederum nicht als tatsächliche Gedanken im Sinne eines ausdrücklichen ‚Ich erwarte jetzt, dass genau x eintritt...‘ gedacht, sondern es genügt, wenn ein psychisches System durch die tatsächlich aktualisierten Ereignisse nicht überrascht wird und wenn es diese in ihrer Abfolge als typische und quasi-natürliche Konsequenz vorausgegangener Ereignisse erlebt. Psychische Erwartungen haben bei Luhmann einen impliziten Charakter insofern, als sich Bewusstseinssysteme auf eine gewisse Bandbreite möglicher und aus ihrer Sicht wahrscheinlicher Ereignisse einstellen, ohne diese notwendigerweise im Vorhinein konkret gedanklich durchdekliniert zu haben. Tritt dann ein Ereignis aus diesem Erwartungsspektrum ein, so kann sich das erwartende System in seiner vorbewussten Prognose bestätigt fühlen und auf dieser Basis weitermachen. Erwartungsbildung bei psychischen Systemen setzt also nicht vornehmlich auf Bewusstheit und rationales Kalkül, sondern vor allem auf Antizipation, also eben auf ein intuitives Gespür. Psychische Erwartungsbildung geht mit Instinktsicherheit einher, wenn man so will. Insoweit sind Bourdieus ‚sense of one’s place‘ und Luhmanns Erwartungsbegriff auf der Realitätsebene psychischer Systeme durchaus kompatibel, und vielleicht sollte man daher seitens der Systemtheorie nicht ausgerechnet von Bewusstseinssystemen sprechen, wenn der Beitrag präreflexiver Intuition bei der Erwartungsbildung auf diese Weise konzipiert wird. Der ‚sense of one’s place‘ impliziert nun, dass Ego auf der Grundlage der faktischen Verteilung der Kapitalien gemäß vorbewusster Kalkulationen in Selbstreferenz eine mehr oder minder realistische Vorstellung der eigenen Statusposition konstruiert und diese Statusposition mit einem bestimmten Spektrum an Verhaltensalternativen verbindet, die ihm statusadäquat erscheinen, also z.B. ‚in der Nase bohren‘ oder ‚einen großen Denker wie Aristoteles zitieren.‘ Der ‚sense of other’s place‘ eröffnet dem psychischen System nun die Möglichkeit des Umschaltens auf Fremdreferenz. In Abstimmung mit der beobachteten Erscheinung, dem Sprachgestus, den Manieren, dem Verhalten und allen anderen Unterscheidungszeichen, für die es sensibilisiert ist, lotet es die vermutliche Statusposition seines Kommunikationspartners aus unter Verwendung von beobachtungsleitenden Unterscheidungen wie arm/reich oder gebildet/ungebildet, die an die Primärkapitalformen gekoppelt sind, und verbindet diese Einschätzung mit einem breit gefächerten Bündel an Praxisformen, die es von Personen dieser Stellung typischerweise erwartet und die es unter Verwendung des binären Schemas statusadäquat/statusinadäquat einordnet. Ego ‚weiß‘ also in diesem Sinne um die eigene sowie um Alters Stellung im sozialen Raum. Geht man vom systemtheoretischen Begriff reflexiver Erwartungen aus, muss Alter auf der Grundlage seiner Selbsterfahrung damit rechnen, dass es Ego genauso geht wie ihm selbst, ihm also ebenfalls einen ‚sense of one’s

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place‘ sowie einen ‚sense of other’s place‘ unterstellen. Das bedeutet nichts anderes, als dass Ego unbewusst davon ausgeht, dass Alter ebenfalls auf der Basis faktischer Kapitaldistribution die eigene sowie die fremde Statusposition rekonstruiert und diese mit bestimmten, durch subjektive Vorstellungen von Statusadäquatheit angereicherten Erwartungen versieht. Alter wird also für Ego zum Alter Ego und es kommt zum Aufbau von Erwartungserwartungen. Nur unter dieser Prämisse kann nach Maßgabe systemtheoretischer Modellierung kommunikativer Prozesse überhaupt die Möglichkeit entstehen, dass faktische Statusdifferenz über Wahrnehmung sozial relevant zu werden vermag. Ist statuspositionale Differenz einmal von mehreren Psychen gleichzeitig sinnlich erfasst, was unserer Argumentation zufolge ja auch eine Frage des Auflösungsvermögens, also sozusagen des genauen Hinschauens ist, so entsteht eine zirkuläre Ausgangslage, die gewissermaßen die kommunikativen Voraussetzungen für die Selbstkonstitution neidischer wie zufriedener Akteure bzw. psychischer Systeme schafft, indem sie die Möglichkeit des wechselseitigen interpersonellen Vergleichens überhaupt erst in die Welt setzt. Neid wie Glück entspringen, so gesehen, nicht nur isolierten individualpsychologischen Neigungen, sondern weisen auch eine in der konkreten Situation des Aufeinanderstoßens von Akteuren wurzelnde soziale Fundierung auf. Diese Einsicht findet sich in embryonaler Form schon in Francis Bacons Essays. Dort heißt es in Bezug auf einen statusniederen Akteur: In anderer Leute Angelegenheiten herumzukramen, entspringt ja nicht dem Wunsch, mit dem ganzen Getue Sorge um ihr Wohlergehen zu beweisen; es ist vielmehr einleuchtend, daß man sich nur eine Art Zeitvertreib daraus macht, in den Verhältnissen der andern herumzustöbern; auch kann niemand, der sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, viel Gelegenheit zum Neide finden. [...] Der Neid folgt nämlich immer dem Vergleichen mit sich selbst: wo also kein Vergleich stattfindet, gibt es auch keinen Neid.143

Neid entsteht mithin auf dem Umweg der Gegenüberstellung der eigenen Kapitalausstattung mit dem Kapitalvolumen anderer (sofern für solche Aktivitäten ausreichend freie Zeit zur Verfügung steht – ein wachsender Überschuss an Freizeit scheint also, folgt man Bacons Gedankengang, das Problem der Wahrnehmung statuspositionaler Differenz der Tendenz nach zu verstärken). Aber auch Glück versteht Bacon nicht als subjektives, rein aus dem eigenen Ich kommendes Gefühl allein. Wie wir einem schon fast psychotherapeutisch anmutenden Diktum entnehmen können, kann ein Glücksgefühl auch dann entstehen, wenn sich statushöhere Akteure ganz einfach in die Lage ihrer weniger privilegierten Zeitgenossen einfühlen:

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F. Bacon: „Über den Neid [1625]“, S. 25ff. Wir zitieren hier im Gegensatz zu den Aphorismen, die den einzelnen Unterkapiteln vorangestellt sind, ganz bewusst aus der dt. Übersetzung, um den Lesefluss nicht zu stören.

R EPUTATION IM L ITERATURSYSTEM | 73 Fürwahr, hochgestellte Personen tun gut daran, sich in die Meinung anderer zu versetzen, um sich selbst für glücklich zu halten; denn wenn sie nach ihren eigenen Gefühlen urteilten, käme es ihnen nicht so vor. Wenn sie sich aber ausmalen, was andere von ihnen denken und dass viele gern mit ihnen tauschen möchten, dann sind sie glücklich, gleichsam wie durch Widerhall, wenn sie innerlich vielleicht das Gegenteil empfinden.144

Wir gehen also von der Möglichkeit der Herausbildung eines Zirkels wahrgenommener statuspositionaler Differenz aus, der insofern asymmetrisch ist, als er sich sozusagen an der Bipolarität von Neid und Zufriedenheit aufrichtet. Dieser von der Wahrnehmung ungleich verteilter Ressourcen gewissermaßen deformierte und insofern ‚reparaturbedürftige‘ Zirkel wird, so unsere These, von zwei Urformen prototypischer Erwartungserwartungen seitens der beteiligten psychischen Systeme geprägt, die der sozialen Situation eine ganz spezielle Grundierung geben. Der Statushöhere erwartet reflexiv nach dem Motto: ‚Ich bin bereit, meine Statusposition zu rechtfertigen, wenn du bereit bist, mir zuzuhören.‘ Umgekehrt gilt für den Statusniederen: ‚Ich bin bereit, dir zuzuhören, wenn du bereit bist, deine Statusposition zu rechtfertigen.‘ Ego und Alter machen ihr zukünftiges Verhalten also simultan voneinander abhängig und richten ihre Zukunftserwartungen aneinander aus. Als statushöherer Akteur muss Ego nicht gleich um den völligen Verlust seiner ökonomischen oder kulturellen Dominanz bangen, aber zumindest seine Beliebtheit bzw. seine Fähigkeit, angehört zu werden und damit die eigene Weltkonstruktion durchsetzen zu können, steht auf dem Spiel. Aus diesem Grunde besteht für ihn ein Anlass, Legitimierungswillen zu entwickeln – es sei denn, ihm ist es – aus welchen Gründen auch immer – gleichgültig, ob er Anerkennung findet oder nicht, was einem freiwilligen Verzicht auf symbolische Herrschaft gleichkäme. Als statusniederer Akteur wiederum muss Alter erwägen, dass Ego seine Macht eventuell zum Nachteil seiner selbst ausspielt und entwickelt daher die Geneigtheit, sich auf etwaige Rechtfertigungsversuche zumindest einzulassen – möglicherweise auch dann, wenn keine unmittelbar institutionsgestützten Sanktionen drohen. Anders ausgedrückt: Der Herr fürchtet die Heugabel des Knechts, der Knecht die Knute des Herrn. Auf diesem Wege baut sich ein selbstreferenzieller Zirkel von Erwartungserwartungen auf, der sich in den Bewusstseinsumwelten der Kommunikation etabliert und insofern sozial brisant ist, als laut Luhmann „die Strukturebene des Erwartens von Erwartungen eine Quelle von Konflikten ist.“145 Mit Blick auf die Umstellung der primären Differenzierungsform der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung muss man sogar von einer deutlichen Verschärfung der Ausgangslage sprechen. War die soziale

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F. Bacon: „Über die hohe Stellung [1626]“, S. 34. N. Luhmann: Soziale Systeme [1984], S. 417.

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Stellung eines Akteurs in der stratifizierten Gesellschaft fast ausschließlich durch die Geburt festgelegt und durch den Glauben an eine damit verbundene göttliche Ordnung hinreichend begründet, gerät sie nun im Zuge des Erstarkens von Forderungen nach Freiheit und Chancengleichheit zunehmend ins Fadenkreuz derjenigen, die sich in inakzeptabler Weise benachteiligt fühlen: Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft benötigt eine Individualität der Gesellschaftsmitglieder, was diesen größtenteils eine Identitätsform auferlegt, die sich im Erheben von Ansprüchen konstituiert; und diese Ansprüche nähren sich in hohem Maße aus als ungerechtfertigt erlebten Ungleichheiten der sozialen Lagen.146

In sozialen Situationen, in denen sich dieser auf wechselseitige Wahrnehmung machtproportionaler Asymmetrien angewiesene Zirkel voll ausprägen kann, ist deshalb dringend damit zu rechnen, dass die Strukturbildung der Kommunikation hiervon nachhaltig irritiert und – selbstverständlich auf nichtkausale Weise – beeinflusst wird, denn damit sind die bewusstseinsförmigen Voraussetzungen für jegliche auf Ungleichheit zurückgehenden Auseinandersetzungen erfüllt, die dann nur noch ihrer kommunikativen Manifestation harren. Luhmann hat im Hinblick auf das Eigentum als Zweitcodierung des Mediums Geld selbst darauf hingewiesen, die „Opposition von Haben und Nichthaben“ sei „zwar nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit der Unterscheidung von reich und arm“, sie könne „jedoch, wenn unkontrolliert, extreme Differenzen zwischen reich und arm erzeugen und sich daher der sozialen Kritik aussetzen“147 – freilich ohne den Gedanken der Kontrolle weiter zu verfolgen und ohne eine Begründung dafür zu liefern, weshalb es nur in Ausnahmefällen zum Konflikt kommen soll. Wie dem auch sei, gelingt dem Statushöheren die Rechtfertigung seines Statusprivilegs nicht, muss damit gerechnet werden, dass der Statusniedere seine Verständigungsbereitschaft aufkündigt und sich bewusstseinsmäßig anderen Dingen zuwendet, auch wenn dies irrational und unvernünftig erscheinen mag. Gerade in der literarischen Kommunikation, die im Gegensatz zu anderen Kommunikationstypen einen auffallend geringen Institutionalisierungsgrad aufweist und damit kaum über standardisierte Sanktionsprozeduren verfügt, muss aus Gründen des Selbsterhalts ständig um die Aufmerksamkeit und die Akzeptanz des Publikums gerungen werden, ohne die der Kommunikationsfluss jäh abreißen würde. Das Literatursystem kann daher diese Umweltkonstellation nicht einfach außer Acht lassen und muss Maßnahmen ergreifen, um die eigene Autopoiesis überhaupt auf Dauer gewährleisten zu können. Man könnte daraus schließen, dass wechselseitig wahrgenommene statuspositionale Differenz einen rein destruktiven Charakter aufweise, da sie im Grunde

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U. Schimank: „Funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit“, S. 73. N. Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft [1988], S. 189.

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genommen keinen positiven Beitrag zur Fortsetzung der Selbstreproduktion sozialer Systeme leiste. Dieser Sichtweise wollen wir aber ausdrücklich widersprechen. Schon deshalb, weil die Negativvariante der doppelten Kontingenz bei der Bildung von Zirkeln statuspositionaler Differenz nicht als „Auslöseanlaß“ zum Einsatz kommt, kann sich aus dieser Ausgangslage kein parasitäres Konfliktsystem im Sinne Luhmanns bilden.148 Vielmehr ist es sogar so, dass die den Zirkeln statuspositionaler Differenz zugrundeliegenden prototypischen Erwartungserwartungen der Kommunikation egal welchen Typs die Chance eröffnen, die psychischen Beiträge aufnahmebereiter Bewusstseinssysteme für die eigene Autopoiesis produktiv in Anspruch zu nehmen. Auf der Emergenzebene der Kommunikation, so unsere These, entwickeln und aktivieren sich also immer dann auf Legitimation der Statuspositionen ausgerichtete Erwartungen, wenn in der Bewusstseinsumwelt eine diffizile, aber lediglich theoretisch voraussetzungsreiche Konstellation wie die oben beschriebene eintritt, in der, um es in den Worten des Interdiskurstheoretikers Jürgen Link zu formulieren, eine unterlegene „disponierte Subjektivität“ auf eine überlegene „disponierende Subjektivität“ trifft, die über mehr Kapitalreserven verfügt und somit einen privilegierten Zugriff auf die „Klaviatur“ der vom Dispositiv der Macht zur Verfügung gestellten Techniken zur Ausübung von Herrschaft besitzt.149 Als Umweltkomponente kommunikativer Praxis ist diese statusdifferenzielle Figuration immer darauf angewiesen, dass bestimmte, die Wahrnehmung von Kapitalressourcen betreffende Prämissen gleichzeitig und unter Einbezug mindestens zweier verschränkter Perspektiven erfüllt werden. Die bloße Faktizität ungleicher Kapitaldistribution fungiert zwar mit Sicherheit als eine Art Brandbeschleuniger und sorgt für eine Verwurzelung der individuellen Wahrnehmung in der objektiv-materialen Realität, sie ist aber keine Garantie dafür, dass sich der Zirkel statuspositionaler Differenz auch wirklich schließt. Das System der Statuspositionen, so unsere These weiter, determiniert nicht im Sinne eines Mechanismus, wann und wo genau statuspositionale Differenz zum Problem für die Bewusstseinssyteme und damit für die Kommunikation wird. Anders ausgedrückt: Die statuspositionalen Sterne müssen, im Gegensatz zum immer präsenten Fundamentalproblem der doppelten Kontingenz, günstig stehen, damit sich die Kommunikation überhaupt genötigt fühlt, eine Orientierung ihrer Autopoiesis am Legitimationsproblem zu initiieren. Täte sie das aber trotz des episodischen und vielleicht konvulsivisch zu nennenden Eintretens einer solchen Machtdiskrepanzen bewusst machenden Konstellation nicht, stünde zu befürchten, dass die strukturelle Kopplung zwischen Bewusstsein und Kommunikation alsbald abreißt. Die psychischen Systeme müssen schließlich, um anschlussfähige Mitteilungen generieren zu können, über Erwartungsmuster verfügen, die sich mit den wechselseitig beobachte-

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Siehe N. Luhmann: Soziale Systeme [1984], S. 531. J. Link: „Dispositiv und Interdiskurs“, S. 221.

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ten kommunikativen Ereignissen auch vereinbaren lassen. Die sozialen Systeme wiederum können im Verlauf ihres Selbstvollzugs nur solche Erwartungsstrukturen etablieren, die eine hinreichende Bewusstseinsbeteiligung garantieren können. Die Kommunikation kann also, so betrachtet, das erst genuin über Sinnesreize, nicht lediglich über statistische Messbarkeit erzeugte Problem statuspositionaler Differenz in ihren Umwelten nicht einfach ignorieren und muss sich selbst in die Lage versetzen, das für eine Vielzahl konkreter Aktualisierungen offene Strukturmuster der Legitimation statuspositionaler Differenz bei Bedarf immer wieder reproduzieren zu können. Was aber nun konkret als statuslegitimierende Praxisform die beteiligten Psychen zu überzeugen vermag und was nicht, wird flexibel von Fall zu Fall entschieden und kann dann kommunikativ neu ausgehandelt werden. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Anlass dafür, von der Existenz transzendentaler statuslegitimierender Konstanten auszugehen. Nicht jede Spende bringt automatisch symbolisches Kapital ein, der Schuss kann auch nach hinten losgehen. In Anlehnung an Bourdieus eigene Argumentation lässt sich die Aktualisierung kommunikativer Strukturmuster der Legitimation statuspositionaler Differenz nun im Hinblick auf die einzelnen Primärkapitalformen präzisieren, zumindest hinsichtlich ökonomischen und kulturellen Kapitals. Gehen wir davon aus, dass Alter sich selbst als arm, Ego aber auf der Basis bestimmter Indikatoren als reich perzipiert und umgekehrt Ego sich selbst als reich und Alter als arm. Beide erkennen also ihre statuspositionale Differenz in der ökonomischen Dimension, was Ego unter Rechtfertigungsdruck setzt, sofern ihm an symbolischem Kapital gelegen ist. Ego erwartet, dass Alter von ihm legitimierende Praxisformen erwartet, die ihn als selbstlos und materiell desinteressiert erscheinen lassen und den Eindruck erwecken, dass er seine Stellung auch verdiene. Das wiederum verlangt danach, dass Ego antizipieren muss, welches Verhalten als altruistisch aufgefasst werden könnte. Alter hingegen erwartet, dass Ego um seine ökonomische Superiorität weiß und entsprechende Anstrengungen unternehmen wird, diese zu legitimieren. Die weiteren Verhaltensbeiträge Egos wird Alter daher unter Verwendung des Präferenzcodes altruistisch/egoistisch bzw. materiell desinteressiert/interessiert beurteilen und bewerten und darauf die Entscheidung wurzeln lassen, ob er Ego Anerkennung zollen und weiter zuhören möchte oder nicht. Dabei gibt die Kommunikation nicht schematisch oder normativ vor, was alles zwingend als desinteressiert aufgefasst werden muss. Auch gibt es keine ordentliche Schiedsinstanz, die mit Verbindlichkeit festlegt, welche Legitimierungsakte mit Anerkennung zu vergelten sind. Mittels der binären Ja/Nein-Codierung von Sprache lässt die Kommunikation den involvierten psychischen Systemen als strukturdeterminierten Systemen die Freiheit, darüber selbst zu befinden, ob etwa eine Spende interessengeleitet erfolgte oder nicht. Einziger Maßstab dürfte hier die Selbstsozialisation sein, die allerdings selbstverständlich im Zusammenhang mit ihrem spezifischen Reizumfeld, Milieu oder auch Soziotop zu sehen ist. Mit Sicherheit aber

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müssen sich alle Akteure im Falle einer vollen Ausprägung des Zirkels statuspositionaler Differenz daran orientieren, dass die Kommunikation an sie die überpersönliche Erwartung der Rechtfertigung materieller Herrschaft richtet. Prinzipiell können dabei fast alle Praktiken unter dem Aspekt materiellen Interesses/Desinteresses betrachtet und beurteilt werden, also auch Kommunikationsofferten, die im Rahmen literarischer Kommunikation gemacht werden. Etwas anders gestaltet sich der Beitrag, den die mit der Leitdifferenz gebildet/ungebildet operierende wechselseitige Wahrnehmung ungleich verteilter Kulturkapitalressourcen für das Zustandekommen eines voll ausgebildeten Zirkels statuspositionaler Differenz leisten kann. Diese Primärkapitalform ist als inkorporiertes und bisweilen objektiviertes bzw. zertifiziertes Agglomerat mentaler Schemata nicht auf andere Akteure direkt übertragbar, es handelt sich also nicht um eine Form des Reichtums, die einem – im Gegensatz zu Schenkungen oder Erbschaften – „nur so entgegenstürzt.“150 Der Erwerb kulturellen Kapitals erfordert, wie wir wissen, immer eine individuelle mentale Anstrengung des zur Wissensaneignung bereiten Akteurs. Das verringert unseres Erachtens prinzipiell den Argwohn derjenigen, die sich im Vergleich zu ihrem Gegenüber auf der Basis verschiedenster Indikatoren wie z.B. Sprachkompetenz, Faktenwissen, Fremdsprachenkenntnisse, Bildungstitel, Zitierweise etc. als weniger gebildet und damit kulturell unterlegen einschätzen, denn diese wahrgenommene kulturelle Dominanz ist etwas, das man sich, allerdings auf der ungleichheitsforcierenden Grundlage ansozialisierter ‚master dispositions‘ sowie des genetischen Erbes, mehr oder minder mühselig erarbeiten muss. Diesen neidentschärfenden Aspekt betont auch Bacon, wenn auch nicht in unmittelbarem Bezug auf Bildung und Wissen, sondern auf gesellschaftliches Ansehen, also sekundäres symbolisches Kapital: Weniger dem Neide ausgesetzt sind alle, die unter großer Mühsal, unter Anstrengungen und Gefahren zu Ehre und Ansehen gekommen sind. Die Menschen erkennen es an, dass ihr Glück sauer verdient worden ist, und bemitleiden sie sogar zuweilen. Mitleid aber überwindet den Neid.151

Wir folgern daraus, dass ein Mehr an Kulturkapital der Tendenz nach weniger Rechtfertigungsdruck hervorruft als ökonomisches Kapital, das ja auch in Bourdieus Kapitalienhierarchie den Spitzenplatz einnimmt. Wir meinen aber auch, dass kulturelle Dominanz keineswegs frei ist von jeglichem Legitimierungszwang. Die Möglichkeit, kulturelles Kapital zu akkumulieren, ist ja mitnichten voraussetzungslos. Sie erfordert ganz erhebliche Zeitinvestitionen, die nur dann getätigt werden können, wenn ein Akteur über ein hinreichendes, meist nicht selbst erwirtschaftetes Vermögen verfügt, das ihm gestattet, dem zunächst brotlosen Studium scholastischen Wissens zu frö150 151

F. Bacon: „Über den Reichtum [1625]“, S. 121. F. Bacon: „Über den Neid [1625]“, S. 28.

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nen, um dann mit teils deutlicher zeitlicher Verzögerung den materiellen Mehrwert kultureller Dominanz abschöpfen zu können. Begabungsideologien und Genieästhetiken kommen da als spezifisch auf kulturelle Herrschaft ausgerichtete kommunikative Strukturmuster der Legitimation statuspositionaler Differenz gerade recht, da sie diese Grundvoraussetzung des Erwerbs kultureller Kompetenz einzig und allein in den nebulösen Bereich der genetisch festgelegten Intelligenz verlegen und somit die sozialen Voraussetzungen der Akkumulation von Bildungskapital verschleiern helfen. Wie sich leicht feststellen lässt, geistern diese Semantiken der Beschwörung angeborenen Talents schon seit Jahrhunderten durch die sozialen Gedächtnisse der Funktionssysteme und prägen dadurch ihre sich selbst sozialisierenden Bewusstseinsumwelten. Man kann daraus schließen, dass solche (vielleicht als ‚magisch‘ zu bezeichnenden) Alltagstheorien wie die Begabungsideologie und die gerade auch für den Literaturbetrieb, aber auch für andere Kunstsparten so bedeutsame Genieästhetik selbst schon so etwas wie präformierte Legitimierungsakte darstellen, mit deren Hilfe kulturell Dominierende ihre spezifische Herrschaftsform zu stabilisieren versuchen. Kulturelle Superiorität ist eben demzufolge eine Frage der natürlichen Anlage, nicht des Fleißes; dabei zeigt doch auch gerade das Schulversagen vieler Hochbegabter, dass sich die Akkumulation vor allem objektivierten Kulturkapitals wesentlich vielschichtiger gestaltet, als es solch simple Erklärungsmuster suggerieren. Da aber die Begabungsideologie zumindest teilweise auf faktischen Tatsachen beruht und überdies die durch die milieuspezifische Sozialisation hervorgerufene Ungleichheit erfolgreich ausblendet, kann sie als routinemäßig abrufbarer Legitimierungsbehelf, d.h. als mit großer Wirksamkeit wiederverwendbares kommunikatives Strukturmuster der Rechtfertigung von Machtasymmetrien eine nicht zu unterschätzende Viabilität entfalten. Wenn die kommunikative Legitimierung ökonomischer oder kultureller Überlegenheit aber fehlschlägt, besteht die Gefahr, dass die den Zirkeln statuspositionaler Differenz zugrundeliegende doppelte Kontingenz in Aversion umschlägt und dann zur Bildung von Konfliktsystemen führt. Schon Francis Bacon erkannte vor ungefähr vier Jahrhunderten, wie wir gesehen haben, die Wichtigkeit der Fähigkeit zum Perspektivwechsel, wenn es um die angemessene Beurteilung der eigenen Lebenslage und Lebenschancen geht. Bacon vermutete, das Erleben individuellen Glücks sei nur dann möglich, wenn der Glücksuchende, bei ihm der Sonderfall einer einflussreichen Persönlichkeit, die eigene Statusposition aus der Perspektive eines fiktiven externen Beobachters eigenhändig rekonstruiert, und wenn gemäß dieser empathischen Rekonstruktion die Unterstellung eines Verlangens nach einem Rollentausch plausibel erscheint. Damit bleibt Bacon aber auf der individualpsychologischen Ebene stehen, denn sein Ratschlag thematisiert nur die Operationen eines einzelnen psychischen Systems, wenn auch unter dem Gesichtspunkt der Fremdreferenzialität. Bourdieu geht zwar gegenüber Bacon einen Schritt weiter, indem er die Akteure im System der

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Statuspositionen unter dem Aspekt der ungleichen Verteilung von Kapitalien miteinander relationiert, also über die individuelle Ebene hinausgeht. Er weist dabei jedem Akteur eine bestimmte Stellung in der Struktur des sozialen Raums zu, die sich aus dem Abgleich mit allen anderen synchron eingenommenen Stellungen ergibt, und gewinnt so ein äußerst detailliertes makrosoziologisches Bild der vertikalen Differenzierung moderner Gesellschaften. Bourdieu übersieht aber, dass die soziale Praxis zunächst einmal nur die Akteure zusammenführt, die miteinander im Rahmen von Interaktions-, Organisations- oder Funktionssystemen unmittelbar oder massenmedial kommunizieren – unabhängig davon, aus welcher Region des sozialen Raums sie kommen. Obwohl er eine Theorie der Praxis vorlegt, abstrahiert Bourdieu mit dem abgehobenen holistischen Konzept eines Systems von Statuspositionen zu stark vom konkreten Aufeinandertreffen sozialer Akteure und muss daher zwangsläufig blind bleiben für das letztlich mikrosoziologische Fundamentalproblem doppelter Kontingenz. Bei ihm treffen nicht mindestens zwei wahrnehmende, beurteilende und mit einem statuspositionalen Sinn ausgestattete Akteure irgendwie aufeinander, sondern ein singulärer Akteur bringt von seiner relativen Statusposition aus Praxisformen hervor, die sich zwar von anderen formal unterscheiden, aber nicht unter dem praktischen Aspekt der Anschlussfähigkeit betrachtet, sondern lediglich als Versuch gedeutet werden, die eigene Statusposition zu verbessern oder zu rechtfertigen. Verbunden wird dies mit der These einer Strukturhomologie zwischen dem System der Statuspositionen und dem Raum der Stellungnahmen, den Bourdieu ebenfalls als strukturelles Gebilde deutet, das alle gleichzeitig konkurrierenden Praxisformen miteinander korreliert. Bourdieus Soziologie bleibt in diesem Sinne eigentümlich monologisch und trotz ihres dynamischen Strukturbegriffs zu sehr dem klassischen strukturalistischen Paradigma verhaftet.152 Wenn wir hier von der Möglichkeit der Etablierung eines Zirkels statuspositionaler Differenz sprechen, so betrachten wir dies aber als Versuch, die überzeugenden ungleichheitstheoretischen und machtanalytischen Einsichten der Kapitaltheorie Bourdieus für eine systemtheoretische Betrachtung fruchtbar zu machen. Dieses Ansinnen verdankt sich vor allem auch dem Hinweis Luhmanns darauf, dass mit dem „Umbau von Stratifikation auf funktionale Differenzierung [...] zwar die Differenzierungsform der Gesellschaft geändert, keineswegs Schichtung aber beseitigt [wird]. Nach wie vor gibt es immense Unterschiede zwischen reich und arm, und nach wie vor wirken diese Unterschiede sich auf Lebensformen und den Zugang zu Sozialchancen aus. Geändert hat sich aber, daß dies nicht mehr die sichtbare Ordnung der Gesellschaft schlechthin ist, nicht mehr die Ordnung, oh-

152

Zu einem hinsichtlich des Verweises auf Monologizität ähnlichen Urteil kommt auch Cornelia Bohn in ihrer systemtheoretisch inspirierten Kritik der Bourdieu’schen Theorie des sprachlichen Austauschs. Wir werden später noch näher auf Bourdieus kommunikationstheoretische Konzeptionen zu sprechen kommen. Vgl. C. Bohn: Habitus und Kontext [1991], S. 88.

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ne die überhaupt keine Ordnung mehr möglich wäre. Daher verliert Schichtung ihre alternativenlose Legitimation und findet sich seit dem 18. Jahrhundert mit dem Postulat der Gleichheit aller Menschen konfrontiert, an dem sich Ungleichheiten zu messen und gegebenenfalls funktional zu rechtfertigen haben.“153 I.2.7 Symbolisches Kapital und symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Im fachsoziologischen Spezialdiskurs hat Ludgera Vogt bereits 1997 die Forderung aufgestellt, „danach zu fragen, inwiefern Bourdieus Kapitalkonzept und dessen machtbezogene Perspektivierung von Ehre sinnvoll verbunden werden kann mit systemtheoretischen Sichtweisen Niklas Luhmanns.“154 Erkenntnisleitend, so Vogt weiter, müsse dabei der „Gedanke der kommunikativen Konstruiertheit der Ehre“ sein, der „auf mögliche Funktionen des Ehrkapitals als Kommunikationsmedium“ schließen lasse. Notwendig sei daher in „theorievergleichender Perspektive [...] zu klären, ob sich die Logik des symbolischen Kapitals systematisch in Beziehung setzen läßt zum systemtheoretischen Konzept der Medien.“155 Bestätigung dafür, dass es sich hierbei um ein eventuell lohnendes Vorhaben handeln könnte, findet sich bezeichnenderweise bei Luhmann selber. In seiner letzten großangelegten und noch zu Lebzeiten veröffentlichten Arbeit, Die Gesellschaft der Gesellschaft, die man wohl als das sozialtheoretische Testament des Bielefelder Soziologen ansehen darf, weist Luhmann nicht ohne eine gewisse Überheblichkeit darauf hin, dass Bourdieu mit seinem Konzept des symbolischen Kapitals einen „vergleichbaren (aber viel weniger ausgearbeiteten) Theorieanspruch“156 verfolge wie er selbst mit seinen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Leider ist Luhmann aber eine tiefer gehende Begründung dieses aufschlussreichen Verdiktes schuldig geblieben, das sich explizit lediglich auf Bourdieus Monografie Was heißt sprechen? stützt, die aus dem Jahr 1982 stammt. Dabei handelt es sich um eine Arbeit, die sich vornehmlich mit Problemen sprachlicher PerN. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 772f. L. Vogt: Zur Logik der Ehre, S. 148. 155 Ebd., S. 149. 156 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 318, Fn. 220. Schon 1980 hatte Luhmann überdies vor dem Hintergrund seiner Analyse der Semantik von Oberschichtinteraktion im 17. und 18. Jahrhundert festgestellt, dass „Ehre wiederum [...] symbolisch generalisierte Interaktionsfähigkeit in der Oberschicht“ gewesen sei und damit erstmals eine argumentative Verknüpfung zwischen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und Ehrvorstellungen hergestellt, wenn auch hinsichtlich stratifizierter Gesellschaften und ohne ausdrücklichen Bezug auf Bourdieus Konzept symbolischen Kapitals. Vgl. N. Luhmann: „Interaktion in Oberschichten [1980]“, S. 96. 153 154

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formanz auseinandersetzt und über ein quasi-ökonomisches Modell sprachlichen Austausches zu klären versucht, inwieweit die performative Rede zur Reproduktion symbolischer Machtverhältnisse beiträgt. Zurecht ist diese Arbeit wohl von Luhmann als Kernstück einer ungleichheitstheoretischen Kommunikationstheorie rezipiert worden, und die in Luhmanns eingangs erwähntem Statement implizierte Kritik ist nicht völlig unberechtigt. Er übersieht dabei allerdings, dass die angesprochene Monografie keineswegs dazu taugt, eine wirklich fundierte Rekonstruktion des theoretischen Gesamtkonzeptes zu leisten, das sich hinter dem vielschichtigen und mehrfach revidierten Begriff des symbolischen Kapitals verbirgt. Selbstverständlich aber sollte ein Versuch, medien- und kapitaltheoretische Theoreme aus Feldsoziologie und Systemtheorie miteinander in eine fruchtbare literaturwissenschaftliche Synthese zu bringen, nicht darauf verzichten, diesem von Luhmann selbst eingeführten Diskurselement genauere Beachtung zu schenken. Wenden wir uns zunächst skizzenhaft dem Luhmann’schen Medienkonzept im Ganzen zu. Luhmann geht von der Prämisse aus, dass gelingende Kommunikation prinzipiell unwahrscheinlich ist, wobei er drei Hauptprobleme ausmacht, die hierfür verantwortlich zeichnen. Das erste gravierende Hindernis für gelingende Kommunikation besteht in der Unwahrscheinlichkeit der gegenseitigen Erreichbarkeit der Kommunikationsteilnehmer. Um die Möglichkeit der Kontaktaufnahme auch jenseits körperlicher Kopräsenz psychischer Systeme zu gewährleisten, greift die Kommunikation auf Verbreitungsmedien zurück, die geografische und zeitliche Distanzen zu überbrücken helfen. Dabei kann auf immer fortschrittlichere Technologien wie Schrift, Buchdruck, Telegrafie, Rundfunk, Telefon, Fernsehen, Internet, Mobiltelefon usw. zurückgegriffen werden, die im Laufe der gesellschaftlichen Evolution das Erreichbarkeitsproblem zunehmend entdramatisieren, indem sie Kommunikationen konservieren und für spätere Reimprägnierung aufbereiten, aber auch Telekommunikation zeitnah und ohne allzu große Reibungsverluste ermöglichen. Eine zweite Unwahrscheinlichkeitsbarriere erblickt Luhmann auf der Ebene der Verständigung. Es ist keineswegs naturgemäß, dass physisch zusammentreffende psychische Systeme einander im Rahmen von Interaktionssystemen hinreichend verstehen können. Zwar kann man über teils angeborene, teils soziokulturell erworbene Mimik und Gestik sicherlich bestimmte Gefühlslagen und Wünsche unmissverständlich zum Ausdruck bringen, aber komplexe Sachverhalte lassen sich auf diese Weise nicht adäquat darstellen. Erst die evolutionäre Errungenschaft der Sprache als allgemein disponibles Kommunikationsmedium verschafft hier Abhilfe. Sprache ermöglicht ein umfangreicheres und detaillierteres Anreichern und Wiederaufrufen von Sinn, das über die unmittelbaren Bedürfnisse der konkreten Situation hinausgeht und neue Verständigungshorizonte eröffnet, die nach einem höheren Maß an Abstraktion verlangen, wie z.B. der Ackerbau oder die gemeinsame Mammutjagd.

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Entscheidend für unsere Belange ist aber vielmehr die dritte Hürde, die auf dem steinigen Weg hin zu gelingender Kommunikation erfolgreich genommen werden muss. Es reiche nicht aus, wenn Kommunikationsofferten über sprachliche Codierung verständlich gemacht würden, denn das, so Luhmann, bewirke „zunächst nur das Ankommen einer Information, das (wie immer grobe und unzureichende) Verstehen ihres Sinnes“.157 Eine Information wird ausgewählt, sprachlich mitgeteilt und irgendwie verstanden. Man könne in solchen Fällen der Übertragung zuvor getroffener Selektionen aber noch nicht von kommunikativem Erfolg sprechen. Zwar sichere die Verwendung von Sprache Verstehen in einem hinreichenden Maße, schaffe aber gleichzeitig über ihre Ja/Nein-Codierung auch die Möglichkeit, eine Kommunikation abzulehnen, gerade weil Verstehen die Möglichkeit der Einnahme einer affirmativen oder kritischen Haltung zum Verstandenen überhaupt erst ermögliche. Die daraus resultierende kommunikationstheoretische Frage ist nun, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Ego fremde Selektionsofferten überhaupt akzeptiert und zur Grundlage eigenen Verhaltens macht. Insbesondere wenn einander unbekannte Akteure aufeinandertreffen, muss es unwahrscheinlich erscheinen, dass Ego Alters Kommunikationsangebote annimmt, denn es besteht ja in solchen Fällen keinerlei persönliches Vertrauen, da auf keine Vorerfahrungen zurückgegriffen werden kann, die den Aufbau positiv besetzter Person-zu-Person-Erwartungen hätten erlauben können. In Gesellschaftsformationen, die ausschließlich mündliche Kommunikation unter Anwesenden kennen, wird dem Problem der Ablehnungswahrscheinlichkeit primär durch ein gemeinsames Gedächtnis und durch die Omnipräsenz unbezweifelbarer und durch Sinneseindrücke scheinbar bestätigter Welterfahrung begegnet. Wer auf einem Schiff übers Meer segelt, kann leicht dazu bewegt werden, sich die Erde als eine Scheibe vorzustellen. Hinzu kommt, dass die Unwahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikationsofferten durch einen Konsensdruck minimiert wird, der die Kommunikation vor allem segmentärer, aber auch stratifizierter Gesellschaften durchzieht. Es wird als unangenehm empfunden, Ablehnung von Angesicht zu Angesicht auszusprechen; man versucht daher, offen artikulierte Zurückweisung nach Möglichkeit zu vermeiden. In der funktional differenzierten Gesellschaft nimmt die Bedeutung von Interaktionssystemen und Mündlichkeit jedoch aufgrund der jetzt verfügbaren Telekommunikationsmöglichkeiten deutlich ab. Immer häufiger wird nun über Verbreitungsmedien wie Schrift, Buchdruck oder E-Mail mit Abwesenden kommuniziert, sodass der Konsensdruck stark an Bedeutung einbüßt. Die körperliche Abwesenheit des Vorschlagenden erleichtert das Hervorbringen kritischer Entgegnungen wohl auch deshalb, weil keine unmittelbare, ihrerseits kritische Reaktion zu befürchten ist, also keiner der Kommunikanten einer potenziellen Bloßstellung entgegensehen muss. Hinzu kommt, dass man seit der Entstehung der

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N. Luhmann: „Einführende Bemerkungen [1975]“, S. 173.

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Gutenberg-Galaxis die Kommunikationsanbieter häufig nicht mehr persönlich kennt, was die Erfolgschancen ihrer Vorschläge der Tendenz nach verringert, da Unbekannten generell weniger vertraut wird. Die Ablehnung von Kommunikationsangeboten wird unter den massenmedialen Bedingungen der funktional differenzierten Gesellschaft also zunehmend wahrscheinlich. Die Autopoiesis der Kommunikation kann aber die Zurückweisung kommunikativer Angebote nur bis zu einem gewissen Grad tolerieren, da kommunikativ aktualisierte Ablehnung tendenziell die Gefahr eines Abbruchs der Kommunikationssequenz mit sich bringt und somit eine latente Gefahr für den Fortbestand des Sozialsystems darstellt. Man kann daher auch von der Notwendigkeit einer „vierte[n] Selektion des Kommunikationsgeschehens“158 sprechen, die dafür Sorge zu tragen hat, dass bereits mitgeteilte Informationen, die verstanden wurden, zu weiterführenden Kommunikationen einladen, also anschlussfähig sind. Die Lösung dieses kommunikationstechnischen Annahmeproblems sieht Luhmann darin, dass die Interaktionsteilnehmer nicht mehr nur auf personale Erwartungen (bzw. auf bereits bestehende und verpflichtende Sozialkapitalbeziehungen) zurückgreifen können, sondern dass die Kommunikation selbst situationsübergreifende Strukturen zur Verfügung stellt, die „auf Kommunikation mit Unbekannten eingestellt sein [müssen] und die Verquickung mit einem archaischen Ethos der Sozialbindung unter Nahestehenden abstreifen.“159 Diese hochspezialisierten und auf Dauer gestellten Strukturmechanismen der Kommunikation, die ein über Sprachverwendung garantiertes, hinreichendes Verstehen voraussetzen und sich als „Zusatzeinrichtungen zur Sprache“160 begreifen lassen, bezeichnet Luhmann als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. Als feste Strukturvorrichtung der Kommunikation müssen diese Medien „unabhängig werden von der Selbigkeit der Kommunikationspartner und ihres Gedächtnisses“161, um überhaupt in der Lage zu sein, in einer Interaktionssituation Orientierung in Absehung von den beteiligten Akteuren und jenseits persönlicher Erfahrungen bieten zu können. Diese Unabhängigkeit von psychischen Gedächtnisfunktionen bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ohne Bezug zu ihren Bewusstseinsumwelten auskommen würden: „Symbolisch generalisierte Medien operieren, wie alle Kommunikation, in struktureller Kopplung mit dem Bewusstsein derjenigen psychischen Systeme, die sich an der Kommunikation beteiligen.“162 In ihren jeweiligen Systemkontexten sind diese Spezialmedien wie Macht, Wahrheit, Recht, Kunst, Liebe oder Geld darauf angewiesen, dass die involvierten psychischen Systeme ihnen eine fundamentale innere

A. Nassehi: „Die Differenz der Kommunikation [2001]“, S. 32. N. Luhmann: „Einführende Bemerkungen [1975]“, S. 173. 160 R. Schützeichel: Soziologische Kommunikationstheorien [2004], S. 280. 161 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 389. 162 Ebd., S. 378. 158 159

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Anteilnahme entgegenbringen, d.h. dass z.B. im Falle des Geldes „überhaupt ein Interesse am Nützlichen, im Falle der Liebe überhaupt ein Interesse an Selbstverwirklichung“163 bestehen muss, damit sich die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien auf dem Emergenzniveau sozialer Systeme etablieren können. An diesem Zusammenhang wird auch erkennbar, dass die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien nicht auf Zwang, sondern auf Neigungen setzen und daher ohne die Androhung physischer Gewalt auskommen, auch wenn diese Neigungen zwangsläufig Bestandteile ansozialisierter ‚mindsets‘ sind. Ähnliches wie für die Wirtschaft und die Liebe gilt natürlich auch für die anderen Teilbereiche der Gesellschaft. Wer sich an wissenschaftlicher Kommunikation beteiligen möchte, kann fest darauf vertrauen, dass es allen anderen ebenfalls um die Wahrheit geht, auch wenn es sich um Personen handelt, denen man noch nie physisch begegnet ist. Wahrheit in einem noch unbestimmten und sehr abstrakten Sinne, so könnte man sagen, ist der gemeinsame Bezugspunkt aller szientifischer Kommunikation. Da man fest voraussetzen kann, dass auch die anderen Wissenschaftler ein Interesse an der Wahrheitsfindung antreibt, motiviert das dazu, sich auf deren Kommunikationsofferten einzulassen und den fremden Selektionen mit eigenen Selektionen entgegenzutreten, denn man strebt ja letztlich das gleiche Ziel an, wenn auch eventuell mit recht unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen. Genau diese „Ermöglichung einer hoch unwahrscheinlichen Kombination von Selektion und Motivation“ macht die besondere Leistung aus, die von den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und „den für sie typischen Formen“164 für soziale Systeme erbracht werden. Sofern Kommunikationsangebote als Versuche der Wahrheitsfindung erkannt werden, signalisiert das die Möglichkeit, mit eigenen Wahrheitsangeboten anzuschließen, die sich im gleichen Medium bewegen und ihrerseits wiederum dazu motivieren, weitere Wahrheiten folgen zu lassen. Wenn auf diesem Wege die Selektionsofferten anderer zur Prämisse eigener Kommunikationen werden, so bedeutet dies jedoch keineswegs, dass man die vorhergehende Kommunikation als ‚wahr‘ akzeptieren muss. Gerade auch inhaltliche Ablehnung motiviert dazu, einer Kommunikationsofferte neue Selektionen entgegenzuhalten, die meist eine andere Art der Wahrheitsproduktion favorisieren und ihrerseits Anlass zu Zustimmung oder Ablehnung geben. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien reizen also dazu an, eigene Selektionen an ihnen auszurichten und den wissenschaftlichen Diskurs ohne Unterbrechung weiterlaufen zu lassen. Kommunikationstechnisch bedeutet das nichts anderes, als dass „der Empfänger den selektiven Inhalt der Kommunikation (die Information) [des Kommunikationsanbieters] als Prämisse des eigenen Verhaltens übernimmt, also an

Ebd., S. 363. Bourdieu würde in diesem Fall wohl von der ‚illusio‘ des jeweiligen Feldes sprechen. 164 Ebd., S. 321. 163

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die Selektion weitere Selektionen anschließt und sie dadurch in ihrer Selektivität verstärkt.“165 Die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sorgen mithin dafür, dass die Autopoiesis der Kommunikation in Gang bleibt. Der motivationale Impuls nimmt dabei selbstverständlich seinen Anfang auf der Realitätsebene der Kommunikation und strahlt von dort auf die psychischen Systeme aus. Wenn Luhmann von der Verknüpfung von Selektion und Motivation spricht, sind damit „nicht psychische Zustände (was der Zahlende bei der Hingabe von Geld empfindet, ist für den Kommunikationserfolg irrelevant), sondern soziale Konstruktionen [gemeint], die mit der Unterstellung entsprechender Bewusstseinszustände auskommen.“166 Die Kommunikation garantiert mit ihren symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien in ihren jeweiligen Teilsystemen dafür, dass ein allgemeines Interesse an Wahrheit, Recht, Kunst, Liebe usw. besteht; sie schafft ein von der konkreten Wahrheitstreue, dem Gerechtigkeitsgefühl, der Liebesfähigkeit oder dem Kunstverständnis des einzelnen, also von ihren Bewusstseinsumwelten abgehobenes, wenn auch nicht völlig unabhängiges Vertrauen in die jeweiligen funktionssystemspezifischen Medien, ohne jedoch wirklich Zugriff auf die involvierten Psychen haben zu können, und solange noch bei einer hinreichenden Anzahl an psychischen Systemen tatsächliches Interesse in Gestalt einer abstrakten und unspezifischen Wertschätzung der Wahrheit vorliegt, kann sich dieses Vertrauen im rekursiven Netz systemspezifischer Kommunikationen immer wieder selbst bestätigen – aber eben auf der Realitätsebene des sozialen Systems. Es geht somit nicht um Kollektivbewusstsein, denn das gemeinsam geteilte Engagement etwa für das Aufspüren wissenschaftlicher Wahrheiten – Bourdieu würde wohl von der ‚illusio‘ des wissenschaftlichen Feldes sprechen167 – macht nur einen kleinen Ausschnitt der jeweils erbrachten Bewusstseinsbeiträge in der Umwelt wissenschaftlicher Kommunikation aus. Meistens erschöpft sich die Gemeinsamkeit wohl schon in diesen und wenigen anderen, sehr abstrakten Übereinstimmungen.

N. Luhmann: „Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation [1981]“, S. 26f. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 321. 167 Hierunter versteht Bourdieu den Glauben der Akteure ans Spiel der Wissenschaft, der Politik, der Wirtschaft, der Kunst usw. Die ‚illusio‘ betrachtet Bourdieu als elementaren psychischen Beitrag zur Konstitution der einzelnen Felder. Sie ist u.a. dafür verantwortlich ist, dass die (meist kommunikativ zu nennenden) Praktiken, die innerhalb der einzelnen Felder vollzogen werden, eine gewisse, sehr grundlegende Einheitlichkeit aufweisen. Und auch bei Bourdieu ist es nicht so, dass der Glaube Berge versetzen könnte. Was als legitimes Wissen durchgeht, welche spezifischen Formen der Wahrheitsproduktion sich durchzusetzen vermögen, entscheidet auch bei Bourdieu nicht die Intensität des Verlangens der Akteure nach Wahrheit, sondern das komplexe Zusammenspiel der miteinander konkurrierenden Akteure, ihrer Kapitalien, ihrer Habitus sowie der objektiven Strukturen des Feldes, indem sich die Akteure über ihre kommunikativen Stellungnahmen diskursiv engagieren. 165 166

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Luhmann jedenfalls erspart sich an diesem Punkt weitere Ausführungen und überstellt die psychischen Systeme weitestgehend in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie. Die Unerreichbarkeit des Gegenüber verpflichtet die involvierten Psychen jedoch dazu, die selbstgewählte Systemreferenz in eine beobachtbare und zurechenbare Form zu bringen, denn nur dann können Alter und Ego darauf bauen, dass sich ihre kommunikativ manifestierenden Weltkonstruktionen im gleichen Medium bewegen, das gewissermaßen den Claim absteckt, auf dessen Territorium nach Gold geschürft werden soll: Man kann eine zugemutete Kommunikation annehmen, wenn man weiß, dass ihre Auswahl bestimmten Bedingungen gehorcht; und zugleich kann derjenige, der eine Zumutung mitteilt, durch Beachtung dieser Bedingungen die Annahmewahrscheinlichkeit erhöhen und sich selbst damit zur Kommunikation ermutigen. [...] man signalisiert diese Selbstfestlegung durch den Gebrauch der entsprechenden Symbole, die den Gebrauch des Mediums bezeugen, und verdient sich auf diese Weise die Aussicht auf Annahme der Kommunikation. Man beruft sich zum Beispiel auf Wahrheit.168

Gelingende szientifische Kommunikation würde dementsprechend voraussetzen, dass man die Spielregeln des Wissenschaftsbetriebs anerkennt und dies auch auf der symbolische Ebene kenntlich macht, z.B. durch rationales Argumentieren bei der Wahrheitssuche, Aufstellen und Verifizieren von Hypothesen, Präsentation von Wissen, Beherrschung der Fachterminologie, sichere Methodenkenntnis, angemessene Zitierweise usw. In der politischen Kommunikation wird die selbstsichere Beherrschung von allgemein bekannten Machtsymbolen eingefordert, etwa in Gestalt von Fahnen, Emblemen, Militärparaden, Staatskarossen, Bodyguards etc. Neben der Generalisierung, die durch situationsübergreifende Rahmung und Abstraktion von Personen erreicht wird, setzt Luhmann in seinem Medienkonzept also auch auf den souveränen Gebrauch symbolischer Akte, die als Indikator für die gewählte Systemreferenz fungieren. Die durch Sprachverwendung geschaffene Möglichkeit des Annehmens/Ablehnens von Kommunikationsofferten provoziert darüber hinaus die Verwendung medienspezifischer Codes, die auf die jeweilige Funktion des zugehörigen Teilsystems zugeschnitten sind und im Binnenkontext der nichtlebensweltlichen systemspezifischen Kommunikation einen Anspruch auf „universelle Geltung“169 durchsetzen, indem sie die gesamte Kommunikation in ihrem Zuständigkeitsbereich in ihrem Sinne strukturieren. Dabei handelt es sich um Zentralcodes, die, genau wie die basale Ja/Nein-Codierung der Sprache, mit der alle Kommunikationsmedien umgehen müssen, eine strikt zweiwertige Logik aufweisen und weitere Werte aus ihrem Zuständigkeitsbereich verbannen. Als reiner Binärcode zwingen die Codes

168 169

N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 320. N. Luhmann: Ökologische Kommunikation [1986], S. 76.

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gewissermaßen zu einer deutlichen Positionierung, denn durch ihre rigorose Zweiwertigkeit „wird die unbestimmte, tendenziell zunehmende Möglichkeit der Ablehnung des kommunizierten Sinnvorschlags in ein hartes Entweder/Oder überführt, also eine ‚analoge‘ Situation in eine ‚digitale‘ transformiert; und gewonnen wird damit eine klare Entscheidungsfrage, die für Alter wie für Ego dieselbe ist.“170 Während aber die Ja/Nein-Codierung der Sprache keinerlei Vorgaben für die Aktualisierung von Affirmation oder Negation macht, arbeiten die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien mit „Präferenzcodes“, die den positiven Wert gegenüber dem Negativwert als zu erreichendes Ideal ausweisen.171 Wissenschaftliche Kommunikation erfüllt ihre Funktion der Wahrheitssuche über den binären Code wahr/falsch, der alle Informationsverarbeitung im Wissenschaftssystem steuert. Angestrebt wird aber von allen involvierten Systemen der positive Wert der Wahrheit, auch wenn sich ein Großteil des Wissens irgendwann als defizitär oder gar falsch herausstellen sollte. Wirtschaftliche Kommunikation reguliert Knappheit, indem sie Eigentumsverhältnisse über den Code Eigentum haben/nicht haben abwickelt. Hingesteuert wird aber auf Besitz, nicht auf Mittellosigkeit. Die Politik reguliert die Macht zur Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen über das Dual Regierung/Opposition. Dabei drängt alles eindeutig auf die Übernahme von Regierungsverantwortung und die Vermeidung eines allzu langen Verharrens auf harten Oppositionsbänken. Diese Voraborientierung am positiven Codewert bewirkt, dass sich die Annahmewahrscheinlichkeit von Kommunikationsofferten in den jeweiligen Medienbereichen deutlich erhöht, indem sie die Strukturwahl der Kommunikationsteilnehmer auf eine gemeinsame Linie bringt – wenn auch auf einem sehr abstrakten Niveau im Sinne eines minimalen Minimalkonsenses, der von inhaltlichen Konkretisierungen auf dieser Ebene der Strukturierung kommunikativer Operationen noch absieht. Den symbolisch generalisierten Medien kommt also eine Steuerungsfunktion zu. In gewisser Weise sorgen die Binärcodes der Teilsysteme für eine hauseigene Verdoppelung bzw. eine sich an der vom Code vorgegebenen Leitdifferenz orientierende kommunikative Spiegelung der systemexternen Realität, die mit Bordmitteln vollzogen wird und insofern natürlich Verzerrungen aufweisen muss. Luhmann bezeichnet die Codes daher auch als „Duplikationsregeln“, die es erlauben, jeden Realitätsausschnitt einer systeminternen, aber in sich flexiblen „Bewertung“ zu unterziehen, die sich der Kontingenz ihrer Weltkonstruktionen insofern bewusst ist, als sie darum weiß, dass sie selbst zwei entgegengesetzte Werte zulässt und gestattet, dass jeder Wert gleichzeitig intern „an einem Gegenwert reflektiert werden kann.“172 Die inhaltlichen Kriterien für die Wahl einer der beiden Seiten des Codes liefert aber nicht der Code selbst, auch wenn er den positiven Codewert mit einer

N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 360. Ebd., S. 360. 172 N. Luhmann: Ökologische Kommunikation [1986], S. 77. 170 171

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Präferenz belegt. Wahrheit allein ist kein Kriterium für die Wahrheitssuche; nur durch Irrtümer ist wissenschaftlicher Fortschritt möglich. Wer seine Besitzstände halten oder gar vermehren will, muss in Eigentumsfragen flexibel sein und gegebenenfalls auch verkaufen, also den negativen Wert des Codes Eigentum haben/nicht haben aufzurufen bereit sein. Nicht immer ist es wünschenswert, in der politischen Verantwortung zu stehen, etwa wenn die ökonomische Lage der Durchsetzung der politischen Ziele im Weg steht. Luhmann folgert aus diesen Erkenntnissen: Es muß also weitere Bedingungen geben, die festlegen, unter welchen Umständen die Zuordnung des positiven Wertes und unter welchen Umständen die Zuordnung des negativen Wertes richtig bzw. falsch ist. Wir wollen solche Bedingungen Programme nennen und entsprechend für alle symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Codierung und Programmierung unterscheiden.173

In der Wissenschaft übernehmen die Theorien die Aufgaben der Kriterienfestlegung, in der Wirtschaft die Investitionsprogramme, in der Politik die Wahlprogramme bzw. Ideologien der einzelnen Parteien und in der Literatur die Poetiken bzw. Produktionsästhetiken. Die Zentralcodes tragen für die Geschlossenheit und klare Abgrenzung des jeweiligen Bezugssystems nach außen Sorge und werden evolutionär zum Motor für den Prozess der Ausdifferenzierung einzelner Funktionssysteme über Selbstkatalyse. Sie lassen intern nur eine Systemreferenz zu, also z.B. wahr/falsch, aber nicht schön/hässlich oder Eigentum haben/nicht haben, und verhelfen dem Bezugssystem zu identitätsstiftender innerer Einheitlichkeit. Sie sind ultrastabil und ermöglichen dem System darüber hinaus ein hinreichendes Maß an Kontinuität, die sich aus der codegebundenen Festlegung eines systemspezifischen Sinnhorizontes ergibt. Aber kein System kann exklusiv aus sich allein heraus existieren, gerade die funktionale Differenzierung in der Moderne steigert die Interdependenzen der einzelnen Funktionssysteme untereinander noch, da diese auf die jeweiligen Spezialleistungen der anderen Systeme dringend angewiesen sind, die sie ja selber nicht erbringen können. So bleibt künstlerische bzw. literarische Kommunikation auf das Wirtschaftssystem angewiesen, da nur dieses in der Lage ist, Kunstwerke auch als Ware zu behandeln und entsprechend für die Zirkulation der Werke in der objektiv-materialen Form von Gemälden, Nachdrucken, Plastiken, CDs, Büchern usw. zu sorgen, ohne die eine im Rahmen des Kunstsystems erfolgende Reimprägnierung auf breiterer Front ausgeschlossen wäre. Um sich aber auch für die Leistungen und Kriterien anderer Systeme zu öffnen, führt die systemspezifische Kommunikation die auf der Codeebene ausgeschlossenen dritten Werte auf der Programmebene wieder ein, um die Bedingungen konkretisieren zu können, die zur Wahl einer der beiden Seiten des Codes und damit zur Auswahl der ‚passenden‘ Operationen anleiten sollen, also etwa wenn entschieden werden muss, ob einer wis173

N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 377.

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senschaftlichen Kommunikationsofferte über die Erfüllung als relevant geltender und erwartungsstrukturell fixierter Kriterienkataloge tatsächlich Wissenschaftlichkeit attestiert werden kann. Programmstrukturen sind, im Gegensatz zu den Zentralcodes, jedoch variabel und können, je nach Bedarf, ausgewechselt werden, z.B. wenn auf Umweltveränderungen reagiert werden muss. Programmstrukturen ermöglichen dem System auf diesem Wege, dass „in gewissem Umfange Lernfähigkeit organisiert werden“ kann, ohne dass dem System drohe, seine „durch den Code festgelegte Identität zu verlieren“.174 Die Codes der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien strukturieren also die in ihrem Bereich vollzogenen Kommunikationsversuche, indem sie die Wahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikationsofferten durch präferenzorientierte Kopplung von Selektion und Motivation erhöhen, die auf der psychischen Grundlage eines gemeinsam geteilten Interesses am selben Medium bewerkstelligt wird. Sie kanalisieren die Kommunikation aber auch noch auf eine weitere Weise, die hier nicht unerwähnt bleiben soll, nämlich indem sie, was das Beobachten und Zurechnen kommunikativen Verhaltens angeht, für stabile Verhältnisse sorgen. Begrifflich ist hier im Hinblick auf Selektivität zunächst zwischen ‚Erleben‘ und ‚Handeln‘ zu unterscheiden: Intentionales Verhalten wird als Erleben registriert, wenn und soweit seine Selektivität nicht dem sich verhaltenden System, sondern dessen Welt zugerechnet wird. Es wird als Handeln angesehen, wenn und soweit man die Selektivität des Aktes dem sich verhaltenden System selbst zurechnet. Wohlgemerkt: Ein Verhalten des Bezugssystems des Zurechnungsprozesses ist immer im Spiel. Es geht nicht um die Verortung der Tatsache des Verhaltens, sondern um die Verortung seiner Selektivität, nämlich um die Lokalisierung der Ursache dafür, daß etwas so und nicht anders abläuft.175

Dabei gelten die Begriffe sowohl für psychische als auch soziale Systeme. Jedes symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium fixiert nun die spezifische Art und Weise, in der die Selektivitäten Alters und Egos aufeinander abgestimmt sind, indem es die entsprechenden Zuordnungskonstellationen festlegt. Im Medium der Macht etwa wird Alters Handeln zum Auslöser des Handelns von Ego. Ego übernimmt das Handeln Alters als Prämisse des eigenen Handelns, wobei sich Alter auf sein Recht stützen kann. Im Medium des Eigentums bzw. Geldes sowie im Medium der Kunst löst Alters Handeln Egos Erleben aus. Das Erleben Egos gründet sich in diesen Medienbereichen auf den Selektionen, die Alter getroffen und vorgegeben hat. Im Medium der Liebe entfesselt Alters Erleben das Handeln Egos, d.h. Ego orientiert sich in der Selektivität seiner Kommunikationsofferten an den Bedingungen, die Alters Erleben diktieren. Im Medium der Wahrheit

174 175

N. Luhmann: Ökologische Kommunikation [1986], S. 91. N. Luhmann: „Erleben und Handeln [1981]“, S. 68f.

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schließlich löst das Kommunizieren von Alters eigenem Erleben das Erleben Egos aus, d.h. Egos Erleben knüpft sich an die Konditionen, die Alters Erleben vorgibt.176 Die jeweilige Attributionsweise erleichtert den involvierten Systemen die Identifikation der zugehörigen Systemreferenz und bietet so Möglichkeiten, sich zurechtzufinden. Wenn Erleben Handeln konditioniert, muss es sich um Liebe handeln. Wo Handeln Handeln auslöst, wird Politik gemacht usw.

I.3 D ER R EPUTATIONSCODE ALS N EBENCODE DES L ITERATURSYSTEMS I.3.1 Medium, Funktion und Zentralcode im Bochumer Modell literarischer Kommunikation Selbstverständlich operiert auch das Kunstsystem mit einem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium, denn die oben beschriebene Unwahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikationsofferten gilt auch in diesem Teilbereich gesellschaftlicher Kommunikation. Als Sondermedium für künstlerische Kommunikation bestimmt Luhmann – wenig überraschend – die Kunst. Für Luhmann ist Kunst sich an Kunstwerken orientierende Kommunikation. Luhmanns kunstsoziologische Aufsätze haben seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend Resonanz seitens der Literaturwissenschaft ausgelöst und zu kritischen Weiterentwicklungen geführt, die seine Positionen teils verwarfen, ohne aber das als sicher empfundene Terrain des systemtheoretischen Paradigmas zu verlassen. Im Zuge dieser Bestrebungen entwickelten Gerhard Plumpe und Niels Werber im Laufe der frühen 1990er Jahre einen eigenen systemtheoretisch inspirierten Ansatz, in dessen Mittelpunkt Luhmanns Konzepte der Autopoiesis sowie der Polykontexturalität stehen. Da Luhmann in Kunst der Gesellschaft, seinem kunstsoziologischen magnum opus, den Literaturbetrieb – im Gegensatz zu Bourdieu in Die Regeln der Kunst – eher „beiläufig“177 behandelt hatte, waren diese literaturwissenschaftlichen Weiterentwicklungen erforderlich, um einige dringend notwendige Respezifikationen vorzunehmen und die soziologische Systemtheorie so an den breiteren literatursoziologischen Diskurs heranzuführen. Dabei kam es auch zur Aufdeckung von Defiziten in Luhmanns Argumentation, die sich vor allem auf die Funktion sowie die Codierung literarischer Kommunikation beziehen, womit sie auch den Medienbereich betreffen. In unseren weiteren Ausführungen werden wir uns daher zwar weiterhin innerhalb der Grenzen des von Luhmanns Systemtheorie vorgegebenen konzeptuellen Rahmens bewegen, wollen aber auch die weiterführenden und kon-

176 177

Siehe N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 336. A. Dörner/L. Vogt: Literatursoziologie, S. 7.

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kreter auf den literarischen Kommunikationstyp bezogenen Ideen Plumpes und Werbers in die Argumentation einzubeziehen versuchen. Plumpe und Werber betrachten das System der Literatur als klar abgrenzbares Subsystem des Kunstsystems mit eindeutiger, empirisch nachweisbarer Funktion und systemeigenem Zentralcode. Als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium des Literatursystems dient das literarische (Kunst-)werk.178 Alle an literarischer Kommunikation beteiligten Systeme sind gezwungen, ihre Selektionen an in literarischen Werken ausgedrückten Erwartungen zu orientieren. Dabei sind die involvierten Systeme darauf angewiesen, dass sie sich diese Ausrichtung am Werk wechselseitig ohne Unsicherheit unterstellen können. Bei aller Idiosynkrasie und Divergenz der individuellen Erwartungen der beteiligten Bewusstseine stoßen wir hier auf die bereits angesprochenen, bloß ausschnittartigen und abstrakten Übereinstimmungen der psychischen Erwartungsstrukturen, die notwendig sind, um der literarischen Kommunikation ein gewisses Maß an Führung zu ermöglichen. Die Erwartungserwartungen der an literarischer Kommunikation beteiligten psychischen Systeme bauen auf den sehr allgemeinen, vielseitig konkretisierbaren Werkbegriff und gerinnen so zu den strukturellen Quellen für die Herausbildung von Erwartungsstrukturen auf der emergenten Ebene des Literatursystems, selbstverständlich ohne supersystemisch miteinander zu verschmelzen. Sowohl seitens der beteiligten Bewusstseine als auch seitens der Kommunikation können dann Erwartungen aufgebaut werden, die sich auf das sprachliche Kunstwerk als eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner beziehen. Damit wird auch garantiert, dass die beteiligten psychischen Systeme und die literarische Kommunikation miteinander erwartungsstrukturelle Tuchfühlung behalten und nicht in einer die Autopoiesis der Literatur gefährdenden Weise auseinanderdriften. Psychisch wie kommunikativ prozessierter Sinn erfahrt eine Verdichtung oder Bündelung von Erwartungen in einem Einheit repräsentierenden Symbol, dem Werk, das eine Vielzahl an gedanklichen wie sozialen Konkretisierungen verträgt und so die Selektivität dieser beiden überschneidungsfrei operierenden Systemtypen jenseits persönlicher Vorerfahrungen zu koordinieren vermag: „Als Kopplung von Bewusstseinssystemen und Kommunikationssystemen besagt Symbol nur, dass eine Differenz vorliegt, die von beiden Seiten aus betrachtet als Dasselbe betrachtet werden kann.“179 Durch die symbolische Generalisierung von Werken in der Kunst bzw. Literatur wird die Kommunikation in diesem Funktionssystem der Gesellschaft über Standardisierung von Erwartungen wesentlich erleichtert. Es muss nicht erst von Situation zu Situation aufs Neue ausgehandelt werden, dass es in der Kunst bzw. Literatur darum geht, das lose gekoppelte Medium Kunst auf verschiedenste Wei-

Siehe G. Plumpe/N. Werber: „Literatur ist codierbar [1993]“, S. 26. Vgl. auch G. Plumpe: Epochen moderner Literatur [1995], S. 48f. 179 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 112. 178

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se zu Werken zu formieren. All das muss man voraussetzen, will man im Binnenkontext des Literatursystems erfolgreich kommunizieren. Als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium sorgt das literarische Werk dafür, dass nur ein bestimmtes Sinnspektrum im Zusammenhang mit literarischer Kommunikation sozusagen als allgemein erwartbar markiert wird. Anders ausgedrückt: Nicht alles ist als Werk vorzeigbar. Die symbolische Generalisierung wirkt also zunächst selektiv, d.h. sie grenzt den Bereich des werkmäßig Möglichen ein und macht diese Einschränkungen zu etwas, mit dem man – fast in der Art eines der Episteme der zeitgenössischen künstlerischen Ordnung entspringenden ‚sozialen Apriorismus‘ – rechnen muss, wenn es um Produktion oder Rezeption literarischer Werke geht. Weitgehend ausgeschlossen ist z.B., dass ein literarisches Werk als Gesetzestext konzipiert wird (oder umgekehrt, dass der Versuch unternommen wird, einen Gesetzestext in Sonettform abzufassen). Diese Selektivität des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums der Literatur ist jedoch nicht etwa mit dem Ausschluss jeglicher gestalterischer Freiheit gleichzusetzen. Auf dem Sektor literarischer Kommunikation erlaubt dieses Spezialmedium – bei aller erwartungsstruktureller Beschränkung innerhalb des selbst abgesteckten Claims – den Aufbau binnensystemischer Eigenkomplexität, allerdings auf der gemeinsamen Grundlage einer sozial vorgegebenen Schablone, die zwar auf einer sehr prinzipiellen Ebene die Formenbildung ordnet und reguliert, aber doch innerhalb aufoktroyierter Grenzen eine großzügig bemessene Bandbreite unterschiedlichster kommunikativer Aktualisierungen erlaubt. Als Beispiel hierfür mag die aus dem Russischen Formalismus bekannte Differenz zwischen ‚fabula‘ und ‚sjužet‘ dienen, die weitestgehend mit der in der Anglistik verbreiteten Unterscheidung von ‚story‘ und ‚plot‘ korrespondiert.180 Im deutschsprachigen Raum sind diese Begriffe jedoch bis heute nicht einheitlich übersetzt und verwendet worden. ‚Fabula‘ steht dabei für den „Grundstoff der Erzählung, für die Gesamtsumme der in einem Erzählwerk zur Darstellung kommenden Ereignisse“.181 Der Begriff ‚sjužet‘ dagegen bezeichnet „die ‚Handlung‘, die Geschichte, wie sie tatsächlich erzählt wurde, oder die Art und Weise, in der die Ereignisse miteinander verbunden werden. Um zu einem Bestandteil der ästhetischen Struktur werden zu können, müssen die Rohmaterialien der ‚Fabel‘ [=‚story‘] zu einer ‚Handlung‘ [=‚plot‘] gefügt werden.“182 Epische oder dramatische Texte völlig ohne ‚fabula‘ bzw. ‚story‘ sind wohl kaum vorstellbar, aber es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, ein und dieselbe ‚fabula‘, also eine lose Kopplung von narrativen Elementen, zu einem bestimmten ‚sljužet‘ bzw. ‚plot‘ zu formieren, die Elemente also strikt zu koppeln. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium der Literatur

Siehe R. Selden/P. Widdowson/P. Brooker (Hg.): A Reader’s Guide to Contemporary Literary Theory, S. 35. 181 V. Erlich: Russischer Formalismus [1955], S. 268. 182 Ebd., S. 268. 180

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beschränkt den Spielraum der Möglichkeiten also in dem Sinne, als es nur storyfähiges Material zur Verwendung freigibt, das allerdings zu vielen verschiedenen Formen verarbeitet werden kann, etwa durch Verwendung unterschiedlicher Stilmittel oder durch Veränderung der sachlogisch vorgegebenen Chronologie des Ereignisablaufs. Auf diese Weise schwingt sich das literarische Werk zu einem formgebenden Schnittmuster auf, das in jedem literarischen Kontext vielseitig verwendbar ist und, wie die Taschenlampe im dunklen Kellerloch, Orientierung in den unermesslichen Weiten des literarischen Universums ermöglicht. Autoren wie Leser füllen ihre an Werke gerichteten Erwartungen jedoch mit unterschiedlichsten Vorstellungen, die sich aus ihren jeweiligen kommunikativen Vorerfahrungen ergeben, also aus ihrer Selbstsozialisation als Produzenten und Rezipienten. Je nach Umfang und Intensität dieser literarischen Selbstsozialisation differenzieren sich mehr oder minder feinmaschige Vorstellungskomplexe heraus, die im Verbund eine psychisch prozessierte Vorstellung vom Werk ergeben und dann als sozusagen ‚vorpräparierte‘ Bewusstseinsumwelten der literarischen Kommunikation zum Aufbau eigener Erwartungen dienen, die sich auf Werke als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien bzw. als gemeinsame Fixpunkte beziehen – diesmal aber von der anderen Seite der System/Umwelt-Differenz aus betrachtet. Als Kommunikationsmedium des literarischen Systems sind die Werke so in der Lage, unterschiedlichste Erwartungen auf sich zu ziehen und gewissermaßen in sich zu vereinigen, egal ob sie psychischer oder sozialer Provenienz sein mögen. Im Ergebnis manifestiert sich das kommunikativ in Abenteuerromanen, Tragödien, experimenteller Avantgardelyrik, Jugendliteratur, Liebesromanen, Gedankenlyrik, pornografischen Groschenromanen, Boulevardtheaterstücken usw., also in einer ungeheuren Vielfalt gattungsspezifischer Aktualisierungen. Der über Werke symbolisierte und organisierte Sinn wird so mit der ganzen Fülle denkbarer literarischer Situationen und unterschiedlichsten Anspruchsniveaus vereinbar, und genau darin besteht die mediale Generalisierung. Plumpe und Werber sehen nun die gesellschaftliche Funktion der sich ab ca. 1770 immer stärker ausdifferenzierenden literarischen Kommunikation darin, die ständig wachsende Freizeit, die zu einem wachsenden sozialen Problem avanciert, unterhaltsam zu gestalten.183 Um dieser Aufgabe zu genügen, muss die literarische Kommunikation ständig um die Aufmerksamkeit eines zunehmend alphabetisierten, mehr oder weniger verwöhnten und seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts immer lesewütigeren Publikums ringen, das sich fortan aus allen gesellschaftlichen Strata rekrutieren wird. Im Hannoverischen Magazin findet sich folgender Passus aus dem

183

Siehe G. Plumpe/N. Werber: „Literatur ist codierbar [1993]“, S. 30 u. S. 32-35. Vgl. auch G. Plumpe: Epochen moderner Literatur [1995], S. 55ff. Vgl. auch N. Werber: Literatur als System [1992], S. 61-101.

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Jahr 1782, der die Funktion und Expansion der literarischen Kommunikation besonders deutlich hervorkehrt: Gelehrte und Ungelehrte, Handelsleute, Handwerker, Ökonomen, Militärpersonen, Alte und Junge, männliches und weibliches Geschlecht sucht einen Teil der Zeit mit Lesen auszufüllen [...]. Alles will jetzt lesen, selbst Garderobenmädchen, Kutscher und Vorreuter nicht ausgenommen.184

Nur solche Werke, die das Interesse dieses sozial äußerst heterogenen Publikums durch abwechslungsreiche und überraschende Selektionen auf sich zu ziehen vermögen, verhelfen dem System der Literatur zur Möglichkeit der Fortsetzung seiner Autopoiesis, die nur unter aktiver Bewusstseinsbeteiligung vorstellbar ist. Werke müssen faszinieren, damit es mit der Literatur weitergehen kann. Aus diesem Grunde bestimmen Plumpe und Werber den binären Code interessant/langweilig als Leitdifferenz des Literatursystems und widersprechen damit ausdrücklich Luhmann, der von der Unterscheidung schön/hässlich ausgegangen war und die Ästhetik als Reflexionstheorie künstlerischer Kommunikation ausgewiesen hatte. Es falle jedoch auf, so Plumpe, dass „Künstler und Schriftsteller diese Unterscheidung kaum verwendet haben, um Reflexionsprobleme ihres Tuns und Lassens zu charakterisieren.“185 Die Ästhetik schreiben Plumpe und Werber der Philosophie zu, die wiederum Subsystem der Wissenschaft sei, was man daran erkennen könne, dass die ästhetische Kommunikation mit der Unterscheidung wahr/ falsch übercodiert sei. Gemäß dieser Stoßrichtung innerhalb des systemtheoretischen Diskurses in der Literaturwissenschaft ist es also das unterhaltsame Werk mit der Leitdifferenz interessant/langweilig, das zum strukturierenden Prinzip sämtlicher Textkunst gerinnt und die literarische Kommunikation in all ihrer Vielfalt mit einer gewissen, wenn auch ziemlich unspezifischen Einheitlichkeit versieht. Diese wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit der Annahme literarischer Kommunikationsofferten. Man kann sich, wenn man möchte, während müßiger Stunden dort bedienen, wo (vermeintlich oder tatsächlich) den eigenen Erwartungen, die in ihrer fundamentalsten Erscheinungsweise auf ein Ausfüllen freier Zeit mit der Lektüre spannender, kurzweiliger Werke hinauslaufen, am ehesten entsprochen wird – z.B. beim Roman, Gedicht oder der Komödie. Gerade praktisch fast ausnahmslos schriftbasierte Kommunikation wie die literarische, die unter den Bedingungen wegbrechenden Konsensdrucks und steigender Ablehnungshäufigkeiten überleben muss, ist auf diesen Effekt des symbolischen Kommunikationsmediums Werk dringend angewiesen. In seiner Dissertation aus dem Jahr 1992 hat Niels Werber einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, diese systemsoziologischen Grundannahmen am literarischen Material empirisch zu validieren. Damit straft er 184 185

Zit. n. M. Luserke: Sturm und Drang, S. 14. G. Plumpe: Epochen moderner Literatur [1995], S. 52. Vgl. auch G. Plumpe/N. Werber: „Literatur ist codierbar [1993]“, S. 28.

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insbesondere diejenigen Lügen, die gebetsmühlenartig der systemtheoretischen Literaturwissenschaft eine aus dem angeblich überhöhten Abstraktheitsgrad der Luhmann’schen Systemtheorie resultierende Empirieferne unterstellt haben. Trotzdem hat dieser neuartige Ansatz aber auch Widerspruch ausgelöst. Wir wollen an dieser Stelle einige jener Beanstandungen exemplarisch herausgreifen und erörtern, um darauf aufbauend den Ansatz Plumpes und Werbers sukzessive durch eigene Vorschläge zu ergänzen, die sich aus der dialektischen Gegenüberstellung systemtheoretischer und kapitaltheoretischer Theoreme ergeben. I.3.2 Der Zentralcode interessant/langweilig und das Problem literarischer Wertung I.3.2.1 Codierungsvorschläge für das Kunst-/Literatursystem In den letzten gut zwei Jahrzehnten gab es in der systemtheoretischen Kulturwissenschaft eine Reihe von Codierungsvorschlägen, die sich auf das Kunst- und Literatursystem oder auf die philosophische Ästhetik beziehen, wobei der genaue Status des Literatursystems gegenüber Kunst und Ästhetik – etwa, ob die Literatur als Subsystem der Kunst aufzufassen wäre, wie wir vermuten – nicht immer eindeutig geklärt wird. Wir wollen diese Vorschläge zumindest kurz rekapitulieren, um einen groben Überblick über die Debatte um die Bestimmung einer überzeugenden Leitdifferenz literarischer (bzw. künstlerischer) Kommunikation zu gewinnen und dem Leser eine Einordnung des hier vertretenen Ansatzes zu erleichtern. Siegfried J. Schmidt spricht sich in seinem 1989 veröffentlichten Hauptwerk dafür aus, die Unterscheidung ‚literarisch/nichtliterarisch‘, die sicherlich zu den prominentesten Ansätzen zu rechnen ist, als Leitdifferenz der literarischen Kommunikation einzusetzen.186 Kritisiert wird an dieser Überlegung, sie sei tautologischen Charakters und könne nicht erklären, was das Spezifische der Literatur ausmache, da Code und System-Umwelt-Differenz ineinander fielen.187 Zwei Jahre später tritt Jochen Hörisch in einem kurzen Zeitschriftenaufsatz mit dem Code ‚passend/unpassend‘ bzw. ‚stimmig/unstimmig‘ auf den Plan, der die Literatur vom Wahrheitszwang wissenschaftlicher Kommunikation dispensiere und ihr dergestalt einen ureigenen Entfaltungsspielraum eröffne.188 Im gleichen Jahr wartet Georg Jäger mit den Unterscheidungen ‚geschmackvoll/geschmacklos‘ bzw. ‚mit Geschmack/ohne Geschmack‘ auf, deren Geltungsbereich er allerdings auf den von ihm als „bürgerliches Sozialsystem Literatur“ bezeichneten Ausschnitt der Wirk-

Siehe S.J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur [1989], S. 427f. 187 Siehe G. Plumpe/N. Werber: „Umwelten der Literatur [1995]“, S. 15. Vgl. auch G. Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne [1993], S. 296. 188 Siehe J. Hörisch: „Die verdutzte Kommunikation“, S. 1102. 186

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lichkeit literarischen Kommunizierens begrenzt, während er für das komplementäre und hochinnovative „avantgardistische Sozialsystem Literatur“ keinen eigenen Codierungsvorschlag unterbreitet, wohl weil er davon ausgeht, dass die Avantgarde aus dem bürgerlichen Sozialsystem hervorgegangen sei und einfach dessen Leitdifferenz beibehalten habe.189 Peter Fuchs setzt sich 1993 für die von ihm selbst als „denkbar einfach“ und „schlicht“ charakterisierte Leitdifferenz „Bezeichnung/Nichtbezeichnung von etwas als Kunst oder Nichtkunst“ ein, die natürlich – ähnlich wie letztlich auch der Ansatz S.J. Schmidts – einen bemerkenswert engen Bezug zur Form Inklusion/Exklusion unterhält, regelt sie doch schließlich ganz explizit die „Zurechnung/Nichtzurechnung“ eines gegebenen Werkes sowie der beteiligten Personen „zum Kunstsystem“.190 Kitty Zijlmans regt aus kunsthistorischem Blickwinkel und im Hinblick auf das dort bestehende Periodisierungsprolem an, nach den jeweiligen konkreten „Realisierungen“ des Kunstcodes schön/ hässlich zu suchen, der sich etwa in Unterscheidungen wie „innovativ/traditionell“, „figurativ/nonfigurativ“, „hoch/niedrig“, „konkret/abstrakt“, „zivilisiert/primitiv“, „experimentell/konservativ“ etc. wiederfinde, die ihrerseits changierende Allianzen mit der Leitdifferenz des Kunstsystems eingingen (mal gilt das Abstrakte und Abgehobene als schön, mal das Rohe und Primitive usw.).191 1995 bringt Karl Eibl die Differenz „eigentliche/uneigentliche Rede“192 ins Spiel, eine Unterscheidung, die vor allem das Auseinanderklaffen des Realitätsbezugs von Alltagssprache (‚wirkliche Welt‘) und literarischer Sprache (‚poetische Nichtwelt‘) in den Vordergrund hebt. Rembert Hüser plädiert ein Jahr nach Eibl vor dem Hintergrund dekonstruktivistischer Überlegungen mit ausgeprägtem Überlegenheitsgestus dafür, die etatmäßige Kontingenz der Wahl einer bestimmten Leitunterscheidung fürs Literatursystem in der wissenschaftlichen Kommunikation stärker zu markieren, was er mit dem Vorschlag ‚verständlich/unverständlich‘ verbindet, der wiederum durch das Dual ‚grün/grau‘ ergänzt wird, um die seiner Ansicht nach bestehende Willkürlichkeit systemtheoretisch inspirierter Codierungsvorschläge nochmals eigens zu unterstreichen und vorzuführen.193 Vor dem Hintergrund einer Rekonstruktion der semantischen Karriere des EkelBegriffs an der Schwelle zur funktionalen Moderne legt Winfried Menninghaus für das ‚ästhetische System‘ in einem 1997 erschienenen Aufsatz die Leitdifferenz (ästhetische) ‚Lust/Unlust‘ zugrunde, die die von Luhmann für die Kunst aufs Tapet gebrachte Codierung ‚schön/hässlich‘ überlagere.194 Oliver Sill resümiert in seiner 2001 erschienenen Habilitationsschrift,

189

190 191 192 193 194

Siehe G. Jäger: „Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Kunstsystems“, S. 226. P. Fuchs: Moderne Kommunikation, S. 164. Siehe K. Zijlmans: „Kunstgeschichte der modernen Kunst“, S. 64-67. K. Eibl: Die Entstehung der Poesie, S. 137. Siehe R. Hüser: „Frauenforschung“, S. 249f. Siehe W. Menninghaus: „Ekel-Tabu und Omnipräsenz des ‚Ekel‘“, S. 417.

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die in der systemtheoretischen Literaturwissenschaft geführte Diskussion um die Bestimmung der Leitdifferenz des Literatursystems sei wenig ergiebig und stellt im Zuge seiner Ausführungen die Idee in den Raum, die literarische Kommunikation zeichne sich gegenüber anderen Diskurstypen gerade durch die Unmöglichkeit der wissenschaftlichen Bestimmung eines Zentralcodes, also durch spezifische „Unbestimmtheit“ aus, die jedoch nicht mit einer den Systembegriff selbst ad absurdum führenden „Funktionslosigkeit“ des Literatursystems zu verwechseln sei, sondern vielmehr erlaube, „Literatur in unterschiedlichster Weise funktional in den Dienst zu nehmen.“195 Zuletzt ist schließlich, soweit wir sehen, 2007 Stefan Hofer mit dem neuartigen Konzept einer ganz anderen Leitcodierung fürs Literatursystem in Erscheinung getreten. Als Zentralcode literarischer Kommunikation sieht sein gut recherchierter, aber sicherlich auch gewagter Entwurf einer ‚Ökologischen Literaturwissenschaft‘ die Unterscheidung „polykontextural/nicht-polykontextural“ vor, die primär die hermeneutische Nichtfestlegbarkeit literarischer Texte auf nur eine gültige Interpretation im Auge hat.196 Wir wollen und können hier indes nicht alle im Raume stehenden Bestimmungen der Leitdifferenz des Literatursystems einer eingehenden Prüfung unterziehen, und verweisen stattdessen auf einige prägnante Repliken innerhalb des Diskurses der systemtheoretischen Literaturwissenschaft, die sich explizit mit den Stärken und Schwächen der erwähnten Codierungsvorschläge auseinandersetzen.197 Allerdings scheint es uns geboten, detaillierter auf diejenigen Einwände einzugehen, die ausdrücklich auf die von Plumpe und Werber vorgeschlagene und zugleich in dieser Arbeit vertretene Leitunterscheidung interessant/langweilig rekurrieren. Diese wollen wir kritisch, aber unvoreingenommen untersuchen, auch um etwaige Unklarheiten bzw.

O. Sill: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 93f. Siehe S. Hofer: Die Ökologie der Literatur, vor allem S. 213-218. Allerdings muss gegen diesen Ansatz eingewendet werden, dass Polykontexturalität keine spezifische Eigenschaft des Literatursystems bzw. des zugehörigen symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums des Werks darstellt, sondern genau wie Luhmanns Auffassung von Kontingenz einen hochabstrakten, auf Ubiquität gründenden Begriff verkörpert, der letztlich die Möglichkeit einer einheitlichen Konstruktion von Welt generell negiert und statt dessen von einer sowohl psychisch als auch kommunikativ erzeugten Pluralität von Weltkonstruktionen ausgeht, die für alle Funktionssysteme gleichermaßen gilt und daher auch nicht von einem bestimmten Sozialsystem (wie dem der Literatur) stärker beansprucht werden kann als von anderen. 197 Eine Übersicht findet sich bei: S. Hofer: Die Ökologie der Literatur, S. 213, Fn. 165. Auch Christoph Reinfandt bietet eine Auseinandersetzung mit den Codierungsofferten Luhmanns, S.J. Schmidts sowie Plumpes/Werbers, wobei er sich letzteren anschließt. Vgl. C. Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 48-53. 195 196

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argumentative Schwächen des selbst gewählten Ansatzes erkennen und entsprechend theoretisch aufarbeiten zu können. I.3.2.2 Zum literarischen Wert des Interessanten und Schönen in der ästhetischen Kommunikation der Moderne Oliver Sill, der sich von allen genannten Autoren am intensivsten dialektisch mit den in der systemtheoretischen Literaturwissenschaft kursierenden Codebestimmungen auseinandersetzt, bemängelt an der von Plumpe und Werber in den frühen 1990er Jahren erstmals in die Diskussion eingebrachten Leitdifferenz: ,Überraschende Selektionen‘ als interessant zu bezeichnen, impliziert einen stimmten Literaturbegriff. Verborgen hinter einer Terminologie, die sich den schein sachlicher Feststellung von Differenzen zu geben versucht, wird wieder mal ein dichotomer Literaturbegriff postuliert, der der alten Unterscheidung ,hoher‘ und ,niederer‘ Literatur näher steht, als ihm lieb ist.198

beAneinvon

Die Unterstellung Sills, hinter der Leitdifferenz interessant/langweilig verberge sich ein ‚dichotomer Literaturbegriff‘, läuft letzten Endes wohl darauf hinaus, dem Bochumer Modell und seinen Exponenten eine durch den hohen Abstraktionsgrad des systemtheoretischen Begriffsarsenals nur unzulänglich getarnte, klammheimliche Voreingenommenheit zugunsten der Höhenkammliteratur unterzuschieben, was daran zu liegen scheint, dass Sill sich überraschende, d.h. von den Vorerwartungen der beteiligten Systeme abweichende Selektionen nur im Zusammenhang mit literarischen Werken vorstellen kann, die allgemein der ,ernsthaften‘ Literatur zugerechnet werden und etwa einen außergewöhnlich hohen Grad an sprachkünstlerischer Raffinesse bzw., wie es im Formalismus bzw. Strukturalismus heißen würde, an ‚Literarizität‘ aufweisen. Tatsächlich stehen Plumpe und Werber mit der Wahl gerade dieser Leitunterscheidung indes in einer ganz anderen, weniger dünkelhaften Tradition, wie ein Blick auf die Begriffsgeschichte des Interessanten in der philosophischen Ästhetik seit der Aufklärung offenbart199, die man aufgrund ihrer wahrheitsmedialen Übercodierung sowie der Wahl ihres Untersuchungsgegenstandes vielleicht als eine der Vorläuferinnen der modernen Literaturwissenschaft ansehen kann. Der spätere Erfurter Professor und Wiener Akademiedirektor Friedrich Justus Riedel verfasste 1767 mit seiner Theorie der schönen Künste und Wissenschaften erstmals eine ästhetische Theorie, die auf der Vorstellung gründet, das Schöne sei etwas, das dem Betrachter ohne Beimischung von Interesse rein aus sich selbst heraus gefalle: „Fragt man nach dem Probier198 199

O. Sill: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 92. Die folgenden Ausführungen basieren auf den Feststellungen Kurt Wölfels zum angesprochenen Problemfeld, nehmen aber eigene Akzentuierungen insbesondere in Bezug auf die soziale Wertigkeit von ‚Interessantem‘ und ‚Schönem‘ vor. Vgl. K. Wölfel: „Interesse/interessant“, S. 138-174.

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stein der Schönheit, so ist dieser das aus der Schönheit entspringende und an sich unintereßirte Wohlgefallen.“200 Dabei, so Riedel weiter, müsse „der Trieb des Interesses von dem Triebe des Wohlgefallens sorgfältig unterschieden werden. Jener will besitzen; dieser ist mit dem bloßen Anschauen und mit den angenehmen Bewegungen zufrieden, die die Empfindung hervorbringt.“201 In der hier gezogenen Differenz zwischen den ‚Trieben des Interesses‘ und des ‚Wohlgefallens‘ kündigt sich bereits eine Denkfigur an, die für eine Anzahl von weiteren Ästhetiken im deutschsprachigen Raum – nicht nur für die Kants – paradigmatisch werden sollte: Während Wohlgefallen als angenehme Gemütsbewegung auch im Zuge einer fast schon wissenschaftlich-distanzierten, eher auf das Formal-Abstrakte fokussierten Rezeptionshaltung für möglich gehalten wird, die sich mit der rein geistesaristokratischen Betrachtung eines wahrgenommenen Kunstgegenstandes begnügt, wird das Interessante, das „unser Herz von der Seite der Sympathie, der Neugierde, des moralischen Gefühls und der Eigenliebe anzugreifen und zu rühren fähig ist“202, mit dem Affektiven, Gegenständlichen und Lustvollen identifiziert, das den Schweiß treibenden und rohen Gedanken des Sicheiner-Sache-Bemächtigens in sich trägt und solchermaßen in Zeiten des Vernunftkultes in deutlich geringerem Maße als das Schöne Distinktionswert beanspruchen kann. Auch wenn Riedel dem inneren Wohlgefallen den Vorrang gegenüber dem von Triebhaftigkeit gekennzeichneten Interesse zugesteht, ist die oben zitierte Formel jedoch nicht in dem radikalen Sinne zu verstehen, dass er das Interessante gänzlich aus der ästhetischen Erfahrung eliminieren möchte. Ein ohne den ‚Trieb des Interesses‘ gedachter Rezeptionsprozess kam ihm anscheinend doch etwas zu blutleer vor, was eingedenk der damals anlaufenden Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, die sich vor dem Hintergrund eines steigenden Bedarfs nach Unterhaltung abspielte, nicht weiter verblüfft: „[W]ir werden wärmer und denken lebhafter, wenn wir nicht nur anschauen, sondern auch besitzen wollen“, da „die Bewegung heftiger und das Vergnügen größer wird, wenn beyde Triebe zugleich würken“.203 Die geistige Anschauung ist also nach Riedels gewissermaßen rezeptionsästhetischer Rezeptur das Hauptingredienz künstlerischen Erlebens, das lustvolle Interesse aber immerhin unverzichtbare, wenn auch etwas anrüchige Zutat, ohne die eine breitere soziale Akzeptanz einer literarischen Kommunikationsofferte ausgeschlossen sei, da ohne die Zuschreibung von Interessantheit selbst ein künstlerisch vollkommenes „Meisterwerk [...] niehmals den Beyfall finden“ würde, „den es etwa durch seinen innern Werth verdienen möchte“.204

F.J. Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, S. 34f. Ebd., S. 15f. 202 Ebd., S. 328. 203 Ebd., S. 16. 204 Ebd., S. 324. 200 201

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Ganz ähnlich wie Riedel argumentiert der 1791 zum Professor der Philosophie ernannte Marcus Herz in seinem erstmals im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung veröffentlichten Versuch über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit. Auch dieser Autor kommt bei der theoretischen Modellierung des Prozesses der Rezeption von Kunstwerken nicht ohne den Begriff des Interesses aus: Bey der Anschauung ihrer Schönheiten gesellt sich unwillkührlich zu unserm Gefühl ein gewisses eigennütziges Verlangen, dessen Befriedigung wir durch Einheit fordern, und ohne welche sie uns in einem kalten gleichgültigen Zustande lassen [...]. Der Künstler muß in dieser Einheit selbst uns etwas darstellen, das durch den näheren Einfluß auf unser Inneres ein Interesse für uns hat.205

Das Schöne bedarf mithin auch laut Herz stets der Ergänzung durch das Interessante, welches dem stummen Begehren des Körpers beim Kunstkonsum zur Artikulation verhilft. Herz’ Wortwahl stellt dabei allerdings – noch klarer als bei Riedel – den Bezug des Interesses zum Somatischen bzw. Libidinösen her, das jedoch im Kontrast zur makellosen reinen Schönheit durch die sozial negativ besetzten Eigenschaften des ‚Eigennutzes‘ sowie der Triebhaftigkeit in seinem Distinktionspotenzial begrenzt ist, was eine Veredelung durch den Kontakt mit dem Schönen nötig zu machen scheint. Während Kant in seiner ganz auf Kontemplation setzenden Kritik der Urteilskraft vom schon erwähnten „uninteressierten Wohlgefallen“206 an der Kunst spricht und somit das Bedürfnisse weckende oder befriedigende Interessante vollends aus seinen ganz aufs Formale ausgerichteten, zutiefst lustfeindlichen Betrachtungen zur epistemologischen Ermöglichung von Geschmacksurteilen ausschließen will, betonen also die mit mehr Bodenhaftung einherkommenden vorkantischen Ästhetiken das Nebeneinander von Schönem und Interessanten, wenn auch teils unter Schmerzen. Zu diesen ist nach Kant dann auch der späte Schiller zu rechnen, der in seiner Poetik ursprünglich von der paradoxen Formel eines „uninteressirten Interesse[s] am reinen Schein, ohne alle Rücksicht auf physische oder moralische Resultate“207 ausgegangen war – eine Formulierung, die Schillers verzweifelte Bemühungen widerspiegelt, zwischen sinnenfrohem Interesse und entsinnlichter Formschönheit programmatisch zu vermitteln. Dramentheoretisch legt Schiller dabei sein Konzept des ‚stoffartigen Interesses‘ zugrunde, das durch Begeisterung etwa für Kostüme, Darsteller, Kulissen usw. oder beispielsweise auch durch anteilnehmendes Mitleid für bestimmte Personen in Erscheinung tritt. Schiller will die ‚Reinheit‘ und damit den künstlerischen Wert des dramatischen Kunstwerkes daran festmachen, wie gering der Anteil jenes konkreten Interesses am Stoff bzw. Inhalt gegenüber dem abstrakten Formschönen tatsächlich gehalten werden kann, ohne dass es langweilig M. Herz: Versuch über den Geschmack [1776], S. 86f. I. Kant: Kritik der Urteilskraft [1790], S. 117. 207 F. Schiller: „An Körner [21.9.1795]“, S. 60. 205 206

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wird. Damit wird das Interessante auch bei Schiller zu einer prekären Kategorie, die zwar ein Risiko für die Qualität des Kunstwerks darstellt, aber auch nicht einfach ausgespart werden kann. Aus der Unterbrechungen im Rezeptionsprozess nicht zulassenden Dramatik jedenfalls glaubte Schiller nicht, das Interessante heraushalten zu können, wie aus einem fast schon apologetischen Brief vom 13. Juli 1800 hervorgeht: [U]ns allen ist es schwer unsre Neigung und Abneigung bei Beurtheilung eines Kunstwerks aus dem Spiel zu laßen. Daß wir es aber sollten und daß es zum Vortheil der Kunst gerreichen würde, wenn wir unser Subject mehr verläugnen könnten, wirst Du mir eingestehn. Da ich übrigens selbst, von alten Zeiten her, an solchen Stoffen hänge, die das Herz interessiren, so werde ich wenigstens suchen, das eine nicht ohne das andere zu leisten, obgleich es der wahren Tragödie vielleicht gemäßer wäre, wenn man die Gelegenheit vermiede, eine Stoffartige Wirkung zu thun.208

Dabei springt sofort ins Auge, dass das Eingeständnis der Beimischung von Interesse bei der Wahl des Sujets für ein literarisches Werk Kopfzerbrechen bereitet. Schiller problematisiert an dieser Stelle im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung des Interessanten für die ästhetische Erfahrung und literaturkritische Bewertung aus dem Genresystem genau die Untergattung, die in der internen Wertehierarchie der Dramatik eine noch von der langsam bröckelnden Ständeklausel herrührende Spitzenposition einnimmt: die Tragödie. Wir werten Schillers an dieser Stelle vorgenommenen Rekurs auf das tragische Fach als klaren Indikator dafür, dass das kompositorische Spiel mit dem Interessanten in der Literatur zu diesem Zeitpunkt noch mit der drohenden Gefahr des Verlustes von sozialem Ansehen einherging. Die sich hier Gehör verschaffende symbolische Hypothek, die das Interessante im zeitgenössischen ästhetischen Diskurs mit sich herumschleppte, findet überdies in Schillers dramentheoretischen Reflexionen auch darin ihren Ausdruck, dass es im Anschluss an Kant in die Nähe des Kranken und damit Therapiebedürftigen gerückt wird, wenn er schreibt, das Theater evoziere gattungsbedingt vor allem nervöse „Erwartung, Ungeduld“ sowie „pathologisches Interesse“, während die weniger einengenden Gattungsgesetze der Epik „Freiheit, Klarheit, Gleichgültigkeit“209 im Sinne des erwähnten, auf innere Distanziertheit pochenden ästhetischen Reinheitsgebotes gestatteten. Gerade dieses dem dramatischen Genre intrinsische ‚pathologische Interesse‘ mache es den Dramatikern so schwer, qualitativ hochwertige Werke zu Wege zu bringen, denn das eher zu Distanzlosigkeit neigende Publikum könne sich „nicht darein finden, an einer reinen Handlung, ohne Interesse für einen Helden, ein freies Gefallen zu finden. Und eben dadurch werden wir dramatische Schriftsteller in der Wahl der Stoffe so sehr beengt; denn die reinsten Stoffe in Absicht auf die Kunst werden dadurch ausgeschlossen, und sehr selten läßt sich eine reine und schöne Form mit dem affectionirten

208 209

F. Schiller: „An Körner [13.7.1800]“, S. 172f. F. Schiller: „An Wilhelm von Humboldt [27.6.1798]“, S. 246.

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Interesse des Stoffs vereinigen.“210 Es gelingt also in der dramatischen Dichtung laut Schiller nur ganz gelegentlich, die Spannung zwischen purer Formschönheit und stofflicher Interessantheit in einen funktionierenden Kompromiss zu überführen. Friedrich Schlegel, dessen literaturkritische Tätigkeit uns im praktischen Teil dieser Arbeit noch eingehender beschäftigen wird, ist der erste Theoretiker der Ästhetik, der den zu diesem Zeitpunkt zur Orthodoxie gewordenen Nexus von Interessantem und Schönem zugunsten einer neuartigen historisierenden Sichtweise aufbricht. Dabei setzt er den Unterschied zwischen schöner und interessanter Literatur gleich mit der diachronen Differenz zwischen antiker und moderner Dichtung. Das Schöne bestimmt F. Schlegel in seinem 1795 begonnenen Aufsatz ‚Über das Studium der Griechischen Poesie‘ in Anlehnung an Kant und die Autonomieästhetik als „allgemeingültige[n] Gegenstand eines uninteressierten Wohlgefallens, welches von dem Zwange des Bedürfnisses und des Gesetzes gleich unabhängig, frei und dennoch notwendig, ganz zwecklos und dennoch unbedingt zweckmäßig ist“.211 Im scharfen Gegensatz dazu nehme die interessante Dichtung der Moderne den Nachteil „ästhetischer Heteronomie“212 in Kauf, nur um außerliterarischen Ansprüchen gerecht werden zu können, etwa indem sie bestimmte Moralvorstellungen verbreite oder mit ihrem „intellektuellen Gehalt“213 das „philosophische Interesse“214 des nach Erkenntnis strebenden Lesers befriedige. Die schöne Dichtung der griechischen Antike hingegen verzichte auf solch profane „Ansprüche auf Realität“, an deren Stelle sie „nur nach einem Spiel“ strebe, „das so würdig sei, als der heiligste Ernst, nach einem Schein, der so allgemeingültig und gesetzgebend sei als die unbedingteste Wahrheit“.215 In F. Schlegels Rezension von Herders Briefen zur Beförderung der Humanität heißt es ergänzend zum für die schöne Literatur der Antike zentralen Begriff des Spiels: Beim Spiel kann die höchste Tätigkeit aller Seelenkräfte stattfinden, wenn diese Tätigkeit nur frei ist: Zeitvertreib hingegen setzt immer eine gewisse Passivität voraus, welche von den frühesten Zeiten der modernen Poesie bis jetzt das Verhältnis des Publikums zu ihr bezeichnet. Noch jetzt suchen die Menschen, mit Ausnahme weniger echter Liebhaber, die Poesie nur als Zeitvertreib, in fugam vacui, aus Abscheu vor dem Nichts in ihrem Innern.216

210 211 212 213 214 215 216

F. Schiller: „An Körner [5.10.1801]“, S. 61. F. Schlegel: „Über das Studium der Griechischen Poesie [1795/96]“, S. 270. Ebd., S. 270. Ebd., S. 253. Ebd., S. 250. Ebd., S. 211. F. Schlegel: „Briefe zur Beförderung der Humanität [1796]“, S. 50.

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Während F. Schlegel also die zum „Manirierten, Charakteristischen und Individuellen“217 tendierende interessante Literatur der Moderne als heteronom, anti-universalistisch und bloß zum oberflächlichen Amüsement träger Geister geeignet abwertet, sakralisiert er die schöne Literatur des antiken Griechenland vermittels einer unzweideutigen Verwendung von Begriffen, die er der wissenschaftlichen sowie religiösen Semantik entlehnt hat. Laut F. Schlegel könne es der modernen Literatur nur dann gelingen, sich aus der von ihm diagnostizierten Krise ihrer Kreativität zu befreien, wenn sie zur „Nachahmung“ des antiken Vorbildes mit „höchster Selbständigkeit“218 blase, wobei das Ziel „kein andres sein [könne] als das höchste Schöne, ein Maximum von objektiver ästhetischer Vollkommenheit“.219 Die Existenz eines „höchste[n] Interessante[n]“220 dagegen streitet F. Schlegel prinzipiell ab, was die Literatur der Moderne gewissermaßen eines äquivalenten richtungsweisenden Entwicklungsziels beraube und sie schlussendlich in eine führungslose „chaotische Anarchie“221 herabgleiten lasse, deren Hauptcharakteristikum in der völligen Absenz historischer Finalität zu sehen ist. Überdies sei die dem Interessanten verfallene moderne Literatur zur permanenten Selbstüberbietung gezwungen, die ihr das Gepräge eines „ästhetischen Kramladens“222 verliehen habe, dessen Hauptzweck in der Stillung des „unersättlichen Durst[es]“223 des Publikums bestehe – Formulierungen, die natürlich auch darauf abstellen, dem Interessanten eine als übergroß empfundene Nähe zum kommerziellen Erfolg und den ökonomischen Gesetzen des Buchmarktes zu unterstellen. Für den Fall eines Triumphes des Interessanten prognostiziert F. Schlegel der unter dem Kuratel des Konkurrenzdrucks stehenden Literaturgeschichte schließlich eine sozialevolutionäre Sackgasse, die auf eine nachgerade apokalyptische Dominanz des „Pikanten“, „Frappanten“, „Fade[n]“ und „Choquante[n]“224 hinauslaufe, wobei letzteres, „sei es abenteuerlich, ekelhaft oder grässlich, die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks“225 verkörpere. Auch Arthur Schopenhauer hat sich auf der Grundlage seiner Willensmetaphysik und in Auseinandersetzung mit Kant eingehend mit dem Verhältnis von Schönem und Interessantem in Kunst und Literatur beschäftigt. In seinem 1821 entstandenen Aufsatz ‚Ueber das Interessante‘, der aus dem handschriftlichen Nachlass stammt, beharrt Schopenhauer in Bezug auf die Literatur zunächst auf einer klaren begrifflichen Trennung zwischen beiden

217 218 219 220 221 222 223 224 225

F. Schlegel: „Über das Studium der Griechischen Poesie [1795/96]“, S. 252. Ebd., S. 274. Ebd., S. 253. Ebd., S. 253. Ebd., S. 270. Ebd., S. 222. Ebd., S. 222. Ebd., S. 254. Ebd., S. 254.

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Konzepten und nimmt hinsichtlich der literarischen Präsenz des Interessanten eine gattungssystemische Eingrenzung vor, die, im Gegensatz zu Schiller, auch vor Erzähltexten nicht halt macht: „An den Werken der Dichtkunst, namentlich der epischen und dramatischen, findet eine Eigenschaft Raum, welche von der Schönheit verschieden ist: das Interessante.“226 Da Schopenhauer in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Orthodoxie keinen Zweifel an der überragenden Bedeutung des Schönen für die ästhetische Erfahrung hegt, glaubt er, die Frage nach der Funktion des Interessanten nur in dessen Relation zum Schönen befriedigend beantworten zu können: Als eigentlichen Zweck jeder Kunst, mithin auch der Dichtkunst, haben wir das Schöne erkannt. Es fragt sich also nur, ob das Interessante etwa ein zweiter Zweck der Dichtkunst ist, oder ob Mittel zur Darstellung des Schönen, oder ob durch dieses als wesentliches Accidens herbeigeführt und sich von selbst einfindend, sobald das Schöne da ist, oder ob wenigstens mit diesem Hauptzweck vereinbar, oder endlich ob ihm entgegen und störend.227

Schopenhauers allgemeine Definition der Schönheit baut im Wesentlichen auf der Fähigkeit psychischer Systeme zu bewusster Kognition auf. Die eigentlich aus dem Gebiet der Wissenschaft stammende „reine und willenlose Erkenntniß“228 erhebt er dabei zur conditio sine qua non wirklichen ästhetischen Erlebens. Schönheit könne ein literarisches Kunstwerk nur dann für sich in Anspruch nehmen, wenn es, etwa durch die Wahl eines denkwürdigen Figurenpersonals oder einer hintergründigen Fabel, in der Lage sei, dem Leser tiefere Einsichten in die menschliche Existenz und Individualität sprachlich klar zu vermitteln: Die Schönheit besteht darin, daß das Kunstwerk die Ideen der Welt überhaupt, die Dichtkunst besonders die Idee des Menschen deutlich wiedergiebt und dadurch auch den Hörer zur Erkenntniß der Ideen hinleitet. Die Mittel der Dichtkunst zu diesem Zweck sind Aufstellung bedeutender Karaktere und Erfindung von Begebenheiten zur Herbeiführung bedeutsamer Situationen, durch welche jene Karaktere eben veranlaßt werden ihre Eigenthümlichkeiten zu entfalten, ihr Inneres aufzuschließen; so daß durch solche Darstellung die vielseitige Idee der Menschheit deutlicher und vollständiger erkannt wird. Schönheit überhaupt aber ist die unzertrennliche Eigenschaft der erkennbar gewordnen Idee oder schön ist alles worin eine Idee erkannt wird; denn schönseyn heißt eben, eine Idee deutlich aussprechen.229

Dem im Leib objektivierten menschlichen Willen jedoch, der ja in Schopenhauers pessimistischer Philosophie eine entscheidende Position als blind

A. Schopenhauer: „Ueber das Interessante [1821]“, S. 61. Ebd., S. 62. 228 Ebd., S. 67. 229 Ebd., S. 61. 226 227

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drängendes, vernunftloses Weltprinzip besetzt230, komme kein Beitrag bei der Konstitution von Schönheit zu – im Gegenteil, ihn möchte Schopenhauer sogar ausdrücklich aus der ästhetischen Erfahrung ausklammern: „Wir sehn daß die Schönheit immer Sache des Erkennens ist und bloß an das Subjekt der Erkenntniß sich wendet, nicht an den Willen. Wir wissen sogar, daß die Auffassung des Schönen, im Subjekt ein gänzliches Schweigen des Willens voraussetzt.“231 Ganz anders sieht er dies indes im Falle der Erregung von Interesse durch einen wahrgenommenen Gegenstand in Kunst und Literatur (und darüber hinaus). Schopenhauer proklamiert, ein Gegenstand sei nur „durch Aufregung unsers Willens“232 imstande, Aufmerksamkeit zu erregen, und er ergänzt, dass ein „Objekt dem Individuo INTERESSANT“ werde, wenn es „ein Verhältnis zum Willen“233 etabliere. Folgerichtig verwendet er bei seiner Bestimmung des Interessanten in der Literatur affektiv und libidinös aufgeladene Begriffe wie ‚Empfindung‘, ‚Anspannung‘ und ‚Begierde‘: Hingegen interessant nennen wir ein Drama oder eine erzählende Dichtung dann, wann die dargestellten Begebenheiten und Handlungen uns einen Antheil abnöthigen, demjenigen ganz ähnlich, welchen wir bei wirklichen Begebenheiten, darin unsre eigne Person mit verflochten ist, empfinden. Das Schicksal der dargestellten Personen wird dann in eben der Art wie unser eigenes empfunden: wir erwarten mit Anspannung die Entwickelung der Begebenheiten, verfolgen mit Begierde ihren Fortgang, empfinden wirkliches Herzklopfen und Herannahen der Gefahr, unser Puls stockt, wann solche den höchsten Grad erreicht hat, und klopft wieder schneller wann der Held plötzlich gerettet wird; wir können das Buch nicht weglegen, ehe wir zum Ende gekommen, wachen auf diese Art tief in die Nacht aus Antheil an den Besorgnissen unsers Helden, wie wohl sonst durch unsere eigne Sorgen; u. dgl. m.234

Interesse setzt also das voraus, was man heutzutage wohl als Identifikationsangebot an den Leser bezeichnen würde. Dabei soll dem Leser eine fiktionale Welt vorgeführt werden, die der realen Welt in hohem Maße ähnelt, um das emotionale Erleben des Lesers zu steigern und ihn zur Aufmerksamkeit zu motivieren. Schopenhauer begründet diesen Gedankengang im Rekurs auf das Medium der Wissenschaft: Weil das Interessante nur dadurch entsteht, daß unser Antheil an der poetischen Darstellung gleich dem an einem Wirklichen wird, so ist es offenbar dadurch bedingt, daß die Darstellung für den Augenblick täuscht; und dieses kann sie nur durch ihre Wahrheit.235

230

231 232 233 234 235

Siehe A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. 2. Bd. [1844], S. 665f. A. Schopenhauer: „Ueber das Interessante [1821]“, S. 61. Ebd., S. 67. A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. 1. Bd. [1819], S. 242. A. Schopenhauer: „Ueber das Interessante [1821]“, S. 61. Ebd., S. 63.

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Aber auch schön könnten Kunstwerke nur dann sein, wenn sie „durch Hervorhebung des Wesentlichen und Karakteristischen, durch Zusammendrängung aller wesentlichen Aeußerungen des Darzustellenden und durch Aussonderung alles Unwesentlichen und Zufälligen die Idee desselben rein hervortreten lassen und dadurch zur idealen Wahrheit werden, die sich über die Natur erhebt.“236 Die Wahrheit erscheint also hier ästhetisch in doppelter Funktion: Einerseits befördert sie das Interessante durch ihre Fähigkeit zu vereinnahmender Täuschung des begierigen Lesers, andererseits versorgt sie die Autoren mit rationalen Entscheidungskriterien, auf deren Grundlage das Essenzielle vom Akzidentiellen und Belanglosen geschieden werden kann, was die Fabrikation des Schönen überhaupt erst ermöglicht. Damit erblickt Schopenhauer also in der Wahrheit das Bindeglied zwischen Interessantem und Schönem, was einmal mehr die Übercodierung der ästhetischen Kommunikation durch die Leitunterscheidung der Wissenschaft dokumentiert. Trotz dieser Gemeinsamkeit beharrt Schopenhauer aber darauf, dass schöne und interessante Literatur zwei voneinander unterschiedene Spielarten literarischer Kommunikation seien: Wäre das Interessante ein Mittel zur Erreichung des Schönen; so müßte jede Interessante Dichtung auch schön seyn. Das ist aber keineswegs. Oft fesselt uns ein Drama oder Roman, durch das Interessante, und ist dabei so leer an allem Schönen, daß wir uns hinterher schämen dabei geweilt zu haben. Dies ist der Fall bei manchem Drama, welches durchaus kein reines Bild vom Wesen der Menschheit und des Lebens giebt, Karaktere zeigt die ganz flach geschildert oder gar verzeichnet und eigentlich Monstrositäten sind, dem Wesen der Natur entgegen: aber der Lauf der Begebenheiten, die Verflechtungen der Handlung sind so intrikat, der Held ist unserm Herzen durch seine Lage so empfohlen, daß wir uns nicht zufrieden geben können, bis wir das Gewirre entwickelt, und den Helden in Sicherheit wissen: der Gang der Handlung ist dabei so klüglich beherrscht und gelenkt, daß wir stets auf die weitere Entwickelung gespannt werden und sie doch keineswegs errathen können, so daß zwischen Anspannung und Ueberraschung unser Antheil stets lebhaft bleibt und wir, sehr kurzweilig unterhalten, den Lauf der Zeit nicht spüren. Dieser Art sind die meisten Stücke von Kotzebue. Für den großen Haufen ist dies das Rechte: denn er sucht Unterhaltung, Zeitvertreib, nicht Erkenntniß, und das Schöne ist Sache der Erkenntniß, daher die Empfänglichkeit dafür so verschieden ist, wie die intellektuellen Fähigkeiten.237

Die Aufgabe des Interessanten im Rahmen literarischer Kommunikation sieht Schopenhauer also ganz eindeutig in der Gewährleistung dauerhaften psychischen Dabeibleibens seitens der Leser und damit in der Motivierung zur Annahme einer literarischen Kommunikationsofferte durch kluge Auswahl amüsierender Sujets und Handlungen. Interesse wird dabei durch einen Balanceakt erzeugt, der Spannung und Überraschung gleichermaßen berücksichtigt, allerdings oft zu Lasten der Erkenntnis und damit automatisch zum Nachteil der Schönheit. Während die Erkenntnisfähigkeit dabei von Schopenhauer als Charakteristikum menschlicher Individualität gefeiert wird,

236 237

Ebd., S. 63. Ebd., S. 64.

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taugt das Interessante seiner Meinung nach hauptsächlich zur oberflächlichen Unterhaltung einer gesichtslosen, Spaß suchenden Masse. Aus dieser Logik ergibt sich natürlich eine klare Rangfolge hinsichtlich des Distinktionspotenzials, das Schönheit und Interessantheit voneinander abgrenzt: Für die innere Wahrheit des Dargestellten, ob es dem Wesen der Menschheit entspricht oder ihm entgegen ist, hat der große Haufe keinen Sinn. Das Flache ist ihm zugänglich: die Tiefen des menschlichen Wesens schließt man vergeblich vor ihm auf. Auch ist zu bemerken, daß Darstellungen, deren Werth im Interessanten liegt, bei der Wiederholung verlieren, weil sie dann die Begierde auf den weitern Erfolg, der nun schon bekannt ist, nicht mehr erregen können. Die öftere Wiederholung macht sie dem Zuschauer schaal und langweilig. Dagegen gewinnen Werke, deren Werth im Schönen liegt, durch die öftere Wiederholung, weil sie mehr und mehr verstanden werden.238

Während das Schöne tiefe ‚innere Wahrheiten‘ sowie das ‚menschliche Wesen‘ zu erkennen gebe und auf diesem Wege intellektuell immer wieder zur Reimprägnierung anreize, verbleibe das Interessante vornehmlich auf der Oberfläche, weshalb seine künstlerische Substanz schon nach einmaligem Konsum verschlissen sei. Schönheit wird also mit hohem literarischem Wert, Interessantheit eher mit literarischer Wertlosigkeit assoziiert. Diese Hierarchisierung, deren eventuelle Bedeutung für das Systemgedächtnis der Literatur sich in der Verwendung des Begriffs der ‚Wiederholung‘ an dieser Stelle lediglich andeutet, findet ihren Niederschlag dann auch in der von Schopenhauer vorgenommenen Analyse des Genresystems und der Relationen seiner Elemente untereinander, wenn er ausführt, „daß selbst in der Poesie bloß die dramatische und die erzählende Gattung des Interessanten fähig sind; wäre es neben dem Schönen Zweck der Kunst; so stände die lyrische Poesie schon an sich dadurch um die Hälfte tiefer als jene beiden anderen Gattungen.“239 Die Lyrik kann also unter den literarischen Genres in der Hauptsache deshalb die Spitzenposition reklamieren, weil sie ausschließlich zum Schönen, nicht aber zum Interessanten disponiert ist. Die relative Wertlosigkeit von Werken, in denen das Interessante als Dominante figuriert, zeigt sich laut Schopenhauer, dessen Sichtweise an diesem Punkt derjenigen F. Schlegels nahe kommt, auch im Verkaufserfolg, denn es handelt sich um stark nachgefragte Werke, „deren Interessantes die Zuhörer so fesselt, daß, [...] der Erzähler [...] bei den festgebannten Theilnehmern seinen Lohn einsammeln kann, ohne zu fürchten daß sie jetzt davon schleichen“.240 Damit ähnelt Schopenhauers Konzeption der Begriffe ‚schön‘ bzw. ‚interessant‘ stark der Unterscheidung zwischen den Polen der eingeschränkten Produktion sowie der Massenproduktion, wie sie Bourdieu fürs literarische Feld Frankreichs in der bürgerlichen Ära vor Émile Zola veranschlagt. Das zeigt sich auch darin, dass Schopenhauer eine große Leserschaft gewisserEbd., S. 64f. Ebd., S. 64. 240 Ebd., S. 65. 238 239

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maßen zum Gradmesser für den Mangel eines Werkes an literarischem Gehalt deklariert: „Wie sehr dergleichen Produktionen meistens von allem ästhetischen Werth entblößt sind, ist bekannt, und doch ist vielen die Eigenschaft des Interessanten durchaus nicht abzusprechen: wie könnten sie auch sonst so viele Theilnahme finden?“241 Folgerichtig urteilt Schopenhauer, die „unsterblichen Meisterwerke Shakspear’s haben wenig Interessantes“242, daher „wirken Shakspear’s Dramen nicht merklich auf den großen Haufen.“243 Etwas später fügt er hinzu: „Dasselbe was von Shakespear’s gilt auch von Göthe’s dramatischen Werken: selbst Egmont wirkt nicht auf die Menge, weil fast keine Verwickelung und Entwickelung da ist: nun gar der Tasso und die Iphigenia!“244 Allerdings wollen wir hier nicht unerwähnt lassen, dass Schopenhauer die weitgehende Gleichsetzung des Schönen mit dem Wertvollen und die des Interessanten mit dem Wertlosen nicht als allgemeines Gesetz ästhetischen Erlebens verstanden wissen wollte, sondern lediglich als inhärente Tendenz literarischen Rezipierens. Man dürfe keineswegs „behaupten, daß das Interessante nie in Meisterwerken anzutreffen sei.“245 Man finde es etwa „in Schillers Dramen schon in merklichem Grade, daher sie auch die Menge ansprechen“246, aber auch beispielsweise in der zeitgenössischen schottischen Epik: [A]ls ein Beispiel des Interessanten im höchsten Grade, wo es mit dem Schönen zusammengeht, haben wir einen vortrefflichen Roman von Walter Scott, The tales of my Landlord, 2d series. Es ist das interessanteste Dichterwerk das ich kenne, und an ihm kann man am deutlichsten alle vorhin im Allgemeinen angegebnen Wirkungen des Interessanten wahrnehmen; zugleich aber ist dieser Roman durchweg sehr schön, zeigt uns die mannigfaltigsten Bilder des Lebens, mit frappanter Wahrheit gezeichnet, und stellt höchst verschiedene Karaktere mit großer Richtigkeit und Treue auf.247

Das Schöne schließt also das Interessante nicht partout aus. Es bleibt aber dabei, dass die Literatur bei Schopenhauer primär die ästhetische Funktion der Evokation des Schönen beibehält, während dem Interessanten lediglich eine – wenn auch unverzichtbare – Hilfsfunktion zukommt. Diese besteht vor allem darin, die als Leser in Frage kommenden Bewusstseinssysteme zu psychischem Dabeibleiben zu motivieren, sodass die Autopoiesis des Litera-

241 242 243 244

245 246 247

Ebd., S. 65. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66. Ebd., S. 66. Als weitere Beispiele für hochwertige und schöne, aber uninteressante Literatur der Neuzeit nennt Schopenhauer dann u.a. noch Cervantes’ Don Quixote, Laurence Sternes Tristram Shandy sowie Goethes Wilhelm Meister. Ebd., S. 66. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67.

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tursystems, die auf aufmerksame Bewusstseinssysteme angewiesen ist, ungestört voranschreiten kann: Dennoch ist bei dramatischen und erzählenden Werken eine Beimischung des Interessanten nothwendig, wie flüchtige, bloß gasartige Substanzen einer materiellen Basis bedürfen um aufbewahrt und mitgetheilt zu werden: theils weil es schon von selbst aus den Begebenheiten hervorgeht, welche erfunden werden müssen um die Karaktere in Aktion zu setzen; theils weil das Gemüth ermüden würde mit ganz antheilslosem Erkennen von Scene zu Scene, von einem bedeutsamen Bilde zu einem neuen überzugehn, wenn es nicht durch einen verborgnen Faden dahin gezogen würde: dieser eben ist das Interessante: es ist der Antheil den uns die Begebenheit als solche abnöthigt, und welcher, als Bindemittel der Aufmerksamkeit, das Gemüth lenksam macht, dem Dichter zu allen Theilen seiner Darstellung zu folgen. Wenn das Interessante eben hinreicht dieses zu leisten, so ist ihm vollkommen Genüge geschehn: denn es soll zur Verbindung der Bilder, durch welche der Dichter uns die Idee zur Erkenntniß bringen will, nur so dienen, wie eine Schnur, auf welche Perlen gereiht sind, sie zusammenhält und zum Ganzen einer Perlenschnur macht.248

Die angestrebte Beimischung des Interessanten zum Schönen müsse freilich mit größter Bedachtsamkeit vorgenommen werden. Eingedenk der von Schopenhauer vermuteten Dominantsetzung der Schönheitsfunktion im Kunstsystem sei es ratsam, eine disproportionales Mischverhältnis zuungunsten des Interessanten anzuvisieren, was natürlich an Schillers Programmatik denken lässt: Vereinbar mit dem Schönen ist also das Interessante allerdings [...] jedoch möchte wohl der schwächere Grad der Beimischung des Interessanten dem Schönen am dienlichsten befunden werden, und das Schöne ist ja und bleibt der Zweck der Kunst.249

Laut Schopenhauer wäre dabei außerdem das Augenmerk darauf zu richten, eine zu hohe Konzentration des Interessanten zu vermeiden, da sonst der gierige Wille des Lesers, den weiteren Verlauf der Narration in höchster Eile bis zur finalen Auflösung aller spannungstragenden Konflikte zu verfolgen, überhandnähme, was die sich an ihren eigenen Prognosen hinsichtlich des Publikumsgeschmacks orientierenden Autoren wiederum zu einer künstlerisch allzu laxen Produktionsweise verführen könnte: Aber das Interessante wird dem Schönen nachtheilig, sobald es dieses Maas überschreitet: dies ist der Fall, wenn es uns zu so lebhaftem Antheil hinreißt, daß wir bei jeder ausführlichen Schilderung die der erzählende Dichter von einzelnen Gegenständen macht, oder bei jeder längern Betrachtung die der dramatische Dichter seine Personen anstellen läßt, ungeduldig werden, den Dichter anspornen möchten, um nur rascher die Entwickelung der Begebenheiten zu verfolgen. Denn in epischen oder dramatischen Werken, wo das Schöne und das Interessante gleich sehr vorhanden sind, ist das Interessante der Feder in der Uhr zu vergleichen, welche das Ganze in Bewegung setzt, aber, wenn sie ungehindert wirkte, das ganze Werk in wenig Minuten abrollen würde: hingegen das Schöne, indem es uns bei der ausführlichen Be248 249

Ebd., S. 67f. Ebd., S. 67.

110 | W ERTVOLLE W ERKE trachtung und Schilderung jedes Gegenstandes festhält, ist hier was in der Uhr die Trommel, welche die Entwickelung der Feder hemmt.250

Es verhält sich mithin so, dass auch Schopenhauers Ästhetik die konstitutive Rolle des Interessanten für den ästhetischen Prozess der Rezeption literarischer Kunstwerke anerkennt, nicht ohne jedoch gleichzeitig die damit einhergehenden Risiken für die Aufrechterhaltung hoher Qualitätsstandards eingehend zu thematisieren. Auch nach Schopenhauer weist die ästhetische Kommunikation noch gelegentliche Bezüge zum Interessanten auf, wenngleich diese seltener werden. Karl Rosenkranz etwa, Professor für Philosophie an der Universität Halle, identifiziert in seiner Aesthetik des Häßlichen von 1853 das vom Schönen scharf zu trennende Interessante ganz Allgemein mit dem „Disharmonischen“, wozu er „das Verwickelte, das Widerspruchsvolle, das Amphibolische, und daher selbst das Unnatürliche, das Verbrecherische, das Seltsame, ja Wahnsinnige“251 rechnet. Für Rosenkranz ist das Erwecken von Interesse in Kunst und Literatur also mit der Darstellung krimineller, moralischer und psychopathologischer Devianz verbunden, die man wohl kaum als sonderlich prestigeträchtig oder dem Hochkulturschema entsprechend bezeichnen kann. Der an Kant anknüpfende Philosoph und Literat Adolf Zeising, der in Übereinstimmung mit der herrschenden ästhetischen Orthodoxie das Schöne der abstrakten Form und das Interessante dem inhaltlich konkret ausgestalteten Sujet zuordnet, betont in seinen 1855 publizierten Aesthetischen Forschungen, die für die Moderne kennzeichnende „stärkere Hervorhebung des Stofflichen“ mache „die Kunst inhaltsvoller, bedeutsamer, gewichtiger“, indem sie diese „mehr und mehr aus der exclusiven Sphäre, in der sie sich sonst allzuleicht verfängt, herausreißt und mit den übrigen Interessen und Entwicklungen des Lebens in engere und innigere Verbindung setzt“.252 Zeising befürchtet also ein durch Überbetonung des „Formell-Schönen“253 bedingtes Abreißen der Aufmerksamkeit seitens der Leserschaft, die sich etwa von den gewagten Formexperimenten moderner Sprachvirtuosen gelangweilt fühlen könnte, und er plädiert für die literarische Verarbeitung interessanter Themen. Seine Aussage impliziert aber vor allem die zu diesem Zeitpunkt längst eingeschliffene Gleichsetzung des Formalschönen mit dem literarisch Wertvollen, das sich hier im Begriff der ‚Exklusivität‘ manifestiert. Auch Karl Köstlin, der in Bezug auf das Schöne vom „Form-“ bzw. „Schönheits-Interesse“ spricht und damit den Versuch einer Art Enthierarchisierung der überkommenen symbolischen Dominanz des Begriffs der Schönheit gegenüber dem der Interessantheit vornimmt, warnt vor „dem Irr-

Ebd., S. 68. K. Rosenkranz: Aesthetik des Häßlichen, S. 105. 252 A. Zeising: Aesthetische Forschungen, S. 434f. 253 Ebd., S. 438. 250 251

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thum der neuern Ästhetik[en]“, den er darin sieht, dass sie „blos vom Schönen ausgehen, die Kunst nur als Realisierung der Schönheitsidee ansehen“254 würden. Ästhetiken, die „nur das Schöne als ästhetisches Objekt gelten lassen“ wollten, stünden nämlich „im reinsten Widerspruche damit, daß im ästhetischen Gebiet überall ein Inhalt und zwar ein verständlicher, genießbarer, menschlich interessanter Inhalt gesucht und erwartet wird.“255 Blieben diese Erwartungen unerfüllt, sei das Publikum nur noch durch den Einsatz äußerer Druckmittel zum Lesen zu motivieren, die jedoch mit echtem, d.h. für Köstlin libidinös geprägtem Kunstgenuss nicht vereinbar seien (und eher in der vom Schulzwang durchdrungenen pädagogischen Praxis von Bedeutung sein dürften): „Was nicht Interesse für mich hat und haben kann, Das anzuschauen muß ich mich zwingen, aber im ästhetischen Gebiete wollen wir uns nicht zwingen und nicht zwingen lassen, sondern frei die Lust des Schauens genießen.“256 Als Beispiel für seine Sichtweise muss dabei Goethe herhalten. Dessen zunehmende Formversessenheit hätte einen „einseitigen Kultus der Schönheit“ hervorgerufen, weshalb die Leserschaft „gegen seine klassicistischen Werke kalt blieb, Hermann und Dorothea dagegen mit Wärme aufnahm.“257 Auffallend ist dabei, dass Köstlin trotz seiner persönlichen Präferenz für das menschlich Interessante nicht umhin kommt, das höhere gesellschaftliche Distinktionspotenzial des Form-Schönen zumindest indirekt einzugestehen: Das Publikum hatte ganz Recht gehabt; die Kunst soll dem Menschen Etwas geben, statt in hoher Vornehmheit nur dem Sinne für Form etwas darbringen zu wollen; aus bloßem Formtrieb wäre nie ein Phidias’scher Zeus hervorgegangen.258

Nichtsdestotrotz sei das Form- bzw. Schönheits-Interesse letztlich „nur als ein Moment und Merkmal des Aesthetischen“ anzusehen, mit dessen Auftreten „das ästhetische Verhalten beginnt“, schließlich würde „das Spiel der Kräfte [...] bald erlahmen, sein Anregendes bald verschwinden, [...] wenn wir nicht unserem Vorstellen und Hervorbringen die Richtung auf einen Inhalt geben könnten und wirklich gäben, der uns in bestimmter Weise zu beschäftigen vermag“.259 Auch dieser Theoretiker der ästhetischen Erfahrung sieht also im Interesse das unverzichtbare Instrument der Gewährleistung psychischen Dabeibleibens in den Bewusstseinsumwelten literarischer Kommunikation, ohne das dieser in besonderem Maße auf Bewusstsein angewiesene Typ Sozialsystem keine Anschlussfähigkeit mehr produzieren könnte. Anders als bei den genannten Ästhetiken jedoch fehlt bei Köstlin

254 255 256 257 258 259

K. Köstlin: Aesthetik, S. 54. Ebd., S. 59. Ebd., S. 55. Ebd., S. 54. Ebd., S. 54. Ebd., S. 21.

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der eindeutige Bezug zwischen Form-Schönheit und hohem bzw. stofflicher Interessantheit und niedrigem literarischen Wert – ein Konnex, der allerdings im 20. Jahrhundert immer wieder von prominenten Autoren, wie etwa Brecht, hergestellt wird, z.B. wenn er behauptet: „Zweifellos wird das Stoffliche einer Dichtung am ehesten die einfachsten der Zuschauer interessieren.“260 Vielmehr differenziert Köstlin zwischen formal-schönem, äußerlichprofanem sowie tiefgründig-menschlichem Interesse, wobei die letztgenannte Form des Interesses zum Maßstab positiver Bewertung literarischer Werke erkoren wird, denn, wie Köstlin es ausdrückt: [K]lar ist es, daß die ästhetische Qualifikation eines Inhalts desto mehr steigt, je tiefer, je wesentlicher sein menschliches Interesse ist, je näher und inniger er den Menschen berührt, je mehr der Mensch sich für ihn erwärmen, ja begeistern kann, wie z.B. Menschenschicksal, Leben und Tod, Glück und Unglück, Familienleben, Liebe, Religion, Sittlichkeit ein tieferes menschliches Interesse haben, als äußere Naturdinge oder andrerseits äußerliche Geschicklichkeiten, Fertigkeiten, Thätigkeiten, die zwar wohl das Dasein erleichtern und verschönern, keineswegs aber zu den höchsten und wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit gehören.261

Die ästhetische Kommunikation der Moderne wendet sich insgesamt also zunehmend vom diskursivitätsbegründenden kantischen Postulat der Interesselosigkeit ab und erklärt das Interessante zur notwendigen Prämisse allen ästhetischen Erlebens in Kunst und Literatur. Manche, wie beispielsweise die Theater- und Filmkritikerin Karena Niehoff in den 1960er Jahren, gehen sogar soweit zu behaupten, dass Interessante habe den Schönheitsbegriff weitgehend aus dem ästhetischen Diskurs verdrängt: Es gibt zwar längst keine gültige Ästhetik mehr, das Wort ‚schön‘ bewirkt kein Einvernehmen mehr; so sagt man stattdessen jetzt ‚interessant‘, ‚apart‘ oder ‚experimentell‘ und tut so, als ob man, wie die Leute früher, die Wahrheit damit erreicht.262

Wie dem auch sei, jedenfalls beobachtet die moderne Ästhetik – mit der Ausnahme Köstlins, dessen Sichtweuse jedoch ein Einzelfall bleibt – auch die Risiken mit, die von einer Vorherrschaft des Interessanten gegenüber dem Schönen für die Qualität literarischer Produktion ausgehen. Die zweifelsfrei zunehmende Akzeptanz, die sich das Interessante über einen langen Zeitraum erkämpfen konnte, war dabei jedoch manchem, wie etwa dem Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, ein Dorn im Auge. Die Bedenken seiner Vorgänger radikalisierend, versteift sich der Schwarzseher Sedlmayr in seinem Hauptwerk Verlust der Mitte aus dem Jahr 1948 zu folgendem, seit dem ‚scientific turn‘ in der Literaturwissenschaft wohl in dieser Form kaum noch wahrheitsfähigen Resümee, das im angeblich innovationsversessenen

B. Brecht: „Standpunkt unserer meisten Kritiker [1920]“, S. 51. K. Köstlin: Aesthetik, S. 55f. 262 K. Niehoff: „Mutmaßungen über die deutsche Literatur“, S. 831. 260 261

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und sensationshörigen Interessanten gar den Hauptschuldigen für den angeblichen Verfall der gesamten abendländisch-christlichen Kunst erblickt: Die Kunst des 19. und des 20. Jahrhunderts ist überall dort im Absturz, wo sie jene Randgebiete nur mehr um der neuen Reize willen aufsucht, die sich dabei erschließen, um des nur Interessanten willen. Das Interessante erscheint immer wieder als eine Grundgefahr der Epoche.263

Ästhetikgeschichtlich steht die Leitdifferenz interessant/langweilig also alles andere als im Verdacht des Elitismus. Vielmehr sind die meisten Ästhetiken der funktionalen Moderne bemüht, eigens „die ästhetische Defizienz des Interessanten“264 gegenüber dem Formschönen herauszuarbeiten, oder wollen, wie Kant, das unbequem gewordene Interessante ganz aus dem Bereich ästhetischer Reflexion verbannen. Aus diesem diachronen Blickwinkel heraus muss die von Sill behauptete Analogie zwischen den Unterscheidungen interessant/langweilig sowie hoch/niedrig in Bezug auf die literaturwissenschaftliche Erfassung literarischer Kommunikation mithin als ziemlich fragwürdig erscheinen, da schon die Auseinandersetzung mit dem eigentlich positiven Codewert ‚interessant‘, der nach Sills Vorstellung anscheinend mit der Höhenkammliteratur gleichzusetzen ist und mit seiner engen Beziehung zur als „negativ eingestuft[en]“265 Unterhaltungsfunktion immer wieder zu kulturpessimistischen Äußerungen Anlass gibt, in der modernen Ästhetik fast ausschließlich mit dem Risiko qualitativer Verflachung der Literatur insgesamt in Verbindung gebracht wird. I.3.2.3 Interessantheit und literarischer Wert im wissenschaftlichen Diskurs Wenn Sill im Zuge seiner weiteren Ausführungen behauptet, dass „die Unterscheidung langweilig/interessant eine wertende Beobachtung des Literaturbetrachters“266 darstelle, gerät seine Argumentation überdies stark in das Fahrwasser der in der literaturwissenschaftlichen Wertungsforschung kontrovers diskutierten These des amerikanischen Philosophen Ralph Barton Perry, der einen untrennbaren, quasi-natürlichen Zusammenhang zwischen dem Interesse an und dem eigentlichen ästhetischen Wert eines Kunstgegenstandes postuliert: „[A] thing – any thing – has value, or is valuable, in the original and generic sense when it is the object of an interest – any interest. Or, whatever is object of an interest is ipso facto valuable.“267 Für einen wahrgenommenen Gegenstand Interesse aufzubringen (was im Fall der Literatur immer eine größere Zeitinvestition voraussetzt), ist nach

H. Sedlmayr: Verlust der Mitte [1948], S. 162f. K. Wölfel: „Interesse/interessant“, S. 172. 265 S. Winko: „Textbewertung“, S. 257. 266 O. Sill: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 91. 267 R.B. Perry: Realms of Value, S. 2f. 263 264

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dieser Auffassung also damit gleichzusetzen, diesem Gegenstand automatisch auch einen hohen künstlerischen Wert zuzuweisen. Akzeptiert man nun diese Sichtweise, die insofern eine Totalisierung vornimmt, als sie allen literarisch engagierten Akteuren die gleiche, zu wirklich differenzierter Wahrnehmung und Beurteilung unfähige Habitusstruktur unterstellt, dann scheint die Behauptung einer im Hinblick auf ihre Alltagstauglichkeit natürlich mit starken Ontologisierungstendenzen versehenen Leitdifferenz wie interessant/langweilig vordergründig das im deutschsprachigen Raum wirkungsmächtige Postulat Max Webers nach Wertefreiheit in der Wissenschaft tatsächlich zu unterlaufen und den literaturwissenschaftlichen Diskurs gewissermaßen mit unzulässigen Wertungshandlungen bzw. uneingestandenen Präferenzen für bestimmte Klassen von Kunstwerken zu kontaminieren.268 Allerdings ist es nicht unwissenschaftlich oder unwahr, wenn man feststellt, dass im Literatursystem Wertungsakte mit unverzichtbarer endogener Funktion vorgenommen werden und diese entsprechend in ein Modell literarischer Kommunikation zu integrieren versucht, solange man hierfür nachvollziehbare Argumente anführt und nicht selbst in der Rolle des Literaturwissenschaftlers unreflektiert Werturteile lanciert. Hinsichtlich des Phänomenbereichs Literatur ist Perrys These überdies nicht unwidersprochen geblieben. So geben die Wertungs- und Kanonforscherinnen Renate von Heydebrand und Simone Winko im Hinblick auf diese scheinbar unauflösliche Verzahnung von Interesse und Wert, wie sie Perry anvisiert, kritisch zu bedenken: „Leicht kann man [...] sehen, daß Interesse sich ebenso auf Gegenstände richten kann, denen damit nicht zugleich Wert zugeschrieben wird.“269 Auch Dirk Werle macht in einem Artikel, der das Wort ‚interessant‘ nebst zugehörigem Lexemverband als kulturwissenschaftliche Kategorie der Deskription gesellschaftlicher Wirklichkeit zum Thema hat, das Zugeständnis, dass zumindest der Begriff des ‚Interesses‘ – eigenartigerweise im Gegensatz zum mithilfe des gleichen Wurzelmorphems gebildeten Adjektiv ‚interessant‘ sowie dessen Nominalableitung ‚Interessantheit‘ – „keine Bewertung denotiert.“270 Tatsächlich spricht einiges dafür, den positiven Codewert der Leitdifferenz des Literatursystems –

Wie stark der Einfluss dieser Weber’schen Forderung auf die Literaturwissenschaft war und ist, führt exemplarisch folgendes Statement Fritz Lockemanns aus dem Jahr 1965 vor: „Der deutsche Literaturwissenschaftler sieht von einer Wertung oft bewusst ab, weil sie die von ihm erstrebte Haltung voraussetzungsloser Wissenschaftlichkeit gefährde.“ (F. Lockemann: Literaturwissenschaft und literarische Wertung, S. 9.) Aus dieser Haltung spricht vor allem die Angst der Literaturwissenschaftler im deutschsprachigen Raum, man könne ihre Beiträge eventuell nicht als szientifische Kommunikation auffassen, und es dürfte wohl genau dieser fruchtbare Boden gewesen sein, auf dem dann die Saat des ‚scientific turn‘ prächtig gedeihen konnte. 269 R. von Heydebrand/S. Winko: Einführung in die Wertung von Literatur, S. 20. 270 D. Werle: „Jenseits von Konsens und Dissens?“, S. 120. 268

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auch unabhängig von der gerade verwendeten Wortart – nicht bedenkenlos mit einem positiven Werturteil zu identifizieren. Wir wollen das anhand einer Studie demonstrieren, die der Linguist Wolfgang Sucharowski 1979 durchgeführt hat. Das Lexem ‚interessant‘ wurde wortgeschichtlich ursprünglich um das Jahr 1740 aus dem Französischen entlehnt, wo es in den Dramentheorien Corneilles, Racines, Boileaus und La Mottes Ende des 17. bzw. Anfang des 18. Jahrhunderts eine an Wichtigkeit zunehmende Schlüsselstellung einnimmt.271 Im Deutschen war das Wort ‚interessant‘ laut Sucharowski zunächst exklusiv für die Gebiete der Ästhetik und Literaturkritik reserviert, bevor es sich schließlich immer mehr zum Alltagsbegriff entwickelte.272 Im Fortlauf der Untersuchung wurden Befragungen hinsichtlich der pragmatischen Sprechervorstellungen zum Adjektiv ‚interessant‘ durchgeführt, die auch für unsere Thematik wichtige Rückschlüsse erlauben. Über die Hälfte der Befragten gab dabei an, dass „man das Wort in Situationen gebrauche, in denen man ‚irgendwie überrascht‘ sei.“273 Der Terminus scheint also in solchen sozialen Kontexten einsetzbar zu sein, die von einer Abweichung vom Gewohnten und Altbekannten gekennzeichnet sind und insofern Unterhaltung verheißen, als sie eine Alternative zum Erwarteten bieten. Außerdem wurde eine empirische Untersuchung von zwölf Wörterbüchern aus dem Zeitraum von 1840 bis 1977 angestrengt. Diese ergab, dass in acht Fällen ‚fesselnd‘, in sieben ‚anziehend‘, in vier ‚anregend‘, in drei ‚unterhaltend‘ und in zwei ‚spannend‘ als bedeutungsgleich für das zutiefst polyseme Lemma ‚interessant‘ angegeben werden. Die genannten Synonyme heben allesamt vornehmlich auf eine über einen längeren Zeitraum andauernde Fokussierung der intentionalen Gerichtetheit eines beobachtenden Bewusstseinssystems auf ein bestimmtes Objekt ab, nicht aber auf den zugewiesenen qualitativen Gehalt des beobachteten Objektes.274 Dagegen werden in den genannten Wörterbüchern ausdrücklich wertende Synonyme für ‚interessant‘ deutlich seltener genannt: ‚bedeutend‘ und ‚wichtig‘ z.B. nur je dreimal, ‚beachtenswert‘ zweimal und ‚bedeutsam‘ gar nur einmal.275 Während also immer wieder Synonyme genannt werden, die auf die Erzeugung

Siehe K. Wölfel: „Interesse/interessant“, S. 140-143. Siehe W. Sucharowski: „Interessant“, S. 370. 273 Ebd., S. 376. 274 Wir schließen das daraus, dass das Duden-Synonymwörterbuch für keinen der vier genannten Begriffe eine eindeutig wertende Entsprechung wie ‚gut‘, ‚großartig‘ oder ‚wertvoll‘ auflistet. Vgl. Duden. Das Synonymwörterbuch, S. 89, S. 100, S. 373, S. 806 sowie S. 936f. 275 Siehe W. Sucharowski: „Interessant“, 1979, S. 388. Diese Lexeme klassifizieren wir als explizit wertend, da sie mit Synonymen wie ,wertvoll‘, ‚sehr gut‘, ‚exzellent‘, ‚herausragend‘ usw., aber auch mit Begriffen, die teilweise einen direkten Bezug zum Wortfeld ‚Reputation‘ aufweisen, wie z.B. ‚anerkannt‘, ‚renommiert‘ oder ‚angesehen‘ etc. in Beziehung gesetzt werden. Vgl. Duden. Das Synonymwörterbuch, S. 170, S. 172 sowie S. 1050. 271 272

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eines temporären Aufmerksamkeitsfeldes sowie zielgerichtete geistige Anteilnahme276 eines beobachtenden Bewusstseinssystems abheben und insofern Interesse ganz im Sinne Schopenhauers als das bereits erwähnte „Bindemittel der Aufmerksamkeit“277 erscheinen lassen, besteht nur eine vergleichsweise schwache semantische Aufladung des positiven Codewerts der literarischen Kommunikation mit einer konkreten Wertungsinklination. Wird also der positive Wert der Leitdifferenz interessant/langweilig im Rahmen des Vollzugs literarischer Kommunikation aktualisiert, so unsere Schlussfolgerung, evoziert das hinsichtlich der qualitativen Beschaffenheit eines für einen bestimmten Zeitraum die Geistesgegenwart des Lesers bündelnden Werkes durchaus noch einiges an performativem Klärungsbedarf, weil nur bei einer Minderheit der Kommunikationsteilnehmer in den Bewusstseinsumwelten der Literatur ‚interessant‘ tatsächlich automatisch mit hohem künstlerischen Wert konnotiert werden dürfte. Versuchen wir uns das Gesagte an einem Beispiel zu verdeutlichen. Man kann sicherlich z.B. die Migrantenromane Wladimir Kaminers oder Feridun Zaimoğlus interessant finden, etwa weil sie den Leser ohne Migrationshintergrund in völlig unbekannte subkulturelle Milieus mit einem „literarisch nicht approbierten Alltag“278 entführen oder einen bizarren Sprachduktus wie die im Grunde hochartifizielle ‚Kanak Sprak‘ Zaimoğlus aufweisen, und weil sie insofern in ihrer thematischen Selektivität faszinieren sowie für eine gewisse Zeit psychische Aufmerksamkeit binden. Das muss aber nicht heißen, dass diesen Werken deshalb zwangsläufig auch ein hoher literarischer Wert zugewiesen wird; die Hauptsache ist, dass sie die vom Literatursystem geforderte Unterhaltungsfunktion erfüllen, indem sie sich beobachtenden Systemen als vom unspezifischen Hintergrundrauschen unterscheidbare, irritierende und neuartige Information erfolgreich aufdrängen. Die Frage des literarischen Wertes bleibt hiervon unberührt – was unterhält, unterhält, egal ob auf verfeinerte oder eher ungeschlachte, hohe oder niedrige Art und Weise. Die ganze systemtheoretische Anlage des Ansatzes von Plumpe und Werber verbietet es, hinter der Leitdifferenz interessant/langweilig die alte, noch auf einem alteuropäischen Substanzdenken fußende Unterscheidung zwischen Höhenkamm- und Trivialliteratur, zwischen Kunst und Kitsch zu vermuten. Wenn man akzeptiert, dass die Funktion literarischer Kommunikation in der Behandlung des gesellschaftlichen Problems wachsender Freizeit vor dem Hintergrund eines vor allem durch zunehmende Alphabetisierung milieuspezifisch immer breiter gestreuten Lesepublikums besteht, so bedeutet dies auch, dass sich die wachsende soziale Heterogenität der Leser-

Die Batteux-Übersetzungen aus den 1750er Jahren von J.A. Schlegel, Philipp Ernst Bertram und Gottsched verwenden für frz. ‚intérêt‘ das dt. ‚Antheil‘, für frz. ‚s’intéresser‘ die wertungsfreie dt. Entsprechung ‚Antheil nehmen‘. Vgl. K. Wölfel: „Interesse/interessant“, S. 146. 277 A. Schopenhauer: „Ueber das Interessante [1821]“, S. 67. 278 H. Winkels: „Der Dreck und das Heilige“ 276

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schaft und damit grundsätzliche Unterschiede in Lesesozialisation und Leseverhalten in der Wahl des Codes niederschlagen müssen, der die gesamte literarische Kommunikation der funktional differenzierten Gesellschaft strukturiert. Die Leitdifferenz muss in der Lage sein, gewissermaßen die ganze kritische Masse einer buntgescheckten Leserschaft in sich aufzunehmen, und genau dieser Einsicht entsprechen Plumpe und Werber mit ihrem Vorschlag, der gewissermaßen den kleinsten gemeinsamen Nenner aller möglichen Inzentive für literarischen Konsum einfängt. Gleichgültig, ob individuelle Leser nun eine hohe Dichte intertextueller Bezüge, eine kühne und originelle Tropik, erleichterte Identifikation mit den Protagonisten, die Darstellung großer Gefühle oder was auch immer bevorzugen (was sich dann kommunikativ in völlig gegensätzlichen Programmen freisetzt), auf jeden Fall muss Literatur immer Interesse erwecken können, Interesse an irgendwie erstaunlichen, in Werkform gegossenen Selektionen, die mindestens zu einmaligem Lesen inspirieren. Die von Plumpe und Werber angebotene Disjunktion gibt dabei jedoch nicht vor, was als qualitativ hochwertige Literatur durchgeht und was nicht, sondern nur, dass die literarische Kommunikation aus der Sicht der Wissenschaft mit der Bifurkation interessant/langweilig operiert. Das schließt kein noch so triviales Werk grundsätzlich aus dem Einzugsbereich literarischer Kommunikation aus, solange es nur wirksam seine vom Code gestützte Zerstreuungsfunktion bedient, indem es für die Zeit des Rezeptionsvorgangs das Bewusstsein des Lesers fasziniert oder zumindest (gewissermaßen weniger libidinös) seine Aufmerksamkeit weckt. Dort, wo Werke in der Freizeit Unterhaltung herbeiführen, wird literarisch kommuniziert. Dabei spielen Wertungsakte zunächst keine dem Zentralcode selbst entspringende Rolle. Die Leitdifferenz interessant/langweilig schreibt lediglich vor, dass die in den literarischen Werken vorgezeichneten Selektionen auf der Grundlage dieses gewissermaßen hedonistischen und an Roland Barthes erinnernden Duals Informationswert erlangen279, also überraschen müssen, um ihre Funktion erfolgreich erfüllen zu können. Überraschende Selektionen sind dabei keine substanziellen Eigenschaften literarischer Texte, sondern Konstruktionen eines beobachtenden Systems. Ein Werk ist nicht per se interessant oder langweilig, es verfügt über keinen essenziellen Kern, der sich (wie auch immer) objektiv bestimmen ließe, sondern Werke werden auf der Grundlage pluraler Beobachterverhältnisse zeitgleich aus verschiedenen systeminternen wie -externen Perspektiven heraus jeweils als etwas eigenes konstituiert, wobei unterschiedlichste Differenzierungen wie eben interessant/langweilig, aber auch profitabel/unprofitabel, der Erziehung nutzend/schadend, progressiv/konservativ usw. zum Einsatz kommen können. Literaturwissenschaft müsse daher, so

279

Andreas Seidler geht sogar so weit, die Sexualität zum symbiotischen Mechanismus der literarischen Kommunikation zu deklarieren, mit dessen Hilfe es dem Literatursystem möglich werde, organische Strebungen gezielt für soziale Zwecke zu instrumentalisieren. Vgl. A. Seidler: Der Reiz der Lektüre, S. 176f.

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Plumpe und Werber, als „polykontexturale Literaturwissenschaft“ betrieben werden mit dem Ziel, „die Literatur als Umwelt der Systeme Recht, Wirtschaft, philosophische Ästhetik, Politik, Erziehung und Religion zu beschreiben, um die jeweiligen Literaturkonzepte dieser Systeme zu rekonstruieren und Anhaltspunkte für die Koevolution der Literatur in dieser Umwelt zu gewinnen.“280 Was den Binnenkontext des Systems der Literatur selbst angeht, kann ein und dasselbe Werk also gewissermaßen alle Werte des vorgegebenen Spektrums in sich vereinigen, das durch die beiden Extrempole des Interessanten und Langweiligen begrenzt wird und unterschiedliche Intensitätsgrade psychischen Dabeibleibens während des Rezeptionsprozesses einschließt. Diese können von Erregtheit und Faszination über bloße Aufmerksamkeit bis hin zu massiver Unlust reichen, die natürlich unweigerlich zum Abbruch der Kommunikationssequenz führt, es sei denn, es sind Zwänge im Spiel, die ihren Ursprung außerhalb des Literatursystems haben – man denke nur an vorgeschriebene Schullektüre. Diese holistisch-konstruktivistische Anlage der systemtheoretischen Literaturwissenschaft scheint Sill bei seiner Gegenrede aus dem Auge zu verlieren. Der an das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium der Literatur gebundene Code interessant/langweilig ist mithin nicht mit der altbekannten Unterscheidung zwischen höherer und niederer Literatur gleichzusetzen. Selbst wenn man die wertungstheoretische Sichtweise Perrys zugrundelegte, würden immer noch Kriterien für die Wahl des positiven Wertes des Zentralcodes benötigt, die der Code selbst aber gar nicht anbieten kann, sondern auf der Programmebene geliefert werden müssten. Und gerade deshalb, weil dieser Code lediglich eine hochgeneralisierte Präferenz für das Interessante, Unterhaltsame vorgibt, weist Plumpe ausdrücklich darauf hin, dass „die hohe Differenzierung des Publikums nach entsprechend vielfältigen künstlerischen Unterhaltungsstrategien verlangt, die sich in entsprechenden Mikroprogrammen Ausdruck gegeben haben“.281 Die Leitdifferenz interessant/langweilig ist also schon aus Gründen des Theoriedesigns nicht in der Verfassung, irgendwie zu präskribieren, was als ‚ernsthafte‘ Literatur und was als bloße ‚pulp fiction‘ zu betrachten ist. Literatur wird konzipiert als werkgebundene Kommunikation, die mittels faszinierender Selektionen vor allem unterhalten will, nicht mehr und nicht weniger. Das kann bei Kafka, Zola oder Goethe der Fall sein, aber genauso bei Konsalik, Karl May oder C. S. Forester: „Den einen unterhält dies, den anderen das, den einen die Realisierung von Extremkontingenz im unwahrscheinlichsten aller Werke, den anderen sozialkritische Realismen, den dritten Liebesromane.“282 Wenn Gustav Seibt also die Frage stellt, ob „nicht ein Stephen-King-Roman einem schlichten Gemüt ähnliche

G. Plumpe/N. Werber: „Umwelten der Literatur [1995]“, S. 21f. Vgl. auch G. Plumpe/N. Werber: „Literatur ist codierbar [1993]“, S. 25. 281 G. Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne [1993], S. 304. 282 Ebd., S. 304. 280

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Sensationen vermitteln [könne] wie dem anspruchsvollen Leser die Göttliche Komödie“283, lautet unsere systemtheoretisch fundierte Antwort darauf eindeutig ‚ja‘. Ganz auf den Beobachter und die jeweils favorisierten literaturprogrammatischen Kriterien kommt es schließlich an! Auf der Programmebene kann man natürlich, wenn man will – d.h. wenn man etwa durch die eigene Sozialisation dazu disponiert ist – die experimentelle Avantgarde mit ihrem ausgeprägten Bewusstsein für Formen und Sinngrenzen allen anderen Produktionsweisen als überlegen ausweisen, aber diese Konzentration auf die ‚haute cuisine‘ würde laut Plumpe der Gesamtrealität literarischer Kommunikation nicht gerecht werden: Sozial umfasst Kunstkommunikation [...] viel mehr, und ebenso wie Zahlungen zum Wirtschaftssystem gehören, unabhängig davon, ob sie in Goldstücken oder ,goldenen‘ credit cards erfolgen, zählen konventionell erzählte Romane zum Kunstsystem und nicht nur hochartifizielle, sinnrestringierende Sprachexperimente, die ja zudem stets Gefahr laufen zu ,langweilen‘.284

Es kann also keine Rede davon sein, dass der Ansatz Plumpes und Werbers mit impliziten theoretischen Vorentscheidungen das Postulat der Wertefreiheit in der Wissenschaft verletze. Aber klargestellt wird, dass literarische Kommunikation ohne Interesse, d.h. ohne mehr oder minder stark ausgeprägte Faszination des Bewusstseins, die in besonderer Weise die Aufmerksamkeit der beteiligten Psychen über längere Zeiträume beansprucht und wohl daher tatsächlich, wie Christoph Reinfandt betont hat, mit einer „gegenüber anderen sozialen Systemen größeren Offenheit für die Komplexität psychischer Systeme“285 ausgestattet ist, keinesfalls weiterlaufen kann. Das zeigt, dass sich die Wahl gerade dieser Leitdifferenz aus dem Autopoiesisgedanken speist, und nicht etwa aus dem uneingestandenen Verlangen, Trivialliteratur über ein theoriebautechnisches Hintertürchen aus dem Zuständigkeitsbereich literaturwissenschaftlicher Praxis zu entfernen. Inwiefern aber Wertungshandlungen, die sicherlich wegen ihrer massiven empirischen Präsenz nicht leichtfertig übergangen werden sollten286, in eine systemtheoretisch verfasste Konzeption literarischer Kommunikation zu integrieren sind, ist eine ganz andere Frage, die uns gleichwohl noch eingehender beschäftigen wird. Sill kritisiert den von Plumpe und Werber eingebrachten Vorschlag aber auch in einer anderen Hinsicht, und zwar mit Bezug zur RollendifferenzieG. Seibt: „Sehr erprobte Formen [1997]“, S. 23. G. Plumpe: Epochen moderner Literatur [1995], S. 57. 285 C. Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 37. 286 So stellt etwa Walter Müller-Seidel fest: „Wo immer außerhalb der Literaturwissenschaft von Literatur die Rede ist, sehen wir uns mit Fragen der Wertung konfrontiert, wir mögen uns in einer Buchhandlung, in einer Dichterlesung oder in einem geselligen Kreis befinden.“ W. Müller-Seidel: Probleme der literarischen Wertung, S. 1. 283 284

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rung innerhalb des Systems der Literatur, welche die Komplementärrollen des Autors und des Lesers hervorgebracht hat. Die Leitdifferenz interessant/ langweilig, so Sills Argument, sei insofern einseitig, als sie die ‚reader-response‘ zu stark in den Vordergrund rücke und überdies genuin literarische Charakteristika dieses gesellschaftlichen Teilbereichs vernachlässige: „Die Unterscheidung interessant/langweilig, so muss man wohl festhalten, ist signifikant mit Blick auf die literarischen Vorlieben des Betrachters; über das Spezifische aller literarischen Formen besagt sie nichts.“287 Wer von der Leitdifferenz eines Teilssystems der modernen Gesellschaft allein allerdings schon befriedigende Rückschlüsse auf das, was Literatur zu einem besonderen und unverwechselbaren Kommunikationstypen macht, erwartet, muss zwangsläufig enttäuscht werden. Nur im theorieimmanenten und – zugegebenermaßen – bisweilen labyrinthischen Kontext von Codes, Medien, Programmen und Funktionen lässt sich überhaupt nur ansatzweise von einer präzisen Definition von Literarizität träumen, die selbstverständlich Desiderat literaturwissenschaftlichen Forschens bleiben muss.288 Keiner der Leitbegriffe der Systemtheorie ist in der Position, allein aus sich heraus eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu geben. Dass der Code interessant/ langweilig eher rezeptions- als produktionsästhetische Implikationen aufweisen soll, mag an Sills eigener rezeptionsästhetischer Ausrichtung liegen, die er mit systemtheoretischen Perspektiven in Einklang zu bringen versucht. Unklar aber bleibt, welche Realitätsebene mit dem eher vagen Terminus des ‚Betrachters‘ gemeint sein soll – psychische oder soziale Systeme, empirische Leser oder der anonyme Diskurs? Natürlich ist es psychisch möglich, je nach persönlicher Vorliebe literarische Werke mit Interesse zu lesen oder sich gelangweilt abzuwenden. Auf dem Emergenzniveau des Sozialsystems Literatur jedoch – und um diese Ebene geht es Plumpe und Werber – schließt die Leitdifferenz interessant/ langweilig die Autorenrolle keineswegs aus ihrem kommunikationstheoretischen Kalkül aus. Der Zentralcode interessant/langweilig zwingt die empirischen Autoren regelrecht dazu, ihre im vorgegebenen Medium literarischer Werke psychisch prozessierten Antizipationen an den vermeintlichen Erwartungen ihrer im wahrsten Sinne des Wortes ‚idealisierten‘ Leser zu orientieren, was natürlich zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen muss und somit reichlich erwartungsstrukturelles Füllmaterial für die Programmebene der literarischen Kommunikation abwirft. Alter (der empirische Autor) rechnet trotz aller Intransparenz seines Gegenübers damit, dass Ego (der empirische Leser) sein Werk zur Seite legt, wenn er nicht irgendwie fasziniert wird, und Ego weiß, dass Alter um sein eigenes Unterhaltungsbedürfnis weiß, dessen tatsächliche Relevanz durch den Gebrauch des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums der Literatur ja kommunikativ garantiert wird. Die Leitdifferenz interessant/langweilig als Strukturmecha-

287 288

O. Sill: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 92. Siehe N. Werber: Literatur als System [1992], S. 14.

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nismus literarischer Kommunikation speist sich konstitutionstheoretisch also nicht exklusiv aus den Bewusstseinsbeiträgen der Leser, sondern auch aus den reflexiven Erwartungen der Autoren in den psychischen Umwelten der Literatur. Damit wird der Ansatz Plumpes und Werbers dem strikt auf Mutualität aufbauenden Grundsatzproblem doppelter Kontingenz voll gerecht, da dieser schließlich auch die der Autorenrolle entspringenden Erwartungserwartungen in seinem Codierungskonzept berücksichtigt. Aufschlussreicher ist der zweite Aspekt von Sills Einwand, denn in der Tat muss man konzedieren, dass die Codierung interessant/langweilig kaum einen offensichtlichen Bezug zu den traditionellen formalästhetischen Reflexionsbereichen der Poetik erkennen lässt, wie z.B. dem Gattungssystem, der Stilistik, der Metrik, den Fiktionalisierungstechniken usw. Damit streift Sill einen Themenbereich, den auch Siegfried J. Schmidt kritisch hinterfragt hat und in dessen Mittelpunkt die Frage nach der spezifisch literarischen Relevanz dieser Leitdifferenz jenseits der Unterhaltungsfunktion des Literatursystems steht. Wenn Schmidt zu bedenken gibt, dass man „interessante Unterhaltung [...] natürlich auch von Talkshows und Fußballspielen, von Diavorträgen und Parties“289 erwarten könne, so zeigt sich, dass die Unterscheidung interessant/langweilig zumindest insofern problematisch ist, als sie nicht wirklich geeignet scheint, dem Literatursystem den Aufbau einer stabilen Systemgrenze zu ermöglichen. Das zugrundeliegende Problem des notwendigen Ausfüllens sich vergrößernder Freizeitkontingente, so könnte man vermuten, ist so grundlegend, dass es auch in anderen Funktionssystemen – wie dem des Sports – mehr als nur eine kleine Nebenrolle spielt. Auffallend ist z.B., dass professionelle Sportveranstaltungen vorwiegend an den Wochenenden und Abenden von Werktagen stattfinden – also dann, wenn die meisten Leute keinen beruflichen Verpflichtungen nachgehen müssen und frei über ihre Zeit verfügen können.290 Überdies durchzieht das Bedürfnis nach interessanter Unterhaltung wohl in der Tat viele Bereiche der lebensweltlichen Kommunikation, die nicht an eines der großen Funktionssysteme angeschlossen sind, sodass es bei diesem Theoriedesign zu Überlappungen und Entdifferenzierungserscheinungen seitens der Literatur kommt, die an die längst vergangenen Tage multifunktionaler Kommunikation erinnern. Insofern hat Siegfried J. Schmidt nicht völlig Unrecht, wenn er bezweifelt, dass „ein Code wie interessant/langweilig und eine Funktionsbestimmung von Literatur allein über Unterhaltung differenziert genug ist.“291 Allerdings ziehen wir, wie sich zeigen wird, aus dieser Erkenntnis andere Schlussfolge-

S.J. Schmidt: „Konstruktivismus, Systemtheorie und Empirische Literaturwissenschaft [1995]“, S. 234. 290 Es wäre entsprechend an anderer Stelle zu überprüfen, inwieweit es Sinn macht, Sport und Literatur bzw. Kunst als Subsysteme mit eigenen Nebencodes dem übergeordneten System der Unterhaltung zuzuschlagen. 291 S.J. Schmidt: „Konstruktivismus, Systemtheorie und Empirische Literaturwissenschaft [1995]“, S. 236. 289

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rungen als Schmidt, der ja u.a. Luhmanns Autopoiesiskonzept nicht für Kommunikationssysteme gelten lassen will und ein handlungs- und akteurtheoretisches Modell bevorzugt, das sich an Parsons Systemtheorie anlehnt. Aus unserer Sicht ergeben sich aus dieser codebezogenen Grenzziehungsproblematik zwei bedeutsame Alternativen: Entweder man akzeptiert grundsätzlich das von Plumpe und Werber ins Spiel gebrachte systemtheoretische Modell literarischer Kommunikation mit seiner Trias aus Code (interessant/langweilig), Funktion (Ausfüllen zunehmender Freizeit) und symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium (literarisches Kunstwerk) als Arbeitsgrundlage, oder man sucht nach überzeugenden Alternativen. Das hieße dann aber auch zwangsläufig, das Problem wachsender Freizeit vor dem evolutionären Hintergrund der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft zu ignorieren oder doch zumindest in den Hintergrund zu drängen, um nach anderen möglichen Funktionen literarischer Kommunikation mit zwangsläufig anderen Codes zu fahnden. Im Angebot sind, um nur die prominentesten Vertreter der Zunft zu nennen, Funktionsbestimmungen wie Vorführung von Weltkontingenz durch „Konfrontierung der (jedermann geläufigen) Realität mit einer anderen Version derselben Realität“292 – ganz unter dem Motto: ‚Es könnte alles auch ganz anders sein‘ (Luhmann) – oder die Suche nach „Möglichkeiten der ‚symbolischen‘ Bewältigung der Folgelasten der funktionalen Differenzierung, vor allem der Individualisierung und der zunehmenden Identitätsansprüche (Stichwort: Entfremdung)“ in einer nicht mehr durch religiöse oder ständische Normen geklammerten, hocharbeitsteiligen Gesellschaftsformation, die abgewickelt wird über innovative „Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten ganzheitlicher Art, in denen kognitive, moralische und hedonistische Momente integriert bleiben (bzw. werden) können“293 (Siegfried J. Schmidt). Vergleicht man die von Luhmann für die Kunst und Literatur vorgenommene Funktionsbestimmung mit der anderer Sozialsysteme, also z.B. der Regulierung von Knappheit durch Steigerung von Knappheit (Wirtschaft), der Ermöglichung kollektiv bindender Entscheidungen (Politik), der Herstellung neuen wahren Wissens (Wissenschaft) oder der rechtsförmigen Lösung von Konflikten (Recht), so fällt auf, dass sie eigenartig abgehoben und gespreizt erscheint. Mag sein, dass das Sichtbarmachen von Weltkontingenz für die Berufsleser Geltung beanspruchen kann, die als retroaktive Leser im Sinne Michel Riffaterres ständig sowohl die ‚reale‘ als auch die ‚fiktionale‘ Realität des Kunstwerks im Blick haben und nicht nur lustvollheuristisch unter Ausnutzung ihrer an Leichtgläubigkeit grenzenden ‚willing suspension of disbelief‘ rezipieren. Die bundesdeutsche Berufsleserschaft macht aber lediglich ungefähr „ein knappes Prozent der Gesamtbevölke-

N. Luhmann: „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst [1986]“, S. 624. 293 S.J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur [1989], S. 21. 292

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rung“294 aus, und deshalb läuft Luhmanns unnötig abstrakte und tatsächlich eher auf das Hochkulturschema gemünzte Funktionsbestimmung Gefahr, nur einen kleinen Teil der empirischen Totalität literarischer Kommunikation zu erfassen, die ja von einer hohen Differenzierung des Lesepublikums geprägt ist. Dabei gilt Ähnliches für den von Skeptizismus gegenüber der Modernisierung durch funktionale Differenzierung geprägten Ansatz Siegfried J. Schmidts. Eint die Leser wirklich ein fast kollektives Bedürfnis nach Milderung seelischer Schmerzen, die durch die Modernisierungsschübe der letzten drei Jahrhunderte ausgelöst worden sind und die Sehnsucht nach einem Reservat ganzheitlicher Erfahrung inmitten hochspezialisierter Kommunikationszusammenhänge schüren? Übernähme die systemtheoretische Literaturwissenschaft Luhmanns Vorschlag, bestünde jedenfalls die Gefahr eines weiteren Verlustes an Bodenhaftung mit der unvermeidlichen Konsequenz eines Rückzugs des systemsoziologischen Paradigmas in den Elfenbeinturm rein akademisch relevanter Reflexionen. Wenn man davon ausgeht, die Funktion künstlerischer Kommunikation erschöpfe sich darin, die „Welt in der Welt erscheinen zu lassen“295, so handelt es sich, streng genommen, um eine wenig überzeugende sozialtheoretische Spekulation eines Großmeisters der Disziplin, in der von der bezweifelbaren Notwendigkeit ausgegangen wird, in einer ohnehin kontingenten Welt Kontingenz selbst sichtbar zu machen, indem der ‚realen‘ Realität eine bloß ‚imaginäre‘ Realität gegenüberstellt wird (wobei diese Formulierungen in ihrer tautologischen bzw. oxymoronischen Anlage schon den diffizilen wahrheitsontologischen Status literarischer Kommunikation illustrieren). Die Erfahrung von Weltkontingenz ist aber kein literaturspezifisches Phänomen. Sie stellt sich auch in allen anderen Teilsystemen der funktional differenzierten Gesellschaft ein. Diese modernste und vorläufig letzte primäre Differenzierungsform der Gesellschaft zwingt die involvierten Psychen zu einem permanenten ‚code-switching‘, also zu einem ständigen Changieren zwischen den Systemreferenzen und macht sie in allen Teilbereichen gesellschaftlicher Kommunikation mit der Einsicht bekannt, dass alles auch anders möglich wäre. Insofern ist die Kontingenzerfahrung in der Moderne ubiquitär: Überall wird der status quo mit einer Flut von Alternativen konfrontiert, und am Ende wird selbst noch die Unterscheidung von gegebener Realität und imaginären Möglichkeiten aufgelöst und die medial erreichbare Welt zu einer einzigen Simulation erklärt. Ist Kontingenzbewußtsein aber allerorten im Überfluss vorhanden, kann es nicht die Funktion der Kunst sein, solches privilegiert zu artikulieren.296

J. Schneider: Sozialgeschichte des Lesens, S. 420. N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft [1995], S. 241. 296 G. Plumpe: Epochen moderner Literatur [1995], S. 55. Vgl. auch G. Plumpe/N. Werber: „Literatur ist codierbar [1993]“, S. 27. 294 295

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Für das Problem wachsender Freizeit vor dem Hintergrund eines sprunghaft ansteigenden Bildungsniveaus jedoch gibt es statistische Belege en masse, sodass es sich nicht nur um eine der scholastischen Vernunft geschuldete Kopfgeburt handeln dürfte, sondern um eine tatsächliche soziale Problematik mit außerordentlicher Breitenwirkung, die man nicht außer Acht lassen sollte, wenn es um die konstitutionstheoretischen Voraussetzungen literarischen Kommunizierens geht. Die Anzahl der mit literarischer Lesekompetenz gesegneten Studierenden in Deutschland etwa explodierte von ca. 5.600 am Ende des 18. Jahrhunderts auf ca. 50.000 im Jahr 1900 und schließlich auf ungefähr 1.800.000 um die zweite Jahrtausendwende.297 Hohe Wachstumsraten verzeichnet aber auch der Freizeitbereich: Die frei verfügbare Zeit liegt heute im Durchschnitt an Werktagen bei 5, an Sonntagen bei 8 Stunden; und einkommensstarke Haushalte verwenden mehr als 10% ihrer Gesamtausgaben für Kultur, Information und Unterhaltung, einkommensschwächere immerhin noch ca. 5% [...]. Erwähnenswert ist auch der Umstand, dass die durchschnittliche Lebenserwartung innerhalb des 20. Jahrhunderts nahezu verdoppelt und eine relativ effiziente staatliche Altersvorsorge institutionalisiert werden konnte, so dass ein stetig steigender Anteil der Bevölkerung in den Genuss eines von Erwerbsarbeit freigestellten, zusätzlichen Raum für Freizeitlektüre eröffnenden Lebensabschnittes kam. [...] Alles in allem verfügt demnach die große Mehrheit der Bevölkerung im demokratisch-pluralistischen Zeitalter erstmals in der Geschichte Deutschlands über genug Geld, genug Freizeit und genug Bildung, um nach Maßgabe eigener Wünsche an der literarischen Kommunikation teilzunehmen.298

In nackten Zahlen drückt sich das Anwachsen der Freizeitkontingente der Deutschen wie folgt aus: 1900 betrug die Lebenszeit im Durchschnitt ca. 440.000 Stunden, von denen 110.000 zur freien Verfügung standen. Bis 1980 stieg die mittlere Lebenserwartung auf ca. 610.000 Stunden bei 280.000 Stunden Freizeit. Bis zur Jahrtausendwende schnellte die Lebenserwartung noch einmal auf ca. 670.000 Stunden in die Höhe, von denen 340.000 als Freizeit verbracht werden konnten. Die Prognose für 2010 sieht ein erneutes Anwachsen der Lebenszeit sowie der freien Zeit um jeweils rund 20.000 Stunden vor.299 Wenn Plumpe und Werber ihren Zentralcode an das gesellschaftliche Problem zunehmender Freizeit binden, entspricht das also ganz eindeutig dem Datenmaterial der literatursoziologisch ausgerichteten historisch-empirischen Lese(r)forschung, und so gesehen erweist sich ihre Funktionsbestimmung der literarischen Kommunikation den Ansätzen Luhmanns und S.J. Schmidts als überlegen. Zwar ist es zweifellos so, dass literarische Werke dem Leser in unterschiedlichen Intensitätsgraden „die Möglichkeit einer von der seinen abweichenden Wirklichkeit unterbreiten“, wie auch Jan Mukařovský feststellt; allerdings geschehe dies nicht allein um der Weltkontingenz willen, sondern um den Leser mit einer solchen Gegen-

Siehe W. Leidhold: „Wissensgesellschaft“, S. 451f. J. Schneider: Sozialgeschichte des Lesens, S. 295f. 299 Siehe H.-W. Prahl: Soziologie der Freizeit, S. 15. 297 298

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überstellung „erfreuen bzw. ihn durch die Nichtübereinstimmung der erdachten Wirklichkeit mit der echten erschrecken“300, sprich unterhalten zu können. Was bleibt, ist das von Schmidt benannte Problem des Etablierens einer stabilen Systemgrenze für den Sektor literarischer Kommunikation unter Beibehaltung der Vorgaben, die Plumpe und Werber für das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium, den Code und die gesamtgesellschaftliche Funktion des Literatursystems machen. Innerhalb des systemtheoretischen Theoriedesigns, dessen Optik wir beibehalten wollen, gibt es unseres Erachtens für die Lösung dieser drängenden Problematik lediglich eine wirklich praktikable Alternative, nämlich eine Überprüfung, die darauf abzielt, inwiefern die Leitdifferenz interessant/langweilig einer strukturellen Absicherung über einen stabilen Nebencode bedarf. Bei der Suche nach einem geeigneten Kandidaten wollen wir uns dabei auf Luhmanns Konzepte beziehen, uns aber auch von jenen das Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation betreffenden Gedankengängen leiten lassen, die wir unter dem Stichwort des Zirkels statuspositionaler Differenz bereits angesprochen haben und auf eine kapitaltheoretische Erweiterung des systemtheoretischen Modells literarischer Kommunikation hinauslaufen. Nicht zuletzt wegen der empirisch nachweisbaren Verwurzelung der Funktionsbestimmung Plumpes und Werbers in der Realität literarischer Praxis ist es unter den systemtheoretisch ausgerichteten Theorieangeboten gerade dieses, das am ehesten an einen gewinnbringenden Theorietransfer zwischen systemsoziologischer Literaturwissenschaft und Bourdieus Theorie des literarischen Feldes denken lässt. I.3.3 Reputation als Nebencode wissenschaftlicher Kommunikation Luhmann sieht nun für mehrere Teilsysteme der funktional differenzierten Gesellschaft Nebencodes vor, die an die primäre Codierung der Systeme anknüpfen und diese gewissermaßen stützen. Im Wirtschaftssystem wird der Code Haben/Nichthaben (Eigentum) durch den Code Zahlung/Nichtzahlung (Geld) gedoppelt, sodass Eigentumsverhältnisse relativ unkompliziert über Geld verändert werden können. Im politischen System wird der Code Macht haben/keine Macht haben durch den sekundären Code Recht/Unrecht ergänzt, der die enge strukturelle Kopplung des politischen Systems mit dem Rechtssystem über die Verfassung ermöglicht und zementiert. Die über die Differenz von Immanenz/Transzendenz codierte religiöse Kommunikation ist zusätzlich an die moralische Leitunterscheidung gut/schlecht gebunden, die das Sensorium der religiösen Kommunikation für ungeheuer breite lebensweltliche Anwendungsgebiete empfindlich macht. Für unsere Belange 300

J. Mukařovský: „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert [1936]“, S. 87.

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besonders bedeutsam sind Luhmanns auf Nebencodierung bezogene Ausführungen zum Wissenschaftssystem, also demjenigen Funktionssystem, dessen Praxis ihm aus seiner beruflichen Tätigkeit als Professor für Soziologie am engsten vertraut war. Dem primären Code wahr/falsch wird dort ein Reputationscode als Sekundärcode zur Seite gestellt, mit dessen Hilfe angesehene von nicht angesehenen Wissenschaftlern unterschieden werden können. Liest man Luhmanns Ausführungen zum Reputationscode nun vor dem Hintergrund der hier skizzierten Kapitaltheorie Bourdieus, deutet sich eine konzeptionelle Verwandtschaft zum symbolischen Kapitalbegriff nicht nur an, sondern drängt sich geradezu auf. Gehen wir zunächst von Luhmanns Begriff des Einflusses aus. Darunter versteht er eine generalisierte Form des Transfers von Selektionsleistungen zwischen Sinnsystemen, der sich auf der Ebene kommunikativer Situationen in der Sach-, Sozial- oder Zeitdimension manifestiert. Wenn von Reputation die Rede ist, bezieht sich Luhmann dabei auf die Sachdimension generalisierten Einflusses. Eine bestimmte Präsentation neuen Wissens weiß zu überzeugen, d.h. eine spezifische Argumentation, die einem beteiligten psychischen System in der Form Person zugerechnet wird, erfährt eine Bewertung als ,wahr‘. Diese affirmative Beurteilung wird anschließend auf andere Fälle wissenschaftlicher Kommunikationen übertragen, die über den gleichen Urhebernamen identifiziert und eingestuft werden können: „Reputation wird an Eigennamen verliehen, also an semantische Artefakte mit eindeutiger, rigider Referenz. [...] Über Namen kann man, soweit notwendig, auch Adressen ermitteln und mit dem Träger der Reputation direkt kommunizieren.“301 In auffallender Kongruenz mit der ökonomischen Semantik der Kapitaltheorie Bourdieus ergänzt Luhmann dazu an gleicher Stelle: Reputation zum Beispiel gewährt Kredit. Wer darüber verfügt, kann seinen Namen als Leihgabe zur Verfügung stellen, muß aber auch entsprechende Empfindlichkeiten für dessen Verwendung pflegen. Er kann mit seiner Unterschrift Effekte erzielen, muß aber auch mit einem entsprechenden Ansturm von Nachfragen rechnen.302

Schon im Schicksalsjahr 1968 hatte Luhmann „Reputation im Wissenschaftssystem“ als eine „Art von Kredit“, als einen „(allerdings unbefristete[n]) Wechsel auf Wahrheit“303 konzipiert. Reputation wird also, wie bei Bourdieu, mit Kreditwürdigkeit umschrieben, die für eine hohe Erwartbarkeit wahrheitsfähiger Kommunikationen steht und auf diese Weise anzeigt, „was mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr Beachtung verdient als anderes.“304 Dadurch erhöht sich die Aussicht, dass die Kommunikationsofferten, die den Namen des Reputationsträgers im Schilde führen, auch Resonanz finden, man sich also die Mühe macht, diese Kommunikationsangebote N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 246. Ebd., S. 245. 303 N. Luhmann: „Die Selbststeuerung der Wissenschaft [1968]“, S. 297. 304 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 245f. 301 302

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überhaupt genauer zu betrachten. Ein guter Ruf, so könnte man im Anschluss an Luhmann vielleicht auch formulieren, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass eine wissenschaftliche Kompaktkommunikation Widerhall auslöst, zunächst egal ob in Form von Zustimmung oder Ablehnung. Potenzielle Adressaten werden gewissermaßen in positive Schwingungen versetzt. Der gute Ruf zwingt auf sanfte – und damit umso effektivere, weil nicht offen gewaltsame – Art und Weise dazu, sich auf die Kommunikationsofferte einzulassen, was die unbedingte Voraussetzung dafür ist, dass man sie anschließend überhaupt in Gänze oder zumindest partiell annehmen kann. Dem Reputationscode obliegt also nicht lediglich die kausale Zurechnung einer wissenschaftlichen Publikation auf eine bestimmte Person im Sinne eines ,Der ist es gewesen!‘ Als Sekundärcode kommt dem Ruf einer bestimmten Person auch eine wichtige Selektionsaufgabe zu, die in Verbindung mit einem der Urprobleme der Systemtheorie steht, nämlich dem der notwendigen Reduktion von Komplexität. Luhmann schreibt dazu: „Die Funktion dieses Codes liegt vielmehr [auch] in der Vereinfachung der Orientierung, insbesondere in der Selektion dessen, was man zur Kenntnis nehmen muss.“305 Der Reputationscode ist also als Orientierungsinstrument eine stabile Vorrichtung der wissenschaftlichen Kommunikation, mit deren Unterstützung die Erwartungsbildung hinsichtlich der zu antizipierenden Qualität einer wissenschaftlichen Kommunikationsofferte schematisiert und damit erleichtert wird. Alle sich an wissenschaftlicher Kommunikation Beteiligenden orientieren sich am Medium der Wahrheit, aber auf der Suche nach Wahrheit, die alle Wissenschaftler mit einem unüberblickbaren Kosmos an bestehenden Theorien und Erkenntnissen konfrontiert, sind die Produzenten und Rezipienten wissenschaftlichen Wissens, die im Zeitalter der Hochspezialisierung „nur noch einen Bruchteil der neu erscheinenden Literatur erfassen und verarbeiten“306 können, auf den Reputationscode als einfache, auch unter Zeitdruck spontan einsatzfähige Selektionsinstanz angewiesen. Damit kontribuiert der wissenschaftliche Reputationscode selbstverständlich auch zur Etablierung eines sozialen Systemgedächtnisses in Gestalt eines Theorien- und Methodenkanons, denn nicht mit Reputation ausgezeichnete Kompaktkommunikationen können übersehen und damit vergessen werden, was ja nach Maßgabe der Systemtheorie ohnehin die kontraintuitive Hauptfunktion sozialer Gedächtnisse ist. Wer liest schon all die vielen Promotionsschriften namenloser Autoren, die ohne Hausmacht sind und deren theoretische Ergüsse in den Universitätsbibliotheken endgelagert werden? Das Wissenschaftssystem versteht sich so darauf, mit einem ungeheuren Wust an wahrheitsbezogenen Informationen umgehen, indem es mithilfe des universal handhabbaren Reputationscodes grobe Schnitte vollzieht, unliebsamen Ballast abwirft und so den drohenden Zusammenbruch durch einen ‚information overflow‘ verhindert.

305 306

Ebd., S. 249. N. Luhmann: „Die Selbststeuerung der Wissenschaft [1968]“, S. 296.

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Die Wissenschaft kann mittels des Zusatzcodes reputabel/nicht reputabel also ein äußerst umfangreiches und vielgestaltiges Angebot an wahrheitsfähigen Kommunikationsofferten tolerieren, ohne sich zu übernehmen und unter dieser erdrückenden Informationslast in die Knie zu gehen. Unter dem Gesichtspunkt der Systemautonomie, den Luhmann stets radikal durchdekliniert hat, ermöglicht die schematisierte und auf Dauer gestellte Zuschreibung von Reputation der Wissenschaft ein hohes Maß an Selbststeuerung, denn Reputationschancen sind laut Luhmann bei der Auswahl wissenschaftlicher Themen ebenso wie bei der Entstehung der „Bedingungen, unter denen Publikationen rasch Aufmerksamkeit finden“307, wesentlich bedeutsamer als exogene Einwirkungen, wie z.B. die Bereitstellung finanzieller Mittel oder die institutionelle Rahmensetzung durch politische Entscheidungen wie dem Hochschulrahmengesetz. Diese Fähigkeit des Umgangs mit großen Informationsmengen gibt der Wissenschaft darüber hinaus so etwas wie einen demokratischen Anstrich: Viele können beim fröhlichen Spiel der Wissenschaft mitmachen und einen Positionierungsversuch wagen, aber nur wenige Theorieangebote schaffen es wirklich, die Selektionsbarriere zu überwinden, die über den Reputationscode errichtet wird und bedeutsame von bedeutungslosen Wahrheiten trennt. Der für diese Segnungen des Reputationscodes zu entrichtende kommunikationstechnische Preis besteht allerdings darin, dass das Systemgedächtnis „mehr über Namen als über Sachinhalte organisiert“308 wird. Es ist also keineswegs die Ausnahme, wenn in der Wissenschaft Inklusion/Exklusion primär über berühmte Eigennamen, nicht über die beobachtete logische Kohärenz der Argumente geregelt wird. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erscheint der Wissenschaftsbetrieb also weit weniger rational, als man vielleicht erwartet hätte. Der Vorteil dieser Zusatzeinrichtung der wissenschaftlichen Kommunikation dürfte indes nicht ausschließlich in der Reduktion von Eigenkomplexität liegen. Das Erkennen und Beurteilen argumentativer Stringenz würde ja immer eine mehr oder minder umfangreiche und damit zeitintensive Reimprägnierung der betreffenden wissenschaftlichen Kommunikationsofferte voraussetzen. Der Reputationscode ermöglicht es, die Zeit zu sparen, die eigentlich seitens der involvierten Psychen in eine eigenverantwortliche Beurteilung einer wissenschaftlichen Kompaktkommunikation hätte investiert werden müssen. Erkauft wird diese Möglichkeit zur Zeitersparnis damit, dass „Vertrauen in eine erheblich verkürzte Kommunikation“309 vorausgesetzt wird, was wirklich rationale Entscheidungen wissenschaftlicher Institutionen utopisch erscheinen und eine gewisse Skepsis gegenüber szientifischer Kommunikation durchaus angeraten sein lässt. Bereits vorhandene Informationen werden dabei zur Ad-hoc-Kalkulation der Erwartbarkeit zukünftiger Ereignisse beansprucht und zum Aufbau von Personenvertrauen

N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 353. Ebd., S. 354. 309 Ebd., S. 354. 307 308

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eingesetzt, das die generelle Unsicherheit von Erwartungen in erträglichen Grenzen hält. Wer aber nur wenig Zeitreserven besitzt, ist den personenbezogenen Vorselektionen des Reputationscodes umso stärker ausgesetzt, da man diesem überindividuellen Auswahlverfahren unbedingt vertrauen muss, wenn Selbstüberforderung ausgeschlossen werden soll. Denkt man an Bourdieus Theorie der Praxis, so lässt sich feststellen, dass sich der Reputationscode Luhmann’scher Provenienz durchaus mit dem konzeptionellen Kern jenes praxeologischen Ansatzes vereinbaren lässt, der Spontaneität und Zeitdruck zu den wesentlichen Konstituenten sozialen Agierens erklärt, leider aber keinen der Systemtheorie ebenbürtigen Kommunikationsbegriff erbracht hat. Auffallend ist beim Gedanken an die Kapitaltheorie Bourdieus ferner, dass Luhmann bei seinen Ausführungen zur Reputation als Nebencode des Wissenschaftssystems nicht nur hinsichtlich der an der Form Person orientierten Kreditgenerierung eine ökonomisch geprägte Semantik pflegt. So werde wissenschaftliche Reputation, anders als „im Falle von Geld, formalisierter Macht oder Energie“, nicht etwa „durch ein Summenkonstanzprinzip reguliert.“310 Überdies verweist er darauf, dass „Reputation aus funktionalen Gründen knapp bleiben“311 müsse. Das leuchtet ein: Würden alle Wissenschaftler mit allzu großzügigen Reputationsmargen ausgestattet, gäbe es kaum noch einen Grund, die Eigennamen der einen zu erinnern und die der anderen zu vergessen; sie wären vielmehr alle mehr oder minder unterschiedslos hoch angesehen und die wissenschaftliche Kommunikation würde sich ins Unendliche verzweigen, bis sie schließlich führungslos zusammenbräche. Aufgrund der Begrenztheit von Reputation kann sich die ihrerseits nicht unendliche Aufmerksamkeit jedoch auf die Personen konzentrieren, deren Kommunikationsofferten einen spürbar höheren Wahrheitsgehalt verheißen als andere. Das Gesamtvolumen aller Reputationen im Wissenschaftssystem kann mithin Schwankungen unterworfen sein, allerdings, so möchten wir hinzufügen, kann die Gesamtmenge nicht beliebig erhöht werden. Sie muss vielmehr in ein proportionales Verhältnis zur Totalität der systemintern anfallenden Informationen gebracht werden, soll inflationären Tendenzen vorgebeugt und gleichzeitig Wachstum und Innovation ermöglicht werden. Bereits bestehende Reputation muss daher aus Luhmanns Sicht „bei Neuausteilung nicht schmerzhaft entzogen werden, sie verblasst nur im Vergleich mit der neuen Reputation und wird auf unmerkliche Weise geschichtlich.“312 Damit aber nicht genug der ökonomischen Analogien. Auch angesichts des augenfälligen Ringens um rare Stellen im Wissenschaftsbetrieb, das gleichermaßen über Reputation abgewickelt wird, finden sich bei Luhmann verräterische Anklänge an die aus den Wirtschaftswissenschaften bekannte

N. Luhmann: „Die Selbststeuerung der Wissenschaft [1968]“, S. 298. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 249. 312 N. Luhmann: „Die Selbststeuerung der Wissenschaft [1968]“, S. 298. 310 311

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Ausdrucksweise: „Es kommt darauf an, dass man Reputation erwirbt und dadurch auf dem Arbeitsmarkt für Wissenschaftler bessere, vom augenblicklichen Beschäftigungsverhältnis unabhängige Chancen gewinnt.“313 All das hängt natürlich damit zusammen, dass Luhmann ganz im Sinne einer Akkumulationslogik den Reputationscode nicht als Digital-, sondern als Analogcode konzipiert, der sich „auf ein ,mehr oder weniger‘ an Reputation mit fließenden Übergängen, nicht auf ein künstlich-klares ,entweder/ oder‘“314 stütze. Damit kommt Luhmann hinsichtlich des Reputationscodes der Wissenschaft zu praktisch der gleichen Leitdifferenz, die wir auch für Bourdieus symbolisches Kapital bzw. für die Kapitaltheorie insgesamt festgestellt haben. Offensichtlich kann sich Luhmann, wenn es um wissenschaftliches Renommee geht, den metaphorisch-anschaulichen Reizen einer „Generalisierung der ökonomischen Begriffsarchitektur“315, die Armin Nassehi und Gerd Nollmann für Bourdieus Feldsoziologie diagnostiziert haben, genauso wenig verschließen wie der Franzose, der jedoch Reputationsmechanismen, im Gegensatz zu Luhmann, in praktisch allen Teilbereichen der gesellschaftlichen Praxis am Werk sieht. I.3.4 Immanente Probleme der literarischen Kommunikation und ihre Lösung durch Reputation als Nebencode Bestimmte wissenschaftliche Publikationen werden also auf der Ebene der Kommunikation über die ihnen anhaftenden Urhebernamen mit einem Mehr an Reputation in Gestalt positiv besetzter, personal zugerechneter Erwartungen ausgezeichnet, sofern sie bereits in der Vergangenheit argumentativ in hinreichendem Ausmaß zu überzeugen vermochten. Das motiviert (und verführt) dann natürlich nicht durchgehend zur Annahme solcher charismatisch aufgeladener Kommunikationsangebote, aber ein gewisses Quantum an personengebundener Reputation führt zumindest dazu, dass die entsprechenden Kommunikationsofferten eher wahrgenommen werden und insofern tendenziell auf mehr Resonanz stoßen als andere – einmal ganz davon abgesehen, wie die Reaktionen genau ausfallen. Wir behaupten nun, dass es eine Reihe guter Argumente dafür gibt, nicht nur im Rahmen wissenschaftlicher Kommunikation von einem Reputationscode auszugehen, sondern einen ganz ähnlich strukturierten Nebencode auch für das Literatursystem zu veranschlagen: (1) Man muss davon ausgehen, dass das moderne Literatursystem im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken ein ebenfalls immens hohes Informationsvolumen produziert, das der Komplexität des Weltentwurfs der Wissenschaft keineswegs nachstehen dürfte. Gehen wir N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 677. Ebd., S. 247. 315 A. Nassehi/G. Nollmann: „Wozu ein Theorienvergleich? [2004]“, S. 11. 313 314

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zunächst von den systemeigenen Beobachtungsmitteln aus, mit deren Hilfe das System der Literatur in Fremdreferenz Umweltereignisse ins eigene Erleben zu integrieren versucht. Prinzipiell vermag die Literatur praktisch alles in ihrer Umwelt zum Thema literarischer Kommunikationen werden zu lassen, da sie ja, wie wir gesehen haben, mit der Codierung interessant/langweilig über ein Strukturierungsprinzip von ganz enormer lebensweltlicher Reichweite verfügt und verfügen muss, um ihrer Unterhaltungsfunktion auch wirklich entsprechen zu können. Mit ihrem feinen Sensorium, das sich aus den vielen Entwürfen speist, die sich um Kriterien für eine optimale bzw. als ‚richtig‘ empfundene Programmierung der Leitdifferenz interessant/langweilig bemühen und die sich sowohl am Massengeschmack als auch an den Erwartungen kleiner elitärer oder auch subkultureller Milieus orientieren können, tastet die Literatur etwa die Wissenschaft nach poesiefähigen Wahrheiten und Theorieangeboten ab, wie im Fall der Psychoanalyse (z.B. Arthur Schnitzler), der materialistischen Physiologie (z.B. Georg Büchner) oder auch der Soziologie (z.B. Michel Houellebecq). Sie kann sich aber auch anderen Sozialsystemen zuwenden – etwa der Religion, und diese nach literarisch darstellungswürdigen Heilspraktiken bzw. Moralvorstellungen (z.B. Salman Rushdie) durchsuchen, oder die Politik in den Blick nehmen, die sie nach literaturfähigen Ideologemen (z.B. Bertolt Brecht) durchorstet – um nur zwei Beispiele anzuführen. Wenn Luhmann der Wissenschaft eine „Unabgeschlossenheit der Liste der Themen, mit denen man Reputationserfolge erzielen kann“316, attestiert, so gilt das daher mit Sicherheit auch für das Literatursystem. Unter Einsatz der Leitdifferenz interessant/langweilig spannt sich schließlich tatsächlich ein äußerst breites Möglichkeitsspektrum literaturfähiger Stoffe auf, ein ungeheuer großer Pool reizvoller Sujets rückt in das über die beteiligten Psychen vermittelte Wahrnehmungsfeld der literarischen Kommunikation und kann dann entsprechend der bevorzugten produktions- oder auch wirkungsästhetischen Programmatik zu Aufmerksamkeit bindenden Werken geformt werden. Bei Thomas Pynchon beispielsweise sind es die bedrohlichen Flugmanöver von V2-Raketen in den Höhen der Stratosphäre, bei Arthur Schnitzler die verborgenen Tiefen unbewusster sexueller Strebungen oder bei Arno Schmidt der Geschlechtsverkehr eines deutschstämmigen Journalisten mit einer genmutierten und nach heutigen rechtlichen Kriterien als minderjährig zu bezeichnenden Zentaurin, einem Mischwesen aus Mädchen und Gazelle, die so im Rahmen eines postnuklearen Endzeitszenarios zur literarischen Darstellung gebracht werden können. Die Liste ließe sich noch um abertausend mehr oder minder skurrile Beispiele bereichern, und eine breitere Themenvielfalt als diese ist wohl kaum noch vorstellbar. Literarische Kommunikation kann sogar zukünftige Welten simulieren, wie das Beispiel Arno Schmidts oder das Science Fiction-Genre zeigen, während sich die Futurologie als wissenschaftliche Disziplin, die im Feld der Wissenschaft eine dem

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N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 249.

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Zukunftsroman im Literatursystem äquivalente Position besetzt, noch nicht wirklich etabliert hat und immer noch um Abgrenzung zu Prophetie und Wahrsagerei ringen muss. Die hier sichtbar werdende hohe Empfindlichkeit der modernen literarischen Kommunikation für Sinnzusammenballungen unterschiedlichster Provenienz, die der thematischen Flexibilität der Wissenschaft keineswegs nachsteht und eine Unzahl werkgebundener Formierungsweisen literarischer Materialien bei gleichzeitiger medientechnischer Fähigkeit zu millionenfacher Reproduktion ermöglicht, verlangt eben nach der Errichtung einer zusätzlichen, systemintern Orientierung stiftenden Selektionsbarriere, denn sonst gilt auch auf dem Feld der Literatur, was Michel de Montaigne in seinem Essay ‚Über den Ruhm‘ in Bezug auf die gesellschaftliche Wahrnehmung militärischer Glanztaten feststellte: Wie viele einzelne schöne Taten gehen im Gewühl einer Schlacht unter? [...] Unzählige schöne Taten müssen ohne Zeugen untergehen, bevor eine zu Ehren gelangt. Man steht nicht immer auf der Höhe einer Bresche oder an der Spitze eines Heeres, vor den Augen des Feldherrn, wie auf einem Schaugerüst.317

Aufgrund der engen genealogischen Verwandtschaft von Wissenschaft und Literatur, die sich vor allem in der Zugehörigkeit beider Disziplinen zur Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Renaissance und Barock bekundet, und angesichts der durchaus vergleichbaren internen Problemlagen in diesen gesellschaftlichen Teilbereichen vermuten wir, dass beide Sozialsysteme ähnliche komplexitätsreduzierende Techniken entwickeln, um mit dieser überbordenden Themenvielfalt und den aus dem verbreitungsmedialen Fortschritt resultierenden Informationsüberschüssen angemessen zu verfahren. Wir schlagen daher vor, den literarischen Reputationscode als einen solchen Mechanismus in das autopoietische Modell literarischer Kommunikation aufzunehmen. Der gute Ruf eines Schriftstellers dient im Literatursystem als schnell erfassbares Symptom für einen hohen zu erwartenden künstlerischen Unterhaltungswert seitens des eigentlichen Werkes, genauso wie in der Wissenschaft das hohe Ansehen eines Forschers als „Symptom für Wahrheit“ an die „Stelle der Sache selbst“318, sprich die wissenschaftlich Publikation, tritt. Dabei können wir uns auch auf den Systemsoziologen Rudolf Stichweh berufen, der unlängst – bezeichnenderweise in einem ungleichheitstheoretischen Kontext – ebenfalls die Bedeutung von Reputation für Wissenschaft und Literatur, aber auch für Wirtschaft und Sport betont hat, allerdings ohne der personal zurechenbaren sozialen Akzeptanz von Personen explizit den Status eines Nebencodes eben dieser Teilsysteme der funktional differenzierten Gesellschaft zuzuweisen: Man kann den unvorstellbar großen Suchraum eines Funktionssystems nicht vollständig nach neuen Wahrheiten, leistungsfähigen Herstellern eines wirtschaftlichen Guts,

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M. de Montaigne: „Über den Ruhm [1580]“, S. 492f. N. Luhmann: „Die Selbststeuerung der Wissenschaft [1968]“, S. 298.

R EPUTATION IM L ITERATURSYSTEM | 133 spannenden und intelligenten Romanen und aussichtsreichen sportlichen Talenten absuchen. Also verlegt man sich auf bereits vorhandene Reputation, bildet Vertrauen zu den Akteuren, die sich bereits bewährt haben, und interpretiert bisher vorgekommene Interaktionen als Basis für stabile und zu kontinuierende soziale Beziehungen, die die Aufnahme neuer sozialer Beziehungen limitieren.319

(2) Erschwerend kommt zum Problem einer kaum begrenzten Themenauswahl noch hinzu, dass literarische Kommunikation einen deutlich niedrigeren Institutionalisierungsgrad aufweist als das wissenschaftliche Feld. Mehrheitsfähiges bzw. konsekriertes Wissen kann im Grunde nur produzieren, wer über eine ausreichende Marge institutionalisierten Kulturkapitals verfügt, dessen Verteilung von den Universitäten geregelt wird. Die eigene kulturelle Kompetenz objektivierende Bildungstitel, z.B. den des Doktors oder Professors, erwirbt man nur über ein legitimierendes Verfahren, in dessen Verlauf man argumentativ den Nachweis über die Verträglichkeit der eigenen Forschung mit den gerade vorherrschenden Wahrheitskonstruktionen zu führen versucht, was im Rahmen ordentlicher Promotions- und Habilitationsverfahren zu geschehen hat (wenn man einmal von rezenten Entwicklungen wie der Juniorprofessur absieht, die aber ebenfalls an feste prozedurale Bedingungen geknüpft ist). Personale Inklusion bzw. Exklusion wird im Wissenschaftsbetrieb also schon auf organisationssystemischer Ebene betrieben und schränkt den Kreis derer, die ernsthaft wissenschaftlich publizieren können, deutlich ein, während sich aufgrund der fehlenden institutionellen sowie juridischen Absicherung des Berufstitels des Schriftstellers praktisch jeder einmal als Künstler ausprobieren und vielleicht auch ohne generalisierte Legitimation als Künstler fühlen darf. Dem Laien traut man in der Wissenschaft ja schon lange nichts mehr zu, aber Kunst darf durchaus ,naiv‘ oder ,volkstümlich‘ sein, wenngleich meist nur an der Peripherie, wie im Fall lokalpatriotischer Heimat- oder Mundartdichtung. Während der Laie im System der Wissenschaft also bestenfalls konsumieren oder die Größe einzelner Wissenschaftler bewundern kann und obendrein auf populärwissenschaftliches Infotainment (Quarks & Co. bzw. Die Knoff-Hoff-Show) oder hochschuldidaktische Simplifizierungen (Relativitätstheorie light bzw. Luhmann leicht gemacht) angewiesen ist, um überhaupt psychisch Anschlussfähigkeit herstellen zu können, steht dem selbsternannten Hobbyautoren im literarischen System auch die Leistungs- bzw. Produzentenrolle durchaus offen, wenn auch auf einer eher schmalen Vertrauensbasis und meist ohne allzu große echte Erfolgsaussichten.320 Diese 319 320

R. Stichweh: „Erzeugung und Neutralisierung von Ungleichheit [2005]“, S. 173. Die Zahl der von ihrer Arbeit lebenden Schriftsteller schnellt von 2.000-3.000 um 1800 auf ca. 5.000 um 1900. (Vgl. J. Schneider: Sozialgeschichte des Lesens, S. 169.) Im Jahr 1860 gab es an allen Universitäten des deutschsprachigen Raums jedoch lediglich 923 Professoren. (Ebd., S. 420.) Das Verhältnis dürfte Mitte des 19. Jahrhunderts also ungefähr eins zu vier zugunsten der Literaturproduzenten betragen haben. Im Jahr 2000 gab es an bundesdeutschen Universitäten

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prinzipielle Nichtbeschränkung des Zugriffs auf die Autorenrolle über institutionalisiertes Kulturkapital erhöht zwar einerseits die Freiheitsgrade und verstärkt damit gerade im Zeitalter funktionaler Differenzierung die Illusion, man könne im Literatursystem die eigenen Entfaltungsmöglichkeiten in hohem Maße selbst bestimmen oder gar an subversiven Gegendiskursen teilhaben, in deren Rahmen bestimmte gesellschaftliche Normen und Zwänge dispensiert werden. Andererseits ist diese Freiheit nicht ohne ihren Preis, denn das Literatursystem muss auch auf diesen grundsätzlich uneingeschränkten Zugang zur Leistungsrolle irgendwie angemessen reagieren. Fest steht, dass es nicht alle Beiträge etwa solcher amateurhaften Literaturproduzenten ernsthaft zur Kenntnis nehmen kann, da es sich sonst früher oder später aufblähen würde wie ein erlöschender Stern im Todeskampf. Organisationen, die verbindlich über die Inklusion bzw. Exklusion von Personen entscheiden könnten, stehen dem Literatursystem jedoch nicht zur Verfügung. Die literarische Kommunikation versucht unserer Auffassung nach dieses Problem auf eine andere Art und Weise zu lösen, nämlich indem es wesentlich tiefer ansetzt, und zwar bereits auf der Ebene der Codierung, sprich durch die Etablierung eines Nebencodes, der geeignet ist, die hinsichtlich der Regelung der Zugehörigkeit von Personen zum System aufbrechenden organisationssystemischen Defizite aufzufangen. (3) Trotz des im Vergleich mit der Literatur relativ hohen Institutionalisierungsgrades diagnostiziert Luhmann für das insgesamt wesentlich straffer organisierte Wissenschaftssystem „das Fehlen einer zentralen Entscheidungsinstanz, die Reputation verleihen bzw. entziehen könnte“.321 Wäre die Distribution wissenschaftlicher Reputation zentralistisch über eine einzige entscheidungstragende Organisation geregelt, ginge es nur noch um Politik, also um die Ermöglichung kollektiv bindender Entscheidungen im Medium der Macht. Reputation entsteht aber laut Luhmann dezentral, indem wissenschaftliche Publikationen zunächst an vielen Orten gleichzeitig als Hypothesen mitgeteilt und als argumentativ überzeugende Theorien verstanden werden, was dann auf dem Umweg über positive Rückkopplung die Möglichkeit eröffnet, dass nach und nach ihren Urhebern ein guter Ruf unterstellt werden kann, sofern sich der Nachweis bestechender Argumentation immer wieder wirkungsvoll konfirmiert und sich immer wieder auf den gleichen Urhebernamen zurechnen lässt – es handelt sich also um einen sich selbst verstärkenden Kumulationsmechanismus, der in etwa dem aus der wissenlaut Statistischem Bundesamt 37.794 Professoren. Über die Anzahl der professionellen, semiprofessionellen sowie amateurhaften Literaturproduzenten gibt es wegen des geringen Institutionalisierungsgrades der Literatur kaum verlässliche Angaben. Jedenfalls ist die Zahl der Schriftsteller und die der wissenschaftlich publizierenden Autoren heute unübersehbar groß, schon in den Grenzen einer einzigen Nationalgesellschaft wie der deutschen. 321 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 249.

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schaftssoziologischen Zitationsanalyse bekannten Matthäus-Effekt Robert K. Mertons gleicht.322 Schon Thomas Hobbes hat in seiner frühneuzeitlichen Philosophie des Staates die Neigung des Ruhms zu progredienter Selbstbeschleunigung mittels einer physikalischen Analogie zu beschreiben versucht, die allerdings Newton nicht begeistert hätte: „[T]he nature of Power, is [...], like to Fame, increasing as it proceeds; or like the motion of heavy bodies, which the further they go, make still the more hast.“323 Diese Hinweise auf Selbstverstärkung sind aber auf jeden Fall ernst zu nehmen, deuten sie doch bezüglich der sozialen Konstruktion von Reputation auf eine zugrundeliegende Zirkelstruktur hin, die wir im Verlauf dieser Arbeit ins systemtheoretische Modell literarischer Kommunikation zu integrieren versuchen werden. Natürlich wird vielen Akteuren der Aufbau eines guten Rufs als erstrebenswertes persönliches Ziel erscheinen, aber trotz aller Willensanstrengung vermag kein Akteur diesen kommunikativen und damit überindividuellen Prozess direkt zu steuern, was den Beteiligten den Eindruck einer gewissen ‚Objektivität‘ vermittelt: ,,[D]ie Plausibilität von Reputation hängt davon ab, dass die ‚Hand’ unsichtbar bleibt, die sie verteilt.“324 Wahrheit, so die hinter der Wirkungskraft dieses Mediums der Wissenschaft liegende Kollektivillusion, ist ein jenseits subjektiver Konstruktionen liegendes, fast apriorisches Telos aller szientifischen Betätigung. Was das Fehlen einer reputationssteuernden Zentralinstanz angeht, so gilt für die literarische Kommunikation der gleiche Befund wie für die Wissenschaft. Diesem Faktum hat der amerikanische Literaturtheoretiker Eric D. Hirsch in einem auf die Problematik literarischer Wertung bezogenen Aufsatz aus dem Jahr 1969 in prägnanter Art und Weise Ausdruck verliehen: Sheer authority has always played a role in literary judgment, but the institutions in which it has resided have become constantly more diffuse and weak. Aristotle’s rules gave way to Humean consensus, which, in turn, gave way to modern fragmentation of all traditional jurisdictions. Yet anyone who questions traditional authority, was thrown back upon his own standards of taste, just as Luther, in questioning papal authority, was thrown back upon his own inward judgment on matters of faith. For some centuries now we have all been literary protestants without Pope or priesthood. Prophets and sects we continue to have, like the other Protestants, but nothing resembling a Pope or a Supreme Court.325

Der von Merton geprägte Begriff spielt auf eine Textstelle im Matthäus-Evangelium an (Matthäus 13, 12), in der es heißt: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, daß er Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat.“ Zit. n. R. Stichweh: „Erzeugung und Neutralisierung von Ungleichheit [2005]“, S. 172. 323 T. Hobbes: Leviathan [1651], S. 48. 324 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 246. 325 E.D. Hirsch: „Privileged Criteria in Literary Evolution [1969]“, S. 91. 322

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In der Literatur der funktional differenzierten Gesellschaft existiert also kein funktionales Äquivalent zum zugangsbeschränkenden Organisationssystem der Universität, die ihrerseits auch in der Wissenschaft nicht zu letztbegründeten Urteilen fähig ist. Wie bereits dargelegt, kennt das Literatursystem – soweit es in deutscher Sprache operiert – keine Institution, die (wie etwa die Pariser Académie des Beaux Arts bis Mitte des 19. Jahrhunderts) in der Lage wäre, mittels organisationssystemspezifischer Prozeduren über personale Inklusion/Exklusion die Literaturproduktion zu regulieren und zu kontrollieren, keine Instanz, die verbindlich entscheiden könnten, wer/was eine positive künstlerische Beurteilung und damit literarischen Ruhm verdient, und wer/was nicht. Wenn aber keine Organisation in der Lage ist, das literaturimmanente Problem der Reputationszuweisung dauerhaft zu regeln, muss die literarische Kommunikation selber hierfür Sorge tragen. Der gegenüber der Wissenschaft deutlich geringere Institutionalisierungsgrad verschärft den Selektionsdruck innerhalb des Literatursystems sogar noch. Da aber mit der Wissenschaft schon mindestens ein System ebenfalls Reputationsbildung zur Selbstorganisation verwendet, kann die literarische Kommunikation das Problem nicht auf der Funktionsebene angehen, wenn sie ihre Autonomie bewahren möchte. Anders gestaltet sich dies jedoch auf dem Gebiet des literaturspezifischen Mediums und seines Codes. Literarische Werke haben vor allen Dingen interessant sein, um zunehmende Freizeit unterhaltsam ausfüllen zu können. Um aber überhaupt eine Chance zu haben, dies auch zu bewerkstelligen, müssen einzelne Kompaktkommunikationen genügend Aufmerksamkeit auf sich ziehen, damit sie aus der Menge der Kommunikationsangebote für eine gezielte Reimprägnierung ausgewählt werden können. Und genau diese Aufgabe, für die der Literaturbetrieb keinerlei Organisationssysteme zur Verfügung stellt, übernimmt, wie wir behaupten, der Reputationscode der Literatur, wenn auch nicht über die Nachprüfbarkeit der Argumente wie in der Wissenschaft, sondern über die Rückkopplungsschleifen durchlaufende kommunikative Konkretion von Wertungsakten etwa im Rahmen des Vollzugs von Literaturkritik im Feuilleton oder anderen Massenmedien. (4) Ein weiterer Faktor, der zur Etablierung eines literarischen Reputationscodes kontribuiert, ist in der Notwendigkeit des ökonomischen Umgangs mit Zeitreserven zu betrachten. Gerade dann, wenn das Ausfüllen wachsender Freizeit als Funktionsbestimmung des Literatursystems in Betracht gezogen wird, sollte man nicht darauf verzichten, den Umgang mit Zeitkontingenten ins Kalkül zu ziehen. Auch wenn die ungebundene Zeit in den letzten Jahrhunderten permanent angewachsen ist, stellt die freie Zeit Vollzeitbeschäftigter im Gegensatz zur fremdbestimmten Arbeitszeit immer noch ein knappes Gut dar, insbesondere in einer Epoche, in der man sich längst daran gewöhnt hat, dass die Freiheit auf allen Geigen spielt. Und gerade der literarische Konsum der heute beliebtesten Gattungen aus dem Bereich der Epik nimmt besonders viel Zeit in Anspruch, selbst bei ausschließlich heu-

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ristischer Lektüre. Arno Schmidt hat dem nochmals gesteigerten Zeitdruck, unter dem das retroaktive Lesen der Berufsleser und Lektürefreaks in der Moderne steht, in einem berühmt gewordenen Bonmot ironischen Ausdruck verliehen: Das Leben ist so kurz! Selbst wenn sie ein Bücherfresser sind, und nur fünf Tage brauchen, um ein Buch zweimal zu lesen, schaffen sie im Jahre nur 70. Und für die fünfundvierzig Jahre, von Fünfzehn bis Sechzig, in denen man aufnahmefähig ist, ergibt das 3.150 Bände: die wollen sorgfältigst ausgewählt sein!326

Um die Jahrtausendwende waren auf dem deutschen Buchmarkt mehr als 900.000 Titel aus allen Bereichen lieferbar. Das Problem der sorgfältigen Auswahl wird noch durch die ungeheure Anzahl der jährlichen Neuveröffentlichungen verschärft – im Jahr 2000 wurden allein in Deutschland fast 83.000 Titel erstpubliziert, von denen ungefähr 18 Prozent dem Bereich der literarischen Kommunikation zuzurechnen sind.327 Überdies sollte man nicht vergessen, dass die literarische Kommunikation mit anderen Subsystemen der Kunst wie Malerei, Plastik, Musik oder Film (ganz zu schweigen von nicht funktionssystemgebundenen Entertainmentangeboten wie Computerspielen oder eben Partys), die ebenfalls die Unterhaltungsfunktion bedienen, in Konkurrenzbeziehungen steht, wobei der Tendenz nach der Konsum nichtliterarischer künstlerischer Produkte weniger zeitaufwendig sein dürfte. Diese Umweltbedingungen machen klar, dass die literarische Kommunikation mit erheblichen Enttäuschungsrisiken belastet ist und mit Abwanderungsgedanken in ihren Bewusstseinsumwelten rechnen muss. Zeitinvestitionen in Unternehmungen, die interessante Unterhaltung bieten sollen, müssen daher angesichts dieses gigantischen Informationsvolumens mit einer gewissen Sorgfalt abgewogen werden. Teil dieser überpersönlichen Sorgfaltsstrategie ist die Bereitschaft, Vertrauen in eine erheblich verkürzte Kommunikation im griffigen Format des Verfassernamens zu setzen, also eine Art Vorsichtsmaßnahme, die den Leser davor bewahrt, das Vergnügen jedes Mal ins Blaue hinein zu suchen, ohne jede Möglichkeit zur Voraborientierung. Der Strukturalist Jonathan Culler hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass literarisches Lesen sowie die Bildung eines eigenen Urteils über ein Werk eher gefahrlose Aktivitäten seien, da man sich über die ‚objektive‘ Gültigkeit der veranschlagten Kriterien keine großen Sorgen zu machen brauche – literarische Werturteile müssen eben nicht falsifizierbar sein. Allerdings fügt Culler hinzu: „[T]he only risk one runs is that of wasting one’s time.“328 Indem der Reputationscode den Aufbau von Vertrauen mit der Möglichkeit der Ankopplung an eine repräsentative Minikommunikation kombiniert, stellt die literarische Kommunikation eine Routine zur Behandlung des Risikos verschwendeter Zeit zur freien Verfügung. Man sieht deutA. Schmidt: „Ich bin erst sechzig [1955]“, S. 30f. Siehe R. Thomas: „Kultur und Gesellschaft“, S. 486. 328 J. Culler: Structuralist Poetics, S. 128. 326 327

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lich: Ohne Reputationscode könnte die literarische Kommunikation also schon aus zeitökonomischen Gesichtspunkten unter den Bedingungen massenmedialer Kommunikationstechnologien nicht dauerhaft bestehen. Darüber hinaus erleichtert personal zugerechnete Reputation und die damit einhergehende Verwendung von Verfassernamen die in der funktional differenzierten Gesellschaft so wichtigen Intersystembeziehungen, die das literarische System mit anderen Funktionssystemen unterhält. Insbesondere dem wirtschaftlichen System liefert der mit innerliterarischen Kriterien operierende Reputationscode wichtige Indizien für die auf Risikominderung geeichte betriebswirtschaftliche Kalkulation zukünftig zu erwartender Verkaufszahlen, da sich der Reputationscode als Analogcode relativ leicht in die systemeigene Sprache vorausblickender Investitionsprogramme nach dem Muster Gewinne/Verluste übertragen lässt.329 Diese kommunikationstheoretischen Überlegungen sprechen also dafür, die seit Roland Barthes’ berühmtem Aufsatz populäre These vom Tod des Autoren nicht zu überspannen. I.3.5 Der Reputationscode der Literatur und die zirkuläre Konstruktion literarischer Reputation Als Binärcode für den literarischen Reputationscode bietet sich die Unterscheidung (poetisch bzw. literarisch) wertvoll/wertlos an, die vor einiger Zeit auch schon von Siegfried J. Schmidt ins Spiel gebracht worden ist330, und die wir für geeigneter halten, als die von Uwe C. Steiner vorgeschlaJens Beckert und Jörg Rössel, die den Markt zeitgenössischer Kunst vom Problem der Ungewissheit über die Wertentwicklung künstlerischer Produkte dominiert sehen, vertreten die These, dass der notwendige Abbau dieser Ungewissheit „nicht im Feld der Wirtschaft geschieht, sondern im künstlerischen Produktionsfeld selbst. Nicht kostspielige Materialien oder ein knappes Angebot bestimmen vornehmlich den Wert eines Kunstwerks, sondern dessen künstlerischer Wert, der im Feld der Kunst sozial konstruiert wird. [...] Die erklärende Variable für den ökonomischen Wert und die Weiterentwicklung zeitgenössischer Kunst ist die von den Institutionen des künstlerischen Feldes und der Kunstvermittlung hergestellte Reputation des Werkes und seines Schöpfers.“ (J. Beckert/J. Rössel: „Kunst und Preise“, S. 34.) Auch wenn der Buchmarkt nicht mit Unikaten arbeitet, ist auch hier unserer Ansicht nach das Problem der Risikominimierung zentral, vor allem hinsichtlich von Zeitinvestitionen in neue, noch nicht kanonisierte Autoren und Werke. 330 Siehe S.J. Schmidt: „Konstruktivismus, Systemtheorie und Empirische Literaturwissenschaft [1995]“, S. 233. Schmidt weist jedoch der Unterscheidung (literarisch) wertvoll/wertlos nicht wie wir den Status eines systemweiten Sekundärcodes zu, sondern betont lediglich die (auch von uns nicht bezweifelte) Relevanz dieser zweiseitigen Form für Kanonisierungsprozesse vor dem Hintergrund der von ihm behaupteten Leitdifferenz ‚literarisch/nichtliterarisch‘. 329

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gene Differenz ‚gut/schlecht‘331, da diese schon von der Reflexionstheorie der Moral, sprich der Ethik, in Anspruch genommen wird.332 Die Unterscheidung (literarisch) wertvoll/wertlos, passt am ehesten zu einem Analogcode, der eine Akkumulationslogik aufweist. Dass dieser Nebencode primär von der im Feuilleton betriebenen Literaturkritik routinemäßig verwendet wird und auf kommunikativ prozessierte Wertungsakte angewiesen ist, versteht sich von selbst aus der inneren Logik dieser Form. Allerdings wollen wir an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass selbstverständlich auch Literaturpreise sowie die Aufnahme von Werken in Anthologien bzw. ihre Berücksichtigung in den meist theoriefrei operierenden und damit im strengen Sinne nicht wissenschaftlichen Literaturgeschichten Wertungscharakter besitzen und insofern den Nebencode der literarischen Kommunikation ebenfalls beanspruchen. Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu sprengen, belassen wir es allerdings bei einer Analyse literaturkritischer Organe. Da das Interessante, wie bereits erwähnt, nicht notwendigerweise für wertvoll gehalten werden muss, besteht keine ernstzunehmende Gefahr einer Überlappung des Reputationscodes mit der (wenn überhaupt) nur ganz schwach wertenden Leitdifferenz interessant/langweilig, wohl aber die Möglichkeit, sich eindeutig zur Qualität literarischer Werke äußern zu können, ohne die Systemreferenz wechseln zu müssen. Dabei stehen primäre Leitdifferenz und sekundärer Reputationscode in einem hierarchischen Verhältnis: Egal, wie ein literarisches Werk konkret beurteilt wird, d.h. gleichgültig, ob es als lesenswert durchgeht oder nicht, es muss immer zunächst das Bewusstsein faszinieren, indem es unterhält. Diese Sichtweise vertritt auch der romantische Sprachforscher und Schriftsteller August Ferdinand Bernhardi, der aus der Perspektive des Jahres 1800, also im Endstadium der Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, feststellt, die Leserschaft gleiche einer „Masse [...], welche dem amüsanten, zeitverkürzenden und unterhaltenden, instinktmäßig nachgeht; und das Gute und Vortreffliche nur schätzt so fern es unter diesen Formen erscheint“.333 Literarische Wertungen sind, genau wie die juridisch gestützte Auffassung des Autoren als geistigem Eigentümer seines Werkes, unbestreitbarer Bestandteil der empirischen Realität literarischer Kommunikation. Egal, ob in der Dichterlesung, der Buchhandlung oder der Eckkneipe, fast immer ist man mit Werturteilen konfrontiert, wenn außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses die Rede von literarischen Werken ist. Man wird deshalb behaupten dürfen, dass die Einführung eines solchen Nebencodes die literaturwissenschaftliche Applikabilität der Systemtheorie deutlich verbessere, indem sie die Aufmerksamkeit auch auf Wertungsakte lenkt und damit das Auflösungsvermögen der systemtheoretischen Literaturwissenschaft beträchtlich zu erhöhen vermag.

Siehe U.C. Steiner: „Literatur als Kritik der Kritik“, S. 134. N. Luhmann: „Ethik als Reflexionstheorie der Moral [1989]“, S. 270-347. 333 A.F. Bernhardi: „Athenäum“, S. 366. 331 332

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Literarische Wertungen nehmen im Literatursystem eine den überzeugenden Argumenten in der Wissenschaft durchaus äquivalente Position ein. Der wesentliche Unterschied besteht allerdings darin, dass ein wissenschaftliches Argument theoriegeleiteter Fundierung bedarf, um verifiziert werden zu können und auf diesem Wege überhaupt Wissenschaftlichkeit beanspruchen zu können, während literarische Wertungsakte auch auf der Grundlage rein subjektiver Geschmacksurteile artikuliert werden können, wobei diese selbstverständlich durch die kommunikativen Gewohnheiten der zugehörigen Epoche kulturell überformt sind. Schon der Wahrheitssucher Aristoteles hatte versucht, den Geschmack von Speisen in acht objektive Kategorien wie z.B. süß, bitter, ölig, salzig usw. einzuteilen, um eindeutig klären zu können, wie eine Speise schmecke. Aber diese Versuche schlugen fehl. Niemand kann bis heute vernunftgeleitet und objektiv überprüfbar nachweisen, warum die eine Bratensauce besser als die andere mundet, und aus dem gleichen Grunde werden literarische Werturteile in der deutschsprachigen Philologie wie heiße Kartoffeln behandelt. In Italien sagt man: ‚Tutti i gusti sono giusti‘ – zu Deutsch: ‚Alle Geschmäcke sind richtig.‘ Mit der wissenschaftlichen Leitunterscheidung wahr/falsch kommt man also offensichtlich nicht weiter, kann sie doch Geschmacksurteile nicht differenzieren, wenn sie ohnehin alle ‚richtig‘ sind. Wen wundert es da, dass ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Aufklärung der napoleonische Richter und Erfinder der Gastrosophie, Jean Anthèlme Brillat-Savarin, Autor der weltberühmten Physiologie du Goût, ou Méditations de Gastronomie Transcendante; ouvrage théorique, historique et a l’ordre du jour, dédié aux gastronomes parisiens, par un professeur, membre de plusieurs sociétés littéraires et savantes, das lateinische Sprichwort ‚De gustibus non est disputandum‘ popularisierte, das er aus dem Spanischen in die Sprache der Gelehrten übertrug? Es handelt sich bei diesem Bonmot, wie auch schon der epochentypisch weitschweifige Titel erahnen lässt, offensichtlich um ein Statement mit wissenschaftlicher Systemreferenz, denn der Gourmet-Philosoph musste wohl einsehen, dass sich wissenschaftlich nur streiten lässt, wenn es nachprüfbare Argumente gibt, und die lassen sich nicht über Geschmacksurteile gewinnen – ‚there is no accounting for tastes‘, wie die Briten sagen. Das gilt selbstverständlich für die literarische Kommunikation nicht, da diese das Nachprüfbarkeitsgebot nicht kennt! Im Extremfall können Wertungen im Literatursystem sogar ohne jede weitere Begründung abgegeben werden. Uwe C. Steiner bringt in vielsagender Weise diese lakonische, aber weit verbreitete Form der Mitteilung literarischer Wertungsakte unmittelbar mit der Leitdifferenz des Literatursystems in Verbindung: Nach wie vor ist sicherlich die subjektive Wirkungsästhetik am populärsten. Sie konzentriert sich auf die Äußerung von Geschmacksurteilen und hält Begründungen in der Regel für überflüssig. Als besten Maßstab der Bewertung kennt sie allein das persönliche Gefühl des Sich-Langweilens oder Nichtlangweilens.334 334

U.C. Steiner: „Literatur als Kritik der Kritik“, S. 140.

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Trotzdem reicht die Leitdifferenz interessant/langweilig nicht aus, um die literarische Kommunikation in allen ihren Schattierungen zu strukturieren, denn ihre oben erwähnte, nur schwach ausgeprägte Wertungsinklination begünstigt prinzipiell die schnelle Artikulation argumentfreier und völlig undurchdachter Werturteile auf reiner Gefühlsbasis, etwa am Stammtisch oder an der Bar. Diese Form der voraussetzungsarmen Bewertungsweise von Literatur weist jedoch im Hinblick auf das Literatursystem in seiner Gesamtheit schwere Defizite auf. So betont Walter Benjamin, derartige „Kritik vom unbefangenen Geschmacksurteil aus“ sei, bei aller Ehrlichkeit, die sie durchaus auszeichne, letztlich „uninteressant und im Grunde gegenstandslos.“335 Dem können wir aus systemtheoretischer Perspektive nur beipflichten. Der Zentralcode eines modernen Funktionssystems muss schließlich die Tragfähigkeit besitzen, dem System als Ausgangspunkt für die Bildung einer hinreichend komplexen Theorie des Systems im System zu dienen. Genau diese Möglichkeit bietet in vollem Umfang nur der Reputationscode, denn erst die eindeutigen Wertungen nach dem Muster (literarisch) wertvoll/wertlos setzen den Beurteilenden sozial unter einen derartig intensiven Begründungszwang, dass an dieser Stelle programmatisch wie argumentativ abgesicherte Legitimationskriterien zum Einsatz kommen müssen, die über die bloße Artikulation eigenen Wohlgefallens hinausgehen, und sich natürlich im zeitliche wie räumliche Distanz schaffenden und damit Selbstbeobachtung erleichternden Medium der Schriftlichkeit besser prozessieren lassen, als beispielsweise in zufällig entstehenden Interaktionssituationen, die spontane Gemütsäußerungen favorisieren. Ohne den Reputationscode wäre die literarische Kommunikation also nicht zu wirklicher Selbstreflexion in der Lage. Dabei kann man sich die soziale Konstruktion von Reputation im Literatursystem modellhaft wie folgt vorstellen: Werden literarische Selektionen poetisch überzeugend als interessante Kompaktkommunikation dargeboten sowie als Werke in eine wiedererkennbare, beobachtungsleitende Form gebracht, und können sie überdies einer konkreten Adresse, einem konkreten Eigennamen zugerechnet werden, so geht man davon aus, dass auch andere Kommunikationsangebote derselben Adresse ähnlich lesenswert sein dürften. Diese erhalten dann entsprechenden Kredit bzw. Vorschusslorbeeren und werden mit höherer Wahrscheinlichkeit wiedererkannt, rufen also eher Reaktionen hervor als Werke, die nicht über personal zurechenbare Reputationsbildung charismatisch aufgeladen sind. Man könnte auch sagen, dass Reputation die Resonanzwahrscheinlichkeit erhöht, also die Chancen, dass literarische Werke kommunikativen Widerhall auslösen. Dabei ist es gleichgültig, ob sich hinter ‚lesenswert‘ eine Vorliebe für heuristisches oder retroaktives Lesen, für als anspruchsvoll oder simpel geltende Formen verbirgt. Chacun à son goût. Wenn der Tendenz nach Höhenkammliteratur längere Zeit im Gedächtnis des Literatursystems residiert, liegt das primär daran,

335

W. Benjamin: „Programm der literarischen Kritik“, S. 161.

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dass die retroaktiven Berufsleser über ihre Publikationsaktivitäten in Zeitungen, Magazinen etc. sowie ihre Lehrtätigkeiten an Universitäten, Schulen, Volkshochschulen usw. ein wesentlich höheres Volumen kommunikativ manifester Bewertungsakte im gedächtnisfreundlichen Medium der Schriftlichkeit generieren und daher einen wesentlich stärkeren Beitrag zum Zustandekommen der Gedächtnisfunktion des Literatursystems beisteuern dürften als heuristische Leser, die ein Werk in ihrer Lesewut meist nur einmal rezipieren, Wertungsakte (wenn überhaupt) eher über Mündlichkeit in flüchtigen Interaktionssystemen verbreiten und dann bald zum nächsten Werk übergehen. Der Reputationscode operiert freilich nicht isoliert, sondern bildet, wie bereits angedeutet, im Verbund mit der Leitdifferenz des Literatursystems eine zirkuläre Struktur, die wir an dieser Stelle als Arbeitshypothese eingehender rekonstruieren wollen. Zunächst einmal wählt ein Leser auf der Grundlage bereits bestehender Autorenreputation ein bestimmtes literarisches Werk zur Reimprägnierung aus, bei der einer der Werte der Leitdifferenz interessant/langweilig aufgerufen wird. Der negative Codewert führt zu einem Abbruch der Kommunikationssequenz, während der positive Destinationswert die Sekundärunterscheidung (literarisch) wertvoll/wertlos auf den Plan ruft. Bei Aktualisierung des Rejektionswertes des Reputationscodes kommt es dann erneut zum Abbruch der Kommunikationssequenz und der Autor des Werkes kann sein Ansehen nicht verbessern. Sein Werk wird vergessen. Wird dagegen an dieser Stelle der positive Codewert des Reputationscodes aufgerufen, wächst das Prestige des Autoren und er legitimiert seine Statusposition. Andere Leser werden auf das Werk aufmerksam und es kommt zu erneuter Reimprägnierung, bei der wiederum zunächst der Zentralcode der literarischen Kommunikation zum Einsatz kommt usw. Der Kreis hat sich geschlossen. Aufgrund ihres zirkulären Aufbaus können Leitdifferenz und Reputationscode, sofern immer wieder nach dem gleichen Muster die beiden positiven Codewerte aktualisiert werden, in eine spiralförmige, sich selbst verstärkende Kreisstruktur einmünden, ähnlich wie ein circulus vitiosus in der systemischen Psychologie. Dann und nur dann wird Reputation effektiv aufgebaut. Werden die Werke dagegen mit negativen Codewerten versehen, besteht irgendwann kein Bedarf an Reimprägnierung mehr – der Kreislauf bricht zusammen, Autor und Werk werden einstweilen oder für immer vergessen. Diese vorläufige Hypothese steht fortan im Zentrum unserer Überlegungen; ihre Richtigkeit gilt es, im weiteren Verlauf dieser Arbeit zu verifizieren und zu präzisieren. Wir gehen also davon aus, dass die Leitdifferenz interessant/langweilig des Literatursystems von einem Reputationscode flankiert wird, der auf der Basis der Sekundärunterscheidung wertvoll/wertlos operiert und primär rein literarische (also nicht ökonomisch, politisch, pädagogisch, moralisch, religiös, wissenschaftlich etc. motivierte) Wertungsakte zum Aufbau literarischer Reputation nutzt. Dabei werden zentrale axiologische Differenzierungen wie beispielsweise traditionsbewusst/traditionslos, originell/epigonal,

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tragisch/komisch, geglückt/missglückt, geschmackvoll/geschmacklos, komplex/trivial, stimmig/unstimmig, erhaben/niedrig, beziehungsreich/beziehungsarm, multivalent/monovalent usw. verwendet, die – zumindest für eine gewisse Zeit – zum festen Bestandteil literarischer Semantik gehören und bezeichnenderweise, wie weiter oben angesprochen, z.T. auch schon als mögliche Zentralcodes vorgeschlagen wurden, was die insgesamt große Bedeutung von Wertungsakten für literaturwissenschaftliche Rekonstruktionen literarischer Prozesse vor Augen führt. Reputation ist im Zuge dieser Prozesse auf persönliche Zurechenbarkeit angewiesen, um die Auswahl aus dem reichhaltigen Angebot literarischer Produkte zu erleichtern, das schon im Jahr 1795, also im noch nicht abgeschlossenen Stadium der Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, einer wahren „Meeresfluth von Büchern“336 gleicht. Da der Reputationscode auf die Überprüfbarkeit der in seinem Namen vollzogenen Werturteile im Sinne der scholastischen Vernunft keine Rücksicht zu nehmen braucht, scheint er auch eine ontologisierende, vom Substanzdenken des Alltagsverstandes getragene Ausdrucksweise problemlos tolerieren zu können. Der literarische Reputationscode hilft dabei auch, wie angesprochen, mit der knappen Ressource Zeit haushälterisch umzugehen und den niedrigen Institutionalisierungsgrad der literarischen Kommunikation abzufedern. Präskriptive Zuweisungskriterien für den positiven bzw. negativen Wert des literarischen Reputationscodes wird man dabei selbstverständlich auf der Programmebene zu suchen haben; der Code selbst gibt jedoch keine Präferenz vor, da er lediglich den positiven Designationswert der Leitdifferenz interessant/langweilig im Blick auf künstlerische Qualität spezifiziert, das Erfüllen der Unterhaltungsfunktion aber bereits voraussetzen kann. Einerseits trägt der literarische Reputationscode zur Stabilisierung der Grenzen des Sozialsystems Literatur bei – man wird wohl kaum auf die Idee kommen, Fußballspiele, Partys oder Talkshows mithilfe der Unterscheidung (literarisch) wertvoll/wertlos zu beobachten und sich höchstens darüber Gedanken machen, ob die in diesen Rahmungen beobachteten Ereignisse für eine noch zu erfolgende literarische Gestaltung interessant sein könnten oder nicht (z.B. die Mannschaftsaufstellungen von Bundesligisten wie dem 1. FC Nürnberg). Andererseits berührt die Modellierung eines literarischen Reputationscodes auch einen Phänomenbereich, den die Literaturwissenschaft als fundamentale Asymmetrie literarischer Kommunikation beobachtet hat, und die darin besteht, dass ein Autor innerhalb des gleichen kommunikativen Zusammenhangs einer mehr oder weniger deutlich ausgeprägten Überzahl an Lesern gegenübersteht. Die Strukturvorgaben der literarischen Kommunikation müssen in ihrer Gesamtheit so beschaffen sein, dass sie in der Lage sind, mit ihren werkgebundenen Selektionen die Aufmerksamkeit und intentionale Gerichtetheit einer Vielzahl überwiegend nur psychisch

336

J.G. Heinzmann: Appel an meine Nation, S. 124.

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beteiligter Systeme dauerhaft zu binden, denn nur so kann verhindert werden, dass in den Bewusstseinsumwelten literarischer Kommunikation andere, systemfremde Reize Informationswert erhalten und der literarischen Kommunikation ihr psychisches Fundament wegbricht. Der literarische Reputationscode kanalisiert in gewisser Weise die Bewusstseinsbeiträge der involvierten Psychen, indem er die Richtung, aus der literarische Werke beurteilt und bewertet werden, einseitig vorgibt: Nur Leser – nicht die Autoren – haben ein Recht auf Wertungsakte, um es einmal überspitzt auszudrücken. Die Autoren sind dem Verdikt der Leser gnadenlos ausgeliefert, können aber gleichwohl selbst in die Rolle des Lesers schlüpfen und dann Kollegenschelte betreiben, solange sie nicht die eigenen Werke beurteilen. Anders gesagt: Zwar können empirische Autoren auch zu antizipieren versuchen, was eventuell als poetisch wertvoll bewertet werden könnte, aber sie haben keinen Einfluss darauf, dass der Reputationsmechanismus der literarischen Kommunikation ihnen diktiert, dass die Autorennamen als verkürzte Repräsentativkommunikationen literaturintern zu Zurechnungsadressen für Reputation gemacht werden, während sie aus der exterritorialen Sicht des Rechts Urheberschaft und aus der Sicht der Wirtschaft Eigentumsrechte fixieren, also in den Binnenkontexten anderer Systeme völlige andere Aufgaben erfüllen. I.3.6 Die bewusstseinsförmigen Voraussetzungen des literarischen Reputationscodes Es gibt also eine Reihe kommunikationstechnischer Argumente, die dafür sprechen, dass die Leitdifferenz der literarischen Kommunikation von einem nachgeordneten Reputationscode unter Verwendung der Autorennamen als Zurechnungsadresse gedeckt wird. Man könnte in synoptischer Verkürzung auch sagen: „Der Autor[name] ordnet das Feld der Literatur. Er reduziert die Möglichkeiten des Umgangs mit ihr auf ein handhabbares Maß“.337 Luhmann weist jedoch selbst auf den Umstand hin, dass die soziologische Systemtheorie „von der Einheit der Differenz von System und Umwelt“ ausgehe und man den „Menschen als Teil der Umwelt“ nicht einfach übergehen dürfe, da doch die Umwelt „konstitutives Element dieser Differenz“ und „nicht weniger wichtig als das System selbst“338 sei. Vor dem Hintergrund dieses Hinweises haben wir also auch nach den bewusstseinsförmigen Voraussetzungen zu fragen, die als Umweltbeiträge Einfluss auf die Etablierung dieses Nebencodes auf der Emergenzebene des Sozialsystems Literatur nehmen. Wir schlagen vor, die Zirkel statuspositionaler Differenz in diese Überlegungen einzubeziehen. Zunächst einmal dürfte es aus eigener Erfahrung heraus keine Zweifel daran geben, dass lustvollem individuellen Erleben sowie psychisch prozes337 338

F. Jannidis/G. Lauer/M. Martínez/S. Winko (Hg.): „Einleitung“, S. 7. N. Luhmann: Soziale Systeme [1984], S. 288f.

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sierten Beurteilungen eines Werkes im Rahmen der Vollzugs literarischer Kommunikation eine bedeutende Rolle zukommt, da die Pragmatik dieses Kommunikationstyps längere Aufmerksamkeitsspannen der involvierten Psychen im Zuge der Reimprägnierung als literarisch geltender Kompaktkommunikationen erfordert. Beide Aspekte sind durch die Leitdifferenz interessant/langweilig sowie den Nebencode literarisch wertvoll/wertlos hinreichend abstrakt abgedeckt. Psychische Ereignisströme sind aber nicht direkt zugänglich und erlauben aufgrund ihrer Idiosynkrasie unseres Erachtens vermutlich keine über die hier vorgeschlagenen Codierungen hinausgehende Formalisierung. Hochspezifische Bewusstseinsbeiträge können daher nicht systematisch in die Theoriebildung einfließen, und zur Systembildung anregende wechselseitige Intransparenz gehört sicherlich nicht in diese Kategorie, da sie sehr fundamental ansetzt. Etwas anders verhält sich dies jedoch in Anbetracht derjenigen Prozesse, die im Zuge der episodischen Herausbildung von Zirkeln statuspositionaler Differenz bereits angeklungen sind. Man kann, wie wir zu zeigen versucht haben, davon ausgehen, dass wechselseitig wahrgenommene Ungleichverteilung von Kapitalressourcen von den Bewusstseinsumwelten her den Fortlauf der literarischen Kommunikation mitbeeinflusst und zum Aufruf von Strukturmustern der Legitimierung statuspositionaler Differenz kontribuiert. Gesetzt den Fall, ein Werk wird unter der Voraussetzung eines voll ausgeprägten Zirkels statuspositio-naler Differenz hervorgebracht, so kann man den individuellen Versuch, ein als poetisch wertvoll beurteiltes literarisches Produkt herzustellen, ohne Umschweife als einen im Zuge der Akkumulation symbolischen Kapitals vollzogenen Legitimierungsakt im oben beschriebenen Sinne fassen. Man versucht, ein als möglichst literarisch wertvoll beurteiltes Werk zustande zu bringen, und kann dabei ebenfalls den an das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium des Sozialsystems Literatur gekoppelten Reputationscode in Anspruch nehmen. Dass ein solcher Nebencode tatsächlich die literarische Kommunikation mitstrukturiert und kanalisiert, ergibt sich argumentativ schon aus den auf der Emergenzebene des Sozialsystems Literatur zu lösenden, kommunikationstheoretischen Problemen allein, die wir bereits genannt haben, also aus dem Bedürfnis nach einer stabilen Systemgrenze, der Unabgeschlossenheit der Liste der Themen, dem niedrigen Institutionalisierungsgrad, dem Fehlen einer Zentralinstanz der Distribution von Reputation sowie der prinzipiellen Notwendigkeit eines haushälterischen Umgangs mit frei disponiblen, aber nicht unerschöpflichen Zeitkontingenten. All diese Probleme strapazieren im Zuge ihrer Genese nicht mehr Bewusstsein als die hochverallgemeinerte, im Theorem doppelter Kontingenz enthaltene wechselseitige Intransparenz psychischer Systeme, die nicht hintergehbar ist. Die Zirkel statuspositionaler Differenz, die dem Problem doppelter Kontingenz nachgeordnet sind und in arrhythmischen Zyklen auftreten, liefern also nicht den entscheidenden Beitrag zur Etablierung des Nebencodes (literarisch) wertvoll/wertlos, sondern lediglich zusätzliche Bewusstseinsbeiträge, mit denen die literarische Kommunikation über den Re-

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putationscode auf Tuchfühlung zu bleiben vermag. Diesen essenziellen Zusammenhang darf man keinesfalls aus dem Auge verlieren, will man dem Problem ungleicher Kapitalverteilung wirklich systemtheoretisch gerecht werden. Da die bewusstseinsmäßigen Voraussetzungen für die wechselseitige Erfassung statuspositionaler Differenz jedoch schnell erfüllt sind und Unterschiede in der Kapitalverteilung ein nicht enden wollendes Problem darstellen, muss sich die literarische Kommunikation zusätzlich zu ihren internen Problemen irgendwie auch auf diesen potenziellen Störfaktor in ihren Bewusstseinsumwelten einstellen, und sie tut dies, indem sie Reputation als feste Größe in ihr Procedere einbaut und damit gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlägt. Zwar arbeitet Reputation nicht als Präferenzcode, ein hohes literarisches Ansehen nimmt der wahrgenommenen statuspositionalen Differenz aber doch ihre soziale Brisanz und euphemisiert psychische Widersprüche, die vom bewusstseinsförmigen Umfeld des Sozialsystems Literatur ausgehen und dessen Autopoiesis gefährden können. Und das funktioniert, solange nur ausreichend viele positive Bewertungsakte kommunikativ vollzogen werden, welche die ökonomische und/oder kulturelle Superiorität eines erfolgreichen Autoren im Lichte etwa seines mutmaßlichen Genies, seines Fleißes oder seines sozialen Engagements für gerechtfertigt erscheinen lassen. Die prinzipielle Unlösbarkeit des grundlegenden Problems faktisch ungleicher Kapitaldistribution sowie die mit dem Umschalten auf funktionale Differenzierung sich steigernde Empfindlichkeit für die Wahrnehmung von Statusunterschieden sorgen dabei dafür, dass der Reputationscode zu einem auf Dauer gestellten Strukturierungsmechanismus der literarischen Kommunikation der Moderne wird. Da Reputation mindestens in noch einem weiteren Funktionssystem der Gesellschaft, nämlich in der Wissenschaft, eine feste Größe ist, kann ihr jedoch nicht der Status eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums zugewiesen werden. Das Medium der Reputation erfüllt aber zumindest in zwei Funktionssystemen, die man beide als Unterfelder der Kulturproduktion und als Spielwiese der Intellektuellen bezeichnen kann, eine wichtige selektive und auf die Reduktion von binnensystemischer Komplexität ausgerichtete Aufgabe. Wird ein literarisches Werk abgeliefert, das eine positive kommunikative Beurteilung erfährt, was natürlich auch im Falle von Trivialliteratur der Fall sein kann, so kämen als für wiederholten Gebrauch standardisierte Begründungsmuster entweder das mutmaßliche Talent, der Fleiß und/oder die Menschenliebe des Autoren in Betracht, also drei fixierte Formen eines „höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn[s]“339, die in der gepflegten Semantik der Gesellschaft unter ‚Genieästhetik‘, ‚protestantische Arbeitsethik‘ und ‚Philanthropie‘ textförmig archiviert sind und von dort aus als präfabrizierte

339

N. Luhmann: „Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition [1980]“, S. 19.

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Routinen für die alltägliche kommunikative Verwendung aufgerufen werden können. Alle drei Begründungsmuster scheinen grundsätzlich geeignet, eine hohe Statusposition über den Aufbau eines guten Rufs zu rechtfertigen. Die kommunikative Aktualisierung von Werturteilen nach dem Muster (literarisch) wertvoll/wertlos ist dabei auf die Bereitstellung entscheidungsleitender Kriterien angewiesen. Bekanntlich muss dies, auch für einen Nebencode, auf der Strukturebene von Programmen erfolgen. Die Programmebene ist dabei genau die strukturelle Einrichtung der Kommunikation, die dazu prädestiniert ist, unterschiedliche Sichtweisen zuzulassen und miteinander in freie Konkurrenz zu bringen. Wie bereits erwähnt, sind Programme dabei – im Gegensatz zu den ultrastabilen Mediencodes – veränderbar und ermöglichen dem Bezugssystem, die eigenen Strukturen neuen Gegebenheiten anzupassen, also zu lernen. Luhmann schreibt diesem Zusammenspiel von Mediencodes, symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und Kriterien für die Wahl des Codewerts liefernden Programmen generell die Fähigkeit zur Deeskalation zu, da sich mit der Umstellung der primären Differenzierungsform der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung auch eine Loslösung der teilsystemspezifischen Codes von konfliktträchtigen, die ganze Person betreffenden Moralkategorien ergibt, während „aus der uncodierten Ausgangssituation nur zunehmende Enttäuschung, Verhärtung, Konflikt resultieren können.“340 Eine von Antagonismus geprägte Ausgangssituation läge im Falle der Herausbildung von Zirkeln statuspositionaler Differenz vor, daher nimmt es nicht Wunder, wenn die durch psychische Widersprüche generierten statusdifferenziellen Spannungen über Codierung kommunikativ abgebaut und auf andere Felder verwiesen werden, wie eben dem der Moral oder des Rechts. Diese Amoralisierung literarischer Kommunikation lässt also systemintern nur Werturteile zu, die sich auf die am Werk beobachtbare literarische Meisterschaft beziehen und den Rest der Persönlichkeit des Autoren ausblenden. Interessant ist binnensystemisch nur die literarische Gestaltungskraft, nicht die Frage nach religiösem Konformismus, politischer Korrektheit, wissenschaftlicher Wahrheit, pädagogischer Nützlichkeit oder ethischer Unbedenklichkeit des Werks. Der an das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium der Literatur gebundene Reputationscode sieht also von der streiterzeugenden Frage nach der moralischen Integrität der Autoren ab, auch wenn diese in anderen Kontexten häufig angezweifelt werden mag (z.B. im Falle übermäßigen Absinthtrinkens oder regelmäßiger Bordellbesuche). Werturteile, die primär den vermeintlichen Fleiß und/oder die allgemeine Menschenliebe des Autoren beanspruchen, gehören also nicht mehr zur literarischen, sondern zur moralischen Kommunikation, die zwar überall und jederzeit aufblitzen kann, aber nicht mehr die Unterhaltungsfunktion erfüllt, ja wegen ihrer Konfliktneigung gar nicht wirklich zur Systembildung taugt. Auf dem Emergenzniveau des Literatursystems ermöglich diese Abkopplung von der Moral dann soviel wie eine

340

N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 360.

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die kommunikative Domestizierung der den Zirkeln statuspositionaler Differenz innewohnenden Konfliktpotenziale und der in ihnen schlummernden Abbruchrisiken. Erreicht wird dies durch eine Art Vorselektierung der literarischen Kommunikationsofferten über Reputationszuweisung, die vor der allzu groben Enttäuschung von Erwartungen schützen soll. Nur so kann die Erfüllung der Unterhaltungsfunktion über eine zeitökonomisch sensible Sicherheitsbarriere dauerhaft garantiert werden. Durch die Konzeption eines Reputationscodes öffnet sich die systemtheoretische Betrachtung zunehmend für empirische Befunde, erlaubt doch die hier vorgeschlagene Modellierung literarischer Kommunikation erstmals die Anbindung an kapitaltheoretische Kategorien, die aus dem Bereich der mit statistischen Verfahren arbeitenden Sozialraumanalyse stammen und so die Reichweite systemtheoretischer Betrachtung nicht unbeträchtlich erhöhen, die immer noch mit dem Vorwurf der Empirieferne leben muss. Zwar wird man den Rechtfertigungsdruck selbst nie wirklich objektiv messen können, da er im Zuge der Bildung symbolischen Kapitals nur über die wechselseitig verschränkten Wahrnehmungen der involvierten Psychen als Bewusstseinsbeitrag kommunikative Relevanz erlangen kann, aber es bliebe zu prüfen, inwiefern die Habitustheorie Bourdieus, die von einem strategischen Verhalten psychischer Systeme ausgeht, an systemtheoretische Konzepte anschließbar ist. Einen ersten Ansatz dazu gibt es aus dem Bereich der Gender Studies.341 Ein solches Projekt setzt aber in jedem Fall äußerste Sorgfalt voraus, da die Bourdieu’sche Kultursoziologie an vielen Punkten der Habitus- und Feldtheorie Bewusstseinsbeiträge anders gewichtet als die Luhmann’sche Systemtheorie mit ihren schwarzen Kästen. Auf jeden Fall wird man aber, wenn man den hier angeführten Argumenten folgt, Wertungsakte im Zuge systemtheoretisch inspirierter literaturwissenschaftlicher Forschung künftig stärker berücksichtigen müssen, erscheinen sie doch, so gesehen, als konstitutives Element der literarischen Kommunikation selbst, weshalb wir uns im praktischen Teil auch auf die Analyse literaturkritischer Zeitschriften konzentrieren werden. Man wird sich etwa auf die semantische Karriere von Werturteilsmustern konzentrieren und danach fragen, welche Beiträge der Reputationscode zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation geleistet hat. Es ist selbstverständlich nicht unwissenschaftlich, höchst subjektiv anmutende Wertungshandlungen der literarischen Kommunikation zuzuschlagen, solange nur klar bleibt, dass sie zentrale kommunikationstechnische Aufgaben erfüllen. Klar bleiben muss dabei gleichermaßen, dass wertende literarische Kommunikationen einen Ausschnitt des Objektbereichs der Literaturwissenschaft repräsentieren. Da sich aber erwiesen hat, dass die Validität von Bewertungskriterien nicht im Medium der Wahrheit beobachtbar ist, kann eine Begründung von Werturteilen nicht Aufgabe der Literaturwissenschaft sein. Man kann aber literaturwissenschaftlich untersuchen, welche Unterscheidungen

341

Siehe C. Weinbach: „Systemtheorie und Gender“, S. 47-76.

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Werturteile beanspruchen, die sich an kompakt kommunizierte literarische Werke anschließen, die so fast zu einer Art Diskursivitätsbegründer en miniature geraten – man denke nur an die vielen Literaturdebatten der letzten Jahre. Dabei wird die literaturwissenschaftliche Analyse auch weiterhin danach fragen, unter der Flagge welcher primären Systemreferenz Wertungsakte vollzogen werden. Das entscheidende Stichwort bleibt hier das der Polykontexturalität: Ein literarisches Werk kann in den literaturexternen Binnenkontexten der nicht zur Kunst gehörenden Funktionssysteme gleichzeitig als Blasphemie, wirtschaftlicher Flop, politische Provokation, Liebesbeweis oder als moralische Gefährdung jugendlicher Leser behandelt werden. Der Reputationscode erleichtert aber dabei den ebenfalls in der Umwelt der Literatur operierenden Funktionssystemen die Auswahl; erst wenn ein Werk mit hinreichender Häufigkeit eine kommunikative Bewertung als interessant und (literarisch) wertvoll erfährt, lohnt sich eventuell eine Überprüfung seiner Konformität mit Glaubensgrundsätzen, seiner Vereinbarkeit mit politischen Ideologien oder seiner Nützlichkeit für pädagogische und didaktische Zwecke. Die Bewertung literarischer Wertungen, die von außerhalb kommen, muss aber der Selbstreflexion der literarischen Kommunikation vorbehalten bleiben, und diese ist selbstverständlich in der Lage, über die Programmebene das durch den Code ausgeschlossene Dritte unter der Vorgabe des Funktionsprimats der literarischen Kommunikation wieder ins System zu holen. Theoriearchitektonisch erweist sich Bourdieus Kategorie des symbolischen Kapitals als Glücksgriff, da sie als wahrgenommene Form der primären Kapitalsorten genau in jene Konstitutionszusammenhänge eingepasst werden kann, die von der noch abstrakter formulierten, stärker konstitutionstheoretisch ausgerichteten Systemtheorie Luhmanns durch das Theorem der doppelten Kontingenz vorgegeben werden. Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital erlangen auf dem Umweg über die im Rahmen der Bildung symbolischen Kapitals entstehenden Zirkel statuspositionaler Differenz zum ersten Mal auch eine kommunikationstheoretische Bedeutung in einem engeren Sinne, ohne dass man die systemtheoretische Optik einem allzu drastischen Umbau unterziehen müsste. Da Luhmann soziale Ungleichheit über die Form Inklusion/Exklusion einzufangen versucht und als Möglichkeit der Teilhabe/Nichtteilhabe eines individuellen Menschen an den Leistungen einzelner Teilsysteme konzipiert, ergeben sich hieraus auch neue Möglichkeiten, den in der funktional differenzierten Gesellschaft nur prinzipiell unbeschränkten Zugang zu allen Bereichen literarischer Kommunikation eingehender zu analysieren, vor allem im Hinblick auf Art und Umfang individueller Kapitalressourcen. Luhmann behauptet selbst, dass die immer noch nachweisbare, sich selbst perpetuierende Schichtung der Gesellschaft im Hinblick auf die primäre Differenzierungsform der funktional differenzierten Gesellschaft im Grunde genommen ein völlig funktionsloses „Nebenprodukt des rationalen Operierens [...] vor allem: des Wirtschaftssys-

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tems und des Erziehungssystems“342 sei. Vielleicht besteht aber eine Funktion wahrgenommener sozialer Ungleichheit gerade darin, die jeweils involvierten Psychen zu immer neuen, komplexeren Rechtfertigungsanstrengungen anzustacheln, was ja letztlich die Leistungsfähigkeit ihrer sozialen Bezugssysteme, also z.B. die von Kunst und Literatur, nur erhöhen dürfte, da sie auf diesem Wege größere Aufmerksamkeitskontingente mobilisieren können. Dies erscheint umso plausibler, als die literarische Kommunikation diese paradoxerweise rein individualistisch, ja egoistisch anmutenden Bewusstseinsbeiträge offensichtlich dazu nutzt, um über den Vollzug von Reputation konstruierenden Wertungsakten, die als kommunikative Manifestation psychisch prozessierter Anerkennung fungieren, die systeminternen Orientierungsmöglichkeiten für alle zu verbessern. Wie dem auch sei, jedenfalls fällt auf, dass sich auch Luhmann, bei aller jahrzehntelang demonstrierter Distanz gegenüber „ungleichheitstheoretischen Erklärungsmustern“, am Ende seiner Laufbahn gegenüber dem sozialen Phänomen vertikaler Differenzierung zunehmend zu öffnen begann und „in Bezug auf die Reproduktion ungleicher Lebenschancen explizit auf genau jene zwei gesellschaftlichen Teilsysteme zu sprechen [kommt], die auch in der Schichtungsforschung in engem Zusammenhang mit den zentralen Ungleichheitsdimensionen stehen: das Wirtschafts- und das Erziehungssystem.“343 Zwar hat Luhmann zu dieser Problematik keine umfangreicheren Theorieangebote mehr machen können, immerhin kann man laut Ute Volkmann seinem Hauptwerk aber noch die Vermutung entnehmen, „dass soziale Ungleichheit sich deshalb nach wie vor in der Gesellschaft reproduziert, weil sie ‚offenbar ein Nebenprodukt des rationalen Operierens‘ gerade dieser beiden Teilsysteme ist. Damit rücken auch bei Luhmann die vertikalen Ungleichheitsdimensionen Geld und formale Bildung sowie die Institutionen Arbeitsmarkt und Bildungssystem im Hinblick auf die ungleiche Teilhabe an Gesellschaft in den Vordergrund.“344 Ökonomisches und kulturelles Kapital, aber auch symbolisches Kapital als kollektiv wahrgenommene Form dieser Primärkapitalien, verdienen also in Gestalt des Reputationscodes ihre Nischen in Luhmanns Theoriekathedrale – zumindest mit Blick auf das Literatursystem.

N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft [1997], S. 774. U. Volkmann: „Soziale Ungleichheit“, S. 245. 344 Ebd., S. 245. 342 343

PRAXISTEIL

II. Der Reputationscode des Literatursystems am Beispiel literaturkritischer Zeitschriften im Übergang von Alteuropa zur funktionalen Moderne

Wenn man davon ausgeht, dass der Reputationscode des Literatursystems im hier beschriebenen Sinne seine zunehmend wichtiger werdende Selektionsarbeit mithilfe von Wertungsakten verrichtet, geht damit die Verpflichtung einher, den literaturkritischen Diskurs in seiner evolutionären Dimension genauer unter die Lupe zu nehmen. Im Zuge dessen gilt es, die komplizierten innerliterarischen Verflechtungen, die vor dem Hintergrund der mit angrenzenden Systemen gleichzeitig bestehenden Leistungsbeziehungen zwischen Literatur als fortlaufender Aneinanderreihung von Werken und wertender Literaturkritik als Beobachtung zweiter Ordnung eben dieser Werke entstehen, in ihrer diachronischen Entwicklung zu betrachten. Sollte Reputation tatsächlich in Gestalt eines Nebencodes eine derartig exponierte, die übergeordnete Leitdifferenz interessant/langweilig ergänzende Funktion für die Strukturierung literarischer Kommunikation erfüllen, dann ist davon auszugehen, dass dieser soziale Selektionsmechanismus irgendwie seinen Niederschlag in den kommunikativen Manifestationen, also in der Materialität literarischer Kommunikation, gefunden haben muss. Diesen Diskursspuren detailliert nachzugehen, ist das vorrangige Ziel des zweiten Teils dieser Untersuchung. Wir wollen und können an dieser Stelle jedoch keine vollständige Übersicht über die gesamte Geschichte der Literaturkritik im Hinblick auf diese Fragestellung liefern, schon gar nicht aus gesamteuropäischer Sicht. Zwar existierten schon in der Antike Frühformen des kritischen Umgangs mit literarischen Werken – so finden sich etwa in der Dichtung der griechischen und römischen Klassik Textpassagen, die Ralf Georg Bogner als „autoreflexiv“ bezeichnet und „in denen positiv oder negativ, auf jeden Fall jedoch urteilend auf kanonisierte Werke und Autoren Bezug genommen wird (z.B.

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Aristophanes in Die Vögel über Euripides).“1 Auch lassen sich bereits in diesem vormodernen Stadium Metatexte mit einem dezidiert literaturkritischen Impetus nachweisen; man denke nur an die hermeneutischen und stilkritischen Kommentare der Werke Homers und an die vielfach angestellten Vergleiche zwischen diesem Autor und Hesiod, die sich teilweise in Briefen finden. Aber erst in der Ära des Buchdrucks entstehen nach unserer systemtheoretischen Lesart allmählich die Umweltbedingungen, die zur Ausdifferenzierung der literarischen Kommunikation und damit auch zur festen Etablierung eines sekundären Reputationscodes innerhalb dieses neuartigen Funktionssystems geführt haben können. Aufgrund der bis zum 14. Jahrhundert noch fehlenden Technologie zur massenhaften, nicht auf Handschriftlichkeit angewiesenen Reproduktion von Texten konnte die in das Korsett multifunktionaler Kommunikation eingespannte Literatur, die eine „unmittelbare religiöse, moralische oder politische Resonanz“2 auslöste, auch schon rein kommunikationstechnisch noch kein Informationsvolumen erzeugen, das eine strukturelle Selektionsvorrichtung wie die des Reputationscodes nötig gemacht hätte. Es genügte, die wenigen literarischen Texte auf etwaige Blasphemie, moralische Bedenklichkeit oder auf Anzeichen politischer Insubordination hin zu überprüfen, während sich die heute alltägliche Frage nach dem eigentlichen literarischen Wert eines Werkes noch nicht wirklich stellte. Wertungsakte waren in der Vormoderne eher das Steckenpferd einiger besonders eifriger Liebhaber der Literatur und erfolgten nicht auf breiter Basis, da sie ausschließlich individuellen psychischen Bedürfnissen entsprachen, jedoch noch keine genuin soziale Funktion erfüllten. Ungebundene Zeit stellte in Antike und früher Neuzeit ebenfalls noch kein gesellschaftliches Problemfeld dar, das jenseits exklusiver Adelskreise einer nachhaltigeren Bearbeitung bedurft hätte, ganz zu schweigen vom Analphabetismus breiter Volksschichten, der das Bücherlesen – systemisch, d.h. holistisch be-trachtet – ohnehin zu einer Art sozialem Epiphänomen degradierte. Daher ist es ratsam, eine Schwerpunktsetzung auf die überaus dynamische Phase der Ausdifferenzierung der literarischen Kommunikation vorzunehmen, in der es zu den entscheidenden gesellschaftlichen Umwälzungen kam, die zum evolutionären Durchbruch des Reputationscodes innerhalb des sich formierenden Literatursystems beitrugen. Wir werden daher die genetische Entwicklung dieses Nebencodes am konkreten Beispiel der offen wertenden Buch- bzw. Literaturkritik3 über das vormoderne späte 17. sowie das

1

2 3

R.G. Bogner: „Die Formationsphase der deutschsprachigen Literaturkritik“, S. 14. I. Stöckmann: Vor der Literatur, S. 2. Zur Begriffsklärung sei angemerkt: Mit Petra Altmann definieren wir ‚Buchkritik‘ wie folgt: „Der Begriff Buchkritik umfaßt die Rezension von Büchern, gleich welchen Inhalts, nicht nur die Rezension von Literatur im Sinne von ‚Schöner Literatur‘. Es ist die kritische Besprechung von neuen Büchern, die Beurteilung und Wertung derselben und das Referieren über ihren Inhalt.“ (P. Altmann: Der

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hochinnovative 18. Jahrhundert hinweg, in dessen Verlauf nach Siegfried J. Schmidt die „Literaturkritik im heutigen Begriffssinn“4 entstanden ist, in den Blick nehmen. Es erfolgt also im Gegensatz zur Mehrheit der bisherigen systemtheoretischen Beiträge zum literaturwissenschaftlichen Diskurs keine ausschließliche Konzentration auf die moderne Literatur, wie Albert Meier vor einiger Zeit bemängelt hat5, sondern es soll dies- und jenseits jener epochalen Wegmarke beobachtet werden, die sich in der um das Jahr 1800 vollendeten Umstellung von Stratifikation auf funktionale Differenzierung bekundet. Natürlich muss eine solche Untersuchung nicht nur zeiträumliche, sondern auch thematische Schwerpunkte setzen, die sich nicht zuletzt aus dem gewählten Theorierahmen ergeben müssen. Klassifizieren lassen sie sich diese Schwerpunkte entlang der beiden basalen Systemreferenzen, mit denen die literarische Kommunikation operiert, sprich mit Blick auf die im System selbst konstituierte Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz. Literarische Reputation wird exklusiv innerhalb des Literatursystem erzeugt, d.h. sie entsteht im Modus der Selbstreferenzialität, auf den wir hier unser Augenmerk richten wollen. Als stabiler Selektionsmechanismus der Literatur der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft fällt Reputation (bzw. spezifisch literarisches symbolisches Kapital) nicht, wie Stanley Kubricks schwarzer Monolith, einfach vom Himmel, sondern sie hat in den ständischen Ehrvorstellungen der einzelnen Schichtsysteme der stratifizierten Gesellschaft eine evolutionäre Vorgängerin. Aus diesem Grunde wird intensiv auf die in der Vormoderne übliche schichtsystemische Kommunikation einzugehen sein, die sich sowohl schichtsystemintern wie schichtsystemübergreifend im Medium der ständischen Ehre vollzieht. Wie wir sehen werden, stehen Veränderungen in der Verwendung dieses Mediums in einem engen Zusammenhang mit der Genese der Reputationscodes in Wissenschaft und Literatur, was sich an Umstellungen innerhalb der Ehrsemantik jener Ära ablesen lässt. Im Rahmen der Selbstreferenzialität literarischer Kommunikation wird auch danach zu fragen sein, inwiefern die Problematik eines stets größer werdenden Informationsvolumens von der Buch- bzw. Literaturkritik, die wir schlicht als Selbstbeobachtung verrichtende Komponente literarischer Kommunikation auffassen, kommunikativ reflektiert und in ihr erwartungsstrukturelles Procedere eingebaut worden ist, um somit dem Literatursystem erst seine unverwechselbare Identität zu geben. Ferner wird uns die Frage des innerliterarischen Umgangs mit frei disponiblen Zeitkontingenten zu beschäftigen haben, da wir ja die Auffassung vertreten, dass der literaturkritische Diskurs als Teil der literarischen Kommunikation selbst

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Buchkritiker in deutschen Massenmedien, S. 23.) Unter ‚Literaturkritik‘ verstehen wir eine hochspezialisierte Form der Buchkritik, die ausschließlich literarische Werke zum Gegenstand ihrer wertenden Beobachtungen macht. S.J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur [1989], S. 360. Siehe A. Meier: „Vorwort“, S. 9-17.

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aufzufassen ist und dessen Selbstreflexionsinstanz darstellt. Nach dieser Lesart müsste die Literaturkritik einen klaren Bezug zur Funktion des Literatursystems, die ja in der Ausfüllung zunehmender Freizeit besteht, erkennen lassen. Mit Blick auf die Fremdreferenzialität des Literatursystems rücken die Intersystembeziehungen dieses spezifischen Kommunikationstyps in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Im Brennpunkt steht dabei die Frage danach, ob der analoge Reputationscode, wie theoretisch hergeleitet, tatsächlich die Input-Output-Beziehungen zwischen literarischer und wirtschaftlicher Kommunikation strukturell erleichtert und inwiefern das in der Materialität literaturkritischer Praxis dementsprechende Berücksichtigung findet. Dagegen werden wir die zwischen dem Literatursystem und anderen Sozialsystemen zweifellos bestehenden Intersystembeziehungen weitestgehend ausklammern, da sich aus unseren theoretischen Vorüberlegungen ja vor allem ein enger Konnex zwischen diesen beiden Sektoren der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ergibt. Dabei konzentrieren wir uns überdies ganz auf die innerliterarische Sicht, da ein halbwegs vollständiger Überblick über die Leistungsbeziehungen des Literatursystems den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde und diese Aufgabe wohl nur arbeitsteilig von einem ganzen Forscherteam bewältigt werden könnte. Zwar vermögen wir damit den Anspruch einer polykontexturalen Literaturwissenschaft nicht in vollem Umfang einzulösen, nehmen jedoch zumindest an einem wichtigen Punkt die enge strukturelle Verflechtung der Literatur mit einem anderen wichtigen Sozialsystem unter die Lupe, das ohnehin im Kontrast zum heterarchisch argumentierenden Luhmann von einigen Systemtheoretikern wie z.B. Siegfried J. Schmidt als alles überstrahlendes „Leitsystem der Gesellschaft“6 aufgefasst wird. Darüber hinaus sollen aber auch, einer theoriebautechnischen Anregung Christoph Reinfandts folgend, die Leistungen der Literaturkritik für psychische Systeme, die von literarischer Kommunikation in besonderer Weise in Anspruch genommen werden, dort mit in die Analyse einfließen, wo dies in Anbetracht der vorgefundenen programmatischen Aussagen sinnvoll erscheint. Schließlich haben wir gezeigt, dass es in den Bewusstseinsumwelten der literarischen Kommunikation mit großer Wahrscheinlichkeit zur azyklischen Etablierung von Zirkeln statuspositionaler Differenz kommt, die eine ernstzunehmende Bedrohung für die Autopoiesis dieses spezifischen (und vermutlich auch weiterer) Kommunikationstypen darstellen. Auf der Grundlage negativer doppelter Kontingenz und noch zusätzlich verstärkt durch die ohnehin polemogene Anlage negativer Wertungsakte besteht fortwährend die Gefahr der Bildung von Konfliktsystemen, die der literarischen Kommuni-

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S.J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur [1989], S. 166. Diese Sichtweise übernimmt z.B. Frank Lay in seinem system- und diskurstheoretischen Mischmodell literarischer Kommunikation. Vgl. F. Lay: Die Macht der Systeme und die Funktionen von Literatur, S. 5f.

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kation alle bewusstseinsförmig notwendige Energie zu entziehen droht. Abhilfe vermag nach unserer Lesart nur die kollektive Anerkennung der wenigen Statushöheren durch die Statusniederen zu verschaffen, d.h. die Akkumulation spezifisch literarischen symbolischen Kapitals in der Wahrnehmung einer hinreichenden Anzahl involvierter psychischer Systeme, aus der sich an die Person des Reputationsträgers geknüpfte Erwartungsstrukturen auf der emergenten Ebene der literarischen Kommunikation speisen können. So gefasst, wäre der literarische Reputationscode also nicht nur eine Strukturvorrichtung, die der notwendigen kommunikationstechnischen Bewältigung des exponentiell wachsenden Informationsvolumens im System dient, sondern auch ein probates Mittel zur Konfliktprävention in diesem besonderen gesellschaftlichen Teilbereich. In diesem Zusammenhang wollen wir die Frage stellen, inwieweit der Reputationscode tatsächlich als in den sozialen Erwartungsstrukturen verankertes Deeskalationsinstrument der Sinnprovinz Literatur in Erscheinung tritt und inwiefern dieser Nebencode die für dieses Feld charakteristischen Konfliktformen tatsächlich wirksam domestiziert.

II.1 D IE M ONATS =G ESPRÄCHE DES C HRISTIAN T HOMASIUS (1688-1690) Als Ausgangspunkt für eine solche Untersuchung bieten sich dabei die Monats=Gespräche des Christian Thomasius an, die von 1688 bis 1690 mit nicht genau bekannter Auflagenstärke in den Druck gingen und dann eingestellt werden mussten. Thomasius’ Zeitschrift nimmt in der Geschichte des deutschsprachigen Zeitschriftenwesens aus mehrerlei Gründen eine Sonderstellung ein. Gelehrten Themen aus Wissenschaft und schönen Künsten bereiteten sie erstmals eine volkssprachliche Bühne und führten diese so aus dem engen Zirkel der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation heraus. Das Besondere an den Monats= Gesprächen für diese Untersuchung besteht jedoch vor allem darin, dass sie, im Gegensatz zu den herkömmlichen gelehrten Journalen wie dem Pariser Journal des Savants, den deutschen Acta Eruditorum sowie den niederländischen Zeitschriften weder „auf die unterhaltende Literatur verzichten“ noch „das kritische Urteil suspendieren“.7 Thomasius geht es im Kontrast zu den konventionellen Publikationsformen nicht nur darum, „über neue Werke zu informieren“, sondern er „fügt Urteile hinzu und erweitert so den Informationswert.“8 Nach allem, was man bisher weiß, kommt es im deutschsprachigen Raum, auf den wir uns hier konzentrieren wollen, jenseits mündlicher Interaktionssysteme also erstmals regelmäßig zu offen wertenden Rezensionen literarischer Werke im Massenmedium der Zeitschrift. Da Wertungsakte für die Operationen des literarischen Reputationscodes konstitutiv sind, 7 8

H. Jaumann: Critica [1995], S. 277. S. Heudecker: Modelle literaturkritischen Schreibens, S. 102.

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macht es also Sinn, diese freimütig mitgeteilten Bücherbewertungen einer eingehenden Beobachtung zu unterziehen. Über das Gesagte hinaus zeichnet sich das gelehrte Journal des Thomasius auch durch seine ausgeprägte Tendenz zur Selbstthematisierung auf der Ebene der Beobachtung dritter Ordnung aus, die natürlich vor allem eine Konsequenz aus der Neuartigkeit dieses Unternehmens gewesen sein dürfte. Die Monats=Gespräche sind, wie Herbert Jaumann feststellt, „in hohem Maße selbstreflexiv. Immer wieder lässt Thomasius seine Figuren über Probleme der Rechtfertigung von Form und Zweck des eigenen Unternehmens und gelehrter Journale im allgemeinen räsonieren.“9 Insbesondere die Vorreden, die Thomasius den einzelnen Jahrgängen zur Erläuterung und Verteidigung seines Projekts vorangestellt hat, aber auch die im engeren Sinne literaturkritischen Beiträge dieses bemerkenswerten Publikationsorgans liefern vor dem hier aufgezeigten literaturtheoretischen Hintergrund Stoff für erste literatursoziologische Beobachtungen, die geeignet sind, die herausragende Bedeutung des Mediums der Reputation für die Abwicklung moderner literarischer Kommunikation nachzuzeichnen. II.1.1 Ehre als Medium im Übergang von Stratifikation auf funktionale Differenzierung II.1.1.1 Schichtsysteme und stratifizierte Semantik Eine Analyse der Monats=Gespräche darf natürlich nicht außer Acht lassen, dass Ende des 17. Jahrhunderts die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in autonome Funktionssysteme noch in den Kinderschuhen steckte. Stratifikation stellte zu jener Zeit noch die primäre Differenzierungsform der Gesellschaft dar. Seinen Ausdruck fand dieses Differenzierungsprinzip in einer gesellschaftsweit verwendeten Semantik, in der die Leitunterscheidung oben/unten omnipräsent war.10 Auch noch in der Frühaufklärung war diese vormoderne Stufe der gesellschaftlichen Evolution vor allem durch massive und offen zur Schau gestellte Ungleichheit bei geringer Mobilität gekennzeichnet. Alle Akteure nahmen einen festen Platz in der pyramidalen gesellschaftlichen Hierarchie ein, über den meist allein die Geburt entschied. Anders als in der Moderne mit ihren vielgestaltigen und häufig disparaten Rollenansprüchen erfasste dabei nach systemtheoretischer Auffassung die schichtmäßige Zugehörigkeit der Akteure zu Adel, Bürgertum oder Unterschicht die ganze Person, ein Vorgang, den man mit dem Begriff der ‚Totalinklusion‘ in das jeweilige Bezugssystem zu fassen versucht hat. Eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft in einzelne Sozialsysteme mit fester Funktion hatte noch nicht stattgefunden. Stattdessen bildete „jede Schicht ein ge-

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H. Jaumann: „Frühe Aufklärung als historische Kritik [1994], S. 157. Die folgenden Überlegungen verbinden Erkenntnisse aus dem ersten Kap. der Dissertationsschrift Ingo Stockmanns mit eigenen Ideen.

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sellschaftliches Subsystem [...], das andere (höhere bzw. niedere) Schichten als seine Umwelt behandeln“11 konnte. Eine Gleichberechtigung der Subsysteme untereinander – wie in der funktionalen Moderne – gab es nicht; vielmehr gestalteten sich die Intersystembeziehungen, d.h. die wechselseitigen Bezugnahmen der Schichtsysteme der stratifizierten Gesellschaft untereinander als Verhältnisse der Über- bzw. Unterordnung, wobei die Adelsschicht lange Zeit eine weitgehend unangefochtene Spitzenposition einnahm. Die exponierte Stellung der Nobilität führte zu einer völlig asymmetrischen Anballung von Machtressourcen, also von ökonomischem, kulturellen, sozialen und symbolischem Kapital im Oberschichtsystem, dessen Bezugsproblem im Erhalt des primären Differenzierungstyps, also des Stratifikationsprinzips selbst, bestand. Auch frei disponible Zeit war ein ungleich verteiltes Luxusgut, das zuerst im Oberschichtsystem, später aber auch im bürgerlichen Stratum Verbreitung fand und fast ausschließlich diesen privilegierten Schichten den unbeschwerten Genuss der schönen Künste ermöglichte. Vom Oberschichtsystem aus wurden auch die späteren funktionalen Teilbereiche der Gesellschaft wie Politik, Recht oder Religion zentral gesteuert und reguliert, was vor allem in der Oberschicht, aber zunehmend auch im bürgerlichen Schichtsystem „ein bereits erhebliches Maß an funktionaler Rollendifferenzierung“12 nötig machte. Als Konsequenz daraus ergab sich im Lauf der Evolution eine beträchtliche Erhöhung der binnensystemischen Komplexität der oberen Schichtsysteme. Die zunehmende Rollendifferenzierung innerhalb der führenden Schichten kann man dabei als Vorbotin der funktionalen Differenzierung ansehen, die unter dem Umwelteinfluss neuer Kommunikationstechniken schrittweise begann, den noch vorherrschenden ‚face-to-face‘-Interaktionen bei der Erfüllung bestimmter funktionaler Aufgaben beizustehen, die sich unter der Bedingung körperlicher Kopräsenz nicht mehr in befriedigender Weise lösen ließen. Im Zuge dieser Entwicklungen konnte auch schon auf symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die „der Stabilisierung von Systemkontexten in aller Regel vorausgehen“, zurückgegriffen werden, denn im späten 17. und 18. Jahrhundert verfügten die „europäischen Hochkulturen [...] bereits über relativ trennscharf voneinander abgesetzte Medien wie Wahrheit und Recht, Macht und Glaube“.13 Insofern stellt also der Zeitraum zwischen 1688 und 1800 eine verwickelte Übergangszeit dar, die dadurch weiter kompliziert wird, dass die neu entstehenden Funktionssysteme alle eine eigene, unverwechselbare Entwicklung durchmachten. Die Forderung nach Gleichheit unter den Menschen war freilich Ende des 17. Jahrhunderts bereits eine denkbare, durch die Naturrechtsphilosophie auch durchaus intellektuell gestützte Option. In konkreten Interaktions-

N. Luhmann: „Interaktion in Oberschichten [1980]“, S. 72. Ebd., S. 74. 13 I. Stöckmann: Vor der Literatur, S. 25. 11 12

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situationen jedoch, die den Löwenanteil des Kommunikationsaufkommens der stratifizierten Gesellschaft ausmachten, konnte nur dann verlässlich Anschlussfähigkeit hergestellt werden, sofern man den allgemeinen Erwartungen entsprach, d.h. wenn „schichtspezifisch und unter Wahrnehmung von Rangdifferenzen“14 kommuniziert wurde, was zu einer beträchtlichen Ritualisierung und Verknappung des diskursiv Abrufbaren führte. Gleichheit, verstanden als Kommunikation unter gleichberechtigten Partnern, war nur innerhalb der einzelnen Schichten realisierbar und fungierte als subsysteminternes Ordnungsprinzip, das die jeweiligen Schichtangehörigen davor bewahrte, andauernd darüber reflektieren zu müssen, ob ihr kommunikatives Verhalten ihrer Stellung angemessen war oder nicht. Verkehrte man mit Mitgliedern des gleichen Stratums, konnte man die ansonsten im interaktionalen oder selteneren schriftlichen Kontakt mit Bessergestellten üblichen Demutsbezeugungen und Unterwerfungsgesten getrost bei Seite lassen. Schichtsystemübergreifende Kommunikation jedoch basierte auf einer „gesamtgesellschaftliche[n] Grundsymbolik der Hierarchie und der direkten Reziprozität“15, d.h. teilsystemtranszendent wurde Kommunikation im Medium der Ungleichheit und über einen entsprechend bestückten semantischen Apparat abgewickelt. Gedeckt wurde diese vormoderne Gesellschaftsformation hauptsächlich durch den von Kirche und Theologie untermauerten Glauben an eine von Gott geschaffene, selbstverständliche Rangordnung unter den Menschen, aber auch durch die politische Institution der absolutistischen Monarchie sowie eine diese Weltsicht zementierende erzieherische Disziplinierung der nachdrängenden Jugend. Eventuell aufkommende Fragen nach der Rechtmäßigkeit einer hohen Statusposition konnten, zumindest im Falle schichtübergreifender Interaktionen, schnell mit dem Hinweis auf jene angeblich gottgewollte Kosmologie abgebügelt werden, die sich massiv in den Erwartungsstrukturen der Gesellschaft eingenistet hatte und „für alle Medienbereiche noch eine Art Grundsicherheit und Variationsschranke“16 darstellte, an der man seine Erwartungen orientieren konnte. Dementsprechend darf man vermuten, dass sich Zirkel statuspositionaler Differenz überwiegend innerhalb der einzelnen Schichtsysteme etablieren konnten, da die Standesunterschiede im Gegensatz zu anderen sozialen Unterschieden weitgehend als natürlich empfunden wurden und kaum schichttranszendenten Sozialneid aufkommen ließen. Radikale Positionswechsel – etwa vom Bürgertum in den Adelsstand – waren zwar nicht prinzipiell ausgeschlossen, bildeten jedoch ein sehr seltenes Phänomen, das ganz außergewöhnlicher Leistungen bedurfte und daher Randerscheinung blieb. Die Leitdifferenz oben/unten der stratifizierten Gesellschaft strahlte natürlich auch auf die schönen Künste und deren Spezialsemantik aus. Das

Ebd., S. 12. N. Luhmann: „Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition [1980]“, S. 29. 16 N. Luhmann: Funktion der Religion [1977], S. 102. 14 15

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zeigt sich exemplarisch etwa in der Dramentheorie des Barock mit ihrer zentralen Forderung nach Angemessenheit der Darstellung, die auf das horazische Decorum-Ideal zurückging. Die dominierenden Vorstellungen hinsichtlich der Angemessenheit manifestierten sich dabei im Wesentlichen in der Dreistillehre sowie in der Ständeklausel, die als verbindliche Produktionsformeln dichterischen Schaffens galten. Figurenpersonal, Sprechweise der Figuren sowie Gattung sollten gemäß dieser Konventionen aufeinander abgestimmt sein, d.h. alle Figuren mussten dem gleichen Stand entstammen, einen standesgemäßen Ausdrucksstil an den Tag legen und die Wahl der Gattungen, die einer strikten Wertehierarchie unterworfen waren, musste der dargestellten ständischen Schicht in repräsentativer Weise entsprechen. So heißt es etwa bei Martin Opitz: „[I]n den niedrigen Poetischen sachen werden schlichte vnnd gemeine leute eingeführet; wie in Comedien vnd Hirtengesprechen. Darumb dichtet man jhnen auch einfaltige vnd schlechte reden an / die jhnen gemässe sein“.17 Stofflich angemessen sei diesem unteren Segment der Literatur die Darstellung von „hochzeiten / gastgeboten / spielen / betrug und schalckheit der knechte / ruhmrätigen Landtsknechten / buhlersachen / leichtfertigkeit der jugend / geitze des alters / kupplerey und solchen sachen / die täglich vnter gemeinen Leuten vorlauffen“.18 Im krassen Gegensatz dazu präsentiert sich das seitens Opitz für die Tragödie veranschlagte Spektrum tauglicher Stoffe: Die Tragedie ist an der maiestet dem Heroischen getichte [Epos] gemeße / ohne das sie selten leidet / das man geringen standes personen vnd schlechte sachen einführe: weil sie nur von königlichem willen / Todtschlägen / verzweiffelungen / Kinder- vnd Vätermörden / brande / blutschanden / kriege und auffruhr / klagen / heulen / seuffzen und dergleichen handelt.19

Die gleiche stratifizierte Semantik findet sich z.B. auch in Daniel Richters Reflexionen über Trauerspiel und Lustspiel: Beyde werden sonst fast auf einerley Art gemacht / nur daß bey der Tragoedi vortreffliche Materi, auch mehr Sentenz und der allerhöchste Stylus zu finden; hergegen in einer Comedia [...] von geringen Leuten und also humili Stylo gehandelt wird / die Sentenz darinnen auch von [...] gemeinen Sachen sind.20

Deutlicher könnte die von Luhmann postulierte Entsprechung zwischen Gesellschaftsstruktur und Semantik wohl kaum ausfallen.

M. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey [1624], S. 27. Ebd., S. 27. 19 Ebd., S. 27. 20 D. Richter: Thesaurus oratorius novus, S. 208. 17 18

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II.1.1.2 Der Ehrbegriff in den Zeiten der Umstellung auf funktionale Differenzierung Die Ehre hat, in gewissem Sinne, einen negativen Charakter, nämlich im Gegensatz des Ruhmes, der einen positiven Charakter hat. Denn die Ehre ist nicht die Meinung von besondern, diesem Subjekt allein zukommenden Eigenschaften, sondern nur von den, der Regel nach, vorauszusetzenden, als welche auch ihm nicht abgehn sollen. Sie besagt daher nur, daß dies Subjekt keine Ausnahme mache; während der Ruhm besagt, daß es eine mache. Ruhm muß daher erst erworben werden: die Ehre hingegen braucht bloß nicht verloren zu gehn.21 (Arthur Schopenhauer)

Ein für die Rekonstruktion des evolutionären Aufstiegs des literarischen Reputationscodes besonders wichtiger Aspekt der stratifizierten Gesellschaftsordnung ist in gewissen generalisierten Ehrvorstellungen zu sehen, die sowohl die schichtsysteminterne als auch die schichtsystemübergreifende Kommunikation regulierten und in der Semantik der Vormoderne ebenfalls deutliche Spuren hinterlassen haben. Grundsätzlich hing die Ehrenhaftigkeit einer Person von der hierarchischen Stellung innerhalb des Schichtsystems ab, dem sie über ihre Abstammung zweifelsfrei zugeordnet werden konnte. Im Folgenden wollen wir die Genealogie dieser Ehrvorstellungen kurz nachzeichnen, da sie gewissermaßen die Hintergrundfolie zu unseren weiteren Beobachtungen hinsichtlich der Herausbildung spezifisch literarischer Reputation bilden, die sich als langwieriger Prozess mit recht unterschiedlichen Entwicklungsstadien gestaltet.22 Im Althochdeutschen verwandte man das Wort ‚era‘ in doppelter Bedeutung, nämlich sowohl im Sinne von ‚Ehrung‘, als auch im Sinne sozialen Ansehens, das man Gottheiten oder weltlichen Personen entgegenbrachte. Die Intensität des Ansehens irdischer Personen, also das ‚social standing‘ realer Akteure, das hier für uns von hauptsächlichem Interesse ist, hing dabei weitgehend von der Standeszugehörigkeit ab, war also primär statuspositional determiniert. Dabei kam selbstverständlich dem Adel als rang-

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A. Schopenhauer: „Aphorismen zur Lebensweisheit“, S. 361. Die folgenden Ausführungen zur diskursiven Karriere des Ehrbegriffs, die sich auf den germanisch-deutschsprachigen Raum beschränken, kombinieren Erkenntnisse aus dem fünften Kap. von Ludgera Vogts Dissertationsschrift mit eigenen Erwägungen. Vgl. L. Vogt: Zur Logik der Ehre, S. 53ff.

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oberstem Stratum die höchste Wertschätzung zu. Auch der mittelhochdeutsche Begriff der ‚ěre‘ ist noch in diesem Sinne zu verstehen. Nur wer als hinreichend ehrenhaft galt, war fähig, in die multifunktionalen Interaktionssysteme der herrschenden aristokratischen Eliten inkludiert zu werden, gegenüber ermüdenden physischen Tätigkeiten (mit Ausnahme des Kampfes) auf Distanz zu gehen und beispielsweise einen „demonstrativen Müßiggang“23 symbolisch zur Schau zu stellen. Nichtadlige waren in Aristokratenkreisen grundsätzlich nicht satisfaktionsfähig. Ihr Rederecht unterlag starken Beschränkungen und sie waren gezwungen, auf bestimmte, rein theoretisch denkbare Spielzüge im kommunikativen Geschehen von vornherein zu verzichten, vor allem auf dem politischen Sektor, aber auch etwa im Bereich der Intimität. Die umfassende psychische Akzeptanz jedoch, die diese aus Sicht der Aristokraten ehrlosen Akteure jener perfiden Logik von Teilhabe und Ausschluss lange Zeit stillschweigend entgegenbrachten, machte die rein statuspositional determinierte Standesehre auf der Ebene der Konstitution von Sozialität zu einem letztlich gesellschaftsweit operierenden Medium der Regulation und Verknappung kommunikativer Möglichkeiten. Diese breite psychische Billigung der ungleichen und obendrein auch noch überaus starren Distribution von Standesehre, die man für ebenso natürlich wie völlig unantastbar hielt und die in ihrem Einschluss von Herrschenden wie Beherrschten stark an Bourdieus Konzept der Komplizenschaft erinnert, bildete die erwartungsstrukturelle Grundlage dafür, dass sich die einstweilen noch multifunktionale Kommunikation hierarchisch organisierter Gesellschaftsformationen mittels der Leitunterscheidung ehrenhaft/ehrlos über ein Medium organisieren ließ, das nahezu perfekt an das damalige primäre Differenzierungsprinzip der ständischen Schichtung in Adel, Klerus, Bürgertum und Unterschicht angepasst war. Ehre konnte so zur „symbolisch generalisierte[n] Interaktionsfähigkeit in der Oberschicht“24 avancieren und sich als zentrales Steuerungsmedium zur „entscheidende[n] Komponente ständischer Kommunikation“25 aufschwingen. Erst im Spätmittelalter mengten sich allmählich auch solche Vorstellungen in die im adligen Schichtsystem vorherrschende Ehrauffassung ein, die innere Eigenschaften und Kompetenzen einzelner Personen stärker gegenüber der gottgewollten, rein äußeren Stellung im sozialen Raum akzentuierten. Ein Spezifikum der germanischen Ehrvorstellung gegenüber der römischen bestand allerdings darin, dass man etwas weniger Wert auf vornehme Geburt und Besitz legte und stattdessen individuelle Leistungen durchaus stärker betont wurden, auch wenn etwa in den germanischen Epen persönliche Tüchtigkeit meist noch mit der Gottesgnade einer hohen Geburt einherging. Die Entstehung des christlich-abendländischen Rittertums spiegelt diese Besonderheit wider: Die ritterliche Ehre basierte auf kollektiv geteilten

T. Veblen: Theorie der feinen Leute [1899], S. 41. N. Luhmann: „Interaktion in Oberschichten [1980]“, S. 96. 25 L. Vogt: Zur Logik der Ehre, S. 57. 23 24

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Werten des Ritterstandes, zu denen neben Affektbeherrschung, ‚triuwe‘ und ‚milte‘ (also nhd. ‚Treue‘ bzw. ‚Mildtätigkeit‘) gehörten. Dieser Wertekomplex ergänzte den Glauben an eine vornehme Geburt und sorgte für eine klare Abgrenzung des ständischen Systems nach außen. Ritterliche Ehre fungierte aber auch als „innerständisches Unterscheidungsmittel [...]: Der erfolgreiche Ritter, der viel Ehre erworben hatte, war dem weniger Erfolgreichen übergeordnet.“26 Die ritterliche Ehre folgte also durchaus bereits einer Akkumulationslogik im Sinne der Kapitaltheorie Bourdieus und fußte nicht auf dem gewohnten Geburtsrecht allein. Wer den Ehrenkodex des Ritterstandes verletzte, musste dabei mit vorrübergehender oder dauerhafter Ehrbzw. Rechtlosigkeit rechnen. Bis in die frühe Neuzeit hinein entwickelten auch Bauern und Bürgertum ständische Ehrkonzeptionen mit eigener Inklusions- bzw. Exklusionslogik. Ausgeschlossen wurden als ‚unehrenhaft‘ geltende, außerhalb aller Schichtsysteme stehende Gruppen, die bestimmte ethnische, religiöse sowie berufliche Merkmale besaßen, wie beispielsweise Türken, Sinti und Roma, Juden sowie Menschen anderer nichtchristlicher Glaubensrichtungen, aber auch Henker, Abdecker, Totengräber und Prostituierte. Unehelich Geborene wurden meist als ‚ehrlos‘ betrachtet. Gleiches galt etwa auch für Exkommunizierte. Die bürgerliche Standesehre dominierte vor allem in den städtischen Zentren und war im Gegensatz zur ritterlichen Ehre nicht von Kampfbereitschaft nebst ostentativer Zurschaustellung von Macht und Reichtum geprägt, sondern „durch Wertmuster wie vernünftige Haushaltsführung, Sparsamkeit, Fleiß und Arbeit“.27 Mit Einsetzen der Aufklärung bekamen bürgerliche Ehrauffassungen, die mit den dominierenden adligen Ehrvorstellungen in eine zunehmende Konkurrenz traten, einen neuen Schub. Die überwiegend auf die gottgegebene Statusposition fixierte Ehrvorstellung der Aristokratie erschien angesichts des allmählich stärker werdenden Einflusses des aufklärerischen Vernunftbegriffs als zunehmend irrational und geriet unter einen immer heftiger werdenden Rechtfertigungsdruck. Unter dem Eindruck radikal-protestantischer Strömungen wie dem Puritanismus ab dem 16. und dem Pietismus ab dem 17. Jahrhundert beschleunigten sich die ohnehin schon bestehenden Innerlichkeits- und Individualisierungstendenzen der bürgerlichen Ehrauffassung noch zusätzlich. Eine tugendhafte, moralisch einwandfreie Lebensführung bildete fortan das Rückgrat der bürgerlichen Ehre; wer sein Leben nach den Maximen bürgerlicher Ehrauffassungen einzurichten vermochte, konnte mit einem hohen Maß an sozialer Anerkennung bei den anderen Bürgerlichen rechnen. Der Rationalismus sorgte auch für eine rechtliche Abfederung des bürgerlichen Ehrbegriffs. So begann man zwischen naturrechtlich und in zunehmendem Maße konstitutionell garantierter Ehre, die jedem Menschen, also auch etwa Juden und anderen Nichtchristen, zukam

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Ebd., S. 54. Ebd., S. 56.

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und nicht beschnitten werden konnte, sowie bürgerlichen Ehrenrechten zu unterscheiden, die etwa bei Rechtsbrüchen entzogen werden und beispielsweise die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit einzelner Personen erheblich beeinträchtigen konnten. Diese naturrechtliche Ehre war also nicht mehr exklusiv an das stratifikatorische Mantra geburtsrechtlich garantierter ungleicher Distribution gebunden, und schon an diesem Gesichtspunkt wird deutlich, dass in dieser Zeit die einstmals dominante, rein statuspositional determinierte „Ehre den Status als konstitutives Medium“ zu verlieren begonnen hatte und „zumindest partiell durch die erworbene Position in verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen und Feldern abgelöst“28 wurde. Ehre war also nicht mehr länger etwas, mit dem man sich einfach abfinden musste, sondern sie wurde gleichsam in der Art einer akkumulierbaren Ersatzwährung „zum Mittel persönlicher Auszeichnung, was es wiederum ermöglicht[e], an das Ehrbewußtsein des Einzelnen zu appellieren und ihn oft besser als über Geld oder Macht zu bestimmten Aktivitäten zu motivieren.“29 Es liegt also nahe, einen Zusammenhang zwischen diesem neuartigen, individualisierten Ehrkonzept und den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien der sich neu formierenden Funktionssysteme zu vermuten, insbesondere außerhalb der originären Teilbereiche von Wirtschaft und Politik. II.1.2 Die Multifunktionalität der Literatur der Gelehrtenrepublik im Spiegel der Monats=Gespräche und der Höchstnöthigen Cautelen Gemeinhin wird in der systemsoziologisch ausgerichteten Literaturwissenschaft der Abschluss des Prozesses der Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation auf die Zeit um das Jahr 1800 datiert.30 Zwar gab es Ende des 17. Jahrhunderts, also rund 100 Jahre vor dieser epochalen Wendemarke, bereits erste auf eine Autonomisierung der Literatur hinauslaufende Tendenzen, diese erlauben es unseres Erachtens jedoch nicht, schon zu diesem Zeitpunkt von einem vollwertigen Literatursystem zu sprechen. Die Produktion und poetologische Reflexion literarischer Werke war noch fest in das Räderwerk multifunktionaler Kommunikation eingebunden, was sich vor allem darin manifestiert, dass die zeitgenössischen Funktionsbestimmungen von Literatur zumeist mehrere der Teilsystemreferenzen der späteren funktional ausdifferenzierten Gesellschaft auf sich vereinigen. Die Arbeiten des Christian Thomasius bilden da keine Ausnahme. Exemplarisch hierfür sind folgende Passagen aus den Monats=Gesprächen selber sowie dem achten Kapitel der Höchstnöthigen Cautelen, in denen Thomasius über Ebd., S. 57. Ebd., S. 57. 30 Siehe u.a. G. Plumpe: Epochen moderner Literatur [1995], S. 60. Vgl. auch S.J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur [1989], S. 409 sowie F. Lay: Die Macht der Systeme und die Funktionen von Literatur, S. 98ff. 28 29

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zwanzig Jahre nach der erzwungenen Einstellung der Zeitschrift versucht, dem Wesen von Poesie und Literatur auf den Grund zu gehen. Zunächst einmal attestiert Thomasius im fünften Abschnitt der Cautelen der kontemporären Dichtkunst eine reine Unterhaltungsfunktion, die er angesichts der künstlerischen Größe antiker Vorbilder offensichtlich als Merkmal kultureller Verflachung deutet. Zeichnete sich die antike Dichtkunst noch durch die bekannte horazische Doppelfunktion von ‚delectare‘ und ‚prodesse‘ aus, sei nunmehr nur noch das Element oberflächlicher Belustigung virulent, das den Ansprüchen gebildeter oder gar gelehrter Leser nicht mehr genügen könne: Wie nun also die Lesung der Poeten in Ansehen derer Alten nicht ohne Nutzen war, so ist in Ansehen des heutigen Versemachens der Nutzen davon nicht sonderlich, und bleibet nichts übrig, als eine Belustigung, die sich vor einen Liebhaber der Weißheit nicht wohl schicket.31

Auch im ersten Heft der Monats=Gespräche lässt Thomasius seine Figur des weltgewandten Kaufmanns Christoph betonen, der Nutzwert des Romangenres liege ausschließlich in der „Belustigung“32 der Leser. Diese Diagnose einer funktionalen Atrophie der Dichtkunst hatte allerdings auch Vorteile. Sie gestatte nämlich eine klarere Abgrenzung von Wissenschaft und Literatur. Im 27. Abschnitt führt Thomasius denn auch aus, dass man Diskurse, „die zu Untersuchung der Wahrheit“ dienten, eindeutig „der Logicke und der Disputatione“, also der gelehrten Wissenschaft zurechnen könne, während er der schönen Literatur erneut unterstellt, vor allem „aus allerhand Erfindungen [zu] bestehen, die den Leser belustigen und aufmercksam machen sollen.“33 Letztlich aber ließ sich angesichts des gerade erst allmählich einsetzenden Ausdifferenzierungsprozesses in der Gesamtgesellschaft diese zunächst erstaunlich fortschrittlich anmutende These einer Monofunktionalität der zeitgenössischen Literatur nicht wirklich durchhalten. Was sich im oben zitierten fünften Abschnitt in den Begriffen der „Weißheit“ und des „Nutzens“ lediglich angedeutet hatte, erfährt schließlich im 13. Abschnitt der Cautelen eine konzeptionelle Präzisierung: Mit der Kunst zu dichten aber hat es eine ganz andere Beschaffenheit. Diese hat ihren unstreitigen Nutzen, um der Schwachen willen, welche die heilsamsten und zum Studio der Weißheit gehörigen Wahrheiten eher vertragen können, wenn sie in allerhand Erfindungen und Gedichte gleichsam eingehüllet seyn, als wenn sie nacket und bloß ihnen vor die Augen geleget werden.34

C. Thomasius: Höchstnöthige Cautelen, S. 149f. C. Thomasius: „[Gespräch I] [1688]“, S. 22. 33 C. Thomasius: Höchstnöthige Cautelen, S. 156 34 Ebd., S. 152 31 32

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Vormoderne literarische Kommunikation richte sich also an lesekundige, aber nicht notwendigerweise gelehrte Akteure, denen man geistige Erkenntnisse nicht in der trockenen Form pedantischer Schulfüchsereien vorsetzen könne, sondern die man nur dann wirklich erreiche und zum psychischen Dabeibleiben bringen könne, wenn man diese wissenschaftlichen (oder auch politischen) Wahrheiten in angenehme literarische Fiktionen kleide, was Thomasius dazu bewog, im ersten Jahrgang seine Rezensionen in Gestalt fingierter Gespräche abzufassen, in denen unterschiedliche Standpunkte auf amüsante Weise durchgespielt werden konnten, ohne dass der Verfasser selbst seine eigene Meinung offen preisgab. Genau der gleiche Gedankengang der Vermittlung buchkritischer Einsichten auf dem Umweg über fiktionale Textformen findet sich in hochkondensierter Form auch in der von Thomasius in den Monats=Gesprächen vertretenen literaturkritischen Programmatik wieder, in der er verspricht, „die herbe Wahrheit mit einer Satyrischen Schreib-Art verzuckern“35 zu wollen, um auf diese Weise „zu Divertirung des Lesers“36 beizutragen. Thomasius begreift die Buchkritik – hier in ihrer satirischen Spielart – also nicht nur als „auff eine Comische Weise“37 zu bewerkstelligende „Zeit=verkürzung“38 bzw. „Belustigung“39 der Leser, sondern überdies als probates Mittel der pädagogischen Vermittlung wahrheitsfähigen Wissens um literarische Phänomene an ein hinreichend gebildetes Publikum auch außerhalb der relativ isolierten Gelehrtenkreise. Damit weist er der Buchkritik neben der Hauptfunktion der Unterhaltung auch die Aufgabe der Popularisierung mühsam erworbener scholastischer Erkenntnisse zu. Diese Haltung speist sich aus der ebenfalls bereits in den Monats=Gesprächen anklingenden Überzeugung, „daß weder die allein lustigen / noch die allein nützlichen Bücher / sondern diejenigen / so zugleich nützen und belustigen / den Preiß für alle anderen meritiren.“40 Für einen literarisch interessierten Gelehrten wie Thomasius war es offensichtlich unerträglich, sich mit einer bloß kurzweiligen Literatur abzufinden, und der Gedanke an die Möglichkeit einer niveauvollen, rein literarisch wertvollen Unterhaltung war ihm noch fremd. Den gesellschaftlichen Zweck von Literatur sah Thomasius mithin in einer Art gelehrten Edutainments, und die schönen Künste dienten seiner Auffassung nach nicht mehr lediglich als „Beitrag zur Erbauung am Hof oder als Gottes- oder Fürstenpreis“41, sondern in erster Linie dazu, auf eine unterhaltsame Weise der Erziehung nützliche Wahrheiten zu kommunizieren. Daran wird deutlich, dass sich Thoma-

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C. Thomasius: „[Vorrede] [1689]“, S. 15. C. Thomasius: „A Messieurs Monsieur Tarbon Et Monsieur Bartuffe [1688]“, unpag. C. Thomasius: „Erklärung des Kupfer=Titels [1688]“, unpag. Ebd., unpag. Ebd., unpag. C. Thomasius: „[Gespräch I] [1688]“, S. 40f. F. Lay: Die Macht der Systeme und die Funktionen von Literatur, S. 83.

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sius beim Versuch einer Wesenbestimmung des Poetischen bzw. Literarischen nicht mehr vornehmlich an den althergebrachten Schichtsystemen der stratifizierten Gesellschaft orientiert, sondern bereits an den sich allmählich herauskristallisierenden Funktionssystemen, deren Entstehung sich neuer Umweltbedingungen wie der zunehmenden Lesefähigkeit, der wachsenden Freizeit sowie kommunikationstechnischer Innovationen wie der des Buchdrucks verdankte. Wir nehmen das zum Anlass, im Folgenden hauptsächlich die Einbettung der Buchkritik in bereits als funktional und intersystemisch erkennbare Zusammenhänge zu beschreiben – was natürlich keineswegs etwa bedeutet, dass die Ordnungseffekte des stratifikatorischen Differenzierungstyps keine Rolle mehr spielten. Diese werden, wie wir noch sehen werden, gerade in der progressiven und vorkämpferischen Art und Weise, in der Thomasius den Ehrbegriff verwendet, deutlich sichtbar. Thomasius’ triadische Funktionsbestimmung der zeitgenössischen Literatur, die ihn insbesondere hinsichtlich des Unterhaltungsaspekts in Gegnerschaft zur „schädliche[n] und schändliche[n] Pedanterie“42 der orthodoxen Scholastik bringt, gibt sich auch auf den Titelblättern der einzelnen Hefte der Monats=Gespräche zu erkennen. Die in der Zeitschrift mitgeteilten „Gedancken“ sollen „schertz= und ernsthafft, vernünftig und einfältig“ (1688), die rezensierten „fürnehmlich aber Neuen Bücher und Fragen“ sollen „lustig und nützlich“ (1688) bzw. „Freymüthig, Jedoch Vernunfft= und Gesetzmäßig“ sein (ab 1689). Nur im Dienste von „Warheit und Tugend“ sowie zum Zwecke einer pädagogisch wünschenswerten „Ausbesserung des Verstandes und Willens“ ist Thomasius bereit, ein gewisses Maß an Pedanterie zu tolerieren, wobei allerdings „dasjenige / welches zu dem decoro, und einer zuläßigen Belustigung gezehlt werden mag“, nicht übergangen werden soll, sofern er „dazu Gelegenheit bekomme“.43 Natürlich ist diese funktionale Dreistelligkeit symptomatisch für den noch relativ niedrigen Grad der Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation im ausgehenden 17. Jahrhundert. Scholastische Wissenschaft, Pädagogik und schöne Künste konstituierten zu diesem Zeitpunkt noch einen relativ festen diskursiven Zusammenhang, für den sich in der zeitgenössischen Semantik der paradigmatische Begriff der ‚Gelehrtenrepublik‘ eingebürgert hatte, zu deren Vorläuferinnen die höfischen Akademien zu rechnen sind und für die Schriftlichkeit bereits zum Normalfall geworden war. Differenzierungstheoretisch ließe sich das die Gelehrtenrepublik konstituierende, systematisch aufeinander bezogene Verhalten von Gelehrten, Erziehern und Künstlern, wenn man das nichtfunktionalistische Erkenntnisinstrumentarium der Bourdieu’schen Feldsoziologie heranzöge, als noch nicht weiter ausdifferenziertes Feld gelehrter Kulturproduktion fassen, das über einen nur schwach ausgeprägten Brechungseffekt verfügte und daher gegen feldexterne – insbesondere politische und religiöse Interventionen – nur unzureichende Immunität aufzu-

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C. Thomasius: „An den Leser [1690]“, S. 8. Ebd., S. 8.

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bringen vermochte, bis es dann schließlich vom intellektuellen Feld abgelöst wurde. Für die hier zugrunde gelegte systemsoziologische Perspektive schlagen wir vor, von ‚multifunktionaler gelehrter Kommunikation‘ zu sprechen. Die Hochspezialisierung in Gestalt der autonomen strukturdeterminierten Funktionssysteme Wissenschaft, Kunst und Erziehung, die arbeitsteilig mithilfe diverser Subsysteme für Wissenszuwächse, Unterhaltung und Bildung sorgen, steht noch aus, aber Ansätze hin zu funktionaler Differenzierung bahnen sich bereits an, vor allem in Religion und Politik, aber eben auch anderswo, etwa in der Gelehrtenwelt, sodass man mit Gustav Seibt die Gelehrtenrepublik als „eine Übergangsform zur modernen literarischen Öffentlichkeit“44 unserer Tage ansehen kann. Das hier hinzugefügte Adjektiv ‚multifunktional‘, auf das wir der Einfachheit wegen im weiteren Verlauf weitgehend verzichten wollen, soll dem Missverständnis vorbeugen, dass es sich bei der gelehrten Kommunikation des ausgehenden 17. bzw. 18. Jahrhunderts um ein vollständig autonomes Teilsystem der modernen funktional differenzierten Gesellschaft handele, und betont stattdessen die beschriebene funktionale Verflechtung innerhalb des Feldes der Kulturproduktion, das sich orthogonal zur schichtmäßigen Differenzierung bereits etabliert hatte, zunächst aber nur den adligen und bürgerlichen Strata echte Inklusionsmöglichkeiten bot. Die interne, sich schon an der Erfüllung spezifischer Funktionen entzündende Binnendifferenzierung multifunktionaler gelehrter Kommunikation schlagen wir vor, mittels der Begriffe der protowissenschaftlichen sowie protoliterarischen Kommunikation zu erfassen, sofern diese Trennung dem Erkenntnisinteresse der Arbeit zuträglich scheint.45 So lässt sich dann etwa sagen, dass die poetologische Kommunikation der Vormoderne die Reflexion der protoliterarischen Kommunikation aus der Produzentenperspektive besorgt und das Wissen über Literatur erzeugt, speichert und verwaltet. Bildhaft lässt sich das von Thomasius beobachtete funktionale Ineinandergreifen von Wissenschaft, Literatur und Erziehung vielleicht am besten mit siamesischen Drillingen vergleichen. Die Komponenten der Gelehrtenrepublik teilen sich einen gemeinsamem Blutkreislauf und bilden somit einerseits ein untrennbares Ganzes. Andererseits geben sie aber auch schon den Blick auf drei deutlich unterscheidbare körperliche Gestalten frei und lassen die im Verlauf des 18. Jahrhunderts erfolgende Ausdifferenzierung in funktionale Teilsysteme bereits erahnen. Geklammert wird diese noch junge, frühaufklärerische ‚République des lettres‘ von der exklusiv auf ihrem Territorium dominierenden humanistischen Vorstellung der universalen Zuständigkeit des Intellekts in allen Geistes- und Kulturangelegenheiten, in der

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G. Seibt:. „Sehr erprobte Formen [1997]“, S. 11. Auch Frank Lay betont, dass „vor dem 18. Jahrhundert nicht von literarischer Kommunikation gesprochen werden [könne], sondern eher von einer Protoform ebendieser.“ F. Lay: Die Macht der Systeme und die Funktionen von Literatur, S. 85 u. S. 88.

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die Gelehrtenrepublik die Einheit ihrer Differenz findet. Gelehrte Kommunikation kulminierte dabei in der programmatischen Formel vom ‚Adel des Geistes‘ und verstand sich als Pendant zum ‚Adel des Blutes‘ der politisch herrschenden Aristokratie, nicht aber schon als deren ausdrückliche Gegenspielerin. Wenden wir uns aber nun der Sachbücher ebenso wie literarische Werke in den Blick nehmenden Buchkritik zu, die wir als festen Bestandteil der Selbstreflexion gelehrter Kommunikation begreifen. II.1.3 Buchkritik und Ehrsemantik – Reputation als gelehrtes Substitut für Standesehre Eine der Eigentümlichkeiten gelehrter Kommunikation, die Thomasius in der letzten Ausgabe des zweiten Jahrgangs der Monats=Gespräche erwähnt, ist vor allem angesichts der Tatsache, dass Stratifikation Ende des 17. Jahrhunderts noch die primäre Differenzierungsform der Gesellschaft darstellte, besonders auffallend, denn sie berührt fundamental den Problemkreis der Gültigkeit und Akzeptanz althergebrachter gesellschaftlicher Hierarchien und ihrer sozialen Erscheinungsformen. In einer vielzitierten Textpassage, die der Dezember-Ausgabe des Jahrgangs 1689 entnommen ist, heißt es bezüglich der spezifischen Kennzeichen der Gelehrtenrepublik, die mit ihren drei Schwerkraftzentren Wissenschaft, Literatur und Erziehung sozusagen einem Mehrfachsternsystem gleicht: Die Respublica literaria hat mit denen andern Rebuspublicis wenig Gemeinschafft / sondern sie ist der Societati maximæ gentium quà talium nicht ungleich. Sie erkennet kein Oberhaupt / als die gesunde Vernunft / und alle diejenigen / die darinnen leben / sind einander gleich / sie mögen von was Nationen oder Stande seyn was sie wollen. Denn sie haben alle gleiche vota in denen affairen, die diese grosse Societät angehen. Ja die vota können hier nicht gezehlet / sondern sie müssen allemal nach dem Maßstab gesunder Vernunfft abgemessen / und in der Wage des allen Menschen gemeinen Verstandes abgewogen werden.46

Weder die konventionelle ständische Ehre noch die Nationalität sollen also innerhalb der durch und durch als egalitär konzipierten, die ‚scientific community‘ unserer Tage vorwegnehmenden Gelehrtenrepublik noch von Bedeutung sein und müssen der sanften Macht der Vernunft bzw. des gesunden Menschenverstandes weichen, die allein noch als Richtschnur für das Gewicht dienen soll, das einer bestimmten Äußerung zukommt. Ehrliche und direkte Kritik an einem Autoren und seinem Kulturprodukt solle dabei „ohne Ansehung seines sonst führenden characters“, also unabhängig von der jeweils über die Standeszugehörigkeit eingenommenen Stellung in der sozialen Hierarchie vollzogen werden, „[d]enn indem er sich in ein Handwerck mischt / daß allen Menschen gemein ist / so leget er gleichsam den Politischen character, so er sonst trägt / ab / und erläst gleichsam stilleschweigend

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C. Thomasius: „Beschlus und Abdanckung des Auctoris [1689]“, S. 1149f.

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allen andern Gelehrten die Hochachtung / die sie ihm sonst in Ansehung desselben zu erweisen schuldig waren.“47 Diese auf eine Herauslösung der gelehrten Kommunikation aus der Dominanz der Politik hinauslaufende emanzipatorische Forderung nach einer teilbereichspezifischen Suspension ständischer Ehre innerhalb des diskursiven Einzugsbereichs der Gelehrtenrepublik, die für die bereits in Ansätzen vorhandene Umstellung auf funktionale Differenzierung charakteristisch ist, veranschaulicht Thomasius mittels einer eingestreuten Kurzparabel aus dem Bereich des höfischen Lebens, die deutlich machen soll, dass es ihm, dem Gelehrten, jedoch keineswegs um eine Umwälzung der politischen Verhältnisse selbst geht: Ein Stallmeister bescheidet sich ja wohl des Respects, den er seinen Printzen zubezeigen verpflicht ist; So lange aber derselbe zu Pferd ist / tractiret er ihn mit eben dem rigeur, den er gegen seine andere scholaren gebraucht.48

Es wird also lediglich beansprucht, jede intellektuelle oder künstlerische Leistung – so wie die Reitkompetenz des Prinzen – ohne Ansehung des durch die Standeszugehörigkeit prädeterminierten Sozialprestiges der Person vorurteilsfrei beurteilen zu dürfen, ohne dass eine Negativkritik dabei als Respektlosigkeit bzw. Ehrverletzung aufgefasst wird – selbst dann nicht, wenn der soziale Abstand zwischen Kritiker und Kritisiertem so groß ist wie der zwischen einem absolutistischen Monarchen und seinem lediglich für die Reitausbildung zuständigen Hofbeamten. Gelehrte Kommunikation soll also feldübergreifende statuspositionale Differenzen und die damit traditionell einhergehende ungleiche Distribution von Ehre und Redeanrechten ignorieren – ein Gedanke, den Thomasius, wie wir sehen werden, in den Monats=Gesprächen wiederholt und in verschiedenen Kontexten zum Ausdruck gebracht hat. Dem aufmerksamen Leser springt jedoch schon bei der ersten Durchsicht der weit verstreuten, im engeren Sinne literaturkritischen Artikel der Monats=Gespräche ins Auge, dass sich Thomasius trotz seiner programmatisch geforderten Ausklammerung statuspositional festgelegter ständischer Ehre intensiv aus dem lexikalischen Inventar eben dieses Sinnbezirks bedient hat, der ja zur stratifizierten Differenzierungsform der vormodernen Gesellschaft in einem besonders unmittelbaren Verhältnis der Symbolisierung und Generalisierung von Rangunterschieden stand. Thomasius geizt nicht mit Begriffen, die dieser Sondersemantik entnommen sind: Fortwährend ist die Rede von ‚Respect‘, ‚Würde‘, ‚Ruhm‘, ‚reputation‘, ‚renommee‘ usw. Reichhaltige Verwendung finden aber auch Begriffe, die eher dem Minuspol dieses für hierarchische Gesellschaftsformationen zentralen Sinnbezirks und damit dem negativen Wert des Reputationscodes zuzurechnen sind, wie etwa ‚Schmähung‘, ‚nichtswürdig‘ oder ‚injurie‘. Wenn tatsäch-

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Ebd., S. 1150. Ebd., S. 1150f.

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lich für die gelehrte Kommunikation das radikale Gleichheitsprinzip gelten soll, gleichzeitig jedoch permanent vom Sozialprestige der involvierten Personen gesprochen wird, wirft das natürlich die grundlegende Frage auf, welche Form von Ehre auf diesem Feld denn nun genau zur Disposition stand. Falls wirklich alle urteilenden Stimmen ungeachtet der sozialen Stellung des Kritikers prinzipiell das gleiche Gewicht haben sollen, kann es sich bei den hier zu Tage tretenden sozialen Kräften offensichtlich nicht um die zu jener Zeit noch weitgehend anerkannten und über die Gnade einer hohen Geburt perpetuierten Standesprivilegien der Aristokratie handeln, die ihren Inhabern die Inklusion in die gesellschaftlich dominierenden Interaktionssysteme der Oberschicht gestatteten. Das konventionelle Ehrkonzept des Adels erfährt also eine – allerdings eher implizite – Neubestimmung durch Thomasius, die anscheinend auf die von ihm wahrgenommenen Sonderbedingungen der „Respublica literaria“ zugeschnitten ist. Dabei kommt den von den Buchkritikern vollzogenen Wertungsakten ein entscheidender Part zu. In einer der fiktiven Figur des Herrn Boekelmann in den Mund gelegten Replik lässt Thomasius keinen Zweifel daran, dass es die Buchkritiker seien, die sich durch ihre Rezensionspraxis „zu Richtern aufwerffen von der renommee dererjenigen / die unter den Gelehrten sich einen Nahmen machen wollen.“49 Die buchkritischen Wertungen werden also tatsächlich von Thomasius als Grundlage der Genese spezifisch gelehrter Reputation konzipiert, die das in seiner Statik überkommene Konstrukt hereditärer Standesehre innerhalb der dem Ideal der Meritokratie verhafteten Gelehrtenrepublik ersetzt. Die gelehrte Kommunikation bietet somit ein Spielfeld, auf dem sich ehrgeizige Kulturproduzenten – seien sie Gelehrte oder Literaten oder beides – austoben und sich durch Eigenleistungen ‚einen Nahmen machen‘ können, wie Thomasius es unmissverständlich ausdrückt. Deutlich erkennbar wird hier die Nähe zur eingangs beschriebenen bürgerlichen Ehrkonzeption mit ihrer charakteristischen Leistungsideologie. Weiter illustriert wird diese neuartige, partikularistische Ehrauffassung in einer anderen Textpassage, in der Thomasius sein provozierendes buchkritisches Unterfangen vor dem Hintergrund der kontemporären stratifizierten Gesellschaftsformation argumentativ zu begründen versucht. Dabei fordert er erneut ein völliges Außerkraftsetzen der herkömmlichen statuspositionalen Unterschiede für den Sonderbereich gelehrter Kommunikation50

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C. Thomasius: „[Gespräch II] [1688]“, S. 248. Damit schwingt sich Thomasius allerdings keineswegs etwa zum unfügsamen oder gar subversiven Revolutionär auf, denn sowohl in seiner vorangestellten Widmung an seinen Souverän, den sächsischen Kurfürsten, als auch in der hier zitierten Passage spart er nicht mit der damals üblichen respekterweisenden Dedikationsrhetorik, d.h. er „stellt die politische Hierarchie nicht in Frage“. (F. Grunert: „Von polylogischer zu monologischer Aufklärung“, S. 23.) Seine Perspektive ist also eher die eines in den Monats=Gesprächen politisch desinteressiert auftretenden Diagnostikers gelehrter Werke.

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und propagiert überdies eine Ersetzung der althergebrachten ständischen Ehre durch eine Art gelehrten Wahrheits- und Vernunftkultus, wenn er schreibt: Und also hoffe ich / meine in denen Schertz= und freymüthigen Gedancken gefällte freye Judicia genugsam justificiret zuhaben / und bin ich nach dieser Bewandniß weiter nichts zu verantworten schuldig / als wenn man darthun kann / dass ich darinnen wieder die Warheit angestossen / und die Sache anders als sie an sich selbsten vorgestellet habe; massen ich denn auch dißfalls mich gar willig und gerne der censur eines jeden vernünfftigen Menschen unterwerffe / und gehörige Ehrerbietung unserer gemeinen Königin der Vernunfft allezeit zu erweisen bereit bin; und wenn sich dieselbige hierinnen auch eines sonst verachteten Menschen / ja eines kleinen Kindes Person mir meine Fehler zu zeigen bedienen wollte / nicht anders / als ich den Befehl meines Fürsten mit Unterthänigsten Respect anzunehmen mich verpflichtet erachte / wenn mir derselbige auch durch den geringsten sclaven hinterbracht würde.51

Die den Weg zur Wahrheit weisende Vernunft soll also gewissermaßen an die durch die geforderte Suspension ständischer Ehre im Gelehrtensektor vakant werdende Stelle des absolutistischen Regenten als Ersatz-‚Königin‘ treten. Die Verehrung der Gelehrten richtet sich gewissermaßen nicht mehr länger nur auf einen Monarchen, der seine Position der Gnade einer hohen Geburt verdankt, sondern auch auf einen generalisierten Wert, der allen an gelehrter Kommunikation partizipierenden psychischen Systemen ‚gemein‘ ist, nämlich auf die zunächst abstrakte und überpersönliche Vernunft, die gewissermaßen die ‚illusio‘ des gelehrten Feldes abgibt. Nur durch den Gebrauch der allgemeinmenschlichen Vernunft ist es den Gelehrten möglich, sich auszuzeichnen, also spezifisch gelehrte und personal zurechenbare Reputation zu erlangen, solange nur Alter die Kommunikationsofferten Egos auch als vernünftig erlebt und bewertet. Das Medium der Ehre erfährt durch diesen Konnex mit erwerbbarer Reputation eine entscheidende Transformation, die sich in Zeiten der Umstellung auf funktionale Differenzierung insofern bewährt, als sie, im Gegensatz zur orthodoxen Standesehre, durch das Ausschalten des Geburtsprivilegs niemanden mehr prinzipiell (wohl aber faktisch) exkludiert. Gleichzeitig geht das in der Formationsphase befindliche Wahrheitsmedium der modernen Wissenschaft auf dem Umweg über die Vernunft eine strukturelle Allianz mit einer modifizierten, an die spezifischen Charakteristika der Gelehrtenrepublik angepassten und bis dato völlig neuartigen Mutation des Ehrmediums ein – ein medialer Zusammenschluss, der sich bis heute in der sekundären Codierung des Wissenschaftssystems zeigt, über die Einheit der drei Funktionen der gelehrten Kommunikation jedoch auch eine Verbindung von Reputation und Literatur herstellt, was natürlich den Verdacht erhärtet, dass sich die literarische Kommunikation der funktional differenzierten Gesellschaft in der Tat ebenfalls über Reputation organisiert. Mit dieser Dynamisierung und Teilauslagerung des Ehrbegriffs von der vertikalen auf die horizontale Ebene wurde die Möglichkeit 51

C. Thomasius: „Beschlus und Abdanckung des Auctoris [1689]“, S. 1151f.

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geschaffen, Ehre als Kommunikationsmedium ins Zeitalter funktionaler Differenzierung hinüberzuretten. Tatsächlich ist die von Thomasius geschilderte Ehrauffassung trotz ihrer Nähe zum bürgerlichen Ehrkonzept nicht mehr an die Standeszugehörigkeit gebunden, sondern nur noch an die im Rahmen des funktionalen Zusammenhangs gelehrter Kommunikation gezeigten, personal attribuierbaren Leistungen. Offensichtlich ließ sich auf die Installierung eines partikularisierten Ehrkonzepts auch deshalb nicht verzichten, weil Thomasius der gelehrten Kommunikation einen niedrigen Institutionalisierungsgrad attestiert, wenn er in der bereits mehrfach erwähnten Dezember-Ausgabe des zweiten Jahrgangs vom Fehlen eines die Gelehrtenrepublik beherrschenden ‚Oberhaupts‘ spricht. Gerade diese Absenz einer obersten Schiedsinstanz mit der Befähigung zu klarer Grenzziehung zwischen legitimer Wissenschaft und Scharlatanerie bzw. zwischen Literatur und Schund wird hier im Rahmen der Selbstbeschreibung gelehrter Kommunikation nachdrücklich artikuliert. Das durch die geforderte Aussetzung der tradierten Leitdifferenz oben/unten in der Gelehrtenwelt entstandene Machtvakuum, das eine erhebliche Komplexitätssteigerung in Gestalt einer deutlich höheren Zahl kommunikativer Zugmöglichkeiten mit sich brachte, machte es offenbar notwendig, eine neue, weichere Form der Hierarchisierung einzuführen, die nicht mehr auf dem adligen Geburtsprivileg fußte, sondern die individuelle Leistungsbereitschaft von Wissenschaftlern und Künstlern einbezog und insofern in weitaus stärkerem Maße veränderlich war. Verschärft wurde das Problem der Komplexitätssteigerung auch noch in einer anderen Hinsicht. Aus der von Thomasius im Kontext der Erörterung seines buchkritischen Vorhabens geforderten Einebnung konventioneller Machtasymmetrien ergab sich zusätzlich die Konsequenz, dass der Weg für eine – im Vergleich zur äußerst restriktiv gehandhabten Oberschichtkommunikation – deutliche Expansion der symbolisch generalisierten Interaktionsfähigkeit bereitet wurde, die prinzipiell breiteren Schichten die Möglichkeit der Teilhabe am wissenschaftlich-künstlerischen Kommunikationskomplex erlaubte, als dies zuvor insbesondere für den Bereich der Politik galt. Eine wesentlich größere Anzahl von Bewusstseinssystemen war also fortan in einer Position, sich von gelehrter Kommunikation und ihren populärwissenschaftlichen Ablegern perturbieren zu lassen und die eigene Leistungsfähigkeit, etwa die Wahrnehmung oder die gedankliche Verarbeitung von Texten, in den Dienst dieses Kommunikationstypen zu stellen. Das führte natürlich zu einer gewaltigen Ausweitung der Fähigkeit zur Produktion neuer Informationen und verlangte nach neuen komplexitätsreduzierenden Mechanismen, ohne deren feste Etablierung die gelehrte Kommunikation ihre Führung zwangsläufig eingebüßt hätte. Nichtständische Reputation, die sich sozusagen von der bereits existenten adligen Ehrvorstellung abspaltete, bot sich da evolutionär als Ordnungsfaktor geradezu an und half dabei, die Verarbeitungskapazität des drei Hauptfunktionen erfüllenden Diskurses der Gelehrtenrepublik entscheidend zu erhöhen.

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Wie wir gesehen haben, war es Thomasius trotz seines „gegen Titulierungen und äußere Ehren“52 gerichteten radikalen Egalitarismus in Geistesangelegenheiten nicht möglich, die gelehrte Kommunikation konsequent als völlig vom Medium der Ehre unberührte Sinnprovinz zu denken. Zwar sollte die mit Machtpotenzialen aufgeladene ständische Ehre in der Gelehrtenrepublik ihren Einfluss verlieren, an ihre Stelle trat aber eine andere, zunächst abstrakte und nichthereditäre Form der ‚Ehrerbietung‘ – nämlich die, die man eben der ‚gemeinen Königin der Vernunfft‘ entgegenbringt. Damit wird die zentrale Verbindung zwischen dem Medium der Ehre und der kritischen Urteilskraft hergestellt: Die Ehre eines gelehrten Kulturproduzenten – d.h. seine intellektuelle bzw. künstlerische Reputation – muss erkämpft und verteidigt werden, und das kann nur geschehen, indem man die auf Vernunftbasis operierenden, an gelehrter Kommunikation partizipierenden psychischen Systeme intellektuell überzeugt, so dass sie mittels positiver Wertungsakte eine bereichsspezifische, personal zurechenbare und eben nicht nur überpersönliche Autorität erzeugen können, die angesichts der zunehmenden Informationslasten im Feld der Kulturproduktion nach und nach unverzichtbar wurde. Martin Mulsow spricht bezeichnenderweise davon, dass der seitens des Thomasius-Kreises unternommene „Versuch, zu einer autoritätsfreien Wahrheitsfindung zu kommen“, paradoxerweise „so erfolgreich war, dass er haufenweise eigene Autoritätsformen hervorgebracht“ habe.53 Die Installation des Reputationscodes durch die gelehrte Kommunikation im ausgehenden 17. Jahrhundert darf man wohl als eine solche Autoritätsform betrachten. II.1.4 Buchkritik und Konfliktsysteme: Deeskalation durch Entpersonalisierung Trotz wiederholt artikulierter Forderungen nach einer radikalen Gleichbehandlung aller an gelehrter Kommunikation partizipierenden personalen Systeme, die dem Wort des nach traditionellen Maßstäben vollkommen ehrlosen ‚sclaven‘ das gleiche Rederecht einräumten wie allen übrigen Kommunikationspartnern, solange deren Beurteilungen nur ‚genugsam justificiret‘, also als wahrheitsfähig gelten konnten, war die Publikationsgeschichte der Monats=Gespräche von heftigen Kontroversen begleitet, die schließlich nach nur zwei Jahren Laufzeit 1690 zur Einstellung des ersten offen wertenden buchkritischen Journals in deutscher Sprache führten. Offensichtlich war die alteuropäische Gesellschaft des ausgehenden 17. Jahrhunderts noch nicht bereit, die von Thomasius im Namen der alles überstrahlenden Vernunft postulierte Trennung von allgemeinem, statuspositional determiniertem Sozialprestige und akkumulierbarer, spezifisch gelehrter Reputation zu M. Mulsow: „Literarisches Feld und philosophisches Feld im Thomasius-Kreis“, S. 109. 53 Ebd., S. 109. 52

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akzeptieren, denn ungeachtet aller anderslautenden Beteuerungen wurden die Negativkritiken in den Monats=Gesprächen eben doch vielfach als persönliche Beleidigung und Ehrverletzung wahrgenommen und ließen dementsprechend parasitäre Konfliktsysteme entstehen, vor deren Konsequenzen sich Thomasius anscheinend zu schützen suchte, indem er im ersten Heft vom Januar 1688 noch eine fiktive Verfassergemeinschaft, die ‚Gesellschafft derer Müßigen‘ und ab dem zweiten Heft des ersten Jahrgangs einen ebenfalls fiktiven Einzelverfasser als verantwortlichen Herausgeber des Journals erwähnte. Erst mit Erscheinen des zweiten Jahrgangs 1689 trat Thomasius aus seiner Anonymität heraus und gab sich als Verantwortlichen zu erkennen. Auch verzichtete er fortan auf die Form des fiktiven Gesprächs und nannte die Titel der besprochenen Werke bereits im Titel der Rezensionen. Seitens Thomasius kam es vor dem Hintergrund der offensichtlich nur geringen Annahmewahrscheinlichkeit seiner buchkritischen Kommunikationsofferten wiederholt zu Versuchen der Eindämmung jener Konflikte, die vor allem auch deshalb von Interesse für uns sind, da sie die grundlegenden Diskrepanzen zwischen dem erstmals artikulierten Verlangen nach einer freien, wirklich wertenden und nicht kränkenden Buchkritik und den tatsächlichen Erwartungsstrukturen der Gesellschaft freilegen. Natürlich sollte eine systemtheoretisch inspirierte Analyse jener Konflikte die kommunikationstechnischen Rahmenbedingungen der damaligen Epoche berücksichtigen. Die Veröffentlichung der Monats=Gespräche und damit die Initialphase der deutschsprachigen Buch- und Literaturkritik fällt in eine Ära, in der die Erfindung des Buchdrucks langsam beginnt, sich stärker bemerkbar zu machen. Immerhin stieg die Anzahl der pro Jahr veröffentlichten Bücher von ca. 1.500 Titeln im 16. Jahrhundert auf ungefähr 2.650 Werke im 17. Jahrhundert, wobei der Anteil der schönen Literatur, die wiederum nur einen Teil der gelehrten Kommunikation repräsentiert, um die 5 Prozent, also bei gut 130 jährlichen Neuerscheinungen lag.54 Diese recht ansehnliche Zunahme des Informationsvolumens führte natürlich zu einer immer stärker spürbaren Erhöhung des Selektionsdrucks innerhalb der gelehrten Kommunikation. Selbst dem eifrigsten Polyhistoren war es zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr wirklich möglich, einen persönlichen Überblick über die jährlich neu erscheinenden Buchtitel zu behalten. Daher ist es wohl kein Zufall, dass sich gerade zu dieser Zeit das moderne Rezensionswesen aufzustellen begann. Die auf die Technologie des Buchdrucks zurückgehenden Veränderungen in den verbreitungsmedialen Umweltbedingungen gelehrter Kommunikation sind von Thomasius in den Monats=Gesprächen auch durchaus hellsichtig mitreflektiert worden. In der Februar-Ausgabe des Jahres 1688 beweist Thomasius einen geschärften medienhistorischen Blick, dem nicht entgeht, dass der Buchdruck einen entscheidenden Einfluss auf die meist in Satireform hervorgebrachte Buchkritik der gelehrten Kommunikation aus-

54

Siehe J. Schneider: Sozialgeschichte des Lesens, S. 53.

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übte und dabei neue Komplikationen aufwarf, die sich allerdings weniger auf den gestiegenen Umfang der Buchproduktion bezogen. In der Vormoderne, so der Befund, war „die Druckerey noch nicht im gebrauch / und wurden also die geschrieben Satyren nicht von iedermann gelesen / sondern es communicirten die Verfertiger derselben solche ihren guten Freunden / und kriegten also diejenigen / die mit Nahmen in selbigen angezwackt waren / [...] die Satyren gar nicht zusehen“.55 Buchkritik konnte daher auch nicht als ehrenrührige Herabwürdigung Anstoß nehmen, denn sie verblieb im Allgemeinen innerhalb fester Freundeszirkel, sodass die Unterstellung bösartiger Motive die Ausnahme bleiben konnte. Die durch die Technik der nichthandschriftlichen Reproduktion von Texten hervorgerufene, allmählich spürbare Vervielfachung der Reimprägnierungsmöglichkeiten und die damit einhergehende, graduelle Zunahme des Informationsvolumens gelehrter Kommunikation versucht Thomasius argumentativ dahingehend auszuschlachten, schlummernde Konfliktpotenziale unter den buchkritisch Tätigen seiner Zeit herunterzuspielen und so etwas wie eine friedliche Koexistenz unter den verschiedenen Fraktionen der Buchrezensenten einzuklagen, die er mit dem Hinweis darauf rechtfertigt, „daß man / in Schreibung dergleichen Bücher / nicht Ursache habe andere zuverkleinern / weil sie alle ihren Nutzen haben / und möglich ist / daß ein Journal, es möge seyn so gut es wolle / alles begreifen könne / daß nicht andern noch viele Materie übrig bliebe / die gelehrte Welt zubelustigen und Nutzen zuschaffen.“56 Diese gewissermaßen informationstheoretische Argumentationskette, die erneut einen klaren Bezug zu den drei bekannten funktionalen Polen der gelehrten Kommunikation zu erkennen gibt, ließ sich aber selbstverständlich nicht auf das wesentlich empfindlichere Verhältnis von Autoren und wertenden Buchkritikern mit ihren querlaufenden Motiven übertragen. Der Adressatenkreis schriftbasierter Kommunikation erweiterte sich durch die Ausweitung der Lesefähigkeit nämlich ganz erheblich, und das führte dazu, dass man Kritik, wie sie in der relativen Anonymität der handschriftlichen Kommunikation üblich war, nicht mehr in der bekannten Weise handhaben konnte. Zwar ist die Dissenstoleranz schriftlicher Kommunikation durch die räumlich-zeitliche Distanz der involvierten Psychen generell größer als die von Interaktionssystemen, aber Negativkritik schmerzt auch dann, wenn sie über den Horizont von Anwesenden hinausgeht. Verbleibt eine negative Beurteilung freilich ohnehin im Dunstkreis eingeschworener Freundeszirkel, so kann sie ohne große Schwierigkeiten sozial prozessiert werden, da ja dem Kritisierten die Negativbewertung gar nicht mitgeteilt wird und insofern in den relevanten Bewusstseinsumwelten die erwartungsstrukturellen Bedingungen für die Etablierung von Konfliktsystemen gar nicht gegeben sein können. In der verbreitungsmedial revolutionären Ära des Mobilletterndrucks verliert der Mitteilende jedoch rasch die Kontrolle über das Adressa-

55 56

C. Thomasius: „[Gespräch II] [1688]“, S. 192. Ebd., S. 235.

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tenfeld. Daher kommt Thomasius an gleicher Stelle auch zu der nachvollziehbaren Schlussfolgerung, dass ein Autor wie Boileau mit seinen bissigen Satiren all das für die Vormoderne zuvor Gesagte „auf sich nicht appliciren kan / weil seine Satyren schon vielfältig gedruckt und also iederman kunt worden.“57 Wer im Rahmen gelehrter Kommunikation, „seine Meinung in Druck eröffnet“, der setze sich eben der Beurteilung durch andere aus, denn gerade „weil er dieselben publiciret / und solcher gestalt der gelehrten Welt gemeine macht“, werde „die allgemeine censur der vernünfftigen Menschen gleichsam provociret.“58 Kulturschaffende und Gelehrte müssten demnach fortan mit „frey und ungekünstelt“59 hervorgebrachter Kritik hinsichtlich der spezifischen Qualität ihrer Veröffentlichungen rechnen und diese auch hinnehmen. Aber genau das taten sie nicht. Die Mehrzahl der von Thomasius veröffentlichten Negativkritiken, die gattungssystematisch vorwiegend in der Form kurzweiliger, auf die Unterhaltungsfunktion zugeschnittener Satiren hervorgebracht wurden, galten den betroffenen Gelehrten und Dichtern keinesfalls als legitime und sachdienliche Beurteilung ihrer Werke bzw. Theorien, sondern sie wurden vielfach „als Schlüsseltexte missverstanden“60 und als persönliche Beleidigungen aufgefasst. Samuel Pufendorf, der dem Projekt der Monats=Gespräche grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber stand, sah sich daher gezwungen, Thomasius auf die Konfliktlastigkeit der satirischen Ausdrucksweise brieflich hinzuweisen: „Darnach so ist wohl die schertzhafte art zu schreiben dem Leser sehr angenehm, aber beißet den so getroffen wird, viel schärffer, als seria censura.“61 Indessen zeigte Thomasius sich nicht unbeeindruckt von solchen Ratschlägen wie demjenigen Pufendorfs. In der ‚Vorrede‘ zur Januar-Ausgabe des Jahre 1689 macht er die satirische Tendenz ausdrücklich für die während des ersten Jahrgangs aufgetretenen Konflikte um seine Zeitschrift verantwortlich und versichert, fortan eine seriösere und gradlinigere Schreibart ohne ironische Seitenhiebe verfolgen zu wollen – nicht ohne sich allerdings durchaus selbstbewusst ein Hintertürchen offen zu halten: Der Schertz und die Satyre, mit der meine vorige Monate versehen gewesen / hat vielen mißfallen / und viele sind auff die Meynung gerathen / als ob ich gar nicht ernsthafftes schreiben könte. Wannenhero ich allbereit im December voriges Jahrs eine Probe gethan / wie mir die Ernsthaffte Schreib-Arth anstehe [...]. Dergleichen ernsthaffte Schreib-Arth bin ich willens dieses Jahr hindurch fortzusetzen / wie ich auch bißher in meinen andern teutschen Schrifften / die meinen Nahmen voran geführet / zu thun gewohnet gewesen / wiewohl ich mir dennoch die Freyheit vorbehalte / nach Unterschied derer Bücher / von welchen ich raisonniren werde / meine Schreib-Art zu verändern [...].62 57 58 59 60 61 62

Ebd., S. 192. C. Thomasius: „Beschlus und Abdanckung des Auctoris [1689]“, S. 1150. Ebd., S. 1150. F. Grunert: „Von polylogischer zu monologischer Aufklärung“, S. 35. S. Pufendorf: „Pufendorf an Christian Thomasius [14.3.1688]“, S. 185. C. Thomasius: „[Vorrede] [1689]“, S. 31f.

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Das Einlenken des Herausgebers und Verfassers der Monats=Gespräche kam freilich zu spät. Die durch die bereits veröffentlichten Satiren verunglimpften und gedemütigten Autoren sahen sich zu einem letztlich erfolgreichen rechtlichen Vorgehen gegen den studierten Juristen Thomasius veranlasst, der 1690 mit einem Lehr- und Publikationsverbot belegt wurde und deshalb von seiner Heimatstadt Leipzig nach Halle übersiedelte. Thomasius seinerseits wurde nicht müde zu beteuern, dass es ihm nicht darum ginge, mittels der Buchrezensionen die Autoren in ihrer Persönlichkeit zu kränken, sondern darum, durch eine neuartige Form der Selbstreflexion zukünftig eine möglichst hohe Qualität der Kulturprodukte der gelehrten Kommunikation zu gewährleisten: Ich weiß ja wohl daß man niemand schimpffen soll. Aber ich weiß auch wohl / daß zu einen injuridischen Worte nothwendig gehöre / daß derjenige so solches vorbringt / die intention haben müsse / den andern dadurch zu verachten / und daß der / der aus befügniß den andern auch von übelstehenden Dingen die Wahrheit zu dem Ende sagt / daß er oder ein anderer sich bessern solle / ohnmöglich für einen Injurianten gehalten werden könne.63

Die hier anvisierte Qualitätskontrollfunktion der Buchkritik, die der allgemeinen Verbesserung der literarisch-wissenschaftlichen Kulturproduktion dienen sollte, war aber anscheinend eher der Wunschtraum eines visionären Gelehrten als ein in den bereits existierenden Erwartungserwartungen der zeitgenössischen gelehrten Kommunikation wurzelnder sozialer Tatbestand. Wer das schöpferische Werk eines Kulturproduzenten zu jener Zeit negativ beurteilte, musste darauf gefasst sein, dass dies als persönlicher Angriff wahrgenommen wurde, da es noch keinerlei Trennung zwischen der Person des Autors, seiner Ehre und den eigenen Werken gab, weshalb man der Tendenz nach bösartige Absichten gleichsam unterstellen musste. Der Verriss eines Werkes, egal in welch feinsinnig ironischer oder sprachlich raffinierter Form er auch mitgeteilt wurde, konnte eben zu jenem Zeitpunkt noch nicht als losgelöst von der umfassenden, d.h. auch außerhalb der engen Gelehrtenzirkel geltenden Ehrbarkeit eines Kulturproduzenten betrachtet werden und berührte die ganze Persönlichkeit des Kritisierten, auch jenseits der ohnehin noch nicht voll etablierten Autorenrolle. Es spricht Bände, dass die ablehnende Resonanz auf die abwertende Buchkritik der Monats=Gespräche vor allem eine juristische war, also gewissermaßen exterritorial erfolgte, denn die zeitgenössische protoliterarische bzw. protowissenschaftliche Kommunikation der Gelehrtenrepublik mit ihrer erst schwach entwickelten Autonomie war auf die Frage nach der Legitimität von Kritik überhaupt noch nicht eingestellt, da sich dieses Problem in einer stratifizierten Gesellschaftsformation mit geringem Informationsaufkommen und ohne gelehrte Öffentlichkeit noch nicht gestellt hatte. Daher konnte auch keine innerintellektuelle Verarbeitung dieser bahnbrechenden selbstreflexiven Beobach-

63

C. Thomasius: „Beschlus und Abdanckung des Auctoris [1689]“, S. 1147f.

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tungsweise zweiter Ordnung erfolgen, die in ihrer Rezeptionsbindung, die eine Reaktion auf die im Zeichen des Buchdrucks zunehmende Asymmetrie der gelehrten Kommunikation war, so ganz anders verfuhr als die tradierte poetologische Reflexion mit ihrer deutlichen Akzentuierung der Produzentenperspektive. Um die Konflikte, die sich bereits um sein Rezensionsorgan rankten, begrenzen zu können, unternahm Thomasius in der Januar-Ausgabe des Jahres 1690 einen letzten, verzweifelten Versuch, sein literaturkritisches Projekt erneut autoreflexiv und ohne die sonst bei ihm übliche, Missverständnisse provozierende Ironie zu hinterfragen und zu erklären. Wenn er dabei gelobt, fortan „nicht wieder die Erbarkeit selbst anstossen“ zu wollen und sich künftig „vor allen ungleichen judiciis, welche die Auctores selbst angehen“, zu hüten; wenn er darüber hinaus zu verstehen gibt, dass er „dannenhero nicht etwa auff jemand schmählen [werde] / wenn er es nicht recht gemacht haben solte“, da ihm bewusst sei, dass der Buchrezensent „dabey auch eine ziemliche injurie begehen kan / wann er mit Verachtung und Schmähung des andern Person sich desselben unterfangen wolte“64, so verbirgt sich hinter diesen Absichtserklärungen noch einmal das Ansinnen, eine scharfe Trennung zwischen dem Autor und dem sozialen Ansehen seiner Person auf der einen Seite sowie der sachbezogenen Werkkritik auf der anderen Seite zu etablieren, um so eine wirklich offene und vernunftgeleitete Buchkritik überhaupt erst salonfähig zu machen und sie aus dem gefährlichen Fahrwasser individueller Demütigungen und Ehrabschneidungen heraus zu bugsieren. Die zukünftige Buchkritik, die Thomasius vorschwebte, zielte nicht auf eine Bewertung oder gar Herabwürdigung der persönlichen Integrität der Autoren ab, sondern auf eine systematische Analyse und objektive Bewertung der Produktionsweise alleine, eben darauf, ob ein Werk „recht gemacht“65 sei. Wenn der Kritiker künftig „so wohl aus Liebe zur Warheit / als aus Liebe zu seiner Besserung“ rezensiere, so ausschließlich deshalb, um „seinen Nähesten seine Irrthümer“66 bewusst zu machen, nicht um an der Person des Autoren herumzukritteln. Gefordert wird damit, alle Verehrung intellektueller wie kultureller Produktivität von individuellen Personen abzuziehen und stattdessen den ideellen und überpersönlichen Werten zu huldigen, die untrennbar mit dem Vernunftbegriff verbunden sind und die schon auf das aus der gelehrten Kommunikation im darauf folgenden Jahrhundert hervorgehende Wissenschaftssystem und sein spezifisches Medium hindeuten, nämlich auf die an unparteiische Objektivität und überzeugende Argumentation gebundene Wahrheit. Er werde daher in Zukunft, so Thomasius weiter, „alle personalia [...] bey Seite setzen“.67 Damit verfolgt Thomasius anscheinend das ganz auf Deeskalation ausgerichtete Programm einer

C. Thomasius: „An den Leser [1690]“, S. 9. Ebd., S. 9. 66 Ebd., S. 9. 67 Ebd., S. 9f. 64 65

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radikalen Entpersonalisierung der Buchkritik, die durchweg auf den abstrakten Vernunftkult der Gelehrtenrepublik gemünzt ist und die in ihren Bewertungen „kein Ansehen der Person beobachtet“, sondern „bloß in Beurtheilung derer votorum [d.h. Buchbesprechungen, D.B.] auff die Übereinstimmung mit der Warheit siehet.“68 Gewissermaßen sollte auf den Reputationscode als Ordnungsfaktor verzichtet werden, was allerdings angesichts des spürbar ansteigenden Informationsvolumens gelehrter Kommunikation nach einer anderen, äquivalenten Problemlösung verlangt hätte, die indes nirgendwo in Sicht war. Tatsächlich zeigt sich, dass ein Verzicht auf Reputation zum Scheitern verurteilt gewesen wäre, denn auch die Wahrheitssuche konnte nicht völlig von den Wahrheitssuchenden absehen und brachte die involvierten Personen im Rahmen argumentativer Prozesse wieder ins Spiel, da sich diese aus Anlass widersprüchlicher Kommunikationsofferten zu ganz unmittelbarem persönlichen Engagement für den eigenen Problemlösungsvorschlag gezwungen sahen. Das zeigt sich noch im gleichen Passus, in dem sich Thomasius mit der Frage nach dem richtigen Umgang mit den konfliktträchtigen Verrissen gelehrter Werke beschäftigt. Trotz des expliziten Bezugs auf das sich formierende Wahrheitsmedium taucht Reputation in diesem Kontext in ihrer negativen Erscheinungsform als „Schande“ wieder auf: Wenn eine Negativbewertung „der Warheit gemäß“ sei, „so hat sich kein Mensch darüber zu beschweren / dem selbiges zuwider ist / sondern er muß sich den Verdruß selbst zuschreiben / daß er in seinen thun und lassen der Königin dieser Republic zuwider gelebet. Ist es aber unvernünfftig / so geschiehet demjenigen kein tort, der dadurch touchiret worden / sondern die daraus entstehende Schande fället allein auff den / der ein solch unvernünfftig votum gefället / und er machet sich zu einen allgemeinen Gelächter vernünfftiger Leute / daß er von einer Sache urtheilen wollen / die den Horizont se[i]nes Verstandes übersteiget“.69 Die Negativkritik der gelehrten Kommunikation verursacht also prinzipiell immer eine Rufschädigung bzw. einen Imageschaden. Erscheint sie als wahrheitsgemäß, soll sie bei den Autoren zu personal zugerechneten Reputationseinbußen führen, die selbstverschuldet sind und somit ertragen werden müssen, aber unberechtigte Negativbeurteilungen schaden eben laut Thomasius im logischen Umkehrschluss auch dem Ansehen der jeweiligen Rezensenten. Mithin steht ebenfalls der Ruf der Kritiker auf dem Spiel, was den Autoren natürlich einen gewissen Schutz vor überzogener und eventuell rein persönlich motivierter bzw. aus Zirkeln statuspositionaler Differenz herrührender Negativkritik verschafft. Der Reputationscode erscheint hier eben doch als unverzichtbarer Strukturmechanismus, der gewissermaßen die überpersönlich waltende Vernunft als Kontrollinstanz gelehrter Selbstbeobachtung ergänzt und Vertrauen in die gelehrte Kommunikation zu schaffen im Stande ist. Wer im Interesse der Wahrheit Kulturprodukte

68 69

C. Thomasius: „Beschlus und Abdanckung des Auctoris [1689]“, S. 1149. Ebd., S. 1149f.

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herstellt, braucht das Urteil der anderen an gelehrter Kommunikation partizipierenden personalen Systeme nicht zu fürchten, da auch sie im Falle von Verstößen gegen die Vernunft vom drohenden Bannstrahl des Reputationscodes betroffen wären. Autoren wie Kritiker sitzen also alle im gleichen Boot. In der August-Ausgabe des gleichen Jahrgangs hatte Thomasius diesen Gedankengang im alleinigen Rekurs auf unvernünftige, unbegründete Buchrezensionen bereits expliziert: Wie wunderlich pfleget man sich doch anzustellen / wenn man albernen Büchern heut zu tage die Wahrheit saget? und wie kann man doch gar nicht leiden / wenn man nur seine Meynung von einem Buche saget / daß einem dasselbige nicht anstehe. Denn da man dieses für eine indifferente Freyheit sollte passiren lassen / oder zufrieden seyn / daß wenn derjenige ein unrechtes Urtheil gefället / so seine Meynung wider ein Buch gesaget / sein Schade groß genug sey / daß man ihn für einen tummen Censor halte; so wollte man lieber / daß jederman unsere Bücher loben sollte / und pfleget diejenigen / die alles loben / nicht für Schmeichler / sondern für fürtreffliche gelehrte Leute zu achten / da doch dieses das wunderlichste darbey ist / daß alle diejenigen / die neue Bücher in Druck herauß geben / eben dadurch dieselbigen gleichsam öffentlich außsetzen / daß jederman dieselbigen kosten und seine Meynung davon sagen möge.70

Wenn Beurteilungsversuche der Buchrezensenten also als nicht wahrheitsfähig bewertet werden, so müssten diese sich damit abfinden, fortan in der entstehenden gelehrten Öffentlichkeit als inkompetent oder sogar geistig minderbemittelt zu gelten. Aus einem sachlichen Irrtum erwüchse dem Kritiker in seiner neuen Rolle als vorgeblich sachkompetentem und besonders exponiertem Leser, der seine Beurteilungen in den Druck gibt, mithin eine Abwertung seiner Person, also ein Reputationsverlust, der eventuell mit dem Verspielen des Expertenstatus bezahlt werden müsste. Bei sachgemäßem Vorgehen jedoch erbringe das zeitaufwändige Redigieren den Kritikern, denen „offt ein einiges Buch eine Arbeit von vielen Tagen stiehlet“, zumindest „die wenige eitele Ehre die man davon hat“.71 Thomasius unterstellt also gar, dass Reputationszuwächse bzw. die Akkumulation symbolischen Kapitals den im Grunde einzigen wirklichen Profit des Buchkritikers darstellten. Die grundlegenden ökonomischen Interessen der Rezensenten blendet er damit in einer Weise aus, die sofort an die von Bourdieu behauptete Verschleierungsfunktion des symbolischen Kapitals der Ehre erinnern lässt. Dass Thomasius tatsächlich durchaus auch ökonomische Interessen mit der Publikation der Monats=Gespräche verfolgte, unterstreicht indessen Herbert Jaumann, denn das neuartige buchkritische Journal sollte die „finanzielle Lage der sich vergrößernden Familie verbessern helfen, und ihr anfänglicher großer Publikumserfolg gab dieser Hoffnung recht.“72 Thomasius ver-

C. Thomasius: „Daniel Caspers von Lohenstein Großmüthiger Feld=Herr Arminius [1689]“, S. 652f. 71 C. Thomasius: „Beschlus und Abdanckung des Auctoris [1689]“, S. 1158. 72 H. Jaumann: Critica [1995], S. 286. 70

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fährt wohl auch deshalb so, da er seiner ohnehin wegen ihrer beispiellos offenen Bewertungsweise gefährdeten Buchkritik einen auf der Unterstellung von schnöder Geldgier gründenden Akzeptanzverlust ersparen, er es also nicht zur Herausbildung oder gar Festigung von Zirkeln statuspositionaler Differenz kommen lassen wollte. Jedenfalls berührt das Buchrezensionswesen in der Form, wie es in den Monats=Gesprächen erstmals auf Deutsch praktiziert wurde, gemäß dieser Sichtweise das Ansehen von Autoren und Kritikern im gleichen Maße. Die kritische Selbstreflexion gelehrter Kommunikation war demnach offensichtlich – trotz des augenscheinlichen Wahrheits- und Verstandeskultes, den Thomasius betrieb und der zunächst eine affektfreie Orientierung an der Sache allein suggerierte – nicht ohne personal attribuierte Reputation durchzuhalten. Das ein Jahr später versprochene Heraushalten jeglicher ‚personalia‘ war also ein Vorsatz, der sich vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Einführung effektiver Verbreitungsmedien und eingedenk der damit einhergehenden Vervielfachung des Informationsvolumens der gelehrten Kommunikation nicht in die Tat umsetzen ließ, eben weil die Reputation der Autoren tatsächlich immer von den Bewertungsakten der Buchrezensenten berührt wurde und man diesen Vorgang nicht einfach hinwegpostulieren konnte. Dass Thomasius’ abstrakte Konzeption einer offenen Buchkritik, die im Namen der Wahrheit sachbezogen sowie rein objektiv urteilt und von den involvierten Personen gänzlich absieht, gerade für den der gelehrten Kommunikation entspringenden literarischen Kommunikationstyp höchst problematisch sein musste, zeigt sich auch in seiner spezifischen Verwendung des Geschmacksbegriffs, der zum semantischen Standardinventar der vormodernen Literaturreflexion gehörte. Thomasius selbst behauptet in seiner Lohenstein-Kritik, dass ein Vergleich der „Belustigungen des menschlichen Verstandes mit denen sinnlichen Belustigungen“ am ehesten vom Geschmacksbegriff zu leisten sei, insbesondere dann, wenn es um „die Bücher und Schrifften gelehrter Leute“73 gehe. Im Zuge der Explikation seines Geschmacksverständnisses liefert er dann „Ansätze einer kulinarischen Literaturtheorie“74. So wird etwa betont, die gelehrten Werke fungierten als „Speise der Gemüther / und die Verfertiger derselben sind die Köche / so denen andern diese Speise zubereiten / wannenhero man auch in unterschiedenen Sprachen in Fällung eines Urtheils von dieser oder jener Schrifft zu sagen pflegt: Dieses ist nicht nach meinem Geschmack: In diesem habe ich einen vortrefflichen gusto gefunden / u.s.w.“75 Zunächst offenbart Thomasius’ Verwendung des Geschmacksbegriffs, dass er diesen in seine auf eine Erhöhung der Annahmewahrscheinlichkeit der Buchkritik gemünzte Deeskalati-

C. Thomasius: „Daniel Caspers von Lohenstein Großmüthiger Feld=Herr Arminius [1689]“, S. 649f. 74 D. Niefanger: „Über ‚Speisen‘ und ‚Artzeneyen‘“, S. 117. 75 C. Thomasius: „Daniel Caspers von Lohenstein Großmüthiger Feld=Herr Arminius [1689]“, S. 649f. 73

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onsstrategie einzubinden versucht. Das wird schon daran deutlich, dass er die Forderung unbedingter Toleranz in dieser Angelegenheit aufstellt: Also solte es auch nun wohl billig so seyn / dass man es uns weder vor übel halten noch imputiren solte / wenn wir den Geschmack an einem Buche nicht finden / den ein anderer daran gefunden [...] wenn er aber gar keinen Unterschied zwischen guten und bösen Büchern zu machen wüste / solte man ihn billich für einen abgeschmackten Menschen achten.76

Über Geschmack lässt sich mithin nicht streiten, so die Devise. Eine außerintellektuelle Übercodierung gelehrter Buchkritik durch die Unterscheidung gut/böse lehnt Thomasius also wegen ihres polemogenen Charakters kategorisch ab und versucht damit, auch die konfliktträchtige Moralkommunikation aus der kritischen Bücherschau herauszuhalten. Aus der (anscheinend unausweichlichen) Inanspruchnahme des Geschmacksbegriffs ergeben sich jedoch andere Probleme, die das literaturkritische Werturteil in Konflikt mit dem zuvor argumentativ in Anspruch genommenen Wahrheitsmedium bringen. Den literarischen Geschmackssinn konzipiert Thomasius nämlich als Ausdruck höchst individueller Vorlieben, die sich an Unterscheidungen wie ernsthaft/lustig oder pragmatisch/weltabgewandt orientieren: „Aber der Geschmack der Gemüther ist hierinnen ebenso unterschiedlich. Dieser hat Lust an ernsthafften Schrifften / ein anderer an lustigen / noch ein anderer an denen / die er täglich brauchen kan.“77 Das Problematische am literarischen Geschmack besteht aber nicht in seiner ausgesprochenen Idiosynkrasie allein, sondern auch in seiner strukturellen Dynamik, denn die persönlichen Vorlieben der Leser werden als durchaus veränderliche Dispositionen konzipiert, die sich in der Zeitdimension durch eine Art Abnutzungseffekt auszeichnen. In der Sozialdimension wird eine positive Beeinflussung des eigenen Geschmacksurteils durch die kommunikativ mitgeteilten Bewertungen seitens anderer Personen diagnostiziert, insbesondere dann, wenn zwischen Alter und Ego eine solide Sozialkapitalbeziehung besteht: Wir ändern ebenfals wegen der langwierigen continuation unser eigenes Urtheil / und wenn wir eine zeitlang lustige Bücher gelesen haben / kriegen wir endlich einen Eckel darfür / oder wenn wir sehen / daß Leute / die wir veneriren und hochachten / eine Art für den andern recommendiren / finden wir öffters was angenehmes drinnen / das wir zuvor nicht beobachtet hatten.78

Erneut das unbeständige Moment der Geschmacksdispositionen sowie die Bedeutung der Sozialkapitalverhältnisse betonend, beharrt Thomasius im Rahmen seiner Beschwichtigungsversuche auch darauf, dass man den anderen ihre geschmacksbasierten Werturteile schon allein deshalb nicht verübeln dürfe, da sie ohne wirklich reflexive Bewusstseinstätigkeit zustande Ebd., S. 650f. Ebd., S. 649f. 78 Ebd., S. 650f. 76 77

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gekommen seien, der Urteilende also für seine Bewertung gar nicht intellektuell zur Verantwortung gezogen werden könne: Wie offte ist / was der Geruch anlanget / dem einen ein Geruch höchlich zuwieder / den der andere für angenehm hält. Am meisten aber scheinet bey dem Geschmack der Mensch überaus unterschiedener Meynung zuseyn. […] Dieser ist gerne Gesalzenes / ein anderer Saueres / der dritte Süsses u.s.w. Dieser hält es mit Wildprete / jener mit zahmen Fleische / ja wir verändern unsern eigenen Geschmack gar öffters / entweder daß wir einen Eckel für dem / was uns zeithero gut geschmeckt / bekommen / oder aber / daß der Concept, den wir uns selbst davon machen / wenn wir hören / daß etwas denen uns angenehmen Personen gut schmeckt / uns gleichfals beredet einen Geschmack an einer Sache zu finden / den wir zuvor daran nicht gewohnet gewesen. Wannenhero es ungeschickt seyn würde / wenn man einen für einen Thoren halten wolte / der mit unsern Geschmack nicht überein komt / oder wenn man auff ihn böse werden wolte / daß ihm die Speise die wir gerne essen / nicht so gut schmeckte als uns / oder wenn man ihn bereden wolte / er empfinde einen guten Geschmack / da ihm doch nichts davon bewust ist.79

War die Buchkritik zuvor noch als im Interesse der Wahrheitsfindung stehendes Unterfangen ausgeflaggt worden, wird sie nun aus der protowissenschaftlichen Systemreferenz herausgelöst und in den Dunstkreis intuitiver, prinzipiell unerklärlicher Geschmacksäußerungen befördert. Aus dieser Perspektive ist es natürlich unmöglich, den Subjektivismus aus der Praxis literarischer Wertungsakte herauszuhalten. Damit bestätigt sich an dieser Stelle, was Ingo Stöckmann bezüglich des von ihm gesichteten poetologischen Geschmacksdiskurses jener Epoche konstatiert: Wer sich bis 1800 auf die Evidenz seines guten Geschmacks beruft, verläßt den gesicherten Raum eines kriteriellen Wissens, an dessen Stelle die private Neigung tritt. Daß sich das Geschmacksurteil mit seiner Lizenz zur persönlichen Idiosynkrasie und gefühligen Unschärfe kaum diskursiv aushandeln läßt, wußte bereits die scholastische Tradition. ‚De gustibus et coloribus non est disputandum‘, heißt es dort; wo der Geschmack urteilt, fliehen Klarheit und begriffliche Strenge.80

Offensichtlich ließ sich also das Objektivitätsgebot des bereits formierten Wahrheitsmediums nicht wirklich auf das Gebiet literaturkritischer Betätigung übertragen. Die gleichzeitige Inanspruchnahme von ewiger Wahrheit und subjektivem Geschmack, also das Springen zwischen protowissenschaftlicher und protoliterarischer Systemreferenz im Zuge der Legitimierung der Buchkritik, bezeugt einerseits die noch engen Verflechtung von scholastischer Wissenschaft und schönen Künsten in der Gelehrtenrepublik, die beide Sektoren noch unter ein gemeinsames Dach zwang. Andererseits kündigt sich in der Nichtvereinbarkeit wissenschaftlicher Objektivierung und geschmacklicher Beurteilung der Werke der protoliterarischen Kommunikation das bald bevorstehende Schisma zwischen Wissenschaft und

79 80

Ebd., S. 647ff. I. Stöckmann: Vor der Literatur, S. 195.

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Kunst bereits an, und es zeigt sich, dass sich die protoliterarische Buchkritik auch schon in ihrem Anfangsstadium nicht erfolgreich über eine notwendige Wahrheitssuche legitimieren ließ, da sie mit dem Fluch der intuitionsbasierten Unschärfe von Geschmacksurteilen gewissermaßen erblich belastet war. II.1.5 Die Leistungen gelehrter Buchkritik im Spiegel der Monats=Gespräche II.1.5.1 Die Leistungen gelehrter Buchkritik für psychische und soziale Systeme Der von Luhmann verwendete Leistungsbegriff bezieht sich ausschließlich auf die Input-Output-Beziehungen, die soziale Systeme miteinander unterhalten. Dem ist insbesondere seitens des anglistischen Zweigs der systemtheoretischen Literaturwissenschaft widersprochen worden. Christoph Reinfandt geht in seinem auf Studien zur englischen Literaturgeschichte basierenden Modell literarischer Kommunikation der Moderne davon aus, dass ein Charakteristikum des Sozialsystems Literatur „in seiner gegenüber anderen sozialen Systemen größeren Offenheit für die Komplexität psychischer Systeme“81 bestehe. Ohnehin stünden psychische und soziale Systeme in einem Verhältnis „wechselseitiger Ermöglichung“, bildeten also einen engen „Konstitutionszusammenhang“, der „Leistungszusammenhänge“ jedoch keineswegs ausschließe, da die genannten Systemtypen beide im Medium Sinn operieren und man deshalb subsumieren könne, das Literatursystem erbringe generell für die involvierten psychischen Systeme sprachlich vermittelt die Leistung der „Sinngebung“.82 Im Rahmen der Autorenrolle etwa biete die literarische Kommunikation psychischen Systemen die reizvolle Option, ihre Eigenkomplexität – großflächiger, als dies in anderen Funktionsbereichen möglich ist – in den Dienst des Literatursystems zu stellen und zu überprüfen, ob sie die im System aufgestellten sozialen Erwartungen erfolgreich zu handhaben und die dort anzutreffenden Selektionsbarrieren zu überwinden vermögen. Überdies weise die stark auf die Leserrolle bezogene Unterhaltungsfunktion mit dem Code interessant/langweilig eindeutig einen Zuschnitt auf die in der systemkonstitutiven Umwelt des Literatursystems anzutreffenden „Sinnbedürfnisse psychischer Systeme“ 83 auf. Frank Lay fordert daher, man müsse die Reichweite des Luhmann’schen Leistungsbegriffs auf die Beziehungen zwischen sozialen und psychischen Systemen ausdehnen.84 Auch genüge es nicht, sich bei der Modellierung literarischer Kommunikation auf Funktion und Codierung allein zu konzentrieren. Ganz im Sinne einer auch die Bewusstseinsumwelten des Literatursystems stärker berücksichtigenden polykontexturalen Literaturwissenschaft, deren zentrales C. Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 37. Ebd., S. 34. 83 Ebd., S. 102. 84 Siehe F. Lay: Die Macht der Systeme und die Funktionen von Literatur, S. 11. 81 82

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Anliegen durchaus mit den in dieser Arbeit vertretenen Konzepten in eine Linie zu bringen ist, postuliert Lay: Nur „[ü]ber die Konzentration auf leistungsbezogene Systemreferenzen ist es möglich, die Bedeutung des Literatursystems sowohl für andere soziale Systeme als auch für psychische Systeme angemessen zu berücksichtigen.“85 Eine Durchsicht der Monats=Gespräche ergibt unzweifelhaft, dass Thomasius die von der Buchkritik für andere, außerhalb der gelehrten Kommunikation stehende Systemtypen erbrachten Leistungen besonders prägnant im Hinblick auf psychische Systeme reflektiert und beschrieben hat, was angesichts der vom Anglisten Reinfandt vorgeschlagenen Methodik unseres Erachtens neue Erkenntnismöglichkeiten eröffnet. Jedenfalls lässt sich nicht bestreiten, dass Thomasius den lesenden Einzelmenschen in seinen Überlegungen über das eigene buchkritische Unternehmen ernst nimmt und entsprechend einbezieht. Wir übernehmen daher an dieser Stelle die von Reinfandt vorgeschlagene Extension des Leistungsbegriffs, weisen gleichwohl aber daraufhin, dass es uns dabei nicht etwa um wilde sozialpsychologische Spekulationen geht, sondern darum, inwiefern selbstreflexiv über das Verhältnis zwischen Bewusstsein und gelehrter Buchkritik kommuniziert wird und ob sich daraus generalisierungsfähige Rückschlüsse hinsichtlich des Reputationscodes des späteren Literatursystems ergeben. Der hinsichtlich dieses Poblemkreises aussagekräftigste Passus findet sich in der Februar-Ausgabe des ersten Jahrgangs, in der sich der Autor noch der Darstellungstechnik des vielstimmigen Polylogs bedient.86 „[E]xcerpta aus neuen Büchern“, so heißt es dort in einer Replik, die Thomasius seiner Figur des gelehrten Herrn Benedict in den Mund legt, sollen „in Teutscher Sprache“ veröffentlicht werden, „weil auff diese Weise man mit leichter Mühe nicht allein sich noticiam autorum zuwege bringen / sondern auch den Inhalt derselben oder den Kern mit wenigem Zeitverlust und ohne große Kosten erlernen kan.“87 Die erstmals in der Volkssprache abgefasste Buchkritik mit ihren Besprechungen aktueller Neuerscheinungen soll also zunächst einmal dafür garantieren, dass hinreichend gebildeten Lesern die in der Autorenrolle an gelehrter Kommunikation teilnehmenden Verfasser namentlich bekannt gemacht werden. Für die faktische Etablierung eines Reputationscodes ist das natürlich essenziell, da dieser nur dann erfolgreich operieren kann, wenn ihm überhaupt Adressen zur Verfügung stehen, die eine personale Zurechnung seiner binären Codewerte (literarisch) wertvoll/ wertlos ermöglichen.88

Ebd., S. 71. Zur Verwendung des Begriffs ‚Polylog‘ vgl. Fn. 15 in: F. Grunert: „Von polylogischer zu monologischer Aufklärung“, S. 28f. 87 C. Thomasius: „[Gespräch II] [1688]“, S. 223f. 88 Schon die aus dem Alltag bekannte metonymische Verwendungsweise des Verfassernamens, der als hinreichend einzigartiger und wiedererkennbarer Symbolstrang individuelle Werke bzw. das Gesamtwerk eines Autoren repräsentiert und 85 86

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Darüber hinaus soll die Leserschaft überblicksartig und in der Tradition der konventionellen gelehrten Journale über die Kerngedanken gelehrter Werke informiert werden, was in Monats=Gesprächen teils über Inhaltsangaben, teils über den Nachdruck von Werkauszügen realisiert wird, die vom Rezensenten für besonders prägnant und repräsentativ gehalten werden. Seitens der Buchkritiker setzt dies natürlich eine Herauspräparierung des – wie Thomasius sagt – ‚inhaltlichen Kerns‘ eines Werkes voraus, d.h. die Operationsweise der gelehrten Buchkritik ist ihrem Wesen nach höchst selektiv und somit komplexitätsreduzierend. Dabei erfolgt die Auswahl nach dem Muster dreistelliger Selektion: Zunächst fallen diejenigen Werke heraus, die der Rezensent „zu extrahiren nicht würdig achte.“89 In der zweiten Stufe des Selektionsprozesses werden dann die für rezensionswürdig befundenen Werke auf ihre Kerngedanken reduziert und abschließend einem expliziten Werturteil nach dem erwähnten Schema (protoliterarisch bzw. protowissenschaftlich) wertvoll/wertlos unterzogen. Wie groß der durch das wachsende Informationsvolumen hervorgerufene Selektionsdruck – zumindest in der Wahrnehmung des Thomasius – bereits zu diesem Zeitpunkt war, belegt folgendes Statement aus dem Märzheft des ersten Jahrgangs der Monats=Gespräche: „Wenn man lauter gute [Bücher] anschaffen wolte; würde die Bibliothec sehr klein werden“90, d.h. mit positiven Wertungsakten wäre sparsam umzugehen, denn sonst bliebe die Zahl der für wertvoll erachteten Werke genauso unübersehbar wie die Bücherproduktion insgesamt – der fleischgewordene Albtraum eines jeden Polyhistoren. Oder anders gewendet: die Hauptaufgabe des sozialen Gedächtnisses der Gelehrtenrepublik besteht schon in der Formationsphase literarischer Kommunikation nicht im Erinnern, sondern im Vergessen, eben weil sonst keinerlei Orientierung mehr möglich ist. Bei all dem sind in der Fremdbeobachtung ausgemachte Selektionsfehler selbstverständlich nicht auszuschließen, etwa wenn die Buchkritiker „von vielen geringen und nichtswürdigen Sachen einen Staat machen / andere aber / darinnen eine gründliche Gelehrsamkeit und großer Nutzen steckt / aussen lassen oder kaltsinnig loben“.91 Die prononcierte Darstellung der Selektivität der Buchkritik macht deutlich, dass Buchrezensionen ein besonderes Verhältnis des Aufeinanderange-

auf die Schnelle abrufbar ist, macht deutlich, dass Werk und Verfassername in einem ganz besonderen Verhältnis stehen. Jedenfalls ist es bis heute nicht möglich, literarische Kommunikation völlig ohne Bezug zu Autorennamen, also ohne die Möglichkeit personaler Zurechnung zu vollziehen, und das wirft die Frage auf, ob nicht neben rechtlichen und wirtschaftlichen Ansprüchen auch genuin innerliterarische Bedürfnisse hierfür verantwortlich zeichnen, wie etwa das Problem des zunehmenden Informationsvolumens oder das des Aufbaus einer stabilen Systemgrenze. 89 C. Thomasius: „[Gespräch II] [1688]“, S. 230. 90 C. Thomasius: „[Polydor-Polylog] [1688]“, S. 312. 91 C. Thomasius: „[Gespräch II] [1688]“, S. 248.

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wiesenseins mit den durch die zunehmende Fernkommunikation ständig wichtiger werdenden symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gelehrter Kommunikation, sprich den Werken, eingehen, die Ende des 17. Jahrhunderts selbstverständlich noch nicht voll entwickelt waren. Egal, welche der unter dem Dach der gelehrten Kommunikation miteinander vereinigten drei Funktionen konkret in einem Werk dominiert, die gelehrten Werke sind immer das Ergebnis einer strikteren Kopplung ihres jeweiligen, noch in der Formationsphase befindlichen Referenzmediums. Die Buchkritik ist prinzipiell von den zu dieser Rigidisierung führenden Selektionen seitens der Autoren abhängig, gleichzeitig muss sie aber die Fähigkeit besitzen, diese vorgegebene dichtere Kopplung selbst als Medium für eigene Formentfaltungen verwenden zu können. Die gelehrten Werke sind also gewissermaßen das unhintergehbare Substrat der auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung operierenden Buchkritik. Diese genießt demnach nicht die gleichen Freiheiten wie die gelehrte Kommunikation an sich; sie bewegt sich gewissermaßen in einem zähflüssigeren Medium und kann allein aus diesem Grunde schon nicht selbst im Laufe der gerade einsetzenden, schleichenden Umstellung auf funktionale Differenzierung zu einem vollwertigen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium und damit zur Keimzelle eines eigenen Funktionssystems heranreifen. Aber was die noch nicht vollständig ausdifferenzierte Literatur als gelehrte Teildisziplin angeht, vermag sie auf diesem Wege einen ersten, die konventionelle Poetik ergänzenden Beitrag zur Selbstreflexion auch dieser Komponente gelehrter Kommunikation zu leisten, der sich weniger an der Autorenrolle, als vielmehr an der Leserrolle orientiert und dem gelehrten Werk als mediale Grundlage der Erwartungsbildung verpflichtet bleibt, etwa was Bewertungskriterien anbetrifft. Die Buchkritik tritt also als Komplement zur gelehrten Dichtkunde mit ihren regelstarrenden Produktionsästhetiken in Erscheinung und trägt der an Bedeutung und Umfang zunehmenden Leserrolle Rechnung, die man allein schon an den Alphabetisierungskampagnen sowie am sich durch den Buchdruck verstärkenden proportionalen Missverhältnis zwischen wenigen Autoren und immer mehr Lesern festmachen kann, denn diese neue Technik massenmedialer Kommunikation versetzt die Autoren nun in die Lage, bei unverändertem Arbeitsaufwand eine wesentlich größere Anzahl an lesekundigen Psychen zu erreichen. Die weiteren Ausführungen, die Thomasius dem belesenen Herrn Benedict unterschiebt und die offensichtlich auch seine persönliche Meinung repräsentieren, erlauben einige weitergehende Rückschlüsse hinsichtlich der von der Buchkritik erbrachten Leistungen für psychische Systeme sowie der hier diagnostizierten Einbettung der Buchkritik in den übergeordneten Zusammenhang der gelehrten Kommunikation. Thomasius lässt seine zentrale Figur mit Blick auf den spezifischen „Nutzen dieser Schreibart“ – gemeint ist die in der Weise der Monats=Gespräche praktizierte Buchkritik – sagen: „Die Lust aber bestehet darinnen / daß dadurch die menschliche curiosität / als welche immer was neues zuwissen verlanget / auff eine ehrliche Weise

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vergnüget wird.“92 Demnach wird die Leistung der Buchkritik zunächst in einer Befriedigung primär hedonistischer Bedürfnisse psychischer Systeme wie Lust, Vergnügen sowie Neugierde gesehen, die Thomasius offensichtlich als anthropologische Konstanten begreift.93 Thomasius geht davon aus, dass sich die Leser der Monats=Gespräche vornehmlich an deren „Extracten belustigen“ wollten, aber auch das sich allmählich verschärfende gesellschaftliche Problem des Ausfüllens freier Zeitkontingente klingt schon deutlich bei ihm an, wenn er schreibt, dass „die Lesung dieser journale [...] noch für einen Zeit=Vertreib passiren“94 könne, wobei er dies allerdings mit der Forderung verbindet, das Rezensionswesen müsse das wohl gegen die Vulgarität oberflächlicher Unterhaltung und die drohende Willkürlichkeit unfundierter Urteile gerichtete Kriterium der Ehrlichkeit erfüllen. Gleichzeitig wird aber auch gemutmaßt, die gelehrte Buchkritik entspreche dem allgemeinmenschlichen Drang nach immer mehr neuem Wissen. Auf dem Umweg über die Leistungsbeziehungen, die sie mit den Lesern in ihrer Umwelt unterhält, bindet Thomasius also die Buchkritik ausdrücklich zumindest an zwei der drei noch nicht voll ausdifferenzierten Achsen gelehrter Kommunikation: Einerseits soll sie das gesellschaftliche Problem wachsender Freizeit mitbearbeiten, das sich allmählich zur Quelle für die Herausbildung eines sich an einer Unterhaltungsfunktion orientierenden Literatursystems mit der Leitdifferenz interessant/langweilig entwickelt, andererseits bedient die Buchkritik die sich etappenweise herauskristallisierende Spezialfunktion des modernen Wissenschaftssystems, also die Produktion neuen Wissens. Dadurch wird klar, dass die Buchkritik tatsächlich als metatheoretische Selbstreflexionsinstanz gelehrter Kommunikation in Erscheinung tritt und somit als Komponente eben dieses Kommunikationstyps anzusehen ist, bleibt sie doch demselben Funktionsverbund verpflichtet wie die gelehrte Kommunikation insgesamt und wird nicht etwa für außerhalb dieses systemartigen Dreigestirns liegende Funktionen in Anspruch genommen. Dass Thomasius überdies seine Buchrezensionen als Wortwechsel mindestens zweier erdichteter Figuren konzipiert, unterstreicht nochmals die Zugehörigkeit der Buchkritik zur gelehrten Kommunikation, da schließlich Fiktionalität ein wesentliches Charakteristikum der protoliterarischen Achse dieses triadischen Systemverbundes darstellt. Der Buchkritik wird somit also innerhalb der weitläufigen Grenzen des multifunktionalen Systems gelehrter Kommunikation die Aufgabe zugeschrieben, gelehrte Werke hinsichtlich ihrer Unterhaltungsqualität, ihrer Übereinstimmung mit der Wahrheit sowie ihrer pädagogischen Nützlichkeit abzuklopfen.

Ebd., S. 223f. So heißt es ebenfalls in der Februar-Ausgabe des ersten Jahrgangs: „Es ist wahr / alle Menschen sind Curieus, und die satisfaction dieser Gemüths Neigung ist eine Belustigung.“ C. Thomasius: „[Gespräch II] [1688]“, S. 237f. 94 C. Thomasius: „Beschlus und Abdanckung des Auctoris [1689]“, S. 1158. 92 93

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Die unter dem Dach der Gelehrtenrepublik erfolgte Fusion der Funktionen von Kunst, Wissenschaft und Erziehung zeigt allerdings auch erste markante Risse. Lust und Neugier der Leser, so Thomasius, würden durch das Fällen von Werturteilen in noch stärkerem Maße erregt, als dies in den orthodoxen gelehrten Journalen mit ihren wertneutralen Inhaltsangaben der Fall sei. Begründet wird dies damit, dass das bloße Informieren über Werkinhalte, das in den konventionellen Periodika wie den Acta Eruditorum üblich war, lediglich die schöpferische Einbildungskraft in Beschlag nehme, während die expliziten Buchbewertungen die von Thomasius höher bewertete Urteilskraft des Verstandes in Schwingungen versetzten: Alleine es kan auch nicht geleugnet werden / daß die Curiosität noch viel gemeiner und grösser ist / zu hören / ob ein Buch gut sey / oder nicht und ist also kein Zweifel. Daß die Lust des blossen Inhalts gegen diese viel geringer zu schätzen sey / weil jene das ingenium des Menschen / diese aber dessen judicium afficiret.95

Vermutlich geht diese persönliche Präferenz für eine sich frei artikulierende Urteilskraft auf Thomasius’ ablehnende Haltung gegenüber der Pedanterie vieler Gelehrter zurück und mag als Vorbotin für die mit der Umstellung auf funktionale Differenzierung einhergehende Notwendigkeit der Fähigkeit psychischer Systeme zum ‚code-switching‘ gewertet werden. Wichtiger aber noch erscheint die Tatsache, dass sich in der Ungleichgewichtung der Begriffe ‚ingenium‘ und ‚judicium‘ die Aufspaltung der gelehrten Kommunikation in Wissenschafts- und Kunstsystem –wie auch schon an Thomasius’ Definition des Geschmacksbegriffs erkennbar – bereits ankündigt. Es wird dementsprechend zu untersuchen sein, ob und wie sich die aus der Buchkritik der gelehrten Kommunikation hervorgegangene Literaturkritik im weiteren Verlauf der Evolution als Selbstreflexionsmodus literarischer Kommunikation aus der protowissenschaftlich-gelehrten Systemreferenz gelöst hat.96 II.1.5.2 Die Leistungen gelehrter Buchkritik für die protowirtschaftliche Kommunikation Nimmt man die Monats=Gespräche zum Maßstab, zeigt die offen wertende und auf diese Weise Reputation generierende Literaturkritik der protoliterarischen Kommunikation von Anfang an eine recht hohe Irritabilität für die ökonomischen Ansprüche der Umwelt. So zeigt sich in der oben genannten Textstelle aus der Februarausgabe von 1688, dass Thomasius die Selektionspraktiken der Buchkritik, die als mitlaufende Selbstbeobachtung multi95 96

C. Thomasius: „[Gespräch II] [1688]“, S. 238. Anders als im deutschsprachigen Raum hat es eine solche Trennung etwa in Großbritannien offensichtlich nicht gegeben, denn dort wird bis heute die Literaturkritik primär als Bestandteil, ja sogar als Kernbereich des ‚literary criticism‘, also des literaturwissenschaftlichen Forschens gesehen und von der Literaturwissenschaft erwartet, objektive Werturteile über literarische Werke abzuliefern.

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funktionaler gelehrter Kommunikation auf der Bewertungskriterien liefernden Programmebene in Erscheinung tritt, sowohl im Hinblick auf ihre zeitliche als auch ihre ökonomische Dimension reflektiert. Im Zuge dieser Überlegungen werden diejenigen Leistungen der Buchkritik offen gelegt, die sie für die involvierten psychischen Systeme in ihrer im Zuge des Umschaltens auf funktionale Differenzierung zunehmend wichtiger werdenden Rolle als individuell handelnde, potenzielle Käufer erbringen soll. Anscheinend war es Ende des 17. Jahrhunderts im Rahmen gelehrten Kommunizierens schon notwendig, den Leser fremdreferenziell auch als sich ökonomisch verhaltendes Wirtschaftssubjekt in Betracht zu ziehen und ihn nicht nur als lesekundigen Gebildeten bzw. Gelehrten mit einem gesteigerten Interesse an Unterhaltung, Wissensvermittlung oder einem erzieherischen Nutzen des Lesestoffes aufzufassen. Der Bücherkauf war in dieser von ersten entscheidenden Umwälzungen geprägten Epoche, die auf funktionale Differenzierung hinausliefen, noch eine sehr kostspielige Angelegenheit und erforderte einen erheblichen Einsatz ökonomischen Kapitals, den sich nur das städtische Bürgertum und die adlige Oberschicht überhaupt leisten konnten. Die damals noch astronomisch hohen Buchpreise brachten natürlich die Gefahr schmerzhafter Fehlinvestitionen in für den individuellen Leser wertlose Werke mit sich und führten zu einem ausgeprägten Selektionsdruck seitens möglicher Käufer, der sich dem forcierten Wachstum des Informationsvolumens in der Gutenberg-Galaxis noch hinzugesellte. Die in Thomasius’ gelehrter Zeitschrift exemplarisch vorgeführte Buchkritik war strukturell hervorragend auf die durch das exorbitante Preisniveau verursachte Erwartungsunsicherheit eingestellt, die sich hinsichtlich des tatsächlichen literarischen Genusses (bzw. der wissenschaftlichen Qualität respektive des pädagogischen Nutzens) eines Werkes auf der Leserseite einstellen musste. Die in Buchform vorliegenden gelehrten Werke brauchten nicht erst zum Zweck einer in jeder Hinsicht ungewissen Konsumierung angeschafft zu werden, sondern die Leser konnten sich im Vorfeld darauf verlassen, dass der Rezensent gewissermaßen die – natürlich höchst subjektiv konstruierte – Essenz aus dem jeweiligen Werk auf eine Art und Weise herausgefiltert hatte, welche die in Bezug auf drohende Erwartungsenttäuschungen prinzipiell riskante Entscheidung für/gegen die Anschaffung (bzw. das Lesen) des betreffenden Werkes zu erleichtern half. Wer die Monats=Gespräche käuflich erwarb, bezahlte den Rezensenten Thomasius für dessen in die Reimprägnierung der besprochenen Werke investierte Zeit, aufbauend auf einem Vertrauen in die angenommene Sachkompetenz des Buchkritikers, die sich bei Thomasius u.a. aus dessen exponierter innergelehrter Stellung als Universitätsprofessor ergeben haben dürfte. Die Operationsweise der thomasischen Buchkritik kann somit in etwa folgendermaßen im Hinblick auf sozial relevante Erwartungserwartungen der beteiligten Psychen verallgemeinert werden: Man lässt den als sachkompetent geltenden Rezensenten stellvertretend für sich lesen und bezahlt ihn für die gesparte Zeit, um sich selber mit „wenigem Zeitverlust

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und ohne große Kosten“ – die Monats=Gespräche waren bedeutend billiger in der Anschaffung als herkömmliche Bücher – einen Überblick über die Neuerscheinungen der gelehrten Kommunikation zu verschaffen, denn – so an anderer Stelle – man könne schließlich „in einer Stunde viel solcher extracte lesen“.97 Geld sollte also gegen eine andere wichtige Ressource eingetauscht werden, nämlich freie Zeit, die zwar schrittweise zunahm, im Vergleich zum rasanten Anstieg des Informationsvolumens aber ein eher bescheidenes Wachstum aufwies, sodass mit den zunehmenden Zeitkontingenten durchaus risikobewusst umzugehen war, wenn man seine Zeit nicht mit langweiligem und belanglosem Schrifttum vertrödeln wollte.98 In diesem Sinne eines sparsamen Umgangs mit Zeit ist auch die in der Vorrede zur Erstausgabe der Monats=Gespräche vorgenommene Selbstbeschränkung darauf, „dass kein Monath über fünff Bogen werden solle“99, zu verstehen. Ähnliches gilt für den von Thomasius mit Erscheinen der ersten Ausgabe des zweiten Jahrgangs vollzogenen Verzicht auf die fiktive Dialogform. Zwar sei diese in besonderer Weise geeignet, für die Unterhaltung und dauerhafte Bindung der Aufmerksamkeit der Leser zu sorgen, sie könne indes nicht beibehalten werden, da sie einen zu aufwändigen Produktionsprozess mit sich brächte und auch für die Leserschaft schlicht zu lang sei: Bey Gesprächen muß ein Autor viel Umbstände fingiren / dem Leser einen appetit zu machen / oder denselben zu erhalten / und bey dieser fiction hat Er kein ander Absehen / als seine materie von welcher er discuriren will / damit die connexion nicht gar zu gezwungen heraus komme. [...] So ist auch hiernächst diese Unbequemligkeit bey denen Gesprächen / daß man dieselbigen nicht wohl kurtz fassen kan / weil die invention und praeparatoria zu dem vorhabenden Discurs gar leichte etliche Bogen wegnehmen.100

Die protoliterarische Literaturkritik soll also in Thomasius’ Perspektive mit der Methode höchstmöglicher Verdichtung vorgehen, um die Zeitreserven der Leserschaft nicht in einem Übermaße zu beanspruchen. Ohne wirklich scharfe Selektionen, deren Intensität sich schon am proportionalen Verhält-

C. Thomasius: „Beschlus und Abdanckung des Auctoris [1689]“, S. 1158. Auch der in dieser Zeit im Gefolge Bacons immer stärker werdende Drang der Enzyklopädisten nach einer umfassenden Systematisierung des gesamten menschlichen Wissens dürfte dabei eine Rolle gespielt haben, denn die sich mit dem Buchdruck beschleunigende Expansion des Informationsvolumens gelehrter Kommunikation musste bewältigt werden, ohne dass sich etwa auch die Zeit selbst vervielfacht hätte – ein Faktum, dass ungebundene Zeit vor dem Hintergrund eines noch bis in die Goethezeit virulenten Strebens nach Universalgelehrtentum zu einem höchst wertvollen und mit Bedacht zu behandelndem Gut werden ließ – zumindest am wissenschaftlichen Ende gelehrter Kommunikation. 99 C. Thomasius: „A Messieurs Monsieur Tarbon Et Monsieur Bartuffe [1688]“, unpag. 100 C. Thomasius: „[Vorrede] [1689]“, S. 25f. 97 98

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nis zwischen dem Umfang des in der Form einer Kompaktkommunikation einherkommenden Werkes selber und dem Umfang der Rezension ablesen lässt, wäre die Buchkritik von vornherein ins Leere verlaufen und hätte das Problem des überbordenden Informationsvolumens auf dem abstrakten Niveau der Selbstreflexion gelehrter Kommunikation lediglich reproduziert, was das Ausgangsproblem sogar noch verschärft hätte. Mit ihrer repräsentativen Vorauswahl und Bewertung gelehrter Werke aber erleichtert die Buchkritik zunächst den Aufbau psychischer Erwartungsstrukturen, die den erwarteten literarischen Wert eines Werkes an einen (möglichst unverwechselbaren) Namensstrang oder auch einen Stil oder eine Mode binden. Von dort aus ist dann natürlich auch der Aufbau sozialer Erwartungserwartungen möglich, der über den sich einrichtenden Reputationscode in allmählich geordneter werdenden Bahnen verlaufen kann, auch wenn offene Bewertungen im ausgehenden 17. Jahrhundert noch zur Bildung von Konfliktsystemen und wildem Protestgeschrei führen, das aber angesichts anwachsender Informationsfluten immer weniger angebracht ist, ja für den Fortbestand gelehrter Kommunikation gar zum Hemmschuh wird. Risikoreiche Kapitalund Zeitinvestitionen ins Blaue hinein konnten auf dem Umweg über literaturkritische Bewertungen weitgehend vermieden werden, wenngleich ein hundertprozentiger Schutz vor Erwartungsenttäuschungen natürlich auch auf diese Weise nicht garantiert werden konnte. Zur ökonomischen Dimension der Selbstreflexion gelehrter Buchkritik gehört ferner, dass Thomasius versucht, einige der eventuell gegen die Rezensionspraxis der Monats=Gespräche gerichteten wirtschaftlichen Bedenken seitens der Verleger und Buchhändler zu zerstreuen, die offenbar in ihrer Furcht vor neuer Konkurrenz die Befürchtung hegten, dass die Leser im Zuge der Rezeption der Buchrezensionen Kauf und Konsumption der Werke selbst vergäßen und sie daher Einkommenseinbußen würden hinnehmen müssen. Stattdessen betont Thomasius den auch ökonomischen Nutzen der gelehrten Buchrezensionen als Kaufanreiz: Es sind ihrer nicht wenig der irrigen Meinung / als wenn es besser wäre / daß man dergleichen Journale gar nicht mache / weil die Leute sich nur begnügten / die extracte Aus denenselben zulesen / die Bücher aber selbsten liegen liessen / und solcher Gestalt durch die Journale denen Buchführern nicht alleine ihre Nahrung entzogen würde / sondern es würden auch die Leute angewehnet / faul zu werden / und sich auf die Lesung dergleichen extracte zuverlassen. Wider dises judicium nun können die Journale, so sich der kürtze befliessen / gar leichte antworten / dass vielmehr durch ihre excerpta die Leute die Bücher zu lesen angefrischt würden / wenn man ihnen durch eine kurtze relation das Maul wässerig machte / und sie anlockte / desto mehr Bücher zu kauffen / von welchen sie sonsten nicht einmal etwas gewust hätten / wodurch die Buchführer auch desto mehr Vortheil haben.101

Es verhält sich also gemäß der hier von Thomasius vorgetragenen Konzeption tatsächlich so, dass schon zu diesem frühen Zeitpunkt das Buchrezensi101

C. Thomasius: „[Gespräch II] [1688]“, S. 233f.

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onswesen auch als Schnittstelle zwischen gelehrt-literarischer und ökonomischer Sphäre fungiert und nicht nur innersystemisch zwischen Autoren und Lesern vermittelt, denn einerseits wird die Auswahl des Lesestoffs an sich erleichtert, ja durch dessen Bekanntmachung überhaupt erst ermöglicht, andererseits führt die kritische Schau aktueller Werke auch zu Steuerungseffekten auf dem Buchmarkt. Interessierte Leser belassen es nicht beim Überfliegen der Rezensionen, sondern werden dazu angereizt, die betreffenden Bücher überhaupt erst zu kaufen, d.h. sie werden dazu gebracht, sich auch als Wirtschaftssubjekte jenseits bloß ästhetischer Erfahrung zu engagieren. Tatsächlich hatte Thomasius bereits in einer kurzen, dem eigentlichen Text vorangestellten Notiz zur ersten Ausgabe der Monats=Gespräche vom Januar 1688 darauf hingewiesen, dass der Leipziger Buchhändler Moritz George Weidmann alle Anstrengungen unternehmen werde, sämtliche in seiner buchkritischen Zeitschrift „referierten und angeführten Bücher in seinem Buchladen bereit zu haben.“102 Es bestätigt sich somit an dieser Stelle die These, dass der auf Wertungsakten fußende Reputationscode schon in der Initialphase seiner Etablierung, also im Vorfeld der Umstellung auf funktionale Differenzierung, die Errichtung relativ stabiler intersystemischer Leistungsbeziehungen zwischen gelehrter und wirtschaftlicher Kommunikation begünstigt hat und dass somit das in der Anfangsphase seiner Abkapselung von der gelehrten Kommunikation begriffene Literatursystem bereits sehr früh optimal auf die in seiner Umwelt unter dem Einfluss der protestantischen Arbeitsethik aufblühende Geldwirtschaft mit modernem Zettelbankwesen eingestellt war, die den Anbieter alleine mit der Last der Warenverfügbarkeit belud. Die sofort erfolgende Rücksichtnahme auf möglicherweise tödliche ökonomische Vorbehalte gegen das buchkritische Projekt der Monats=Gespräche erlaubte es, Werke nicht nur als gelehrte Kommunikationsofferte mit selbstorganisierter Qualitätskontrolle, sondern gleichzeitig auch als Wirtschaftsgut zu betrachten und mit ihnen eine Form des Handels zu betreiben, der Investoren hinreichende Erwartungssicherheit bot. Nun könnte man einwenden, dass diese durch den Reputationscode initiierte Dauerintersystembeziehung zwischen Kunst und Wirtschaft in der Tendenz eine Bedrohung für die zu erkämpfende Autonomie der literarischen Kommunikation darstelle, da sie in gewisser Weise den literarischen Prozess selbst ökonomisiere. Literarisches Ansehen, ein hohes künstlerisches Renommee, lässt sich aber nicht kaufen, jedenfalls nicht im Falle eines voll ausgebildeten Rezensionswesens: Es dürfte unmöglich sein, alle Rezensenten zu bestechen, um auf diesem Wege ein hohes spezifisches symbolisches Kapital sicherzustellen. Aber das war natürlich zur Zeit des Thomasius noch keineswegs der Fall, denn der Umfang buchkritischer wie literaturkritischer Tätigkeit mit ausdrücklichen Werturteilen in deutscher Sprache war zu diesem frühen Zeitpunkt noch minimal und die gelehrte Kommunikation bei exogenen Interventionen dieser Art entsprechend anfäl-

102

C. Thomasius: „Zur Nachricht [1688]“, unpag.

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lig. Es wäre daher wohl angebracht, die gelehrte Kommunikation, die eine Übergangserscheinung der turbulenten Zeit der Umstellung von Stratifikation auf funktionale Differenzierung darstellt, als halbautonom zu bezeichnen, so wie wir das bereits getan haben. Alles in allem ist also unübersehbar, dass die gelehrte Buchkritik von Anfang an tatsächlich auch auf exterritoriale ökonomische Zwänge eingerichtet war. Evolutionär dürfte das den Einbau eines analogen Reputationscodes in das Strukturinventar des Literatursystems erleichtert haben, denn dieser sich allmählich einschleifende Selektionsmechanismus verlieh der literarischen Kommunikation schon in ihrer Formierungsphase eine hohe Reizbarkeit gegenüber den Anforderungen eines der wichtigsten funktionalen Teilsysteme der modernen Gesellschaft und trug so zum Selbsterhalt des Systems bei, ohne dass es zu einer Verschmelzung von Wirtschaft und Literatur gekommen wäre.103 II.1.6 Zwischenfazit I Thomasius vertritt also keinen vornehmlich schichtungsbezogenen, sondern schon einen an Funktionsbezügen orientierten multifunktionalen Literaturbegriff, demzufolge die vormoderne Literatur als Teilkomponente gelehrter Kommunikation in Erscheinung tritt. Die Forderung nach einer Aufhebung der althergebrachten ständischen Ehrauffassung innerhalb der Gelehrtenwelt kann ebenfalls bereits als Abkehr vom stratifikatorischen Differenzierungstyp und als Hinwendung zur funktionalen Differenzierung aufgefasst werden, wenngleich Thomasius keineswegs die Dominanz des adligen Schichtsystems offen in Abrede stellt. Trotz der vorsichtig hervorgebrachten funktionalen Ausrichtung ließ sich das Projekt eines buchkritischen Journals nicht ohne konkreten Rekurs auf den stratifikatorischen Ehrbegriff verwirklichen, wie die in den Monats=Gesprächen intensiv verwendete Ehrsemantik deutlich macht. Die von Thomasius vertretene Ehrauffassung macht aber Schluss mit den überkommenen Standesdünkeln und ersetzt das Geburtsprivileg des Adels durch eine von Protestantismus und Vernunftverehrung geprägte Leistungsideologie, wenn auch nur im relativ bescheidenen Rahmen gelehrter Kommunikation. Die Ehre der Gelehrten, also ihre literarische wie wissenschaftliche Reputation, wird dabei im Wesentlichen durch buchkritische Wertungsakte konstruiert. Da die an Leistungen gebundene Reputation im Kontrast zur Standesehre niemanden mehr grundsätzlich ausschloss und (zumindest theoretisch) von jedem erworben werden konnte, war sie auch in der Lage, die Umstellung auf funktionale Differenzierung zu überdauern. In 103

Man mag dies als Indikator für die herausragende Bedeutung des Wirtschaftssystems sehen. Die Frage, ob die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft tatsächlich heterarchisch nebeneinander stehen, wie Luhmann glaubte, oder hierarchisch gestaffelt sind, können wir hier allerdings nicht weiter verfolgen, obwohl es sich um eine extrem wichtige Problematik handelt.

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Verbindung mit dem ebenfalls von Thomasius attestierten niedrigen Institutionalisierungsgrad sowie dem von Thomasius gleichermaßen reflektierten Anwachsen des Informationsvolumens entstanden so innerhalb der gelehrten Kommunikation die Voraussetzungen für ein Aufdauerstellen des Reputationscodes in Gestalt eines stabilen Strukturmechanismus. Trotz dieser idealen Voraussetzungen konnte sich das von Thomasius initiierte buchkritische Journal jedoch nicht länger als zwei Jahre auf dem Markt journalistischer Kommunikationsofferten halten. Die Ursache hierfür scheint vor allem darin zu bestehen, dass Thomasius’ nichtständisches, partikularistisches Konzept gelehrter Reputation nicht auf Gegenliebe stieß und die offen wertende Buchkritik nicht als sachorientierte, legitime Manöverkritik aufgefasst wurde, die nur die Gelehrten- bzw. Künstlerrolle betraf, sondern als Frontalangriff auf die Ehre der ganzen Person des Verfassers einer gelehrten Schrift. Der durch den Buchdruck und das Entstehen einer gelehrten Öffentlichkeit evozierte Kontrollverlust der Autoren über das Adressatenfeld zerstörte die althergebrachte interaktionssystemische Intimität eingeschworener Freundeszirkel, aber Ende des 17. Jahrhunderts konnte der Umbau sozialer Erwartungsstrukturen, der für ein reibungsloses Funktionieren des von Thomasius vertretenen Konzepts einer gelehrten Buchkritik notwendig gewesen wäre, noch nicht mit den rapiden Veränderungen im Bereich der Kommunikationstechnologie Schritt halten. Die Erwartungsstrukturen der stratifizierten Gesellschaft waren um 1690 anscheinend noch ganz auf die Prävalenz von Interaktionssystemen und damit auf Kommunikation unter Anwesenden sowie auf Totalinklusion der Personen eingestellt. Kritik von Angesicht zu Angesicht galt als ungalante, inakzeptable Kränkung des ganzen Menschen und seiner persönlichen, unteilbaren Ehre. In der Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks hielt diese Konvention noch eine ganze Weile vor und wurde offenbar auch auf die Fernkommunikation appliziert. Es brauchte einfach noch ein bisschen Zeit, bevor die gelehrte Kommunikation die eigene Struktur an die neuen verbreitungsmedialen Umweltbedingungen angepasst hatte, indem sie ein Reputationsmodell installierte, das den ursprünglichen Forderungen des Thomasius stark ähnelte, wie wir sehen werden. Ende des 17. Jahrhunderts war es jedoch noch nicht möglich, offen wertende literaturkritische Zeitschriften wie die Monats=Gespräche dauerhaft sozial zu etablieren. Das buchkritische Projekt des Thomasius konnte nicht mehr sein als eine erste Mutation, die für die Evolution literarischer und wissenschaftlicher Kommunikation allerdings wegweisend war. Langfristig ließ sich nämlich auf personal über Verfassernamen – später auch Stile und Moden – zugerechnete Reputation als Strukturierungsmechanismus literarischer Kommunikation natürlich nicht mehr verzichten, da die Literatur sonst an ihrem eigenen Informationsaufkommen erstickt wäre. Die Buchkritik der gelehrten Kommunikation schickte sich an, die konventionelle, rein produktionsästhetisch orientierte poetologische Reflexion Alteuropas mit ihrer zunehmend obsolet werdenden Funktion einer „möglichst restlosen Speicherung und Archivierung des bewahrens- und merkwürdigen

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Wissens“104 der protoliterarischen Kommunikation durch einen scharf selektierenden Mechanismus zu ersetzen, der unter Verwendung einer mit dem Objektivitätsanspruch des Wahrheitsmediums der Wissenschaft nicht mehr zu vereinbarenden Geschmackssemantik regelte, was alles aus dem sozialen Gedächtnis zu tilgen war und dafür sorgte, dass die Leser mit den Verfassernamen vertraut gemacht wurden. Außerdem erleichterte das offene Bewerten gelehrter Werke einen möglichst enttäuschungsresistenten, risikoarmen Einsatz ökonomischer sowie zeitlicher Ressourcen seitens potenzieller Leser. Die von Haus aus kritikfeindliche Galanterie musste so zwangsläufig zum Auslaufmodell werden, aber auch das Zusammengehen von Wissenschaft und schönen Künsten sah sich zunehmenden Schwierigkeiten ausgesetzt, die schließlich zur Trennung beider Bereiche führen sollten.

II.2 D IE A LLGEMEINE D EUTSCHE B IBLIOTHEK F RIEDRICH N ICOLAIS (1765-1806) Die nächste Zeitschrift, die wir im Rahmen unserer Analyse der evolutionären Karriere des Reputationscodes untersuchen wollen, zeichnet sich durch die Herausgeberschaft Friedrich Nicolais aus. Es gibt eine Reihe von Gründen, die den Einbezug der bekanntesten von Nicolai verlegten Rezensionszeitschrift, der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (ADB), an dieser Stelle rechtfertigen. Zunächst wäre die im Kontext der systemtheoretisch motivierten Erörterung evolutionärer Prozesse bedeutsame, außergewöhnlich lange Lebensdauer der ADB zu nennen, die zwischen 1765 und 1806 in 256 Einzelbänden erschien und somit gleich mehrere literarische Epochen wie Aufklärung, Sturm und Drang, Weimarer Klassik bis hin zur Frühromantik umspannte. Damit fällt die Lebenszeit der ADB auch in die entscheidende Phase der Umstellung von Stratifikation auf funktionale Differenzierung, ein vielschichtiger Prozess, der sich selbstverständlich auch auf Inhalt, Programmatik und Erfolg von Nicolais Journal auswirkte. In der ADB wurden insgesamt ca. 60.000 überwiegend offen wertende Buchbesprechungen aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen publiziert, weshalb die Zeitschrift, die aus den nach 1759 veröffentlichten Briefen, die neueste Literatur betreffend hervorging105, auch teilweise abschätzig als „Rezensieranstalt“ bzw. „Rezensierfabrik“106 betitelt wurde. Darüber hinaus muss man konstatieren, dass sich die ADB über einen langen

I. Stöckmann: Vor der Literatur, S. 6. Siehe R. Wild: „Stadtkultur, Bildungswesen und Aufklärungsgesellschaften“, S. 119f. 106 U. Schneider: Friedrich Nicolais ADB als Integrationsmedium, S. 12. Die Autorin weist im Übrigen darauf hin, dass andere Schätzungen gar von 80.000 Rezensionen ausgehen. 104 105

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Zeitraum, in dem die „Nicolaischen Bibliotheken herrschten“107, als erfolgreich erwies und beim Publikum eine hohe Akzeptanz erfuhr, was sich leicht an der „im Vergleich mit anderen Zeitschriften relativ hohe[n] Auflage“ ablesen lässt: Bis 1782 verzeichnet die Auflagenstärke der ADB ein stetiges Wachstum, erst 1783 wurde die Auflage ein erstes Mal von 2.500 auf 2.200 Exemplare herabgesetzt, um dann sukzessive in den folgenden Jahren immer weiter zurückgefahren zu werden.108 Auch der Absatz brach nach und nach immer mehr ein; wurden 1793 mit Beginn der bis 1800 andauernden zeitweiligen Verlegerschaft Carl Ernst Bohns, der die Zeitschrift in Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek (NADB) umtaufte, bei einer Gesamtauflage von 1.800109 noch 926 Ausgaben verkauft, so gingen die Verkaufzahlen bis zur Jahrhundertwende bis auf 725 Exemplare zurück.110 Bis 1785 hatte die ADB also „ihre Blütezeit hinter sich“111, was sich auf innerinstitutionelle Probleme, aber auch auf eine „veränderte Kommunikationsstruktur in der Gelehrtenrepublik“112 zurückführen lasse, so Ute Schneider. Sicherlich muss man in diesem Kontext kommunikationsstrukturellen Wandels konstatieren, dass die ADB nicht zuletzt aufgrund ihres allgemeinwissenschaftlichen Universalitätsanspruchs in Zeiten immer stärker anlaufender Ausdifferenzierung der Gesellschaft in funktionale Teilsysteme zunehmend zum Auslaufmodell wurde und wegen ihres Einbezugs wissenschaftlicher wie künstlerischer Werke noch, wie wir sehen werden, der multifunktionalen gelehrten Kommunikation zuzurechnen ist. In den ersten zwei Jahrzehnten jedoch, so der weitgehende Konsens in der germanistischen Buchwissenschaft, bildete Nicolais Zeitschrift den „Höhepunkt und Abschluß der Aufklärung in Deutschland“113, avancierte zur „führende[n] Literaturzeitung der Aufklärung“114 und wird heute gemeinhin „als das Rezensionsorgan der deutschen Aufklärung geschätzt“115, dessen publizistische „Verdienste um die deutsche Literatur und das deutsche Kulturleben [...] unschätzbar“116 seien. Laut Siegfried J. Schmidt kann die ADB als „der bedeutendste Informations- und Integrationsfaktor der Spätaufklärung bezeichnet werden (der nebenbei sei-

107 108

109 110 111 112 113

114 115

116

H. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 37. Ebd., S. 10f. Auch Günther Ost spricht von 2.500 Exemplaren als Höchstauflage. Vgl. G. Ost: Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek, S. 24. Siehe H. Ischreyt: Die beiden Nicolai, S. 463. Siehe U. Schneider: Friedrich Nicolais ADB als Integrationsmedium, S. 10f. Ebd., S. 10. Ebd., S. 10f. H. Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, S.199. J. Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen. Bd. 1, S. 77 U. Schneider: Friedrich Nicolais ADB als Integrationsmedium, S. 12. Auch R. Wittmann erklärt die ADB zum „bedeutendsten Rezensionsorgan der Aufklärung“. R. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 148. H.-J. Gaycken: Christoph Martin Wieland, S. 13.

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nen Herausgeber noch ernährte).“117 Insgesamt kontribuierten „über 400 Mitarbeiter“118 aus allen damals einschlägigen Fachrichtungen als Rezensenten zum langjährigen Erfolg der ADB, weshalb man auch von einer „Sammlungsbewegung fast aller [...] wichtigen Köpfe“119 der Spätaufklärung sprechen könne. Die Blütezeit der offen wertenden ADB, mit der „die Herrschaft der Rezensierbibliotheken begann“120, fällt also gewissermaßen in das Spätstadium gelehrter Kommunikation und in die Initialphase funktionaler Ausdifferenzierung, weshalb sie sich in besonderem Maße eignet, die evolutionäre Entfaltung des Reputationscodes nachzuzeichnen. Nicolai selbst gelang es, im Fortgang seiner sozialen Laufbahn trotz relativ geringen institutionalisierten Kulturkapitals – er besaß keine universitäre Bildung, war aber ökonomisch abgesichert – eine dominante Position im Subfeld der protoliterarischen literaturkritischen Produktion zu besetzen, weshalb er auch im literaturwissenschaftlichen Diskurs als „Literaturpapst des protestantischen Nordens“121 eingestuft und zum „bewunderten und umschmeichelten, aber auch geschmähten und verhöhnten Präzeptor und Papst der Berliner Aufklärung“122 erklärt worden ist. Mit seiner autodidaktisch erworbenen Kenntnis der Aufklärungsphilosophie, die ein gerütteltes Maß an gesundem Menschenverstand aufweist, entsprach er soziokulturell wohl viel eher dem durchschnittlichen Leser seiner Zeit als die zumeist universitär gebildeten Adepten der aufkommenden Genieästhetik, die sehr auf Distinktion und Elitismus bedacht waren und mit denen Nicolai im Dauerclinch lag. „Gerade seine aufgeklärte ‚Durchschnittlichkeit‘ macht ihn geeigneter als Quelle für seine Zeit als manche der genialen Gegenspieler“123, so das Verdikt Horst Möllers, dem wir uns hier anschließen. Rainer Baasner betont in diesem Kontext: Die Literaturkritik der Aufklärungsepoche ist [...] in der breiten Entfaltung der Zeitungs- und Zeitschriftenliteratur medial verankert. [...] Die wichtigste Rolle hierbei spielt Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek [...], sie ist das Sprachrohr einer Berliner Spätaufklärung, die sich den neu auftauchenden Strömungen des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik entgegenstemmt.124

Wir werten all diese Einschätzungen als Indikatoren für den hohen Grad an Exemplarität, der sich mit der ADB zumindest in den ersten ca. 20 Jahren 117 118 119

120 121 122 123

124

S.J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur [1989], S. 372. U. Schneider: Friedrich Nicolais ADB als Integrationsmedium, S. 8. H. Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, S.199. H. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 44. W. Kriegleder: „Joseph von Retzers Briefe an Friedrich Nicolai“, S. 264. R. Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 148. H. Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, S.6. R. Baasner: „Literaturkritik in der Zeit der Aufklärung“, S. 35.

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ihres Erscheinens, also bis zum Einbruch der Auflagenstärken nach 1783, verbindet und der diese langlebige Zeitschrift zu einem privilegierten Untersuchungsgegenstand macht. Dabei geht es uns natürlich nicht um eine Parteinahme für oder gegen den empirischen Akteur Nicolai oder eine Rekonstruktion und Bewertung seiner literarischen wie ökonomischen Positionsnahmen als Verleger, der das ökonomische Kalkül der Profitmaximierung an den Literaturbetrieb heranträgt, sondern lediglich darum, Rückschlüsse über den Status des Reputationscodes als Sekundärcodierung einer sich jetzt deutlicher als zuvor formierenden, teilsystemisch ausdifferenzierten literarischen Kommunikation zu ziehen und auf etwaige evolutionäre Entwicklungstendenzen aufmerksam zu machen, die sich vor dem Hintergrund der bereits analysierten Monats=Gespräche ergeben. Nicht zuletzt ist es aber auch das beträchtliche Ausmaß an Selbstreflexivität der den Schwerpunkt bildenden ADB und einer ihrer ebenfalls von Nicolai von 1756 bis 1759 verlegten Vorgängerinnen, der Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste (BWK), das die Spurensuche im von Nicolai dominierten literaturkritischen Diskurs jener Jahre erleichtert und lohnenswert macht. Im Zentrum des Interesses stehen dabei vor allem die von Nicolai verfassten Vorreden, die sich direkt an die Leserschaft wenden und das eigene Zeitschriftenprojekt zu erklären und zu legitimieren versuchen. II.2.1 Zur Funktion der Literaturkritik in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek Sowohl in der sich direkt an die Leser richtenden ‚Vorläufigen Nachricht‘, die der BWK vorangestellt ist, als auch in der ‚Vorrede‘ zum zweiten Stück des vierten Bandes der ADB stellt Nicolai ausdrücklich die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion seiner literaturkritischen Zeitschriftenprojekte, wobei er die in der damaligen gepflegten Semantik übliche, die Trennung von moderner Kunst und Wissenschaft vorbereitende Unterscheidung zwischen ‚schönen‘ und ‚ernsthaften‘ Wissenschaften ebenso wie den zu jener Zeit zentralen Terminus des Geschmacks zur Anwendung bringt. Prinzipiell sah Nicolai die zeitgenössischen schönen Wissenschaften durch einen Mangel an wirklich qualitativ hochwertigen Produkten bedroht. So moniert er in einem Brief an Herder aus dem Jahr 1768, dass „viel mittelmäßiges Zeug herauskommt, und noch von vielen für gut gehalten wird.“125 Für wirklich anspruchsvolle Leser barg die Masse an mediokren Werken natürlich die zunehmende Gefahr der Erwartungsenttäuschung, die aber vermieden werden musste, um in den Bewusstseinsumwelten der literarischen Kommunikation ein dauerhaftes psychisches Dabeibleiben zu garantieren. Nicolai hielt es daher für unabdingbar, den Lesern durch vorselektierende Buchbesprechungen die Gelegenheit zu geben, sich „von dem Zustan-

125

F. Nicolai: „An Johann Gottfried Herder [24.12.1768]“, S. 62.

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de unserer Litteratur den rechten Begriff“126 zu machen. Nur wohlinformierte Leser, die, wie Nicolai es formuliert, „die deutsche Litteratur mit allen ihren Mängeln [...] übersehen“127, seien wirklich in der Lage, im Vorfeld der Reimprägnierung eines Werkes einigermaßen verlässliche Erwartungsstrukturen dem Gehalt des Werks gegenüber aufzubauen und sich auf diesem Weg in der gelehrten Kommunikation zurechtzufinden. Maßstab der Erfüllung oder Enttäuschung dieser Erwartungen sollte aber nicht die qualitative Güte des Werkes allein sein –es ging nämlich laut Nicolai dabei überdies um den Spaß beim Lesen. Die „Beschäftigung“ mit den schönen Wissenschaften, so heißt es einleitend in der rein literaturbezogenen BWK, bereite „Vergnügen“ sowie „uneingeschränkte Freude“ und sei „so reizend“ und „so angenehm, daß die Mühe auf das reichlichste belohnet wird, die man anwendet, um zur Vollkommenheit in denselben [durch Literaturkritik] zu gelangen.“128 Der Lohn, also gewissermaßen der gesellschaftliche Mehrwert, den zumindest die protoliterarische Literaturkritik erbringen soll, bestehe also nicht nur in der eine Orientierung erleichternden Taxierung der Qualität eines Werkes, sondern auch in der Ermöglichung einer Steigerung der „Freude“ und des „Vergnügens“ während des Leseaktes. Damit wird deutlich, dass die von Nicolai angestrebte Literaturkritik grundsätzlich einen innerhalb der originären Unterhaltungsfunktion der modernen Literatur liegenden gesellschaftlichen Nutzen erfüllen sollte. Der damalige literaturkritische Diskurs konstituierte sich also in Nicolais Sicht auf der Grundlage eines genuin literaturinternen Problembezugs, d.h. er bildete keinen eigenen Systemzusammenhang, sondern galt Nicolai bereits als fester Bestandteil der kommunikativen Routine des sich ausdifferenzierenden Literatursystems. Trotzdem aber zeigen Nicolais weitere Ausführungen deutlich, dass sich die in der ADB und ihrer Vorgängerin betriebene Literaturkritik konzeptionell noch in einem Kontext gelehrter Kommunikation bewegt, wenngleich die Bande zwischen den einzelnen Teilkomponenten dieser multifunktionalen Diskursformation gelockert erscheinen. Besonders augenfällig wird dies, wenn man Nicolais Stellungnahmen zur zeitgenössischen Geschmacksdebatte betrachtet. Prinzipiell sei es die Aufgabe des Geschmacks, die Güte eines Kunstwerks zu ermessen und dabei „das Mittelmäßige so wie das Schlechte“129 zu verdammen. Literaturbezogene Geschmacksurteile, die jedoch lediglich auf vorbewussten habituellen Neigungen basierten, lehnt Nicolai rundweg ab. Um eventuelle Fehlleistungen der Autoren dekuvrieren und ihre Werke als mittelmäßig enttarnen zu können, müssten Geschmacksurteile wohlbegründet sein und ihre Wertmaßstäbe argumentativ explizieren:

Ebd., S. 62. Ebd., S. 62. 128 F. Nicolai: „Vorläufige Nachricht [1757]“, S. 162. 129 Ebd., S. 162. 126 127

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 203 Zu dieser Genauigkeit des Geschmacks [...] werden wir nie gelangen, wann wir uns nicht bemühen die Gründe der schönen Wissenschaften aufs genaueste zu untersuchen. So lange man die schönen Wissenschaften nur aus einer Art von Instinkt treibt, so lange man die Wahl verschiedener Schönheiten eines Werkes, nur durch ein Geratewohl bestimmet, so lange man aus Gefälligkeit gegen sich selbst und gegen andere, kleine Fehler so wenig achtet, als kleine Schönheiten; kurz so lange man nichts mehr wünschet als nur mittelmäßig zu seyn, so lange wird man nie hoffen können, zu einer erhabnen Staffel des Geschmacks zu gelangen. Die Kritik ist es also ganz allein, die unsern Geschmack läutern, und ihm die Feinheit und die Sicherheit geben kann, durch die er sogleich die Schönheiten und die Fehler eines Werkes einsieht; und ein feiner Geschmack ist nichts anders, als eine Fertigkeit die Kritik jederzeit auf die beste Art anzuwenden.130

Literaturkritische Wertungen dürfen dieser Konzeption zufolge also durchaus Geschmacksurteile sein, aber nur dann, wenn sie einer vorgeschalteten rationalen Analyse folgen, die sich des menschlichen Verstandes bedient und akribisch die zu beurteilenden literarischen Werke auf Unstimmigkeiten und ‚Fehler‘ hin überprüft. Der Fehlersuche kommt dabei u.a. auch deshalb ein so großes Gewicht in Nicolais Konzeption zu, als er der protoliterarischen Kommunikation im Gegensatz zu ihrem Schwesterdiskurs in den ernsthaften Wissenschaften eine inhärente, wohl mit ihrer Unterhaltungsfunktion zusammenhängende Tendenz zur Maskierung künstlerischer Missgriffe unterstellt, wenn er betont: „Aber der Kunst des Dichters ist es leicht, unsere Aufmerksamkeit von den Fehlern ab, auf die Vollkommenheiten zu wenden.“131 Überdies sah Nicolai in der Fahndung nach Fehlern die Möglichkeit eingeschlossen, die noch junge Literaturkritik vor der drohenden Gefahr eines überbordenden, rein willkürlichen Subjektivismus zu bewahren, der sich aus der Unergründlichkeit des individuellen Geschmacks speise. Dieser Gesichtspunkt macht sich beispielsweise in Äußerungen wie der folgenden bemerkbar: Wann man [...] den Geschmack zum Richter über die Werke der schönen Künste machen wollte, so würde man nie gründlich und übereinstimmend urtheilen, und ein und eben derselbe Gegenstand, würde nach dem Eigensinne jeder einzelnen Person, bald schön, bald häßlich heißen müssen. Wir werden hingegen nie befürchten dürfen, falsch zu urtheilen, wann wir die Urtheile unseres Geschmacks jederzeit durch die Gründe der Kritik, bestätigen können.132

Nicht zuletzt die von Nicolai aufgestellte Forderung nach Offenlegung der Argumente, die zu einem Werturteil herangezogen wurden, lässt natürlich vor allem eine für das Aufklärungszeitalter typische wissenschaftliche Übercodierung der vormodernen Literaturkritik erkennen, die hauptsächlich mit den Leitdifferenzen schön/hässlich, wie sie aus der modernen philosophischen Ästhetik bekannt ist, sowie mit der Unterscheidung wahr/falsch

Ebd., S. 162. F. Nicolai: „Brief an Johann Gottfried Herder [24.8.1772]“, S. 82. 132 F. Nicolai: „Vorläufige Nachricht [1757]“, S. 162f. 130 131

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operiert. Angestrebt wird auf diesem Wege weniger eine pluralistische, auf genialischer Intuition und feinsinnigem Einfühlungsvermögen basierende Meinungsvielfalt, als vielmehr ein einheitliches objektives Urteil, dem sich alle anschließen können, weil es kritisch im abstrakten Medium der Wahrheit gebildet wird, die (aus heutiger Sicht natürlich naiv) als einfach und unteilbar konzipiert wird. Zu dem fast schon omnipräsenten Wahrheitsbezug gesellt sich aber auch noch der bereits von Thomasius her geläufige pädagogische Anspruch, wenngleich dieser nur okkasionell mitkommuniziert wird. Es geht Nicolai nicht nur darum, dass literaturkritische Wertungsakte unparteiisch gefällt und objektiv begründet werden sollen, sondern darüber hinaus wird auch eine Geschmacksbildung des aufklärungsbedürftigen deutschen Lesers angepeilt, wenn Nicolai ausführt: „Unser Zweck, ist die Beförderung der schönen Wissenschaften, und des guten Geschmacks unter den Deutschen, und wir werden also nichts unterlassen, was uns zu diesem Zwecke dienlich scheinen wird.“133 Damit ähnelt die Nicolai’sche Funktionsbestimmung der Literaturkritik augenscheinlich in hohem Maße der thomasischen Triade aus Unterhaltung, Wahrheitsfindung und didaktischem Nutzen. Allerdings gibt es doch einen signifikanten Unterschied, der aus evolutionärer Perspektive bedeutsam ist: Nicolai fordert zwar eine Reinigung und Abfederung des Geschmacksurteils von bloß intuitiver Eingebung durch wissenschaftliche Objektivierung und rationale Begründung im Sinne der didaktisch geförderten Bildung eines „wahre[n] Geschmacks“; dieser wissenschaftlich geläuterte, von irrelaufenden Idiosynkrasien befreite Geschmack bleibt in seiner Wirkungsweise aber ausschließlich eine Domäne der schöngeistigen Literatur, also der protoliterarischen Kommunikation. Der Geschmack und die literarische Wertung können wahr oder falsch sein, aber auf dem Gebiet der Wissenschaft besitzt das Geschmacksurteil keine wirkliche Relevanz und dient höchstens als schmückendes Beiwerk, das ohne Einfluss auf die Forschungsergebnisse verbleibt: Der wahre Geschmack an den schönen Wissenschaften, wird auch den ernsthaftern Wissenschaften nie schädlich seyn; er wird denselben Zierathen leihen, ohne ihrer Gründlichkeit Abbruch zu thun; die Wege derselben werden mit Blumen bestreuet werden, aber es werden eben dieselben Wege bleiben.134

Literarische Metakommunikation jedoch, bei allem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität, ließ sich auch von Nicolai nicht als völlig vom Geschmack des Beurteilenden abgetrennt konzipieren, was man als Anzeichen einer sich steigernden Selbständigkeit seitens der protoliterarischen Kommunikation gegenüber dem umgebenden protowissenschaftlichen Diskurs mit seinem bereits weitgehend ausgebildeten Wahrheitsmedium werten kann, denn offensichtlich hat die Literatur zu diesem Zeitpunkt bereits damit 133 134

Ebd., S. 163. Ebd., S. 162.

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begonnen, sich über den Geschmacksbegriff innerhalb der gelehrten Kommunikation eine unverwechselbare eigene Identität zu sichern – schließlich spielt der Geschmack als kategoriale, semantisch abrufbare Größe nur in der kritischen Beobachtung literarischer Werke eine Rolle, nicht aber in der Wissenschaft. Nun könnte man einwenden, dass die Nicolai’sche literaturkritische Programmatik doch gerade dadurch, dass von der Notwendigkeit eines „wahre[n] Geschmack[s]“ die Rede ist, der protowissenschaftlichen Kommunikation zuzuschlagen sei. Dagegen spricht aber nicht nur die Tatsache, dass Nicolai den Geschmacksbegriff exklusiv für die Literatur(-kritik) reserviert. Noch offensichtlicher wird dies anhand eines Briefes aus dem Jahr 1772, den Nicolai an einen seiner Mitarbeiter, Johannes von Müller, geschickt hat und in dem er über die seitens der Rezensenten zu erwartende Schreibweise reflektiert. Dort heißt es: Manche meiner Recensenten, sind freilich alzubedächtig, und wißen vielleicht, bey sehr guten Einsichten, die Kunst nicht, den Leser mit sich fortzureißen, und ihn für die Sache, die sie beurtheilen, zu intereßiren. Diese Bedächtigkeit, schadet zwar, an sich, den Sachen, die sie vortragen, eigentlich nicht, vielleicht kann sie auch für Unbedächtlichkeiten, die einem im Eifer leicht entfahren, behüten, aber freilich wird ein Buch von lauter solchen bedächtigen Leuten geschrieben, leicht etwas langweilig. Es sind also Leute von Ihrem Feuer, nöthig, der deutschen Bibliothek, mehrere Lebhaftigkeit und Intereße zu geben, vielleicht auch, die alzubedächtigen Recensenten, durch Beyspiel zu mehrerer Lebhaftigkeit aufzumuntern.135

Nicolai will also trotz allen Beharrens auf wahre, wissenschaftlich fundierte Geschmacksurteile keine trockene, akademische Literaturkritik, sondern vor allem kunstvolle, interessante Buchbesprechungen, die sich an den weniger auf Verifizierbarkeit hinauslaufenden Bedürfnissen der gemeinen, nur überdurchschnittlich gebildeten Leser orientieren. Damit bindet er seine buchkritischen Projekte eindeutig an die immer wichtiger werdende Unterhaltungsfunktion der Literatur mit ihrer Leitdifferenz interessant/langweilig, deren Kernbegrifflichkeit Nicolai hier in charakteristischer Weise übernimmt. Dazu gehört auch, dass der Berliner Verleger an gleicher Stelle die Forderung aufstellt, den Umfang der Rezensionen proportional zum unterstellten Grad der Interessantheit des beurteilten literarischen Gegenstands zu gestalten: Überhaupt ist die Erinnerung wegen übermäßiger Länge, hauptsächlich für die Recensenten, die entweder ihre Auszüge aus Büchern alzusehr ins Lange dehnen, oder über geringfügige Bücher, und nicht sehr intereßirende Sachen alzulange schwatzen. Dis wird aber wieder gewiß nicht Ihr Fehler seyn. Wenn hingegen in einer Recension, über wichtige Materien, intereßant raisonnirt wird, so kann die Recension schwerlich alzulang werden.136

135 136

F. Nicolai: „An Johannes von Müller [12.6.1772]“ , S. 75f. Ebd., S. 76.

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Uninteressante Werke werden nicht dadurch interessanter, dass man sie ausführlich bespricht, interessante Werke jedoch verdienen eine eingehende Betrachtung, solange diese selbst auf eine interessante Weise vollzogen wird. Es gilt also laut dieser Sichtweise – bei aller Vorliebe fürs aufklärerische Raisonnement – Langatmigkeit und Langeweile unter allen Umständen zu vermeiden, eben weil die Literaturkritik primär auf die Unterhaltungsfunktion der modernen, sich immer stärker ausdifferenzierenden Literatur zugeschnitten sein soll. Literaturkritik, deren praktischer Vollzug „hauptsächlich Zeit“ und „Muße“137 erfordere und damit von Nicolai in direkte Verbindung mit dem gesellschaftlichen Problem des Umgangs mit freien Zeitkontingenten gebracht wird, soll den Lesern zu unterhaltsam gestalteter Zerstreuung in freier Zeit verhelfen. Wir sehen in dieser programmatischen Anbindung der Literaturkritik an die Unterhaltungsfunktion, die sich sicherlich auch der zunehmenden Asymmetrisierung der literarischen Kommunikation verdankt, natürlich Bestätigung für unsere im theoretischen Teil vorgestellte These, die Literaturkritik als metareflexive Selbstbeobachtungsinstanz des Literatursystems aufzufassen und bekräftigen deshalb unseren Vorschlag, sie in das systemtheoretische Modell literarischer Kommunikation aufzunehmen. II.2.2 Die Leistungen der Literaturkritik für psychische Systeme Die wesentliche Leistung, die von den Buchkritiken für die Leser als psychische Systeme erbracht wird, sieht Nicolai, ähnlich wie Thomasius, darin, die Leser in den Stand zu versetzen, von neuen Büchern gelehrter, also sowohl wissenschaftlicher als auch literarischer Provenienz, zunächst überhaupt erst Notiz zu nehmen. Gerade angesichts der politisch-territorialen Zersplitterung Deutschlands seit dem Dreißigjährigen Krieg, die eine diffuse, deutlich etwa von Großbritannien und Frankreich unterscheidbare Anordnung von Zentren und Peripherien ohne klare Schaltstelle mit sich brachte, sei das zeitschriftengebundene Rezensionswesen unverzichtbar, vor allem auch deshalb, weil die Peripherien nicht über die gleiche ökonomische Infrastruktur verfügten wie die lokalen Zentren: Es ist also leicht möglich, daß gewisse Recensionen, wenn sie in der Bibliothek auch noch so spät erscheinen, dennoch manchen Lesern, zumal in kleineren Städten und

137

F. Nicolai: „Vorrede zum zweyten Stük des vierten Bandes [1767]“, S. 378f. Nicolai ergänzt an dieser Stelle überdies: „Zum Anschafften der Bücher, zum Lesen, zum reifen Ueberdenken, zum Schreiben und Ausbessern des geschriebenen gehört auch Zeit [...].“ Manche Rezension würde „aus Mangel der Muße“ erst gar nicht geschrieben.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 207 Provinzen, wo die Buchläden eben nicht so häufig sind, ein ihnen noch unbekanntes Buch bekannt machen.138

Durch die Gründung buchkritischer Zeitschriften wie die ADB wurde überdies eine Möglichkeit geschaffen, sich auch über Bücher zu informieren, die physisch gar nicht im örtlichen Buchhandel vorrätig waren. Der Literaturkritiker sollte dabei als „ein Gesellschafter, der sich mit mir über neue Werke unterhalten, und mich zu fernerer Untersuchung anfrischen will“139, in Erscheinung treten, was aus ökonomischer Sicht natürlich wichtig war, um eine entsprechende Nachfrage überhaupt erst entstehen zu lassen, die natürlich von den vielen Zollschranken in Deutschland nicht unberührt blieb. Auffallend dabei ist, dass Nicolai auch eindeutige Aussagen zum Zielpublikum seiner Zeitschriften macht, das eben „in Deutschland in vielen Städten zum Theil in kleinen Städten, wo nicht einmal ein Buchladen befindlich ist, zerstreuet“140 war. Es ging dem Verleger Nicolai augenscheinlich nicht so sehr darum, der traditionellen Poetologie für Autoren eine kommunikative Plattform zu verschaffen, da sie ja ohnehin längst inthronisiert und aus wirtschaftlicher Sicht wegen ihres vergleichsweise geringen Informationsaufkommens unbedeutend war, sondern um ein Reflexionsmedium, dass an die Stelle der Produzentensicht primär die Rezipientenperspektive setzte. So hebt Nicolai denn auch hervor, „daß wir nicht für diejenigen, die diese Künste wirklich treiben, sondern für die Liebhaber derselben schreiben, und also jederzeit dafür sorgen, daß wir den Lesern angenehm und verständlich bleiben.“141 Damit trug seine literaturkritische Konzeption der Tatsache Rechnung, dass die zunehmende Asymmetrie der gelehrten Kommunikation einen ständig wachsenden Bedarf nach neuen Orientierungsmöglichkeiten schuf, die sich vornehmlich auf Seiten der Leserrolle ergaben, ohne dass dadurch die für die Produktion nach wie vor unabdingbare konventionelle poetologische Reflexion durch die Autoren beeinträchtigt wurde. Schließlich ergaben sich durch die Buchbesprechungen aber auch für die Autorenseite erwartungsstrukturelle Anknüpfungspunkte, und so betont denn auch Nicolai, mittels seiner buchkritischen Zeitschriften „den Schriftstellern Gelegenheit zu geben, über die Vorwürfe, die sie bearbeiten wollen, vorher wohl nachzudenken.“142 Literaturproduzenten, die sich mit den aktuellen Buchbesprechungen vertraut machten, konnten leichter Erwartungshypothesen etwa hinsichtlich des gerade herrschenden Publikumsgeschmacks aufstellen, was angesichts des sich durch die Etablierung des freien Schriftstellers erhöhenden ökonomischen Drucks für viele Autoren überlebenswichtig gewesen sein dürfte, denn schließlich lebten viele Autoren nicht

Ebd., S. 380. F. Nicolai: „Der Anticriticus [1769]“, S. 507. 140 F. Nicolai: „Vorbericht [20.4.1765]“, S. 310. 141 F. Nicolai: „Vorläufige Nachricht [1757]“, S. 163. 142 Ebd., S. 166. 138 139

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mehr von den Zuwendungen ihrer Mäzene, sondern vom Verkaufserlös und konnten daher gegenüber dem Publikumsgeschmack nicht gleichgültig sein. Neben den Aspekt des die Leser mit neuen gelehrten Werken Vertrautmachens tritt aber noch ein weiterer Gesichtspunkt von grundsätzlicher Wichtigkeit, der sich ebenfalls dem Bereich der von der Literaturkritik erbrachten Leistungen für psychische Systeme zuordnen lässt. Im Vorbericht zur ersten Ausgabe der ADB heißt es, die Zeitschrift bediene das Interesse der einzelnen Leser daran, „zuverläßige Nachrichten von den neuen Büchern und von ihrem wahren Werthe zu erhalten, und vielleicht wird es Ihnen auch nicht unangenehm seyn, jährlich gleichsam, die ganze neueste Litteratur wie in einem Gemählde auf einmal zu übersehen.“143 Es geht also darum, dem Leser einen vollständigen Überblick über die aktuelle gelehrte Buchproduktion zu verschaffen und diese offen zu bewerten. Dabei werden im Zuge der handlungsanleitenden Konkretisierung dieses Vorhabens ausdrücklich auch die Selektionsaufgaben der gelehrten Buchkritik thematisiert. So sollen nicht alle Neuveröffentlichungen der deutschsprachigen gelehrten Kommunikation die gleiche Aufmerksamkeit erhalten, sondern nur „Schriften, von einiger Wichtigkeit, sonderlich deutsche Originalschriften, wird man ausführlich recensiren, so dass sich der Leser von dem ganzen Werke selbst aus der Rezension einen richtigen Begrif machen kann. Schriften von minderer Wichtigkeit, und Uebersetzungen wird man nur kürzlich anzeigen, doch mit Beyfügung eines kurzen Urtheils, über den Werth derselben.“144 Je höher also die Qualität eines gelehrten Werkes, desto ausführlicher soll die Rezension desselben ausfallen, so die Nicolai’sche Konzeption im Anfangsstadium der ADB, die später noch, wie wir sehen werden, entscheidend verschärft werden sollte. Angestrebt wurde dabei, den Überblick über den protoliterarischen Anteil an der aktuellen gelehrten Buchproduktion auch etwa durch Exzerpte exemplarischen Charakters zu gewährleisten: Wir werden daher von prosaischen Abhandlungen von einer Wichtigkeit, aneinanderhängende Auszüge geben, worinn der wahre Sinn des Verfassers getreulich vorgetragen werden soll. Wenigstens wird das Neue und Besondere eines Buches jederzeit angezeiget werden; von den Werken des Witzes aber, die keines aneinanderhängenden Auszuges fähig sind, werden wir solche Stellen als Beyspiele anführen, die am geschicktesten sind von der Natur des ganzen zu zeugen.145

Die neuen Werke der gelehrten Buchproduktion sollen zwar ausnahmslos alle besprochen werden – so erklärt Nicolai in einem Brief an Herder aus dem Jahr 1766, „daß der Bibl. das Beiwort allgemein in Absicht auf die F. Nicolai: „Vorbericht [20.4.1765]“, S. 310. Ebd., S. 310. In der Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste heißt es, in ähnlichem Wortlaut: „Unsere vornehmste Sorge, wird dabey seyn, den Lesern einen richtigen Begriff von dem Buche, das wir ihnen vorlegen, beyzubringen.“ F. Nicolai: „Vorläufige Nachricht [1757]“, S. 163. 145 F. Nicolai: „Vorläufige Nachricht [1757]“, S. 163f. 143 144

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algemeine Anzeige aller deutschen neuen Bücher, zukommen werde“146 – was den Umfang der Buchbesprechungen sowie das Inkorporieren von Textauszügen jedoch angeht, müssten seitens der Rezensenten Selektionsentscheidungen getroffen werden, die im Laufe der Zeit, wie sich zeigen wird, noch weiter zunehmen sollten. Auffallend an dieser handlungsanleitenden Programmatik für die Literaturkritik ist dabei natürlich, dass neben der Verwendung der für den Reputationscode konstitutiven Unterscheidung wertvoll/wertlos fast durchgehend auch Bezug auf die wissenschaftliche Leitdifferenz wahr/falsch genommen wird, jedoch eine Wahrheitsauffassung vorliegt, die nicht der prinzipiellen gegenseitigen Unerreichbarkeit psychischer Systeme Rechung trägt, etwa wenn davon gesprochen wird, den „wahre[n] Sinn des Verfassers“ treffen zu wollen. II.2.3 Zum Informationsvolumen gelehrter Kommunikation Die BWK und die ADB, aber auch viele der Briefe Nicolais an Freunde und Mitarbeiter weisen zahlreiche Textstellen auf, die sich explizit mit der Problematik des rapide zunehmenden Informationsvolumens innerhalb der gelehrten Kommunikation befassen. Als Verleger und eifrigem Leser entging Nicolai das rasante Ansteigen der Buchproduktion natürlich keineswegs: Es ist unglaublich, wie sehr das Bücherschreiben zunimmt [...]. Nach einer Berechnung, zu der mir meine Handlungscorrespondenz Stoff an die Hand giebt, kommen in Deutschland, und in den andern Ländern, in deutscher Sprache und von deutschen Verfassern, ungerechnet Disputationen, Programmen und einzelne Gelegenheitspredigten, an Originalen und übersetzten Werken, gewiß jährlich fünftausend Bücher und Traktätchen heraus.147

Betrachtet man allerdings Nicolais Äußerungen zu dieser Thematik in ihrer Gesamtheit, so sticht ins Auge, dass sich der Herausgeber der ADB nicht gerade tiefschürfend mit den gesellschaftlichen Gründen dafür beschäftigt hat, dass seinerzeit „[d]es Bücherschreibens [...] ohnedies nicht weniger, sondern mehr“148 wurde. Stattdessen hat sich Nicolai verstärkt mit den publikationspraktischen Konsequenzen dieser neueren Entwicklung für sein eigenes buchkritisches Titanenwerk auseinandergesetzt – das geht zumindest aus dem Textmaterial hervor, das für diese Arbeit gesichtet wurde. Was die etwas spärliche Suche nach Ursachen für das dramatische Anwachsen der Buchveröffentlichungen betrifft, gerät zunächst die schon an anderer Stelle angesprochene deutsche Kleinstaaterei mit ihren unzähligen Zentren und Peripherien in den Fokus der Beobachtungen. Diese territorialstaatliche Zersplitterung bereite große Schwierigkeiten beim Versuch, die

F. Nicolai: „Brief an Johann Gottfried Herder [19.11.1766]“, S. 2. Zit. n. K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 24. 148 F. Nicolai: „Vorrede [1780]“, unpag. 146 147

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aktuelle gelehrte Buchproduktion erfolgreich zu überblicken. So heißt es in der Vorrede zum zweiten Stück des vierten Bandes der ADB: Die Lage der deutschen Litteratur die nicht in eine Hauptstadt oder Hauptprovinz eingeschränkt, sondern in viele Länder zerstreuet ist, ist an dieser Unbequemlichkeit Schuld. Und eben deßwegen ist es um desto nöthiger, diese so sehr zerstreute Litteratur in etwas zu sammeln, und davon in einer allgemeinen deutschen Bibliothek, wenn es auch etwas später geschehen müste, Nachricht zu geben. Vernünftige Leser haben schon eingesehen, daß man auf diese Weise die ungeheure Menge von Büchern eher übersehen, und das Merkwürdige herauslesen könne.149

Es bleibt jedoch nicht bei diesen geopolitischen Erwägungen allein; die Ursachenforschung führt Nicolai auch noch in andere Bereiche. So sieht er die Ablösung des Mäzenatentums durch das Aufkommen des professionellen Schriftstellers und die damit verbundene Kommerzialisierung des Buchmarktes offenkundig als weiteres Problem an, das für die Explosion des Informationsvolumens verantwortlich zu machen ist. In diesem Zusammenhang unterstellt er der Mehrheit der neuen Berufsgruppe der Berufsschriftsteller reine Profitgier sowie einen aus bürgerlichen Tugendvorstellungen heraus inakzeptablen Hang zu Luxus und Bequemlichkeit, was sie dazu treibe, die eigene Produktion ohne Rücksichtnahme auf die Einhaltung hoher Qualitätsstandards zu forcieren: Die Schriftstellerey ist leider ein Gewerbe geworden. Ein großer Teil der Schriftsteller will sich vom Schreiben nähren. Sie suchen also alles hervor, um Bogen voll zu schreiben, sie zu dem höchsten Preise auszubringen, und davon in Müßiggang und Independenz zu leben.150

Die gewinnsüchtigen Autoren überschwemmen also aus seiner Sicht den Buchmarkt mit künstlerisch defizitären Produkten und tragen insofern eine gravierende Mitschuld an der zunehmenden Unübersichtlichkeit des protoliterarischen Diskurses. Aus Nicolais Sicht wäre es besser gewesen, die profitorientierten Autoren beispielsweise in den Staatsdienst zu übernehmen, um sie auf diesem Wege nicht in die Versuchung zu treiben, aus ihrer finanziellen Not heraus potenziell gewinnträchtige, aber literarisch minderwertige Werke zu produzieren, denn der aufgeklärte, nach Vernunftprinzipien gebildete Staat habe „also wirklich Ursache, die Schriftstellerey, die größtentheils von dieser Art ist, eben nicht zu begünstigen.“151 Für die Buchhändler, die natürlich ein klassisches Beispiel für eine Vermittlung zwischen künstlerischer und ökonomischer Logik sind und das Profitmaximierungsprinzip an das literarische Feld herantragen, hat Nicolai – vermutlich auch, um seine eigene Vermittlerposition als Verleger zu legitimieren – dagegen nur Lob F. Nicolai: „Vorrede zum zweyten Stük des vierten Bandes [1767]“, S. 379f. R. Voigtländer: „Das Vertragsrecht im preußischen Landrecht und der Einfluß Friedrich Nicolais darauf“, S. 10. 151 Ebd., S. 10. 149 150

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übrig. Sie seien die „nützlichere[n] Bürger des Staates“152, die das wertvolle aufklärerische Gedankengut zum Wohle aller verbreiteten. Dass damit auch Geld zu verdienen war, ist Nicolai nicht weiter erwähnenswert. Offensichtlich betrachtete Nicolai, der dem aufgeklärten Absolutismus nahe stand, auch die mühsam erkämpften Fortschritte auf dem Gebiet der freien Meinungsäußerung durchaus mit informationstheoretischer Skepsis. Dabei richtet sich sein Blick auf die österreichische Hauptstadt Wien. Bis zur stufenweisen Lockerung im Sinne einer vom Staat kontrollierten Popularisierung von Reformanliegen in den zwei Dekaden nach 1770 hatten dort besonders strenge, noch von der Kirche bestimmte Zensurauflagen geherrscht, die schließlich unter dem Eindruck der Französischen Revolution wieder verschärft wurden. Auch die zeitweilige Ausweitung der Pressefreiheit bringt Nicolai mit dem rapiden Anwachsen des Informationsaufkommens der gelehrten Kommunikation in direkte Verbindung und geißelt diesen Prozess mit drastischen Worten: Schon vorher ward freilich auch in Wien vielerlei geschrieben; aber eine so unselige Schreibsucht, wie seit der erweiterten Preßfreiheit sich in Wien zeigt, war sonst in Deutschland nirgends zu finden. Ein Wiener Schriftsteller versichert: daß vom ‚1sten April 1781 bis zu Ende Septembers 1782, folglich in einer Zeit von 18 Monaten, bloß in Wien 1172 Schriften erschienen wären.‘153

Die Pressefreiheit hat also dieser Diagnose zufolge einen katalytischen Effekt auf das Informationsaufkommen der protoliterarischen Kommunikation ausgeübt und die Autoren zur Produktion immer neuer Werke in kurzer Zeit angestachelt, was aus Nicolais kulturpessimistischer Sicht natürlich alles andere als qualitätsfördernd war. Der Zensur selbst wird damit indirekt der positive Nebeneffekt unterstellt, der zügellosen Produktion neuer Werke Einhalt geboten zu haben, während die negativen Auswirkungen, wie z.B. die Gefahr einer nicht bloß ökonomischen Heteronomisierung des künstlerischen Feldes durch externe politische oder kirchliche Interventionen – zumindest an dieser Stelle – unerwähnt bleiben. Die Buchkritik sollte also gewissermaßen diese durch die Einführung der Pressefreiheit scheinbar weggebrochene Selektionsbarriere ersetzen, was angesichts der Tatsache, dass die Zensur nicht nach literarischer Qualität, sondern nach politischer und religiöser Konformität ihre Auswahl traf und obendrein auch für die Literaturkritik galt, ziemlich naiv anmutet. Die mit der Professionalisierung des Buchmarktes und der Lockerung der Zensur einhergehende Vervielfachung des Informationsvolumens musste für die alltägliche Praxis einer Rezensionszeitschrift mit Universalitätsanspruch natürlich gravierende Konsequenzen haben. So bekennt Nicolai in der Vorrede zum zweiten Stück des achten Bandes: „[D]er weite Umfang dieses Werks erfordert durchaus, daß ich viele Gelehrten um ihre Beyhülfe 152 153

Ebd., S. 10. F. Nicolai: „Von der Literatur und deren Besserung überhaupt [1784]“, S. 306.

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ersuchen muß.“154 Anscheinend um die Repräsentativität der ADB gewährleisten und demonstrieren zu können, hatte Nicolai schon 1767 betont, dass er „beynahe vierzig Gelehrte“ als Kontribuenten rekrutiert habe, „die in allen Provinzen Deutschlands, und in den Ländern wo deutsche Litteratur ist, zerstreuet wohnen“.155 Dieser Trend sollte sich bis zur Einstellung der Zeitschrift fortsetzen. In der Vorrede zum letzten Band der ADB aus dem Jahr 1806 heißt es in der Retrospektive, es sei immer schwerer geworden, den Überblick über die aktuelle gelehrte Buchproduktion zu behalten, „je größer die Anzahl der Bücher ward, und je mehr daher auch die Anzahl der Mitarbeiter vergrößert werden mußte. Als die ersten drei Bände der alten A.D. Bibl. herausgekommen waren, belief sich die Anzahl der Mitarbeiter noch nicht ganz auf vierzig, jetzt, beim Ende der N.A.D. Bibl. ist ihre Anzahl beinahe einhundertundfunfzig.“156 Bei einer solchen Anzahl von Beiträgern unterschiedlichster Fakultäten und Fachdisziplinen aus allen Teilen Deutschlands ist es sicherlich nachvollziehbar, wenn Ute Schneider im Titel ihrer Monografie die ADB zum „Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik“157 und Klaus L. Berghahn Nicolais Zeitschrift zum „bedeutendsten Integrationsfaktor der Spätaufklärung“158 erklären, um die herausragende Bedeutung der ADB als Bereitstellerin eines über Jahrzehnte stabilen Kommunikationsnetzwerks zu würdigen. Angesichts des exponentiellen Wachstums des Informationsvolumens innerhalb der gelehrten Kommunikation wird der Universalitätsanspruch der ADB aber trotz dieser stattlichen Zahl von Mitarbeitern zu einem zunehmenden Problem. Die ständigen Neuerscheinungen auf allen Fachgebieten lassen sich schon früh kaum noch bewältigen, sie erzeugen einen enormen Zeitdruck seitens der Buchkritik und werden als eine Art Naturgewalt beobachtet, der man hilflos ausgeliefert sei: [M]an bedenke […] die Menge und die Mannichfaltigkeit der zu recensirenden Bücher, man bedenke, wie schwer es hält, [...] das etwa zurükgebliebene nachzuholen, wenn alle Mitarbeiter bereits beschäftigt sind, und eine neue Messe, bald wieder eine Fluth von neuen Büchern drohet.159

Ein probates Mittel der buchkritischen Bewältigung dieser Informationsfluten sieht Nicolai zunächst darin, den Umfang der einzelnen Rezensionen auf ein vertretbares Minimum zu begrenzen. So unterscheidet er zwischen ‚kurzen‘ und ‚langen Nachrichten‘, deren Verwendung er an die Leitunterscheidung des Reputationscodes bindet: Nur noch solche Werke, die eine die per154 155 156

157 158

159

F. Nicolai: „Vorrede zu dem zweyten Stük des Achten Bandes [1769]“, S. 430. F. Nicolai: „Vorrede zum zweyten Stük des vierten Bandes [1767]“, S. 378. F. Nicolai: „Aus: Vorrede zu dem CVten, CVIten und CVIIten und letzten Bande der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek [24.3.1806]“, S. 428f. U. Schneider: Friedrich Nicolais ADB als Integrationsmedium Klaus L. Berghahn: „Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik 1730-1806“, S. 52. F. Nicolai: „Vorrede zu dem zweyten Stük des Achten Bandes [1769]“, S. 424.

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sönliche Reputation des Autoren verbessernde Beurteilung als wertvoll erhalten, sollen ausführlicher besprochen werden. Dagegen könne man sich bei Werken minderen Ranges kurz fassen, wie es in einem Brief an einen unbekannten Korrespondenten heißt, der vermutlich aus dem Jahr 1764 stammt: Die kurzen Nachrichten werden wenn sie am ausführlichsten sind, nur etwa eine halbe oder ganze Seite ausmachen. Bey minder wichtigen oder ganz schlechten Büchern dürfen sie nur in paar Worten bestehen, die ein freies Urtheil über den wahren Werth der Bücher enthalten.160

Überhaupt ermahnt Nicolai seine Mitarbeiter immer wieder zu pointierter Schreibweise. Notfalls, so der Stand der Dinge im Jahr 1767, könne man jedoch auch zusätzliche Ausgaben der ADB in Betracht ziehen, bevor man an eine Aufgabe des noch ganz in der humanistischen Tradition des Polyhistorismus stehenden Universalitätsanspruchs denken könne: Einige Freunde haben auch die Besorgniß geäussert, daß der Plaz von vier Stücken für einen Jahrgang der ganzen deutschen Litteratur zu enge seyn werde. Hierauf erwiedere ich, daß die Verfasser der Bibliothek, künftig sich möglichst befleißigen werden, sich verhältnißweise kurz zu fassen, solten sich aber dennoch die Materien allzusehr häufen, so würde man zuweilen ein Stük mehr, als gewöhnlich, herausgeben.161

Offensichtlich fiel es aber vielen Rezensenten schwer, sich entsprechend kurz zu fassen. Der Grund hierfür dürfte darin bestanden haben, dass sie glaubten, allein ausführliche Buchkritiken könnten wirksam ihr symbolisches Kapital im entstehenden Unterfeld der Literaturkritik vergrößern helfen. Nur so lässt sich verstehen, dass Nicolai in einem Zirkular an die Mitarbeiter der ADB aus dem Jahr 1776 den Versuch macht, die Attraktivität auch der Kurzrezensionen besonders herauszustellen und sie als bedeutenden Beitrag zum Gelingen seines Mammutprojekts zu würdigen: Ueberhaupt siehet man aus den starken Anhängen der Bibliothek, wie nothwendig es sey, sich so viel es möglich ist, der Kürze zu befleißen. Ich wünschte daher, daß alle Bücher die nicht besonders viel neues und wichtiges enthielten, wenn sie gleich an Bänden stark sind, bloß unter den kurzen Nachrichten, angezeigt würden. Man hat verschiedenen kurzen Anzeigen in der Bibliothek, das Lob gegeben, daß darinn mit wenig Worten mehr gesagt sey, als in manchen langen Recensionen anderer Journale. Wie sehr wünschte ich doch, daß die Bibliothek diese nachdrucksvolle Kürze beybehielte! Hingegen ist auch freilich nicht zu läugnen, daß in der Bibliothek einige allzulange Recensionen unwichtiger Bücher befindlich sind. Wie sehr wünschte ich, daß die Verfasser solcher Recensionen den Augpunkt, daß bloß ein wichtiger Einfluß auf die deutsche Litteratur, ein Buch einer ausführlichen Anzeige würdig machen

160 161

F. Nicolai: „An einen unbekannten Korrespondenten [vermutl. 1764]“, S. 28. F. Nicolai: „Vorrede zum zweyten Stük des vierten Bandes [1767]“, S. 380.

214 | W ERTVOLLE W ERKE kann, nicht verfehlen möchte! daß Sie sich erinnern möchten, jede Recension, solle ein Theil einer allgemeinen deutschen Bibliothek seyn!162

Es bestätigt sich damit außerdem die These, dass sich auch die Rezensenten der kritischen Beurteilung ihrer Arbeit durch andere an der gelehrten Kommunikation partizipierenden personalen Systeme aussetzen, d.h. der Reputationscode gilt für Autoren wie Kritiker, ganz so, wie es schon Thomasius in seinem Entwurf skizziert hatte. Nicolai macht überdies deutlich, dass weitere Möglichkeiten der Platzersparnis existieren, die weniger stark vom aktualisierten Wert der Unterscheidung wertvoll/wertlos abhängen. So gibt er, was den Umgang mit Autorennamen und die notorisch weitschweifigen Buchtitel der damaligen Zeit angeht, im gleichen Rundschreiben an die Mitarbeiter der ADB vor: Die langen Titel der Bücher, die zuweilen im Abdrucke, beinahe eine halbe oder ganze Seite einnehmen, könnten künftig, zu Ersparung des Raums, abgekürzet werden. Es dürfen nur bloß die Worte, die zum Verständniße des Titels nothwendig sind, die Vornamen und Geschlechtsnamen des Verfassers, nebst kurzer Anzeige seines Amts, der Ort des Drucks, der Geschlechtsnamen des Verlegers, das Format, die Jahrzahl, und die Anzahl der Bogen oder Seiten, angeführt werden. Weitläufige Titulaturen des Verfassers, lange Zusätze zum Haupttitel des Buchs, Mottos u. d. gl. können füglich wegbleiben.163

Dass auf die Nennung der Autorennamen nicht verzichtet werden konnte, spricht dafür, dass sich personal zurechenbare, auf die Bewertung von Leistungen zurückgehende Reputation zu diesem Zeitpunkt längst zu einem wichtigen, standardisierten Faktor der Abwicklung gelehrter Kommunikation entwickelt hatte. Nicolais ursprüngliches Ansinnen, durch starke Verkürzung insbesondere der negativen Rezensionen den Universalanspruch auf Berücksichtigung aller Neuerscheinungen innerhalb nur eines Periodikums aufrecht erhalten zu können, erwies sich indes auf Dauer als nicht praktikabel. Die ständig dringlicher werdende Problematik des anschwellenden Informationsvolumens zwang Nicolai offensichtlich, noch wesentlich schärfere Selektionsschnitte in seine buch- und literaturkritische Programmatik zu inkorporieren. So erklärt er der Leserschaft der ADB in einer Vorrede aus dem Jahr 1780: Es weiset die Erfahrung immer deutlicher, wie unmöglich es sey, alle neue herauskommende Bücher, keines ausgenommen, anzuzeigen. [...] Ich scheue zwar bey wichtigen Werken, deshalb weder Mühe noch Kosten. Es scheinet aber um so viel unnöthiger zu seyn, Bücher von mittelmäßigem Werthe, wenn sie nicht auf den Messen zu haben sind, aus entfernten Gegenden, ausdrücklich blos zum Rezensiren kommen zu lassen, da die Menge der schon vorhandenen neuen Bücher, bereits so

162 163

F. Nicolai: „An die Mitarbeiter [12.12. 1776]“, S. 112f. Ebd., S. 113

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 215 groß ist, daß sie nicht alle können angezeigt werden, wenn man nicht die Anzahl der jährlich herauskommenden Stücke der Bibliothek noch mehr vermehren wollte.164

Damit werden erstmals Neuerscheinungen, die den negativen Wert des Reputationscodes aktualisieren, explizit von der Verpflichtung selbst zu nur kurzer Erwähnung ausgenommen. Während „freylich manche minder wichtige Schriften noch fehlen könnten“, so Nicolai an gleicher Stelle ergänzend, müsse garantiert bleiben, „daß nunmehr kein wichtiges [...] Buch werde ausgelassen seyn“.165 Wichtig dabei sei nicht mehr primär die akribische Berücksichtigung jeder einzelnen Neuveröffentlichung, sondern lediglich die Bewerkstelligung einer die Orientierung des Lesers erleichternden Gesamtschau: Man wird bey der Fortsetzung dieses Werks, beständig die ganze Deutsche Litteratur vor Augen haben. Man wird Bücher von allen Arten anzeigen. Von wichtigen wird keines ausgelassen werden. Was aber etwa von unwichtigen Büchern wegbleiben möchte, wird in dem allgemeinen Gemählde der Neuen deutschen Litteratur in einem Zeitpunkte von fünf Jahren, keine sonderliche Veränderung machen können.166

Orientierung ist demzufolge nur durch das Weglassen bestimmter, hier vor allem auf den Rejektionswert des Reputationscodes bezogener Informationen möglich, während ein allzu eng geknüpftes Netz buchkritischer Reflexion, das keine Neuerscheinung unerwähnt lassen will, das Urproblem lähmender Informationsüberschüsse letztlich nur fortschleppt, ja sogar intensiviert. Die ADB/NADB ist indes letztlich, was die Verarbeitung von Informationen angeht, offensichtlich in genau diese selbst erkannte Falle getappt, weil Nicolai es nicht vermochte, seinem buchkritischen Lebenswerk eine diesbezüglich hinreichend scharf selektierende Programmatik zu verpassen. Das geht auch aus dem Resümee hervor, das er angelegentlich der Veröffentlichung des letzten Bandes der NADB im Jahr 1806, also zeitgleich mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, verfasst hat. An dieser Stelle belegt Nicolai, noch immer dem unerreichbaren Ziel einer allumfassenden Bücherschau hinterhertrauernd, die grassierende Selbstaufblähung seiner Zeitschrift mit eindrucksvollen Zahlen, ohne allerdings zu erkennen, dass genau hier neben inhaltlicher Inflexibilität einer der Hauptgründe für das langsame Eingehen eines eben in prekärer Weise „so weitläufigen Werkes, als die allgemeine deutsche Bibliothek ist“167, zu suchen gewesen wäre: Zwar ist die Herausgabe der A. D. Bibl. seitdem ich sie wieder übernahm, auf mancherlei Weise viel beschwerlicher geworden, besonders auch durch die ungeheure Zunahme der Bücher; denn die deutsche Literatur, so wie der deutsche Buchhandel, F. Nicolai: „Vorrede [1780]“, unpag. Ebd., unpag. 166 Ebd., unpag. 167 Ebd., unpag. 164 165

216 | W ERTVOLLE W ERKE ersticken nach und nach, gleich sorglosen Schlemmern, in ihrem eigenen ungesunden Fette. Im J. 1765 kamen jährlich nur vier Stücke oder zwei Bände heraus, jetzt, gegen das Ende sind einigemal jährlich achtzehn Bände gedruckt worden. Demungeachtet, und obgleich jetzt die A. D. Bibl. viel enger gedruckt ward als im Anfange, war es doch unmöglich, alle herauskommende Bücher vollständig anzeigen zu lassen.168

Die von Nicolai an dieser Stelle verwendete Metaphorik ist dabei nicht nur aufgrund ihrer Eindringlichkeit bemerkenswert. Auffallend ist überdies die Selbstbezüglichkeit, die in der Formulierung von den an ihrem eigenen Fett erstickenden, gefräßigen Feinschmeckern zum Ausdruck kommt, verweist sie doch nicht nur auf eine enorme Zunahme des Informationsvolumens, sondern auch auf die Umstellung des primären Differenzierungstyps der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung, die sich in der Zwischenzeit vollzogen hat. Die Ausweitung der Buchproduktion wertet Nicolai nicht als eine grundsätzlich zu begrüßende Zunahme an Komplexität in den einzelnen Funktionssystemen, die nach neuen Wegen der Informationsverarbeitung verlangt, sondern als eine Art Selbstvergiftung des wissenschaftlichkünstlerischen Diskurskomplexes, die das nach wie vor angestrebte Projekt einer allgemeinwissenschaftlichen Rezensionszeitschrift mit Totalitätsanspruch torpediere und sogar den Fortgang der Autopoiesis der gelehrten Kommunikation bzw. der aus ihr hervorgegangenen hochspezialisierten Kommunikationstypen gefährde. Dass sich aus der Umstellung auf funktionale Differenzierung im Grunde genommen zwingend eine Spezialisierung der Rezensionsorgane auf Kunst oder Wissenschaft und in diesen Bereichen gar eine Tendenz zur Binnendifferenzierung ergab, etwa wenn man sich die Entwicklung innerhalb der Wissenschaft anschaut, zog er nicht in Betracht, obwohl Nicolai in der ADB zumindest im Bereich der Kurzrezensionen von Anfang an eine Spartenbildung befürwortet hatte, zu der ihm Freunde geraten hatten.169 Gewissermaßen gehört Nicolai zu den Verlierern der Umstellung auf funktionale Teilsysteme; bis zum Schluss geht er davon aus, dass Wissenschaft und Kunst einen einheitlichen Zusammenhang bilden, und es gelingt ihm nicht, mit der Zeit zu gehen und sein Journal den neuen Umweltbedingungen anzupassen, sondern er erkennt lediglich die Unhaltbarkeit seines Versprechens, im Rahmen eines einzigen Rezensionsorgans einen umfassenden Überblick über alle Neuerscheinungen im szientifischen bzw. künstlerischen Diskurs zu gewährleisten. Diese in ihren Konsequenzen nicht hinreichend berücksichtigte Einsicht in die Unmöglichkeit, den Universalitätsanspruchs durchhalten zu können, war aber kein blitzartiges Ereignis, das sich von einem Augenblick zum anF. Nicolai: „Aus: Vorrede zu dem CVten, CVIten und CVIIten und letzten Bande der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek [24.3.1806]“, S. 428f. 169 So heißt es in einem nicht genau datierten Brief: „Die Recensionen werden beliebig hintereinander gesetzt. Die kurzen Nachrichten aber, damit bey der Menge doch einige Ordnung sei, werden nach Disziplinen eigetheilet werden.“ F. Nicolai: „An einen unbekannten Korrespondenten [vermutl. 1764]“, S. 28. 168

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deren vollzog, sondern ein langwieriger Prozess, dessen Rekapitulation verdeutlicht, in welchem Maße der Selektionsdruck zunahm, den das steigende Informationsvolumen auf die gelehrte Kommunikation und ihre wissenschaftlichen wie literarischen Ableger ausübte. Vom Beginn seiner Herausgeberschaft der ADB an sah sich Nicolai zur kommunikativen Auseinandersetzung mit dieser Thematik gezwungen. In einem vermutlich 1764 verfassten Brief an einen unbekannten Korrespondenten heißt es in Bezug auf die unterschiedlichen, eventuell zu rezensierenden Textsorten: „Nur kan man da ohnedem die Materie so gar reich ist, Dißertationen, Predigten und andere kleine nicht viel bedeutende Tractätgen füglich gar weglaßen, um zu nüzlichern Sachen den Raum zu sparen.“170 Diese Einschränkung gilt auch noch fünf Jahre später. Zwar wird nach wie vor ein weitreichender Anspruch auf nahezu komplette Erfassung der aktuellen gelehrten Buchproduktion erhoben, der sich in dem Versprechen bekundet, man werde sich „ferner bemühen, die allgemeine deutsche Bibliothek, so vollständig zu machen, als es möglich ist“171, aber Nicolai gibt seiner Leserschaft im gleichen Atemzug ebenfalls zu bedenken, dass die ADB „nicht ganz vollständig seyn“ könne, da „es sich aus mancherley Ursachen schwerlich thun lasse, alle neue Bücher ohne Ausnahme anzuzeigen.“172 Als Grund für dieses vorsichtige Aufweichen des Universalitätsanspruchs tritt neben die alles überstrahlende Expansion der Buchproduktion aber auch die territoriale Größe Deutschlands, die für die Abwicklung gelehrter Kommunikation als Hindernis erkannt und entsprechend benannt wird, wobei man vermuten darf, dass es Nicolai auch hier um die deutsche Kleinstaaterei und die damit korrespondierenden infrastrukturellen Behinderungen etwa in Gestalt unterschiedlicher Zensurbedingungen und Zölle ging: Unser Zweck bleibt also, ausser den oben ausgenommenen Arten von Schrifften, alle neue Bücher anzuzeigen, so viel uns nämlich bekannt werden: denn es ist leicht zu erachten, daß bey der Weitläufigkeit von Deutschland, uns manches neue Buch unbekannt bleiben könne.173

Diese territorialen Hindernisse beim Versuch der totalen Erfassung gelehrter Neuerscheinungen verlangten natürlich nach praktischen Gegenmaßnahmen. Nicht nur, dass Dissertationen, Predigten und kleinere Traktate der Selektion zum Opfer fallen sollten – überdies, so Nicolai, habe man sich entschlossen, „künftig anstatt vier, jährlich fünf Stücke heraus zu geben“ und man werde „sich bemühen, die Nachrichten von minder wichtigen Büchern abzukürzen, damit der Raum zu der ungeheuren Menge von neuen Büchern, zureiche.“174 Der Selektionsmechanismus, mit dessen Hilfe die ADB dazu Ebd., S. 26. F. Nicolai: „Vorrede zu dem zweyten Stük des Achten Bandes [1769]“, S. 424. 172 Ebd., S. 424. 173 Ebd., S. 425. 174 Ebd., S. 425. 170 171

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befähigt werden sollte, das hohe Informationsvolumen der gelehrten Kommunikation bewältigen zu können, wurde also nicht nur an bestimmte Textgattungen gekoppelt, sondern auch, auf dem Umweg über die schon an anderer Stelle zu Einsatz gelangte Opposition wichtig/unwichtig, an die Leitunterscheidung wertvoll/wertlos des Reputationscodes. Das Ansinnen, nach wie vor alle gelehrten Werke zu besprechen und zu bewerten, die nicht unter die genannten Textsorten fallen, veranlasste Nicolai jedoch dazu, auf den großen Vorzug der ADB zu verweisen, der darin bestehe, dass die Leser trotz der genannten Selbstbeschränkungen „in diesem Werke, die neue deutsche Litteratur, vollständiger übersehen können, als es sonst irgend wodurch geschehen könnte.“175 Ein Jahr später dann, im Jahr 1770, nimmt Nicolai einen neuen Faktor in seine Bestandsaufnahme auf, nämlich den des Aktualitätsdrucks, der auf den Rezensionszeitschriften lastete. Noch immer gelte das Versprechen, dass man durch das Lesen der Buchkritiken in der ADB „den Anwachs der deutschen Litteratur [...] vollständiger wird übersehen, und besser beurtheilen können, als sonst durch irgend eine gelehrte Zeitung, oder eine andere gelehrte periodische Schrift geschehen kann.“176 Der hohe Anspruch auf „eine ganz vollständige Nachricht von allen neuherauskommenden Büchern“ sieht sich allerdings neuen Begrenzungen ausgesetzt, die auch auf verkehrsinfrastrukturelle Defizite zurückzuführen sind: Ich habe mir zwar sehr viel Mühe gegeben, um von allen Büchern Nachricht zu liefern; aber die Erfahrung hat gelehret, dass dies wirklich unmöglich sey. Die Anzahl der jährlich in Deutschland neu herauskommenden Bücher, ist so sehr groß, dass, nach einem gemachten Ueberschlage, wenn sich die Verfasser nicht bloß auf kurze Nachrichten einschränken wollten, jährlich an acht Stücke herauskommen müßten, im Fall man alle neue Bücher anzeigen wollte. Wenn man auch ein so weitläufiges Werk unternehmen wollte, so sind noch unübersteigliche Schwierigkeiten da, wenn man alle neue Bücher früh kennen lernen, geschwind genug herbeyschaffen, und in wenigen Monaten über alle von weitentfernten Verfassern Recensionen einsammeln soll. Ich kann meinen Lesern diese Schwierigkeiten nicht erzählen, ohne allzuweitläufig zu werden. Man muß die Sache selbst versucht haben, um überzeugt zu seyn, dass sie wirklich unüberwindlich sind.177

Dabei ist die Furcht vor allzu großer Weitschweifigkeit natürlich vor allem darin begründet, dass die in der ADB vorgetragene Buchkritik, wie bereits angesprochen, interessant sein soll und die Leser nicht mit langatmigen Beschreibungen institutionsinterner Organisationsprozesse langweilen will. Das schrittweise Unterhöhlen des Universalitätsanspruchs der ADB angesichts der anwachsenden Informationsüberschüsse macht im Übrigen auch deutlich, in welcher Weise die Buchkritik an der Konstitution des sozi-

Ebd., S. 424. F. Nicolai: „Vorrede zu dem Zweyten Stücke des zwölften Bandes [1770]“, S. III. 177 Ebd., S. III. 175 176

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alen Gedächtnisses der gelehrten Kommunikation bzw. des Literatursystems beteiligt ist. Wenn man nicht alles – egal, ob positiv oder negativ – durch die Publikation einer Rezension würdigen kann, dann müssen einige Werke aus der kritischen Werkschau einfach hinausfallen und unerwähnt bleiben. Das Auslassen bestimmter Werke geschieht aber nicht rein zufällig oder willkürlich, sondern in Rückbindung an die Leitunterscheidung des Reputationscodes der gelehrten Kommunikation und ihrer funktionssystemspezifischen Nachfolger. Das bedeutet jedoch nur der Tendenz nach, dass alles als wertlos Geltende vergessen werden kann und nur das für wertvoll Befundene erinnert werden soll. Nicolai schreibt dazu im Jahr 1770: Da aber der Weitläufigkeit und anderer Schwierigkeiten wegen, es nicht möglich ist, alle neue Bücher anzuzeigen, so wird die hauptsächliche Sorge seyn, daß nur solche weggelassen werden, die dem Hauptzwecke des Werkes unbeschadet, wegbleiben können. Der Hauptzweck dieses Werkes ist, daß man daraus die Vollkommenheiten und die Mängel, die Veränderungen und Verbesserungen; kurz, den jetzigen Zustand unserer Litteratur, theils soll kennen lernen, theils mehr im Ganzen soll übersehen können, als es sonst möglich ist. Um diesen Zweck zu erreichen, muß dahin gesehen werden, daß von wichtigen Werken, die gewisse Theile der Gelehrsamkeit erweitern, oder sonst unserer Litteratur eine neue Wendung geben könnten, keines unangezeigt gelassen werde. Verschiedene Gelehrte sind der Meynung gewesen, daß es besser sey, wenn man nur blos wichtige und gute Bücher anzeigte, und die mittelmäßigen und schlechten ganz wegließe. Ohne Zweifel würde eine periodische Schrift, die dieses thäte, dem Leser eine viel angenehmere Aussicht öfnen, aber sie würde ihm nicht den wahren Zustand der Litteratur vor Augen legen. Man könnte, wenn man nur blos die gute Seite unserer Litteratur betrachtete, sehr leicht sich in dem Traum wiegen, als ob richtige und nützliche Kenntnisse schon allenthalben gleich ausgebreitet wären. Die wahren Liebhaber der Gelehrsamkeit lesen ohnedem mehr gute als schlechte Bücher, und wenn sie die ganze Nation nach den wichtigen Werken, die beständig noch von einigen vortreflichen Schriftstellern herausgegeben werden, beurtheilen wollten, so würden sie sich kaum vorstellen können, in welchem Grade, leider! noch Seichtigkeit, Nachbeten, Pedanterey, Zänkerey, ja Unwissenheit, Aberglauben und Barbarey herrschen. Man muß die Vollkommenheiten unserer Litteratur wissen, dies ist nöthig, aber ihre Mängel kennen, um diese mit gutem Erfolge zu verbessern. Man lernet diese Mängel am besten aus den mittelmäßigen und schlechten Büchern kennen, mit denen Deutschland jährlich in ungeheurer Anzahl überschwemmet wird. [...] Da nun aber die Menge der mittelmäßigen und schlechten Bücher, so groß ist, daß eben dadurch, wenn man sie alle anzeigen wollte, die allgemeine deutsche Bibliothek zu einer übermäßigen Größe anwachsen würde, so wird man zwar sorgen, daß keine Art auch von mittelmäßigen oder schlechten Büchern ganz übergangen werde, alle aber anzuzeigen möchte theils unmöglich, theils aber auch eben nicht nöthig seyn; die Verfasser werden also sich ferner kein Bedenken machen, wenn einige davon wegbleiben.178

Es geht also nicht darum, die durchschnittlichen und wertlosen Werke, die laut Nicolai das Gros der zeitgenössischen Buchproduktion ausmachten179, 178 179

Ebd., S. IVf. So heißt es in einem Rundbrief an die Mitarbeiter der ADB aus dem Jahr 1776: „Zuweilen ersuchen mich Mitarbeiter, Ihnen nur bloß gute, nicht aber schlechte Bücher mitzutheilen. Nun sind aber bekanntlich der guten Bücher nur sehr we-

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ganz aus der sich nach wie vor im Medium der Wahrheit artikulierenden buchkritischen Metareflexion zu verbannen, sondern darum, zumindest einige aus dem unüberschaubaren Pool der Mediokrität herauszufischen, um an ihnen typische Fehlbildungen mit dem Ansinnen vorzuführen, die Qualität der literarischen Produktion insgesamt zu steigern. Der Großteil der negativ bewerteten, etwa als pedantisch oder unaufgeklärt taxierten Werke jedoch konnte, ja musste vergessen werden, da ansonsten das soziale Gedächtnis der gelehrten Kommunikation und ihrer modernen Nachfolgerinnen unter der Last eines ‚information overflow‘ zusammenzubrechen drohte. Die ADB erfüllte ihren Zweck der medialen Vermittlung eines handhabbaren Überblicks über die aktuelle Buchproduktion eben nur, solange sie nicht zu umfangreich wurde und sich die Rezensenten in puncto Ausführlichkeit, wie schon an anderer Stelle erwähnt, entsprechend beschränkten.180 Indem die ADB eine Vielzahl der mittelprächtigen und wertlosen Werke durch Nichtbeachtung herausfilterte, leistete sie bereits trotz ihrer insgesamt allzu halbherzigen Selektionsschnitte einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Gedächtnisarbeit der gerade entstehenden Sozialsysteme Wissenschaft und Literatur. Die Hauptfunktion eines modernen Systemgedächtnisses besteht schließlich nicht in der Erinnerung, sondern im Vergessen, das laut Elena Esposito vor allem durch die „Produktion eines Überschusses an Information“181 vorangetrieben wird. Nicolai selbst stand dieser, vor allem der Vergessensseite der Gedächtnisfunktion zuarbeitenden Eigenschaft der ADB zunächst durchaus skeptisch gegenüber, was eine Erklärung für seine Zurückhaltung hinsichtlich der Schärfe von Selektionsschnitten wäre. Sorge bereitete ihm vor allem der Gedanke, der Nachwelt würde durch als überscharf empfundene Selektion

nig, der schlechten aber sehr viele. Es ist daher nicht zu ändern, daß ein jeder Mitarbeiter seinen Antheil an schlechten Büchern übernehmen muß. Indessen wird die verdrießliche Arbeit, schlechte Bücher zu recensiren, dadurch sehr erleichtert, wenn man sie ganz kurz abfertigt. Nicht zu gedenken, daß ein einsichtsvoller Mann, bey Gelegenheit eines schlechten Buchs, viel gutes sagen kann.“ F. Nicolai: „An die Mitarbeiter [12.12.1776]“, S. 112. 180 Um ein Aufblähen und damit unabdingbar verbundenes Nutzloswerden der ADB unter der steigenden Informationslast zu verhindern, macht Nicolai 1776 die konkrete Vorgabe, dass eine Rezension nur in Ausnahmefällen, bei denen wichtige Gedanken zu besonders wertvollen Werken geäußert werden wollten, mehr als einen Bogen umfassen dürfe: „Ich will zwar den Herren Mitarbeitern kein Maaß der Recensionen vorschreiben; aber der Augenschein zeigt, es werde eine Recension nicht über einen gedruckten Bogen stark seyn müssen, wofern nicht die Bibliothek zu einer ungeheuren Größe anwachsen soll. Bloß bey Büchern, die von besonderer Wichtigkeit sind, und bey denen der Recensent besonders wichtige Anmerkungen zu machen hat, kann hiervon zuweilen eine Ausnahme gemacht werden.“ F. Nicolai: „An die Mitarbeiter [12.12.1776]“, S. 112. 181 E. Esposito: Soziales Vergessen, S. 29.

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eventuell ein unvollständiges Bild der gelehrten Buchproduktion seiner Zeit vermittelt, das vor den Augen der nachfolgenden Generationen nicht bestehen könne. Nicolai bemerkt hierzu im Jahr 1772: Vielleicht auch, gehet es gar nicht an, daß wir die Bücher unserer Zeitgenoßen im Ganzen ihrem wahren Werthe nach, schätzen, und eine Auswahl daraus machen können. Wir urtheilen vielleicht alzueinseitig und partheiisch; Wir stehen zu nahe mit den Augen vor dem Gemälde, um seine Wirkung im ganzen zu übersehen. Dis ist vielleicht bloß einer beßern Nachwelt aufbehalten, die unsere itzige Schriften sichten wird, wie den Weizen. Für diese Nachwelt müßen unsere guten Journale, die Chronik unserer itzigen Litteratur schreiben, woraus sie die Geschichte machen wird. Dis ist ungefähr meine Absicht bey der alg. d. Bibl. Wenn der Chronikschreiber alzusehr die Facta auswählen will, so bekömmt der künftige Geschichtschreiber alzuwenig Stoff. Es ist vielmehr gut, wenn jener alle Umstände einer Begebenheit oder einer Revolution erzählt. Wenn gleich manche sehr unwichtig scheinen, so sieht doch vielleicht der Geschichtschreiber nach hundert Jahren, welchen Einfluß sie gehabt haben können. Dis ist die Ursach, warum ich wünschte alles anzeigen zu können, und diesem Ziele, das ich nie erreichen kann, so nahe als mögl. zu kommen suche. Wenn ein künftiger Philosoph, den Wust von Schriften betrachtet, durch den wir uns durcharbeiten müßen, so wird er beßer erklären können, warum [. . .] diese oder jene Wendung genommen hat oder nicht.182

Von zentraler Bedeutung an diesem Statement ist die Unterscheidung zwischen Chronist und Geschichtsschreiber, die beide am Konstitutionsprozess des sozialen Gedächtnisses der gelehrten Kommunikation beteiligt sein sollen. Der Chronist sichtet und bewertet das frisch veröffentlichte gelehrte Material und selektiert es ohne nennenswerten zeitlichen Abstand zum Veröffentlichungsdatum. Diese buchkritische Vorauswahl wird dann deutlich später zur Grundlage einer weiteren Selektion, die aus der wissenschaftlichdistanzierten Perspektive der Historiographie vollzogen wird. Diese hänge aber laut Nicolai in ihrer Qualität dadurch von der buchkritischen Vorleistung ab, sodass beispielsweise eine fundierte Literaturgeschichtsschreibung aus der Sicht des Wissenschaftssystems nur möglich sei, wenn die buchkritischen Periodika ein möglichst vollständiges Bild der aktuellen gelehrten Produktion aufzeichneten. Gerade die als weniger wertvoll eingeschätzten Werke, die ja mit einem höheren Vergessenspotenzial aufgeladen sein sollen, könnten sich in der Retrospektive als durchaus erinnerungswürdig herausstellen (was allerdings argumentativ nicht schlüssig ist, denn wenn die Historiographie tatsächlich nur auf der Grundlage der buchkritischen Vorauswahl operierte, könnte sie die von dieser Selektionsinstanz herausgefilterten Werke streng genommen ja gar nicht mehr in den Blick nehmen). Diese Auffassung verkennt natürlich, dass das soziale Gedächtnis moderner Funktionssysteme nichts Statisches ist, d.h. kein endloser Speicher, der alle Informationen für immer sichert, sondern ein räumlich begrenztes Archiv, das immer in Bewegung bleibt. Einzelne Werke sind jedoch aufgrund ihrer Schriftlichkeit nie ganz verloren und können, nachdem sie eventuell über

182

F. Nicolai: „An Johannes von Müller [12.6.1772]“, S. 78.

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Jahrhzehnte hinweg nicht mehr erinnert wurden, plötzlich unter günstigeren Rezeptionsbedingungen im sozialen Gedächtnis wieder auftauchen, solange sie physisch noch vorhanden sind.183 Gut dreißig Jahre später fällt Nicolais Verdikt dann durchaus positiver aus. Die Anbindung der Buchkritik an das soziale Vergessen wird nun als eine den Überblick über die aktuelle Buchproduktion erst ermöglichende Unterweisung des wissenschaftlichen bzw. literarisch interessierten Lesers gepriesen: „[W]enn auch eine ziemliche Anzahl von ganz unbedeutenden originalen Scharteken ohne Originalität und von Übersetzungen ohne Wert für Wissenschaft und Kunst ganz wegbleiben“, so Nicolai optimistisch, sei es immer noch möglich, dass „die Absicht eines vollständigen Gemäldes der neuen deutschen Literatur sehr füglich erreicht werden kann.“184 Erwartungsstrukturelle Orientierung im modernen Literatursystem war eben bereits zu diesem Zeitpunkt nur noch möglich, solange es Selektionsmechanismen gibt, die den Leser davor bewahrten, selbst die ersten Pflöcke in die unübersehbare Masse der Neuveröffentlichungen einschlagen zu müssen. Der Reputationscode mit seinen an die Differenz wertvoll/wertlos anschließenden Wertungsakten ist grundsätzlich geeignet, genau diese dringend notwendige Selektionsarbeit im institutionalisierten Rahmen, den die buchkritischen Periodika bieten, zu verrichten und so der asymmetrischen literarischen Kommunikation der Moderne hinreichende Führung auf der Leserseite zu geben, auch wenn dies mit der ADB nicht wirklich auf Dauer gelang. Nicht vergessen werden sollte allerdings an dieser Stelle, dass die spezifische Ausprägung der Gedächtnisarbeit, wie sie hier in der ADB vorgestellt wird, natürlich nicht zu trennen ist von der Tatsache, dass um diese Zeit noch eine im Vergleich zu heute recht homogene Leserschaft existierte, die sich vornehmlich aus Bürgern und Gelehrten mit ähnlicher Weltsicht zusammensetzte und aus heutiger Sicht wohl am ehesten dem Hochkulturschema entspricht. Wir belassen es an dieser Stelle jedoch mit dem Hinweis darauf, dass man vermuten darf, die zunehmende Pluralisierung und Heterogenisierung der Leserschaft dürfte langfristig auch zu einer Ausdifferenzierung des sozialen Gedächtnisses der Literatur in mehrere lokale Einheiten geführt haben, deren Beiträge zur Evolution des Literatursystems einer eingehenden Untersuchung bedürften.185

Als Beispiel aus der jüngeren Zeit wäre etwa Gert Ledigs Roman Vergeltung von 1956 zu nennen, der jahrzehntelang vergessen war und plötzlich, im Zuge der von W.G. Sebald losgetretenen Debatte um das angebliche Versagen der deutschen Literatur angesichts der Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im Bombenkrieg eine Renaissance erfuhr, die im Sommer 1999 in einer Neuauflage beim Suhrkamp Verlag gipfelte. 184 F. Nicolai: „Aus: Neue allgemeine deutsche Bibliothek. Des LVI. Bandes erstes Stück. Vorrede [1801]“, S. 419. 185 Mirjam-Kerstin Holl spricht davon, dass „unterschiedliche Mentalitäten [...] Binnendifferenzierungen durch unterschiedliche Produktionsformen, Aufgaben und 183

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II.2.4 Konfliktsysteme und Zirkel statuspositionaler Differenz In einer Reisebeschreibung aus dem Jahr 1781, also zur der Zeit der weitesten Verbreitung der ADB, findet sich in dem Kapitel, das den Titel „Von der Literatur und deren Verbesserung überhaupt“ trägt, eine Äußerung, die Nicolais Sichtweise einer idealtypischen Gelehrtenrepublik verdeutlicht und vor dem Hintergrund des Übergangs von Stratifikation auf funktionale Differenzierung bedeutsam ist. Nicolai, der seinem buchkritischen Periodikum in im Grunde absolutistisch-autoritärer Manier „als oberste Entscheidungsinstanz vorstand“186, schrieb hierzu paradoxerweise: Je mehr man den ganzen Umfang menschlicher Kenntnisse, und inwiefern sie in Deutschland höher gebracht und weiter verbreitet werden können und müssen, einsieht, desto mehr wird man finden, daß die deutsche gelehrte Republik ihrer ganzen Natur nach, eine vollkommene Demokratie sein muß, und daß jedes Land, jeder Stand, jeder einzelne Gelehrte, die sich des ausschließenden Vorzugs anmaßen wollen, die deutsche Literatur zu beherrschen oder nach ihren Absichten zu führen, des gelehrten Ostrazismus würdig ist.187

Dieses Desiderat Nicolais läuft darauf hinaus, dass gelehrte Kommunikation gewissermaßen herrschaftsfrei sein soll, wobei er anscheinend im engeren Sinne darunter die Ablehnung exogener Interventionsversuchen versteht, die auf der Basis staatlicher, ständischer oder persönlicher Autorität in den noch nicht hochspezialisierten protowissenschaftlichen sowie protoliterarischen Diskursen der allmählich ihrem Ende entgegengehenden Gelehrtenrepublik unternommen werden. Wer also seine schichtsystemspezifische Standesehre oder seine politische Macht zum Zwecke des Erringens wissenschaftlichkünstlerischer Dominanz einzusetzen versucht, soll mit Verachtung und Verurteilung belegt werden. Ein Vierteljahrhundert später zieht Nicolai Bilanz und kommt dabei noch einmal auf die mit der hierarchischen Schichtung zusammenhängenden Kommunikationskonventionen der vormodernen Gesellschaft am Anfang der ADB sowie die damalige Zeitschriftenlandschaft zu sprechen. Um sein Ideal einer demokratischen Gelehrtenrepublik verwirklichen zu können, habe er die Absicht gehabt, „in die Beurteilungen einen freimütigern und liberalern Ton einzuführen, welcher sich damals einzeln nur selten, und im ganzen beinahe gar nicht fand; denn fast alle Beurteilungen in den wenigen gelehrten Zeitungen, und in einigen Journalen über einzelne Wissenschaften, waren meist, wenn auch an sich nicht un-

Rezeptionsweisen im Kunstsystem“ begünstigten und verbindet dies mit dem Gedanken der Herausbildung eines inoffiziellen sozialen Gegengedächtnisses, das zum subkulturellen Antriebsmotor künstlerischer Innovationen wird. Vgl. M.-K. Holl: Semantik und soziales Gedächtnis, S. 120. 186 U. Schneider: Friedrich Nicolais ADB als Integrationsmedium, S. 88. 187 F. Nicolai: „Von der Literatur und deren Besserung überhaupt [1784]“, S. 317.

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richtig, dennoch selten frei von einer gewissen Ängstlichkeit, die auf Stand und Ort beständig eine furchtsame Rücksicht nahm.“188 Mitte des 18. Jahrhunderts war man also laut Nicolais rückblickendem Befundes noch weit vom Ideal einer von politischer Machtausübung und ständischer Ehre unabhängigen Weise des Vollzugs gelehrter Kommunikation entfernt. Auf dem Weg dorthin konnte man nur durch ein Außerkraftsetzen der ständischen Ordnung mit ihren an die Statusposition gebundenen Rederechten und verstaubten Kommunikationsritualen gelangen, die nur wenig Raum für wirklich offene Kritik ließen, vor allem dann, wenn die Statuspositionen aufgrund der Inklusion der involvierten Personen in unterschiedliche Schichtsysteme zu weit auseinander klafften. Gelehrte Kommunikation sollte öffentliche Kommunikation unter Gleichen sein, ähnlich wie schon von Thomasius gefordert, und eine solche Programmatik in die Tat umzusetzen, so Nicolai ergänzend, sei noch in den 1760er Jahren ein ganz erhebliches publizistisches Risiko gewesen, während ein auch vor ausdrücklicher Negativkritik nicht zurückschreckendes Rezensionsorgan wie die ADB rund vier Dekaden später mit umfassender Publikumsakzeptanz habe rechnen können: Wer sich aber den Zustand der deutschen Literatur jener Zeit, und der öffentlichen Beurteilungen von Büchern, deutlich und lebhaft vorstellen kann, wird eingestehen, daß ich nicht wenig wagte, und daß der Ausführung eines solchen Unternehmens sich damals Schwierigkeiten entgegensetzen mußten, die sich jetzt, da, in der Tat zuerst durch A. D. Bibl., die gelehrten Kommunikationen in Deutschland so allgemein geworden sind, kaum denken lassen.189

Offen wertende Literaturkritik im Stil der ADB war demnach in den Augen Nicolais Anfang des 19. Jahrhunderts nichts besonders Aufregendes mehr und gehörte bereits fest zur etablierten kommunikativen Routine. Wenn er in seinem Resümee davon spricht, dass die ADB am Anfang ein Wagnis gewesen und auf Widerstand gestoßen sei, so deutet sich hier jedoch schon an, dass vor allem die Frühgeschichte der Nicolai’schen ‚Rezensionsfabrik‘ keineswegs frei von Konflikten war und dass sich in dieser mehr als vier Dekaden umfassenden Zeitspanne übergeordnete evolutionäre Sprünge vollzogen haben müssen, die eine dauerhafte Institutionalisierung der Literaturkritik bei einem tragbaren Maß von Konfliktsystembildungen erleichterten. Tatsächlich berichtete Johann Gottfried Herder am 21. November 1768 Nicolai in einem Brief von wachsenden Spannungen im Umfeld der ADB: „Ihre Gegner fangen immer mehr an über Ihr Journal zu kreischen [...].“190 Nicolai selbst sah sich in der Rückschau auf jene frühe Phase „beständigen

F. Nicolai: „Aus: Vorrede zu dem CVten, CVIten und CVIIten und letzten Bande der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek [24.3.1806]“, S. 423f. 189 Ebd., S. 423f. 190 J.G. Herder: „Brief an Friedrich Nicolai [21.11.1768]“, S. 22. 188

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Verunglimpfungen ausgesetzt“191; in ihm hätten seine Gegner einen verlässlichen Feind gefunden, „den sie schänden können.“192 Allerdings hätten diese Anfeindungen, die überwiegend von Seiten negativ besprochener Autoren herrührten, zunächst nichts am herausragenden Publikumserfolg der ADB und an ihrem hohen gesamtgesellschaftlichen Ansehen ändern können: „Das Publikum hat dieses Werk bisher noch immer seines Beyfalls gewürdigt, und scheint auf das Geschrey, das einige getadelte Schriftsteller dawider erheben, nicht sonderlich zu achten.“193 Dabei unterstellte er seinen Kritikern pauschal, schlicht „Feinde der Aufklärung“ zu sein, die wegen in der ADB veröffentlichter Negativkritiken „nur einen Vorwand [suchten], um sich tätig zu rächen“.194 Die in den Nicolai’schen Rezensionsorganen veröffentlichten Buchbesprechungen mit ihren freimütigen Negativbeurteilungen führten in der Tat schon in der Zeit der BWK, also in den Jahren zwischen 1756 und 1759, zu einer Reihe von Attacken, die nicht selten auf die Person Nicolais gerichtet waren und von diesem als Ehrverletzungen wahrgenommen wurden, sodass sich der Berliner Verleger dazu gezwungen sah, wenn auch widerwillig, zu den Vorwürfen in Vorworten und Vorreden, die sich an die Leserschaft wendeten, Stellung zu nehmen. Im Zuge dieser Streitigkeiten um seine buchkritischen Publikationen sah sich Nicolai auch dem Vorwurf reiner Profitgier ausgesetzt, was anhand einer Auseinandersetzung mit Johann Jakob Dusch besonders deutlich hervortritt. Nicolai, so das Monitum Duschs, dessen Vorhaltungen von Nicolai selbst in der BWK wiedergegeben werden, ginge es nicht wirklich um eine Förderung des Literaturbetriebs, sondern vornehmlich um die eigenen ökonomischen Interessen, denn, so Dusch weiter, er hätte längst schon bemerkt, „daß die Bibliothek einen guten Abgang fände, und daß sie [...] dem Verleger einträglich wäre“, daher hätte man sich dazu entschieden, die Briefe, die neueste Literatur betreffend herauszugeben, die man aus rein verkaufsstrategischen Erwägungen heraus „für eine Fortsetzung der Bibliothek ausgäbe.“195 Goethe und Schiller behaupten im 218. Xenion gar: „Hast du auch wenig genug verdient um die Bildung der Deutschen, Fritz Nicolai, sehr viel hast du dabei doch verdient.“196 Solche böswilligen Unterstellungen konnte Nicolai natürlich nicht unerwidert stehen lassen. Den Vorwurf schnöder Gewinnsucht wies er beispielsweise mit dem Hinweis darauf zurück, er habe die durch die BWK eingefahrenen finanziellen Gewinne nicht für sich selbst verwendet, sondern stattdessen völlig altruistisch schon im ersten

191

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195 196

F. Nicolai: „Aus: Neue allgemeine deutsche Bibliothek. Des LVI. Bandes erstes Stück. Vorrede [1801]“, S. 409. F. Nicolai: „Vorrede [1780]“, unpag. Ebd., unpag. F. Nicolai: „Aus: Neue allgemeine deutsche Bibliothek. Des LVI. Bandes erstes Stück. Vorrede [1801]“, S. 409. F. Nicolai: „Vorrede [1760]“, S. 566. Zit. n. K. Stoll: Christoph Martin Wieland. Journalistik und Kritik, S. 79.

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Band des ersten Stücks einen mit 50 Reichstalern dotierten Literaturpreis für das beste neu verfasste Trauerspiel in deutscher Sprache ausgeschrieben. Erläuternd heißt es dazu in der Vorrede zum dritten und vierten Band der BWK: Ich habe bey der Bibliothek gewiß an nichts weniger gedacht, als ob sie mir einträglich wäre. Ich kann mich deswegen kühnlich auf den Verleger berufen; ich habe außerdem eine Summe, die mir nach Abzug der unvermeidlichen Kosten vielleicht nicht einmal übrig blieb, zu einem Preise ausgesetzt, bloß, weil es gar im geringsten nicht meine Absicht war, daß ich Geld erwerben wollte. Ich hätte wohl am wenigsten gedacht, daß man mich hierbey eines Eigennutzes beschuldigen könnte. [...] Ich glaube also entschuldiget zu seyn, wenn ich auf fernere Anfälle dieser Art, die, wie es scheinet, nicht unterbleiben werden, gar nicht antworte, sondern die Vertheidigung der unpartheyischen Welt und meinem eigenen guten Gewissen überlasse.197

Aus dieser Argumentation wird klar ersichtlich, dass es Nicolai bei dem Preisausschreiben ganz eindeutig darum zu tun war, statuspositionale Asymmetrien, die sich aus seinem klar ersichtlichen publizistischen Erfolg ergaben, abzumildern und belastendes ökonomisches Kapital in unverdächtiges symbolisches Kapital zu konvertieren. Schon angelegentlich der Auslobung des angesprochenen Literaturpreises hatte Nicolai den Versuch unternommen, jene neuartige, „auf eine in Deutschland bisher nicht gewöhnliche Art“ betriebene Form der Unterstützung der einheimischen Literatur vom Ruch einer unbotmäßigen Kommerzialisierung des Literaturbetriebs reinzuhalten; die Idee zur Ausschreibung eines solchen Literaturpreises, so Nicolais Beteuerungen, sei ausschließlich der „Liebe zu den schönen Wissenschaften entsprossen“ und diene nicht etwa dazu, die protoliterarische Kommunikation einer heteronomen, rein ökonomischen Profitlogik auszuliefern: Nicht als ob wir [...] glaubten, daß die Wahrheit für sich nicht Reizungen genug hätte, und daß man ihr erst ein Goldstückchen anhängen müsse, um die Menschen anzureizen, sich nach ihr zu bemühen; sondern weil wir wissen, daß oft die geringsten Dinge mittelbar eine gute Wirkung haben können. [...] [W]ir sind überzeugt, daß Belohnungen zur Beförderung der schönen Wissenschaften eigentlich nicht nöthig sind, und wir haben also gar nicht die Absicht gehabt, den bisherigen Mangel derselben in Deutschland zu ersetzen. Wir werden zufrieden seyn, wann dieses Vorhaben im kleinen einige gute Wirkungen nach sich zieht.198

Die Aussicht, mit einer wirklich guten Tragödie auch Geld verdienen zu können, sollte also nichts daran ändern, dass es vornehmlich der gemeinsame Drang nach künstlerischer Wahrheit sein sollte, der die Schriftsteller zu Produktion und Einsendung ihrer dramatischen Werke motivierte. Die berechtigte Aussicht auf finanziellen Gewinn, so Nicolai, spiele eher eine Nebenrolle als zusätzliches, die Bemühungen noch verstärkendes Inzentiv. Wie 197 198

F. Nicolai: „Vorrede [1760]“, S. 568f. F. Nicolai: „Vorläufige Nachricht [1757]“, S. 168.

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sehr Nicolai diese Vorhaltungen trafen, wird auch daran ersichtlich, dass er sich noch Jahrzehnte später mit ihnen beschäftigte und sich zu weiteren Legitimationsversuchen gedrängt sah, die jeglichen Verdacht der Habsucht und finanziellen Vorteilsnahme zerstreuen sollten. Noch 1806 erklärt er in Retrospektive: „Übrigens hatte die A. D. Bibl. niemals eine öffentliche Unterstützung, und fand vielmehr vom Anfange an mancherlei Hindernisse. Der Herausgeber bekam zur Fortsetzung derselben von niemand Geld“199. Daran schließt sich die auf die Demonstration von ökonomischer Interesselosigkeit gemünzte Bekräftigung an, ausschließlich „aus eifriger Liebe zur Sache“ 200, also aus einem puren Kunstwillen heraus die ADB herausgegeben zu haben. Zur beobachtbaren Realität der Konfliktsysteme, die sich im kommunikativen Umfeld von BWK und ADB entwickelten, zählte auch, dass die fachliche Kompetenz Nicolais und die seiner Mitarbeiter von manchen Gelehrten, die man mit Negativkritik bedacht hatte, in Abrede gestellt und das auch offen artikuliert wurde. Wegen solcher Vorhaltungen beschwerte sich Nicolai auch darüber, dass „die Verfasser der allgemeinen deutschen Bibliothek für seichte, unbedeutende, unwissende, partheyische, grobe Leute“201 ausgegeben würden. Vorwürfe solcher Natur erhielten natürlich vor allem dadurch reichlich Nahrung, dass Nicolai, der in privaten Diskussionen mit seinen Freunden Lessing und Moses Mendelsohn seine in eigener Anschauung gewonnenen philosophischen und literarischen Kenntnisse erweiterte, als Autodidakt ohne universitäre Ausbildung im protointellektuellen Feld nur über relativ geringes institutionalisiertes Kulturkapital verfügte. Nicolai beklagt in diesem Zusammenhang in einem selbstanalytischen Reflex daher auch freimütig, dass dieser relative Mangel an offiziellem Bildungskapital zu ehrverletzenden persönlichen Angriffen instrumentalisiert worden sei: Ich war ein Mann ohne Titel, und nicht einmal ein zunftmäßiger Gelehrter, welches getadelte Schriftsteller mir oft genug vorwarfen, die sich um so mehr deshalb erlaubten, ihren Zorn über die A. D. Bibl. unter Herabsetzung meiner Person zu verstecken.202

Aus diesem zweifellos den Tatsachen entsprechenden Mangel an institutionell garantiertem Wissen also „meinten seine Gegner, die Berechtigung für ihre sachliche wie unsachliche Kritik ableiten zu können. Immer wieder mußte er [d.h. Nicolai, D.B.] sich das Fehlen einer akademischen Ausbildung und die damit verbundene ‚Halbbildung‘ zum Vorwurf machen las-

F. Nicolai: „Aus: Vorrede zu dem CVten, CVIten und CVIIten und letzten Bande der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek [24.3.1806]“, S. 427. 200 Ebd., S. 429. 201 F. Nicolai: „Vorrede [1780]“, unpag. 202 F. Nicolai: „Aus: Vorrede zu dem CVten, CVIten und CVIIten und letzten Bande der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek [24.3.1806]“, S. 425. 199

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sen.“203 Um sein manifestes Bildungstiteldefizit auszugleichen und seinen eigenen und den buchkritischen Verdikten seiner Kontribuenten größeres Gewicht einzuimpfen, pflegte Nicolai die hohe Akzeptanz der ADB gerade auch bei Akteuren mit hohem Kulturkapital öffentlich besonders zu zelebrieren. So betont er in einer Vorrede aus dem Jahr 1780: Einige der größten Gelehrten unserer Nation haben mich sowohl ihres Beyfalls versichert, als auch selbst, bey diesem Werke thätigen Beystand geleistet, und ferner zu leisten versprochen, wodurch ich die gewisse Hofnung erhalte, daß dieses Werk an Vollkommenheit so leicht nicht abnehmen möchte.204

Erst 1799, also lange nachdem die ADB bereits ihren Zenith überschritten hatte, wurde Nicolai an der philosophischen Fakultät der Universität Helmstedt zum ‚Magister der Freyen Künste‘ promoviert und im gleichen Jahr in die Berliner Königliche Akademie der Wissenschaften aufgenommen, was einer nachträglichen Legitimierung seiner im Selbststudium erworbenen Kulturkompetenz gleichkam und ihn weniger angreifbar machte. Dass es Nicolai gelang, die ADB trotz dieses aus der spezifischen Perspektive der Gelehrtenwelt sehr beträchtlichen persönlichen Makels über eine so lange Zeitspanne zu behaupten, spricht dafür, dass Nicolais Zeitschrift in der Tat die überindividuellen sozialen Probleme, die sich für die gelehrte Kommunikation insgesamt aus der heißlaufenden Informationsproduktion ergaben, zu lösen half und dass sie auf der Basis der routiniert ablaufenden offenen Wertung literarischer Werke entscheidend zur weiteren Verfestigung des Reputationscodes in den schönen (und ernsthaften) Wissenschaften beisteuerte. Überdies warf man Nicolai des öfteren einseitige, streiterzeugende Parteinahmen für bestimmte Autoren vor, die auf die geheimgehaltene Existenz von Sozialkapitalbeziehungen zwischen dem Verleger und einzelnen Schriftstellern zurückgeführt wurden. Konkret ging es darum, Nicolai hätte sich mit einigen befreundeten Autoren zu einer sektenähnlichen Gruppe mit dem elitären Ansinnen zusammengetan, die gelehrte Kommunikation zu dominieren. So zitiert Nicolai in der BWK seinen Intimfeind Dusch mit folgenden Worten: Es ist nicht unwahrscheinlich, daß unter diesen seinen Freunden verschiedene Schriftsteller waren, und man hatte sich beredet, ich weiß nicht, was für eine dritte Sekte, die weder Whigs, noch Tories seyn sollte, aufzurichten, in dieser sollten sie die Häupter und ersten Richter seyn.205

Außerdem wolle der gewissermaßen an intellektuellen Minderwertigkeitskomplexen leidende Autodidakt Nicolai „nur seinen Witz [...] zeigen“, habe

U. Schneider: Friedrich Nicolais ADB als Integrationsmedium, S. 51. F. Nicolai: „Vorrede [1780]“, unpag. 205 F. Nicolai: „Vorrede [1760]“, S. 565. 203 204

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„gewisse Lieblinge, die allenthalben [s]eine Helden wären“ und „urtheile immer nur, um einen Einfall zu sagen, oder um [s]eine Partheylichkeit zu befriedigen.“206 Auch diese Vorwürfe der Grüppchenbildung wies Nicolai natürlich vehement zurück, da sie die Integrität seines buchkritischen Projekts grundsätzlich in Frage stellten. Schon sein Mangel an gelehrter Reputation hätte das Schmieden eines Bündnisses mit bestimmten Autoren unter seiner Ägide schlicht und ergreifend verunmöglicht: „Wie hätte ich wohl können einkommen lassen, das Haupt einer neuen Sekte werden zu wollen, ich unbekannter und unangesehener Schriftsteller?“207 Überdies betont Nicolai, von je her ein entschiedener Gegner des Abwickelns buchkritischer gelehrter Metareflexion über Sozialkapitalbeziehungen und reziproke Freundschaftsdienste gewesen zu sein, und gab seinen Widersachern den Vorwurf der Vetternwirtschaft eins zu eins zurück: „Sie fällen selten ein Urtheil, in welches nicht Eigenlob, schmeichelhafte Erhebungen an Freunde, oder Erreichung gewisser kleinen Absichten einigen Einfluß hätten.“208 Dafür erklärt er sich aber zum Verfechter der im Zusammenhang mit der Ablösung ständischer Ehrvorstellungen stehenden Leistungsideologie, die entscheidend vom Protestantismus und dessen diversen Unterströmungen gefördert worden war. Der qualitative Wert eines Werks alleine, der in den Formierungsbemühungen der Autoren Gestalt annimmt – und eben nicht Freundschaftsverhältnisse – würden darüber entscheiden, ob in der BWK positiv oder negativ bewertet würde, versichert Nicolai, und es sei genau diese fast vollständige Absenz sozialen und spezifisch gelehrten symbolischen Kapitals auf seiner Seite, die ihn dazu berechtige, literarische Wertungsakte freimütig und ohne Scheu zu vollziehen – wohl auch deshalb, weil seine Wertungen den Autoren aufgrund seiner eher geringen persönlichen Reputation ohnehin nur einen sehr begrenzten Imageschaden zufügen könnten: Ich bin von den Verbindungen unter den Schriftstellern, welche verursachen, daß Schriften gelobet und getadelt werden, bloß, weil sie dieser oder jener geschrieben hat, jederzeit der größeste Feind gewesen. Ich habe jederzeit gewünscht, daß man Schriften loben und tadeln möchte, ihrer eigenen Verdienste wegen, und nicht, weil etwa der Verfasser mit diesem oder jenem in Verbindung stehet. [...] [D]a ich ganz unbekannt war, und mit keinem Schriftsteller in Verbindung stand, so konnte mich nichts hindern, meine Gedanken so offenherzig herauszujagen, als ich sie gedacht hatte.209

Allerdings bleibt Nicolai eine weitergehende Reflexion darüber, wie mit Negativkritik von hochreputablen Akteuren umzugehen sei, schuldig.

Ebd., S. 566. Ebd., S. 566. 208 F. Nicolai: „Vorrede [1780]“, unpag. 209 F. Nicolai: „Vorrede [1760]“, S. 566f. 206 207

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Überhaupt sah Nicolai, der allerdings etwa zur Koryphäe Lessing und zu Moses Mendelsohn durchaus freundschaftliche Beziehungen pflegte, die zeitgenössische Gelehrtenkultur von einem Übermaß an narzisstischer Ruhmgier, Vetternwirtschaft und reinen Gefälligkeitsgesten ohne wirklich kritisch-aufklärerischen Impetus geprägt. Inhaltlichen Auseinandersetzungen im engeren Sinne gingen die einheimischen Gelehrten lieber aus dem Weg, indem sie einander wichtigtuerisch und unkritisch bauchpinselten: „Es ist eine Gewohnheit unter den deutschen witzigseynwollenden Köpfen eingerissen, kraft deren einer den andern streichelt, und der ganze Haufe lobt, quicquid scripsere beati.“210 Gelehrten Kulturproduzenten wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Christian Adolph Klotz oder Friedrich Justus Riedel und ihren buchkritischen Unternehmungen etwa unterstellte Nicolai in einem Brief an Herder vom Sommer 1768, sie schrieben „an Jedermann, um sich jedermann zum Freunde zu machen der [sie] etwa einmahl loben könnte; denn Ruhmsucht, und zwar recht eitle Ruhmsucht, die mit jedem auch dem schlechtesten Lobe gern vorlieb nimmt, ist beider Hauptfehler. [...] Die Welt muß ja die offenbare Partheilichkeit sehen, mit der diese Leute urtheilen, und wie unverschämt sie sich untereinander selbst loben.“211 In Nicolais Augen entschied in solchen Rezensionsorganen eben nicht die Sache, sondern die zwischen den Akteuren bereits vor der Veröffentlichung bestehenden oder für erstrebenswert gehaltenen Sozialkapitalbeziehungen allein darüber, welcher Wert des Reputationscodes jeweils aktualisiert wurde, um etwa erfolgreich soziales Kapital in spezifisch gelehrte bzw. protoliterarische Reputation nach dem Motto ‚Eine Hand wäscht die andere‘ überführen zu können. Freunde wurden auf den Schild gehoben, Feinde hingegen in überzogener Weise abgekanzelt. Nicolai bemängelte an Klotz in einem weiteren Brief an Herder: Durch seine Journale sucht er nichts als seine Absichten zu erreichen, nämlich sich und seine Freunde unmäßig zu loben und seine Feinde unmäßig zu tadeln. [...] Er sucht sich allenthalben, wo er kann, Freunde zu machen. Geben Sie nur Acht, ob er nicht alle Leute, die einmahl in den Litt. Br. getadelt worden, geflißentlich lobt, und sich Anhang macht: [...] Wieland hat er durch diesen Weihrauch eingenommen; der gute Wieland wird es einmal bereuen, daß er diesen Leuten zu viel trauet. [...] Klotz, Riedel u. d. gl. haben ihn mit Lobeserhebungen überhäuft; Sie bieten ihm ihre Freundschaft an, da andere rechtschaffene Leute, die ihn wirkl. Schätzen, sich doch nicht zudringen wollen. [...] Wenn ich diese Cabalen der Gelehrten sehe, wovon ich wirklich sonst noch gar keinen Begriff gehabt habe, so möchte mir fast vor der Gelehrsamkeit ekeln.212

Buchkritische Zeitschriften in der Machart der BWK und der ADB sollten diesem Missstand also entgegentreten. Programmatisch angestrebt wurde, Rezensionsorgane zur Verfügung zu stellen, die sich nicht als Mittel hohler F. Nicolai: „Vorläufige Nachricht [1757]“, S. 164. F. Nicolai: „Brief an Johann Gottfried Herder [14.6.1768]“, S. 20. 212 Ebd., S. 25f. 210 211

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wechselseitiger Gunstbezeugungen bzw. zum symbolischen Gabentausch instrumentalisieren ließen, sondern die im Interesse des haltsuchenden Lesers die Güte eines gelehrten Werkes neutral und möglichst objektiv festzustellen versprachen. Insgesamt erhärtet sich bei der Durchsicht von BWK und ADB der Eindruck, als versuche Nicolai den Eindruck zu vermitteln, seine Herausgeberschaft basiere ausschließlich auf Selbstlosigkeit und Gemeinnutz, denn nicht nur ökonomische sowie soziale Profite werden abgestritten, sondern schließlich auch etwaige symbolische Erträge auf der Ebene persönlicher Reputation. So findet sich in der Vorrede zum dritten und vierten Band der BWK folgende emphatisch hervorgebrachte rhetorische Frage, in der sich dieser Eindruck verdichtet: „Was hätte uns auch wohl bewegen sollen, partheyisch zu seyn, da wir mit niemandem in Verbindung standen, von niemandem Ruhm oder Belohnung verlangten?“213 Rein sachlich spielt dieser freiwillige, selbst zutiefst symbolische Verzicht auf symbolische Kapitalzuwächse natürlich keine wirkliche Rolle, denn schließlich wird Reputation in der wahrnehmenden Beurteilung anderer beobachtender psychischer Systeme generiert und bleibt somit dem willentlichen, direkten Zugriff des Beurteilten prinzipiell entzogen. Ob und wie Ego Alter bewertet, bleibt ausschließlich Ego vorbehalten. Nichtsdestotrotz war es jedoch offensichtlich so, dass die konfliktsystemische Kommunikation über BWK und ADB vor dem Hintergrund sich etablierender Zirkel statuspositionaler Differenz in ihren Bewusstseinsumwelten zustande kam: Auf der einen Seite des Zirkels stand der wohlhabende, mit ökonomischem Kapital hinreichend gesegnete, aber auch hinsichtlich seiner Kulturkompetenz unter Rechtfertigungsdruck stehende Verleger Nicolai, dem man vorhielt, mittels lobhudelnder Buchkritiken das eigene Beziehungsnetz pflegen und dadurch nur noch reicher werden zu wollen, auf der anderen Seite befanden sich diejenigen Gelehrten, die sich gegenüber Nicolai ökonomisch benachteiligt fühlten und die im Kampf um die Definition dessen, was wahre Gelehrsamkeit in schönen und ernsten Wissenschaften ausmachte, ihren Überschuss an institutionalisiertem Kulturkapital gegen als unberechtigt empfundene, aus niederen Instinkten heraus betriebene Negativkritik einzusetzen suchten – mit nur mäßigem Erfolg, denn jenseits persönlicher Eingeschnapptheit erfüllte die Literaturkritik, wie sie in der ADB und anderen Periodika betrieben wurde, längst eine unverzichtbare, überindividuelle Funktion: Die der Orientierung ermöglichenden Komplexitätsreduktion, die mittels der Reputation konstruierenden Unterscheidung (literarisch) wertvoll/wertlos systemintern bereits routinemäßig vollzogen wurde.

213

F. Nicolai.: „Vorrede [1760]“, S. 568.

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II.2.5 Konfliktsysteme und Wahrheitsmedium Was die Konfliktsystembildung und ihre Eindämmung angeht, ist jedoch nicht nur der Versuch der symbolisch vermittelten Legitimierung statuspositionaler Differenz von Bedeutung, sondern auch die Art und Weise der Bezugnahme auf das wissenschaftliche Medium der Wahrheit, die ja schon bei Thomasius einen breiten Raum einnimmt. Dabei werden evolutionäre Tendenzen erkennbar, die insbesondere vor dem Hintergrund der Umstellung der primären Differenzierungsform der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung bemerkenswert sind. In den Jahren nach 1756, also am Beginn seines literaturkritischen Wirkens, ist Nicolais Versuch allgegenwärtig, sein offen wertendes literaturkritisches Unterfangen programmatisch im Rekurs auf die wissenschaftliche Wahrheit zu legitimieren. In der ‚Vorläufigen Nachricht‘ etwa, die dem ersten Stück des ersten Bandes der BWK vorangeht, macht Nicolai klar, dass man sich bei der Bewertung literarischer Werke nicht von der bereits bestehenden Reputation des Verfassers oder zwischenmenschlichen Bindungen, also weder von dessen symbolischem noch seinem sozialen Kapitalvolumen leiten lassen wolle, sondern sich ausschließlich der Wahrheit verpflichtet fühle, in deren Namen auch Negativkritik berechtigt sei. Nicolai führt an dieser Stelle aus: Die Gründe der schönen Wissenschaften werden uns leiten, nicht der Ruhm oder die Freundschaft des Verfassers. Wir sind kühn genug auch zum berühmtesten zu sagen, daß er gefehlet habe, und wir werden seine übrigen Verdienste dadurch nicht zu schmälern suchen.214

Auch 1763 noch betont Nicolai in den gemeinsam mit Lessing und Mendelsohn herausgegebenen Briefen, die Neueste Litteratur betreffend, so mancher Rezensent wäre besser beraten gewesen, „wenn er, statt dem Verfasser Schmeicheleien zu sagen, dem Leser lieber die Wahrheit gesagt hätte.“215 Insbesondere Aussagen wie die erste lassen keinen Zweifel daran, dass das im Medium der Wahrheit verrichtete Bewerten literarischer Werke nicht in einem luftleeren Raum vonstattenging, sondern sich in einer mit Reputation aufgeladenen diskursiven Sphäre vollzog. Jedoch sollte der Nicolai’schen Programmatik zufolge jedes neue Werk eine eigene Beurteilung erfahren, die unabhängig vom bisher vom Autor akkumulierten Symbolkapital auf dem Felde der schönen Wissenschaften zu verfahren hatte und auch ruhmreiche Autoren mit ihren literarischen Fehlleistungen konfrontieren sollte. In einer weiteren Vorrede zum Anhang des dritten und vierten Bandes der BWK aus dem Jahr 1760 heißt es dementsprechend in Bezug auf eine Besprechung der biblischen Tragödie Der Tod Adams, die der Feder des hoch-

214 215

F. Nicolai: „Vorläufige Nachricht [1757]“, S. 164. F. Nicolai: „Zweyhundert und drey und vierzigster Brief [1762]“, S. 38.

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angesehenen, von einem Ehrensold lebenden Friedrich Gottlieb Klopstock entstammte: Wenn aber [...] Herr Klopstock sein Stück für ein ausgearbeitetes Trauerspiel ausgiebt, das aber nicht für das Theater gemacht sey; so kann ja wohl ein Kunstrichter bey aller möglichen Hochachtung gegen desselben übrige Verdienste erinnern, daß ein Stück, welches seiner Einrichtung nach nicht kann auf das Theater gebracht werden, kein Trauerspiel, sondern aufs höchste ein Gespräch seyn könne, und diesen großen Mann bitten, daß er sich nicht mit der Schaubühne beschäftigen wolle, bis er sein vortreffliches Heldengedicht zu Stande gebracht habe.216

Zur Inanspruchnahme des Wahrheitsmediums im Namen der Literaturkritik, so Nicolai schon 1757, gehörte auch, dass sich der Kritiker nicht lediglich auf das Gewicht seiner bereits erarbeiteten Reputation stützt, sondern sich zu genauer Explikation der Argumente verpflichtete, die ihn zu seinem Werturteil geführt haben, was aufgrund der spezifischen Struktur dieses symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums wenig überrascht: Wir hoffen [...] wir werden unsern Vortrag jederzeit so einrichten, daß wir vernünftigen Lesern unsere Meynungen nicht als Machtsprüche aufdringen, sondern sie durch die beygefügte Gründe in den Stand zu setzen, zu urtheilen, ob unsere Meynungen würdig sind, auch die ihrigen zu werden.217

Was das wahrheitsmediale Begründungsgebot angeht, sollte Ähnliches überdies auch für die Kritiker der Kritiker als Beobachter dritter Ordnung gelten, also etwa für Autoren, die sich gegen ein aus ihrer Sicht überzogenes Werturteil wehren wollten; auch „Beschuldigungen“ dieser Provenienz seien „durch irgend etwas zu rechtfertigen“ und müssten so auf die gleiche Weise verfahren wie „die mit Beweisen belegte Vorrede zum achten Bande dieser Bibliothek“.218 Eine solchermaßen wohlbegründete, im Zeichen der Wahrheit verfahrende Kritik, die überdies keinen Absolutheitsanspruch stelle, dürfe offen artikuliert werden. Entsprechend dringt Nicolai bei den negativ kritisierten Autoren auf Nachsicht: „[W]ir bitten aber sehr es nicht für Bitterkeit oder Heftigkeit zu halten, wann wir ein Ding bey seinem Namen, einen elenden Schriftsteller, einen elenden Schriftsteller, und einen öden Kopf, einen öden Kopf nennen.“219 Diese wenigen Passagen machen deutlich, dass Nicolais frühe Inanspruchnahme des Wahrheitsmediums, die sich auch in dem Versprechen bekundet, sich „jederzeit in den Schranken der Wahrheit zu halten“220, in einer Art und Weise auf Deeskalation konfliktsystemischer Kommunikation geF. Nicolai: „Vorrede [1760]“, S. 568. F. Nicolai: „Vorläufige Nachricht [1757]“, S. 166. 218 F. Nicolai: „Vorrede zu dem Zweyten Stücke des zwölften Bandes [1770]“, S. VI. 219 F. Nicolai: „Vorläufige Nachricht [1757]“, S. 164. 220 Ebd., S. 164. 216 217

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münzt ist, die stark der programmatischen Konzeption des Thomasius ähnelt. Meinungsverschiedenheiten hätten in der BWK durchaus ihren Platz, aber nur, wenn sie nicht auf persönlichen Emotionen beruhten, sondern wenn sie in dem Verlangen gründeten, die Wahrheit über ein zu beurteilendes Werk – ohne verbale Spitzen – zu artikulieren: Ob wir gleich unsere Schrift nicht zu einem Schauplatz der Streitigkeiten und des Wortgezänks machen wollen, so werden wir doch die Streitigkeiten, die sich nicht auf Privataffekten, sondern auf eine wahre Liebe zu den schönen Wissenschaften gründen, daraus nicht verbannen. [...] Wir bieten daher unsere Schrift denen mit Vergnügen an, die streitige Punkte untersuchen wollen, wann anders ihre Untersuchungen wirklich nützlich sind, und in den Schranken der Artigkeit und des Wohlstandes bleiben.221

Eingedenk der Tatsache, dass sich der Wissenschaftsbegriff im 18. Jahrhundert weg von einem subjektiven Gelehrsamkeitsverständnis, das „Wissenschaft im Sinne von Klugheit, Bildung oder Wissen als persönliche Attribute eines Individuums in den Vordergrund stellt“, hin zu einem objektiven Wissenschaftsbegriff entwickelte, „durch den Abstraktion, spezifische Erkenntnisobjekte und -bereiche in den Mittelpunkt gerückt werden“222, sodass an die Stelle „der großen Pioniere, die im 16. und 17. Jahrhundert als einzelne der neuen Wissenschaft den Weg öffneten, Organisationsformen der Wissenschaft [...] [treten konnten], die das öffentliche Bewußtsein der Wissenschaft institutionalisierten“223, erscheint Nicolais Strategie, auf eine wahre, vom Individuum abstrahierende und damit gleichzeitig von personal zurechenbarer Reputation absehende Literaturkritik zu setzen, zunächst durchaus als nachvollziehbar, deutet sich doch in dieser Entwicklung das Erstarken des Wahrheitsmediums im Sinne eines vollwertigen symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums für die funktional differenzierte Gesellschaft der Moderne nachdrücklich an. Anscheinend wurde Nicolai im weiteren Verlauf der Publikationsgeschichte von BWK und ADB jedoch zunehmend klar, dass es auch unter Berufung auf die moderne wissenschaftliche, von Personen unabhängige Wahrheit allein unmöglich war, offen wertende Buchrezensionen zu verfassen, ohne dabei das Ansehen der Autoren in irgendeiner Weise zu tangieren. Kommunikationspragmatisch diffizil wurde dieser Konnex zwischen Wertungsakten und Reputationsgenese vornehmlich natürlich im Falle abschätzig ausfallender Buchbesprechungen. Das zeigt sich auch daran, dass Nicolai 1770 in der ADB seinen Gegnern unterstellte, der paradoxen und im Grunde weltfremden Vorstellung nachzuhängen, „daß die Wahrheit ohne Scheu und ohne Ansehen der Person soll entdeckt, und doch nichts soll ge-

Ebd., S. 165. U. Schneider: Friedrich Nicolais ADB als Integrationsmedium, S. 27. 223 H.-G. Gadamer: „Wissenschaft als Instrument der Aufklärung“, S. 89. 221 222

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sagt werden, was einem Schriftsteller [...] nicht ganz angenehm wäre.“224 An dieser negativen Bestandsaufnahme der Kommunikationskonventionen seiner Zeit zeigt sich die ganze Problematik einer über das Wahrheitsmedium operierenden und vornehmlich an der Leserrolle orientierten buchkritischen Metareflexion gelehrter Kommunikation in ihrem Spätstadium: Offensichtlich war es für viele auch im Namen der Wahrheit ohne weiteres nicht möglich, Reputationseinbußen nach sich ziehende Negativkritik auszuhalten, und so konstatiert Nicolai nach rund anderthalb Jahrzehnten literaturkritischer Praxiserfahrungen: Man erwartet vielleicht, daß ich ein Wort von den vielen Anfällen sagen soll, denen die Bibliothek von beleidigten Autoren ausgesetzt ist. Es ist wohl natürlich, daß ein Werk, in dem man sich vornimmt, die Wahrheit ohne Ansehen der Person zu sagen, Widerspruch leiden muss.225

Die geforderte Trennung von Wahrheit und persönlichem Ansehen erwies sich freilich als kommunikativ nicht praktikabel; wer sich wertend über gelehrte Werke äußerte, war damit automatisch an der persönlich zurechenbaren Konstruktion von Reputation beteiligt, egal, ob es um das spezifisch wissenschaftliche oder künstlerische Ansehen ging. Daher war es den Autoren auch stets ein wichtiges Anliegen, die Anonymität der Rezensenten der ADB zu durchbrechen und ihre Identität in Erfahrung zu bringen, denn schließlich wog deren persönliche Reputation stets schwerer als die Qualität ihrer Argumente, so Nicolai 1780 an die Leserschaft seiner Zeitschrift: Es ist inzwischen nicht wenigen Schriftstellern nöthiger, die wahren Namen der Verf. der A.D.B. zu wissen, als wohl mancher Leser glauben sollte, der etwa meynt, man müsse nur nach den Gedanken, nicht aber nach den Verfassern urtheilen.226

Gegenteilige Behauptungen, die gewissermaßen die Möglichkeit einer gelehrten Buchkritik postulierten, in der die Form Person als Zurechnungsadresse keinerlei Rolle mehr spielen sollte, mussten deshalb kommunikativ auf Ablehnung stoßen, weil es den meisten Zeitgenossen in den Bewusstseinsumwelten der gelehrten Kommunikation offensichtlich bereits als völlig selbstverständlich, ja ‚natürlich‘ galt, dass eben solche Wertungsakte das Renommee eines Autoren ganz entscheidend mitbestimmten, trotz aller auf Legitimation gemünzten Berufung auf das das Individuum transzendierende Medium der Wahrheit. So groß wurde im Laufe der Zeit Nicolais Angst davor, der Reputation angesehener Schriftsteller durch Negativkritik zu schaden und dadurch Konfliktsystembildungen den Weg zu ebnen, dass er 1772 sogar in Erwägung zog, eigene abwertende Rezensionen durch die positiveF. Nicolai: „Vorrede zu dem Zweyten Stücke des zwölften Bandes [1770]“, S. Vf. 225 Ebd., S. V. 226 F. Nicolai: „Vorrede [1780]“, unpag. 224

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ren Buchbesprechungen anderer Mitarbeiter mit vom eigenen Wertesystem abweichenden Bewertungsmaßstäben zu ersetzen: [I]ch bezeuge bey Gott, dass ich die Bibl. nicht brauchen will, meine Meinungen fortzupflanzen. Vielleicht wird ein anderer, der die Sache nach seiner Art untersucht, der Wahrheit näher kommen, und dis will ich niemals hindern. Zudem wenn ich, meiner Meinung nach, an den Werken eines sonst berühmten Mannes etwas auszusetzen, so sehe ichs um so viel lieber, wenn jemand, der anderen Meinung ist sie recensirt, damit es auf keine Weise das Ansehen habe, als ob ich jemandes Ruhm schaden wolte.227

Offensichtlich wog der drohende oder tatsächliche Reputationsverlust bei vielen schwerer noch als die abstrakte, Personen gewissermaßen nur sekundär berücksichtigende Wahrheitsliebe. Literaturkritik konnte nicht wirklich offen, d.h. auch abwertend sein, solange man lediglich kommunikativ behauptete, dass das symbolische Kapital der Autoren von Wertungsakten unberührt bliebe. Vielmehr musste zu einer dauerhaften und überzeugenden Konfliktentschärfung nach einer jenseits des Wahrheitsmediums liegenden Möglichkeit gesucht werden, die es gestattete, die immer automatisch mit einem Verlust an spezifisch wissenschaftlicher bzw. literarischer Reputation einhergehende Negativkritik in ihrer Polemogenität psychisch erträglich zu machen, ohne die kommunikationsökonomisch und autopoietisch unverzichtbaren evolutionären Vorteile des Reputationscodes etwa aufzugeben. Diese Möglichkeit zeichnet sich bei Nicolai ab in der auch heute noch üblichen scharfen Trennung zwischen Autor und Werk, die sich evolutionär aus der Unterscheidung zwischen gesellschaftlich-ständische Normen und allgemeinmenschliche Schwächen aufs Korn nehmenden Satire auf der einen und dem Pasquill als gegen eine bestimmte Person gerichtete, meist anonyme bzw. pseudonyme Schmähschrift auf der anderen Seite speist.228 Auch wenn der Autorenname weiterhin als Zurechnungsadresse für spezifisch literarische Reputation in Anspruch genommen wurde, sollte doch die Ehrbarkeit und Integrität der ganzen Person von den Wertungsakten der Literaturkritik unangetastet bleiben. Deutlich macht Nicolai dies in Aussagen wie dieser: „Wir haben uns nie um die Verfasser der beurtheilten Schriften bekümmert. Nie haben wir jene angegriffen, oder ihnen gehässige Absichten aufzubürden gesucht.“229 Literaturkritik Nicolai’scher Prägung gab vor, das literarische Werk allein, nicht den ganzen dahinter stehenden Menschen, zu beurteilen. Auf diesem Wege konnte man ein schlechter Autor, aber trotzdem gleichzeitig auch ein guter Mensch sein. Offen sollte die Literaturkritik sein, wenn es um sie Sache ging, also um das Bewerten der Formierungsleistungen der Autoren, jedoch „so frey auch die Urtheile seyn mögen, wird

F. Nicolai: „Brief an Johann Gottfried Herder [24.8.1772]“, S. 81. Siehe Mark Napierala: Archive der Kritik, S. 73. 229 F. Nicolai: „Vorrede [1760]“, S. 565. 227 228

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man sich doch von allen Persönlichkeiten enthalten, und so viel nur immer möglich alle Streitigkeiten zu vermeiden suchen.“230 Die zunehmende Distanz der Literaturkritik zum Wahrheitsmedium zeigt sich auch an anderer Stelle. So fällt auf, dass Nicolai den anfänglichen Anspruch auf explizite Begründung und nachvollziehbare inhaltliche Rechtfertigung literaturkritischer Wertungen im Laufe der Zeit aufgegeben hat. An die Stelle der – wissenschaftlich eigentlich notwendigen – Argumentation setzte Nicolai ab ca. 1760 zunächst ein rückhaltloses (und aus heutiger Sicht natürlich ziemlich elitäres) Vertrauen in die Urteilskraft der Intelligenzija, also des obersten Segments des Lesepublikums, das über ein Höchstmaß an kulturellem und symbolischem Kapital verfügte und als eine Art Schiedsinstanz fungieren sollte. In der ‚longue durée‘ sei es ohnehin dieser profilierteste Teil der Leserschaft, der kommunikativ darüber entscheide, ob ein Werk tatsächlich als wertvoll oder wertlos durchgehe und einen Platz im sozialen Gedächtnis der gelehrten Kommunikation verdiene oder nicht. Der Publikumsentscheid dieser ‚select few‘ allein sollte darüber hinaus auch als Maßstab dafür herhalten, ob einer zuvor geäußerten Negativkritik Angemessenheit zugebilligt werden konnte oder nicht, d.h. an dieser Stelle wird bereits der Bruch mit dem Wahrheitsmedium der Wissenschaft eingeleitet, der sich im Verzicht auf eine verifizierbare Argumentation für ein Werturteil manifestiert. Lediglich die Tatsache, dass sich das oberste Segment der Leserschaft im Wesentlichen aus Gelehrten zusammensetzte, die selbstverständlich ein besonders enges Verhältnis zur Wissenschaft unterhielten, impliziert hier noch ein gewisse psychisch vermittelte Nähe der Literaturkritik zum Wahrheitsmedium. In der Vorrede zum Anhang des dritten und vierten Bandes der BWK aus dem Jahr 1760 heißt es dementsprechend: Ich würde diese Vorrede hier schließen, wenn ich nicht die Gelegenheit ergreifen müßte, mich gegen einen Anfall zu vertheidigen, der mit der größten Heftigkeit wider meine Person und wider meine Ehre geschehen ist. Einzelne Urtheile, die in der Bibliothek gefället worden, bedürfen keiner Vertheidigung; man wird vielleicht nicht einmal bis auf die Nachwelt warten dürfen, um zu sehen, ob der feinere Theil des Publici die Schriften, die wir für schlecht ausgegeben haben, verachten und vergessen, oder verehren und mit Vergnügen lesen wird: hierdurch werden unsere Kritiken entweder bestätiget oder widerleget werden, und wir wollen uns auf einen solchen Anspruch ganz getrost berufen. Wir haben uns ohnedem niemals um den Beyfall des großen Haufens mittelmäßiger Kenner, noch weniger um den Beyfall der von uns getadelten Schriftsteller bekümmert; wir können es aber mit einer wahren Zufriedenheit sagen, daß uns beynahe alle die größten Geister, die Deutschland in allen Theilen der schönen Wissenschaften aufweisen kann, ihren Beyfall über unsere Bemühungen zu erkennen gegeben haben. Dieß ist die süßeste Belohnung unserer Arbeit, die uns wegen des Scheltens einiger erzürnter Schriftsteller vollkommen schadlos hält.231

Im Jahr 1769 bringt Nicolai in einer weiteren Vorrede, diesmal im achten Band der ADB, erneut sein Vertrauen in die angesprochene Schiedsrichter230 231

F. Nicolai: „An einen unbekannten Korrespondenten [vermutl. 1764]“, S. 28. F. Nicolai: „Vorrede [1760]“, S. 564.

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funktion des Lesepublikums zum Ausdruck und wiederholt auch die zuvor bereits vertretene Ansicht, dass ausführliche Rechtfertigungen seitens der Rezensenten völlig unnötig seien. Allerdings fehlt hier schon die explizite Eingrenzung des Publikums auf besonders exponierte Leser mit hohem symbolischem und kulturellen Kapitalvolumen: Obgleich gewisse Leute sich ein Geschäfte daraus zu machen scheinen, dieses Werk bey allen Gelegenheiten zu verunglimpfen, so scheinet doch das Publicum das Zutrauen zu demselben noch nicht verlohren zu haben. Die Verfasser, anstatt auf jeden Angriff sich weitläufig zu verantworten, haben geglaubt, sie könnten auch oft ihre Vertheidigung unpartheyischen Lesern selbst überlassen. Sie haben ungerechte Beschuldigungen mit Mitleiden angesehen, ohne sie mit gleichen zu erwiedern, sie haben richtige Bemerkungen, selbst wenn sie mit unbilliger Härte vorgetragen waren, zu nutzen gesucht, und sind überhaupt bemüht gewesen, die allgemeine deutsche Bibliothek so vollkommen zu machen, als es die vielen Schwierigkeiten, die mit diesem Unternehmen verknüpft sind, haben zulassen wollen.232

Mit dieser Bekräftigung des Verzichts auf eine nachprüfbare Beweisführung erhöht sich natürlich weiter der Abstand zwischen der Literaturkritik als Selbstbeobachtungsinstanz der sich formierenden literarischen Kommunikation und dem an sich literaturfremden Medium der Wahrheit – ein Prozess, der angesichts der jetzt massiver einsetzenden Differenzierung in autonome Funktionssysteme nicht verwundert. Und auch noch im Jahr 1776, also während der Hochphase des Erfolgs der ADB, ist Nicolais Vertrauen in die Urteilsfähigkeit der Leser ungebrochen, wie aus dem bereits mehrfach zitierten Rundschreiben an seine Mitarbeiter hervorgeht. Nach wie vor wird eine wirklich ausführliche argumentative Auseinandersetzung mit den Vorwürfen seitens derjenigen Autoren, die sich ungerecht behandelt fühlen, rundweg abgelehnt. Auffallend dabei ist jedoch, dass Nicolai an dieser Stelle seine Vorbehalte gegen eine solche intensivere Auseinandersetzung explizit im Rekurs auf die Leitunterscheidung interessant/langweilig der modernen funktional ausdifferenzierten Literatur begründet, was einmal mehr deutlich macht, dass die Literaturkritik als Bestandteil literarischer Kommunikation aufzufassen ist. Weitschweifige Rechtfertigungsorgien mit dem Ansinnen, überprüfbare Werturteile zu liefern, ließen sich nicht mit der Unterhaltungsfunktion des sich immer deutlicher herausschälenden Sozialsystems Literatur in Einklang bringen. Überdies rechtfertigt Nicolai seinen Verzicht auf nachvollziehbare Begründung literaturkritischer Wertungen mit dem Hinweis darauf, dass die Autoren, die sich unberechtigter Negativkritik ausgesetzt sahen, ebenso wie die Leser, ohnehin für eine argumentative Beweisführung im Sinne der modernen Wissenschaft unempfänglich seien: Wenn die Recensenten in der allgem. deutschen Bibliothek fortfahren, wie bisher, unpartheyisch und gründlich zu urtheilen, so ist dieß die beste Beantwortung vieler, zum theil sehr kahler, Beschuldigungen. Es wird daher, meiner Meinung nach am

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F. Nicolai: „Vorrede zu dem zweyten Stük des Achten Bandes [1769]“, S. 424.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 239 besten seyn, alle, besonders heftige, Angriffe, nur ganz beyläufig, und ohne alle Heftigkeit anzuführen. Weitläufige Verteidigungen sind selten dem Leser interessant, besonders solche, wo ein Recensent eine einzelne Recension wider den Verfasser des Buchs vertheidigt; denn den Verfasser überzeugt er doch nicht, und der Leser ist gemeiniglich schon vorher überzeugt. In besonderen Fällen kann eine Ausnahme statt finden, aber, überhaupt, wird es, glaube ich, am zuträglichsten seyn, ruhig unsern Weg fortzugehen, und uns auf das Urtheil des unpartheyischen Publicum zu verlassen.233

Es war also konsequent, etwa gegenüber „[e]rzürnten Autoren“ von einer detaillierten Fundierung der eigenen Negativbewertung Abstand zu nehmen, denn, wie Nicolai 1780 erneut erkennt, „[m]it Gründen zu streiten, ist ihre Sache nicht.“234 II.2.6 Zwischenfazit II Die literaturkritische Programmatik Friedrich Nicolais, die mit ihrer Betonung der Rezipientenperspektive eine Anpassung an die wachsende Asymmetrie der literarischen Kommunikation vollzieht, lässt schon einen deutlichen Bezug zur Leitdifferenz interessant/langweilig und damit zur Unterhaltungsfunktion der sich ausdifferenzierenden literarischen Kommunikation der Moderne erkennen. Der kommunikative Vollzug reputationsbildender Wertungsakte auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung sollte die Kriterien der Unterhaltsamkeit sowie der Kurzweiligkeit erfüllen, genauso wie die literarischen Werke selber. Literaturkritik wurde also von Nicolai als Selbstreflexionsinstanz literarischer Kommunikation konzipiert und ergänzte die tradierte Poetik von Autoren für Autoren um einen an der Leserrolle ausgerichteten Reflexionsmodus. Auch die von Nicolai veranschlagte Definition des Geschmacksbegriffs, dessen Subjektivismus erkannt und der ausschließlich für den Sondersektor der ‚schönen Wissenschaften‘ reserviert wird, ist in den gesellschaftstheoretischen Kontext der Umstellung auf funktionale Differenzierung einzuordnen. Gleichwohl zeigt sich, dass Nicolais literaturkritische Projekte Übergangsphänomene darstellen. So wird zumindest in den Anfangstagen der BWK ein auf Geschmacksbildung gerichtetes didaktisches Ansinnen erkennbar. Wichtiger aber noch als diese Anbindung an pädagogische Aufgaben ist das Verhältnis der Literaturkritik zum wissenschaftlichen Medium der Wahrheit vor dem Hintergrund der Etablierung eines literarischen Reputationscodes, der sich von der wissenschaftlichgelehrten Reputation abzulösen beginnt. Wurde das Wahrheitsmedium am Anfang noch, wie bei Thomasius, als Deeskalationsinstrument eingesetzt, das Negativkritik als von der personengebundenen Reputationsgenese abgekoppelt ausgab, so wurde später klar, dass Reputationsbildung im Literatursystem zur Aufrechterhaltung der Autopoiesis literarischer Kommunikation

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F. Nicolai: „An die Mitarbeiter [12.12. 1776]“, S. 115. F. Nicolai: „Vorrede [1780]“, unpag.

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ohne echte funktional äquivalente Alternative war. Auf argumentative Explikation, verifizierbare Beweisführung und Verteidigung der Bewertungsgründe konnte fortan weitgehend verzichtet werden, und an die Stelle des literaturfremden Wahrheitsmediums rückte die strikte binnensystemische Trennung zwischen Autor und Werk, zwischen Werturteil und Integrität der Person. Die noch bei Thomasius lediglich theoretisch gelöste Problematik inakzeptabler, die ganze Person in ihrer ständischen Ehre kränkenden Negativkritik konnte auf diesem Wege praktisch überwunden und offen wertende Literaturkritik zur in den psychischen wie sozialen Erwartungsstrukturen verankerten Routine werden, die nur noch vereinzelt zu konfliktsystemischen Konvulsionen führte. Überdies macht eine systemtheoretisch fundierte Analyse der literaturkritischen Praxis von BWK und ADB deutlich, dass das dramatische Ansteigen des Informationsvolumens innerhalb der gelehrten Kommunikation eine über literarische Wertungen laufende dauerhafte Installierung eines literarischen Reputationscodes, der, von der Leistungsideologie beeinflusst, als Orientierungshilfe dient, tatsächlich notwendig machte und auch dementsprechend von Nicolai, vor allem im Hinblick auf den Universalitätsanspruch der ADB, kommunikativ reflektiert worden ist. Dabei wird deutlich, dass die Buchkritik im Modus der ADB den sozialen Gedächtnissen der entstehenden wissenschaftlichen und literarischen Teilsysteme auf der Vergessensseite zuarbeitete, indem sie die für literarisch wertlos beurteilten Werke aus dem Blickfeld entfernte und so einen scharf selektierenden Selektionsmechanismus bereitstellte, der sich mit dem ursprünglichen, in Zeiten sprunghaft ansteigender mechanischer Reproduktion von Texten zunehmend obsoleten Vorhaben einer kompletten Archivierung der literarischen Produktion nicht mehr vertrug. Am Erfolg dieser in der ADB praktizierten Programmatik wird deutlich, dass die literarische Kommunikation die zu Thomasius’ Zeiten noch nicht vollzogene Anpassung an die durch den zunehmenden Siegeszug des Buchdrucks drastisch veränderten verbreitungsmedialen Umweltbedingungen damit in der Zwischenzeit mithilfe des komplexitätsreduzierenden sekundären Reputationscodes entscheidend vorangetrieben hatte. Auch lässt die kommunikative Praxis der ADB erkennen, dass es in den Bewusstseinsumwelten der buchkritischen Kommunikation zur Herausbildung von Zirkeln statuspositionaler Differenz kam, die Nicolai u.a. durch das Ausloben eines Dramenpreises, aber auch etwa durch die Behauptung, Sozialkapitalbeziehungen spielten beim Vollzug literarischer Wertungsakte keine Rolle, erfolgreich zu bekämpfen versuchte. Dabei kamen ihm äußere Umstände zur Hilfe: Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts war der Reputationscode der Literaturkritik aufgrund der hohen systeminternen Informationslast für die Literatur bereits unverzichtbar geworden, weshalb isolierte persönliche Interessen, wie etwa vereinzelt auftretende zwischenmenschliche Animositäten zwischen Autoren und Kritikern, die über systemfremde Kanäle abgewickelt wurden, offensichtlich nicht mehr, wie noch im Fall der

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Monats=Gespräche, zum Ende eines so weit ausgreifenden Periodikums wie der ADB führen konnten. Dazu war ihr gesellschaftlicher Nutzen, der in der Bereitstellung eines institutionalisierten und damit berechenbaren Rahmens für die wertungsaktbasierte Konstruktion literarischer Reputation bestand, im Angesicht der nunmehr erheblich an Fahrt aufnehmenden Expansion der Gutenberg-Galaxis inzwischen einfach schon zu groß.

II.3 D ER T EUTSCHE M ERKUR C HRISTOPH M ARTIN W IELANDS (1773-1810) An der herausragenden Bedeutung von Christoph Martin Wielands Teutschem Merkur für die Entwicklung des Zeitschriftenwesens und die Literaturkritik der literarischen Kommunikation im deutschsprachigen Raum kann kein ernsthafter Zweifel bestehen. In der Forschungsliteratur, aber auch in den Betrachtungen der Zeitgenossen wird dieser Aspekt immer wieder hervorgehoben. Siegfried J. Schmidt etwa zählt den Merkur, dessen Veröffentlichungszeitraum sich auf die Jahre 1773 bis 1810 erstreckt, zu den wichtigsten literaturkritischen Zeitschriften der Hochaufklärung.235 Noch größere Geltung misst Karin Stoll dem Journal Wielands bei, dem sie eine absolute Spitzenposition attestiert: Der Einfluß, den Wieland mit seinem Teutschen Merkur im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts ausgeübt hat, ist heute gar nicht mehr abzuschätzen. Kaum eine Zeitschrift, die nicht ab und zu einen wichtigen Merkur-Aufsatz kritisch kommentierte, kaum eine der vielen veröffentlichten Korrespondenzen mehr oder minder berühmter Zeitgenossen, in der nicht Wieland und sein Götterbote Erwähnung fände.236

Auch zeitgenössische, nicht in wissenschaftlicher Systemreferenz urteilende Beobachter betonen die außerordentliche Bedeutung des Merkur und seines erfolgreichen Herausgebers. Goethe etwa rühmt in seinem Nekrolog aus dem Jahr 1813 Wielands Freimütigkeit in seiner Doppelrolle als Schriftsteller und Literaturkritiker: „In Versen und Prosa verhehlte er niemals, was ihm augenblicklich zu Sinne, wie es ihm jedes Mal zu Mute sei, und so schrieb er auch urteilend und urteilte schreibend.“237 In dieser Doppelfunktion habe Wieland mit seiner „so wichtigen Zeitschrift“, die „neu und bedeutend“238 gewesen sei, einen ganz erheblichen Einfluss auf den Verlauf der

Siehe S.J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur [1989], S. 371f. 236 K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 1f. 237 J.W. Goethe: „Zu brüderlichem Andenken Wielands [1813]“, S. 948. 238 Ebd., S. 957. 235

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Evolution des Literatursystems in den davor liegenden Jahrzehnten ausgeübt: Die Wirkungen Wielands auf das Publikum waren ununterbrochen und dauernd. Er hat sein Zeitalter sich zugebildet, dem Geschmack seiner Jahresgenossen, sowie ihrem Urtheil eine entschiedene Richtung gegeben, dergestalt, daß seine Verdienste schon genugsam erkannt, geschätzt, ja geschildert sind.239

Auf diese Weise, so Goethe weiter, habe sich der Merkur zum Vorbild für eine neue Generation literarischer Journale entwickelt und reichlich „Nachahmer“ animiert, sodass schließlich eine große Anzahl „ähnliche[r] Zeitschriften entstanden“240 sei, was natürlich hinsichtlich der damaligen literaturkritischen Praxis Bände für den paradigmatischen Charakter des Merkur spricht. Aber auch als Person genoss Wieland den Respekt der Zeitgenossen. Moses Mendelsohn etwa erklärt im Sommer 1772, Wieland sei „ein außerordentlicher Mann“.241 Friedrich Nicolai bezeichnet Wieland als jemanden, der „in großem Ansehen“242 stehe. Johann Georg Sulzer wiederum betont Wielands hohes Prestige speziell bei den jungen Lesern: „[E]in großer Theil unsrer lesenden Jugend [sieht] auf diesen Mann als auf einen Gesetzgeber herauf“ und „verehrt seine Aussprüche“.243 Der Teutsche Merkur, der ab 1790 mit völlig neuem Mitarbeiterstab unter dem leicht abgeänderten Titel Neuer Teutscher Merkur erschien, leistete sich jedoch im Zuge der revolutionären Ereignisse in Frankreich nach dem Sturm auf die Bastille eine deutliche Umorientierung weg von der schöngeistigen Belletristik hin zur Staatsphilosophie und zur aktuellen Tagespolitik, deren folgenschwere Ereignisse sich von diesem epochalen Zeitpunkt an (was eine bis dato fast völlig neue Erfahrung war) beinahe täglich überschlugen und andauernd wissenswerte Neuigkeiten produzierten.244 Aus diesem Grund wollen wir uns in 239 240 241 242 243 244

Ebd., S. 948. Ebd., S. 958. M. Mendelsohn: „Moses Mendelsohn an Zimmermann [25.6.1772]“, S. 286. F. Nicolai: „Nicolai an Zimmermann [25.6.1773]“, S. 303. J.G. Sulzer: „Sulzer an Zimmermann [November 1773]“, S. 230. Volker Schulze beschreibt diesen Prozess der Umorientierung wie folgt: „Die fast ausschließliche Hinwendung der Zeitschrift zur Politik war eine Folge der Ereignisse in Frankreich: Die Französische Revolution fand in den gebildeten Kreisen des deutschen Volkes ein lebhaftes Echo. Als einzige literarische Zeitschrift unterrichtete der Merkur regelmäßig über die französischen Vorgänge; bald füllten Kommentare und politische Glossen mehr als die Hälfte eines ‚Stücks‘. [...] Neben seinen politischen Arbeiten ließ Wieland Literatur und Literaturkritik im Neuen Teutschen Merkur verkümmern. [...] Wieland selbst äußerte sich nicht mehr zur Literatur; die Dichtungen, die nach 1795 entstanden, enthielt er dem Neuen Teutschen Merkur vor, besonders seit dem Zeitpunkt, da Böttiger die Redaktion übernommen hatte. [...] 1810 verstummte Der Neue Teutsche Merkur. Spätestens seit der Übernahme der Redaktion durch Böttiger [im Jahr

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diesem Kapitel vornehmlich auf die Ära des Teutschen Merkur konzentrieren, also auf die Zeitspanne von 1773 bis 1789, in der sich das Blatt laut Wielands eigener Betrachtung zur vollen Zufriedenheit des Publikums „so starck aufs recensiren legt[e]“.245 Gelegentlich werden allerdings auch früher oder später erfolgte Reflexionen Wielands einbezogen, sofern sie der Vertiefung der Erkenntnisse dienlich erscheinen. Seine erhebliche Bedeutung erlangte der Teutsche Merkur indes nicht alleine durch seine außergewöhnliche Langlebigkeit. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die Zeitschrift Wielands auch über einen langen Zeitraum eine „relativ zu den Zeitbedingungen“246 weit überdurchschnittliche Auflagenstärke behaupten konnte, die das Blatt auch auf Augenhöhe mit Nicolais erfolgsverwöhnter ADB brachte: Vom ersten Band wurden 2500 Exemplare verkauft und selbst eine Neuauflage, die neben einem Raubdruck erschien, reichte nicht aus, die Nachfrage zu befriedigen. 1774 werden immerhin noch etwa 2000 Bände abgesetzt bei 1870 Subskribenten. Von da an fällt die Auflage kontinuierlich (1783: 1500; 1788: 1200). Stellt man in Rechnung, daß die normale Auflagenhöhe von Zeitschriften bei 1000 Exemplaren lag und erst danach unrentabel wurde, so zeugen diese Zahlen von einem enormen Erfolg des Merkur, der im vergleichbaren Zeitraum nur noch von der Allgemeinen Deutschen Bibliothek erreicht wird.247

Vor allem die ersten Auflagen erbrachten laut Hans-Georg Werner „zunächst einen sensationellen Erfolg“, der wohl nicht zuletzt damit zusammenhing, dass Wieland ein weithin anerkannter und erfolgreicher Schriftsteller war, dem man aufgrund seiner bereits unter Beweis gestellten literarischen Meisterschaft anscheinend auch auf dem engverwandten Feld der Literaturkritik einiges zutraute. Nachdem „1774 die Erwartungseuphorie des Publikums abgeklungen war“, so Werner weiter, „hatte sich ein fester Abonnentenkreis gebildet, der mit rund 2000 Abonnements für Wieland geschäftlich zu Buche schlug. Zwar verringerte sich diese Zahl allmählich, doch selbst nach zehn Jahren konnte der Herausgeber mit 1500 Abonnenten rechnen.“248 Bis 1810 sank die Auflagenzahl auf immer noch stattliche „rund 1200 Exemplare“.249 Natürlich war die tatsächliche Leserzahl bedeutend höher als es die absoluten Auflagen- und Abonnentenzahlen suggerieren. Volker Schulze etwa schätzt, dass Wielands Blatt pro Ausgabe bei „einer Auflage von 2500 Exemplaren [...] maximal 25000“ Leser erreichte, sodass der Herausgeber „wirtschaftlich mit dem Erfolg des Merkur zufrieden“

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1792, D.B.] hatte der Merkur seine Bedeutung – zumindest für die Literaturgeschichte – verloren.“ V. Schulze: „Der Teutsche Merkur (1773-1810)“, S. 100f. C.M. Wieland: „An Johann Heinrich Merck [20.4.1778]“, S. 51. G. Lerchner:. „Deutsche Kommunikationskultur des 18. Jahrhunderts“, S. 53. K. Stoll: „Christoph Martin Wieland“, S. 58. H.-G. Werner: „Literatur für die policirte Gesellschaft“, S. 61. V. Schulze: „Der Teutsche Merkur (1773-1810)“, S. 89.

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sein konnte. Indes, so fügt Schulze erläuternd hinzu, hatte sich Wieland insgeheim doch noch etwas „mehr Resonanz in den literarischen Kreisen erhofft.“250 Trotzdem gelang es ihm zumindest, seine Publikation zu einer „Sammelstelle für alle bedeutenderen dichterischen Schöpfungen der Zeit“251 zu machen. So schrieben in den Jahren 1788/89 etwa, trotz gewisser Vorbehalte, hochangesehene Intellektuelle wie Kant, Schiller und Goethe für Wielands Zeitschrift.252 Zieht man alle diese Beobachtungen ins Kalkül, drängt sich der Gedanke an ein hohes Maß an Repräsentativität des Merkur-Projekts für die literaturkritische Praxis sowie die Kommunikationskultur im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts insgesamt geradezu auf. Gottfried Lerchner bescheinigt dem Organ Wielands denn auch folgerichtig, „eine ins Gewicht fallende kommunikative Breitenwirkung“ gehabt und „im Kreis der Massenmedien der Zeit zumindest vorrübergehend eine Spitzenposition behauptet“253 zu haben. Auch Wieland selbst weist dem Merkur die Eigenschaft eines „weit reichenden Sprachrohrs“254 zu. Die massenmediale Dominanz sowie die weite Verbreitung des Merkur ist überdies eindeutiger Indikator für eine weitgehende Akzeptanz der sich hinter dem Journal verbergenden literaturkritischen Programmatik nebst deren Implikationen für den Umgang mit literarischen Werken vor dem Hintergrund der kommunikativen Konstruktion binnensystemischer Reputation. Wir schließen uns daher dem Urteil Lerchners an, der davon ausgeht, dass die „Rezensionen und Kritiken, wie sie Wieland im Teutschen Merkur in Fülle publiziert hat, [...] relativ deutlich [...] die Regeln der zeitgenössischen Kultur reflektieren [dürften], nach denen die Angehörigen bestimmter Gruppen ihre verbale und nonverbale Kommunikation über bestimmte Gegenstände reguliert haben.“255 Besonders wichtig für unser Anliegen ist dabei, dass der Merkur mit Nicolais ADB in einem Verhältnis programmatischer Komplementarität stand, also nicht etwa einfach blind dessen literaturkritische Konzeption übernahm und lediglich fortführte. In diesem Zusammenhang betont Hans Wahl, der große Chronist der Zeitschrift Wielands:

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Ebd., S. 94. K. Schlottenloher: Flugblatt und Zeitung, S. 320. Die sinkende Bedeutung der Zeitschrift nach dem Umbruch 1789/90 zeigt sich auch darin, dass fortan viele der von Wieland redigierten Beiträge von (heute weitgehend vergessenen) Verfassern herrühren, „deren Namen bisher nicht in literarischen Zeitschriften vertreten waren: Karl von Knoblauch, Benjamin Erhard, Bentzel-Sternau, Ernst Wilhelm Ackermann.“ V. Schulze: „Der Teutsche Merkur (1773-1810)“, S. 99. G. Lerchner: „Deutsche Kommunikationskultur des 18. Jahrhunderts“, S. 53. C.M. Wieland: „An Georg Joachim Göschen [15.1.1795]“, S. 402. G. Lerchner: „Deutsche Kommunikationskultur des 18. Jahrhunderts“, S. 54.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 245 Ein kritischer Spiegel des gesamten nationalen Literaturlebens auf der breiten Basis der Aufklärung wollte die Allg. D. Bibliothek sein. Von hier aber führt keine Entwicklungslinie nach dem Merkur. Das Verdienst Wielands liegt nicht in einem Aufgreifen und Erweitern dieser bis dahin anspruchsvollsten Programme, sondern in der geschickten Wahl eines neuen französischen Vorbildes.256

Alles in allem ist gleichwohl festzuhalten, dass diese beiden Rezensionszeitschriften trotz gewisser konzeptioneller Differenzen, die sich auch an der weitgehend überschneidungsfreien geografischen Distribution der betroffenen Organe ablesen lässt257, gemeinsam die reguläre journalistische Literaturkritik jener Epoche beherrschten und somit die Weiterentwicklung der um Autonomiezuwachs ringenden literarischen Kommunikation in der Höchstphase ihrer Ausdifferenzierung aus der multifunktionalen gelehrten Kommunikation entscheidend prägten, denn „[i]m Bunde mit der Allgemeinen Deutschen Bibliothek übt der Teutsche Merkur eine kritische Macht aus“, die „ausreichen konnte, um über Erfolg oder Mißerfolg einer Neuerscheinung zu entscheiden.“258 Diese beiden das Unterfeld der Literaturkritik dominierenden Zeitschriften mit ihren einander ergänzenden Konzeptionen eignen sich also hervorragend, um einen repräsentativen Querschnitt der zeitgenössischen Rezensionspraxis abzuliefern und gewähren einen tiefen Einblick in die Evolution des Reputationscodes der Literatur in Zeiten der Umstellung des Gesellschaftssystems auf funktionale Differenzierung. Dabei kommt dem theoretischen Anliegen dieser Arbeit, das ja vor allem auf der Programmebene literarischer Kommunikation zu lokalisieren ist, zugute, dass sich Wieland im Teutschen Merkur immer wieder „metakommunikativ reflektierend, zu zeitgenössischen Problemen der sozialen Kommunikation“259 geäußert hat. II.3.1 Zur Funktion der Literaturkritik im Teutschen Merkur Sowohl in seinen programmatischen Beiträgen zum Teutschen Merkur als auch in seinen Briefen an Freunde und Mitarbeiter hat Wieland mehrfach zur Frage der gesellschaftlichen Funktion seiner literaturkritischen Zeitschrift Stellung genommen und dabei mal den einen, mal den anderen AsH. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 38f. Zur Verbreitung der führenden zeitgenössischen Rezensionsorgane bemerkt Volker Schulze: „Der Merkur hatte kein geschlossenes Verbreitungsgebiet; Verbreitungsschwerpunkte bildeten Hamburg, (das literarisch zu Deutschland gehörige) Kopenhagen, Miltau, Basel; nach Leipzig, an den Erscheinungsort von Chr. F. Weißes Neuer Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1767ff.) und nach Berlin, in die Domäne von Friedrich Nicolais Zeitschrift Allgemeine Deutsche Bibliothek (1765ff.) drang der Merkur nur vereinzelt vor.“ V. Schulze: „Der Teutsche Merkur (1773-1810)“, S. 89. 258 K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 41. 259 G. Lerchner: „Deutsche Kommunikationskultur des 18. Jahrhunderts“, S. 52. 256 257

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pekt akzentuiert. Zunächst springt ins Auge, dass sich Wieland des gleichen Bildbereichs bedient wie Friedrich Nicolai, wenn es um diese aus systemtheoretischer Perspektive so entscheidende Thematik geht. So findet sich in einem Brief an seinen engsten Mitarbeiter der frühen Merkur-Jahre, den Literaturkenner und Kritiker Johann Heinrich Merck, diesbezüglich folgender Passus: „Unter dem Endzweck dieses Journals verstehe ich daß es, soviel nur immer möglich, ein sich fortbewegendes Gemählde des gegenwärtigen Zustandes der Nation in Absicht auf Litteratur, Künste, Geschmack und Sitten sey.“260 Auch der Merkur sollte also auf dem hier interessierenden Gebiet der Kunst bzw. Literatur dafür sorgen, dass den Lesern über die „Beurtheilung neuer Schriften“261 ein übersichtlicher Abriss über die aktuelle Buchproduktion geliefert wurde, um die literarische Öffentlichkeit auf diesem Wege in die Lage zu versetzen, „das ganze aus dem richtigsten Standpuncte übersehen“262 zu können. Es geht mithin, systemsoziologisch reformuliert, um den Aufbau kunstwerkbezogener Erwartungen, die Lesern dabei helfen sollen, sich im Dickicht literarischer Kommunikation erfolgreich zurechtfinden zu können. Wenn Wieland überdies in der Vorrede zum zweiten Stück des ersten Bandes erklärt, die neue Zeitschrift sei grundsätzlich „eine zum Ruhm und Vergnügen der Nation abzielende Unternehmung“263, so macht dies deutlich, dass die Ermöglichung von Orientierung dabei in einen engen Zusammenhang mit der Unterhaltungsfunktion moderner literarischer Kommunikation einerseits, aber auch mit der Genese von Reputation gestellt wird, auch wenn diese an dieser Stelle noch relativ unbestimmt mit dem eher abstrakten, entpersonalisierten Begriff der ‚Nation‘ in Zusammenhang gebracht wird, nicht jedoch mit konkreten Akteuren. Dabei geht Wieland bereits von einer (etwa in Großbritannien zu diesem Zeitpunkt schon fest etablierten) klaren Trennung von vererbbarer ständischer Ehre und über Leistungen erworbener sozialer Anerkennung im engeren Sinne aus, die grundsätzlich, genauso wie ökonomisches Kapital, von allen eingefahren werden kann: „Steht nicht Talenten und Verdiensten überall, auch ohne das was man eine edle Geburt nennt, der Weg zu einer unendlichen Menge von Ehrenstellen, Würden und Emolumenten [....] so gut als in England offen?“264 Wenn Wieland also im Kontext der Entfaltung seiner literaturkritischen Programmatik im Merkur und in seiner Privatkorrespondenz von Ruhm und Ehre spricht, geht es ihm nicht um die noch aus dem gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsstadium der Stratifikation geläufige Standeszugehörigkeit der involvierten psychischen Systeme, sondern um das erworbene symbolische Kapital, das von den beteiligten Akteuren mit

C.M. Wieland: „An Johann Heinrich Merck [21.9.1779]“, S. 222. C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. VIII. 262 C.M. Wieland: „An Eschenburg in Braunschweig [10.5.1773]“, S. 111. 263 C.M. Wieland: „Der Herausgeber an das Teutsche Publicum [1773]“, S. XIII. 264 C.M. Wieland: „Anhang des Herausgebers [1791]“, S. 435. 260 261

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entsprechender Begabung (wo auch immer diese herrühren mag) über positiv bewertete Leistungen akkumuliert wird. Was die Funktionalität der im Merkur betriebenen Literaturkritik im engeren Sinne anbelangt, lässt sich konstatieren, dass in den darauf rekurrierenden Stellungnahmen in auffallender Häufigkeit der Bezug zur Unterhaltungsfunktion moderner literarischer Kommunikation und ihrer Leitdifferenz interessant/langweilig hergestellt wird. Immer wieder verleiht Wieland sowohl öffentlich als auch privat seiner Absicht Ausdruck, den Lesern mit der neuen Zeitschrift günstige Gelegenheit zur Zerstreuung geben zu wollen. Schon in der ‚Vorrede des Herausgebers‘ zur Erstausgabe kündigt Wieland an, die in der Zeitschrift zu erwartenden Artikel würden „größtentheils aus solchen bestehen, welche den Verstand denkender oder das Herz empfindsamer Leser zu unterhalten geschickt sind.“265 Sowohl Herz als auch Hirn sollten also im Merkur auf ihre Kosten kommen. Ausgeschlossen, so Wieland weiter, seien dagegen alle Beiträge von einer „schwerfälligen Ernsthaftigkeit, über welche die Langeweile ihre Schlummerkörner ausgestreut hat.“266 Damit grenzt auch Wieland sein Journal radikal gegenüber als abgeschmackt empfundenen Publikationen pedantischer bzw. scholastischer Provenienz ab, wie man sie noch aus den Zeiten der gelehrten Kommunikation kannte. Ihm seien „der Majorität der Leser angenehme Artikel“ allemal lieber als beispielsweise die altbackene „trokne Erörterung einer Grammatischen Subtilität“267, betont er noch 1795 in einem Brief an Rudolf Zacharias Becker. Im zweiten Heft des ersten Jahrgangs erneuert Wieland dann im Namen der Redaktion sein Versprechen, der Leserschaft mit dem Merkur ein verlässliches Mittel zum angenehmen Zeitvertreib an die Hand zu geben, in dessen Verbesserung ständig investiert würde: „Der Herausgeber sieht sich vielmehr durch die Anzahl und den Eyfer seiner Mitarbeiter im Stande, den Merkur immer unterhaltender zu machen.“268 Indes sollte das Blatt auf eine „nicht schwerfällig[e]“ Art und Weise, also etwa unter Vermeidung alles übermäßig Kompliziertem und Detailliertem, die Leser mit Informationen über Neuveröffentlichungen versorgen und dabei „mit feiner leichter Plaisanterie“269 nicht nur für die Unterhaltung einer kleinen gelehrten Elite sorgen. Vielmehr hatte Wieland von Anfang an breitere Leserschichten im Visier, was man auch daran ablesen kann, dass er seine Absicht unterstreicht, „den Merkur von so vielen Seiten als wie nur immer möglich ist, interessant zu machen“.270 Es geht Wieland demnach um eine breit gestreute Zielgruppe, in seinen eigenen Worten um „[a]lle mittelmäßige[n] Leute – welche

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C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. IX. Ebd., S. IX. C.M. Wieland: „An Rudolf Zacharias Becker [11.12.1795]“, S. 145. C.M. Wieland: „Der Herausgeber an das Teutsche Publicum [1773]“, S. XII. C.M. Wieland: „An Meusel in Erfurt [8.1.1773]“, S. 45. C.M. Wieland: „An die Leser des Teutschen Merkurs [1775]“, S. 191.

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Zahl! – alle gute[n], ehrliche[n], wohlmeinende[n], nüchterne[n] Seelen“271, wie er Friedrich Heinrich Jacobi in einem Brief vom 25. August 1775 anvertraut. In diesen Kontext gehört auch Wielands Ansinnen, seinem Blatt durch den Abdruck musikalischer Partituren weitere Lesekreise zu erschließen, was aus einem Brief an Kayser vom 30. September 1776 hervorgeht, in dem er bemerkt: Ihr freundliches Anerbieten, mir einige von Ihnen componierte Lieder für den Merkur zu schicken, ist mir um so willkomner, da ich schon lange mit dem Gedanken umgehe, den Merkur durch Lieder mit Melodien für die weibliche Hälfte der Leser interessanter zu machen. Und warum nicht auch für die Männliche? Wehe dem Manne, der den Gesang nicht liebt!272

Sicherlich war Wielands Schielen auf eine möglichst große Zielgruppe für seinen Merkur nicht frei von ökonomischen Erwägungen. Wieland, der Erfolgsautor, war sich anscheinend aber auch vollkommen darüber im Klaren, dass sich die literarische Kommunikation längst nicht mehr nur auf exklusive Adelskreise und die wenigen hochgebildeten Mitglieder der allmählich zum Auslaufmodell werdenden Gelehrtenrepublik beschränkte. Es war bereits eine lebendige, das gesamte Bildungsbürgertum und nicht nur die kleinen Gelehrtenzirkel einschließende literarische Öffentlichkeit entstanden, deren Beitrag zur literarischen Kommunikation laut Wieland vor allem darin bestand, dass sie darüber entschied, wem durch die Zuweisung spezifisch literarischen symbolischen Kapitals das Recht auf eine Existenz als Schriftsteller und ein Platz im sozialen Gedächtnis der Literatur zuerkannt wurde: „Die Menge der Heerscharen, Crethi und Plethi, Ohim und Zihim, die sind’s, die den zeitlichen Ruhm, Ansehen und Glück eines lebenden Autoren entscheiden.“273 Wieland war sich also der Tatsache bewusst, dass die literarische Kommunikation auch hinsichtlich der akteurspezifischen Beteiligungspotenziale bereits ins Zeitalter der Massenmedialität eingetreten war; dementsprechend ist die im Merkur vertretene literaturkritische Programmatik auch als Versuch zu werten, der sich im Zuge aufklärerischer Bildungsoffensiven vollziehenden, gehörigen Vergrößerung des Lesepublikums durch eine durchaus originelle Konzeption Rechnung zu tragen. Es ging Wieland eben nicht um die Befriedigung der althergebrachten Sonderansprüche von Adel und Geistesaristokratie, sondern sein neuartiges Rezensionsorgan sollte ganz ausdrücklich „hauptsächlich unter den mittelmäßigen Leuten sein Glück machen“.274 Dabei zeigt sich, dass schriftstellerische ReC.M. Wieland: „An Fr.H. Jacobi in Düsseldorf [5.8.1775]“, S. 401. C.M. Wieland: „An Kayser in Zürich [30.8.1776]“, S. 553f. 273 C.M. Wieland: „An Fr.H. Jacobi in Düsseldorf [5.8.1775]“, S. 401. 274 C.M. Wieland: „An Fr.H. Jacobi in Düsseldorf [5.8.1775]“, S. 434. Vor dem Hintergrund dieser Wortwahl erscheint die Schlussfolgerung Stolls, dass der Merkur „vor allem aufgeklärten Adel und Großbürgertum ansprechen soll“, als etwas übertrieben. K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 57. 271 272

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putation von Wieland als Größe verstanden wurde, mit der im Literaturbetrieb von allen Beteiligten gerechnet werden musste, prinzipiell unabhängig vom sozialen Status oder der geburtsrechtlichen Standeszugehörigkeit – solange nur ein hinreichendes Quantum an Muße und Bildung seitens der Leser zur Disposition stand. Wieland gab sich trotz seiner in dieser Form wohl präzedenzlosen Fokussierung auf das ganze Spektrum der sich stetig vergrößernden Leserschaft indes nicht der Illusion hin, es in puncto Unterhaltsamkeit auch wirklich allen Lesern Recht machen zu können. Ihm war vollkommen klar, dass gerade dieser Teil der Merkur-Programmatik zu den Klippen gehörte, die das Projekt würde umschiffen müssen, um den ersehnten Erfolg beim zunehmend uneinheitlicher werdenden Publikum zu erzielen. So bekennt er schon in der Erstausgabe seines Journals ohne weitere Umschweife: Auch kan nicht alles gleich gut seyn, und nicht alles Allen gefallen. Die Gäste, die der Merkur zu befriedigen hat, sind sehr viele, und von sehr verschiedener Beschaffenheit. Die einen fodern eine einfache, die andern eine künstlichere Zubereitung; einige wollen, daß jede Speise ihren eigenthümlichen Geschmack habe und sich selbst gleich sehe, andre lieben nur Haut-gout und maskierte Schüsseln; einige haben schwere, andre leichte Speisen vonnöthen.275

In der wesentlich intimeren Atmosphäre seiner Privatkorrespondenz ging Wieland sogar so weit, die Heterogenität der mit dem Merkur anvisierten Leserschaft schon im Vorhinein als mögliche Ursache für ein eventuelles späteres Scheitern des gesamten Vorhabens verantwortlich zu machen – nicht ohne allerdings im gleichen Atemzug seinen ungebrochenen Durchhaltewillen zu unterstreichen. So gesteht er dem Wiener Staatsrat und Dramatiker Tobias Philipp Freiherr von Gebler gegenüber am 7. Juni 1773 ebenso freimütig: Ich habe etwas unternommen, das vielleicht über meine Kräfte geht; denn wie soll ich es anfangen, um eine so große Menge von Lesern, die an Fähigkeit, Denkart und Geschmack so unendlich verschieden sind, zugleich so zu befriedigen? Eben das, was dem einen das Schönste und Beste däucht, ist dem ändern gleichgültig; ja wohl gar ekelhaft. Indessen da ich nun einmal über den Rubikon gegangen bin, will ich mein Möglichstes thun, um das Abentheuer glücklich zu bestehen.276

Der Skeptizismus, mit dem er dem eigenen Anspruch auf Befriedigung der Wünsche eines von derart unterschiedlichen Präferenzen gekennzeichneten Massenpublikums begegnete, tat dem Glauben Wielands an seine eigenen publizistischen Fähigkeiten jedoch keinen Abbruch. Wie sehr er – sicherlich bestärkt durch die anfänglichen Verkaufserfolge des Merkur – letztlich von der eigenen Befähigung, auf die Dauer ein unterhaltsames und auch qualitativ hochwertiges Produkt anbieten zu können, überzeugt war, bezeugt eine

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C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XXIf. C.M. Wieland: „An Staatsrat von Gebler in Wien [7.6.1773]“, S. 123.

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Bemerkung in einem weiteren Brief an Gebler vom 19. Mai 1774, in dem er unterstellt: „[B]loß an unserem Publiko wirds liegen, wenn dieses periodische Werk nicht immer interessanter wird.“277 Dieser kleine Seitenhieb auf die selbstverschuldete mangelnde Sachverständigkeit der deutschsprachigen Leserschaft, der vorab schon einmal jegliche Schuld an einem eventuellen Schiffbruch des Merkur-Abenteuers untergeschoben wird, stellt jedoch nicht lediglich eine aus Selbstschutz vorgenommene Momentaufnahme dar, wie man meinen könnte, sondern sie besitzt durchaus so etwas wie Systemcharakter. In seinen programmatischen Überlegungen ließ sich der überzeugte Aufklärer und Rationalist Wieland nämlich von dem Gedanken leiten, einer noch weitgehend unmündigen Leserschaft gegenüber zu stehen, was er als zukünftig zu lösendes Problem betrachtete. Mit welcher Dringlichkeit er diese Thematik betrachtete, geht aus dem ersten der ‚Briefe an einen jungen Dichter‘ aus dem Jahr 1782 hervor, der als einleitender Teil einer Serie von Artikeln verfasst wurde, in denen sich Wieland an einen (trotz anderslautender Beteuerungen wohl fiktiven) Nachwuchsschriftsteller wendet, um diesem quasi als Geburtshelfer seine erfahrungsgesättigte Sicht vom gegenwärtigen Zustand des Literaturbetriebs zu vermitteln und ihn auf diese Weise gegen die von ihm gesehene Gefahr allzu großer Hoffnungen auf eine wirklich gerechte Beurteilung der eigenen Werke durch die Leser zu immunisieren. Das von einer inkompetenten Leserschaft ausgehende Kernproblem sieht Wieland dabei vor allem darin, dass es zwar prinzipiell allen Lesern möglich sei, gleichsam körperlich-lustvoll-intuitiv auch ohne jeglichen ästhetischen Überbau das Interessante vom Langweiligen unterscheiden zu können, nicht aber das (literarisch) Wertvolle vom Wertlosen. Hierfür macht er primär den überall im Literatursystem virulenten Innovationsdruck und eine Art Abnutzungseffekt verantwortlich, der darauf basiere, dass unabhängig von der eigentlichen Qualität des literarischen Werks alles Neuartige dem bereits Bestehenden fast schon automatisch den Rang ablaufe, solange es nur irgendwie ein bisschen humorvoll, erstaunlich, gefühlsduselig oder anstößig einher komme: Unter tausend Lesern hat kaum Einer einen deutlichen und bestimmten Begriff von den Schwierigkeiten und von dem Höchsten der Kunst. Die Leser oder Zuhörer fühlen wohl, ob man sie intereßirt oder gähnen macht: aber das ist auch Alles: und da ein sehr mittelmäßiges oder höchst nachläßig gearbeitetes Werk, eben sowohl als ein Meisterstük, etwas interessantes haben kann: so können Sie Sich darauf gefaßt machen, daß, sobald ihr Werk aufgehört hat eine Meß=Neuigkeit zu seyn, der erste beste Roman, der etwas Neues ist, ein wenig Witz, hier oder da eine überraschende Situation, eine rührende Stelle oder schlüpfrige Gemählde hat, sich der Aufmerksamkeit der lesenden Welt bemächtigen, und Ihre Arbeit, hätten Ihnen auch alle Neun Musen daran geholfen, auf die Seite drängen wird. [...] Sie werden sie [d.h. die Gerechtigkeit, D.B.] nie erhalten; nicht weil man Ihnen Gerechtigkeit versagen will, sondern weil

277

C.M. Wieland: „An Staatsrat von Gebler in Wien [19.5.1774]“, S. 262f.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 251 man keinen Begriff von allem dem hat, was man wissen müßte, um sie ihnen wiederfahren zu lassen.278

Freilich wird auch an anderer Stelle deutlich, wie energisch Wieland in seiner Programmatik die Trennung zwischen dem Haupt- und dem Nebencode der literarischen Kommunikation handhabte. So versteift er sich etwa im ersten Vierteljahr des sechsten Merkur-Jahrgangs aus dem Jahr 1778 auf die vielsagende Behauptung, das Interessante konvergiere nicht automatisch mit dem literarisch Wertvollen. Damit stimmt Wielands Sichtweise auffallend mit den von uns im Theorieteil gemachten Vorbehalten gegenüber Perrys Position überein, der ja davon ausgeht, das Interessante sei per se künstlerisch wertvoll. Wieland dagegen hat keine Probleme, sich eine unterhaltsame Literatur vorzustellen, die beispielsweise von der geschickten Wahl des Sujets, exotischen Handlungsschauplätzen oder gar der herausragenden Reputation des Verfassers lebt, jedoch gleichzeitig kein besonders hohes ästhetisches Niveau erreicht: Verdienstvolle Männer können sehr mittelmäßige Schriftsteller seyn; und ein Buch kann viel Gutes erhalten, kann an gewissen Orten durch seinen Gegenstand, an andern durch seinen Verfasser, an noch andern durch Beydes einer Menge Leuten interessant – und doch, an sich selbst, ein sehr mittelmäßiges Buch seyn.279

In der ‚Vorrede des Herausgebers‘ zur Erstausgabe des Merkur führt Wieland den Lesern in der für ihn typischen vorsichtig-diplomatischen Manier vor Augen, welche weiteren Konsequenzen sich aus der von ihm behaupteten Beurteilungsinkompetenz des Publikums für den Literaturbetrieb und die von diesem diktierten Rezeptionsbedingungen ergeben können: „So wie es gehen kann, daß ein Werk des Genies ein halb Jahrhundert zu früh kömmt: so geschieht es auch oft, daß ein Werk vom Publico für gut angenommen wird, nicht weil es gut ist, sondern weil das Publicum noch nicht weiß was gut ist.“280 Wieland sieht demzufolge die Gefahr, dass der reibungslose Fortlauf des literarischen Prozesses durch gewohnheitsmäßige Fehlurteile seitens der Leser, die (literarisch) an sich wertlosen Werken ohne wirkliche Berechtigung Anerkennung entgegenbringen, nachhaltig beeinträchtigt werden könnte, und leitet aus dieser Erkenntnis einen pädagogischen Auftrag ab, den die Literaturkritik in Gestalt des Merkur zu erfüllen habe. Ins Zentrum dieser fundamentalen Problematik des angemessenen Bewertens literarischer Werke rückt Wieland dabei – wenig überraschend – die offensichtliche flatterhafte Beliebigkeit subjektiver Geschmacksurteile: „[M]an verwirft oft in gewissen Stunden, was man bey besserer Laune passabel gefunden hätte – so wie manchem lose Speise ist, was hundert Andre con gran gusto

C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Erster Brief [1782]“, S. 144f. C.M. Wieland: „Antworten [1778]“, S. 300. 280 C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XV. 278 279

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hinunter schlürfen.“281 Vorsichtig auf etwaige Empfindlichkeiten seitens des Publikums Rücksicht nehmend, ergänzt Wieland, dass die von ihm diagnostizierte Beliebigkeit nichtprofessioneller Beurteilungen literarischer Werke letztlich auf mangelnder Bildung seitens der Leser fuße: Der Beyfall, der von dem größten Theile des lesenden Publici noch itzt so vielen mittelmäßigen Werken zugejauchzt wird; die noch immer herrschende Nachsicht gegen wesentliche Mängel; die Gewohnheit, bey vortreflichen Werken um weniger kleiner vielleicht nur eingebildeter Flecken willen kaltsinnig zu bleiben; [...] und um alles in Ein Wort zusammen zu fassen, die beynahe allgemeine Willkührlichkeit des Geschmacks, sind sichre Merkzeichen, daß gesunder Verstand und unverdorbne Empfindung in Sachen der Litteratur noch nicht so gemein unter uns sind, als sie es bey einer aufgeklärten Nation seyn sollten. [...] Alles dies beweiset nichts gegen das Richteramt des Publici, es beweiset nur: daß die Zeit allein seinen Aussprüchen das Siegel der Gültigkeit aufdrückt. Was will man mit diesem Ausdruck sagen? Nichts als dies: das Publicum urtheilt selten (vielleicht hätte ich gerade heraussagen sollen, niemals) über seine Zeitgenossen richtig; theils, weil es so vielen einzelnen Personen, woraus es besteht, an der Einsicht oder dem Geschmack, oder den Kenntnissen fehlt, welche zum richtigen Beurtheilen gewisser Personen oder Sachen unumgänglich erfodert werden; theils, weil sich Privat-Neigungen und zufällige Nebenumstände in die Urtheile mischen.282

Um ein – in Wielands Sinne ‚richtiges‘ – Beurteilen der aktuellen Buchproduktion zu ermöglichen, muss also dafür gesorgt werden, dass dem Publikum insgesamt die dazu dringend benötigte Geschmackskompetenz anerzogen wird, die offensichtlich nicht von den misstrauisch beäugten, zutiefst wankelmütigen Impulsen der beteiligten Psychen abhängen soll, sondern eher von überpersönlich gültigen Regeln und Konventionen – und genau für die didaktisch geplante Vermittlung derselben fühlt sich Wieland offenbar im Fahrwasser einer orthodox-aufklärerischen „Erziehung des Menschengeschlechts durch die Druckerpresse“283, wie Karin Stoll es prägnant formuliert, zuständig. Zwar gebe es durchaus bereits eine beträchtliche Anzahl mündiger Leser, die in der Lage sei, auf der Basis hinreichenden regelpoetischen Wissens selbständig ein adäquates Urteil über ein neues literarisches Werk zu fällen; allerdings befinde sich diese exklusive Gruppe von Rezipienten, für die der Merkur eigentlich nicht gedacht sei, noch deutlich in der Minderheit: Wir wissen auch sehr wohl, daß viele Leser sich selbst ein Gesetz sind, und keine fremde Leitung vonnöthen haben. Allein es ist doch gewiß, daß diese nur einen kleinen Theil des lesenden Publici, welches täglich zahlreicher wird, ausmachen, und daß der grössere Theil gerade derjenige ist, für den man am meisten besorgt seyn muß.284

C.M. Wieland: „Schließliche Anzeige [1777]“, S. 279. C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XVff. 283 K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 50. 284 C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XX. 281 282

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Es ging Wieland mithin auch darum, der literarischen Kommunikation durch literaturkritisches Werten neuer Werke auf der Leserseite ein gewisses Maß an Führung zu geben, d.h. machtvolle diskursstrukturierende Einschnitte vorzunehmen, die konkreten Einfluss auf die Abwicklung des chaotischer werdenden literarischen Prozesses ausüben sollten, hier aber rhetorisch verbrämt als Dienst an der lesenden Menschheit dargestellt werden. Nicht umsonst spricht Goethe davon, dass man sich „des Mercurs als Leitfadens in unserer Literaturgeschichte bedienen kann.“285 In einem Brief vom 1. Juni 1778 gibt Wieland Merck bezüglich des diskursordnenden Potenzials seines Journals überdies dann ganz unverblümt zu verstehen, dass durch dessen Mitarbeit „der Merkur immer mehr eingreiffendes in den gegenwärtigen Moment unserer Zeit, unserer Sitten, unseres Literaturzustands [...] bekommt“.286 In den Kontext dieses dezidiert interventionistischen literaturpädagogischen Anliegens, das sich augenscheinlich aus einer ziemlich reservierten Grundhaltung gegenüber dem etwa seit dem Erscheinen der Stürmer und Dränger an Boden gewinnenden modernen Individualismus mit seiner „heraufziehenden Geschmackswillkür“287 speist und sich nicht zuletzt auch in der an dieser Stelle manifesten Verwendung der spezifischen Leitdifferenz nützlich/schädlich des modernen Erziehungssystems zu erkennen gibt, setzt Wieland schließlich auch seinen bereits erwähnten Plan, ein möglichst breites Lesepublikum für die Zeitschrift zu gewinnen, wenn er gelobt, man werde alle Anstrengungen unternehmen, den Merkur „immer beyfallswürdiger und für jede Gattung von Lesern so nützlich und unterhaltend zu machen, als uns immer möglich seyn wird.“288 Dass zeitgenössische Rezensenten sowohl zu Beginn als auch gegen Ende der langjährigen Lebenszeit des Merkur feststellten, Wielands Zeitschrift enthalte „für ernsthafte Leser unterhaltende Stücke“289, reize in Überbietung der verdienstvollen, jedoch ausschließlich auf Buchkritik spezialisierten ADB „diejenigen, die in ihren Nebenstunden eine bessere Unterhaltung, als

J.W. Goethe: „Zu brüderlichem Andenken Wielands [1813]“, S. 958. C.M. Wieland: „An Johann Heinrich Merck [1.6.1778]“, S. 70. In einem weiteren Brief an Merck, der rund ein Jahr später aufgesetzt wurde, erläutert Wieland in fast gleichem Wortlaut: „Dies ists, was der Teutsche Merkur nach dem Wunsch der meisten Leser seyn soll, und was er, durch meine und meiner Gehülfen zusammengesezte Bemühung in einem höhern Grade, als bisher, würklich seyn wird; und ich verspreche in dieser Rücksicht, daß keine Aufsätze mehr // im Merkur erscheinen sollen, die nicht, auf irgend eine nähere weise, in den gegenwärtigen Moment unsrer Litteratur eingreiffen, oder sich auf die Bedürfniße der Zeit beziehen, und also einen innern Grund enthalten warum sie vielmehr in diesem Journal stehen als in jedem ändern.“ C.M. Wieland: „An Johann Heinrich Merck [21.9.1779]“, S. 222. 287 R. Ohm: ‚Unsere jungen Dichter‘, S. 25. 288 C.M. Wieland: „Der Herausgeber an die Abonnés und Leser [1783]“, S. 284. 289 Anonymus: „Weimar [29.5.1773]“, S. 548. 285 286

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blosse Recensionen, suchen, zu einer geschmackvollen Lektüre“290 und warte mit einem „großen Reichthum belehrender und unterhaltender Aufsätze“291 auf, spricht zunächst für den kommunikativen Erfolg dieser Programmatik, gemäß derer Unterhaltung und pädagogischer Nutzen in einem komplementären Verhältnis stehen sollten. Insofern kann man auch heute noch durchaus den Standpunkt Hans Wahls aus dem Jahr 1914 nachvollziehen, der aus einer literaturhistorischen Perspektive dem Merkur bescheinigt, „den entscheidenden Schritt von der Belehrung zur Lektüre, von der Gelehrsamkeit zur Unterhaltung und Bildung“292 vollzogen zu haben. Vor allem aber zeigt sich an dieser Stelle, dass Wielands Konzeption aus evolutionärem Blickwinkel noch der alteuropäischen Epoche multifunktionaler Kommunikation zugerechnet werden muss, auch wenn – schon rein auf der Ebene der absoluten Häufigkeit der expliziten Stellungnahmen zu dieser Thematik – der Unterhaltungsfunktion durchaus eine gewisse Priorität eingeräumt wird. Der Vorrang der Unterhaltungsabsicht gegenüber dem Erziehungsauftrag, der, soweit wir das beurteilen können, in der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung des Merkur-Projekts bislang weitgehend unbemerkt geblieben ist, macht sich etwa in der Vorrede zum vierten Vierteljahr aus dem Jahr 1777 bemerkbar. Bei dieser Gelegenheit beteuert ein offensichtlich vor allem um den weiteren Unterhaltungswert seines Erfolgsjournals fürchtender Wieland zunächst, „daß der Merkur inständige an Manchfaltigkeit und interessanter Beschaffenheit aller Artikel die beyden letzten Jahrgänge merklich übertreffen werde.“293 Begründet wird dieses Versprechen mit einer deutlichen Abgrenzung gegenüber oberlehrerhaften, mit erhobenem Zeigefinger hervorgebrachten Schulweisheiten, die bloß Eintönigkeit erzeugen und somit nicht mit den von Wieland auf kurzweiligen Zeitvertreib zugeschnittenen Zusagen vereinbar sind: Mit trocknen Abhandlungen im Schulton und Kompendien=Styl sollen unsere Leser künftig verschont bleiben, ohne sich darum über Mangel an Aufsätzen, die den Geist nähren und zum Denken reitzen werden, beklagen zu können.294

Wenn Wieland hier von der Nährung des Geistes und von Denkanreizen spricht, für die der Merkur fortan Sorge tragen werde, gleichzeitig jedoch einer monoton-nüchternen Didaktik der Langeweile eine klare Absage erteilt, dokumentiert sich darin, dass er künftig nicht etwa auf seine originäre

Anonymus: „Der deutsche Merkur; drey Bände [1773]“, S. 34. F. Nicolai: „Neuer Deutscher Merkur [1803]“, S. 762. 292 H. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 42. Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Volker Schulze, der dem Merkur die Fähigkeit attestiert, „die publizistischen Ziele Unterrichtung und Unterhaltung mit dem pädagogischen Ziel der Belehrung sinnreich zu verbinden.“ V. Schulze: „Der Teutsche Merkur“, S. 90. 293 C.M. Wieland: „Der Herausgeber an das Publikum [1777]“, S. 286. 294 Ebd., S. 286. 290 291

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Erziehungsabsicht verzichten will, diese jedoch der Unterhaltungsfunktion, der ja auch die Literaturkritik zugeschlagen wird, eindeutig untergeordnet sein soll. An dieser Hierarchisierung des Verhältnisses zwischen Unterhaltungs- und Erziehungsfunktion zugunsten der Unterhaltung, die sich auch darin bekundet, dass Wieland das Hervorbringen einer „besondern Rührung“ bzw. „des reinen Vergnügens überhaupt [...] in Hörern oder Lesern“ als „lezte[n] Zwek“295 dichterischer Produktivität bezeichnet, lässt sich sehr deutlich die fortschreitende Ausdifferenzierung der Funktionssysteme in der Moderne erkennen, bezeugt sie doch, dass es in den 1770er Jahren und den darauf folgenden Dekaden zunehmend diffiziler wurde, das Ausfüllen freier Zeitkontingente mit der Notwendigkeit der planvollen Erziehung des Menschengeschlechts zu aufgeklärten Lesern unter dem gemeinsamen Dach der Literatur zu versöhnen, auch wenn solche Versuche immer wieder unternommen wurden. II.3.2 Steigendes Informationsvolumen und Literaturkritik im Teutschen Merkur Verfolgt man die programmatischen Äußerungen Wielands aus der Zeit des Teutschen Merkur, stößt man immer wieder auch auf Textpassagen, in denen der 1772 zum Prinzenerzieher nach Weimar berufene Erfolgsschriftsteller explizit oder implizit zum Problem des kräftig anwachsenden Informationsvolumens im allmählich Konturen annehmenden Literatursystem seiner Zeit Position bezieht und in denen er den Versuch macht, diesem relativ neuartigen gesellschaftlichen Phänomen in Anerkennung der Existenz einer weitgehend bereits etablierten literarischen Öffentlichkeit konzeptionell gerecht zu werden. In einem auf den 11. Juli 1781 datierten Brief an seinen Mitstreiter Merck, der in den frühen Merkur-Jahren für die literaturkritische Abteilung und damit für das Herzstück des Journals die redaktionelle Hauptverantwortung trug, bemerkt Wieland etwa mit Blick auf den Umfang der aktuellen Literaturproduktion in einem untypisch süffisantem Tonfall, den er aus Furcht vor enervierenden Auseinandersetzungen im öffentlichen Diskurs ansonsten fast immer zu vermeiden suchte: „An Stoff laßens die Narren, die dieses Erdenrund bedecken wahrlich nicht fehlen“.296 Was beispielsweise die zeitgenössische Produktion an dramatischen Texten anbelangt, spricht Wieland, der alles andere als für einen ausgeprägten Hang zur Übertreibung bekannt war, von einer „ungeheure[n] Menge von TheaterstüC.M. Wieland: „Zweyter Brief. An einen jungen Dichter [1782]“, S. 62. Der in einer zeitgenössischen Rezension gemachte Vorwurf der „Trockenheit“, der mit einem Sprachgestus begründet wird, der „sehr steif und gar nicht unterhaltend“ sei, macht einmal mehr die Dominanz der Unterhaltungsfunktion deutlich, bewegt er sich doch ausschließlich in der Systemreferenz literarischer Kommunikation. Anonymus: „Der deutsche Merkur 1ster Band [1773]“, S. 204-207. 296 C.M. Wieland: „An Johann Heinrich Merck [11.7.1781]“, S. 376. 295

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cken von allen Gattungen, Formen, Manieren und Tonarten“297, welche auf den zahlreichen Bühnen des in viele Dutzend politisch unabhängige Territorien zersplitterten Heiligen römischen Reichs deutscher Nation Jahr für Jahr zu sehen seien. Im vierten Vierteljahr des Jahrgangs 1777 erklärt Wieland seiner Leserschaft in einem für seine vergleichsweise bescheidenen Verhältnisse ebenfalls auffallend direkten, ja geradezu provokanten Tonfall, den er sich, wie man vermuten darf, wohl nicht zuletzt deshalb zu leisten können glaubte, da er an dieser Stelle auf niemanden persönlich Bezug nahm, dass „die Menge der elenden, impertinenten, hirnlosen, pasquillantischen, nonsensikalischen, und die Narrheit ihrer Verfasser in allen möglichen Gestalten schautragender Büchlein so überhandnimmt, daß es einem Manne von Verstande eckeln muß, sich die Hände mit diesem Unrath zu beschwitzen.“298 Grundsätzlich stand der sich nicht nur an dieser Stelle zutiefst kulturpessimistisch gebende, vor einem imminenten „Verfall des Geschmackes und der Kunst“299 stets warnend die mit reichlich Ansehen angereicherte Dichterstimme erhebende Wieland also der jähen Zunahme der zeitgenössischen Buchproduktion äußerst distanziert, gar ablehnend gegenüber. Genau wie Nicolai, aber ohne hierfür die mühsam errungene und schnell wieder beschnittene Pressefreiheit mitverantwortlich zu machen300, sah er in der sprunghaft ansteigenden Produktion literarischer Werke, die sich auf das gesamte Gattungssystem erstreckte, primär ein Symptom für einen rapide fortschreitenden und energisch zu bekämpfenden Qualitätsschwund, der auf einen in seiner Entstehung allerdings nicht näher spezifizierten Verlust an Kunstsinn bzw. Geschmack seitens des Lesepublikums zurückgeführt wurde, mit dem Wieland ja auch schon sein im Merkur vertretenes erzieherisches Engagement zu begründen versucht hatte. In der vor öffentlichem Aufschrei geschützten Intimsphäre seiner Privatkorrespondenz schreckte Wieland indes auch nicht davor zurück zu beteuern, die für eine Besprechung im Merkur in Betracht gezogenen neuveröffentlichten Werke

C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Dritter Brief [1784]“, S. 245. C.M. Wieland: „Der Herausgeber an das Publikum [1777]“, S. 287. 299 C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Dritter Brief [1784]“, S. 229. 300 Hierzu schreibt Wieland in typisch aufklärerischer Pose: „Freyheit der Presse ist Angelegenheit und Interesse des ganzen Menschengeschlechtes. Ihr haben wir hauptsächlich die gegenwärtige Stufe von Kultur und Erleuchtung, worauf der größere Theil der Europäischen Völker steht, zu verdanken. Man raube uns diese Freyheit, so wird das Licht, dessen wir uns gegenwärtig erfreuen, bald wieder verschwinden; Unwissenheit wird bald wieder in Dummheit ausarten, und Dummheit uns wieder dem Aberglauben und dem Despotismus Preis geben. Die Völker werden in die Barbarey der finstern Jahrhunderte zurück sinken; und wer sich dann erkühnen wird Wahrheiten zu sagen, an deren Verheimlichung den Unterdrückern der Menschheit gelegen ist, wird ein Ketzer und Aufrührer heißen, und als ein Verbrecher bestraft werden.“ C.M. Wieland: „Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller [1785]“, S. 194f. 297 298

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seien in ihrer Mehrheit ärgerliches „Lumpenzeug“301, mit dem er sich abzugeben gezwungen sehe. Was die an dieser Stelle beklagte diskurspraktische Dominanz jenes überbordenden ‚Lumpenzeugs‘ betrifft, hinter dem sich im Grunde nichts anderes verbirgt als das, was man heutzutage als Trivialliteratur oder ‚formula fiction‘ kennt, entwirft der Merkur-Herausgeber 1782 ein regelrechtes Schreckensszenario, vor dessen negativen Effekten er allzu blauäugige Nachwuchsautoren warnen möchte: [W]enn sie [...] die Erwartung ihrer Gönner nicht aufs bäldeste [...] erfüllen: so wird bald eine neue Fabrikwaare, worinn’s irgend was zu lachen oder zu weinen giebt, sich der Aufmerksamkeit der müßigen Welt bemächtigen, und das Werk worinn sich Ihre ganze Seele abgedrukt hat, das Werk Ihrer Liebe, Ihrer Nachtwachen, wobey Sie allen ihren Kräfte aufgeboten, woran Sie alle ihre Talente, alle Ihre Kenntniß der Geheimnisse der Kunst verschwendet hatten, wird mit den Erdschwämmen, die in einer Nacht hervorstechen, vermengt, in einen Winkel geworfen, und in kurzem so rein vergessen werden, als ob es nie gewesen wäre.302

Die minderwertige Massenproduktion, so jedenfalls Wielands Diagnose, führe mithin zu einer bedauerlichen Inhibierung des Systemgedächtnisses der Literatur, indem sie eine dauerhafte psychische Wahrnehmung und kommunikativ manifeste soziale Anerkennung der qualitativ wirklich hochwertigen Veröffentlichungen aufgrund ihres schier erdrückenden Umfangs ernsthaft beeinträchtige oder im Extremfall gar gänzlich verhindere. Wielands Analyse des zeitgenössischen Literaturbetriebs mündet also in einer durchaus prekären Erkenntnislage, die sich aus dem hochbrisanten Nebeneinander von exponentiell ansteigendem Informationsvolumen einerseits und dramatisch abnehmender Güte der literarischen Erzeugnisse andererseits ergab. Mitverantwortlich für die ausufernde Literaturproduktion sowie deren horrende qualitative Verflachung macht Wieland dabei die fortschreitende, auf das Prinzip der universalen Freiheit gründende Demokratisierung von Wissenschaft und Kultur, die sozusagen zu einem unkontrollierten diskursiven Wuchern und einer die Informationsproduktion anfachenden Inflation des Rederechts auch jenseits des Journalismus geführt habe – Vorgänge, die, so möchten wir an dieser Stelle hinzufügen, anscheinend nach neuartigen Verknappungsmechanismen und Ordnungsmustern verlangen: Die gelehrte Republick in Deutschland hat seit einiger Zeit die Gestalt einer im Tumult entstandnen Demokratie gewonnen, worinn ein jeder, den der Kitzel sticht, oder der sonst nichts zu thun weiß, sich zum Redner aufwirft, wohl oder übel über die Angelegenheiten des Staates spricht, und, wenn es nicht durch Verdienste geschehen kann, durch Ränke, Cabalen und verwegne Streiche, sich wichtig zu machen sucht.303

C.M. Wieland: „An Johann Heinrich Merck [11.7.1781]“, S. 376. C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Erster Brief [1782]“, S. 146f. 303 C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XIII. 301 302

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Darüber hinaus bejammert Wieland auch noch das Fehlen einer hinreichend Autorität besitzenden sozialen Institution, die zentral über die Einhaltung bestimmter Qualitätsstandards und die Verbreitung des dazu für notwendig befundenen Regelwissens zur Produktion wertvoller Literatur wacht, als spezifisch deutsches Problem des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie: „Wir haben keine Hauptstadt, welche die allgemeine Akademie der Virtuosen der Nation, und gleichsam die Gesetzgeberin des Geschmacks wäre.“304 Eingedenk des von Wieland aufgedeckten Mangels an Ordnung und kommunikationshygienischer Disziplin in der Gelehrtenwelt lag es natürlich nahe, die schon bekannte und immer wieder gern beschworene Türwächterfunktion der Literaturkritik, die im Angesicht des niedrigen Institutionalisierungsgrades des Literatursystems im deutschsprachigen Raum gleichsam zur Gralshüterin des literarischen Diskurses hochstilisiert wird, für eine von etwaigen persönlichen, also etwa ökonomischen oder statuspositionalen Interessen gereinigte Legitimation der eigenen Rezensionstätigkeit heranzuziehen. Das vom Merkur-Herausgeber mit Besorgnis beobachtete Übermaß an Neuveröffentlichungen allein schloss dabei von vornherein jeglichen Universalitätsanspruch, wie er eine knappe Dekade zuvor in den Anfangsjahren der ADB von Nicolai noch so resolut vertreten worden war, kategorisch aus und zwang sozusagen die literaturkritische Selbstbeobachtung der literarischen Kommunikation zu einschneidenden Selektionen schon bei der Auswahl der zu rezensierenden Werke. Bereits in der Erstausgabe seines neuen Blattes beteuert Wieland daher voller Entschiedenheit: „[M]eine Meynung ist nie gewesen, über alle gute, mittelmäßige und schlechte Schriften, welche von Jenner 1773 an in Prose oder Versen innerhalb der Grenzen Germaniens zum Vorschein kommen werden, Gericht zu halten.“305 Rund zehn Jahre später erneuert Wieland dann in einem erläuternden Beiwort zur bereits angesprochenen Artikelreihe mit dem Titel ‚Briefe an einen jungen Dichter‘, die aus literatursoziologischer Perspektive von größter Bedeutung ist, noch einmal seinen Verzicht auf eine mit dem vollmundigen Anspruch auf Vollständigkeit des Überblicks aufwartende literaturkritische Aufarbeitung des literarischen Diskurses, wobei er diesen Gedanken implizit mit der auch schon bei Nicolai eine Rolle spielenden Sorge in Beziehung setzt, eine unnötig umfangreiche und aufgeblähte Literaturkritik vergrößere lediglich noch das ohnehin bereits grassierende Problem der Erzeugung obstruktiver Informationsüberschüsse: Keine vollständige Annalen unsers Parnasses, keine Kritik, die alles umfasse, was er hervorbringt, und die sich bis auf die Sümpfe erstrecke, werden sie hoffentlich in diesen Briefen nicht erwarten. [...] [A]m Ende wird durch Hervorbringung des kleins-

304 305

Ebd., S. VI. C.M. Wieland: „An die Leser des Merkurs [1773]“, S. 285.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 259 ten Werkes, das sich in seiner Art der Vollkommenheit nähert, mehr für die Litteratur gethan als durch ganze Bände voll Kritik.306

Wenn nicht die gesamte aktuelle Buchproduktion besprochen werden sollte, mussten natürlich – schon allein um Streit möglichst zu vermeiden – weithin geläufige Kriterien aufgestellt werden, die eine Auswahl bestimmter Werke plausibel erscheinen ließen. Angesichts der auch von Wieland der Literatur zugerechneten Unterhaltungsfunktion überrascht es zunächst kaum, dass im Merkur eine Ausrichtung auf das Interessante erfolgen sollte, die alles auf der anderen Seite des durch die asymmetrische Leitunterscheidung der literarischen Kommunikation markierten Sinnhorizonts liegende ausschloss: „Die einzige Gattung, die ich aus unserer Litteratur verbannt zu sehen wünsche, ist – die langweilige.“307 Nur solche Werke, so Wieland in einem Brief vom 10. Mai 1773, in dem es um den Einbezug englischer Literatur ging, sollten also rezensiert werden, die „in die Classe der Interessanten gehören“.308 Anscheinend war Wieland das durch den Primärcode interessant/ langweilig vorgegebene Auswahlraster jedoch zu grobmaschig, um damit hinreichend die im Merkur vollzogenen, gleichsam existenziellen Selektionen zu begründen – wohl auch deshalb, weil sich die in ihrem Strukturierungspotenzial immer stärker werdende Leitunterscheidung der literarischen Kommunikation nicht ohne Weiteres an das von Wieland behauptete Problem galoppierenden Kulturverfalls andocken ließ. Schließlich konnten die um sich greifende Lesewut und die manische Vielleserei der damaligen Zeit nicht mit der völlig absurden Unterstellung gekontert werden, sie produzierten lediglich Langeweile – offensichtlich existierten zu jener Zeit eine unzählige Werke, die von den Lesern als interessant empfunden und dementsprechend verschlungen wurden, obgleich Wieland mit seinen hohen Ansprüchen die Wahrnehmung vieler dieser Werke als unterhaltsam nicht zu teilen vermochte. Wenn der Prinzenerzieher im oben zitierten Passus aus dem ersten Teil der ‚Briefe an einen jungen Dichter‘ hervorhebt, die im Merkur betriebene Literaturkritik nicht auf die ‚Sumpfgebiete‘ des deutschsprachigen literarischen Universums ausdehnen zu wollen, deutet sich in der Wahl dieser (den Kolonialdiskurs der Jahre um 1900 vorwegnehmenden) geografischen Metapher die von ihm angestrebte Lösung dieser Differenzie-

C.M. Wieland: „Schreiben an den H. d. T. M. nebst Antwort [1784]“, S. 178. In eine ähnliche Richtung geht übrigens auch die folgende Bitte, mit der sich Wieland vier Jahre zuvor an Marie Sophie von La Roche gewandt hatte: „Auch würde ich Sie bitten, daß jede piece nicht mehr als 2 bis 4, höchstens 5 bis 6 gedruckte Bogen mit der gewöhnlichen Merkurschrift ausmachte. Jede piece müßte nur Eine Haupt-Situation, oder Einen Knoten haben, und gleich so zugeschnitten seyn, daß es nicht unter den Fingern zu einem größern Werke anwachsen könnte.“ C.M. Wieland: „An Marie Sophie von La Roche [13.12.1780]“, S. 316. 307 C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Dritter Brief [1784]“, S. 252. 308 C.M. Wieland: „An Eschenburg in Braunschweig [10.5.1773]“, S. 111. 306

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rungsproblematik bereits an, die gewissermaßen auf die unterentwickelte Selektivität und massenmediale Unschärfe der Leitunterscheidung interessant/langweilig zurückgeht: Der von der Zivilisation und ihrer bewährten Fähigkeit zur Urbarmachung der Wildnis unberührte ‚Sumpf‘ repräsentiert gleichsam als unkultiviertes, agrarwirtschaftlich unbrauchbares Land das Rohe, literarisch wertlose Barbaricum, das nicht zur Besprechung im Merkur taugt und über das der literaturkritische Kartograph getrost ohne weitere Regung hinweggehen kann. Wielands programmatische Ausrichtung auf Werke, die als literarisch wertvoll durchgehen konnten, wurde indes von seinen engsten Mitarbeitern aus der Abteilung für schöne Literatur voll und ganz geteilt und gelegentlich auch inhaltlich noch weiter konkretisiert. Merck etwa macht die MerkurLeserschaft in einem Artikel aus dem Jahr 1780 darauf aufmerksam, welche Werke ganz allgemein in Wielands Zeitschrift mit Beachtung rechnen dürften und welche nicht: Es werden aber hier nur solcher Schriften gedacht werden, die eigentlich zu dem Kreyse der gemeinnützigen Lektüre gehören [...]. Aller unbedeutenden, schlechten und unnützen Bücher soll nicht gedacht werden, es müßte denn zur Warnung für einige Leser seyn, die entweder durch Prahlerey des Titels, oder den Nothmangel nach etwas Besserm in Gefahr stünden, damit betrogen zu werden.309

Professor C.H. Schmid wiederum, der 1775 von Merck als Hauptrezensent des Merkur abgelöst worden war, erläutert in einem auf die Neuveröffentlichungen des Jahres 1779 zurückblickenden Artikel: Es ist wahr, schlechte Produkte zeigt der Merkur fast gar nicht, und mittelmäßige nur sparsam an; aber das Schlechte denke auch ich nicht aus dem Grabe der Vergessenheit zu erwecken, worein es bereits gesunken ist, und das Mittelmäßige höchstens nur im Vorbeygehn zu berühren. Unstreitig wiederfährt schlechten Schriftstellern zu viel Ehre, wenn man sie nur mit in Rechnung bringt; sie sind noch weniger als Nullen. Ich misgönne niemanden den Ruhm, von einer Messe bis zur andern zu leben, aber der Literatur im Ganzen bringen solche kurzlebende Schriftsteller keine Ehre; die Schande, die sie ihr machen, verschwindet mit ihrem Abdanken.310

Wichtig ist an diesen Statements freilich nicht nur, dass sie eine inhaltliche Bestätigung des vom Merkur-Herausgeber propagierten Konzepts darstellen. Vielmehr verrät ihr spezifischer Wortlaut einmal mehr die enge Verbindung zwischen offen wertender Literaturkritik und der Funktionsweise des Systemgedächtnisses der Literatur – etwa wenn Merck eigens herausstellt, welcher Werke durch eine Besprechung in Wielands zu diesem Zeitpunkt bereits hochetablierter Publikation kommunikativ ‚gedacht‘ werden solle oder wenn Schmid emphatisch vom verdienten ‚Grabe der Vergessenheit‘

309 310

J.H. Merck: “Bilanz der Literatur des verwichnen Jahres [1780]“, S.18f. C.H. Schmid: „Bilanz der schönen Literatur in Teutschland [1780]“, S. 153.

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spricht, aus dem er die literarisch wertlosen Werke nicht durch eine Rezension hervorzuholen bereit sei. Selbstredend musste eine sich auf das qualitativ Hochwertige kaprizierende literaturkritische Programmatik wie die im Merkur von Wieland vertretene bei den Autoren einige Befürchtungen auslösen, denn schließlich musste jedem klar sein, dass ein gewisses Risiko der Ablehnung bzw. Nichtbeachtung mit jedem Versuch einherging, eine möglichst vorteilhafte Besprechung in Wielands Zeitschrift zu platzieren. Dieser Problematik war sich Wieland anscheinend auch voll bewusst. Nur so lässt sich jedenfalls aus unserer Sicht nachvollziehen, warum Wieland den Versuch unternahm, den Schriftstellern trotz des von ihm an anderer Stelle so nachdrücklich beklagten Kulturverfalls Mut zu machen, indem er sich bemühte, ihre Erfolgsaussichten als durchaus groß darzustellen: Die lesende Welt will auf allerley Art ergözt und unterhalten seyn; und sie liebt die Manchfaltigkeit so sehr, daß ein Autor ganz und gar ungenießbar seyn müßte, dem es nicht glücken sollte, bemerkt und, wenigstens eine Zeitlang, aus dem Gedränge der täglich zunehmenden Mitbewerber hervorgezogen zu werden.311

Schenkt man dieser Darstellung Glauben, durften also auch eher mittelmäßige Autoren darauf hoffen, dass ihren Durchschnittswerken zumindest mittelfristig positive Aufnahme beschert würde (was allerdings keinesfalls damit gleichzusetzen war, etwa vom Merkur mit einer Rezension beehrt zu werden). Was die Inanspruchnahme der Sekundärunterscheidung der literarischen Kommunikation, also das Dual (literarisch) wertvoll/wertlos angeht, blieben Wielands Reflexionen jedoch nicht auf den Bereich des Metaphorischen beschränkt. Das zeigt sich, wenn man die weiteren Äußerungen Wielands zu dieser Thematik in Betracht zieht. In dem bereits erwähnten, sich direkt an das Publikum wendenden Artikel aus dem Jahr 1777 etwa erklärt der Dichter des Agathon, der in diesem Zusammenhang hinsichtlich der zukünftigen Ausrichtung des Merkur auch verspricht, „dem kritischen Artikel, nach dem Wunsche so vieler Leser, einen größern Umfang zu geben“, er werde sich dafür einsetzen, „daß alles was im Fach der teutschen Litteratur herauskommt und ein Recht an Beurtheilung hat, eine freymüthige Beurtheilung, und überhaupt jede Schrift, die der Nation Ehre macht, oder den Bedürfnissen der Zeit vorzüglich zu statten kommt, wenigstens eine Anzeige im Merkur finde.“312 Damit macht er zur Auflage, dass nicht alles rezensionsfähig sei, sondern nur solche Werke, die das Ansehen der deutschen Literatur anzuheben geeignet erscheinen, womit das literarisch Wertlose schon weitestgehend ausgeklammert wird. Zwar hatte Wieland einst das Versprechen abgegeben, auch den jungen, noch nicht etablierten Autoren mit dem Merkur eine Veröffentlichungsplattform als karriereförderndes Sprungbrett zur Ver311 312

C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Erster Brief [1782]“, S. 154. C.M. Wieland:„Der Herausgeber an das Publikum [1777]“, S. 286f.

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fügung stellen zu wollen313, was jedoch zu einem das Problem der Informationsüberproduktion im Literatursystem noch zusätzlich verstärkenden, „täglich sich aufhäuffenden Schwall von Poetereyen, die für den Merkur eingeschickt werden“314, geführt habe. Aber auch für diese noch unverbrauchten Autoren macht er mit freundlichen Worten die Einschränkung geltend, dass nur diejenigen Werke rezensiert würden, die ein Mindestmaß an literarischem Wert aufweisen, wobei die reputationsgenerierende Wertungshandlung, die bei dieser Gelegenheit gleichzeitig Objekt einer Sakralisierung wird, hier in Gestalt der Unterscheidungen reif/unreif bzw. korrekt/inkorrekt in Erscheinung tritt: Der Herausgeber eines Journals glaubt oft […] sich den bescheidnen oder zuversichtlichen Wünschen angehender Dichter [...] nicht immer entziehen zu können. Daher sind freylich auch [...] noch unreife oder incorrecte Producte mit unter zum Vorschein gekommen, womit ich, soviel nur immer möglich seyn wird, die Leser von zartem Gaumen künftig zu verschonen, dem Gott des Geschmacks (dessen Unwillen ich mir so ungern zuziehen möchte) hiermit feyerlich angelobt haben will.315

Schon im Jahr 1777 hatte Wieland sich in wiederum bilderreicher Sprache an die vielen Autoren gewandt, die ihm meist anonym ihre noch unbekannten Werke mit dem Wunsch zuschickten, sie im Merkur öffentlichkeitswirksam (und natürlich möglichst positiv) besprechen zu lassen, und ihnen dabei durch die Blume zu verstehen gegeben, dass diese, ohne ein bestimmtes Qualitätsminimum zu erfüllen, mit Rücksicht auf die – angeblich hohen – Ansprüche der Leser in seiner Zeitschrift keineswegs mit Berücksichtigung rechnen dürften: „Zuweilen werden mir freylich auch unzeitige Geburten vor die Thüre gelegt, zu denen ich eben so wenig Pflegevater seyn, als dem Publico damit zur Last fallen mag.“316 Dagegen könnten alle literarisch wertvollen Abkömmlinge der aktuellen Literaturproduktion auf die volle literaturkritische Aufmerksamkeit der Zeitschrift zählen: „Alles was sich inzwischen versprechen lässt, ist, dass kein erhebliches großes oder kleines neues Product unserer Litteratur im Merkur unangezeigt, und, wenn es lobenswerth ist, unangepriesen bleiben soll“.317 Auch in der leicht umgemodelten Programmatik des Neuen Teutschen Merkur fand dieser Baustein der

313

314 315 316 317

In der Erstausgabe des Merkur z.B. heißt es: „Die Unternehmer wünschen also Beyträge zu erhalten, und laden dazu nicht nur die Schriftsteller ein, welche bereits im Besiz der allgemeinen Hochachtung sind: sie sind gar nicht ungeneigt, auch für angehende Schriftsteller einen Schauplaz zu eröfnen, wo sie sich dem Publico zeigen können“. C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. IV. C.M. Wieland: „Schließliche Anzeige [1777]“, S. 278. C.M. Wieland: „Der Herausgeber am die Abonnés und Leser [1783]“, S. 285f. C.M. Wieland: „An einige anonyme Correspodenten [1777]“, S. 294. C.M. Wieland: „An das Publicum, und besonders an alle bisherigen Freunde [1775]“, S. 94.

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literaturkritischen Konzeption Wielands, der das literarisch Wertlose weitgehend aus der alltäglichen Rezensionspraxis verbannen wollte, dann noch seine Nische; in der Erstausgabe der Nachfolgezeitschrift des Teutschen Merkur verspricht Wieland nämlich, fortan unter der Rubrik mit dem frankophilen Titel ‚Der Teutsche Parnaß‘ „von Zeit zu Zeit von den merkwürdigsten poetischen Produkten, womit unsre Sprache seit kurzen bereichert worden ist, und fernerhin bereichert werden wird, nach Beschaffenheit der Sache mehr oder weniger ausführliche Nachricht zu geben.[...] Es geht zuweilen mit gewissen Gedichten [...] wie mit gewissen Gesichtern: man kann sie nicht leiden, ohne recht sagen zu können warum – oder vielmehr, man könnte es am Ende wohl sagen, aber das Gefühl des ersten Anblicks ist uns schon so widerlich, daß wir nicht gern zweymal hin sehen mögen, um uns von der Gerechtigkeit unsers Widerwillens genauer zu überzeugen. Bey Producten dieser Art ist am besten gar nichts zu sagen.“318 Insofern können wir Reinhard Ohm bedenkenlos zustimmen, der bezüglich der Selektionspraxis des Wieland’schen Blattes sowie hinsichtlich der Reputationseffekte des Sekundärcodes literarischer Kommunikation in geradezu verräterischer Ausdrucksweise resümiert: „Der Merkur will wählerisch darüber entscheiden, wovon er öffentlich Kenntnis nimmt; nicht jeder ist der Kritik würdig“.319 II.3.3 Zum Umgang mit Konfliktsystemen im Teutschen Merkur II.3.3.1 Die generelle Polemogenität der Literaturkritik Eine Sichtung seiner programmatischen Anmerkungen im publizistischen Umfeld des Teutschen Merkur, der laut Werner stets „scharf umstritten“320 war, belegt ganz unzweifelhaft, dass Wieland, nicht anders als Nicolai, die literaturkritische Selbstbeobachtung der Literatur wesensmäßig für einen diffizilen Kommunikationstypen mit substanziell erhöhtem Risiko der Konfliktsystembildung hielt. In den ‚Briefen an einen jungen Dichter‘ bezeichnet Wieland es als einen „zweydeutigen Vorzug“ des Dichterlebens gegenüber einer normalen bürgerlichen Existenzweise, „dass Zehntausend Menschen die er nie gesehen hat seinen Namen nennen, und sich anmaßen über ihn und seinen Werth oder Unwerth abzusprechen“.321 Wer sich als Schriftsteller betätigt, setzt sich folglich, gewollt oder ungewollt, immer dem Bewertungsdruck einer weitgehend anonymen, nicht fassbaren Menge von Rezipienten aus, deren tatsächliche Beurteilungskompetenz überdies aufgrund des weitgehenden Fehlens organisationssystemischer Kontrollinstanzen sei-

C.M. Wieland: „Der Teutsche Parnaß [1790]“, S. 104f. R. Ohm: ‚Unsere jungen Dichter‘, S. 20. 320 H.G. Werner: „Literatur für die policirte Gesellschaft“, S. 62. 321 C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Erster Brief [1782]“, S. 147. 318 319

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tens der Gesellschaft diffus bleibt und die sich selbst vor Negativbewertungen und deren psychischen Konsequenzen in Sicherheit wiegen kann, was dazu führt, dass keine echte Reziprozität in den Kommunikationsbeziehungen zwischen Autoren und Kritikern aufkommen kann. Schließlich ist die literaturkritische Kommunikationsweise – im krassen Gegensatz vor allem zum ohne Rollendifferenzierung operierenden und evolutionär eng mit dem Literatursystem verwandten Wissenschaftssystem, das „die eigene Arbeitsleistung nicht asymmetrisch einem dadurch bedienten Publikum gegenüber“322 stellt – durch kritische Begutachtung der Kompaktkommunikationen aus nur einer Rollenperspektive heraus geprägt. Dabei lässt Wielands oben erwähnte Äußerung erkennen, dass die Literaturkritik mittels der Unterscheidung wertvoll/wertlos operiert, deren jeweilige Aktualisierung dann, ganz wie eingangs im Theorieteil hergeleitet, über den Verfassernamen personal zugerechnet werden kann. Auffällig an dieser Passage ist indes, dass Wieland durch seine Formulierung eine keinen Unterschied zwischen Autor und Werk machende Applikation des Reputationscodes suggeriert. Allerdings hat er sich zu diesem Punkt an anderer Stelle auch ganz anders positioniert, sodass die Vermutung nahe liegt, die hier angedeutete Verschmelzung von Urheber und Produkt sei primär taktischer Natur und diene dazu, den Lesern in just jenem Augenblick vor allem die Augen für die spezifischen Leiden der Wortkünstler zu öffnen, die gewissermaßen gar keine andere Wahl hätten, als jegliche Werkkritik gleichzeitig auch auf die eigene Persönlichkeit zu beziehen. Schon die bloße Andeutung eines vereinzelten Negativurteils, so jedenfalls resümiert Wieland 1782 im einleitenden Teil der ‚Briefe an einen jungen Dichter‘, reiche meist aus, um den solchermaßen Kritisierten blind gegen alle weiteren Lobesbezeugungen zu machen, auch wenn diese die Verrisse in der Anzahl um ein Vielfaches übertrumpften. Im Extremfall könne schon eine lediglich nonverbal mitgeteilte Information, z.B. eine als abschätzig empfundene Geste oder Miene, die Alter in dieser Form gar nicht psychisch als Herabsetzung von Autor und Werk intendiert hatte, von Ego bereits als persönlicher Angriff (miss-)verstanden werden: Ein einziges schiefes oder hämisches Urtheil, ein einziger dummer Blik eines Zuhörers bey einer Stelle die ihm einen elektrischen Schlag hätte geben sollen, oder die Frage was meynten Sie damit? [...] wird Sie gegen den Beyfall von Tausenden unempfindlich machen.323

Das Gravitationszentrum des dichtungskritischen Wertungsproblems lokalisiert Wieland demzufolge, wenig überraschend, in der Aktualisierung des negativen Wertes des Reputationscodes, der gewissermaßen in den für die Konstitution von Sozialität so bedeutsamen Bewusstseinsumwelten der literarischen Kommunikation zu Perturbationen führt, die bisweilen derart lei322 323

N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft [1990], S. 625. C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Erster Brief [1782]“, S. 148.

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denschaftlich ausfallen, dass sie von dort aus die Autopoiesis des Literatursystems zu beeinträchtigen oder gar zu paralysieren drohen. Wieland präsentiert der Öffentlichkeit daher ein auf Ausgleich zwischen psychischen und sozialen Ansprüchen angelegtes literaturkritisches Programm, das in seinen Augen einen dauerhaft überlebensfähigen Umgang mit Negativkritik versprach, ohne dabei der Gefahr der Herausbildung parasitärer Konfliktsysteme irgendwie Vorschub zu leisten. Das Hauptziel aller Überlegungen blieb dabei freilich stets das im Jahr 1776 erneuerte Versprechen, den Merkur zu einem „Journal“ zu machen, das „von allen Teutschen, ohne Beleidigung soll gelesen werden können.“324 Selbstverständlich war die angestrebte Beleidigungsfreiheit grundsätzlich nur möglich, wenn die Literaturkritik auf Abstand zum zutiefst konfliktaffinen Moraldiskurs ging. Allerdings geht Wielands Programmatik anfänglich nur ganz am Rande auf die Problematik der Übercodierung von Reputation durch Moral sowie die damit verbundenen Konsequenzen für die Literaturkritik ein, sodass er an diesem Punkt einige Angriffsfläche bot. In der Kontroverse mit Nicolai Mitte der 1770er Jahre etwa wird ihm genau diese Schwäche zum Vorwurf gemacht. In einem Brief Nicolais aus dem Frühjahr 1775 heißt es hierzu: Aber einen viel heftigern Streit bekomme ich mit Wieland. Er gibt mir im März seines Merkur fälschliche und ohne alle Ursache Gesinnungen schuld, die mich zum schlechten Kerl machen müssten, wenn ich sie hätte. Dies kann und will ich nicht auf mir sitzen lassen.325

Erst nach einer Vielzahl von Konflikterfahrungen – zu einem Zeitpunkt, als der Merkur bereits einiges von seiner ursprünglichen Bedeutung eingebüßt hatte – kam es seitens Wieland zur expliziten Forderung nach einer strikten Trennung zwischen Moral und Reputationscode. So beteuert er im Jahr 1788, dass ein von ihm oder anderen Rezensenten für literarisch wertlos befundenes Werk nicht gleichsam automatisch mit einer moralischen Abwertung der Person des Verfasser versehen werde, womit die Negativkritik für diesen natürlich wesentlich erträglicher wird: „Ich bescheide mich aber gerne, daß etwas darum noch nicht schlecht oder verwerflich ist, weil es nicht nach meinem Geschmack ist.“326 Deutlicher noch formuliert wird diese Ausquartierung des Moralischen aus dem Territorium der Literaturkritik dann in einem Artikel im Neuen Teutschen Merkur aus dem Jahr 1791, in dem Wieland einige Klarstellungen in Bezug auf seine literaturkritische Konzeption vornimmt. Meinungsunterschiede in Bezug auf die Bewertung eines literarischen Werkes, die sich aus der Verschiedenheit der eingenommenen Perspektiven ergeben, werden dort als etwas völlig Alltägliches dargestellt, das die moralische Integrität der beteiligten Personen überhaupt C.M. Wieland: „Zusatz des Herausgebers [1776]“, S. 34. F. Nicolai: „Nicolai an Zimmermann [30.5.1775], S. 309. 326 C.M. Wieland: „Der Herausgeber des T. Merkurs an die Leser [1788]“, S. 300. 324 325

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nicht tangiere, auch dann nicht, wenn es augenscheinlich zu Fehlurteilen der einen oder anderen Art gekommen sei: Zwey Personen können, ohne Nachtheil ihrer Rechtschaffenheit, sogar über Gegenstände von der größten Wichtigkeit (und vielleicht über solche am ehesten) ganz entgegengesetzter Meynung seyn. Nicht selten haben, wiewohl in verschiedenem Sinne, beyde Recht; immer wünschen und glauben beyde Recht zu haben: und, Falls auch nur einer von beyden Recht haben kann, so ist doch irren, – auch in den wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit irren – kein Verbrechen, geschweige ein Beweis eines bösen Herzens.327

Damit erklärt sich Wieland unmissverständlich auch zum Exponenten eines literaturkritischen Meinungspluralismus, der zu einer konfliktmindernden, in moralischer Hinsicht enthaltsamen Toleranz gegenüber Andersdenkenden verpflichte: „Ein jeder sey was er seyn kann, und niemand schelte und verachte den andern darum, weil er anders überzeugt oder gesinnt ist als er.“328 Neben das Postulat einer Trennung von Literaturkritik und Moral, ergänzt durch die Forderung nach einem weltoffenen Polyperspektivismus, traten aber auch noch andere konzeptionelle Ideen auf den Plan, die etwa das Problemfeld binnensystemischer Hierarchisierung durch symbolisches Kapital berührten. So warte der Merkur nicht mit der diktatorischen Ambition auf, höherwertigere Urteile über Werke abzugeben als andere literaturkritische Zeitschriften. Im Gegensatz zum Rechts- und Wissenschaftssystem, die über institutionell fixierte Rangordnungen und relativ klare Kompetenzgrenzen verfügten, gebe es in der Literatur keine sozialen Einrichtungen, die einem obersten Gerichtshof oder dem Präsidentenamt in wissenschaftlichen

327 328

C.M. Wieland: „Anhang des Herausgebers [1791]“, S. 428. C.M. Wieland: „Zusatz des Herausgebers [1776]“, S. 34. Diese Toleranz führte tatsächlich auch zu so etwas wie innerbetrieblicher Demokratie innerhalb der Merkur-Redaktion. Jedenfalls behauptet C.H. Schmid in seiner 1773 veröffentlichten Rezension von Goethes Götz, es existiere innerhalb des Blattes keine Verpflichtung auf Gleichschaltung der eigenen Meinung mit Wielands Sichtweise oder der anderer Kontribuenten: „Die Mitarbeiter am Merkur haben nicht auf die Grundsätze und Meynungen des Herausgebers geschworen. Jeder denkt und urtheilt nach seiner Fähigkeit, Ueberzeugungen und eigenen Weise; und daher wird es sich nicht selten zutragen, daß der Merkur sich selbsten widersprechen, und in einem Stücke behaupten wird, was ein andrer Verfasser in einem andern Stücke bestreitet.“ (C.H. Schmid: „Goethe, J.W.v.: Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand [1773]“, S. 287.) Tatsächlich jedoch scheint Wieland den Merkur eher autoritär geführt zu haben. Jedenfalls nahm er sich ein redaktionelles Vetorecht heraus, das ihm allein die Möglichkeit der letztinstanzlichen Entscheidung über die Veröffentlichung eines Artikels eröffnete: „[S]o lange ich für den Merkur bei dem Publicum responsabel seyn muß, kann ich keine Zeile einrücken, die ich nicht entweder gut heiße, oder gegen die ich mich ausdrücklich verwahre.“ C.M. Wieland: „An Fr.H. Jacobi in Düsseldorf [12.3.1773]“, S. 95.

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Akademien vergleichbar wären. Vielmehr, so Wieland weiter, habe in der Literatur jeder interessierte Akteur ein fundamentales Mitspracherecht und könne prinzipiell damit rechnen, auch angehört zu werden: Es versteht sich wohl von selbst, daß unsre Meynung nicht seyn kann, den Merkur dadurch gleichsam zum Oberrichter über die deutsche Litteratur aufzuwerfen. Einzelne Gelehrte und besondere Gesellschaften derselben, haben nur Eine Stimme; der nahmenloseste Erdensohn hat, wenn er etwas kluges zu sagen hat, die seinige so gut als der Präsident einer Akademie; die Kunstrichter sind nur Sachwalter; das Publicum allein ist Richter, aber die Zeit spricht das Endurtheil aus.329

Natürlich zeichnet sich erneut in dieser (wohl mit ein wenig aufgesetzter Selbstverständlichkeit hervorgebrachten) Aussage zunächst deutlich der ausgesprochen niedrige Institutionalisierungsgrad des Literatursystems ab, das laut Wieland als oberste Schiedsinstanz nur die anonyme und unüberschaubare Leserschaft ins Feld führen kann. Frappierend an dieser Bemerkung Wielands ist daneben aber vor allem das darin enthaltene Herunterspielen des Hierarchischen als soziales Strukturierungsprinzip. Das Lesepublikum wird zunächst als in sich vollkommen egalitäre Gruppe hingestellt, in der jedem Mitglied das gleiche Rederecht eingeräumt wird – ganz so, als gäbe es keine Kritikerpäpste, deren Kommunikationsofferten durch ihre exzellente Reputation mit einem höheren Annahmepotenzial aufgeladen wären als die Kommunikate gewöhnlicher Akteure mit eher niedrigem symbolischem Kapitalvolumen. Allerdings erfolgt dann doch in einem Nebensatz eine sehr bedeutsame Relativierung dieses Versuchs einer statuspositionalen Homogenisierung der Leserschaft, nämlich die Einschränkung auf das ‚Kluge‘, dem implizit gegenüber dem ‚Unklugen‘ und ‚Dummen‘ der Vorzug eingeräumt wird. Für den Fall, dass jemand über kaum nennenswertes symbolisches Kapital verfügt, besteht immer noch die Möglichkeit, Gehör zu finden, solange nur das Kommunikationsangebot als entsprechend gehaltvoll wahrgenommen und bewertet wird. Namenlosigkeit kann mithin im Literatursystem nur durch qualitativ besonders exponierte Äußerungsakte kompensiert werden, aber niemand kann es sich leisten, den schriftstellerische Reputation generierenden Nebencode als Ordnungsfaktor auf der Ebene vertikaler Differenzierung rundweg zu ignorieren. Indem Wieland dem Lesepublikum hier und an anderer Stelle das Privileg eines letztinstanzlichen Urteils über ein Werk einräumt, versucht er überdies, rein rhetorisch die generelle Bedeutung der Journalkritik auf ein Minimum zu reduzieren, um diese nicht als Schaltstelle der sozialen Konstruktion literarischer Reputation und damit als den angestammten Konfliktauslöser innerhalb des Literatursystems erscheinen zu lassen. Darüber hinaus greift er argumentativ auf die abstrakte Zeitdimension zurück, die gewissermaßen nicht persönlich für literarische Werturteile haftbar gemacht werden kann, verschweigt dabei jedoch tunlichst das Faktum, dass das Systemgedächtnis der Literatur ohne

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C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XIVf.

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Negativurteile nicht effektiv vergessen kann, egal, ob diese von gewöhnlichen Lesern im Rahmen von spontanen Interaktionssystemen oder der professionellen Literaturkritik stammen.330 Wieland bemüht sich also erst einmal ganz allgemein, die Bedeutung der literaturkritischen Praxis bis zu einem bestimmten Ausmaß zu bagatellisieren, ohne jedoch das Phänomen der Reputationsgenese schlicht zu negieren – wohl deshalb, weil es von der großen Mehrheit der Akteure bereits längst als ‚fait social‘ akzeptiert und, genauso wie die Frage der Autorschaft, nicht weiter hinterfragt wurde. In diesen argumentativen Zusammenhang der Verharmlosung von Literaturkritik gehört sicherlich auch, dass Wieland in einem Brief an seinen Verleger Georg Joachim Göschen aus dem Frühjahr 1787 deutlich macht, wie wenig wirkliches Format die Rezensententätigkeit gegenüber dem kreativen Prozess dichterischen Schaffens für sich reklamieren könne, was natürlich ihre ehrabschneidende Wirkung beträchtlich schmälert – solange man nur daran glaubt. In jenem Schreiben heißt es bezüglich der Wertigkeit von Literatur und –kritik ganz unmissverständlich: „Übrigens ist es leichter, eine Kritik von 10 Bogen über ein solches Dichterwerk zu schreiben als eine einzige so schöne Stanze zu machen, wie deren 666 in diesem Gedichte sind.“331 Mit solchen Beteuerungen ließen sich jedoch die tatsächlichen Fährnisse literaturkritischer Selbstbeobachtung des Literatursystems nicht einfach wegwischen, was sich schon am Umfang und der Differenziertheit der von Wieland gemachten öffentlichen Stellungnahmen zur Thematik ablesen lässt. Was etwa die konkrete Handhabung der beiden Seiten des Reputationscodes anging, bot sich schon rein logisch natürlich zunächst eine eher simple Lösung für das Dauerproblem literaturkritischer Konfliktaffinität an, nämlich der noch aus Zeiten der gelehrten Kommunikation geläufige Totalverzicht auf jegliche Form der Negativkritik. Allerdings bestanden an einer solchen radikal-orthodoxen Vorgehensweise von Anfang an massive theoretische Zweifel. Zwar verursache Negativkritik den Autoren stets psychische Schmerzen, jedoch sei eine exklusiv im Modus der Affirmation operierende Literaturkritik schon allein deshalb kommunikativ nicht praktikabel, weil sie schlicht langweilig sei und damit die übergeordnete gesellschaftliche Funktion der Unterhaltung nicht mehr erfül-

Etwas später in der ‚Vorrede des Herausgebers‘ wiederholt Wieland dann in typisch aufklärerischer Diktion seine These von der uneingeschränkten Souveränität des Lesepublikums, nicht ohne diese Zusicherung nochmals mit einem Verzicht auf jeglichen literaturkritischen Alleinvertretungsanspruch des Merkur zu verbinden: „Sie werfen sich keineswegs zu eigenmächtigen Tyrannen der Litterarischen Welt auf; sie verlangen nicht, daß andre ihre Urtheile nachhallen sollen. Das Publicum behält sein Stimmrecht frey und ungekränkt; es wird nur von der Beschaffenheit der Sachen besser unterrichtet, und in den Stand gesetzt, ein erleuchtetes Urtheil zu fällen.“ C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XIXf. 331 C.M. Wieland: „An Georg Joachim Göschen [17.4.1787]“, S. 268. 330

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len könne: „Rezensionen, wo immer nur Lobsprüche in allgemeinen Formeln ausgetheilt werden, sind ein fades Gelese, das vernünftigen Leuten zum Eckel wird. Aber freylich findet der, den der Schlag trift, immer die Peitsche grob.“332 Um den literarischen ‚entertainment value‘ des Merkur zu bewahren, gelte es z.B., wie Wieland in einem privaten Schreiben an Merck aus dem Frühjahr 1776 mit eindeutiger Metaphorik erklärt, „dann und wann eine Execution“ durchzuführen, weil das blutrünstige und sensationsgierige „Publicum von Zeit zu Zeit gerne jemand hängen oder köpfen sieht“.333 Auf Negativkritik, deren performative Nachbarschaft zur symbolischen Gewalt an diesem Punkt erneut grell aufblitzt, konnte also nicht verzichtet werden, da sich Wieland eine wirklich interessante Literaturkritik, die jenseits der Unterhaltungsfunktion des umgebenden Literatursystems operierte, offensichtlich nicht vorstellen konnte, was einmal mehr für die These spricht, die Literaturkritik als hauseigene Selbstbeobachtungsweise dem Literatursystem zuzuschlagen. Um dennoch eine weitgehend friktionsfreie Abwicklung der literaturkritischen Selbstbeobachtung literarischer Kommunikation zu ermöglichen, versucht Wieland daher, die ehrverletzenden Effekte der in seinem Blatt vorgenommenen Verrisse präventiv zu reduzieren. Dabei lassen sich sowohl eher prinzipielle als auch hochspezifische Stellungnahmen ausmachen, die sehr konkret auf die Wertungspraxis eingehen. So beteuert er beispielsweise ganz generell, dass es nicht seine und seiner Mitarbeiter Absicht sei, das Ansehen der altgedienten und allgemein anerkannten Autoren, die im literarischen Feld eine dominante Position besetzen, irgendwie zu diminuieren: „Wir sind weit entfernt, die Verdienste derjenigen zu mißkennen, welche in diesem Felde bisher mit Ruhm und Erfolg gearbeitet haben, und es hoffentlich noch ferner bearbeiten werden.“334 Überhaupt sei das Merkur-Projekt mitnichten darauf gemünzt, so Wielands eindeutig auf Systemerhalt zugeschnittene Zusicherung, die literarische Kommunikation großflächig mit Konfliktstoff zu überziehen. So befriedige es weder die eitle Ruhmsucht seines Herausgebers, noch diene es seiner Redaktion dazu, um – z.B. aus Karrieregründen – einfach nur diskursive Präsenz zu demonstrieren:

C.M. Wieland: „An Johann Bernoulli [9.6.1778]“, S. 79. Dass Wieland, trotz gewisser Vorbehalte, von Anfang an bereit war, die der Literaturkritik immanente Dimension symbolischer Gewalt aus literaturpädagogischen Erwägungen heraus auch durchaus einzusetzen, beweist folgender Briefauszug: „Gegen die Geschmackverderber, gegen die Klopstocke und ihre Nachahmer, gegen die Sänger im Buchstaben Yeou, gegen die transcendentalischen poetischen Narren muß man die Peitsche gebrauchen. Sapienti sat.“ C.M. Wieland: „An Meusel in Erfurt [8.1.1773]“, S. 46. 333 C.M. Wieland: „An Merck in Darmstadt [30.5.1776]“, S. 510. 334 C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XX. 332

270 | W ERTVOLLE W ERKE Wir befinden uns nicht in dem Falle der kritischen Herostraten, welche, aus Verzweiflung sich durch irgend ein löbliches Werk hervortun zu können, die Tempel der Musen und der Grazien in Brand zu stecken versuchen, und zufrieden sind, daß man das schlimmste von ihnen spreche, wenn sie nur erhalten können, daß von ihnen gesprochen wird.335

Um unnötige Provokationen zu vermeiden, verlangte Wieland daher von potenziellen Beiträgern wie dem Leipziger Lexikographen Johann Christoph Adelung, der auch schon für die ADB geschrieben hatte und tatsächlich eine handvoll Artikel zum Neuen Teutschen Merkur beisteuern sollte, maßvolle, das eigene Beziehungsnetz nicht gefährdende Kritiken, die „mit Kentniß der Sache und im Ton der Freundschaft geschrieben sind.“336 Auch betont Wieland bei anderer Gelegenheit im Merkur-Erstling sein generelles Wohlwollen gegenüber den Kulturschaffenden und bekennt seine Furcht davor, Autoren ohne böse Absicht mit Rezensionen im prekären Modus der Negativität eventuell zu demütigen. Dabei hebt er emphatisch hervor, nicht die Absicht zu verfolgen, die Schriftsteller gänzlich davon abzuhalten, zukünftig weitere in Werkform gegossene literarische Kommunikationsofferten zu gestalten. Vor allem auf die Werke von Nachwuchsschriftstellern bezogene Verrisse verschweige er daher lieber, als dass diese überhandnähmen: „Ich möchte nicht gerne abschrecken, vielweniger kränken oder beleidigen: ich unterdrücke also, was ich sagen müßte, wenn ich die Anwendung auf den größten Theil unsrer Dichtung, zumal der neuesten, machen wollte.“337 Allerdings geht Wieland an dieser Stelle seiner Programmatik nicht näher auf die Möglichkeit ein, dass ein solches Unterdrücken einer Rezension seinerseits als nicht hinnehmbare Kränkung aufgefasst werden könnte. Jede ausbleibende Buchbesprechung könnte schließlich vor dem Hintergrund der von Wieland öffentlich gemachten Erläuterungen leicht als lediglich aus Anstandsgefühl zurückgehaltene Negativkritik eines für literarisch minderwertig eingestuften Werkes und somit als versteckte und insofern besonders schwerwiegende Attacke wahrgenommen werden. Das Schweigen über ein Werk, das ansonsten sozial wohl gar nicht als Versuch der Übermittlung einer Information konstituiert worden wäre, könnte auf diese Weise plötzlich als Mitteilung einer ablehnenden Haltung verstanden werden und so das Ausgangsproblem einer erhöhten Konfliktneigung der Literaturkritik noch verschärfen, da das Schweigen als solches überhaupt nicht unterdrückt werden kann und somit immer im Raume steht – selbst dann, wenn die bewusste Absicht einer verdeckten Kritik durch Nichterwähnung gar nicht besteht. Mit diesen wenigen prinzipiellen, in ihrer Anlage noch ziemlich unterkomplexen Beteuerungen zur Eindämmung des Konfliktpotenzials von Negativbewertungen, die kaum über den Status von allgemeinen Absichtserklärungen hinausgelangten, war es daher nicht getan. Das mit dem Merkur Ebd.,, S. XII. C.M. Wieland: „An Johann Christoph Adelung [3.11.1782]“, S. 43. 337 C.M. Wieland: „Epilog des Herausgebers [1773]“, S. 32. 335 336

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publizistisch in die Tat umgesetzte literaturkritische Programm musste ein wesentlich höheres Auflösungsvermögen verpasst bekommen, um der beachtlichen Komplexität der Konfliktneigungsproblematik auch wirklich gerecht werden zu können. Um das ambitionierte Ziel einer möglichst konfliktfreien Abwicklung der literaturkritischen Selbstbeobachtung literarischer Kommunikation tatsächlich zu erreichen, ohne dabei das für unhintergehbar befundene Unterhaltungsgebot zu unterlaufen, galt es natürlich, vor allem die Negativkritik konzeptionell abzufedern. Die Forderung nach einem „Ton der Freundschaft“ in der Literaturkritik sowie der beabsichtigte Ausschluss alles Beleidigenden etwa sollte indes nicht als eine programmatische Anbiederung an die tradierte Galanterie des Barock mit ihren ausgeprägten, jedoch zusehends obsolet werdenden Standesdünkeln sowie ihrer routinierten, in zahllosen Interaktionssystemen eingeschliffenen Bereitschaft zum Verschweigen alles Unangenehmen missverstanden werden. Ganz unverblümt postuliert Wieland beispielsweise mit Blick auf die Autorenrolle in einem Merkur-Aufsatz aus dem Jahr 1785: „Die Höflichkeit, welche uns verbietet, einer Person in öffentlicher Gesellschaft, ihre Fehler zu sagen, ist keine Pflicht des Schriftstellers“.338 Die Selbstbeobachtung literarischer Kommunikation könne es sich genauso wenig leisten, aus falsch verstandenem Anstand heraus dauerhaft auf jegliche Negativkritik zu verzichten, da „die übergroße Höflichkeit der meisten Zeitungs=Kritiker, Fehler die würklich gar nicht verzeyhlich sind zu übersehen, zu nichts dienen kann, als Nebel ärger zu machen“.339 Prägnant an dieser zweiten Passage ist vor dem Hintergrund einer systemtheoretischen Perspektive vor allem Wielands Verwendung der Wettermetaphorik, die bedeutsame Rückschlüsse auf die kommunikationstheoretische Dimension seines literaturkritischen Programms erlaubt. Offensichtlich geht er nämlich davon aus, eine noch alteuropäischen Kommunikationskonventionen verhaftetes Kaprizieren auf Positivkritik allein sei nicht dazu geeignet, das mit dem dramatischen Anwachsen des Informationsvolumens im Literatursystem entstandene Orientierungsproblem auf der Leserseite einer dauerhaften Lösung zuzuführen – im Gegenteil, er entwirft sogar das Schreckensbild einer Verschärfung der innersystemischen Orientierungslosigkeit durch das Ausbleiben negativ wertender Äußerungsakte, indem er von einer drohenden Verdichtung des Nebels spricht, der gewissermaßen den Blick auf die – wenn man so will – eigentliche ‚Substanz‘ literarischer Kommunikation verstellt, sprich das literarisch Wertvolle. Was den schon angesprochenen Mangel an Reziprozität angeht, der die Selbstbeobachtung der literarischen Kommunikation anlagebedingt kennzeichnet und der darin besteht, dass nur der Leserrolle (bei Ausschluss der Person des Autoren, der aus Gründen der Gewährleistung von Neutralität

C.M. Wieland: „Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller [1785]“, S. 199f. 339 C.M. Wieland: „Noch ein kleiner Advice to an Autor [1780]“, S. 45. 338

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natürlich nicht glaubhaft über eigene Werke richten kann) eine ernsthafte Beurteilungsmöglichkeit in Bezug auf neue Werke eingeräumt wird, schlägt auch Wieland eine Art Selbstkontrolle der Literaturkritik auf der Ebene der Beobachtung dritter Ordnung vor, wobei er dabei einige begriffliche Anleihen beim semantischen Apparat des Rechtssystems macht. Um etwa zu verhindern, dass die Rezensenten die rollenasymmetrische Einseitigkeit des Selbstbeobachtungsmodus des Literatursystems, die den Autoren ja laut Wieland das Gefühl ohnmächtigen Ausgeliefertseins vermittelt, ganz bewusst zur Durchsetzung apodiktischer Ansichten instrumentalisieren, aber auch, um wirkliche Fehlurteile, deren gelegentliches Auftreten er durchaus einräumt340, schlicht zu vermeiden, sei es ratsam, dass die Rezensionen selbst von unabhängigen Literaturkritikern überprüft, bewertet und gegebenenfalls revidiert würden, und genau das werde auch zukünftig unter Wielands Fittichen im Merkur geschehen. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass sachlich unangemessene Wertungsakte eine Verschärfung des Problems der Orientierungslosigkeit nach sich zögen, das Wieland an dieser Stelle in typisch aufklärerischem Gestus mit einem zu bekämpfenden Mangel an Ordnung identifiziert: Eine Art von Litterarischem Revisions-Gericht, worinn über die Beurtheilungen geurtheilt, und was von andern gelehrten Richtern entweder versehen oder gesündiget worden, vergütet oder gerüget würde, möchte vielleicht eines von dem würksamsten Mitteln seyn, jenen Mißbräuchen und Unordnungen nach und nach abzuhelfen.341

Offensichtlich witterte Wieland aber auch an dieser Front wieder jede Menge Zündstoff, da die Einrichtung einer literaturkritischen SelbstkontrollinIn der Erstausgabe des Merkur etwa heißt es: „Wir sind uns bewußt, daß nichts als die Schranken unsrer Einsichten uns verhindern könnte, allezeit gerecht zu sein: aber eben darum werden wir über nichts urteilen, das wir nicht verstehen. Wir können uns zuweilen irren, aber wenigstens werden wir alle mögliche Behutsamkeit anwenden, damit es nicht geschehe.“ C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XIIf. 341 C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XIV. Laut Ohm, der ebenfalls von einer herausragenden Bedeutung des Ordnungsbegriffs für Wielands Merkur-Programmatik ausgeht, hatte dieser dabei vor allem ungerechtfertigte Positivkritik im Auge: „Zu den Besonderheiten der neuen Zeitschrift gehört ferner die Einrichtung der Sparte ‚literarische Revisionen bereits gefällter Urtheile‘ [...]. Untersucht man die Motivation hierfür, stellt man fest, daß eine solche Metakritik weniger dahin zielt, zu Unrecht verurteilte Autoren zu rehabilitieren. Mehr scheint Wieland zu Unrecht gepriesene Schriftsteller im Auge zu haben. Das Versagen der literarischen Ordnungshüter trage nämlich die Schuld daran, daß unberufene Redner die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen konnten. Mit den Revisionsartikeln will Wieland wieder die notwendige Ordnung herstellen, denn der Zustand der zeitgenössischen Literatur erscheint desolat“. R. Ohm: ‚Unsere jungen Dichter‘, S. 21. 340

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stanz seinen Befürchtungen zufolge nur allzu schnell die völlig unerwünschte Form eines institutionalisierten Schlagabtausches anzunehmen drohte, der die verbissene Auseinandersetzung um die Legitimität einer bereits veröffentlichten Rezension und damit im Grunde die verabscheute Konfliktsystembildung gewissermaßen zum Regelfall werden ließe. Wieland legt daher großen Wert darauf zu betonen, dass an der geplanten Metakritik prinzipiell nichts Bedrohliches sei. In diesem Kontext verweist er beispielsweise darauf, dass die angedachte „Revision bereits gefällter Urtheile“342, sprich die Kritik der Kritik, proportional nur einen sehr geringen Anteil am Gesamtartikelausstoß des Merkur ausmachen werde, da keineswegs beabsichtigt sei, jede noch so unbedeutende Meinungsverschiedenheit in Bezug auf eine Buchbesprechung minutiös zu klären, nur um immer dem ‚richtigen‘ Urteil zum Durchbruch zu verhelfen. Es gebe schließlich mittlerweile eine so hohe Anzahl von selbsternannten Literaturkritikern in der Gelehrtenwelt, dass es pädagogisch völlig unmöglich sei, diese alle zu einer in seinem Sinne angemessenen Sichtweise literaturkritischer Sachverhalte zu bewegen: Der Artikel Revision soll, wie wir hören, manchen ein Aergernis seyn und in vieler Augen ein gefährliches Luftzeichen, welches Krieg und Unheil unter den deutschen Scriblern vorbedeute. Man irrt sich, wenn man sich die Sache so gefährlich vorstellt. Vielleicht findet sich in einem ganzen Jahrgang nicht dreymal die Gelegenheit zu einer Revision in forma. Es giebt zuweilen Gelegenheit einen Kopf im Vorbeygehen zu rechte zu setzen; aber wer wollte sich einfallen lassen alle die Makulaturschreiber, welche heutigstags sich zu Richtern in der Republik der Wissenschaften und der Künste aufwerfen, denken, fühlen, urtheilen und schreiben zu lehren?343

Negativkritik hat also laut Wieland einen unverzichtbaren gesellschaftlichen, von den Einzelinteressen der beteiligten Akteure losgelösten Zweck, der sich nicht nur in der bloßen Erfüllung der Unterhaltungsfunktion erschöpft, sondern auch in der Ermöglichung von Orientierung durch den Einbezug von Negativität und Metakritik besteht. Daher verblüfft es nicht, wenn Wieland in seinen für den öffentlichen Raum gedachten Kommunikationsofferten immer wieder den vorsichtigen Versuch macht, auch solchen Wertungsakten, die den Rejektionswert des Reputationscodes aufrufen und somit ein effektives soziales Vergessen im Literatursystem überhaupt erst ermöglichen, etwas Positives abzugewinnen. Negativkritik sei etwa insofern nichts Ehrenrühriges, als sie sich nur bei begabten Autoren lohne, die ohnehin weitgehend formvollendete Werke von hohem Überraschungswert ablieferten und die daher gerade von dem Hinweis auf ihre wenigen, nicht wirklich ins Gewicht fallenden Unachtsamkeiten künstlerisch nur profitieren könnten: „Nur gute Schriftsteller verdienen eine scharfe Beurtheilung, denn an ihnen ist alles, bis auf die Fehler selbst, merkwürdig und unterrich-

342 343

C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. VIII. C.M. Wieland: „An die Leser des Merkurs [1773]“, S. 284.

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tend.“344 Ohnehin wurzelten die gelegentlichen künstlerischen Fehlgriffe der Autoren nicht etwa in deren beklagenswerten Mangel an Talent, sondern vornehmlich in einem Überschuss an sich vielversprechender Eigenschaften, weshalb es auch nicht als Kränkung aufgefasst werden dürfe, sondern als Dienst an der Literatur, wenn im Selbstbeobachtungsmodus literarischer Kommunikation solche Missgeschicke offen thematisiert würden: Oft sind die Fehler nur ein Übermaß von gewissen Eigenschaften, die in gehörigem Maße sehr löblich sind, wie zum Beyspiel geziertes Wesen ein Übermaß von Eleganz ist. [...] Fehler dieser Art bemerken, heißt nicht beleidigen, sondern einen Dank verdienenden Wink geben, wo und wie man in seiner Art besser und lobenswürdiger werden kann.345

Aus diesem Grunde sei es auch gar nicht geboten, so Wielands weitere Darlegung, aus Furcht vor etwaigen Konfliktsystembildungen sporadisch auftretende ästhetische Entgleisungen einfach unter den Teppich zu kehren, da sie ja sozusagen lediglich der Ausdruck eines überschäumenden Gestaltungswillens seien, den es durch das gelegentliche Aktivieren des negativen Wertes des Reputationscodes in die Schranken zu verweisen gelte. Man werde die Zähmung des dichterischen Schaffensdrangs jedoch nicht mit der peinlichen Akribie des Kleinkrämers praktizieren und ausschließlich nach Fehltritten suchen, so Wieland weiter. Zwar müsse man aus schieren Sachzwängen heraus Fehlerhaftes offen beim Namen nennen, jedoch auch das literarisch Gelungene an einem neuen Werk stets gebührend hervorheben, um auf diesem Wege dem literaturkritischen Diskurs seine verhasste Konfliktneigung zu nehmen: „Man wird uns ansehen, daß wir lieber Schönheiten als Fehler bemerken; daß wir die letztern nicht mühsam suchen, aber uns eben so wenig scheuen, sie anzuhalten, wenn sie uns aufstossen.“346 Eine lobhu-

C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XII. C.M. Wieland: „Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller [1785]“, S. 200f. 346 C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XII. Wie ernst Wieland es mit der behaupteten Präferenz für die literarisch wertvollen Aspekte eines Werkes tatsächlich meinte, belegt eine Briefpassage aus dem Jahr 1776, in der er eine Negativkritik Mercks gegenüber Johann Karl Wezel zu verteidigen sucht. Merck sei zwar insgesamt mit seinem Urteil über Wezels satirischen Roman Belphegor absolut im Recht, allerdings habe er es versäumt, auch die positiven Aspekte des Werks hinreichend zu erwähnen: „Auch gesteh ich Ihnen unverhohlen, daß ich mit dieser Recension völlig zufrieden und überzeugt bin, daß nichts schiefes noch falsches darinn ist. Das einzige was ich gar wohl sah, war, daß der Recensent mehr von der guten Seite Ihres Buches hätte sagen können. Da dies so aber höchstens nur Unterlaßungs-Sünde war und ich einem Manne nicht gern in seine Arbeit pfusche, so ließ ichs bey dem was er gesagt hatte, um so mehr bewenden, weil ich würklich glaubte, daß es hohe Zeit sey, den Übermuth mit dem 344 345

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delnde Literaturkritik, die sich ausschließlich der Hagiografie verschrieben habe, sei sowieso praktisch gar nicht durchzuhalten, nicht nur, weil sie langweile und keinerlei Orientierungsangebote umfasse, sondern auch, da sie den für Zeitschriften wie den Merkur überlebensnotwendigen Aufbau von Vertrauen in das Publikationsorgan und die dahinter stehende Redaktion nachhaltig blockiere. Glaubwürdigkeit und Akzeptanz, sprich wirkliche literaturkritische Autorität auf breiter Basis, so Wieland in einem Brief aus dem Jahr 1780, könnten nämlich nur durch ein Extreme vermeidendes Vorgehen bei der Besprechung neuer Werke erworben werden, nicht jedoch durch ein einseitiges und unangebrachtes Hochjubeln bestimmter Autoren und ihrer eher mittelmäßigen Werke: Es ist unsäglich, wieviel schaden, solche übertriebne öffentliche Lobeserhebungen [...] thun, und wie mißtrauisch dadurch auch das Publicum gemacht wird, als bey welchem in allen, besonders aber in solchen Dingen, bloß ein gesezter und bescheidener Ton Credit verschaft.347

Vertrauen in ein literaturkritisches Journal und dessen unerlässliches Selektionswerk kann also gemäß des Modells Wielands von den Lesern nur durch den Einbezug gelegentlicher Negativurteile aufgebaut werden. Dies sei insbesondere dann dringend geboten, wenn ein Werk von zweifelhaftem literarischen Wert zu Unrecht die Leserschaft beeindrucke: „Es ist aber nöthig, und selbst der Credit des Teutschen Merkur erfodert es, daß zuweilen auch ein strenges Gericht über Bücher ergehe, die dem Publico zum Nachtheil der Wahrheit imponieren.“348 Auch solle man bei der konzeptionellen Erwägung einer künstlich herbeigeführten Fokussierung auf Positivkritik in Betracht ziehen, dass sich die Schriftstellerkaste ohnehin durch eine ausgeprägte FäSie die Menschliche Natur in Ihren Werken tractiren, einmal zu dämpfen.“ C.M. Wieland: „An Wezel in Berlin [2.9.1776]“, S. 544. 347 C.M. Wieland: „An Wolfgang Heribert Tobias Otto Maria Johann Nepomuk von Dalberg [23.2.1780]“, S. 263f. Jacobi hatte Wieland bereits im Sommer 1773 auf diese Problemlage aufmerksam gemacht: „Unser Merkur ist kein allgemeines kritisches Journal, und wir brauchen uns durch Tadeln keine Feinde zu machen; aber warum soll er ein Complimenten-Magazin, ein Landhaus seyn, worin man allen vorbei reitenden und fahrenden Bekanntschaften einen angenehmen Tag macht? Verschleudern wir unser Lob, so werden sich sogar die schlechten Schriftsteller nicht mehr darum bekümmern. Wahrhaftig, mein liebster Wieland, mit diesem Winde fuhren Sie nicht, da Sie Ihren Ruhm eroberten; der Wind geht zu Thal.“ (F.H. Jacobi: „Von Fr.H. Jacobi [8.8.1773]“, S. 155.) Noch acht Jahre später rät Wieland dem blutjungen Osnabrücker Nachwuchsdichter Theobald Wilhelm Broxtermann daher: „Trauen Sie den Freunden, die Alles loben und selbst dem gütigen Urteile des Herrn Boie, der zwar ein Mann von Geschmack aber auch ein sehr höflicher Mann ist, nicht zu viel.“ C.M. Wieland: „An Theobald Wilhelm Broxtermann [10.3.1788]“, S. 408. 348 C.M. Wieland: „An Johann Wilhelm von Archenholtz [5.4.1784]“, S. 228.

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higkeit zur kritischen Selbstanalyse auszeichne, die unangebrachte Lobgesänge ebenfalls zum unkalkulierbaren Eskalationsrisiko werden ließen. Die Autoren würden schließlich „durch einen Beyfall, den sie zu verdienen sich nicht bereden können, beynahe eben so sehr beleidigt werden als andre durch den gerechtesten Tadel.“349 Wieland wollte also einen Mittelweg beschreiten, der aus einem Kompromiss zwischen der informationspragmatischen Notwendigkeit offener Negativkritik und dem sozialen Erfordernis der Rücksichtnahme auf die prinzipielle Konfliktaffinität literaturkritischen Kommunizierens bestand. Gerade die konfliktsystemisch äußerst heikle Negativbeurteilung habe dabei mit größter Behutsamkeit in ihrer Ausdrucksweise und der Wahl ihrer Mittel zu operieren und jede Rezension müsse durch hinreichenden Einbezug positiver Wertungsakte so ausbalanciert werden, dass sie die literarische Reputation und das Selbstwertgefühl des Autoren durch eine wohl austarierte, schonende Behandlung weitgehend intakt lasse: Alles was [...] die Ehrerbietung [...] fodert, ist, in anständigen Ausdrücken, ohne Übertreibung, Bitterkeit und Muthwillen, von ihrer blinden Seite zu sprechen, und vornehmlich seine Unpartheylichkeit auch dadurch zu beweisen, daß man ihren Vorzügen, und allem was an ihr zu rühmen ist, Gerechtigkeit wiederfahren lasse.350

Der Rezensent beweist mithin in der literaturkritischen Praxis seine Neutralität dadurch, dass er stets bemüht ist, auch im Falle eines abschätzigen Gesamturteils beide Werte des Reputationscodes auf ausgewogene Art und Weise zu aktualisieren, sodass es niemals zu einer pauschalen und damit zutiefst ehrverletzenden Totalabfuhr eines Autoren und seines neuformierten Werkes kommen kann. Auf diesem Wege entsteht die Möglichkeit, wie es in einem Brief aus dem Jahr 1784 heißt, eine „[g]ründliche Kritik, scharfe Kritik [...] mit einem guten Ton, der niemand bürgerlich beleidigt“351 zu C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Erster Brief [1782]“, S. 134. C.M. Wieland: „Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller [1785]“, S. 200. 351 C.M. Wieland: „An Johann Wilhelm Archenholtz [5.4.1784]“, S. 230. Allerdings nahm es Wieland mit der Forderung nach einer klaren Kritik nicht immer so genau. Anlässlich einer von Merck verfassten Rezension etwa lobt er seinen Redakteur im Sommer 1777 für dessen vorbildliche Verwendung des Sprachmediums. Dieser habe es verstanden, dessen semantische Unschärfe auf eine Weise zu nutzen, die es ermögliche, einen Sektor signifikativer Ambivalenz zu schaffen, der dem Publikum misslungene Aspekte der Formierung literarischer Elemente zum Werk vorführe, ohne dabei den positiven Wert des Reputationscodes zu vernachlässigen, wodurch es ihm gelungen sei, das rezensierte Werk quasi durch die Hintertür zu kritisieren: „Ihre Recension von Dalbergs Eroberung des goldnen Vließes [...] ist ein solches Meisterwerk von Feinheit, es herrscht ein so vertracktes Clair-obscur darinn, es sagt so viel und doch wieder so wenig, es sieht die Sache so gutherzig an, und doch mit so schalkmäßigen, aber äusserst feinen Seitenblicken! Der Mann muß zufrieden seyn, und doch – ist so gut dafür gesorgt, daß 349 350

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pflegen, also eine literaturkritische Methodik zu betreiben, die neue Werke mit angemessener Tiefenschärfe begutachtet und dabei auch auf ästhetische Mängel aufmerksam macht, ohne indes die Autoren über Gebühr zu brüskieren. Dabei gilt, dass die Literaturkritik des Merkur nicht nur einem wohldosierten Programm der Ausgewogenheit Folge leiste, dem es „aus Furcht ungerecht zu seyn, und um nicht aus einer Extremität in die andere zu fallen“352 gelingen müsse, „Lob und Tadel mit unpartheyisch prüfendem Verstande nach Recht und Billigkeit zu administriren“353, sondern überdies ganz undogmatisch und ohne „den herrischen Ton der Unfehlbarkeit“354 praktiziert werde, mithin keinen unnötig Streit provozierenden Absolutheitsanspruch stelle. Bezüglich der Bewertung literarischer Werke eröffnen sich damit auch neue Spielräume, die jenseits der bis dato gewohnten einseitigen Orientierung am Regelkatalog liegen und ein höheres Maß an Individualität zulassen. Auf diesem Wege einer unter dem Banner der Neutralität herbeigeführten Balance zwischen Positiv- und Negativkritik erhoffte Wieland dem neuen Journal ein Renommee zu erarbeiten, das es zu einer anerkannten, ohne Zwang verfahrenden Schiedsinstanz innerhalb des Literatursystems machen sollte: Kurz, wir wünschen dem deutschen Merkur das Ansehn des Areopagus zu Athen zu erwerben, welches nicht auf Gerichtszwang, sondern auf den Ruhm der Weisheit und Unbestechlichkeit gegründet und so befestiget war, daß Götter selbst kein Bedenken trugen, ihre Fehden vor diesem ehrwürdigen Senat entscheiden zu lassen.355

Systemtheoretisch gesprochen ließe sich dieser Aspekt der Wieland’schen Konzeption von Literaturkritik wohl am besten als Programm der Symmetrisierung des Reputationscodes beschreiben, das die in alteuropäischbarocken Höflichkeitsritualen erstarrte Zwangspräferenz für den positiven Codewert der Reputation überwindet und dessen evolutionäre Persistenz sich vor allem daraus ergibt, dass es die Asymmetrie der Leitunterscheidung interessant/langweilig nicht lediglich wiederholt, sondern durch den ausgeglichenen Einbezug beider Seiten des Nebencodes deutlich schärfere Selektionsschnitte gestattet als der Zentralcode, die angesichts des ständig an-

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er sich nicht überhebe! und daß die Sapientes merken, wo der Haase liegt!“ (C.M. Wieland: „An Merck in Darmstadt [13.6.1777]“, S. 628.) Solche und ähnliche Aussagen führen in der Sekundärliteratur gelegentlich zu Wertungen wie der folgenden: „Wieland was an opportunist, rather than a man of unswerving principles who would declare his position and defend it to the end; he preferred a compromise to an argument, the ambiguous to the explicit.“ A. White Kurtz: C.M. Wieland and the Teutscher Merkur, S. 79. C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Dritter Brief [1784]“, S. 232. C.M. Wieland: „An Staatsrat von Gebler in Wien [7.4.1775], S. 348. C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XII. Ebd., S. XIII.

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wachsenden Informationsvolumens jedoch unumgänglich sind und daher vom Literatursystem toleriert werden müssen. Die Forderung nach strikter Neutralität des reflektierenden KritikerSubjekts, die sich in der angesprochenen programmatischen Symmetrisierung des Reputationscodes bekundet, erinnert natürlich an das Leitmedium der Wissenschaft und die dort herrschende Norm der Wahrhaftigkeit. So betont Wieland in einem Aufsatz aus dem Jahr 1785, die Literaturkritik gehe nicht zuletzt im Interesse der Wahrheitsfindung vor und aus diesem Grunde habe auch jedes literaturkritische Urteil, solange eben die Vorurteilsfreiheit des Rezensenten gewährleistet sei, eine prinzipielle Berechtigung, unabhängig davon, welche Seite des Reputationscodes damit gerade aktualisiert wird, denn, so Wieland: [E]rste Pflicht [der Schriftsteller und Kritiker] ist Wahrhaftigkeit und Unpartheylichkeit: und da wir zu allem berechtigt sind, was eine nothwendige Bedingung der Erfüllung unsrer Pflicht ist; so ist auch, vermöge der Natur der Sache, Freymüthigkeit ein Recht, das keinem Schriftsteller dieser Klasse streitig gemacht werden kann. Er muß die Wahrheit sagen wollen, und sagen dürfen.356

Kernstück dieser Selbstverpflichtung auf das evolutionär eng mit der Literatur verwandte Wahrheitsmedium ist auch ein bestimmter Umgang mit Emotionen. In einem weiteren privaten Schreiben an Gebler aus dem Jahr 1774 verspricht Wieland beispielsweise, dass eine „gewisse Kälte im Urtheilen [...] die Recensionen im Merkur vorzüglich unterscheiden“357 solle vom in anderen literaturkritischen Organen gepflegten Usus. Die literaturkritische Praxis des neuen Blattes sollte also keine Gefühls-, sondern primär eine Verstandesangelegenheit sein. Folgerichtig betont Wieland mehrfach, dass eine literaturkritische Wertung über den Einsatz der ästhetischen Urteilskraft des Rezensenten argumentativ begründet werden müsse, um nicht den konfliktsystemisch riskanten Eindruck von Beliebigkeit, Autoritätsgläubigkeit oder reiner Gehässigkeit zu erwecken. Allerdings habe man dieses ästhetische Urteilsvermögen nicht nur als Resultat der auf akkumuliertem Fachwissen beruhenden Rationalität des Literaturkritikers zu verstehen, sondern auch als emotionalen Ausdruck seines höchst subjektiven Sinnes für das Schöne. Gefühl und Verstand sollen also gleichermaßen zu ihrem Recht kommen, wobei der Logos im Rückgriff auf erworbenes poetologisches Wissen dem intuitiven Gefühl als letztlich ranghöheres Bewertungskorrektiv vorangestellt wird, wie aus einem 1784 erschienenen Artikel deutlich hervorgeht: Aber die Befugnisse zum Poetischen Richteramt [...] können keine andre seyn, als eine richtige Beurtheilungskraft, die ein zartes Gefühl des Schönen, und Schiklichen, und den ganzen Umfang der Kenntniße durch welche dieser innre Sinn entwikelt aufgeklärt und geleitet wird, zur Grundlage hat. Niemand, und wäre er selbst der ers356 357

C.M. Wieland: „Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller [1785]“, S. 199. C.M. Wieland: „An Staatsrat von Gebler in Wien [21.10.1774]“, S. 306.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 279 te Meister einer Kunst, kann befugt seyn Aussprüche ohne Gründe zu thun, oder was diesen abgeht durch das Gewicht stets seines Namens ersetzen zu wollen; und nur von der Richtigkeit seiner Gründe kann er hoffen, seine Urtheile durch die Beystimmung des Publicums und der Nachwelt bestättiget zu sehen.358

Durch diesen vorsichtigen Einbezug individueller Größen wie Sinnlichkeit und Emotionalität erhöht Wieland letztlich die Resistenz seiner Programmatik gegenüber Konflikten insofern, als diese im Gegensatz zu regelpoetisch orientierten Konzeptionen weniger starr an normativ vorgegebenen und substanzielle Qualitäten unterstellenden Lesarten festhält und somit insgesamt eine deutlich größere Meinungsvielfalt verarbeiten kann. Gleichzeitig wird ein Abdriften in völlige Beliebigkeit und damit Orientierungslosigkeit durch das Einfordern von begründeten Werturteilen verhindert. Bemerkenswert an der obigen Äußerung ist im Kontext der hier zu verhandelnden Fragestellung natürlich auch, dass die Explikation von Gründen überdies eine lediglich auf die ausgezeichnete Reputation des Rezensenten zurückgehende Annahme literaturkritischer Kommunikationsofferten und damit jede Form vorbehaltloser Heldenverehrung verhindern soll. Die Buchbesprechungen müssten rational nachvollziehbar sein; dann und nur dann hätten sie eine reelle Chance auf einen berechtigten Einzug ins soziale Gedächtnis des Literatursystems. An diesem Punkt beweist Wielands literaturkritisches Programm zwar einen hohen Grad an Sensibilität für Fragen (und Abgründe) spezifisch literarischer Formen von Autorität, allerdings postuliert er hier auch einen Purismus der Argumentation, der etwas unrealistisch und auch widersprüchlich erscheint, da er, wie die Verwendung des Begriffs der ‚Richtigkeit‘ belegt, implizit von der Möglichkeit der Überprüfbarkeit der Begründung für literaturkritische Werturteile ausgeht, obwohl er kurz zuvor noch die subjektiv-sinnliche Dimension der literaturkritischen Tätigkeit hervorgehoben hatte. Mit der hier vorgenommenen Dominantsetzung des reflexiven Verstandes gegenüber originärer Sinnlichkeit, die sich auch in dem Versprechen ausdrückt, „den Lesern von seinen Gefühlen Rechenschaft zu geben“359, rückt der Aufklärer Wieland die Selbstbeobachtung literarischer Kommunikation also tatsächlich in den Dunstkreis des Wahrheitsmediums, die gewissermaßen einen Teil ihrer Legitimität aus dessen Strahlkraft ableitet. Damit bedient er sich eines schon aus den vergangenen Dekaden geläufigen Paradigmas der Konfliktminimierung. Weder Positivkritik noch Negativkritik dürften, trotz unvermeidlich damit verbundener sozialer Dissonanzen, zur vollumfänglichen Etablierung konfliktsystemischer Kommunikation verleiten, solange sie zu argumentativ überzeugenden und damit legitimen Urteilen führten: So wenig sich ein Wahrheit liebender Schriftsteller aus unverständigem Lobe macht, eben so wenig wird er sich für beleidigt halten, wenn er gerechten Tadel erfährt.

358 359

C.M. Wieland: „Schreiben an den H. d. T. M. nebst Antwort [1784]“, S. 177f. C.M. Wieland: „Der Teutsche Parnaß [1790]“, S. 104.

280 | W ERTVOLLE W ERKE Denn die öffentliche Kritik der herauskommenden Bücher soll ja eben die Ideen und Urtheile ihrer Verfasser prüfen und berichtigen, und dadurch ein heilsames Reiben der Köpfe an einander befördern. Wem es also um Ausbreitung nützlicher Einsichten zu thun ist, der wird nie durch gerechten, wenn gleich unsanften Tadel sich für gekränkt ansehen.360

Laut Wielands Beobachtung erzeugt die Suche nach literaturkritischer Wahrheit und gerechter Beurteilung also immer auch ein bestimmtes Maß an ‚heilsamer‘ Friktion, das man jedoch zu erdulden habe, da es einem höheren, von Einzelinteressen völlig unabhängigen Zweck dient, nämlich der Ermöglichung innersystemischer Orientierung, die sich hinter mit didaktischem Anspruch versehenen Phrasen wie der von der angestrebten ‚Ausbreitung nützlicher Einsichten‘ verbirgt und im Informieren der beteiligten Psychen über neue Werke besteht. Auffallend an dieser Passage ist freilich, dass Wieland nicht allein mit der Inanspruchnahme des Wahrheitsmediums auskommt. Zusätzlich fühlt er sich bemüßigt, mit der Gerechtigkeit auch die Kontingenzformel des Rechtssystems konzeptionell in Beschlag zu nehmen. Gemeint ist damit wohl, dass die von der Literaturkritik gefällten Urteile als Entscheidungen für die eine oder andere Seite des Reputationscodes stets zueinander passen müssen. Für den Fall, dass diese Bedingung nicht erfüllt ist, sei es den kritisierten Autoren selbstverständlich freigestellt, sich gegen unangebrachte Urteile zur Wehr zu setzen – insbesondere dann, wenn die betroffenen Rezensenten über eine hohe Reputation verfügten, die ja ihre Kritiken mit einer höheren Annahmewahrscheinlichkeit vor allem bei denen auszeichnet, die selbst nicht über eine ausreichend anerkannte Beurteilungskompetenz disponieren: Aber es thut wehe, wenn man aus Mißverstand, rühre er nun aus Mangel an Aufmerksamkeit oder Aengstlichkeit her, schief beurtheilt wird, und ohne dazu Veranlassung gegeben zu haben, gehässige Vorwürfe erhält, die uns in den Augen Gutdenkender, die nicht von der Sache, wovon die Rede ist, unterrichtet sind, herabsetzen müssen. In diesem Falle und nur in diesem Falle, glaube ich, muß man sich öffentlich vertheidigen. Und man ist dazu um so vielmehr verbunden, wenn das ungerechte Urtheil über eine Schrift von Männern, die das Publikum für kompetente Richter hält, oder wenigstens von Leuten, denen jene ihre Autorität, leihen, herrührt.361

Wieland, der laut eigener Aussage „einen herzlichen Widerwillen gegen allzu einseitiges Urtheilen und Partheynahme“ empfand, der es ihm schier unmöglich machte, „eine Parthey gleichsam zu heyrathen“362, verfolgte also ein literaturkritisches Programm der Ausgewogenheit, das beide Seiten des präferenzlosen Reputationscodes gleichermaßen in ihr Recht zu setzen versuchte, zu welchem Zweck er auch die bereits bewährte Norm der Neutrali-

C.M. Wieland: „Ueber eine Recension in den Göttingischen gelehrten Anzeigen [1788]“, S. 568. 361 Ebd., S. 568. 362 Zit. n. H. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 59. 360

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tät aus Recht und Wissenschaft ins Literatursystem importiert. Betrachtet man Wielands elaboriertes Konzept bis zu diesem Punkt, könnte man schnell zu der Überzeugung kommen, dass es durchaus dazu geeignet war, die sich um die Literaturkritik rankende Konfliktsystembildung performativ auf ein Minimum zu begrenzen. Tatsächlich entsprach diese Programmatik des Ausgleichs wohl auch durchaus einem Charakterzug Wielands, der von sich selber behauptete: „Ich habe das Unglück unter die Lauen zu gehören, die von den Warmen und Kalten ausgespien werden.“363 Trotz aller Bemühungen gelang es Wieland, der sich übrigens auch für ein „harmloses Individuum“364 hielt, jedoch nicht, den Konfliktsystemen gänzlich das Wasser abzugraben, wie schon 1910 ein Kommentator, der eigens Wielands große Feinfühligkeit betont, rückblickend feststellen musste: Daß übrigens die Frage der Kritik stets und überall Schwierigkeiten hervorgerufen hat, beweist uns der Umstand, dass selbst Wieland trotz seiner außerordentlichen Liebenswürdigkeit, seinem großen Talente und seiner eleganten Feder als Kritiker nur schlimme Erfahrungen gemacht hat. [...] [Der Teutsche Merkur] wurde bald das Lieblingsblatt aller Gebildeten und es ist daher um so bezeichnender für die Schwierigkeit der Kritik, wenn selbst bei diesem Blatte eben die Bücherbesprechungen die meisten Verlegenheiten hervorriefen.365

Wenn indessen weder Wielands Harmlosigkeit noch seine ausgesprochene Sensibilität noch seine hier rekonstruierte Programmatik des Ausgleichs vermochten, Streit wirkungsvoll zu vermeiden, stellt sich natürlich die Frage nach weiteren Konfliktquellen, die hierfür verantwortlich zeichnen. In diesem Zusammenhang liegt es natürlich nahe, auf die von uns als Zirkel statuspositionaler Differenz eingeführte Denkfigur zurückzugreifen, ohne die unseres Erachtens die untrennbar mit der Reputationsgenese verbundenen Konflikte im Umfeld des Merkur nicht erschöpfend zu erfassen ist. II.3.3.2 Zirkel statuspositionaler Differenz I: Wielands ökonomische und symbolische Dominanz In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es zunächst kaum Schriftsteller, die vom Ertrag ihrer literarischen Produktion leben konnten; man war vielfach noch auf Absicherung durch Beamtenlaufbahnen sowie auf wohlwollende Mäzene angewiesen.366 Natürlich begünstigte eine solche Konstellation tendenziell eine unkritisch-affirmative Einstellung gegenüber den herrschenden Machtverhältnissen und machte „Wohlverhalten [...] zur Voraussetzung materieller Reproduktion.“367 Erst gegen Ende des 18. Jahrhun-

C.M. Wieland: „An Kayser in Zürich [30.9.1776]“, S. 554. C.M. Wieland: „Zusatz des Herausgebers [1791]“, S. 423. 365 H. Reitzer: „Wieland als Kritiker“, S. 65f. 366 Siehe H.J. Haferkorn: „Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des freien Schriftstellers“, S. 225-230. 367 K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 19. 363 364

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derts wuchs die Zahl der überwiegend von ihrer Feder lebenden Autoren auf ca. 2.000 bis 3.000 an.368 Dieser Umstand verschärfte die Gefahr der Herausbildung von Zirkeln statuspositionaler Differenz und damit die generelle Konfliktneigung insofern, als es zu teils extremen Asymmetrien in der Distribution ökonomischen Kapitals innerhalb der am Literaturbetrieb beteiligten Akteure kam. Wie heftig diese kapitaldistributionale Schieflage an der ökonomischen Basis des Literatursystems jener Tage tatsächlich war, lässt sich eindrücklich an folgender Feststellung Karin Stolls ablesen: „Den wenigen Dichtern, die, wie Goethe oder Wieland, hohe Honorare stellen und durchsetzen können, steht ein Heer mittelloser Literaten gegenüber, die sich als Übersetzer oder Fortsetzungsschreiber von Trivialromanen durchschlagen.“369 Tatsächlich nahm Wieland, der im Spätsommer 1772 nach geschickt geführten Verhandlungen zum ‚Prinzen-Instructor‘ im Range eines Hofrats nach Weimar berufen worden war und somit bereits über eine solide Einkommensgrundlage von jährlich 1.000 Talern nebst lebenslanger Pension von 600 Talern per annum verfügte370, im sich formierenden literarischen Feld zur Zeit der Konzeption des Teutschen Merkur eine dominierende Stellung ein. Wieland überzeugte überdies durch eine „wirklich große und vielfache Belesenheit“371 und war zu jenem Zeitpunkt „im Vollbesitz seiner dichterischen Autorität“372, gebot also über ein Höchstmaß an kulturellem sowie spezifisch literarischem symbolischem Kapital, firmierte als „einer der meistgelesenen Schriftsteller Deutschlands“373, war „40 Jahre alt und galt als [...] einer der bedeutendsten Schriftsteller im deutschen Sprachraum.“374 Die allgemeine Anerkennung Wielands als künstlerische Autorität und seine literarischen Erfolge sollten sich auch finanziell noch als äußerst rentabel herausstellen. 1773, also im Jahr der Merkur-Gründung, hatte er bereits schätzungsweise 5.000 Exemplare der von ihm selbst initiierten Neufassung seines von der Epik der Engländer Samuel Richardson, Laurence Sterne und Henry Fielding inspirierten Erfolgsromans Die Geschichte des Agathon aus den Jahren 1766/67 abgesetzt und dabei „das fürstliche Honorar von 633 Talern“ verdient, eine Summe, die ihn unter den zeitgenössischen Konkurrenten als „marktbeherrschend“375 ausweist. Goethe betont eigens das von Wielands hohem symbolischem Kapital ausgehende große Vertrauen der (natürlich auch als potenzielle Käufer zu sehenden) Leserschaft:

368

369 370 371 372 373 374 375

Siehe H.J. Haferkorn: „Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des freien Schriftstellers, S. 202. K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 26. Siehe I. Brender: Christoph Martin Wieland, S. 85. J.E. Biester: „Der deutsche Merkur von 1774-1777“, S. 3429. R. Ohm: ‚Unsere jungen Dichter‘, S. 15. K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 30. V. Schulze: „Der Teutsche Merkur (1773-1810)“, S. 87. K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 32.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 283 Ihm [dem Merkur, D.B.] verschaffte sogleich der Name des Herausgebers ein großes Zutrauen: denn daß ein Mann, der selbst dichtete, auch die Gedichte Anderer in die Welt einzuführen versprach, daß ein Schriftsteller, dem man so herrliche Werke verdankte, selbst urteilen, seine Meinung öffentlich bekennen wollte, dies erregte die größten Hoffnungen.376

Gezielte Angriffe auf Wieland seitens Nicolai, der Stürmer und Dränger oder der Romantiker trafen also „kein am Rande der Literaturentwicklung zurückgebliebenes Opfer des Geschichts- oder Literaturprozesses.“377 Einer der ersten, die sich ordentlich über Wielands ökonomischen Erfolg echauffierten, war der in Berlin als Philosophieprofessor und Ästhetikexperte tätige Schweizer Johann Georg Sulzer. In einem Brief an den schriftstellernden Leibarzt Johann Georg Zimmermann vom 6. Februar 1773 beklagt Sulzer, freilich ohne an Wielands Kulturkompetenz oder seinem sozialen Status als profilierter Dichter zu rütteln, es sei allein dessen reine Profitgier, die ihn zur Herausgabe des Teutschen Merkur verleitet habe: „Haben Sie schon den Entwurf zu Wielands Merkur gesehen? Es ist blos ein Finanzprojekt. Wie schade, daß ein solcher Kopf blos schreiben will, um reich zu werden!“378 Zimmermanns eigene Einschätzung des Merkur-Projekts fällt dagegen weit weniger radikal aus. Zwar geht er ebenso von einem zu erwartenden hohen Verkaufserfolg des Merkur aus, aber er bescheinigt Wieland in seinem Antwortschreiben an Sulzer auch durchaus gute Absichten: Den Entwurf zum Deutschen Merkur habe ich gesehen und mich darüber gefreut. Wieland will sich alle Mühe geben, daß er der Nation Ehre macht. Geld wird er ihm gewiß bringen, denn ich glaube, dass er allgemein gekauft und gelesen werden wird.379

Im Herbst des gleichen Jahres legt Sulzer daher nach, wobei er ausdrücklich den mit dem ökonomischen Erfolg des Merkur verbundenen Verlust an symbolischem Kapital seitens Wieland zur Sprache bringt: Nicht ohne Bedauren sehe ich, was für eine schlechte Rolle Wieland, unser bester Kopf, zu spielen anfängt. Der stolze Geist erniedrigt sich und thut kläglich vor einem Publico, das er im Herzen verachtet, nur damit sein Gewinn am Merkur nicht geschmälert werde! Das nenne ich tief sinken.380

Ins gleiche Horn, inhaltlicher aber noch wesentlich konkreter, stößt auch der aus der Sicherheit der Anonymität heraus agierende Kommentator der Lemgoer Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur, hinter dem William Kurrelmeyer Jakob Mauvillon, den 1743 in Leipzig geborenen Leh-

J.W. Goethe: „Zu brüderlichem Andenken Wielands [1813]“, S. 957f. H.G. Werner: „Literatur für die policirte Gesellschaft“, S. 80. 378 J.G. Sulzer: „Sulzer an Zimmermann [6.2.1773]“, S. 218. 379 J.G. Zimmermann: „Zimmermann an Sulzer [21.2.1773]“, S. 218. 380 J.G. Sulzer: „Sulzer an Zimmermann [November 1773]“, S. 229. 376 377

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rer der militärischen Wissenschaften am Kasseler Carolinum, vermutet.381 Mauvillon, von dessen Autorschaft auch wir hier ausgehen wollen, argwöhnte im gleichen Jahr wie Sulzer über den Merkur und seinen Herausgeber, dieser habe lediglich über mit heißer Nadel gestrickte Rezensionen, leichtfertige Übersetzungen und schamlose Plagiate ohne viel Aufwand eine Menge Geld verdienen wollen: Ohnmasgeblich könnte Hr. Wieland den ganzen Pariser Musenalmanach im Merkur abdrucken lassen; da füllete er seine Bogenzahl noch geschwinder und bequemer; denn wenn es einigermaßen weitläufig gedruckt würde, so könnte ein Band damit angefült werden; und die ganzen Unkosten, um sich die Materialien anzuschaffen, beliefen sich ungefehr auf 1 Gulden oder einen kleinen Thaler.382

Den gleichen Vorwurf mangelnden künstlerischen Engagements erhebt Mauvillon übrigens ebenfalls in seiner 1775 erschienenen Rezension zum fünften und sechsten Merkur-Band des Jahrgangs 1774. In Bezug auf das von Wieland selbst verfasste und als Fortsetzung erschienene Prosastück Die Abderiten urteilt er: „Die Erzählung läßt sich lesen, aber da sie von Hrn. W.[ieland] geschrieben und nicht besser ist, so zeigt sich’s offenbar, daß er sie so ganz nachlässig hingeworfen, und sich für die Unterhaltung seiner Leser wenig Mühe gegeben hat.“383 Überhaupt erblickt Mauvillon, der ohnehin von einer nur kurzen Lebenszeit der Zeitschrift Wielands ausging, in den Beiträgen zum Merkur überwiegend „nichts bedeutendes, nachlässiges Flickwerk“384 und unter der „Menge des Schlechten“ lediglich eine „Seltenheit des Guten“385, sprich bestenfalls unteres Mittelmaß. Mauvillon fährt aber auch noch größere Geschütze auf. So wirft er Wieland nicht nur mangelnden Einsatz und ein daraus resultierendes Unterhaltsamkeitsdefizit, sondern auch Diebstahl geistigen Eigentums und Geiz in Bezug auf Personalentscheidungen offen vor: Er scheint gar nicht daran gedacht zu haben, 4000 Subscribenten, die er haben sol, nur ein wenig angenehm zu unterhalten; dazu scheint er nicht die geringsten Maasregeln genommen zu haben. Anstat durch Belohnungen die besten Köpfe zu ermuntern, ihm behülflich zu seyn, sich Correspondenzen, die zu seinem Zwecke dienen können, zu verschaffen, liefert er und Hr. Jacobi fast alles. Und was liefern sie? Recensionen, die ihnen höchstens die Zeit, sie zu schreiben, können gekostet haben,

Siehe W. Kurrelmeyer: „Wieland und die Lemgoer“, S. 80f. Anonymus [vermutl. J. Mauvillon]: „Der deutsche Merkur 1ster Band [1773]“, S. 207. 383 Anonymus [vermutl. J. Mauvillon]: „Der deutsche Merkur. Fünfter und sechster Band [1775]“, S. 26. 384 Ebd., S. 29. 385 Ebd., S. 25. 381 382

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 285 und einige Gulden, zu Anschaffung der Musenalmanache und Journale, aus denen die litterärischen ausländischen Notizen genommen sind.386

Wieland unternehme also hinsichtlich seiner Honorarpraxis aus Gründen blanken Eigennutzes keinerlei riskanten finanziellen Investitionen, um den literaturkritischen Output des Merkur etwa durch Anwerbung anerkannter Koryphäen zu verbessern, und das, obwohl sich bereits eine stattliche Menge an Abonnenten eingestellt hatte, die man nun mit Plagiaten überhäufe, deren Zahl hier allerdings, offensichtlich unter dem subjektiven Eindruck eigener statuspositionaler Benachteiligung, deutlich übertrieben wird (den unterstellten 4.000 Abonnenten stehen 1.870 tatsächliche gegenüber). Seinen vielleicht reinsten Ausdruck findet der von Mauvillon zuvor eher implizit ins Feld geführte Vorwurf der Profitgier, der ein klarer Indikator für die Etablierung von Zirkeln statuspositionaler Differenz ist, dann in folgendem Statement, in dem er Wieland bei unverändert auf Mittelmaß und Fließbandproduktion setzender Publikationsstrategie eine schmerzhafte Einbuße an literarischem Ansehen von beträchtlichen Ausmaßen voraussagt und auf diesem Wege spezifisch literarische Reputation und ökonomisches Kapital ausdrücklich in Verbindung bringt: [W]arum rückt er so mittelmäßige, von ihm selbst dafür erkante Aufsätze ein? Wenn er dem Publikum nichts bessers liefern kan, so solte er seiner Ehre wegen den Merkur aufgeben. Er kan ja selbst was Gutes schreiben. Mus den für jeden Bogen lesbarer Sachen der Leser zehn Bogen Geschmiere mit einkaufen?387

Auch Nicolai, für dessen ADB Wieland, wie aus seinen Briefen hervorgeht, ursprünglich noch voll des Lobes gewesen war388, musste als Herausgeber einer bedeutenden literaturkritischen Zeitschrift natürlich auf Wielands neues Konkurrenzprodukt eingehen. Anfangs hebt er dabei den hohen Bekanntheitsgrad und den formidablen Publikumserfolg des Merkur hervor, dem zunächst oberflächlich auch eine gewisse Klasse zugeschrieben wird: „Dieses Werk bedarf es nicht, erst in dieser Bibliothek bekannt gemacht zu Anonymus [vermutl. J. Mauvillon]: „Der deutsche Merkur 1ster Band [1773]“, S. 209. 387 Anonymus [vermutl. J. Mauvillon]: „Der deutsche Merkur. Fünfter und sechster Band [1775]“, S. 31. 388 So schrieb Wieland in einem Brief aus der Anfangszeit des Merkur noch anerkennend: „Nicolai’s Bibliothek ist ein herrliches Werk“. (C.M. Wieland: „An Fr.H. Jacobi in Düsseldorf [Anfang Juli 1773]“, S. 135.) Einen Monat später heißt es: „Die deutsche Bibliothek halte ich für ein Institut, wofür man dem Herausgeber von Kaisers und Reichs wegen danken sollte, und beinahe alles, was einen Kopf in Deutschland hat, denkt wenigstens, daß es das beste Journal sey, das wir haben, und daß es viel Gutes stifte. So werde ich immer davon reden, wenn ich, wie bisher im Merkur, nur im Vorbeigehen davon rede.“ C.M. Wieland: „An Fr.H. Jacobi in Düsseldorf [14./17.8.1773]“, S. 158. 386

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werden. Es ist bekannt genug durch einige tausend Leser, die jedes Stück, so wie es herausgekommen ist, mit Begierde gelesen haben, und durch seinen eignen Werth.“389 Nichtsdestotrotz bemängelt Nicolai wenig später, die ersten Bände des Götterboten enthielten einige „ziemlich matte Stücke“.390 Über diese vorsichtige Abfuhr seitens Nicolai war Wieland tief enttäuscht und holte deshalb zum publizistischen Gegenschlag im Merkur aus.391 Man schaukelte sich so gegenseitig auf bis hin zum offenen Streit. Im Laufe der Zeit wurden dann die Wutgebärden immer schärfer und es kam zum Bruch zwischen den beiden angesehenen Zeitschriftenherausgebern. Im Zuge dieses Zerwürfnisses wirft Nicolai einige Jahre später dann Wieland ebenfalls öffentlich vor, „durch Pränumerationen seinen Pränumeranten ihr Geld abzunehmen, und wissentlich ihnen den Werth nicht zu geben!“392 Damit stand also auch von dieser Seite die Unterstellung der Geldgier im Raum. Es gab aber auch noch andere Stimmen, die in dieses Pfeifkonzert einstimmten und Wieland in mehr oder minder geistreicher Weise Profitgeilheit entgegenhielten. So finden sich im Zentralorgan des Halberstädter Dichterkreises um Johann Wilhelm Ludwig Gleim, genannt Die Büchse, etwa folgende höhnischen Verse, die den Merkur als reine Geldquelle ohne echten kulturellen Anspruch brandmarken und Wieland selbst bezeichnenderweise mit dem Namen seiner von den Verkaufszahlen her erfolgreichsten Romanfigur identifizieren: Der arme keuchende Merkur: Den Geber spielt er oft, doch öfter noch den Nehmer! Herr Agathon der drückt ihn nur; Sonst flög’ er weit bequemer.393

Auch ein an gleicher Stelle zu findendes Dialogfragment zwischen zwei ‚Momus‘ und ‚Mercur‘ genannten Charakteren, von denen der erstere nach dem griechischen Gott des Spottes benannt ist und von denen der letztere die Stelle Wielands einnimmt, läuft auf den Vorwurf unangebrachter finanzieller Bereicherung hinaus. In einer der ersten Ausgaben des Merkur war Nicolai, der von den Romantikern als talentloses Auslaufmodell angesehen wurde und hier mit dem abschätzigen Titel ‚Nickel‘ angesprochen wird, anfänglich gelobt und mit Klopstock in einem Atemzug genannt worden, was als bloße Gefälligkeitsgeste aufgefasst und entsprechend angeprangert wurde: Neben Klopstock N i c k e l? Mercur! F. Nicolai: „Der deutsche Merkur. Erster bis dritter Band [1774]“, S. 300. Ebd. S. 303. 391 Für eine grobe Übersicht der Reaktionen auf den Merkur siehe V. Schulze: „Der Teutsche Merkur (1773-1810)“, S. 94f. 392 F. Nicolai: „Nachricht [1780]“, S. 688. 393 Zit. n. H. Pröhle: „Die Büchse“, S. 334. 389 390

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 287 Dies schriebst du aus bezahlter Pflicht, Als Dichter nicht! Gesteh es nur! [...] Wahrhaftig Kaufmann, oder du, Einer Zunge hört man zu; Aber glaube mir: das Publicum Hört längst nicht mehr auf N i c k e l s Schrein Und ich will es dir prophezein: Du bringst durch solche Schmeichel-Schmierereien, Durch solche Geldbeschreibereien Dich noch um alle deinen Ruhm!394

Auffallend ist an diesem Passus überdies, dass Wieland die Gefahr eines Verlustes an symbolischem Kapital unter die Nase gerieben wird, falls er weiterhin solche ‚Lobhudeleien‘ wie im Falle Nicolais veröffentliche, die angeblich nicht ernsthaft nach dem literarischen Wert eines Werks fragten, sondern vornehmlich aus finanziellen und zwischenmenschlichen Interessen heraus vorgenommen würden. Damit bringen die Halberstädter ebenfalls ökonomischen Erfolg und literarische Reputation in einen direkten Zusammenhang, der demonstriert, dass Wieland durch seinen Verkaufserfolg tatsächlich unter erheblichen Legitimationsdruck geriet – ganz so, wie im Theorieteil unter Bezugnahme auf Bourdieus symbolischen Kapitalbegriff behauptet. Dieser Druck wurde durch Übertreibungen noch beträchtlich forciert; so wurde in der Büchse gar von 7.000 Reichstalern Reingewinn fantasiert, die Wieland mit dem ersten Jahrgang des Merkur angeblich erwirtschaftet hätte und die ihm offensichtlich geneidet wurden.395 In Wirklichkeit belief sich die Abonnementseinnahme, deren Anteil am Gesamtumsatz bei über 90 Prozent gelegen haben dürfte, auf nur 4.486 Reichstaler und wurde in dieser (immerhin beträchtlichen) Höhe später nie wieder erreicht.396 In der Tat sah sich Wieland gezwungen, seinen Umgang mit Geld öffentlich und privat zu rechtfertigen. Was etwa seine Honorarpraxis anbelangt, machte Wieland keinen Hehl daraus, dass z.B. die finanzielle Entschädigung für literaturkritische Beiträge zum Merkur alles andere als fürstlich war; dafür werde den Kontribuenten allerdings das Recht eingeräumt, die eigenen Texte schon nach Ablauf einer kurzen Sperrfrist an anderer Stelle wieder zu veröffentlichen. In einem Schreiben an den Weimarer Justizamtmann und Schriftsteller Ernst Christian Wilhelm von Ackermann vom 4. Juli 1794 beispielsweise gesteht Wieland:

Ebd., S. 346. Ebd., S. 339. Im Wortlaut heißt es dort: „Dass unser Publicum noch redliche Bezahler, // Patriotismus, Stolz und Einsicht hat, // Beweist M e r c u r der deutsche satt; // Denn welche Nation bezahlte für solch Blatt // Wohl sieben tausend Thaler?“ 396 Siehe H. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 23. 394 395

288 | W ERTVOLLE W ERKE Der teutsche Merkur ist nicht so reich als der alte griechische, der ein Gott der Kaufläute und der Diebe war; seine Belohnungen können also auch auch freylich nicht als Bewegungsgründe in Betracht kommen, und ich erwähne daher des kleinen Honorars von 4 Laubthaler pro 1. gedruckten Bogen bloß beyläuffig, als eines Umstandes, der wenigstens mit diesem Vortheile verbunden ist, daß der deutsche Merkur keine Ansprüche an ein Eigentumsrecht über die Aufsätze meiner Mitarbeiter macht, und einem Jeden also das vollkommenste Recht bleibt, nach Verfluß weniger Monate, selbige // wieder zu viedicieren und allenfalls in eine Sammlung oder auch, nach Beschaffenheit derselben, einzeln bey einem andern Verleger geltend zu machen.397

Der Wieland entgegengebrachte Verdacht der Geldgier war indes nicht völlig unbegründet. Im Kreis seiner Vertrauten gestand der Merkur-Herausgeber durchaus seine handfesten ökonomischen Interessen ein und es wurde offen über finanzielle Anliegen geredet. Friedrich Heinrich Jacobi beispielsweise, zu jener Zeit einer von Wielands engsten Mitarbeitern in der Redaktion und in ständigem Briefkontakt mit dem Merkur-Gründer, erlaubt sich in einem Brief vom 4. April 1773 einen Scherz, der eindeutig auf Wielands mit der Zeitschrift verbundene, durchaus konkrete Profiterwartungen gemünzt war: Das Aeußere des Merkurs dürfte wohl etwas niedlicher sein. Eine Freundin [...] sagte bei Erblickung des Titelblattes: Ei, das sieht ja aus wie der hinkende Bote von Nürnberg! – Zu Paris [...] wird man sagen: mon Dieu, que cela est gothique! – Die eben gedachte Freundin fragte: Der hölzerne Merkur auf dem Titel predigt wohl mit seiner ausgestreckten Hand? Nein, antwortete ich, er reicht nach dem Beutel mit Gold, den er noch nicht hat.398

Ein weiterer Brief, den Jacobi knapp zwei Jahre später an Wieland richtete, suggeriert ebenfalls, dass die beiden Mitstreiter im Schutz nichtöffentlicher Kommunikation vorbehaltlos über die ökonomischen Aspekte des gemeinsamen Projekts debattierten und dabei kein Blatt vor den Mund genommen wurde. Hier heißt es: Göthe verdenkt Ihnen keineswegs, daß Sie, zur Verbesserung Ihrer Umstände, sich mit einer litterarischen Manufactur abgeben; [...] Wenn aber Göthe in Wieland’s Merkur über Kunst, Künstler und Kunstsachen, kurz über Dinge des Genie’s, schiefe, verkehrte, nach seinem Gefühle alberne Urteile und Wegweisereien findet, so ärgert er sich, und jammert, daß Wieland über’s Herz bringen muß, dergleichen herauszugeben.399

Zwar störte sich Goethe offensichtlich an mancher seiner Meinung nach unrichtigen Beurteilung literarischer Werke, keineswegs jedoch an der wirtschaftlichen Profitabilität des Merkur, was sich sicherlich auch aus seiner vergleichbaren, d.h. ebenfalls dominanten Position im Raum der Stellungen C.M. Wieland: „An Ernst Christian Wilhelm von Ackermann [4.7.1794]“, S. 259f. 398 F.H. Jacobi: „Jacobi an C.M. Wieland [31.3.1773]“, S. 188. 399 F.H. Jacobi: „Jacobi an C.M. Wieland [11.2.1775]“, S. 292. 397

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erklärt, die Konflikte nur noch auf der Ebene literarischer Programmatik wahrscheinlich machte. Wieland selbst setzte schon während der Planungsphase am 13. September 1772 in einem Brief den Grafen Goertz, der zu jener Zeit noch als sein Vorgänger der Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, Anna Amalia, als Prinzenerzieher diente, von seinen Profitkalkulationen offen in Kenntnis: Le projet de Mercure Allemand, dont je Vous ai parlé en gros, fait partie des objets qui m’occupent. Je suis resolu d’etablir cette manufacture á Weimar […]. Je ne doute presque pas que la chose ne reuississe pas assez pour procurer aux Entreprenneurs un petit revenu, qui avec le tems pourroit devenir assez considérable.400

Diese Exzerpte sind insofern repräsentativ, als Wieland immer wieder den Merkur gegenüber Eingeweihten als seine „Fabrik“ bzw. als „Manufakturwesen“401 charakterisiert, womit er seine ökonomischen Bedürfnisse und die damit einhergehende partielle Abkehr vom Feld der eingeschränkten Produktion hin zum gewinnträchtigeren, wenn auch in literarischer Systemreferenz vollzogenen Journalismus ziemlich unverhohlen zum Ausdruck bringt. In diesen Zusammenhang wäre auch Wielands programmatische Einstellung gegenüber dem Publikumsgeschmack einzuordnen. So betont er in einer Korrespondenz vom 18. Dezember 1785 mit dem aufgeklärten Reformpädagogen Johann Gottfried Gurlitt, zu diesem Zeitpunkt dem Rektorat am von Wieland selbst von 1747-49 besuchten Pädagogium des Klosters Berge bei Magdeburg angehörig, der Merkur werde „mehr von Ungelehrten als Gelehrten gekauft“ und daher komme es „nicht bloß auf die innere Güte eines Artikels oder auf das was ad palatum der kleinern Zahl der Leser ist sehen können“ an, sondern man sei gezwungen, sich „nach dem Geschmack, u[nd] den Wünschen des großen Hauffens“ zu „accommodieren“.402 Auch im Kontrakt mit dem Schriftsteller, Verleger und Mäzen Friedrich Johann Justin Bertuch vom 6. Oktober 1782, der tiefe Einblicke in die literaturkritische und publizistische Programmatik Wielands zu jenem Zeitpunkt gestattet und der die langsam einsetzende Absetzbewegung des Merkur weg von der Literatur hin zu anderen Themengebieten wie etwa der Tagespolitik dokumentiert, spielt die Anpassung an den Massengeschmack des nicht zuletzt durch die Bildungsoffensive der Aufklärer größer werdenden Lesepublikums, das nach einfacher konsumierbaren Produkten gierte, eine entscheidende Rolle. Unter dem Eindruck zunehmenden Wettbewerbs auf dem Zeitschriftenmarkt, für den man ihn natürlich nicht persönlich bezichtigen konnte, gibt Wieland bei dieser Gelegenheit, nach wie vor in Referenz auf die spezifische Funktion und Leitunterscheidung des Literatursystems, kritisch zu bedenken:

C.M. Wieland: „An Graf Görtz in Weimar [13.9.1772]“, S. 628. F. Sengle: Wieland, S. 407. 402 C.M. Wieland: „An Johann Gottfried Gurlitt [18.12.1785]“, S. 105. 400 401

290 | W ERTVOLLE W ERKE Die häufige Concurrenz einiger neueren Journale, und namentlich des Teutschen Museums [,] Hamburgischen politischen Journals [...] drohen dem Teutschen Merkur eine Abnahme des Debits, wenn er nicht den Geschmack des Publikums von Zeit zu Zeit aufs neue reizt. Ein großer Theil der Leser in und außer Teutschland will jezt zur Unterhaltung nicht mehr schöne Litteratur, sondern auch statistiche, merkantilische, technologische und ökonomische Nachrichten und dergl. Raisonnements. Liefert der Merkur nicht dergl. ähnliche und intereßante Artickel, wie seine Rivalen, so nimmt er ab. Eine litterarische Entreprise dieser Art, muß so gut als eine Lyoner Fabrick dem Publiko seinen periodischen Geschmack und momentanöse Mode abmercken, und derselben entsprechende Waaren liefern sonst kommt sie zurück.403

Eingedenk dieser unter ökonomischen Gesichtspunkten vollzogenen programmatischen Anpassung an Massengeschmack und Zeitgeist bzw. seiner die lange Lebensdauer des Merkur befördernden „Spekulation auf den durchschnittlichen Leser“404, wie Friedrich Sengle es ausdrückt, erstaunt es nicht, dass Wieland laut Schiller mit Bertuch eine „mercantilische Seele“405 ins Boot geholt hatte, die des Blattes Rentabilität zu erhalten oder gar zu vermehren versuchen sollte. Überhaupt wusste Schiller genau um die statuspositionale Differenz seiner selbst gegenüber Wieland, war er doch von Herder vor seinem ersten Besuch beim Agathon-Dichter darüber aufgeklärt worden, dass „[u]nter allen Weimarischen Gelehrten [...] Wieland der einzige [sei], der seinem Geschmack und seiner Feder leben könne“406, was laut Wahl „dem auf seine Feder Angewiesenen zu denken“407 gegeben habe. Im scharfen Gegensatz zu der weitgehend tabulosen Direktheit, mit der Wieland auf der Hinterbühne seines Freundes- und Bekanntenkreises seine potenziell rufschädigenden ökonomischen Interessen auf literarischem bzw. literaturkritischem Gebiet zu debattieren pflegte, steht sein Umgang mit dieser Thematik im Rahmen des kommunikativen Vollzugs literarischer Öffentlichkeit. Hier zieht der Rhetorikvirtuose Wieland alle argumentativen Register, um den Verkaufserfolg des Merkur und seiner Erfolgsromane publikumswirksam zu rechtfertigen, was einmal mehr dafür spricht, dass er sich unter einem erheblichen Legitimationszwang wähnte und tatsächlich den prophezeiten Verlust spezifisch literarischen symbolischen Kapitals befürchtete, das er in den Jahren zuvor mühsam angespart hatte. In den FrankC.M. Wieland: „Kontrakt mit Bertuch [6.10.1782]“, S. 39. F. Sengle: Wieland, S. 408. 405 F. Schiller: „An Körner [23.2.1788]“, S. 19. Sengles Einschätzung Wielands, die in wissenschaftlicher Systemreferenz gemacht wurde, wirkt allerdings einigermaßen distanzlos, zumal der Merkur-Herausgeber selbst im Freundeskreis anscheinend niemals eine Instrumentalisierung seiner außerordentlichen Reputation hat durchblicken lassen: „Es ist kein Zweifel, der Merkur hat in der Struktur von Wielands Gesamtexistenz eine untergeordnete Funktion. Er soll seinen Ruhm, welcher zur Zeit der Merkurgründung auf dem höchsten Gipfel stand, in greifbare Werte verwandeln“. F. Sengle: Wieland, S. 407. 406 F. Schiller: „An Körner [23./25.7.1787]“, S. 111. 407 H. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 173. 403 404

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furter Gelehrten Anzeigen vom 31. März 1772 beispielsweise findet sich folgender Passus, der vermutlich von Wieland selber stammt und der eine Art Apologie für die vom Autor des Agathon und dessen Neuveröffentlichung gewählte Vertriebsweise darstellt: Herr Regierungsrath Wieland in Erfurth hat sich durch seinen Freund, den Herr Hofkammerrath Jacobi zu Düsseldorf, einen Bruder des Dichters, bewegen lassen, eine neue Ausgabe seines Agathons auf seine eigene Rechnung zu veranstalten, und dazu den Weg der Subscription einzuschlagen. [...] Zum Besten des Dichters, um ihn nicht ganz der Früchte seiner Talente und Bemühungen beraubt zu sehen, wird diese Ausgabe von seinem Freunde veranstaltet, und er hofft von der Nation, da sie sich dieses Werk mit so vielem Vergnügen, als eine der seltensten Compositionen, zugeeignet hat, deren sich keine neben ihr rühmen kann, daß sie dieser Unternehmung nicht durchaus Beyfall und Unterstützung versagen werde.408

In einem Leitartikel aus dem vierten Vierteljahr des Jahrgangs 1777, in dem sich Wieland als Herausgeber des Merkur direkt an sein Publikum wendet, unternimmt er einen elaborierten, die traditionsreiche Gesprächsform mit einer essayistischen Erörterung der anstehenden Problematik verbindenden Versuch, alle Vorwürfe, die auf seiner angeblichen Profitgier beruhen, exemplarisch abzuarbeiten und wirksam zu entkräften, indem er eine höchst differenzierte Analyse des zeitgenössischen Literaturbetriebs vornimmt, in dessen Gesichtskreis er sich bewegen und mit dessen Vorgaben er sich, wie alle anderen literarisch engagierten Akteure, irgendwie arrangieren müsse. Zunächst verlegt sich Wieland im Zuge seines nicht zuletzt vom Pietismus genährten Rechtfertigungsversuchs darauf zu betonen, dass er nicht des Erlöses wegen schreibe und rezensiere, sondern, wie jedes andere ehrbare Mitglied der merkantilistischen Gesellschaft auch, seine Begabungen und seine physische Arbeitskraft zum Wohle und Erhalt der Gemeinschaft einsetze – im Kontrast zu jenen, die selber nichts leisteten und sich exklusiv von der Arbeit anderer ernährten: ‚So! höre ich manchen Nasenrümpfer, (und gerade unter denen, denen’s am wenigsten Ernst damit ist) ruffen! – ihr bekennt uns also teutsch genug heraus, daß ihr ums Geld schreibt, und daß ihr euch einbildet, die besten Köpfe zu eurer Fabrik intereßiren zu können, wenn ihr sie bezahlen könntet? Welche Denkart! Welche Niederträchtigkeit!‘ – ‚Nicht so niederträchtig als die Herren, aus sehr verdächtigen Nebenabsichten, zu glauben vorgeben. [...] Der größte und beste Theil der Menschen, vom Kayser bis zum Taglöhner, lebt von seinem Beruf, oder seinem Talent, und dem was er mit seinem Kopf oder seinen Händen, oder mit beyden für andre arbeitet, und zur Masse der allgemeinen Erfordernisse beyträgt. Wer hat sich dessen zu schämen, was eine nothwendige Folge der Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft ist? Wenn sich jemand zu schämen hat, so ists der, der bloß andre für sich arbeiten läßt, und nichts als seine Confuntion und seine Excretion zum Allgemeinen Besten beyträgt.409

408 409

Anonymus: „Nachricht an das Publikum [31.3.1772]“, S. 207f. C.M. Wieland: „Der Herausgeber an das Publikum [1777]“, S. 282f.

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Darüber hinaus verschweigt Wieland jedoch auch bei dieser Gelegenheit gewisse ökonomische Notwendigkeiten nicht, die auf die Arbeitsweise der einzelnen Literaturproduzenten entschiedenen Einfluss nähmen. Wer etwas leiste (und damit gleichsam automatisch Gutes tue), so der Tenor der Wieland’schen Argumentationskette, müsse sich nicht mit bloß symbolischer Anerkennung sowie dem Gefühl moralischer Erhabenheit begnügen. Da man schließlich von irgendetwas leben müsse, dürfe man durchaus auch finanzielle Vorteile aus der geleisteten Arbeit ziehen, jedoch nur, solange man sich auch auf der symbolischen Ebene der sozialen Anerkennung durch die beurteilenden Mitmenschen versichert habe: Es ist freylich eine herrlichere Sache, sein Licht, gleich der Sonne, umsonst scheinen zu lassen, und Gutes zu thun, ohne was anders als ein warmes oder kaltes Vergelt’s Gott! dafür zurückzuempfangen. Aber wer in den Umständen ist, von seiner Arbeit oder seinem Talent leben zu müssen, der soll auch davon leben können, so lange man findet oder wenigstens glaubt, daß er des Lebens und seine Arbeit des Lohnes werth sey.410

Ganz klar tritt an dieser Stelle also die individuelle ökonomische Herrschaft legitimierende, auf systeminterne Konfliktentschärfung ausgerichtete Funktion spezifisch literarischen symbolischen Kapitals und damit die eher akteurbezogene Dimension literarischer Reputationsbildung in Erscheinung, für die eine rein systemtheoretische Position aufgrund ihrer subjekt- (man sollte vielleicht besser sagen: akteurfeindlichen) Tendenz unempfänglich bleiben muss. Im Fortgang des Artikels bricht ein ganz eindeutig als Vermittler zwischen ökonomischer und literarischer Logik auftretender Wieland411 dann auch für die Rezensenten und der von ihnen initiierten, literaturkritischen Selbstbeobachtung der literarischen Kommunikation eine Lanze. Da die von ihm im Merkur beschäftigten Literaturkritiker durch die Vermittlung Selektionen erleichternder Informationen sowohl eine pädagogische als auch eine unterhaltende Funktion zum Vorteil der Leserschaft erfüllten, müssten auch sie für ihre gleichsam auf das überindividuelle Allgemeinwohl zugeschnittenen Bemühungen angemessen entlohnt werden, ohne dass man sie mit dem Bannstrahl eines Ansehensverlustes belege:

410 411

Ebd., S. 283. Das Prekäre an Wielands Vermittlerposition zwischen Literatursystem und Ökonomie, vor allem die seiner Doppelexistenz als rezensierendem Künstler und Verleger entspringenden Rollenkonflikte, bekundet sich beispielsweise in einem Schreiben Mercks, das und wohl auf Wielands überzogenes Wehklagen über ausbleibende Profite zurückgeht: „Hastu würklich einen grosen Stoß erlitten im Beutel? Denn darum gilts. – Ich denke so, du hast seit langer Zeit nicht mehr so recht als // Kauffmann agirt [...] u. hast als Philosoph der Welt doch ihr Geld abnehmen wollen. Das geht nicht an. [...] Denn Einmal muß es sich wieder tourniren [...].“ J.H. Merck: „Von Johann Heinrich Merck [8.6.1778]“, S. 77.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 293 Und wenn nun der Unternehmer eines litterarischen Instituts, das seiner geraden Absicht nach dem Publiko wenigestens eben so nützlich als den Theilhabern an demselben zuträglich seyn sollte, Männer von dieser Art einladen will, gemeinschaftlich mit ihm zum Unterricht oder zum Vergnügen des Geistes und Herzens des lesenden Publikums zu arbeiten: ists unbillig oder niederträchtig, wenn sie verlangen dabey wenigstens für die Aufopferung einer Zeit, so sie nützlicher für sich anwenden konnten, schadlos gehalten zu werden?412

Allerdings zeigt Wieland im weiteren Verlauf seiner Ausführungen auch die engen Grenzen auf, die dem ökonomischen Kapital und den Gesetzen der Profitmaximierung auf dem Gebiet des Literarischen seines Erachtens wesensmäßig aufgegeben sind. So geht er davon aus, dass es nicht möglich sei, die hinter der Produktion eines Kunstwerks verborgene schöpferische Leistung angemessen in Geld aufzuwiegen – eine Sichtweise, die sicherlich nicht zuletzt Wielands künstlerischem Selbstverständnis als Schriftsteller geschuldet ist und die auch in solchen Aussagen wie der folgenden aus dem Jahr 1784 herausscheint, in der Wieland sich selbst als „herzlicher Feind [...] von den elenden Speculationen so mancher bloß auf ihren Gewinn bedachter Unternehmer unter Gelehrten und Buchhändlern“ stilisiert, denen „es handgreiflich bloß um einen hinterlistigen beutelschneiderischen Anschlag auf die Taschen des lesenden Publicums zu thun ist“.413 Gleichwohl wendet er sich in Gestalt einer rhetorischen Frage mit aller Entschlossenheit gegen eine strikt antimaterialistische Argumentation, die, auf genau diesem Gedankengang der Unbezahlbarkeit des Kunstwerks aufbauend, das Ökonomische gänzlich aus dem literarischen Kosmos verstoßen will, da schließlich die Künstler, nicht anders als andere Akteure auch, ebenfalls ihre primären körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen hätten: Das kleinste Werk des Genies und der Kunst, das in seiner Zeit vortreflich ist, ist freylich seinem innern Werth nach unbezahlbar. Aber daß man dies zum Vorwand gebrauchen sollte, Künstler und andre Männer von Genie verhungern zu lassen, wäre doch wohl nicht billig?414

Vielmehr müsse man, so Wieland weiter, schlicht hinnehmen, dass unter den gegebenen Umweltbedingungen einer sich machtvoll durchsetzenden kapitalistischen Marktgesellschaft eine dogmatische Verweigerung gegenüber der ökonomischen Logik auf künstlerischem und wissenschaftlichem Gebiet keinen Sinn mache. Da die Produktion literarischer Werke in der aufziehenden Moderne zu einer professionalisierten Form des Broterwerbs geworden sei (was Wieland an dieser Stelle durchaus bedauert, aber als von der Gesellschaft vorgegebenes soziales Realitätsprinzip akzeptiert), könne niemand mehr ernsthaft die Forderung aufstellen, dass mit Literatur kein Geld verdient werden dürfe: C.M. Wieland: „Der Herausgeber an das Publikum [1777]“, S. 285. C.M. Wieland: „An Johann Karl Philipp Spener [Ende Februar 1784]“, S. 199. 414 C.M. Wieland: „Der Herausgeber an das Publikum [1777]“, S. 283. 412 413

294 | W ERTVOLLE W ERKE [T]augt der Grundsatz: daß ein Schriftsteller, deswegen weil kein Mann von Genie und kein mehrer Gelehrter ums Brodt schreibt noch schreiben soll, von seiner Arbeit, von seinen Nachtwachen, von Verzehrung seiner besten Kräfte, von der Aufopferung andrer Vortheile, die er für sich und diejenigen, deren Erhaltung und Versorgung ihm obliegt, durch eine andre Anwendung seiner Thätigkeit hätte gewinnen können, Nichts oder soviel als Nichts haben soll: dieser Grundsatz, sage ich, taugt nichts; denn er ist ungerecht, und streitet wider aller Verhältnisse und Einrichtungen in der menschlichen Gesellschaft, welche zu reformieren nicht die Sache eines oder etlicher Männer ist. – Freylich soll kein wahrer Gelehrter ums Brodt schreiben. Indessen besorg’ ich doch, so mancher wahre Gelehrte hat in Teutschland ums Brodt schreiben müssen; und desto schlimmer für ihn und für das Land worinn er das muß!415

Der Gedanke an eine purifizierte, von jeglichem ökonomischem Druck befreite Kunst und Wissenschaft manifestiert sich hier zwar als durchaus erstrebenswerte Utopie, die allerdings in puncto praktischer Umsetzung wenig realistisch erscheint und insofern reines Desiderat bleiben muss, als Wieland die Gesellschaft für ein im Grunde nicht reformierbares monolithisches Gebilde hält, dem gegenüber der Einzelne machtlos erscheint.416 Dass sich der Schriftsteller mit wirtschaftlichen Pressionen zu arrangieren habe, die gleichsam zum Teil der natürlichen Umwelt des Menschen erklärt werden, macht Wieland dann fünf Jahre später im ersten Teil der ‚Briefe an einen jungen Dichter‘ deutlich. Zu diesem Anlass stellt er zunächst die rhetorische Frage: „Wie konnte sie [d.h. die Mutter Natur, D.B.] vergessen, dass die Dichter, so wenig als Paradiesvögel, von Blumendüften leben können?“417 Die Dichter seien schließlich, so Wieland weiter, „unter allen Menschen in der Welt dem Hungersterben am nächsten [...], wenn nicht zufälliger Weise irgend ein mitleidiger Genius (auf den übrigens nie zu rechnen ist) besser für ihn gesorgt hat, als die Natur, die Musen – und er selbst.“418 Das realitätserprobte eigene Lebensmodell und seine persönlichen Erfahrungen gewissermaßen verabsolutierend, rät Wieland daher im Folgenden, die „Poeterey (mit der es [...] doch immer in allem Betracht eine unsichre Sache ist) bloß als Nebenwerk neben einem einträglichen Amte, oder einer andern ehrbaren, gelehrten oder bürgerlichen, Nahrung zu treiben.“419 Zwar existiere durch die rezente Herausbildung eines Unterfeldes der Massenproduktion für alle literarisch Schaffenden die reelle Option, mit dem Schreiben allein Ebd., S. 283f. Dass Wieland sich, zumindest zeitweilig, jedoch auch der künstlerischen Illusion hingegeben hat, der Merkur würde sich in erster Linie aufgrund seiner Leistungen auf geistig-literarischem Gebiet bewähren, beweist folgender Auszug aus einem Brief Mercks: „Du hast Dich bißher betrogen in Deiner Rechnung: der Geist hat sollen die Materie überwiegen — dein Merkurius wird sich aber doch am Ende durchs Nüzliche nur erhalten wie die Göttinger Zeitung“. Zit. n. H. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 130. 417 C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Erster Brief [1782]“, S. 135. 418 Ebd., S. 135f. 419 Ebd., S. 136. 415 416

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wenigstens ein bescheidenes Auskommen und eine verlässliche ökonomische Grundlage zu finden. Echte künstlerische Autonomie mit wahrhaft literarischem Anspruch könne indes nur dann errungen werden, wenn der Schriftsteller eine kunstfremde Einnahmequelle auftue, die ihn von rein finanziellen Erwägungen und der damit stets verbundenen produktionsästhetischen Anpassung an den oberflächlichen, zunehmend an Bedeutung gewinnenden Massengeschmack der nicht Hochgebildeten entbinde. Die Liebe zur wahren, reinen Literatur sei es dann auch, die den gravierenden sozialräumlichen Abstand zu den zumindest wirtschaftlich – jedoch nicht symbolisch – erfolgreicheren Massenproduzenten am Pol der eingeschränkten Produktion erträglich mache, wobei die gemeine Geldgier als Motivationsprinzip gewissermaßen durch einen unbedingten und unverfälschten Kunstwillen ersetzt werden soll, der die mit reichlich Distinktionsstreben einherkommenden ernsthaften Schriftsteller von den bloßen Schreiberlingen abhebe: [B]ey uns Teutschen getraue ich mir (wenigstens so lange die Romanen=Manufacturen so guten Absaz finden wie seit einiger Zeit) einem jeden Poeten vel quasi noch immer so viel Erbsenbrey und schwarzes Brod zu garantieren, als er nöthig hat um nicht durch Ueberfüllung am Arbeiten gehindert zu werden; ja das Handwerk wirft sogar Bier und Tabak [...] reichlich ab [...]. Indessen ist mir doch lieb zu vernehmen, daß Ihr guter Genius wenigstens für das Unentbehrliche gesorgt, und Ihnen dadurch den sehr wichtigen Vortheil verschaft hat, daß sie mit Muße und Weile arbeiten können, keinen Zeitverlust in Anschlag zu bringen brauchen, und, wenn sie einen schönen halben Tag auf die Ausfeilung eines Duzend Verse verschwendet haben, sich nicht hinter drein mit dem armseligen Gedanken, daß der elendeste Prose=Schmierer, ohne alle Bemühung des Geistes und durch die bloße Behendigkeit seiner Schreibefinger, zehnmal mehr in so viel Stunden verdient habe, plagen müssen; und, beym Anblik ihres zusammengeschrumpften Geldbeutels, nicht zu Verwünschung einer Profession verleitet werden, bey der Sie blos deßwegen verhungern, weil sie nicht – ohne sie leben können.420

Allerdings beließ Wieland es nicht bei der Betonung der ökonomischen Fährnisse, die untrennbar mit dem Versuch, zur damaligen Zeit eine tragfähige Existenz als Schriftsteller zu führen, verbunden waren. Immer wieder unterstreicht er etwa, dass das Dichterleben gerade am Pol der eingeschränkten Produktion, den er als Domäne für die eigenen literarischen Schöpfungen okkupiert, keine reine Spaßveranstaltung sei, sondern vielmehr jede Menge entbehrungsreicher Opfer mit sich brächte, was sich vor allem während des Produktionsprozesses, aber auch in der Phase der Erstrezeption eines neuen, wohlgestalteten Kunstwerkes unangenehm bemerkbar mache. Während sich die Leser an der sprachstilistischen Schönheit und der ästhetischen Perfektion gelungener Texte berauschten, verstelle sich ihnen unter dem flüchtigen Eindruck eines kurzweiligen Leseerlebnisses vollkommen der Blick für die Mühsal und die Leiden, die auf Seite der Autoren mit der Herstellung der Werke stets verbunden seien und für die nicht zuletzt (zumindest indirekt) auch die phonetischen Eigenheiten der deutschen 420

C.M. Wieland: „Zweyter Brief. An einen jungen Dichter [1782]“, S. 59f.

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Sprache verantwortlich gemacht werden. Gerade weil das Publikum keinen Einblick in die beträchtlichen Beschwerlichkeiten des mit Distinktionsanspruch betriebenen Schaffensprozesses erlange, ständig nach Innovationen dürste und schließlich bloß das genussreiche Endprodukt in Händen halte, entstehe nur allzu leicht der völlig falsche Eindruck, das Dichten sei eine angenehme, leicht von der Hand gehende Tätigkeit, die als lockerer Zeitvertreib nicht gerade dazu angetan sei, das soziale Ansehen des Dichters signifikant zu vermehren: Wenn ein Poetisches Werk [...] bey der feinsten Politur die Grazie der höchsten Leichtigkeit hat; wenn die Sprache immer rein, der Ausdruck immer angemessen, der Rhythmus immer Musik ist, und der Reim sich immer von selbst, und ohne daß man ihn kommen sah, an seinen Ort gestellt hat; kurz wenn Alles wie mit einem Guß gegoßen, oder mit einem Hauch geblasen dasteht, und nirgends eine Spur von Mühe und Arbeit zu sehen ist: so kann man sich sicher darauf verlassen, daß es dem Dichter, wie groß auch sein Talent seyn mag, unendliche Mühe gekostet hat. Die Natur der Sache bringt das mit sich; und da es vielleicht in keiner Europäischen Sprache schwehrer ist schöne Verse zu machen als in der Unsrigen, so muß auch der Fleiß und die Anstrengung, um es zu diesem Grade von Vollendung zu bringen, verhältnißmäßig desto größer seyn. [...] ‚Es kostet Ihnen wohl nicht die geringste Mühe solche Verse zu machen?‘ – wird das Compliment seyn, das Ihnen überall entgegenschallen wird; und da die Menschen gewohnt sind, ein Kunst=Werk nach der in die Augen fallenden Schwierigkeit, es hervorzubringen, zu schätzen: so wird auf das Ihrige, gerade um dessentwillen, weswegen Sie Sich selbst am meisten Glük wünschten, eine Art von Verachtung fallen. Man wird es vielleicht mit mehr Vergnügen lesen, als manch andre Früchte des nehmlichen Jahrganges; aber, weil man glaubt, daß Ihnen nichts leichter sey als solche Dinge zu machen: so werden Sie kaum mit Einem fertig seyn, da man Ihnen, als ob Sie noch nichts gethan hätten, schon wieder ein anderes zumuthen wird.421

An anderer Stelle betont Wieland in einem eindeutig gegen die antirationalistische Genieästhetik der Stürmer und Dränger und ihre romantischen Nachfolger gerichteten Brief, dass auch die Fähigkeit zum Dichten selbst, die er in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem seinerseits auch für die Beurteilungskompetenz zuständigen Geschmacksbegriff stellt, kein launisches Geschenk der Natur sei, sondern ebenfalls das Resultat eines langen und mühsamen Bildungsprozesses, der dem Schriftsteller einiges abverlange: Mit der bloßen Naturanlage und dem unwiderstehlichen Hang ist nichts ausgerichtet, man wird durch bloße Natur so wenig ein guter Dichter als ein guter Mahler, und der Geschmack, ohne welchen kein in seiner Art vollkommenes Kunstwerk hervorgebracht werden kann, ist die stete Frucht langwieriger Uebung, vieler Lectüre, eines großen Studiums und einer ziemlich langen Frequentation der besten Gesellschaft in der größeren Welt.422

421 422

C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Erster Brief [1782]“, S. 145f. C.M. Wieland: „An Theobald Wilhelm Broxtermann [10.3.1788]“, S. 410.

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Aber auch andere Teilaspekte der Schriftstellerexistenz, die dazu angetan sind, die besonderen Härten dieser Daseinsweise zu demonstrieren, werden sorgsam in Wielands Rekonstruktion des zeitgenössischen Literaturbetriebs eingearbeitet. Die schmerzlindernde Wirkung der symbolischen Anerkennung des Publikums etwa stellt Wieland als etwas nur Momenthaftes dar, das überdies noch durch die hohe und ständig auf künstlerische Überbietung des bereits Bekannten abzielenden Erwartungshaltung der Leserschaft konterkariert werde: Das höchste, worauf Sie zählen können, sind Augenblicke von Gunst, kurze Aufbrausungen, von dem Vergnügen so Sie uns in diesen Augenblicken gemacht haben veranlaßt, und wofür man Sie durch die Gefälligkeit, sich von Ihnen vergnügen zu lassen, überflüßig belohnt zu haben glaubt. [...] Alle ihre Anstrengungen, einen hohen Grad von Vollkommenheit zu erreichen, sehen wir als Schuldigkeit an; und wehe Ihnen, wenn sie nicht immer sich selbst übertreffen, oder sich jemals für erlaubt halten, auf ihren Lorbeern einzuschlummern!423

Dabei wird auch deutlich gemacht, dass sich gerade ernsthafte Schriftsteller, denen es eben nicht bloß um die schnelle Mark gehe, bei ihrem Streben nach literarischer Reputation in einer Umwelt zurechtzufinden hätten, die von erbarmungslosem Konkurrenzdruck, fast schon anomischer Neigung zur Regelübertretung und nicht zuletzt durch die (gleichsam evolutionäre) Macht des Zufalls, also Kontingenz, gekennzeichnet sei. Wieland zeichnet damit ein Bild vom Literaturbetrieb, das für jeden Sympathisanten der ordnungspolitischen Kerngedanken der Aufklärung einem absoluten Horrorszenario gleichkommen musste: Ueberhaupt, wenn ein ausgebreiteter entschiedener Ruhm und die damit verbundenen Vortheile das Ziel sind wornach sie lauffen: so machen Sie Sich in Zeiten darauf gefaßt alle nur ersinnliche Hindernisse in Ihrem Wege zu finden, und am Ende doch vielleicht zu sehen, wie Ihnen Leute zuvorkommen, die, anstatt in der vorgestekten Bahn zu lauffen, querfeld über die Schranken wegsetzen, und durch eine glückliche Verwegenheit den Preis an sich reissen, den sie in einem ordentlichen Wettlauf nicht erhalten hätten.424

Nicht zuletzt ist es aber die bereits fest im zeitgenössischen Zeitschriftenwesen verankerte Selbstbeobachtungsinstanz der literarischen Kommunikation und das damit verbundene permanente Dem-Blick-der-anderen-ausgesetztSein, also die andauernde panoptische Fremdbespiegelung in der literarischen Öffentlichkeit, die Wieland dazu heranzieht, um auf die spezifischen Leiden der Schriftstellerexistenz aufmerksam zu machen, für die es aus Gründen der Systemintegrität jedoch keine Alternative gibt. Auch diesbezüglich könne man sich auf nichts Endgültiges verlassen und sei einem ständigen Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. Unabhängig vom wirklichen in-

423 424

C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Erster Brief [1782]“, S. 143f. Ebd., S. 150.

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timen Leseerlebnis im stillen Kämmerlein verwandle sich beispielsweise interaktionssystemisches Lob in Windeseile in massenmediale Abfuhr, sodass man sich – trotz allen natürlichen Interesses an öffentlicher Wahrnehmung –schon fast danach sehne, von der Literaturkritik gar nicht weiter beachtet zu werden: Ich sage nichts von den Begegnungen die Sie von Autoren, Kunstverwandten, Kennern, Kunstrichtern, Recensenten u.s.w. zu gewarten haben. [...] [E]rwarten Sie [...] in geheim mit Vergnügen gelesen, ins Angesicht mit Lob überschüttet, und öffentlich bey jeder Gelegenheit mit kritischem [unlesbar] oder, wenn’s am besten geht, mit Stillschweigen beehrt zu werden.425

Schenkt man diesen überwiegend öffentlichen Ausführungen des MerkurHerausgebers Glauben, handelte es sich also bei den aus seiner persönlichen Literaturproduktion sowie seinen Buchbesprechungen stammenden Einkünften nicht um etwas mit schnellen Erbschaften oder großzügigen Staatspensionen Vergleichbares, sondern um sauer verdientes Geld, um das man ihn nicht zu beneiden, sondern zu bewundern habe. Indes finden sich auch in der Privatkorrespondenz Wielands aus den Merkur-Jahren immer wieder diskursive Spuren der von ihm geführten Rechtfertigungskampagne, die eindeutig auf die tatsächlichen ökonomischen Verhältnisse rekurrieren und diese offensichtlich, zumindest teilweise, verschleiern bzw. für Wielands persönliche Lage Verständnis erwecken sollen. Gleim gegenüber etwa, den er als Mitarbeiter zu gewinnen trachtete, versucht er am 31. März 1775 den wirtschaftlichen Erfolg der Zeitschrift – natürlich aus taktischen Erwägungen heraus – mit dem Hinweis auf die (tatsächlich) niedrige Abonnentenzahl im von der ADB dominierten Berlin herunterzuspielen: Das beste wäre, wenn ich den Merkur auch meinem theursten Gleim, und durch meinen Gleim den Merkur dem Publicum interessant machen könnte – das Wort diesmal in Doppelsinn genommen! Aber wenn ich nicht Wege finde, mehr Absaz zu bekommen, so kommen würckl. kaum die Unkosten beym Merkur heraus. Die Teutschen sind entsezlich kalte Seelen. In einer Stadt wie Berlin – wo der Merkur in jedem guten Hause seyn sollte – nicht 20 Abonnenten!426

Wohlgemerkt verschweigt Wieland an dieser Stelle, dass die Zahl der Berliner Subskribenten keineswegs repräsentativ für die Verbreitung des Merkur in anderen Teilen Deutschlands war, gar nicht zu sprechen von der zu diesem Zeitpunkt kaum mehr zu übertreffenden, potenziell reputationsschädigenden Profitabilität seines Götterboten. Stattdessen zog es Wieland vor, der Neid erzeugenden Legendenbildung um seinen Reichtum durch die Schilderung eigener finanzieller Engpässe entgegenzutreten. Dem in Berlin ansässigen Schweizer Astronomen Johann Bernoulli gegenüber erklärt er in ei425 426

Ebd., S. 149. C.M. Wieland: „An Gleim in Halberstadt [31.3.1775]“, S. 347.

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nem Brief, der das Datum des 9. Juni 1778 trägt, seine „Umstände, zumal bey einer sehr zahlreichen Familie“, erlaubten es ihm „nicht, alle neuen und lesenswürdigen Bücher zu kauffen“.427 Überhaupt verlegte sich Wieland gerne darauf, sein literarisches und publizistisches Wirken, so auch seine Herausgeberschaft des bekanntlich überaus gewinnträchtigen und populären Merkur, mit der von ihm tief empfundenen und natürlich durchaus nachvollziehbaren väterlichen Fürsorgepflicht seiner Großfamilie gegenüber zu begründen. In einem Passus, der einem Brief an den Dichterkollegen und profilierten Übersetzer Johann Heinrich Voß vom 24. Januar 1779 entstammt, erläutert Wieland, dass er die durchaus einträglichen Tätigkeiten für seine literaturkritische Zeitschrift in genau diesen höchst respektablen Zusammenhang gestellt sehen möchte: Ich bin Hausvater, und habe inclusive Sieben lieber holder Kinder, wovon das ältste wenig über 10 Jahr und das jüngste 7 Wochen alt ist, täglich 16 Mäuler und Mägen zu versorgen. Bey einem solchen Amt darf man wahrlich die Hände auch nicht in den Sack stecken, und der ehrliche Merkur spielt, wie Sie denken können, dabey keine ganz entbehrliche Rolle. Aber dies ist es auch was ihn heiliget und mir das Recht giebt, mich qua Herausgeber des Teutschen Merkur noch immer wenigstens für einen eben so wakern Ehrenmann zu halten, als wenn ich ein ehrbarer Weber oder Schneidermeister wäre, und mich und die Meinigen redlich von meiner Handarbeit nährte.428

Gemäß dieser Darlegung Wielands, die den Merkur primär „als Versorgungsinstrument seiner Familie“429 erscheinen lässt, ist es also nicht weniger verwerflich, sich und die seinen mit Literatur und Literaturkritik über Wasser zu halten, als mit irgend einem anderen ehrlichen Handwerk. Dass Wieland mit dem Verweis auf seine familiären Verpflichtungen, den er vermutlich im Rahmen von Interaktionssystemen auch schon vor 1779 hervorgebracht haben dürfte, durchaus Verständnis erweckte, zeigt sich an einer Reaktion Goethes in einem Schreiben an Johann Gottfried Herder vom 2. Januar 1776. Bei dieser Gelegenheit appelliert Goethe, der sich ansonsten von Wielands Zeitschrift inhaltlich nicht gerade begeistert zeigte, an Herders Familiensinn und versucht mit Erfolg, den damals noch als Hofprediger in Bückeburg beschäftigten Theologen und Dichter zu Beiträgen für Wielands Projekt zu ermuntern: „Du musst ihm auch helfen seinen Merckur stärken davon sein Auskommen und seiner Kinder Glück abhängt.“430 In seinem

C.M. Wieland: „An Johann Bernoulli [9.6.1778]“, S. 78f. C.M. Wieland: „An Johann Heinrich Voß [24.1.1779]“, S. 160. 429 R. Ohm: ‚Unsere jungen Dichter‘, S. 158. 430 J.W. Goethe: „An J.G. Herder [2.1.1776]“, S. 13. Dass Wieland auf die MerkurEinnahmen tatsächlich angewiesen war, bestätigt Wahl: „Mit den 1000 Reichstalern, die ihm sein künftiger Beruf als Prinzenerzieher in Weimar einbringen würde, konnte er sein jährlich zunehmendes Hauswesen nicht verwalten. Die Einnahme einer durch Jahre hinlaufenden Zeitschrift aber würde ihm und seiner Fa427 428

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bereits erwähnten Brief an Voß unternimmt Wieland zusätzlich den Versuch, durch eine Art kleiner autobiografischer Skizze Werbung für den eigenen Lebensentwurf zu machen, wobei er besonderen Wert darauf legt zu vermitteln, dass seine relative Prosperität, die er indes nicht mit einem Leben in Luxus verwechselt sehen möchte, Resultat eines langen, mühseligen Prozesses mit einander abwechselnden Brotberufen gewesen sei, an dessen Ende eine verdientermaßen gesicherte Dichterexistenz stünde: Sie haben wohl daran gethan, daß Sie die unsichre Existenz eines Homme de lettres á Wansbek mit der Rektorstelle zu Otterndorf vertauscht haben [...]. Es wäre freylich allerley darüber zu sagen, daß unsre Augusten und Mecänen etc etc etc aber es ist im Grunde doch nur lahmes Geschwätze, und am Ende ists einem jeden ehrlichen Kerl, und einem Dichter mehr als jedem ändern, besser, wenn er sein verdientes Brodt im Schweiß seines Angesichts ißt, und dafür keinem August hofieren und keinem angeblichen Mecän den Kutzen streichen muß. Ich habe bis zu meinem 27ten Jahr auch geschulmeistert (wiewohl in sonderbar angenehmen Umständen) hernach bin ich 9 Jahre [...] Stadtschreiber in Biberach gewesen, und habe tüchtig im Karren ziehen müßen, wäre auch ohne allen Zweifel darüber zu Grunde gegangen, wenn mir nicht Agathon, Musarion, Idris, u.s.w. zum Trost erschienen // wären, und mir in so mancher glüklichen Stunde sollicitae jucunda oblivia vitae verschaft hätten etc etc. Hernach [...] ließ ich mich wieder zum Schulmeistern verführen, und war 3 Jahre Professor in Erfurt und wieder 3 Jahre Prinzen-Instructor hier zu Weimar; bis mir endlich ein deus oder vielmehr die Dea Anna Amalia diese otia gegeben hat, worinn ich nun lebe — und die ich wahrlich wohl verdient zu haben meyne. Denken Sie indessen nicht, daß es eben ein gar Aristippisches und Hedonisches Leben um diese meine otia sey.431

Zwar war der ökonomisch arrivierte Wieland mit seinen Legitimationsanstrengungen nicht gerade auf ganzer Linie siegreich, er konnte aber zumindest bedeutsame Teilerfolge verbuchen. Das zeigt sich exemplarisch an den Reaktionen Karl Lessings auf den Merkur, die sich in den Briefen an seinen berühmten Bruder Gotthold Ephraim aus den Jahren 1773/74 bekunden. Zunächst einmal stellt Karl Lessing am 11. Juli 1773 klar, dass er von der Qualität der Wieland’schen Zeitschrift nicht gerade bezaubert war: „Sein Merkur hat meine Erwartung nicht erfüllt, selbst die Aufsätze von ihm nicht.“432 In einer weiteren Korrespondenz vom 24. Mai 1774 allerdings räumt er ein, dass Wieland wegen seiner bereits erworbenen Verdienste um die deutsche Literatur eine Geldquelle wie der Merkur trotz aller Mittelmäßigkeit durchaus gebühre, zumal er für seine früheren literarischen Meisterwerke von seinen Verlegern in Zürich und Leipzig alles andere als angemessen entlohnt worden sei: Wenn einer oder der andere seinen Schweiß und sein Blut verschleudert: ist deshalb ein dritter niederträchtig, wenn er es nicht thut? Ich weiß wohl, daß man sich mit der milie eine völlig sorgenfreie Existenz gewähren. Zumal durch Selbstverlag.“ H. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 9. 431 C.M. Wieland: „An Johann Heinrich Voß [24.1.1779]“, S. 160. 432 K. Lessing: „Von Karl Lessing [11.7.1773]“, S. 267.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 301 Einwendung herumträgt: der Merkur ist nicht so, wie man ihn von einem Wieland erwartet! In der That, es däucht auch mir, daß er nicht so ist, und Herr Nicolai hat bei Gelegenheit der Kritik über den Merkur ein Anekdötchen von einem korinthischen Scholastikus, das allerliebst paßt; aber paßt es nicht eben sowohl auf seine deutsche Bibliothek? Und kann sich ein Mann, wie Wieland, nicht auch etwas Mittelmäßiges bezahlen lassen, nachdem er so viele vortreffliche Arbeiten fast umsonst gemacht, was auch Drell, Geßner und Compagnie, und Reich ihm bezahlt zu haben vorgeben?433

Überhaupt redet Lessing noch im gleichen Brief einer vom klassischen Mäzenatentum abgenabelten, freien und selbsttragenden Schriftstellerexistenz das Wort und verlangt, man solle die Reputation des modernen Dichters unter keinen Umständen von der Vergütung abhängig machen, die er für seine Sprachkunstwerke einheimst, denn diese Einnahmen seien in keiner Weise weniger ehrenvoll als die Abhängigkeit von den Spenden wohlwollender Geldgeber: Wenn man ganz höhnisch sagt: er schreibt um Geld; so sage man mir doch, welches edler ist, von seinen Seelenkräften leben, oder von Renten, oder gar von einer Gnadenpension eines Fürsten? [...] Verachtet man deshalb das Werk eines Künstlers, weil er sich so viel hundert Stück Ducaten bezahlen lassen? oder geht ihm etwas an seiner Ehre ab, wenn er öffentlich sagt: ich arbeite nicht anders als für so und so viel?434

Natürlich kann die Antwort auf Lessings rhetorische Frage in diesem Zusammenhang nur ‚nein‘ lauten. Lessing umschreibt damit in größtmöglicher Verdichtung eine der Hauptwirkungen spezifisch literarischen symbolischen Kapitals, dem – völlig theoriekonform mit Bourdieu – die Fähigkeit zugeschrieben wird, seinen Eigentümer vom in der Kunst tödlichen Verdacht ordinärer Raffgier zu dispensieren. Seine Ausführungen machen aber noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam. Wie ein literarisches Kunstwerk tatsächlich beurteilt wird und was es auf dem Markt wirtschaftlicher Güter konkret einbringt, sollen zwei völlig verschiedene Paar Schuhe sein. Die von Karl Lessing an dieser Stelle vorgenommene scharfe Trennung zwischen literarischem und ökonomischem Wert eines Werkes ist ein deutlicher Indikator für die wachsende Autonomie des Literatursystems und seine einsetzende Emanzipierung von der ökonomischen Logik der Profitmaximierung mit ihrem Leitsatz ‚Geschäft ist Geschäft‘ – egal, womit gerade gehandelt wird. Durch die Verwendung des Reputationseffekte provozierenden Sekundärcodes (literarisch) wert-

K. Lessing: „Von Karl Lessing [24.5.1774]“, S. 28. Ähnlich argumentiert übrigens 20 Jahre später auch der anonyme Kommentator der Deutschen Monatsschrift, wenn auch nicht in ausdrücklichem Rekurs auf den Merkur. Im JanuarHeft des Jahres 1794 heißt es: „Wieland darf erwarten einen [...] wohlverdienten Ersatz für lebenswierige Bemühungen zu erhalten“. Anonymus: „Ueber ein verdienstliches Unternehmen [1794]“, S. 63. 434 K. Lessing: „Von Karl Lessing [24.5.1774]“, S. 28. 433

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voll/wertlos gewinnt das Literatursystem nämlich gegenüber der Wirtschaft in der Tat an Identität und vermag so im Konzert mit der Leitdifferenz interessant/langweilig die eigene Systemgrenze in dieser Richtung zu stabilisieren. Innerhalb literarischer Kommunikation kann ein Werk dann künstlerisch wertvoll oder wertlos sein und seinem Urheber ein entsprechendes Image einbringen, aber über den eventuellen wirtschaftlichen Erfolg eines Werkes lässt sich nur nach einem Wechsel der Systemreferenz sprechen, der das Kunstwerk zur Ware werden lässt – das jedenfalls implizieren Lessings Vorstellungen ganz eindeutig. II.3.3.3 Zirkel statuspositionaler Differenz II: Wielands Beziehungstalent und der Einfluss von Sozialkapitalbeziehungen auf die Literaturkritik Schon in der ‚Vorrede des Herausgebers‘ zur Erstausgabe des Teutschen Merkur kommt Wieland explizit auf das in höchstem Maße konfliktträchtige Spannungsverhältnis zwischen Sozialkapitalbeziehungen nebst den aus ihnen erwachsenden persönlichen Verpflichtungen auf der einen und dem zu diesem Zeitpunkt bereits fest etabliertem literaturkritischen Gebot der Neutralität auf der anderen Seite zu sprechen. Dabei stellt er zunächst in aller Deutlichkeit klar, dass die Beurteilung literarischer Werke nicht im Zeichen des Aufrechterhaltens oder Neuknüpfens sozialer Netzwerke geschehen dürfe, verbunden mit dem Versprechen, dass die Leser auch nichts Dementsprechendes von seiner neuen Zeitschrift zu erwarten hätten. Um etwaigen Anschuldigen in dieser Richtung zuvorzukommen, unternimmt der von Haus aus vorsichtige Wieland den Versuch einer auf Konfliktreduktion angelegten Versachlichung der von seinem Blatt geleisteten literaturkritischen Praxis, indem er schon zu diesem frühestmöglichen Zeitpunkt hinsichtlich der im Merkur zur Anwendung gebrachten Kriterien der literaturkritischen Bewertung größtmögliche Transparenz schafft. Ausdrücklich wird Alexander Popes einflussreiches programmatisches Gedicht ‚An Essay on Criticism‘ aus dem Jahr 1711 zum literaturkritischen Leitbild erklärt, in welchem der englische Dichter verbindliche Verhaltensrichtlinien für den wertenden Umgang mit literarischen Werken vertritt. So empfiehlt Pope den Rezensenten etwa Mäßigung im Ton und eine wohlwollende, vernunftgeleitete Einstellung gegenüber den von ihnen begutachteten Schöpfungen, wenn er schreibt: A knowledge both of books and human kind; Gen’rous converse; a soul exempt from pride; And love to praise, with reason on his side.435

Welche Richtung eine Kritik konkret einschlage, entscheide sich „ohne einige Rücksicht auf Personen und besondere Verhältnisse“436, habe also 435 436

A. Pope: „An Essay on Criticism [1711]“, S. 82. C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. V.

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nichts mit einer wie auch immer gearteten Instrumentalisierung der zwischen Autor und Kritiker bestehenden zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun, sondern ausschließlich mit der Erfüllung oder Verletzung der von Pope veranschlagten und der Allgemeinheit frei zugänglichen Bewertungskriterien. Die Merkur-Kritik geschehe völlig selbstlos und gemeinnützlich zum „Vortheil des Publicums“.437 Wohl um die Durchschlagskraft seiner Argumentation noch zu steigern, nimmt Wieland überdies auch an dieser Stelle das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium der Wissenschaft in Anspruch, um jeglichen Verdacht der Vorteilsnahme und unsachgemäßen Begünstigung von Freunden zu entkräften. Allerdings verzichtet er im Zuge seiner Ausführungen auf eine weiterführende Explikation einer eigenen oder übernommenen Wahrheitstheorie, die auch an anderer Stelle in seinen programmatischen Äußerungen zur Literaturkritik nicht wirklich erfolgt438, woraus man schließen kann, dass sie ihm an dieser Stelle vor allem aus rhetorischen Gründen opportun schien, um perlokutionär erfolgreich zu sein. Die mit dem theorieabstinenten und eher unspezifischen Bekenntnis zur Wahrheit, zu maßvoller Wortwahl und zu Popes allseits bekannter Ästhetik hergestellte Wertungstransparenz, so jedenfalls suggerieren es Wielands Ausführungen, sollte den der Kritik ausgesetzten Literaturproduzenten die Angst vor den künftigen Buchbesprechungen des an den Merkur institutionell gebundenen, hermetisch abgeschlossenen Personenkreises und der damit eventuell drohenden Einseitigkeit in der Urteilsfindung nehmen: Wessen man sich zu den sogenannten Rezensionen im Merkur versehen könne, wird erhellen, wenn ich versichre, daß ich und meine Konföderierten einen Bund geschworen haben, nicht etwan – daß niemand Verstand haben soll als wir und unsre Freunde – sondern, daß wir der Wahrheit und Pop’s Essay on Criticism getreu bleiben wollen, es entstehe daraus was entstehen kann. Wir werden in unsern Urtheilen so bescheiden seyn, als ob wir – keine Kunstrichter wären, und so aufrichtig, daß die Autoren, deren Werke in vicum vendentem thus et odores gehören, sich ärger vor dem Merkur fürchten sollen, als die Bedienten im Gespenst mit der Trommel vor dem verkappten Zauberer.439

Auch in der größeren Vertraulichkeit seines Briefverkehrs hat Wieland gelegentlich die Wichtigkeit des literaturkritischen Neutralitätsgebots wiederholt. Am 7. April 1775 etwa verlautbart er hinsichtlich des Vollzugs literaturkritischer Praxis in einer Korrespondenz mit dem Historiker Johann Georg Meusel, der sowohl für den Merkur als auch für Nicolais ADB Beiträge beisteuerte: „Freymüthigkeit und vor allen Dingen Unpartheylichkeit

Ebd., S. V. So heißt es etwa in einem Artikel aus dem Jahr 1785 bei implizitem Wahrheitsbezug ganz lapidar: „Niemand kann sich beleidiget halten, wenn man ihn abschildert wie er ist.“ C.M. Wieland: „Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller [1785]“, S. 199. 439 C.M. Wieland: „Vorrede des Herausgebers [1773]“, S. XI. 437 438

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empfehle ich höchlich.“440 In einem an Johann Caspar Lavater in Zürich gerichteten Schreiben vom 27. Oktober des gleichen Jahres, in dem es um die Suche nach einem Nachfolger für den glücklosen C.H. Schmid als Kopf der Literaturredaktion des Merkur und in diesem Kontext um die mustergültigen Eigenschaften des perfekten Literaturkritikers geht, unterstreicht Wieland einmal mehr, dass neben Klugheit, Zurückhaltung und natürlich Bildung vor allem eine aller Befangenheit trotzende Neutralität das Gebot der Stunde sei: Wie leicht würde mir ums Herz, wenn ich zum Artikel Kritische Geschichte des Teutschen Parnasses oder der Teutschen Litteratur [...] einen aufgeklärten, feinen, scharfsinnigen, mehr gelaßnen als schwärmerischen, ganz unpartheyischen, nichts einseitig ansehenden, und dabey mit hinlänglicher Gelehrsamkeit für dies Fach versehenen Mann bekommen könnte, der sich fürs Jahr 1776 dazu engagiren wollte!441

Allerdings wusste Wieland um den enorm hohen Anspruch, der sich mit dieser Idealvorstellung der Kritikerpersönlichkeit verband. Die erwünschte Mischung aus Weitblick, Stilsicherheit, Unparteilichkeit und Vorurteilsfreiheit, die gewissermaßen wissenschaftliche, religiöse und künstlerische Tugenden miteinander zu einem komplexen Bündel aus Rollenerwartungen mir gleichsam ununterbrochener Notwendigkeit zum ‚role-switching‘ verband, schien ihm gar so überspitzt, dass er sie im vierten Vierteljahr des dritten Merkur-Jahrgangs schon fast in die Nähe des Numinosen rücken zu müssen glaubte: Ein Mann, der das ganze Feld unsrer schönen Litteratur Stückweise vollkommen zu beurtheilen, und im Ganzen mit Einem Götterblick zu übersehen fähig wäre, ein Mann von eben so warmen wie zarten Gefühl als scharfer Beurtheilungskraft, selbst ein Meister in der Kunst zu schreiben, dabey vollkommen unpartheyisch und von allen Nebenabsichten, vorgefaßten Meynungen, Zu- und Abneigungen frey, und (was noch überdies eine unumgängliche Bedingung wäre) der sich entschließen könnte, seine ganze Aufmerksamkeit und Geisteskraft auf Verfaßung etlicher kritischer Bogen jährlich zu verwenden – das wäre freylich der Mann den wir nöthig hätten. Aber wo werden wir diesen Mann finden? Und wenn wir ihn auch gefunden und (was viel Glück wäre, überredet hätten, eine so schwehre und undankbare Arbeit auf sich zu nehmen: würde dieser Mann, würde ein Gott selbst, jedermann zufrieden stellen, allen schiefen Urtheilen, Mißdeutungen und falschen Folgerungen ausweichen, jedem Schriftsteller nach den Foderungen seines Eigendünkels, und allen deßen Freunden, Partheygängern und ganzem servo pecori nach dem Uebermaas ihrer Schwärmerey oder Dummheit genüge leisten können?442

Selbst ein Literaturkritiker, der alle gewünschten Rolleneigenschaften auf sich vereine, so also gewissermaßen Wielands skeptische Schlussfolgerung, könne dem literaturkritischen Geschäft nicht seine polemogene Spitze neh-

C.M. Wieland: „An Meusel in Erfurt [7.4.1775]“, S. 353. C.M. Wieland: „An Lavater in Zürich [27.10.1775]“, S. 429f. 442 C.M. Wieland: „An das Publicum, und besonders an alle bisherigen Freunde [1775]“, S. 93f. 440 441

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men, da man es auf diesem Gebiet stets und überall mit einem dicht geknüpften Netz aus Schule machenden Schriftstellern sowie ihren Anhängern und Paladinen zu tun habe, die nicht alle das geforderte Maß an Klugheit und Rationalität aufbrächten. Die in diesen Zeilen laut werdenden Bedenken hinsichtlich der praktischen Möglichkeit einer in ihrem Urteilsvermögen von bestehenden Sozialkapitalbeziehungen unbeeinträchtigten, freien und vorurteilslosen Literaturkritik hat Wieland, dem in der Sekundärliteratur ein ausgeprägtes Beziehungstalent attestiert wird443, dann in den folgenden Jahren verschiedentlich wiederholt und in ihrer Aussagekraft intensiviert. Dabei entfernt er sich, wohl unter dem Eindruck anderslautender praktischer Erfahrungen, immer weiter von der ursprünglich eingenommenen sozialkapitalfeindlichen Position. Im ersten Vierteljahr des Merkur-Jahrgangs aus dem Jahr 1778 etwa verleiht Wieland seiner Überzeugung Ausdruck, dass man bei einem vorab bereits existierenden Sozialkapitalverhältnis zwischen Autor und Kritiker keineswegs mehr mit einer absolut unvoreingenommenen Beurteilung des literaturkritisch fokussierten künstlerischen Produktes rechnen könne. Allerdings behauptet Wieland bei dieser Gelegenheit auch, ein schon bestehendes Beziehungsnetz zwischen den beteiligten Akteuren evoziere durchaus eine konfliktmildernde Wirkung, da ein solches die Autoren seiner Ansicht nach vor allzu harten und in unangemessenem Tonfall hervorgebrachten Negativkritiken schütze: Ein Rezensent, dem der Schriftsteller eine ganz unbekannte Person ist, kann dessen Schrift unmöglich in dem günstigen Lichte betrachten, worinn sie den Freunden des Verfassers und vielleicht Allen, die ihn persönlich kennen, erscheinen muß. Wenn dies auf Einer Seite sein Urtheil desto unbefangener macht: so muß man gestehen, dass es ihn auf der anderen zuweilen in den Fall setzen kann, von dem unbekannten Verfasser einer anonymen Schrift nicht mit all der Achtung, Zurückhaltung, Nachsicht u.s.w. zu urtheilen, die man demselben schuldig zu seyn glauben würde, wenn er sich genennt hätte, und man also seine Person, seinen Charakter, seine Verdienste u.s.w. kennte. Aber das mögen dann die anonymen Autoren sich selbst zuschreiben!444 Karin Stoll etwa sagt hierzu: „Durch geschickt geknüpfte Verbindungen mit den bekanntesten Männern im literarischen Leben seiner Zeit hat er es verstanden, Verleger zu finden und günstige Beurteilungen in den wichtigsten Rezensionsorganen zu erhalten.“ (K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 30.) Bei Hans Wahl heißt es, Wieland habe „eine Waffe in der Hand gehabt, die er, wenn es drauf ankam, außerordentlich geschickt zu benutzen verstand: seine persönliche Liebenswürdigkeit. Es ist auffallend, wie fast alle ehemaligen Gegner gleich [...] nach dem ersten Zusammensein ihr mehr oder minder schiefes Wielandbild mit Freuden korrigieren, und wie selbst die härtesten Feinde seiner herzlichen, wohl hie und da mit klugen, geschmackvollen, ‚honigsüßen Löbchen‘ weise verbrämten Bonhommie willig unterlagen. Die Beispiele der Stolbergs, Lenzens und Klingers sind bekannt.“ H. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 92f. 444 C.M. Wieland: „Antworten [1778]“, S. 299f. 443

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Die durch das Fehlen persönlicher Bekanntschaften ermöglichte Unvoreingenommenheit bringt mithin zwar den Vorteil einer von Allianzen jedweder Art unverfälschten Beurteilung der literarischen Werke mit sich und soll so auf Seiten der Leserrolle gewissermaßen durch die Genese einer rein leistungsbezogenen Reputation deutlich die Orientierungsbedingungen verbessern helfen, indem sie nur der Sache an sich Relevanz zugesteht, sprich der am Kunstwerk beobachtbaren Differenz aus Medium und Form. Andererseits macht sie aber auch gegenüber den persönlichen Empfindsamkeiten der Autoren unempfindlich und beschwört so die Gefahr der Konfliktsystembildung herauf, vor der sich Wieland stets fürchtete. Damit gesteht Wieland dem sozialen Kapital erstmals auch eine produktive Eigenschaft im Rahmen der Selbstbeobachtung literarischer Kommunikation zu. Im Jahr 1782 dann zeigt sich, dass Wieland die Einflussnahme von Sozialkapitalbeziehungen auf die Literaturkritik und den von dieser bedienten Reputationscode offiziell bereits vollends als gegebenes Faktum, auf das man sich als Schriftsteller einzustellen gezwungen sei, akzeptiert hat. Im ersten der ‚Briefe an einen jungen Dichter‘ führt er z.B. aus, dass es im Grunde undenkbar sei, eine von Erfolg gekrönte literarische Flugbahn einzuschlagen, die exklusiv auf die individuellen schöpferischen Leistungen des Dichters zurückgehe. Eine hohe literarische Reputation sei, ohne dass die Autoren eine bedingungslose Unterstützung und Schutz vor externen Angriffen gewährende Gruppe von Freunden und Sympathisanten um sich scharten, ein höchst unwahrscheinlicher Fall: Ein gemeiner Soldat, der bloß durch Talente und Verdienste bis zum Feldmarschall emporstiege, wäre eine große Seltenheit: aber ein Schriftsteller, der, ohne von einer Clique zu seyn, ohne Schüler gemacht, ohne seinen Ruhm dermaligen Potentaten in der gelehrten Republik zu Lehen aufgetragen, ohne hinwieder angehende Schriftstellerchen in seine Clientel genommen und sich in ihnen einen rüstigen Anhang gemacht zu haben, welcher immer bereit ist, auf jeden der sich des Patrons Ungnade zugezogen hat mit Faust und Ferse loszuschlagen – ein Autor, sage ich, der ohne alle diese Hülfsmittel und [...] ohne von der Aegide der goldnen Mittelmäßigkeit bedekt zu seyn, bloß durch eigen Verdienst und Würdigkeit, zum ruhigen Besiz eines unangefochtenen Eigenthums von Ruhm und Ansehen unter seinen Zeitgenossen gelangte, wäre eine noch größere Seltenheit.445

In diesem Kontext symbolisiert die von Wieland ins Feld geführte Analogie zwischen Militärwesen und Literaturbetrieb die durch den Reputationscode ins Literatursystem eingebrachte moderne, im Vergleich zur Ständegesellschaft eher verdeckte Form der internen Hierarchisierung, die auf die neuartige primäre Differenzierungsform der Gesellschaft zugeschnitten ist und immer noch allen Akteuren die Freiheit lässt, ein Engagement auf literarischem Gebiet zu erwägen. Dabei wird die auf soziale Herkunft basierende Rigidität geburtsrechtlich vererbbarer Standesehre überwunden, indem zunächst niemand grundsätzlich von der Teilhabe an literarischer Kommunika445

C.M. Wieland: „Briefe an einen jungen Dichter. Erster Brief [1782]“, S. 149f.

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tion ausgeschlossen wird. Allerdings kommt es mit dem Reputationscode zur Einführung einer systemeigenen Spielart vertikaler Differenzierung, die auf eine Kombination aus individuell erbrachten Leistungen der Autoren und sozialer Anerkennung durch die Leser setzt und auf diesem weichen Wege die Inklusion/Exklusion von Personen regelt. Damit skizziert Wieland die Regeln eines besonderen Machtspiels um spezifisch literarischen Ruhm, das auf der Ebene sozialen Kapitals nach dem Prinzip des Gabentauschs organisiert ist und die Akteure zu strategischem Verhalten zwingt. Zieht man Wielands private Korrespondenz ins Kalkül, so zeigt sich allerdings, dass er schon viel früher als 1782 von der herausragenden Bedeutung des Aufbaus von Beziehungsnetzen innerlich überzeugt war. In einem an Merck gerichteten Schreiben vom 5. Januar 1776 etwa verlangt Wieland ziemlich ungeniert von seinem Literaturredakteur in Bezug auf eine Rezension von Christian Friedrich von Blankenburgs Roman Beiträge zur Geschichte des teutschen Reichs und teutscher Sitten: „So frei Ihr wollt, nur nicht gar zu beißend, weil der Verf. ein preußischer Offizier ist, und eine Menge Freunde im blauen Rocke hat, die ich menagiren möchte.“446 Drei Jahre später wendet sich Wieland erneut ohne große Umschweife mit einen ganz ähnlichen Anliegen an Merck. Es geht um die anstehende Besprechung des Hanauischen Magazins, das 1778-1785 im Verlag des EvangelischLutherischen Waisenhauses erschien, und für das sich Wieland eine positive Beurteilung wünscht, um seine bereits geknüpfte Beziehung zu dessen Herausgeber aufrecht zu erhalten: Noch Eins. Bis doch so gut, und verfertige mir [...] eine kleine günstige recension von dem Hanauischen Magazin. Ich stehe mit dem Herausgeber, von langen Jahren her, in einem Verhältnis, daß ich ihm diesen Dienst schuldig bin. Es ist ein casus pro amico, und du kannst auch von dem Farrago, worinn doch manches relative gutes ist, salva conscientia, was favorables sagen. Ich bitte sehr, dies nicht zu vergessen. 447

In einem weiteren Schreiben aus dem Jahr 1778 zeigt sich Wieland zwar nicht willens, ein von ihm als qualitativ minderwertig angesehenes Werk eines Autoren namens Emser über Gebühr zu loben. Allerdings offeriert er Emsers Verleger, Christian Friedrich Schwan, der auch Schiller unter Vertrag hatte und mit Wieland befreundet war, anstelle einer Negativkritik einfach das Werk zu verschweigen oder zumindest eine nicht explizit wertende Besprechung abzuliefern: Hrn. Emsers Buch habe ich, weil im Monat November kein Raum für Recensionen übrig blieb, auf den Dezember zurüksetzen müßen. Ich muß Ihnen aber aufrichtig gestehen, daß ich deßhalben in keiner kleinen Verlegenheit bin; denn wenn ich Ihnen oder dem Publico sagen sollte, daß ich das Buch, es sey nun als Philosophisches Werk, oder als Werk des Witzes, gut fände, so müßte ich wider Wissen und Gewissen reden. Indessen da Sie der Verleger, und der Verfasser zu der Zweybrukischen

446 447

C.M. Wieland: „An Merck in Darmstadt [5.1.1776]“, S. 461. C.M. Wieland: „An Johann Heinrich Merck [20.11.1779]“, S. 241f.

308 | W ERTVOLLE W ERKE Societät gehört, mit der ich nun einmal, ex providentia divina, in freundschaftlicher Verbindung stehe, so sehe ich // nur zwey ehrliche Wege aus der Sache zu kommen — entweder gänzlich davon zu schweigen — oder bey der Anzeige eine solche Wendung zu nehmen, daß ich gar nicht davon urtheile; und Dieses leztere wird, glaube ich, das beste seyn, wenn Sie Selbst nicht andrer Meynung seyn sollten.448

Offensichtlich hatte folglich auch Wielands Kompromissbereitschaft ihre Grenzen, denn als Herausgeber einer literaturkritischen Zeitschrift musste er natürlich auch auf seine eigene Glaubwürdigkeit achten. Ganz generell konstatiert er in einem Brief aus dem Frühjahr 1775: „[M]an thut seinen Freunden durch zu vieles Lob mehr Schaden, als Feinde durch den bittersten Tadel schaden können. Das Publikum so pflegt immer gegen beyde auf seiner Hut zu seyn.“449 Ein übertriebenes Lob für das mäßige Werk eines befreundeten Autoren stellte also aus Wielands Sicht ein erhebliches Risiko dar, das er nicht einzugehen bereit war. Nun wäre es unseres Erachtens überzogen zu behaupten, Wieland habe mit dem Merkur primär Geld verdienen und seinen Freundeskreis erweitern wollen. Es ging ihm durchaus auch darum, offene, wenn auch maßvolle Kritik an den Werken zu üben, um auf diese Weise bei den Lesern Orientierung zu stiften sowie Anerkennung zu ernten. Allerdings macht er auch an anderer Stelle Merck gegenüber daraus keinen Hehl, dass die Sorge um das zwischenmenschliche Beziehungsnetz ein durchaus wichtiger Aspekt der literaturkritischen Betätigung im Merkur war. So führt er in einem Brief an den damaligen Chef seiner literaturkritischen Sparte vom 22. Februar 1779 aus: Ich kan dir nicht genug ausdrucken wie ich dir dafür verbunden bin, wie so ganz und gar, nach Kern und Schaale, Wort und Geist alles darinn Männlich, und deiner würdig ist, und wie sehr dieser einzige Artikel den sinkenden Merkur wieder stützen, das Publicum in Respekt setzen und alle rechtschafnen Leute befriedigen und zu unsern Freunden machen wird. Die Gerechtigkeit, die du darinn so manchem braven verdienten Manne, in einem Ton, der durch seine bescheidne Simplicität und Zuversicht ohne Prätension, nothwendig jedem mehr flattiren muß als das schwärmendste eloge, erweisest, giebt dir nun um so mehr Recht, von dem Fach der Poetischen und Theatralischen Produkte etc. freymüthig zu urtheilen.450

Alles in allem zeigen diese Bruchstücke des um den Merkur geführten Diskurses jedoch deutlich, dass Wieland von Anfang an insgeheim bereit war, die in seinem Blatt erscheinenden Rezensionen auch mit dem strategischen Ziel der Pflege des eigenen Beziehungsnetzes zu gestalten und zu platzieren. Dieser durchaus kühl berechnende Zug im Wesen Wielands blieb seinen Zeitgenossen indes nicht verborgen. Nicolai beispielsweise macht in seiner Rezension der ersten drei Bände des Merkur deutlich, dass er Wielands Zeitschrift in erster Linie für ein Organ hielt, das die speziellen Bedürfnisse der

C.M. Wieland: „An Christian Friedrich Schwan [30.11.1778]“, S. 137. C.M. Wieland: „An Staatsrat von Gebler in Wien [7.4.1775]“, S. 348. 450 C.M. Wieland: „An Johann Heinrich Merck [22.2.1779]“, S. 173f. 448 449

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mit Wieland in einem festen Sozialkapitalverhältnis stehenden Freundeskreise bediene und genau in diesem Faktum die ausschließliche Grundlage seiner Existenz finde, was natürlich den schwer wiegenden Vorwurf der Parteilichkeit und der Günstlingswirtschaft impliziert: „Für alle konnte Hr. Wieland nicht schreiben. Darum schrieb er vielmehr geradezu für sich und seine Freunde. Und diese sind endlich noch zahlreich genug, daß der Merkur noch nicht wird aufhören dürfen.“451 Auch in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen klingt dieser Vorwurf an, wenn auch in etwas verklausulierter Form. Im 64. Stück vom 19. Mai 1773 behauptet der anonyme Rezensent nämlich, im ersten Merkur-Band jede Menge „Lobeserhebungen von allen den niedlichen und lieblichen Nichts anzutreffen“452, d.h. es wird gemutmaßt, Wieland hebe absichtlich wertlose Werke auf den hohen Schild, was um so erstaunlicher sei, als „die angeführten Beyspiele das Urtheil nicht immer rechtfertigten.“ Dass diese ungerechtfertigten Lobesarien im Dienst der Beziehungspflege stünden, deutet der Rezensent an gleicher Stelle lediglich an: Sollte die deutsche Literatur so mager oder der Zufluß der Beyträge schwach seyn, daß er dieses erfordert, so bedauren wir Herrn W. und den Mercur. Doch es läßt sich voraussetzen, daß Herr W. seine guten Ursachen hiezu hat, und am besten weiß, was für eine nähere Beziehung auf den gegenwärtigen Zustand unserer deutschen Litteratur dies habe.453

In der Formulierung wesentlich eindeutiger wird Jakob Mauvillon in seiner Besprechung der Merkur-Hefte der ersten Hälfte des Jahrgangs 1774, in der er Wieland unterstellt, er gewähre nur engsten Freunden die Chance einer Veröffentlichung in seiner Erfolgszeitschrift, weshalb jeder Versuch eines Außenstehenden, bei Wieland etwas einzureichen, reiner Dummheit gleichkomme: „Was uns aber noch unbegreiflicher ist, das ist, wie jemand so ein Thor seyn kan, Hrn. W. zu seinem Merkur etwas zu schicken, außer die etwa, mit denen er den Schutz und Trutzbund eingegangen ist [...].“454 Auch schon bezüglich der ersten drei Merkur-Hefte, in denen Wieland einen naturwissenschaftlichen Artikel zum eigentlich nicht von seinem Blatt behandelten Thema der Physik gebracht hatte, macht der Kommentator der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur Wieland den Vorwurf der unlauteren Begünstigung von Freunden: „Wir sagen es freimüthig, man kann es nicht billigen, daß Hr. W. auf Kosten des Publikums seinen Gönnern das Kompliment macht ihre Aufsätze im Merkur einzurücken.“455 F. Nicolai: „Der deutsche Merkur. Erster bis dritter Band [1774]“, S. 303. Anonymus: „Weimar [29.5.1773]“, S. 547. 453 Ebd., S. 548. 454 Anonymus [vermutl. J. Mauvillon]: „Der deutsche Merkur. Fünfter und sechster Band [1775]“, S. 31. 455 Anonymus [vermutl. J. Mauvillon]: „Der deutsche Merkur 1ster Band [1773]“, S. 208. 451 452

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Selbstverständlich sah sich Wieland gezwungen, solchen rufschädigenden Anschuldigungen, die auch in den wissenschaftlichen Diskurs über sein Leben und Werk eingeflossen sind456, machtvoll entgegenzutreten. Nicolai gegenüber, mit dem er sich über dessen im Grunde harmlose GoetheParodie Freuden des jungen Werthers im März 1775 entzweit hatte457, betont er dabei, dass er sich in seiner literaturkritischen Tätigkeit niemals für Gefälligkeitsgesten und Freundschaftsdienste habe einspannen lassen. Die Unterstellungen des Herausgebers der ADB schiebt er auf dessen persönliche Antipathie und kontert Nicolais Attacke mit dem Vorwurf, dieser nutze sein Journal, um seinerseits unter Umgehung des Neutralitätsgebots unliebsame Autoren, zu denen auch Wieland selbst schon immer gezählt habe, abzukanzeln und sie somit in ihrer literarischen Autorität zu beschneiden: Hr. N[icolai]** ist nie mein Freund gewesen; in seiner Bibliothek bin ich fast immer schief angeklozt, oft muthwillig mißhandelt, und nicht ein einzigmal (das ich wüßte) durchaus unpartheyisch beurtheilt worden. Ich habe mich nie was darum bekümmert. Wer mich fähig glaubt, ihm oder irgend einem andern Journalisten zu hofieren, und seine Gunst oder Nachsicht zu erschmeicheln, der kennt weder meine Art zu denken, noch den Charakter meines Herzens; wiewohl es meine Schuld nicht ist, wenn man beydes nicht kennen will. Aber ich bin der Richtigkeit der Grundsätze, nach welchen ich handle, zu gewiß, um mich jemals durch Privatbeleidigungen des Mannes hindern zu lassen, gegen den Schriftsteller gerecht zu seyn; oder anders zu urtheilen, als ich denke, aus Furcht, dieser oder jener möchte mir schlechte Absichten schuld geben.458

Laut eigenem Bekunden hatte Wieland ohnehin „unter der sämtlichen Teutschen Autoren-Schaar, Gott sey Dank, nicht einen einzigen Freund“459, sodass er gewissermaßen gar nicht erst ernsthaft in die Versuchung parteiischer Beurteilungen geraten konnte. Dass er sich als in seinem literaturkritischen Urteilsvermögen nicht von persönlichen Vorlieben und Abneigungen gegenüber bestimmten Akteuren beeinflussbar zeigen wollte, belegt auch eine Episode aus dem Jahr 1781, in der es um seine Kritik an Johann Heinrich Voß ging. Dabei beteuert Wieland in einem Brief an den Schriftstellerkollegen und Herausgeber Heinrich Christian Boie, seine Beurteilung des Werkes von Voß sei nicht im Geringsten von freundschaftlichen VerpflichAls Beispiel mag Hans Wahl dienen, der hinsichtlich der Einstellung des Merkur-Herausgebers zum sozialen Kapital sowie zur Bedeutung des eigenen Beziehungsnetzes urteilt: „Wielands kritische Tätigkeit und die seiner Mitarbeiter wurde mitunter bedenklich beeinflußt von dem Wunsch, mächtige Freunde zu erhalten und neue zu gewinnen. Auf ein kleines Spiel mit Meinungen kam es dem Herausgeber hierbei nicht allzusehr an.“ (H. Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur, S. 28f.) Näheres zu literaturwissenschaftlichen Bewertungen des Merkur-Projekts findet sich bei H.G. Werner: „Literatur für die policirte Gesellschaft“, S. 62ff. 457 Siehe K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 65f. 458 C.M. Wieland: „Freuden des jungen Werthers [1775]“, S. 284. 459 C.M. Wieland: „An Johann Heinrich Merck [1.3.1779]“, S. 178. 456

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tungsgefühlen verfälscht, da dieser gar nicht zum Kreis seiner Vertrauten gehöre, auch wenn Voß selbst dies anders empfinde. Zwar habe er Voß schon zu einem früheren Zeitpunkt einen kleinen Gefallen getan, ihr Verhältnis sei aber lediglich von der unter Ehrenmännern üblichen Konzilianz und wechselseitigem Respekt geprägt gewesen, nicht aber von Freundschaft. Überhaupt betont Wieland an dieser Stelle nochmals eindringlich, sein kritisches Urteil sei von Verpflichtungen, die sich aus Freundschaftsverhältnissen und der Pflege des eigenen Beziehungsnetzes ergäben, vollkommen unberührt. Er beurteile nicht den Grad der gegenüber der Person empfundenen Zuneigung, sondern ausschließlich deren Werke und damit ihre schöpferischen Qualitäten. Diese Trennung von Autor und Werk halte er gar mit so großer Beharrlichkeit durch, dass es im Falle literarischer Minderwertigkeit durchaus auch zu offener Negativkritik an den Werken von engen Freunden kommen könne: Neulich hat sich auch Voß sehr beklagt, daß ich ihn im Merkur mit Verachtung so hätte zeichnen wollen und mich dadurch an den Freundschaftsgöttern schwehr versündigt hätte. Sie, lieber Boie, wissen am Besten, ob Voß mit Bescheidenheit an eine so heilige Sache als Freundschaft ist, bey mir Anspruch machen kann. Ich habe ihm einst, da er sich ganz sans façon [...] an mich wandte und einen kleinen litterarischen ritterdienst von mir verlangte, freundlich und modest geantwortet: und so sind wir unvermerkt auf einen guten Fuß von höflicher und anständiger Coexistenz, mit Achtung und Wohlwollen wenigstens von meiner Seite begleitet, mit einander gekommen. Franzosen nennen das Freundschaft, et nos quoque loquimur cum vulgo: aber weder diese noch irgend eine Art von Freundschaft soll mich jemals des Rechts berauben, frey und wo ichs nöthig finde auch öffentlich, öffentliche und beharrliche Unarten meiner Freunde zu tadeln. Ich begreiffe gar nicht, wie Leute, die mit den Griechen und Römern gleichsam aufgewachsen sind, eine solche Art zu denken und zu handeln unrecht finden können. Übrigens tadle und mißbillige ich nur was alle gesittete Leute in ganz Teutschland mißbilligen, und Voßens Talente, Verstand, Geist und nicht gemeine Stärke in derjenigen Litteratur die ich am höchsten schätze, werden mir immer schäzbar bleiben. Den Mann selbst, als Mensch, kenne ich nur wie er sich von dieser Seite, der Welt gezeigt hat: und da gesteh ich frey, er muß mir eine ganz andre Seite zeigen, wenn ich wünschen soll, ihn als einen näher zu mir, und in den engern Ausschuß meiner Freunde so gehörigen Mann anzusehen.460

Zwei Jahre später verwahrt sich Wieland gegenüber Anton Klein erneut jedem Verdacht auf eine angeblich von seiner Seite begangene Verletzung des literaturkritischen Neutralitätsgebots um der Beziehungspflege willen. Eine vom Braunschweiger Literaturhistoriker Johann Joachim Eschenburg eingereichte Schrift, mit dem er im Übrigen kein echtes Freundschaftsverhältnis unterhalte, habe er keineswegs deshalb nicht in sein Blatt aufgenommen, da er Eschenburg gegenüber einen Groll hege, sondern weil sie aufgrund ihrer minderen Qualität lediglich geeignet sei, die Reputation des Autoren, aber auch die des Merkur-Herausgebers selbst, zu beschädigen. Schließlich habe er Eschenburg für zuvor erbrachte Leistungen ordentlich in der literarischen Öffentlichkeit gelobt, sodass die Publikation eines weniger wertvollen Wer460

C.M. Wieland: „An Heinrich Christian Boie [14.12.1781]“, S. 407f.

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kes das Lesepublikum zutiefst irritieren müsse und es eventuell an seinem Beurteilungsvermögen und seiner moralischen Integrität zweifeln lasse: [I]ch muß Ew. Wohlgeboren daher bitten, mich von dem indirecten Vorwurf der Partheylichkeit auf den Fall wenn ich Ihre mir sub N. l zugeschikte brochure nicht in den Merkur einrükte, ein für allemal zu absolvieren, und mich bey meiner mit gutem Fug ergriffnen Neutralität um so mehr ruhig zu belassen, da ich mit Hrn. Eschenburg zwar in keiner engern Connexion stehe, aber doch immer geglaubt habe, daß er ein Mann von guten Verdiensten um die Litteratur sey, und diesem Glauben gemäß // auch bey Gelegenheit öffentlich so von ihm gesprochen habe, daß es ihn und die Welt nun billig sehr befremden müßte, wenn ich eine seinem Charakter und Ruhm so nachtheilige Schrift dem deutschen Merkur einverleiben wollte.461

Auch noch 1793 betont Wieland in einer weiteren kritischen Angelegenheit gegenüber dem österreichischen Schriftsteller und Aufklärungsphilosophen Karl Leonhard Reinhold, es sei „besser, daß auch der entfernteste Schein einer aus persönlichem attachement entstehenden Partheylichkeit für mich dabey vermieden werde.“462 Wir wollen und können natürlich über die wahren Absichten Wielands hier keinen finalen Urteilsspruch fällen, denn dazu wäre immerhin eine Direktleitung ins psychische System eines Verstorbenen vonnöten. Es kann uns hier auch nicht um eine lückenlose Rekonstruktion des vielschichtigen Beziehungsnetzes gehen, in dem sich Wieland mehr oder minder mit bewusster Strategie bewegte. Wichtig ist uns aber vor allem die Feststellung, dass Wieland in immer stärkerem Maße im Laufe seiner Karriere die Bedeutung von Sozialkapitalbeziehungen für den Vollzug literarischer Kommunikation erkannte und diese veränderte Bewusstseinshaltung auch diskursive Spuren hinterließ, die durchaus den Eindruck einer nicht unerheblichen Tendenz zur Taktiererei vermitteln. Letztlich war sich Wieland im Klaren darüber, dass eine im Vollsinne offene und direkte Literaturkritik, die stets unparteiische Wahrheiten produzierte und Freundschaftsverhältnisse vollkommen aussparte, eine idealistische Illusion war, die indes in der Öffentlichkeit aufrecht erhalten werden musste, um Konflikte zu minimieren. Zu groß war ganz einfach die Eitelkeit und Ruhmsucht überspannter Autoren, die automatisch immer berührt war, wenn literaturkritische Wertungsakte den Reputationscode auf den Plan riefen, sodass man als Rezensent gar nicht darum herum kam, die eigenen Aussagen bis zu einem gewissen Grad zu frisieren. Für diesen Umstand findet Wieland in einem Brief an Merck aus dem Jahr 1777 deutliche Worte: Über die vanitas vanitatum des Recensenten- und Autorhandwerks überhaupt [...], und über die große Wahrheit, daß in allen menschlichen Dingen alles nur auf Schatten und Licht ankommt, und über die noch größere Wahrheit, daß es einem manchmal mehr jammern, als lächern muß, so zuzusehen, wie gottserbärmlich sich das liebe

461 462

C.M. Wieland: „An Anton Klein [31.1.1783]“, S. 75f. C.M. Wieland: „An Karl Leonhard Reinhold [30.3.1793]“, S. 391.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 313 dumme Publicum betrügt und betrügen läßt, und wie wir am Ende einander alle, sogar nolentes volentes, besch... und reciproce besch... werden, – über all dieses und dergleichen denken wir beide glaub’ ich, tieflich gleich.463

Vermutlich lag Goethe daher nicht ganz falsch, als er in seinem Nekrolog über den am 20. Januar 1813 verstorbenen Wieland sagte: „Der geistreiche Mann spielte gern mit seinen Meinungen, aber, ich kann alle Mitlebenden als Zeugen auffordern, niemals mit seinen Gesinnungen. Und so erwarb er sich viele Freunde und erhielt sie.“464 II.3.4 Zwischenfazit III Auch Wieland rechnet sein literaturkritisches Projekt ganz eindeutig der Unterhaltungsfunktion zu und bestätigt damit die zu Beginn dieser Arbeit vertretene These, die zeitschriftengebundene Literaturkritik verkörpere die Selbstreflexionsinstanz der literarischen Kommunikation. Der Teutsche Merkur und die in seinem Umfeld explizierte literaturkritische Programmatik weist jedoch noch recht deutlich ein entscheidendes Charakteristikum multifunktionaler Kommunikation auf, da Wieland beim Lesepublikum eine defizitäre Beurteilungskompetenz entdeckt, die durch das dramatische Anwachsen des Informationsvolumens noch an Schärfe gewinnt und die er mit den Besprechungen vor allem literarisch wertvoller Werke in seinem Journal zu kompensieren müssen glaubt, das somit durch das Wegselektieren des literarisch Wertlosen an der Gedächtnisarbeit des Literatursystems teilhat. Allerdings besteht zwischen den Funktionen der Erziehung zu mündigen Lesern, die Wielands Verwurzelung in der Aufklärungsphilosophie bekundet, und der Unterhaltung ein hierarchisches Verhältnis, das der letzteren die Priorität einräumt, was man als Indikator für das Fortschreiten der Ausdifferenzierung des Literatursystems werten muss. Ähnlich wie Nicolai und Thomasius betrachtet auch Wieland die Literaturkritik als grundsätzlich prekären Kommunikationsmodus, da insbesondere der Aufruf des Rejektionswertes des Reputationscodes immer wieder die Konfliktsystembildung anheize. Um der Unterhaltungsfunktion des Literatursystems genüge zu tun, aber auch, um systemintern neue Möglichkeiten der Orientierung zu schaffen, konnte indes laut Wieland Negativkritik nicht einfach unterlassen werden. Daher setzt der Merkur-Gründer auf eine engmaschige Programmatik, die das Neutralitätsgebot an oberste Stelle setzt, einen guten, wohlwollenden Ton anmahnt und gleichzeitig nach Rezensionen verlangt, die beide Seiten der präferenzlosen Sekundärunterscheidung (literarisch) wertvoll/wertlos in fairer, ausgeglichener Weise aktualisieren und so Extreme vermeiden. Man kann deshalb Wielands literaturkritische Konzeption in Bezug auf den Reputationscode durchaus als Symmetrisie-

463 464

Zit. n. K. Stoll: Christoph Martin Wieland, S. 75. J.W. Goethe: „Zu brüderlichem Andenken Wielands [1813]“, S. 959.

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rungskampagne beschreiben. Der Metakritik sollte dabei die Aufgabe übertragen werden, bei besonders prominenten Fällen über die tatsächliche Ausgewogenheit und Unparteilichkeit einer Buchbesprechung zu wachen. Um diesen Prozess zu erleichtern, sollten die Rezensenten stets nur wohlbegründete Beurteilungen abliefern, womit Wielands Programmatik in eine gewisse Nähe zum außerliterarischen Medium der Wahrheit rückt, was angesichts der engen evolutionären Verwandtschaft von Wissenschaft und Kunst, die einst unter dem Dach der gelehrten Kommunikation vereint waren, nicht verwundert. Moralische Fragestellungen dagegen wollte Wieland von Anfang an ganz aus dem literaturkritischen Diskurs heraushalten, da er um deren Polemogenität wusste. Mit seiner Programmatik der Deeskalation war Wieland indes nur teilweise erfolgreich. Das lag aber vermutlich nicht so sehr an konzeptionellen Defiziten oder Wielands ablehnender Haltung gegenüber literarischen Innovationen, die für einen bereits etablierten Schriftsteller typisch ist, sondern primär eben genau an seiner exponierten Statusposition im sozialen Raum der Literaturproduzenten und -kritiker seiner Zeit. Symbolisch und ökonomisch zu den beherrschten Herrschenden gehörend, sah er sich vielfach dem Vorwurf der Profitgier und der Geldschneiderei ausgesetzt, was sich vor allem in umfangreichen Legitimierungsversuchen niederschlägt, die meist die hohen persönlichen Investitionen Wielands in sein literarisches und literaturkritisches Wirken mit dem Ziel hervorheben, den eigenen Ruf zu wahren. Vom Alltag eines Dichters und Rezensenten zeichnet Wieland dabei ein ziemlich düsteres Bild. Ökonomische Zwänge aus familiären Verpflichtungen, die Vergänglichkeit literarischer Reputation, ständiger Konkurrenzund Innovationsdruck nebst inhärenter Neigung zum Regelbruch sowie permanente öffentliche Fremdbespiegelung lassen eine Schriftstellerexistenz als entbehrungsreiche Daseinsform erscheinen, die einem jede Menge Opfer abverlangt und von zahlreichen Unsicherheiten geprägt ist. In diesem Kontext tritt Wieland auch als Vermittlungsfigur zwischen systemeigener Autonomieästhetik und systemfremder Profitlogik auf. So beschreibt er etwa eine solide ökonomische Basis als Möglichkeit der Erringung literarischer Selbstbestimmung. Asymmetrien in der Distribution ökonomischen Kapitals zwischen den erfolgreichen Massenproduzenten und den ‚ernsthaften‘ Autoren sollen dabei durch eine reine Liebe zur Literatur kompensiert werden. Überdies sei literarisches Schaffen ehrliche Arbeit, die einen anständigen finanziellen Ausgleich verdiene, auch wenn sich künstlerische Kreativität letztlich nicht angemessen in Geldbeträgen bemessen lasse. Wie wichtig Wieland die Einhaltung des literaturkritischen Neutralitätsgebots nahm, zeigt seine intensive Auseinandersetzung mit auf Günstlingswirtschaft hinauslaufenden Vorwürfen, die auf sein nicht unverborgen gebliebenes Beziehungstalent abzielten und insofern nicht völlig unberechtigt waren, als Wieland bisweilen im engeren Mitarbeiterstab durchaus die Forderung nach Gefälligkeitsrezensionen erhob, sofern diese seinen persönlichen Interessen dienlich waren. Zwar bezweifelte er die Möglichkeit, gänz-

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lich ohne Pflege des eigenen sozialen Netzwerks überhaupt eine herausragende literarische Reputation aufbauen zu können – was angesichts des damals gesamtgesellschaftlich noch vorherrschenden Interaktionismus nicht überrascht – stritt jedoch zunächst jegliche Beeinflussung der literaturkritischen Tätigkeit durch bestehende Sozialkapitalbeziehungen vehement ab. Im Laufe der Jahre kam es aber zu einer leichten Aufweichung dieser idealistischen Position, in deren Zuge Wieland auch die positiven Effekte interpersonaler Beziehungen für eine möglichst reibungsfreie Abwicklung der Selbstbeobachtung literarischer Kommunikation in den Blick nimmt und versucht, den aus Freundschaftsverhältnissen erwachsenden Verpflichtungen, die gewissermaßen Bestandteil der verborgenen Tiefenstruktur des Kampfes um Reputation sind, auch etwas Positives für die literaturkritische Praxis abzuringen. So betont er etwa, dass solche in Interaktionssystemen aufgebauten Beziehungen durchaus vor allzu harsch hervorgebrachter, sachlich indes berechtigter Negativkritik schützten. Auf der einen Seite sollte damit die psychische Frustrationstoleranz der Kritisierten erhöht werden, damit die von der regelmäßigen Aktualisierung des negativen Wertes des Reputationscodes garantierten systeminternen Orientierungsmöglichkeiten nicht zu sehr beschnitten wurden, auf der anderen Seite aber auch extrem abwertende Formen von Kritik ausgeschlossen werden, um ungewollten Konfliktsystembildungen vorzubeugen. Allerdings hält Wieland nach außen stets an der Betonung seiner literaturkritischen Unparteilichkeit fest: Da sich die professionelle Literaturkritik praktisch ausschließlich im Medium der Schriftlichkeit vollzieht, womit die Wahrscheinlichkeit deutlich steigt, dass sich die Kommunikationsteilnehmer persönlich gar nicht kennen, sind für Wieland keineswegs die aus Freundschaftsverhältnissen resultierenden interaktiven Verbindlichkeiten wie etwa „Konsensfundiertheit“ oder „Dissensaversion“465 entscheidend, sondern das überpersönliche Geltung beanspruchende Neutralitätsgebot als Grundpfeiler eines durch die Notwendigkeit der Argumentation relativ transparenten und verlässlichen literaturkritischen Verfahrens, in das sich alle konkret involvierten Akteure einfügen müssen, solange sie ernsthaft an der wertenden Kommunikation über Literatur partizipieren wollen. Dazu gehört dann auch eine gewisse Grundtoleranz gegenüber Negativkritik auch etwa von Freundesseite, die zum Abbau von Informationsüberschüssen bereits unausweichlich geworden war und insofern mitverantwortlich zeichnet für das außergewöhnlich lange Überleben des Merkur, als sie dessen Programmatik in hinreichenden Einklang mit den gewandelten kommunikationstechnischen Realitäten der Frühmoderne brachte, ohne jedoch die in diesem Stadium gesellschaftlicher Evolution noch sehr bedeutsame interaktionssystemische Dimension völlig außer acht zu lassen. Indessen war Wieland mit dieser Sichtweise keineswegs allein. Seinen reinsten Ausdruck findet das Neutralitätsgebot, das bereits zur unhintergehbaren, ‚staatstragenden‘ Norm für die Konstituierung literari-

465

C. Bohn: Schriftlichkeit und Gesellschaft, S. 91.

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scher Kommunikation geronnen war und somit durchaus als Kontingenzformel des literaturkritischen Diskurses bezeichnet werden kann, wohl nicht bei Wieland selbst, sondern in einem ebenfalls vermutlich von Jakob Mauvillon stammenden Statement, das dem zweiten Jahrgang der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur entnommen ist: Wir loben und tadeln eines jeden Schriften, nach dem sie gut oder schlecht sind. Schreibt heute einer etwas gutes, so loben wir es nach unsern Einsichten; und wenn er morgen was schlechtes schreibt, so tadeln wir es. Uns schreckt kein Nahme, kein Ruf, und wenn er noch so ausgebreitet ist; es reitzen uns auch keine Freundschaftsbezeugungen, keinerlei captatio benevolentiæ, günstiger zu urtheilen. Dahingegen fürchten wir uns auch für keinem Tadel. Ist er begründet, so suchen wir ihn bestens zu nutzen; ist er es nicht, und sehen wir, daß die Leute böse sind, weil wir sie getadelt haben, und uns dafür ihrer Meinung nach, eins versetzen wollen; so lächeln wir ganz ruhig dabei, und, wir können es wohl sagen, das ist unsrer Eigenliebe gar nicht unangenehm.466

II.4 D AS A THENÄUM (1798-1800)

DER

G EBRÜDER S CHLEGEL

Im Vergleich etwa zum Teutschen Merkur oder zur Allgemeinen Deutschen Bibliothek glänzt das von den Gebrüdern Schlegel in den Jahren 1798 bis 1800 herausgegebene Athenäum nicht gerade durch Langlebigkeit. Auch die Auflage von gerade 1.250 Exemplaren fällt gegenüber den zuvor genannten Journalen deutlich ab. Hinzu kommt, dass laut Ernst Behler zwar keins der zeitgenössischen Journale „origineller und für eine theoretische Betrachtung des romantischen Typs der Zeitschrift merkwürdiger“ sei als das berühmte Gemeinschaftsprojekt des Bruderpaars, allerdings habe man sich auch zu fragen, ob sich das Athenäum, das von den Zeitgenossen beileibe nicht nur positiv aufgenommen wurde und jede Menge Konfliktstoff barg, „bei der Nachwelt nicht größerer Schätzung erfreut als in seiner eigenen Zeit.“467 Die Zeitschrift, die auch im literaturwissenschaftlichen Diskurs der angelsächsischen Welt als „central organ of the early German romantic school“468 aufgefasst wird, besetzte also weder eine marktbeherrschende Position noch war ihr allzu großer Publikumserfolg beschieden, was das Ausmaß der Repräsentativität dieses Rezensionsorgans für die literaturkritische Praxis an der Schwelle zum 19. Jahrhundert zunächst durchaus zu beschränken scheint. Es gibt jedoch ein bedeutendes Faktum, das eine eingehendere literatursoziologische Untersuchung dieser Zeitschrift vor dem Hintergrund der hier zu diskutierenden Problematik der evolutionären Fortentwicklung des literari-

Anonymus [vermutl. J. Mauvillon]: „Der deutsche Merkur 1ster Band [1773]“, S. 212f. 467 E. Behler: Die Zeitschriften der Brüder Schlegel, S. 13. 468 M. Stoljar: Athenaeum, S. 5. 466

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schen Reputationscodes rechtfertigt: Während der Teutsche Merkur und die ADB nämlich eindeutig dem prädominanten, gleichermaßen normenerfüllenden wie -setzenden Mainstream des damaligen Rezensionswesens zuzurechnen sind, folgt das Athenäum einer „seinerzeit marginalen“469 Konzeption und nimmt im Unterfeld der zeitschriftengebundenen, fest institutionalisierten Literaturkritik eine Randstellung ein, die sich vornehmlich programmatischen Abweichungen gegenüber diesen hochetablierten, primär die Traditionen der Aufklärung fortschreibenden Journalen verdankt. Gerade von dieser gegensatzbeladenen Ausgangskonstellation und der Tatsache, dass das Athenäum immer noch vielfach als Begründerin der modernen Literaturkritik im deutschsprachigen Raum gilt470, versprechen wir uns die Möglichkeit, zu weiteren Erkenntnissen hinsichtlich der sozialen Konstruktion literarischer Reputation zu kommen, denn es wird danach zu fragen sein, welche literaturkritischen Prämissen auch im aufsässigen Athenäum ohne viel Aufhebens übernommen werden und insofern als bereits fest in den prozeduralen doxischen Erwartungsstrukturen der literarischen Kommunikation um 1800 verankert gelten können, als sie selbst von zu dieser Zeit noch eher randständigen Häretikern wie Friedrich und August Wilhelm Schlegel unhinterfragt übernommen werden, die aus der Sicht des zeitgenössischen Beobachters und Zeitschriftenherausgebers Wilhelm Gottlieb Becker im Schlepptau Goethes an einem „Revolutionsplan in der Litteratur“ mitlaborierten, „um ein neues litterarisches Reich zu gründen“.471 Dabei kommt es nicht ungelegen, dass sich auch die Herausgeber des Athenäum immer wieder selbstreflexiv und metatheoretisch sowohl in ihrer Zeitschrift selbst als auch in ihrer umfänglichen brieflichen Korrespondenz eingehend über ihre erste gemeinsame literaturkritische Unternehmung geäußert haben.472 Auch die erhalten gebliebenen Notizhefte F. Schlegels, des laut Reich-Ranicki „neben Lessing hervorragendsten Vertreters der deutschen Literaturkritik“473, beinhalten eine Vielzahl verwertbarer Äußerungen zu diesem Problemfeld und gewähren einen vielsagenden Einblick in für notwendig befundene konzeptionelle Veränderungen. Dass wir uns, im Gegensatz zu den anderen bisher einbezogenen literaturkritischen Zeitschriften, nicht auf einen Autoren kaprizieren, liegt daran, dass F. Schlegels Kontributionen, genauso wie diejenigen seines Bruders, der Leitidee einer die Gedankenwelten von Einzelindividuen transzendierenden Symphilosophie verpflichtet sind und sich das Athenäum insofern nur als Gemeinschaftsprojekt des Brüderpaars begreifen lässt, für das beide Autoren essenzielle program-

M. Napierala: Archive der Kritik, S. 12. Siehe M. Stoljar: Athenaeum, S. 111. 471 Zit. n. E. Berend: „Jean Paul und die Schlegel“, S. 84, Anm. 1. 472 Dass der Hang F. Schlegels zur Selbstreflexion „den Äußerungen seiner Frühzeit ein charakteristisches Gepräge“ gibt, betont auch Hans Eichner. Vgl. H. Eichner: „Friedrich Schlegels Theorie der Literaturkritik“, S. 3. 473 M. Reich-Ranicki: Über Literaturkritik [1970], S. 20f. 469 470

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matische Beiträge in Gestalt von Briefen, Gesprächen, Abhandlungen und Fragmenten geliefert haben, die zwar nicht immer absolut eindeutig einem der Brüder zugeordnet werden können, aber doch auf einem festgefügten konsensuellen Fundament stehen. Wir werden daher sowohl Friedrichs als auch August Wilhelms programmatisch bedeutsame Aussagen in die Analyse aufnehmen. Um den Umfang der Arbeit nicht ausufern zu lassen, beschränken wir den Rahmen der Untersuchung indes auf den Zeitraum, der sich über die Jahre 1793-1800 erstreckt, und lassen spätere Weiterentwicklungen der literaturkritischen sowie hermeneutischen Theorien der beiden Brüder bewusst weitgehend außer Acht. Die Gebrüder Schlegel, die Rainer Baasner auch als „gewichtigste Begründer romantischer Kritik“474 bezeichnet hat und die gemeinhin als „prominenteste Kritiker der romantischen Schule“475 einen festen Platz in der Literaturgeschichtsschreibung einnehmen, gingen im Athenäum gewissermaßen arbeitsteilig vor. F. Schlegel war eher für die Programmatik und Theorie literaturkritischer Praxis zuständig. A.W. Schlegel, ganz der Typus des akribischen Philologen, lieferte dagegen die große Masse der Manuskripte, für die er nach seinem spektakulären, in aller Öffentlichkeit vollzogenem Bruch mit der Allgemeinen Literatur-Zeitung (ALZ) ein neues Publikationsforum benötigte. Da wir uns primär für die Programmebene des Literatursystems interessieren – denn genau hier erfolgt gemäß unserer Ausgangsthese die Selbstreflexion des Literatursystems über die Reputation erzeugende Literaturkritik –, bilden allerdings die Arbeiten F. Schlegels den Schwerpunkt unserer Untersuchungen, nicht die Rezensionen selber, wie etwa die berühmte Kritik (bzw. ‚Charakteristik‘) des Wilhelm Meister, die vom jüngeren Schlegelbruder stammt. II.4.1 Zur Funktion der Literaturkritik im Athenäum Die Brüder Schlegel beschäftigten sich in den Jahren vor, während und nach Herausgabe des Athenäum intensiv mit einer Theorie der Literaturkritik, wobei F. Schlegel diesbezüglich der Tonangebende war. Heute legen davon neben den Veröffentlichungen im Athenäum vor allem die Notizhefte mit ihren Aufsätzen und Fragmenten sowie die Vorlesungen und Briefe des jüngeren Bruders Zeugnis ab. Im Rahmen dieser insgesamt eher bruchstückhaften Reflexionen, die in sich keine widerspruchsfreie Systematik aufweisen, ja sogar bewusst unsystematischer Natur sind476 und in gewissem Sinne Experimentierstatus besitzen, hat sich aber auch A.W. Schlegel immer wieder programmatisch zur Funktion literaturkritischer Praxis geäußert. Betrachtet man diese Äußerungen im Überblick, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie bestens geeignet sind, die im Theorieteil aufgestellR. Baasner: „Literaturkritik in der Zeit der Romantik“, S. 55. H.-J. Gaycken: Christoph Martin Wieland, S. 15. 476 Siehe M. Stoljar: Athenaeum, S. 5. 474 475

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te These der Präsenz eines sekundären Reputationscodes im Literatursystem der funktional differenzierten Gesellschaft weiter zu untermauern. Dass die in den Zeitschriften erscheinenden Rezensionen entscheidend an der Genese literarischer Reputation beteiligt sind, hat F. Schlegel schon früh erkannt und diesem Gedanken entsprechend Ausdruck verliehen. So stößt man in der 464. Notiz des zweiten Teils der Literatur-Fragmente auf folgenden vielsagenden Passus: „In Journals soll sich d[er] Autor zur Popularität bilden, d[en] Leser zur Bildung und Universalität.“477 In seinem früheren Aufsatz mit dem Titel ‚Von der Schönheit in der Dichtkunst‘ spricht F. Schlegel in einer kapitaltheoretisch äußerst bemerkenswerten Weise auch von einem durch die Literaturzeitschriften aufrechterhaltenen „Creditsystem“, das – so in einer anderen Passage – auf der beurteilenden Wahrnehmung der beteiligten Psychen aufbaue, denn, so Schlegels Unterstellung, das „Reich der Würdigkeit existirt nur in unserem Gemüthe.“478 Literarische Reputation bzw. dichterische „Popularität“ wird also als etwas Immaterielles beschrieben, dessen Erzeugung auf einer rein symbolischen Ebene vollzogen wird, das jedoch, wie ein Kredit oder eine Barschaft – etwa „durch Anstrengung“479 – aufgebaut werden kann. Natürlich muss literarisches Renommee als Sonderform symbolischen Kapitals, das von einem Individuum besessen wird, in irgendeiner Weise zurechenbar sein, und das geschieht gemäß der Schlegel’schen Auffassung über die Verwechslungen nach Möglichkeit ausschließenden Verfassernamen, die untrennbar mit den jeweiligen Werken verbunden sind. Welche herausragende kommunikationspragmatische Bedeutung den Autorennamen für die Genese und Distribution literarischer Reputation und damit für die Abwicklung literarischer Kommunikation insgesamt zukommt, veranschaulicht u.a. das 79. Lyceums-Fragment, in dem ohne viel Aufhebens konstatiert wird: „Zur Popularität gelangen deutsche Schriften durch einen großen Namen [...].“480 Das bedeutet auf der kommunikationspragmatischen Ebene, dass eine herausragende, bereits vorab existierende und einem bestimmten neuen Werk vorangehende Verfasserreputation die Voraussetzung dafür ist, dass es eine reelle Chance erhält, überhaupt einen höheren Bekanntheitsgrad zu erlangen. Es nimmt daher nicht Wunder, dass F. Schlegel bei anderer Gelegenheit hervorhebt, die „Leser sollten zuerst auf die Person sehn, dann auf d[ie] Sache“.481 Die mit dem Autorennamen bereits im Vorfeld der Veröffentlichung eines Werkes verbundenen Erwartungen werden also sozusagen an das noch unbekannte literarische Produkt herangetragen und präfigurieren bzw. überformen auf diese Weise die ans Werk gerichteten konkreten Erwartungen. Die personal zurechenbaren Werturteile der Literaturkritik sind also insofern überaus produk-

F. Schlegel: „Fragmente zur Poesie und Litteratur II [1799-1801]“, S. 291. F. Schlegel: „Von der Schönheit in der Dichtkunst [1796]“, S. 22. 479 F. Schlegel: „Lyceums-Fragmente [1797]“, S. 156. 480 Ebd., S. 156. 481 F. Schlegel: „Fragmente zur Poesie und Litteratur II [1799-1801]“, S. 291. 477 478

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tiv, als sie, mit Machteffekten reichlich gesättigt, die Fortentwicklung des literarischen Diskurses mitstrukturieren, indem sie auch nach dieser Auffassung Einfluss auf die Reimprägnierungspotenziale der literarischen Werke nehmen. Darüber hinaus wird die Literaturkritik mit ihrer zutiefst symbolischen Funktion der „Würdigung der verschiedenen Literaturwerke“482, wie es in der Vorlesung zur europäischen Literaturgeschichte von 1803/04 formuliert wird, als eine Art Sondermodus literarischen Kommunizierens definiert, in dessen Zentrum die der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Reflexion über den „poetischen Werth“483 literarischer Werke stünde, so F. Schlegel in einem Brief an den älteren Bruder vom 25. März 1798. Es gehe bei den Rezensionen speziell darum, „über den Wert der literarischen Produkte und den Vorzug eines vor den andern“ zu befinden, damit auf diesem Wege „echte und unechte Schriften“484 voneinander unterschieden werden könnten. Diese kurzen Passagen veranschaulichen, dass literarische Reputation laut F. Schlegel mittels Wertungsakten nach dem bekannten Muster der Unterscheidung (literarisch) wertvoll/wertlos sozial konstruiert wird, wobei hier der Nebencode literarischer Kommunikation in der manifesten Gestalt der hochselektiven Dichotomie ‚echt/unecht‘ erscheint. Wie stark die Wertungen der Literaturkritik dabei als an der Reputationsgenese der Autoren beteiligt konzipiert werden, verdeutlicht ein Kommentar F. Schlegels in einem Brief an seinen Bruder und dessen Frau Caroline vom 28. November 1797, in dem er den zur damaligen Zeit stattfindenden Prozess der Namensfindung für das geplante Journal in hierfür charakteristischer Weise beschreibt. Der Theologe und Hermeneutiker Schleiermacher hatte ‚Parzen‘ als Titel für das Zeitschriftenprojekt vorgeschlagen und stieß damit beim durch und durch gräkomanen F. Schlegel auf positive Resonanz, „weil doch wohl mancher litterarische Lebensfaden darin würde abgeschnitten werden.“485 Mit anderen Worten, die Literaturkritik sollte auf dem Umweg über die von ihr gefällten positiven bzw. negativen Werturteile regeln, wem im literarischen Feld das Recht zukam, eine vollwertige literarische Existenz als anerkannter Schriftsteller zu führen, und wem dies vorenthalten bleiben solle. Zeitschriften wie das Athenäum werden also eindeutig für die Distribution spezifisch literarischen symbolischen Kapitals verantwortlich gemacht und sie entscheiden auch darüber mit, welches personale System die Chance erhält, im Rahmen der Autorenrolle ins funktionale Teilsystem der Literatur inkludiert zu werden. Die Literaturkritik erscheint somit einmal mehr als eine spezifische Ausprägung symbolischer Gewalt, also der Fähigkeit, bestimmte Bedeutungen und Bewertungsweisen ohne Anwendung physischer Gewalt im Literatursystem performativ durchzusetzen, die sich nicht

F. Schlegel: „Geschichte der europäischen Literatur [1803/04]“, S. 14. F. Schlegel: „An August Wilhelm Schlegel [25.3.1798]“, S. 106. 484 F. Schlegel: „Geschichte der europäischen Literatur [1803/04]“, S. 49f. 485 F. Schlegel: „An August Wilhelm und Caroline Schlegel [28.11.1797]“, S. 43. 482 483

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zuletzt auch in der recht kaltschnäuzigen Formulierung vom ‚abgeschnittenen Lebensfaden‘ widerspiegelt und die auch an anderer Stelle zum Ausdruck kommt. So wird schon 1795 beispielsweise die „Urtheilskraft“ in der Skizze ‚Von der Schönheit in der Dichtkunst III‘ als Komponente des Geschmackssinnes bezeichnet, dem in der literarischen Kommunikation die „exekutive Gewalt“486 zukomme. Überdies wird in der 117. Notiz der Literatur-Fragmente vergleichend ausgeführt, zu „recensiren“ sei letztlich „wie bei einer Revoluzion mit zu morden.“487 Literaturkritik ist mithin laut dieser Konzeption entscheidend an systeminternen künstlerischen Umwälzungen und damit an der sozialen Dynamik des Literatursystems beteiligt. Der niedrige Institutionalisierungsgrad insbesondere der deutschsprachigen Literatur im Vergleich zur Wissenschaft (oder beispielsweise zur englischen bzw. französischen Literatur) sowie der damit einhergehende Mangel an bewährten Organisationssystemen, die auf die Herbeiführung bestimmter wichtiger Entscheidungen spezialisiert sind, verstärkt den literatursysteminternen Selektionsdruck auf den Reputationscode dabei noch entscheidend, ist gleichzeitig aber auch Garant für dessen beträchtliches evolutionäres Durchhaltevermögen. Schließlich ist es für gewöhnlich den Organisationen vorbehalten, bei prinzipieller Möglichkeit der Teilhabe aller Personen an allen Funktionssystemen das leidige, stets konfliktbeladene Exklusionsgeschäft zu besorgen, und diese Aufgabe übernimmt nun im Literatursystem der sekundäre Reputationscode, der sich auf diesem Wege als auf die Lösung konkreter Probleme bezogener Selektionsmechanismus eine dauerhafte Nische fürs eigene Überleben sichert. Erkennbar wird dieser Konnex von literarischer Wertung, Reputationsgenese und symbolischer Gewalt auch daran, dass die Wertungsakte der Rezensenten unmissverständlich in den Phänomenbereich diskursiver Machtpraktiken gerückt werden. Dies zeigt sich nicht nur in politisch übercodierten Formulierungen wie der obigen, die der Literaturkritik die Aufgabe der ausführenden Gewalt zuordnen, sondern in besonders prägnanter Weise auch in der 71. Notiz der Literatur-Fragmente, in der selbstbewusst proklamiert wird: „Alle eigentlichen aesthet.[ischen] Urtheile s.[ind] ihrer Natur nach Machtsprüche und können nichts andres sein. Beweisen kann man sie nicht, legitimiren aber muß man s.[ich] dazu*.“488 Wer also ein Werk ins literarische Universum schießt, darf nicht auf eine rational fassbare oder gar verifizierbare Argumentation im Sinne der modernen Wissenschaft hoffen, sondern muss sich wohl oder übel damit arrangieren, der den gesamten Diskurs durchdringenden Benennungsmacht der Literaturkritik bzw. aller kommunikativ manifest Urteilenden ausgeliefert zu sein, die darüber in eklatanter Weise mitentscheidet, wer/was in der Sozial- sowie der Sachdimension Beachtung finden soll bzw. wer/was auf dem Emergenzniveau literari-

F. Schlegel: „Von der Schönheit in der Dichtkunst III [1795]“, S. 13. F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 95. 488 Ebd., S. 91. 486 487

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scher Kommunikation ignoriert werden kann. Aufgrund des niedrigen Institutionalisierungsgrades der Literatur und wegen des Fehlens einer für die Konsekration zuständigen Zentralinstanz wird dabei die Benennungsmacht, d.h. die auf kollektiver sozialer Akzeptanz beruhende Berechtigung, bestimmte symbolische Konstruktionen wahren literarischen Daseins zu definieren und kommunikativ durchzuboxen, zu einer begehrten und umkämpften Ressource, die von Dezentralität gekennzeichnet ist und nicht nur auf Seiten der Autoren, sondern auch auf Seiten der Literaturkritiker erst in interaktiver Praxis und in agonaler Auseinandersetzung mit einem Netzwerk aus Konkurrenten erstritten werden muss (und folglich auch jederzeit wieder verloren gehen kann). Nicht zuletzt wird dieser Zusammenhang auch daran erkennbar, dass F. Schlegel in einem Brief an seinen Bruder vom 31. Oktober 1797 in nicht gerade zurückhaltendem Duktus betont, ein „großer Vortheil“ des Athenäum-Projekts bestünde darin, dass sich die Brüder „eine große Autorität in der Kritik machen“ könnten, um so „nach 5-10 Jahren kritische Dictatoren Deutschl.[ands] zu seyn“.489 Die durch Wertungsakte vorgenommene Distribution literarischer Reputation ist jedoch nicht als Selbstzweck zu sehen. Im Grunde verkörpert sie nur das Spaltprodukt der eigentlichen Funktion der Literaturkritik, die laut F. Schlegel in der Einleitung zu den ‚Notizen‘ darin besteht, „jede merkwürdige Neuigkeit, die am literarischen Horizonte erscheint, aufmerksam [zu] beobachten, und das Bemerkte in der Kürze auf[zu]zeichnen.“490 Dazu ergänzt F. Schlegel an gleicher Stelle: Dieses [...] ist es eigentlich, was eine literarische Zeitung vorzüglich leisten sollte, damit der Leser, welcher mit Auswahl zu seiner eigenen Bildung lesen will, von allem was ihm interessant sein muß, früh genug Nachricht erhielte. Nicht bloß eine Nachricht, daß so etwas da sei, sondern eine Auseinandersetzung, was es eigentlich sei; alles mit steter Rücksicht auf ihn, auf seine Bildung und auf die Mißverständnisse, deren Möglichkeit man bei ihm voraussetzen darf, in einer allgemein verständlichen Sprache klar und kurz. Aber freilich ist die Kürze relativ: denn wenn ein Werk etwa aus einem Standpunkt, der noch nicht populär ist, betrachtet sein will, so muß dieser Standpunkt erst aufgestellt und an den populären angeknüpft werden; oder wenn das Werk [...] seine eigene Sprache redet, also seinen Charakter selbst auch nur in dieser Sprache gibt, so ist es nötig, da in das Mittel zu treten und den Zweck des Ganzen in die allgemeine Sprache zu übersetzen und neu darzustellen.491

Es geht F. Schlegel also darum, mit Rücksicht auf den Wissensstand und Bildungsgrad der Leserschaft in einer dem Werk gerecht werdenden, aber auch nachvollziehbaren Sprache über Neuerscheinungen zu informieren, wobei das vermutete Interesse des Lesers als oberste Richtschnur aller Anstrengungen fungiert. Die literaturkritische Verarbeitung des bereits „anerkannt Klassische[n]“ dagegen sei im Grunde, auch wenn sie als „höhere Kri-

F. Schlegel: „An August Wilhelm Schlegel [31.10.1797]“, S. 31f. F. Schlegel: „Notizen [1799]“, S. 273. 491 Ebd., S. 273. 489 490

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tik“ gelten müsse, „nichts weniger als überflüssig“ und diene lediglich dazu, „denen, die schon eingeweiht sind, einen noch tieferen Blick in den unerschöpflichen Geist eines originellen Gedichts [...] zu geben“.492 Auch A.W. Schlegel weist in einem Beitrag zur ersten Ausgabe des Athenäum darauf hin, dass die in Journalen und Zeitschriften betriebene Literaturkritik ein „nothwendiges Übel“ sei, welches das Risiko insbesondere zeitlicher Fehlinvestitionen seitens der Leserschaft vermindere, denn „[m]an würde seine ganze Zeit und Mühe darauf wenden müßen, um zu erfahren, was und wie geschrieben worden ist, wenn es keine Institute gäbe, die darüber offizielle Berichte ertheilen.“493 Was den zeitökonomischen Gesichtspunkt betrifft, geht es den Brüdern Schlegel vor allem um das disproportionale Verhältnis zwischen der zur Reimprägnierung der vielen meist sehr umfangreichen literarischen Werke jeweils benötigten Zeitmarge auf der einen und den tatsächlich frei disponiblen Freizeitkontingenten der einzelnen Leser auf der anderen Seite: Das Leben ist kurz und die Bücher sind lang: was Wunder also, wenn man sich so geschwind mit ihnen abzufinden sucht, als man weiß und kann? Viele fleißige Leser kritischer Zeitschriften würden es eine sehr unbillige Zumuthung finden, erst die Rezension und dann noch hinterdrein die Schrift selbst zu lesen. Sie betrachten jene vielmehr als eine für sich verständliche Abbreviatur von dieser, und den Rezensenten als einen lebendigen Storchschnabel der ihnen die weitläuftigten Umrisse ins Feine und Kleine bringt.494

Rezensionen geben also Inhalt und Form der Werke in einer schnell konsumierbaren, komprimierten Form wieder und ersetzen vielfach gar die eigenständige Rezeption des Primärtexts, was A.W. Schlegel hier zu spöttischem Tonfall inspiriert, ohne dass er diesen Sachverhalt jedoch offen brandmarkt. Ein weiterer hinsichtlich der Funktionsbestimmung der Literaturkritik aufschlussreicher Passus findet sich in der zutiefst programmatischen ‚Vorerinnerung‘ zum Athenäum, die A.W. Schlegel verfasst hat und die von seinem jüngeren Bruder in einem Schreiben vom 25. März 1798 vollumfänglich gebilligt wurde.495 Dem damals üblichen Zeitschriftenduktus folgend, wird bei dieser Gelegenheit erläutert, mit welchen konzeptionellen Erwartungen die Leserschaft dem neuen Journal begegnen könne. In diesem Zusammenhang heißt es: „Der Prüfung der Kenner widmen wir unsere angestrengtesten Bemühungen; für die Unterhaltung aller Leser wünschen wir so viel anziehendes und belebendes in unsre Vorträge zu legen, als ernstere

Ebd., S. 273. A.W. Schlegel: „Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur [1798]“, S. 142. 494 Ebd., S. 143. 495 In besagtem Brief konstatiert F. Schlegel voller Enthusiasmus gegenüber seinem Bruder: „Deine Vorerinnerung hat mir bey nochmaligem Lesen vortrefflich gefallen. Du erwirbst Dir dadurch ein großes Verdienst ums Athenäum.“ Vgl. F. Schlegel: „An August Wilhelm Schlegel [25.3.1798]“, S. 110. 492 493

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Zwecke erlauben.“496 Die Rezensionen des kritischen Journals richteten sich mithin nicht etwa nur an ein gelehrtes Publikum, das in der Manier eines trockenen Vortrags ohne belletristische Ausschmückungen über aktuelle Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt in Kenntnis gesetzt werden sollte, sondern es wurde angestrebt, das Durchlesen der Buchbesprechungen zu einer nicht nur verständlichen, sondern darüber hinaus auch angenehmen und unterhaltsamen Lektüre für breitere Leserschichten werden zu lassen – ein Ansinnen, das wohl auch an der hypotaxenlastigen, im Grunde ziemlich hermetischen Diktion und der damit einhergehenden Sperrigkeit des Athenäum scheiterte. Die Literaturkritik stellt also aus diesem Blickwinkel keinen eigenständigen Kommunikationstypen dar, sondern erfüllt ihre spezifische Aufgabe der Konstruktion literarischer Reputation über die selektive Bewertung aktueller literarischer Werke ganz im Zeichen der Unterhaltungsfunktion des gerade fertig ausdifferenzierten Literatursystems der modernen Gesellschaft. Schon am 8. November 1797 hatte A.W. Schlegel in einem Brief an den zukünftigen Verleger des Athenäum, Friedrich Vieweg, programmatisch erklärt, die geplante Zeitschrift werde „das Allgemeinere aus der Philosophie des Schönen und der Kunst durch anziehende Darstellung [...] würzen“ und „aus der Litterargeschichte [...] nur solche Gegenstände [...] behandeln, die sich interessant und populär – das heißt mit Vermeidung der Schulform, aber doch für gebildete Leser – vortragen lassen.“497 Was nun den in der ‚Vorerinnerung‘ angesprochenen ‚ernsteren Zweck‘ des literaturkritischen Athenäum-Projekts angeht, kann man wohl am ehesten von der für die literarische Kommunikation der Moderne unumstößlichen Notwendigkeit zur Selbstvergewisserung sprechen. Um sich über die systeminternen Zustände einigermaßen Klarheit zu verschaffen, benötigt das Literatursystem eine verlässliche Instanz, die das eigene Operieren mit kurzer Zeitdifferenz in den Blick nimmt und selbstkritisch evaluiert, was unter Verwendung des Nebencodes (literarisch) wertvoll/wertlos und den auf diese Unterscheidung ausgerichteten Programmen der angemessenen Beurteilung literarischen Schaffens erfolgt. Folgerichtig resümiert F. Schlegel diesbezüglich in der 1024. Notiz der Literatur-Fragmente: „Die χρ[Kritik] ist gleichsam die Logik der Poesie.“498 Darüber hinaus heißt es zum Verhältnis von Journalkritik und Selbstbeobachtung literarischer Kommunikation in den ebenfalls in Fragmentform festgehaltenen „Ideen zu Gedichten“ lapidar und in höchstmöglicher Verdichtung: „Journal = Reflexion.“499 Die in den Zeitschriften geleistete Literaturkritik dient also tatsächlich der theoriegeleiteten Selbstbeobachtung der literarischen Kommunikation, und diese soll auf Geheiß der Brüder Schlegel – bei aller gebotener Seriosität des Anlie-

A.W. Schlegel: „Vorerinnerung [1798]“, S. III. A.W. Schlegel: Brief an Friedrich Vieweg [8.11.1797], S. 172. 498 F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 170. 499 F. Schlegel: „Ideen zu Gedichten [1798/99]“, S. 205. 496 497

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gens – auf eine amüsante und kurzweilige Art und Weise zuwege gebracht werden, was (zumindest im ersten Heft des Athenäum) auch durchaus gelang.500 Die Anbindung der literaturkritischen Praxis an Funktion und Operationsweise des Literatursystems zeigt sich gleichwohl auch anhand weiterer Details der Athenäum-Programmatik und der auf das geplante Journal zugeschnittenen Vorarbeiten. So ist auffallend, dass literaturkritischen Texten, vor allem, wenn sie in der gegenüber der gewöhnlichen Rezension höherwertigen Form der Charakteristik verfasst sind, von Anfang an der Status eines – möglichst unterhaltsamen, interessanten – literarischen Werks zugeschrieben wird. In der 629. Notiz der ab 1797 entstandenen LiteraturFragmente postuliert F. Schlegel ganz unmissverständlich: „Die Charakteristik ist eine eigne specifisch verschiedne Gattung, deren Ganzheit nicht historisch sondern KRITISCH ist. – “501 Die Charakteristik in ihrer Eigenschaft als „höher entwickelte kritische Form“502 wird also kurzerhand zum eigenständigen Subgenre erklärt und dem übergeordneten System literarischer Gattungen zugeschlagen, womit sie als konstitutive Komponente der literarischen Reihe im Rang eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums volle Anerkennung erfährt. Dieser Gedankengang wird dann schließlich im Athenäum selbst wiederholt und präzisiert. So heißt es 1798 im 439. Athenäums-Fragment: Eine Charakteristik ist ein Kunstwerk der Kritik, ein visum repertum der chemischen Philosophie. Eine Rezension ist eine angewandte und anwendende Charakteristik, mit Rücksicht auf den gegenwärtigen Zustand der Literatur und des Publikums.503

Die Charakteristik liefert gewissermaßen das programmatische Rüstzeug für literaturkritische Wertungsakte gleich mit, das dann im Rahmen von Rezensionen praktisch appliziert werden soll.504 Dabei werden beide literaturkritischen Genres als autonome Kunstwerke entworfen, die den Lesern einen

500

501 502 503 504

Diese Ansicht vertritt z.B. Heinz Härtl: „Der erste Band des ‚Athenaeums‘ war ein Auftakt ohne Füllsel und Schwachstellen, ohne langwierige Fortsetzungsund Übersetzungsbeiträge, mit denen andere Zeitschriften oft große Lücken schließen mußten, ohne langweilige Rezensionen, redaktionelle und sonstige Notizen, die in den herkömmlichen Journalen üblich waren.“ Vgl. H. Härtl: „‚Athenaeum‘-Polemiken“, S. 254. F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 138. W. Michel: Ästhetische Hermeneutik und frühromantische Kritik, S. 74. F. Schlegel: „Athenäums-Fragmente [1798]“, S. 253. Der an dieser Stelle von F. Schlegel eingeführte Begriff der Charakteristik weist ebenfalls deutlich erkennbare Parallelen zum Konzept des angelsächsischen ‚literary criticism‘ auf, von dem ebenfalls gesellschaftsweit eine theoriegestützte Beurteilung literarischer Werke erwartet wird, die allerdings als klassische Teildisziplin der Literaturwissenschaft betrachtet wird.

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Überblick über die aktuelle Produktion neuer Werke ermöglichen. Hierzu gehört auch die in der 999. Notiz der Literatur-Fragmente laut werdende konzeptionelle Forderung an die Rezensenten lyrischer Texte, sie möchten „1) eine im Stoff π[poetische] Darstell[un]g des nothwendig[en] Eindrucks“ sowie „2) eine in d[er] Form π[poetische] Darstell[un]g vom Geist und Buchstaben d.[es] Werks“505 abliefern. Die wertende Charakteristik bzw. Rezension poetischer Texte soll also ihrerseits zur Poesie werden und damit letztlich zu einem vollwertigen literarischen Werk avancieren. Diesen Gedankengang hatte F. Schlegel schon im vielzitierten 117. LyceumsFragment aus dem Jahr 1797 in apodiktischem und durchaus aggressivem Tonfall geäußert. Dort behauptet er: Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden, oder durch eine schöne Form, und einen im Geist der alten römischen Satire liberalen Ton, hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.506

Rezensionen, die einem eher sachlich-nüchternen, nichtästhetisierenden Sprachgestus verpflichtet sind, sich also beispielsweise einer semantisch klaren, der Tendenz nach metaphernarmen Diktion bedienen, wird damit letztlich sogar radikal jede Existenzberechtigung innerhalb des Unterfeldes der Literaturkritik abgesprochen. Der ideale Rezensent, so die Forderung, präsentiert seine Beurteilungen literarischer Werke nicht kühl-distanziert, sondern in der kunstvoll-raffinierten Manier eines „kritischen Virtuosen.“507 Von einer solchen Amalgamierung der eigentlichen literarischen Kommunikation mit dem poetologisch fundierten literaturkritischen Diskurs versprach sich F. Schlegel augenscheinlich eine deutliche Verstärkung der performativen Durchschlagskraft des literaturkritischen Wertungsaktes, offenbar insbesondere innerhalb der neu entstehenden romantischen Bewegung. Dazu erläutert er in der 797. Notiz der Literatur-Fragmente: In der romant.[ischen] π[Poesie] sollte romantische χρ[Kritik] mit d.[er] π[Poesie] selbst verbunden sein; dadurch wird sie potenzirt, und in ihrer Sphäre desto concentrirter, daß π[Poesie] und χ[kritische] π[Poesie] verbunden, verschmolzen oder gemischt sei*.508

Allerdings erfolgt auch an dieser Stelle keine detailliertere theoriegestützte Begründung dafür, worauf diese Erwartung einer Anhebung der diskursiven Effizienz literarischer Wertungen eigentlich gründet und wie sie genau entsteht.

F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 168. F. Schlegel: „Lyceums-Fragmente [1797]“, S. 162. 507 F. Schlegel: „Zur Philologie I [1797]“, S. 50. 508 F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 153. 505 506

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Die geforderte Fusion von Literatur und Literaturkritik findet auch in der Art und Weise, in der die Brüder Schlegel die im Literatursystem virulenten personenunabhängigen Rollenerwartungen beschreiben, ihren Niederschlag. A.W. Schlegel unterscheidet dabei grundlegend zunächst drei Rollenkomplexe, welche „die ganze literarische Welt im Kleinen vorstellen“, nämlich „Schriftsteller, Beurtheiler und Publikum“.509 Bei näherer Betrachtung wird jedoch klar, dass literaturkritisches Urteilen über die Werke als für beide Seiten der komplementären Rollendifferenz von Autor und Werk konstitutiv betrachtet wird und der kritische ‚Beurteiler‘ eigentlich nicht den Status einer eigenständigen Rolle verdient. So heißt es im 27. Lyceums-Fragment in Bezug auf die Leserrolle: „Ein Kritiker ist ein Leser, der wiederkäut. Er sollte also mehr als einen Magen haben.“510 Jedoch auch den Autoren kommt im Hinblick auf die kritische Beurteilung literarischer Werke eine Schlüsselrolle zu. F. Schlegel setzt dabei in der 128. Notiz seiner Aufzeichnungen ‚Zur Philologie I‘ idealtypisch – zumindest in jenem Frühstadium der Ausarbeitung seiner Theorie der Literaturkritik – die Autorenrolle mit der des Kritikers in eins. Erwartet wird, dass sich die Autoren auch literaturkritisch betätigen und dabei auf ein als adäquat empfundenes Maß an kulturellem Kapital in der Form philologischen Fachwissens zurückgreifen können: „Der vollendete Poet muß zugleich poet.[ischer] Krit.[iker] seyn, also auch Kunstφλ[philolog]*. Nicht grade Meister aber doch Liebhaber. Es giebt auch in dieser Kunst wohl Kenner, Liebhaber und Meister.“511 Literaturkritisches Verhalten wird mithin überall im Literatursystem als wählbare Option konzipiert und kann sowohl von Autoren als auch von Lesern vollzogen werden, solange nur das von F. Schlegel formulierte und später mit immer mehr Nachdruck vertretene Desiderat der Kennerschaft seitens des literaturkritisch Agierenden erfüllt ist. II.4.2 Literaturkritik und Wahrheitsmedium im Athenäum Was das Verhältnis von Literatur bzw. Literaturkritik und didaktischem Anspruch angeht, so lassen zwei der ‚Lyceums-Fragmente‘ F. Schlegels keinen Zweifel daran aufkommen, dass die im Athenäum verfolgte literaturkritische Programmatik an diesem Punkt auf einer klaren Trennung der beiden Sphären besteht, was angesichts des nun schon fortgeschrittenen Stadiums funktionaler Differenzierung nicht wirklich erstaunt. Die Aufgabe der wertenden Kritik, so der jüngere Schlegel in absichtlich aufreizendem Tonfall, bestünde nicht in einem pädagogischen Anspruch darauf, den Leser als Medium der Erziehung in irgendeiner Hinsicht geplant zu sozialisieren, wie Thomasius, Nicolai und Wieland es wollten, oder moralisch zu belehren, wie Schiller es vorschwebte. Kritik und Bildung hätten nichts miteinander A.W. Schlegel: „Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur [1798]“, S. 141. F. Schlegel: „Lyceums-Fragmente [1797]“, S. 149. 511 F. Schlegel: „Zur Philologie I [1797]“, S. 45. 509 510

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gemein: „Der Zweck der Kritik, sagt man, sei, Leser zu bilden! – Wer gebildet sein will, mag sich doch selbst bilden. Dies ist unhöflich: es steht aber nicht zu ändern.“512 Kulturkapitalakkumulation im Rahmen der Selbstsozialisation soll also die Aufgabe des einzelnen sein, nicht die der Literatur oder der sie begleitenden Literaturkritik. Im literarischen Bezirk, so F. Schlegel an anderer Stelle weiter, führe der Versuch der erzieherischen Manipulation des Lesers sogar zu kontraproduktiven Effekten, die sich möglicherweise negativ auf den Fortgang der literarischen Kommunikation auswirken könnten. Gemeint sind damit seitens der Autoren in den Bewusstseinsumwelten des Literatursystems entstehende Aversionen gegenüber der Leserschaft, die natürlich ein gehöriges konfliktsystemisches Potenzial beinhalten. Hierzu bemerkt F. Schlegel im 70. Lyceums-Fragment: Leute die Bücher schreiben, und sich dann einbilden, ihre Leser wären das Publikum, und sie müßten das Publikum bilden: diese kommen sehr bald dahin, ihr sogenanntes Publikum nicht bloß zu verachten, sondern zu hassen; welches zu gar nichts führen kann.513

Wesentlich diffiziler jedoch, als es die strikte Ablehnung didaktischer Ansprüche suggeriert, gestaltet sich das Verhältnis zwischen Literaturkritik und dem wissenschaftlichen Medium der Wahrheit, was man nicht zuletzt auch an der überbordenden Fülle der Aussagen zu diesem Themenkomplex ablesen kann. Offensichtlich schwankten die Brüder Schlegel in dieser frühromantischen Phase ihrer sozialen Flugbahnen zwischen Abgrenzungs- und Integrationsbestrebungen, wobei sie verschiedene Varianten der wechselseitigen Beziehung von Literaturkritik und Wahrheitsmedium durchspielten, um schließlich zu einer in ihren Augen praktikablen Lösung zu kommen. Zunächst einmal findet sich eine Reihe von Passagen, die im Grunde genommen nur als Ausdruck einer der evolutionären Entwicklung der Gesellschaft entgegenstehenden und insofern antimodernen Entdifferenzierungsprogrammatik gewertet werden können. So stößt man im 115. LyceumsFragment von 1797 auf die konzeptionelle Forderung F. Schlegels: „Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.“514 Ein Jahr später, am 29. September 1798, spricht der jüngere Schlegel in einem Brief an seinen Bruder erneut von der „nothwendige[n] Verbindung von Kunst und Wissenschaft“.515 Im 302. Athenäums-Fragment aus dem gleichen Jahr wird dann postuliert, der wahre Dichter werde „erst durch Wissenschaft ein Künstler“.516 Schließlich wird dieser Grundgedanke in der 218. Notiz der Literatur-Fragmente noch weiter inhaltlich konkretisiert: „Der Poet soll nicht bloß s.[einen] GegenF. Schlegel: „Lyceums-Fragmente [1797]“, S. 157. Ebd., S. 155f. 514 Ebd., S. 161. 515 F. Schlegel: „An August Wilhelm Schlegel [29.9.1798]“, S. 174. 516 F. Schlegel: „Athenäums-Fragmente [1798]“, S. 216. 512 513

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stand, d.h. die auf welche er wirken soll und will, sondern auch s.[einen] Stoff d[as] was er darstellt, (die menschl.[iche] Natur) wissenschaftlich kennen.“517 Die Autoren werden also aufgefordert, die zur Formung literarischer Werke bereitliegenden Rohelemente mit wissenschaftlichem Sachverstand, also etwa, wie in diesem Passus angedeutet, unter Anwendung anthropologischer oder psychologischer Erkenntnisse zu durchdringen, bevor mit dem eigentlichen Schreibprozess begonnen wird. Damit wird Wissenschaft bzw. vom Literaturproduzenten auf die eine oder andere Weise internalisiertes wissenschaftliches Wissen zur unabdingbaren Vorbedingung für wirkliches Künstlertum erklärt. Dieser programmatische Ansatz kulminiert in F. Schlegels Begriff der „Wissenschaftskunst“, der sowohl die „χρ[Kritik]“ als auch „die φλ[Philologie]“518 zugerechnet werden. Von echter Wissenschaftskunst, so Schlegel schließlich im 255. AthenäumsFragment von 1798, könne jedoch nur dann die Rede sein, wenn die Schriftsteller ihr Geschäft metatheoretisch mit den von der Philosophie und der Philologie bereitgestellten, d.h. ihrer Natur nach literaturfremden Erkenntnismitteln reflektierten: Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Künstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenständen gründliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter über seine Kunst philosophieren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter sondern auch Kenner in seinem Fache sein, und seine Mitbürger im Reiche der Kunst verstehn können, so muß er auch Philolog werden.519

Schon zwei Jahre zuvor, in der 285. Notiz der Literatur-Fragmente, hatte der jüngere Schlegel bereits mit gehörigem Nachdruck insistiert: „Der vollkommne Poet muß auch ein φλ[Philolog] sein*.“520 Der ideale Dichter wird also in der Erprobungs- und Experimentierphase – zeitlich unmittelbar vor der Veröffentlichung des Athenäum – als belesener Connoisseur mit sprachund literaturwissenschaftlicher Kompetenz vorgestellt, der seine Werke mit einem hohen Grad an Bewusstheit und analytisch geschultem Blick systematisch konstruiert, anstatt nur intuitiven Eingebungen oder unerklärbaren genialischen Anwandlungen zu folgen. Die originäre Ablehnung genieästhetischer Überzeugungen, die in diesen Zeiten bekanntermaßen Hochkonjunktur hatten, drückt sich auch in der Art und Weise aus, in der F. Schlegel bei seiner inhaltlichen Bestimmung der Operationsweise der Literaturkritik verfährt. In dem 1795 in den Notizheften festgehaltenen Aufsatz ‚Von der Schönheit in der Dichtkunst III‘ beispielsweise wird von der Möglichkeit einer wissenschaftlich fundierten

F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 103. Ebd., S. 137. 519 F. Schlegel: „Athenäums-Fragmente [1798]“, S. 208f. 520 F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 108. 517 518

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normativen Regelpoetik ausgegangen und deren Programmatik thesenartig entfaltet: Die Kritik [...] enthielte die Theorie der Beurtheilung des Schönen: suchte eine sichre objektive Methode oder Regel und Norm der Anwendung der objektiven Gesetze der Aesthetik auf einzelne Fälle, oder der Beurtheilung.521

Literaturkritik erscheint hier also nicht als Selbstreflexionsinstanz einer autonomen Literatur, sondern als Hauptverfahrensweise wissenschaftlicher Ästhetik, die allerdings mit der literarischen Kommunikation insofern aufs engste verbunden ist, als Wissenschaft und Kunst einem gemeinsamen Diskurskomplex zugeordnet werden, der zwar von didaktischen Zielsetzungen befreit ist, ansonsten aber durchaus als Spätableger einer die Kulturproduktion kommunikativ regelnden multifunktionalen Gelehrtenrepublik – so wie man sie aus der Frühaufklärung kannte – aufgefasst werden kann. „Genie“ und „Geschmack“, so Schlegel ein Jahr später in dem Aufsatz ‚Von der Schönheit in der Dichtkunst‘ weiter, basierten nicht auf den im Grunde willkürlichen Wahrnehmungen und höchst subjektiven Verstehenshorizonten des einzelnen Literaturkonsumenten, sondern bedürften einer allgemeingültigen poetischen „Gesetzgebung“, ohne welche die genannten Begriffe und die auf sie zurückgreifende Literaturkritik keinen Sinn machten: Der Geschmack ist ein Vermögen zu urtheilen; ein Urtheil aber sezt eine Regel voraus. Der Geschmack ist nicht ein theoretisches Urtheilsvermögen sondern ein praktisches Urteilsvermögen; ihre Regel, unter welche sie Objekte subsumirt, ist keine Regel des Seyns sondern des Sollens. | Eine praktische Regel, die nicht abgeleitet ist, ist ein Gesetz. Giebt es keine Regel des Geschmacks, so giebt es auch keinen Geschmack. Wer behauptet, der Geschmack sey ganz subjektiv und individuell, der läugnet ihn. Der Anspruch des Geschmacks auf Objektivität ist in der Erfahrung gegeben, und also ist wenigstens die Untersuchung der Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche durchaus nothwendig.522

Offensichtlich fürchtete sich Schlegel zu diesem frühen Zeitpunkt noch vor unkontrolliertem diskursivem Wildwuchs und sah in der Anbindung an die traditionale Regelpoetik eine Möglichkeit der Bändigung des literaturkritischen Diskurses auf dem Umweg über eine vermeintliche wissenschaftliche Objektivierung werkbezogener Werturteile. Jedenfalls glaubte er zwei Jahre vor dem Erscheinen des ersten Athenäum-Heftes noch kommunikativ manifest an die universelle Gültigkeit bestimmter Gesetze zur kritischen Bewertung literarischer Kunstwerke und damit an die Möglichkeit einer im literaturfremden Wahrheitsmedium verankerten Literaturkritik:

521 522

F. Schlegel: „Von der Schönheit in der Dichtkunst III [1795]“, S. 5. F. Schlegel: „Von der Schönheit in der Dichtkunst [1796]“, S. 18.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 331 Es giebt allgemeingültige, praktische Regeln zur Beurtheilung des Werthes der Dinge (die höchsten und einfachen dieser Regel sind Gesetze) und die Kunst gehört mit unter die Sphäre, auf die wir jene Regel der Beurtheilung anwenden.523

Als Vorbild für eine solche wissenschaftlich fundierte Literaturkritik dienten insbesondere die modernen Naturwissenschaften, aber auch die Mathematik. In der 1145. Notiz der Literatur-Fragmente wird die zu erwartende Vorgehensweise der Literaturkritiker gar mit den seit Galilei in naturwissenschaftlichen Versuchen zum Einsatz kommenden, methodisch auf Kausalaussagen aufbauenden Verfahren verglichen und das Verfassen von „Recension[en] als χρ[kritisches] Experiment, und χρ[kritischer] Calcül“524 betrachtet. Was die Argumentationsweise des Rezensenten angeht, habe sich dieser an den aus der Logik der Mathematik bekannten Praktiken (wie z.B. das Deduktionstheorem und seine diversen Varianten) zu orientieren, wie aus der 646. Notiz deutlich hervorgeht: „Die χρ[Kritik] ist d[ie] Mutter d[er] Poetik. χρ[Kritik] muß s.[ich] ebenso objektiviren lassen als d.[ie] Postulate der Mathematik.“525 Diese Forderungen konnten natürlich nicht folgenlos für die an die Literaturkritiker gerichteten Rollenerwartungen bleiben. Im Hinblick auf das von den Rezensenten zu erfüllende Profil heißt es in der 635. Notiz wenig bescheiden und augenscheinlich ohne jede Ironie: Der gute Kritiker und Charakteristiker muß treu, gewissenhaft vielseitig beobachten wie der Physiker, scharf messen wie der Mathematiker, sorgfältig rubriciren wie der Botaniker, zergliedern wie d.[er] Anatom, scheiden wie der Chemiker, empfinden wie der Musiker, nachahmen wie ein Schauspieler, praktisch umfassen wie ein Liebender, überschauen wie ein φσ[Philosoph], cyclisch studiren wie ein Bildner, strenge wie ein Richter, religiös wie ein Antiquar, den Moment verstehn wie ein Politiker.526

Gewissermaßen sollte der Literaturkritiker als für die Abwicklung der literarischen Kommunikation mit seiner ‚gatekeeper‘-Funktion besonders bedeutsame Ausprägung des Lesers die herausragenden Eigenschaften bekannter Rollen aus anderen Funktionssystemen wie Wissenschaft, Recht und Politik auf sich vereinigen – womit die von Schlegel an die Rezensenten des Athenäum (und darüber hinaus) erhobenen Ansprüche wohl als alles andere als gering zu bezeichnen wären. Vor allem aber zeigt sich hier erneut die zentrale Bedeutung des Konzepts der ‚Wissenschaftskunst‘ für das frühe Kritikverständnis insbesondere F. Schlegels. Neben der in den Naturwissenschaften unvermeidlichen Fähigkeit zur genauen Beobachtung und analytischen Erfassung eines gegebenen Objekts bzw. Phänomens treten vor allem die spezifisch künstlerischen Fähigkeiten zu gesteigerter Empfindsamkeit und mimetischer Nachahmung der Natur, ergänzt noch durch BildungsbeflissenEbd., S. 19. F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 179. 525 Ebd., S. 139. 526 Ebd., S. 138. 523 524

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heit, Urteilsstrenge, quasi-religiösen Ernst bei der Bewältigung des Kritikeralltags und praktische Intelligenz, wie sie in weiteren Teilbereichen der Gesellschaft der funktionalen Moderne als Rollenanforderungen anzutreffen sind. Offensichtlich trauten die Gebrüder Schlegel der literarischen Kommunikation zu diesem frühen Zeitpunkt nicht wirklich zu, mit Bordmitteln eine vollwertige Selbstreflexionsweise zu etablieren, und wichen daher auf die bequeme, jedoch nicht neue Idee eines entdifferenzierten Supersystems zurück, das Kunst und Wissenschaft unter einen Hut zu bringen versprach und in dem sich die philosophische Ästhetik zum wissenschaftlich operierenden Kontrollorgan einer weitgehend theorieabstinenten, nur zur Fiktion, nicht aber zum Selbsttest fähigen Literatur mausern konnte. Denn schließlich, so F. Schlegel 1795, sei „[e]s ist nicht Bestimmung der Kunst, Wahrheit und Wahn, Wirklichkeit und Schein unterscheiden zu lehren.“527 Diese Fähigkeit wurde nur der Wissenschaft zugetraut. Literaturkritik sollte dabei jedoch kunstvoll verfasst und damit unterhaltsam, aber eben auch wahr sein, d.h. die Codes interessant/langweilig, (literarisch) wertvoll/wertlos sowie wahr/falsch wurden kurzum dem gleichen, sozusagen transsystemischen, noch der Tradition der Gelehrtenrepublik verhafteten multifunktionalen Kommunikationstyp einverleibt. Die Verbindung von Kunst und Wissenschaft zur ‚Wissenschaftskunst‘ stellte die Literaturkritik jedoch zunehmend vor praktische Probleme. So verwies F. Schlegel ein Jahr vor dem Erscheinen des ersten Athenäum-Hefts in den ‚Lyceums-Fragmenten‘ darauf hin, dass die Synchronisierung der Unterhaltungsfunktion des Literatursystems mit dem wissenschaftlichen Medium der Wahrheit und den damit einhergehenden systematischen Methoden der Produktion neuen Wissens durchaus zu Friktionen führte. Die langwierigen Beweisverfahren der wissenschaftlichen Kommunikation, die notwendig machten, jedes literarische Kunstwerk in seine einzelnen Bestandteile zu dekomponieren, um so zu einem begründeten Urteil zu gelangen, liefen der Unterhaltungsfunktion offensichtlich zuwider. So betont der jüngere Schlegel im 22. Lyceums-Fragment: „Ein einziges analytisches Wort, auch zum Lobe, kann den vortrefflichsten witzigen Einfall, dessen Flamme nun erst wärmen sollte, nachdem, sie geglänzt hat, unmittelbar löschen.“528 Die praktische Umsetzung des Postulats einer wissenschaftlich fundierten, wahrheitsmedial gebundenen (und obendrein auch noch unterhaltsamen) Literaturkritik verlangte den betroffenen Rezensenten eine argumentativ nachvollziehbare sowie logisch schlüssige Explikation der eigenen Bewertungskriterien und Beurteilungsregeln ab, was einen erheblichen Theorieaufwand notwendig werden ließ, über den die eigentlichen Objekte der Literaturkritik beinahe aus dem Fokus zu geraten drohten. Auf diesen Sachverhalt macht F. Schlegel in einem Brief an seinen Bruder und Mitstreiter vom 28./29. Dezember 1797 aufmerksam:

527 528

F. Schlegel: „Von der Schönheit in der Dichtkunst III [1795]“, S. 7. F. Schlegel: „Lyceums-Fragmente [1797]“, S. 149.

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 333 Es ist oft nothwendig, erst den Gesichtspunkt und die Gesetze der Beurtheilung erst zu konstituiren [...]. Aber unendlich schwer ists bey dem Theoretisiren, (wenn man soweit aushohlen muß), nicht die Kritik und das Werk zu vergessen.529

Offensichtlich ließ sich also die ursprünglich angepeilte Programmatik einer der ‚Wissenschaftskunst‘ zuarbeitenden Literaturkritik nicht eins zu eins in die Praxis umsetzen, weshalb sich der jüngere Schlegel zu einer Spitze gegenüber denjenigen Zweiflern veranlasst sah, die gerade diesen (zumindest im engen Vertrautenzirkel eingestandenen) Makel einer zu umständlichen und theoretisch abgehobenen Literaturkritik monierten. So heißt es im 57. Lyceums-Fragment durchaus kampflustig: Wenn manche mystische Kunstliebhaber, welche jede Kritik für Zergliederung, und jede Zergliederung für Zerstörung des Genusses halten, konsequent dächten: so wäre Potztausend das beste Kunsturteil über das windigste Werk.530

Wer eine wissenschaftlich abgesicherte, nach objektiver Wahrheit strebende Literaturkritik wirklich wolle, der müsse schon ein Mindestmaß an Geduld aufbringen, wenn es nicht bei oberflächlichen, aus der Hüfte geschossenen Spontanbeurteilungen der begutachteten Werke bleiben solle. Jedoch schleichen sich auch in andere Passagen der Werke der Schlegelbrüder aus jener Zeit eher skeptische Aussagen hinsichtlich der Möglichkeit einer in die supersystemische ‚Wissenschaftskunst‘ eingebetteten Literaturkritik ein. Schon 1797 machen sich z.B. in der 286. Notiz der LiteraturFragmente deutliche Zweifel an der tatsächlichen Existenz universaler Regeln der Produktion und Bewertung literarischer Werke bemerkbar, die sich anhand einer von F. Schlegel emphatisch formulierten und an die Rezensenten gerichteten rhetorischen Frage ablesen lassen: „Die Kritiker reden immer v.[on] Regeln aber wo sind denn die Regeln, die wirklich poetisch, nicht bloß γρ[grammatisch], µετρ[metrisch], λογ[logisch], oder für alle Kunstwerke geltend wären?“531 Während sich die regelgeleiteten und vorwiegend auch normativen Disziplinen der Grammatik, Metrik und Logik relativ problemlos an den Code wahr/falsch der Wissenschaft anschließen ließen, ergaben sich für das literarische Werturteil offensichtlich diesbezüglich Komplikationen, die A.W. Schlegel in seinen programmatischen Beiträgen zum Athenäum dazu bewogen, das Verhältnis von Literaturkritik und Wissenschaft neu zu definieren. So erklärt der ältere Schlegel im ersten Heft des brüderlichen Gemeinschaftsprojekts vor dem Hintergrund dieser Fragestellung: Sobald man rezensirt, ist man in der Amtskleidung: man redet nicht mehr in seinem eigenen Namen, sondern als Mitglied eines Kollegiums. [...] Hieraus entsteht gar

F. Schlegel: „An August Wilhelm Schlegel [28./29.12.1797]“, S. 73. F. Schlegel: „Lyceums-Fragmente [1797]“, S. 154. 531 F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 108. 529 530

334 | W ERTVOLLE W ERKE leicht etwas steifes und zunftmäßiges, das mit jener beseelten Freyheit, welche das gemeinschaftliche Element der bildenden Kraft und der Empfänglichkeit für ihre Schöpfungen ist, im Widerspruche steht. Überdies liegt in diesem förmlichen Vortrage ein Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, den nur die wissenschaftliche Anwendung wissenschaftlicher Wahrheiten zu machen hat, der aber keineswegs auf Gegenstände ausgedehnt werden kann, die erst in der Seele des Betrachtenden durch ein wunderbares Spiel der innern Kräfte ihre Bestimmung erreichen. Ein Kunstrichter zu seyn, nämlich der über Kunstwerke zu Gericht sitzt und nach Recht und Gesetz Urtheil spricht, ist etwas eben so unstatthaftes als unersprießliches und unerfreuliches. Mit Einem Worte, da die Wahrnehmung hier immer von subjectiven Bedingungen abhängig bleibt, so lasse man ihren Ausdruck so individuell, daß heißt so frey und lebendig seyn wie möglich.532

Literarische Werke als Gegenstand literaturkritischer Begutachtung entziehen sich also gemäß dieser Leitidee einem universal gültigen wissenschaftlichen Urteil, da sie nur vermittels der höchst eigenwilligen Konstruktionsarbeit der Leserpsyche und der Wahrnehmungsleistungen des lesenden Bewusstseins konstituiert werden und insofern ein gerütteltes Maß an Idiosynkrasie und Arbitrarität aufweisen. Aus diesem Grunde wird der orthodoxe Begriff des ‚Kunstrichters‘, der Kunstwerke nach feststehendem und allgemein verbindlichem Regularium gleichsam mechanisch bewertet, ins Arsenal ausgedienter alteuropäischer Konzepte verabschiedet. Hinzu kommt noch laut dieser Einschätzung die standestypische Steifheit und etwas gestelzt wirkende Förmlichkeit der wissenschaftlichen Ausdrucksweise, die offensichtlich einer im Sinne der Schlegelbrüder erfolgreich operierenden Literaturkritik insofern hinderlich ist, als sie der nach ‚beseelter Freiheit‘ dürstenden Seele des Lesers wenig Stoff für Zerstreuung bietet und mithin der Unterhaltungsfunktion der modernen Literatur, der das Rezensionswesen gleichsam untergeordnet ist, in inakzeptabler Weise zuwiderläuft. Gleichzeitig geht diese Absage an das altbekannte gelehrte Dekorum nebst regelstarrendem Kunstrichtertum mit einer zunehmenden Einsicht in die Unmöglichkeit einher, von der Literaturkritik Einhelligkeit bei der Bewertung literarischer Werke erwarten zu dürfen. Dabei wird der dem Werturteil zugrunde liegende Subjektivismus des Geschmacks aber nicht mehr primär als Stolperstein für ein wahrheitsmedial gestütztes Bewerten literarischer Werke angesehen, sondern erfährt eine zunehmende Wertschätzung als Ausdruck individueller geistiger Freiheit des Rezensenten. Dazu steht im ersten Heft des Athenäum: Wir theilen viele Meynungen mit einander; aber wir gehen nicht darauf aus, jeder die Meynungen des andern zu den seinigen zu machen. Jeder steht daher für seine eignen Behauptungen. Noch weniger soll das geringste von der Unabhängigkeit des Geistes, wodurch allein das Geschäft des denkenden Schriftstellers gedeihen kann, einer flachen Einstimmigkeit aufgeopfert werden; und es können folglich sehr oft abweichende Urtheile in dem Fortgange dieser Zeitschriften vorkommen.533

532 533

A.W. Schlegel: „Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur [1798]“, S. 146f. A.W. Schlegel: „Vorerinnerung [1798]“, S. IV.

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Der ursprüngliche Glaube an eine in den gängigen normativen Regelpoetiken verwurzelten Literaturkritik, die mit einer Stimme spricht und so gewissermaßen zur Zähmung der literarischen Kommunikation über einen wahrheitsmedial herbeigeführten und solchermaßen gleichzeitig auch legitimierten Meinungskonsens beiträgt, weicht einer stärker pluralistischen Auffassung, die allzu große Kongruenz in den Beurteilungen der Rezensenten sogar als oberflächliche und unangemessene Plattheit diskreditiert. Insofern werden die zukünftigen Leser des Athenäum an dieser Stelle schon einmal darauf eingestimmt, dass mit Einmütigkeit der kritischen Bewertung bezüglich ein und desselben Werkes hinfort nicht mehr gerechnet werden könne und man daher divergierende Auffassungen und kommunikativen Dissens bis zu einem gewissen Grade werde aushalten müssen. Damit wird auch klar, dass das wissenschaftliche Medium der Wahrheit fortan nicht mehr in Beschlag genommen werden kann, wenn es darum gehen soll, die Werturteile der Literaturkritik argumentativ zu legitimieren. Stattdessen erfolgt nun eine wachsende Einsicht darin, dass Wissenschaft und Kunst getrennte Welten bilden und sich nicht mehr in ein lediglich herbeiphilosophiertes Supersystem fügen lassen. Dieser Erkenntnis verleiht F. Schlegel 1797 in den ‚Lyceums-Fragmenten‘ Ausdruck: Es ist eine unbesonnene und unbescheidne Anmaßung, aus der Philosophie etwas über die Kunst lernen zu wollen. Manche fangen’s so an, als ob sie hofften hier etwas Neues zu erfahren; da die Philosophie doch weiter nichts kann und können soll, als die gegebnen Kunsterfahrungen und vorhandnen Kunstbegriffe zur Wissenschaft machen, die Kunstansicht erheben, mit Hülfe einer gründlich gelehrten Kunstgeschichte erweitern, und diejenige logische Stimmung auch über diese Gegenstände zu erzeugen, welche absolute Liberalität mit absolutem Rigorismus vereinigt.534

Die Ästhetik als wissenschaftliche Theorie der Kunst kann zwar die Literatur in den Blick nehmen und das Wissen um sie in gewinnbringender Weise zu vermehren versuchen; ihre streng auf logische Ableitung und Begründung der Erkenntnisse ausgerichtete Operationsweise hat jedoch, bei aller unzweifelhaften wissenschaftlichen Freiheit, in ihrer analytischen Rigidität etwas zutiefst Kunstfremdes – laut Caroline Schlegel lobte Goethe in einem Gespräch mit A.W. Schlegel Friedrichs Wilhelm Meister-Kritik bezeichnenderweise dafür, dass sie sich eben nicht „bey pathologischer Zergliederung der einzelnen Charaktere aufgehalten“535 habe – und lässt so den unrealistisch gewordenen Traum einer in die ‚Wissenschaftskunst‘ integrierten, streng analytischen Literaturkritik wie eine Seifenblase zerplatzen. So betrachtet muss natürlich jeder Gedanke an eine vollwertige „dichterische Wissenschaft“, so F. Schlegel jedenfalls im 61. Lyceums-Fragment, als „widersinnig“536 erscheinen. Wohl auf dem Fundament dieses Erkenntnispro-

F. Schlegel: „Lyceums-Fragmente [1797]“, S. 163. C. Schlegel: „An Friedrich Schlegel [14./15.10.1798]“, S. 455. 536 F. Schlegel: „Lyceums-Fragmente [1797]“, S. 154. 534 535

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zesses reifte schließlich auch die Einsicht, dass wissenschaftliche und künstlerische Rezensionen scharf voneinander unterschieden werden müssen. Während in der Wissenschaft laut A.W. Schlegel im ersten Heft des Athenäum „oft ein treuer und mit Einsicht gemachter Auszug vollkommen hin[reiche]“, sei in Kunst und Literatur „die Form des Urtheils eben so wichtig als der Gehalt: denn sie ist gleichsam das Gefäß, worin allein sich die flüchtige Wahrnehmung auffassen läßt.“537 Literaturkritik hebe sich also insofern von Wissenschaft bzw. ihrer Unterdisziplin, der Philologie, ab, als sie über ein gesteigertes Formbewusstsein operiere, das allein in der Lage sei, die individuelle Leseerfahrung auf dem Emergenzniveau der Kommunikation ins Literatursystem zu integrieren, während die Wissenschaft, für welche die über die beteiligten Psychen bewerkstelligte Wahrnehmung in ihrer Umwelt insgesamt weniger bedeutsam sei, über nichts dem Vergleichbares verfüge. Selbstverständlich stieß die Abkehr vom Entwurf einer ‚Wissenschaftskunst‘ indes nicht überall auf Gegenliebe. Vor allem die logozentrisch orientierten Vertreter der Aufklärung mochten sich nicht mit dem Verzicht auf logische Ableitung der Werturteile der Literaturkritik abfinden, was man nicht zuletzt daran ablesen kann, dass etwa F. Schlegel vom österreichischen Schriftsteller Joseph Schreyvogel, der seine Identität hinter dem Pseudonym ‚Thomas West‘ zu verbergen suchte, im Wiener Sonntagsblatt angekreidet wurde, seine „Urtheile“ seien nichts weiter als „Eingebungen, seine Meinungen, Orakelsprueche.“538 Es wurde vor allem auch daran seitens des zeitweilig auf für Wielands Merkur rezensierenden Wiener Aufklärers Anstoß genommen, dass es niemand „im Behaupten weiter gebracht hätte, als Hr. Friedrich Schlegel“539, der es unverschämterweise in seinen Rezensionen „nicht für noethig erachtet, diese ungeheuren Machtsprueche durch etwas zu begründen.“540 Statt die Bewertungen der literarischen Werke also mit aufeinander aufbauenden Argumenten rein wahrheitsmedial zu substanziieren, so die Unterstellung, verlasse man sich gewissermaßen ausschließlich auf die diskursstrukturierende Macht der eigenen Reputation, deren Fähigkeit zur literatursysteminternen Reduktion von Komplexität und zum Aufbau Orientierung ermöglichender Erwartungserwartungen, so unsere These, jedoch ohnehin aufgrund der spezifischen Umweltbedingungen, denen sich die literarische Kommunikation mittlerweile ausgesetzt sah, längst alternativlos geworden war. Manchen Aufklärern wie Schreyvogel indes galt die vornehmlich über personal zugerechnetes Vertrauen verfahrende Operationsweise des Reputationscodes, wie sie F. Schlegel mit seiner als übertrieben mystifizierenden und als quasi-religiös empfundenen Sakralisierung bestimmter Autoren exemplarisch zu verkörpern schien, fast schon als Teu-

A.W. Schlegel: „Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur [1798]“, S. 146. T. West [d.i. vermutl. Joseph Schreyvogel]: „Dramaturgische Briefe“, S. 323. 539 Ebd., S. 323. 540 Ebd., S. 321. 537 538

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felswerk: „Man könnte seine Critik mit einer Art schwarzer Kunst vergleichen, die alles verwirrt oder verwandelt, was ihr nahe kommt“.541 II.4.3 Steigendes Informationsvolumen und Literaturkritik im Athenäum In den Jahren 1795 bis 1804 haben sich die Gebrüder Schlegel in unterschiedlichen Kontexten auch zur zentralen Problematik des Informationsvolumens innerhalb der literarischen Kommunikation geäußert und die aus ihrer Sicht notwendig gewordenen Konsequenzen für die im Athenäum angestrebte literaturkritische Programmatik gezogen. F. Schlegel geht bei seinen Überlegungen zu diesem Thema von der Antike aus und diagnostiziert für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert – wie andere zeitgenössische Analytiker des Literaturbetriebs auch – einen heftig ansteigenden Bücherausstoß, der ganz eindeutig als zukünftig zu lösendes Problem eingeordnet wird. Verantwortlich macht er dafür neben den großen Fortschritten in der Papierproduktion – und das überrascht nicht – die Einführung der massenmediale Kommunikation ermöglichenden Technologie des Buchdrucks. Diese neuzeitliche Reproduktionstechnik, die der Reimprägnierung von Texten in der Tat völlig neue Dimensionen eröffnete, habe dazu geführt, dass in der Moderne eine regelrechte Schreibwut aufgekommen sei, die zu einer Unmenge schnell und leichtfertig produzierter Werke geführt habe, was dem jüngeren Schlegel als schiere Zeit- und Energieverschwendung erscheint: Bei den Alten war gar nicht die Vielschreiberei wie bei uns und waren auch nicht so die Verhältnisse und Umstände, die sie veranlassen. Nie fand bei ihnen der durch die angenommene Körperlichkeit in allen Geschäftsarbeiten bei uns sich bis in das tägliche Leben erstreckende Mißbrauch des Schreibens, nie dieser heillose Zeitverlust durch so unnützen Kraftaufwand statt. Es fehlte ihnen mit der Buchdruckerei und der Leichtigkeit, Papier zu fertigen, an der Menge Bücher, die uns erdrückt. Sie hatten nur wenige Bücher und schrieben auch nur wenig.542

Das relativ geringe Informationsaufkommen der protoliterarischen Kommunikation bedingte, dass in der klassischen Antike keinerlei Bedarf nach einem hochselektiven sozialen Gedächtnis entstehen konnte; wer zu jener Zeit Literatur produzierte, schrieb in F. Schlegels Diktion gewissermaßen „für die Ewigkeit.“543 Moderne literarische Kommunikation jedoch, die „seit Erfindung der Buchdruckerei und Verbreitung des Buchhandels durch eine ungeheure Masse ganz schlechter, und schlechthin untauglicher Schriften [...] verschwemmt, erdrückt, verwirrt und missleitet“544 werde, ließ sich beEbd., S. 323. F. Schlegel: „Geschichte der europäischen Literatur [1803/04]“, S. 56f. 543 Ebd., S. 57. 544 F. Schlegel: „Lessings Gedanken und Meinungen [1804]“, S. 53. 541 542

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reits Ende des 18. Jahrhunderts längst nicht mehr auf solch simple Weise abwickeln. Die von F. Schlegel gewählte plastische Formulierung macht dabei deutlich, dass aus der diagnostizierten Informationsüberflutung zwei Hauptschwierigkeiten für das Literatursystem resultierten. Zunächst wäre in diesem Zusammenhang der insgesamt rapide zunehmende Verfall des ästhetischen Wertes der neuen Werke zu erwähnen, wobei die zahlenmäßig wenigen wertvollen Produkte der Schriftsteller „in der Masse des Falschen und Unechten“, die „gegenwärtig ungeheuer groß“545 sei, sang- und klanglos unterzugehen Gefahr liefen. In Bezug auf die zeitgenössische interessante Literatur sei „Verwirrung“, so F. Schlegel schon in seinem 1795 begonnenen Aufsatz über die Dichtkunst der alten Griechen, „das Gemeinsame ihrer Masse“546 und konfrontiere Autoren wie Leser mit dem Problem der Orientierungslosigkeit, die den reibungslosen Ablauf literarischer Kommunikation zu beeinträchtigen drohte. Kurz gesagt, auch F. Schlegels Ausführungen belegen, dass im Literatursystem ein Bedarf nach mehr interner Lenkung entstand, und genau diesem existenzbedrohenden Mangel sollten die Rezensionszeitschriften abhelfen. Das exorbitant anwachsende Informationsvolumen habe laut A.W. Schlegel im ersten Athenäum-Heft nämlich zur Entstehung „spezielle[r] Journale“ geführt, in denen man schon „dasjenige aus der chaotischen Masse gesondert“ finde, was von wirklich dauerhafter „Bedeutung“547 sei, d.h. die literaturkritischen Organe filtern diejenigen Werke heraus, die den positiven Wert des Sekundärcodes der literarischen Kommunikation unter Berufung auf ein bestimmtes Kriterienspektrum aufrufen und dienen somit als erwartungsstrukturelle Wegmarke, die den Lesern den dringend benötigten Halt im unüberschaubaren Gewirr literarischer Kommunikationsofferten zu geben vermag. Gleichzeitig beliefert die Literaturkritik über ihre Wertungsakte das systemspezifische, unter der anwachsenden Informationslast ächzende Gedächtnis der modernen Literatur mit Daten, die für eine Aufrechterhaltung der Autopoiesis des Literatursystems überlebensnotwendig sind. So bekennt F. Schlegel auch vier Jahre nach der Einstellung des kurzlebigen Athenäum-Projekts: „In der Tat kann keine Literatur auf die Dauer ohne Kritik bestehen, und keine Sprache ist vor Verwildrung sicher, wo sie nicht die Denkmale der Poesie erhält, und den Geist derselben nährt.“548 Literaturkritische Zeitschriften mit ihrer auf Dauer gestellten Verwendung der Sekundärdifferenz (literarisch) wertvoll/wertlos erfüllen demzufolge grundsätzlich eine das Systemgedächtnis leitende Selektionsfunktion, deren Spezifik im Athenäum selbst, aber auch an anderer Stelle eingehender erläutert wird. F. Schlegel etwa geht schon in der 71. Notiz der Literatur-Fragmente davon aus, „[d]aß man schlechte Werke gar

Ebd., S. 58. F. Schlegel: „Über das Studium der Griechischen Poesie [1795/96]“, S. 222. 547 A.W. Schlegel: „Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur [1798]“, S. 146. 548 F. Schlegel: „Lessings Gedanken und Meinungen [1804]“, S. 55. 545 546

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nicht beurtheilen sollte“549 und fügt in der 125. Notiz ergänzend hinzu: „[N]ur das Classische oder Progressive verdient kritisirt zu werden.“550 Im ‚Abschluß des Lessing-Aufsatzes‘ von 1801 greift F. Schlegel diesen wichtigen Gesichtspunkt in gleichsam evolutionärer Perspektive erneut auf und betont, dass „wahre Kritik gar keine Notiz nehmen [müsse] von Werken, die nichts beitragen zur Entwicklung der Kunst und der Wissenschaft“.551 Auch hier begegnet uns also der schon bekannte reduktive Ansatz, nur das ohnehin für literarisch wertvoll Befundene rezensieren zu wollen und alles Übrige ohne weitere explizite Kenntnisnahme dem Vergessen preiszugeben, wenngleich sich der programmatische Rahmen hierfür sicherlich nicht gerade sehr komplex ausnimmt, dafür aber umso wirkungsvoller eingesetzt werden kann. Die Aufgabe des Systemgedächtnisses der Literatur besteht indessen auch gemäß der Schlegel’schen Konzeption nicht im Erinnern, sondern in erster Linie im großflächigen Vergessen paralysierender Informationsüberschüsse und liegt somit zumindest in dieser Hinsicht genau im von uns diagnostizierten sozioevolutionären Trend, wenngleich dies bei manchem Zeitzeugen merkliches Unbehagen hervorrief. So bemängelt denn auch Schreyvogel als offensichtlich um die Vollständigkeit der literarischen Überlieferung besorgter Rezensent des Blattes der Gebrüder Schlegel, dass der Zweck der „critischen Uebersichten im Athenäum“ darin zu sehen sei, „die gesammte Literatur auf die Nahmen einiger außerordentlichen Geister zu beschränken, und alles Gute und Treffliche, worueber sich noch etwas Hoeheres denken läßt, in großen Haufen wegzuwerfen“552, sodass schließlich „ganze Jahrhunderte [...] aus der Geschichte der Literatur [verschwinden].“553 Wie dem auch sei, fest steht, dass jeglicher von der sammelwütigen Philosophie der Enzyklopädisten getragene Universalitätsanspruch, d.h. das etwa in Nicolais ADB vertretene Ansinnen, die aktuelle Buchproduktion komplett überschauen zu wollen, von vornherein konsequent aus der fürs Athenäum entwickelten literaturkritischen Programmatik verabschiedet wird, was sich auch darin bekundet, dass F. Schlegel im 102. LyceumsFragment die Behauptung vertritt: „Alles beurteilen zu wollen, ist eine große Verirrung oder eine kleine Sünde.“554 Auch zwei Jahre später, in einem Brief an seinen Bruder vom 25. Februar 1799, macht er deutlich, mit dem Athenäum „keinen Anspruch auf Vollständigkeit“555 zu stellen. Vor allem A.W. Schlegel bemüht sich dann im ersten Heft des gemeinschaftlichen Zeitschriftenprojekts, diesen von seinem Bruder in der rein privaten Sphäre der Notizhefte sowie der Briefkorrespondenz vorgezeichneten

549 550 551 552 553 554 555

F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 91. Ebd., S. 95. F. Schlegel: „Abschluß des Lessing-Aufsatzes [1801]“, S. 411. T. West [d.i. vermutl. Joseph Schreyvogel]: „Dramaturgische Briefe“, S. 321f. Ebd. S. 323. F. Schlegel: „Lyceums-Fragmente [1797]“, S. 159. F. Schlegel: „An August Wilhelm Schlegel [25.2.1799]“, S. 234.

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Weg zu explizieren und öffentlich zu legitimieren. Dabei dient die präpotente ADB Nicolais und die in ihr verwirklichte, zur literaturkritischen Orthodoxie geronnene Programmatik als argumentativer Ausgangspunkt, demgegenüber das Athenäum, das, wie ein zeitgenössischer Rezensent bemerkt, „ein wenig aus der litterarischen Heerstraße lenkt“556, häretisch in Stellung gebracht wird. Konkret geht A.W. Schlegel von einem Raum der Möglichkeiten aus, dessen Grenzen durch zwei vollkommen gegensätzliche Extrempositionen markiert sind: Es bestehe einerseits die Option anzunehmen, „daß alle Bücher gut sind, bis das Gegentheil erwiesen ist [...]. Diese demüthige Maxime scheint die Allgemeine Deutsche Bibliothek [...] im Fache des Geschmacks zu befolgen, indem sie bloß bemüht ist, die armseligsten Produkte noch tiefer herunter zu reißen, von den Meisterwerken indes, die den Fortschritt der Bildung bezeichnen, gar keine Notiz nimmt.“557 Andererseits gebe es auch die Möglichkeit – so der weitere Fortgang der Argumentation – davon auszugehen „daß alle Bücher schlecht sind, bis das Gegentheil erwiesen ist; so wird man sich bloß mit dem Vortrefflichen beschäftigen, und das Übrige mit Stillschweigen übergehn. Ein solches Journal haben wir nicht, und es würde sich aus mancherley Ursachen nicht lange halten können.“558 Beide Extremprogrammatiken sind nun gemäß der Rekonstruktion der Gebrüder Schlegel mit so erheblichen Nachteilen behaftet, dass sie als praxisanleitende Konzepte für das Athenäum letztlich nicht in Frage kamen. Der ADB wird also unterstellt, sich exklusiv um die Entlarvung des qualitativ Minderwertigen in der literarischen Öffentlichkeit zu bemühen. Der Tendenz nach vermag aus einer solchen Herangehensweise im Ergebnis lediglich eine bösartige und defizitäre Literaturkritik zu entstehen, die nur verdammen kann, jedoch gegenüber wirklich herausragenden Leistungen blind bleiben muss, da sie sich ja selbst zur Hauptaufgabe macht, die Leser vor den literarisch wertlosen Werken zu warnen, nicht aber auf die vereinzelten Geniestreiche schlaglichtartig aufmerksam zu machen. Hinter dieser skeptischen Grundhaltung vermutet A.W. Schlegel eine Art kulturellen Minderwertigkeitskomplex bzw. Kompetenzneid seitens des für die ADB arbeitenden Rezensentenheeres, das sich primär deshalb auf als zweitrangig eingestufte Werke konzentriere, um eigene Mängel zu verschleiern – und das, obwohl zwischen Literaturkritiker und kritisiertem Autor absolut gar kein hierarchisches Verhältnis von Über- oder Unterordnung bestehen müsse: Man sieht, daß diese Kritik dem Wesen nach viel milder ist, als man nach ihren finstern Gebehrden glauben sollte; daß vielleicht gar eine stille Selbsterkenntnis der Rezensenten dabey zum Grunde liegt, die nur so die Überlegenheit behaupten zu kön-

A.F. Bernhardi: „Athenäum“, S. 366. A.W. Schlegel: „Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur [1798]“, S. 144f. 558 Ebd., S. 144f. 556 557

D ER REPUTATIONSCODE AM BEISPIEL DER L ITERATURKRITIK | 341 nen meynen, welche fälschlich als das nothwendige Verhältnis zwischen dem Beurtheiler und dem Beurtheilten angenommen wird.559

Vor allem aber sei das Negativverfahren der ADB für eine Bewältigung des hohen Informationsvolumens im Literatursystem gänzlich ungeeignet, denn selbst „in Zeitschriften, die zuweilen Meisterstücke der Kritik liefern, muß die Abfertigung des Schlechten und Unbedeutenden einen viel zu großen Raum anfüllen, und dadurch die Würdigung dessen beengen, was die Wissenschaft oder die Kunst weiter bringt.“560 Die Verarbeitung all des literarisch Wertlosen führt also dazu, dass das Ausgangsproblem nicht gemeistert, sondern lediglich in die Literaturkritik hineinkopiert und dadurch sogar noch potenziert wird, da man selbst dann, wenn man sich durch den ganzen Berg an Negativkritiken durchgefressen hat, nur weiß, was alles unlesbar ist, aber nicht, was man lesen sollte. Die Folge daraus ist, dass der Orientierungslosigkeit im Literatursystem keine Abhilfe geschaffen wird. Da die Schlegels die „Menge derjenigen [Werke], von denen der gute Leser eigentlich gar keine Notiz nehmen, und der gute Kritiker gar keine Notiz geben sollte“ für „so unermesslich groß“561 hielten, d.h. da sie von einer weitgehenden qualitativen Verflachung der zeitgenössischen Literaturproduktion ausgingen und den proportionalen Anteil der wertvollen Werke für sehr gering hielten, musste die an zweiter Stelle genannte Variante literaturkritischer Programmatik, also die Konzentration auf Positivkritik und die wenigen wertvollen Werke, wesentlich attraktiver erscheinen. Denn wenn es stimmt, dass nur wenige Werke ein als hoch geltendes qualitatives Niveau erreichen und wenn ohnehin nur dieser relativ kleine Ausschnitt der literarischen Produktion überhaupt rezensiert wird, dann besteht zumindest die Gefahr eines bloßen Mitschleppens des Problems der Überproduktion von Informationen durch die Literaturkritik nicht mehr in vergleichbarem Ausmaß. Tatsächlich vertreten die Brüder prinzipiell einen in diese Richtung weisenden Ansatz; es geht ihnen darum, sich im Athenäum auf die Bekanntmachung wertvoller Werke zu kaprizieren, die es mit den bereits fest etablierten und im Systemgedächtnis einheimisch gewordenen Klassikern aufzunehmen verstünden und ein repräsentatives Exempel der dichterischen Leistungsfähigkeit ihrer Epoche darstellten. Das beste Beispiel hierfür gibt F. Schlegels berühmte Kritik ‚Über Goethes Meister‘ ab. Zwar stellt der jüngere Schlegel hier an einem Punkt die Frage, ob man dieses Werk überhaupt redigieren solle und sinniert, dass Goethes Roman „eben eins von den Büchern“ sei, „welche sich selbst beurtheilen, und den Kunstrichter sonach aller Mühe überheben.“562 Dass er es aber letztlich doch im Rahmen einer ausführlichen Charakteristik kritisch im Athenäum behandelte, demonstriert

Ebd., S. 145. Ebd., S. 145. 561 F. Schlegel: „Notizen [1799]“, S. 273f. 562 F. Schlegel: „Über Goethes Meister [1798]“, S. 133f. 559 560

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seine grundsätzliche Konformität mit der Programmatik des älteren Bruders. Das (literarisch) Wertlose kann im Gegensatz dazu jedoch im Prinzip einfach übergangen und somit vergessen werden. Allerdings gibt es eine wichtige Einschränkung, denn die wertlosen Werke gäben immerhin noch Stoff für saftige Polemiken und parodistische Spötteleien ab, mit deren Hilfe man das Publikumsinteresse auf sich ziehen könne, wohingegen „eine kritische Schrift [...] ohne Polemik [...] positiv kein Publikum“563 finde, wie F. Schlegel seinem Bruder in einem Brief vom 31. Oktober 1797 mitteilt. Das Athenäum sollte also einen Mittelweg zwischen den beiden geschilderten Extremen beschreiten, der zwar der kritischen Bewertung wertvoller Werke den Vorzug gibt, aber auch Qualitätsmängel schonungslos offen legt, wenn sich damit die Aufmerksamkeit des Publikums anfachen lässt. Offensichtlich sollte das Athenäum eine prozessuale Lücke in der selbstreflexiven Operationsweise des Literatursystem schließen, die in der Nichtexistenz eines Rezensionsorgans gesehen wurde, das sich, anders als die ADB, primär auf die Herausstellung von Werken fokussierte, die als literarisch wertvoll galten. Um aber nicht langweilig zu werden, wurde – ähnlich wie im Fall des Merkur – beschlossen, die Zeitschrift auch mit gelegentlichen Verrissen gewissermaßen zu veredeln, sodass man als Leser nicht schon im Vorhinein wissen konnte, in welche Richtung die einzelnen Buchbesprechungen gehen würden. Überdies erwiesen sich im Lauf der Zeit auch die positiven Charakteristiken in ihrer Weitschweifigkeit und Komplexität bei der überlebensnotwendigen Bekämpfung innerliterarischen Orientierungsverlustes als Stolperstein. Die Brüder Schlegel befürchteten nämlich offensichtlich, dass schon eine einseitige Konzentration auf eine Positivkritik der wenigen neuen, literarisch wertvollen Werke den Rahmen des Journals würde sprengen müssen. Jedenfalls macht F. Schlegel in einem Brief an seinen Bruder vom 25. Februar 1799 deutlich, dass es bei der Ausrichtung auf qualitativ hochwertige Werke bleiben solle, man jedoch anstelle der umfangreichen Charakteristiken einzelner Werke verstärkt auch auf Kurznachrichten setzen wolle. Diese Kurzmeldungen reichten völlig aus, um die Leser auf anspruchsvolle Neuveröffentlichungen überhaupt aufmerksam zu machen: Ich habe die Idee wir geben unter dem Titel Notizen was der Titel sagt, ganz kurze Nachrichten von dem Neusten in Kunst und Wissenschaft in Poesie und Litteratur; etwa wie wir einer an den andern von einem Buche schreiben würden, was dieser noch nicht kennt. Charakterisiren kann man nicht alles, und was mich betrifft, so ist oft die beste Recension eines Buchs, die erste Notiz die man einem unterrichteten und gleich denkenden Freunde giebt. Vorzüglich gäben wir Nachricht von neuen Büchern aber nur von sehr ausgezeichneten.564

563 564

F. Schlegel: „An August Wilhelm Schlegel [31.10.1797]“, S. 32. F. Schlegel: „An August Wilhelm Schlegel [25.2.1799]“, S. 234.

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Im Athenäum selbst erläutert A.W. Schlegel auch konkreter, unter welchen Bedingungen ein literarisches Werk eingedenk der übersprudelnden Produktion von Informationen im Literatursystem überhaupt mit positiver kritischer Beachtung rechnen könne: Der Raum, den diese Blätter von Zeit zu Zeit im Athenaeum einnehmen werden, erlaubt unter der Menge der Erscheinungen nur wenige auszuheben. Und wozu auch Vollständigkeit in Ansehung der litterarischen Makulatur und – All such reading, as was never read, womit gerade dieses Fach so unselig überladen ist? Ich werde nur das zu karakterisiren suchen, was eine Art von Leben hat, entweder durch seine ausgebreitete Popularität oder durch seien innern Werth. Selbst über die bedeutendsten Werke behalte ich mir vor, schweigen zu dürfen, wenn ihr Eindruck mich nicht auf den Pfad eigenthümlicher Betrachtungen geleitet hat.565

Auffallend an diesem Passus ist, dass erneut ein Verzicht auf eine Totalerfassung der aktuellen Buchproduktion artikuliert wird und überdies die Auswahl der zur ausführlicheren Rezension, also zur Charakteristik zugelassenen Werke einerseits an bewusstseinsförmige, aber andererseits auch an genuin soziale Selektionskriterien gebunden wird. Sowohl die ‚Popularität‘ und ‚Bedeutung‘ einer Schrift, d.h. die bereits bestehende, auf der Kommunikationsebene im Zusammenspiel interagierender Akteure im Sinnmedium produzierte und damit über das Individuum des einzelnen Lesers hinausweisende Reputation, als auch die psychische Wahrnehmung des involvierten Rezensenten, die den Eindruck der Lebendigkeit vermittelt, werden in die Überlegungen einbezogen, wobei allerdings letztlich dem Subjektivismus des singulären Bewusstseins gegenüber der kommunikativ konstruierten sozialen Bedeutung eines Werkes und seines Verfassers Priorität eingeräumt wird. Damit bestätigt der Umgang mit der als Problem erkannten Steigerung des Informationsvolumens nochmals die Hinwendung der Schlegelbrüder weg von einer regelpoetisch verfassten hin zu einer stärker pluralistisch ausgerichteten Konzeption von Literaturkritik. II.4.4 Zum Umgang mit Konfliktsystemen im Athenäum Schon in den Jahren vor der Herausgabe des Athenäum war sich F. Schlegel vollkommen darüber im Klaren, dass literaturkritische Äußerungen generell mit einem hohen Konfliktpotenzial befrachtet und insofern auf der sozialen Ebene der Kommunikation diffizil zu handhaben sind. In den Notizheften etwa wird die Literaturkritik wiederholt als ihrem Wesen nach „polemisch“566 und Streit erregend charakterisiert, ohne dass indes an gleicher Stelle eine ausführlichere Begründung für diese Betrachtung gegeben würde. Allerdings findet sich im von uns gesichteten Textkorpus aus jener Zeit eine Anzahl von Reflexionen, in denen vor allem F. Schlegel immer wieder

565 566

A.W. Schlegel: „Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur [1798]“, S. 148. F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 138 u. S. 168.

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den Versuch macht, die Polemogenität literaturkritischer Äußerungen theoretisch angemessen zu erfassen, wobei eine deutliche Zäsur im Denken der Schlegelbrüder sichtbar wird, die für die Publikationsgeschichte des Athenäum von zentraler Bedeutung ist und sich in den programmatischen Überlegungen widerspiegelt. Zunächst einmal spricht es für F. Schlegels gesellschaftsanalytischen Realismus, also seinen Scharfblick für die realen Verhältnisse sowie die auf dem Felde der Literaturkritik geltenden Erwartungserwartungen bzw. Spielregeln, dass er in einem Brief an seinen Bruder vom 31. Oktober 1797 zu dem Schluss gelangt, es sei trotz der prinzipiell häretischen Ausrichtung des Athenäum, die angesichts der relativen Jugend der Schlegels und ihrer damals noch inferioren Stellungen im Feld der Kulturproduktion wenig überrascht, nicht geboten, „allen andern schlechten aber geltenden krit.[ischen] Journalen offen Krieg an[zu]kündigen“, denn dazu gebreche es ihnen „an Zeit und Autorität, und Connexion“567, sprich an den strategisch nötigen symbolischen sowie sozialen Kapitalressourcen für ein dermaßen herausforderndes und provokantes Auftreten, das mit deutlich erhöhtem Ablehnungsrisiko einherging. Überhaupt sieht F. Schlegel zu diesem frühen Zeitpunkt die inhärente Tendenz der Literaturkritik zum Disput noch durchaus negativ. So unterstellt er in der 245. Notiz der Literatur-Fragmente, die zeitgenössische Literaturkritik befinde sich auf einem insgesamt erschreckend niedrigen Niveau; sie verfahre weitgehend distanzlos gegenüber den verhandelten Gegenständen und lasse sich lediglich als „deklamierender Enthusiasm“ bezeichnen, „der s.[ich] über die einzelnen Stellen vernehmen läßt und ignoranter Witz der polemisch über das Ganze herfällt.“568 Während der jüngere Schlegel nun der Wissenschaft aufgrund ihres hausinternen Zwanges zur logisch nachvollziehbaren Anordnung der Erkenntnisse ein gewisses Maß an kontroverser und mit Überzeugungskraft geführter Debatte durchaus zubilligt, sieht er auf dem Gebiet der Literaturkritik keine im gleichen Maße gegebene Notwendigkeit der verstärkten Auseinandersetzung mit konträren Meinungen: Ists ums System zu thun, so muß man nie aufhören zu polemisiren*; ists um die Form zu thun, so muß man ohne alle Schonung der Intension nach verfahren, wie im ersten ohne Rücksicht auf Extension. – Ists aber bloß litterärische Rechtssache (sich oder sein Urtheil zu vertheidigen,) so muß man erstlich nicht mit Jedermann streiten (wie einer zur Verteidigung eines Systems muß) noch auch immerfort (zur Ehre Gottes – oder um nichts und wieder nichts.)569

Offensichtlich bestand für F. Schlegel zu diesem frühen Zeitpunkt (aber auch später noch) trotz ausgeprägter methodischer Verwandtschaft doch ein durchaus wesensmäßiger, den bereits bestehenden Grad der AusdifferenzieF. Schlegel: „An August Wilhelm Schlegel [31.10.1797]“, S. 32. F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 104. 569 Ebd., S. 126. 567 568

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rung der Gesellschaft in funktionale Teilsysteme reflektierender Unterschied zwischen Wissenschaft bzw. philosophischer Ästhetik und Literaturkritik, die als praktische „Lehre von den ausübenden Mächten des Schönen, dem Genie und dem Geschmack“ verstanden wurde, aber „eigentlich nur ein Anfang der Aesthetik“, also eine Art Zulieferer für die Philosophie des Schönen sei und damit nicht für sich in Anspruch nehmen könne, im Vollsinne ein „eigner Theil und eigne Wißenschaft der reinen Aesthetik“570 zu sein. Diese Differenz erweist sich vor allem darin, dass geschmacksbasierte, gewissermaßen auf vorwissenschaftlicher Intuition aufbauende literaturkritische Werturteile im Kontrast zur genuinen Erforschung universaler wissenschaftlicher Wahrheit keiner vergleichbaren objektiv-systematischen, in sich logisch kohärenten Begründung nebst entsprechender Fachterminologie bedürfen und daher auch kein in vergleichbarem Ausmaß argumentativ geführter Streit um ihre Ergebnisse und Begrifflichkeiten entbrennen kann bzw. muss.571 Der jüngere, um eine plausible Theorie der Literaturkritik ringende Schlegel reiht sich also hier in die Riege derjenigen ein, die der altbekannten Maxime anhängen, über Geschmack lasse sich nicht auf rationale Weise streiten. Der Literaturkritik, die in der Fragmentsammlung ‚Von der Schönheit in der Dichtkunst III‘ aus dem Jahr 1795 als „Theorie des Geschmacks“ definiert und noch stark im Gefolge alteuropäischer Auffassungen gelehrter Kommunikation als „Wißenschaft von den subjektiven Bedingungen des Geschmacks“ aufgefasst wird, die „von Empfänglichkeit, Sinn, Reizbarkeit, Urtheilskraft“ sowie von der „Bildung des allgemeinen und besondern Geschmacks“572 handle, kommt also zu diesem Zeitpunkt gegenüber der philosophischen Ästhetik, deren Mission in der Eruierung der ehernen Gesetze der Produktion interessanter Literatur gesehen wurde, eine inferiore Stellung auf dem intermediären Niveau einer Art Hilfswissenschaft zu, die sich der bloß praktischen „Anwendung der Gesetze“573 verdinge und in deren Rahmen kommunikativ ausgetragene Konflikte für weitgehend unnötig und parasitär gehalten wurden. Überdies ging F. Schlegel, wie im 665. Literaturfragment deutlich wird, zu jenem Zeitpunkt auch noch von der er-

F. Schlegel: „Von der Schönheit in der Dichtkunst III [1795]“, S. 12. Auch in den ersten Jahren nach der Einstellung des Athenäum war F. Schlegel immer noch der Überzeugung, dass die äußerst theorielastige wissenschaftliche Philosophie mit ihrem komplexen Begriffskonstruktionen ihrem Wesen nach polemogener sei als die Dichtkunst. So stellt er im Rahmen seiner literaturhistorischen Forschungen fest: „Zudem ist die Philosophie durch ihre eigentümlich abstrakte Form und ihre mannigfaltige Terminologie mit Unverständlichkeit begleitet und Mißverständnissen ausgesetzt, dabei noch ihrer verschiedenartigen Ansichten wegen durchgehend mit Polemik durchwebt. Die Poesie ist ohnehin ungleich objektiver und klarer.“ Vgl. F. Schlegel: „Geschichte der europäischen Literatur [1803/04]“, S. 14. 572 F. Schlegel: „Von der Schönheit in der Dichtkunst III [1795]“, S. 8. 573 Ebd., S. 12. 570 571

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wartungsstrukturell verankerten Allgemeinverbindlichkeit der bekannten konfliktentschärfenden Trennung von Autor und Werk aus, die in gewisser Hinsicht dem literaturkritischen Diskurs die polemische Spitze nimmt: „[Eigentlicher] Gegenstand χρ[Kritik]“, so führt Schlegel an dieser Stelle aus, „sind nur Werke und Systeme v[on] Werken, nicht Menschen.“574 Dass in den Journalen trotzdem häufig in recht rabiater Weise Literaturkritik vollzogen wurde – schon allein deshalb, weil das auf dem Spiel stehende (spezifisch literarische) symbolische Kapital knapp war und darum mit harten Bandagen gewetteifert werden musste – erscheint Schlegel in diesem frühen Stadium der Programmfindung offensichtlich noch als höherstufige Form der Energieverschwendung, was auch anhand einer kritischen Bestandsaufnahme der zeitgenössischen literaturkritischen Praxis im fünften Lyceums-Fragment von 1797 deutlich wird, indem es zur Frage nach der Notwendigkeit bissiger, kontrovers geführter Wortgefechte heißt: „Manches kritische Journal hat den Fehler, welcher Mozarts Musik so häufig vorgeworfen wird: einen zuweilen unmäßigen Gebrauch der Blasinstrumente.“575 Dann allerdings erfolgte eine im Ergebnis radikale Revision der anfänglichen, noch unfertigen und nicht wirklich welterprobten literaturkritischen Programmatik im Blick auf den Umgang mit Konflikten und eine Hinwendung zu bewusster, ja planvoller Provokation, die sich wohl nicht zuletzt der entschieden häretischen Strategie sowie dem zunehmenden Erfahrungsschatz des Brüderpaars als Herausgeber eines kritischen Journals verdankte. Eine jener Erfahrungen bestand ganz offensichtlich darin, dass sich das explodierende Informationsvolumen innerhalb des Literatursystems auch auf die literaturkritische Selbstreflexionsinstanz der literarischen Kommunikation selbst in massiver Weise auszuwirken begann, und zwar auf eine Art, die jenseits ihrer bloßen Entstehung im Kontext evolutionärer Notwendigkeit liegt. Die vornehm zurückhaltende Einstellung gegenüber literaturkritischer Polemik ließ sich nämlich keineswegs aufrechterhalten, da die ständig verbesserte Technologie des Buchdrucks auch eine ungeheure Ausweitung der literaturkritischen Diskursproduktion heraufbeschwor. Differenziert wahrgenommen werden konnte man als Neueinsteiger im literaturkritischen Geschäft schon zu diesem Zeitpunkt nur noch, wenn man beim Versuch erfolgreich war, sich von der Masse der übrigen Zeitschriften und Journale abzusetzen (immerhin stieg die Gesamtzahl der erscheinenden Journale im Zeitraum von 1700 bis 1790 von 58 auf 1.225576; zwischen 1766 und 1790 entstanden insgesamt mehr als 2.000 neue, teils kurzlebige Zeitschriften, von denen sich ein Großteil im engeren Sinne literaturkritisch betätigte577). Die Journale und damit die Rezensenten selbst, deren Anzahl Johann Georg

F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 141. F. Schlegel: „Lyceums-Fragmente [1797]“, S. 147. 576 Siehe E. Lorenz: Die Entwicklung des deutschen Zeitschriftenwesens. Zit. n. H.D. Fischer: „Die Zeitschrift im Kommunikationssystem“, S. 20. 577 Siehe J. Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen. 1. Bd., S. 115. 574 575

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Heinzmann als zeitgenössischer Beobachter immerhin auf stolze 15.000 taxierte578, sahen sich also einem gehörigen Selektionsdruck ausgesetzt, der mit dem, der auf den Autoren selbst lastete, durchaus vergleichbar war und daher ähnliche kommunikative Effekte zeitigen musste. Zeitschriften, die nicht ein gewisses Minimum an programmatischer sowie praktischer Viabilität in der Auseinandersetzung mit Konkurrenzmodellen aufzubringen verstanden, hatten bei dieser informationstechnisch explosiven Gemengelage natürlich nur geringe Überlebenschancen. Nichts war schlimmer für ein neues Zeitschriftenprojekt, als die Aussicht darauf, von anderen Zeitschriften unbeachtet zu bleiben, also gar nicht erst zur Rezension der Rezension auserwählt und folglich von der Leserschaft ignoriert zu werden. Um genau dieser Gefahr vorzubeugen, hätten sich die Herausgeber des Athenäum dazu entschlossen, so A.W. Schlegel in einem Brief vom 18. Dezember 1799, in dem er auf die Anfangsphase des brüderlichen Zeitschriftenprojekts zurückblickt, in ihrer Zeitschrift auf offene Brüskierung der Zeitgenossen zu setzen, auch wenn dies unvermeidlich zu konfliktsystemischer Kommunikation hatte führen müssen: [W]ir haben auf’s Bestimmteste vorausgesehn, welchen Sturm wir erregten. Der Umfang und die Heftigkeit der Opposizion beweist uns eben, dass wir unsern Zweck erreicht haben. Wir konnten nichts befürchten, als unter dem Wust gleichgültiger Schriften unbemerkt zu bleiben. Aber man haßt uns – gut! – man schimpft auf uns – desto besser! – man schlägt Kreuze vor uns wie vor Lästerern, Jakobinern, Sittenverderbern – Gott sey gepriesen! daß gelingt über alle Erwartung.579

In diesem Kontext sich hochschraubenden innerliterarischen Selektionsdrucks ist es dann auch nicht verwunderlich, dass F. Schlegel in der Planungsphase des Athenäum seinem Bruder in einem Brief vom 28. November 1797 als Titel für die Zeitschrift u.a. auch „Herkules“580 vorgeschlagen hatte, wohl weil die Keulenschwingerei dieses muskelbewehrten Helden der klassischen griechischen Mythologie einerseits das Element der gezielten Provokation, aber auch das der gleichsam evolutionären Durchsetzungskraft und Vitalität gegenüber der Konkurrenz symbolhaft zum Ausdruck brachte.581 Schon in dem bereits erwähnten Brief an Friedrich Vieweg vom 8. November 1797 hatte der ältere Schlegel angekündigt, man wolle „die möglichste Freymüthigkeit und Liberalität“ im geplanten Athenäum an den Tag legen und werde auch nicht davor zurückschrecken, „Kritiken über einzelne Siehe J.G. Heinzmann: Appel an meine Nation, S. 386. A.W. Schlegel: „A.W. Schlegel an Huber [28.12.1799]“, S. 232. 580 F. Schlegel: „An August Wilhelm und Caroline Schlegel [28.11.1797]“, S. 43. 581 Tatsächlich bezeichnete Aloys Hirt die Gebrüder Schlegel auch ohne genaueres Wissen um deren Titelsuche in einem Brief an Böttiger als „Herculisken“, deren „Impudenz [...] jedem unerträglich“ sei. Vgl. A. Hirt: „Hirt an Böttiger [18.19.1798]“, S. 120. 578 579

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Werke durch Schärfe der Untersuchung, und wo es nöthig wäre, durch nicht schonende Polemik zu würzen“.582 Auch in der ‚Vorerinnerung‘ zur Erstausgabe des Athenäum wird schließlich ohne Umschweife klar gemacht, dass man „im Vortrage nach der freyesten Mittheilung“583 strebe und die im Journal vorgenommenen öffentlichen Beurteilungen literarischer Werke auch Negativkritik direkt und ungeschminkt zum Ausdruck bringen sollten. Begründet wird die Absicht der schonungslosen Verbreitung abschätziger Werturteile zwar im Rekurs auf die Notwendigkeit der Vermittlung auch unangenehmer Wahrheiten und erfährt insofern eine scheinbare Anbindung an das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium der Wissenschaft, die an die Pionierzeiten der modernen Literaturkritik im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert erinnert. Allerdings basiert die symphilosophische Konzeption der Gebrüder Schlegel auf dem bereits oben erwähnten pluralistischen Wahrheitsbegriff, der im Gefolge der neuartigen Epistemologie Kants durchaus schon konstruktivistische Schattierungen aufweist und insofern, als er ein symbolischen Produkten eher gerecht werdendes breiteres Spektrum an (durchaus auch widersprüchlichen) Konkretionen zulässt, leichter in das Procedere literarischen Kommunizierens integrierbar war als stärker naturwissenschaftlich geprägte, strikt auf experimentelle Verifikation theoretischer Hypothesen aufbauende Wahrheitsauffassungen: Um uns jener näher zu bringen, hielten wir eine Verbrüderung der Kenntnisse und Fertigkeiten, um welche sich ein jeder von uns an seinem Theile bewirbt, nicht für unnütz. Bey dieser leitet uns der gemeinschaftliche Grundsatz, was uns für Wahrheit gilt, niemals aus Rücksichten nur halb zu sagen.584

Literaturkritische Meinungsvielfalt und unumwundene Äußerung auch von Negativkritik werden also durchaus ins Kalkül gezogen, ja aktiv eingefordert und eben nicht auf dem Altar einer einzig möglichen, absolut unteilbaren Wahrheit geopfert, der sich alle an der literarischen Kommunikation Beteiligten unter Zurückstellung ursprünglich divergierender Ansichten beugen müssten. Mit anderen Worten, das Wahrheitsmedium wird nicht zur Einebnung konfliktträchtiger Dissense eingesetzt, wie noch in der ausgehenden alteuropäischen Epoche bei Thomasius der Fall. Keineswegs soll das Wissen um die Möglichkeit kontradiktorischer Bewertungen etwa mit größtmöglicher Vorsicht bei der Hervorbringung literaturkritischer Verdikte beantwortet werden; eben gerade weil die Athenäum-Rezensionen „nichts weiter als Privatansichten eines in und mit der Litteratur lebenden“585 darstellten, sei es den Rezensenten gestattet, literaturkritische Wertungsakte unter Nennung ihrer Verfassernamen ungeschönt und ohne die umständlichen und abgenutzten, ja einschläfernden und damit die Unterhaltungsfunktion des A.W. Schlegel: Brief an Friedrich Vieweg [8.11.1797], S. 172. A.W. Schlegel: „Vorerinnerung [1798]“, S. III. 584 Ebd., S. III. 585 A.W. Schlegel: „Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur [1798]“, S. 147f. 582 583

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Literatursystems torpedierenden Rituale galanter Kommunikation mit ihrem Gebot des guten Tons in den literarischen Diskurs einzubringen: Seine Meynung glaubt er [der Rezensent, D.B.] eben deswegen um so unbefangener und entschiedener äußern zu dürfen, etwa wie in einem zwanglosen Gespräche. Ein jedesmal vorangeschicktes: ‚ich sollte vermeynen‘ würde nur lästig und langweilig seyn, ohne an der Sache etwas zu verändern [...].586

Effektiv könne die Literaturkritik dabei nur sein, so F. Schlegel im Jahr 1800, wenn die Rezensenten den hierfür nötigen Mut und die Klarheit im Denken aufbrächten: Sollte es nicht der Anfang aller Erkenntnis sein, das Gute und das Böse zu unterscheiden? So ist wenigstens mein Glaube; und wenn ich sehe, daß ein Mann in seiner eigentümlichen Sphäre sich nur mit einer leichten und oberflächlichen Toleranz begnügt, und nicht das Herz hat, irgend etwas Ausgezeichnetes unbedingt zu verwerfen und als böses Prinzip zu setzen, so muß ich meiner Denkart gemäß denken, er sei noch eben nicht im klaren, wenn er auch, was die äußere Erscheinung betrifft, vor lauter Klarheit leuchten sollte.587

Noch rigoroser wird dann diese Programmatik unbedingter Offenheit bei der literaturkritischen Wertung ein Jahr später in der zum ‚Abschluß des Lessing-Aufsatzes‘ zählenden ‚Eisenfeile‘ auf den Punkt gebracht. Die Literaturkritik erscheint an dieser Stelle als eine künstlerische Selbstbeobachtungsinstanz, die – als Ganzes betrachtet – in ihrer überpersönlichen Totalität die symbolische Benennungsmacht monopolisiert und die Fähigkeit besitzt, durch öffentliche Wertungsakte literarische Existenzen zu begründen oder zu beenden. Wer literarische Werke minderer Qualität veröffentliche, dürfe vom Athenäum keine Schonung erwarten, denn, so F. Schlegel in aggressivem Ton, der erneut den Nexus zwischen sozialer Konstruktion literarischer Reputation und symbolischer Gewalt verdeutlicht: „Die Kritik ist die Kunst, die Scheinlebendigen in der Literatur zu töten.“588 Ebd., S. 147f. F. Schlegel: „Abschluß des Lessing-Aufsatzes [1801]“, S. 411. 588 Ebd., S. 404. Diese Dimension symbolischer Gewalt zeigt sich denn auch in anderen Publikationen, die aufs Athenäum bezogen sind. In Anspielung auf einen zeitgenössischen politischen Skandal etwa schreibt Daniel Jenisch im Rekurs auf F. Schlegels Positionierungsversuche auf dem literarischen Feld in ironischer Überspitzung: „Die Göttinnen der Philosophie und des Geschmacks wollen die beyden großen Revoluzionsmänner in ihren heilige Schuz nehmen, damit sie nicht [...] das traurige Schicksal der französischen Rastadter Congreß=Gesandten haben, und von anonym=verkappten kritischen Szekler=Husaren freventlich gemordet werden!“ (D. Jenisch: „Vollständige Geschichte des philosophisch= litterarischen Congresses [1799]“, S. 366.) Ohne seine Identität preiszugeben, unterstellt Jenisch an anderer Stelle auch, die Gebrüder Schlegel gäben ihrer literaturkritischen Programmatik in offensichtlich dogmatischer Absicht den An586 587

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Angesichts solcher durchaus drastischer Formulierungen, die in einem Brief F. Schlegels vom 22. Dezember 1798 eine Fortsetzung erfuhren, in dem angelegentlich eines anstehenden neuen Vertragswerkes mit dem Verleger Heinrich Frölich, der das Verlagshaus Vieweg übernommen hatte, nur halb im Scherz davon die Rede ist, „Wielands litter.[arischen] Tod zu einem Punkt des Contracts zu machen“589, und eingedenk einer so eklatant auf weitgehende Rücksichtslosigkeit bei der Bewertung literarischer Werke setzenden literaturkritischen Programmatik, die Hans Gerhard Ziegler als „eine Art Kampfansage an alle, deren Ziele von denen der Brüder Schlegel abwichen“590, wertet, verwundert es nicht, dass es im Kontext der Resonanzen auf die Veröffentlichung der Athenäum-Hefte zu Auseinandersetzungen kam, die mit großer Vehemenz und Erbitterung meist auf dem Briefwege geführt wurden. Dabei kam noch erschwerend hinzu, dass sich A.W. Schlegel laut Caroline Schlegel in einem Brief vom 24. November 1799 über die „‚Grundsätze‘, die den Schriftsteller von der Person so glücklich trennen, hinwegzugehn“591 entschied, er also die entkrampfende Trennung von Autor und Werk, die ja längst von den auflagenstärksten zeitgenössischen Journalen kommunikationshygienisch vorausgesetzt wurde und offensichtlich für die Mehrheit typischer Diskursteilnehmer – wie Hirt, Böttiger, Huber oder Kotzebue – längst zur unhinterfragten normativen Selbstverständlichkeit, sprich zur Doxa geworden war592, nicht länger akzeptieren mochte, was die

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schein, ein „Evangelium“ zu sein, „welches diese Herren mit dem Messer an die Gurgel ihren Zeitgenossen verkündigen.“ (D. Jenisch: „Das Athenäum [1799]“, S. 44.) Der Kunsthistoriker und Archäologe Aloys Hirt vergleicht das Athenäum gar mit den französischen Revolutionsgerichten aus den Zeiten der Terrorherrschaft Robespierres und hebt hervor, die Schlegelbrüder würden darin rücksichtslos „citiren, verurtheln, abschlachten oder vergöttern“ und dabei „ihrem neuen Gotte zugleich blutige Opfer [...] bringen“. A. Hirt: „Ueber die Charakteristik [1798]“, S. 441. F. Schlegel: „An Caroline und August Wilhelm Schlegel [22.12.1798]“, S. 218. H.G. Ziegler: Friedrich Schlegel als Zeitschriften-Herausgeber, S. 106. C. Schlegel: „An Huber [24.-27.11.1799]“, S. 583f. So schreibt etwa auch Aloys Hirt im Rahmen einer im Athenäum und anderen Zeitschriften geführten Debatte um ästhetische Prinzipien in einem Brief an Böttiger: „Daß ich wieder unter die lieblichen Pfoten der H. Schlegel gefallen, erfuhr ich vor kurzem [...]. Ich habe auch bereits die Antwort darauf geschrieben. Ich werde sie Ihnen zuschicken, und wenn Sie und Wieland nichts dagegen haben werden, so werde ich Sie bitten, sie im Merkur abdrucken zu lassen. Es versteht sich, daß ich mehr mit der Sache, als mit den Herrn Rezensenten zu thun habe.“ (A. Hirt: „Hirt an Böttiger [18.9.1798]“, S. 120). Auch Ludwig Ferdinand Huber erklärt im Zuge der Beilegung einer Auseinandersetzung mit Kotzebue, man dürfe die „Werke des Schriftstellers und die Person des Menschen [...] im kritischen Urteil nicht vermischen“. Er habe nicht die Person Kotzebues angreifen wollen,

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konfliktsystemische Brisanz der im Athenäum veröffentlichten Buchbesprechungen nochmals spürbar verstärkte. So konstatiert einmal mehr F. Schlegel in einem Brief vom 20. Oktober 1798 an Caroline Schlegel im Hinblick auf die vom Athenäum ausgelösten Publikumsreaktionen: „Hier betrachtet man mich als advocatum Diaboli. Ueberhaupt ist das Geschrey groß über uns, und unsre Frechheit.“593 Wir greifen hier aus dem auch von A.W. Schlegel beobachteten „großen Choral des Zeters und Wehes“594, der über das Athenäum hereinbrach, die Spuren mehrerer Diskursstränge heraus, die unseres Erachtens hinsichtlich der konfliktsystemischen Resonanz auf das Zeitschriftenprojekt der Gebrüder Schlegel als besonders repräsentativ gelten können und insofern einen tieferen Einblick in zugrundeliegende soziale Prozesse ermöglichen, so z.B. die Reaktionen der Hauptvertreter der Weimarer Klassik, sprich Goethe und Schiller, oder der von der ablehnenden Besprechung des Rezensenten Ludwig Ferdinand Huber in der damals äußerst bedeutenden ALZ vom Novem-

sondern „sich durchaus bloss auf den Schriftsteller“ bezogen. L.F. Huber: „An Hn. A. v. Kotzebue etc. in Wien [7.11.1798]“, Sp. 1318. 593 F. Schlegel: „An Caroline Schlegel [20.10.1798]“, S. 184. 594 A.W. Schlegel: „A.W. Schlegel an Huber [28.12.1799]“, S. 232. Als Beispiel für die ablehnenden Reaktionen auf das Athenäum sei etwa Johann Heinrich Voß genannt, der den Schlegel-Kreis in einem Brief an Friedrich August Eschen zur Manifestation eines „literarischen Freibeuternestes“ erklärt, das vom „nichtigen und niedrig handelnden Schlegel“ beherrscht werde. (Vgl. J.H. Voß: Brief an Friedrich August Eschen [28.2.1798], S. 373.) Paul Emil Thieriot bemerkt mit Blick auf F. Schlegel, man müsse sich „wundern, dass man diesen ärgerlichen Cyniker noch immer frei herumgehn lässt (sogar in Athenäen und Lyceen)“, habe er doch „[m]ehrere beleidigt, als er selbst wollen kann“. (P.E. Thieriot: „Berichtigung und Rüge“, Sp. 1535.) Der Regelpoetiker und Aufklärer Aloys Hirt, der sich auch als Anhänger gelehrtenrepublikanischer Vorstellungen zu erkennen gibt, betont, die Schlegelbrüder hätten die Eigenschaft, „etwas derb zu klingen“ und bezeichnet sie als „gestrenge Richter“, deren Zeitschrift einem „tribunal révolutionaire“ gleiche, dem sie mit „scheeler Herschermiene“ vorsäßen, um ihre „Orakelsprüche“ zu verkünden. (Vgl. A. Hirt: „Ueber die Charakteristik [1798]“, S. 440f.) Jean Paul unterstreicht, der Hauptkritikpunkt am Athenäum sei „der unmoralische, lieblose, oft freche Ton“ der Gebrüder Schlegel. (Zit. n. E. Berend: „Jean Paul und die Schlegel“, S. 85.) Ein anonymer Rezensent schließlich tituliert die Schlegelbrüder als „Schreckensmänner“, die sich „[k]ritische Unverschämtheiten“ leisteten und „um so stärker zum Widerspruch reizen, je häufiger und dreister sie wiederholt wurden.“ Anonymus: „Neunzehnter Brief [1806]“, S. 171.

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ber 1799 ausgelöste Schlagabtausch mit dem Schlegel-Kreis, in den sich auch Caroline Schlegel einschaltete.595 Betrachtet man die auf das Athenäum bezogenen konfliktsystemischen Kommunikate in ihrer Gesamtheit, so fällt zunächst auf, dass gemäß der frühromantischen Programmatik der Gebrüder Schlegel moralische Erwägungen im Sinne moralisch übercodierter Kommunikation, die ja ohnehin als „polemogen, streiterzeugend und äußerst gewaltnah“596 zu charakterisieren ist, als Urteilskriterium für literaturkritische Bewertungen kategorisch ausgeschlossen werden – selbstverständlich primär, um eine deeskalierende Wirkung zu erzielen. So hält A.W. Schlegel Huber in seinem in ziemlich herablassendem Tonfall verfassten Brief vom 28. Dezember 1799 eine „beständige Beimischung der Moralität in das litterarische Gebiet“597 vor und unterstellt, Huber habe das Athenäum „nicht von der kritischen, sondern von der Moralischen Seite angreifen“598 wollen. Literarische Werke sollten also anscheinend in ihrer genuin sprachkünstlerischen Qualität allein, jedenfalls nicht unter sittlichen Gesichtspunkten beurteilt werden, was letztlich auch impliziert, dass das literarisch Wertvolle notfalls auch untugendhaft und moralisch verwerflich sein darf. Damit bekräftigt sich einmal mehr die Bedeutung der Romantiker für den Prozess der Autonomisierung des modernen Literatursystems im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Umstellung von Stratifikation auf funktionale Differenzierung. Jenseits der Ebene moralischer Kommunikation indessen wird in den vom Athenäum provozierten Reflexen immer wieder primär auf die kommunikationspragmatische Geltung rekurriert, die den unterschiedlichen Kapitaltypen im Kontext der kritischen Bewertung literarischer Werke zukomme bzw. idealiter zukommen sollte. Was eine denkbare Verzerrung der eigentümlichen Logik des literaturkritischen Diskurses durch kapitalförmige Interessen angeht, stößt man schon in der frühen 77. Notiz der LiteraturFragmente F. Schlegels auf das auf die alltägliche Rezensionspraxis Bezug nehmende, zwei Dimensionen der Kapitalakkumulation unterscheidende Desiderat: „Künstler, Kenner, Liebhaber – alle müßten aus reinem höhern Cynismus handeln. Nicht Ehre, Gold, das Publ.[ikum] lenken wollen, nützen, ergötzen wollen“.599 Im 67. Abschnitt der wissenschaftstheoretischen Skizze ‚Zur Philologie I‘ mahnt der jüngere Schlegel in Ergänzung der vorigen Sentenz an, das Kritikergeschäft müsse „aus Liebe zur Sache, nicht aus Eitelkeit oder Gewinnsucht“600, also finanziell vollkommen interesselos

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Wesentlich detaillierte Darstellungen der Auseinandersetzung rund ums Athenäum finden sich bei H. Härtl: „‚Athenaeum‘-Polemiken“, S. 246-357 sowie bei A. Wistoff: Die deutsche Romantik in der öffentlichen Literaturkritik, S. 97-103. C. Baraldi/G. Corsi/E. Esposito (Hg.): GLU, S. 119. A.W. Schlegel: „A.W. Schlegel an Huber [28.12.1799]“, S. 232. Ebd., S. 233. F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 91. F. Schlegel: „Zur Philologie I [1797]“, S. 40.

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betrieben werden. Die in diesen Aussagen laut werdende programmatische Forderung nach einer Ersetzung des rein persönlichen Lechzens nach systemfremden ökonomischen und systemeigenen symbolischen Profiten durch die überpersönlichen und somit rein sozialen Funktionen der Unterhaltung und Führung der Leserschaft im Angesicht einer beständigen Expansion der Buchproduktion zeugen von der (wohl berechtigten) Angst F. Schlegels vor der Herausbildung von Zirkeln statuspositionaler Differenz im Kontext literaturkritischer Selbstbeobachtung literarischer Kommunikation, die nicht in den Ruch geraten sollte, lediglich persönliche, rein egoistische Wünsche zu befriedigen. Bemerkenswert ist, dass diese Statusdifferenzen in Rechnung stellende Furcht sogar so ausgeprägt war, dass trotz seines spannungslösenden Legitimationspotenzials selbst das spezifisch literarische symbolische Kapital in seiner Eigenschaft als persönlich zurechenbares, immaterielles Besitztum als prekär aufgefasst wird und gar aus dem Vollzug literaturkritischer Praxis herausgehalten werden soll – eine Gedanke, der sich selbstverständlich nicht verwirklichen ließ, da aus den erwähnten Gründen im Literatursystem auf das Erwartungsstrukturen generierende und damit Ordnung stiftende Medium der Reputation zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr verzichtet werden konnte. Im ersten Heft des Athenäum widmet sich dann auch A.W. Schlegel, der als Professor über ein vom Erfolg des brüderlichen Zeitschriftenprojekts unabhängiges Einkommen verfügte, der Problematik kapitalförmiger Einflussnahme auf den literaturkritischen Spezialdiskurs. Dabei räumt er allerdings der Negierung ökonomischer Profite den Vorrang gegenüber der symbolischen Ebene ein, die weitgehend unerwähnt bleibt. Den Nomos des ökonomischen Feldes und dessen spezifische Logik, die in der tautologischen Formel ‚Geschäft ist Geschäft‘ kondensiert, erklärt er im Geltungsbereich literarischer Kommunikation kurzerhand für außer Kraft gesetzt und bricht damit eine Lanze für die Autonomie der Literatur und ihren literaturkritischen Selbstreflexionsmodus. Die ausführliche Charakteristik literarischer Werke soll mit gewissermaßen zur Schau gestellter Leichtigkeit unterhalten und sich dabei den heteronomen Reizen der Wirtschaft verschließen: Der Genuß schöner Geisteswerke darf nie ein Geschäft seyn; sie treffend charakterisieren, ist ein sehr schweres, aber es muß nicht als solches erscheinen; und wie ist dies anders zu vermeiden als dadurch, daß es nach Lust und Liebe, und losgesprochen von dem Zwange äußerer Verhältnisse, getrieben wird?601

Es fällt auf, dass sich die Schlegelbrüder kaum dem zunächst scheinbar nahe liegenden Vorwurf der Profitgier ausgesetzt sahen und man ihnen ihre auf ökonomische Interesselosigkeit gemünzte literaturkritische Programmatik wohl durchaus abnahm. Tatsächlich wäre es auch hochgradig diffizil geworden, dem Brüderpaar glaubhaft eine anrüchige Geldgier zu unterstellen, denn die harten ökonomischen Fakten sprechen in dieser Hinsicht eine deut601

A.W. Schlegel: „Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur [1798]“, S. 146f.

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liche Sprache: Hatte A.W. Schlegel für seine Horen-Beiträge noch vier und für seine Rezensionen in der hochetablierten ALZ immerhin noch dreieinhalb Louisdors pro Bogen erhalten, baten die Schlegels ihren Verleger Friedrich Vieweg für ihre Beiträge zum Athenäum nur noch um äußerst bescheidene drei Louisdors, während etwa Goethe es sich aufgrund seines hohen symbolischen Kapitals leisten konnte, für die rund 2000 Verse von Hermann und Dorothea von Vieweg den mehr als fünfmal höheren Betrag von 16,6 Louisdors pro Bogen zu verlangen.602 In seinem Schreiben an Huber, in dem sich A.W. Schlegel vehement gegen den Vorwurf dreisten, jedoch nicht näher spezifizierten Eigennutzes zur Wehr setzt, wird dann nochmals der Anspruch auf eine völlig interesselose Literaturkritik ohne jegliche persönliche Vorteilsnahme der Rezensenten bekräftigt: Unsre geheimen Ränke bestehn darin, freymüthig zu urtheilen und an andre und uns selbst die höchsten Foderungen zu machen, niemals an das Interesse unsrer eignen Personen zu denken, sondern blos auf die Sache zu gehen.603

Die gesellschaftliche Realität jedoch, so F. und A.W. Schlegels eigene Beobachtung, entsprach diesen frommen Wünschen nach einer von purem Altruismus und reiner Begeisterung für die Sache getragenen Literaturkritik nicht im Geringsten. A.W. Schlegel schiebt Huber beispielsweise unter, den heteronomen Interventionen des Wirtschaftssystems auf dem Feld der Literatur in nichtswürdiger Weise nachgegeben zu haben, indem er es zugelassen habe, dass man ihn „im handelnden Leben mit Oekonomie ziemlich in die Enge treibt.“604 Überhaupt stelle sich bei der Bewertung literaturkritischer Praxis die Frage, inwieweit finanzielle Zwänge das viel beschworene freie Urteil beeinträchtigten. Gleichsam automatisch wundere man sich, „wenn man ein strenges Urtheil über eine Schrift liest: muß der Mann nicht davon leben? Hat er Frau und Kinder?“605 Vermutete finanzielle Interessen seitens der Rezensenten wurden also im Konfliktfall von den Schlegelbrüdern selbst als Argument gegen Negativkritiken herangezogen und konnten nicht einfach ausgeblendet werden – jedenfalls nicht ohne die Verschleierungsfunktion des symbolischen Kapitals, also nicht ohne die kommunikative Konstruktion einer positiv gearteten literarischen Reputation in Anspruch zu nehmen. Zwar spielt die Unterstellung materieller Profitgier im Umfeld der vielstimmigen Athenäum-Rezeption aufgrund der recht bescheidenen ökonomischen Verhältnisse der Schlegels naturgemäß keine nennenswerte Rolle, weshalb wir ihr hier auch kein eigenes Kapitel widmen; an ihre Stelle tritt

Siehe G. Ziegler: Friedrich Schlegel als Zeitschriften-Herausgeber, S. 99. A.W. Schlegel: „A.W. Schlegel an Huber [28.12.1799]“, S. 234. 604 Ebd., S. 232. 605 Ebd., S. 232. 602 603

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jedoch der vielfach dem Bruderpaar gemachte Vorwurf des Renommiergehabes und der Günstlingswirtschaft, was deutlich macht, dass jede Form der wechselseitig wahrgenommenen kapitalmäßigen Differenz und der Instrumentalisierung sozialer Beziehungen zur Etablierung von Zirkeln statuspositionaler Differenz führen kann, nicht nur ungleich verteiltes ökonomisches Kapital. Das Streben nach einer Vermehrung des eigenen symbolischen Kapitals scheint also seinerseits gelegentlich Rechtfertigungsdruck auszulösen, vor allem dann, wenn mit offensichtlich radikal-häretischen Methoden seitens der auf Ansehensgewinn Schielenden vorgegangen wird und diese noch keine hohe Reputation besitzen, die ihr Vorgehen legitimieren würde. Schreyvogel etwa, von dem bereits mehrfach die Rede war und der bezeichnenderweise einen weit geringeren Bekanntheitsgrad genoss, also mit Sicherheit weit weniger symbolisches Kapital besaß als F. Schlegel, rügt den jüngeren Schlegelbruder für dessen angebliche Ruhmsucht und seinen übertriebenen Ehrgeiz – Eigenschaften, die er dafür verantwortlich macht, dass für andere, ja selbst für manche längst kanonisierten Klassiker, weniger vom Kuchen literarischen Ansehens übrig bleibe: Das Genie des Hrn. Fr. Schlegel scheint sich, wie der Neid von dem zu nähren, was er dem Ruhme anderer Genies entzieht; und in der That, wenn Aristoteles und Lessing keine Kunstrichter sind, so möchte man fast glauben, daß Hr. Fr. S. ein sehr großer Kritiker sey.606

Meist gingen die Vorhaltungen dieser Art, die F. Schlegel eine Art parasitärer Existenz vorhalten, jedoch weniger auf Ruhmsucht aus, als vielmehr auf die Unterstellung unlauterer Instrumentalisierung von Sozialkapitalreserven und interpersonalem Beziehungsnetz zum Zweck einer eigentlich unverdienten Vermehrung des eigenen Ansehens auf dem literarischen Feld. „[G]ute Bekanntschaft“607, d.h. Sozialkapitalbeziehungen, Rücksichtnahme auf die gesellschaftliche Stellung der Kritisierten sowie persönliche Präferenzen übten, so F. Schlegels eigenes Eingeständnis, einen erheblichen Einfluss auf die Urteilsbildung der Kritiker aus, was natürlich für die Etablierung von Zirkeln statuspositionaler Differenz und damit für die Entstehung von Konfliktsystemen konstitutive Voraussetzung ist: Wer darf aufstehn und sagen daß Verhältnisse, Vorliebe, Mitleid, Schonung, Freundschaft nie auf s.[ein] Urtheil d[en] geringsten Einfluß gehabt hätten? – Die gewöhnl[ichen] Recensenten sind nur wie Markthelfer oder Buchbinder; andre Pasquillanten.608

Wie realistisch diese Einsicht war, zeigt sich in den vielen brieflichen Konfrontationen, die im Zuge der Rezeption des Athenäum aufbrandeten. Schil-

T. West [d.i. vermutl. Joseph Schreyvogel]: „Dramaturgische Briefe“, S. 324. F. Schlegel: „Lyceums-Fragmente [1797]“, S. 156. 608 F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 95. 606 607

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ler etwa, dem die Schlegelbrüder ohnehin ein Dorn im Auge waren, u.a. da sie sich entschlossen hatten, ihn nicht zu rezensieren (was ähnlich schwer wog wie eine vernichtende Kritik), beklagt in einem Schreiben an Goethe vom 16. August 1799 nicht nur den „mit einer Zugabe von Stacheln“609 versehenen aggressiven Tonfall im Athenäum. Überdies prophezeit Schiller den Schlegelbrüdern mit Blick auf eine wohl auf den Umfang des Werkes anspielende polemische Stichelei gegen Wilhelm von Humboldts Betrachtungen zu Goethes Hermann und Dorothea im zweiten Band des zweiten Stücks eine schnelle Erschöpfung ihres kulturellen Themenvorrats, der in auffälliger Weise mittels ökonomischer Semantik beschrieben wird, sowie empfindliche Einbußen an sozialem Kapital: Gegen Humboldt ist der Ausfall unartig und undankbar, da dieser immer ein gutes Verhältniß mit den Schlegeln gehabt hat, und man sieht aufs neue daraus, daß sie im Grunde doch nichts taugen. [...] Ich zweifle nicht, daß es [das Athenäum, D.B.] auf dem nunmehr eingeschlagenen Weg Leser genug finden wird, aber Freunde werden sich die Herausgeber eben nicht erwerben, und ich fürchte es wird bald auch der Stoff versiegen wie sie in den Aphoristischen Sätzen auch auf einmal und für immer ihre Baarschaft ausgegeben haben.610

Offensichtlich geht Schiller also stillschweigend davon aus, dass ein bereits bestehendes Sozialkapitalverhältnis zwischen Kritiker und begutachtetem Schriftsteller die offene Äußerung von Negativkritik verbiete, die ohnehin nicht geeignet sei, die alltägliche Beziehungsarbeit bzw. die Pflege des Beziehungsnetzes eines Akteurs erfolgreich zu gestalten. Damit findet soziales Kapital als selbstverständliche diskursordnende Einflussgröße im Bereich der literarischen Reputationsgenese implizite Akzeptanz. Auch alle anderen an den beiden erwähnten Diskurssträngen partizipierenden Akteure haben sich zur Bedeutung von Sozialkapitalbeziehungen für die literaturkritische Praxis geäußert. Dabei galt es, sich zu der von Huber in seiner Athenäum-Rezension in der ALZ ins Feld geführten Unterstellung der Grüppchenbildung und der Günstlingswirtschaft in Position zu bringen. Huber hatte behauptet, die Gebrüder Schlegel missbrauchten das Athenäum um ihrer „literarischen Factionskämpfe willen“ als reines Kampfinstrument, mit dem Ziel, den Mitgliedern des eigenen Freundeskreises, zu denen neben den Romantikern vor allem auch Goethe zu rechnen ist, auf Kosten Außenstehender zu einem nicht über wirkliche Leistungen erworbenem Zuwachs an spezifisch literarischem symbolischem Kapital zu verhelfen. Ins gleiche Horn stößt auch der Rektor des Breslauer Maria-Magdalenen-Gymnasiums Johann Kaspar Friedrich Manso, der den Schlegelbrüdern in seiner Besprechung des Athenäum eine „blinde Vorliebe für ihre Freunde“611 vorhält. Ebenfalls in diese Richtung geht der noch Jahre später erhobene Vorwurf

F. Schiller: „An Goethe [16.8.1799]“, S. 84. Ebd., S. 84. 611 J.K.F. Manso: „Schöne Wissenschaften und Gedichte“, S. 42. 609 610

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eines anonymen Rezensenten aus der Bibliothek der redenden und bildenden Künste, der den „Herrn Schlegel“ sowie deren „Zunftgenossen“ wie z.B. „Tiek“ vorhält, eine Art geheimer „Secte“ gebildet zu haben, die ihre „übertriebenen Lobeserhebungen“ schamlos nur „den zur Partey Gehörenden oder Gerechneten“612 gewähre. Diese als schamlos empfundene Begünstigung bestimmter Akteure auf der Basis bereits existenter Sozialkapitalbeziehungen und Reputationen, aber auch der bewusste Versuch seitens gewisser Rezensenten, das literarische Prestige einzelner Personen zum Zweck der Selbstprofilierung machtstrategisch in der unliterarischen Manier politischer Auseinandersetzungen und nicht streng sachbezogen zu nutzen, sei laut Huber, der seinem Standpunkt durch ein damals beliebtes, hier pejorativ gemeintes Bonmot aus Molières Komödie Les femmes savantes Nachdruck zu verleihen versucht, in höchstem Maße konfliktentzündend und führe auf dem intellektuellen Feld in vollkommen kontraproduktiver Weise lediglich zu Hobbes’ berüchtigtem ‚bellum omnium contra omnes‘, also zu einer Art innerliterarischen Bürgerkriegs zwischen Orthodoxen und Häretikern mit anarchischen Zügen, was natürlich jedem ordnungsliebenden und aufgeklärten Rationalisten als absolutes Schreckgespenst erscheinen musste: Es ist eins von den Kennzeichen des literarischen Factionsgeistes, sich auf gewisse, bereits gemachte Reputationen zu erpichen, um sie zu stürzen, und andere, ohne ihn schon fest genug gegründete, immer höher und höher, bis zu einer unerschwinglichen Höhe, erheben zu wollen – und verschiedene Wirkungen desselben Triebes, der Eitelkeit! Außer etwa einem gleichzeitigen Genie, das man gleichsam zum Postament seines eigenen Ruhms zu gebrauchen meynt, und einigen großen Köpfen früherer Jahrhunderte, über deren Werke man zwar nur die Bewunderung ihrer ganzen gebildeten Nachwelt wiederholt, aber in einem solchen Tone und mit solchen Wendungen wiederholt, als wäre es tiefste und ausschließendste Adeptenweisheit, sucht man mit näher verwandten Geistern ein Bündnis zu stiften, dessen geheimes Wort im Grunde kein anderes ist, als das bekannte französische: Nul n’aura de l’esprit, hors nous et nos amis. So kömmt eine Faction heraus, und diese hat es mit Gegenfactionen zu thun; und im allerseitigen Kampf und Treiben werden Kunst und Wissen und Denken zu Werkzeugen oder Schiboleths der Factionen gemißbraucht, wie im Kampf und Treiben der politischen Factionen Freyheit und Gesetz.613

Caroline Schlegel hat sich in ihrem Brief an Huber vom 24. November 1799 dezidiert zur Problematik der Beeinflussung literaturkritischen Wertens durch Sozialkapitalbeziehungen und Grüppchenbildung geäußert und dabei klargestellt, dass es zwar ein hehres Anliegen sei, eine vom Beziehungsgeflecht der im literarischen Feld miteinander verwobenen Akteure unabhängige Literaturkritik anzuvisieren, die Wirklichkeit literarischen Kommunizierens jedoch erweise, dass man gänzlich ohne jegliche Sozialkapitalakkumulation aufgeschmissen sei, wenn man etwas von bleibendem Wert – also etwas, das auf Dauer im sozialen Gedächtnis der Literatur haften bleibt – fabrizieren wolle: 612 613

Anonymus: „Neunzehnter Brief [1806]“, S. 169f. L.F. Huber: Athenäum-Rezension [21.11.1799], Sp. 476.

358 | W ERTVOLLE W ERKE Eben darin liegt der Irrhtum, dass Sie das Bemühen der Schlegel blos als Factions Sache ansehn [...] – die Wahrheit ist: das Große soll nie Faction seyn, aber man bringt es nicht ohne diese, wenigstens ohne den Anschein davon zu Stande.614

Dass jegliche Sozialkapitalverhältnisse sowie formelle oder informelle Gruppenzugehörigkeiten mit den entsprechenden Treueverpflichtungen auf die Bewertung literarischer Werke einwirken, steht also für Caroline Schlegel ebenfalls außer Frage, auch wenn sie dies keineswegs als Idealzustand betrachtet. Diese Einstellung zeigt sich auch ganz offen in dem Vorwurf, Huber hätte aus „den ganz gemeinen loyalen Gründen, daß man einen guten Bekannten und rechtlichen Menschen nicht hinterrücks anfällt [...] die Rezension nicht übernehmen sollen“.615 Offensichtlich rechnet Caroline Schlegel ihre Erwartungserwartungen hinsichtlich des Verhaltens von Personen, mit denen man eine Sozialkapitalbeziehung unterhält, zum Bereich intuitiven doxischen Alltagswissens von quasi allgemeinverbindlichem Charakter. Der Hinweis Hubers auf das unumgängliche Eingebundensein der Gebrüder Schlegel in soziale Beziehungsnetze solle nicht das Publikum über die verborgenen Prinzipien der zeitgenössischen Mentalität und damit über die Lebenswirklichkeit der damaligen Akteure aufklären, sondern die eigentliche Intention sei vielmehr, die Leserschaft gegen das unliebsame Athenäum aufzuhetzen: „Das konten Sie einsehn, und Ihr öffentliches Hinweisen auf Faction ist nichts anders und steht, wie manche andre Züge, eben so lediglich dazu da, das Publikum noch mehr aufzuwiegeln.“616 Auch A.W. Schlegel sah sich selbstverständlich genötigt, Hubers Attacken im Rahmen nichtöffentlicher Kommunikation zu parieren. In seinem Brief an seinen Kontrahenten vom 28. Dezember 1799 versucht er, jeglichen Verdacht der Vetternwirtschaft und der ungerechtfertigten Begünstigung von Freunden zu zerstreuen, indem er von Huber zunächst Beweise für seine Anschuldigungen einfordert, deren tatsächliche Existenz er natürlich mit Nachdruck bestreitet: „Sie sprechen von einem Schutz= und Trutzbündnis zu gegenseitigem Lob. Zeigen Sie uns doch nur eine einzige Stelle in den Schriften unserer Freunde, die wie ein bestelltes Lob aussähe?“617 Stattdessen versucht Schlegel selbst den Gegenbeweis anzutreten, um auf diesem Wege Huber von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dabei macht er zumindest insofern ein Eingeständnis, als er es für ganz normale Alltagspraxis erklärt, dass man die literarischen Produkte der eigenen Freunde der Tendenz nach tatsächlich positiv bewerte. Schließlich gründe die Freundschaft unter Dichtern auf gemeinsam geteilten ästhetischen bzw. poetischen Präferenzen, auf deren Basis Sozialkapitalverhältnisse eher gedeihen könnten. Als Beispiel nennt er seine Beziehung zu Wilhelm Tieck, die allerdings erst zustande gekommen sei, nachdem Schlegel die ersten C. Schlegel: „An Huber [24.-27.11.1799]“, S. 585. Ebd., S. 584. 616 Ebd., S. 585. 617 A.W. Schlegel: „A.W. Schlegel an Huber [28.12.1799]“, S. 233. 614 615

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Kritiken zu dessen Werk verfasst habe, weshalb diese Rezensionen in ihrer Neutralität auch nicht von freundschaftlichen Verpflichtungen beeinflusst oder gar entstellt seien: Wir loben unsre Freunde, natürlich, sie wären es gar nicht geworden, wenn sie uns nicht lobenswerth erschienen wären. Ich habe von Tieck so geurtheilt wie jetzt, da ich noch nichts von ihm wusste, da noch niemand auf ihn achtete, und er hat es freylich glänzend gerechtfertigt. Lesen Sie nur die Rec. des Blaubart und gestiefelten Katers, in der A.L.Z. Die Poesie hat erst die Freundschaft zwischen uns gestiftet [...].618

Freilich bleibt Schlegel eine weitergehende Erklärung dahingehend schuldig, wie denn bei bereits bestehender Sozialkapitalbeziehung zwischen Autor und Rezensent zu verfahren sei und inwiefern eine solche Beziehung möglicherweise unbotmäßigen Einfluss auf das kritische Urteilsvermögen ausübe. Damit bleibt der Punkt, auf den Huber eigentlich hinausgewollt hatte, inhaltlich genauso unbehandelt wie umgekehrt viele der Athenäum-Texte in Hubers Rezension keinerlei Erwähnung finden – ein Vorwurf, den A.W. Schlegel seinerseits im gleichen Brief an die Adresse Hubers gerichtet hatte. Zumindest jedoch gibt der ältere Schlegel zu bedenken, dass nichts Verwerfliches an Sozialkapitalbeziehungen zwischen Autoren und Rezensenten sei, solange nur gewährleistet bleibe, dass auch andere Autoren, mit denen noch kein Freundschafts- oder Bekanntschaftsverhältnis existiere, die gleiche Chance auf eine unvoreingenommene Beurteilung ihrer Geistesgröße und ihrer schriftstellerischen Leistungen zugestanden werde: Daß unsre Freunde Verstand haben, ist also leider nicht zu läugnen. Daß wir aber niemanden außer ihnen wollten Verstand haben lassen ist so wenig begründet, daß wir uns vielmehr eifrig um Freundschaft bemühen werden, wo wir eine Spur von dergleichen gewahr werden.619

Eine Äußerung Goethes in einem Brief an Schiller vom 17. August 1799 gleichwohl bekräftigt die Annahme, dass die Gebrüder Schlegel beim Vollzug ihrer literarischen Alltagspraxis durchaus bereit waren, auch an solchen Autoren Negativkritik zu üben, mit denen sie ansonsten in freundschaftlicher Verbindung standen. Goethe betont nämlich gegenüber dem erbosten Schiller, – wohl um diesen in seinem Zorn gegen das Brüderpaar zu besänftigen –, dass auch Freunde und Vertraute (so wie Goethe selbst) keineswegs vor den zähnefletschenden Attacken der beiden Brüder gefeit seien: „Übrigens läßt sich auch im persönlichen Verhältnis keineswegs hoffen daß man gelegentlich ungerupft von ihnen wegkommen werde.“620 Dass darüber hinaus selbstverständlich immer auch die kulturelle Kompetenz der Autoren und Rezensenten im Zuge der Konfrontationen rund ums

Ebd., S. 233 Ebd., S. 233f. 620 J.W. Goethe: „An Schiller [17.8.1799]“, S. 156. 618 619

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Athenäum zur Disposition stand, versteht sich von selber und sei hier nur am Rande erwähnt. Schon 1797 hatte F. Schlegel in der 265. Notiz der Literatur-Fragmente seinen überaus hoch gesteckten Erwartungen in diesem Bereich, die in gewisser Weise zur anlaufenden Hochspezialisierung auf allen Feldern im Gegensatz stehen, Ausdruck verliehen: „Der vollkommne Kenner muß Naturpoesie, Kunstsinn, Kunstgelehrsamkeit, Kunstφσ[philosophie] haben und vor allen Dingen χρ[kritischen] Geist.“621 Sowohl Caroline als auch A.W. Schlegel finden, was diesen Aspekt angeht, harte Worte für Huber, zumindest in ihrer brieflichen Korrespondenz. So schreibt Caroline Schlegel – im Tonfall noch etwas zurückhaltend und zumindest den Versuch machend, allzu grobe Ehrverletzungen zu vermeiden: „Sie musten selbst wissen, daß es Ihnen an Kenntnissen fehlte – was niemand entehrt.“622 Einen Monat später legt dann A.W. Schlegel nach, wohl um dem ungeliebten Huber endgültig den Todesstoß zu versetzen. Kurzerhand wird dem antagonistischen Kritiker der ALZ jegliche Befähigung auf dem Feld der Literaturkritik kategorisch abgesprochen und unterstellt, er habe die im Athenäum verfolgte literaturkritische Programmatik ganz einfach intellektuell nicht verstanden: „[B]ey dieser Gelegenheit ist es mir klar geworden, dass Sie von dem, worauf es uns bey unsren Bestrebungen ankömmt, auch nicht die entfernteste Ahndung haben.“623 II.4.5 Zwischenfazit IV Auch die Gebrüder Schlegel ordnen in ihrer programmatischen Reflexion des Rezensionswesens die Literaturkritik eindeutig der Unterhaltungsfunktion literarischer Kommunikation zu und begründen diesen Schritt vor allem damit, dass keine systemfremde Beobachtungsinstanz, sondern nur die Poesie selbst die Poesie kritisieren und auf diesem Weg die Selbstreflexion dieses spezifischen Kommunikationstypen bewerkstelligen könne. Deutlich wird dies u.a. daran, dass die wertenden Charakteristiken als Kunstwerke mit besonderer Funktion begriffen werden und vom Rezensenten literaturkritisches Virtuosentum erwartet wird, das sich deutlich von der abgeklärtanalytischen Darstellungspraxis der Wissenschaften abhebt. Literarische Reputation entsteht dabei durch den performativen Vollzug literaturkritischer Wertungsakte und gerinnt zum Motor der sozialen Dynamik innerhalb des Literatursystems. Die von allen beteiligten Akteuren gewählten Formulierungen verraten dabei die Dimension symbolischer Gewalt, die den Wertungsakten in diesem Kontext zukommt, und die vor allem darin besteht, dass sie in Ermangelung hierfür zur Verfügung stehender Organisationssysteme darüber entscheiden, welche Werke und welche Autoren symbolische

F. Schlegel: „Fragmente zur Litteratur und Poesie [1797]“, S. 106. C. Schlegel: „An Huber [24.-27.11.1799]“, S. 583. 623 A.W. Schlegel: „A.W. Schlegel an Huber [28.12.1799]“, S. 234. 621 622

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Anerkennung finden und so zu eigentlicher sozialer Existenz gelangen – und welche nicht. Was das Verhältnis der Literaturkritik zu den systemexternen Medien der Erziehung und der Wissenschaft angeht, zeichnet sich bei den Brüdern Schlegel eine entscheidende Veränderung in ihrer programmatischen Konzeption literaturkritischer Praxis ab. Von Anfang an werden didaktische Ansprüche auf Moralerziehung, wie sie Schiller vorschwebten, energisch zurückgewiesen. Komplexer jedoch ist das von den Schlegelbrüdern unterstellte Verhältnis zwischen Literaturkritik, Reputationsgenese und dem wissenschaftlichen Medium der Wahrheit. Zunächst gehen sie von der sozialhistorisch eher konservativen Vorstellung einer ‚Wissenschaftskunst‘ aus, die sich u.a. am Modell der Grammatik orientiert, regelpoetisch-normativ ausgerichtet ist und einer performativen Verklumpung des Haupt- und Nebencodes der literarischen Kommunikation mit der wissenschaftlichen Leitunterscheidung wahr/falsch hin zu einem gelehrtenrepublikanischen Supersystem das Wort redet. In diesem Zusammenhang wird davon ausgegangen, dass der literarische Geschmackssinn die Fähigkeit der richtigen Anwendung der universalen, wissenschaftlich begründeten Regeln der Poetik umfasst und insofern objektivierbar ist. Dann aber erfolgt im Zuge praktischer Erfahrungen eine Umarbeitung dieser Ausgangskonzeption. Die Subjektivität individueller Wertungspraxis rückt nun in den Vordergrund und führt schließlich zur Tolerierung eines die Beurteilung literarischer Werke veruneinheitlichenden Meinungspluralismus. Gleichzeitig wird das Wahrheitsmedium nicht mehr länger zur Legitimierung literaturkritischer Praktiken herangezogen und stattdessen von einer klaren Trennung zwischen Wissenschaft bzw. dem wissenschaftlichen Theoretisieren über Literatur und Literatur(-kritik) selbst ausgegangen. In der Formierungsphase der literaturkritischen Programmatik, die dem Athenäum zu Grunde liegt, lässt sich zunächst beobachten, dass F. Schlegel die Literaturkritik für wesensmäßig weniger polemogen hielt als den wissenschaftlichen Diskurs, da sie mit unschärferen Begriffen, einem deutlich geringer ausgeprägten Zwang zur logischen Systematisierung der Erkenntnisse sowie einer strikten Trennung zwischen Autor und Werk arbeite. Konfliktsystemische Kommunikation sei im Literatursystem daher im Grunde genommen überflüssig. Im Angesicht des immer stärker anschwellenden Informationsvolumens im literarischen System ließ sich diese Haltung jedoch nicht durchhalten, da sich nun auch innerhalb des Unterfeldes der Reputation konstruierenden Literaturkritik Konkurrenz und Selektionsdruck deutlich verschärften. Im Namen einer polyperspektivischen Wahrheitsauffassung sollte es von nun an opportun sein, von Negativkritik hervorgerufene Kontroversen offen und in provokativem Tonfall auszutragen. Tatsächlich bildeten sich im Zuge der Rezeption des Athenäum zahlreiche Konfliktsysteme, in denen nicht zuletzt über das Streiten selbst gestritten wurde, sodass F. Schlegel 1803 in der Zeitschrift Europa resümieren kann, das Athenäum habe „auf eine kräftige Art mitgewirkt die Scheidung des Vortrefflichen und

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des Schlechten in der Kunst und Literatur zustande zu bringen“.624 Eine Analyse der Konfliktsysteme belegt dabei eindeutig, dass es den involvierten Akteuren vor allem um die Bedeutung von Sozialkapitalverhältnissen für die literaturkritische Praxis und die Akkumulation und Distribution spezifisch literarischen symbolischen Kapitals ging. Dabei wird deutlich, dass eine von Sozialkapitalbeziehungen völlig unabhängige Literaturkritik für utopisch gehalten wurde. Auch die Brüder Schlegel attestieren der zeitgenössischen Literatur ein zunehmend zum Problem werdendes Anwachsen des Informationsvolumens, für das sie den Buchdruck und die verachtenswerte Mode der Vielschreiberei auf insgesamt niedrigem ästhetischen Niveau verantwortlich machen. Aufgabe der Literaturkritik sei es, aus der jeden Anspruch auf eine Gesamtschau verunmöglichenden Masse der Neuerscheinungen vor allem die literarisch wertvollen Werke herauszulösen und dem Publikum bekannt zu machen, um auf dem Weg über die Genese spezifisch literarischer Reputation ein Mindestmaß an Orientierung im Literatursystem zu gewährleisten. Dass dabei die mittelmäßigen und schlechten Werke gar nicht weiter erwähnt werden sollen, demonstriert, dass auch die Gebrüder Schlegel eine literaturkritische Programmatik verfolgen, die im Vergessen, nicht im Erinnern, die Hauptaufgabe des Systemgedächtnisses moderner Literatur sieht.

624

F. Schlegel: „Aufsätze in der Europa [1803]“, S. 10.

ZUSAMMENFASSUNG

III. Fazit und Ausblick

Die Gesellschaft, wie sie sich in jeder Sphäre des Lebens als Todfeind des Anarchischen bewährt, und der Kritiker, in dessen Willen sich ihre feinsten und schneidendsten Kräfte zusammendrängen, machen durch ihr bloßes Dasein den Begriff der Qualitäten real und bedeutend und entscheiden über seine Anwendung auf das Individuum und die Leistung durch die leisesten und zugleich mächtigsten Mittel, die Beachtung und die Nicht-Beachtung. So schafft eine vielleicht ungerechte und grausame, aber souveräne und schlechterdings organische Kritik die ersten Begrenzungen im Feindlich-Wüsten und übergibt fortschreitend der Zeit in neuen, enorm vereinfachten Formen das Bild der Mächte, eine ihr gemäße, von ihr gebilligte und durchdrungene Ordnung, für die sie selber die Verantwortung mit trägt, und gegen die in aller Zukunft kein Einwand sich richtet, der nicht ihre eigenen Grundlagen mit bezweifelte. Für diese einfachsten Tatsachen ist, wie Sie sehen, nicht vonnöten, daß die Gesellschaft sich der Tendenzen genau bewußt sei, die im Gegensatze zu Vergangenheit und Zukunft den Augenblick beherrschen. So gewiß im raisonnierenden Kopfe ein deutliches oder nur angedeutetes Bild dieser Verhältnisse sich abzeichnen wird, so sehr bleibt für die Breite ihr eigener, lebendiger Zustand, wie sie sich in ihm stark fühlt, der

366 | W ERTVOLLE W ERKE naiv festgehaltene Maßstab für gut und schlecht, interessant und uninteressant.1 (Rudolf Borchardt)

Wir haben im Theorieteil dieser Arbeit versucht, auf der Grundlage der soziologischen Systemtheorie nachzuweisen, dass das Literatursystem der funktionalen Moderne nicht nur über den Zentralcode interessant/langweilig operiert, wie im Bochumer Modell literarischer Kommunikation angenommen, sondern überdies auf den analogen Nebencode (literarisch) wertvoll/wertlos zurückgreifen muss, um dauerhaft den eigenen Systemerhalt gewährleisten zu können. Nur die Verwendung des Zweitmediums der Reputation, das über werkbezogene Wertungsakte konstruiert wird, ermöglicht dem Literatursystem die Lösung eines ganzen Bündels gravierender innersystemischer Probleme, die gemeinsam ein zusammenhängendes Bedingungsgefüge bilden. An erster Stelle ist dabei das durch Fortschritte in der Reproduktionstechnik verursachte exponentielle Wachstum des Informationsvolumens zu nennen, das die Orientierung der Leser zunehmend beeinträchtigt und sie dem Risiko zeitlicher Fehlinvestitionen aussetzt, das nur durch die Verbreitung zusätzlicher metaliterarischer Informationen in extrem komprimierter Form minimiert werden kann. Da der Zentralcode des Literatursystems weitgehend wertungsabstinent ist und im Grunde nur auf die Faszination des Bewusstseins durch Überraschendes und Neues bzw. die durchaus unterschiedlichen Intensitätsgrade der Bindung der Leseraufmerksamkeit während des eigentlichen Rezeptionsprozesses abhebt, bedarf die Leitdifferenz der Ergänzung durch einen Nebencode, der durch scharfe Selektionsschnitte befähigt ist, diese paralysierende systeminterne Komplexität auf ein handhabbares Maß zu stutzen. Da das Literatursystem aber über keine Institutionen bzw. Organisationssysteme verfügt, die über den Wert bzw. Unwert eines Werkes verbindlich entscheiden könnten, entsteht ein prozessualer Freiraum, der schnell von der zeitschriftenbasierten Literaturkritik besetzt und im Grunde bis heute von ihr eingenommen wird. Dabei entsteht durch die Inanspruchnahme des präferenzlosen Nebencodes (literarisch) wertvoll/wertlos, der gleichzeitig zur Stabilisierung der Systemgrenze beiträgt, personal zurechenbare Reputation, die soziale Kritik provozierende dominante Statuspositionen legitimiert und damit das Literatursystem vor der Etablierung von Zirkeln statuspositionaler Differenz sowie einem Abgleiten in parasitäre Konfliktsysteme schützt. Anschließend haben wir uns im Praxisteil damit beschäftigt, mittels einer Analyse der Materialität literaturkritischer Kommunikation für den Zeitraum von 1688 bis 1800 die von uns im Theorieteil ins Feld geführten Argumente für eine Erweiterung des Bochumer Modells, die sich auch aus einer dialektischen Konfrontation systemtheoretischer Denkweisen mit Bourdieus Kapitaltheorie ergeben haben, hinreichend zu verifizieren. Dabei hat

1

R. Borchardt: „Rede über Hofmannsthal [1905]“, S. 51f.

F AZIT UND A USBLICK | 367

der Abgleich mit literaturkritischen Praxisformen die Adäquatheit dieser Argumente unseres Erachtens weitgehend erwiesen, und es sind auch noch weitere Erkenntnisse hinzugetreten, vor allem im Hinblick auf das Zusammenspiel zwischen Literaturkritik, Reputationscode und Systemgedächtnis der Literatur sowie bezüglich des Verhältnisses zwischen dem Nebencode, seinem Medium und anderen, literaturfremden Medien. Im Folgenden wollen wir die Ergebnisse dieser Untersuchung, die trotz der zwischen Barock, Aufklärung und Romantik zweifellos bestehenden programmatischen Verwerfungen auch ein gerütteltes Maß an evolutionärer Kontinuität aufdecken, noch einmal an uns vorüber ziehen lassen und ihre Relevanz für die klassische Moderne und die Postmoderne anhand einschlägiger Äußerungen weiterer Literaturkritiker demonstrieren. Darüber hinaus möchten wir den Versuch wagen, Perspektiven für mögliche Anschlussforschungen zu eröffnen, die auf den hier gewonnenen Erkenntnissen aufbauen könnten.

III.1 F UNKTION UND O PERATIONSWEISE DER R EPUTATION KONSTRUIERENDEN L ITERATURKRITIK DES L ITERATURSYSTEMS Was die programmatische Bestimmung der Funktionalität der zeitschriftengebundenen Literaturkritik anbetrifft, die vor dem Hintergrund eines von allen Autoren diagnostizierten (und teils auch beklagten) niedrigen Institutionalisierungsgrades grundsätzlich immer mit der Konstruktion persönlich zurechenbarer Reputation bzw. spezifisch literarischen symbolischen Kapitals in Verbindung gebracht wird, lassen sich für alle hier analysierten Zeitschriften eindeutige Bezüge zur Unterhaltungsfunktion des sich allmählich ausdifferenzierenden Literatursystems nachweisen. Bei Thomasius, der bereits scharf zwischen hereditärer Standesehre und durch Leistung erworbener Reputation unterscheidet, ist die für die Buchkritik in Anspruch genommene Unterhaltungsfunktion im Rahmen multifunktionaler gelehrter Kommunikation jedoch noch eng mit der Produktion wissenschaftlicher Wahrheiten und dem Wunsch nach Vermittlung pädagogisch nützlicher Einsichten verbunden, was wir in der Formel vom ‚gelehrten Edutainment‘ einzufangen versucht haben. Nicolai sieht die Aufgabe der Literaturkritik darin, die Qualität literarischer Werke vor dem bereits primär innerliterarischen Problembezug der Steigerung von Freude und Vergnügen durch Erfüllung positiv besetzter Vorerwartungen seitens der Leser zu überprüfen. Dabei fordert er eine noch stark im Zeichen Alteuropas stehende multifunktionale Literaturkritik, die im Medium absoluter Wahrheit operiert und den Lesern die Bildung eines strikt regelgeleiteten ‚wahren Geschmacks‘ eröffnet. Auch Wieland bindet die Literaturkritik programmatisch eng an die Unterhaltungsfunktion des sich im Prozess der Ausdifferenzierung befindenden Literatursystems. Hervorstechend ist dabei aus inner-

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systemischer Perspektive an erster Stelle die von Wieland vorgenommene und bis heute persistierende ausdrückliche Trennung von Haupt- und Nebencode des Literatursystems, an der sich manifestiert, dass literarische Werke zu diesem Zeitpunkt bereits zwar als interessant, gleichzeitig aber auch als künstlerisch niveaulos von der literarischen Kommunikation prozessiert werden konnten, was wesentlich zur Stabilisierung der Systemgrenze und damit zur Abgrenzung der Literatur gegenüber anderen gesellschaftlichen Phänomenen beitrug. Damit entstand im Literatursystem die Möglichkeit, literarische Werke relativ unabhängig von ihrem künstlerischen Wert mit Vergnügen zu rezipieren – eine Option, die bis heute besteht, wie man etwa bei Walter Benjamin nachlesen kann: „Das ‚Publikum‘ sieht in der Literatur ein Instrument der Unterhaltung, der Belebung oder Vertiefung der Geselligkeit, einen Zeitvertreib im höheren oder im mindren Sinne.“2 Der Reputationscode des Literatursystems erweist sich damit als ein beidseitig anschließbarer Nebencode, der zur Leitdifferenz quer steht – interessante wie langweilige Werke können (literarisch) wertvoll sein und einen guten Ruf einbringen. Didaktische Ansprüche auf eine geplante Sozialisation der Leserschaft werden seitens Wieland zwar erhoben, immerhin jedoch der Unterhaltungsfunktion klar untergeordnet, während eine etwa auf Legitimation setzende Anbindung ans Wahrheitsmedium weitgehend unterbleibt. Bei den Brüdern Schlegel dann wird im Kontrast zu Wieland auf erzieherische Ansprüche bereits rundweg verzichtet. Aber auch rückwärtsgewandte supersystemische Vorstellungen einer Wahrheit und Unterhaltung miteinander vereinigenden ‚Wissenschaftskunst‘ werden alsbald wieder in die Schublade verfrachtet. Die Rezensionen sollen selbst fortan literarische Kunstwerke sein, die von ausgewiesenen Sprachvirtuosen verfasst werden und mit einer von der Alltagssprache abweichenden poetischen Ausdrucksweise das Publikum unterhalten, gleichzeitig sollen sie aber auch mittels expliziter oder impliziter Wertungsakte über den qualitativen Gehalt von Neuerscheinungen informieren, die eventuell weitere Unterhaltung versprechen. Ihren reinsten Ausdruck findet die radikal-autonome Konzeption der Schlegels dabei in der vielzitierten Formel, der zufolge nur die Poesie selbst die Poesie zu kritisieren fähig sei. Die Zuordnung der Literaturkritik zur Literatur ist indessen in ihrer Repräsentativität beileibe keine bloß bis zur Romantik reichende Selbstbeschreibungsformel dieses hochspezifischen Diskurstyps. Auch im Verlauf des 20. Jahrhunderts stößt man immer wieder auf programmatische Definitionsversuche seitens professioneller Rezensenten, die Literaturkritik und Literatur ein- und demselben Kommunikationszusammenhang zuschlagen. Günter Blöcker etwa, 1964 erster Träger des Johann-Heinrich-Merck-Preises für literarische Kritik und Essays, versteht die Rezension ganz unzweideutig als Kernelement literarischer Kommunikation: „Literaturkritik, wie

2

W. Benjamin: „Programm der literarischen Kritik [1929/30]“, S. 161.

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ich sie verstehe, ist also keine Instanz außer- oder oberhalb der Literatur, sondern selber ein Stück von ihr.“3 Ähnlich unumwunden äußert sich Gody Suter, einstiger Feuilleton-Chef der schweizerischen Weltwoche: „Literarische Kritik ist genauso Literatur wie ihr Gegenstand.“4 Walter Benjamin, der sich als spätgeborener dialektischer Materialist sozialen Auseinandersetzungen keineswegs verschloss und insofern nicht eines weltfremden reinen Ästhetizismus verdächtigt werden kann, rückt die Literaturkritik ebenfalls in große Nähe zur Kunst, insofern er darauf beharrt, die Rezensenten müssten, auch wenn sie miteinander im permanenten Wettstreit um die Durchsetzung von Klasseninteressen lägen, stets „in der Sprache der Artisten reden.“5 Volker Hage konkretisiert diese Forderung Benjamins insofern, als er von den Literaturkritikern eine unbedingte „Originalität des Urteils“ sowie sprachkünstlerisch durchdachte „Versiertheit der Formulierung“6 einfordert. Sigrid Löffler warnt ihrerseits in einer Gesprächsrunde vor der „unendlichen Gleichförmigkeit“ vieler Rezensionen und weist darauf hin, man sei es den Lesern schuldig, ihnen die literaturkritische Lektüre „amüsanter zu machen und sich selber einfach auch mehr anzustrengen und eine größere Variabilität und Vielfalt in die Form reinzubringen, wie man mit Literatur umgeht.“7 Beide Kritiker beharren damit auf normativen Konventionen, die auch für literarische Werke selbst Gültigkeit besitzen. Albrecht Fabri möchte die Literaturkritik, die er auch als werkimmanente Produktionsformeln eruierende „Meßkunst eines Gegenstandes an sich selbst“8 definiert, gegenüber einem allzu willkürlichen, lediglich „Vorlieben oder Abneigungen“9 artikulierenden Subjektivismus immunisieren und sieht in den Rezensenten gar so etwas wie den verlängerten Arm der Autoren, da das Buchbesprechen im Grunde lediglich einer Ausweitung der bei der Literaturproduktion freiwillig mitlaufenden Autoren-Selbstkontrolle gleichkomme: „[D]er Kritiker ist kein Sonderfall: da ein Minimum kritischer Reflexionen schon an der Entstehung des Kunstwerks beteiligt ist, setzt er den Künstler sozusagen nur fort“.10 Dass sich auch die Kritik der Kritik dabei innerhalb des vom Literatursystem vorgegebenen Referenzrahmens bewegt, macht der österreichische Kulturpublizist Franz Schuh deutlich, der angibt, selbst beim selbstreflexiven Schreiben „über Literaturkritik [...] wie ein Künstler“11 vorzugehen. Jenseits der expliziten Gleichsetzung von Literaturkritik und Literatur rücken viele Selbstverortungen heutiger Rezensenten die eigene Praxis über-

G. Blöcker: „Erfahrungen formulieren“, S. 43. G. Suter: „Eine Art Volksvertreter“, S. 43. 5 W. Benjamin: „Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen [1928]“, S. 108. 6 V. Hage: „Literatur am Montag“, S. 158. 7 R. Baumgart/ H. Böttiger/S. Löffler et al.: „Die Kunst des Lesens“, S. 197f. 8 A. Fabri: „Zur Theorie der Kritik [1951]“, S. 207. 9 Ebd., S. 207. 10 A. Fabri: „4 Punkte über Kritik [1961]“, S. 797. 11 F. Schuh: „All you need is love“, S. 41. 3 4

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dies in den gleichen funktionalen Problemhorizont, an dem sich auch das Literatursystem selbst orientiert. Stellvertretend für diese häufig vertretene Grundposition sei die österreichische Schriftstellerin und Feuilletonistin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Eva Menasse, zitiert, die jüngst mit großem Nachdruck insistiert hat: [E]ine Literaturkritik, und das ist vielleicht das Allerwichtigste, das ich Ihnen hier laut und deutlich sagen will, ist etwas Lebendiges. Sie darf nicht nur, sie soll meiner unumstößlichen Meinung nach unbedingt witzig, treffend und unterhaltend sein.12

Mit großer Regelmäßigkeit wird das Postulat einer literarischen Literaturkritik in der Moderne jedoch ebenfalls, soweit wir sehen, mit der Frage nach deren eigenem künstlerischen Wert verbunden – ein Konnex, der für die Selbstbeschreibung der Selbstbeobachtungsinstanz eines Sozialsystems, das Informationen neben der Leitdifferenz interessant/langweilig auch mittels des reputationsgenerierenden Nebencodes (literarisch) wertvoll/wertlos verarbeitet, natürlich nicht überrascht. Rudolf Walter Leonhardt beispielsweise macht den literarischen Status literaturkritischer Texte ausdrücklich von deren wahrgenommener sprachkünstlerischer Qualität abhängig, wenn er behauptet: „Gute Literaturkritik ist selber Literatur.“13 Daraus erwächst die Verpflichtung, dass sich auch die Selbstreflexionsinstanz der literarischen Kommunikation einer Qualitätskontrolle auf der Ebene der Beobachtung dritter Ordnung unterziehen muss, solange die Buchbesprechungen selber gewissermaßen als wertende literarische Werke über literarische Werke ausgeflaggt werden. Eine völlig unpoetische, bloß sachlich-informierende Literaturkritik, die nicht mehr leiste, als die Leser über aktuelle literarische Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten, nehme sich in ihrer sinnenfeindlichen Nüchternheit dagegen als defizitär aus – so sieht es zumindest Eva Menasse: Ich möchte nämlich nicht nur informativ, sondern auch kunstvoll sein. Ich verlange von mir nicht nur, gewisse Sachverhalte so anschaulich wie möglich zu machen, sondern diese konsumentenfreundliche Anschaulichkeit auch noch in eine sprachlich ansprechende Form zu bringen. Solche halte ich für die gelungensten Texte über Literatur: Wenn sie nicht nur ihren Standpunkt zu vertreten imstande sind, sondern auch einen ferne nachklingenden literarischen Ton in sich tragen.14

Daher benötige der Literaturkritiker neben dem unabdingbaren sachlichen Literaturwissen auch „eine zutiefst künstlerische Begabung.“15 Wie wichtig das Qualitätskriterium für die Klärung der Frage nach der sozialsystemischen Zugehörigkeit der Literaturkritik tatsächlich ist, zeigt

E. Menasse: „Der Kritiker als Geigenbauer“, S. 126. R.W. Leonhardt: „Argumente für und gegen Literaturkritik“, S. 114. 14 E. Menasse: „Der Kritiker als Geigenbauer“, S. 125. 15 Ebd., S. 129. 12 13

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auch das Beispiel Albert von Schirndings. Zwar stellen die Rezensenten für ihn grundsätzlich bloß „verhinderte Dichter“16 dar, und obwohl von Schirnding es insgesamt ablehnt, „die Kritik als autonomes literarisches Kunstwerk zu akzeptieren“, da sie einen „sekundären Charakter“ besitze, also lediglich von Literatur handele, aber er macht gleichzeitig immerhin das Zugeständnis, dass es „natürlich Ausnahmen“ gebe, nämlich „kritische Texte, die sich von ihrem Gegenstand ablösen, ihn hinter sich lassen, sich himmelhoch über ihn erheben.“17 Die (sprachkünstlerisch oder anderweitig) besten Besprechungen können also demzufolge immerhin Literarizität für sich reklamieren, solange sie dabei das besprochene Ausgangswerk qualitativ übertrumpfen. Dass sich mit von Schirnding hier selbst ein erklärter Gegner einer genuin literarischen Literaturkritik im Rückgriff auf den Sekundärcode (literarisch) wertvoll/wertlos ein Hintertürchen offen halten muss, das es ihm gestattet, die wertende Rede über Literatur im Notfall doch dem Literatursystem zurechnen zu können, zeigt unseres Erachtens einmal mehr die Dringlichkeit, mit der es geboten scheint, die Literatur als Sozialsystem mit der Leitdifferenz interessant/langweilig und dem Nebencode wertvoll/wertlos zu konzipieren. Einen Nexus zwischen der Literaturkritik und der Qualität ihrer Produkte stellen indes auch weitere Theoretiker des modernen Rezensionswesens her. Alfred Kerr beispielsweise glaubte, die performative Effektivität, sprich die Fähigkeit einer Besprechung, positive Resonanz auszulösen und mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen als die Konkurrenz, hänge primär von der Kunstfertigkeit des Literaturkritikers ab: „Heute wird als Kritiker siegen, wer der größte Künstler ist.“18 Ins gleiche Horn stößt auch Albrecht Fabri Mitte der 1960er Jahre. Dabei konzipiert er den im Medium der Schriftlichkeit fixierten literaturkritischen Text, auf den wir uns aus praktischen Gründen in dieser Studie kapriziert haben, als episches Kunstwerk, dessen Zugehörigkeit zur literarischen Kommunikation sich nicht durch dessen bloßes Mitgeteiltwerden, sondern erst durch dessen künstlerische Güte und diskursive Durchsetzungsfähigkeit erweise: Diese geschriebene Kritik aber unterliegt dem gleichen Status wie alle andere Literatur auch: ein Kritiker ist primär Schriftsteller. Zumindest sollte er’s sein: eine Kritik, die nicht ein gutes, und das heißt widerständiges Stück Prosa ist, ist keine. Ein Kritiker taugt, was er als Schriftsteller taugt; und falls es überhaupt so etwas wie ein Rechthaben gibt für ihn, hat er beiläufig und als Schriftsteller recht.19

Helmut Böttiger, bis 2001 Kulturredakteur bei der Frankfurter Rundschau und mittlerweile freier Autor und Kritiker in Berlin, rechnet die Besprechungen literarischer Werke ebenfalls dem System literarischer Genres zu, A. von Schirnding: „Die zweitbeste Fahrt“, S. 73. Ebd., S. 72. 18 A. Kerr: „Vorwort [1904]“, S. 17. 19 A. Fabri: „4 Punkte über Kritik [1961]“, S. 797. 16 17

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sofern sie ein vergleichbar hohes literarisches Niveau erreichten wie die von ihm angeführten großen Vorbilder aus Aufklärung, Romantik und klassischer Moderne. Die Qualität literarischer Werke lässt sich laut Böttiger dabei anhand typisch innerliterarischer Maßstäbe wie Originalität, Sprachgewalt oder Individualität des eingenommenen Standpunktes taxieren: ‚Kritik‘ als eine eigenständige Gattung, die sich Lyrik, Dramatik und Prosa ebenbürtig zeigt, ist immer die große Ausnahme gewesen: Daß hier Namen wie Lessing oder Friedrich Schlegel am Anfang der Geschichte stehen, deutet eine Richtung an. Im zwanzigsten Jahrhundert hat Walter Benjamin dafür so etwas wie eine eigene Textsorte erfunden. Die Kritik ist mit denselben Maßstäben zu messen wie die Literatur selbst, sie lebt von ihrer Subjektivität, von ihrer Sprache, von ihrer Unverwechselbarkeit.20

Mag sein, dass die Literaturkritik als metaliterarische Ausdrucksform tatsächlich häufig keine besonders hohen künstlerischen Ansprüche erfüllt. Darin unterscheidet sie sich dann allerdings prinzipiell um kein Jota von den literarischen Werken selbst. Wir plädieren daher an dieser Stelle dafür, der wertenden Literaturkritik fortan einen Platz als eigenständiges Element im System literarischer Genres einzuräumen. Trotz ihrer unbezweifelbaren Eigenheiten bewegen sich die Rezensionen schließlich im gleichen Funktionshorizont und sollen anhand von Kriterien beurteilt werden, die auch für die seit dem 19. Jahrhundert kanonisierte Gattungstrias gelten. Nach unserer Lesart gilt also, was Jurek Becker Anfang der 1980er Jahre gesagt hat: „Am Ende ist Kritik Literatur nach ganz bestimmten, besonders eigenartigen Regeln.“21 Dabei figuriert der mehr oder minder direkte, den positiven oder negativen Wert des Reputationscodes aktualisierende und persönlich zurechenbare Wertungsakt, der sich auf mindestens ein literarisches Werk bezieht und in irgendeiner Form subjektiv begründet ist, als kleinster gemeinsamer Nenner und damit unhintergehbares Identifikationsmerkmal aller literaturkritischen Textformen, denn „[e]in Geschmacksurteil [...] ist zuletzt jede Kritik.“22 Wir schlagen daher vor, zukünftig von der ‚Literaturkritik des Literatursystems‘ zu sprechen, die unterschiedlichste Texttypen in sich vereinigt – wie wir gesehen haben etwa fingierte Polyloge, Briefe, Satiren, Parodien, Spottgedichte usw. bis hin zur heute dominierenden Form der klassischen Rezension bzw. Buchbesprechung in den Feuilletons der Tagespresse und Literaturzeitschriften. Dass sich die Literaturkritik im Zuge der Umstellung auf funktionale Differenzierung zu einer spezifischen Form der literarischen Kommunikation über Literatur entwickelt und durchgesetzt hat, lässt sich indes auf ein relativ stabiles Bedingungsgefüge zurückführen, dessen Eckpunkte sich in dieser Arbeit klar herauskristallisiert haben. So hat das Literatursystem auf-

H. Böttiger: „Positionen der Literaturkritik“, S. 168. J. Becker: „Zum Thema: Literatur und Kritik“, S. 150. 22 A. Köhler: „Endlich ein richtiges Leben“, S. 136. 20 21

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grund technologischer und bildungsmäßiger Fortschritte in seinen Umwelten intern mit ständig zunehmenden Informationsüberschüssen zu kämpfen, was zum unerschöpflichen Dauerproblem mangelnder Übersichtlichkeit führt. Um dem Abhilfe zu schaffen, genügt es nicht, dass sich auf der Ebene des Selbstvollzugs literarischer Kommunikation einfach Werk an Werk reiht und jede Neuveröffentlichung als intertextueller Kommentar über seine Vorgänger sowie deren in der sprachkünstlerischen Gestaltung verborgene Stilistik bzw. Programmatik erkannt und rezipiert wird. Schon rein zeitlich wäre das für den individuellen Leser, Berufsleser eingeschlossen, eine maßlose Überforderung. Außerdem müsste dann die literarische Kommunikation überwiegend aus den von Gérard Genette beschriebenen Hypertexten bestehen, die freilich nach den eher rückwärtsgewandten und im Grunde innovationsfeindlichen Prinzipien der Transformation und Nachahmung von bereits im Systemgedächtnis abgelegten Werken gestaltet werden, was sie wohl kaum zu Motoren der literarischen Evolution prädestinierte. Faktisch stellen Parodien, Persiflagen, Plagiate usw. mit ihren (mehr oder minder ausgedehnten) intertextuellen Verweisungsnetzen, deren Erfassung meist größere Zeitkontingente in Anspruch nimmt, jedenfalls lediglich Ausnahmen in der literarischen Landschaft dar. Aufgrund ihres zumeist größeren Umfangs eignen sich die meisten literarischen Genres ohnehin schon ganz grundsätzlich nicht zur Reduktion stetig wachsender innersystemischer Komplexität und vermögen potenziellen Lesern keine wirkliche Orientierungshilfe zu bieten, die sie wirksam vor zeitlichen Fehlinvestitionen, mangelnder künstlerischer Qualität und quälender Langeweile schützt. Wer liest schon den Ulysses, um aus diesem zu erfahren, ob sich die Lektüre der Ilias lohnt? Mit der Unterscheidung (literarisch) wertvoll/wertlos verfügt das Literatursystem jedoch über einen hinreichend scharf selektierenden Nebencode, der eine Verdichtung des zugrundeliegenden literarischen Werks auf nur wenige Wertungsakte ermöglicht und auf diese Weise breite Schneisen in den wild wuchernden Bücherdschungel zu schlagen erlaubt. Eine funktionierende Selbststeuerung des Literatursystems, die natürlich nur mit Bordmitteln bewerkstelligt werden kann, ist mithin ohne die Reputation konstruierende Literaturkritik, die der Literatur zu einer auf binnensystemische Problemlagen zugeschnittenen Fähigkeit zur Selbstthematisierung verhilft, nur schwer vorstellbar. Daher überrascht es uns auch nicht, wenn der ehemalige Feuilleton-Chef der Zeit, Rudolf Walter Leonhardt, schreibt: „Literaturkritik hält der Literatur, die sich sonst selber gar nicht reflektieren könnte, einen Spiegel vor.“23

23

R.W. Leonhardt: „Argumente für und gegen Literaturkritk“, S. 114.

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III.2 ABGRENZUNGEN : D IE L ITERATURKRITIK DES L ITERATURSYSTEMS UND IHRE U MWELTEN Es mangelt also auch über 200 Jahre nach dem Ende des Athenäum-Projekts nicht an programmatischen Äußerungen, die das Rezensionswesen in der ein- oder anderen Weise als Kernkomponente literarischer Kommunikation einordnen. Wir wollen hier freilich nicht den Eindruck erwecken, die Funktionsbestimmungen der Literaturkritik erschöpften sich in diesen vielstimmigen Beschwörungen einer rein literarischen Literaturkritik – weder auf der Ebene autoreflexiver Selbst- noch auf der Ebene literaturwissenschaftlicher Fremdbeschreibungen. Immer wieder finden sich auch noch in der klassischen Moderne sowie der Postmoderne die schon aus der Epoche der Gelehrtenrepublik stammenden Begründungsmuster, die etwa darauf abzielen, mittels Literaturkritik auch die Lesesozialisation von Menschen planvoll zu gestalten, was sich am prominenten Beispiel Marcel Reich-Ranickis zeigen lässt, für den „natürlich jede Kritik, offen oder getarnt, auch eine pädagogische Absicht enthält. Das gehört seit eh und je zum Gewerbe.“24 Dass die Buchbesprechungen dazu dienen, wahrheitsfähige Erkenntnisse über Literatur zu gewinnen, ist ebenfalls bis in unsere Tage hinein eine weitere wichtige Spielart der Literaturkritik, die zum alteuropäischen Erbe der Selbstreflexionsinstanz des modernen Literatursystems gehört. Entsprechende Konzepte werden daher auch heute noch aus dem Erziehungssystem oder der Literaturwissenschaft über die Programmebene ins Literatursystem gehievt. Nun gibt es allerdings verschiedene Ursachen dafür, dass sich die Literaturkritik der Literatur für Irritationen aus anderen Sozialsystemen besonders empfänglich zeigt. Der Kritiker Uwe C. Steiner weist darauf hin, dass die „Leitdifferenz“ der Literaturkritik, die er mit dem Dual „gut oder schlecht“ bestimmt, eine „semantisch arme Unterscheidung“ darstelle, weshalb die „Zuordnung der Werke zu einem der beiden Werte (respektive abwägenden Urteile) [...] programmatischer Unterstützung, z.B. durch ästhetische Normen, Richtlinien, Geschmäcke und Gepflogenheiten“25 bedürfe. Das gleiche Präzisierungsbedürfnis gilt unseres Erachtens auch für den von uns vorgeschlagenen Reputationscode (literarisch) wertvoll/wertlos, der allerdings als Nebencode in Erscheinung tritt und Verwechslungen mit der Leitunterscheidung der Moral ausschließt. Nicht anders als andere Sozialsysteme importiert das Literatursystem in Gestalt der Literaturkritik daher gelegentlich, wenn sich rein innerliterarische Maßstäbe (aus welchen Gründen auch immer) als nicht durchsetzungsfähig erweisen, Programmsegmente aus anderen gesellschaftlichen Teilbereichen und inkorporiert diese in ihre eigenen 24 25

M. Reich-Ranicki: Über Literaturkritik [1970], S. 62. U.C. Steiner: „Literatur als Kritik der Kritik“, S. 129. Steiner lässt allerdings offen, ob er die Literaturkritik als eigenes Funktionssystem betrachtet, was die Rede von der Leitdifferenz eigentlich suggeriert.

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Kriterienkataloge, wohlgemerkt nicht ohne zuvor eine Verrechnung mit der hauseigenen Leitunterscheidung interessant/langweilig sowie dem Reputationscode vorzunehmen, die – argumentativ unterfüttert, aber nicht verifizierbar – stets tonangebend bleiben müssen, damit eine Rezension systemintern tatsächlich als echter Selbstbeobachtungsversuch gehandelt werden kann. Geschieht dies nicht, liegt auch keine literarische Kommunikation in unserem Sinne vor, sondern etwa eine Erziehungsmaßnahme, wissenschaftliche Abhandlung, Parteipropaganda oder Reklame. Als prominentes Beispiel aus der klassischen Moderne mag Walter Benjamin dienen. Benjamin, geprägt durch die scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik, glaubte nicht, dass eine den sozialen Entstehungskontext ausblendende „immanente Kritik“, die „ihre Maßstäbe im Werk improvisiert“, zu mehr als „zu einzelnen glücklichen Resultaten führen“26 könne. Die Ursache hierfür sieht er im Verlust der Verbindlichkeit sprachkünstlerischer Normen, wie sie aus der ästhetischen Tradition überliefert sind. An ihre Stelle, so Benjamin weiter, müssten daher andere Kriterien treten, die mit einem größeren Maß an Definitivität aufwarten können, das sich aus literaturfremden Quellen, wie etwa politischen Ideologien, speist: In Wahrheit hat aber jede Kritik heut mit der Einsicht einzusetzen, daß Maßstäbe samt und sonders ihren Kurs verloren haben. Sie können auch durch eine noch so virtuose Entwicklung der alten Aesthetik nicht hervorgebracht werden. Vielmehr muß die Kritik sich – jedenfalls zuvörderst, im ersten Stadium – ein Programm zu Grunde legen, das nun, wenn es den Aufgaben, die vor ihr stehen, gewachsen sein soll, nicht anders als politisch-revolutionär sein kann.27

Gute Literatur hat also progressiv und klassenkämpferisch zu sein – so sieht es zumindest Benjamin. Wir wollen aber an dieser Stelle nicht weiter auf die politischem Engagement geschuldeten Versatzstücke literaturkritischer Programmatiken des vergangenen Jahrhunderts eingehen, die in den letzten Jahrzehnten deutlich in den Hintergrund getreten sind, sondern vielmehr das intersystemische Verhältnis zwischen Wissenschaft, Erziehung und dem Selbstbeobachtungsmodus des modernen Literatursystems kurz beleuchten. Schließlich weisen gerade diese drei Sozialsystemtypen laut unserer Rekonstruktion den höchsten evolutionären Verwandtschaftsgrad auf, da sie allesamt auf den gemeinsamen Urtyp der gelehrten Kommunikation zurückgehen. Wenn, wie im Falle der Wahrheit, die Berufung auf ein literaturfremdes Medium geeignet ist, systeminterne Dauerkonflikte, die etwa durch die Ausbildung von Zirkeln statuspositionaler Differenz entstehen können, effektiv einzugrenzen, nimmt es nicht Wunder, dass sich Rekurse auf die Wahrheit mit gewisser Regelmäßigkeit auch in den literaturkritischen Pro-

26 27

W. Benjamin: „Programm der literarischen Kritik [1929/30]“, S. 166. W. Benjamin: „Falsche Kritik [1930/31]“, S. 177.

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grammatiken der funktionalen Moderne wiederfinden lassen. Eva Menasse unterstreicht, dass es vor allem die mit einem hohen Kapitalvolumen ausgestatteten und damit statuspositional besonders exponierten, sich „im Besitz eines weitgehend objektiven Beurteilungsmaßstabes“ wähnenden „Großkritiker“ seien, die trotz ihres selbstbewussten Hangs zur Apodiktik „den Verdacht auf Subjektivität am weitesten von sich“28 wiesen. Reinhard Baumgart hat mit Berufung auf den Strukturalisten Roland Barthes allerdings darauf hingewiesen, dass gerade dieses Verdachtsmoment als wesentliches Identitätsmerkmal der literaturkritischen Tätigkeit und als Differenzkriterium zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft anzusehen sei: Der Kritiker gibt einem Werk nur eine, eben seine subjektiv zu begründende und zu verantwortende Bedeutung, der Fachmann dagegen, oder genauer: der Literaturwissenschaftler, hätte alle nur möglichen Bedeutungen eines Werks zu entfalten.29

Auch Jörg Magenau hebt eigens hervor, die Literaturkritik erschließe sich einen „Raum, in dem als Maßstab vor allem eines gilt: die eigene, unverstellte Subjektivität. Deshalb ist es müßig, über objektive Kriterien diskutieren zu wollen.“30 Nichtsdestotrotz besteht also der Reiz des Wahrheitsmediums nach wie vor offenbar in der durch seine Indienstnahme aufscheinenden Möglichkeit der Legitimation des eigenen, zutiefst kontingenzbehafteten und damit stets angreifbaren Standpunktes durch eine Annäherung an argumentative Verfahren, die aus der Wissenschaft bekannt sind, auch wenn diese letztlich nicht geeignet sind, literaturkritische Wertungen überzeugend zu objektivieren. Selbst Alfred Kerr, seines Zeichens ein eben solcher Großkritiker und ansonsten gerne als Kronzeuge einer autonomen, strikt literarischen Literaturkritik zitiert, die im Rezensionswesen „eine Kunst, keine Wissenschaft“31 sieht, erliegt bis zu einem gewissen Grad dieser besonderen Anziehungskraft und kommt nicht völlig ohne konzeptionelle Inbeschlagnahme des Mediums der Wissenschaft aus, das er an einer Stelle gar zur Prämisse jeglicher literaturkritischen Tätigkeit erklärt: „In der Kritik also nicht nur die Wahrheit zu sagen (welches Voraussetzung ist), sondern ein Kunstwerk in ihrer Äußerung zu gestalten, eine Schönheit zu zeugen, ein Gebilde zu bilden: nur solche Kritik ist produktiv.“32 Trotzdem bleibt es aber dabei, dass die Literaturkritik zumindest im deutschsprachigen Raum keine literaturwissenschaftliche Disziplin geworden ist. So möchte Helmut Böttiger etwa alles „allzu Akademische“33 aus dem literaturkritischen Diskurs verbannen, um drohende Langeweile zu vermeiden. Eva Menasse stellt

28 29 30 31 32 33

E. Menasse: „Der Kritiker als Geigenbauer“, S. 129. R. Baumgart/H. Böttiger/S. Löffler et al.: „Die Kunst des Lesens“, S. 163. J. Magenau: „Literatur- und Ideologiekritik“, S. 184. A. Kerr: „Vorwort [1904]“, S. 14. Ebd., S. 16. H. Böttiger: „Positionen der Literaturkritik“, S. 168.

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klar, man könne nicht mit dem „kalten Blick des Pathologen“, sprich „nicht rein deskriptiv und emotionslos über Bücher schreiben“.34 Auch Gustav Seibt, der drei allerdings nie in Reinkultur, sondern stets in Mischformen in Erscheinung tretende Modi literaturkritischen Verhaltens unterscheidet, betont, dass zumindest die „zweite Grundform der Kritik“, die den „Standpunkt der autonomen Kunst“ einnehme und den Traditionen von Sturm und Drang, Weimarer Klassik und Romantik entstamme, „freilich mit den kalten Nachrechnungen der allgemeinen Vernunft, mit Regelpoetik und Semiotik, nichts zu tun haben“35 wolle. Ähnlich distanziert sei überdies das Verhältnis zwischen Wissenschaft und der dritten Grundform der Kritik, die „entschlossen den Standpunkt des Publikums“ vertrete, sprich die Perspektive der überwältigenden Majorität der Teilnehmer dieses dezidiert asymmetrischen Kommunikationstyps; dazu gehöre auch, so Seibt weiter, dass „alles Professorale, überbildet Philosophische, trocken Philologische entschlossen abgewehrt“ werde, um die Rezensionen auch in einem Tonfall gestalten zu können, der „urban, witzig, selbst unterhaltsam“36 sei, womit sich Seibt ganz in die Tradition der frühromantischen Kritikkonzeption der Gebrüder Schlegel stellt. Zwar sei es laut Eva Menasse auf der sachdimensionalen Ebene durchaus zu begrüßen, wenn der Literaturkritiker die Klaviatur literaturwissenschaftlicher Terminologie beherrsche. Jegliche Anlehnung an die langatmige und umständliche Methodik philologischer Forschung, die ohnehin eine nicht hinnehmbare Zusatzbelastung für das an Informationshypertrophie leidende Literatursystem bedeutet hätte, hält indes auch Menasse für fehl am Platze, da es bei den Literaturkritiken eben nicht um überprüfbare wissenschaftliche Erkenntnisse gehe, sondern schlicht darum, dass die Rezensionen überhaupt imstande sein müssen, hinreichend Aufmerksamkeit zu binden, damit sie über ihre Wertungsakte einen Einfluss auf die zukünftige Richtung der literarischen Evolution ausüben könnten: Was in der Wissenschaft seine Berechtigung hat, weil diese langwierigen Verfahren zu neuen Einblicken und Vergleichsmöglichkeiten führen können, scheint mir im Falle der Literaturkritik völlig verfehlt. [...] Natürlich soll ein Literaturkritiker schon mal etwas von verschiedenen literaturwissenschaftlichen Begriffen gehört haben, er soll die Metapher nicht mit dem Vergleich verwechseln und den Erzähler vom Autor unterscheiden können. Aber er soll sich niemals im Detail verlieren, sondern das Ganze im Blick behalten, er soll nicht mit den Spezialistenwerkzeugen des Wissenschaftlers spektakulär jonglieren, sondern an die Banalität seines Auftrags denken, eine Banalität, die durchaus herausfordernd ist. [...] Nur wenn seine Kritik, und sei sie noch so vernichtend, auch gelesen wird, hat er den Büchern, der Literatur überhaupt einen Dienst erwiesen.37

E. Menasse: „Der Kritiker als Geigenbauer“, S. 128. G. Seibt: „Sehr erprobte Formen [1997]“, S. 15. 36 Ebd., S. 18. 37 E. Menasse: „Der Kritiker als Geigenbauer“, S. 125. 34 35

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Darüber hinaus klingt im von Menasse verwendeten Begriff der ‚Langwierigkeit‘ natürlich auch die herausstehende Bedeutung der Zeitdimension für die Abwicklung von Literaturkritik an. Die Besprechungen literarischer Werke müssen auch heute noch so pointiert formuliert sein, wie Nicolai es einst eingefordert hatte. Die Rezensionen dürfen prinzipiell nicht zuviel Zeit in Anspruch nehmen, um die Unterhaltungsfunktion des Literatursystems auch auftragsgemäß bedienen zu können. Das gilt für Negativkritiken sogar noch in gesteigertem Maße. Zwar müssten auch Verrisse „wohlbegründet“ sein, sie sollten aber „trotzdem generell kürzer sein als eine zustimmende oder zumindest neutrale Kritik, weil der Verriß in äußerster Konsequenz ja sagt, ein Buch wäre es nicht wert, gelesen zu werden.“38 Die wertvollen literarischen Werke selbst sind es, die das Gros der frei disponiblen Zeitkontingente in Anspruch nehmen dürfen, während die Literaturkritik bloß schnell, d.h. Komplexität radikal reduzierend einen groben Überblick über die Neuerscheinungen erlauben soll. Futuristen wie Marinetti hätten sich vermutlich für den Hang der modernen Literaturkritik zur Geschwindigkeit begeistern können. Der Heidelberger Feuilletonist Michael Braun allerdings betrachtet diesen Prozess mit einiger Skepsis, denn gerade die wirklich originellen, künstlerisch fortschrittlichen Werke hätten es vor diesem Hintergrund besonders schwer, mit einer wirklich angemessenen Aufmerksamkeitsspanne bedacht zu werden, weil der strukturelle Zwang zur Geschwindigkeit lediglich die fest eingefahrenen, zum Habitus gewordenen Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata der Literaturkritiker mobilisiere, die gegenüber echten Neuerungen, die eigentlich erst einmal mit dem Gewohnten zu verrechnen wären, blind bleiben müsse: Die Freiheit des freien Literaturkritikers besteht vor allem darin, daß er keine Zeit mehr hat, nach den Kriterien seiner Arbeit zu fragen. Statt dessen konzentriert er sich auf die Zeichenzahl seiner Drucksachen und auf die Beschleunigung seiner Textproduktion, da schon wieder die nächste Deadline droht. [...] Vor uns atemlosen DauerKritikern ziehen, wie Virginia Woolf einmal angemerkt hat, die Bücher zur Musterung vorbei wie die Tiere vor einem Jahrmarkts-Schießstand. Für das ästhetisch Revolutionäre eines Textes haben wir im Ernstfall kaum noch ein Sensorium. Wenn nämlich ein literarisches Werk eine fundamentale ästhetische Neuerung realisiert, dann setzt es jene kritischen Standards und die Instinkte des schnellen Geschmacksurteils außer Kraft, all jene Reflexe von Kategorisierung und Vergleich, die im Rezensionswesen zu den Üblichkeiten gehören.39

Man könnte auch sagen, der umstandsbedingte Geschwindigkeitsrausch, der sich insbesondere bei den vom Rezensieren lebenden freien Literaturkritikern bemerkbar macht, scheint sich also vor allem dahingehend zu äußern, dass sich die Literaturkritik tendenziell neuartigen, überraschenden Variationen gegenüber verschließt. Diese Form der Literaturkritik neigt offensicht38 39

Ebd., S. 132. M. Braun: „Denker ohne festen Wohnsitz“, S. 87 u. 89.

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lich dazu, die bereits eingeschliffenen Erwartungen im Literatursystem im Rahmen einer Privilegierung des Orthodoxen ganz einfach zu bestätigen, was die Selektion und Stabilisierung literarischer Innovationen nachhaltig erschwert und die Literaturkritik in die Nähe der schon von den russischen Formalisten Viktor Šklovskij und Jurij Tynjanov beschriebenen Automatisierung bereits anerkannter und etablierter Wahrnehmungsweisen rückt.40 Der hiermit angesprochene Zusammenhang zwischen Literaturkritik und Evolution des Literatursystems, der auch vom tschechischen Strukturalisten Felix Vodička hergestellt wird, wäre in zukünftigen Arbeiten einer eingehenderen Prüfung zu unterziehen.41 Auch Sigrid Löffler betont indessen den „furchtbaren Zeitdruck“, unter dem die Literaturkritiker rezensieren müssten, der „weder dem geruhsamen, entspannten Nachdenken über ein Werk noch der eigenen Formulierungskraft besonders dienlich“42 sei. Wissenschaft und Literaturkritik, die zwar beide nicht ohne Reputationscode auskommen, unterscheiden sich mithin nicht zuletzt auf der Ebene des Umgangs mit Zeitreserven in so fundamentaler Weise voneinander, dass sie sich unmöglich zum gleichen Sozialsystem zählen lassen – ein Umstand, auf den auch Konstanze Fliedl jüngst aufmerksam gemacht hat: Rechnet die Literaturkritik mit einer Interessenbindung von maximal bis zu einem Jahr, so kann die wissenschaftliche Studie eine Halbwertszeit von fünf bis zehn Jahren beanspruchen. Das hat aber nun entsprechende temporäre Konsequenzen: Mit einigem Recht läßt sich die Langeweile als Trennkriterium zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik verstehen. Während Literaturkritik von Texten Kurzweil verlangt, weil sie selbst den beschleunigten Verwertungszyklen des literarischen Marktes unterworfen ist, darf sich die Literaturwissenschaft die edle Langeweile ihres Gegenstandes und ihres Umganges mit ihm leisten.43

Literaturkritik und Literatur können also Langeweile per se nicht tolerieren und müssen daher auf die von Braun bedauerten Schnellschüsse zurückgreifen, während die weniger unter Zeitdruck operierende Literaturwissenschaft sich die Zeit nimmt, ihren Objektbereich erschöpfend und theoretisch fundiert zu erfassen, notfalls über Jahre hinweg. Wenn Fliedl allerdings die Unverträglichkeit von Langeweile und literarischer Kommunikation mit dem ‚literarischen Markt‘ in Verbindung bringt, ist die Frage des intersystemischen Verhältnisses zwischen Reputation konstruierender Literaturkritik und Wirtschaftssystem angesprochen, der wir an dieser Stelle nachgehen wollen.

Siehe V. Šklovskij: „Die Kunst als Verfahren [1916]“, S. 11-17. Siehe auch J. Tynjanov: „Das literarische Faktum [1924]“ sowie J. Tynjanov: „Über die literarische Evolution [1927]“, S. 441-443. 41 Siehe F. Vodička: „Die Rezeptionsgeschichte literarischer Werke“, S. 75. 42 R. Baumgart/H. Böttiger/S. Löffler et al.: „Die Kunst des Lesens“, S. 180. 43 K. Fliedl: „Langweiliges“, S. 20. 40

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Aus der systemtheoretischen Literaturwissenschaft selbst kommt der Vorschlag, den literaturkritischen Diskurs der wirtschaftlichen Kommunikation zuzurechnen. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1995 behauptet Niels Werber, dass Literaturkritik „offensichtlich Anschlußfähigkeit primär im ökonomischen System erzeugt, denn jede Rezension wird wohl im Sinne einer Kaufempfehlung oder einer Warnung vor dem Erwerb eines Buches rezipiert.“44 Im Rückgriff auf Siegfried J. Schmidt begründet Werber diese Sichtweise mit der Spezifik der von den Literaturkritikern eingenommenen „Handlungsrolle“ des „Literaturvermittlers“, an der Werber bezweifelt, dass sie „zum System literarischer Kommunikation gehört – denn ihre Selektionsofferten erreichen primär das Wirtschaftssystem, erst dann die Literatur.“45 Die Entscheidung über Kaufen/Nichtkaufen ginge also gemäß dieser Lesart den im Literatursystem selbst zu treffenden Unterscheidungen etwa über den Unterhaltungswert einer literarischen Kommunikationsofferte und ihren künstlerischen Gehalt prinzipiell voraus, womit das Wirtschaftssystem einen beträchtlichen Einfluss auf den weiteren Kurs der literarischen Kommunikation gewänne: Erst in diesem zweiten Schritt ‚resoniert‘ das Literatursystem mit dem Medium ihrer Vermarktung, wenn nämlich positive oder negative Rezensionen ökonomische Erfolge oder Mißerfolge einleiten, so daß die Evolution in eine bestimmte Richtung der literarischen Kommunikation verstärkt oder geschwächt wird. Rezensionen führen zum Kauf oder Nicht-Kauf von Waren auf dem Buchmarkt, erst dann kann das Literatursystem darauf reagieren, so daß dann etwa noch mehr ‚gothic novels‘ und noch weniger sentimentale Liebesromane geschrieben werden.46

Zweifelsohne verhält es sich so, dass die literarische Kommunikation den Büchermarkt in ihrer ökonomischen Umwelt nicht einfach ignorieren kann und die Aussicht auf finanzielle Profite auch einen gehörigen Einfluss auf die literarischen sowie literaturkritischen Programmatiken zeitigt, denn schließlich müssen viele Schriftsteller und auch Kritiker heutzutage von ihrem Textoutput leben, es sei denn, sie erfreuen sich staatlicher oder anderweitiger Förderung. Auf der Akteurebene lassen sich tatsächlich leicht, je nach Sozialraumposition, unterschiedliche Grade ökonomischer Abhängigkeit literaturkritisch Tätiger feststellen. So kann es sich der fest eingestellte Literaturredakteur leisten, frei darüber zu entscheiden, „was er am liebsten selbst besprechen möchte“47, und auch der „Gelegenheitsmitarbeiter, der eigentlich einem anderen Beruf nachgeht, der vielleicht Lehrer oder Assistent an einer Universität ist, hat etwas mehr Spielraum, auch ökonomisch, kann dafür aber nur einen Teil seiner Zeit und Kraft dem Rezensieren von

N. Werber: „Der Markt der Musen [1995]“, S. 204. Ebd., S. 204. 46 Ebd., S. 204. 47 V. Hage: „Literatur am Montag“, S. 149. 44 45

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Büchern widmen“48, während der, wie bereits angesprochen, besonders unter Zeitdruck stehende freie Kritiker, der sich laut Michael Braun als „intellektuell flexibler Tagelöhner“ verdingt, „ohne dafür im Gegenzug Rechtssicherheit zu erhalten“49, dafür Sorge tragen muss, „Abnehmer für seine Produkte zu finden, und zwar möglichst nicht nur einen Abnehmer pro Artikel, denn dann würde er vom Schreiben allein schon gar nicht leben können“.50 Es gibt jedoch aus unserer Sicht eine Reihe von Gründen, die jenseits derartiger, auf die Bedürfnisse einzelner Akteure zurückgehender Bedingungslagen gegen eine prinzipielle Zurechnung der Literaturkritik zum Wirtschaftsystem sprechen. Eine solche Zuordnung, die wichtige, von der Literaturkritik bearbeitete literatursystemspezifische Probleme wie etwa das der Orientierungslosigkeit, das der Notwendigkeit der Etablierung einer stabilen Systemgrenze oder das der Vermeidung zeitlicher Fehlinvestitionen in langweilige und eventuell künstlerisch wertlose literarische Kompaktkommunikationen aus dem Blick verliert, reduziert schließlich die Rezensionen faktisch auf den Status von Reklame und erklärt sie kurzerhand „zum werbeträchtigen Zehnzeiler und zum argumentfreien ‚Buchtip[p]‘“, verfasst vom „Kritiker als Klappentexter, der zum Zuliefererbetrieb für Presseabteilungen degeneriert ist“, um einmal mehr die Worte Michael Brauns zu gebrauchen, der das Horrorszenario einer bloß wirtschaftlichen Interessen entsprechenden Literaturkritik auch zum „altbewährten Schreckgespenst“51 des literaturkritischen Diskurses apostrophiert, das immer wieder einmal Konjunktur hat. Konjunktur haben daher stets auch die bisweilen blumigen Distanzierungsversuche, die seitens der Literaturkritik gegenüber drohender Vereinnahmung durch den Buchmarkt laut werden. So spricht etwa Jörg Magenau in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik aus dem Jahr 1995 aller Literaturkritik, die lediglich „als eine Art ‚Stiftung Warentest‘“ agiere und sich in der Funktion, „Gütesiegel oder Warnschildchen auf frische Waren [zu] kleben“52 erschöpfe, jede Existenzberechtigung kategorisch ab. Eine Literaturkritik, die als bloßes Schmiermittel für ein reibungsloses Funktionieren des Bücherabsatzes herhalten soll, ist den Literaturkritikern also offensichtlich ein Gräuel, und in der Tat unterscheiden sich Werbung und Literaturkritik strukturell doch ganz erheblich voneinander. Anders als in der Werbung üblich, wird beispielsweise nicht ein und dieselbe Rezension gleichzeitig in verschiedenen Organen veröffentlicht, sondern immer nur eine pro Zeitschrift, und das auch nur einmal, während die Werbebotschaften eine extrem hohe Wiederholungsrate aufweisen, um regelrecht ins Gedächtnis potenzieller Kunden eingehämmert zu werden. Auch ist die zur

Ebd., S. 149. M. Braun: „Denker ohne festen Wohnsitz“, S. 87. 50 V. Hage: „Literatur am Montag“, S. 148. 51 M. Braun: „Denker ohne festen Wohnsitz“, S. 88. 52 Zit. n. R. Baumgart/H. Böttiger/S. Löffler et al.: „Die Kunst des Lesens“, S. 181. 48 49

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Aufnahme von Werbebotschaften notwendige Aufmerksamkeitsspanne meist verschwindend gering, während im Fall von Buchbesprechungen, die zumindest flüchtig gelesen werden müssen, schon eine deutlich größere Zeitinvestition notwendig wird. Dabei steht die Gefahr der Verschwendung freier Zeit im Zentrum literaturkritischer Überlegungen, während die Werbung ausschließlich zum Kauf anstacheln will und die eigentliche Qualität der von ihr angepriesenen Produkte ebenso ignorieren kann wie die Zeitdimension, von Hinweisen auf die Langlebigkeit eines Produktes oder die durch das Produkt ermöglichte Zeitersparnis, die dann anderen Aktivitäten zugutekommt, einmal abgesehen. Der Konsum von Werbung findet außerdem meist nicht auf der Grundlage einer wirklich zielgerichteten bewusstseinsförmigen Intentionalität statt, wie im Falle der Literaturkritik, sondern eher zufällig und nebenher, je danach, wo einem gerade die Reklame begegnet – im Straßenverkehr, beim Fernsehen, beim Surfen im Internet, beim Zeitschriftenlesen usw. Ein weiterer Aspekt, der Werbung von Literaturkritik unterscheidet, ist darin zu sehen, dass Negativwerbung zum Nachteil der Konkurrenz laut Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb nur erlaubt ist, sofern die zugrunde gelegten Tatsachen auch einer externen Wahrheitsprüfung (etwa durch die von Magenau zum Vergleich herangezogene Stiftung Warentest oder andere Gutachter) standhalten, was Negativwerbung aufgrund des dazu meist nötigen Aufwandes eher zu einer Seltenheit macht. Das Literatursystem hingegen kann, wie wir gezeigt haben, aufgrund des enormen Informationsvolumens, das es zu verarbeiten hat, keineswegs auf Negativkritik verzichten – im Gegenteil. Sozial ermöglicht wird die in den Bewusstseinsumwelten der Literatur für reichlich Turbulenzen sorgende Negativkritik dabei nicht zuletzt dadurch, dass die Literaturkritik es mit opaken symbolischen Produkten zu tun hat, die ein wesentlich komplexeres Verhältnis zum Wahrheitsmedium unterhalten als etwa Waschmittel oder Hundefutter. So sieht sich die Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum bis heute nicht in der Lage, Qualitätskriterien für literarische Werke zu objektivieren, weshalb auch gegen als falsch empfundene literaturkritische Wertungen an sich nicht juristisch vorgegangen werden kann, solange andere Straftatbestände, wie etwa Beleidigung oder üble Nachrede, außen vor bleiben. Wie wir gesehen haben, ergeben sich aus der Analyse literaturkritischer Zeitschriften aus der Phase der Umstellung auf funktionale Differenzierung eine Menge Anhaltspunkte dafür, das Neutralitätsgebot als Kontingenzformel der Literaturkritik aufzufassen. Auf dem Gebiet der Werbung indessen gibt es nichts Vergleichbares – im Gegenteil, Reklame „ist prinzipiell als solche zu erkennen und niemals unparteiisch. Sie offenbart dem aufgeklärten Konsumenten ihre Intention, nicht nur informieren oder unterhalten, sondern die beworbenen Produkte und Dienstleistungen letztlich verkaufen zu wollen.“53 Werbung stellt also immer eine extrem einseitige Parteinahme

53

C. Wehner: Überzeugungsstrategien in der Werbung, S. 152.

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dar, für die man obendrein auch noch bezahlen muss, was unter normalen Umständen in der Literaturkritik ausgeschlossen ist. Überdies kommt die Werbung mit der bloßen Behauptung des einmaligen Wertes einer Handelsware schon aus, während die Literaturkritik ihre Beurteilungen stets (mehr oder minder nachvollziehbar) begründen muss, auch wenn sich diese Begründungen nicht wissenschaftlich verifizieren lassen. Kleinster gemeinsamer Nenner aller wirklich literarischen Literaturkritiken ist mithin nicht die explizite Aufforderung zum Kauf (die es bisweilen durchaus gibt), sondern, wie wir gezeigt haben, die begründete Wertung eines Werkes, die im Gegensatz zu den objektivierenden Wissenschaften als „Maßstab“ zwar letztlich nur die „eigene, unverstellte Subjektivität“54 gelten lässt, deren Argumentationslinie jedoch stets, wie Werber selbst betont, „ästhetischen und poetologischen Mustern folgen“55 muss. Von den nur wenige Zeilen umfassenden Buchtipps werden solche Begründungen natürlich nicht geliefert. Ohne großen Zeitverlust gestatten sie der Leserschaft lediglich, sich auf einem Gebiet, auf dem sie „über keine Kriterien verfügt, mit Selektionssicherheit versorgen zu lassen“56, weshalb wir dafür plädieren, diese extrem verkürzte Form des Kommunizierens über Literatur wirklich als Werbung bzw. Kaufempfehlung im Sinne Werbers anzusehen, die dann tatsächlich zum Wirtschaftssystem zu zählen wäre. Buchtipp und Buchbesprechung sind also in unterschiedliche Systemkontexte eingebunden und behandeln das Werk entweder primär als Kunst oder als Ware. Dabei ist es dem Literatursystem gleichgültig, wer das Buch besitzt; wichtig ist ihm nur, dass das Werk auch mit Interesse gelesen wird und dabei mehr oder minder niveauvoll unterhält. Die Zugehörigkeit zum Wirtschaftssystem erklärt im Übrigen vielleicht auch, weshalb verschiedene Literaturkritiker der argumentfreien Kürzestkritik eine höhere Durchschlagskraft auf dem Buchmarkt attestieren als der genuin literarischen Literaturkritik, denn schließlich müssen sich die Buchtipps nicht erst auf dem Umweg über die Programmebene in ein anderes System einschleichen und können unmittelbar auf den erhofften Kunden einwirken. So stellt etwa Ursula Escherig diesbezüglich fest: „Die Kurzrezension, der Buchtip[p] zur Weihnachtszeit ist oft wichtiger als die langen Besprechungen.“57 Noch radikaler sieht diesen Zusammenhang der Autor Peter Kurzeck: „Fünf Zeilen in der Brigitte bewirken mehr als das gesamte deutsche Feuilleton.“58 Michael Braun schließlich sieht, ähnlich wie z.B. auch Reinhard Baumgart, praktisch überhaupt keinen intersystemischen Zusammenhang mehr zwischen literarischer Kritik und Wirtschaftssystem: „Ob der Kritiker der feinsinnigen Tages- oder Wochenzeitung nun eine Lo-

R. Baumgart/H. Böttiger/S. Löffler et al.: „Die Kunst des Lesens“, S. 184. N. Werber: „Der Markt der Musen [1995]“, S. 204. 56 N. Luhmann: Die Realität der Massenmedien [1996], S. 89. 57 U. Escherig: „Empfindsame Indianer“, S. 23. 58 Zit. n. H.-J. Neubauer: „Nachschleichende Leser“, S. 21. 54 55

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beshymne oder aber einen Verriß orchestriert, bleibt ohne nachhaltige Wirkung auf den Buchmarkt.“59 Andererseits schnellen in den USA bekanntlich die Verkaufszahlen in die Höhe, sobald ein Werk in Oprah’s Book Club besprochen wird, wie 1999 etwa Bernhard Schlinks mittlerweile gar verfilmter Roman Der Vorleser, was natürlich sowohl auf das Medium des Fernsehens als auch die außergewöhnliche Popularität der Moderatorin zurückzuführen ist. Offensichtlich bereitet die zwischen der Literatur und der Wirtschaft aufgespannte Systemgrenze der Wissenschaft gerade an diesem elementaren Punkt große Probleme, torpediert sie doch alle Erklärungsmodelle, die zwischen literaturkritischer Selbstbeobachtung der Literatur und Wirtschaftssystem auf schlichte Linearität oder einfache Kausalität setzen. Symptomatisch hierfür sind resümierende Aussagen wie die folgenden aus der Feder Ursula Escherigs und Hans-Joachim Neubauers, die sich auf das im Jahr 2000 vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft veranstaltete Symposium zur Literaturkritik beziehen. So bemängelt Escherig: „Wie sehr sich eine positive oder negative Literaturkritik auf das Kaufverhalten auswirkt, das konnte keiner der Fachleute genau sagen.“60 Und auch Neubauer stellt einigermaßen frustriert fest, dass „in der Regel [...] nichts schwerer meßbar [ist] als der Einfluß einer Kritik auf den Verkauf eines Buches.“61 Eine ernstzunehmende polykontexturale Literaturwissenschaft darf sich der schwierigen Frage nach den Intersystembeziehungen zwischen der Literaturkritik des Literatursystems und der Wirtschaft freilich nicht entziehen, auch wenn diese Beziehung äußert komplex und von Seiten der Literaturkritik gleichermaßen von Absetzmanövern wie von Eingeständnissen der Abhängigkeit geprägt ist, wie folgende an die Adresse der Rezensenten gerichtete Forderung Reinhard Baumgarts verdeutlicht: Ein Kritiker sollte so marktunabhängig wie nur möglich schreiben und doch so marktbewußt wie nötig. Denn wissen muß er, daß er die Erfolgschancen eines Buches und eines Autors beeinflußt wie ein Analyst Börsenkurse. Ob minimal oder entscheidend, das hängt ab von seiner Person und Autorität, seinen Argumenten und seinem Medium, doch nicht zuletzt eben auch von seinem Interesse oder Desinteresse an der eigenen lobbyistischen Macht.62

Die Vielschichtigkeit der Fragestellung lässt sich schon daran ablesen, dass Baumgart in seinem Appell mit Begriffen wie ‚Bewusstsein‘ und ‚Person‘, aber auch ‚Autorität‘, ‚Macht‘ und ‚Markt‘ aufwartet, die sich sowohl auf die Bewusstseinsumwelten der angesprochenen Sozialsysteme, als auch auf deren interne Kommunikationsroutinen wie den Reputationscode oder den Buchmarkt als eine innere Umwelt des Wirtschaftssystems beziehen.

M. Braun: „Denker ohne festen Wohnsitz“, S. 88f. U. Escherig: „Empfindsame Indianer“, S. 23. 61 H.-J. Neubauer: „Nachschleichende Leser“, S. 20. 62 R. Baumgart/H. Böttiger/S. Löffler et al.: „Die Kunst des Lesens“, S. 160. 59 60

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Die System-zu-System-Beziehung zwischen Literatur und Wirtschaft beschreibt Niels Werber als Form struktureller Kopplung zweier gleichberechtigter Sozialsysteme, die sich im Zuge der Umstellung auf funktionale Differenzierung koevolutiv herausgebildet hat und beiden Systemen gleichermaßen nützt. Das Wirtschaftssystem profitiert insofern von dieser Symbiose, als es „die Literatur mit dem Code ‚profitabel/unprofitabel‘ abtastet“63, um sich neue Absatzmärkte zu erschließen, ohne die es nicht dauerhaft überleben könnte. Aus der Sicht der Wirtschaft gilt nun einmal: Je mehr Bücher verkauft werden, desto besser. Ein einmaliges, heuristisches Lesen reicht hierzu völlig aus, und notfalls ist es aus ökonomischer Sicht auch genug, wenn das Buch ungelesen im Bücherschrank verstaubt, solange nur neue Bücher nachgekauft werden. Dabei fallen auch die von der Literaturkritik des Literatursystems nach Maßgabe künstlerischer Programmkriterien zur Verfügung gestellten Reputationsdaten ins Gewicht, die dem Wirtschaftssystem, ähnlich wie etwa die Preise für Druckerfarbe und Papier, Anhaltspunkte zur Prognostizierung möglicher Verkaufszahlen und Profite liefern, die der Buchhandel für die Ausarbeitung seiner Investitionsprogramme benötigt. Gleichzeitig ermöglicht die Literaturkritik des Literatursystems den in der Käuferrolle agierenden psychischen Systemen, sich eine konkrete Vorstellung vom Unterhaltungswert und der literarischen Qualität eines Werkes zu machen. Diese Informationen benötigen sie, um die Preise auf dem Buchmarkt vor dem Hintergrund ihrer aufs Werk gerichteten Rezeptionserwartungen effektiv beobachten zu können, bevor sie die Entscheidung treffen, Geld für ein bestimmtes Buch auszugeben – oder eben nicht. Der Leser will, wie Gustav Seibt es ausdrückt, ganz einfach „relativ sicher“ sein, „ein interessantes Buch erworben zu haben“, auf das er „bei der nächsten Flugreise oder wo immer“64 zurückgreifen könne. Dafür stellt der Buchmarkt den Lesern eine soziale Infrastruktur zur Verfügung, die ihnen nach erfolgter Abwägung des Preis-Leistungsverhältnisses die Gelegenheit gibt, das Buch eines bestimmten Autoren als Ware auch kaufen zu können, damit es verfügbar ist, sobald sich in puncto Freizeit die Gelegenheit ergibt, es auch zu lesen. Das Literatursystem wiederum ist in der Breite auf die Wirtschaft angewiesen, „da es zu seiner Reproduktion weitgehend das Medium des gedruckten ‚Werks‘ benutzt“65 und sich nicht lediglich mit den unveröffentlichten Manuskripten in den Schreibtischschubladen der Autoren begnügen kann: Vor dem Lesen steht der Verkauf; und davor der Druck. Gewiß ist die Literatur autonom, doch nicht alles, was geschrieben wird, erscheint. [...] Druck, Verlag und Ver-

N. Werber: „Economic vices – literary benefits [1993]“, S. 67. R. Baumgart/H. Böttiger/S. Löffler et al.: „Die Kunst des Lesens“, S. 195. 65 N. Werber: „Economic vices – literary benefits [1993]“, S. 68. 63 64

386 | W ERTVOLLE W ERKE kauf von Büchern sind eine unverzichtbare Voraussetzung literarischer Kommunikation.66

Die Wirtschaft hat also als ein gewichtiges Wort bei der Evolution des Literatursystems mitzureden, da nur sie, im Gegensatz zur Literatur selbst, über die notwendige maschinelle Infrastruktur verfügt, die zur materiellen Herstellung des unverzichtbaren Verbreitungsmediums Buch benötigt wird. Die literarische Kommunikation kann folglich ihre Autopoiesis nur dann ohne größere Probleme fortsetzen, wenn sie bereit ist, dem Buchhandel bis zu einem gewissen Grade entgegenzukommen. Es ist also fest damit zu rechnen, dass auch der Aspekt der Verkäuflichkeit auf den Programmebenen der beiden Codes des Literatursystems Berücksichtigung findet, auch wenn das häufig verpönt ist und daher gerne verschwiegen oder im Verborgenen vollzogen wird. Notfalls reicht es für den Systemerhalt immerhin völlig aus, wenn hauptsächlich weiterhin die Zirkulation der zwar interessanten, aber (literarisch) wertlosen und schnell wieder vergessenen Werke gewährleistet werden kann, womit die Literatur, wenn auch auf niedrigem künstlerischen Niveau und weitgehend traditionslos, zumindest im Spiel bliebe. Gerade wegen dieser verbreitungsmedialen Abhängigkeit der literarischen Kommunikation vom Wirtschaftssystem, die der ausschließlich der symbolischen Sphäre verhafteten Literaturkritik des Literatursystem gewissermaßen natürliche Grenzen setzt – diese habe sich, um erneut Walter Benjamin zu zitieren, „bisher, um ein Buch zurückzuweisen, [...] im wesentlichen an dessen Autor gehalten“, könne aber, was die Entscheidung über Druck bzw. Nichtdruck eines Werkes angeht, „ihren Urteilen keine Exekution folgen lassen“67 –, erscheint es äußerst vielversprechend, den mit dieser Arbeit neu eingeschlagenen Weg eines kritischen Dialoges zwischen System- und Feldtheorie fortzusetzen, darf Bourdieus Ansatz doch gerade bei der Frage der Wechselbeziehungen zwischen ökonomischem Feld und anderen Teilbereichen der Gesellschaft, für deren Analyse der Franzose u.a. mit dem Konzept der relativen Autonomie ein besonders hochauflösendes Begriffsinstrumentarium entwickelt hat, zurecht als besonders profiliert gelten. In diesem Kontext könnte dann die Frage im Vordergrund stehen, inwieweit eine subjektlose Soziologie wie die Systemtheorie geeignet ist, den angesprochenen akteurspezifischen Bedingungslagen überhaupt gerecht zu werden, die höchst unterschiedliche Grade persönlicher Abhängigkeit der Literaturproduzenten und Kritiker vom Buchmarkt hervorbringen. Auch wäre zu klären, inwiefern die strukturelle Kopplung zwischen Literatur und Wirtschaft auf die von Michael Braun für die Gegenwart unterstellte Problematik der strukturell bedingten Neigung der Literaturkritik zur Bestätigung der im Literatursystem bereits dominierenden Erwartungen einwirkt, sprich ob die Koevolution von Literatursystem und Buchhandel tatsächlich literaturintern

66 67

Ebd., S. 67. W. Benjamin: „Programm der literarischen Kritik [1929/30]“, S. 162.

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diese kulturkonservative evolutionäre Tendenz zur Automatisierung bestärkt, was natürlich im Umkehrschluss einer sehr erheblichen Verschlechterung der grundsätzlichen Selektionsbedingungen der auf Verfremdung bzw. Normabweichung setzenden Produktionsästhetiken gleichkäme und folglich die Erfolgschancen literarischer Revolutionen ganz beträchtlich verringerte. Literaturkritik ist also weder wissenschaftliche Disziplin noch Werbung. Sie ist aber ebenfalls nicht per se zum Erziehungssystem zu rechnen, wenngleich sich auch in diesem Fall die enge evolutionäre Verwandtschaft in einem „flächendeckenden Studienratston, der jahrzehntelang die Feuilletons beherrschte“68, bemerkbar macht. Auch heute noch finden sich gelegentlich literaturkritische Programmatiken, die, ähnlich wie Thomasius, Nicolai oder Wieland, den Anspruch erheben, eine erzieherische Mission zu erfüllen – man denke nur an Reich-Ranicki. Trotzdem ist und bleibt die Literaturkritik auch in diesem Fall Bestandteil des literarischen Kommunikationstyps. Ähnlich wie im Fall der Werbung bestehen nämlich auch zwischen Rezensieren und Erziehen wesentliche strukturelle Unterschiede, die eine Zurechnung der Literaturkritik zum Erziehungssystem ad absurdum führen. So ist der Beruf des Literaturkritikers im Gegensatz zu dem des Lehrers oder Erziehers nicht gesetzlich geschützt und auch nicht direkt an bestimmte Ausbildungsgänge, Bildungstitel und Institutionen gebunden, sondern kann, genau wie derjenige des Schriftstellers oder Dichters, prinzipiell zunächst von jedem ausgeübt werden (auch wenn die Kritiker und Dichter meist einen akademischen Abschluss vorweisen können, was bildungsferne Schichten von vornherein exkludiert). Überdies findet erzieherische Kommunikation – die Fernuniversität Hagen möge es uns verzeihen – meist nicht schriftlich, sondern im Rahmen von Interaktionssystemen statt, die ihrerseits in straff strukturierte Organisationssysteme eingebettet sind, die hinsichtlich der zu erwartenden Karrieren ihrer Zöglinge wichtige Vorentscheidungen treffen, die sich in Noten, Zeugnissen und Bildungstiteln bekunden, denen die literaturkritischen Wertungen an Klarheit und Direktheit häufig durchaus nachstehen. Zwar ist auch die Erziehungskommunikation, um einen weiteren Unterschied zu benennen, praktisch immer mehr oder minder asymmetrisch – wenige Erzieher treffen auf viele Zöglinge – im Literatursystem wird aber eine Umkehrung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Bewertenden und Bewerteten vollzogen: Werden im Erziehungssystem die in der Mehrheit befindlichen Laien einer Bewertung ihrer Leistungsfähigkeit durch meist einen Experten unterworfen, muss sich im literaturkritischen Diskurs ein Schriftsteller als Experte viele von der Leserseite, also der Laienrolle ausgehende Bewertungen seiner Leistungen gefallen lassen. Die Literaturkritik des Literatursystems kann sich also etwa für wissenschaftliche, pädagogische, politische, wirtschaftliche (und auch noch andere literatursystemexterne) Perspektiven öffnen, um die Kriterien für die Aktualisierung des Reputationscodes je nach Bedarf auf der Programmebene wei-

68

H. Böttiger: „Positionen der Literaturkritik“, S. 168.

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ter spezifizieren zu können. Daraus ergibt sich dann die Möglichkeit, erhebliche Zugewinne an Eigenkomplexität zu erreichen. Die Literaturkritik als Selbstbeobachtungsinstanz des Literatursystems ist und bleibt aber trotz dieser Offenheit, solange sie mit begründeten und kriteriengeleiteten Wertungsakten operiert, funktional letztlich ganz auf die Lösung innerliterarischer Probleme zugeschnitten und muss somit als fester Bestandteil literarischer Kommunikation aufgefasst werden.

III.3 R EPUTATIONSGENESE

UND

K ONFLIKTSYSTEME

Sie besudeln das Firmament, sie werden statt ihrer Journale die Sterne bedrucken. Mich widert der faulige Atem williger Besprecheriche. Bittrer Arbeit Abendstirn spült doch ruckweise der Tod hinab! Wir sind ja nur ein armes Gurgelwasser im Rachen der Zeit.69 (Albert Ehrenstein)

Auffallend sind des Weiteren die vielen Konfliktsysteme, die sich im diskursiven Umfeld der Reputation konstruierenden Literaturkritik bilden und dabei wichtige innerliterarische Prozesse zur Beobachtung freigeben. Während im ausgehenden 17. Jahrhundert außerhalb von Freundeskreisen öffentlich hervorgebrachte Kritik an einem Werk gleichzeitig immer auch als Herabsetzung der gesamten Autorpersönlichkeit aufgefasst wurde und entsprechende Irritationen in den Bewusstseinsumwelten der literarischen Kommunikation auslöste, änderte sich dies im Lauf des folgenden Jahrhunderts merklich. Bei Thomasius wird eingangs noch, letztlich erfolglos, das in der gelehrten Kommunikation auf breiter Ebene zustimmungsfähige Wahrheitsmedium mit der Absicht der Deeskalation durch Entpersonalisierung eingesetzt, um auch Negativbewertungen ohne Kränkungen zu ermöglichen. An die Stelle des Mediums der Wissenschaft rückt bei Nicolai das durchaus artverwandte, aber nicht auf Verifizierbarkeit oder ein anderes literaturfremdes Medium festgelegte Neutralitätsgebot, das den Verdacht etwaiger Beeinflussung literarischer Wertungsakte durch vorab bestehende Sozialkapitalbeziehungen sowie konträre Moralvorstellungen zerstreuen soll. Bis in unsere Tage hat Nicolais Beispiel nichts an Dringlichkeit verloren, auch wenn die Fähigkeit der Rezensenten zu wirklicher Unparteilichkeit immer wieder in Zweifel gezogen wurde und wird. So beklagt etwa Jörg Magenau die „Tendenz zu Klüngeleien und Kumpaneien zwischen Autoren und Kriti69

A. Ehrenstein: „Ruhm [1914]“, S. 54.

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kern“ und kontert dies, nach dem klassischen Vorbild Nicolais, mit der paradigmatischen Forderung nach mehr „Unabhängigkeit und Distanz [...], die man als Kritiker braucht.“70 Da ein bestimmtes Maß an Unsicherheit hinsichtlich klandestiner Parteilichkeit auf psychischer Ebene grundsätzlich immer besteht und daher die Forderung nach literaturkritischer Neutralität im Literatursystem, verstanden als von persönlichen Animositäten und Interessen prinzipiell absehende Unvoreingenommenheit beim Aufruf des Reputationscodes, augenscheinlich ubiquitären Charakter besitzt, erscheint es angemessen, das Neutralitätsgebot als unverbrauchbare Kontingenzformel des Selbstbeobachtungsmodus des Literatursystems zu konzipieren, das dem hohen evolutionären Verwandtschaftsgrad der modernen literarischen Kommunikation mit der alteuropäischen Wissenschaft der Gelehrtenrepublik Rechnung trägt. Genau wie z.B. im Erziehungssystem allen Menschen Lernfähigkeit unterstellt und im Rechtssystem vom universalen Prinzip der Gerechtigkeit ausgegangen wird, setzt jegliche Partizipation am literaturkritischen Diskurs – zumindest offiziell – strikte Neutralität gegenüber Autor und Werk voraus, weshalb die Kriterien, mit denen die Literaturkritik operiert, immer auch etwas mit „der Sehnsucht nach Fairneß und Gerechtigkeit zu tun“71 haben, wie Volker Hage bemerkt. Bis heute kommt kein Kritiker auf Dauer damit durch, seine Beurteilungen etwa damit zu begründen, er könne den Autoren nicht leiden, selbst wenn dies offensichtlich der Fall ist. Auch wenn sich literaturkritische Wertungsakte nicht im Sinne der Wissenschaftstheorie hinreichend verifizieren oder falsifizieren lassen, muss doch jeder Aufruf des literarischen Reputationscodes mit kriteriengeleiteten Argumenten unterfüttert werden, um Konflikte möglichst zu entpersonalisieren. Marcel Reich-Ranicki hat im Jahr 1970 eine unseres Erachtens treffende, aus dem System selbst kommende Beschreibung dieser literaturkritischen Kontingenzformel abgeliefert, die man auch als Dauerlösung für das von der Kritik der Kritik wahrgenommene Problem der Tendenz zur Konfliktsystembildung bei der Aktualisierung des negativen Codewertes der Sekundärunterscheidung (literarisch) wertvoll/wertlos veranschlagen kann: Überdies haben wir es mit einer Plage zu tun, die so alt wie unausrottbar ist: Wo Bücher erscheinen und rezensiert werden, da lassen sich Gefälligkeiten und Freundschaftsdienste (und natürlich auch Racheakte) nicht ausschalten; und immer werden sie [...] als sachliche und objektive Urteile getarnt.72

Wielands literaturkritische Programmatik setzt, neben Wohlbegründetheit des Urteils, bezeichnenderweise ebenfalls auf eine von einer metakritischen Instanz garantierte Neutralität, die sich vor allem in dem Versuch bemerkbar macht, beide Seiten des von Haus aus asymmetrischen Reputationscodes in ausgeglichener und damit ‚fairer‘ Weise aufzurufen. Dabei lässt sich festR. Baumgart/H. Böttiger/S. Löffler et al.: „Die Kunst des Lesens“, S. 198. V. Hage: „Literatur am Montag“, S. 149. 72 M. Reich-Ranicki: Über Literaturkritik [1970], S. 52. 70 71

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stellen, dass auch die Idee einer sich selbst limitierenden Literaturkritik bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Volker Hage beispielsweise verweist ausdrücklich auf die durch diese Form der Selbstkontrolle ermöglichte Eindämmung des von den Bewusstseinsumwelten des Literatursystems ausgehenden Konfliktpotenzials: „Unser literarkritisches Geschäft mag seine Macken und Tücken haben, seine Eitelkeiten und Größenphantasien – am Ende kontrolliert man sich gegenseitig doch ganz gut.“73 Erleichtert wird diese literaturkritische Selbstkontrolle natürlich durch die explizite Angabe von Maßstäben und Wertungskriterien, an denen sich die Kritik der Kritik dann abarbeiten kann. Vergleichbares lässt sich im Übrigen auch in den neuen Medien wie dem Internet beobachten. Die Webpräsenz des Buchanbieters Amazon beispielsweise bietet Lesern egal welcher Provenienz nicht nur die Möglichkeit, Druckerzeugnisse oder auch andere Medien zu rezensieren und eine auf eine bestimmte Zahl von Sternchen zugespitzte Wertung abzugeben, sondern auch die Gelegenheit, solche Rezensionen ihrerseits per Mausklick als ‚hilfreich‘ oder ‚nicht hilfreich‘ zu kennzeichnen, ausführlich zu kommentieren oder den Betreibern gar als ‚unzumutbar‘ zu melden, sodass man sich als User von der Kompetenz der unbekannten Rezensenten schnell ein (natürlich unvollständiges) Bild machen kann. Dass die metakritische Selbstprüfung der professionellen Literaturkritik in der Tat ihre perlokutionäre Effizienz nicht zuletzt aus der Furcht der Kritiker vor drohenden Reputationseinbußen bezieht, kann man bei Sigrid Löffler nachlesen: Natürlich wissen wir seit Bourdieu, daß, wer auf dem Felde der Kulturwaren Klassifikationen ausspricht, sich notwendigerweise auch selbst klassifiziert oder Gefahr läuft, sich zu deklassieren, in den Augen der anderen. Das ist das Berufsrisiko des Kritikers.74

Stets aufs Neue müssen also auch die Rezensenten in ihre Reputation investieren, ein Gedanke, den auch Löfflers berühmter Dauerantagonist aus den Zeiten des Literarischen Quartetts ausdrücklich betont hat: Wer Kritik als Beruf ausübt, weiß genau, was für ihn unentwegt auf dem Spiel steht – sein Renommee und damit die Basis seiner Existenz als Schriftsteller. Er kann es sich deshalb nicht leisten, leichtfertig zu urteilen. [...] So ist es: Der Kritiker entscheidet von Fall zu Fall, immer wieder muß er sich bewähren, also seine Zuständigkeit beweisen, und jedesmal wächst oder schrumpft seine Autorität.75

Den Gebrüdern Schlegel indessen gelang es nicht zuletzt aufgrund des zunehmenden Selektionsdrucks im Literatursystem ebenso wenig wie ihren Vorgängern, eine von sozialen Konflikten völlig unbelastete Literaturkritik einzuläuten, obwohl sie z.B. die bis heute perpetuierte Trennung von Autor

V. Hage: „Literatur am Montag“, S. 151. S. Löffler: „Deutschsprachige Literaturkritik“, S. 174f. 75 M. Reich-Ranicki: Über Literaturkritik [1970], S. 51. 73 74

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und Werk – Jörg Magenau etwa denkt „beim Schreiben über ein Buch nicht an den dahintersteckenden Menschen, sondern bloß an den Text als ästhetisches Gebilde“76 – als bereits fest etabliert beobachteten und zunächst ganz generell davon ausgingen, Literaturkritik sei wesensmäßig weniger konfliktaffin als der wissenschaftliche Diskurs, der den Schlegels immerhin intim vertraut war. Stattdessen setzten sie, sicherlich unter Einfluss ihrer Häresie begünstigenden, relativ inferioren Statuspositionen, aber auch, weil sie sich angesichts der zunehmenden Konkurrenz dazu veranlasst sahen, sich irgendwie von den anderen Rezensionsanbietern abzusetzen, schon bald auf offene Provokation, die sich gegen die herrschende literaturkritische Orthodoxie richtete, und plädierten für offen ausgetragene Konflikte ohne allzu große Rücksichtnahme auf die psychische Verletzbarkeit der Autoren in den Bewusstseinsumwelten der Literatur. Als später Abkomme der literaturkritischen Brachialität, mit der die Brüder Schlegel auf unverschleierte Ausübung symbolischer Gewalt setzten, kann wiederum Walter Benjamin gelten, der dieser um 1800 noch zutiefst radikalen Sichtweise in unverwechselbarer Weise eine Stimme verliehen hat. So geht Benjamin etwa davon aus, ein echter Literaturkritiker nehme „ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.“77 Dabei sei das literarische Werk „in seiner Hand die blanke Waffe in dem Kampfe der Geister.“78 Echte Literaturkritiker dürften sich nicht scheuen, notfalls auch eine literarische Existenz jäh zu zerstören: „Nur wer vernichten kann, kann kritisieren.“79 Solche und ähnlich klingende Kommentare, die der Evolution des Reputationscodes ihren Stempel aufgedrückt haben, verdeutlichen, dass sich die moderne Literatur nicht als weitgehend friktionsloses System konzipieren lässt, sondern auch zur Arena sozialer Kämpfe um kollektive Anerkennung wird, die sich auf der Basis des Sekundärcodes (literarisch) wertvoll/wertlos durchaus auch systemtheoretisch modellieren lassen. Auf Orientierung im Literatursystem kann eben nicht verzichtet werden, aber sie hat ihren Preis – nämlich den der symbolischen Herrschaft trotz prinzipieller Inklusion. Zukünftige Studien könnten hieran anschließen, indem sie beispielsweise den durch die Knappheit des sekundären Kommunikationsmediums der Reputation hervorgerufenen innersystemischen Konkurrenzdruck, der keineswegs primär auf anthropologische Grundeigenschaften wie Neid, Eitelkeit oder Ehrgeiz in den beteiligten psychischen Systemen zurückgeht, sondern vor allem durch den technologischen Fortschritt in der Umwelt des Literatursystems bedingt ist und eventuell solche Eigenschaften begünstigt, stärker berücksichtigen. Zu untersuchen wäre beispielsweise, inwiefern zwischen diesem vom System vorgegebenen Konkurrenzdruck, der gleichsam automatisch das kommunikative Ausgangsproblem doppelter Kontingenz durch-

J. Magenau: „Literatur- und Ideologiekritik“, S. 182. W. Benjamin: „Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen [1928]“, S. 108. 78 Ebd., S. 108. 79 Ebd., S. 108. 76 77

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dringt und unweigerlich alle zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Autorenrolle agierenden psychischen Systeme miteinander in Dominanzverhältnisse zwingt, sowie der Wahl bestimmter paradigmatischer Formierungsweisen bei der Relationierung literarischer Elemente zu literarischen Werken, also etwa der Entscheidung für eine Gattung, ein Sujet oder einen Epochenstil, signifikante Zusammenhänge bestehen, die sich einer systemtheoretischen Formalisierbarkeit nicht entziehen. Mit ihrer Vorliebe für den ungeliebten Rejektionswert des Reputationscodes machten sich die Schlegels zu ihrer Zeit indes viele Feinde und mussten ihr Zeitschriftenprojekt nach nur wenigen Jahrgängen schon wieder einstellen, weil ihre aggressive Programmatik deutlich mehr Konflikte mit sich brachte als die auf Verschweigen der qualitativ minderwertigen Werke fußenden Konkurrenzprogramme, gegen die sich die Brüder letztlich also nicht aus inhaltlichen, sondern aus kommunikationshygienischen Gründen nicht durchzusetzen vermochten. Trotz ihres Scheiterns darf man die Schlegels jedoch auch insofern als Wegbereiter moderner Literaturkritik bezeichnen, als sie als erste vollumfänglich den Unterhaltungswert erkannten, den ihre polemischen Buchbesprechungen bargen, und der sich natürlich hervorragend mit der eigentlichen Funktion des Literatursystems in Einklang hätte bringen lassen können, wäre diese radikalste Form offener Mitteilung von Negativkritik um 1800 nicht so bahnbrechend – und eben zutiefst verletzend gewesen. Was allerdings in der literarischen Öffentlichkeit der Frühromantik noch als bösartige Mutation eine heftige Abstoßreaktion auslöste, ist heute Standard. Niemand mag nämlich heutzutage mehr, glaubt man Martin Lüdke, auf die von literaturkritischen Kontroversen ausgehende Kurzweil verzichten: Der Zoff im Literaturbetrieb ist das höchste Ziel aller Beteiligten. [...] Ob bei Rahel Varnhagen oder Madame Recamier, bei Harald Schmidt oder Reich-Ranicki, nicht die subtile Unterscheidung, sondern die krachende Pointe garantiert den Erfolg. Eine differenzierende Begründung hat es in solchem Rahmen schwer gegen die lautstarke Meinung. [...] Harald Schmidt verkörpert, was Bert Brecht der, wie er sagte, ‚bürgerlichen Kritik‘ zusprach: den wahren ‚Vergnügungsanzeiger‘.80

Marcel Reich-Ranickis Literarisches Quartett, das man evolutionär als an die medialen Bedingungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts angepasste Weiterentwicklung der polylogischen Kritikkonzeption des Thomasius sehen kann, ist wohl der beste Beweis für die hohe Zustimmungsfähigkeit der These Lüdkes. Elke Hussel weist in ihrer systemtheoretisch inspirierten Studie des TV-Erfolgsformats Reich-Ranickis, das sie allerdings dem System der Massenmedien zurechnet, darauf hin, dass „eine wertende Äußerung neben ihrer inhaltlichen Wirkung immer auch Unterhaltungswert besitzt.“81 Diesen Unterhaltungswert führt sie vor allem darauf zurück, dass „Wertur-

80 81

M. Lüdke: „Als Dienstbote scheint das Schmuddelkind eher ungeeignet“, S. 106. E. Hussel: Marcel Reich-Ranicki und ‚Das Literarische Quartett‘, S. 68.

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teile geeignet [seien], die Kritiker in verschiedene Lager zu spalten, was die Spannung erhöht und die Aufmerksamkeit des Zuschauers fesselt.“82 Der Reputationscode zwingt also die Interaktionsteilnehmer zu einem klaren Entweder-Oder, und bei unterschiedlicher Auffassung vom Wert eines Werkes werden sie schnell zu Kombattanten, die sich vor laufenden Kameras in Echtzeit in die Haare kriegen. Zwar sind diese Konflikte um die ‚richtige‘ Bewertung eines Textes in ihrem konkreten Verlauf nicht geplant, was der Sendung ein Moment der Überraschung verleiht. Dass jedoch Streitgespräche entstehen, ist aufgrund der bewusst so gewählten Personenkonstellation, die diametral entgegengesetzte Wertsysteme aufeinanderprallen lässt, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, und gerade diese konfliktträchtige Ausgangslage, die sich der bekannten Polemogenität des Nebencodes der Literatur bedient, bestimmt das hohe Unterhaltungspotenzial der Sendung, die unseres Erachtens deshalb zur literarischen Kommunikation zu zählen ist, weil sie den Interaktionsteilnehmern stets mehr oder minder fundierte Begründungen für ihr kritisches Urteil abverlangt. Michael Braun geht nun sogar so weit zu behaupten, der Nutzen literaturkritischer Scharmützel erschöpfe sich gar vollends in deren Spaßfaktor: „Sobald der Unterhaltungseffekt einer Kontroverse [...] nicht mehr gesichert scheint, wird sie einfach abgebrochen.“83 Man hat sich also offensichtlich daran gewöhnt, dass das moderne Sozialsystem Literatur bei der kritischen Selbstbetrachtung in unregelmäßigen Zyklen und mit hoher Frequenz Konflikte produziert, die zwar meist schnell wieder abebben, der Literatur insgesamt jedoch (auch in Anbetracht des Wettbewerbs mit anderen Kunstsparten) die Marge an Aufmerksamkeit sichern, die für die Fortsetzung ihrer Autopoiesis unabdingbar ist. Darüber hinaus sollte man aber auch nicht aus den Augen verlieren, dass diese wohlkalkulierten literaturkritischen Konfliktsysteme ganz auf die Unterhaltungsfunktion des Literatursystems zugeschnitten sind und ebenfalls, wie die gemeine Buchbesprechung in den Feuilletons, zur notwendigen Ermöglichung innersystemischer Orientierung wertvolle Beiträge liefern. Kränkungen müssen daher, wie auch Reich-Ranicki betont, bis zu einem bestimmten Ausmaß schlicht und ergreifend psychisch ausgehalten werden – egal, in welcher Rolle man an der literarischen Kommunikation partizipiert: Wie nämlich die Autoren, die über die Unarten und Sünden der Kritik klagen, sich, sobald sie selber Bücher rezensieren, die gleichen Unarten und Sünden zuschulden kommen lassen, so sind auch die Kritiker, sobald ihre eigenen Bücher rezensiert werden, mit der Empfindlichkeit und Verwundbarkeit geschlagen, die mehr oder weniger für alle Autoren charakteristisch sind. Und es mag eine tiefere Gerechtigkeit darin sein, daß – wie die Geschichte der Literaturkritik lehrt – jene, die viel verreißen, besonders oft verrissen werden: Das literarische Gewerbe war immer schon gefährlich,

82 83

Ebd., S. 69. M. Braun: „Denker ohne festen Wohnsitz“, S. 89.

394 | W ERTVOLLE W ERKE wer es ernsthaft ausübt, riskiert, daß er Sturm ernten wird, und wer Wind sät, der muß erst recht mit Stürmen rechnen.84

Im Zuge der Analyse von Konfliktsystembildungen innerhalb des literaturkritischen Diskurses erweist sich das an Luhmanns Basistheorem der doppelten Kontingenz anknüpfende Konzept des Zirkels statuspositionaler Differenz unserer Ansicht nach als heuristisch wertvolles Beobachtungsinstrument, das die systemtheoretische Literaturwissenschaft stärker für die Beschreibung vertikaler Differenzierung seitens der am literarischen Prozess Beteiligten sensibilisiert und somit auch Machteffekte ins Suchfeld der systemtheoretisch ausgerichteten Optik rückt, die jenseits des politischen Systems zu lokalisieren sind. Dabei zeigt sich, dass Reputation als Sekundärmedium der literarischen Kommunikation trotz ihrer Knappheit nicht nur den systeminternen Konkurrenzdruck erhöht, sondern durchaus auch zur Konfliktentschärfung beiträgt. So zieht offensichtlich jede Aktualisierung des positiven Wertes des Reputationscodes – vor allem dann, wenn es bereits zur Etablierung einer sich selbst verstärkenden Kreisstruktur gekommen ist – eine nachhaltige Legitimierung ungleich verteilter Kapitalressourcen nach sich. Bis in unsere Tage hinein beharren die Rezensenten tatsächlich darauf, ihr Schaffen zum materiell uninteressierten Dienst an der Literatur zu verklären. Typisch für Versuche, die literaturkritische Praxis als völlig selbstlose Tätigkeit hinzustellen, die einem obendrein vielfach noch mit Undank versalzen wird, ist z.B. folgendes vielsagende Statement aus einem Aufsatz des freien Kritikers Joachim Günther aus dem Jahr 1972: Die ‚Ehre‘ des Rezensenten ist wahrhaftig zuerst eine des Dienens und zwar eines völlig von Dank freien Dienens an seiner Sache, die aber nicht einfach mit der Sache des jeweils Bedienten und auch nicht mit den vermeintlichen Interessen des Publikums identisch ist. Wer jahrzehntelang Besprechungen über ungezählte alte und neue Bücher anderer geschrieben hat, weiß es, wie sehr sein Tun allein um Gottes Lohn sich vollzieht.85

Für den Selbsterhalt des Literatursystems indessen ist dieser mit dem positiven Codewert verbundene Legitimierungseffekt, den der ehemalige Theologiestudent Günther an dieser Stelle zur Selbstsakralisierung zu nutzen versucht, insofern von größter Bedeutung, als er ein wirksames Gegengewicht zu den konfliktträchtigen Kränkungen darstellt, mit denen die involvierten Psychen auf den Aufruf des negativen Codewertes bisweilen reagieren. Reputation stellt also nur potenziell, nicht aber prinzipiell eine Gefahr für die Selbstregulierungsfähigkeit des Literatursystems und ein Abdriften in Konflikte dar, da im zweiseitigen Code die Möglichkeit zum Erreichen eines homöostatischen Zustandes strukturell bereits angelegt ist. Der Reputationscode vermittelt gewissermaßen zwischen der sozialsystemischen Notwen-

84 85

M. Reich-Ranicki: Über Literaturkritik [1970], S. 70. J. Günther: „Literaturkritik?“, S. 115f.

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digkeit der Installierung eines Gedächtnisses, das effektiv vergisst, und dem psychischen Bedürfnis nach Lob und Anerkennung seitens der Autoren in den Bewusstseinsumwelten der literarischen Kommunikation, ohne deren Beiträge gar nichts liefe. Ärger rufen indes, wie wir gesehen haben, nicht nur die literaturkritischen Verrisse hervor. Generell erweist sich azyklisch wahrgenommene statuspositionale Differenz in den Bewusstseinsumwelten des Literatursystems in der Tat als Dauerphänomen, das eine primär an der Lösung systeminterner Probleme orientierte Selbstbeobachtung der literarischen Kommunikation teils erheblich erschwert. Bei Thomasius etwa zeigt sich, dass über Standeszugehörigkeit vermittelte statuspositionale Differenzen auf dem Areal der gelehrten Kommunikation für ungültig erklärt werden mussten, um damit dem im Zuge der Umstellung des gesamten Gesellschaftssystems auf funktionale Differenzierung an Boden gewinnenden, von der protestantischen Ethik gestützten Leistungsprinzip konzeptuell gerecht werden zu können. Nicolai trachtete danach, seinen relativen ökonomischen Erfolg durch das Ausloben von Literaturpreisen zu verschleiern bzw. zu legitimieren, und stritt die Bedeutung persönlicher Beziehungsnetze und zwischenmenschlicher Beziehungen für den Vollzug literaturkritischer Beurteilungen mit Nachdruck ab. Wieland sah sich aufgrund seiner herausragenden Statusposition dazu veranlasst, umfangreiche Einblicke in seine vom traditionellen Mäzenatentum losgelöste Dichterexistenz zu gewähren. Hervor hob er dabei vor allem die seinem Familienstand entspringenden ökonomischen Verpflichtungen sowie die weiteren sozialen Risiken dieser spezifisch literarischen, im Grunde völlig neuartigen Existenzweise, die er z.B. im auf permanenten Innovationszwang und Überbietung des bis dahin Gewesenen hinauslaufenden Konkurrenzdruck und dem ständigen Beobachtetwerden der eigenen Werke durch die Literaturkritik erblickte. Dass Wieland damit aus unserer Sicht durchaus reale literatursysteminterne Tatbestände heranzog, dürfte nicht unwesentlich zur Überzeugungskraft seiner Argumente beigetragen haben. Die strenge Negation der Beeinflussung der literaturkritischen Selbstbeobachtung der Literatur durch Sozialkapitalbeziehungen seitens Nicolai wird bei Wieland durch eine flexiblere, auf der Basis der Unterscheidung öffentlich/privat operierende Programmatik abgelöst, die eigens nach außen hin betont, dass bestehende Freundschaftsverhältnisse zu erhöhter Vorsicht bei der Aktualisierung des problematischen negativen Codewertes der Sekundärdifferenz (literarisch) wertvoll/wertlos beitrügen und so durchaus nachhaltig der Konfliktsystembildung vorbeugten, ohne indes wieder auf die in Hinblick auf die Prozessierung großer Informationsmengen nicht mehr zeitgemäße Galanterie Alteuropas mit ihren aufgeblasenen Höflichkeitsritualen zurückzufallen, die man angesichts der zunehmenden Bedeutung der Vergessensfunktion des sozialen Gedächtnisses der Literatur nicht mehr beibehalten konnte. Jenseits der literarischen Öffentlichkeit gestand Wieland sogar ein, dass er sich den Aufbau einer herausragenden literarischen Reputation ohne den strategischen Einsatz von Sozialkapitalver-

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hältnissen nunmehr schwer vorstellen könne, hielt aber offiziell doch am zu diesem Zeitpunkt gleichsam nicht mehr hintergehbaren, eben zur Kontingenzformel gewordenen Neutralitätsgebot fest, das man ja ohnehin schon aus den juristischen bzw. szientifischen Diskursen kannte. Die Janusköpfigkeit der Argumentation Wielands freilich lässt Versuche, das um den Reputationscode erweiterte systemtheoretische Modell literarischer Kommunikation mit den gängigen Netzwerktheorien in einen kritischen Dialog eintreten zu lassen, ebenfalls als schlüssige Option für künftige Forschungsvorhaben erscheinen, denn ‚Klüngeleien und Kumpaneien‘ gehören nun einmal, wie wir bereits von Jörg Magenau erfahren haben, bis heute zur alltäglichen Normalität im Literaturbetrieb. Es bliebe darüber hinaus zu überprüfen, inwiefern sich die hier eingeführte Erweiterung des autopoietischen Modells literarischer Kommunikation für den Einbezug weiterer Machtpraktiken öffnen ließe, deren Beschreibung seitens der auf Michel Foucault aufbauenden literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse bzw. seitens der von Jürgen Link vorangetriebenen Interdiskursanalyse bereits vorliegen. Ausgangspunkt hierfür könnten theoriearchitektonische Parallelen zwischen den Zirkeln statuspositionaler Differenz einerseits und der von Link beschriebenen „Opposition zwischen einem ‚objektiven‘ instrumentellen Topik-Pol und einem ‚subjektiven‘ Verfügungs-Pol“86 andererseits sein – Theoreme, die natürlich auch an einen eventuellen Theorietransfer zwischen dem hier vorgestellten Modell und den Gender Studies, etwa auf dem Gebiet geschlechtlicher Ungleichheit, denken lassen.

III.4 R EPUTATIONSGENESE UND SOZIALES G EDÄCHTNIS DER L ITERATUR Hauptverantwortlich für die Notwendigkeit des Rückgriffs auf einen Reputation generierenden Nebencode ist, wie wir gesehen haben, das Dauerproblem des exponentiell ansteigenden Informationsvolumens, auf das sich das Literatursystem irgendwie einstellen muss, um die eigene Autopoiesis nicht aufs Spiel zu setzen. Die Analyse der Materialität der von der Literaturkritik des Literatursystems produzierten Kommunikation hat ergeben, dass sich Beschreibungen dieses Problemkomplexes wie ein roter Faden durch die Evolutionsgeschichte des Reputationscodes ziehen. Dabei gipfeln die Befürchtungen der Literaturkritiker immer wieder in kulturpessimistischem Wehklagen über den als unzumutbar empfundenen Massen-Output der Kulturindustrie, wie etwa das Beispiel Walter Benjamins zeigt: „Bekanntlich erscheinen viel zu viele Bücher.“87 Kaum einer der Rezensenten scheint dieses reichhaltige Angebot dagegen als Chance wahrzunehmen, stets überwiegt mehr oder minder explizit die unterschwellige Angst vor der Qual der 86 87

J. Link: „Dispositiv und Interdiskurs“, S. 220. W. Benjamin: „Programm der literarischen Kritik [1929/30]“, S. 162.

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Wahl, die den Literaturkritikern dann als willkommene Grundlage für die Rechtfertigung ihrer Tätigkeit dient. Das umfangreiche Angebot an belletristischen Neuerscheinungen – der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gibt für das Jahr 2007 allein die Zahl von 14.056 an88 – bewirkt, dass ein „großes Bedürfnis nach Wegweisern existiert“, sodass der mit der Sekundärdifferenz (literarisch) wertvoll/wertlos operierenden modernen Literaturkritik nach wie vor die Aufgabe zufällt, den „kompetenten Ratgeber“ zu geben bzw. „Orientierungshilfe“ zu leisten, die gemäß Jurek Becker den informationstechnisch völlig überforderten Lesern dabei hilft, herauszufiltern, „was von dem unüberschaubaren Buchangebot sie lesen und wovon sie besser die Finger lassen sollten.“89 Wie groß der Selektionsdruck im Literatursystem mittlerweile ist, lässt sich auch immer wieder auf der Ebene literaturkritischer Programme ablesen. So besteht etwa Martin Lüdke darauf, es müsse stets absolut deutlich sein, für welche Seite des Reputationscodes gerade optiert wird: „Ja/Nein, Daumen hoch, Daumen runter. Kritik steht im Dienst der Leser, ist Orientierungshilfe. Klare Urteile, deutliche Aussagen sind gefordert. Um der Wirkung willen sind Differenzierungen zurückzustellen.“90 Übersichtlichkeit kann also heutzutage nur noch gewährleistet werden, wenn die vom Nebencode der Literatur bereitgestellte Form in ihrer Selektivität vollends zur Geltung gebracht wird – ein Umstand, der allerdings erhebliche Konfliktgefahr mit sich bringt. Angesichts der beständig zunehmenden Bücherflut muss schon Nicolai, wie wir gesehen haben, vom ursprünglich vertretenen enzyklopädischen Totalitätsanspruch seiner ADB abrücken. Fortan werden literaturkritische Programme entwickelt, die – trotz durchaus bemerkenswerter Unterschiede im Detail – letztlich alle darauf hinauslaufen, einen praktikablen Selektionsmodus zu finden, der sich vornehmlich an der Vergessensfunktion des sozialen Gedächtnisses des Literatursystems orientiert und die Selbstbeobachtungsweise der literarischen Kommunikation zu hinreichend scharfen Einschnitten befähigt, da sich Orientierung im massenmedial operierenden modernen Literatursystem mit seinem extrem starken Überhang an nichtprofessionellen Lesern nur noch auf diese Weise verlässlich herstellen lässt. Dazu gehört bis in unsere Tage vor allem die nach dem von Rudolf Stichweh beschriebenen Prinzip der ‚weichen‘ Exklusion91 erfolgende Entscheidung darüber, welche literarischen Werke schon im Vorhinein unmerklich und ohne

Zit. n. C. Schröder: „Die Liste für Königsmacher“ J. Becker: „Zum Thema: Literatur und Kritik“, S. 146. 90 M. Lüdke: „Als Dienstbote scheint das Schmuddelkind eher ungeeignet“, S. 102. 91 Dieses Prinzip besagt, dass es sich um eine Form des Ausschlusses handelt, „die einfach nur ‚passiert‘. Jemand fällt in einem System nicht weiter auf; es wird keine ausdrückliche Negation vollzogen; aber es lässt sich auch keine Kommunikation beobachten, die an die jeweilige Person adressiert wird.“ R. Stichweh: „Zum Verhältnis von Differenzierungstheorie und Ungleichheitsforschung [2004]“, S. 355. 88 89

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böse Worte durch Nichtbeachtung aus dem System ausgeschlossen werden, denn, wie Volker Hage herausstellt, „zum Bewerten von Literatur gehört auch die Auswahl der besprochenen Bücher. In der Entscheidung, ob ein Buch überhaupt besprochen wird, steckt ein Werturteil, natürlich erst recht in der Frage, wie groß, wie schnell die Kritik veröffentlicht wird.“92 Die stillschweigende Nichtbehandlung eines Werkes, so ‚weich‘ und indirekt sie auch sein mag, ist im Grunde jedoch die extremste Form der Abweisung durch die Literaturkritik, die allerdings den Vorteil hat, dass man sich über ihren Inhalt nicht beschweren kann, während der ausdrückliche Verriss in gewissem Sinne einer Nobilitierung ex negativo gleichkommt, da dieser dem aus der unübersichtlichen Masse herausgefischten Werk zumindest zugesteht, einer Rezension würdig und insofern auch bedeutend zu sein, was in der Regel für den Fall einer als unterdurchschnittlich empfundenen Neuveröffentlichung seitens eines ansonsten arrivierten Autoren zu erwarten wäre. Anders formuliert: Jede Aktualisierung des Reputationscodes, jeder explizite Wertungsakt, egal ob positiv oder negativ, räumt der entsprechenden Kommunikationsofferte a priori ein, zumindest innerliterarischen Informationswert zu besitzen, und insofern gleichen sich Lob und Tadel durchaus, auch wenn dies dem Alltagsverstand widerspricht. Jede Form von Nichtberücksichtigung hingegen gesteht dem entsprechenden Werk noch nicht einmal diesen, wohl bescheidensten aller systemintern prozessierbaren Werte zu. Es besteht also tatsächlich, wie schon Jan Mukařovský betont hat, „zwischen einer begeistert positiven und schroff abwertenden Beurteilung keine so große Kluft [...] wie zwischen diesen beiden Arten der Beurteilung und der Gleichgültigkeit“.93 Es sind folglich, neben den geschickt agierenden Provokateuren meist nur die dicken Brocken, sprich die dominierenden Autoren mit bereits hoher Reputation, die auf dem Radarschirm der altgewohnten Feuilleton-Kritik erscheinen. Angesichts der vielen Neuveröffentlichungen ist es nun mal innerhalb des Literatursystems keine wirkliche Information, wenn wieder einmal ein weitgehend unbekannter Autor ein eher durchschnittliches Werk herausgebracht hat, denn das ist der Normalfall. Wer sich jedoch einmal eine literarische Existenz durch kollektive Anerkennung und damit eine feste Adresse im Gedächtnis des Literatursystems gesichert hat, kann allerdings nicht mehr so einfach von der Literaturkritik übergangen werden. Der einzelne Rezensent steht den subjektiv als literarisch wertlos empfundenen Neuveröffentlichungen gerade angesagter Autoren dann insofern relativ machtlos gegenüber, als sein singuläres Urteil eine bereits verfestigte Kreisstruktur, die voller Elan zum positiven Wert des Reputationscodes strebt, nur schwerlich wird aufbrechen können. Daher neigen wohl manche der heutigen Rezensenten dazu, solchen im Steigflug befindlichen Neuveröf-

92 93

V. Hage: „Literatur am Montag“, S. 149. J. Mukařovský: „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert [1936]“, S. 82.

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fentlichungen lieber aus dem Weg zu gehen, als sich offen gegen sie auszusprechen und sich dabei eventuell die Finger zu verbrennen: Der Kritiker heute wird Bücher lieber ignorieren als verreißen. Bücher, die man, einer Forderung Benjamins zufolge, ‚vernichten‘ muß, lassen sich gar nicht vernichten, denn sie sind zu gut und zu gefährlich. Alle anderen Bücher lassen sich mühelos vergessen. Daß wieder ein schlechtes Buch erschienen ist, ist keine Nachricht.94

Aussprüche wie diese demonstrieren indes, dass die Literaturkritik trotz der Zweiwertigkeit des Reputationscodes prozedural im Grunde über drei Varianten der Bewertung eines literarischen Kunstwerks verfügt, die gemeinsam den Möglichkeitsspielraum des literarischen Kommunikationstypen markieren und deren systeminternes Zusammenspiel wir am Ende dieser Arbeit in der Form eines übersichtlichen Schaubildes präzisieren wollen. Haupt- und Nebencode der Literatur bilden in unserer Erweiterung des Bochumer systemtheoretischen Modells literarischer Kommunikation, wie bereits im Theorieteil als vorläufige Arbeitshypothese ausgeführt, die Eckpfeiler einer komplexen Kreisstruktur ohne konkreten Anfangspunkt. Zunächst einmal muss das Werk seine Leser zumindest insoweit interessieren, dass ein für eine heuristische Lektüre hinreichendes Maß an Bewusstseinsbindung gewährleistet werden kann, ohne das überhaupt keine vollständige Rezeption erfolgen würde – ein Gedanke, der sich auch etwa bei Schiller und Schopenhauer findet, wie wir gesehen haben.95 Dabei kann dieses Interesse allein schon aus der bereits vor dem Lesen bestehenden hohen Reputation des Autoren herrühren, die auf das Werk neugierig macht, aber auch das Risiko der Erwartungsenttäuschung birgt.96 Die Literaturkritik, von der man erwartet, G. Seibt: „Thesen zur Literaturkritik [2002]“, S. 193. Siehe Kap. I.3.2.2 dieser Arbeit. Was die Literaturkritik angeht, trägt die Aussicht auf finanzielle Profite, die ja andere Formen der Bedürfnisbefriedigung verspricht als die literarische Kommunikation, wohl erheblich dazu bei, etwaige Unlustgefühle der Rezensenten nicht zu stark werden zu lassen – man denke nur an die Auftragskritik. 96 Wir widersprechen damit beispielsweise der These Jan Mukařovskýs, der die literaturkritische „Konzentration der Aufmerksamkeit – im Positiven wie im Negativen – auf ein bestimmtes Werk“ nicht auf die bereits bestehende Reputation, sondern ausschließlich auf einen „objektiv höheren ästhetischen Wert des Werks“ (S. 82) zurückführt, der zwar „im materiellen Artefakt“ (S. 106) zu suchen sei, sich aber erst im Zuge der Rezeption indirekt bemerkbar mache und um so höher sei, „je zahlreicher das Bündel von außerästhetischen Werten ist, die das Gebilde an sich binden kann, und je mehr es ihm gelingt, ihr wechselseitiges Verhältnis zu dynamisieren; dies alles ohne Rücksicht auf die Veränderungen von Epoche zu Epoche.“ (S. 106f.). Sofern das Kunstwerk beim Rezeptionsakt ein spannungsgeladenes und durchaus auch disharmonisches Gleichgewicht zwischen Erfüllung und Enttäuschung von psychischen wie sozialen Erwartungen herbeiführe, sei „die Forderung nach einem unabhängigen ästhetischen Wert“ (S. 94 95

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dass sie das Gebot der Neutralität wahrt sowie zwischen der Person des Autoren und seinem Werk unterscheidet, kann es dann explizit loben und somit zu seiner Reimprägnierung anregen, sie kann es ausdrücklich ablehnen und damit jegliche Reimprägnierung zu verhindern versuchen (was beides ein retroaktives Lesen voraussetzt), und sie kann sich überdies einfach über das Werk ausschweigen – aus welchen Gründen auch immer.97 Die erste Variante der Literaturkritik, die man in ihrer Gesamtheit vielleicht auch als Realitätsprinzip der Literatur bezeichnen könnte, das „dem Schreiben der Autoren einen sozialen Status und also einen Sinn“98 verleiht, hält das betreffende Werk im Gespräch bzw. ruft es wieder in Erinnerung, womit die „real existierende Literaturkritik gleichsam ein Teil des sozialen Prozesses [wird], gegen den sich (oder besser in dem sich) die Einsamkeit des Werkes bewahren und bewähren muß.“99 Solange diese Option immer wieder realisiert wird, kann ein Kreislauf entstehen bzw. erhalten bleiben und es wird sukzessive Reputation aufgebaut. Im Kontrast dazu sorgen die anderen beiden Spielarten von Kritik letztlich effektiv für ein soziales Vergessen des Werks. Wird ein Werk als zwar interessant, aber (literarisch) wertlos eingestuft oder erst gar nicht besprochen, kommt es unweigerlich zum Abbruch der Kommunikationssequenz. Wer will schon einen Roman lesen, der von den Rezensenten verschmäht wird oder über den man nicht einmal spricht? Werden diese beiden Varianten der Literaturkritik über ein gewisses Toleranzniveau hinausgehend bei einer bereits verfestigten Kreisstruktur aktualisiert, erfolgt eine fortschreitende Destabilisierung des Kreislaufs, die sogar in dessen völligem Zusammenbruch münden kann. Reputation wird dann abgebaut und verschwindet im Extremfall sogar völlig, der Name des Autoren gerät allmählich in Vergessenheit, seine Werke hören im wahrsten Sinne des Wortes auf zu ‚zirkulieren‘ und verstauben in den Regalen und auf den Bücherborden. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass weder die Stabilisierung noch der Zusammenbruch der ständig aufs Neue zu durchlaufenden und damit höchst dynamischen Zirkelstruktur als etwas Endgültiges zu betrachten ist. Zumindest theoretisch ist es durchaus denkbar, dass selbst Lessing, Goethe oder Thomas Mann einmal vergessen werden oder dass lange ignorierte Autoren auf einmal Berühmtheit erlangen, etwa wenn sich die erwartungsstrukturellen Rezeptionsbedingungen – beispielsweise durch die flächendeckende Einführung neuer, die habituellen Wahrneh-

107) dann in optimaler Weise erfüllt. Alle Zitate aus J. Mukařovský: „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert [1936]“ 97 Wir können daher auch Herder Recht geben, wenn er behauptet: „[N]ichts kann ohne Interesse gefallen“, fügen dem allerdings hinzu, dass auch nichts ohne zuvor erfolgte Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit, die auf ein ursprünglich bestehendes Interesse zurückgehen muss, missfallen und verrissen werden kann. J.G. Herder: Kalligone [1800], S. 38. 98 J. Magenau: „Literatur- und Ideologiekritik“, S. 183. 99 F. Schuh: „All you need is love“, S. 30.

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mungsstrukturen umformender Medien wie Rundfunk, Fernsehen, Computer, DVD oder Internet – mehr oder minder drastisch verändern, was eventuell völlig unerwartete Renaissancen ermöglicht, die durch die sprichwörtliche Geduld des Papiers, das sich als exzellentes Speichermedium bewährt hat, immer ein gewisses Potenzial besitzen. Das von der Kreisstruktur vorgegebene Verhältnis von drei zu eins zugunsten des Vergessens durch Abbruch der Kommunikationssequenz zeigt indes einmal mehr, dass die strukturelle Anlage der Literaturkritik des Literatursystems, sprich die Art und Weise der zirkulären Verknüpfung von Haupt- und Nebencode der literarischen Kommunikation, primär darauf angelegt ist, das in seiner Speicherfähigkeit begrenzte Systemgedächtnis im Angesicht unüberschaubarer Informationsberge zu entlasten. Gleich drei Selektionsbarrieren müssen schließlich immer wieder über lange Zeiträume hinweg nacheinander übersprungen werden, damit ein Werk in die Annalen der Literatur eingehen kann: Es muss interessant sein, beachtet werden und schließlich obendrein auch noch als wertvoll durchgehen – was alles andere als wahrscheinlich erscheint, da schon das Scheitern an nur einer dieser Barrieren ausreicht, um die gesamte, für den Einzug ins Systemgedächtnis unerlässliche Ereigniskette abreißen zu lassen. Angesichts eines ganz dezidiert auf ‚strukturelle Amnesie‘100 ausgerichteten Literatursystems fällt es also nicht gerade leicht, Literaturgeschichte zu schreiben! Diese Feststellung könnte vielleicht auch für die Kanonforschung von einiger Bedeutung sein. So wäre aus Sicht einer polykontexturalen Literaturwissenschaft zu hinterfragen, inwiefern die Intersystembeziehungen des Literatursystems auch jenseits des äußerst heterogenen Lesepublikums zur heute beobachtbaren Pluralität von Kanones beitragen – und welche Rolle neuere Verbreitungsmedien wie Rundfunk, Fernsehen sowie Internet eventuell dabei spielen. Dazu wäre aber vonnöten, zunächst einmal den genauen Status der Kanones innerhalb des komplexen Gefüges der literarischen Kommunikation zu klären. Handelt es sich bei den zuletzt wieder so beliebten Kanondebatten, die meist von besonders reputablen Rezensenten angestoßen werden, nicht lediglich um außerordentlich kompakte Beiträge zur Literaturkritik des Literatursystems, die eine besonders große Reichweite für sich beanspruchen und auf einen Schlag durch Nichtberücksichtigung gleich eine Riesenmenge an Werken aus der kollektiven Erinnerung tilgen wollen? Dienen diese Debatten nicht dazu, die diskursive Durchschlagskraft der klassischen Einzelrezension in einem Maße zu vergrößern, die sie mit den modernen Reproduktionstechniken, die ihre Effektivität seit der Erfindung des Buchdrucks permanent gesteigert haben, auf Augenhöhe bringt? Wie dem auch sei, jedenfalls findet Bestätigung, dass sich das, was Walter Benjamin in Bezug auf die individuelle Leserpsyche gesagt hat, im hier beschriebenen Sinne auch auf den Reputationscode der Literaturkritik des Li-

100

Diese Begriffsprägung geht auf den Soziologen John A. Barnes zurück. Vgl. John A. Barnes: „Structural amnesia [1947]“, S. 227-228.

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teratursystems und dessen Verhältnis zum Systemgedächtnis übertragen lässt: „Was heißt[:] Sinn für die Aura um ein Buch haben? Vielleicht heißt es, vergessen [zu] können.“101

101

W. Benjamin: „Die Aufgabe des Kritikers [1929]“, S. 171.

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Abbildung 1: Schaubild des erweiterten Bochumer Modells literarischer Kommunikation

[Quelle: eigene Grafik]

LITERATUR

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Wieland, Christoph Martin: „An Kayser in Zürich [30.9.1776]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 5, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1983, S. 553-554. Wieland, Christoph Martin: „An einige anonyme Correspodenten“, in: Der Teutsche Merkur 5/1 (1777), S. 294. Wieland, Christoph Martin: „Schließliche Anzeige“, in: Der Teutsche Merkur 5/2 (1777), S. 278-279. Wieland, Christoph Martin: „Der Herausgeber an das Publikum“, in: Der Teutsche Merkur 5/4 (1777), S. 279-287. Wieland, Christoph Martin: „An Merck in Darmstadt [13.6.1777]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 5, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1983, S. 626-628. Wieland, Christoph Martin: „Antworten“, in: Der Teutsche Merkur 6/1 (1778), S. 299-301. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Heinrich Merck [20.4.1778]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 51-53. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Heinrich Merck [1.6.1778]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 69-72. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Bernoulli [9.6.1778]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 77-80. Wieland, Christoph Martin: „An Christian Friedrich Schwan [30.11.1778]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 137-139. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Heinrich Voß [24.1.1779]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 159-161. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Heinrich Merck [22.2.1779]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 173-175. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Heinrich Merck [1.3.1779]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 177-180. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Heinrich Merck [21.9.1779]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von

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Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 219-223. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Heinrich Merck [20.11.1779]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 238-242. Wieland, Christoph Martin: „Noch ein kleiner Advice to an Autor“, in: Der Teutsche Merkur 8/3 (1780), S. 45-48. Wieland, Christoph Martin: „An Wolfgang Heribert Tobias Otto Maria Johann Nepomuk von Dalberg [23.2.1780]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 263-264. Wieland, Christoph Martin: „An Marie Sophie von La Roche [13.12.1780]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 315-316. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Heinrich Merck [11.7.1781]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 375-378. Wieland, Christoph Martin: „An Heinrich Christian Boie [14.12.1781]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 7/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 407-409. Wieland, Christoph Martin: „Briefe an einen jungen Dichter. Erster Brief“, in: Der Teutsche Merkur 10/3 (1782), S. 129-157. Wieland, Christoph Martin: „Zweyter Brief. An einen jungen Dichter“, in: Der Teutsche Merkur 10/4 (1782), S. 57-85. Wieland, Christoph Martin: „Kontrakt mit Friedrich Johann Justin Bertuch über den Teutschen Merkur [6.10.1782]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 8/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 35-40. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Christoph Adelung [3.11.1782]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 8/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 41-43. Wieland, Christoph Martin: „Der Herausgeber an die Abonnés und Leser des T. Merkur“, in: Der Teutsche Merkur 11/4 (1783), S. 284. Wieland, Christoph Martin: „An Anton Klein [31.1.1783]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 8/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 74-76. Wieland, Christoph Martin: „Briefe an einen jungen Dichter. Dritter Brief“, in: Der Teutsche Merkur 12/1 (1784), S. 228-253.

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Wieland, Christoph Martin: „Schreiben an den H. d. T. M. nebst Antwort, die im Jahrgange 1782 befindliche Briefe an einen jungen Dichter betreffend“, in: Der Teutsche Merkur 12/1 (1784), S. 170-179. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Karl Philipp Spener [Ende Februar 1784]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 8/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 199-201. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Wilhelm von Archenholtz [5.4. 1784]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 8/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1992, S. 227-231. Wieland, Christoph Martin: „Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller in Absicht ihrer Nachrichten und Urtheile über Nazionen, Regierungen, und andere öffentliche Gegenstände“, in: Der Teutsche Merkur 13/3 (1785), S. 193-207. Wieland, Christoph Martin: „An Johann Gottfried Gurlitt [18.12.1785]“ , in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 9/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 105-107. Wieland, Christoph Martin: „An Georg Joachim Göschen [17.4.1787]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 9/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 268. Wieland, Christoph Martin: „Ueber eine Recension in den Göttingischen gelehrten Anzeigen“, in: Der Teutsche Merkur 16/2 (1788), S. 568-577. Wieland, Christoph Martin: „Der Herausgeber des T. Merkurs an die Leser am Schluße des Jahres 1788 nebst einer kleinen Herzenserleicherung“, in: Der Teutsche Merkur 16/4 (1788), S. 294-301. Wieland, Christoph Martin: „An Theobald Wilhelm Broxtermann [10.3. 1788]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 9/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1996,, S. 408-411. Wieland, Christoph Martin: „Der Teutsche Parnaß“, in: Der Neue Teutsche Merkur 1/1 (1790), S. 104-112. Wieland, Christoph Martin: „Zusatz des Herausgebers“, in: Der Neue Teutsche Merkur 2/1 (1791), S. 423-435 Wieland, Christoph Martin: „Anhang des Herausgebers des Teutschen Merkurs zu dem vorstehenden Aufsatze“, in: Der Neue Teutsche Merkur 2/2 (1791), S. 427-443. Wieland, Christoph Martin: „An Karl Leonhard Reinhold [30.3.1793]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 11/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 2001, S. 391-392. Wieland, Christoph Martin: „An Ernst Christian Wilhelm von Ackermann [4.7.1794]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd.

432 | W ERTVOLLE W ERKE

12/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 259-260. Wieland, Christoph Martin: „An Georg Joachim Göschen [15.1.1795]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 12/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 401-402. Wieland, Christoph Martin: „An Rudolf Zacharias Becker [11.12.1795]“, in: Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel. Bd. 13/1, hrsg. von Hans Werner Seiffert/Siegfried Scheibe, Berlin: Akademie Verlag 1999, S. 145-146. Wild, Reiner: „Stadtkultur, Bildungswesen und Aufklärungsgesellschaften“, in: Rolf Grimminger (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 3. Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, S. 103-132. Winkels, Hubert: „Der Dreck und das Heilige. Feridun Zaimoglu will ein richtiger Dichter werden“, in: Die Zeit (25.3.2004). Winko, Simone: „Textbewertung“, in: Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Band 2. Methoden und Theorien, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 233-266. Wistoff, Andreas: Die deutsche Romantik in der öffentlichen Literaturkritik. Die Rezensionen zur Romantik in der ‚Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ und der ‚Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ 1795-1812, Bonn/ Berlin: Bouvier 1992. Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels, München: C.H. Beck 1999. Wölfel, Kurt: „Interesse/interessant“, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 3, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 138174. Wundt, Wilhelm: „Über psychische Causalität und das Princip des psychophysischen Parallelismus“, in: Wilhelm Wundt (Hg.), Philosophische Studien. Bd. 10, Leipzig: Engelmann 1894. Zeising, Adolf: Aesthetische Forschungen, Frankfurt/M.: von Meidinger 1855. Zens, Maria: „Soziologie der symbolischen Formen und literarisches Feld“, in: Rainer Baasner/Maria Zens, Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Berlin: Erich Schmidt 2001, S. 230-238. Ziegler, Hans Gerhard: Friedrich Schlegel als Zeitschriften-Herausgeber. Eine Studie zum literarischen Leben der Goethezeit, Berlin: Freie Universität Phil. Diss. [masch.] 1968. Zijlmans, Kitty: „Kunstgeschichte der modernen Kunst: Periodisierung oder Codierung?“, in: Henk de Berg/Matthias Prangel (Hg.), Kommunikation und Differenz. Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 53-68.

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Zimmermann, Johann Georg: „Zimmermann an Sulzer [21.2.1773]“, in: Eduard Bodemann (Hg.), Johann Georg Zimmermann. Sein Leben und bisher ungedruckte Briefe an denselben, Hannover: Hahn 1878, S. 218219.

Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne März 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3

Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa März 2011, ca. 328 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7

Franziska Sick (Hg.) Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett Februar 2011, 242 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1515-9

Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 180 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Christiane Arndt, Silke Brodersen (Hg.) Organismus und Gesellschaft Der Körper in der deutschsprachigen Literatur des Realismus (1830-1930) April 2011, ca. 216 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1417-6

Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende Juni 2011, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

Sandra Evans Sowjetisch wohnen Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka April 2011, ca. 294 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1662-0

Christian Kohlross Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Literarische Epistemologie (1800-2000) 2010, 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1272-1

Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia«

Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit März 2011, ca. 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5

Mareen van Marwyck Gewalt und Anmut Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800 2010, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1278-3

Denise Rüttinger Schreiben ein Leben lang Die Tagebücher des Victor Klemperer Januar 2011, 478 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1615-6

Kirsten Scheffler Mikropoetik Robert Walsers Bieler Prosa. Spuren in ein »Bleistiftgebiet« avant la lettre 2010, 514 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1548-7

Henrike Schmidt Russische Literatur im Internet Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda März 2011, ca. 678 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1738-2

März 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de