Werkstattbuch Elterncoaching: Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis 9783666491092, 9783525491096, 9783647491097

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Werkstattbuch Elterncoaching: Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis
 9783666491092, 9783525491096, 9783647491097

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491096 — ISBN E-Book: 9783647491097

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Arist von Schlippe / Michael Grabbe (Hg.)

Werkstattbuch Elterncoaching Elterliche Präsenz und gewaltloser Widerstand in der Praxis

Mit 4 Abbildungen und 6 Tabellen

3. Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491096 — ISBN E-Book: 9783647491097

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-49109-6 ISBN 978-3-647-49109-7 (E-Book) Umschlagabbildung: Franz Marc, Abstraktes Aquarell I (Ausschnitt), 1913/14, Mischtechnik, 16,7 × 22 cm. © 2012, 2004, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Inhalt

Inhalt

Vorwort von Haim Omer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Die Haltung der Gewaltlosigkeit Arist von Schlippe Der Mythos der Macht und Krankheiten der Erkenntnistheorie . . . . . . . . 17 Michael Grabbe Bündnisrhetorik und Resilienz im gewaltlosen Widerstand . . . . . . . . . . . 25 Praxis Barbara Ollefs und Arist von Schlippe Manual für das Elterncoaching auf der Basis des gewaltlosen Widerstands . . 47 Waltraud Danzeisen Wie Eltern sich in Gruppen unterstützen können, wenn die elterliche Präsenz bedroht ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Ursula Engelking Grenzen setzen ist nicht schwer, sie einzuhalten um so mehr! Manual zur Durchführung eines Elterncoachings zum bewussten Umgang mit elterlicher Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Erfahrungen in der Anwendung Olaf Düring »Ich habe immer mehr so ein Willkommensgefühl . . .« . . . . . . . . . . . . . 169 Bruno Körner und Elisabeth Uschold-Meier Pädagogische Präsenz in der Heimerziehung. Gewaltloser Widerstand – auch im Rahmen stationärer Jugendhilfe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Martin Lemme, Ruth Tillner und Angela Eberding Präsenz schafft Autorität. Coaching von Lehrerinnen und Lehrern im gewaltlosen Widerstand gegen soziale Störungen und destruktive Verhaltensweisen in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

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Inhalt

Einbeziehung des Ansatzes in störungsspezifische Konzepte Martin Lemme Familie Aufmerksam. Ein integriertes Modell für Elterncoaching, Gruppen- und Einzeltherapie bei Kindern mit der Diagnose AD(H)S unter Einbeziehung des Konzepts der elterlichen Präsenz . . . . . . . . . . . . 205 Angela Eberding und Martin Lemme Adipositas bei Kindern – Präsenz von Eltern. Coaching im Rahmen einer Adipositasschulung im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Forschung Amelie Köllner, Barbara Ollefs und Arist von Schlippe »Elterliche Präsenz« – Entwicklung eines Fragebogens für Eltern . . . . . . . 237 Charlotte Kötter und Arist von Schlippe »Coaching im gewaltlosen Widerstand« – was ist das eigentlich genau? Ein Kategoriensystem zur Untersuchung von Beratungsprozessen auf der Mikroebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Kritische Auseinandersetzung Arist von Schlippe »Liebe Frau R.«, »Lieber Herr T.«, »Lieber Wolfgang« – Antworten auf kritische Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

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Vorwort

Vorwo rtvonHaimOmer

Vorwort

In der modernen und pluralistischen Gesellschaft der Gegenwart kann man eine Krise des Autoritätsbegriffs feststellen. Traditionelle Bilder von Autorität sind verloren gegangen und es besteht keine Möglichkeit, sie wiederherzustellen. Man hört gelegentlich Aussagen wie: »Früher, da hatte der Lehrer noch Autorität!«, »Früher war ein Vater noch ein Vater!«, »Wir haben unsere Eltern noch respektiert!« Solche Äußerungen deuten auf die implizite Annahme hin, dass es, solange die Lage nicht wieder ist, wie sie einmal war, keine Lösung für die heutigen Probleme geben könne. Traditionelle Autorität – so zumindest die Verklärung im Nachhinein – basierte auf fast universeller Einhelligkeit und wurde von den meisten Kräften in der Gesellschaft unterstützt. Es war klar, dass Eltern und Lehrern Gehorsam gebührte, einfach weil sie Eltern und Lehrer waren. Bis auf einige Revolutionäre waren sich alle darin einig, dass auflehnende Neigungen unterdrückt werden sollten. Diese Bilder von Autorität haben ihre Gültigkeit verloren. Die Einhelligkeit zwischen den verschiedenen Teilen der Gesellschaft ist unwiderruflich abgeschafft und viele Merkmale traditioneller Autorität sind für uns heute nicht mehr akzeptabel, etwa die Anwendung körperlicher Strafen, die Forderung nach blindem Gehorsam und die Immunität gegen Kritik. Mithin kann es heute nicht mehr darum gehen, die traditionelle Autorität wiederherzustellen. Die liberale Gesellschaft bot sozusagen den Gegenentwurf eines Bildes von Autorität, der sogar soweit ging, dass jegliche Autorität aus dem Bereich der Kindererziehung verbannt wurde. Autorität und autoritär wurden zu Schimpfworten, die Haltungen bezeichneten, die für alle Missstände des privaten und sozialen Lebens verantwortlich waren. Dieser Meinung nach würde ein autoritärer Erzieher unausweichlich die natürliche Entwicklung des Kindes entstellen. In den sechziger und siebziger Jahren wurde Permissivität zu einem höchst positiven Wert, so sehr, dass sie vielen Professionellen und Laien als Hauptrichtlinie der Kindererziehung galt. Dieser Vision nach beschränkte sich die Aufgabe von Eltern und Lehrern auf Aufmunterung, Liebe und Empathie. Kinder sollten in voller Freiheit aufwachsen, da jede Schrankensetzung oder Forderung die kindliche Seele beschädigen würde. Dieser Glaube gewann durch eine Reihe populärer Bücher breite Akzeptanz. Die Vision einer permissiven Erziehung wurde zu einem ehrgeizigen Traum pädagogischen Denkens. Man hoffte, dass eine Gesellschaft ohne Autorität kluge, kreative, neugierige, spontane und selbstgesteuerte Kinder hervorbringen würde. Durch die freie

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Vorwort

Erziehung sollte eine freie und heile Gesellschaft entstehen. Die Kur für jegliche Probleme, die Kinder aufwiesen, war, den beeinträchtigenden erzieherischen Einfluss zu beseitigen. Die Enttäuschung ließ nicht lange auf sich warten. Seit den achtziger Jahren wies eine lange Reihe von Forschungen darauf hin, dass Kinder, die in einer ideologisch permissiven Atmosphäre aufgezogen waren, höhere Niveaus von Problemen zeigten, wie Gewalttätigkeit, Schuleschwänzen, Drogenmissbrauch und Delinquenz. Darüber hinaus zeichneten sich diese Kinder überraschenderweise durch einen eher niedrigeren Selbstwert aus. Wie das? Man hätte vielleicht erwarten können, dass Kinder, die ohne Schranken aufwuchsen, Schwierigkeiten mit organisierten Rahmen und mit Disziplin haben würden, aber wie ließ sich der niedrigere Selbstwert verstehen? Der permissiven Ideologie entsprechend hatten diese Kinder doch stets Aufmunterung und positive Rückmeldungen von ihrer Umgebung bekommen. Doch unser Selbstwert wird nicht nur durch Ermunterung und positive Rückmeldungen aufgebaut, so wichtig diese auch sein mögen, sondern auch durch die Erfahrung, Schwierigkeiten erfolgreich zu bestehen. Kinder sind im Alltag eigentlich oft damit konfrontiert. Sie stehen vor Aufgaben, die ihnen anfangs sehr schwer erscheinen mögen. So ist es in den ersten Tagen im Kindergarten für viele Kinder höchst schwierig, viele Stunden getrennt von den Eltern und weit weg von zu Hause zu sein. Nach einigen Tagen haben die meisten Kinder diese Probe bestanden. So wird der erfolgreiche Übergang zum Kindergarten zu einer Errungenschaft! In einer konsequent permissiven Atmosphäre werden dem Kind viele dieser Errungenschaften vorenthalten. Eine permissive Ideologie besagt, dass die Schwierigkeiten aus dem Weg geschafft werden müssten, um die spontane Entwicklung des Kindes nicht zu stören. Man könnte behaupten, dass diese Kinder an einem »Mangel an Mangel« leiden. Dadurch, dass ihnen jede Schwierigkeit aus dem Weg gefegt wird, fehlt ihnen sozusagen das »Kalzium«, das unentbehrlich für die Stärkung ihres »Selbstwertrückgrats« ist. Der Untergang der traditionellen Autorität und das Scheitern des permissiven Traumes führen zu neuen Fragen in der Kindererziehung: Wie kann man das Vakuum ausfüllen, das durch das Ende der traditionellen Autorität entstanden ist? Wie können Kinder konstruktive Erfahrungen von Rahmenbedingungen, Grenzen und Herausforderungen machen, auf eine Weise, die akzeptabel ist für unsere Werte und unsere offene Gesellschaft? Eine Antwort ist die Ausbildung einer »neuen Autorität«. Eltern und Lehrer können nicht wieder zu den Autoritätsfiguren werden, die sie einmal waren, dafür ist keine Basis mehr vorhanden. Eine neue Autorität muss auf einer ganz anderen Basis beruhen. Es ist den meisten von uns ziemlich klar, welche autoritären Verhaltensweisen nicht mehr akzeptabel sind. Wie die »neue Autorität« aussehen soll, ist dagegen weniger klar. Kein Wunder, wir gehören wahrscheinlich zu der ersten Generation, die mit diesem Problem konfrontiert ist. Das Bild der neuen Autorität wird nicht fix und fertig wie Athene aus dem Kopf von Zeus zur Welt kommen, sondern wird sich erst nach und nach skizzieren lassen.

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Vorwort von Haim Omer

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»Präsenz« wird ein wichtiger Begriff in diesem Zusammenhang sein. Im Gegensatz zur traditionellen Autorität, die nach Distanz strebte und auf Furcht basierte, ist es unser Anliegen, eine neue Autorität auf Präsenz aufzubauen. Präsenz ist für viele Eltern eine neuartige Erfahrung. In unserer Arbeit mit mittlerweile sehr vielen Familien ist uns zunehmend klar geworden, dass nicht nur die Kinder ihre präsenten Eltern anders erleben, sondern dass Präsenz sich auf das Selbstgefühl der Eltern selbst auswirkt. So sagte uns eine Mutter, nachdem sie wieder und wieder in die Schule ihrer Tochter gegangen war, um zu verhindern, dass das Mädchen aus der Schule fortlief: »Am Anfang war es bloß ärgerlich. Nach und nach begann ich jedoch zu fühlen, dass ich als Mutter ›mehr Gewicht‹ hatte, seit ich in die Schule kam. Den Beweis dafür bekam ich, als wir beide letzte Woche von der Schule zurückfuhren. Sie hielt mich an der Hand und sagte: ›Mami, wir sind zwei starke Frauen!‹« Ein Vater berichtete, dass sein Sohn das Sit-in vereitelt hatte, indem er aus dem Fenster geklettert war. Der Vater war zuerst frustriert gewesen, hatte sich dann auf das Bett seines Sohnes gelegt und war eingeschlafen. Er hatte das »Lieg-in« erfunden. Diese Szene bringt uns das Märchen von Schneewittchen ins Gedächtnis, wo das Mädchen verblüfft ausruft: »Wer hat in meinem Bettchen geschlafen?« Anders als bei der traditionellen Autorität sind die Begründungen der neuen Autorität nicht selbstverständlich. Da Autorität ohne Validierung nicht bestehen kann, braucht sie Unterstützung. In unserer Arbeit mit Eltern pflegen wir unsere Hilfe anzubieten und die Unterstützung von Verwandten, Bekannten, Lehrern und sogar von den Eltern der Freunde des Kindes zu mobilisieren. Ein solches Netzwerk ändert die elterliche Tätigkeit und das elterliche Gefühl gründlich. Von nun an sind die elterlichen Handlungen nicht Ausdruck des Willens oder gar der Willkür der Eltern. Nein, sie bekommen Widerhall und Bekräftigung durch das Netzwerk. In unserer Gesellschaft kann man keine breite Unterstützung für machtorientierte oder willkürliche Tätigkeiten ansammeln. Mithin bedeutet die Mobilisierung eines helfenden Netzwerks auch eine gewisse Kontrolle über die elterliche Haltung. In unserem Beratungskonzept bestehen wir darauf, dass die Eltern sich vor den Unterstützern verpflichten, jegliches gewalttätige oder demütigende Tun zu unterlassen. Dadurch wird die helfende Gruppe auch zu einer Garantie, dass die neue Autorität nicht willkürlich ist. Das Verfahren in Schulen, mit dem die Autorität des Lehrers wieder aufgebaut wird, beruht ebenfalls auf der Mobilisierung von Unterstützung, die zugleich als Kontrolle über die Art der Ausübung von Autorität fungiert. Unserer Meinung nach ist der Beweis der moralischen Gültigkeit dieser neuen Lehrerautorität letztendlich die Billigung der Schüler: Die Anerkennung, die nach den Ergebnissen unserer Schuluntersuchungen das Programm aufs Klarste bekommt, erhärtet die Vermutung, dass die neue Lehrerautorität keineswegs auf Willkür beruht. Die breite Unterstützung hilft Eltern und Lehrern, eine zusätzliche Charakteristik der neuen Autorität zu verwirklichen: die Verhütung eskalierender Handlungen. Traditionelle Autoritätsfiguren fühlten keine Verantwortung für Eskalation. Falls die

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Vorwort

Interaktion mit dem Kind heftig oder gar gewalttätig wurde, pflegte man dies als Folge der Aufsässigkeit des Kindes anzusehen. Eltern und Lehrer reagierten nur mit »notwendiger« Gewalt auf die Gewalt des Kindes. Sie fühlten sich nicht nur genötigt, sondern auch verpflichtet, Gewalt mit Gewalt zu vergelten. Ansonsten würde das gewalttätige Kind mit einem Gewinn davonkommen, meinen, gewonnen zu haben, und so immer weiter machen. Eine solche Haltung kann heute nur über sehr wenig Unterstützung der Umwelt verfügen, so dass die Vertreter traditioneller Autorität sie nur durch kompromisslose Dominanz geltend machen können. Es ist, als ob ihre Stellung in der Familie oder in der Klasse durch und durch von dem Ausgang ihres »Duells« mit dem Kind abhinge. Wir hören es oft von frustrierten Eltern und Lehrern: »Wenn das Kind gewinnt, sind wir verloren!« Der Versuch, so weitermachen zu müssen, trotz des mulmigen Gefühls, dass die aufgezeigte Entschiedenheit sich ziemlich hohl anfühlt, wurde von einer Mutter folgendermaßen ausgedrückt: »Bislang, wenn ich meine böse Miene aufsetze, macht er, was ich befehle. Ich schaudere aber vor dem Tag, wo er entdeckt, dass er auf mich pfeifen kann!« Mit der neuen Autorität ist es anders bestellt. Die Erkenntnis, dass wir nur über unsere eigenen Handlungen, nicht aber über die des Gegenübers Kontrolle haben können, und dass es nicht um »Gewinnen« oder »Verlieren« geht, erlaubt Eltern und Lehrern, ihre Reaktion aufzuschieben und Widerstand zu zeigen, nachdem sie zunächst für Deeskalation und für Unterstützung gesorgt haben. Eigentlich gehen beide Hand in Hand: Man kann nur dann positiv deeskalieren, wenn man sich bewusst ist, dass man nicht allein vor der Gewalt steht. In der »Duell-Situation«, in der Elternteil oder Lehrer mit dem Kind va banque spielt, bleiben der Autoritätsfigur nur zwei Möglichkeiten übrig: eskalieren oder nachgeben. Die neue Autorität unterscheidet sich in noch einer anderen Weise von der traditionellen Autorität. Letztere beruhte auf der schieren Tatsache, dass zum Beispiel Eltern Eltern und Lehrer Lehrer waren, so schuldete die Autoritätsfigur keinem eine Erläuterung oder Rechtfertigung ihrer disziplinarischen Maßnahmen. Der »Pater familias« war berechtigt, mit seiner Familie so umzugehen, wie er es für richtig hielt. Die Frage, warum und mit welchen Mitteln er seine Kinder zu maßregeln beschloss, wurde nicht einmal gestellt. Der schiere Versuch, die Frage zu stellen, galt als eine Herausforderung seiner Autorität. Aus dieser breit akzeptierten Annahme folgte, dass Familienmitglieder, die den geheimen Tatbestand innerhalb des Hauses offenlegten, als Verräter galten. Worte wie »Nestbeschmutzer« oder der jiddische Ausdruck »Stinker« (d. h. Leute, die den Gestank der Gruppe nach außen bringen) verkörpern dieses Urteil. Die Forderung der modernen Gesellschaft nach voller Transparenz steht im Gegensatz dazu. Für die neue Autorität ist Transparenz nicht nur eine Pflicht, sondern auch ein wichtiger Faktor ihrer Kraft. Transparenz und Öffentlichkeit erlauben nicht nur, die Tätigkeit einer Autoritätsfigur kritisch zu hinterfragen, sondern ermöglichen auch, Unterstützung und öffentlichen Druck gegenüber destruktiven Handlungen der Kinder zu mobilisieren. So wird Transparenz von einem Nachteil zu einer Kraft. Die Entscheidung von Eltern und Lehrern zu-

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Vorwort von Haim Omer

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gunsten der Transparenz ist alles andere als leicht. Vielleicht ziehen wir es deshalb manchmal vor, die »leichteren« Seiten des gewaltlosen Widerstands zu befördern, und vernachlässigen die Forderung nach Transparenz ebenso wie die schwerere Arbeit der aktiven Mobilisierung von Unterstützung. Wir laufen aber dann Gefahr, Eltern und Lehrer ihrer Hilflosigkeit zu überlassen, statt eine wirksame und akzeptable Autorität aufbauen zu helfen. Das von Arist von Schlippe und Michael Grabbe herausgegebene Buch hilft betroffenen Eltern und Helfern, Beratern oder Therapeuten, die vielen Facetten der neuen Autorität kennen zu lernen und mehr und mehr zu verwirklichen. Ich freue mich, dass mit diesem Buch ein erster Sammelband über die vielfältigen Erfahrungen mit unserem Konzept der »neuen Autorität« in Deutschland herauskommt und wünsche ihm viele interessierte Leserinnen und Leser. Haim Omer

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Vorwort

Vorwo rtderHerausgeber

Vorwort der Herausgeber

Gewaltloser Widerstand hat eine lange Tradition in politischen Auseinandersetzungen auf der ganzen Welt. Die Idee, das Gedankengut in die psychologische Beratung von Eltern einzuführen, wurde in Israel von Haim Omer in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts ausgearbeitet. 1999 stellte er das Konzept der »elterlichen Präsenz« erstmals in Deutschland1 vor. Zunächst langsam, doch mit zunehmender Geschwindigkeit zeigt sich im deutschsprachigen Raum eine enorme Resonanz auf seine Überlegungen und das daraus entstandene Konzept des »systemischen Elterncoachings«. Mittlerweile sind zahlreiche Bücher veröffentlicht und einige Tagungen abgehalten worden2 und der Kreis von interessierten Praktikern aus psychosozialen Arbeitsfeldern und auch engagierten Eltern vergrößert sich ständig, ebenso wie viele kreative Initiativen, die in den verschiedensten Praxisfeldern entstanden sind. Viele Eltern haben die Erfahrung gemacht, dass sie in der Auseinandersetzung mit dem gewalttätigen Verhalten ihrer Kinder ihre Kompetenzen erweitern und Entscheidungssicherheit zurückgewinnen konnten, dass ihnen wieder möglich wurde, von einem inneren Ort aus zu handeln, der ihnen das Bewusstsein vermittelt, dass ihr Handeln mit ihren Werten übereinstimmt und dass sie sich von wichtigen anderen Menschen darin unterstützt fühlten. Doch Eltern und Berater haben auch oft die Erfahrung gemacht, dass die Dinge leichter gesagt, geschrieben und vorgestellt werden, als letztlich getan. Nicht selten war die Verführung groß – auch in der Rezeption der Konzepte durch die Fachwelt –, zu erwarten, dass nun endlich doch eine Methode gefunden sei, das Kind zu beeinflussen, dafür zu sorgen, dass es sich vernünftig verhalte, dass im Zweifelsfall ein Sit-in so lange durchgeführt werde, bis das Kind einen Vorschlag mache – ein verhängnisvolles Missverständnis. Natürlich ist es nicht Sinn einer Beratungsmethode und der dahinter stehenden Theorie, dass die Klienten lernen, sich dazu passend zu verhalten, sondern es sollte umgekehrt sein: Konzepte sollten anschlussfähig an die Situation der Eltern sein.

1 Unter anderem auf einem Workshop für das Lehrtherapeutenteam des Instituts für Familientherapie Weinheim. 2 Eine Reihe dieser Tagungen wurden von uns Herausgebern in Osnabrück veranstaltet.

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Vorwort der Herausgeber

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Doch geht es im systemischen Elterncoaching vor allem um die Frage, wie Menschen bei ihren Versuchen unterstützt werden können, aus Teufelskreisen auszusteigen: Welche Ideen helfen in eskalierten Situationen, in einer stimmigen und würdigen Art und Weise Autorität zu behalten oder zu bekommen, ohne die lebendige Beziehung zum Kind zu gefährden? Welche Schritte sind möglich und nötig? Welches Tempo ist hilfreich? Verfährt man bei der Herstellung oder Wiedergewinnung der Präsenz nach einem grob strukturierten vorgegebenen Konzept, dann wird man oft der besonderen persönlichen Situation nicht gerecht und die Eltern verbinden die dann auftauchenden Schwierigkeiten schnell mit dem Gefühl zu versagen und nicht richtig zu sein. Was brauchen Eltern beziehungsweise Professionelle, um die zur Umsetzung wichtige Kraft und den nötigen Mut zu bekommen? Wird eine aufkommende Skepsis als berechtigt gewürdigt? Wie kann nachhaltig eine Entschlossenheit zurückgewonnen werden, die Elternrolle wieder einzunehmen, ohne sich wieder in Machtkämpfe zu verwickeln, in die Logik, dass es Sieger und Besiegte geben müsse? Der gewaltlose Widerstand kann dabei ein Weg sein, im Konflikt zu sein und trotzdem seine Werte zu leben. Es geht darum, eskalationsfördernde Konfrontationen zu beenden und konstruktive Bündnisse installieren zu können. Ziel der Beratung soll sein, dass sich die Eltern wieder kompetent in ihrem Elternsein fühlen, dass sie ihrem Kind Schutz und Stabilität gewähren können, dass die Beziehung zum Kind durch Aufmerksamkeit, Verbundenheit und Respekt bestimmt wird. In der konkreten Praxis zeigt es sich, dass die so einleuchtenden Konzepte Eltern und Fachleute gleichermaßen auf der Ebene des konkreten Verhaltens in konkreten Situationen vor schwierige Fragen stellen, denn die enge Begleitung erfordert oft mikroskopische Feinarbeit. Das vorliegende Werkstattbuch soll helfen, konkrete Schritte in unterschiedlichen Anwendungsfeldern transparent zu machen. Es ist als Handbuch gedacht, daher haben wir bewusst bei der Darstellung darauf verzichtet, Aspekte, die doppelt genannt wurden, zu kürzen. Nicht jede Leserin, jeder Leser wird sofort alle Artikel lesen, sondern vielleicht nur die, die für den eigenen Bereich am attraktivsten erscheinen. Wir haben die verschiedenen Fachbeiträge in sechs große Kapitel zusammengefasst. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen sehen wir als sehr wichtig an, um sich nicht in Missverständnissen zu verlieren, die sich daraus ergeben können, dass man denkt, es handele sich um eine besonders perfekte Form, Kontrolle über unkontrollierbare Kinder zu gewinnen. Im Praxisteil haben wir drei Versuche vorgestellt, das Instrumentarium des Elterncoachings, das mittlerweile sehr gut ausgearbeitet wurde, in gut nachvollziehbarer Weise zusammenzufassen. Der dritte und der vierte Teil befassen sich mit unterschiedlichen Formen der Anwendung des Konzepts, während der fünfte und sechste Teil sich mit Forschung und einer Reihe von kritischen Fragen beschäftigt. Wir hoffen, so ein breit konzipiertes Buch vorlegen zu können, das die Leserinnen und Leser anregt und unterstützt, weiter praktische Erfahrungen in unterschiedlichsten Kontexten mit dem Konzept zu sammeln.

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Vorwort

Viele der Anregungen sind aus gemeinsamen Seminarveranstaltungen mit Uri Weinblatt entstanden, dem ehemaligen Mitarbeiter von Haim Omer in Tel Aviv, heute Philadelphia, ihm gebührt besonderer Dank. Doch natürlich geht das größte Dankeschön an unseren Freund, Lehrer und Kollegen Haim Omer, ohne dessen Originalität, Kreativität und Mut es das ganze Konzept nicht geben würde. Arist von Schlippe Michael Grabbe

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Arist von Schlippe

Die Haltung der Gewaltlosigkeit

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DerMythosderMachtundKrankheitenderErkenntnistheorie

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Arist von Schlippe

Der Mythos der Macht und Krankheiten der Erkenntnistheorie

»Der Welt drohen drei Plagen, drei Seuchen. Erstens – die Seuche des Nationalismus. Zweitens – die Seuche des Rassismus. Drittens – die Seuche des religiösen Fundamentalismus. Diese drei Seuchen haben ein gemeinsames Merkmal, einen gemeinsamen Nenner: die aggressive, alles beherrschende, totale Irrationalität. Es ist unmöglich, in das Denken eines Menschen einzudringen, der von einer dieser Seuchen befallen ist. In seinem Kopf brennt ein heiliger Scheiterhaufen, der ständig auf Opfer wartet. Jeder Versuch eines ruhigen Gesprächs muss kläglich fehlschlagen. Es geht ihm nicht um ein Gespräch, sondern um eine Deklaration. Dass du ihm beipflichtest, zustimmst, deinen Beitritt erklärst. Sonst hast du in seinen Augen keine Bedeutung, existierst du nicht, denn er betrachtet dich nur als Werkzeug, als Instrument, als Waffe. Es gibt keine Menschen – nur die Sache. Ein Denken, das von dieser Seuche befallen wurde, ist in sich geschlossen, eindimensional, monothematisch, ein Denken, das sich stets nur um eines dreht – um den Feind. Der Gedanke an den Feind nährt uns, erlaubt uns zu existieren. Daher ist der Feind immer anwesend, immer dabei« (Kapuscinski, 1996, S. 324).

Fragen und Antwortversuche Wer im Feld von Beratung, Supervision oder auch Therapie arbeitet, ist immer wieder mit einer bestimmten Klasse von Fragen konfrontiert. Klienten, Kunden, Patienten bringen Fragen mit, die jeweils zur Grundlage der Beziehungsgestaltung werden. Diese Fragen lassen sich meist im Wesentlichen um eine Emotion herum gruppieren: um Hilflosigkeit. Nur der, der die Idee hat, nicht aus eigener Kraft heraus die vor ihm liegenden Herausforderungen meistern zu können, wird um Hilfe nachsuchen – und zeigen, dass er oder sie in irgendeiner Form hilflos ist und ohne das Bewusstsein der eigenen Macht: ohnmächtig. Die Problembeschreibungen und die daraus erwachsenden Ideen, was zu tun sei, werden sich unterscheiden. Menschen mögen zwar alle Hilflosigkeit ähnlich empfinden, nämlich sehr aversiv, doch

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Arist von Schlippe

die Ideen über ihr Zustandekommen und über mögliche Abhilfen können sich in vielfältigen Beschreibungen verkleiden. Vor diesem Hintergrund können sich Erzählstrukturen entwickeln, die den jeweils anderen dämonisieren (Omer et al., 2007). Die Hilflosigkeit kann mit ihrer »Affektlogik« (Ciompi, 1982) das Bild eines Kampfes entwickeln, der nur über die Ausschaltung oder völlige Unterwerfung des anderen zu gewinnen ist. Die affektiven Schemata legen die Verwendung von »Gut-Böse« und »Freund-Feind«-Unterscheidungen nahe und lassen für Ambivalenz keinen Raum mehr. Simon (2001, S. 188) schreibt dazu: »Wo dies festzustellen ist, sollte mit kriegerischen Auseinandersetzungen gerechnet werden.« Denn solche Entweder-Oder-Unterscheidungen mildern zwar die Spannung der Hilflosigkeit durch ihre komplexitätsreduzierende Wirkung, doch verschärfen sie sich gleichzeitig in einer Spirale von Frustration und Ärger zunehmend: »Wir sind ihm völlig ausgeliefert. Wenn sich nicht bald etwas ändert, geben wir ihn in ein Heim!«, »Er zwingt uns zum Äußersten!«, »Wenn nur der unser Team verließe, wäre alles in Ordnung . . .«, »Bringen Sie dieses Kind dazu, sich anders zu verhalten, es sprengt unsere Familie!«, »Mit mir ist alles o.k., ich will nur diese verflixten Symptome loswerden – um jeden Preis!«, »Alle sind gegen mich, ich verstehe nicht, was die von mir wollen, die sollen mich in Ruhe lassen!« Manchmal verstecken sich die Gefühle von Hilflosigkeit hinter einer ausgesprochenen Angriffslust, hinter komplizierten Spielen, hinter Schweigen oder hinter Strategien, die im Gegenüber seinerseits eigene Gefühle von Hilflosigkeit hervorrufen und dem Ratsuchenden wieder ein klein wenig das Bewusstsein von Macht vermitteln. Hilflosigkeit und Macht sind eng miteinander verbunden. Ganz allgemein wird die Pragmatik unseres sozialen Handelns vermutlich stark von der Frage geleitet, wie wir Macht und Machtverhältnisse einschätzen (Levold, 1995). Wer sich dem Berater/der Beraterin als hilflos präsentiert, verleiht ihm zunächst viel, manchmal absolute Macht, um diese ihm eventuell später auch wieder zu nehmen – in jedem Fall ist der Berater immer auch mit dem eigenen Verhältnis zu Macht und Ohnmacht konfrontiert. Dies dürfte der Hintergrund dafür sein, dass die Antworten, die im Laufe der Jahrzehnte, vielleicht auch Jahrhunderte auf die vielfältigen Facetten gefunden wurden, in denen sich Hilflosigkeit präsentiert, auch ihrerseits ausgesprochen vielfältig und facettenreich ausfallen. Und da sie sich mit Ohn-Macht befassen, oszillieren sie auch oft direkt oder indirekt um das Thema Macht herum. Offenbar bietet sich das Thema ganz besonders dazu an, so genannte »dämonisierende Beschreibungen« zu (er-)finden (Omer et al., 2006). Im Wandel der Zeit wurden die unterschiedlichsten Antworten gesucht und gefunden. Aus der Rückschau betrachtet, sieht man manchmal mit Schaudern darauf, mit welchen als »wissenschaftlich« bezeichneten Konzepten Klienten, Patienten und ihre Bezugspersonen belegt wurden3 – von der Di3 Es soll an dieser Stelle auf Quellenangaben verzichtet werden, um nicht einzelne Autoren zu »dämonisieren«.

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Der Mythos der Macht und Krankheiten der Erkenntnistheorie

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agnose, sie hätten ein »Loch im Ich« oder andere schwere »zentrale Defekte«, über die Feststellung, dass Menschen von ihrer Mutter »vergiftet« worden seien (noch 2004 in einem Buch zu finden), dass sich der »Animus der Mutter vom Kind nähre«, dass Asthma wahlweise der unterdrückte Schrei nach der fernen (»Sie sind zu distanziert!«) oder der Erstickungsschrei wegen der zu nahen Mutter sei (»Sie klammern zu sehr!«), bis hin zu gar nicht so alten Setzungen, dass Krebs die Strafe sei, wenn man sich nicht vor wem auch immer in der Herkunftsfamilie demütig verbeuge. Schock- und Aversionstherapien seien hier auch nicht vergessen, mit denen in den 1950er Jahren die »Krankheit« Homosexualität »geheilt« werden sollte – Ratsuchende haben viele Wege und Umwege der Konzeptentwicklung mitmachen müssen und auch Beraterinnen können kräftig mitbeteiligt sein an dämonisierenden Beschreibungen, die zu Konflikteskalation einladen und die Möglichkeiten für eine freundliche, kooperative Beziehung irritieren und stören, ja zerstören können.

Systemische Praxis und ihr Verhältnis zur Macht Diese Überlegungen sollen am Beispiel der Entwicklung der systemischen Therapie nachgezeichnet werden. Diese Therapieform sollte dabei nur als Beispiel verstanden werden. Es lassen sich ähnliche innere Spannungen und Widersprüchlichkeiten auch in anderen psychotherapeutischen Orientierungen oder anderen Modellen professioneller Veränderungsmodelle finden, doch ist gerade in der systemischen Therapie die Auseinandersetzung um das Thema »Macht« sehr explizit geführt worden. Bei keinem anderen Thema wurden die Unterschiede so deutlich akzentuiert, wie bei der Frage, welche Rolle dem Thema Macht in den verschiedenen Beschreibungen von problematischem Verhalten zugewiesen wird. Haley (1977) und Minuchin stellten beispielsweise Macht ins Zentrum von Pathologie. Für sie ist Macht unvermeidbar, und sie sehen gerade im Versuch, das Thema zu vermeiden, etwa indem unklare Hierarchien entwickelt werden, die eigentliche Pathologie. Symptome sind so gesehen Ausdruck eines innersystemischen Machtkampfs, der dann ausbricht, wenn die Hierarchie – in Familien durch die Generationsgrenze gebildet – unklar oder inkongruent ist, etwa indem Mitglieder unterschiedlicher Generationen oder unterschiedlicher Hierarchieebenen sich miteinander gegen einen Dritten verbünden. Symptome sind so gesehen »Waffen« im Kampf um die Macht in der Familie. Selvini Palazzoli et al. betonten, wie alle Kommunikation, ja auch Gefühle in den Dienst des Kampfes gestellt werden, denn es werde »alles nur gezeigt, vorgetäuscht!« (1977, S. 34). Es war eine Phase, in der systemische Praxis oft offen machtvoll ausgestaltet war: Der Therapeut musste zunächst »in« sein (Joining), und dann »up« (hierarchisch hohe Position), um verändern zu können. Dazu konnte er/sie beleidigen, provozieren oder »Angstinduktionen« vornehmen. Indirektem, strategischem Vorgehen wurde das Wort geredet. Auch der Vorwurf der Manipulation schreckte nicht: Man manipuliere ja sowieso, dann doch besser be-

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wusst. Klienten wurden als Gegner gesehen, deren »Manöver« und »Strategien« zu durchkreuzen seien. Mit oft orakelhaft anmutenden und paradoxen Verschreibungen wurde versucht, die paradoxen Machtspiele der Klientensysteme zu irritieren oder gar mit »kommunikativen Bomben« zu zerstören. Die impliziten Prämissen dieses Vorgehens beruhten auf der Idee, dass Macht mit Macht zu begegnen sei, dass die Unklarheit systemischer Machtspiele durch eine klare Position des Beraters beantwortet werden müsse. Dies forderte Mut vom jeweiligen Therapeuten, der sich jeweils sehr prägnant präsentieren und auch einiges aushalten musste. Dieses Denken hat seinen Reiz, doch auch hier können wir uns mit den »Risiken und Nebenwirkungen« solcher Wirklichkeitsbeschreibungen befassen. Bis heute kennen Ratsuchende die guten Ratschläge nicht nur von Freunden, sondern auch von Beratern: »Du musst dich durchsetzen! Das darfst du dir nicht gefallen lassen!« Und – bei aller Skepsis – nicht alles, was im Sinne dieser Logik vermittelt wird, ist von vornherein abzulehnen, bietet es doch orientierungslosen und hilflosen Eltern durchaus einen strukturierenden Rahmen. Doch die Gefahr der Einladung in symmetrische Eskalationen und Machtkämpfe, in denen neue Verletzungen produziert werden, ist unübersehbar und die Konzentration auf das Thema Durchsetzung vermittelt implizit die Prämisse, dass der Einsatz von Macht das einzige Mittel gegen Ohnmacht sei (vgl. Omer u. von Schlippe, 2004). Prämissen sind Voreinstellungen, die unsere Wahrnehmung strukturieren – eine voraussetzungsfreie Wahrnehmung ist nicht denkbar: »viel [muss] in der Sprache vorbereitet sein [. . .], damit das [. . .] Benennen einen Sinn hat« (Wittgenstein, 1996, S. 173). Von Anfang an gab es im systemischen Modell Gegenstimmen, die die Prämissen, die dieser Position zu Grunde liegen, hinterfragten. Sie beriefen sich vor allem auf Bateson (1981), für den es nicht die An- oder Abwesenheit von Hierarchie ist, sondern der Glaube an die Macht, der im Zentrum von Pathologie steht. Er bezeichnete diesen als den zentralen erkenntnistheoretischen Irrtum, ja mehr noch als die »erkenntnistheoretische Krankheit«, der die Menschheit unterworfen ist (1981, S. 614ff.). Indem man in Begriffen von Macht denke, schaffe man eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: man beginne, jede Interaktion in Kategorien von Manipulation, Taktik, Strategie und Kontrolle zu betrachten, sich entsprechend zu verhalten und damit den Kreislauf von Machtfixierung aufrechtzuerhalten. Das, was korrumpiere, sei dabei der Mythos der Macht: »Wer eine mythische Abstraktion begehrt, muss immer unersättlich sein« (1984, S. 272). So kam es zu Vorschlägen, auf den Machtbegriff ganz zu verzichten, de Shazer etwa schrieb 1986 ein »Requiem der Macht«. Die Idee, Macht als »verzichtbare Metapher« (Deissler, 1989) zu verstehen, ohne die die zwischenmenschliche Wirklichkeit angemessener beschreibbar sei, hatte eine hohe Attraktivität. Doch auch sie blieb nicht unwidersprochen. Begriffe wie Kontrolle und Macht als Bestandteile der symbolischen Umwelt, die sich Menschen im Laufe der Zeit geschaffen haben, können nicht einfach durch »semantischen Umbau« weggezaubert werden: »Es ist fraglich, ob die Phänomene, die mit dem Machtbegriff bezeichnet werden, mit dem Begriff verschwinden« (Levold, 1995, S. 39).

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Der Mythos der Macht und Krankheiten der Erkenntnistheorie

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Meiner Meinung nach ging es Bateson darum aufzuzeigen, dass Macht als etwas spezifisch Menschliches nicht von der Art zu trennen ist, wie menschliche Erkenntnis zustande kommt (von Schlippe, 1995). Ähnlich sieht es von Weizsäcker (1977, S. 59), wenn er schreibt, dass Macht kein tierisches Analogon besitze und so als spezifisch menschliche Qualität nicht losgelöst von der gesellschaftlichen Konstruktion unserer Wirklichkeit zu denken ist. Die unbegrenzte Akkumulierbarkeit von Macht sieht von Weizsäcker dabei als »im Wesentlichen tragisch« an, denn »einmal unterliegt jeder« (S. 59). Der eigentliche Irrtum, die »erkenntnistheoretische Krankheit« liegt, so gesehen, in der Vorstellung, dass es möglich wäre, mit den Methoden der Macht, der Manipulation und der Beherrschung einen befriedigenden Zustand von Beziehung zu erreichen. Und für jede Form von Beratung gilt ganz besonders der mahnende Satz von Bateson, dass wir diesen Irrglauben nicht noch unterstützen dürften. Systemische Interventionskonzepte haben sich im Gefolge der geschilderten Überlegungen etwa seit Anfang/Mitte der achtziger Jahre auf die Suche nach neuen Wegen begeben, in deren Mittelpunkt nicht mehr die Idee der Beeinflussung stand. Systeme wurden als Bedeutungssysteme gesehen und die Frage, wie die Mitglieder in ihnen durch Sprache und durch Erzählen Wirklichkeit(en) erzeugten, rückte in den Vordergrund. Harry Goolishian prägte das Konzept vom »Menschsein als Gespräch« (Goolishian u. Anderson, 1997, S. 263). Probleme existieren in dieser Sicht nur in Sprache und in der Art unseres Sprechens, die sorgfältig reflektiert wurde. Selbstkritisch setzte man sich mit den impliziten Dämonisierungen auseinander, in die die eigenen Beschreibungen hineingeführt hatten. Entsprechend wurde die beraterische Position nun nicht (mehr) als die eines Experten angesehen, der das System irgendwohin führt. Vielmehr handeln die Berater aus der Position des Nicht-Wissens heraus, durch die ein sozialer Austausch angeregt und Möglichkeiten für Veränderung eröffnet und die Auseinandersetzungen darüber moderiert werden. Der Norweger Tom Andersen steht besonders für diese narrative Tradition, sein Konzept des »Reflektierenden Teams« (s. a. Hargens u. von Schlippe, 1998) – heute sprechen wir weitergehend von Reflektierenden Positionen – ist weithin bekannt geworden. Es entstand aus der Bereitschaft, Klienten aktiv als Kooperationspartner in den Beratungsprozess mit einzubeziehen: das Gespräch wird vom Team nicht mehr hinter verschlossener Tür diskutiert, Klienten werden nicht mehr mit einer mehr oder weniger paradoxen Schlussverschreibung nach Hause geschickt. Die Intervention besteht eher darin, dass das ratsuchende System angeregt wird, auf die Spur der eigenen Selbstbeobachtung zu gehen. Die reflektierenden Beobachter diskutieren offen vor den anderen im Beratungsraum miteinander, bieten eine Vielfalt an Perspektiven und helfen so, den Raum der Möglichkeiten zu öffnen. Im Zentrum all dieser Entwicklungen steht die Überlegung, dass ein Konzept, dessen erklärtes Ziel darin besteht, dass Menschen ihre Angelegenheiten aktiv in die eigenen Hände nehmen können, auch in der Form und im Zugang emanzipatorisch sein müsse.

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Der Mythos der Macht, erlebte Hilflosigkeit und gewaltloser Widerstand Die Bateson’sche Unterscheidung zwischen dem Mythos der Macht und dem Begriff Macht selbst wird in dem Beratungskonzept des gewaltlosen Widerstands besonders prägnant. Mit dem Verlust der elterlichen Präsenz geht nicht in erster Linie eine Machtposition verloren, sondern eine bestimmte Qualität von »orientierender Rahmung«, die dem Gegenüber Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet – der Begriff schließt an den erwähnten Begriff der affektiven Rahmung an. Orientierende Rahmung scheinen nicht nur Kinder zu brauchen, das Konzept wird von Wedekind und Georgi (2005) als übergreifendes Modell eines systemischen Leitungsverständnisses diskutiert: orientierende Rahmung als Alternative zu einem überkommenen Bild »preußischer Führung«: Führung wird dann systemisch verstanden als die Bereitstellung von Orientierungsangeboten, von einem Rahmen, innerhalb dessen sich die Selbstorganisation der Kooperation der Mitarbeiter entfalten kann. Wenn diese Präsenz verloren geht, geht die Möglichkeit orientierender Rahmung unter. Die Konzentration auf Macht allein wäre mithin ein Fehler, genauso verfehlt wäre es jedoch auch, Macht zu ignorieren. Gandhi selbst sagte, dass es ein großer Fehler sei, Macht nicht als gesellschaftliche Größe wahr- und ernst zu nehmen. Doch sollte man nicht der Idee verfallen, die Lösung darin zu suchen, seinerseits Macht über den anderen gewinnen zu können. Man könnte mit Batesons Worten sagen, es ging ihm darum, sich dem machtvollen Zugriff des anderen entgegenzustellen, ihn zu begrenzen, ohne selbst dem Mythos der Macht zu verfallen. Explizit geht in die Überlegungen des gewaltlosen Widerstands die Vorstellung ein, dass man keinerlei Verfügung über den anderen hat, sondern nur über sich selbst. Nur dann ist man unabhängig vom Verhalten des anderen. Daher war für Gandhi die Selbstbeherrschung angesichts von Provokation und Demütigung ein Zeichen wahrer Meisterschaft (»Svaraj«). Im Konzept des Coachings im gewaltlosen Widerstand (Omer u. von Schlippe, 2004) lernen die Klienten kontinuierlich, sich innerlich in einem deeskalierenden Modus zu halten (z. B. durch den inneren Satz: »Ich lasse mich nicht hineinziehen!«), in welche Verwicklungen sie auch hineingezogen werden mögen. So vermeiden sie aufzubrausen oder sich verleiten zu lassen, das Gegenüber zu demütigen, zu entwerten oder gar ihrerseits anzugreifen und zu verletzen. Im Grunde genommen ist dies eine Übung in Entdämonisierung: »Unabhängig davon wie der andere mich beschreibt, lasse ich nicht zu, dass ich verleitet werde, ihn meinerseits zu verteufeln!« Es geht gerade nicht darum, den anderen zu ändern, sondern die eigene Entschiedenheit zu demonstrieren, sich destruktiven Entwicklungen entgegenzustellen, ohne bereits vorab zu wissen, in welche Richtung die Entwicklung gehen müsse. Interessanterweise berichten Personen, die in diesem Sinne ihre Haltung verändern, davon, dass sich ihre Gefühle von Hilflosigkeit verringern. Sie nehmen ab in dem Maße, in dem sie die Idee aufgeben, Verfügung über den anderen zu haben und dies auch ausüben zu müssen. Offenbar hängt die erlebte Hilflosigkeit

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Der Mythos der Macht und Krankheiten der Erkenntnistheorie

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eng mit der Idee zusammen, Macht über den anderen haben zu müssen. So gesehen wären Hilflosigkeit und die Verwendung dämonisierender Beschreibungen Symptome, die auf die »Krankheit der Erkenntnistheorie« hinweisen – und die »Behandlung« würde in der Entwicklung einer Haltung bestehen, die davon ausgeht, dass der einzige Mensch, den man beeinflussen kann, man selbst ist und nicht versucht, den anderen offen oder manipulativ zu steuern. Der Weg aus Hilflosigkeit heraus führt also möglicherweise über eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Verständnis von Macht. Gandhi und Martin Luther King zeigen, dass es Fragen sind, die für das eigene Leben existenziell sind – und alles andere als trivial, sie bezahlten beide für ihre Überzeugung mit dem Leben. Und das Zitat von Ryszard Kapuscinski vom Beginn dieses Textes weist darauf hin, dass es vielleicht sogar für den Fortbestand der ganzen Welt entscheidend ist, ob wir Wege finden, die »Krankheiten der Erkenntnistheorie« zu überwinden. Die von ihm angesprochenen »Seuchen« haben eines gemeinsam und das ist die Idee, über den Einsatz von Machtmitteln bis hin zu Gewalt in einen befriedigenden Zustand des Lebens eintreten zu können. Sich dieser Logik gewaltlos entgegenzustellen, braucht eine Haltung, die der Versuchung widersteht, die Macht im Rahmen ihrer eigenen Logik zu bekämpfen. Dazu ist es nötig, in der Auseinandersetzung mit der Macht der Versuchung des Mythos der Macht standzuhalten.

Literatur Bateson, G. (1981). Ökologie des Geistes. Frankfurt: Suhrkamp. Bateson, G. (1984). Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Frankfurt: Suhrkamp. Ciompi, L. (1982). Affektlogik. Stuttgart: Klett. Deissler, K. (1986). Brauchen wir die Machtmetapher, um unsere zwischenmenschliche Wirklichkeit zu konstruieren? In: Zeitschrift für systemische Therapie, 4 (4), 258–268. Goolishian, H., Anderson, A. (1997). Menschliche Systeme. In L. Reiter, E. Brunner, S. ReiterTheil (Hrsg.), Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive (S. 253–288) (2. völlig neu bearb. Aufl.). Berlin-Heidelberg: Springer. Haley, J. (1977). Direktive Familientherapie. München: Pfeiffer. Hargens, J., Schlippe, A. von (Hrsg.) (1998). Das Spiel der Ideen. Reflektierendes Team und systemische Praxis. Dortmund: Borgmann. Kapuscinski, R. (1996). Imperium. Sowjetische Streifzüge. Frankfurt: Fischer. Levold, T. (1995). Die Therapie der Macht und die Macht der Therapie. Über die Wirklichkeit des Sozialen. In C. Schmidt-Lellek, B. Heimannsberg (Hrsg.), Macht und Machtmißbrauch in der Psychotherapie (S. 25–42). Köln: Edition Humanistische Psychologie. Omer, H., Alon, N., Schlippe, A. von (2007). Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Schindler, H., Schlippe, A. von (Hrsg.) (2005). Anwendungsfelder systemischer Praxis. Dortmund: Borgmann. Schlippe, A. von (1995). Therapie zwischen Begegnung und Macht. In C. Schmidt-Lellek, B. Heimannsberg (Hrsg.), Macht und Machtmißbrauch in der Psychotherapie (S. 229–238). Köln: Edition Humanistische Psychologie. Schmidt-Lellek, C., Heimannsberg, B. (Hrsg.) (1995). Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie. Köln: Edition Humanistische Psychologie. Selvini Palazzoli, M., Boscolo, L., Cecchin, G., Prata, G. (1977). Paradoxon und Gegenparadoxon. Stuttgart: Klett. Shazer, S. de (1986). Ein Requiem der Macht. In: Zeitschrift für systemische Therapie, 4 (4), 208–212. Simon, F. (2001). Tödliche Konflikte. Zur Selbstorganisation privater und öffentlicher Kriege. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Wedekind, E., Georgi, H. (2005). Orientierende Rahmung – Überlegungen zu einem systemischen Leitungsverständnis. In H. Schindler, A. von Schlippe (Hrsg.), Anwendungsfelder systemischer Praxis (S. 265–284). Dortmund: Borgmann. Weizsäcker, C. F. von (1977). Der Garten des Menschlichen. München: Hanser. Wittgenstein, L. (1996). Ein Reader. Hrsg. von A. Kenny. Stuttgart: Philipp Reclam jr.

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BündnisrhetorikundResilienzimgewaltlosenWiderstand

Michael Grabbe

Bündnisrhetorik und Resilienz im gewaltlosen Widerstand

Einleitung »Mama, hast du mich lieb?« So heißt der Titel eines Kinderbuchs von Barbara M. Joosse (1995). Die Geschichte dieser Frage eines Eskimokindes an seine Mutter geht folgendermaßen (hier verkürzt und frei wiedergegeben) weiter: »Wie sehr? – Ich liebe dich mehr als die Elster ihren Schatz, der Hund seinen Schwanz und der Wal seine Fontäne.« »Und wenn ich, obwohl ich versuche vorsichtig zu sein und langsam zu gehen, hinfalle und unsere kostbaren Schneehuhneier würden kaputt gehen?« – »Dann würde ich enttäuscht sein – aber dich immer noch lieben.« »Was, wenn ich einen Lachs in deinen Parka und Lemminge in deine Stiefel stecken würde?« – »Dann würde ich ärgerlich werden!« »Was, wenn ich Wasser auf unsere Lampe gießen würde?« – »Dann würde ich sehr ärgerlich werden, aber nach wie vor dich lieben!« »Was, wenn ich weglaufen würde?« – »Dann würde ich mir Sorgen machen.« »Was, wenn ich wegbleiben würde und mit den Wölfen heulen und in einer Höhle schliefe?« – »Dann, meine Liebe, würde ich sehr traurig sein, aber ich würde dich weiterhin lieben!« »Was, wenn ich mich in einen Moschusochsen verwandeln würde?« – »Dann wäre ich überrascht.« »Was, wenn ich mich in ein Walross verwandeln würde?« – »Dann wäre ich sehr überrascht und hätte ein bisschen Angst!« »Was, wenn ich mich in einen Eisbären verwandeln würde und ich wäre der durchgeknallteste und böseste Bär, den du je gesehen hättest und ich hätte scharfe, dünne Zähne und ich würde dich in dein Zelt jagen und du würdest weinen und schreien?« – »Dann wäre ich sehr überrascht und sehr ängstlich – aber in diesem Bären innen drin würdest immer noch du sein und ich würde dich lieben. Ich werde dich immer lieben, für immer und immer: Weil du mein Kind und mein Schatz bist!«

Wie schafft diese Mutter es, so unbeirrt, scheinbar unerschütterbar und beharrlich zwischen dem (vorgestellten) Verhalten ihres Kindes auf der einen Ebene und ihrem Kind als Person auf einer anderen Ebene zu unterscheiden (vgl. auch z. B. Lemme

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in diesem Buch)? Wie schafft sie es, die liebevolle Beziehung höher zu bewerten als den möglichen Alltagsstress? Wie schafft sie es, Einladungen zu Eskalationen, Streit und Kampf um das Unerträgliche, sich zuspitzende Verhalten des Kindes beharrlich nicht anzunehmen? Die Antwort liegt sicherlich nicht (allein) darin, dass es sich ja nur um vorgestellte Gedankenspiele handelt, wohl auch nicht darin, dass es sich um ein Kind mit besonderen Fähigkeiten und liebenswerten Eigenschaften handelt. Man muss auch nicht annehmen, dass es eine besonders geprägte, unerschütterliche Vorgeschichte und besondere Bindung und Verbundenheit während der Säuglingszeit gegeben haben muss (auch wenn der Gedanke hier naheliegt). Andere MutterKind-Beziehungen mögen auch gut begonnen haben, bevor die Eltern ihre Kinder wegen Verhaltensauffälligkeiten in der Erziehungsberatung oder Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellen. Aus der Trauma- und Bindungsforschung wissen wir zwar, dass traumatisierte Eltern sehr vulnerabel sind, wenn ihre Kinder sie entsprechend fordern und kaum in der Lage scheinen, eine tragende affektive Bindung zu ihrem Kind aufrecht zu erhalten: »Aversive psychosoziale (früh-)kindliche Belastungen innerhalb des primären Beziehungsraums (bewirken) eine bleibend abgesenkte Stress-/Angstschwelle des Stress verarbeitenden Systems und damit eine aversiv veränderte unbewusste Wahrnehmung und Bewertung potenziell belastender sozialer Stressoren im späteren Leben« (Franz, 2006, S. 83). Doch wir wissen auch, dass Kinder sich trotz traumatisierender Erfahrungen gut und gesund entwickeln können (SeiffgeKrenke, 2006; Lanfranchi, 2006). Offenbar ist die Widerstandsfähigkeit und Beweglichkeit einer Person (»Resilienz«) und vor allem die Qualität von Unterstützung, die eine Person in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld erfährt (»family resilience«) hier entscheidend (Walsh, 1998). Gleichzeitig sind Familien auch immer gemeinsam mit betroffen, was der Begriff der Unterstützung nicht erfassen kann – besser passt es vielleicht, vom »Immunsystem« der Familie zu sprechen (Ochs u. Orban, 2002). Dieses ist nicht so zu verstehen, dass alle Anfechtungen und Bedrohungen an ein System an der Außenhaut abperlen, sondern eher, dass das System mit ihnen fertig werden kann, auch, wenn sie »unter die Haut« gehen. In der Geschichte fällt auf, dass die Mutter eine starke, kräftige unerschütterliche Präsenz ausstrahlt. Elterliche Präsenz (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004) könnte somit ein wesentlicher Faktor dieses »Immunsystems« der Familie sein. Der folgende Beitrag wird sich damit beschäftigen und auch die Frage behandeln, wie man sie wieder herstellt, wenn sie verloren gegangen scheint. Es soll auch die Rede davon sein, wie man eine Haltung und Sprache wieder herstellen kann, die Bündnisse ermöglicht, wo vorher Eskalationsdynamiken zu Verzweiflung und Hilflosigkeit bei allen Beteiligten geführt haben.

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Bündnisrhetorik und Resilienz im gewaltlosen Widerstand

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Resilienz Systeme können dann als resilient angesehen werden, wenn sie es schaffen, so beweglich auf schwierige Situationen und Anfechtungen durch Krisen zu reagieren, dass sie sie ohne nachhaltige Beschädigungen durchstehen können (Walsh, 1998). In unserer Geschichte könnte das daran erkannt werden, dass die eskalierenden Fragen des Kindes die Mutter-Kind-Beziehung (und damit die elterliche Präsenz) nicht grundsätzlich erschüttern. Provozierendes Verhalten wird als Störung und Irritation gesehen, auf die die Mutter mit »Fehlerfreundlichkeit« reagiert. Sie weiß, dass sie das Verhalten (die Gedankenspiele) des Kindes nicht kontrollieren kann. Mögliche Abweichungen in den sonstigen Verhaltensgewohnheiten werden freundlich ausgeglichen. Die Beziehung wird nicht grundsätzlich gefährdet, sondern eher herausgefordert und zu neuer, vitaler Stabilität angeregt: Die Eltern-Kind-Beziehung regeneriert sich selbst. Als resilient kann metaphorisch ein »Stehaufmännchen« gelten, welches über die Fähigkeit verfügt, aus allen Lagen heraus wieder die aufrechte Haltung einzunehmen, anstatt entweder starr zu versuchen, dem Druck zu widerstehen und dann beim Umschubsen liegen zu bleiben oder so weich zu werden, dass der Impuls ein ständiges Einknicken bewirkt. Der Grundzustand (»Ich bin deine Mutter und ich liebe dich«) bleibt bestehen oder wird wieder eingenommen – ohne dass der »Schubser« besiegt werden muss.

Bindungserfahrung Die Bindungsforschung beschreibt eindrucksvoll die differenzierte Feinabstimmung der frühen Mutter- und Kind-Interaktionen. Dabei leitet der Säugling vieles ein und beendet auch die wechselseitigen Kommunikationen, wenn es ihm zuviel wird. Der Säugling ist aktiv und gestaltet mit. Auch die Mutter versucht, das Kind zu konditionieren, wobei dieses jedoch offenbar langsam lernt. Lernen braucht anfangs viele Wiederholungen (vgl. Suess, 2001; Seiffke-Krenke, 2006). Gerade im ersten Lebensjahr scheinen auf Seite des Säuglings noch wenige Verhaltensmuster internalisiert zu werden, wodurch »das Baby vor den ersten kleinen Erziehungsfehlern seiner unerfahrenen Eltern einigermaßen geschützt ist« (Seiffke-Krenke, 2006). Auf Seiten der Mutter mag das im ungünstigen Fall anders laufen. Gewöhnt sie sich daran, vielleicht aus Unsicherheit im eigenen Mutterbild, überwiegend dem Kind die gestaltende (damit vielleicht dominante) Rolle zu übertragen und vorwiegend zu reagieren, könnte ein Teufelskreis in Gang kommen. Die Mutter kann Schuldgefühle erleben, wenn sie das Kind in dessen Bedürfnissen nicht versteht. Sie macht übermäßige Angebote, die das Kind überfordern können oder sie geht in eine feste verneinende Haltung und es kommt früh zu Machtkämpfen und Dominanzstreben,

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bis hin zu verbaler oder gar physischer Gewalt. Für die Vater-Kind-Interaktion lässt sich Ähnliches beschreiben.

Bewusstheitsrad Das »Bewusstheitsrad« (ursprünglich von Sherod Miller beschrieben, s. Miller u. Miller, o. J.) bietet ebenfalls einen Zugang zu dieser Dynamik. Hier wird unterschieden zwischen der – Wahrnehmung einer Situation (wenn ich etwas sehe und höre); – der Interpretation der Situation (mein Kind quält mich und nimmt mich nicht für voll); – den dadurch ausgelösten Gefühlen (wenn ich das denke, dann werde ich traurig, aber vor allem wütend); – den angestoßenen dahinter liegenden Gefühlen (mein Selbstwert geht nach unten, ich bin klein, unfähig, unbedeutend, besser wäre, wenn ich nicht da wäre, ich bin als Mutter ohnehin untauglich); – der Absicht (ich gebe schneller nach, hat so und so keinen Sinn – oder: das lass ich mir nicht mehr bieten); – und der Handlung (ich gehe raus – oder: werfe das Kind raus, eine Woche Fernsehverbot und Taschengeldentzug usw.); – die Handlung verändert die beobachtbare Situation, die dann wieder interpretiert wird und wieder Gefühle auslöst, und so weiter. Die einzelnen Phasen laufen oft nicht bewusst ab. Interpretation wird schnell mit Wahrnehmung verwechselt und, um Gefühle und einen bedrohten Selbstwert gar nicht erst zu spüren, wird »spontan« gehandelt. Die Mutter in unserer Geschichte wird dagegen bewusster wahrgenommen oder interpretiert haben. Sie hat den Sätzen und Ideen des Kindes sicherlich aufmerksam zugehört. Im Buch sieht man auf den Illustrationen, dass Mutter und Kind auf mehreren Wahrnehmungskanälen im Kontakt sind. So kann die Mutter möglichen Kurzschlüssen innerhalb des Bewusstheitsrades zuvorkommen. Es könnten etwa Gedanken wie die folgenden sofortige Strafhandlungen auslösen: »Mein Kind darf doch nicht solche Sachen machen, das gehört sich nicht!« oder: »Das ist doch unmöglich, was denken denn die Leute von mir als Mutter, dass ich so ein Kind habe!« Dann wäre sie direkt von der Interpretation in die Handlung gegangen. Doch sie sieht ihr Kind an, wendet sich in voller Größe dem Kind zu, ist dicht bei ihm, nimmt Körperkontakt auf. Das könnte ein hilfreiches Verhalten im Vorfeld beginnender Eskalationsdynamiken sein. Wie oft wenden sich Eltern in solch einer anfänglich eher noch harmlosen Szene bereits ab, entrüsten sich, ändern die Tonlage, schicken ihr Kind zu den Hausaufgaben oder wechseln das Thema und lassen das Kind stehen. Die Mutter hat es so leichter, die Sätze des Kindes vielleicht eher als Kontakt-

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angebot zu interpretieren, als Versuch des Kindes, Welt- und Beziehungsbilder zu überprüfen, als Lust am Ausprobieren von Machtphantasien oder Ähnliches – aber keinesfalls als ernsthafte Bedrohung. Was wäre, wenn Eltern in ähnlicher Weise bei dem Thema »Haschisch-Rauchen des Sohnes« mit ihm in Kontakt blieben, ihn anschauen würden und Ideen entwickeln würden, was es bedeuten könnte – dass er vielleicht sehr damit beschäftigt ist, Status im Kreise der Gleichaltrigen zu gewinnen, dass es als Kontaktangebot und Kompliment an die Tragfähigkeit familiärer Beziehungen verstanden werden könnte (»Meine Eltern verstehen mich, auch wenn sie mein Verhalten nicht gutheißen, auch, wenn ich mich dadurch abgrenze, weil sie es selbst nie gemacht haben«)? Es wäre dann leichter, es nicht als Beginn eines Kontrollverlustes und eines Entgleitens in eine katastrophale Zukunft zu beschwören, bei der sie sich in ihrer Elternrolle gekränkt (statt herausgefordert) fühlen. Eltern und Pädagogen haben durchaus die Möglichkeit, gegebenenfalls mit professioneller Unterstützung, Situationen in unterschiedlicher Weise zu interpretieren, das Verhalten des Kindes in unterschiedliche Rahmen und Kontexte zu stellen (»reframing«), und haben damit eine eigene Möglichkeit der Einflussnahme auf ihre Gefühlssituation und somit auf Handlungsmöglichkeiten. Handlungen der Kinder müssen nicht (nur) als gegen einen selbst gerichtet und den Elternteil infrage stellend interpretiert werden, sondern können auch so gedeutet werden, dass die Kinder schon in Bezug auf die Rolle der Eltern eine Frage haben, auf die aber die Antwort eine Bekräftigung einer bedingungsarmen (grundsätzlich: bedingungslosen, gegebenen) liebevollen Beziehung sein sollte – so wie in der Geschichte.

Selbstwert Das scheint dann eher zu gelingen, wenn die Mutter durch das Verhalten ihres Kindes nicht ihren Selbstwert bedroht sehen muss. Hierbei spielt nicht nur das Verhalten des Kindes (die Interpretation und Bewertung des Verhaltens) eine Rolle, sondern im großen Maße auch, wie die Umwelt (der Partner, die Eltern, andere wichtige Menschen der Umgebung, aber auch der gesellschaftlich vermittelte Zeitgeist) sich verhalten oder hypothetisch eingeschätzt werden. Virginia Satir (1975, 1990) hat mit der Differenzierung von Kommunikationsformen unter Stress zum Verständnis beigetragen, wie unterschiedlich inkongruent Menschen reagieren, wenn ihr Selbstwert bedroht scheint: Sie verhalten sich anklagend, vermittelnd, rationalisierend oder ablenkend. – Das anklagende Muster (»blaming«): Die damit verbundenen Gefühle und Gedanke können lauten: Durch deine Schuld bin ich einsam und erfolglos. Du verstehst mich nicht, weil du mich nicht verstehen willst. Die eigenen Bedürfnisse werden vor anderen verborgen gehalten. Auf das Verhalten der anderen wird mit Angriff, Disqualifizierung und Attacke reagiert. Man versucht, eigene Sichtweisen

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zu beweisen, hört nicht auf das, was andere sagen, die Redezeit des anderen wird genutzt, um neue Argumente zu sammeln und man unterbricht dann, wenn man sie hat, ohne im Kontakt zu sein – weder zu sich, noch zum anderen (»Du bist schuld an dem Elend. Dein Kind ist wieder nicht in die Schule gegangen!«). – Das besänftigende Muster (»placating«): Gefühle und Gedanken könnten hier sein: Ich bin nichts wert. Auch werden eigene Bedürfnisse versteckt, vor allem vor sich selbst. Der Selbstwert wird durch die Bedeutung für die anderen definiert, man versucht, die Erwartungen anderer zu erfüllen, auch, wenn sie von den eigenen abweichen. Ständiges Heischen nach Anerkennung und Liebe. Man traut sich nicht, sich zuzumuten, Entscheidungen zu treffen und Ärger zu äußern (»Hauptsache, dem Kind geht es gut, dann geht es mir auch gut – gute Mütter haben keine egoistischen Bedürfnisse«). – Das rationalisierende Muster (»computing«): Gedanken könnten sein: Wenn ich nicht klug bin und klar und sachlich argumentiere, bin ich den anderen ausgeliefert, eigene Bedürfnisäußerungen liefern mich aus, schwächen mich. Man reißt sich zusammen, wird dabei starr, geht auf Distanz und hält Reden oder Predigten (»Man weiß heute, dass die Jugend schwierig ist und Eltern es nicht leicht haben«). – Das irrelevante Muster (»irrelevant«): Da gedacht wird, dass sich ohnehin niemanden für einen interessiert, man unbedeutend ist und keinen wirklichen Platz hat, versucht man es selbst nicht zu merken, wechselt ständig Themen und Orte, vermeidet alles Konkrete, lenkt ab und bringt Kommunikationen nicht zu Ende. Man hat große Kontaktsehnsüchte, aber gleichzeitig große Angst vor Ablehnung (»Schön ist es, wenn wir alle zusammen sind«, »Hast du deine Hausaufgaben gemacht, fahren wir morgen zur Oma, wenn sie da ist«). Diese Kommunikationsbereitschaften haben auch ihre positive Seiten, zum Beispiel den Mut, Fehler und Verantwortlichkeiten zu benennen, oder die Fähigkeit, anderen zu helfen und sich dabei zurücknehmen zu können, oder eigene Emotionen aus Sachthemen heraushalten zu können oder auch als Gastgeber unterhaltsam für viele da zu sein und sie zu betreuen. Dennoch wird deutlich, dass diese Verhaltensweisen – vor allem wenn sie auf jemanden treffen, dessen Selbstwert ebenso bedroht ist – zu Eskalationsdynamiken einladen können, da in der Regel dann auf das gezeigte Verhalten und nicht auf die dahinterliegende Bedürftigkeit reagiert wird. Die in schwierigen Situationen gezeigten Verhaltensweisen können somit, sowohl auf Eltern- wie auch auf Kinderseite, als Versuche beschrieben werden, einen bedrohten Selbstwert zu retten. Die Tragik liegt darin, dass die Bedrohung des eigenen Selbstwerts, der durch die Kommunikation (z. B. einen Angriff) geschützt wird, vom Gegenüber nicht wahrgenommen wird. Vielmehr wird das vordergründig gezeigte, inkongruente Verhalten vom Gegenüber entsprechend als Bedrohung des eigenen Selbstwerts erlebt und mit entsprechend inkongruenter Kommunikation beantwortet. Diese Selbstorganisation

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eskalierender Interaktionsmuster ist ausführlich bei Omer und von Schlippe (2004) beschrieben. Wenn, wie die Mutter in unserer Geschichte, jemand ein Gefühl für die eigenen Stärken und Schwächen hat, die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen kann und Worte für die eigenen Gefühle zur Verfügung stellen kann, wenn er auch die Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen kann und als Ausdruck für innere Befindlichkeiten deuten und damit ein Beziehungs- und Kontaktangebot annehmen kann, dann kann ein wertschätzender, kongruenter Kontakt gelingen. Geschieht dann ein schwieriges Verhalten, kann dieses hinterfragt werden. Wenn eigene Fehler passiert sind, kann dafür die Verantwortung übernommen werden, man kann sich für die Fehler entschuldigen und nicht dafür, dass man existiert oder darunter leiden, dass der andere existiert (»Mein Kind ist das Problem«).

Aspekte oder Säulen der Resilienz Fragt man Eltern, die offenbar über eine starke Resilienz verfügen, die ihnen geholfen hat, mit schwierigem Verhalten ihrer Kinder beweglich umzugehen, dann lassen sich die Antworten in folgende Aspekte ihrer Haltung zusammenfassen (Wolter, 2005): – Optimismus: Darunter kann die Haltung und Erfahrung verstanden werden, selbst in schwierigen Situationen von deren Begrenztheit auszugehen: Nach der Krise kann es auch noch schwieriger werden, aber danach geht es bergauf. Dieses Mal hat es noch nicht geklappt, aber es war ein Versuch, aus dem gelernt werden kann – beim nächsten Mal wird es klappen. Diese Haltung ist nicht mit »positivem Denken« zu verwechseln, in der schnell eine Krise bagatellisiert, geleugnet und abgespalten werden kann. – Akzeptanz: Oft möchte man schwierige Situationen und Verhalten nicht wahrhaben. Dann braucht man Zeit, um sich ihnen stellen zu können. Aufgesuchte Kraftquellen können hilfreich sein. Gefühle brauchen Raum und Zeit. Oft ist Trauerarbeit nötig, um sich von Bildern, Wünschen und Erwartungen zu verabschieden. Akzeptanz heißt nicht, etwas gutzuheißen, sondern hin- und anzunehmen, dass es erst einmal ist, wie es ist. – Lösungsorientierung: Klagen ist verständlich (»Warum gerade ich, wie konnte uns das passieren?«). Doch bald sollte die Aufmerksamkeit auf die Zukunft und mögliche Lösungsoptionen für die Herausforderung gelenkt werden: Wie kann die schwierige Zeit gemeistert werden? Was haben wir früher, was haben andere in solch einer Situation gemacht? Welche Ideen könnte es geben, was bräuchten wir für die Umsetzung? – Verlassen der Opferrolle: Oft erlebt man, dass etwas mit einem geschieht, dass man passiv in eine Situation hineingeraten ist. Hilfreich ist, wenn man von den

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Zweifeln (»Ich kann nicht«) und dem passiven Erdulden zum aktiven Handeln kommen kann (»Ich werde es versuchen«). – Verantwortungsübernahme: Im Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung neigt man dazu, Verantwortung und Schuld entweder ganz abzulehnen oder generalisierend für alles zu übernehmen. Der Selbstwert ist minimal. Hilfreich ist, differenzierend den eigenen Teil zu übernehmen, für den man verantwortlich ist und die Anteile, für die man nicht zuständig ist, zurückzugeben. Auch Kontextbedingungen, die einfach tragisch oder unglücklich sind, sind zu sehen. – Netzwerk-Orientierung: Menschen, die nach traumatischen Erlebnissen eine gute soziale Unterstützung erfahren haben, haben gute Chancen der Überwindung und Verarbeitung (Walsh, 1998). Also gilt es, in schwierigen Situationen nicht allein zu bleiben und sich Menschen zu suchen, die die Situation aushalten können, die begleiten, aber auch nichts beschönigen wollen. – Zukunftsplanung: Man sollte rechtzeitig Planspiele (»Was wäre, wenn . . .«) installieren. Nichts lässt sich festhalten, auch das Gute nicht, das heißt mit schwierigen Situationen kann und muss gerechnet werden (statt: »Bei uns gibt es das nicht, das wird nicht vorkommen«). Ehepaare, die schon vor den Flitterwochen Streit erlebt und konstruktiv behandeln konnten, sind offenbar resilienter in späteren Krisensituationen als solche, für die dann die »Welt zusammenbricht«. Relevant sind natürlich auch Rahmenbedingungen, die ganz wesentlich die Resilienz von Menschen und Systemen beeinflussen. Eine gute körperliche Verfassung mit günstigen biologischen Gegebenheiten unterstützt die Widerstandskraft ebenso wie berufliche, finanzielle Sicherheiten. Diese einzelnen Aspekte können modellhaft als Säulen verstanden werden: Wenn eine Säule schwach ist, kann die seelische Widerstandsstärke durch andere Säulen vielleicht kompensiert werden. Ausbesserungen lohnen sich bei allen Säulen.

Zur Bündnisrhetorik Als Bündnis gilt eine Verbindung mehrere Menschen zu einem (guten) Zweck – also eine Allianz für etwas – zum Beispiel für eine Unternehmung, für ein Ziel, für eine Lösung. Davon begrifflich abzugrenzen sind Koalitionen, die sich – auch wenn die Beteiligten gemeinsame Interessen haben – gegen jemanden zusammentun, zum Beispiel gegen das Kind, die Mutter, den Vater, die Lehrerin. Ein Bündnis kann sich im Sinne einer solchen Definition zwar gegen ein Verhalten richten, nicht jedoch gegen Personen. Bei Bündnissen geht es nicht darum, jemanden zu besiegen, sondern gemeinsam etwas zu gewinnen (Grabbe, 2006). Fragt man, wo ein stimmiger, hilfreicher Platz sein könne, um jemanden, zum Beispiel seinen Partner, seine Eltern oder einen Lehrer, als Unterstützung körperlich in einem Bündnis zu spüren, wenn es einem einmal schlecht geht, wenn persönlich,

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beruflich, in der Schule oder zuhause eine äußerst schwierige Situation zu bewältigen ist, dann hört man zumeist Antworten wie: »Hinter mir, in meinem Rücken, zum Anlehnen, mir den Rücken stärkend« oder »Mir zur Seite, an meiner Seite, so, dass wir das zusammen durchstehen«, »rechts oder links von mir, etwas vor oder zurück – ermunternd oder mitziehend« oder »(schützend) vor mir, ein guter Platz, um sich etwas zu verstecken und aus sicherer Position hervorzusehen, was da passiert, an meiner Stelle, mich vertretend«. Kaum jemand antwortet: »Mir gegenüber, auf mich schauend«. Und dennoch ist das die Position, die am häufigsten visualisiert und aufgestellt wird, wenn man, zum Beispiel in einer aktuellen Beratungssituation, bittet, die Beteiligten an einem Konflikt – zum Beispiel bei Verhaltensauffälligkeiten des Kindes in der Schule – im Raum zueinander zu positionieren. Die Kinder blicken dabei oft zu Boden, die Eltern auf sie herab. Schüler und Lehrer, Eltern und Lehrer oder das Elternpaar stehen sich oft in ebensolcher, vorwurfsvoller oder verteidigender, Position konfrontativ gegenüber. In weiteren sollen Versuche aufgezeigt werden, mit denen es gelingen könnte, aus dieser eher schwierigen und wenig hilfreichen Position (wieder) in eine eher kooperative, als Unterstützung erlebte Haltung zu gelangen. Der bewusst gedachten und verwendeten Sprache kommt bei der Herstellung eines solchen Bündnisses besondere Bedeutung zu.

Konfrontation und Bündnis Um nicht in einen Widerspruch zu geraten: die Mutter in unserer Anfangsgeschichte wirkt sicherlich auch konfrontativ auf das Kind: – sie zeigt, dass sie da ist; – sie bezieht Position; – sie macht deutlich, dass sie das Kind wahrnimmt; – sie äußert, wie es ihr emotional geht oder gehen würde (ohne Vorwurf, statt: »Damit würdest du mich ärgerlich machen« oder: »Dann wärest du ein sehr böses Kind« sagt sie: »Dann würde ich ärgerlich sein«); – fänden diese Szenen tatsächlich statt, wäre sie in einer guten Position, um auch ihren Widerstand zu demonstrieren (Ich bin als deine Mutter nicht bereit, damit zu leben und es zu dulden). Dazu ist ein gutes Grounding, also ein guter Stand hilfreich. Im Elterncoaching kann das eingeübt und rückgemeldet werden. Der Körpersprache kommt im Sinne der erlebten Kongruenz bei resilientem Verhalten und auch beim gewaltfreien Widerstand eine große Bedeutung zu. Auch die Bereitschaft, der entschlossene Wille, gegen ein nicht mehr tragbares Verhalten zu demonstrieren und gewaltfreien Widerstand zu entwickeln, geschieht meist aus einer noch konfrontativen Position heraus. Folgen dann eine Ankündigung und ein »Sit-In«, wird das möglicherweise noch als

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konfrontativ erlebt, aber schon bei der Erwartung eines Angebots kann sich die Haltung wandeln, wenn es gelingt, miteinander auf das Verhalten und auf Lösungen zu schauen. Dann erweist sich ein Bündnis, welches die Eltern untereinander schon erreicht haben, hilfreich. Ein Verharren in einer konfrontativen Position würde dann eher zu den beschriebenen Eskalationsschleifen beitragen.

Rhetorik Worte (bzw. Sprache) sind nicht nur in der Therapie (Beratung) eines der wichtigsten Kommunikationsmittel, sondern überhaupt Medium für Wirklichkeitserzeugung und handlungsstilbildend. Natürlich ist der Einfluss von Worten begrenzt. Aus systemischer Perspektive ist es nicht vorstellbar, dass ein operativ geschlossenes System (z. B. eine Mutter) ein anderes (z. B. ein Kind) so »instruieren« kann, dass es die Kontrolle über die Prozesse hat, die in dem anderen operativ geschlossenen System ablaufen (z. B. Maturana, 1982, S. 261ff.). Menschen sind keine trivialen Maschinen, wo man etwas hineinstecken kann und man dann weiß, was dann herauskommt. Es kann nur darum gehen, dass sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens konstruktiver Prozesse erhöht. Sprache kann hier ganz wesentlich dazu beitragen, ob ein System (Kind, Lehrer) sich verschließt und sich unzugänglich gibt oder ob es sich öffnet und tangieren lässt und somit mehr Gefühls- und Handlungsoptionen möglich werden. Worte können einladen, Gefühle zu erzeugen – Gefühle führen zu Handlungen, werden dann oft als Rechtfertigungen genommen – Handlungen legen wieder Gefühle nahe – bei einem selbst und beim anderen – und dafür werden wieder Worte gefunden, ausgesprochene oder gedachte. Wir können über die Sprache »verführerische« Angebote machen – in diesem Kontext möglichst zum Hilfreichen, aber ebenso zum Schwierigen, Eskalierenden. Das bedeutet, dass wir bei aller Einengung der Möglichkeit, ein Gespräch zu bestimmen oder unser Gegenüber zu kontrollieren und zu steuern, doch Erhebliches zum gemeinsamen Prozess beisteuern können (vgl. Loth u. von Schlippe, 2004). Beisteuern können wir, in dem wir bewusst auf unsere Haltung und unsere Sprache achten und uns selbst kontrollieren und verändern.

Mögliche Hindernisse Der Begriff »Bündnisrhetorik« soll die beiden beschriebenen Aspekte verbinden. Er soll die Haltung zueinander und die Sprache miteinander beschreiben. In den verschiedensten Konfliktfeldern geht es jeweils darum, wie Haltung und Sprache so in Verbindung gebracht werden, dass die Beteiligten so gut wie möglich eine Kooperationsbeziehung eingehen können. Ein gemeinsamer Blick auf mögliche Lösungen

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ist erschwert, wenn davon die Aufmerksamkeit abgezogen wird. Ein Bündnis kann dann verhindert werden, zum Beispiel durch: – ein starkes Meaning, also ein rigides Wertesystem, ein übergeordnetes Gedankenund Glaubensgebäude. Denkt eine Mutter, sie müsse immer für ihre Kinder da sein, oder ist das Bild vom Ehemann durchgängig negativ (»Eigentlich sind alle Männer Schweine«), dann ist eine Mauer im Raum (Kopf), die erst weggeräumt werden muss; – ein Erziehungskonzept, das grundsätzlich wichtiger bewertet wird als die Beziehung; – Verhaltens- und Erziehungstraditionen, zum Teil über mehrere Generationen, wo sich der/die Einzelne als machtlos erlebt; – übermäßige Katastrophenphantasien, die Angst vor totaler Hilflosigkeit und Auflösung; – starke vermutete Kommentare anderer (Eltern, Freunde, Nachbarn); – Gravierendes aus der Lebensgeschichte, – übermäßigen Erfolgsdruck (auch auf Seiten von Therapeutinnen und Beratern). Dann kann es Aufgabe von professionellen Unterstützern sein, diese Themen zu würdigen und ihnen (ggf. symbolisch in einer Objektskulptur) einen guten Platz zu geben (verbannen wird man sie nicht können), damit sie ein Bündnis nicht stören und mehr Freiheiten erlauben. Dieses »Dritte« (vgl. Grabbe, 1997) kann als Gespenst hinter der Beziehung auftauchen und den Blick ablenken oder auch als Ungeheuer zwischen der Beziehung stehen und den Blick verunmöglichen oder im Nacken der Beteiligten sitzen.

Auflösungswege Zwei Beispiele (s. auch Grabbe, 2006) mögen zur Illustration dienen: Ein Paar, welches im Trennungs- oder Scheidungsprozess ist, trennt unter Zuhilfenahme von Symbolen (Schnur, Hüte o. Ä.) die Paarebene deutlich von der Elternebene, legt diese beiseite und bewegt sich explizit auf der Elternebene. Beide blicken im Schulterschluss – im stimmigen Abstand nebeneinander sitzend oder stehend, sich stets der separaten Ex-Paarebene bewusst oder per Absprache gegenseitig erinnernd – auf das Kind, sehen sich im Kind, versuchen den anderen Elternteil im Kind zu akzeptieren und können dann vielleicht auch mit dem Kind gemeinsam auf das schwierige Verhalten des Kindes blicken. In den meisten Trennungsprozessen gelingt dieses den Eltern, der Schutz ihres Kindes ist im Denken verankert. Ist das Paar und der Prozess jedoch hochstrittig, dann erfordert diese Ebenenunterscheidung viel Disziplin, die oft nur dann aufgebracht werden wird, wenn das Verhalten des Kindes durch den Grad der Bedrohlichkeit sehr heftig dazu herausfordert. Hilfreich erwies sich, wenn die Eltern (nicht das Paar) dazu eine Abmachung (»commitment«) for-

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mulieren konnten, auf die sie sich immer wieder mit gegenseitiger Erlaubnis und gegebenenfalls professioneller Hilfe hinweisen. Ein Schulbeispiel: Vorbehalte der Eltern gegenüber Lehrern kommen oft noch aus alten Zeiten oder den Schulerfahrungen der Eltern. Und auch Lehrer sind einmal zur Schule gegangen. Lehrer und Schüler, Lehrer und Eltern können heute aufgrund gewandelter Werte wertschätzender und partnerschaftlicher miteinander umgehen. Eltern sind emanzipierter – eine konstruktive Allianz, ein Bündnis kann leichter möglich sein. In einem moderierten Gespräch sitzen Eltern und Lehrer zusammen und beginnen, sich über die eigenen Schulerfahrungen der Eltern auszutauschen und diese anschließend symbolisch »aus dem Feld« zu legen. Diese Erfahrungen werden also symbolisch externalisiert (z. B. durch einen Stein, ein Lineal, ein Foto o. Ä.). So bekommen sie einen würdigen, separaten Platz. Die Erfahrungen können nicht ausgelöscht werden, sie gehören zur Geschichte der Menschen, auch wenn sie schmerzlich waren. Sie sind somit Ressourcen. Aber alle Vergangenheit, die die aktuelle Situation zusätzlich belastet und sich in die Bedeutungsgebung einmischt, lenkt ab und versperrt den Blick. Dies gelingt besser, wenn dieser Austausch schon vor Ausbruch schwieriger Situationen durchgeführt wird (Haim Omer spricht immer davon, »das Eisen zu schmieden, wenn es kalt ist«, sonst könnten Funken fliegen, die Unheil entfachen können).

Bündnisrhetorik in der Beratungsarbeit Bündnisrhetorik kann wie beschrieben auf zwei Ebenen stattfinden, auf der sprachlichen und auf der nicht- oder körpersprachlichen. Wie könnte sprachlich ein Bündnis etabliert werden? Bleiben wir beim Beispiel Schule: – die/den anderen (Eltern, Lehrer, evtl. Geschwister, Mitschüler) nach deren Sichtweise und Meinung über das Verhalten fragen (statt gleich seine kundzutun); – nach Zielen des anderen fragen; – sich wechselseitig kontinuierlich informieren – nicht nur über schwieriges Verhalten, Informationszeitpunkte festlegen; – gemeinsames Vorgehen bei Schwierigkeiten absprechen, Schritte koordinieren und auswerten; – Lehrer brauchen die Unterstützung der Eltern – sie vermitteln nicht nur Wissen und geben Zensuren, sie haben auch Erziehungs- und Führungsaufgaben, zu denen sie von den Eltern mit-autorisiert werden müssen. Werden Lehrer oder Schule im Elternhaus abgewertet oder verächtlich konnotiert, dann geraten die Kinder schnell in einen Loyalitätskonflikt; – Eltern brauchen Unterstützung der Lehrer (Hausaufgaben oder Schulaufgaben – auf jeden Fall etwas Gemeinsames) hinsichtlich von Konsequenzen und bei der Stärkung ihrer Frustrationstoleranz; – die Souveränität im Terrain mit Respekt anerkennen und explizit zusichern;

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– ein Satz oder Haltung dabei könnte sein: »Ich unterstütze Sie dabei, das Sie alles versuchen, um Ihre Rolle gut zu erfüllen«; – mit kongruenter Wertschätzung einen wahrscheinlich als bedroht erlebten Selbstwert (s. o.) stabilisieren helfen4. Nichtsprachlich zeigt sich ein Bündnis eher in einem Bild: Eltern und Lehrer schauen im Schulterschluss auf das Dritte, auf das Kind. Noch deutlicher würde die Unterscheidung zwischen dem Kind als Person und seinem spezifischen Verhalten erkennbar, wenn sie sogar gemeinsam mit dem Kind auf das Verhalten des Kindes schauen und sich in geeigneter Sprache darüber austauschen, was jeder zu einer Veränderung der Situation beitragen kann, muss und will (vgl. hierzu White u. Epston, 1990). Hilfreich scheint es dabei, wenn alle auf angemessenen Stühlen sitzen und nicht wie in der Schule von Elternsprechtagen und auch sonstigen Gesprächen bekannt, dass die Eltern auf den Stühlen ihrer Erstklässler und der Lehrer – zwar hinter dem Schreibtisch – aber doch auf einem Erwachsenenstuhl sitzt. Die Stühle könnten bewusst im Halbkreis nebeneinander gestellt werden, um den Blick auf ein beschriebenes (problemorientiert) oder leeres (lösungsorientiert) Blatt Papier oder ein sonstiges geeignetes Symbol zu lenken. Oder beim Beispiel des Trennungspaares: – Mit geeigneter Sprache (s. u.) teilen beide mit, was sie zu einer Veränderung der Situation beitragen können, müssen und wollen. »Geeignet« bedeutet hier, dass darauf zu achten ist, dass dieser Beitrag nicht mit dem Ziel auf das Verhalten des Kindes bezogen sein sollte, dieses zu ändern. Vielmehr sollte es auch im Sinne eines Commitments bedeuten, das eigene Verhalten zu kontrollieren und zu verändern – das kann bedeuten, in bestimmten Situationen auch mal nichts zu tun oder/und zu schweigen. – Die Eltern informieren sich möglichst sachlich kontinuierlich in Sinne eines wechselseitigen Monitorings über die Entwicklung des Kindes, dabei möglichst ohne Interpretationen, Schuldzuweisungen und Vorwürfe (»Kevin hat eine 6 geschrieben, ein Blauer Brief wird kommen«, statt: ». . . weil er bei dir nur Actionfilme sieht, statt Hausaufgaben zu machen«). – Auch hier geht es darum, mit kongruenter Wertschätzung den wahrscheinlich als bedroht erlebten Selbstwert stabilisieren zu helfen. – Sie können jeweils von sich aus dem Kind Folgendes mitteilen: »Ich unterstütze deine Mutter (deinen Vater) dabei, dass sie alles tut, damit du dieses Verhalten nicht mehr zeigst oder zeigen musst – selbst wenn ich es vielleicht mit anderen Mitteln versuchen würde.« 4 So könnte auf die Frage »Was für eine Ausbildung haben Sie überhaupt, haben Sie das Fach überhaupt studiert?« statt mit »Das überlassen Sie mal mir und dem Regierungspräsidenten!« vielleicht geantwortet werden: »Ich höre heraus, dass Sie als gute Mutter für Ihr Kind einen qualifizierten Unterricht und das Beste wünschen«.

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– Sie sprechen ein gemeinsames Vorgehen ab und koordinieren ihre Schritte – gelegentliches Stolpern verzeihen sie sich selbst und sich gegenseitig. – Das Bloßstellen des anderen Elternteils in Gegenwart des Kindes sollte vermieden werden. – Beide Elternteile erfragen die Meinungen, die Sichtweise des anderen (und lassen das Recht dazu). – Sie teilen sich gefundene Lösungen mit und erkennen sie an (ein Lob über eine gelungene Vater-Sohn-Unternehmung am Wochenende ist noch kein erneuter Heiratsantrag an den Ex-Mann oder Eingeständnis einer Fehlentscheidung). Hilfreich ist oft die gemeinsame Suche nach moderierenden Verbündeten, die zu mehr Höflichkeit und Selbstkontrolle beitragen können – allein schon durch die Anwesenheit. Diese Auflistungen – wie die auch schon oben genannten – sind als Zielsetzung zu verstehen, wo man sich (evtl. mit Hilfe von Beratern und Therapeuten) immer wieder abstimmen kann, ob man auf einem guten Weg ist. Sie mögen idealtypisch erscheinen, aber mit der symbolisch sinnlich erfahrbaren Unterscheidung von Paarund Elternebene gelingt es leichter. Gelingt es, auch dann freundlich auf sich und die anderen zu schauen, wenn man selbst oder der Partner vom Wege abgekommen ist, dann kann eine gemeinsame Verpflichtung auf Bündnisrhetorik helfen, schneller zurückzufinden Wie das Wort Trennung schon sagt, soll es sich um eine Lösung einer als problematisch erlebten Beziehung und Beendigung einer unglücklichen Geschichte handeln, nicht um die Herbeiführung von neuen Problemen. Dass dabei Schwierigkeiten auf allen Beziehungsebenen auftreten, ist normal und eigentlich verständlich, in der Regel haben die Beteiligten auch keine Vorerfahrungen. Zudem wird eine Trennung persönlich und gesellschaftlich zumeist (noch) als Scheitern bewertet. Wenn es gelingt, dass Eltern die Probleme, die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder nicht als persönliches Versagen sehen und sich als schlechte Eltern fühlen, ist schon viel gewonnen. Schuldgefühle schwächen elterliche Präsenz und verringern den Selbstwert. Probleme und Hilflosigkeit in solchen Stresssituationen können als normal gewertet werden, nicht als ein Zeichen, dass etwas nicht stimmt. Auch die Polarisierung von Verhaltensmöglichkeiten (nachgebend, streng) ist nicht verwunderlich: Zumeist hat jedes Elternteil diese Ambivalenzen und möchte den unpopulären Part gern auf den Ex-Partner übertragen. Nicht das Auftreten schwierigen Verhaltens von Kindern und die damit verbundenen Konflikte sind Zeichen für eine gescheiterte Elternschaft, sondern wie damit weiter verfahren wird, also etwa ein gescheiterter Umgang damit – Eltern können allerdings auch dabei vielleicht »gescheiter« werden. Das Verhalten des Kindes muss nicht als Folge von Fehlverhalten gesehen werden (Schuld, Ursache), sondern kann auch als Provokation oder Test für die (Wieder-) Herstellung einer hilfreichen elterlichen Präsenz interpretiert werden. Das Paar mag

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in der Trennungssituation so sehr mit sich selbst beschäftigt sein, dass das Kind vielleicht versucht, die Aufmerksamkeit wieder auch auf sich zu lenken (»Hey, ich bin auch noch da – wie es mir geht, das interessiert hier wohl keinen«). Wissen Kinder nicht, was aus ihnen wird und wo sie bleiben werden, sind sie stark verunsichert. Auffälliges Verhalten kann so auch als Beitrag des Kindes verstanden werden, Prozesse in der Familie in Bewegung zu bringen oder diese zu forcieren. Hilfreich scheint es, wenn es gelingt, durch eine solche Beschreibung aus der Opfer-Täteroder Helfer-Retter-Konstellation auszusteigen werden, um wieder frei zu werden für die ursprünglichen Rollen (Eltern, Kind). Bündnisrhetorik kann das Bild einbringen, dass alle Beteiligten in einem Boot sitzen. Wenn man den Sitz der anderen anbohrt, bekommt man selbst nicht nur meist einen nassen Hintern, sondern kann auch mit den anderen untergehen. So könnte man gemeinsam auch über die Selbstverpflichtungen (»commitment«) und die gefassten Absichten einen Vertrag schließen, den alle Parteien unterschreiben. »Vertrag« könnte man von »sich vertragen« ableiten, was bedeutet, dass die akzeptierten Unterschiede (wenn alle der gleichen Meinung wären, gäbe es ja keine Schwierigkeiten) akzeptiert werden, man aber trotzdem eine Handlungsbasis findet.

Sprachformen der Bündnisrhetorik Im Sinne einer konstruktiven Bündnisrhetorik sind Sprachformen wie die folgenden hilfreich: – wenig Forderungen – eher Bereitschaften; – Beschreibungen von Verhalten und Interaktionen statt Interpretationen; – Angebote für Verhalten – positive Überraschungen scheinen besonders hilfreich zu sein (»Ich könnte das oder dieses tun oder lassen« statt: »Ich will ein besserer Mensch werden«); – keine Eigenschaftszu- oder gar -festschreibungen (die helfen meist nicht). Besser ist es, von Verhalten zu sprechen. Verhalten kann vorübergehen, Eigenschaften haften, auch wenn sich die Bewertung ändern könnte (früher »Fels in der Brandung«, heute »sturer, arroganter Bock«); – Vermeidung von »Du«-Botschaften, eher von sich sprechen; – wenig Vorwürfe, eher mit Übernahme der eigenen Anteile – und zwar in Vorleistung, nicht erst, wenn der andere etwas zugibt; – Vermeidung von Angriffen, Bloßstellen und kritischen Anklagen. Warum-Fragen werden in der Regel als konfrontativ erlebt (»Warum hast dem Jugendamt nicht erzählt, dass . . .«) und laden konfrontativ zu Rechtfertigungen, Verteidigungen, oft Gegenangriffen ein. Wird stattdessen gefragt: »Was wäre gewesen, wenn du dem Jugendamt das hättest erzählen können?«, könnte dieses auslösen: »Ich habe

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mich nicht getraut oder bin nicht dazu gekommen« – »Was hättest du gebraucht, um . . .«; – eine Sprache, in der persönliche Standpunkte vertreten werden und andere stehen gelassen werden und in der man grundsätzlich dem anderen zumindest keine bösen Absichten, besser noch gute Absichten unterstellt – mit der Annahme, dass das, was jemand einsetzt und zeigt, das Optimum dessen ist, was augenblicklich zu leisten ist. Die schwierige Situation ist meist Ergebnis tragischer Umstände und von niemandem gewollt. Es ist (auch) ein Problem der Sprache, ob wir den »Menschen im Kern als böse« ansehen oder »das Böse als im Kern menschlich«. Niklas Luhmann definiert Vertrauen als »die Bereitschaft, das Risiko einzugehen, dem anderen eine gute Absicht zu unterstellen« (1989). Vertrauen ist in den Beziehungen in Beratungen oft beschädigt, könnte sich aber durch eine konsequente Unterstellung einer guten Absicht wieder einstellen. Damit wird das Herstellen von Vertrauen zu einer eigenen Herausforderung und hängt nicht vom Verhalten des Gegenübers ab. Pausen und Zuhören tragen ebenso zu einem konstruktiven Klima bei wie eine Verlangsamung des Gesprächstempos. Auch Gesprächsverwicklungen (s. o. zur Gesprächsführung) sollte man sich erlauben dürfen. Hilfreich scheint es, sich dabei – wie in der Skulptur – nebeneinander zu setzen, also im Wortsinn: »sich zusammenzusetzen« und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln5. Wichtig scheint auch, möglichst konkret und aktuell zu bleiben und Verallgemeinerungen sowie moralische, moralisierende Predigten zu vermeiden (»Schon immer hast du . . .«, »Nie geht das . . .«, »Genau wie deine Mutter . . .«, »Schon im ersten Schuljahr . . .«). Wenn es schwierig wird im Gespräch, das heißt ein Bündnispartner das Gefühl bekommt, dass beide sich verrennen, dann kann es sehr hilfreich sein, das Gespräch zu vertagen. Das gelingt dann gut, wenn man vorher darüber eine Absprache getroffen hat. Wenn es gelingt, eine Sprache zu finden, in der jede/r Beteiligte die Bereitschaft signalisiert und auch sprachlich ausdrückt (»Ich bin bereit, das zu tun und das zu lassen«), kann es eher zu einer »Wir«-Haltung kommen, in der man sich gemeinsam verbündet, um dem Symptom die Macht zu nehmen, die es vorher über die Beteiligten hatte. Eine symbolische Externalisierung (»Heute haben wir der Einladung widerstanden, dem Symptom Macht über uns zu geben«, ein Strich in der Liste, eine Urkunde; vgl. White u. Epston, 1990) mag das alles noch verdeutlichend unterstützen.

5 Das Wort »zusammensetzen« assoziieren die meisten übrigens auch mit nebeneinander sitzen und auf etwas blicken, während »sich auseinander setzen« eher in konfrontativer Position gegenüber assoziiert wird.

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Schluss Im Wesentlichen geht es darum, Deeskalationsstrategien und eine Deeskalation fördernde Sprache und Haltung zu etablieren oder zu ihr zurückzufinden. Resilienz ermöglicht einen flexibleren Umgang mit Beziehungsherausforderungen. Bündnisse gegen ein schwieriges, schädigendes Verhalten können zu neuen Lösungen, Haltungen und Beziehungen führen. Wenn Eltern (oder auch Pädagogen) über Steigerung der Eskalation versuchen zu siegen, dann ist das ein Versuch, autoritär Macht zu etablieren, wobei dann die Kinder ihre Gewalt rechtfertigen, die Eltern also nicht einmal die Verantwortung dafür übernehmen, sondern sich als Opfer zeigen – und dienen damit den Kindern als aktuelles und zukünftiges Modell. Ziehen sich Eltern zurück und überlassen den Kindern das Feld, dann entsteht hinsichtlich der elterlichen Präsenz ein Vakuum. Ein physikalisches Experiment mag zur Illustration dienen: Man hat in einem durchsichtigen geschlossenen Gefäß einen gefüllten Luftballon. Entnimmt man dem Gefäß Luft, ohne dass neue hineinströmen kann, dann dehnt sich die Luft im Ballon aus, er wird größer. Dabei bläst er sich nicht auf (so wie »dominante« Kinder oft beschrieben werden), sondern das entstehende Vakuum, die dünner werdende Luft fordert den Ausgleich. Wenn Eltern es schaffen, aus der Eskalationsdynamik auszusteigen, dann sollten sie das nicht als Kapitulation beschreiben und erleben, sondern als eine moralisch höher stehende Verhaltensweise und Haltung (und das steht ihnen in der Beziehung und Rolle zu den Kindern zu). Sie sind also nicht nur klüger, wenn sie aussteigen (nicht »nachgeben«), sondern geraten wieder in eine (Führungs-, Anleitungs-)Position, in die die Kinder sie hinein zu provozieren versuchen. Sonst wird in verhängnisvoller Weise Beziehung mit Macht verwechselt. Ein Orientierungsversuch ausschließlich auf konsequente Kontrolle kann die Prozesse eher verhärten, anstatt wechselseitigen Respekt, Achtung und Wertschätzung wiederherstellen zu helfen, die aus der Aufmerksamkeit geraten sind. An die Stelle der Kontrollversuche tritt die Selbstkontrolle und statt zu versuchen, Kindern massiv Grenzen zu setzen, tritt die gewaltfreie Demonstration der eigenen Grenzen und der Widerstand gegen nicht mehr gewollte Verhaltensschleifen. Grenzen werden nicht mehr als Machtinstrument mit der Verführung installiert, sie inkonsequent aufzugeben und einzuladen, sie zu überwinden oder zu sprengen. Grenzen bleiben Orientierung, regeln ein Miteinander und definieren die Beziehung. Grenzen sind dann eher Aufmerksamkeitslinien, die einen warnen, in etwas hineingezogen zu werden, was einem nicht würdig ist. Sie wären eher eine Mahnung, die Souveränität des Anderen anzuerkennen. Respekt ist als Aufgabe des Respektierenden zu verstehen und nicht als Forderung an das Gegenüber. In diesem Rahmen können unabhängig vom Verhalten des Kindes Gesten der Liebe und Überraschung gezeigt werden. Solche »Versöhnungsgesten« sind bei Omer und von Schlippe (2004) ausführlich beschrieben. »Reconciliation« bedeutet wörtlich etwa: wieder ins Gespräch, in eine Beratung, eine Ratssituation kommen. Diese Gesten sind hervor-

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ragend geeignet, um in eine Haltung hineinzukommen, die sich nicht an Konsequenzen und Durchsetzung orientiert. Eltern, beide oder einzeln – zusammen oder getrennt –, oder zum Beispiel auch Pädagogen sollten sich nicht durch eine schwierige Situation, ein schwieriges Verhalten davon abhalten lassen, dem Kind auf seinem Weg das mitzugeben, was sie eigentlich möchten (und das unterstelle ich ihnen): nämlich Liebe, gebührende Zuwendung und Wertschätzung. Hier sollten sie sich nicht begrenzen und ihre Beziehungsgestaltung reduzieren lassen. »Papa, do you love me?« heißt ein weiteres Buch von Barbara M. Joosse (2005). Verkürzt und frei übersetzt geht es weiter: »Papa, liebst du mich« – »Du kommst von Mama, die ich lieb(t)e, den Großeltern, die ich ehre und von mir – du bist mein Herz und ich liebe dich.« »Wie sehr?« –». . .« »Wie lange?« ». . .« »Papa, was würdest du tun, wenn mir heiß wäre?« – »Dann würden wir unter einem Baum rasten!« »Was, wenn die Sonne die Blätter so trocken machen würde, dass sie runterfielen?« – »Dann würde ich meine Decke über dich breiten, bis du dich in meinem Schatten abkühlen könntest.« »Was, wenn ich durstig würde?« – »Du könntest Wasser aus der Kalabasch trinken.« (Geschichte spielt bei den Maassais.) »Was, wenn die Kalabasch leer wäre?« – »Du könntest sie vom Bach füllen.« »Was, wenn der Bach staubig wäre?« – »Ich würde dich lehren, nach verborgenen Wasserläufen zu suchen und durch die trockene Erde zu graben, bis du sie findest. – Dann, mein Herz, würden wir süßes Wasser über unsere Zungen laufen lassen.« »Was, wenn ich der Viehhirte wäre?« – »Dann würde ich stolz sein.« »Was, wenn ich der Viehhirte wäre und ich zuviel essen würde und ich würde versuchen, wach zu bleiben und das Vieh zu beschützen und meine Augenlider würden ganz schwer werden?« – »Ich würde dir zeigen, wie man wach bleibt. Zusammen würden wir den Vollmond ansingen und solange unter den Sternen tanzen, bis deine Augen wieder wach sind.« »Was, wenn ich einschliefe und eine Hyäne würde eine Kuh reißen – und auch noch meine Geburtskuh?« – »Dann würde ich ärgerlich sein – aber dich immer noch lieben.« »Was, wenn ich mich fürchten würde?« – »Dann würde ich meine Arme so um dich schlingen, dass du mein Herz wie eine Trommel hören könntest.« »Was, wenn die Hyänen mich mit gelben Augen anstarren würden?« – »Dann würden wir zusammen unsere Köpfe nach hinten werfen und laut heulen – bis sie abhauen.« »Was, wenn ein Löwe käme, um nach Essen zu suchen und ich sollte sein Essen sein?« – »Dann, mein Herz, würde ich dich mit meinem Schild beschützen. Ich würde so lange mit dem Speer zucken und drohen, bis er sich feige zurückziehen würde« – »Ich werde für dich sorgen, dich lieben und dich alles lehren, was ich weiß – denn ich bin dein Papa und du bist mein Herz!«

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Bündnisrhetorik und Resilienz im gewaltlosen Widerstand

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Barbara Ollefs und Arist von Schlippe

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ElterncoachingaufderBasisdesgewaltlosenWiderstands

Praxis

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Barbara Ollefs und Arist von Schlippe

Manual für das Elterncoaching auf der Basis des gewaltlosen Widerstands

Indikationen für das Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand Der Grad der parentalen Hilflosigkeit und der Verlust von elterlicher Präsenz sind bei der Indikationsstellung für ein Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand entscheidend. Das Coaching richtet sich an Eltern, deren Kinder langfristiges Problemverhalten zeigen und in deren Familie massive Eskalationsdynamiken entstanden sind. Gleichwohl sollten Berater im Vorgespräch sensibel für Hinweise auf Verhaltensabweichungen reagieren, die möglicherweise einen Krankheitswert (Psychosen, Depressionen etc.) haben und im Zweifelsfall eine psychiatrische Abklärung gegenüber den Eltern anregen. In dieser Hinsicht gilt im Elterncoaching die gleiche Sorgfaltspflicht wie in der Erziehungsberatung oder der Kindertherapie. Das vorliegende Manual ist primär für Beraterinnen und Berater im Coaching von Eltern mit Kindern und Jugendlichen gedacht, die aggressives oder gewalttätiges Problemverhalten zeigen. Grundsätzlich ist das Coachingkonzept jedoch auch auf andere Verhaltensauffälligkeiten anwendbar, vor allem solche, bei denen die »elterliche Stimme« verloren gegangen ist, beispielsweise bei extremen Rückzugsverhalten von Kindern und Jugendlichen, bei Zwanghandlungen oder selbst schädigendem Verhalten.

Zum Gebrauch des Manuals Das Manual stellt für Therapeutinnen und Therapeuten eine Arbeitsgrundlage für das Elterncoaching auf der Basis des gewaltlosen Widerstands dar. Es schlägt einen möglichen Ablauf vor, der sich bislang in der Praxis bewährt hat. Die Reihenfolge der Interventionen ist nicht zwingend, auch müssen nicht sämtliche Interventionen zum Einsatz kommen. Die Gesamtdauer von sechs Sitzungen orientiert sich ebenfalls an den Erfahrungen aus Israel und ist als Richtwert gedacht. Falls deutlich mehr als zehn Sitzungen benötigt werden, sollte ernsthaft über den Einsatz anderer the-

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rapeutischer Mittel nachgedacht werden. Hier müssen im deutschen Sprachraum noch Erfahrungen gesammelt werden, die eine verlässliche Orientierung gewährleisten. Das Manual stellt also einen lockeren Rahmen zur Verfügung, in dem sowohl die Selbstregulationsprozesse der Familie, als auch die individuellen Coachingverläufe noch Raum haben. Es sollte daher im jeweiligen Fall entschieden werden, ob einzelne Interventionen möglicherweise vorgezogen oder später vorgeschlagen werden sollten. Zielkriterien sind dabei die Deeskalation in den Familien und das Wohlbefinden der Eltern. Beispielsweise kann sich die Notwendigkeit sozialer Unterstützung schon zu Beginn im Prozess offenbaren. In solchen Fällen kann die Aktivierung des sozialen Netzwerkes gleich zu Anfang sinnvoll sein, vor allem wenn deutlich wird, dass die Interventionen die Kräfte der Eltern übersteigen, bevor detailliert an den Kommunikationsformen oder mit Sit-ins gearbeitet wird. Möglicherweise ist für bestimmte Familien auch das »Tempo« zu hoch. In diesen Fällen bieten die beiden letzten Sitzungen Handlungsspielraum für noch anstehende Interventionen an. Um den theoretischen Hintergrund des Elterncoaching erfassen zu können, empfehlen wir folgende Basisliteratur: 1. Haim Omer und Arist von Schlippe (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 2. Haim Omer und Arist von Schlippe (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Zur therapeutischen Grundhaltung im Elterncoaching Zentral von Bedeutung ist eine anklagenfreie therapeutische Grundhaltung, welche die beobachtbaren Probleme zwischen Eltern und Kind einfach als vorhanden ansieht. Die Eltern sind nicht »schuld«, wenn überhaupt, dann ist die Eskalation »schuld«, die beide Seiten in ihre Dynamik gezwungen hat. »Schuld« ist also das Muster, doch nicht die Eltern. Wichtig ist die Reduktion von Schuldgefühlen bei den Eltern, die sie in ihrer elterlichen Präsenz schwächen. Dies gilt auch für Fälle, in denen sich die Eltern aus der Eskalation heraus gewalttätig dem Kind gegenüber verhalten haben. Wenn sie kooperativ sind und ihr Interesse äußern, die Gewaltspirale zu unterbrechen, ist es vertretbar, sie aktiv darin zu unterstützen und ihre Verantwortlichkeit anzuerkennen. Sorgfältig zu differenzieren ist hier habituelle elterliche Gewalt/Missbrauch, dies geht in der Regel mit Unfreiwilligkeitskontrakten einher und sollte anders behandelt werden. Dominanzorientierung des Kindes wird nicht von den Eltern »verursacht«, sie ist vielleicht angeboren, aber ist jedenfalls »da«. Die Frage nach der Entstehung ist oh-

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Elterncoaching auf der Basis des gewaltlosen Widerstands

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nehin nie eindeutig beantwortbar, simplifizierte Kausalhypothesen führen ohnehin nur in mögliche negative Schleifen von Schuldvorwürfen und Rechtfertigung. Daher sollten die Gegebenheiten schlicht und ohne Vorwurf als Ausgangspunkt für Veränderungsprozesse genommen werden. Kindliche Dominanzorientierung stellt eine besondere Herausforderung an Eltern dar, die das »normale« Erziehungsrepertoire übersteigt, für die es aber keine spezielle »Elternausbildung« gegeben hat. Elterliche Dominanzorientierung verstärkt andererseits auch eher das Problem, als dass sie es lösen könnte. Die Akzentuierung der Machtdimension wird im Coaching durch die Betonung der elterlichen »Anwesenheit«, das heißt Stärkung elterlicher Präsenz ersetzt. Ein Konflikt zwischen den Eltern ist die Regel bei schwierigen und starken Kindern, die Paarbeziehung ist fast immer beeinträchtigt. Die Chancen für eine größere eheliche Zufriedenheit stehen gut, wenn neue Lösungsideen greifen. Eskalationen neigen dazu, sich zu verselbstständigen, die Zwickmühle entweder symmetrisch oder komplementär zu handeln, braucht einen dritten Weg. Isolation und Scham sind die eigentlichen Gegner, die elterliche Schuldgefühle und Hilflosigkeit noch verstärken. Es geht zentral darum, dass Eltern ihre Würde wieder finden. Die Aktivierung von sozialen Unterstützungssystemen bündelt und setzt Energien frei, die hilflose und erschöpfte Eltern oft nicht haben. Das Kind benötigt genau diese Energien, um die elterliche Präsenz wieder spüren zu können. Das Elterncoaching möchte Eltern anregen, vier Fähigkeiten in Anlehnung an den gewaltlosen Widerstand zu aktivieren: – Selbstkontrolle über das eigene Verhalten zu gewinnen, – Protest und Widerstand gegen das bisherige kindliche Verhalten auszudrücken, – soziale Unterstützung zu aktivieren und – Versöhnungsgesten anzubieten. Elterncoaching ist kein »Sprint«, sondern »Marathon«, und setzt auf Ausdauer und Beharrlichkeit. Die Vermittlung von Hoffnung, dass sich die Situation bessert, ist ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit. »Work of disappointment« bedeutet, dass neben der Vermittlung von Hoffnung alle Ideen, das Kind in seiner Entwicklung kontrollieren zu können, freundlich enttäuscht werden sollten (»Ich werde ihnen eine Antwort sagen, die Sie sehr enttäuschen wird: Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie man ein Kind dazu bringt, gern seine Hausaufgaben zu machen, gern ein Instrument zu erlernen« usw.). Der einzige Ansatzpunkt zur Veränderung sind die Eltern selbst. Zusammengefasst sollte den Eltern eine Form starker therapeutischer Unterstützung angeboten werden, bei der sie die Therapeutin klar und eindeutig hinter oder neben sich spüren können.

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Zur Self-Care der Therapeuten Die therapeutische Arbeit mit Eltern von dominanzorientierten Kindern kann sehr anstrengend und energiezehrend sein. Daher sollten in der Regel nicht mehr als drei bis vier Fälle gleichzeitig begleitet werden. Das Elterncoaching sollte von schon berufserfahrenen Beraterinnen und Beratern ausgeführt werden, die bereits in einer therapeutischen Methode ausgebildet sind. Das Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand versteht sich als Brücke zwischen verschiedenen Therapierichtungen und setzt nicht eine bestimmte Methode voraus. Für Berufsanfänger empfiehlt es sich, das Coaching mit erfahrenen Kollegen zusammen durchzuführen. In dieser Arbeit werden gewöhnlich auch die Therapeuten von der elterlichen Hilflosigkeit angesteckt, denn in der Praxis kann es viele Rückschläge geben. Es gilt daher, sich schon im Vorfeld auf Ernüchterungen vorzubereiten, um diese besser verarbeiten zu können. Ein großes persönliches Unterstützungssystem zu etablieren, ist zur therapeutischen Sicherung und Ankerung nötig. Bereichernd ist auch der wertschätzende Austausch mit Kollegen, die Erfahrungen in der therapeutischen Arbeit mit hilflosen Familien haben. Die Praxis zeigt, dass eine gemeinsame Enttäuschungsarbeit ermutigend ist (auch Berater und Beraterinnen benötigen »work of disappointment«). Eine engmaschige supervisorische Einbindung ist darüber hinaus unerlässlich. Auch die ressourcenstarke Einbindung in die eigene Biografie schützt vor zu starken Selbstwertverlust. Zur persönlichen Vorbereitung auf den Coachingprozess gilt es sich zu fragen: – Wie ist meine Einstellung, mein Gefühl zum ratsuchenden System? – Welche ersten Hypothesen/Ziele habe ich bisher? – Sind sie eher hilfreich oder hinderlich? – Was könnte in diesem Kontakt meine Stärken sein? – Wo könnten mögliche Fallen liegen?

➪ Die erste Sitzung Organisatorisches Das Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand bietet eine Beratung für Eltern in krisenhaften Konfliktsituationen mit ihren Kindern an. Es sieht vor, den Eltern unter Zeitdruck ein Instrument an die Hand zu geben, welches es ihnen ermöglicht, deeskalierend Einfluss nehmen zu können. Um diesen Anspruch von Beginn an gerecht werden zu können, sollte der Zeitrahmen der ersten Sitzung etwas weiter als gewöhnlich gesteckt und etwa 90 Minuten eingeplant werden. Flipchart und dicke Filzstifte in den Farben rot, gelb und grün sollten zur Verfügung stehen, gegebenenfalls auch Kärtchen in diesen Farben. Die Elternanleitung

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Elterncoaching auf der Basis des gewaltlosen Widerstands

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zu den Prinzipien des gewaltlosen Widerstands in der Kindererziehung sollte bereit liegen (ggf. in Fotokopie: der schwarz markierte Teil aus Omer u. von Schlippe, 2004, S. 229ff.). Es hat sich jedoch bewährt, nur relevante Seiten den Eltern mitzugeben, die in der Sitzung schon besprochen worden sind. Andernfalls könnten sich die Eltern, mit zuviel schriftlichen Informationen ausgestattet, überfordert fühlen. Ein ruhiger Raum, weit ab von allen störenden Einflüssen, in dem sich eine entspannte Arbeitsatmosphäre entwickeln kann, sollte vorhanden sein.

Kontakt und Beziehungsaufbau (»Joining«) Aus der systemischen Therapie ist das »Joining« als eine wesentliche Basis therapeutischer Arbeit bekannt. Virginia Satir, eine der Begründerinnen des Ansatzes, hat dazu bemerkt: »Vertrauen ist die Grundlage für Veränderungsprozesse.« Berater haben also in der ersten Phase des Coachings die Aufgabe, eine vertrauensvolle, freundliche, offene und ehrliche Beziehung aufzubauen. Den Eltern sollte das Gefühl von Gewissheit vermittelt werden, dass die Therapeuten primär hinter ihnen stehen und sie unterstützen. In Abgrenzung zur herkömmlichen Familientherapie, in der die therapeutische Haltung von der Allparteilichkeit und Neutralität zu allen Familienmitgliedern betont wird, ist die Position des Therapeuten beim Elterncoaching von der Nähe zu den Eltern gekennzeichnet. Es geht um die Vermittlung »therapeutischer Präsenz« und der damit einhergehenden Erfahrung, die in folgender Aussage zusammengefasst ist: »Wir werden als Eltern mit unseren Sorgen, Ängsten und unserer Hilflosigkeit angenommen, in den Mittelpunkt des Coachingprozesses gerückt und ernst genommen. Die Therapeuten stehen hinter uns, wobei das Bündnis mit den Therapeuten für und nicht gegen unser Kind eingegangen wird.« Es geht also bei diesem Ansatz primär um eine Allianz mit den Eltern und im Prozess um eine Fokussierung der Möglichkeiten zur elterlichen Veränderung im Zusammensein mit ihrem Kind: ihres Handelns, ihrer Gedanken, ihrer Gefühle, Abbau ihrer Hilflosigkeit und Stärkung ihrer Zuversicht, und ihrer sozialen Einbindung. Der Wandel auf Seiten der Eltern wird nachfolgend das kindliche Verhalten anregen und kindliches und elterlichen Agieren können sich gegenseitig in einem neuen Verhaltensmuster konfigurieren. Die Therapeutin oder der Therapeut sollten die Eltern in dieser ersten Sitzung in ihrem Entschluss bestärken, dass sie entschieden haben, ihre Sorgen aktiv anzugehen und etwas dafür zu tun, dass die Dinge besser werden. Es gilt »Zugang« zur Familie zu finden, sich in positiver Weise an sie anzuschließen, also »positive Aspekte zu sammeln [. . .] wie Groschen in eine Spardose« (Conen, 2002, S. 48). Ohne den Aufbau einer solchen wertschätzenden Beziehung sollte kein weiterer Schritt gegangen werden. Das praktische Vorgehen beim Joining kann so aussehen: – persönliche, freundliche Begrüßung per Handschlag, möglichst auch mit ein paar freundlichen Sätzen;

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– wertschätzende Kontaktgestaltung, in jedem Fall Blickkontakt zu jedem aufneh-

men; – auf persönliche Kongruenz achten. Das therapeutische Einfühlen in die Geschichte der Familie ist von großer Bedeutung. Im weiteren Beratungsgespräch sollte Raum sein, die verschiedenen Aspekte elterlicher Präsenz und des kindlichen Verhaltens aufzunehmen, wobei die Fragen unten stehender Mind-Maps in loser Reihenfolge behandelt werden können. Vielmehr sollte im Gespräch versucht werden, die unterschiedlichen Gesichtspunkte in entspannter Weise zusammenfließen zu lassen. Die Mind-Maps sollten so genutzt werden, dass man sich gegen Ende dieses Gesprächsabschnittes noch einmal fragt, ob insgesamt ein facettenreiches Bild gewonnen wurde, so dass eine gute Interventionsplanung möglich ist. Möglichst präzise sollte auch erfragt werden, welche Verhaltensweisen des Kindes es genau sind, die aus Sicht der Eltern zu dem Muster beitragen, in dem ihre Präsenz verloren geht. Es sollte dabei auch der Art der Elternbeschreibungen und der damit verbundenen Bilder besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, um Zugang zu den Eltern, den Erfahrungen und deren »Geschichte« zu erhalten. Mit solchen elementaren Formen der Gesprächsführung setzt sich der Aufbau eines therapeutischen Narrativs, das heißt das therapeutische Aufgreifen der Erzählungen der Eltern, auseinander. Die therapeutischen Narrative beruhen dabei auf der Zusammenarbeit von Therapeut und Klient. Im günstigsten Fall lässt sich der Therapeut von den Klienten in seine »Geschichte« einführen und unterstützt sie bei der Entwicklung einer neuen, weniger zwingenden »Geschichte«, die neue Optionen eröffnet, den Handlungsspielraum von Eltern erweitert und eine hoffnungstragende Zukunft vermittelt. Vielfach erzählen die Eltern die Auseinandersetzungen mit ihren Kindern als eine »Leidensgeschichte«, bei der sie sich selbst in der Rolle des Passiven und Handlungsunfähigen darstellen (und sich auch erleben), während dem betroffenen Kind Allmacht und jeglicher Handlungsspielraum zugemessen wird. Diesen Narrationen Gehör zu schenken, ist hilfreich für Therapeuten, weil sie das Erleben und den elterlichen Bezugsrahmen offenbaren. Die therapeutische Kunst besteht darin, die Erzählungen und verwendeten Begrifflichkeiten in einen Zusammenhang zu bringen, in denen den Eltern wieder eine Vorstellung von Einflussnahme vermittelt wird, der aber gleichzeitig die Bedeutungszusammenhänge der Eltern aufgreift. Beispielsweise berichteten Eltern im Coaching von ihrem aggressiven Sohn, der sich zu Hause wie ein König aufführt: »Er ist der King!« In diesem Fall war es hilfreich zu fragen: »Er führt sich also wie ein absolutistischer Monarch auf und ein Ziel wäre es, er würde sich wenigstens zum parlamentarischen König entwickeln?« Die Eltern nickten an dieser Stelle heftig, fühlten sich verstanden und konnten gleichzeitig mit dem neuen Angebot ihre Hoffnung auf die eigene Einflussnahme auf den Prozess wieder stärken.

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Elterncoaching auf der Basis des gewaltlosen Widerstands

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Im besten Fall sollte die »Leidensgeschichte« der Eltern im Coachingprozess so verändert werden, dass sie die »Helden« dieser Geschichte sind. Das elterliche Gefühl, »verstanden zu werden«, ist zentral im Coachingprozess. Die Frage nach der Kausalität des kindlichen Verhaltens wird bewusst ausgespart, weil sie möglicherweise bestehenden Paarkonflikten und subtilen Schuldzuweisungen neue Nahrung geben kann.

Die Bedeutung der Vermittlung von Hoffnung und Zuversicht im Elterncoaching Ein erstes Ziel, die Eltern zur Mitarbeit in der Beratung zu bewegen und wieder stärkere elterliche Präsenz zu zeigen, ist das Finden einer empathischen Sprache für das kindliche Verhalten, ohne dass Eltern sich angeklagt fühlen. Bei der Bearbeitung der Fragen zum Verhalten des Kindes besteht natürlich die Gefahr, diese Informationen wie eine Einschätzung der negativen Eigenschaften eines »bösen« Kindes zu behandeln. Daher sollten unbedingt auch die besonderen Fähigkeiten und Ausnahmen des Kindes thematisiert werden. Wenn die Eltern von positiven Verhaltensweisen ihres Kindes berichten (beispielsweise, dass der Sohn, der sich gegenüber den Eltern ausfallend und aggressiv verhält, zu außenstehenden Erwachsenen jedoch einen freundlichen und zuvorkommenden Kontakt pflegt), sollten diese ausdrücklich noch einmal betont werden, zum Beispiel so: »Ihr Sohn ist also gegenüber Ihren Freunden höflich und sympathisch? Das ist ein ermutigendes und hoffnungsvolles Zeichen, weil er offensichtlich in der Lage ist, gegenüber Dritten Beziehungen zu pflegen.« Es geht also um die Vermittlung von Hoffnung und Zuversicht, die den Eltern Kraft gibt, in den anstehenden Prozess mit dem Kind Zeit und Energie zu investieren. Die Thematisierung ausschließlich negativ gefärbter Themen kann den Beratungsprozess (sowohl für Eltern als auch Berater) außerdem paralysieren. Den Eltern werden durch das Coaching Methoden an die Hand gegeben, die es ihnen möglich machen, ihre Präsenz wieder zu stärken. Dieser Ausblick auf die Gewinnung neuer elterlicher Präsenz ist wichtig und sollte in der ersten Sitzung den Eltern gegenüber betont werden im Sinne von: »Ich erlebe Sie hilflos und verzweifelt. Die Methoden die wir hier zusammen in der Beratung erarbeiten, werden es Ihnen möglich machen, Ihrem Kind gegenüber Ihren Platz als Eltern wieder zu stärken und Sie dabei zu unterstützen das gewaltvolle Verhalten in der Familie einzustellen. Augenblicklich zeigt Ihr Kind das problematische Verhalten. Vielleicht wird sich Ihr Kind in geraumer Zeit zum Besseren verändern. Kinder durchlaufen manchmal (z. B. in der Pubertät) schwierige Entwicklungsphasen. Wenn Sie sich als Eltern in dieser Phase entschließen, stärker präsent zu sein, können Sie die Chancen auf einen guten Entwicklungsverlauf verbessern.« Die Praxis mit dem Ansatz zeigt, dass Eltern durch das Coaching nicht ihr Kind

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zur »Umkehr« bewegen, aber durch eine Veränderung in ihrer elterlichen Haltung zum Kind erreichen können, dass sich das Kind an die neue Situation in der Familie anpasst.

Interview zur elterlichen Präsenz Zunächst gilt es in einem ersten Schritt die Rahmenbedingungen zu erfragen, die mit dem Verlust elterlicher Präsenz einhergehen können. Elterliche Präsenz ist ein weit gefasstes und vor allem vielschichtiges Konstrukt, und entsprechend vielschichtig können die Randbedingungen sein, unter denen diese verloren geht. Es empfiehlt sich, diese Bereiche zumindest einmal zu streifen, um einschätzen zu können, was die besondere Lage der Eltern ausmacht und an welcher Stelle die Intervention des gewaltlosen Widerstands möglichst erfolgsversprechend angesetzt werden kann. Für dieses Interview sollten 25 Minuten eingeplant werden. Abbildung 1 bietet eine »Mind-Map«, eine Möglichkeit, sich schnell über die Bereiche, die in diesem Zusammenhang angesprochen werden können, zu informieren. Die verschiedenen Aspekte zur elterlichen Präsenz auf der Mind-Map können mit einer Reihe unterschiedlicher Fragen erfasst werden. Sie können etwa folgendermaßen gestellt werden. Einige der Fragen können zusätzlich auch zirkulär gestellt werden, um Perspektiven anderer Beteiligter mit zu erheben (»Was glauben Sie, sind die schlimmsten Befürchtungen des Großvaters/der Tante hinsichtlich der Entwicklung Ihres Kindes?«). – Beschreiben Sie, wie sich die Kommunikation zwischen Ihnen und Ihrem Kind im Konfliktfall entwickelt: Wer gibt eher nach und wer fordert zwingend sein Bedürfnis ein? – Wie hat sich das gewalttätige oder selbstzerstörerische Verhalten, Ihres Kindes oder Ihr eigenes Verhalten dazu, über die Zeit entwickelt? – Wie kooperieren Sie und Ihr Partner in diesem Konflikt? Gibt es Boykottsituationen der Partner untereinander? – Welche anderen bedeutsamen Personen in der Familie oder im Umfeld irritieren oder boykottieren Ihre elterliche Autorität? – Welche Bedeutung hat die Frage um die Macht und Vorherrschaft in Ihrer Familie? Dominiert diese Frage den Kontakt zu ihrem Kind? – Haben Sie den Eindruck, dass Gefühle von Schuld, Angst oder Hilflosigkeit den Umgang mit ihrem Kind bestimmen und gegebenenfalls schwächen? – Was ist Ihre schlimmste Befürchtung hinsichtlich der weiteren Entwicklung Ihres Kindes? – Wie sieht es mit Ihren eigenen Kraftreserven aus: Fühlen Sie sich oft überfordert, überarbeitet? Gibt es Krankheiten, Depressionen, Erschöpfungen in Ihrer Familie? – Wie sehen die Arbeitszeiten in Ihrer Familie aus? Wie viel Zeit müssen Sie für die

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Abbildung 1: Mind-Map zur elterlichen Präsenz (aus Omer u. von Schlippe, 2004, S. 220)

Elterncoaching auf der Basis des gewaltlosen Widerstands

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Existenzsicherung Ihrer Familie aufbringen? Wie oft sehen Sie sich als Paar, als Familie? – Wie gehen Sie selbst mit den Konflikten mit Ihren Kind um? Teilen Sie sich anderen darüber mit? Ziehen Sie sich, möglicherweise aus Scham, eher zurück? Wie hat sich Ihr Kontakt zu Freunden, Bekannten verändert? – Welchen Anspruch haben Sie an ihre eigene Rolle als Vater/Mutter: Haben Sie den Eindruck, Ihr Anspruch ist im Vergleich zu anderen Eltern überhöht? – Was denken Personen aus der Nachbarschaft und Verwandtschaft über Sie als Eltern? Lassen Sie sich davon beeinträchtigen (bzw. unterstützen)?

Interview zum Verhalten des Kindes Mind-Map 2 dient ebenfalls als Gedächtnisstütze, sich von den hoch eskalierten Mustern ein Bild zu machen, in denen sich Kind und Eltern gleichermaßen verfangen haben. Die einzuplanende Zeit für dieses Interview beträgt ungefähr 25 Minuten. Folgende Fragen können zur Erhebung des kindlichen Verhaltens gestellt werden, gegebenenfalls zirkulär: – Wie reagiert Ihr Kind auf Ihre Regeln und Verbote? Wie wird die gezeigte Reaktion noch gesteigert? Was sind typische Verhaltensketten? Was eskaliert das Problem und was treibt die Eskalation an? – Geht es bei diesen Auseinandersetzungen letztlich um die Frage: »Wer ist der Boss?« – Welches gewalttätige Verhalten zeigt Ihr Kind, sei es körperlich, verbal, durch Drohungen, Beschimpfungen oder Herabwürdigungen? – Wer ist außer Ihnen noch von dem zerstörerischen Verhalten ihres Kindes betroffen? Leiden die Geschwister darunter und wie reagieren sie auf diese Situation? – Wer sind die Freunde Ihres Kindes? Wechseln sie häufig? Kennen Sie die Freunde Ihres Kindes persönlich? An welchen Orten hält sich Ihr Kind auf? Sind Ihnen diese bekannt? – Welche Erziehungsversuche haben Sie ausprobiert und was hat bislang gut geklappt? – Was wissen Personen außerhalb Ihrer Familie, wie Freunde, Verwandte von den Auseinandersetzungen? – Was sind die besonderen Fähigkeiten Ihres Kindes? Was kann es gut? Was hat es in der Vergangenheit an positivem Verhalten gezeigt? Wann gab es Ausnahmen vom beschriebenen Verhalten? In der Praxis steht die elterliche Hilflosigkeit oft im Zusammenhang mit der Aggressivität des Kindes. Das Zusammentragen der verschiedenen Informationen zu den Verhaltensauffälligkeiten gleich zu Beginn im Coachingprozess erweitert den Background und das Wissen der Therapeuten. Darüber hinaus schafft die Erhebung

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Elterncoaching auf der Basis des gewaltlosen Widerstands

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auch Vertrauen zwischen Eltern und Therapeuten, durch das gemeinsame Wissen und durch die therapeutische Sprache, die den Eltern gegenüber Professionalität ausdrückt, aber gleichzeitig Zuversicht spendet. Durch das sachliche Zusammentragen werden Projektionen und Dämonisierungen des Kindes gemindert und das Wissen zum Verhalten des Kindes erweitert. Dies kann ein erster Schritt in Richtung Deeskalation sein. Denn wenn Eltern wenig über ihre Kinder wissen, dann sind sie schneller ihren Phantasien und Interpretationen unterworfen, was konflikthaften Zuspitzungen noch Vorschub leisten kann. Am Ende der Interviewphase sollten sich Beraterinnen folgende Fragen zur Analyse der Situation stellen, was für das weitere Vorgehen hilfreich ist: 1. Was eskaliert das Problem oder was treibt die Eskalation an? 2. Was versuchen die Eltern zu kontrollieren? 3. Was kann nicht kontrolliert werden? 4. Wie kann dem extremen Verhalten vorgebeugt werden? Wie kann Schaden abgewendet oder begrenzt werden? Um das kindliche aggressive Verhalten besser verstehen zu können, soll an dieser Stelle ein kurzer Exkurs darüber erfolgen (s. a. Greene, 2001; Dodge, 1993). Folgende Bedingungen sind für die Entwicklung aggressiven Verhaltens bedeutsam. Sozial-kognitive Faktoren: – die Informationsverschlüsselung: die Neigung des Kindes, besonders auf aggressive Reize zu achten und selektiv zu erinnern. – die Interpretation: die kindliche Tendenz, dem anderen eine feindliche Absicht zu unterstellen (sog. feindseliger Wahrnehmungsfehler). – die Besonderheit des Agierens: die aggressiven Handlungen sind vom Kind leichter auszuführen als zu unterdrücken. Die kindliche Aggression wird durch die Unfähigkeit, alternative Handlungen auszuführen, noch verstärkt. Es reicht also nicht aus, dem Kind das aggressive Handeln zu nehmen, sondern es gilt in der Erziehung etwas Optionserweiterndes hinzuzufügen, um so seine besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu stärken. Fähigkeiten: – Es bestehen seitens des Kindes kaum Kapazitäten, Erregung zwecks Erreichens eines Zieles auszuhalten. Dieses eingeschränkte Vermögen, Ausdauer und Selbstdisziplin zu entwickeln, ist häufig das größte Problem von Kindern mit aggressiven Verhaltensweisen. Wenn Eltern in anklagender Weise das aggressive Verhalten ihres Kindes beschreiben, kann es für sie hilfreich sein, folgende Rückmeldung zu erhalten: »Ich habe verstanden, dass Ihr Kind Schwierigkeiten zeigt, Dinge aufrecht zu erhalten und durchzuhalten.« Diese Feststellung ist wertfrei und ist für die Eltern eine mögliche Schilderung, die ihre Bereitschaft stärkt, intensivere el-

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Abbildung 2: Mind-Map zum Interview »Verhalten des Kindes« (aus Omer u. von Schlippe, 2004, S. 221)

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terliche Präsenz zu zeigen. Die Berater können damit zum Übersetzer kindlicher Bedürfnisse werden. – Die kognitive Beweglichkeit kann eingeschränkt sein: Kennzeichnend hierfür kann eine kindliche Inflexibilität sein, vom eigenen Schema auf die Anliegen und Anweisungen der Eltern zu schalten. In diesem Fall kann es beraterische Aufgabe sein, den Eltern zu vermitteln, beispielsweise durch Ankündigungen, besser auf das Verhalten des Kindes einwirken zu können. – Das Problemlöseverhalten kann auf wenige, meist aggressive Strategien reduziert sein. Wenn Kinder aggressive Wutanfälle mit Gewalt zeigen, sollten keine Interventionen erfolgen, sondern nur der Schutz von Eltern und Kind oder Geschwisterkindern angestrebt werden. Dominanzorientierte Kinder nehmen folgende Wege, um die Kommunikation in der Familie zu steuern: 1. Die Kinder achten darauf, was gesprochen wird. 2. Die Kinder lenken daraufhin Themen und Inhalte. Die Kinder nehmen Einfluss auf die Emotionalität der Eltern, auf Wut, Ärger, Hilflosigkeit, Schuld, und entwickeln den Wunsch, Kontrolle auszuüben. Manchmal nehmen Kinder so stark Einfluss, dass Eltern ihre Moralvorstellungen »über Bord werfen«. Wenn es Kindern gelingt, die Kommunikation der Eltern zu handhaben, dann kommen sie in eine machtvolle Position und können möglicherweise Omnipotenzgefühle entwickeln. Es reicht häufig nur ein Wort, um die Eltern aus der Balance zu bringen und ihre Emotionalität zu steuern, vergleichbar mit »Knöpfen« die gedrückt werden, um emotionale Reaktionen auszulösen. Beispielsweise können folgende kindliche Aussagen und Verhaltensweisen die »Knöpfe« für elterliche Gefühle sein: – »Du hast mich sowieso nicht lieb« → Schuld – »Du bist sowieso ein Versager« → Ärger/Wut – Lügen → Hilflosigkeit Hier kann es hilfreich sein, mit den Eltern eine Liste typischer »Knöpfe« zu erstellen. So können sie unterstützt werden, in eine »selbstreferente« Position zu gelangen, in der sie nicht so sehr der Dynamik unterworfen sind, als vielmehr diese beobachten: »Mal sehen, wie er versucht, mich auf 180 zu kriegen!« oder: »Mal sehen, was passiert, wenn ich auf den ›Knopf‹ einfach nicht weiter reagiere.« Studien zufolge (Döpfner et al., 1997) mehren sich die Hinweise, dass aggressives Verhalten, je früher und häufiger es auftritt, je ausgeprägter und vielfältiger es sich äußert, unabhängig vom jeweiligen Kontext, sich im weiteren Verlauf umso stabiler zeigt. Anmerkungen zur therapeutischen Haltung im Elterncoaching bezogen auf das Kind und sein Verhalten sollen diesen Abschnitt beschließen. Auch wenn Thera-

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peuten gelernt haben, Hypothesen für die Ursachen des kindlichen Verhaltens zu entwickeln, ist es im Coachingprozess (bei dem es in erster Linie um die Beratung in der Elternrolle geht) nicht hilfreich, die Gründe für die kindlichen Auffälligkeiten in der Paarbeziehung zu suchen. Hilflose Eltern sind in aller Regel hoch sensibel gegenüber versteckten Anklagen, Beschämungen und Abwertungen, die mit solchen Hypothesen assoziiert werden, weil sie sich schon oft gegen die Vorwürfe der Umwelt haben wehren müssen. Viel hilfreicher ist es daher, beispielsweise von »Regulationsstörungen«, »Dominanzorientierung«, »Schulproblemen«, oder »Kontaktschwierigkeiten« des Kindes zu sprechen und diese in den Mittelpunkt der Beratungsarbeit zu stellen. Diese Begriffe beschönigen das kindliche Verhalten nicht, sondern zeigen auf, wie das Verhalten zu bewerten ist, nämlich als das, was es ist: Das Kind braucht erkennbar Hilfe und sein Verhalten zeigt, dass es Unterstützung und eine stärkere elterliche Präsenz braucht. Beispielsweise deuten Zwangshandlungen bei einem Kind auf ein tiefes Bedürfnis nach Struktur und Berechenbarkeit hin. Wenn sich Eltern in einer solchen Situation den Forderungen des Kindes ergeben, wird das Kind die Außenwelt zunehmend verschwommener wahrnehmen. Sein innerlicher Drang und Bedürfnis nach Ordnung und Struktur wird dadurch größer, was sich in seinem verstärkten zwanghaften Handeln zeigt. Immer wenn Therapeuten es schaffen, in empathischer Weise über das Kind zu sprechen (also in der Lage sind, die Person des Kindes klar vom Verhalten zu trennen), ist ein erstes Ziel erreicht, nämlich die Eltern zur Mitarbeit zu gewinnen und elterliche Präsenz zu zeigen. Dabei sollten die Eltern auch gerade zu Beginn des Prozesses auf das Leid und die Anstrengungen, die mit einer erhöhten elterlichen Präsenz auf der Basis des gewaltlosen Widerstands verbunden sind, vorbereitet werden. Ein Teil des Elternseins ist vom Leid geprägt und die Intensivierung der elterlichen Präsenz und Veränderung in der elterlichen Haltung zum Kind geht auf der elterlichen Seite mit enormen Kraftanstrengungen, Enttäuschungen und Rückschlägen einher. Gleichzeitig kann es für Eltern ermutigend sein zu hören, dass sich dieses Leiden lohnt, weil es ihnen ermöglicht, die eigene Hilflosigkeit zu überwinden, sich wieder stärker zu fühlen und eine Veränderung der familiären Rahmenbedingungen zu schaffen, an die sich das Kind anpassen wird und die Situation nur verbessert werden kann. Hier kann es angezeigt sein, durchaus zu verlangsamen: »Sind Sie bereit, für eine Veränderung Ihrer Situation, bei der Sie sich vermutlich deutlich weniger hilflos fühlen werden, Zeit und Energie einzusetzen? Es kann sein, dass Sie über einige Wochen und Monate viele Abende einsetzen. Überlegen Sie, vielleicht bis zum nächsten Mal, ob Sie das tun möchten.«

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Klärung der therapeutischen Ziele Nachdem die familiäre Situation durch die Eltern beschrieben wurde, gilt es in einem nächsten Schritt, die Eltern für ihre persönlichen Anliegen im Coachingprozess zu sensibilisieren, sich auf gemeinsame Ziele zu einigen, die dann Grundlage für die Ankündigung sein werden. Dafür hat sich in der Praxis die »Technik der drei Körbe« bewährt, die im Folgenden vorgestellt wird. Elterliche »Gardinenpredigten« sind für Kinder, noch mehr für Jugendliche, hoch aversiv und tragen dazu bei, die emotionale Aktivierung einer konflikthaften Situation zu erhöhen und die Eskalationsspirale anzuheizen. Für die Eltern ist es umgekehrt nicht leicht, das »nattering« (Patterson et al., 1984) einfach einzustellen. Dies hat damit zu tun, dass eine einzelne kritisch bewertete Handlung des Jugendlichen (z. B. Unordentlichkeit) oft symbolisch für eine ganze Klasse störender Verhaltensweisen angenommen wird (z. B. Unzuverlässigkeit, Unfähigkeit). Eine typische Situation: Die Jacke wird nach der Schule im Flur auf den Boden geworfen: »Du hast schon wieder die Jacke da liegen gelassen! Wann wirst Du das endlich lernen! Ständig muss man hinter dir herräumen! Wenn ich bedenke, wie dein Zimmer heute früh ausgesehen hat! Die Spülmaschine ist auch noch nicht ausgeräumt! Und wer hat mir das gestern hoch und heilig versprochen? Wo soll das denn noch enden mit dir?« Neben dem Signal der elterlichen Hilflosigkeit, das so ausgesandt wird, erlebt der Jugendliche diese Art des Sprechens als ausgesprochen intrusiv. Die von Ross Greene (2001) vorgestellte Technik der drei Körbe kann den Eltern in der Beratung helfen, zwischen verschiedenen Problembereichen zu differenzieren, Prioritäten zu setzen und so zur Deeskalation beitragen. Darüber hinaus ermöglicht die Übung die Unterstützung der Eltern, sich auf ein bis drei Coachingziele zu einigen. Bitten Sie die Eltern, alle problematischen Verhaltensweisen des Kindes auf jeweils einen Zettel zu schreiben. Anschließend sollten die Zettel mit den Verhaltensweisen des Kindes jeweils auf drei Körbe verteilt werden, die sich entweder in der Phantasie vorgestellt werden – vielleicht ist es aber besser, sie tatsächlich sichtbar in den Raum zu stellen oder zumindest am Flipchart aufzuzeichnen. Jedes Elternteil wird aufgefordert, die aufgelisteten problematischen Verhaltensweisen einem der drei Körbe, nach dem unten beschriebenen Prinzip, zuzuordnen. Dieser Prozess kann einige Zeit (einzuplanen sind ca. 20 bis 30 Minuten) in Anspruch nehmen und einiges an beraterischer Unterstützung erfordern. Der grüne »Akzeptanzkorb«: Dies ist der größte Korb. In ihn gehören alle Verhaltensweisen, die zwar ärgerlich sind, bei denen aber auch zugestanden werden kann, dass sie mit den Begrenzungen des Kindes oder des Jugendlichen oder der Entwicklungsphase zu tun haben – oder dass sie, wenn die Beziehung nicht so eskaliert wäre, für das Kindes- und Jugendalter beinahe als »normal« angesehen werden könnten.

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Sie können durchaus für die Eltern einen hohen Wert haben, und doch mit einem gewissen Bedauern, oft aber auch mit Erleichterung in diesen Korb gelegt werden: Ein aufgeräumtes Kinderzimmer hat für alle Eltern, die wir kennen (inklusive uns selbst) einen hohen Wert – und gleichzeitig kennen wir fast keine Familie, in der die Kinderzimmer ordentlich sind. Und so kommen in den grünen Korb all die Verhaltensweisen, bei denen die Eltern trotz Unbehagen entscheiden: »Darüber regen wir uns nunmehr nicht mehr auf!« Diese Entscheidung hilft auch, jede Verhaltensweisen zu gewichten und von dem »Grundsätzlichen« zu trennen. Es geht nun nicht mehr darum, dass das unordentliche Zimmer (oder die Jacke im Flur oder die nicht ausgeräumte Spülmaschine) generalisiert wird auf alle Ärgernisse des Kindes, sondern vielmehr als isoliertes Verhalten in den grünen Korb gelegt wird. Natürlich sind Erinnerungen und Ermahnungen weiterhin möglich, aber die Eltern entscheiden sich bewusst dafür, dies nicht mehr zum Auslöser für hoch emotionale Auseinandersetzungen zu nehmen. Der gelbe »Kompromisskorb«: Dieser mittelgroße Korb ist wichtig. In ihn gehören alle Verhaltensweisen, die für die Eltern langfristig nicht akzeptabel sind, die aber derzeit nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Hier sind alle Aspekte versammelt, bei denen die Eltern bereit sind, zu verhandeln, Kompromisse einzugehen und Entgegenkommen zu signalisieren. Hierzu gehören alle Verhaltensweisen, die wichtig sind, die jedoch nicht die Bedeutung haben, dass sie Gegenstand gewaltloser Maßnahmen werden sollten. Doch wird um sie verhandelt werden müssen (zu einem späteren Zeitpunkt); sie werden als Thema in der Familie weiterhin bedeutsam bleiben. In diesen Korb gehören auch Verhaltensweisen, auf die sich die Eltern untereinander für den roten Korb nicht haben einigen können, die, aber zu einem späteren Zeitpunkt, Thema im Coaching werden sollten. Der rote »Limitkorb«: Dieser Korb ist der kleinste der drei. In ihn gehören Verhaltensweisen, die von beiden Eltern gemeinsam auf keinen Fall akzeptiert werden können. Hier sind Beschwerden versammelt, für die es sich lohnt, sehr viel Aufwand, Zeit und Energie zu investieren, etwa ein Sit-in zu veranstalten, eine Telefonrunde und die anderen gewaltlosen Maßnahmen in Gang zu setzen. Alle Aspekte kindlichen Verhaltens, die mit Sicherheit zu tun haben, gehören ganz sicher hier hinein (Gefährdung seiner selbst durch selbstzerstörerische Maßnahmen, Gefährdung der körperlichen Integrität anderer, z. B. der Geschwister, der Eltern, Zerstörung von Gegenständen). Ein großer Teil der Beratungsarbeit wird darin bestehen, in diesem Korb maximal drei bis allerhöchstens vier Verhaltensweisen hineinzulegen. Der jeweilige Aspekt muss so wichtig sein, dass die Eltern dafür bereit sind, heftige Auseinandersetzungen in Kauf und die Mühe gewaltloser Widerstandsmaßnahmen auf sich zu nehmen. Allerdings gehören in diesen Korb nur Verhaltensweisen, die beeinflussbar und auch erreichbar sind. Beispielsweise gehören Handlungen wie »Lügen« oder »Rauchen« nicht in diesem Korb, weil diese nicht einfach abgestellt wer-

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den können (einen überzeugten jugendlichen Raucher davon abzubringen, ist unabhängig von seinem sonstigem Verhalten äußerst schwierig). Vielmehr sollte beispielsweise dem Lügen begegnet werden, indem Eltern nicht die Kinder befragen, sondern sich auf andere Weise die Informationen beschaffen (z. B. durch Lehrer). Falls die Kinder stehlen, sollten die Eltern darin unterstützt werden, dass ihr Kind nicht in Versuchung geführt wird, beispielsweise indem die Wertsachen aus dem Weg geräumt werden oder, was durch die Intensivierung der elterlichen Präsenz erreicht wird, dass die Gelegenheiten zu stehlen reduziert werden. An dieser Stelle des Beratungsprozesses können folgende Probleme auftreten: – Die Eltern sind verwirrt und haben Schwierigkeiten, Prioritäten zu setzen. – Das Paar ist sich nicht einig über gemeinsamen Ziele. – Therapeut und Eltern stimmen nicht über die Behandlungsziele überein. Die Prioritätenauswahl vor allem für den roten Korb sollte jedoch von beiden Eltern getragen werden, denn das gelungene »Teamspiel« auf der Paarebene ist bedeutsam für das weitere Vorgehen, die Therapieplanung und den Erfolg der Maßnahmen. Wenn also noch nicht gleich eine Einigung an diesem Punkt erzielt wurde, sollte diesem Schritt im therapeutischen Prozess mehr Zeit gegeben. Gegebenenfalls sollte ein strittiger Punkt auf die nächste Setzung verschoben und nichts übereilt werden, auch wenn die Eskalation hoch ist. Es ist hilfreich, das Tempo tendenziell zu verlangsamen, denn die Einigung auf die angestrebten Ziele ist Grundlage für die Ankündigung gegenüber dem Kind. Die Übereinkunft auf der Paarebene legt für die Beraterin/den Berater fest, auf welche Form von Präsenz sich die Eltern zukünftig festlegen, und bestimmt die weiteren Interventionen. Die Frage, ob ein Kind eine beaufsichtigende oder schützende Präsenz (z. B. bei Kindern, die sich an unbekannten Orten aufhalten), eine unterstützende Präsenz (z. B. die Beziehung in Form von Versöhnungsgesten wieder zu pflegen), oder eine strukturierende Präsenz (z. B. wenn sich der Tag-Nacht-Rhythmus umgekehrt hat oder das Kind nur noch vor dem Computer hockt) benötigt, wird mit den Coachingzielen ebenfalls festgelegt. Auch die Form der therapeutischen Präsenz in der Beratungsarbeit wird für die Beraterinnen und Berater an dieser Stelle deutlich. Die Frage, welche Art von therapeutischer Präsenz die Eltern gebrauchen, um ihre Ziele umsetzen zu können, ist richtungweisend für die weitere Zusammenarbeit. Damit verbunden ist die Frage nach der Sitzungsanzahl pro Woche, die telefonische Erreichbarkeit und das Angebot seitens der Therapeuten, dabei mitzuhelfen, ein soziales Unterstützungssystem einzubeziehen. Mit der Einigung auf die Coachingziele sollten auch die Berater einverstanden sein. Wenn die Eltern beispielsweise für den roten Korb entscheiden, dass sich das Kind öfter waschen soll, aber in den grünen Korb legen, dass das Kind weniger schlägt, dann sollten Beraterinnen an dieser Stelle Position beziehen. Im Falle einer raschen elterlichen Einigung auf erste gemeinsame Ziele kann an dieser Stelle mit den Eltern schon die Ankündigung (siehe S. 69ff.) besprochen werden. Es empfiehlt

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sich, die Ankündigung in schriftlicher Form zu verfassen, weil damit die elterlichen Erwartungen an sich selbst und an das Kind am besten auf den Punkt gebracht werden können.

Entwicklung einer therapeutischen Allianz Neuere Metaanalysen zur therapeutischen Wirksamkeit (z. B. Asay u. Lambert, 2001) gehen davon aus, dass die erzielten Effekte in einer Therapie zu großen Teilen auf die Beziehung vom Klienten zum Therapeuten oder zur Therapeutin zurückzuführen sind. Damit diese Beziehungsstiftung gelingen kann, wurde anfangs das »Joining« vorgestellt. Daneben gehören auch zur Entwicklung einer therapeutischen Allianz und zum Verständnis der Therapeuten das Erfragen der elterlichen Erziehungsvorstellungen, das Streifen der Paarbeziehung und die mit dem Coaching verbundenen Ängste. Um im weiteren Beratungsprozess den inneren Bezugsrahmen der Eltern besser verstehen und aufgreifen zu können, ist das Erfragen der jeweiligen elterlichen Bilder von Erziehung bedeutsam. In den elterlichen Erziehungsstil spielen folgende Faktoren mit ein: – die Erziehungserfahrungen der Elternteile aus der jeweiligen Herkunftsfamilie, – die Partner und das »Teamspiel«, – das Kind, – das Bildungsniveau und die Ressourcen der Eltern, – die Umwelt und der gesellschaftliche Rahmen. Dabei haben die elterlichen Erziehungserfahrungen aus der eigenen Kindheit oft einen entscheidenden Einfluss auf das Erleben der elterlichen Präsenz und auf das Erziehungsverhalten der Gegenwart. Beispielsweise könnten Eltern ihren eigenen, autoritär erlebten Eltern möglicherweise mit der Entwicklung von betont permissiven Erziehungsidealen begegnet sein. Die damit einhergehenden möglichen Widerstände und »Klippen« in der Beratungsarbeit können dann besser umgangen werden, wenn sich Therapeuten zum Beispiel einer Sprache bedienen, die von autoritär geprägten Begriffen oder machtvollen Metaphern absieht. Jedes Elternteil sollte im Weiteren persönlich nach der Einschätzung des eigenen Erziehungsstils, als auch nach dem aus ihrer Sicht wahrgenommenen Erziehungsstil des Partners gefragt werden. Um den Fokus auf die jeweiligen elterlichen Erziehungserfahrungen in der Kindheit zu erweitern, bieten sich folgende Fragen zum Erfassen des elterlichen Erziehungskonzeptes an: – Wie würden Sie persönlich Ihren eigenen Erziehungsstil grundsätzlich beschreiben? (eher nachgiebiger, strenger, inkonsistent-wechselnd etc.) – Wie nehmen Sie den Erziehungsstil Ihres Partners wahr?

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– In welcher Weise haben Sie in Ihrer eigenen Kindheit die Erziehung Ihrer Eltern erlebt? – Von welchem Elternteil haben Sie eher den Erziehungsstil übernommen? – Hatten Sie eher vor, es ähnlich wie Ihre Eltern zu machen oder wollten Sie sich eher abgrenzen? – Angenommen, wir würden Ihr Kind in zehn Jahren nach seinen Erziehungserfahrungen befragen: Was würden Sie sich wünschen, was Ihr Kind als unterstützend, hilfreich und wertvoll an Ihrem Erziehungsstil erachtet hat? – Was möchten Sie Ihrem Kind langfristig mit auf dem Weg geben? Was sind Ihre persönlichen Werte, die sie ihrem Kind vermitteln möchten? In aller Regel haben Eltern sehr gut nachvollziehbare und klare Vorstellungen davon, was sie ihrem Kind mitgeben möchten. Häufig genannte Werte von Eltern für ihr Kind sind: eine gute, liebevolle Beziehung zum Kind zu haben; erfolgreiche, beliebte Kinder zu haben; Kinder mit einer kritischen Geisteshaltung aufzuziehen; Kinder zu einem hohen Selbstwertgefühl zu verhelfen. Diese elterlichen Vorstellungen zu erfragen, ist hilfreich, da sie anknüpfungsfähig an das Thema »der elterlichen Präsenz« sind. Auch in Hinblick auf die Ankündigung ist es hilfreich, die Werte, die Eltern haben, seitens der Berater noch einmal zusammen zu fassen im Sinne von: »Ich habe verstanden, dass Ihnen ein respektvolles Miteinander in der Familie sehr wichtig ist.« Die Eskalationen in der Familie und die kindlichen Symptome können in diesem Zusammenhang als eine »mangelnde Passung« zwischen den elterlichen Erziehungsvorstellungen (im Beispiel oben die autoritären im Befehlston erlebten früheren Erziehungserfahrungen, die Eltern in der Gegenwart extrem nachgiebig agieren lässt) und den kindlichen Bedürfnissen (nach Klarheit, Struktur und Eindeutigkeit) beschrieben werden. Manchmal braucht ein Kind genau das, was Eltern selbst als negativ erfahren haben und vor diesem Hintergrund aus ihrem Erziehungsrepertoire gestrichen haben. Die »Güte der Passung« zwischen Eltern und Kind kann durch das Coaching wieder verbessert werden, wenn Therapeuten beispielsweise dabei helfen, das »Befehlsthema« anschlussfähiger an die Bedürfnisse des Kindes zu gestalten. Die Frage nach der Zufriedenheit in der Partnerschaft sollte, anknüpfend an die elterlichen Erziehungsvorstellungen, ebenfalls gestellt werden, verbunden mit dem Hinweis, dass die therapeutische Erfahrung zeigt, dass die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes in der Regel auch negativen Einfluss auf die Paarbeziehung nimmt. Gleichwohl sei damit auch die Bemerkung verknüpft, dass erfahrungsgemäß eine Besserung der Einflussnahme auf das kindliche Verhalten auch gleichzeitig mit der Stärkung der Partnerschaft einhergeht. Denn die gemeinsamen Erfahrungen von elterlicher Präsenz können die Paarbeziehung positiv beeinflussen. Auch kann es entlastend für Eltern sein zu erfahren, dass es normal ist, dass die elterliche Beziehung unter der Situation leidet. Ein gutes Reframing für Eskalationsprozesse und

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mangelnde elterliche Kooperation kann sein: »Die Erfahrung zeigt, dass der Elternteil, der tendenziell zur Strenge neigt, gerade in Krisen dieses Verhalten verstärken wird, während der zur Nachgiebigkeit neigende Elternteil ebenfalls stärker seine Strategie zur Bewältigung der Situation einzusetzen versucht. Es ist also bei krisenhaften Zuspitzungen normal, dass sich entgegen gesetzte Strategien noch verstärken werden.« Jedoch sollte versucht werden, der Paarbeziehung im Coachingprozess keinen weiteren Raum zu schenken, da die Erfahrung zeigt, dass damit der Rahmen gesprengt würde. Vielmehr sollte dem Paar gegenüber vertreten werden, die Elternarbeit zu fokussieren, verbunden möglicherweise mit dem Angebot, dem Paarkonflikt einen symbolischen »Parkplatz« im Raum anzubieten, um zu einem späteren Zeitpunkt gegebenenfalls darauf zurückzukommen (z. B. im Anschluss an das Elterncoaching). Fragen und Anregungen zum Paarkonflikt können in diesem Zusammenhang sein: – Könnten Sie sich darauf einlassen, zunächst Ihre Kräfte als Eltern zu bündeln? Diese Frage kann zirkulär auch gestellt werden: »Angenommen, ich würde Ihren Partner/Ihrer Partnerin danach fragen, ob er/sie sich vorstellen kann, momentan den Paarkonflikt außen vor zu lassen, um die elterlichen Kräfte zu bündeln. Was glauben Sie, würde er/sie antworten?« – Welches Symbol könnten wir für Ihren Paarkonflikt finden? – Welcher Ort ist für den Paarkonflikt günstig, damit er nicht immer wieder in das Kinderzimmer und damit in Ihre elterliche Präsenz »hineinschwappt«? – Hilfreich kann es auch sein, die Eltern in einer Skulptur konfrontativ gegenüber zu setzen (das Kind wird symbolisch durch einen Stuhl im Raum dargestellt) und sie zu fragen, wo sie das Kind jetzt wahrnehmen und was sie voneinander benötigen, um das Kind wieder besser in den Blick zu bekommen. In diesem Zusammenhang kann die Ermutigung der Eltern, etwas Neues auszuprobieren und eine Form der Kooperation zu wagen, von Bedeutung sein.

Abschluss der ersten Sitzung Zum Ende der ersten Sitzung kann den Eltern folgende Hausaufgabe mit auf den Weg gegeben werden: Sie können versuchen, eskalierende Situationen im Kontakt mit ihrem Kind zu analysieren und Frühzeichen beginnender Eskalationen (eigene Erregung, Zeitdruck etc.) zu identifizieren. Sie werden gebeten, auf Provokationen seitens des Kindes nicht einzugehen, sondern sorgfältig zu registrieren (siehe auch die »gedrückten Knöpfe«), und zu beobachten, wie sie es schaffen, nicht auf kindliche Herausforderungen einzusteigen. Im Zweifelsfall kann den Eltern auf den Weg mitgegeben werden: »Wenn Sie unsicher sind, wie Sie reagieren sollen, tun Sie eher nichts- oder weniger als Sie bisher taten. Es geht nur darum, bis zum nächsten Mal

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Erfahrungen zu sammeln – das soll nicht die Lösung sein. Die Möglichkeiten, die Sie haben, um die Eskalation zu verringern, werden in der zweiten Sitzung ausgiebig besprochen.« Abschließend können den Eltern Teile aus dem Anleitungsheft für Eltern zum Thema »De-eskalation« ausgegeben werden. Allerdings sollte das von den Beraterinnen individuell entschieden werden, denn Eltern können sich auch »abgespeist« fühlen, wenn sie Lektüre zu Hause bearbeiten sollen. Für Eltern die ein großes Informationsbedürfnis haben, kann dagegen schriftliches Material bereichernd sein.

➪ Die zweite Sitzung Reflexion der ersten Sitzung Zu Beginn der zweiten Sitzung sollte jedes Elternteil einzeln nach den Erfahrungen aus der ersten Sitzung gefragt werden, wobei jedem Elternteil die gleichen Fragen gestellt werden: – Wie ist es Ihnen persönlich mit dem Gehörten aus der letzten Sitzung ergangen? – Gibt es daran anknüpfend noch Fragen? – Haben Sie Veränderungen in Ihrem Verhalten feststellen können? – Haben sie hinsichtlich der Kooperation auf der Elternebene Veränderungen bemerkt? – Welche Frühwarnzeichen von beginnender Eskalation haben sie an sich feststellen können? – Hat sich im Verhalten des Kindes etwas verändert? – Ist es Ihnen gelegentlich gelungen zu deeskalieren? Wie haben Sie das gemacht? Diese Fragen knüpfen an der Erfahrung an, dass allein der Entschluss sich professionelle Hilfe zu nehmen, schon zu Veränderungen im familiären System führen kann. Bezug nehmend auf die Erhebung der Eskalationsdynamiken in der ersten Sitzung sollten mit den Eltern Deeskalationsstrategien besprochen werden, wobei zunächst die Prinzipien des Nicht-Hineingezogenwerdens in den Konflikt und des Aufschubs besprochen werden.

Deeskalationsstrategien: Die Prinzipien des Nicht-Hineingezogenwerdens und des Aufschubs Folgende grundsätzliche Gedanken sollten den Eltern dazu vermittelt werden: Um die vielen Eskalationen mit dem Kind zu verhindern und mit ihm ein neues Beziehungssystem aufbauen zu können, das sich nicht in endlosen Machtkämpfen erschöpft, sollten überflüssige Konflikte vermieden werden. Das Kind wird seinerseits

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die Konfrontation suchen, die Teil der »Alltagssprache« in der Familie geworden ist. Das kindliche Verhalten ist dabei nicht Ausdruck seines »schlechten« Charakters oder einer »psychischen Störung«, sondern hat sich als Eskalationsgewohnheit entwickelt: Sein Verhalten eskaliert immer dann, wenn sein Wunsch oder seine Vorstellungen nicht in Erfüllung gegangen sind. Sowohl die komplementäre Eskalation, also das permanente Nachgeben der Eltern, das vermehrte Forderungen des Kindes nachzieht, als auch die symmetrische Eskalation, bei der beide Seiten versuchen, ihren Willen durchzusetzen, enden häufig damit, dass die Eltern erschöpft und wütend zurückbleiben und das Kind wieder einmal seinen Willen durchgesetzt hat und die elterliche Stimme verloren gegangen ist. Es können nun Erfahrungen der Eltern mit komplementärer als auch symmetrischer Eskalation aus dem Interview der ersten Sitzung beispielhaft angeführt werden. Eltern, die sich häufiger in Auseinandersetzungen mit ihren Kindern hineinziehen lassen, neigen dazu, viel zu reden, zu diskutieren, zu drohen, zu entschuldigen, zu rechtfertigen, zu schreien, zu überzeugen und sich zu revanchieren. – Jede dieser Reaktionen bedeutet ein Hineingezogenwerden. – Jede dieser Formen des Hineingezogenwerdens führt zur Eskalation. – Zuviel zu reden entspringt der Hilflosigkeit, doch es wirkt eskalierend. – Dagegen führen Äußerungen eines klaren Verbotes zu weniger Eskalationen als die Versuche zu überzeugen, zu predigen und zu debattieren. – Das Stellen von Bedingungen (»Wenn . . ., dann . . .«) sollte vermieden werden. Auch Drohungen, die an Bedingungen geknüpft sind, zum Beispiel: »Wenn du das und das nicht machst, dann werde ich dies und jenes machen«, sind bei dominierenden Kindern kontraproduktiv. Es besteht bei diesen Kindern die Gefahr, dass sich die Eskalation weiter zuspitzt, weil sie daran anknüpfend immer wieder neue Bedingungen stellen. Daher sollten Eltern versuchen, nicht in den Konflikt einzusteigen und Schreien, Predigten und Debatten zu vermeiden. Um sich nicht in einen drohenden Konflikt mit dem Kind hineinziehen zu lassen, ist das Prinzip des Aufschubs, das heißt, nicht auf jede Provokation des Kindes sofort zu reagieren, eine hilfreiche Methode der Deeskalation. Damit das Kind ein Schweigen nicht als Schwäche interpretiert, können Eltern folgenden Kommentar abgeben: »Das gefällt mir nicht, ich will darüber nachdenken.« Dieser Satz sollte ohne drohenden Unterton ausgesprochen werden, sondern als nüchterne Tatsache vermittelt werden. Das Schweigen ist das Zeitintervall, in dem man das Kind seine Munition verschießen lässt und intendiert eine Musterunterbrechung in der Kommunikation, die eine Einladung zur Konfrontation nicht mehr annimmt. Das Schweigen vermittelt dem Kind, dass die Eltern eine neue Sprache im Umgang mit dem Kind lernen und nicht mehr bereit sind, in alter Weise fortzufahren. Beide Prinzipien – das Nicht-Hineingezogenwerden und den Aufschub – sollten Eltern in schwierigen Situationen einsetzen.

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Wenn die beiden Strategien vorgestellt wurden, sollten die Eltern diejenigen Situationen zusammenzutragen und analysieren, in welchen normalerweise Eskalationen stattfinden. Gemeinsam sollte überlegt werden, wie ihnen aus dem Weg gegangen werden kann, um sie im Vorfeld nicht mehr stattfinden zu lassen. nach zu erwartenden, zukünftigen, konkreten, schwierigen Situationen gefragt werden, die nicht umgangen werden können. Zusammen mit den Beratern sollten sie unter den genannten Gesichtspunkten in Vorbereitung auf den nächsten Konflikt durchgearbeitet werden. Wenn sich die Eltern bereits in der Eskalation befinden, dann kann ein erster Schritt zum Ausstieg das Schweigen sein, verbunden mit folgender Botschaft an das Kind: »Wir werden darüber nachdenken.« Also, im Zweifelsfall besser aussteigen und die Zeit verstreichen lassen. Wenn Eltern es schaffen, bei sich selbst wahrzunehmen, dass sie kurz vor dem Ausbruch stehen, kann es hilfreich sein, den Satz: »Ich lasse mich nicht hineinziehen!« leise für sich zu sprechen und diesen Satz im Alltag zur Festigung der Vorsätze immer wieder zu trainieren.

Immer wiederkehrende Eskalationsfallen im Alltag sollten konkret in Vorbereitung besprochen werden: Daher gilt es die Eltern zu fragen, wann und in welchen Situationen sich Eskalationen entwickeln und wie diesen zukünftig mit genannten Strategien begegnet werden kann. Dieser Ausstieg aus dem bisherigen Eskalationsverhalten bietet eine sichere Basis für die Ankündigung.

Die Ankündigung Im nächsten Schritt wird die elterliche Ankündigung an das Kind zusammen vorbereitet. Die Ankündigung enthält die Botschaft, welche neue Art von Präsenz die Eltern zukünftig ausüben, was sie zukünftig ändern möchten und welches Verhalten sie nicht länger akzeptieren werden. Die Ankündigung stellt primär die Selbstverpflichtung der Eltern zur Intensivierung der Präsenz dar. Sie enthält den elterlichen Vorsatz, aus der Eskalation auszuscheren, Selbstkontrolle über das eigene Verhalten zu erlernen und auf dieser Basis eine neue Haltung zum Kind einzunehmen. Sie dient darüber hinaus dem elterlichen Protest gegen das kindliche Verhalten. Den Eltern sollte dabei vermittelt werden, dass die Ankündigung allein nicht gleich das Verhalten des Kindes ändern wird. Aber sie ist eine gute Voraussetzung, aus dem Machtkampf auszuscheren. Am Anfang des Coachings denken Eltern oft in den Kategorien von »Verlierer und Gewinner« und an die Wiedererlangung der Macht. Präsenz setzt dagegen bei der Anwesenheit an: »Wir werden in deinem Leben wieder präsent sein und wieder eine Rolle spielen!« Die Eltern treten bei der Ankündigung geschlossen auf und formulieren aufbauend auf den Inhalten des roten

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Korbes ihre Wünsche und Erwartungen an sich selbst und an das Kind. Eine Ankündigung sollte für die Eltern die Legitimation erhalten, den elterlichen Platz wieder einzunehmen. Die Ankündigung sollte in Zusammenarbeit mit den Therapeuten und den Eltern sorgfältig ausgearbeitet werden. Auch sollten mögliche und zu erwartende Reaktionen des Kindes angesprochen werden, um die Eltern auf den Prozess gut vorzubereiten. Denn eine gute Vorbereitung reduziert die elterliche physiologische Erregung und damit die Gefahr von Eskalationen. Bei Kindern und Jugendlichen, die eine starke Tendenz zum Rückzug aus den Sozialkontakten zeigen, ist die Ankündigung von mehreren Personen des sozialen Unterstützungssystems hilfreich, weil damit »das Leben wieder zum Kind getragen wird«. In Familien, in denen sich die Ereignisse überschlagen haben, kann die »Entschleunigung« des Tempos im Vordergrund stehen. In solchen Fällen kann die Ankündigung in zwei Schritten erfolgen, das heißt die Eltern geben in einer ersten Ankündigung dem Kind gegenüber bekannt, welche Form elterlicher Präsenz sie zukünftig anwenden werden (also eine eher grundsätzliche Vorbereitung auf Wandlungen im Kontakt miteinander oder auch das Aufstellen neuer Familienregeln). Die zweite Ankündigung beinhaltet die konkreten Schritte für weitere Eskalationskrisen (beispielsweise welche Personen mit eingebunden werden, auf welche Weise Eltern genau einschreiten werden). Die Eltern schreiben diese zweite Ankündigung zunächst nur auf, verwahren sie in der Schublade, aber händigen sie noch nicht an das Kind aus. Häufig (in mittelschweren Fällen) braucht es in konkreten Situationen keine zweite Ankündigung. Gleichwohl zeigt die Erfahrung, dass diese Form der Vorbereitung auf etwaige Krisen mit einer zweiten Ankündigung die Situation entspannen lässt: – Die Eltern fühlen sich durch die Vorsorge stärker, sicherer und damit präsenter. – Die Eltern sind durch die geschriebene Ankündigung in einen inneren konstruktiven Dialog mit dem Kind gegangen und haben ein größeres Bewusstsein für ihre Möglichkeiten. – Auf der Mikroebene spürt das Kind die Änderung des elterlichen Verhaltens, was einen Rahmen für ein neues Interaktionsmuster ermöglicht. Eine gute Ankündigung – präzisiert die ursprünglichen Vorstellungen, die häufig im Zuge von Eskalationen verloren gegangen sind, und die angestrebten elterlichen Werte (siehe Ende der 1. Sitzung) von einem Familienleben; – präzisiert die gemeinsamen Ziele für die weitere Zukunft; – fokussiert nicht so sehr auf das kindliche Verhalten, sondern vor allem auf die Veränderung im eigenen elterlichen Verhalten; – spezifiziert die Behandlungsziele und stärkt das therapeutische Bündnis; – stärkt die Verbindlichkeit für Veränderung; – stärkt die Akzeptanz seitens des Kindes;

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– lässt das nicht mehr akzeptierte Verhalten überschaubar werden, es bekommt Konsistenz und Ordnung; – bereitet das Kind vor und konfrontiert es so nicht aus heiterem Himmel mit einer Aktion, was die Eskalationsspirale noch erhöhen würde. Der konkrete Text einer Ankündigung – enthält, für was und gegen was die Eltern kämpfen; – ist kurz (ca. zwei Minuten); – beinhaltet keine Sanktionen bei Regelverstößen (anders als beim Verhaltenstraining); – kündigt die elterliche Verhaltensänderung und den elterlichen Protest an; – bereitet das Kind darauf vor, dass die Eltern eine größere Anwesenheit in seinem Leben zeigen werden; – präzisiert und fokussiert in erster Linie, was die Eltern von sich selbst erwarten und nur nachrangig, was sie daran anknüpfend vom Kind erwarten; – setzt keine Drohung wie »Wenn . . ., dann . . .« voraus; – vermittelt den Kindern die Botschaft: »Wir tun das, weil wir dich lieben!« Ein Format für eine Ankündigung kann so aussehen6 (Abbildung 3):

Liebe/r . . ., als deine Eltern möchten wir, dass wir in unserer Familie einander zuhören, respektvoll miteinander umgehen und in Frieden leben können. Es ist uns wichtig, eine gute Beziehung zu dir zu haben. In letzter Zeit haben die Streitigkeiten, Anfeindungen, Beleidigungen und Herabwürdigungen das Familienleben für uns unerträglich gemacht. Wir möchten so nicht mehr weiter leben. Wir werden zukünftig folgendes Verhalten nicht mehr hinzunehmen: (Es folgt in kurzer, knapper Form die Beschreibung des nicht mehr akzeptierten Verhaltens aus dem roten Korb. Diese bleiben rein beschreibend, das heißt, es werden Entwertungen und Interpretationen vermieden). Wir haben uns entschieden, uns zu verändern, an deinem Leben wieder stärker Anteil zu nehmen und unser Problem auch gegenüber Verwandten und Freunden nicht mehr zu verschweigen. Wir tun dies, um uns Hilfe und Unterstützung von außen zu holen. Wir wissen, dass wir dich nicht verändern können. Wir wollen dich nicht bekämpfen und nicht besiegen. Aber wir sind entschlossen, das beklagte Verhalten nicht mehr hinzunehmen. Wir tun dies, weil wir es als Eltern tun müssen und weil uns an dir liegt. Deine Eltern Abbildung 3: Ankündigung

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Die Ankündigung sollte nach dem Verlesen dem Kind schriftlich gegeben werden, sie sollte auf keinen Fall diskutiert werden. Die therapeutische Aufgabe besteht nun darin, zusammen mit den Eltern eine Ankündigung (am besten schriftlich) unter oben genannten Kriterien zu formulieren. Wenn sich die Eltern auf die Ankündigung geeinigt haben, sollten sie auch auf die möglichen Reaktionen des Kindes vorbereitet werden, die ganz unterschiedlich ausfallen können, von Verwirrung, Aggression, Überraschung, sich lustig machen, zerknüllen oder zerreißen bis hin zur Annahme. Beispielsweise gibt es Kinder, welche die schriftliche Ankündigung als etwas Besonderes angenommen haben und unter ihr Kopfkissen gelegt haben. Reaktionen der Kinder/Jugendlichen auf eine Ankündigung – Das Kind wird sich nicht sofort als Reaktion auf die Ankündigung verändern. – Falls das Kind während der Ankündigung weggeht, dann sollte diese schriftlich im Zimmer hinterlassen werden. Die Eltern sollten aber zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal wiederkommen und die Ankündigung wiederholen. – Falls das Kind anfängt zu diskutieren, provozieren und zur Eskalation anregt, dann ruhig entgegnen: »Wir müssen es tun!« – Falls das Kind konkrete und konstruktive Vorschläge vorbringt, dürfen die Eltern die Reaktion hinauszögern, um sich darüber zu besprechen: »Wir werden darüber nachdenken!« Die »Zauberreaktion« der Eltern, nämlich nach der Ankündigung zu schweigen und das Kind anzuschauen und damit vom bisherigen Verhaltensmuster (mit langen verbalen Einlassungen, Schimpfen und Predigten) abzulassen, ist für Eltern besonders schwierig. Falls es ihnen gelingt, in dieser Weise zu reagieren und gefasst zu bleiben, dann haben sie wieder das Gefühl von Selbstkontrolle und Einflussnahme auf den Prozess – im Unterschied zu früheren eskalierenden Konflikten, bei denen das Gefühl von Ausgeliefertsein bestimmend war. Es stellt sich die Frage nach dem Zeitpunkt und Rahmen einer Ankündigung. Es gibt keinen ultimativ richtigen Zeitpunkt für eine Ankündigung im Sinne von »Jetzt oder nie«. Es gibt immer noch weitere Gelegenheiten. Jedoch sollte eine Ankündigung in einer ruhigen Atmosphäre ausgesprochen werden, zum Beispiel abends. Falls die Eltern im Zusammenhang mit der Ankündigung Gewaltausbrüche ihres Kindes befürchten, dann sollten sie auf öffentliche Plätze wie Restaurants (nach der Bestellung, bevor das Essen kommt) oder ein Picknick ausweichen, weil dort weniger Eskalationsgefahr besteht. Auch können Zeugen eingeladen werden. Der Ort sollte so gewählt werden, dass sich die Eltern wohl fühlen. Die Ankündigung sollte 6 Das Format gilt als Vorschlag. Falls Eltern sich in dieser Sprache oder in einzelnen Passagen nicht wiederfinden können, sollte eine auf die Eltern angepasste Ankündigung formuliert werden.

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nicht in Erregung ausgesprochen werden, im Sinne einer Bedrohung: »Wir ziehen hier jetzt andere Saiten auf, wir können auch anders, du wirst schon sehen!« Vielmehr sollten die Eltern weitestgehend entspannt sein (»Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist«), da die einseitige Reduzierung der physiologischen Erregung die Gefahr von Eskalationen herabsetzt. Da es keine festen Regeln darüber gibt, wer die Ankündigung vorlesen sollte, kann an dieser Stelle verhandelt werden, wer sich dazu besser eignet. Beispielsweise kann die Ankündigung von demjenigen vorgetragen werden, der die überzeugendste Stimme hat oder der bislang am wenigsten Präsenz gezeigt hat. Es sollte im Anschluss an die Ankündigung keine Diskussion mehr stattfinden. Beide Elternteile sollten anwesend sein, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Die Ankündigung sollte besser dem betreffenden Kind allein mitgeteilt werden. In Ausnahmefällen kann die Anwesenheit der Geschwister hilfreich sein, vor allem wenn sie Opfer der Gewalttätigkeit sind. Hier kann die Perspektive und Hoffnung auf Besserung des Familienklimas für Geschwister, die unter den Eskalationen leiden, entlastend sein. Der Sinn der Ankündigung kann den Eltern wie folgt erklärt werden: – als Ritual für einen neuen Anfang – die Ankündigung markiert den Beginn eines neuen Prozesses; – im Sinne der Deeskalation bereitet die Ankündigung das Kind darauf vor, was sich konkret verändern wird; – sie stellt eine Musterunterbrechung dar, weil sie die »Wortfülle« und Wortgefechte eindämmt. Die Ankündigung ist eine »kleinere« Geste des elterlichen Protestes. Sie geht aller Erfahrung nach bei etwa 20 % der Kinder mit einer erkennbaren Veränderung einher. Dabei profitieren offensichtlich Kinder von der Ankündigung, die mehr Struktur und Klarheit in ihrem Leben und die elterliche Botschaft eines gemeinsamen Ziels besonders benötigen. In diesem Rahmen sollte Raum für die mit der Ankündigung einhergehende Ängste, die schlimmsten Befürchtungen der Eltern im Kontakt mit der Aggression ihres Kindes sein. Es empfiehlt sich, folgende Frage zu stellen: »Was ist Ihre schlimmste Befürchtung hinsichtlich der Reaktion Ihres Kindes auf die hier im Elterncoaching angeregte Ankündigung?« Die am häufigsten geäußerten Ängste von Eltern sind erfahrungsgemäß: – Angst vor Drohungen, – Angst vor Suizid oder Suizidversuch, – Angst vor Misserfolg bei der Durchführung des gewaltlosen Widerstands, – Angst vor der Verantwortung, – Angst vor der Demotivation, vor dem Verlust der eigenen Kraft, – Angst vor der Verschlimmerung und dem Missbrauch des gewaltlosen Widerstands.

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Wenn diese Ängste im Erstgespräch angesprochen werden können und ausdrücklich Zeit und Raum dafür vorgesehen ist, dann ist eine Basis für die Allianz zwischen Eltern und Therapeuten gegeben!

Gesten der Wertschätzung und der Liebe – unverzichtbarer Bestandteil des gewaltlosen Widerstands Zum Ende dieser zweiten Sitzung steht die Thematisierung der Gesten der Wertschätzung und der Liebe, auch Versöhnungsgesten genannt, an. Dabei bieten die Eltern ihrem Kind kleine, symbolische Gesten an, unabhängig von seinem Wohlverhalten. Die Eltern sollten in diesem Zusammenhang gefragt werden, mit welchen Formen der Versöhnung und Gesten der Wertschätzung und Liebe sie bislang im Kontakt mit ihrem Kind gute Erfahrungen gemacht haben. Falls Eltern mit der Bezeichnung »Gesten der Liebe« nichts anfangen können, weil sie die Liebe momentan nicht spüren können, kann der Begriff Versöhnungsgesten anschlussfähiger an das Erleben der Eltern sein. Der Sinn dieser Gesten liegt in einer Verbesserung der Beziehung als auch in einer Veränderung der elterlichen Sicht auf das Kind. Wenn sich eine Beziehung verschlechtert, werden oftmals die wenigen noch verbleibenden gemeinsamen positiven Unternehmungen (z. B. gemeinsame Hobbys, Ausflüge) eingestellt. Der Ärger ist zwischen Eltern und Kinder getreten: »Warum soll ich noch mit ihm Angeln gehen, wenn er sich so miserabel benimmt!« Dieser Abbau der »positiven Inseln« ist aber ein Teil der Eskalationsspirale, denn damit sinkt natürlich die Chance für das Erleben von »guten Zeiten« zwischen Eltern und Kind. Versöhnungsgesten und Gesten der Wertschätzung und der Liebe sollen dazu beitragen, auch an dieser Stelle den Teufelskreis mit zu durchbrechen. Die Interventionen des gewaltlosen Widerstands intendieren nicht nur eine Unterbrechung des beklagten Verhaltens, sondern gleichzeitig auch eine Wiederherstellung der Beziehung zum Kind. Dies hilft dem Kind, sein eigenes Misstrauen abzubauen und eröffnet die Chance für eine Verbesserung der Beziehung. Die Gesten sind kein gewonnener Preis und das ist sehr wichtig: Sie hängen nicht vom Verhalten des Kindes ab. Sie sind also gerade nicht eine »Belohnung für sein/ihr negatives Verhalten«, sondern ein Ausdruckder elterlichen Bereitschaft, eine gute Beziehung zu ermöglichen, vielleicht auch ihre Liebe auszudrücken, während gleichzeitig gewaltloser Widerstand geleistet wird. Dem Kind soll so deutlich werden, dass der Kampf sich gegen sein Verhalten, nämlich gegen die Gewalt oder Aggressivität, richtet, aber nicht gegen seine Person. Die Versöhnungsgesten oder Gesten der Wertschätzung und der Liebe ersetzen dabei den gewaltlosen Widerstand nicht, sondern wirken parallel zu ihm. Daher sollten jede Aktionen des gewaltlosen Widerstands von Versöhnungsgesten von Anfang an begleitet werden. Versöhnungsgesten tragen dazu bei, die Beziehung zum Kind zu intensivieren,

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denn die Beziehung sollte nicht auf den Konflikt zwischen Eltern und Kind beschränkt bleiben. Die Maßnahmen des gewaltlosen Widerstands sollten daher von Anfang an durch Versöhnungsgesten oder Gesten der Wertschätzung und der Liebe flankiert werden, auch wenn sich das Kind nicht in der gewünschten Weise verhält. Sie stellen eine Ergänzung zum gewaltlosen Widerstand dar und sollten keinesfalls im Sinne einer Belohnung eingesetzt werden, bei der »Gewinner« oder »Verlierer« im Sinne einer Manipulation entstehen könnten. Sie sollten vielmehr den Charakter von Beziehungsangeboten, Regelmäßigkeit und Kontinuität haben. Beispielsweise wäre es eine Versöhnungsgeste mit dem Kind einmal in der Woche zum Angeln zu gehen und sich Zeit zu nehmen. Belohnungen fordern dagegen vor allem aggressive Kinder heraus, weil sie als »Bestechungsversuch« gewertet werden können. Belohnungen werden abgelehnt, weil eine Interpretation der Beziehung damit einhergeht, die das Kind ablehnt: Wer belohnt, steht »über den anderen.« – Das Kind signalisiert dagegen: »Ich lasse mich von Dir nicht kontrollieren!« Die Versöhnungsgesten können bei den Eltern dazu beitragen, eine Veränderung in ihrer Haltung zum Kind anzuregen. Denn im Erleben der Eltern gehen die Versöhnungsgesten oft mit folgenden Erfahrungen einher: – »Wir müssen nicht nur streng und rigide sein.« – »Wir fühlen uns nicht schwach, wenn wir solche Gesten anbieten.« – »Wir können geben!« (Eltern vergessen oft zu »geben«, und wenn sie »geben«, fühlen sie sich wieder.) – »Ich kann mein Kind überraschen!« (In Anlehnung an Steve de Shazer: Wenn Situationen festgefahren sind, sollte man etwas Überraschendes tun, um nicht mehr so vorhersagbar zu sein.) – »Ich kann mich dann auch besser fühlen, wenn ich von meinem Kind etwas fordere.« (Das gibt die Erlaubnis zu anderen Interventionen des gewaltlosen Widerstands.) – Entwicklung von Sensibilität für die Versöhnungsangebote des Kindes, die möglicherweise im Alltag durch das Gekränktsein der Eltern nicht mehr wahrgenommen werden. Versöhnungsgesten sollten somit an keine konkreten Ereignisse gebunden werden und die Beziehung zwischen Kind und Eltern in eher immaterieller Weise fördern. Nach dieser Einleitung sollten die Eltern gefragt werden, welche Formen der Wertschätzung dem Kind gegenüber vorstellbar wären. Falls die Eltern in diesem Punkt ratlos sind, sollte nach früheren gemeinsamen Aktivitäten gefragt werden, die möglicherweise in Ärger auf das Kind eingestellt und vielleicht als Strafe seitens des Kindes verstanden wurden und wieder aufgenommen werden könnten. Die Versöhnungsgesten sollten an Interessen oder Vorlieben des Kindes geknüpft werden. Falls die Eltern keine geeigneten Versöhnungsgesten wissen sollten, wäre es hilfreich, andere Personen aus dem sozialen Unterstützungssystem zu fragen. Mögliche Versöhnungsgesten können sein:

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– mündliche oder auch schriftliche Äußerungen, die Wertschätzung und Respekt gegenüber dem Kind, seinen Talenten und Fähigkeiten ausdrücken. Eltern können sogar ihren Respekt vor seiner Entschlossenheit und vor seinem Kampfgeist ausdrücken. Den Eltern sollte dabei die Befürchtung genommen werden, das Kind könnte in seinem Kampf bestärkt werden. Das Gegenteil trifft eher zu: dadurch, dass die Eltern dieser Eigenschaft Anerkennung zollen, machen sie das Bedürfnis des Kindes, sie zu demonstrieren, überflüssig. – etwas Gutes tun, wie eine Speise, die das Kind besonders mag oder ein symbolhaftes Geschenk. Es ist wichtig, dass die Eltern darauf vorbereitet werden, dass das Kind die Wohltat ablehnt. In einem solchen Fall sollten sich die Eltern darauf beschränken hinzuweisen, dass sie diese Gabe für das Kind vorbereitet haben, aber dass es selbst entscheiden kann, ob es sie annehmen will oder nicht. Die Zuwendungen sollten nicht aus teuren Geschenken bestehen oder in etwas, was das Kind als Bedingung für besseres Benehmen gefordert hat. Eine Zuwendung mit besonders positiver Bedeutung ist es, etwas zu reparieren, was das Kind bei einem Wutanfall zerbrochen hat. Den Gegenstand zu reparieren, wird dann zu einem Symbol für die Bereitschaft, die Beziehung zu reparieren. Den Eltern sollte an dieser Stelle vermittelt werden, dass solche Gesten die Stärkung der Elternpräsenz zeigen und das es nicht um »gewinnen« oder »verlieren« geht. – eine gemeinsame Aktivität vorschlagen, beispielsweise eine gemeinsame sportliche Aktivität, einen Film anschauen, ins Kino gehen oder eine andere gemeinsame Aktivität, die das Kind mag und vielleicht früher oft mit den Eltern unternommen hat. Auch hier hat das Kind das Recht abzulehnen, ohne dass dies gegen die Eltern ausgelegt wird. – eine Fachzeitschrift mitbringen, die sowohl Kind und Elternteil gern mögen und Basis für Gespräche darüber sein könnte. – das Kind bei einem seiner Hobbys begleiten oder unterstützen, auch wenn es für die Eltern von nicht so großem Interesse ist – dies wird das Kind langfristig zu schätzen wissen. – wertvolle Zeit mit dem Kind verbringen, das heißt immer dann, wenn das Kind mit einer Frage, einem Anliegen oder einfach nur den Kontakt zu den Eltern sucht, darauf eingehen. Ein besonderer Typus von Versöhnungsgeste und oft eine der größten Herausforderungen für die Eltern ist das elterliche Bedauern gewalttätiger Reaktionen in der Vergangenheit. Einige Eltern haben da Vorbehalte, weil sie fürchten, als schwach angesehen zu werden. Jedoch sollten die Versöhnungsgesten parallel zum gewaltlosen Widerstand durchgeführt werden. Aus diesem Grund ist eine Versöhnungsgeste niemals ein Zeichen von Unterwerfung, sondern eine positive Geste, die freiwillig erfolgt. Bedauern ist in diesem Fall etwas ganz anderes, als um Entschuldigung zu bitten. Die Eltern sollten es mit folgendem Inhalt vermitteln: »Das und das Verhalten von uns sehe ich heute als Fehler, es tut mir leid . . .« – aber nicht: »Bitte verzeih

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es mir!« Denn damit manövrieren sie sich selbst wieder in die Rolle des Bittstellers und des Passiven in Erwartung einer Absolution. Auch wenn das Kind das elterliche Bedauern ablehnen sollte (»Mir doch egal!«), können Eltern sagen, dass es ihnen wichtig gewesen ist, dass auszudrücken, um sich selbst zu verpflichten, nicht mehr gewalttätig zu handeln! Die Versöhnungsgesten sollten auf Dauer angelegt sein und sich nicht auf Einmaligkeit beschränken, einmal pro Woche etwas zu unternehmen, ist beziehungsstiftender, als einmalig gemeinsam das Kino zu besuchen. An dieser Stelle können im Coachingprozess Schwierigkeiten entstehen: Eltern können einwenden, dass die Gesten der Versöhnung vom Kind nicht angenommen werden. In Vorbereitung auf die Versöhnungsgesten ist es wichtig, den Eltern mit auf den Weg zu geben, dass das Kind diese gut gemeinten Zeichen erst einmal zurückweisen kann (die Erfahrung zeigt, dass dieses Verhalten anfangs durchaus sogar häufig vorkommt, das Kind testet, ob die Eltern nicht doch einen Trick damit verbinden). Die Vorbereitung auf Enttäuschungen durch das Ablehnen der Versöhnungsgesten seitens des Kindes ist für Eltern notwendig, da die Eltern oft mit großer Nervosität und Aufregung die Versöhnungsgesten anbieten und hier die Gefahr der Demütigung gegeben ist. An dieser Stelle könnten Eltern resigniert und selbstwertgekränkt reagieren. Daher gilt es, sie weiter zu ermutigen, gelassen zu reagieren und ihre Beziehungsangebote von Zeit zu Zeit zu wiederholen, um die Signale an das Kind weiter aufrecht zu erhalten. Die Ablehnung des Kindes kann noch auf die Unversöhnlichkeit des Kindes, auf seine Wut hinweisen oder dass es daran gewöhnt ist, alle elterlichen Vorschläge ausnahmslos abzuweisen. Vielleicht fürchtet es auch, schwach zu erscheinen, wenn es elterliche Beziehungsangebote akzeptiert. Versöhnungsgesten haben jedoch ihre Bedeutung, selbst wenn sie zurückgewiesen werden. Sie fangen an, Elternpräsenz auf positive Weise wieder herzustellen. Daher sollten Eltern unbeirrt damit fortfahren, ohne sie dem Kind aufzuzwingen. In einigen Fällen äußert das Kind laut seine Zurückweisung, während es im Stillen einen Hinweis der Akzeptanz gibt. So mag zum Beispiel das Kind etwas verweigern, das die Mutter für es gekocht hat, aber die Speise verschwindet über Nacht aus dem Kühlschrank. »Offiziell« hat das Kind sich dann verweigert, aber das Essen ist schon in seinem Magen und leistet dort eine gewisse produktive Elternarbeit. Vielleicht ist es an dieser Stelle im Prozess für Eltern ermutigend, mehr darauf zu achten, was sie jetzt bereit sind anders zu machen, als auf die Reaktionen des Kindes zu warten. Die Erfahrungen mit den Deeskalationsstrategien und den Versöhnungsgesten werden in der nächsten Sitzung (eine Woche später ist ein guter Zeitrahmen) ausführlicher reflektiert und dienen als Basis für weitere Interventionen des gewaltlosen Widerstands mit dem Ziel, die Botschaft der Eltern zu verstärken. Abschließend sollten im Rahmen der Versöhnungsgesten die zu erwartenden Reaktionen der Geschwisterkinder angesprochen werden. Denn wenn die Eltern viel Zeit und Kraft in die Beziehung mit dem betroffenen Kind geben, können sich die

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Geschwister leicht zurückgesetzt fühlen. An dieser Stelle sollten die Eltern darauf aufmerksam gemacht werden, dass ein Ausgleich mit den Geschwisterkindern ebenfalls sinnvoll ist, um der Eifersucht im Vorfeld schon zu begegnen. Möglicherweise können auch die Unterstützer diesen Anteil mit übernehmen, um die Eltern in dieser Phase zu entlasten.

➪ Die dritte Sitzung Reflexion der Erfahrungen aus der zweiten Sitzung In der dritten Sitzung sollte genügend Zeit sein, um die Erfahrungen mit der Ankündigung zu thematisieren. Es sollte vor allem Zeit für die Gefühle der Eltern im Zusammenhang mit der Ankündigung sein: Wenn die Kinder mit Reaktionen wie Weglaufen oder Suizid gedroht haben, dann sollten diese Ängste respektiert und das Leid der Eltern angenommen werden. Es gilt in dieser Situation, die Eltern nicht zu überzeugen oder zu überreden. Hilfreich kann es sein, zu thematisieren, wie sie solchen Szenarien vorbeugen können (mit mehr Präsenz, Einladung von Zeugen, elterlicher Unterstützung). Die Ängste der Eltern zu diesem Zeitpunkt sind ein Resultat bisheriger Eskalationserfahrungen und sollten angehört und ernst genommen werden. Gleichzeitig gilt es den Eltern zu vermitteln, dass die Methoden des gewaltlosen Widerstands diese Eskalationen unterbrechen möchten. Auch die Angst der Eltern, das Kind könne die Eltern hassen, ist das Ergebnis vorheriger Zuspitzungen. Eine gute Antwort der Eltern auf solche kindlichen Androhungen kann sein: »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um das zu verhindern, was du androhst, außer nachzugeben und dich anzugreifen! Das Ergebnis ist nicht in unserer Hand. Wir haben keine Macht und Kontrolle über dich und dein Vorhaben, das heißt, ob du es machst oder nicht. Wir werden aber unser Bestes geben!« Die Eltern sollten nicht versuchen, das Kind davon zu überzeugen, seine Drohung wieder zurückzunehmen. Diese Absicht führt zu weiterer Eskalation, denn die Drohung wird in aller Regel seitens des Kindes verstärkt: Kinder mit aggressiven Verhalten greifen häufig zum »Erstschlag«, um Kontrolle über eine Situation zu erlangen und damit würde der Konfliktzuspitzung neue Nahrung gegeben werden. Neben den Ängsten, Hilflosigkeiten und Befürchtungen sollten auch die positiven Anteile der Erfahrungen zur Sprache kommen. Manchmal sind Eltern im Coaching stark auf das Mitteilen der negativen Erlebnisse fokussiert. Um auch die positiven Anteile in den Mittelpunkt zu stellen, die Anknüpfungspunkte für das weitere Vorgehen im Elterncoaching sind, sollten die Eltern unbedingt danach gefragt werden, was gut geklappt hat. Falls Eltern auf die Frage nach ihren wahrgenommenen kleinen Erfolgen ausweichend oder auch überzogen kritisch hinsichtlich ihres eigenen Handelns reagieren, können bestimmte Fragen möglicherweise den Blick auf die ersten Schritte in Richtung Hoffnung und Zuversicht richten:

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»Menschen bestehen in aller Regel nicht nur aus einer Stimme, sondern sind als vielstimmige Individuen zu betrachten, vergleichbar einem polyphonen Chor. Die unterschiedlichen Stimmen bestimmen menschliches Denken und Fühlen. Bislang haben Sie Ihre kritische Stimme immer wieder zu Wort kommen lassen. Angenommen, Ihre wohlwollende Stimme würde hier zur Entfaltung gelangen: – Welche Aspekte würde die wohlwollende Stimme bei den bisherigen Erfahrungen betonen? An welchen Stellen haben Sie es geschafft, wieder stärker Präsenz zu zeigen, wozu Ihnen möglicherweise früher der Mut und die Kraft fehlten? – Welche kleinen Zeichen haben Sie im Verhalten Ihres Kindes wahrgenommen, die vom bisherigen Muster abweichen? – Was war bislang besser bezüglich des Teamspiels auf der Paarebene? – Was haben Sie im Verhalten Ihres Partners als hilfreich und entlastend erlebt? – Wie ist es Ihnen mit den Versöhnungsgesten ergangen: Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Wie geht es Ihnen jetzt im Nachhinein damit?« Die Indikation zur Anwendung der Maßnahmen des gewaltlosen Widerstands ist sowohl in Familien mit komplementären Mustern als auch mit symmetrischen Eskalationen angezeigt. Bei komplementären Eskalationen wirken Eltern der Dynamik entgegen, wenn sie etwas anderes tun, als bloß nachzugeben. Bei symmetrischen Eskalationen sind die Aktionen des gewaltlosen Widerstands hilfreich, weil sie im Unterschied zu Rigidität und übersteigerter Strenge immer von Versöhnungsmaßnahmen und von der Unterstützung durch das soziale Unterstützungssystem flankiert sein sollten.

Die Aktivierung von Unterstützern Eine wichtige Bedingung für den Erfolg des Konzepts ist die Aktivierung des sozialen Unterstützungssystems. Möglicherweise ist sie sogar wesentlich für das Gelingen der Interventionen. Die Erfahrung lehrt, dass die Isolation und Geheimhaltung in betroffenen Familien den Nährboden für die Gewalt der Kinder (und natürlich auch der Eltern) bereithält und die Gewalt noch verschärft. Viele Eltern scheuen sich, über die Geschehnisse zu Hause zu reden, um sich und ihr Kind vor einem schlechten Image zu schützen. Die Geheimhaltung aufzubrechen und Unterstützung von außen zu mobilisieren, durchbricht sowohl ein Tabu, als auch den Kreislauf der Gewalt und stellt daher eine bedeutsame Musterunterbrechung dar. Dieser Punkt ist für betroffene Familien besonders schwierig: Einerseits ist der Einbezug anderer zentral für das Gelingen von Deeskalation, andererseits sind hier die größten Widerstände seitens der Eltern zu erwarten. Denn in unserer Kultur ist das Aufsuchen von Hilfe und Unterstützung, das Zugeben von eigenen Schwächen, absolut tabuisiert. Darüber hinaus ist das Thema Gewalt in Familien von besonderer Brisanz und Schambesetzung.

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Die Erfahrung zeigt jedoch, dass isoliert lebende Eltern, vor allem Alleinerziehende, leicht Opfer von Angst, Demoralisation und Verzweifelung werden können, weil sie niemanden haben, mit dem sie ihre Sorgen und Ängste teilen und von dem sie eine Außenperspektive einholen können. Auch nimmt mit der sozialen Abgrenzung die Motivation zur Selbstkontrolle ab. Die Situation ändert sich für Eltern, wenn sie aus der Vereinsamung heraustreten und Courage und mit Hilfe der Unterstützer auch Ausdauer entwickeln können. Die Aktivierung von Unterstützern und Bündelung des Widerstands wirkt auf folgenden Ebenen: – ermutigt Eltern und stärkt die Mobilisierung der elterlichen Kräfte; – stellt Eltern »Energiequellen« (der Unterstützer) zur Seite, die sie in ihrer Erschöpfung selbst nicht mehr haben; – erleichtert den Eltern das Verständnis für die Entwicklung der Eskalationsmuster (durch Kommunikation mit Außenstehenden); – die Erfahrung, wieder Einfluss nehmen zu können, stärkt das Selbstwertgefühl und die Entwicklung für das Empfinden einer eigenen Würde. Die Eröffnungen über die Geschehnisse in der Familie machen dem Kind klar, dass das, was es tut, nicht länger im Privaten geschieht, sondern dass es Leute gibt, die die häusliche Situation kennen und bereit sind zu helfen. Dabei besitzen schriftlich verfasste Botschaften von Unterstützern an das Kind (z. B. von Verwandten, Paten, Freunden) eine eigene Kraft. Denn wenn eine Mittlerperson sich die Mühe bereitet, eine Mitteilung an das Kind zu formulieren, die weder anklagend noch abwertend verfasst ist, sondern in sachlicher Weise die Unterstützung der Eltern ankündigt, dann ist die Form der Nachricht von eigener Gewichtigkeit. Wenn also Verwandte oder Freunde, die weiter weg wohnen, mit denen das Kind sich aber verbunden fühlt, Kontakt zum Kind aufnehmen, dann können deren Mails, Faxe und Briefe (z. B. auch aus dem Ausland) eine starke Wirkung entfalten. Durch diese Maßnahmen wird dem Kind deutlich gemacht, dass die Eltern nicht länger allein sind. In vielen Fällen ist allein dieses Wissen ausreichend, die Gewalt sichtlich zu verringern. Die Erfahrungen zeigen, dass das Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand mit der Aktivierung von Unterstützern gerade bei Alleinerziehenden hilfreich ist, auch wenn es zunächst eine große Hürde für die vor allem betroffenen Mütter darstellt. Das Einbeziehen dritter Parteien außerhalb der Familie eröffnet zusätzliche Möglichkeiten: Eine davon ist die Vermittlung. In den meisten Fällen kann unter den Freunden und Verwandten jemand gefunden werden, der zu dem Kind einen guten Kontakt hat oder entwickeln kann. Diese Person kann Kompromisse vorschlagen, die das Kind zurückweisen würde, wenn sie direkt von den Eltern kämen. Der Vermittler kann dazu beitragen, das Kind davon zu überzeugen, von seinen extremen Positionen Abstand zu nehmen (z. B. nach Hause zurückzukehren, nachdem es unter Protest weggegangen ist). Die Vermittlerperson trägt auch dazu bei, die Isolation des Kindes in der neuen Situation zu verringern. Besonders

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in Krisen (wenn das Kind sich verschließt, den Kontakt abbricht oder wegläuft) ist das Einbeziehen eines Vermittlers ein entscheidendes Mittel, eine Eskalation zu mindern. Durch das Anbieten von Unterstützung kann auch das Kind emotional gefestigt werden. Auch die Freunde des Kindes und deren Eltern können als Vermittler in Frage kommen, beispielsweise zur Unterstützung des Kindes, um die Situation besser ertragen zu können. Auch zeigt die Erfahrung mit Schulverweigerern, dass es hilfreich sein kann, wenn Klassenkameraden kommen oder Freunde auftauchen und das Kind zur Schule aktivieren oder eine Art Sit-in machen. Jedoch sollte der Freundeskreis des Kindes nicht zu stark vereinnahmt werden, weil damit das Kind isoliert werden könnte und die Gefahr neuer Eskalationen erhöht würde oder Gleichaltrige überfordert werden könnten. Bei der Aktivierung sozialer Unterstützung können verschiedene Schwierigkeiten auftreten. Viele Eltern scheuen sich zunächst, soziale Unterstützung zu aktivieren, weil das Veröffentlichen von »Familienangelegenheiten« einem Tabubruch gleich kommt. Die elterlichen Hindernisse, soziale Unterstützung zu aktivieren, sind dabei vielfältig: – die Eltern sind zu beschämt; – die Eltern sind zu stolz; – die Eltern haben Sorge, dass die Unterstützer die »besseren Eltern« spielen könnten; – die Eltern fürchten die Zurückweisung; – die Eltern möchten andere Menschen nicht mit ihren Problemen belästigen; – die Eltern fürchten die Stigmatisierung des Kindes; – die Eltern befürchten eine Eskalation des kindlichen Verhaltens; – die Eltern haben niemanden, den sie einbeziehen können. Die mangelnde Bereitschaft von Eltern, andere Personen einzubeziehen, kann als Ausdruck der parentalen Hilflosigkeit verstanden werden (Pleyer, 2003), die häufig mit einem Kooperationsverlust mit anderen Erziehern (z. B. Lehrern, Sportübungsleiter etc.) einhergeht. Daher sollten Therapeuten an dieser Stelle nicht gleich aufgeben, sondern zumindest die Vor- und Nachteile sozialer Aktivierung thematisieren. Folgende selbstwertstärkende Botschaften an die Eltern können dabei hilfreich sein: – der Entschluss, überhaupt um Beratung anzufragen, ist ein erster Schritt aus der Isolation und verdient besondere Anerkennung; – die Aktivierung von Unterstützern und die Öffentlichkeitsarbeit ist Zeichen von Stärke; – viele Eltern haben die gleichen Probleme wie Sie, Sie sind nicht die einzigen; – angenommen, wie würden uns in einigen Jahren wieder treffen, was würden Sie denken und fühlen, wenn Sie es niemandem offenbart hätten?

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Auch das Angebot seitens der Therapeuten, selbst mit den Unterstützern zu sprechen, kann erleichternd für die Eltern sein. Möglicherweise kann auch das »Mitgehen« mit dem elterlichen Widerstand zunächst hilfreich sein. Das Aufgreifen dieses Angebotes zu einem späteren Zeitpunkt, wenn deutlich wird, dass Eltern bereit sind, die Kraft sozialer Unterstützung zu nutzen, um ihre Präsenz zu stärken, kann dann effektiver sein. Eine andere Möglichkeit, den Eltern die Vorteile von der Aktivierung des sozialen Unterstützungssystems erfahrbar zu machen, ist die der Skulptur7: Die Eltern werden gebeten, mittels von kleinen Holzfiguren oder auch anderen Symbolen, sich und ihr Kind entweder auf einem Familienbrett oder im Raum zu stellen. Die Therapeuten fragen dann die Eltern, wie viel Energie und Anstrengung das Kind augenblicklich für sich beansprucht (in aller Regel sind das 100 %). Danach werden die Eltern um eine Einschätzung ihrer eigenen Verfassung oder ihres Energievermögens gefragt und danach, wie viel Energie sie augenblicklich zur Verfügung haben, diesem hohen »Energieanspruch« ihres Kindes gerecht werden zu können. In der Regel besteht ein Defizit zwischen elterlichen Möglichkeiten (denn elterliche Hilflosigkeit geht auch immer mit Erschöpfung einher) und den kindlichen Ansprüchen. Nun werden mittels von Symbolen Unterstützer in die Skulptur aufgenommen, die alle ein wenig Energie mitbringen. Auf diese anschauliche Weise kann dann die »Energiebilanz« ausgeglichen und den Eltern vermittelt werden, wie potenzielle Unterstützer als »Kraftquellen« zur Verfügung stellen können. Seitens der Umwelt gibt es erfahrungsgemäß ebenfalls facettenreiche Haltungen gegenüber den Eltern von Kindern mit aggressiven oder anderweitig auffälligen Verhalten: von der Anklage über Verständnislosigkeit bis hin zum peinlichen Berührtsein. Um auf mögliche Hindernisse seitens der Unterstützer vorbereitet zu sein, sollten diese mit den Eltern prophylaktisch durchgesprochen und geklärt werden. Was kann für potenzielle Unterstützer bei Integration in den Konflikt problematisch sein? – Sie wollen das Kind nicht verletzen. – Sie denken, das Kind müsse besiegt werden und haben kein Verständnis für den gewaltlosen Widerstand. – Sie befürchten, die Interventionen seien zu heftig oder grausam und die Privatsphäre des Kindes werde zu stark beschädigt. – Sie haben ihre Rolle nicht verstanden. – Sie haben Angst, etwas falsch zu machen, und glauben, dass Nachgeben die beste Lösung ist. – Sie haben Angst, vom Kind besiegt zu werden. – Sie haben Angst, hineingezogen zu werden und eventuell Folgeprobleme in ihrer

7 Die Anregung zu dieser Übung verdanken wir Liane Stephan, Bergisch-Gladbach.

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eigenen Familie zu bekommen, zum Beispiel in der eigenen Paarbeziehung über den »richtigen Weg«. – Sie könnten Angst haben, dass die gute Beziehung zum Kind gefährdet werden könnte (Paten, Kinderlose, Bekannte, für die das Kind Ersatz ist). Die Erfahrungen in Israel zeigen, dass es überwiegend positive Reaktionen der Umwelt auf die Aktivierung sozialer Unterstützung und das Elterncoaching gibt (im Sinne von: »Wir haben immer geahnt, dass euch etwas bedrückt und nun können wir euch viel besser verstehen«). Geheimnisse können die Phantasien Außenstehender »beflügeln«, während eine Offenlegung der Vorkommnisse die Chance eröffnet, diese auf ein gesundes Maß zu reduzieren. Manchmal kann es für Eltern auch erleichternd sein, im Coaching ermutigt zu werden, andere um Hilfe zu bitten, weil sie sich bislang nicht getraut haben eine Öffentlichkeit herzustellen. Im weiteren Vorgehen empfiehlt es sich, sorgfältig zu überlegen, wer als Unterstützer der Eltern tätig werden kann. Bei der Wahl von geeigneten Unterstützern sollten folgende Gesichtspunkte beachtet werden: – Die Unterstützungsgruppe soll vor allem den Eltern hilfreich zur Seite stehen. Es sollten dazu Menschen eingeladen werden, die von den Eltern angenehm und wohlwollend erlebt werden. – Es ist wichtig, dass die Unterstützer beide Elternteile unterstützen, auch wenn die Sympathien nicht gleichermaßen auf beide Partner verteilt werden müssen. – Großeltern, Onkel und Tante oder andere Familienmitglieder sind als Zeugen grundsätzlich geeignet, wenn sie Bereitschaft zeigen, auch wenn Großeltern für Sit-ins in der Regel ungeeignet sind. (Großeltern haben in unserer Kultur häufig das Privileg, zu »verwöhnen« und oft nicht die Kraft, einem Sit-in standzuhalten.) – Freunde und Arbeitskollegen können sehr hilfreich sein. – Menschen, die entfernt wohnen oder im Ausland leben, können ebenfalls als relevante Unterstützer durch Mails, Telefonate und Briefkontakte die Eltern stärken. – Dagegen sind im Hause lebende Geschwister ungeeignet, weil sie damit auf die Erwachsenenebene gestellt werden und damit ein zu starker Eingriff in das soziale Umfeld des Kindes verbunden ist. – Außer Haus lebende ältere Geschwister mit ihren Partner sind hingegen meist ebenfalls geeignet. Wie können Unterstützer aktiviert werden, wie viele sollten es sein und welche Funktionen können ihnen übertragen werden? – Es hat sich bewährt, potenzielle Unterstützungspersonen anzurufen oder über E-Mail oder Postkarte anzufragen, mit dem Hinweis auf Bedenkzeit. Dieses Vorgehen ermöglicht den jeweiligen Personen, sich freiwillig für oder gegen die Einbeziehung zu entscheiden.

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– Die Anfrage sollte das Problem und die damit verbunden Sorgen kurz beschreiben und auch die besondere Eigenschaft oder Fähigkeit des Adressaten benennen, weshalb sich die Eltern mit ihrem Anliegen speziell an den Empfänger richten. – Hinzugefügt werden sollte ein Brief nach beiliegendem Muster (siehe Abbildung 4), um potenziellen Helfern zu signalisieren, auf welche Weise die Eltern professionell eingebunden sind. – Im weiteren Beratungskontext sollten die Therapeuten den Eltern klar vermitteln, dass die Aktivierung von mehreren Unterstützern (fünf bis zehn Personen) die Effektivität steigert und die anderen Interventionen des gewaltlosen Widerstands verstärkt. – Abschließend sollte im Coaching überlegt werden, welche Rolle genau von welcher Person übernommen werden kann. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass Unterstützer eingebunden werden, die eine bessere oder gute Beziehung zum Kind haben (Paten, Lieblingsverwandte), die zum Beispiel mit folgender Botschaft an das Kind herantreten können: »Ich weiß, du bist bedrückt. Du hast gegen deine Eltern Drohungen ausgesprochen. Das halte ich für keine gute Idee. Ich werde deine Eltern dabei unterstützen, sich nicht irritieren zu lassen.« – Bei sehr isoliert lebenden Eltern können auch andere Menschen, zum Beispiel Therapeuten einer Beratungsstelle, Studenten, Kollegen, mit eingebunden werden (»Wir kennen deine Mutter. Wir werden unser Bestes tun, um dein Verhalten zu stoppen und unterstützen deine Mutter«). Grundsätzlich gilt es jedoch, die Eltern im Coaching zu animieren, eigene Kontakte zu knüpfen oder wieder zu reaktivieren (z. B. durch Kirche, Vereine, helfenden Institutionen), denn der Erfolg des gewaltlosen Widerstands hängt von der Qualität der Aktivierung des sozialen Unterstützungssystems ab. Welche Rollen können Unterstützer übernehmen? – Versorgerfunktion: Hierunter fallen praktische Hilfsdienste für die Eltern, zum Beispiel Fahrdienste zu übernehmen, Essen zuzubereiten, die Eltern emotional aufzubauen, aber auch Begleiterfunktionen und »nährende« Beziehung zum Kind anzubieten, um das Kind aus der sozialen Isolation herauszuholen. – Mediatorfunktionen: Vermittlung zwischen Eltern und Kind aber auch zwischen Eltern und der Schule oder zwischen Kind und der Umwelt anzubieten. – Zeugenfunktionen: Personen, die bei Ankündigungen, Sit-ins oder Eskalationen dabei sind und die Gewalt als solche benennen und dem System zurückmelden. – Supervisorenfunktion: für das Kind aktiver Beaufsichtigter, wenn sich das Kind in schwierigen Gruppen aufhält und wenn das Kind außerhalb des Hauses ist. – Schützer: Schutzfunktion, wenn Gefahr für das Kind oder für die Eltern oder Geschwister besteht (z. B. Nachbarn bei krisenhaften Zuspitzungen oder wenn physische Gewalt ausgeübt wird). Folgender Brief, der von den Therapeuten an potenzielle Unterstützer verschickt wird, kann den Hintergrund der Anfrage nach Unterstützung beleuchten:

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Liebe Unterstützer, wir freuen uns über Ihre Bereitschaft, die Anstrengungen der Familie (Name der betreffenden Familie) zur Verbesserung ihrer Situation unterstützen zu wollen. Ihre Unterstützung kann hilfreich zum Abbau von Spannungen und Eskalationen zwischen den Familienmitgliedern sein. Die Eltern haben sich mit der Bitte um Beratung an uns gewandt. Wir haben ihnen vorgeschlagen, mit gewaltlosem Widerstand auf das aggressive Verhalten ihres Kindes zu reagieren. Das ist ein bewährtes Behandlungskonzept – Sie kennen es vielleicht aus dem politischen Kampf gegen Unterdrückung –, das die Mitwirkung von Helfern und Unterstützern mit vorsieht. Wir hoffen, dass die folgenden Ausführungen Ihnen eine Hilfe zum Verständnis unseres Behandlungskonzeptes und hilfreich bei der Unterstützung der Eltern sein werden. Ziele der Unterstützung: Die Erziehung eines aggressiven Kindes ist eine schwierige Aufgabe. Sie verlangt eine enorme körperliche und geistige Kraft, die Eltern oft müde und erschöpft werden lässt. Daher ist die Aktivierung eines sozialen Unterstützungssystems eine Hilfe, die elterlichen Fähigkeiten und Anstrengungen wieder zu verstärken. Leider fürchten viele Eltern, ihre Erschöpfung der Familie oder Freunden gegenüber zu äußern. Sie glauben, dass ihre Bitte um Unterstützung ihr »Versagen als Eltern« offenbart. Andere befürchten, dass niemand ihnen unterstützend zur Seite stehen wird oder das Kind durch das Bekanntwerden in ein schlechtes Licht gerückt werden könnte. Ihre Reaktion als Unterstützer hat daher entscheidenden Einfluss darauf, dass diese Ängste abgebaut werden können und die Eltern Ihre Hilfe annehmen können. Zur Rolle der Unterstützer: Das Wichtigste zuerst: Sie müssen nicht viel Zeit aufwenden! Jede Person die sich zur Unterstützung bereit erklärt, kann selbst entscheiden, wie viel Zeit und Kraft sie einbringen will. Verschiedene Wege der elterlichen Unterstützung lassen sich unterscheiden. Emotionale Unterstützung besteht darin, dass Sie den Eltern und dem betroffenen Kind vermitteln, dass Sie die Bemühungen der Eltern gut finden und unterstützen. Praktische Unterstützung kann so aussehen, dass Sie in verschiedenen Formen mit dem Kind Kontakt aufnehmen (Anrufe, Briefe, Faxe oder EMails) oder dass Sie bereit sind, zwischen Eltern und Kind zu vermitteln und zu verhandeln (als »Friedensmission« sozusagen). Da es um ein Konzept geht, in dem die Eltern gewaltlosen Widerstand gegen die kritischen Verhaltensweisen des Kindes leisten, kann es hilfreich sein, das »Anleitungsheft für Eltern« einmal zu lesen. Ihre Rolle besteht darin, die Versuche der Eltern, die Konfliktspirale zu deeskalieren, zu unterstützen. Sie brauchen das Kind nicht stellvertretend für die Eltern auszuschimpfen oder ihm

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Vorhaltungen zu machen. Das Einzige, was von Ihnen gewünscht wird, ist zu vermitteln, dass Sie den Weg der Eltern mittragen und unterstützen. Auf folgende Weise können Sie wirksam werden: Kontaktieren Sie das Kind und lassen Sie es wissen, dass seine Eltern Sie um Unterstützung gebeten haben. Erzählen Sie dem Kind, dass Sie um sein problematisches Verhalten wissen, sagen Sie, worum es sich handelt und dass Sie diese Verhaltensweisen unakzeptabel finden. Gleichzeitig geben Sie dem Kind zu verstehen, dass Sie es weiter mögen, aber alles unternehmen werden, das destruktive oder gewalttätige Verhalten zu unterbinden. Die Unterscheidung zwischen der Person des Kindes einerseits und seinen Handlungen andererseits ist hilfreich, weil damit der Zugang zum Kind möglich bleibt. Falls Sie eine nahe Beziehung zum Kind haben, können Sie auch eine persönliche Vermittlung anbieten. Falls das Kind zustimmt, können Sie als Vermittler zwischen Eltern und Kind fungieren. Damit wird sich das Kind weniger isoliert fühlen. Falls es zu Gewalttätigkeiten gegen Geschwister gekommen ist, kontaktieren Sie die betroffenen Geschwister und bieten Sie auch ihnen Ihre Hilfe an. Die Familie während eskalierender Auseinandersetzungen zu besuchen, ist immer hilfreich. Sie brauchen dabei nichts Besonderes zu tun, sondern nur »einfach mal vorbeisehen«. Denn Ihre Präsenz wird die Spannung abbauen und der Gewalt vorbeugen. Auch ist es hilfreich, die Eltern bei der Suche nach den Aufenthaltsorten ihrer Kinder zu unterstützen. Die Unterstützer sollen in positiver Weise in die Familie eingebunden sein, um das Bewusstsein der Kinder zu stärken, »gesehen zu werden«. Um die Hilfe und Unterstützung besser koordinieren und Fragen klären zu können, möchten wir Ihnen die Teilnahme an einer der nächsten Beratungssitzungen anbieten. Das Ziel ist dabei, gemeinsam abzusprechen, wie die Gewalt gestoppt und das Familienleben verbessert werden kann. Ihre Teilnahme ist dabei willkommen. Mit freundlichem Gruß Die Therapeuten (Namen) Abbildung 4: Unterstützungsanfrage

Der Einbezug von Unterstützern, die dann zu einzelnen Coachingsitzungen eingeladen werden, hat sich bewährt. Auf diese Weise können einzelne, wechselnde Unterstützer mit eingebunden werden. Falls viele Unterstützer mit einbezogen werden sollen, kann zur besseren Koordinierung auch ein Unterstützertreffen initiiert werden. Um jedoch alle Beteiligten dabei gut »im Blick« zu haben, erfordert solch ein Treffen von den Beratern ein hohes Maß an Leitungsfähigkeit und »Fingerspitzen-

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gefühl«. Daher empfiehlt es sich, größere Unterstützertreffen mit zwei Beratern durchzuführen. Bei diesem Treffen gilt es: 1. den Hintergrund und Nutzen der Aktivierung von Unterstützern im persönlichen Gespräch darzustellen und damit verbundene Fragen seitens der Unterstützer zu klären. 2. die verschiedenen Aufgaben und Rollen bei der Unterstützung von Eltern und Kind vorzustellen: Beispielsweise können Unterstützer als Mediatoren zwischen Eltern und Kind fungieren, während andere Personen ausschließlich die Rolle des emotionalen Beistandes der Eltern übernehmen. Auch die Bereitschaft, als Zeuge tätig zu werden (z. B. bei Sit-ins in der Wohnung anwesend zu sein und falls nötig auch einzuschreiten oder mitzukommen, wenn ein Elternteil die Orte des Kindes aufsucht, wobei hier zu beachten ist, dass ein bis zwei Unterstützer dafür ausreichen, um die Eskalation nicht »hochzukochen«), kann entlastend und hilfreich sein. Ebenfalls sollte bei dem Unterstützermeeting sichergestellt werden, dass auch das Kind nicht isoliert wird, sondern jemand, der eine gute Beziehung zum Kind unterhält, Zeit mit dem Kind verbringt, sich als Gesprächspartner anbietet und dem Kind seine Präsenz vermittelt. 3. die Verteilung verschiedener Aufgaben an die Unterstützer als auch die Bündelung der Kräfte ist weiteres Anliegen des Unterstützertreffens. Auch hier gilt zu vermitteln, dass die Eltern in ihrer Präsenz im Erleben des Kindes allein schon durch das Wissen um den möglichen Einbezug von anderen Personen aus dem Familienumfeld gestärkt werden. Ein Meeting ist besonders wichtig bei Kindern, die Tendenz zum sozialen Rückzug zeigen: Wenn die Kinder nicht in die Öffentlichkeit gehen, dann muss die Öffentlichkeit eben zum Kind kommen. Beim Unterstützertreffen sollten folgende Gesichtspunkte von den Therapeuten im Auge behalten werden: – das Zusammenspiel der Unterstützer beachten; – das Ziel des Auftrages im Auge behalten; – die Unterstützer vernetzen; – die Unterstützer gut informieren; – darauf achten, wo zwischen Unterstützern und den Eltern mögliche Konkurrenzen entstehen können und diese entschärfen; – eine Atmosphäre schaffen, die sowohl Wertschätzung gegenüber den Eltern als auch den Unterstützern vermittelt.

Dienstleistungsstreik So wie sich das Kind in eskalierten Familien den Wünschen seiner Eltern verweigert, kann es im Einzelfall auch hilfreich sein, wenn sich Eltern den Forderungen ihrer Kinder entziehen. Eltern haben in diesem Zusammenhang das Recht auf Befehls-

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verweigerung, weil damit das Ungleichgewicht in der Familie hinsichtlich ihrer Position und ihrer Einflussnahme auf das Kind neu tariert werden kann. Der Dienstleistungsstreik kann eingesetzt werden, wenn sich in Familien paradoxe Situationen entwickelt haben. Hierunter fällt, wenn beispielsweise die Kinder ihre Eltern als »Diener« ihrer Wünsche und Forderungen benutzen und auf der elterlichen Seite das starke Gefühl von Herabwürdigung und Erniedrigung besteht. Häufig sind in eskalierten Familien folgende Situationen zu beobachten: Die Mutter räumt das Zimmer des Kindes auf und macht das Bett, hat aber darüber hinaus Zimmerverbot, was mit Rauswurf aus dem Kinderzimmer seitens des Kindes geahndet wird. Eine weitere Indikation für den Dienstleistungsstreik besteht für Mütter, die von ihren Kindern geschlagen wurden. Auch bei Eltern, die stark nachgebend sind und bei denen sich komplementäre Eskalationsmuster manifestiert haben, kann der Dienstleistungsstreik eingesetzt werden. Falls oben genannte Gründe für einen Dienstleistungsstreik vorliegen, wird im Beratungsgespräch mit den Eltern geprüft, welche Formen der Verweigerung für einen Streik geeignet erscheinen. Folgende Fragen helfen den Eltern, einzelne Bereiche zu finden: – Bei welchen Diensten fühlen Sie, dass Sie diese nicht von Herzen geben können, sondern Sie erniedrigt und in Ihrer Würde degradiert oder heruntergestuft werden? – Haben Sie den Eindruck, sich den Befehlen ihres Kindes verweigern zu können? Der Dienstleistungsstreik sollte ebenfalls wie die anderen Methoden des gewaltlosen Widerstands nicht in Konfliktsituationen eingeführt werden, sondern in der schon beschriebenen Weise angekündigt werden. Wenn die Eltern den Dienstleistungsstreik durchführen und die Kinder mit folgender Rückfrage reagieren: »Wenn ich das und das tue, wirst du dann wieder das und das für mich tun?«, kann geantwortet werden: »Ich freue mich, wenn du das tust, aber ich kann es noch nicht sagen. Ich werde die Tätigkeit erst wieder aufnehmen, wenn ich mich zuversichtlich genug fühle. Der Streik ist keine Bestrafung, ich tue das nicht gegen dich, sondern ich höre auf mich selbst!« Der Dienstleistungsstreik kann in seiner Effektivität noch erhöht werden, wenn Vermittler mit einbezogen werden. Der Dienstleistungsstreik ist keine Maßnahme, die in jeder Familie eingesetzt werden sollte, sondern bietet eine weitere Möglichkeit des elterlichen Protestes. Es gibt jedoch auch hoch eskalierte Familien, in denen die Eltern die Beziehung zu anderen Menschen erst suchen sollten, um überhaupt die Beziehung zum Kind wieder pflegen zu können.

Abschluss der dritten Sitzung Zum Ende der Sitzung sollte die »Ermutigungsarbeit« der Eltern stehen. Die Erfahrungen mit der Aktivierung des sozialen Unterstützungssystems zeigen, dass die

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Unterstützer meist zufrieden mit ihrer Rolle und Aufgabe sind. Sie werden durch den verstärkten Kontakt zur Familie nachdenklicher und resümieren ihre eigenen Erfahrungen positiv und hilfreich.

➪ Die vierte Sitzung Reflexion der Erfahrungen aus der dritten Sitzung In der Eröffnungsphase zur vierten Sitzung sollten die Eltern wieder genügend Zeit haben, die Umsetzung der Interventionen zu Hause reflektieren zu können. Erfahrungsgemäß haben Eltern einen hohen Mitteilungsdrang, den Therapeuten von ihren Erfahrungen mit dem Dienstleistungsstreik und mit der Aktivierung des Unterstützersystems zu berichten. Dabei ist die Frage, welche Schritte es genau waren, die hilfreich erlebt wurden, von besonderem Interesse. Anregungen zur Verbesserung einzelner Interventionsschritte sollten an dieser Stelle ebenfalls noch thematisiert werden. Auch die Haltung der Eltern zum Coaching, ihre Zweifel, Ängste, ihr Leid und ihre Anliegen brauchen Raum und Zeit im Prozess, um im Verlauf immer wieder an das Erleben der Eltern anknüpfen zu können. Erst dann können die weiteren Maßnahmen des gewaltlosen Widerstands besprochen werden, wie das Sit-in, eine Protestaktion, mit der Eltern gewaltfrei nachdrücklich ihren Anliegen Gewicht verleihen können.

Das Sit-in Eine der einfachsten und klarsten Umsetzungen gewaltlosen Widerstands ist das Sitin. Das Sit-in ist zugleich eine starke Form des elterlichen Protestes. Es gestattet den Eltern, Präsenz ohne Eskalation oder Kontrollverlust zu zeigen. Das Sit-in ist eine Demonstration von ruhiger Präsenz. Es vermittelt Geduld und Ausdauer und damit Zeit für das Kind. Es zeigt die elterliche Bereitschaft, Zeit zu investieren und sich für das Kind einzusetzen. Eltern zeigen mit dem Sit-in ihre körperliche Präsenz, indem sie im Zimmer ihres Kindes ruhig und geduldig sitzen und darauf warten, dass ihr Kind beginnt zu verhandeln. Statt den aversiv erlebten Auseinandersetzungen in der Familie zu entfliehen, zeigen sie mit ihrem einfachen Dasein Bereitschaft, in neuer Weise mit dem Kind in Kontakt zu treten und eine Unterbrechung bisheriger Eskalationsmuster anzustreben. Die Zeit kann für die Eltern arbeiten, sofern das Sit-in zum rechten Zeitpunkt (d. h. »das Eisen zu schmieden, wenn es kalt ist«, also außerhalb spannungsreicher Auseinandersetzungen, in einem ruhigen Moment) stattfindet und sie sich gut darauf vorbereitet haben, um im Vorgriff auf das unerwünschte Verhalten des Kindes einzugreifen. Eltern, die nur auf das aktuelle Tun des Kindes reagieren, scheitern oft, weil sie ihres eigenen Willens beraubt werden.

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Neben der Vermittlung elterlicher Präsenz bietet das Sit-in eine Möglichkeit, das Kind in ganz anderer und ungewohnter Weise zu erleben. Zudem ist das Sit-in eine Form des elterlichen Protestes, nicht länger in der alten Weise miteinander umzugehen. Für Eltern kann es hilfreich sein, sich auf das Sit-in und die damit verbundenen Unwägbarkeiten (s. u.), während des Coachings mittels eines Rollenspiels vorzubereiten. Bewährt hat es sich, dass die Beraterinnen die Rolle des Kindes oder eine Beobachterposition übernehmen, um später den Eltern konstruktives Feedback geben zu können. Ein Sit-in kann folgendermaßen durchgeführt werden: Die Eltern sollten das Zimmer des Kindes aufsuchen, wenn es sich dort befindet – zu einem Zeitpunkt, den sie selbst ausgesucht haben. Das Eintreten sollte nicht unmittelbar nach einer aggressiven Auseinandersetzung oder gewalttätigen Handlung stattfinden, sondern mehrere Stunden oder sogar einen Tag später. Diese Verzögerung trägt dazu bei, eine Eskalation zu vermeiden. Einem Sit-in sollte grundsätzlich immer eine schriftliche Ankündigung vorhergegangen sein, in der die Eltern dem Kind mitteilen, was sie zukünftig ändern möchten (siehe Sitzung 2). Das Sit-in selbst müssen die Eltern vorher nicht angekündigt haben. Wichtig ist die Planung des Eintretens. Die Eltern betreten das Zimmer, schließen die Zimmertür hinter sich und setzen sich, so dass das Kind schlecht das Zimmer verlassen kann (z. B. hat es sich bewährt, wenn der Vater vor der Tür sitzt). Die Eltern sollten das Kind gut im Blick haben, jedoch nicht zu nah sein, um unnötige Aggressionen zu vermeiden. Wichtig ist, dass sie sich selber sicher fühlen. Wenn beide Elternteile sitzen, sollten sie dem Kind in ruhiger Form Folgendes sagen: »Wir können dein Verhalten nicht mehr ignorieren und wollen damit nicht mehr weiter leben.« Dann benennen und beschreiben sie das jeweilige nicht akzeptierte Verhalten des Kindes, beziehen sich auf die schriftliche Ankündigung und führen ein oder zwei Beispiele auf. »Wir sind hereingekommen, um eine Lösung für das Problem zu finden. Wir bleiben hier sitzen und warten auf deinen Vorschlag, wie du dein Verhalten ändern willst.« Danach bleiben die Eltern ruhig sitzen und warten auf den Vorschlag des Kindes. Die Vorschläge, die es eventuell macht, hören die Eltern ruhig an und wägen ab. Wenn das Kind mit Vorwürfen antwortet (»Mein Bruder ist der Schuldige, nicht ich!)«, mit einem Verlangen (»Kauft mir einen Fernseher, dann höre ich auf!«) oder mit Drohungen (»Ich werde von zu Hause weglaufen«), sollten sich die Eltern nicht provozieren lassen und die Einladungen zur Eskalation ignorieren. Auch hier steht die Strategie des »Sich-nicht-hineinziehen-Lassens« im Mittelpunkt, um der Zuspitzung des Konfliktes vorzubeugen. Eltern sollten auf solche kindlichen Provokationen sinngemäß mit folgenden Worten reagieren: »Das ist noch keine Lösung« und bleiben weiter ruhig sitzen. Jeglicher Vorwurf, alles Predigen, Bedrohen oder Diskutieren sollte vermieden werden! Die Eltern warten gelassen, ruhig und geduldig und lassen sich in keinen Kampf hineinziehen, weder mit Worten noch körperlich. Geduld und Ruhe vermitteln die

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Botschaft von Kraft und Stabilität. Auf diese Weise wird die Chance beim Kind vergrößert, sein problematisches Verhalten zu reduzieren. Wenn das Kind einen positiven Vorschlag gemacht hat, selbst einen kleinen, sollten die Eltern ein paar klärende Fragen auf positive Weise dazu stellen und dem Kind die Bereitschaft mitteilen, dem Vorschlag eine Chance zu geben. Danach verlassen die Eltern das Zimmer. Das Angebot des Kindes sollte nicht voller Argwohn hinterfragt werden. Auch sollten Drohungen, zu einem Sit-in zurückzukehren, wenn der Vorschlag nicht umgesetzt wird, vermieden werden. Wenn das Kind schon bei einem vorherigen Sit-in denselben Verschlag gemacht hat, könnten Eltern entgegnen: »Du hast diesen Vorschlag schon einmal gemacht und er hat nichts gebracht. Wir brauchen jetzt einen Vorschlag, der wirksamer ist!« Wenn das Kind keinen Vorschlag macht, bleiben die Eltern eine Zeit lang in dem Raum. Der Zeitrahmen wird von ihnen vorher überlegt, meist etwa eine Stunde (wenn sie es schaffen). Dabei können die Eltern, falls keine Reaktion vom Kind kommt, ein wenig im Zimmer aufräumen. Wenn die Zeit vorbei ist, gehen sie ohne irgendeine Drohung oder Warnung, dass sie zurückkommen werden, hinaus. Nach Beendigung des Sit-ins wird der Tagesablauf der Familie fortgeführt, ohne Bezugnahme auf das Sit-in oder seine Ergebnisse. Schritte im Coaching zur Vorbereitung auf das Sit-in – Voraussetzung für ein Sit-in ist mindestens eine Stunde Zeit beider Elternteile. Sie sollten entspannt sein, das heißt, die physiologische Erregung sollte niedrig sein. Die Versorgung und Unterbringung von Geschwisterkindern bei Freunden oder Nachbarn sollte gewährleistet sein. Damit die Eltern sich möglichst sicher fühlen können, ist eine sorgfältige Planung und Vorbereitung des Sit-ins notwendig. – Es sollte nie ein Elternteil allein zum Sit-in geschickt werden, sondern zum Beispiel bei einer alleinerziehenden Mutter versucht werden, immer mindestens eine Unterstützungsperson mit einzubeziehen. Diese Unterstützerperson kann gegebenenfalls vor die Tür, auf dem Flur oder in das Wohnzimmer gesetzt werden (das Bewusstsein, nicht allein in der Wohnung zu sein, stärkt das Elternteil beim Sit-in und dämmt die Eskalationsgefahr auf beiden Seiten). In solchen Fällen könnte man dem Kind sagen: »Da wir befürchten, dass du gewalttätig sein würdest, haben wir X als Zeugen eingeladen.« – Falls sich das Kind trotz der außerhalb des Zimmers befindlichen Zeugen gewalttätig benimmt, sollten die Unterstützer hereinkommen. – Die Erfahrungen mit gemeinschaftlichen Sit-ins zeigen, dass dadurch die elterliche Kooperation erhöht werden kann. Es gibt Paare, die berichteten, zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ein Gefühl von Zusammenarbeit erlebt zu haben. Das Ziel im Coachingprozess ist daher, beide Elternteile für das Sit-in zu gewinnen. Falls sich ein Elternteil weigert, dann sollte dieser gefragt werden, was er stattdessen bereit ist zu tun. Die Vorschläge sollten konstruktiv in den gewaltlosen Widerstand einbezogen werden. Es geht nicht um perfekte Lösungen. Manchmal

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ist schon viel erreicht, wenn Partner von einer »passiven Gegnerhaltung« zu einer neutralen Haltung oder zu einer passiven Unterstützerhaltung angeregt werden können und überhaupt Bereitschaft zur Mitarbeit zeigen. In Stieffamilien sollten leiblicher Elternteil und Stiefelternteil die Hauptakteure sein und der außerhalb lebende leibliche Elternteil möglichst als Unterstützer fungieren. Falls das biologische Elternteil nicht unmittelbar erreichbar ist, sollte es durch Telefonate, Mails oder Briefe mit einbezogen werden. Falls die Befürchtung besteht, dass die Situation durch das Sit-in eskalieren könnte, sollten zwei Männer integriert werden (Männer vermitteln oft eine größere körperliche und stimmliche Präsenz) oder es sollte zunächst ganz auf ein Sit-in verzichtet werden, das heißt, erst andere Formen des gewaltlosen Widerstands zur Stärkung der elterlichen Präsenz geübt werden. Hauptziel für die Eltern ist es, die ersten fünf Minuten zu überstehen (weil das Kind versuchen wird, die Eltern hinauszuwerfen). Das erste Sit-in kann kurz dauern, die folgenden länger. Wenn Eltern die Erfahrung machen, dass sich das kindliche, unerwünschte Verhalten wiederholt, können sie jederzeit ein weiteres Sit-in planen. Es ist nie zu spät dazu und es ergeben sich immer wieder neue Gelegenheiten. Eltern sollten im Coaching gut auf die Anstrengungen des Sit-ins vorbereitet werden: »Glauben Sie, dass sie es schaffen, ruhig zu bleiben?« Die Botschaft der Eltern beim Sit-in an das Kind ist: »Wir sind nicht bereit zu schlagen, falls du uns schlägst, werden wir uns wehren, aber dich nicht angreifen!« Es gilt, nicht in jeden Fall einen Lösungsvorschlag herbeizuführen. Es kann auch in Ordnung sein, wenn das Kind keinen Vorschlag macht. Das Hauptanliegen ist, dass die Eltern in dieser Situation der Gewalt widerstehen und ihre Entschiedenheit demonstrieren. Die Erfahrungen zeigen, dass 90 % der Kinder einen Lösungsvorschlag äußern, den sie nachher nicht befolgen. Es gibt viele Kinder, die keine Lösung vorbringen, gleichwohl ihr Verhalten ändern. Manchmal kann es für ein Kind eine »Frage der Ehre« sein, keinen Vorschlag zu äußern und dennoch sein Verhalten zu ändern. Diese Lösung ist insofern von Vorteil, weil das Kind auf diese Weise sein Gesicht wahren kann. Gescheiterte Sit-ins sind Ausgang für weitere Maßnahmen des gewaltlosen Widerstands. Es gibt keine strengen Regeln für ein Sit-in und Kompromisse sind möglich!

Bei allen Widerständen, die das Kind den Eltern im Rahmen des Sit-ins entgegenbringen kann, geht es darum, den Eltern zu vermitteln, dass der gewaltlose Widerstand kein »Sprint«, sondern »Marathon« ist. Es braucht also langen Atem, Geduld, Ausdauer und Beharrlichkeit, um die elterliche Präsenz wieder zu stärken. Aber die Zeit spielt den Eltern auf Dauer in die Hände! Das Kind wird das Eintreten in sein Zimmer nicht mögen und es als Eindringen in seine Privatsphäre erleben. Im Folgenden werden einige übliche Reaktionen der Kinder aufgezeigt, sowie Hinweise,

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wie mit ihnen im Geiste gewaltlosen Widerstands umgegangen wird, gegeben werden. Das Kind wird versuchen, die Eltern aus dem Zimmer zu werfen mit Beschimpfungen wie: »Verschwindet hier, ich kann euch nicht ertragen.« Es kann versuchen, sie mit körperlicher Gewalt oder dem Werfen von Gegenständen hinauszubekommen. Wenn es versucht, eine verbale Eskalation zu initiieren, ist es wichtig, dass die Eltern schweigen oder ruhig reagieren. Wenn das Kind körperlich angreift, sollten sich die Eltern nur verteidigen, indem sie das Kind festhalten. Wenn vom Kind aus die Gefahr der Gewaltausübung besteht, sollte eine dritte Person zu dem geplanten Sit-in eingeladen werden, die vor der Tür oder im Wohnzimmer verweilt und die dann bei Bedarf als Zeuge ins Zimmer gerufen werden kann (s. o.). Das Kind kann das Sit-in beenden wollen, indem es Bedingungen stellt wie »Ich werde tun, was ihr von mir verlangt, aber nur, wenn ihr mir dies oder jenes kauft.« Eltern sollten darauf geduldig antworten, dass sie einen solchen Vorschlag nicht akzeptieren können. Danach sollten Eltern weiter schweigen. Durch das Ignorieren der Eltern versucht das Kind, die Botschaft zu vermitteln, es sei von der elterlichen Aktion weder beeindruckt noch beeinflusst. Es kann den Fernseher oder die Stereoanlage anschalten oder sich mit dem Computer beschäftigen. Das Gerät sollte von den Eltern dann ausgeschaltet werden, allerdings nur einmal. Wenn das Kind das Gerät wiederholt anschaltet, sollten alle schon genannten Auseinandersetzungen umgangen werden. Die Eltern sollten als Ausdruck ihres Protestes trotzdem weiter sitzen bleiben, jedoch nicht bis zum Ende der vorgenommenen Sit-in-Stunde (weil dies eine Überforderung für Eltern sein könnte). Beim nächsten geplanten Sit-in sollten Eltern dafür sorgen, dass die Geräte vom Stromnetz abgeschaltet sind oder die Maus vom Computer wegnehmen. Das Kind könnte sich auch hinlegen und vorgeben zu schlafen. Wenn das geschieht, bleiben die Eltern einfach sitzen. Die Zeit vergeht sehr langsam, wenn das Kind so tut, als ob es schläft! Selbst wenn es wirklich einschläft, sollte das Sit-in fortgesetzt werden. Das Einschlafen des Kindes, während die Eltern im Zimmer sind, kann durchaus ein erstes Zeichen sein, dass die Beziehung sich ändert. Durch Schreien und Lautwerden versucht das Kind, die Nachbarn oder andere auf sein »Elend« aufmerksam zu machen und sie quasi als Mitwirkende mit einzubeziehen. Wenn Eltern eine solche Reaktion erwarten, sollten sie im Vorfeld die Nachbarn über Ihr Vorgehen mit dem Kind informieren. In diesem Fall kann ggf. eine Kopie der Elternanleitung für Transparenz sorgen. Jeder positive Vorschlag des Kindes, und sei es nur das Versprechen, sein Bestes zu versuchen, sollte akzeptiert werden. Damit beenden die Eltern das Sit-in und verlassen das Zimmer. Eltern sollten sich im Coaching keine Sorgen machen, möglicherweise vom Kind »auf den Arm genommen« zu werden. Im Falle der Wiederholung des unerwünschten Verhaltens können sie jederzeit ein nächstes Sit-in praktizieren – die Zeit arbeitet für die Eltern und es gibt immer ein nächstes Mal! Beim nächsten Mal muss natürlich ein neuer und besserer Vorschlag gemacht werden, bevor das

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Sit-in beendet wird. Wichtig ist zu bedenken, dass Kinder ihr Verhalten öfters ändern, ohne einen konstruktiven Vorschlag während des Sit-ins gemacht zu haben. Eltern mögen bedenken, dass das Hauptziel des Sit-ins ist, dem Kind zu zeigen, dass sie als Mutter und Vater präsent sind. Sie sind an der Änderung des Verhaltens des Kindes interessiert, unabhängig davon, ob es einen Vorschlag gemacht hat oder nicht. Das Sit-in hat das Ziel, das aggressive Verhalten des Kindes im Alltag zu verändern. Ziel ist nicht sein gutes Benehmen während des Sit-ins. Relevant ist nicht, ob das Kind die Eltern während des Sit-ins beschimpft, sondern ob es sein unerwünschtes Verhalten nach dem Sit-in verändert. Wenn Eltern sehen, dass dies der Fall ist, ist ein weiteres Sit-in nicht notwendig. Wenn sie der Ansicht sind, dass sich das unerwünschte Verhalten wiederholt, können Eltern jederzeit ein weiteres Sit-in planen. Es ist nie zu spät dazu und es ergeben sich immer wieder neue Gelegenheiten Falls Suizidgefahr beim Kind besteht, positioniert sich ein Elternteil am Fenster, eines an der Tür. Es sollte auch sichergestellt werden, dass das Kind nach dem Sit-in beaufsichtigt ist. Eltern sollen sich beim Sit-in so sicher wie eben möglich fühlen. In diesen Fällen ist das Hinzuziehen von Unterstützern besonders wichtig. Falls das Kind weint, sollte die Art des Weinens beachtet werden: Ist es schmerzvoll, zornig, provozierend? Dem Kind sollte angemessen signalisiert werden, dass es mit seinem Weinen wahrgenommen wird, mit etwa folgenden Worten: »Wir merken, es ist schwer zu ertragen, für uns auch.« Eine Versöhnung sollte in dieser Situation nicht zu schnell angestrebt werden, weil die Erfahrung zeigt, dass eskalierte Prozesse auch Zeit brauchen. Das Sit-in ist nicht zur Versöhnung, sondern primär als Ausdruck des elterlichen Protestes zu verstehen. Bei gewalttätigen Kindern, die einen Anfall von Zerstörungswut bekommen, sollten die Eltern aufstehen und Zeugen einbinden. Falls das Kind auch damit nicht in seine Grenzen verwiesen werden kann, gilt es sich und andere zu schützen, gegebenenfalls aufstehen, hinausgehen, andere Zimmer abschließen, damit andere Personen und Gegenstände geschützt werden. Auf keinen Fall sollte in der Eskalation versucht werden, irgendeine Lösung herbeizuführen. Es ist sinnvoller, die Zeit verstreichen zu lassen und das gescheiterte Sit-in zum Ausgangspunkt für weitere Maßnahmen des gewaltlosen Widerstands zu machen. Nach der Zerstörung werden Eltern nicht alles neu kaufen, sie können aber helfen, dass das Zimmer in Stand gesetzt wird (dies kann auch eine Form von Versöhnung sein). Nachdem im Coaching die Eltern auf die verschiedenen Eventualitäten vorbereitet wurden, gilt es ihnen mit auf den Weg zu geben, dass es letztlich keine strengen Regeln für ein Sit-in gibt und Kompromisse in jedem Fall möglich sind. Um sie auf das Sit-in zu Hause einzustimmen, sollten sie gefragt werden, welche Reaktionen ihres Kindes sie erwarten, die dann nachfolgend besprochen werden. Auch hier sollte jedes Elternteil persönlich zu Wort kommen, um unterschiedliche Perspektiven besser aufgreifen zu können und im Vorfeld zu besprechen. Falls an dieser Stelle immer wieder die Paarbeziehung hineingebracht wird, kann es hilfreich sein, ein Symbol zu finden, welches den Paarkonflikt deutlich macht und dieses von der The-

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rapeutenseite zu zeigen. Immer dann, wenn sich Eltern wieder in dem Streit verstricken, sollte die Botschaft seitens der Therapeuten sein: »Auch wenn Ihr zerstritten seid, auch wenn es neue Partner gibt, bleibt Ihr dennoch Eltern!« Die Eltern sollen wissen, dass sie in der nächsten Sitzung ausgiebig Zeit haben über ihre Erfahrungen zu berichten und auch aufkommende Fragen dazu klären zu können. Abschließend kann die Telefonrunde besprochen werden, die es Eltern ermöglicht, ihre Präsenz und Aufsicht wieder zu stärken

Die Telefonrunde Die Telefonrunde ist ein Weg, Elternpräsenz und gewaltlosen Widerstand ins Leben zu rufen, wenn das Kind etwa zu spät nach Hause kommt, sich weigert, den Eltern zu sagen, wo es die Zeit verbracht hat, von zu Hause wegläuft oder gar ganze Nächte außer Haus ist, ohne dass die Eltern wissen wo. Die Telefonrunde besteht darin, dass systematisch eine ganze Reihe von Menschen kontaktiert werden, mit denen das Kind in Beziehung steht. Die Telefonrunde bezweckt: – elterliche Präsenz zu zeigen und das Recht und die Pflicht wieder herzustellen, das Kind zu beaufsichtigen; – das Kind wieder zu finden; – Gruppendruck zu mobilisieren, um das Kind zur Rückkehr zu bewegen; – für die Rückkehr des Kindes zu sorgen. Es sollte den Eltern vermittelt werden, dass die Rückkehr des Kindes nicht das Wichtigste von allem ist. Auch wenn es nicht – oder nicht gleich – nach Hause zurückkommt, haben die Eltern Präsenz und ihren Widerstand wirkungsvoll zum Ausdruck gebracht und vor allem ein Unterstützungsnetz aufgebaut. Darüber hinaus vermittelt die Telefonrunde dem Kind, dass es wahrgenommen wird und dass der Kontakt der Eltern zum Kind nicht abbricht. Studien zufolge (Steinberg, 1986) hat die bloße Tatsache, dass die Eltern wissen, wo sich das Kind aufhält, eine hemmende Wirkung auf antisoziales Benehmen. Und eine andere Studie verweist darauf, dass die elterliche Aufsicht das Risiko von Drogenproblemen und Delinquenz verringern kann (Kolvin et al., 1988).Vor allem, wenn Kinder immer wieder lügen, sollten Eltern nicht versuchen das Vertrauen wieder herzustellen, sondern Informationen über das Verhalten des Kindes zu erhalten. Lügen und Vertrauen sollten daher keine Themen im roten Korb, in Ankündigungen oder Sit-ins sein. Es ist eher abträglich, Kindern, die gelogen haben, zu vertrauen. Viel besser ist es über das Kind Bescheid zu wissen und präsent zu sein: die Aufenthaltsorte selbst herausfinden und testen, um noch mehr Heimlichkeiten zu vermeiden. Wenn Eltern die Vertrauensfrage stellen (im Sinne von: »Ich kann mich doch auf dich verlassen, dass du dieses oder jenes nicht machst?«), fördern sie eher die Lügengewohnheiten der Kinder und diese kommen wie auch die Eltern selbst

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eher mehr in Not. Die Erfahrungen zeigen (Greene, 2001), dass Mädchen früher zum Lügen neigen, da sie oft über eine höhere interpersonelle Kompetenz verfügen. Diese Fähigkeit wird seitens des Kindes nur schwer aufgegeben, weil es für sie eine kurzfristig sehr erfolgreiche Strategie ist. Die Telefonrunde durchbricht außerdem das Prinzip der Geheimhaltung. Das Kind bemerkt die elterliche Entschlossenheit, Hilfe und Unterstützung von außen zu holen. Öffentlichkeitsdruck ist das zentrale Prinzip, auf dem der gewaltlose Widerstand basiert. Die Erfahrungen mit der Kontaktaufnahme zu anderen Eltern durch die Telefonrunde zeigen, dass sich viele Eltern in ähnlicher Situation mit ihrem Kind befinden und nicht nur Unterstützung anbieten, sondern auch lebhaftes Interesse zeigen. Für die Telefonrunde bieten sich eine Reihe von Schritten an: Informationen sammeln: Die Eltern werden ermutigt, die Telefonnummern und Adressen von so vielen Freunden Ihres Kindes wie möglich herauszufinden, wie auch von seinen Bekannten und den Vergnügungsorten, die es häufig besucht. Das kann geschehen, indem Eltern die Klassenverbandslisten der Schulen durcharbeiten, die Freunde des Kindes freundlich um ihre Telefonnummern bitten oder falls sie Sorge haben, dass Kind könne in illegale Aktivitäten verwickelt sein, auch die Telefonnummern, die im Handy des Kindes gespeichert sind oder auf der Handyrechnung verzeichnet sind, aufschreiben. Der zuletzt beschriebene Schritt mag viele Eltern zu Recht verunsichern, da er extrem übergriffig erscheinen kann. In diesem Fall sollten Therapeuten und Eltern gemeinsam überlegen, wobei folgende Frage bei der Entscheidungsfindung leitend ist: »Wie sehr ist das Kind in Gefahr?« Je größer die kindliche Gefährdung ist, umso mehr können sich Eltern gerechtfertigt fühlen, in die Privatsphäre Ihres Kindes vorzudringen. In unserer westlich geprägten Welt ist die Achtung der Privatsphäre ein wesentliches kulturelles Gut. Die Privatsphäre wächst mit dem Kind, das heißt, je älter es wird, umso mehr Eigenverantwortung es tragen kann, desto mehr Privatsphäre kann ihm zugestanden werden. Schon Erikson (1968) hat darauf hingewiesen, dass der adoleszente Weg zur Eigenverantwortung als ein »psychosoziales Moratorium« verstanden werden kann, in dem Jugendliche in verschiedenen Beziehungen und Situationen ihre Erfahrungen mit sich und anderen sammeln dürfen. Eine fortwährende Frustration ihrer Privatsphäre kann daher die Entwicklung des Kindes stören. Somit ist dieses Kulturgut grundsätzlich wichtig, um Kinder und Jugendliche schrittweise in die Selbstständigkeit zu entlassen. Allerdings leiden Kinder mit akuten Verhaltensproblemen oft eher an einem Mangel als an einem Übermaß von elterlicher Aufsicht (Chamberlain u. Patterson, 1995) und elterlicher Präsenz. Daher gilt es im Coaching diese Frage offensiv und ohne »Ideologisierung« anzusprechen, um eine »Güterabwägung« zu erreichen. Anrufen: Die Telefonrunde beginnt, indem Eltern nacheinander die Leute und Orte auf der Liste anrufen. Es ist wichtig, viele Nummern anzurufen, nicht nur die Stelle,

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wo das Kind vermutet wird. Die Eltern vermitteln durch das Kontaktieren so vieler Personen die Botschaft der Elternpräsenz. Direkt die Nummer des kindlichen Handys zu wählen, ist nicht wirklich hilfreich. Im Gegenteil, wenn sich Eltern auf ein solches direktes Telefonat beschränken, erklären sie gewissermaßen, dass sie noch nicht bereit sind, Widerstand zu leisten. Spät am Abend ist es nicht ratsam, die Telefonrunde durchzuführen. Stattdessen kann sie auf den nächsten Abend verschoben werden, um mögliche Unterstützer und Zeugen nicht zu verärgern. Wenn das Kind protestiert und sagt, es sei schon zu Hause gewesen und es habe keinen Grund gegeben, es durch Telefonate vor seinen Freunden zu blamieren, können Eltern antworten, sie seien nicht bereit, noch einmal so im Unklaren gelassen zu werden wie in der Nacht davor. Mit verschiedenen Personen sprechen: Es ist hilfreich, wenn sich Eltern den Freunden des Kindes vorstellen und ihnen mitteilen, dass ihr Kind nicht heimgekommen sei, was sie sehr beunruhige, weshalb sie nach ihm suchen würden. Sie sollten sich bei den Freunden erkundigen, ob das Kind in der Schule gesehen wurde, ob sie etwas über die Pläne des Kindes in Erfahrung gebracht hätten oder ob die Freunde eine Idee davon haben, wo sich das Kind aufhalten könnte. Darüber hinaus sollten die Eltern die Freunde bitten, dem Kind auszurichten, dass sie beunruhigt sind und nach ihm suchen würden. Sie sollten die Freunde fragen, ob sie versuchen könnten, das Kind zu überreden, Kontakt zu den Eltern aufzunehmen. Falls die Freunde Bereitschaft zur Mithilfe signalisieren, kann ein Treffen mit den Eltern vereinbart werden. Das elterliche Unterstützernetzwerk schließt dann auch einige Freunde des Kindes ein. Diese Freunde können als Vermittler dienen und so dazu beitragen, an entscheidenden Stellen eine Eskalation zu verringern. Selbst wenn ein Freund nicht kooperativ ist, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er dem Kind erzählt, dass die Eltern angerufen haben, und sei es nur, um den Spaß des Stichelns zu haben: »Deine Eltern haben sich nach dir erkundigt, hihi!«. Das elterliche Ziel ist natürlich nicht das Sticheln, sondern das Zeigen von Präsenz. In der Mitteilung des Freundes an das Kind haben die Eltern ein klares Zeichen gesetzt: »Wir sind hier!« Am Ende der Unterhaltung mit dem Freund ist es hilfreich, die Eltern des Freundes ans Telefon zu rufen. Auch gegenüber den Eltern der Freunde sollten sich die Eltern nochmals vorstellen und fragen, ob diese ihr Kind in jüngster Zeit gesehen haben, verbunden mit der Bitte, ihr Kind nicht ohne die ausdrückliche Erlaubnis der Eltern bei sich übernachten zu lassen. Eltern sollten an dieser Stelle darauf vorbereitet werden, dass es andere Eltern gibt, die möglicherweise wenig Offenheit für ihre Situation zeigen. Jedoch werden Eltern auch die Erfahrung machen, dass die Eltern der Freunde verständnisvoll und interessiert reagieren können. In dem Fall lohnt es sich, ein Treffen mit ihnen zu verabreden. Elternnetzwerke, die auf diese Weise zustande kommen, bergen ein großes Potenzial. Diese Eltern können manchmal auch als Vermittler dienen. Sie sind besonders nützlich zum Erlangen von Informationen, wenn das Kind von zu Hause fortläuft. Denn in diesem Fall können sie das eigene Kind ansprechen

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und ihm sagen: »Dies ist jetzt kein Spaß mehr! Sie ist weggelaufen! Du musst den Eltern helfen, sie zu finden!« Auch Lokal-, Freizeitortbesitzer und deren Mitarbeiter sollten wie bereits dargestellt mit einbezogen und von den Geschehnissen in Kenntnis gesetzt werden, verbunden mit der Bitte, die Nachricht weiterzugeben.

➪ Die fünfte und sechste Sitzung Reflexion der Erfahrungen aus der jeweils letzten Sitzung Zu Beginn der Sitzung sollte wieder Zeit für die Erfahrungen der Eltern mit den Interventionen im gewaltlosen Widerstand sein. Vor allen nach dem Sit-in haben die Eltern in aller Regel ein großes Bedürfnis, von ihren Erlebnissen zu berichten. Mit folgenden Fragen können Eltern zum Sit-in in einer wertschätzenden Analyse befragt werden: – Wie sind Sie eingetreten? – Wo haben Sie gesessen? – Was haben Sie gesagt? – Wie haben Sie sich gefühlt? – Wie geht es Ihnen jetzt mit Ihren Erfahrungen aus dem Sit-in? – Was hat Ihnen am Verhalten Ihres Partners geholfen? – Was würden Sie sich für das nächste Mal wünschen? Auch die Erlebnisse mit der Telefonkette sind für Eltern mitunter sehr aufwühlend, weil sie mit großen Kraftanstrengungen und der Überwindung der eigenen Scham verbunden sind. An dieser Stelle können Eltern gefragt werden, ob sich etwas in ihrer Haltung zum Kind verändert hat und welche kleinen Veränderungen sie bei sich selbst im Alltag wahrnehmen, beispielsweise in der Anwendung der Deeskalationsstrategien. Es gilt, Eltern im Coaching immer wieder zu ermutigen und durch genaues Fragen eine Sensibilität für die Veränderungsprozesse zu Hause anzuregen. Auch sollten Eltern ermutigt werden, in ihren Bemühungen nicht nachzulassen.

Rückfallprävention Die verbleibende Zeit und eventuell weitere Sitzungen gilt es fortan individuell zu gestalten. Leitend bei der weiteren Rückfallpräventionsarbeit sind die spezifischen Gegebenheiten der Familie: – die Anliegen und das Erleben der Eltern (siehe Korbübung), – die Qualität der Eskalationen in der Familie, – und das Verhalten des Kindes.

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Es kann auch an dieser Stelle die Notwendigkeit auf Erweiterung des Stundenbudgets deutlich werden, da Eltern noch stärkere Unterstützung seitens der Therapeuten benötigen. Vor allem in der Beratung von Eltern mit stark verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen zeigen die bisherigen Erfahrungen in Deutschland, dass sechs Sitzungen oft nicht ausreichen, sondern vielfach länger ausgedehnt werden. Die Eltern benötigen dann noch längerfristige Begleitung, nach einer Intensivphase unter Umständen mit etwas weiter gestreckten Sitzungen. Im Sinne einer Bilanzierung kann auch die »Korbübung« noch mal aufgegriffen werden, um zu sehen, welche Ziele aus dem roten Korb erreicht wurden und welche Anliegen aus dem gelben Korb noch anstehen. Es bietet sich außerdem an, zum Anfang des Coachings zurückzukehren, um Rückschau auf den bisherigen Prozess mit folgenden Fragen zu halten: – Was waren damals Ihre Wünsche, Ideen, Sehnsüchte, als wir begannen? – Wie haben sie sich in der Folgezeit entwickelt? – Was war hilfreich? Was haben Sie bekommen und genommen? – Was bleibt offen? – Spüren Sie in Ihrem eigenen Erleben Veränderungen seit Beginn des Coachings? – Trauen Sie sich Dinge zu, vor denen Sie früher zurückgeschreckt sind? – Haben Sie an sich selbst Fähigkeiten entdecken können, die Ihnen im Vorfeld verborgen geblieben sind? Es gilt in der Beratung auch Zeit zu finden, das Leid der Eltern anzunehmen und sie zu ermutigen, über den Coachingprozess hinaus weiter Kraft und Zeit in das Kind zu »investieren«. Auch wenn die elterlichen Anstrengungen durch das Coaching erheblich gewachsen sind, kann keine »Erfolgsgarantie« gegeben werden, was Eltern oftmals mutlos und verzweifelt werden lässt. Auch wenn das Coaching in der Familie eine De-eskalation bewirkt hat und das »große Problem« gelöst worden ist, zeigen die Erfahrungen, dass die »kleinen Probleme« langfristig zwischen Eltern und Kind bleiben. In diesem Zusammenhang gilt es, die Eltern auf mögliche Rückschläge vorzubereiten und Trost zu spenden, wenn Eltern an ihrer Erschöpfung und Situation verzweifeln. Der Hinweis darauf, dass es normal ist, zwischenzeitlich zu verzagen und den Mut zu verlieren, weil die elterliche Beharrlichkeit ein kräftezehrender Prozess ist, kann dabei entlastend sein. Omer, Alon und von Schlippe (2007) sprechen in diesem Zusammenhang von einer tragischen Haltung als Gegengewicht zu einer, die von der Machbarkeit aller menschlichen Belange ausgeht. Eine »tragische Haltung« erkennt die Begrenztheit menschlichen Strebens und die Vorläufigkeit aller Lösungen an. Vielleicht hilft das Einnehmen einer solchen Haltung dabei, die Enttäuschungen im Umgang mit dem Kind besser verarbeiten zu können. Denn, wenn Eltern nichts unternehmen, würde sich die Situation mit hoher Wahrscheinlichkeit noch verschlimmern, während das Aufrechterhalten der elterlichen Präsenz über die Pubertät hinweg die Gefahr weiterer Eskalationsprozesse und des »Entgleitens« zumindest reduziert. Auch spricht die Erfahrung dafür, dass die Zeit für die Eltern arbeitet,

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weil Jugendliche in der Pubertät wesentlich anfälliger sind als im jungen Erwachsenenalter. Um den Blick dennoch hoffnungsvoll in die Zukunft zu richten, könnte abschließend die Arbeit mit einer Zeitleiste mit folgenden Fragen stehen: – Angenommen, wir wären zehn Jahre weiter: Was werden Sie fühlen und denken, wenn Sie auf diese anstrengende Zeit zurückschauen? – Angenommen, Sie hätten alles beim Alten gelassen, wo würden Sie dann in zehn Jahren stehen? – Wie wird Ihr Kind als Erwachsener retrospektiv Ihre Anstrengungen zur Stärkung der elterlichen Präsenz bewerten?

Abschluss Vielleicht sollte den Eltern an dieser Stelle ein kleines symbolisches Geschenk, ein »Kraftsymbol« mit auf den Weg gegeben werden, etwas, was Hoffnung und Stärke ausdrückt: beispielsweise ein besonderer Stein, eine schöne Karte, eine getrocknete Blume, Früchte der Natur oder eine gelungene Karikatur zum Thema. Auch hat es sich bewährt, die therapeutische Präsenz auch langfristig aufrechtzuerhalten mit dem Angebot, den Eltern bei weiteren Krisen als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen und den »Notfallkoffer« Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand immer wieder zu öffnen.

Literatur Asay, T., Lambert, M. (2001). Empirische Argumente für die allen Therapien gemeinsamen Faktoren: quantitative Ergebnisse. In M. Hubble, B. Duncan, S. Miller (Hrsg.), So wirkt Psychotherapie. Dortmund: Modernes Lernen. Conen, M.-L. (1999). Unfreiwilligkeit – ein Lösungsverhalten. Familiendynamik, 24 (3), 150–165. Chamberlain, P., Patterson, G. R. (1995). Discipline and child compliance in parenting. In M. H. Bornstein (Hrsg.), Handbook of Parenting (S. 205–225). Bd. 1. Mahwah, NJ. Dodge, K. (1993). Social-cognitive mechanisms in the development of conduct disorder and depression. Annual Review of Psychology 44, 559–584. Döpfner, M., Schürmann, S., Fröhlich, J. (1997). Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellen Problemverhalten THOP. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union. Erikson, E. H. (1968). Identity, youth and crisis. New York: Norton (Deutsche Ausgabe: Jugend und Krise. Stuttgart: Klett, 1974). Greene, R. (2001). The Explosive Child. New York. Kolvin, I., Miller, F. J. W., Fleeting, M., Kolvin, P. A. (1988). Social and parenting factors affecting criminal offence rates: Findings from the Newcastle Thousand Family Study (1947–1980). British Journal of Psychiatry, 152, 80–90.

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Omer, H., Schlippe, A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Alon, N., Schlippe, A. von (2007). Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Patterson, G. R., Dishion, T. J., Bank, L. (1984). Family interaction: a process model of deviancy training. Aggressive Behavior, 10, 253–267. Pleyer, K. H. (2003). »Parentale Hilflosigkeit«, ein systemisches Konstrukt für die therapeutische und pädagogische Arbeit mit Kindern. Familiendynamik, 28 (4), 467–491. Steinberg, L. (1986). Latchkey children and susceptibility to peer-pressure: An ecological analysis. Developmental Psychology, 22, 433–439.

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Waltraud Danzeisen

WieElternsichinGruppenunterstützenkönnen

Waltraud Danzeisen

Wie Eltern sich in Gruppen unterstützen können, wenn die elterliche Präsenz bedroht ist

»Von unseren Schwierigkeiten zu erzählen und zu sehen, dass es auch anderen so geht, das war wichtig.« (Zitat einer Mutter)

Einleitung Elternbildung, Kurse und Seminare werden in letzter Zeit zu unterschiedlichsten Themen angeboten, meist, um Väter und Mütter im Vorfeld von manifesten Erziehungsschwierigkeiten zu stärken. Im Rahmen der Arbeit einer Psychologischen Beratungsstelle für Eltern, Kinder, Jugendliche gilt es größtenteils, Familien in akuten oder chronischen Krisen zu begleiten. Fast immer stellt mindestens ein Kind durch sein Verhalten und seine Entwicklungsbedürfnisse besondere Anforderungen an die Fähigkeiten der Erziehungspersonen. Gruppenangebote für Eltern an unserer Erziehungsberatungsstelle in Freiburg orientieren sich daher meist an den aktuellen und gehäuften Fragestellungen von Eltern, die sich im gleichen Zeitraum beraten lassen. Ergänzend zur Einzelbegleitung von Müttern und Vätern entstand daher im Jahr 2004 die Idee, mehrere Eltern, deren 14- bis 17-jährige Töchter zu fremdoder selbstdestruktivem Verhalten neigten, in einer Gruppe zu unterstützen. Die Hoffnung war, die durch Angst und Scham eher isolierten Eltern durch die Gruppe aus ihrer Einsamkeit mit ihren Sorgen herauszuholen. Zudem waren wir uns sicher, dass sie an den Abenden gegenseitig voneinander lernen und profitieren können (Gruppenangebot 1). Des Weiteren bieten wir seit 2004 regelmäßig ein Konflikttraining für Eltern mit Kindern im Vor- und Grundschulalter an. Es hat den Titel »Wirkungsvolle und gewaltfreie Kommunikation mit Kindern in Konfliktsituationen«. Hier sollen die Eltern erreicht werden, die Unterstützung in alltäglichen Auseinandersetzungen mit ihren Kindern suchen (Gruppenangebot 2)8. 8 An dieser Stelle sind meine Kolleginnen Angret Beske und Heidrun Kiessl zu erwähnen, mit denen ich jeweils ein Elternangebot leitete und noch leite.

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Wie Eltern sich in Gruppen unterstützen können

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Elterncoaching nach dem Modell des gewaltfreien Widerstands im Kontext einer Familien- und Erziehungsberatungsstelle In der täglichen Beratungsarbeit einer Psychologischen Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche begegnen wir vielen Müttern und Vätern, die den Zornesausbrüchen und destruktiven Handlungen ihrer Kinder und Jugendlichen ratlos gegenüber stehen. Zum Teil suchen Eltern Hilfestellung, wie sie auf dieses Verhalten der Kinder erfolgreicher reagieren können. In einigen Familien ist der Teufelskreis der destruktiven Konfliktlösung schon sehr weit fortgeschritten, so dass es sowohl seitens der Eltern als auch seitens der Jugendlichen zu verbaler und körperlicher Gewalt kommt oder zumindest in der Vergangenheit gekommen ist. Laut Report 2005 des Bundesjustizministeriums zur Familiengewalt lehnen 90 % der Eltern Gewalt in der Erziehung ab. Wird es jedoch stressig, so erteilt gut die Hälfte ihrem Kind eine Ohrfeige und drei Viertel einen Klaps auf den Hintern. Verbale Repressionen wie Anschreien, Drohen und Abwerten ist bei 48 % der Erwachsenen die Reaktion, wenn sie hilflos werden. Dies entspricht unserer Beobachtung in der Arbeit mit Eltern und ihren Kindern. Gleichzeitig nehmen destruktive Handlungen älterer Kinder gegenüber ihren Eltern (Zerstören von Gegenständen, Eintreten von Türen, verbale und körperliche Erniedrigung und Bedrohung) eher zu, inzwischen leider auch bei den Mädchen. Diese werden zu Beginn einer Beratung häufig verschwiegen, da sich die Eltern dafür schämen und die Schuld bei sich selbst suchen. Diese Mütter und Väter haben zumeist resigniert und neigen zum Rückzug aus der Elternverantwortung oder stehen kurz davor, Sohn oder Tochter in eine stationäre Erziehungshilfeeinrichtung zu geben. Das Zusammenleben hat sich auf die täglichen Konflikte eingeengt. Bedürfnisse der Kinder nach Liebe, Anerkennung, Halt und Orientierung können von den Eltern fast nicht mehr bemerkt werden. Mütter und Väter fühlen sich größtenteils am Ende ihrer Kräfte. Das Elterncoaching nach dem Modell des »gewaltlosen Widerstands« (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004) ist in der Alltagsarbeit von Erziehungsberatungsstellen daher bestens zu nutzen, auch wenn je nach Situation und Anliegen der Betroffenen lediglich Bausteine daraus zur Anwendung kommen.

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➪ 1. Elterngruppe für Mütter und Väter von jugendlichen Mädchen mit fremd- und/oder selbstdestruktivem Verhalten: »Gewaltloser Widerstand in der Erziehung« Rahmen und Angebot Begonnen wurde mit sieben Personen: zwei Elternpaare, eine alleinerziehende Mutter mit zwei »Sorgentöchtern«, ein Vater, dessen Frau nicht teilnahm und eine Mutter, deren Mann nicht teilnahm. Die letztere entschied sich nach dem ersten Treffen nicht mehr teilzunehmen, da die Tochter vorerst ganz verschwunden und nicht auffindbar war. Die Gruppe traf sich wöchentlich an vier Abenden für jeweils zwei Stunden in den Räumen der Beratungsstelle. Nach weiteren zwei Monaten fand ein Nachtreffen statt.

Verhalten der Mädchen und Situation der Eltern Die vier Mädchen im Alter von 14 bis17 Jahren zeigten folgendes Verhalten: – alle hatten Leistungsprobleme in der Schule bis hin zu Schulschwänzen und Unterrichtsausschluss; – alle zeigten verbale und körperliche Gewalt gegenüber Eltern, Geschwistern oder anderen; – Zwei der Mädchen hatten wegen Schlägereien mit anderen Jugendlichen ein Jugendstrafverfahren erhalten; – Familienregeln wurden nicht mehr oder nur noch selten eingehalten; – die Mädchen kamen abends spät nach Hause und blieben teilweise ein bis zwei Nächte unerlaubt vom Elternhaus fern; – übermäßiger Alkoholkonsum bis hin zu einer Alkoholvergiftung und Notaufnahme im Krankenhaus; – übermäßiges Geldausgeben und Verschuldung; – Lügen und Stehlen; – zwei Mädchen hatten starkes Übergewicht und ein maßloses Essverhalten. Die Schwierigkeiten bestanden seit einem halben bis zu einem Jahr, wobei sich die Probleme schon länger angebahnt und inzwischen zugespitzt hatten. Die Mädchen hatten mindestens ein, zum Teil bis zu fünf Geschwister, die häufig unter den familiären Anspannungen litten und oft selbst Opfer von psychischer und körperlicher Unterdrückung der Schwestern waren. Die Elternpaare berichteten alle von entstandenen Differenzen in Fragen der Erziehung bis hin zu Eheproblemen. Bei einem getrennten Vater, der nicht an der Gruppe teilnahm, lag eine psychische Erkrankung vor. In den Herkunftsfamilien wurden von zwei Müttern Suchtprobleme benannt. Die Eltern erhielten alle vor Gruppenbeginn und parallel dazu Einzelbe-

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ratungen. Zwei Elternpaare wurden in diesem Rahmen überwiegend nach dem Modell des gewaltfreien Widerstands gecoacht.

Das erste Treffen mit den Eltern Der erste Abend war vorwiegend dem gegenseitigen Kennenlernen gewidmet. Die Eltern sollten Vertrauen in die Gruppe entwickeln. Um dies zu erreichen, wurden sie mit Hilfe von Holzfiguren (Material des Familienbretts) aufgefordert, ihre Familie aufzubauen und reihum vorzustellen. Zudem sollten sie irgendetwas benennen, das ihnen als Eltern trotz »Sorgenkind« gut gelingt. Im weiteren Verlauf stellten wir die Frage nach den Erwartungen: »Was müsste für Sie klarer sein und was möchten Sie für sich selbst erreichen, damit Sie mit den Elternabenden zufrieden sind?« Die Eltern nannten hierzu folgende Anliegen: – Welche üblichen Absprachen und Regeln sollten für Mädchen in diesem Alter gelten? – Welche Konsequenzen sind bei Nichteinhaltung hilfreich? – Wie kann ich als Mutter/Vater Konflikteskalationen mit meiner Tochter stoppen? – Wie kann ich die Geschwister schützen? – Wie viel Freiraum gebe ich – wie viel Grenzen setze ich als Mutter/Vater? – Austausch mit anderen Eltern Auch wir als Leiterinnen stellten unsere Ideen für Möglichkeiten und Grenzen der geplanten Elterntreffen vor: – Die Teilnehmenden sollen gestärkt werden, schwierige Situationen mit ihren Kindern zu bewältigen. – Wir wollen uns mit den Eltern auf die Suche begeben, wie sie die Beziehung zu ihren Töchtern wieder verbessern können. – Wir haben Ideen, wie sie sich in eskalierenden Konfliktsituationen verhalten könnten. – Wir haben keine Patentrezepte. – Wir wissen um die große Belastung der Mütter und Väter, werden in der Gruppe nicht allen Anliegen gerecht werden können, bieten daher auch weiterhin Einzelberatungen an. Das Erleben, nicht die einzigen Eltern mit so massiven Schwierigkeiten zu sein, war nach unserer Beobachtung der größte Effekt des ersten Zusammentreffens.

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Bausteine und Verlauf der weiteren Treffen Die Folgetermine gestalteten sich sehr unterschiedlich. Zum einen hatten wir Inhalte und Übungen dazu aus dem Konzept des gewaltlosen Widerstands vorbereitet, zum anderen wollten wir den Prozess der Gruppe aufgreifen. Zum gewaltfreien Widerstand in der Erziehung haben wir lediglich die Grundhaltung und ausgewählte Bausteine eingebracht: – Was ist unter elterlicher Präsenz und gewaltlosem Widerstand in der Erziehung zu verstehen? – Kennzeichen von destruktiven und konstruktiven Machtkämpfen – Symmetrische und komplementäre Eskalationsmuster und Ausstieg aus dem Machtkampf – Möglichkeiten der eigenen Deeskalation – Erfahrungen und Prinzipien des Aufschubs und des Nicht-Hineingezogenwerdens – Telefonrunden und Nachgehen – Öffentlichkeit schaffen, Unterstützung mobilisieren – Gesten der Liebe, Wertschätzung und Achtung – »Versöhnungsgesten« Zu den einzelnen Themen erhielten die Eltern überschaubare Unterlagen ausgehändigt, die von mir auf der Grundlage des ersten Elternhandbuches und eines Seminars bei H. Omer erstellt wurden. Viel Zeit und Raum war für den Austausch über zwischenzeitliche Ereignisse und Erlebnisse mit den Töchtern und den Umgang mit diesen notwendig. Aktuelle Notsituationen wurden besprochen und die Eltern gaben sich gegenseitig Tipps und Anerkennung. Beispielsweise kam ein Vater zu spät zur Gruppe, da er zuvor noch auf der Suche nach der alkoholisierten Tochter war. Gleichzeitig wurde es immer wichtiger, über Erfolge und gute Momente mit den Kindern berichten zu können.

Rückmeldungen der Eltern zur Gruppe Nach vier Elternabenden baten wir die Teilnehmer und Teilnehmerinnen mit folgenden Fragen um ein Feedback: 1. Welche Erfahrungen in der Gruppe waren für Sie wichtig und hilfreich? Was war schwierig oder was hat Ihnen gefehlt? 2. Welches ist oder war für Sie selbst der wichtigste Lernschritt im Umgang mit Ihrer Tochter? Die wichtigsten Rückmeldungen werden hier aufgeführt: – »Hören und Erleben, dass es anderen auch so geht.« – »Das Erzählen war hilfreich und dass wir aus der Isolation rauskamen.«

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– »Die schwierige Situation wurde erträglicher, da ich gemerkt habe, es ist noch nicht das Schlimmste, was eintreffen könnte.« – »Ich habe erkannt, dass meiner Tochter in ihrem Alter die Regeln klar sind. Ich kann mich nur noch selbst verändern.« – »Ich darf nicht so schnell aufgeben – es darf nicht zu einer Hassbeziehung kommen, das ist schwierig.« – »Ich kann für meine Tochter präsent bleiben, an ihr dran bleiben.« – »Das Aufschieben, sich Zeit lassen in Konfliktsituationen.« Ein Vater formulierte es in einem Brief später mit folgenden Worten: Im Sommer waren wir in unserer Familie soweit, dass wir nicht mehr wussten, wie wir mit unserer Tochter klarkommen sollen. Die Familie war kurz davor zu zerbrechen. In dieser Situation sind wir durch den Tipp einer Bekannten bei der Beratungsstelle gelandet. Während dieser Zeit der gezielten Beratung haben wir doch Einiges gelernt, und, so hoffe ich, das Leben in unserer Familie wieder lebenswerter gemacht. Was uns geholfen hat: – – – – – –

die Gespräche außerhalb der Familie in der Beratungsstelle, die Tipps des »gewaltlosen Widerstands«, zu lernen, sich ohne Geschrei zu unterhalten, ruhig, sachlich, beherrscht und beharrlich zu bleiben, unserer Tochter klare Grenzen zu setzen, zu lernen, uns selbst zu ändern.

Auswirkungen auf die Eltern aus professioneller Sicht Die Eltern erlebten die Treffen durchweg als sehr hilfreich. Bei allen reduzierte sich die Symptomatik der Töchter im Verlauf eines halben Jahres auf ein für die Eltern akzeptierbares Maß, wobei längst nicht alle Schwierigkeiten gelöst waren. Indem die Eltern durch Gruppe und Einzelberatung an ihrer Haltung den Töchtern gegenüber und an ihrem eigenen Verhalten arbeiteten, somit zur Deeskalation der Konflikte beitrugen, verbesserte sich die Beziehung zu den Kindern. Mütter und Väter konnten in der Elterngruppe eher den Blick auf die wesentlichsten Ziele für ihre Töchter schärfen, mehr die angestrebte gute Beziehung zu ihnen in den Blick nehmen und auf eigene Erfolge schauen. Die eingeengte Sicht auf die Probleme konnte wieder erweitert und ergänzt werden. In den Treffen unterstützten sie sich gegenseitig, was ihnen Mut und Kraft gab, durchzuhalten. Für einige war es der erste Schritt, aus der Einsamkeit mit ihren Sorgen herauszutreten. Wir beobachteten, dass durch das Erleben der Schwierigkeiten anderer Eltern die Schuld- und Schamgefühle abnahmen und die Mütter und Väter selbstbewusster in ihrer Haltung und in ihrem Handeln wurden. Aus unserer Sicht wurden durch die Gruppentreffen die eigenen Entwicklungsprozesse der Eltern beschleunigt. Sie

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konnten die Bedürfnisse ihrer Kinder wieder mehr sehen und sich selbst Anerkennung für ihr Handeln und Durchhalten geben. In einer mündlichen Nachbefragung, etwa ein Jahr nach Abschluss der Elterngruppe, berichteten alle, dass sich die Konflikte mit ihren Töchtern auf ein viel erträglicheres Maß reduziert haben. Drei der Mädchen lebten noch zu Hause und gingen ihren schulischen Verpflichtungen oder ihrer Ausbildung regelmäßig nach. Eine volljährige Jugendliche befand sich aufgrund einer depressiven Erkrankung in stationärer psychiatrischer Behandlung.

➪ 2. Elternkurs: »Wirkungsvolle und gewaltfreie Kommunikation in Konfliktsituationen« Dieser Elternkurs soll vor allem die Eltern erreichen, die sich neben anderen Entwicklungsfragen zu ihren Kindern in alltäglichen Konfliktsituationen mit diesen schwer tun. Es sind dies Situationen wie das Verhalten beim Essen, Zähne putzen, Zubettgehen, Hausaufgabenzeit, Nichthören und Nichteinhalten von Grenzen bis hin zu aggressivem Verhalten der Kinder im Zusammenhang mit diesen Alltagssituationen. Insofern sollen mit diesem Angebot Mütter und Väter frühzeitig erreicht werden und Ideen und Handlungsmöglichkeiten erhalten, wie sie selbstbewusst, klar und präsent für ihre Kinder bleiben können.

Rahmen und Angebot Der Kurs wird für Eltern angeboten, die in der Beratungsstelle unterschiedlichste Hilfestellungen in Anspruch nehmen, jedoch auch für solche, die davon über Schülerhorte, Kinderärzte oder Kindergärten erfahren. Es bewährte sich eine Teilnehmerzahl von acht bis zehn Personen, da bei dieser Gruppengröße ein offenerer Austausch ermöglicht wird. Zudem wird das Seminar an einem Samstag für sechs Stunden durchgeführt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Eltern mit Vor- und Grundschulkindern eher an einem ganzen Seminartag am Wochenende teilnehmen. Die Einhaltung regelmäßiger Abendtermine ist für sie aus unterschiedlichsten Gründen schwieriger.

Situation der Eltern und Kinder Die Mütter und Väter hatten die Schwierigkeit, dass sie Auseinandersetzungen mit ihren Söhnen und Töchtern sehr unbefriedigend erleben, das Kind sehr »mächtig« und stark und sich selbst eher hilflos wahrnehmen und ihnen dann auch mal die »Hand ausrutscht«. Die dazugehörigen Kinder zeigten größtenteils unterschiedlichste Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten.

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Wie Eltern sich in Gruppen unterstützen können

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Inhalte der Treffen Der Verlauf des Seminars wurde unsererseits sehr klar strukturiert und geleitet. Neben theoretischen Impulsen für alle wurden praktische Übungen in Kleingruppen und Zeit für Austausch und spezielle Fragestellungen angeboten. Erlebnisorientierte Methoden wurden von den Teilnehmenden sehr geschätzt. Von großer Bedeutung und Wirkung ist die gemeinsam gestaltete Mittagspause. Die Bausteine und Inhalte des Kurses werden hier kurz skizziert: – gegenseitiges Kennenlernen und Motivation zur Teilnahme; – Wahrnehmungsübung zur eigenen Kindheit: »Erinnern Sie sich an eine Situation in ihrer Kindheit, in der Sie mit Ihrer Mutter oder mit Ihrem Vater in einen Machtkampf verstrickt waren. Welche Gefühle und Gedanken hatten Sie als Kind? Was hätten Sie sich von Ihrer Mutter, Ihrem Vater gewünscht?«; – Reflexion des erlebten und eigenen Erziehungsstils; – Standortbestimmung zu eigenen Konfliktmustern und deren Würdigung; – Übungen zu eigenen Bedürfnissen und Gefühlen und deren der Kinder; – Kennzeichen von konstruktiven und destruktiven Machtkämpfen – Eskalationskreisläufe; – Erarbeitung eigener Deeskalations- und Ausstiegsstrategien, Vorstellung des Prinzips des Aufschubs und Nicht-Hineingezogenwerdens; – Einüben der Bewältigung eines Konflikts mit dem eigenen Kind anhand des VierSchritte-Modells der gewaltfreien Kommunikation nach M. Rosenberg: 1. Beobachtung ohne Bewertung/konkrete Handlung: »Welche Handlung stört Sie?« 2. Gefühl: »Wie fühlen Sie sich dabei?« 3. Bedürfnisse, Werte, Wünsche: »Um welches Bedürfnis geht es Ihnen?« 4. Bitte um konkrete Handlung: »Worum bitten Sie, um Ihr Bedürfnis zu erfüllen?«

Rückmeldungen der Eltern und Auswirkungen Hilfreich erlebten die Mütter und Väter – das sehr konkrete Üben an eigenen Konflikten mit den Kindern, – das Überdenken des eigenen Verhaltens in Streitsituationen, – die Ideen zur eigenen Deeskalation, – die Möglichkeit, in Ruhe ein Thema zu bearbeiten, – den Austausch mit anderen Eltern. Eine Gruppe äußerte den Wunsch nach einem zweiten, kürzeren Treffen zur Reflexion und Vertiefung, das unsererseits folglich angeboten wurde. Inzwischen trifft sich ein Teil der Mütter selbst organisiert und unabhängig von der Beratungsstelle. Auf die Frage nach ihrer zwischenzeitlichen Entwicklung berichteten die Frauen, dass sie gelassener geworden seien und wieder mehr Interesse an den Gefühlen und

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Bedürfnissen ihrer Kinder hätten. Die Machtkämpfe kämen seltener vor und die neuen Konfliktlösestrategien würden helfen, eher Kompromisse zu finden. Insgesamt habe sich der Kontakt und die Beziehung zu den Kindern verbessert. Für sich selbst benannten die Eltern Gefühle von Stolz, Erleichterung und innerer Stärkung. Als besonders hilfreich wurden die ersten beiden Schritte der gewaltfreien Kommunikation (wertfreie Beobachtung und eigenes Gefühl) erwähnt. Sie haben aus Sicht der Mütter wesentlich dazu beigetragen, aus alten Konfliktmustern auszusteigen und mit dem Kind nicht mehr um die »Macht« zu kämpfen. Für alle war eine positive Reaktion der Kinder auf das neue Verhalten zu spüren. Bei diesem Kurs nahmen eher Mütter, weniger Väter teil. Das Erleben, dass auch andere Eltern Fragen und Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Kindern haben, war auch bei diesem Elternangebot ein sehr maßgebliches Moment. Neben den konkreten Ideen zum Umgang mit Konflikten war nach unserer Einschätzung vor allem der Blick auf die Stärken und Fähigkeiten der Eltern von Bedeutung. Die Angst, dass Sohn oder Tochter völlig entgleiten könnten, war extrem groß. Das Kind nicht »besiegen« zu müssen, um es letztlich lenken zu können, war für einige Eltern ein neuer Gedanke, der sie sehr entlastete und neue Erfahrungen ermöglichte. Sie konnten ihre Aufmerksamkeit eher auf das eigene Verhalten und ihre Gefühle und Bedürfnisse lenken. Zum Teil erkannten sie, dass diese nicht immer mit dem konkreten Verhalten des Kindes in Zusammenhang steht, sondern eigene innere Vorwürfe, Schuldgefühle und Kindheitserfahrungen eine bedeutende Rolle spielen. Im zweiten Treffen rückten diese Themen mehr in den Mittelpunkt. Ein sehr wichtiges und durch das Angebot natürlich nicht endgültig gelöstes Thema blieb daher für Mütter und Väter die Steuerung der eigenen Wut und daraus folgende Eskalationen im Umgang mit ihren Kindern. Sehr schwierig erlebten die Gruppenteilnehmerinnen die Reaktionen von Freunden und Verwandten auf ihr neues »gewaltfreieres« Verhalten. Sie erfuhren, dass sie hier größtenteils eher Überzeugungsarbeit leisten mussten, anstatt die gewünschte Unterstützung zu erhalten. Ebenso war der Einbezug des Partners, der nicht am Kurs teilgenommen hatte, eine eher schwierige Aufgabe. Diese von der deeskalierenden Haltung zu überzeugen, sei nicht immer gelungen.

Fazit Die Intention, Eltern im Rahmen von Familien- und Erziehungsberatung nicht nur in Einzelgesprächen, sondern auch in Gruppen zu unterstützen, hat sich bewährt. Unsere Erfahrungen weisen darauf hin, dass gerade dann, wenn Kinder und Jugendliche aggressive, gewalttätige und selbstdestruktive Verhaltensweisen zeigen und die elterliche Präsenz bedroht ist, Mütter und Väter wertvolle zusätzliche Hilfestellung in einer Elterngruppe erfahren können. Die Haltung und Maßnahmen des »gewaltlosen Widerstands« und die Einstel-

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lungen und Vorgehensweisen der »gewaltlosen Kommunikation« wurden sowohl von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen als auch von den Leiterinnen als sehr hilfreiche und nutzbare Konzepte erlebt. Im ersten Gruppenangebot konnten Eltern in größter Not erleben, dass sie mit ihren schwerwiegenden Problemen mit ihren Töchtern nicht allein sind und das Sprechen darüber sehr entlastend wirkt. Sie kamen bereits durch die Treffen aus ihrer Isolierung heraus und wurden wieder mutiger und selbstbewusster. Zusammen mit anderen Eltern gelang es ihnen eher, das eigene Verhalten und eine gewaltfreie Haltung ins Zentrum der Veränderung zu stellen. Die Anstrengungen für eine erneute positive Beziehung zu ihrer Tochter konnten wertvoller und effektiver bewertet werden als das Streben nach Kontrolle und vermeintlich wirkungsvollen Konsequenzen oder Strafen. Handlungsoptionen, die durch das Konzept des gewaltlosen Widerstands zur Verfügung gestellt wurden, vor allem das Austreten aus dem Machtkampf, ließ sie erneut aktionsfähiger und präsenter für ihre Kinder werden. Der feste Entschluss der Eltern, das Zusammenleben und die Konflikte mit dem eigenen Kind selbst zu bewältigen und es nicht an »Professionelle« abzugeben, wirkte sich auf die Töchter und deren Verhalten sehr schnell positiv aus. Ihrem Bedürfnis nach Halt und Orientierung wurde dadurch mit einem klaren Signal entsprochen. Dieser Entwicklungsprozess war allerdings teilweise in Einzelgesprächen vor Gruppenbeginn notwendig und festigte sich anschließend recht schnell durch die Elternabende. Mit dem zweiten Gruppenangebot ist es ebenfalls gelungen, dass Mütter und Väter mit ihren Sorgen und Schwierigkeiten in eine »kleinere« Öffentlichkeit getreten sind und die Kontakte zum Teil in eine längerfristige und gegenseitige Unterstützung mündeten. Für die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle hat sich der zunächst zusätzliche, zeitliche Aufwand für die Elterngruppen letztendlich gelohnt, da die Eltern recht schnell weniger Einzelgespräche in Anspruch nahmen und deren Entwicklungsprozesse durch die Erfahrungen mit anderen Betroffenen deutlich beschleunigt wurden.

Literatur Bundesministerium für Justiz (Hrsg.) (2005). Report über die Auswirkungen des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Berlin. Omer, H., Schlippe, A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rosenberg, M. B. (2001). Gewaltfreie Kommunikation. Aufrichtig und einfühlsam miteinander sprechen. Paderborn: Junfermann.

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Tätigkeitsbericht 2003 bis 2005 der Psychologischen Beratungsstellen für Eltern, Kinder, Jugendliche und Heilpädagogischen Horte der Stadt Freiburg im Breisgau. Elterliche Autorität durch Beziehung und gewaltfreie Kommunikation in der Erziehung, Durchführung von Elterngruppen in der Beratungsstelle Weingarten.

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Grenzensetzenistnichtschwer

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Grenzen setzen ist nicht schwer, sie einzuhalten umso mehr! Manual zur Durchführung eines Elterncoachings zum bewussten Umgang mit elterlicher Präsenz

Vorbemerkung Dieses Konzept ist gedacht für die Arbeit mit einer Elternselbsthilfegruppe. Es orientiert sich an dem Elternmanual von Omer und von Schlippe (2004). In den täglichen Beratungen, die im Rahmen der Arbeit von Erziehungsberatungsstellen für Eltern, Kinder und Jugendliche stattfinden, treffen wir zur Zeit häufig auf ein ähnliches Bild innerhalb der Familien: Immer mehr Eltern haben Angst, ihren Kindern klare Grenzen zu setzen, die eigenen Grenzen deutlich zu machen, Tabelle 1: Konzeption des Elterncoachings Bedarf:

gehäuftes Auftreten von Erziehungsschwierigkeiten in Familien

Angebot:

Elterncoaching

Legitimation:

Prävention im Rahmen von § 27, 28 KJHG

Zielgruppe:

Eltern, die Erziehungsschwierigkeiten haben

Fernziele:

– Eltern in ihrer Präsenz und ihrer Erziehungskompetenz stärken – Kindern Stabilität und innere Sicherheit durch »präsente Eltern« geben

Nahziele:

– der Verunsicherung von Eltern entgegenwirken – ihre Einflussmöglichkeit anhand von Methoden verbessern – elterliche Ängste ansprechen – alternative Sichtweisen anbieten – Verhaltensänderungen ermöglichen

Methoden:

– Kurzreferate zur theoretischen Hintergrundinformation – praktische Übungen mit dem Ziel der Selbstreflexion – Austausch in der Gruppe

Organisatorische – Das Elterncoaching findet in vier Einheiten einmal pro Woche statt. Umsetzung: – Die Gruppe sollte nicht mehr als 15 Personen umfassen. – Der zeitliche Rahmen umfasst etwa 2,5 Stunden pro Abend. – Gegebenenfalls findet nach circa zehn Wochen ein Follow-up-Abend statt. Auswertung:

– Am Ende des Coachings findet sowohl eine mündliche Auswertung in der Gruppe als auch eine individuelle schriftliche Auswertung in der Form von Fragebögen statt. – Es kann nach einer zehnwöchigen Pause eine weitere Einheit durchgeführt werden, um die in der Zwischenzeit angewandten Methoden und damit gemachten Erfahrungen besser auswerten zu können.

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Verbote auszusprechen und ein Regelwerk aufzustellen, das für die Kinder transparente Konsequenzen beinhaltet. Die Eltern sind in ihrem Erziehungsverhalten verunsichert, sie lassen sich an den Rand der Familie drängen und verlieren ihre »elterliche Stimme« (vgl. Omer u. von Schlippe, 2002, S. 19ff.). Ihr vorherrschendes Gefühl ist das der Hilflosigkeit, das Gefühl, ihren eigenen Kindern irgendwie ausgeliefert zu sein und an Einflussmöglichkeiten ihnen gegenüber zu verlieren. Die Kinder werden dadurch immer mächtiger, sie provozieren und testen ihre Grenzen – die sie oft nicht mehr spüren. Die Familie verstrickt sich in ein Muster aus Teufelskreisen, die nicht selten in Eskalationen enden. Eltern fehlen oft Handlungsstrategien, mit denen sie auf ein Problemverhalten ihrer Kinder reagieren können. Oder sie machen mehr desselben und tragen zu Eskalationen bei, obwohl sie sie begrenzen wollen. Ziel des hier vorgestellten Coachings in Elterngruppen ist es, an dieser Stelle anzusetzen und Eltern mittels bestimmter Methoden mehr Sicherheit im Erziehungsprozess zu geben, ihren Handlungsspielraum zu erweitern und so ihre elterliche Präsenz wiederherzustellen. Einen Überblick über die Konzeption bietet Tabelle 1 (die erwähnten Folien finden sich im Anhang ab S. 154). Das Manual beginnt mit einer tabellarischen Übersicht über Themen, Zielvorstellung, Zeiteinteilung und die benötigten Materialien jeder einzelnen Kurseinheit. Anschließend folgt die detaillierte Darstellung des Ablaufes jeder Einheit, einschließlich der Anleitungen zu den praktischen Übungen. Im Anhang finden sich Materialien, die für das Coaching verwendet werden können.

➪ Verlauf der ersten Kurseinheit Tabelle 2: Übersicht über die erste Kurseinheit Top/Inhalt

Ziel

Material

Zeit

1. Begrüßung und Einfüh- Orientierung für die Teil- Plenum rung in das Seminar nehmer

Folie 1

20"

2. Vorstellungsrunde

Plenum

Bilder

25"

3. Referat: Verlust der elter- Einführung in das Thema Plenum lichen Stimme

Folie 2

30"

Selbstreflexion, Kennenlernen der Teilnehmer

Organisationsform

10"

PAUSE 4. Schweigende Gruppenarbeit zum Thema aggressives, unsicheres und sicheres Verhalten

Selbstreflexion der Teil- Kleingrup- Folie 3, 4 und nehmer zu unterschiedli- pen mit 4–5 5, Stifte, Flipchen Verhaltensweisen Personen chartblätter

30"

5. Skulpturarbeit

Verdeutlichung nonverbaler Kommunikation

Plenum

20"

6. Schlussrunde: Wetterbericht

Darstellung der eigenen Befindlichkeit

Plenum

Wetterkarte

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10"

Moderation

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Begrüßung und Einführung in das Seminar In den täglichen Beratungen, die sich im Rahmen der Arbeit in einer Erziehungsberatungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche ergeben, lassen sich bezüglich der Problemstellungen von Familien häufig Parallelen feststellen. Immer mehr Eltern erleben ihre Kinder als eine große Herausforderung. Sie machen tagtäglich die Erfahrungen von Respektlosigkeit ihrer Person gegenüber, von Missachtung der von ihnen aufgestellten Regeln, von Ablehnung, Zorn, Wut und Widerstand gegen alles, was aus dem Elternhaus (oder auch von einer anderen Autorität, z. B. der Schule) zu kommen scheint. Die Eltern erleben, dass ihr Repertoire an Bewältigungsstrategien oft nicht ausreicht. Sie machen die Erfahrung, dass die »Fronten« zu Hause sich verhärten, je mehr sie schreien und drohen und die Reaktionen auf beiden Seiten sich noch verschärfen. Jede Auseinandersetzung und Debatte birgt die Gefahr einer Eskalation. Das »Zuhause«, der Ort, der Sicherheit, Geborgenheit und Harmonie für alle Familienmitglieder darstellen sollte, wird ein Ort, an dem Eltern und Kinder sich ständig bekämpfen. Dieser Zustand ist für Eltern auf die Dauer sehr kräftezehrend und führt nicht selten zu Erschöpfungserscheinungen sowohl körperlicher als auch seelischer Art. Um endlich Ruhe zu haben, beginnen manche Eltern zu kapitulieren und geben den Forderungen ihrer Kinder nach. Der erzielte »Waffenstillstand« ist jedoch trügerisch, da Kinder durch solches Verhalten der Eltern mächtig werden, und ihre Forderungen erhöhen. Sie werden dann alles daran setzen, ihre erhöhten Forderungen beim nächsten Mal wieder durchzusetzen. So verstricken Eltern und Kinder sich in äußerst destruktive Teufelskreise. Die Eltern haben Angst, ihren Kindern klare Grenzen zu setzen, da Konfrontationen schnell zu Eskalationen führen. Häufig gehen sie selbst davon aus, dass ihr Kind sowieso nicht auf sie hören wird. Ihr vorherrschendes Gefühl ist das der Hilflosigkeit. Das Konzept des gewaltlosen Widerstands kann ein effizientes Instrument sein, das die Eltern befähigt, die unangemessenen Verhaltensweisen der Kinder zu blockieren, ohne weitere Eskalationen zu verursachen. Es beinhaltet die absolute Enthaltung jeglicher verbaler oder physischer Gewalt, die darauf abzielt, das Kind zu besiegen oder zu demütigen. Statt dessen erfordert es eine gewisse Hartnäckigkeit und konsequentes Standhalten gegenüber machtvoll gestellten Forderungen, sowie die Bereitschaft, alle Maßnahmen zu unternehmen, um destruktive Handlungen des Kindes zu verhindern. Ziel des hier vorgestellten Coachings ist es, Eltern zu ermutigen, ihrer Intuition wieder mehr zu trauen, ihnen mehr Sicherheit im Erziehungsprozess zu geben, Handlungsalternativen mit ihnen zu erarbeiten und so ihre elterliche Präsenz wiederherzustellen. In der Begrüßung und Einführung stellt die Kursleiterin das Programm vor. Er gibt Informationen über die Themen, Ziele und den Ablauf der einzelnen Kurseinheiten. Zur besseren Übersicht kann hierbei Folie 1 verwendet werden. Die Teilnehmer haben Gelegenheit, Fragen zum Gesamtprogramm zu stellen.

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Vorstellungsrunde In der Mitte des Raumes liegen Bilder aus (DIN A4-Format, einprägsame Motive). Die Teilnehmer werden eingeladen, sich die Bilder unter zum Beispiel folgender Fragestellung genauer anzusehen: – »Was hat mich in diesen Kurs geführt? In welcher Situation befinde ich mich mit meinem Kind?« – »Mit welchem Gefühl bin ich heute hierher gekommen und welches Bild drückt das am besten für mich aus?« Die Teilnehmer suchen sich das passende Bild aus. Danach stellen sie sich der Runde mit ihrem Namen, der Anzahl und dem Alter ihrer Kinder vor und beschreiben, warum sie sich gerade das Bild ausgesucht haben, und was es für sie ausdrückt. Die Kursleiterin hört aktiv zu, fragt nach, versucht, einen Eindruck von den Teilnehmern und ihrer Befindlichkeit, von den Themen in der Gruppe zu bekommen.

Referat: Verlust der elterlichen Stimme Mit dem hier dargestellten Konzept (s. Folie 2) reagierte Professor Haim Omer auf eine Situation, die sich in vielen Familien wiederfindet. Die Eltern fühlen sich ihren Kindern hilflos ausgeliefert, sie haben den Eindruck, ihre Kinder nicht mehr erreichen zu können und sehen ihren Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder schwinden. Die Kinder hingegen fordern sie mehr und mehr heraus, so dass es oft zu kraftraubenden, täglichen Machtkämpfen innerhalb der Familie kommt, bei denen die Eltern nicht selten das Gefühl haben, das Feld als Verlierer verlassen zu müssen. In manchen Fällen resignieren sie und geben unter Umständen auch den Forderungen ihrer Kinder nach. Ihre elterliche Stimme wird dadurch immer leiser. In der Geschichte der Erziehungsberatung gab es die Tendenz, für die Verhaltensauffälligkeiten von Kindern die Eltern verantwortlich zu machen. Sie wurden beispielsweise beschuldigt, ihre eigenen egoistischen Ziele zu verfolgen, anstatt die Bedürfnisse der Kinder zu berücksichtigen. Eltern wurde implizit mitgeteilt, dass sie ›alles richtig machen müssten‹, da sie sonst bei ihrem Kind schwerwiegende Fehler/Schäden verursachen würden. Auch heute noch führt diese Annahme im Selbstverständnis der Eltern und in der Ausgestaltung ihrer Elternrolle oft zu Ängsten. Die Eltern bekommen Angst zu versagen, sie werden geschwächt und sind in ihren Bemühungen, nach eigenen Vorstellungen situationsangemessen zu reagieren, gelähmt. Von gesellschaftlicher und professioneller Seite werden ihnen Ansprüche und Ideale vermittelt, die sie nicht erfüllen können. Sie leiden an »Überinformation und Rechtfertigungsdruck« (Omer u. von Schlippe, 2002, S. 24). Dadurch bekommen sie Angst vor ihrem Kind und beginnen, sich verantwortlich und sogar schuldig für die Auffälligkeiten ihres Kindes zu fühlen. Sie sind gehemmt, dem Kind klare

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Grenzen zu setzen, Verbote auszusprechen und ein Regelwerk mit Konsequenzen aufzustellen. Dies bedeutet nach und nach den Verlust der elterlichen Stimme. Kinder, die keine Grenzen spüren und die ohne Anforderungen in einer sehr duldenden Umgebung aufwachsen, leiden jedoch häufig unter einem schlechten Selbstwertgefühl, einer geringen Frustrationstoleranz, auf jeden Fall aber an einem Mangel an innerer Orientierung. Das Fehlen von Grenzen und Anforderungen ist für die Entwicklung eines Kindes ebenso wenig förderlich wie eine strikte Autoritätsausübung. Das Konzept der »elterlichen Präsenz« (vgl. Omer u. von Schlippe, 2002, S. 29ff.) von Omer reagiert auf diese Situation und beinhaltet daher eine Mischung aus Festigkeit und Liebe, zwei Aspekte, die sich in der Kindererziehung nicht widersprechen, sondern in einer Balance nebeneinander existieren sollen. Durch das Konzept soll die Basis einer kindlichen Selbstorganisation gefördert werden, die zum einen in verlässlichen Beziehungen zu den Eltern besteht, und zum anderen in den Rahmenbedingungen, die diese vorgeben. Die von Omer entwickelten Methoden basieren auf folgenden Grundsätzen: Sie wollen – »keine Vorschriften beinhalten über den ›richtigen Weg‹ oder die ›richtige Richtung‹ von Erziehung und Familienleben, – von jeglicher direkter oder indirekter Beschuldigung der Eltern absehen, ursächlich für das gestörte Verhalten verantwortlich zu sein, – auf Gewalt in jeder Form verzichten, also sowohl auf physische Gewalt als auch auf Demütigungen und Kränkungen, – sensibel sein für die Notwendigkeit, dass alle Beteiligten in den Auseinandersetzungen das eigene Gesicht wahren können, – und den Eltern Kraft gegenüber kindlicher Destruktion vermitteln, also die Möglichkeit, Autorität zu sein, ohne Gewalt zu ergreifen« (Omer u. von Schlippe, 2002, S. 24f.). Das Mittel, das zum Erreichen der genannten Ziele benutzt wird, ist der »gewaltlose Widerstand« (Omer u. von Schlippe, 2002, S. 50)9. Dies meint eine absolute Enthaltung jeglicher Gewaltausübung verbaler wie physischer Art. Des Weiteren ist die absolute Enthaltung von allen Handlungen gemeint, die das Kind beleidigen oder demütigen. Es geht in diesem Konzept nicht darum, das Kind zu besiegen, im Gegenteil müssen die Würde und Selbstachtung des Kindes unbedingt erhalten bleiben. Ziel des gewaltlosen Widerstands ist das Wiederherstellen einer positiven Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Kind und das Wiedererlangen eines Zustandes, in dem die Eltern ihre Elternrolle ausfüllen und das Kind seine kindliche Rolle wieder aufnehmen kann. Die Botschaft des gewaltfreien Widerstands zielt darauf 9 Omer und von Schlippe lehnen sich hier mit ihrer Terminologie an die Philosophie Ghandis an.

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ab, dem Kind Folgendes zu vermitteln: »Ich kann dein Verhalten nicht akzeptieren und werde alles tun, um mich dem zu widersetzen, außer dich zu schlagen oder zu attackieren!« Mithilfe dieser Botschaft soll die Autorität der Eltern wiederhergestellt werden, die allerdings auf einer starken und spürbaren Präsenz beruhen soll, und nicht auf der Macht des Stärkeren. Dem Kind sollen Inhalte vermittelt werden, wie: – »Ich gebe dir nicht nach!« – »Ich bin deine Mutter/dein Vater und bleibe deine Mutter/dein Vater!« – »Ich lasse nicht zu, abgeschüttelt zu werden!« Es wird darauf abgezielt, dem Kind effektiv etwas entgegenzustellen, ohne jedoch dadurch eine Eskalation zu provozieren. Im Gegenteil, das Eskalationspotenzial wird durch den gewaltlosen Widerstand minimalisiert. Dies sind Voraussetzungen dafür, eine häusliche Atmosphäre wiederherzustellen, die einen Ausdruck der Nähe und der Liebe zum Kind ermöglicht.

Schweigende Gruppenarbeit zum Thema aggressives, unsicheres und sicheres Verhalten Die Teilnehmer werden nun in Kleingruppen mit vier bis fünf Personen aufgeteilt. Sie werden aufgefordert, folgender Frage schweigend nachzuspüren: »Was bestimmt mein Denken und Handeln, wenn ich mich sicher, unsicher, aggressiv fühle?« Oder: »Was ist typisch für sicheres, unsicheres, aggressives Verhalten?« Die auftauchenden Assoziationen sollen schweigend, ohne diskutiert zu werden, auf ein großes Blatt in der Mitte geschrieben werden. Der Stift wird hierbei ebenfalls schweigend weitergereicht. Ziel dieser Übung ist, die Teilnehmer in Kontakt kommen zu lassen mit ihren eigenen Anteilen sicheren, unsicheren und aggressiven Verhaltens in Abhängigkeit von unterschiedlichen Situationen. Nach circa 10–15 Minuten werden die Gruppen aufgefordert, ihre Zettel an die Pinnwand zu hängen, und ihre Ergebnisse den anderen vorzustellen. Es erfolgt ein Austausch über die Erfahrungen/den Prozess in der Gruppenarbeit (s. a. Folie 3, 4 und 5).

Skulpturarbeit Die Kursleiterin teilt jeder Gruppe nun einen der drei Begriffe zu (sicher, unsicher, aggressiv – bei drei Gruppen, sonst haben mehrere Gruppen den gleichen Begriff). Die Gruppe wählt einen Teilnehmer als Modell aus, und versucht, ihn so zu »modellieren« (Haltung, Gestik, Mimik), dass er möglichst überzeugend diesen einen Verhaltensstil darstellt. Sind die drei Modelle fertig gebaut, wertet die Gruppe im Plenum aus, wie jede einzelne Haltung/Verhaltensweise auf sie wirkt. Das Ziel dieser Übung liegt darin, den Teilnehmern noch einmal bewusst vor Au-

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gen zu führen, dass eine »innere« Haltung Auswirkungen auf das soziale Umfeld hat. Sie verdeutlicht die Konsequenzen jeder Verhaltensweise, besonders unter der Fragestellung: Wie wirke ich eigentlich auf mein Kind?

Schlussrunde: Wetterbericht Zum Abschluss beschreibt jeder Teilnehmer mit einem Satz die eigene »Wetterlage« (Stimmung) in Form von Bildern wie bewölkt, sonnig, stürmisch oder heiter.

➪ Verlauf der zweiten Kurseinheit Tabelle 3: Übersicht über die zweite Kurseinheit Top/Inhalt

Ziel

Organisationsform

Material

Zeit

1. Blitzlichtrunde

Informationen darüber, Plenum in welcher Situation sich die Teilnehmer befinden, welche Themen die Gruppe beschäftigen

2. Gruppenarbeit zum Thema elterliche Präsenz

Reflexion über eigene Erfahrungen mit dem Thema der elterlichen Präsenz

Kleingruppen zu drei Personen, Aufteilung z. B. durch Kartenspiel

Karten, Stifte, Pinnwand, Pinnadeln

30"

3. Referat: Elterliche Präsenz

Information

Plenum

Folie 6

20"

15"

PAUSE

10"

4. Hausaufgabe

Differenzierung der un- Erläuterung drei Körbe, erwünschten Verhaltens- im Plenum rote, gelbe weisen der Kinder und grüne Servietten

10"

5. Einführung der ersten Methode: Die Bärumarmung

Vermittlung von »körperlicher Präsenz«

Plenum

20"

6. Einführung weiterer Methoden

Information

Plenum

15"

7. Fragerunde und Dis- Klärung kussion

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25"

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Top/Inhalt

Ziel

Organisationsform

Material

Zeit

8. Schlussrunde

Anregung dazu, seiner Intuition trauen

Plenum

Gedicht von Emerson

5"

9. Anregung

Vermittlung praktischer Tipps zum Umgang mit ihren Kindern

Moderation

Tipps

Blitzlichtrunde Unter der Fragestellung »Was haben Sie vom letzten Abend mitgenommen, was war wichtig für Sie? Wie ist es Ihnen in der Zwischenzeit ergangen?« leitet die Kursleiterin diesen Abend ein. Die Blitzlichtrunde dient zum einen dazu, zu überprüfen, was vom letzten Abend im Gedächtnis geblieben ist, was die Eltern beschäftigt hat, ob und wie sie die Seminarinhalte auf ihre eigene Situation übertragen haben. Außerdem kann diese Runde hilfreich sein, um eventuell aufgetretene Missverständnisse zu klären.

Gruppenarbeit zum Thema elterliche Präsenz Diese Gruppenarbeit wird in Kleingruppen zu drei oder vier Personen durchgeführt. Die Aufteilung kann beispielsweise anhand eines Kartenspiels durchgeführt werden (d. h. jeder Teilnehmer zieht eine Karte, dann zusammensetzen der Gruppe nach Zahlen oder Formen). In den Kleingruppen soll die folgende Fragestellung diskutiert werden: – »Was bedeutete elterliche Präsenz als Kind für mich, das heißt wie präsent habe ich meine Eltern erlebt?« – »Wie bin ich für mein Kind präsent?« Die Ergebnisse der einzelnen Gruppe werden anschließend auf Kärtchen an die Pinnwand gehängt und durch die Gruppe selbst vorgestellt. Durch diese Übung sollen die Teilnehmer angeregt werden, vor dem Referat ihre eigenen Erfahrungen zum Thema »Präsenz« zu reflektieren, und zwar aus beiden Perspektiven, aus der des Kindes und aus der des Erziehenden.

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Referat: Elterliche Präsenz Der Begriff der elterlichen Präsenz hat eine Schlüsselfunktion innerhalb des pädagogischen Ansatzes von Omer (s. a. Folie 6). Darunter kann eine Form der bewussten Anwesenheit verstanden werden. Viele Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, die eher durch Machtausübung gekennzeichnet werden, basieren auf dem Prinzip von Sieg und Niederlage. Anwesenheit beruht auf einem anderen Prinzip, auf dem Prinzip der Kooperation. Kooperation setzt das Vorhandensein zweier Partner voraus, Partner, die zwar in einer Situation ungleich verteilter Macht leben, die aber auf der Basis von Gleichwertigkeit kommunizieren. Sie sind also nicht gleichgesetzt in ihrem Handlungsspielraum, ihrer Verantwortung, aber sie sind gleichwertig in der Anerkennung und Wertschätzung ihrer Person. Das stellt die Voraussetzung dar, um miteinander in Kommunikation und Verhandlung treten zu können. Eine weitere Voraussetzung von Verhandlungen besteht darin, dass sich auf beiden Seiten prägnant erkennbare Personen befinden. Hiermit verweist Omer auf einen ihm zufolge wichtigen Aspekt, der darin besteht, dass Eltern ihre Individualität nicht vernachlässigen sollten, weil Kinder den Familienalltag dominieren. Stattdessen sollten sie eigenständige Individuen bleiben, mit eigenen Bedürfnissen, Gefühlen, Gedanken; eigenen ethischen Vorstellungen, Werten und Normen. Im Gegensatz dazu stellt sich im Familienalltag die Dynamik jedoch häufig folgendermaßen dar: Ein Kind stellt seine Forderungen, da es sich etwas in den Kopf gesetzt hat und besitzt seine eigenen Methoden, um diese durchzusetzen. Solche Methoden können zum Beispiel in Nörgelei, in Beschwerden in anhaltender Lautstärke (dies besonders in peinlichen Situationen), Krankheitssymptomen, Suiziddrohungen oder Gewalt bestehen. Die Eltern reagieren entweder mit Nachgiebigkeit, was die Forderungen des Kindes noch mehr in die Höhe treiben wird (vgl. Einheit 3: Eskalationsdynamiken), oder mit Protesten, Schimpfen, Schreien, manchmal vielleicht sogar Schlägen. Das Ergebnis sind Eskalationen, die für alle mit leidvollen Erfahrungen einhergehen. Die von Kindern angewandten Methoden können sehr effektiv sein, besonders mit Suiziddrohungen und Autoaggression können sie bei den Eltern starke Schuldgefühle auslösen. Macht ein Kind die Erfahrung, dass es seine Forderungen durchsetzen kann, erlebt es einen scheinbaren Gewinn; es erfährt sich als sehr mächtig. Das Kind beginnt nun, seine Macht zu testen, spielt sie aus, und verwickelt die Eltern in Machtkämpfe. Häufig drückt sich das in Form von Bedingungen und Erpressungsversuchen aus: »Ich mache das nur, wenn ihr mir dafür . . .!« oder: »Ich räume das nur auf, wenn ich dafür . . . darf!« Andere Kinder beginnen, ihre Eltern zu beleidigen, zu belügen und sich ihrem Einfluss mehr und mehr zu entziehen mit Sätzen wie: »Das geht dich gar nichts an!« oder »Du hast mir gar nichts zu sagen!« Folgen auf solche Versuche keine für die Kinder spürbaren Konsequenzen von Seiten der Eltern, erhöht sich das subjektiv

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erlebte Machtempfinden der Kinder und ihre Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen. Auf die Eltern wirkt sich eine solche Entwicklung häufig in Form von erheblicher Stresszunahme aus und in einer deutlichen Abnahme des eigenen Selbstwertes aufgrund der empfundenen Hilflosigkeit. In extremen Fällen kann es zu auftretenden Depressionen oder zu psychosomatischen Beschwerden kommen. Zumindest führt es meist dazu, dass das »Zuhause« keinen Ort der Geborgenheit und Sicherheit mehr darstellt, sondern einen Ort der Hilflosigkeit und des Machtkampfes, an dem Eltern und Kinder sich nicht mehr wohl fühlen. Sie treten den Rückzug an, werden stiller und stiller und verschwinden unter Umständen innerlich von der Familienbühne. Sie verlieren ihre elterliche Stimme und am Ende eines solchen schleichenden Prozesses steht für das Kind der Verlust der elterlichen Präsenz. Deshalb ist der Machtgewinn, den das Kind erlebt, nur ein scheinbarer Gewinn. Paradox ist ebenfalls, dass viele Eltern glauben, ihrem Kind durch Nachgeben einen Gefallen zu tun, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Der Verlust der Präsenz eines oder beider Elternteile kommt einem wirklichen Verlust nah, das Kind erlebt eine Mangelsituation. An dieser Stelle kann es auch zur Entwicklung von Schuldgefühlen beim Kind kommen, weil es befürchtet, durch sein Verhalten die Präsenz der Eltern aktiv ausgelöscht zu haben. Die Eltern erleben dieses Stadium völlig gegensätzlich; sie haben das Gefühl, alles drehe sich nur noch um das »schwierige« Kind und sie selbst scheinen nur noch für dieses zu existieren. In dem Moment, in dem Eltern meinen, nur noch für ihr Kind zu existieren, kommt es zur Aufgabe der eigenen Individualität und zur Aufgabe der eigenen Stimme. Sie finden sich unglücklich festgelegt auf die Rolle des Reagierenden, des Ausführenden des Kinderwillens. Das bedeutet die Aufgabe all dessen, was, wie eingangs erklärt, jeder Partner einer Kooperation verkörpern sollte. Omers Konzept der elterlichen Präsenz kann folglich bipolar verstanden werden, wobei Eltern beide Pole gleichermaßen gewichten sollen: – zum einen das Ausfüllen ihrer Rolle als Individuen, – zum anderen das Ausfüllen ihrer Rolle als Mutter oder Vater. Dadurch versucht Omer zu verhindern, dass es zum oben dargestellten Verlust der Präsenz durch Vernachlässigung der Individualität kommt. Auch das Gegenteil kann auftreten, wenn Eltern einen inneren Widerstand dagegen spüren, ihre Elternrolle wirklich auszufüllen. Sie wären lieber »der beste Freund/die beste Freundin« ihrer Kinder und wollen für das geliebt werden, was sie tun, nicht allein deshalb, weil sie Mutter oder Vater sind. Diese Haltung kann für Kinder sehr verwirrend sein, denn nur ein Vater/eine Mutter, die persönlich präsent ist, und seine/ihre Elternrolle ausfüllt, kann einem Kind das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit vermitteln. Die so verstandene elterliche Präsenz kann im Folgenden auch als Prüfstein für die einzuführenden Methoden fungieren. Anhand der Fragestellungen

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– »Was wird mit dieser Maßnahme vermittelt?«, – »Vermittelt sie den Sinn, elterliche Präsenz wiederherzustellen, oder geht es darum, Machtverhältnisse auszudrücken?« kann jede Methode und die eigene innere Haltung dabei, geprüft werden. Die Botschaft, die Omer mithilfe seiner Methoden transportieren möchte, lautet: »Ich bin dein Vater/deine Mutter, ich bin da, ich lasse mich nicht abschütteln, und ich lasse mich von dir nicht länger ignorieren!« Dass diese Botschaft beim Kind ankommt, steht im Mittelpunkt, so dass Maßnahmen und Sanktionen immer danach ausgerichtet werden können. Schlagen ist somit beispielsweise keine Methode, die zur Wiederherstellung von elterlicher Präsenz dient. Schlagen ist kein Ausdruck einer körperlich erfahrbaren starken Präsenz, es ist vielmehr eine Grenzüberschreitung, die die Autonomie des Kindes verletzt. Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, so dass Kontakt dabei eher vermieden wird. Das Kind bekommt die Botschaft vermittelt: »Geh mir aus den Augen, ich will dich nicht in meiner Nähe!«, was somit das Gegenteil von elterlicher Präsenz darstellt. Elterliche Präsenz drückt sich laut Omer und von Schlippe in drei Aspekten aus (s. Folie 6): – »Ich kann handeln!«, das heißt, die Eltern kehren zurück auf die Familienbühne als Handelnde. – »Das ist richtig!«, das heißt, die Eltern positionieren sich als ethisch handelnde und individuelle Personen. – »Ich bin nicht allein!«, das heißt, die Eltern sind eingebunden in einen unterstützenden Kontext (vgl. Omer u. von Schlippe, 2002, S. 24). Auf den dritten Punkt wird an späterer Stelle noch näher eingegangen. Er beschreibt das Phänomen, dass aus Scham innerfamiliäre Prozesse oft eher geheim gehalten werden, was allerdings zu einer Stabilisierung von Teufelskreisen und Eskalationsdynamiken beiträgt, wohingegen das Aufbrechen der Geheimhaltung und die Mobilisierung von Unterstützung den Kreislauf durchbricht und große Wirkung zeigt. Die stärkste elterliche Präsenz drückt sich für ein Kind also darin aus, die elterlichen Handlungen als ein stimmiges Abbild ihrer ethischen und persönlichen Positionen zu erfahren, die durch ein interpersonelles Netz verstärkt werden. Kinder reagieren sehr positiv auf diese Erfahrung, die ihnen viel Sicherheit vermittelt.

Hausaufgabe Die Teilnehmer werden angeregt, sich mit den unerwünschten Verhaltensweisen ihrer Kinder genauer und differenzierter auseinander zusetzen. Elterliche Predigten, Diskussionen sind für Kinder und Jugendliche sehr aversiv, Eskalationsspiralen, Teufelskreise werden ausgelöst. Für Eltern ist es sehr schwierig, ihre kontrollierende,

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überfürsorgliche, ängstliche Haltung aufzugeben. Sie neigen dazu, den Kindern und Jugendlichen negative Aufmerksamkeit zu schenken. Da Aufmerksamkeit aber für Kinder und Jugendliche die teuerste Währung ist, werden sie genau das aufmerksamkeitserzeugende Verhalten fortsetzen (Konditionierung). Beispiele sind: »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du dein Zimmer aufräumen sollst . . .«, »Sei nicht so laut«, »Du bist schon wieder nicht pünktlich nach Hause gekommen«, »Immer musst du deine Schwester ärgern«. Die Jugendlichen spüren die Hilflosigkeit, die Kommunikation lädt nicht zur Kooperation ein. Die Technik der drei Körbe soll den Eltern helfen, zwischen verschiedenen unerwünschten Verhaltensweisen zu differenzieren, Prioritäten zu setzen und so zur Deeskalation beitragen. Zur Visualisierung der Aufgabe stehen drei Körbe im Raum: – ein großer Korb mit einer grünen Serviette, – ein mittelgroßer Korb mit einer gelben Serviette und – ein kleiner Korb mit einer roten Serviette. Die Eltern werden gebeten, die problematischen Verhaltensweisen ihrer Kinder aufzuschreiben und den Körben zuzuordnen (vgl. Ollefs u. von Schlippe in diesem Band, S. 61f.): – Der grüne Korb: In ihn gehören alle Verhaltensweisen, die zwar ärgerlich sind, bei denen die Eltern aber tolerieren, dass sie Ausdruck einer bestimmten Entwicklungsphase sind (Trotzkopf, Pubertät) und damit als »normal« gewichtet werden können – sie werden zur Zeit in Relation zu den anderen Verhaltensweisen vernachlässigt. Die Eltern entscheiden dann, sich nicht länger darüber zu ärgern und schwerwiegende emotionale Auseinandersetzungen zu vermeiden. – Der gelbe Korb: In diesen Korb gehören alle Verhaltensweisen, die für Eltern nicht akzeptabel sind. Sie sind aber bereit, mit ihren Kindern zu verhandeln, Kompromisse zu finden, Entgegenkommen zu signalisieren. – Der rote Korb: In den roten Korb gehören Verhaltensweisen, die von Eltern auf keinen Fall akzeptiert werden können. In diesem Korb sollten nicht mehr als zwei bis drei Verhaltensweisen sein. Dieser Prozess ist zeitintensiv, erfordert viel Einfühlungsvermögen und genaue Beobachtung, Reflexion eigener Problemorientierung. Er soll helfen, Eltern zu verdeutlichen, dass sie auf Negatives viel sensibler reagieren als auf Positives.

Einführung der ersten Methode: Die Bärumarmung Die Methoden des gewaltlosen Widerstands (z. B. Bärumarmung, Sit-in) reduzieren die Eskalationen und fördern Sicherheit und Orientierung für das Kind. Zur Verdeutlichung, in welchem Kontext die Bärumarmung eine sinnvolle Möglichkeit darstellen kann, schildert die Kursleiterin zunächst ein Fallbeispiel:

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Die alleinerziehende Mutter ist berufstätig, der fünfjährige Sohn, Johannes, also in der Kita. Den Rest des Tages widmet die Mutter sich nur noch dem Sohn, sie kennt keine eigenen Bedürfnisse mehr. Die Mutter hat die Vorstellung eines demokratischen Erziehungsstils, das heißt, sie will die Gleichstellung zwischen sich und dem Kind. Das heißt, Johannes Meinung hat das gleiche Gewicht wie ihre eigene Meinung, folglich muss alles durch rationales Argumentieren entschieden werden . . . Was spielt sich emotional bei der Mutter ab? Sie fühlt sich schuldig und hat ein schlechtes Gewissen, weil Johannes ohne seinen Vater aufwächst. Sie glaubt diesen Verlust durch große Aufmerksamkeit und Zuwendung kompensieren zu müssen. Johannes geht inzwischen über Tisch und Bänke: Er weiß, was er tun muss, um seinen Willen zu bekommen und setzt diesen immer häufiger durch. Er bekommt Wutanfälle, zerstört Gegenstände in der Wohnung, schmeißt mit Lebensmitteln durch die Gegend, bekritzelt die Wände und Ähnliches. Kurz gesagt, er macht was er will. Die Mutter reagiert sehr nachgiebig auf dieses Verhalten von Johannes. Ihr schlechtes Gewissen wird größer, weil sie glaubt, Johannes habe diese Verhaltensweisen von ihr übernommen, da sie meint, in Stresssituationen laut, ungerecht und wütend zu werden. Durch ihre passive Reaktionsweise auf die Verhaltensauffälligkeiten von Johannes verstärkt sich die Mangelsituation des Kindes.

Der Beratungsanlass: – Beschwerde des Kindergartens, Johannes bewerfe andere Kinder mit Steinen, laufe mit aller Kraft gegen die Hauswand im Kindergarten. – Zu Hause entdeckte die Mutter Johannes schlafend bei geöffnetem Fenster auf der Fensterbank im dritten Stock. Die Mangelsituation, die Johannes durch sein Verhalten ausdrückt, muss kein Mangel an Liebe, Aufmerksamkeit oder Zuwendung sein. Sie muss auch nicht unmittelbar in Zusammenhang mit dem Fehlen des Vaters stehen. Es kann hierbei vielmehr um einen Mangel von Regeln und Konsequenzen, von gefühlter Präsenz der Mutter für den Sohn gehen. Die Alarmsignale können auch als Zeichen von Johannes gefühltem Stress beschrieben werden. Er fühlt sich so mächtig, dass es ihm Angst macht und hat keine innere Orientierung. Die Präsenz der Mutter kann wiederhergestellt werden durch eine Änderung ihres Erziehungsverhaltens in Richtung: – Regeln, Konsequenzen, Transparenz, das heißt Änderung des Ideals eines demokratischen Erziehungsstils, – Wiederherstellung der ursprünglichen Größenverhältnisse im Mutter-Kind-Verhältnis, Versuch zum Beispiel durch die Bärumarmung. Die ersten Wahrnehmungen, die Kinder von ihren Eltern haben, sind überwiegend körperlicher Art. Der Körper ist das Medium, über das sie die Eltern spüren können. Deshalb kann, vor allem bei jüngeren Kindern, der Einsatz des Körpers eine Methode sein, um spürbar wieder auf die Familienbühne zurückzukehren. Die körperliche

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Anwesenheit kann gefühlt werden, sie kann keine Täuschung sein, das heißt, sie ist real erfahrbar für das Kind. Die Bärumarmung eignet sich besonders für die Kinder, die Wutausbrüche bekommen, anfangen zu schreien, mit Gegenständen werfen etc. Tritt dieses Verhalten bei einem Kind auf, kann ein Elternteil es hochnehmen, mit dem Rücken zu sich auf den Schoß setzen und es fest umarmen. Dabei werden die Arme mit festgehalten, so dass das Kind nicht schlagen kann; sollte es versuchen zu treten, werden die Beine mit den eigenen Beinen festgehalten. Wichtig dabei ist, dass die Eltern während dieser Prozedur nicht reden, nicht erklären, was sie tun und warum. Das Kind soll ausschließlich über das körperliche Empfinden die Botschaft bekommen: »Ich bin bei dir, und ich lasse dich nicht los, selbst wenn du schreist und fluchst!« Es soll auch nicht wissen, wie lange die Bärumarmung dauern wird, deshalb sollte ein Kind nicht unmittelbar, nachdem die Aggression sich gelegt hat, losgelassen werden. Die optimale Zeit für diese Methode beträgt eine Stunde, mindestens sollte es eine halbe Stunde dauern. Oft konnte die Erfahrung gemacht werden, dass Kinder sich in dieser Umarmung entspannen, sich darin wohl fühlen, viele schlafen sogar dabei ein. Es ist für Kinder eine gute und wichtige Erfahrung, zu spüren, dass Mutter/Vater immer noch stärker sind, sie halten und sie deshalb auch beschützen können. Tritt ein Wutanfall an einem Ort auf, an dem die Bärumarmung nicht durchführbar ist, kann man die Methode zeitlich versetzt anwenden, indem man das Kind zu Hause an das Ereignis erinnert und es dann fest umarmt.

Einführung weiterer Methoden Wenn die Kinder älter werden, ist eine Methode, die so sehr auf der körperlichen Erfahrung von Präsenz beruht, nicht mehr durchzuführen. Stattdessen werden Methoden gewählt, die auch den wachsenden Intellekt des Kindes berücksichtigen, und die das Kind als Gegenüber ernst nehmen. Ankündigung: Eine andere Form, Präsenz zu zeigen, ist die Ankündigung. Die Ankündigung ist eine gute Voraussetzung, aus dem Machtkampf auszusteigen. Eltern vermitteln mit der Ankündigung klare, präzise Absichten. Sie treten dem Kind gegenüber gemeinsam auf, zeigen, dass sie sich einig sind in ihrer Zielsetzung. Sie stärkt die Akzeptanz des Kindes und lässt das nicht mehr akzeptierte Verhalten überschaubar werden. Die Ankündigung enthält, für was und gegen was die Eltern kämpfen, ist kurz (ca. zwei Minuten), kündigt die elterliche Verhaltensänderung und den elterlichen Protest an, setzt keine Drohung wie »Wenn . . ., dann . . .« voraus und vermittelt die Botschaft: »Wir tun das, weil wir dich lieben, weil wir deine Eltern sind.« Die Ankündigung sollte zu einem ruhigen Zeitpunkt gemacht werden. Es ist bes-

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ser, wenn der bis dahin eher nachgiebige Elternteil die Ankündigung ausspricht oder vorliest. Alleinerziehende könnten einen Unterstützer/eine Unterstützerin im Hintergrund haben. Die Ankündigung sollte nicht diskutiert werden und dem Kind schriftlich übergeben werden. Ziele der Ankündigung sind: – Deeskalation, – Musterunterbrechung (keine Wortgefechte), – Ritual für einen Neuanfang. Verträge: Eine gute Möglichkeit besteht darin, dass zwischen Eltern und Kindern Verträge geschlossen werden, in denen beide Seiten sich an gemeinsam vereinbarte Konditionen halten müssen (s. o.: gelber Korb). Zur größeren Wirksamkeit können diese dann schriftlich festgehalten und für alle sichtbar aufgehängt werden. Ein Beispiel: Simon möchte seine Hausaufgaben nicht direkt nach der Schule oder dem Mittagessen machen, weil er dann noch keine Lust hat und lieber draußen spielen würde. Außerdem muss er sowieso abends um 18 Uhr wieder zum Essen zuhause sein. Die ständigen Kämpfe wegen der Hausaufgaben sind für beide destruktiv. Hier könnte ein Vertrag geschlossen werden, dass Simon seine Hausaufgaben von nun ab abends machen darf, sich aber dazu verpflichtet, sie pünktlich zur verabredeten Zeit zu erledigen, ohne Diskussionen. Die Eltern akzeptieren seine Zeitstruktur.

Fragerunde und Diskussion Nach den dichten Informationen gibt die Kursleiterin hier Zeit für Verständnisfragen und Klärungen oder die Diskussion über die Methoden.

Schlussrunde Ein Gedicht von Ralph Waldo Emerson soll dazu anregen, seinen Intuitionen zu trauen. Welchen Kurs auch immer du einschlägst, immer wird dir jemand sagen, dass es der falsche ist. Es werden immer wieder Schwierigkeiten auftauchen, die dich glauben lassen, dass deine Kritiker recht haben. Seinen Kurs festzulegen und ihn bis ans Ende zu verfolgen erfordert Mut.

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Anregung Zum Schluss der zweiten Kurseinheit erhalten die Teilnehmer praktische Tipps zum Umgang mit ihren Kindern, die als Ideen und Gesprächsgrundlage zu verstehen sind, nicht als Rezept. Zu spät kommen: – in Ruhe miteinander reden; – Geschichte, Hergang erfragen; – eigene Sicht der Dinge erklären, sich aufeinander verlassen können; – keine Entschuldigung erwarten, das klappt in der Pubertät nicht – Kind muss mitbekommen, was es bei den Eltern auslöst; – Konsequenz muss sein, sie sollte Bezug haben: überschrittene Zeit am nächsten Abend abziehen, also eine Stunde zu spät gekommen, eine Stunde eher als sonst wieder da sein. Aufräumen: – gemeinsame Familienregel festlegen, zum Beispiel: »Bis zum Abend räumt jeder seine Sachen auf!«; – Zeitpunkt ist wichtig: Kind erst ansprechen, wenn sein Spiel beendet ist. Aufräumen früh genug ankündigen, zum Beispiel: »In einer halben Stunde wollen wir essen, räume vorher auf.« Ausrasten, Wutanfälle bei jeder Gelegenheit: – bei kleinen Kindern häufig, können die Emotionen noch nicht kontrollieren; – präzise sagen, was Sie wollen, zum Beispiel: »Hör auf zu schreien und rede in normaler Stimme mit mir«; – Bärumarmung. Beteiligung am Haushalt: – erklären, warum Mitarbeit wichtig ist (Zeit füreinander haben); – Liste erstellen, Aufgaben genau verteilen, mit den Kindern besprechen, genaue Zeit angeben, bis wann das erledigt sein muss; – Belohnungen und ihren Entzug ansprechen; – am Anfang an die Aufgabe erinnern; – Lob, wenn die Aufgabe erledigt ist; – wenn nicht, die Aufgabe möglichst nicht für das Kind erledigen. Klammern (z. B. Abschied im Kindergarten, in der Schule): – Trennung vorbereiten, klarmachen, dass das Kind bleiben muss; – genaue Angabe machen, wann das Kind abgeholt wird; – Belohnung (z. B. gemeinsam verbrachte Zeit);

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– loben, wenn sich das Kind anschließt, mit anderen spielt, helfen beim Einstieg ins Spiel (vereinbarte Zeit); – Verabschiedung ohne Diskussion. Lange Autofahrten und Zanken, Wutanfälle: – Methode der Unvorhersehbarkeit, – keine Diskussionen. Stehlen: – direkt ansprechen, Geschichte, Beweggründe erfragen, zum Beispiel Mutprobe unter Freunden, Langeweile, zu wenig Taschengeld; – Erklärung eines Vertrauensbruchs; – Wiedergutmachung des Schadens; – Entschuldigung; – Konsequenzen (z. B. Ausgehverbot); – überlegen, wie sie/er lernen kann, Nein zu sagen. Nicht teilen können: – beim gemeinsamen Spiel kann Teilen gelernt werden; – Hilfestellung, wer als Erster dran ist; – Lob, wenn geteilt wird; – Reaktion bei Nichtteilen: zum Beispiel für kurze Zeit die Süßigkeit wegnehmen, nach fünf Minuten eine neue Chance geben. Nörgeln: – eigenen Ton kritisch überprüfen, Neigung zum Jammern?; – Aufforderung, mit normaler Stimme zu reden; – Lob, wenn das Kind angemessen spricht. Schule schwänzen: – in Ruhe sprechen; – Sicht des Kindes erfragen; – Wichtigkeit der Schule erklären; – Gespräch mit dem Lehrer; – bei Angst vor Arbeiten gemeinsames Lernen; – Vernetzung mit der Lehrerin bei weiterem Schwänzen. Konsequenzen sind nicht als Strafe zu verstehen, sie sollen das Kind nicht demütigen. Sie müssen mit dem Fehlverhalten in Zusammenhang stehen und unmittelbar erfolgen.

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➪ Verlauf der dritten Kurseinheit Tabelle 4: Übersicht über die dritte Kurseinheit Top/Inhalt

Ziel

1. Einstieg: Tempoübung

2. Rollenspiele

Material

Zeit

Reflexion: Erkennen des Plenum eigenen »Wohlfühltempos« und Wahrnehmen individueller Unterschiede

Musik, CDPlayer

10"

Vermittlung der Eskalationsdynamiken

Kursleiter spielel

Texte

3. Referat: Eskalations- Information: Ausstieg dynamiken aus den Teufelskreisen

Plenum

Flipchart, Stif- 20" te, Folie 7, 8

4. Gruppenarbeit: Blockierende Lebensregeln loslassen

Kleingruppen

Text, Luftballons, Nadeln, Stifte, Karten

Reflexion: Welche Sätze haben heute noch Macht über mich?, Verabschiedung von alten Aufträgen

Organisationsform

PAUSE

Moderation

30"

10"

5. Hausaufgabe

Reflexion der elterlichen Plenum Aufmerksamkeiten für negative Verhaltensweisen

6. Einführung weiterer Methoden

Wie lassen sich Teufelskreise vermeiden?

7. Abschluss

Wie kann man sein Tem- Plenum po halten?

Körbe, Zettel

Plenum

10"

40" Gedicht

5"

Einstieg: Tempoübung Nach der Begrüßung bittet die Kursleiterin die Teilnehmer, aufzustehen und sich im Raum zu verteilen. Sie spielt ein schnelles, lautes Musikstück (mit viel Beat) an und fordert die Teilnehmer auf, sich dazu sehr schnell im Raum zu bewegen. Nach einem solchen Stück (ca. drei Minuten) legt sie ein anderes, sehr ruhiges Stück auf und bittet die Teilnehmer, sich hierzu ganz langsam im Raum zu bewegen. Nach diesem Stück werden die Teilnehmer aufgefordert – jetzt allerdings ohne Musik – ihr eigenes »Wohlfühltempo« zu finden, und dies beim Umhergehen im Raum beizubehalten. Anschließend bittet die Kursleiterin jeweils zwei der Teilnehmer, zusammen – jeder in seinem eigenen »Wohlfühltempo« – einmal quer durch den Raum zu gehen. Auswertung: Wie gut schafft es jeder, wirklich bei seinem eigenen Tempo zu bleiben, und wie schwer ist es, das beizubehalten, wenn ein anderer ein anderes Tempo vorschlägt?

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Zusammenhang: Wie oft passiert es mir im Alltag, dass ich mich von meinem Tempo abbringen lasse, und wie wirkt sich das auf mich aus (z. B. in der Zunahme des subjektiven Stresserlebens, weniger Geduld, schnellere »Ausraster« etc.)?

Rollenspiele Zwei Rollenspiele sollen deutlich machen, was eine symmetrische Eskalation (Beispiel 1)und was eine komplementäre Eskalation (Beispiel 2) ist. Kind: Mama, ich gehe zu Marco. Mutter: Du gehst jetzt nicht zu Marco. Du machst erst mal deine Hausaufgaben. Kind: Du kannst mich mal. Ich gehe jetzt zu Marco. Wir haben uns verabredet. Mutter: Du gehst nicht eher aus dem Haus, bis deine Schulaufgaben fertig sind! Kind: Ach lass mich doch in Ruhe, du blöde Kuh! (Kind knallt die Tür und geht.) Jugendliche: Kann ich heute Abend ins Atrium? Fete ist angesagt. Mutter: Okay, aber sei um 22.00 Uhr zurück. Jugendliche: Was, um 22.00 Uhr? Da geht’s doch grad erst richtig los. Mutter: Erstens bist du noch keine 16 Jahre alt und zweitens bist du beim letzten Mal viel zu spät gekommen. Jugendliche: Na und, die anderen dürfen so lange wie sie wollen. Mutter: Na gut, aber spätestens um 23.00 Uhr bist du bitte wieder da. Jugendliche: Ich komme aber erst um 24.00 Uhr (dreht sich um und öffnet die Tür). Mutter: Na gut, du machst ja doch, was du willst!

Die Kursleiterin bittet zwei Teilnehmer zu den Rollenspielen. Falls zwei Kursleiter anwesend sind, spielen sie selbst. Die kurzen Texte spiegeln häufig auftretende Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kinder. Den Teilnehmern werden Eskalationsdynamiken vermittelt.

Referat: Eskalationsdynamiken Wieso kommt es im Alltagsleben in Familien so häufig zu eskalierenden Situationen? Welche Faktoren sind beteiligt, wenn man selbst das Gefühl hat, dass »die eigene Zündschnur immer kürzer wird« und man sich innerhalb kürzester Zeit »auf der Palme« wiederfindet? Omer zufolge lässt sich die elterliche Präsenz am besten wiederherstellen, indem Eltern wieder befähigt werden, unangemessene Verhaltensweisen ihres Kindes zu blockieren, ohne dadurch weitere Eskalationen zu produzieren. Um besser zu verstehen, wieso es zwischen Eltern und Kindern so häufig zu Eskalationen kommt, werden zunächst die zwei Modelle von Teufelskreisen kurz dargestellt, die Eskalationen nach sich ziehen. Danach wird ein genauerer Blick auf die Bedingungen geworfen, die bei einer konflikthaften Interaktion das Eskalationsrisiko erhöhen.

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Die Entstehung eines Teufelskreises zwischen Eltern und Kindern, der zu eskalieren droht, kann sich auf zwei Arten vollziehen: Man spricht entweder von einer symmetrischen oder von einer komplementären Eskalation (s. a. Folie 7 und 8). Die symmetrische Eskalation beschreibt die Situation, in der sich ein Teufelskreis zusammensetzt aus Feindseligkeiten des Kindes, die wiederum mit Feindseligkeiten von Seiten des Erwachsenen beantwortet werden, so dass ein stetig steigendes Potenzial von Aggressivität und Konfliktverhalten das Ergebnis ist. Die komplementäre Eskalation (Omer u. von Schlippe, 2002, S. 51) wird erzeugt durch Forderungen von Seiten des Kindes, auf die die Eltern mit Nachgiebigkeit reagieren, was wiederum gesteigerte Forderungen des Kindes erzeugt. Beide Formen der Eskalationsdynamik sind nicht klar voneinander getrennt, sondern verknüpfen sich oft zu einem Beziehungsgefüge, was unter anderem Konsequenzen wie die folgenden haben kann: – Es kommt zu einem Machtgewinn des Kindes, während die Eltern hoffnungsloser und hilfloser werden. – Eltern passen sich an ein immer höheres Störungsniveau an und »lernen«, tagtägliche Störungen zu ignorieren. – Die Interaktionen zwischen Eltern und Kind konzentrieren sich auf die Konfliktgebiete, das heißt, die Wahrnehmung voneinander wird zunehmend negativer und feindseliger. – Elterliche Angst vor Eskalation führt zu weniger Bereitschaft, therapeutische Maßnahmen umzusetzen. – Das Kind wird immer destruktiver, da es seine Drohungen beweisen muss, um seine Macht aufrechtzuerhalten. Im Folgenden werden fünf Thesen von Omer und von Schlippe dargestellt, die die Bedingungen beschreiben, die eine Eskalation begünstigen: These 1: »Je größer die Herrschaftsausrichtung der Teilnehmer einer konflikthaften Interaktion, desto größer das Eskalationsrisiko« (Omer u. von Schlippe, 2002, S. 52). Unter »Herrschaftsausrichtung« versteht man in diesem Zusammenhang das Bedürfnis der Interaktionspartner, den anderen zu »besiegen«, »stärker zu sein«. Sieger kann es nur einen geben, folglich wird bei dieser Art der Kommunikation alles unter dem Blickwinkel »Wer ist hier der Boss?« gesehen. In der Kommunikation findet also eine übermäßige Ausrichtung auf den Beziehungsaspekt statt, das heißt, man nimmt jede Äußerung persönlich und fühlt sich schneller angegriffen. Ein Ausdiskutieren von Problemen auf der Sachebene ist kaum möglich, entweder gewinnt das Kind oder die Eltern! Das in der Elternarbeit angestrebte Ziel besteht hierbei in der Verringerung der elterlichen Herrschaftsausrichtung, ohne dass die Eltern deshalb an Einfluss verlieren! These 2: »Je höher die psychophysische Erregung der Beteiligten, desto höher ist die Eskalationsgefahr« (Omer u. von Schlippe, 2002, S. 53). Konflikte eskalieren dann besonders schnell, wenn beide Interaktionspartner sich

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erhitzen. Gelingt es hingegen einem Beteiligten, Ruhe zu bewahren, wird dadurch das Aggressionspotenzial von beiden gesenkt. Wird eine Beziehung zum Kind überwiegend unter der oben beschriebenen »Herrschaftsausrichtung« gesehen, ist die psychophysische Erregung bei Auseinandersetzungen höher. Das Ziel bei diesem Aspekt liegt darin, die Eltern zu stärken, in konflikthaften Interaktionen die Ruhe zu bewahren und sich nicht hineinziehen zu lassen. These 3: »Elterliche Predigten, Bitten und Abbitten verstärken das Risiko von komplementärer Eskalation, während elterliche Diskussionen, Drohungen und Beschuldigungen das Risiko von symmetrischer Eskalation erhöhen« (Omer u. von Schlippe, 2002, S. 54). Beide Arten der Eskalation sind eng verbunden, die elterliche Nachgiebigkeit und die elterliche Aggression verstärken einander! Je älter ein Kind wird, desto stärker wird auch sein oppositionelles Verhalten gegenüber elterlichen Predigten. Dies steht im Zusammenhang mit den Entwicklungsaufgaben der Altersstufe, die besonders in der Pubertät darin bestehen, eigene Werte und Ziele zu definieren. Das ist meistens nicht vereinbar mit dem elterlichen Versuch, Kinder von ihren (also den elterlichen) Werten überzeugen zu wollen. Besser sind an dieser Stelle klare Grenzen, die zur Orientierung dienen können. Ziel des Coachings ist hier, die Eltern für die Ergebnislosigkeit von leeren, demütigenden Reden und Predigten zu sensibilisieren. These 4: Die Interaktionen zwischen Eltern und Kind verengen sich auf die Problemfelder, woraus die Abnahme von Möglichkeiten folgt, Konflikte zu vermeiden oder zu lösen (vgl. Omer u. von Schlippe, 2002, S. 55). In Konfliktzuständen versucht jeder, den anderen von seiner Meinung zu überzeugen. Da dies wechselweise von beiden versucht wird, begrenzt sich die eigene Handlungsfreiheit. Folglich wird es immer schwieriger, das eigene Verhalten zu ändern oder sich aus einem Konflikt zurückzuziehen. Durch eine Wiederholung eskalierender Abfolgen entsteht eine Fokussierung auf die Problemlagen. Ausnahmen und positives Verhalten werden nicht mehr wahrgenommen. Ziel ist hierbei, die Interaktionen zwischen Eltern und Kindern wieder mit einer größeren Bandbreite zu versehen und den Blick vermehrt auf Positives und Gelingendes zu richten. These 5: Versöhnungsmaßnahmen können Problemfokussierungen überwinden und zu erfolgreichen Konfliktlösungen führen (vgl. Omer u. von Schlippe, 2002, S. 56). Versöhnungsmaßnahmen verringern die Aggressivität auf beiden Seiten und tragen dazu bei, wertvolle Beziehungen zu erhalten, da sie eine emotionale Stärkung bedeuten. Je stärker die Bindung zwischen zwei Menschen ist, desto häufiger und intensiver sind auch ihre Versöhnungsgesten nach Konflikten. Eltern haben oft Angst davor, dass ihnen Versöhnungsgesten als Schwäche ausgelegt würden, worin sich ihre Herrschaftsfokussierung zeigt. Versöhnungsgesten sollten jedoch kein Symbol für ein gleichzeitiges Nachgeben darstellen, sondern im Gegenteil unabhängig von den gestellten Forderungen erfolgen. Die Eltern sollen an dieser Stelle er-

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mutigt werden, Versöhnungsgesten als wichtigen Aspekt von Beziehungen anzusehen und sie nicht als ein Zeichen von Schwäche auszulegen.

Gruppenarbeit: Blockierende Lebensregeln loslassen Zum Einstieg in die Gruppenarbeit wird folgender Text vorgestellt:

Autobiographie in fünf Kapiteln 1. Ich gehe die Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich falle hinein. Ich bin verloren . . . Ich bin ohne Hoffnung. Es ist nicht meine Schuld. Es dauert endlos, wieder herauszukommen. 2. Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich tue so, als sähe ich es nicht. Ich falle wieder hinein. Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein. Aber es ist nicht meine Schuld. Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen. 3. Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich sehe es. Ich falle immer noch hinein . . . aus Gewohnheit. Meine Augen sind offen. Ich weiß, wo ich bin. Es ist meine eigene Schuld. Ich komme sofort heraus. 4. Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich gehe darum herum. 5. Ich gehe eine andere Straße. (Rinpoche, 1993)

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Um besser zu verstehen, warum Kinder es meisterhaft verstehen, bei uns immer den »blanken Nerv« zu treffen, beschäftigt diese Übung sich mit unserer eigenen Prägung, die wir aus der Herkunftsfamilie mitbekommen haben. Teufelskreise können durch implizite und explizite Aufträge der Eltern aufrechterhalten werden, besonders wenn sie noch unbewusst und unreflektiert sind. Die Teilnehmer finden sich in Kleingruppen zu drei oder vier Personen zusammen. Sie werden aufgefordert, sich entlang folgender Fragestellungen über ihre eigenen Herkunftsaufträge auszutauschen: – Welche Aussagen von anderen Menschen haben mich schon früh in meinem Leben sowohl positiv als auch negativ geprägt? – Wie würde meine Mutter/mein Vater diese Sätze fortführen: »Du solltest immer . . .«, »Du darfst nie . . .«, »Du musst . . .«? – Gibt es Sätze in meiner Erinnerung, die mich gestärkt haben, zum Beispiel »Du bist okay, so wie du bist«? Dann werden sie aufgefordert, sich für einen »positiven« und für einen »negativen« Satz zu entscheiden. Der negative wird auf einen aufgeblasenen Luftballon geschrieben, der positive auf eine bunte Karte. Im Anschluss werden die Luftballons für kurze Zeit im Raum durcheinandergewirbelt, dann sucht jeder sich seinen eigenen und lässt diesen zerplatzen. Gedankliche Assoziation: Sich innerlich von diesen Herkunftsaufträgen zu verabschieden. Es mag eine Zeit gegeben haben, da waren sie sinnvoll und lebensnotwendig, aber in der Gegenwart hemmen sie die Weiterentwicklung und werden deshalb respektvoll zurückgelassen. Die stärkenden positiven Aufträge kann jede/r mit nach Hause nehmen.

Hausaufgabe Die Teilnehmer diskutieren im Plenum die Hausaufgabe – drei Körbe – und tauschen sich aus. – Wie gut ist es gelungen, die Körbe zu sortieren? – Welche Probleme, Erkenntnisse bewegen die Eltern? – Was möchten die Eltern verändern? – Hat sich der Blick auf die Kinder verändert?

Einführung weiterer Methoden Prinzip des Nicht-Hineingezogenwerdens: Um die vielen Eskalationen im Alltag zu verhindern und mit dem Kind ein neues Beziehungssystem aufbauen zu können, das nicht auf endlosen Machtkämpfen basiert, sollten Eltern überflüssige Konflikte

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zu vermeiden suchen, indem sie sich »nicht hineinziehen lassen«. Eltern und Kinder haben »Eskalationsgewohnheiten« entwickelt, das heißt, das Verhalten eines Kindes eskaliert zum Beispiel immer dann, wenn sein Wunsch oder seine Vorstellung nicht in Erfüllung geht. Man kann vermuten, dass auch Eltern Eskalationsgründe haben, eine so genannte »kurze Zündschnur«, die ein ruhiges Reagieren in einer Auseinandersetzung erschwert und die zu einem Kontrollverlust führen kann. Ursprünge für einen solchen »blanken Nerv« liegen häufig in der eigenen Prägung, zum Beispiel in den eigenen Herkunftsaufträgen. Eltern, die sich in Auseinandersetzungen mit ihren Kindern hineinziehen lassen, neigen dazu, viel zu reden, zu predigen, zu debattieren, zu diskutieren, zu drohen, zu entschuldigen, zu rechtfertigen, zu schreien, zu überzeugen und sich zu revanchieren. Jede dieser Reaktionen bedeutet das Hineingezogenwerden und führt zu einer Verschärfung des Konfliktes! Die Versuche der Eltern zu erklären, zu überzeugen, zu predigen oder an die Vernunft zu appellieren, werden nicht selten vom Kind total ignoriert, was die Eltern um so hilfloser macht. Das zu viel Reden ist eskalierend und ein Resultat von Hilflosigkeit. Für die Kinder ist es häufig nicht wichtig, wer die besseren Argumente in einer Diskussion hat, allein die Tatsache, dass sie die Eltern mal wieder zum Diskutieren bringen konnten, gibt ihnen das Gefühl »gewonnen zu haben«! Äußerungen eines klaren Verbotes führen zu weniger Eskalationen als die Versuche, zu überzeugen. Hinweis: Drohungen und Bedingungssätze nach dem Muster: »Wenn du das machst, dann werde ich dies und jenes machen«, führen bei einem bereits machtvollen Kind immer zu einer Konfliktverschärfung, da es auf solche Sätze immer mit einer Bedingungsstellung seinerseits antworten wird. Bei einem machtvollen Kind sind Bedingungsstellungen zu vermeiden. Das Prinzip des Aufschubs: Das Prinzip des Nicht-Hineingezogenwerdens wird begleitet vom Prinzip des Aufschubs. Dieser entwertet das gängige Muster, dass Eltern auf Provokationen des Kindes immer sofort reagieren müssen. Im Gegenteil – die Eltern sollten ermutigt werden, ihre Reaktionen aufzuschieben, sich Zeit zu nehmen, um ihre Reaktionen zu planen. Im Zweifelsfall können Eltern das Schweigen und Nicht-Reagieren vorziehen. Schweigen ist keine Kapitulation, sondern kann genutzt werden als ein Zeitintervall, in dem das Kind seine Munition verschwendet. Damit ein Kind das Schweigen nicht als Kapitulation missversteht, können Eltern zum Beispiel Folgendes sagen: » Das gefällt mir nicht, und ich werde darüber nachdenken!« Das macht deutlich, dass die Mutter/der Vater die Einladungen zur Konfrontation nicht mehr annehmen, sondern eine andere Sprache mit ihm sprechen möchten. Beide Prinzipien, das Nicht-Hineingezogenwerden und der Aufschub, können den Schlüssel zum Erfolg des nachfolgend erklärten Sit-ins darstellen. Das Sit-in: Eine Methode, die die elterliche Präsenz besonders wirksam herstellt, ist das Sit-in. Es ist eine Demonstration der ruhigen Präsenz, die eine stabile und kraft-

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volle Haltung vermittelt mit dem Ziel, dem Kind einen entschiedenen Beschluss zu vermitteln, dass sie ein bestimmtes Verhalten nicht länger akzeptieren werden. Die Eltern kommen hierbei in das Zimmer des Kindes hinein und setzen sich so, dass der Ausgang versperrt ist. Dann äußern sie in konkreter Form, welches Verhalten des Kindes sie nicht akzeptieren können. »Wir werden dein Verhalten nicht mehr akzeptieren und werden hier sitzen und auf Ideen von dir warten, wie du dieses Verhalten (wichtig hierbei ist, das Verhalten ganz konkret zu benennen) in Zukunft vermeiden kannst!« Daraufhin bleiben sie still sitzen und warten. Absolut vermieden werden sollen hierbei Erklärungen, Zurechtweisen, Beschuldigungen oder Drohungen. Die Eltern sollten sich auf keine Diskussion über das neue Vorgehen einlassen. Auf Bedingungssätze wie »Wenn du mir das und das kaufst, tue ich, was du willst«, oder Unschuldsbeteuerungen erwidern die Eltern kurz und dabei nicht beschuldigend, dass sie das nicht akzeptieren können und warten weiter. Sie sollten sich auf keinen Fall provozieren oder hineinziehen lassen! Jeder konstruktive Vorschlag des Kindes, und sei er auch noch so klein, soll ernst genommen werden. Es darf nachgefragt und konkretisiert werden, jedoch auch hierbei mit mehr gutem Willen als mit Argwohn (Sätze wie »Das hast du doch bisher auch nicht geschafft!« sollten hierbei vermieden werden). Macht das Kind keinen Vorschlag, so warten die Eltern die vorher verabredete Zeit ab (von einer halben bis zu einer Stunde) und stellen dann klar, dass heute noch keine Lösung erreicht wurde und das Verfahren deshalb am nächsten Tag wiederholt werden wird! Gleiches gilt, wenn das von dem Kind gemachte Angebot nicht verwirklicht wurde. Zu beachten sind folgende Punkte: – Das Sit-in sollte nicht während einer Konfliktzuspitzung durchgeführt werden, da es vermutlich dann eher eine Eskalation als eine Einigung erzielen würde. – Das Eintreten in das Zimmer sollte geplant werden; die Eltern sollten Ruhe und Zeit haben, nicht unter Zeitdruck stehen oder andere Angelegenheiten gleichzeitig regeln müssen. – Stellt das Kind Fernseher oder Computer an, stellen die Eltern ihn einmal wieder ab. Stellt das Kind es wieder an, warten die Eltern still ab, um eine Eskalation zu vermeiden. Vor der nächsten Sitzung wird darauf geachtet, dass die Geräte nicht zu benutzen sind (z. B. Kabel entfernen). – Greift das Kind die Eltern körperlich an, verteidigen sie sich, ohne ihrerseits das Kind zu schlagen oder zu verletzen. – Triumphiert das Kind, wenn die Eltern das Zimmer verlassen, können sie ihm sagen oder schreiben, dass sie es nicht besiegen können und dies auch nicht wollen. Falls die Eltern es als hilfreich empfinden, können sie während des Sit-ins eine dritte Person bitten, im Haus anwesend zu sein, was dem Kind auch mitgeteilt wird. Die bloße Anwesenheit einer dritten Person hemmt oft die Aggression des Kindes.

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Droht die Situation zu eskalieren, kann die dritte Person eingreifen und eine Vermittlerrolle wahrnehmen. Kommen Eltern und Kind zu keiner Einigung, kann die dritte Person mit dem Kind einen Kompromiss oder einen Vertrag erarbeiten und ihm so helfen, seine Selbstachtung zu wahren. Nach dem Sit-in fahren die Eltern in ihrem üblichen Umgang mit dem Kind fort, ohne Zorn oder Mitleid zu zeigen. Sie können ihm Versöhnungsgesten anbieten, zum Beispiel ein während des Sit-ins verursachtes Chaos gemeinsam wegzuräumen oder ein Lieblingsgericht zu kochen. Diese Versöhnungsgesten werden nicht in einen direkten Zusammenhang zum Sit-in gestellt, damit es dem Kind freigestellt bleibt, diese entweder anzunehmen oder abzuschlagen, ohne dafür angeklagt zu werden! Diese Gesten zeigen, dass man als Mutter/Vater nicht bereit ist, sich vom Verhalten des Kindes abhängig zu machen und sich in seiner Rolle nicht einengen lassen will. Fühlen die Eltern sich mit dieser Methode unsicher, kann das Sit-in auch mit therapeutischer Unterstützung im Hintergrund durchgeführt werden. Nach der Vorbereitung und Absprache einer solchen Sitzung kann der Therapeut bei der Durchführung telefonisch erreichbar bleiben, um die Entwicklung und das Erarbeiten von Kompromissen zu betreuen. Ziele der Methode des Sit-ins sind unter anderem: – das Muster der Herrschaftsausrichtung zu beenden, da es keine unmittelbaren Sieger oder Besiegte gibt; – psychophysische Erregung zu minimieren und Eskalationen zu vermeiden; – das Sit-in kann ein Mittel der Kommunikation darstellen, ein Mittel, um elterliche Präsenz wiederherzustellen. Anzumerken sei an dieser Stelle noch, dass elterliche Präsenz sich keineswegs nur auf die konflikthaften Bereiche beziehen soll, sondern sich auch im Positiven, beispielsweise in Versöhnungsgesten ausdrücken kann. Die gewaltfreie Einschränkung: Die Methode der gewaltfreien Einschränkung wird – im Gegensatz zum Sit-in – nicht im häuslichen Bereich angewandt, sondern in einem Rahmen größerer Öffentlichkeit. Elterliche Beaufsichtigung oder das Wissen der Eltern über den Aufenthaltsort ihrer Kinder hemmt antisoziales Verhalten. Entzieht sich das Kind oder hier eher ein Jugendlicher aber diesem Wissen der Eltern und haben diese keinen Einfluss mehr darauf, wo und mit wem ihr Kind sich aufhält, müssen diese entschiedene Schritte tun, um an Einfluss zurückzugewinnen. Das kann zum Beispiel so aussehen, dass die Eltern an Ort und Stelle des Problemverhaltens auftauchen (Disco, Straßenecke, Drogenparty etc.) und sich weigern, ohne ihr Kind heimzukehren. Läuft das Kind weg, wird die gewaltfreie Einschränkung später wiederholt. Bei solchen Aktionen, die in der Öffentlichkeit stattfinden, ist es für die Eltern wichtig und hilfreich, wenn sie ein Unterstützungsnetz entwickeln, also zum Bei-

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spiel die Eltern des Freundes der Tochter informieren. Je mehr solche Interventionen von der Öffentlichkeit mitgetragen werden, um so effektiver werden sie. Vernetzung/Rundumtelefonieren: Das Aufbrechen der Geheimhaltung und das Mobilisieren der Unterstützung von außen durchbrechen den Kreislauf von Aggression und Gewalt. Daher ist es sehr hilfreich, wenn Eltern ihre Scham überwinden können und sich mit anderen aus dem Bekanntenkreis ihrer Tochter/ihres Sohnes vernetzen können. Sie können beispielsweise eine Telefonliste dieser Bekannten erstellen und das »Rundumtelefonieren« nutzen. Das bedeutet, die Personen auf der Telefonliste anzurufen und sie über die Schwierigkeiten mit dem Kind zu informieren (wenn es von zu Hause wegläuft o. Ä.). Diese Personen werden dann gebeten, das Kind davon in Kenntnis zu setzen, dass sie Kontakt zur Mutter/dem Vater hatten. Es hat auf Kinder eine große Wirkung zu erfahren, dass die Eltern nicht mehr allein sind, sondern Unterstützung im Bekanntenkreis haben. Konstruktive Unvorhersehbarkeit: Eltern gewöhnen es sich oft an, sich in endlose Debatten mit ihren Kindern zu verstricken. Sie drohen, erklären, raten, flehen, beschuldigen und entschuldigen. Das ist nicht nur äußerst kraftraubend, es wird zudem zu einem Hintergrundgeräusch, an welches die Kinder sich gewöhnen und welchem sie nicht mehr viel Beachtung schenken. Die Worte und Reden der Eltern sind für sie vorhersehbar geworden. Das steigert die Spannung und Hilflosigkeit von Seiten der Eltern und lässt diese in der Achtung der Kinder sowie in ihrer Selbstachtung sinken. Stagniert die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern auf dieser Stufe, so ist es notwendig, sich durch ungewöhnliches, unvorhersehbares Verhalten wieder Gehör zu verschaffen. Dies bedeutet, dass es keine Diskussionen mehr gibt, kein Rechtfertigen der neuen Methoden – wer bisher zu viel geredet hat, bekommt wieder Aufmerksamkeit, wenn er/sie schweigt. Schweigen kann ein sehr kraftvoller und aussagekräftiger Akt sein (wenn es nicht ein Rückzug in ein beleidigtes Schweigen ist). Unvorhersehbarkeit ist ein Mittel, um starke Präsenz zu zeigen und aufzubauen, da unvorhersehbare Aktionen und Reaktionen viel mehr Aufmerksamkeit erfordern. Das sollte allerdings nicht mit willkürlichem Verhalten verwechselt werden. Konstruktive Unvorhersehbarkeit muss manchmal sogar geplant werden und bedeutet, ein bisher gängiges Kommunikationsmuster zu durchbrechen. Zur Veranschaulichung soll folgendes Beispiel dienen: Lara (6) und Tim (8) fangen bei jedem Ausflug, den ihre Eltern mit ihnen unternehmen, nach kürzester Zeit an zu kreischen und zu streiten, so dass die Eltern nervlich sehr belastet werden und kaum noch Lust auf den Ausflug haben. Alle ihre Versuche, dieses Verhalten zu unterbinden, blieben aber erfolglos. Unvorhersehbar war für die Kinder, dass die Eltern eines Tages das Auto wendeten und wieder nach Hause fuhren. Der Unterschied zu den bis dahin erfolgten Drohungen lag dieses Mal in der prompten Umsetzung. Diese Inter-

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vention wirkte und musste danach höchstens noch ein- bis zweimal angewandt werden, bis das Verhalten nicht mehr auftrat.

Kinder nutzen oft »das Recht, zu beschämen« aus und machen gerade dann Szenen, wenn es ihren Eltern besonders unangenehm ist. Dieses Recht umzudrehen und auch von Seiten der Eltern anzuwenden, kann im Übrigen eine sehr effektive Methode sein und wird bei der gewaltfreien Einschränkung auch genutzt. Ein weiteres Mittel ungewohnter Kommunikation können Briefe darstellen. Sie können eine Kommunikation auf ein anderes Niveau heben und drücken ebenfalls eine starke Präsenz aus. Sie sollten allerdings von allen negativen Elementen der Kommunikation (z. B. emotionale Erpressungen, unter Druck setzen) freigehalten werden.

Abschluss Zum Abschluss der dritten Kurseinheit, die sich mit dem Wohlfühltempo, den Lebensthemen der Teilnehmer befasst hat, liest die Kursleiterin einen Text, der die Teilnehmer bestärken soll, ihr eigenes Tempo einzuhalten. Ein Mann wurde einmal gefragt, warum er trotz seiner vielen Tätigkeiten immer so gesammelt sein könne. Er sagte: Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Da fielen ihm die Fragesteller ins Wort und riefen: Aber das tun wir doch auch! Er aber antwortete: Nein! Wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon. Wenn ihr steht, dann lauft ihr schon. Wenn ihr lauft, dann seit ihr schon am Ziel.

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➪ Verlauf der vierten Kurseinheit Tabelle 5: Übersicht über die vierte Kurseinheit Top/Inhalt

Ziel

Organisationsform

Material

Zeit

1. Entspannungsübun- Entspannung gen (nach Jacobson, alternativ: Autogenes Training)

Plenum

Texte, Entspannungsmusik, CDPlayer

10"

2. Wiederholung der vermittelten Inhalte und Methoden

Verfestigung des bisher Gehörten

Plenum

Folie 9

25"

3. Gruppenarbeit: Gedankenspiele

Anwendung der Methoden

Kleingruppen

Situationskar- 30" ten

PAUSE

Moderation

10"

4. Auswertung des Seminars anhand von Fragebögen

Auswertung des SemiEinzelarbeit Fragebögen, nars für den SeminarleiStifte ter

10"

5. Offene Fragerunde

Klärung

Plenum

20"

6. Abschlussrunde

Reflexion der Teilnehmer über eigene Erkenntnisse

Plenum, alternativ: Gruppenarbeit

Schatzkästchen und Schlüssel, alternativ: Bild Küchenschrank

10"

Entspannungsübungen Entspannung in Anlehnung an die Progressive Muskelrelaxation (PMR) von E. Jacobson (1990): Setzen Sie sich möglichst bequem hin, die Beine leicht angewinkelt, die Füße ganz auf den Boden aufstellen. Legen Sie die Hände auf die Oberschenkel, lassen Sie die Schultern sinken. Balancieren Sie Ihren Kopf so aus, als trügen Sie eine Krone, schließen Sie die Augen – atmen Sie ruhig und langsam. Atmen Sie ruhig ein und langsam aus und versuchen Sie, sich nur auf Ihren Atem zu konzentrieren. Beobachten Sie, wie Ihre Bauchdecke sich beim Einatmen hebt und beim Ausatmen wieder senkt. Ballen Sie jetzt Ihre rechte Hand zur Faust, beugen Sie den Arm zu sich, spannen Sie Ihre Muskeln leicht an, so dass sie die Spannung bis in Ihre rechte Schulter spüren. Und wieder

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locker lassen . . . Atmen Sie wieder ruhig ein und langsam aus und gehen Sie der Entspannung nach, die sich langsam in Ihrem rechten Arm ausbreitet. Atmen Sie ruhig und entspannt. Ballen Sie jetzt Ihre linke Hand zur Faust, beugen Sie den Arm zu sich, spannen Ihre Muskeln leicht an, so dass Sie die Spannung bis in Ihre linke Schulter spüren. Und wieder locker lassen . . . Atmen Sie wieder ruhig und entspannt, gehen Sie nun der Entspannung nach, die sich langsam in Ihrem linken Arm ausbreitet. Atmen Sie ruhig und entspannt. Sie sitzen ganz schwer und entspannt auf Ihrem Stuhl. Sie fühlen Ihren Körper ganz bewusst und intensiv. Sie sind ganz schwer, gelöst und ruhig, Hände und Arme sind schwer. Nacken und Schulter sind ganz schwer. Ziehen Sie beide Schultern hoch bis an die Ohren und lassen sie wieder fallen. Atmen Sie ruhig ein und aus und gehen Sie der Entspannung nach, die sich in Ihren Schultern und Armen ausbreitet. Spannen Sie jetzt die Muskeln Ihres rechten Beines an, ziehen Sie die Fußspitze zu sich, so dass Sie die Spannung im ganzen Bein spüren. Und wieder locker lassen . . . Gehen Sie der Entspannung nach, die sich langsam in Ihrem Bein ausbreitet. Atmen Sie ruhig und entspannt. Spannen Sie nun die Muskeln Ihres linken Beins an, ziehen Sie die Fußspitze zu sich, so dass Sie die Spannung im ganzen Bein spüren. Und wieder locker lassen . . . Gehen Sie der Entspannung nach, die sich langsam in Ihrem Bein ausbreitet. Atmen Sie ruhig und entspannt. Und nun spannen Sie noch einmal beide Beine an, so dass Sie die Spannung deutlich spüren. Und wieder locker lassen . . . Folgen Sie der Entspannung, die sich nach und nach in Ihren Beinen ausbreitet, atmen Sie ruhig ein und langsam aus, atmen Sie ruhig und entspannt. Stellen Sie sich vor: Sie liegen auf einer grünen Wiese, Sie schauen in den blauen Himmel. Sie hören Vögel zwitschern, ein leichter Wind streicht durch das Gras. Sie genießen die Ruhe. Sie sind ganz ruhig und gelassen. Nichts wollen, nichts müssen – einfach geschehen lassen. Sie sind ganz ruhig und gelassen. Sie verabschieden sich von diesem Ort und kommen ganz langsam wieder in der Gegenwart an, bewegen Sie langsam Hände und Füße, räkeln sich ein wenig. Öffnen Sie dann die Augen und kommen Sie wieder hier an . . .

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Autogenes Training: Wir wollen uns gleich an einen anderen Ort begeben. Ihr Bewusstsein stellt sich auf die vorgegebenen Bilder ein. Alle störenden oder belastenden Gedanken verschwinden. Die Umwelt, Familie, Beruf wird für einige Zeit vergessen, Sie sind ganz bei sich und stellen sich auf ein Gefühl der Stille und Ruhe Beine und Füße sind ganz schwer. Ihr Gesicht ist ganz entspannt und gelöst. Sie geben ganz nach, lassen ganz los. Sie geben alle Spannung ab. Sie sind ganz ruhig und entspannt. Nichts müssen, nichts erzwingen, einfach geschehen lassen. Du liegst an einem Strand – liegst im weichen, zarten Sand – du fühlst mit deinem Körper diesen weichen, warmen Sand – an deiner Haut, er ist so weich und warm – die Sonne scheint – es ist ein schöner Sommertag – du spürst die Wärme auf deiner Haut – auf deinem Körper, überall – es ist ein wohliges Gefühl, diese Wärme zu spüren – die Wärme zieht durch deinen ganzen Körper – Ruhe durchströmt dich – du hörst das Meer, sein ruhiges, gleichmäßiges Rauschen – die Wellen gehen auf und ab – du spürst deinen Atem, ruhig und gleichmäßig – ein und aus – ein und aus – der Atem passt sich den Wellen an – ruhig und gleichmäßig – ein und aus – ein und aus – ruhig geht dein Atem – den Wellen gleich – du bist schwer, warm, ruhig und entspannt – ein leichter Wind weht über deine Stirn – du fühlst dich wohl – du bist ganz ruhig und entspannt –

Wiederholung der vermittelten Inhalte und Methoden Zusammenfassend werden an dieser Stelle noch einmal die Faktoren benannt, die dazu beitragen, dass elterliche Präsenz verloren geht: – Viele Eltern lassen sich durch ihre Schuldgefühle, ein schlechtes Gewissen oder durch das Gefühl lähmen, etwas falsch gemacht zu haben, und dass dadurch ihr Kind ihr Mitleid und ihre Nachgiebigkeit verdiene.

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– Sie lassen sich durch Furcht und Horrorgedanken, -phantasien lähmen, über das was geschehen kann und wird. – Sie verlieren ihre eigene Individualität. – Sie glauben weniger ihrer eigenen Intuition, sondern geben mehr auf die Meinung anderer Menschen, hören auf das, was Freunde, Nachbarn und Verwandte sagen. Sie glauben zu viel an Spezialisten und zu wenig an sich selbst. – In dem Maße, wie sie sich nicht trauen, können sie ihren Kindern nicht trauen. In den bisherigen Einheiten wurde versucht herauszufinden, wie die Lähmung der elterlichen Kraft entsteht und wie Eltern wieder ins Handeln kommen. Es geht hier nicht darum, in Ursache-Wirkung-Mechanismen zu denken oder das Problem in einem der Beteiligten zu sehen. Vielmehr hat sich zwischen den Beteiligten – Eltern und Kindern – ein Muster herausgebildet, das irgendwann eine verhaltenssteuernde Qualität entwickelt hat, das heißt, das Muster bestimmt die Grenzen der Möglichkeiten der Verhaltensoptionen der Beteiligten mit der Gefahr der immer stärkeren Eskalation. Es ist ein großer Irrtum, einem der Beteiligten an diesem Muster einen größeren Anteil zuzuschreiben als einem anderen: Eltern und Kinder fühlen sich dann hilflos, stehen sozusagen mit dem Rücken an der Wand. Alle Beteiligten erleben sich als Opfer des Musters, das sie selbst erzeugen halfen. Auch wenn diesem Muster alle unterworfen sind, so haben Eltern mehr Möglichkeiten und Bewegungsfreiheit, um aus dem Muster auszusteigen und Lösungen zu finden. Wichtig ist, dass die elterliche Präsenz auf den verschiedenen Ebenen wiederhergestellt wird (Zusammenfassung s. Folie 9). Körperliche Präsenz: Eltern werden ihren Kindern am frühesten präsent durch den Körper, im Halten, im Umarmen und beim körperlichen Umgang mit dem Baby. Wenn das Kind größer wird, wird die körperliche Präsenz weniger, das Verlangen verschwindet aber keineswegs. Das Kind braucht die schützenden Hände, Arme, wenn es die Welt erobern will oder wenn es schreit. Bei all diesen Aktivitäten ist der Größenunterschied zwischen Elternteil und Kind bedeutungsvoll. Die Eltern haben in diesem Zusammenhang die Methode der Bärumarmung kennen gelernt. Von einem Kind, dessen Eltern praktisch abwesend erlebt werden, wird die Erfahrung der neuen körperlichen Präsenz der Eltern eine starke Botschaft sein im Sinne von »Ich bin hier, ich lasse dich nicht, ich verlasse dich nicht, ich gebe nicht auf, ich bin stärker als du, ich bleibe bei dir. Ich kann dieser Wut, deinen Verletzungen widerstehen, ich werde bei dir bleiben, so lange es dauert.« Eltern sollten sich nicht beirren lassen, wenn ihre Kinder anfänglich mit Skepsis, Wutanfällen oder heftigen Ausbrüchen reagieren. Das hält zumeist nicht lange an, in der Regel entspannen die Kinder sich nach einiger Zeit. Räumliche Präsenz: Bei älteren Kindern nimmt der direkte Körperkontakt ab und wird durch andere Maßnahmen ersetzt. So kann ein Elternteil den Ausgang aus der

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Wohnung mit Körpereinsatz verhindern, wenn ein Teenager zum Beispiel das elterliche Verbot offen hintergeht, das Haus zu nächtlicher Stunde zu verlassen. Diese Botschaft »Ich bin hier, ich werde nicht nachgeben, ich werde mich nicht von der Stelle rühren« – ist bei weitem stärker als eine, die nur durch Worte übermittelt wird. Die Wirkung ist umso größer, wenn ein Elternteil eine lange Zeit an der Tür bleibt (manchmal viele Stunden). Für den Fall, dass der Teenager trotzdem entwischt, hat er zumindest die Elternpräsenz in einem gewissen Grad mitbekommen – anders als bei einem Teenager, der annimmt, Vater und Mutter unternehmen ja doch nichts. In einem solchen Fall kann die räumliche Präsenz ausgeweitet werden, indem eine Suche nach dem Kind eingeleitet wird und Eltern persönlich an Stellen auftauchen, die für sie normalerweise tabu sind. Die Methode der gewaltfreien Einschränkung besteht darin, Überraschungsbesuche an Straßenecken, Videoshops und Clubs zu machen. Das Erscheinen von Eltern, die jeden nach ihrem Sohn, ihrer Tochter befragen, ist eine starke Präsenz für Jugendliche und wird konstruktive Erinnerungsspuren hinterlassen. Ein weiterer Aspekt, der zur räumlichen Präsenz gehört, hängt mit der Privatsphäre zusammen. Privatsphäre ist für Menschen etwas ganz wichtiges. Kinder sorgen sich schon sehr früh darum: Das ist mein Zimmer, mein Spielzeug. Eltern respektieren dies in aller Regel, sind aber gleichzeitig bemüht, ihren Kindern beizubringen, vorzuleben, dass Kinder die Ansprüche anderer zu respektieren haben und mit anderen zu teilen. Besitz und Territorium sind für die Entwicklung der Individualität bedeutsam. Das Territorium ist nicht nur eine Basis persönlicher Macht, es ist auch eine Machtquelle. Dies ist auch bei Jugendlichen zu beobachten: Wenn die Heiligkeit ihres Territoriums/Raums auf dem Spiel steht, können sie mit viel größeren Aggressionen reagieren, als das sonst der Fall ist. In Extremfällen kann es dazu kommen, dass Jugendliche sich in ihren Zimmern »verbarrikadieren« und ihre Räume nur noch nachts verlassen, um den Kühlschrank zu plündern. Diesen absoluten Anspruch des Territoriums können Eltern so nicht hinnehmen. Das Sit-in (s. o.) ist eine grundsätzliche raumgreifende Intervention, mit dem Ziel, das Kind zum ernsthaften Verhandeln zu bringen. Wir sind schon der Auffassung, den persönlichen Raum des Kindes zu respektieren, aber nur soweit er in legitimer Weise beansprucht wird. Wenn jedoch Kinder die räumliche Unversehrtheit beanspruchen, wird es für Eltern unumgänglich sein, den Kampf um diesen Raum zu führen, denn Besitzer sind immer noch die Eltern. Zeitliche Präsenz: Der Zeitfaktor bildet zusammen mit dem Raumanspruch die Grundlage der elterlichen Präsenz, nach dem Motto: »Ich nehme Zeit und Raum ein, folglich bin ich!« Eltern müssen sich fragen, ob sie bereit sind, Zeit zu investieren, etwa anstatt länger zu arbeiten, sich Zeit zu nehmen, im Zimmer des Kindes zu sitzen und darauf zu warten, dass es verhandelt. Zeit kann in vielerlei Hinsicht auch für die Eltern wirken, zum Beispiel bei den Methoden Prinzip des Aufschubs, konstruktive Unvorhersehbarkeit, Sit-in, Bärumarmung, Vertrag.

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Information und Aufsicht: Die Form der elterlichen Präsenz verändert sich ständig, während das Kind heranwächst. Eltern müssen so zum Beispiel bei Kindern im Pubertätsalter nicht ständig physisch anwesend sein, aber sie signalisieren ihre Dazugehörigkeit und Besorgnis dadurch, dass sie jederzeit wissen, wo ihr Kind sich befindet und was es tut. Und das Kind weiß, dass sie es wissen. Folgende Methoden wurden vorgestellt: gewaltfreie Einschränkung, Rundum-Telefonieren, Mobilisierung von Unterstützung und Öffentlichkeit. Andere Aspekte von Präsenz werden durch Interesse für und am anderen gezeigt. Mehr und mehr verwandelt sich elterliche Präsenz in eine Qualität persönlicher Zugehörigkeit, Anteilnahme und Freundschaft, die meist zwischen eng verwandten Personen ein Leben lang bestehen bleibt. Fragen dieser Art von Präsenz können sein: »Wie stellt du dir dein Leben vor? Hast du eine Idee, wie ich dich unterstützen könnte? Bist du zufrieden mit deinem Leben?« Die Veränderung der elterlichen Präsenz ist ein sensibler Prozess, bei dem es keine Orientierung an richtig oder falsch geben kann. Das Ziel der elterlichen Aufsicht ist nicht einfach nur Kontrolle, sondern die Übermittlung von Präsenz im Sinne von »Wir sind bei dir!«

Exkurs: Die Ängste der Eltern Um Eltern aus ihrer Hilflosigkeit herauszuholen, ist es wesentlich, ihre Ängste anzusprechen. Eltern sind in der Situation, sich gleichzeitig auf zwei Seiten zu ängstigen: – sie sind um ihre eigene Seite besorgt, dass das Kind sie zurückweisen oder gar angreifen könnte, und – um die des Kindes, dass sie ihm Schmerz oder Schaden zufügen könnten oder es zu gefährlichen Extremen veranlassen könnten. Diese doppelte Front kann zutiefst schwächen, so dass es entscheidend ist, die elterlichen Befürchtungen aufzudecken, die Ängste explizit zu machen, das heißt, die schlimmsten Phantasien und Vorstellungen sollten Worte bekommen, zum Beispiel: »Was ist Ihre extremste Befürchtung, was geschehen wird, wenn es so weiter geht wie bisher?« Die Ängste der Eltern sind niemals trivial. Ängste um Kinder erweisen sich zäher als die Befürchtungen, die man um sich selbst hat. Es sind nämlich die Ängste der Eltern (Suiziddrohungen, Drogensucht der Kinder, Autoaggression . . .), die sie zwingen, selbst den inakzeptabelsten Forderungen und Verhaltensweisen des Kindes nachzugeben. Insofern ist das Verhalten von Eltern nachvollziehbar. Was als elterliche Schwäche angesehen werden könnte, wird als Ausdruck elterlicher Sorge erkannt – ein Ansatzpunkt für eine Verschiebung ins Positive. Mit Eltern muss erarbeitet werden, dass Nachgeben zu diesem Zeitpunkt die gefährlichste Option ist. Nachgeben enthält die Botschaft der Verzweiflung, es kommt

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dem Abdanken der Eltern gleich. Das Kind wird sich aufgegeben fühlen. Es ist dieses Gefühl, das Kinder in schlimmes destruktives Verhalten führen kann. Was von Eltern und Kind gleichermaßen gebraucht wird,ist eine klare Manifestation der Elternpräsenz – nicht nachzugeben, nicht zu schlagen, nicht wegzulaufen und nicht gehen zu lassen, sondern bei dem Kind zu bleiben mit Körper und Geist, und auf eine Weise zu handeln, die ausdrückt: »Wir sind hier! Wir werden dich nicht aufgeben! Wir können nicht abgeschüttelt werden!« (Omer u. von Schlippe, 2002, S. 104).

Gruppenarbeit: Gedankenspiele Die Gruppe wird in Kleingruppen von drei bis fünf Personen eingeteilt. Jede Gruppe hat einen Stapel von Fragekärtchen auf dem Tisch liegen, die eine bestimmte Situation darstellen, zum Beispiel »Stellen Sie sich vor, Ihr Kind weigert sich, abends im Bett zu bleiben und bekommt statt dessen einen Schreikrampf!« Die Person, die die Karte gezogen hat, antwortet zunächst einmal ganz spontan, wie sie mit einer solchen Situation umgehen würde. Ihre Reaktion darf persönlich sein – also die eigenen Ansichten und Einstellungen wiedergeben. Zwischen- und Nachfragen der anderen Gruppenteilnehmer sind erwünscht, Wertungen sind zu vermeiden! Im Anschluss daran stellen die anderen Gruppenmitglieder ihre Lösungsstrategien vor und diskutieren, welche der bekannten Methoden von Omer in einer solchen Situation geeignet wären. Nach circa zwanzig Minuten kommt die Gruppe im Plenum wieder zusammen, und jede Kleingruppe stellt ein bis zwei Situationen und ihre herausgearbeiteten Lösungsstrategien vor.

Auswertung des Seminars anhand von Fragebögen Die Fragebögen (siehe Anhang) werden an die Teilnehmer ausgeteilt, die diese in Einzelarbeit beantworten sollen. Sie dienen den Teilnehmern zur Reflexion, vor allem aber die Kursleiterin zur Auswertung des Kurses.

Offene Fragerunde An dieser Stelle wird den Teilnehmern die Gelegenheit gegeben, alle Unklarheiten zu beseitigen, neue Fragen loszuwerden und strittige Punkte zu diskutieren.

Abschlussrunde Hier kann zum Beispiel ein Schatzkästchen mit Schlüssel unter folgender Fragestellung verwendet werden:

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1. Was hat sich mir in diesem Kurs erschlossen? 2. Was möchte ich nicht mehr mit nach Hause nehmen, sondern hier lassen, in das Kästchen einschließen? Die erste Frage zielt auf »Was hat sich mir eingeprägt? Was war besonders wichtig für mich? Was hat sich für mich verändert? Habe ich mich verändert?«, die zweite Frage auf »Was hat mich gehemmt, wovon ich mich jetzt verabschieden möchte?« ab. Alternativ kann zur Reflexion in der Gruppe auch das »Bild des Küchenschrankes« verwendet werden: – Gibt es genug Zutaten im Küchenschrank, um ein gutes Mahl zu kochen, ein einfaches, deftiges Mahl, ein Vier-Gänge-Menü? – Wie könnte Ihr individuelles Gericht aussehen? – Wie lange werden die Zutaten reichen? – Gibt es ein Verfallsdatum? – Wo stehen die verschiedenen Zutaten? – Ist der Zugang leicht oder schwierig? Zum Abschied wird jeder Teilnehmer sein Menü vorstellen.

➪ Verlauf der fünften Kurseinheit Tabelle 6: Übersicht über die fünfte Kurseinheit Top/Inhalt

Ziel

Organisationsform

Material

Zeit

2. Gruppenarbeit: Puzzle-Spiel

Erinnerung an die erarbeiteten Methoden

Kleingruppenarbeit

5 Puzzles in ver- 10" schiedenen Farben

3. Zusammenfassung der Methoden

Reflexion des Elternse- Plenum minars

Folie 9

4. Gruppenarbeit

Erfahrungsaustausch der Teilnehmer

Karten mit Fra- 20" gen: 1. Wie konnten Sie Methoden umsetzen? 2. Was hat Sie daran gehindert? 3. Welche Veränderungen haben Sie an Ihrem Kind wahrgenommen? 4. Was hat das mit dem Thema »Zeit« zu tun?

1. Begrüßung

Kleingruppenarbeit

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5"

Moderation

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Top/Inhalt

Ziel

Organisationsform

Material

6. Wunschzettel eines Kindes an seine Eltern

Wofür wünschen sich Kinder Zeit von den Eltern?

7. Gruppenarbeit

Bedeutung des Faktors Kleingrup»Zeit« in der Erziepen hung erkennen

8. Wofür möchte ich mit meinem Kind Zeit haben?

konkrete Umsetzungs- EinzelarKopien mit Ge- 10" möglichkeiten erarbei- beit, Stillar- dichttext und ten beit leeren Zeilen (Folie 10), Stifte

Vorlesen des Ge- Gedicht 2" dichtes 15" Moderatorenkarten, Stifte, Karten mit den Fragen: 1. Warum ist Zeit so wichtig für Sie und Ihre Kinder? 2. Was bedeutet Zeit für Sie konkret in Ihrer Alltagssituation?

9. Dokumentation der Überleitung zum The- Plenum Umsetzungsmöglich- ma protektive Faktoren Teilnehmer keiten schreiben ihre wichtigste Aussage auf Flipchart

10" Flipchart mit der Überschrift: Ich möchte mir Zeit nehmen mit meinem Kind für . . ., Stifte

10. Kurzreferat: Waprotektive Faktoren rum Zeit so wichtig und elterliche Präsenz ist

Plenum

Folie 11

11. Schlussrunde

Einzelarbeit Folie 12, Stifte und Plenum: Teilnehmer verabschieden sich mit einem Satz

Reflexion des Abends

Moderation

10"

5. Blitzlichtrunde: Vor- Klärung offener Fragen Plenum, aus stellung der Ergebjeder Grupnisse pe wird ein positives und ein negatives Beispiel vorgestellt Plenum

Zeit

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Begrüßung Eine kurze Begrüßung leitet die fünfte Kurseinheit ein.

Gruppenarbeit: Puzzle-Spiel Die Teilnehmer bilden Kleingruppen zu vier bis fünf Personen. Jede Gruppe bearbeitet ein Puzzle, das richtig zusammengelegt eine Methode der »elterlichen Präsenz« ergibt, die im Elternseminar erarbeitet wurden.

Zusammenfassung der Methoden Im Plenum reflektiert und visualisiert die Kursleiterin kurz die Methoden der elterlichen Präsenz (s. a. Folie 9).

Gruppenarbeit In Kleingruppen – drei bis vier Personen – werden die Teilnehmer aufgefordert, sich zu folgenden Fragen auszutauschen: 1. Wie gelang es Ihnen, die Methoden zur Erlangung der elterlichen Präsenz umzusetzen? 2. Was hat Sie daran gehindert? 3. Welche Veränderungen haben Sie an Ihrem Kind wahrgenommen? 4. Was hat das mit dem Thema »Zeit« zu tun? Ziel dieser Übung ist, dass sich die Teilnehmer bewusst auseinander setzen mit ihrer inneren Haltung und deren Auswirkung auf sie selbst und das soziale Umfeld, Wahrnehmung der zentralen Bedeutung von Zeit für Eltern und Kinder.

Blitzlichtrunde: Vorstellung der Ergebnisse Nach circa 15 bis 20 Minuten werden die Gruppen gebeten, im Plenum ein positives und ein negatives Beispiel vorzustellen. Durch diese Übung sollen die Teilnehmer angeregt werden, ihre Erfahrungen zu reflektieren und offene Fragen zu klären.

Wunschzettel eines Kindes an seine Eltern Die Kursleiterin liest ein Gedicht, das sich von seinem Titel her direkt an die Eltern wendet. Im Mittelpunkt des Gedichtes steht die Zeit, die Zeit, die Eltern oft nicht

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haben, auch nicht für ihre Kinder. Das Gedicht formuliert, was das Kind vermisst, das heißt, wofür es sich Zeit mit den Eltern wünscht. Die Kursleiterin vermittelt den Eltern, dass das Gedicht kein schlechtes Gewissen vermitteln soll, keinen Vorwurf beinhaltet. Es soll die Kostbarkeit von Zeit verdeutlichen. Eine wertschätzende Haltung gegenüber den Eltern sollte eingenommen werden! Eltern! Keine Zeit für liebe Worte Keine Zeit für eine Torte

Keine Zeit nach mir zu fragen Keine Zeit mal »komm« zu sagen

Keine Zeit mal mitzumachen Keine Zeit mal mitzulachen

Keine Zeit dabeizusein aber Zeit mich anzuschreien

Keine Zeit mich mal zu loben Keine Zeit mal mitzutoben

Keine Zeit für Zärtlichkeit Keine Zeit für Kinderleid Keine Zeit für ein Spiel Keine Zeit das ist nicht viel Jürgen Spohn

Gruppenarbeit Die Teilnehmer finden sich in denselben Kleingruppen wieder und tauschen sich über folgende Gesichtspunkte aus: – Warum ist Zeit so wichtig für Sie und Ihre Kinder? – Was bedeutet Zeit für Sie konkret in Ihrer Alltagssituation?

Wofür möchte ich mit meinem Kind Zeit haben? Jede Gruppe erhält die Fragen als Gedächtnisstütze schriftlich. Die Gruppen sprechen über die genannten Aspekte, ohne dass ein »Ergebnis« im Plenum vorgetragen werden sollte. Möchte sich jemand persönlich äußern, erhält er die Möglichkeit.

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Kinder brauchen Zeit – Eltern auch! Die Teilnehmer erhalten ein Gedicht mit Leerzeilen (Folie 10). Die Kursleiterin bittet die Teilnehmer, die leeren Kästchen zu ergänzen, so dass mindestens fünf der Aussagen eine konkrete Umsetzungsmöglichkeit im Alltag aufzeigen. Die Kursleiterin weist darauf hin, dass es weniger darum geht, zusammen Torte zu essen, als vielmehr gemeinsam zu backen! »Das Miteinander-Tun erzeugt ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und stärkt Ihr Kind und Sie im Selbstbewusstsein.«

Dokumentation der Umsetzungsmöglichkeiten Einige Umsetzungsmöglichkeiten werden im Plenum genannt, auf der Flipchart visualisiert und unter dem Aspekt Zeithaben beleuchtet. Dabei muss deutlich werden, dass auch Eltern Zeit für sich selbst brauchen. Zufriedene Eltern sind präsenter!

Kurzreferat: Warum Zeit so wichtig ist Im Mittelpunkt steht im Folgenden das Thema »Zeit«. Die Zeit, die Eltern oft nicht haben, auch nicht für die Kinder, aus den unterschiedlichsten Gründen. Zu betonen ist, dass wir sehr wohl wissen, wie schwierig es im Alltag ist durch die vielfältigsten Herausforderungen, Zeit zu haben für gemeinsames Tun mit den Kindern (neben den Tätigkeiten z. B. als Fahrerin, Beaufsichtigung der Schularbeiten etc.) Zeit zu haben für gemeinsames fröhliches Tun verbindet, schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl, ist damit von zentraler Bedeutung für Eltern und Kinder. »Sich Zeit nehmen für . . .« steht in einem engen Zusammenhang mit den protektiven Faktoren (Schutzfaktoren, s. Folie 11), die Kindern helfen können, auf dem manchmal vielleicht schmalen Pfad zwischen positiver Lebensfreude einerseits und NullBock-Haltung, Verweigerung andererseits. Im Seminar wurde im Zusammenhang mit elterlicher Präsenz auch das Thema Zeit angesprochen »Ich nehme mir Zeit und Raum . . .« Sich Zeit zu nehmen stärkt das Selbstbewusstsein, befähigt die Kinder, sich den Problemen zu stellen, zu lernen, Nein zu sagen. Kinder spüren, dass sie wichtig sind und werden begreifen, andere Menschen wichtig zu nehmen. Es befähigt Kinder, Kontakte zu knüpfen, zu vertiefen, aber auch zu beenden. Sie lernen durch Einfühlen andere zu verstehen, das heißt sich Zeit nehmen stärkt die Sozialkompetenz. Das Kind lernt den Augenblick zu genießen, zu entspannen, die Seele baumeln zu lassen. Die Neugier für das Schöne und Interessante in dieser Welt bleibt wach. Selbstkontrolle und Frustrationstoleranz sind weitere wichtige Schutzfaktoren, die dem Kind vermitteln: »Ich muss nicht alles sofort haben, ich kann mit Grenzen umgehen!« Das Kind nimmt seine Gefühle wahr, kann sie zulassen, ausdrücken; es kann mit seinen Stimmungen umgehen. Protektive Faktoren sind Zukunftsperspektiven, Sinn, Werte. Das Kind könnte dann sagen: »Leben lohnt sich, macht Sinn, ich weiß, wofür

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ich mich einsetze. Es gibt etwas, woran ich mich halten kann. Auch wenn etwas ganz Schlimmes passiert, gebe ich nicht auf und weiß damit umzugehen.« Der Faktor Zeit, sich bewusst Zeit nehmen für etwas, bildet eine entscheidende Grundlage für die elterliche Präsenz. Als Impuls folgen einige »Ratschläge«, wie Kinder ermutigt werden könnten, ein nicht angemessenes Verhalten zu entwickeln. – Hören Sie Ihren Kindern niemals zu, sprechen Sie über sie, aber niemals mit ihnen. – Vermeiden Sie, sich in der Familie zusammenzusetzen. – Schaffen Sie Familientraditionen und -rituale ab, auf die Ihre Kinder sich womöglich freuen können. – Untergraben Sie die Rolle Ihres Erziehungspartners und lassen Sie ihn/sie keinen Einfluss nehmen, gewinnen. – Legen Sie Wert auf die äußere Form und lassen Sie die Finger von lästigen Wertediskussionen. – Halten Sie Ihrem Kind immer wieder Vorträge über die Gefährlichkeit von bestimmtem Verhalten (z. B. rauchen), aber Ihr eigenes Verhalten spielt keine Rolle. – Setzen Sie klare Prioritäten für die Bedeutung von materiellen Werten für Ihr Leben und das Ihrer Familie. – Erwarten Sie von Ihren Kindern, dass sie in ihrem späteren Leben einmal all das verwirklichen, von dem Sie geträumt haben. – Lassen Sie Ihr Kind niemals selbst Verantwortung übernehmen, kümmern Sie sich um alle Angelegenheiten selbst. – Lösen Sie die Probleme Ihrer Kinder, treffen Sie für sie die Entscheidungen.

Schlussrunde Die Kursleiterin fordert die Teilnehmer auf, das Erlebte, Erfahrene und das eigene (Erziehungs-)Verhalten zu überdenken mit Sätzen wie: »Nehmen Sie sich Zeit, den heutigen Abend nochmals innerlich Revue passieren zu lassen. Was war für Sie eher schwierig, was besonders wichtig und hilfreich?« Die Kursleiterin verteilt an jeden Teilnehmer ein Blatt mit angefangenen Sätzen und bittet sie, die Sätze entsprechend ihrem Gefühl und Erleben zu vervollständigen (Folie 12). Anschließend verabschieden sich die Teilnehmer mit einem für sie wichtigen Satz.

Literatur Jacobson, E. (1990). Entspannung als Therapie. Progressive Relaxation in Theorie und Praxis. München: Pfeiffer. Omer, H., Schlippe, A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rinpoche, S. (1993). Das tibetische Buch vom Leben und Sterben. München: Barth Verlag.

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Anhang Folie 1 Ablaufplan des Elternseminars 1. Kurseinheit 1. Begrüßung und Einführung in das Seminar 2. Vorstellungsrunde 3. Referat: Verlust der elterlichen Stimme 4. Schweigende Gruppenarbeit zum Thema aggressives, unsicheres und sicheres Verhalten 5. Skulpturarbeit 6. Schlussrunde: Wetterbericht 2. Kurseinheit 1. Blitzlichtrunde 2. Gruppenarbeit zum Thema elterliche Präsenz 3. Referat: Elterliche Präsenz 4. Hausaufgabe 5. Einführung der ersten Methode: Die Bärumarmung 6. Einführung weiterer Methoden 7. Fragerunde und Diskussion 8. Schlussrunde 9. Anregung 3. Kurseinheit 1. Einstieg: Tempoübung 2. Rollenspiele 3. Referat: Eskalationsdynamiken 4. Gruppenarbeit: Blockierende Lebensregeln loslassen 5. Hausaufgabe 6. Einführung weiterer Methoden 7. Abschluss 4. Kurseinheit 1. Entspannungsübungen (nach Jacobson, alternativ: Autogenes Training) 2. Wiederholung der vermittelten Inhalte und Methoden 3. Gruppenarbeit: Gedankenspiele 4. Auswertung des Seminars anhand von Fragebögen 5. Offene Fragerunde 6. Abschlussrunde

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Folie 2 Konzept der elterlichen Präsenz Dieses Konzept – beinhaltet keine Vorschriften über den richtigen Weg von Erziehung und Familienleben.

– sieht von jeglicher Beschuldigung der Eltern ab, ursächlich für das gestörte Verhalten verantwortlich zu sein. – verzichtet auf Gewalt in jeder Form, sowohl auf physische Gewalt, als auch auf psychische Gewalt (z. B. Demütigung und Kränkungen). – sieht vor, dass alle Beteiligten in den Auseinandersetzungen das eigene Gesicht wahren können. – gibt Eltern Kraft, Autorität zu sein, ohne zu Gewalt zu greifen. Das Konzept der elterlichen Präsenz soll Eltern helfen, eine elterliche Stimme wiederzufinden!

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Folie 3 Selbstsicheres Verhalten Definition: Selbstsicheres Verhalten zeichnet sich dadurch aus, dass die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Vorstellungen geäußert werden und dass man für seine legitimen Rechte eintritt, ohne die Rechte anderer zu schmälern. – Das Verhalten ist emotional ehrlich und direkt und fördert das Selbstwertgefühl und die Selbstdarstellung.

– Diese Personen treffen ihre Entscheidungen selber, sind zuversichtlich und haben eine positive Einstellung zu sich selbst. – Meistens werden dadurch die Ziele erreicht, wenn nicht, lässt die positive Einstellung trotzdem nicht nach, im Bewusstsein, richtig gehandelt zu haben. Konsequenz: – gutes Gefühl zu sich selbst,

– hebt das Selbstvertrauen, – führt zu freien, ehrlichen Beziehungen.

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Folie 4 Selbstunsicheres Verhalten Definition: Typisch für selbstunsicheres Verhalten ist es unter anderem, dass die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Vorstellungen nicht geäußert werden, die eigenen Rechte ignoriert und anderen Eingriffe in diese gestattet werden. – Das Verhalten ist emotional nicht aufrichtig, gehemmt und selbstverleugnend.

– Die Personen sind ängstlich und enttäuscht von sich selbst. – Sie erlauben anderen, an ihrer Stelle zu wählen und zu entscheiden, und erhoffen sich dadurch, unangenehme, riskante Situationen zu vermeiden sowie Konfrontationen, Spannungen und Konflikten auszuweichen. Konsequenz: – Die Personen erreichen nicht, was sie wollen.

– Sie sind fremdbestimmt. – Groll staut sich auf. – Sie fühlen sich in ihrer Haut nicht wohl.

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Folie 5 Aggressives Verhalten Definition: Kennzeichnend für aggressives Verhalten ist, dass eigene Gefühle, Bedürfnisse und Ideen auf Kosten anderer geäußert werden, dass man für seine eigenen Rechte eintritt, aber die Rechte anderer ignoriert, dass man andere zu beherrschen oder gar zu demütigen sucht. – Dieses Verhalten fördert zwar die Selbstdarstellung, ist aber feindselig und ist nur eine Abwehrhaltung, um das geringe Selbstwertgefühl zu überspielen.

– Diese Personen wollen sowohl für sich selbst als auch für andere Entscheidungen treffen. – Durch dieses Verhalten reagieren sie ihre angestaute Wut ab und erreichen auch manchmal ihr Ziel (aber nur kurzfristig). Konsequenz: – Entfernung von anderen Menschen, – Gefühle der Frustration und Verbitterung bis hin zur Einsamkeit.

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Folie 6 Die Grundlagen der elterlichen Präsenz Die drei Aspekte der elterlichen Präsenz: 1. die Fähigkeit, wirksame Handlungen auszuführen. 2. ein Bewusstsein für ein eigenes moralisches und persönliches Selbstvertrauen. 3. das Gefühl, dass die eigenen Anstrengungen von anderen eher unterstützt als verurteilt werden. Alle drei Aspekte sind eng verbunden: Die Kraft zu Handeln beruht auf den persönlichen Überzeugungen der Eltern, die ihrerseits durch die soziale Unterstützung aufrechterhalten werden. Wenn sie fähig sind zu sagen: »Ich kann handeln!«, »Das ist richtig!« und »Ich bin nicht allein!«, dann basiert ihr Handeln auf elterlicher Präsenz.

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Folie 7 Symmetrische Eskalation

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Folie 8 Komplementäre Eskalation

Jugendliche: Kann ich heute Abend ins Atrium? Fete ist angesagt.

Mutter: Na gut, du machst ja doch, was du willst.

Mutter: Na gut, aber spätestens um 23.00 Uhr bist du bitte wieder da.

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Folie 9 Zusammenfassung Elterliche Präsenz geht verloren durch: – Schuldgefühle, schlechtes Gewissen

– – – – – –

Angst, etwas falsch zu machen Misstrauen gegenüber sich selbst Mitleid Furcht und Horrorgedanken zu viele Worte Verlust der eigenen Individualität

Wiederherstellung der elterlichen Präsenz mittels: – körperlicher Präsenz

– räumlicher Präsenz – zeitlicher Präsenz – Information und Aufsicht Methoden des gewaltlosen Widerstands: – Bärumarmung (bis ca. sieben Jahre)

– – – – – – – – – –

Prinzip des Nicht-Hineingezogenwerdens Prinzip des Aufschubs Ankündigung Sit-in gewaltfreie Einschränkung Mobilisieren von Unterstützung und der Öffentlichkeit Rundumtelefonieren, Vernetzung konstruktive Unvorhersehbarkeit Verträge Gesten der Liebe/Versöhnung

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Auswertungsbogen zum Seminar: »Grenzen setzen ist nicht schwer, sie einzuhalten um so mehr!« Bitte geben Sie Ihre Einschätzung durch Ankreuzen der entsprechenden Ziffer an, wobei 0 die negativste, 10 die positivste Wertung darstellt. 1. Wurden Ihre Erwartungen an das Seminar erfüllt? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 2. War der Informationsteil für Sie ausreichend? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 3. Wie fanden Sie den Aufbau der Abende? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 4. Haben die praktischen Übungen Sie angesprochen? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 5. Fühlten Sie sich von einzelnen Aspekten persönlich betroffen? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 6. Konnten Sie Ihre Erfahrungen mit anderen teilen? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 7. Haben Sie eine oder mehrere der eingeführten Methoden bereits anwenden können? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 8. Empfanden Sie die Umsetzung der Methoden als schwierig? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 (0 = sehr schwierig) (10 = nicht schwierig) 9. Was genau empfinden Sie als schwierig, was hemmt Sie, die Methoden anzuwenden? _____________________________________________________________ _ ___________________________________ __________________________ Wie gefiel Ihnen: – die schweigende Gruppenarbeit zum Thema aggressives, sicheres und unsicheres Verhalten? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 – die anschließende Skulpturarbeit zu dem Thema? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 Wie fanden Sie: – die Gruppenarbeit: »Wie präsent habe ich meine Eltern erlebt?« 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 – die Gruppenarbeit: Blockierende Lebensregeln loslassen? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 – die Gruppenarbeit: Gedankenspiele? 0 ------ 1 ------ 2 ------ 3 ------ 4 ------ 5 ------ 6 ------ 7 ------ 8 ------ 9 ------ 10 Woran würden Sie merken, dass das Seminar für Sie erfolgreich war? _________________________________________________________________ _________________________________________________________________ Was Sie sonst noch sagen möchten: ____________________________________

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Folie 10 Kopiervorlage Eltern!

für liebe Worte

nach mir zu fragen

für eine Torte

mal »komm« zu sagen

mal mitzumachen

dabeizusein

mal mitzulachen

mich anzuschrein

mich mal zu loben

für Zärtlichkeit

mal mitzutoben

für ein Spiel

für Kinderleid

das ist nicht viel

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Folie 11 Protektive Faktoren – Selbstbewusstsein, Selbstachtung, Selbstvertrauen, Ich-Stärke

– – – – – – – –

Selbstkontrolle, Frustrationstoleranz Konfliktfähigkeit, Belastbarkeit Gesundheitsbewusstsein soziale Kontaktfähigkeit, Gruppenzugehörigkeit, Einfühlungsvermögen Genuss- und Erlebnisfähigkeit, Lebensfreude, Träume Umgang mit Gefühlen Zukunftsperspektiven, Sinn, Werte Umgang mit Schicksalsschlägen

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Folie 12 Kopiervorlage Ergänzen Sie bitte folgende Satzanfänge: – Ich habe erfahren, dass . . .

– – – – – – – – –

Ich fand schön, dass . . . Für mich war es nicht so gut, dass . . . Ich habe Mut bekommen, . . . Ich habe mir vorgenommen, . . . Künftig werde ich . . . Mir ist deutlich geworden, dass ich . . . Ich war glücklich, dass ich . . . Ich habe erlebt, dass ich . . . Ich konnte kaum glauben, dass ich . . .

Überlegen Sie sich einen Satz, den Sie der Gruppe sagen möchten.

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Olaf Düring

»IchhabeimmermehrsoeinWillkommensgefühl...«

Erfahrungen in der Anwendung

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Olaf Düring

»Ich habe immer mehr so ein Willkommensgefühl . . .« Eine Fallbeschreibung zum Elterncoaching in gewaltfreiem Widerstand in einer Familienberatungsstelle

Zum Erstkontakt in der Beratungsstelle erscheint Frau Gundlach (alle Namen geändert), eröffnet das Gespräch weinend mit dem Satz »Meine Tochter geht den Bach runter« und kann während des gesamten Gespräches kaum aufhören zu weinen. Die Beratungsstelle sei ihr vom Jugendamt empfohlen worden, an das sie sich in ihrer Not gewendet habe. Ihre 14-jährige Tochter Sabrina mache was sie wolle, halte sich an keine Regeln und Absprachen mehr und sei sehr aggressiv. Sie habe mehrfach geklaut, sei erwischt worden und nehme deshalb im Rahmen der Jugendgerichtshilfe an einem Erfahrungskurs teil. Öfters komme sie nachts nicht nach Hause, sie wisse nicht, wo sie schlafe. Ob die Tochter Drogen nehme, wisse sie nicht genau, vermute aber Cannabis-Konsum. Gegenüber der Mutter sei sie respektlos, dreist und überhäufe sie mit Vorwürfen wie »Du machst nichts für mich«. Letzter Anlass für die Mutter, nach Hilfe zu suchen, sei gewesen, dass Sabrina gemeinsam mit einem anderen Jugendlichen mit dem Auto des Partners der Mutter heimlich eine Spritztour gemacht habe. Alkohol sei dabei auch im Spiel gewesen, sie habe eine Schnapsflasche im Auto gefunden. Die Mutter gehe nur noch mit dem Autoschlüssel und anderen Wertsachen ins Bett. Alle bisherigen Lösungsversuche seien fruchtlos geblieben, so habe sie versucht, Sabrina »links liegen zu lassen«, habe »gestreikt«, manchmal habe sie es auch mit Nachgiebigkeit und Einlenken probiert, auch habe sie sich um Unterstützung durch den getrennt lebenden Vater bemüht. Sie könne nicht mehr, fühle sich vollkommen hilflos und frage sich, ob sie »versagt habe«. Frau Gundlach ist allein erziehend, lebt seit ungefähr einem Jahr mit ihrem neuen Partner und ihrer Tochter zusammen. Sie sei seit der Geburt ihrer Tochter mehr oder weniger allein erziehend gewesen. Mit dem Vater von Sabrina, einem Sinti, sei sie bis vor zwei Jahren liiert gewesen, allerdings nur als »Zweitfrau«, da Herr Liebelt seine Ehefrau, mit der er vier Kinder zwischen 30 und 16 Jahren habe, nicht verlassen wollte. Ihr Verhältnis sei aber offen gewesen, Sabrina sei viel bei ihrem Vater. Überhaupt verbinde die beiden ein inniges Verhältnis, der Vater vergöttere seine Tochter und verwöhne sie sehr, vor allem materiell. Dies sieht die Mutter auch als eine Ursache der Probleme an. Seit der Trennung vor zwei Jahren, die von ihr ausgegangen sei, seien kaum Absprachen möglich. Sabrina könne die Eltern gegeneinander ausspielen. Frau Gundlach ist berufstätig, arbeitet konstant in der Frühschicht einer Fabrik täglich von 5 bis 13 Uhr. Sabrina sei schulisch abgesackt, wechselte letztes Jahr von der Real- auf die Hauptschule, habe aber auch dort schlechte Leistungen und schwänze häufig den Unterricht.

In Erst- und Zweitgespräch wird unter anderem eine Beratungsvereinbarung getroffen, die im Wesentlichen eine Unterstützung der Mutter mit den Methoden des

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gewaltlosen Widerstands zum Inhalt hat. Die Gespräche werden von einer Psychologiestudentin (Frau Nelia Wiegard) begleitet, die in der Beratungsstelle ein Praktikum absolviert. Die Möglichkeit des Einbezugs des Vaters wurde von Frau Gundlach sehr skeptisch eingeschätzt. Auch die Jugendamtsmitarbeiterin, mit der Rücksprache gehalten wird, zeigt sich diesbezüglich aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Familie sehr pessimistisch. Man könne im besten Fall durch Beratung die Mutter etwas stärken, was auch der Hintergrund für ihre Empfehlung gewesen sei. Zur nächsten Sitzung, die eigentlich als gemeinsames Elterngespräch geplant gewesen war, erscheint Frau Gundlach allein. Sie habe sich in der Stadt mit Sabrinas Vater getroffen, kurz vor der Beratungsstelle habe er aber nicht mehr mitgewollt und sei abgehauen. Die Mutter wollte daraufhin den Vater noch einmal bitten, mit der Beratungsstelle zunächst einmal telefonisch Kontakt aufzunehmen. Weiterhin berichtet die Mutter stolz, dass ihr ein ungeplantes »Sit-in«, das sie nach der Lektüre der Elternanleitung spontan gemacht habe, gut gelungen sei: nach einer Auseinandersetzung habe sie den Rückzug von Sabrina nicht akzeptiert, sei ihr in das Zimmer nachgegangen und habe so lange insistiert, wissen zu wollen, »was los ist«, bis die Tochter nachgab und etwas von sich erzählte. Daraus habe sich ein gutes Gespräch entwickelt, das die Atmosphäre auch danach positiv verändert habe. Das sei eine anstrengende, aber auch gute Erfahrung für die Mutter gewesen. Ein weiterer Inhalt dieser dritten Sitzung war die Körbeübung, bei der Frau Gundlach das nächtliche Wegbleiben und den Drogenkonsum als Verhaltensprobleme höchster Priorität auswählte, gegen die sich ihr Widerstand richten sollte. Beim nächsten Beratungskontakt eine Woche später hat sich die Situation aus Sicht der Mutter wieder verschlechtert. Sabrina schwänze die Schule, belüge sie, sei nachts nicht nach Hause gekommen. Mitten in diese Schilderung erfolgt ein Anruf des Vaters auf das Handy der Mutter, es kommt auf diese Weise ein kurzer Kontakt zustande, ich vereinbare mit dem Vater einen Gesprächstermin für ihn allein, der aufgrund seiner »Terminprobleme« erst in zwei Wochen sein kann. Mit der Mutter wird dann weiter gearbeitet mit der Formulierung einer Ankündigung. Frau Gundlach nimmt den Entwurf mit nach Hause, will ihn überarbeiten. Eine Woche später berichtet die Mutter, dass sie die Ankündigung noch nicht gemacht habe, sie überlege, den Vater dabei mit einzubeziehen. Die Ankündigung wird im Rollenspiel geübt, dabei werden mehrere Durchgänge nötig, weil Frau Gundlach sich immer wieder in eine Diskussion verstricken lässt. Weiterhin berichtet die Mutter, dass es ihr zunehmend gelänge, mit einem »Willkommensgefühl« ihrer Tochter zu begegnen. Sie verzichte auf Vorwürfe und versuche Sabrina zu zeigen, wie wichtig sie ihr sei. Daran anknüpfend wird in der Sitzung noch das Thema Deeskalationsprinzipien und Versöhnungsgesten vertieft. Wieder eine Woche später erscheint der Vater in Beratungsstelle, allerdings mit einer dreißigminütigen Verspätung und in Begleitung eines Beauftragten eines Verbandes der Sinti und Roma. Herr Liebelt bleibt im Gespräch eher passiv, verweist häufig auf den Verbandsbeauftragten, als ob dieser wie ein Anwalt seine Interessen

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zu schützen habe. Dieser zeigt sich aber kooperationsbereit und gibt entsprechende Signale an den Vater. Die Atmosphäre entspannt sich, inhaltlich dreht sich das Gespräch um die Sorge des Vaters um seine Tochter und darum, welche Bedeutung Signale der elterlichen Kooperation an Sabrina haben würden. Der Vater stimmt einem gemeinsamen Elterngespräch zu. Beim nächsten Termin kommt die Mutter aber zunächst noch allein. Sie berichtet, dass sie die Ankündigung gemacht habe, indem sie den Zettel, der von ihr und dem Vater unterschrieben worden sei, der Tochter übergeben habe. Sabrina habe den Zettel kommentar- und regungslos entgegengenommen. Außerdem wird mit Frau Gundlach ein »Notfallplan« erarbeitet, für den Fall, dass Sabrina weiterhin nachts weg bleibt: Aktivierung des Vaters, Nutzung der Telefonliste, die die Mutter bis dahin schon vorbereitet hatte. Ein weiteres Thema ist die Suche nach möglichen weiteren Unterstützern. Zum nächsten Gespräch kommt die Mutter mit ihrem jetzigen Partner. In der Zwischenzeit habe sich die Situation etwas verbessert, es sei eine »ruhige Woche« gewesen. Der Partner von Frau Gundlach zeigt sich kooperativ und an einer Veränderung interessiert, betonte dabei aber auch, dass er nicht der Vater sei und seine Unterstützerrolle mehr darin liege, seiner Partnerin den Rücken zu stärken. Das nächste (neunte) Gespräch war als Elterngespräch geplant gewesen, dreißig Minuten davor sagt Herr Liebelt aber telefonisch ab, er könne wegen eines Arzttermins nicht kommen. So wird das Gespräch allein mit der Mutter geführt, die vollkommen deprimiert und resigniert von erneutem Wegbleiben und einer Beziehungsverschlechterung erzählt: »Alles ist umsonst, es bringt nichts . . .«. Im weiteren Gespräch gelingt es der Mutter, den Rückschlag auch unter dem Aspekt einer erneuten Herausforderung zu sehen. Es wird ein Sit-in zu diesem Thema überlegt. Dann ist es soweit: Die nächste Sitzung wird als Elterngespräch geführt, ungefähr zwei Monate nach dem Erstgespräch mit der Mutter. In der Zwischenzeit war die Situation noch einmal eskaliert. Neben dem nächtlichen Wegbleiben hatte Sabrina ihre Mutter so sehr bedroht, dass diese die Polizei zu Hilfe holte, die die Situation darüber löste, Sabrina zu ihrem Vater zu bringen, wo sie sich seitdem aufhalte. Trotz dieser erneuten Eskalation wirkt die Mutter deutlich weniger resigniert als beim letzten Gespräch, ist motiviert zum Weitermachen. Die Eltern sind darüber auch mehr in den Kontakt gekommen, beide beschreiben ihr derzeitiges Verhältnis als entspannter und kooperativer, was in der Sitzung auch sichtbar wird. So wird überlegt, wann Sabrina wieder zur Mutter zurückkehrt, wie die Eltern bei einem erneuten nächtlichen Wegbleiben eine gemeinsame Suchaktion starten können. Der Vater möchte einen Urlaub, den die Mutter mit ihrer Tochter geplant hatte (eine Woche Türkei als Versöhnungsmaßnahme) finanzieren. Schließlich wird ein gemeinsames Sit-in besprochen. Dies wird in einem Rollenspiel erprobt (die den Fall begleitende Praktikantin spielt dabei Sabrina). Mehrere Durchgänge sind nötig, bis die Eltern sich an die Prinzipien des Sit-ins halten können und sich nicht in Diskussionen verwickeln lassen. Dies ist übrigens eine Erfahrung, die wir in der Arbeit mit dem ge-

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Olaf Düring

waltlosen Widerstand häufiger machen: Erst im Rollenspiel wird deutlich, wie wenig oder viel die Eltern von den Prinzipien einer Ankündigung oder eines Sit-ins verstanden haben oder in der Lage sind, umzusetzen. Deshalb scheint mir die Durchführung eines erprobenden und übenden Rollenspiels bei diesen Interventionen wichtig und hilfreich zu sein. Das nächste Elterngespräch findet urlaubsbedingt vier Wochen später statt. In der Zwischenzeit war die Mutter tatsächlich mit ihrer Tochter eine Woche in der Türkei im Urlaub gewesen, was für die Beziehung sehr gut gewesen sei. Sie hätten viel Zeit miteinander verbracht, schöne Momente geteilt und insgesamt in einem guten Kontakt gewesen. Das habe zu Hause auch angehalten. Sabrina sei wieder bei der Mutter, ihr Verhältnis sei deutlich entspannter, Sabrina halte sich an Absprachen und sie würden mehr miteinander reden. Das geplante Sit-in hatten die Eltern nicht durchgeführt, stattdessen hätte es aber mehrere ernsthafte gemeinsame Gespräche und auch gemeinsame Unternehmungen (Essen gehen) mit ihrer Tochter gegeben. Ein Sit-in sei ihnen deshalb unpassend vorgekommen. Die Eltern sind hocherfreut über die Entwicklung und zeigen sich zuversichtlich, dass dies anhält. Es wird ein Auslaufen der Beratung mit noch zwei Terminen vereinbart. Beim nächsten Gespräch berichten die Eltern, dass die Veränderung stabil geblieben sei. Es habe aber auch einen Rückschlag gegeben. Sabrina sei einmal abends nicht nach Hause gekommen. Frau Gundlach habe den Vater noch in der Nacht informiert, die Eltern hätten einige Telefonate geführt, ohne Sabrina aufspüren zu können, die in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen sei. Dies sei mitten in der Woche gewesen, Sabrina sei nach zwei Stunden Schlaf von selbst aufgestanden und in die Schule gegangen. Die Eltern hätten es geschafft, eine Konflikteskalation zu vermeiden, hätten Sabrina nur ruhig mitgeteilt, dass es nicht in Ordnung gewesen sei. Die Eltern verbuchen diesen Vorfall eher als Stärkung. Beim Rausgehen bemerkt der Vater noch einmal, wie gern er zur Beratung komme, ich als Berater hätte so eine »beruhigende Art«. Beim Abschlussgespräch vier Wochen später, knapp fünf Monate nach dem Erstgespräch und nach zwölf Terminen, hat sich die Situation weiter positiv stabilisiert: Mutter und Tochter seien weiter in einem besseren Kontakt, Sabrina nehme keine Drogen mehr, halte sich Absprachen, gehe regelmäßig zur Schule. Frau Gundlach sei psychisch stabiler, fühle sich nicht mehr so hilflos und lasse sich von Sabrina nicht mehr provozieren. Die Beratung habe ihnen sehr geholfen, insbesondere das »Sortieren« der Probleme, die Anleitung zur Beziehungsverbesserung über Versöhnungsgesten und Deeskalationsstrategien und ganz wichtig auch darüber, dass die Eltern jetzt mehr an einem Strang zögen. Sabrina sei kein Engel und werde auch keiner werden, auch der »schlechte Umgang« macht besonders dem Vater nach wie vor Probleme. Dennoch sei eine große Veränderung passiert (was sich auch in den Einschätzungen der Mutter im Fragebogen zur elterlichen Präsenz im Vorher-Nachher-Vergleich widerspiegelt) und beide Eltern zeigen sich optimistisch, in Zukunft mit den Problemen besser umgehen zu können.

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Warum mache ich mir die Mühe, diesen Beratungsprozess nachzuzeichnen? Zunächst gehört er zu den Fällen, bei denen erfolgreich vorrangig mit dem Konzept der elterlichen Präsenz und gewaltfreien Widerstand gearbeitet wurde. Das ist nicht die Regel: Oft sind die Eltern nicht zu so einem Vorgehen zu motivieren oder aber einige Interventionen des gewaltfreien Widerstands sind nur ein Baustein neben anderen im Beratungsverlauf. Und es gibt die Fälle, die nicht so erfolgreich verlaufen, zumindest, wenn man das Kriterium der Verhaltensänderung des Jugendlichen anlegt – was nicht bedeutet, dass das Elterncoaching ein Misserfolg ist. Bei einigen Fällen gelang es nicht, eine Konflikt- und Gewalteskalation mit dem Konzept des gewaltlosen Widerstands zu verhindern und es kam zu Fremdunterbringungen. Dennoch fühlten sich die Eltern gut unterstützt und blieben auch nach der Herausnahme des Jugendlichen im Beratungskontakt. Das Konzept des gewaltlosen Widerstands ist kein Allheilmittel zur Verhinderung einer Fremdunterbringung. Weiterhin ist dieser Fall überraschend gut verlaufen: Unsere Skepsis zu Beratungsbeginn war groß, ob der gewaltlose Widerstand hier aufgrund der mangelnden sozialen Unterstützung und vor allem aufgrund der schlechten elterlichen Kooperation hilfreich sein könnte. Man kann es natürlich auch anders herum sehen. Gerade die Beharrlichkeit, trotz der pessimistischen Prognosen von Mutter und Jugendamt an der elterlichen Kooperation zu arbeiten, war ein Schlüssel zum Erfolg. Insofern illustriert der Fall die Bedeutsamkeit dieser Ebene und macht Mut, es »trotzdem zu probieren«, auch wenn die Voraussetzungen nicht gut erscheinen. Schließlich wird deutlich, wie wenig es auf darauf ankommt, dass die Klienten »lege artis« und stringent den Coaching-Empfehlungen des gewaltlosen Widerstands folgen. Der Beratungsverlauf nimmt mitunter verschlungene Wege und ist trotzdem hilfreich, die Haltung von Eltern zu verändern und die Eltern-Kind-Beziehung zu verbessern – worauf es auch bei dieser Methode am meisten ankommt.

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Bruno Körner und Elisabeth Uschold-Meier

PädagogischePräsenzinderHeimerziehung

Bruno Körner und Elisabeth Uschold-Meier

Pädagogische Präsenz in der Heimerziehung Gewaltloser Widerstand – auch im Rahmen stationärer Jugendhilfe?

Im Folgenden wollen wir interessierte Kolleginnen und Kollegen an unseren Erfahrungen teilhaben lassen, die wir bei unserem Projekt machten: Die Haltungen und Maßnahmen im Modell des gewaltlosen Widerstands (GLW), die Omer und von Schlippe (2004) für die Arbeit von Familien mit gewalttätigen Kindern entwickelt haben, in einer Wohngruppe der stationären Heimerziehung umzusetzen. Wir möchten darlegen, welche Leitlinien und Prinzipien für uns wichtig waren und rückblickend resümieren, welche Bedingungen, Voraussetzungen und Ressourcen unseres Erachtens nötig sind, um ein solches Projekt gelingen zu lassen. Unsere Erfahrungen sollen Hilfe und Anregung sein und Mut machen, den Schritt zur eigenen Umsetzung einer Erziehung mit Präsenz im professionellen Rahmen zu wagen. Im Herbst 2002 fand an der Fachhochschule Würzburg in Kooperation mit der Evangelischen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe Würzburg ein Familiensymposion statt, bei dem Haim Omer seine Theorien und praktischen Erfahrungen zum gewaltfreien Widerstand in der Erziehung vorstellte. Als professionell Erziehende faszinierte uns von Beginn an die Fragestellung, wie weit und ob das »Coaching für Eltern« sich in die Heimerziehung transportieren lassen kann. Denn wie jeder Profi, der in der stationären Jugendhilfe tätig ist, weiß, sind es vor allem die dominanten, die starken Kinder und Jugendlichen, die »im Heim Karriere machen«. Die gewaltbereiten Kinder und Jugendlichen, die Ausreißer und Drogen missbrauchenden Jugendlichen wandern häufig von einer Gruppe zur nächsten, von einer Einrichtung in die andere und sind auch von den Profis – oft im wahren Sinne des Wortes – nicht zu halten. Sie bekommen in der Heimerziehung häufig »ein Mehr desselben« dessen, was sie bereits zu Hause erlebt haben. Und sind hier wie dort der Hilflosigkeit von Erwachsenen ausgesetzt. So verfestigen sie ihre destruktiven Verhaltensund Beziehungsmuster, finden keinen Weg aus dem Teufelskreis. Ein Heer von Eltern und Fachleuten der verschiedensten Berufssparten schaut ihnen nach auf ihrem Weg, der sie direkt in das gesellschaftliche Abseits führen wird. Dabei verschließen Experten oft die Augen vor den eigenen Anteilen, mit denen sie selbst zur Manifestierung solcher Verhaltensweisen beigetragen haben. Meist findet nur das oppositionelle Verhalten Beachtung. Das ihm zugrunde liegende Bedürfnis von Kindern und Jugendlichen nach wirklicher Präsenz von Er-

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wachsenen, die Halt und Orientierung geben, ohne autoritär zu sein, wird nicht mehr wahrgenommen. Die Verantwortung für diesen Mangel wird zwischen Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen, Lehrerinnen und Lehrern und Psychiaterinnen und Psychiater nach dem Ping-Pong-Prinzip hin- und hergeschoben. Dies gilt ebenso für den Kontext, in dem Jugendhilfe geleistet wird. Auch hier ist vielfach unklar, was in wessen Verantwortungsbereich liegt und wer welche Aufgaben wahrzunehmen und dafür letztlich auch die Verantwortung zu tragen hat. So wird eine Spirale von Eskalationen in Gang gesetzt. Eskalationen und Fehlverhalten werden dann nicht selten einseitig dem jungen Menschen zu geschrieben, der so die Rolle des Sündenbocks erhält. Die Integration des Ansatzes von Haim Omer und Arist von Schlippe (2002, 2004; s. auch Omer, 2003a, 2003b) in die Heimerziehung lässt eine solche Verschiebung nicht mehr zu. In diesem Ansatz beschriebene Aussagen wie – »Wir lassen uns nicht abschütteln«, – »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht«, – »Wir werden dich weder psychisch noch physisch attackieren, denn es geht uns um dich und nicht darum, dich zu demütigen«, – »Wir werden mit unserem Anliegen nicht allein bleiben, sondern uns anderen mitteilen und sie um ihre Unterstützung bitten« fordern dazu auf, Verantwortlichkeiten zu prüfen und fördern so zugleich die Partizipation von Kindern, Jugendlichen und Eltern. Die Ideen fielen verständlicherweise auf fruchtbaren Boden – glücklicherweise bei mehreren Menschen in unserer Einrichtung. Die Einrichtungsleitung ließ sich dazu anregen, die Omer’schen Prinzipien in einer therapeutischen Gruppe modellhaft umzusetzen. Diese Entscheidung sorgte für eine umfassende Unterstützung unserer neuen Ansätze in der Erziehung. Die vorbehaltlose und Rücken stärkende Auftragserteilung unserer Institution stellte und stellt auch heute noch die unentbehrliche Basis für eine erfolgreiche Umsetzung dar.

Das Setting Die Evangelische Kinder-, Jugend- und Familienhilfe in Würzburg ist eine expandierende Einrichtung der Jugendhilfe mit stationären, teilstationären und ambulanten Bereichen. Eingebettet in diesen Rahmen leben in der autarken therapeutischen Außenwohngruppe, in der wir das Konzept des GLW integrieren, acht Jungen zwischen 11 und 18 Jahren. Alle haben einen besonderen Betreuungsbedarf. Sie zeigen Verhaltensweisen, die von extremer Gewalttätigkeit gegen sich selbst oder andere bis hin zu radikalem Rückzug reichen. Die jungen Menschen werden von zwei Sozialpädagoginnen und vier Erzieherinnen im Schichtdienst rund um die Uhr betreut. Außerdem arbeiten ein Musikpädagoge, eine Diplom-Pädagogin und Psychodramatikerin sowie ein systemischer Therapeut und ein Psychologe stundenweise

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im Fachdienst mit dieser Gruppe. Eingebunden in ein lerntheoretisches Rahmenkonzept liegt der pädagogische Schwerpunkt der Gruppe auf erlebnispädagogischen Interventionen und darauf, das eigene Umfeld im Rahmen verschiedener handwerklicher und künstlerischer Projekte aktiv mit zu gestalten. Wesentlicher Bestandteil ist die Einzeltherapie, zu der jeder Jugendliche zweimal wöchentlich verpflichtet ist. Eine der Voraussetzungen für die Aufnahme in die therapeutische Wohngruppe ist die Bereitschaft der Eltern, an regelmäßigen Elterngesprächen teilzunehmen: zu Beginn der Maßnahme in zwei bis dreiwöchigen Abständen, später in Zeitintervallen von vier bis sechs Wochen. Dazu kommen regelmäßige telefonische Kontakte sowohl mit der zuständigen Bezugserzieherin als auch mit dem Fachdienst. Methodisch basiert unsere therapeutische Arbeit auf den Grundlagen psychodramatischer und systemischer Therapie.

Team-Coaching und pädagogische Präsenz Bevor wir mit der Hinführung des Teams an das Konzept des gewaltlosen Widerstands begannen, hielten wir es für notwendig, vorab eigene Sichtweisen und Begrifflichkeiten abzustimmen. So entschieden wir uns, den Begriff Coaching, wie er von Hawellek und von Schlippe definiert wird, als »zielgerichtete, zeitbegrenzte Unterstützung von Personen bei der Bewältigung besonderer Herausforderungen oder Aufgaben« (2005, S. 20) zu verwenden. Darüber hinaus machten wir uns im Vorfeld die verschiedenen Ebenen bewusst, die unsere Arbeit betrafen: die Ebene des Kindes, die der Eltern und Familien und die Ebene des pädagogischen Teams sowie unsere eigene. Wir richteten unseren Blick auch auf die Perspektiven anderer Systeme wie der der Gruppe, der Einrichtung, Schulen, Jugendämtern oder Nachbarschaft. In unserem Handeln ließen wir uns von folgenden Fragestellungen leiten: – Was könnte dazu beitragen, die Situation eskalieren zu lassen? – Welches Verhalten zeigt sich und welche Bedürfnisse liegen dem zugrunde? – Welche Art von Präsenz ist demzufolge auf den verschiedenen Ebenen erforderlich? Nachdem wir in Übereinstimmung mit der Einrichtungsleitung handelten, war für uns die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt des Einstiegs wichtig. Dabei achteten wir darauf, mit dem Coaching zu einem Zeitpunkt zu beginnen, an dem das Team keinen außergewöhnlichen Belastungen unterlag. Vorab fragten wir die Bereitschaft der Teampädagoginnen zur Integration des GLW ab, ohne dass wir eine Einstimmigkeit beabsichtigten und ohne alte Konzepte, Haltungen und Handlungsstrategien zu hinterfragen – die Kolleginnen sollten das Vorhaben mittragen können. Im Vordergrund stand der Gedanke einer Erweiterung bereits bestehender Kompetenzen und Konzeptionen, nicht das »Über-Bord-Werfen« des Bewährten.

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Pädagogische Präsenz in der Heimerziehung

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Ausgangspunkt unseres Coachings war ein hoher professioneller Anspruch, den wir sowohl an uns selbst als auch an die Mitarbeiterinnen des pädagogischen Teams der therapeutischen Wohngruppe stellten – ein Anspruch, den letztlich auch die Kolleginnen im Team hatten. Uns kam es insbesondere darauf an, eigene Haltungen sowohl untereinander als auch mit den Pädagoginnen wiederkehrend zu reflektieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Gedacht als »reflektierendes System« (von Schlippe, 2006, S. 5), in dem Raum für offene Diskussionen und vielfältige Perspektiven gegeben wird, gezeichnet von der Bereitschaft, Erzieherinnen und Klienten »aktiv als Kooperationspartner« (S. 5) in den Prozess der Beratung mit einzubeziehen. Professionelles Handeln verstehen wir als konstruktives Arbeiten mit Team und Gruppe. Dies beinhaltet einen achtsamen und entwicklungsförderlichen Umgang mit uns selbst, untereinander und mit den Pädagoginnen. Es bedeutet immer wieder neu die Wertschätzung der Kolleginnen, ihrer geleisteten Arbeit, ihrer Professionalität, ihrer fachlichen und menschlichen Qualitäten. Das beinhaltet ebenfalls, dies einerseits deutlich zu machen, andererseits aber auch einzufordern. In einem fördernden Setting stelen wir Fragen, nutzen vorhandene Ressourcen und suchen gemeinsam nach Lösungen.

Neue Räume im Team öffnen Da unsere Ziele die Verbesserung von Präsenz und Beziehungen waren und wir das gewaltlose Modell nicht nur als »Instrumentarium zur besseren Erziehung« auffassten, führten wir die Mitarbeiterinnen des Teams mit einem Workshop in die Thematik ein. Diesem folgte etwa ein halbes Jahr später einen zweiter. Inhaltlich waren auch supervisorische Elemente und solche der Selbsterfahrung enthalten. Es schien uns wesentlich, dass die Erzieherinnen den Unterschied von Präsenz und Macht an sich selbst erleben konnten, um eine Veränderung in der pädagogischen Haltung initiieren zu können. In einem ersten Schritt leistete die Auseinandersetzung mit den Haltungen Gandhis und M. Luther Kings einen wesentlichen Beitrag dazu, das Konzept des GLW nicht als Sammelsurium von Techniken und Methoden zu betrachten, sondern als Fragestellung zu verstehen, die auch »für das eigene Leben existentiell« (von Schlippe, 2006) ist. Auf dieser Grundlage differenzierten wir über den Slogan »Ich kämpfe um mein (Bezugs-)Kind, nicht gegen mein (Bezugs-)Kind« zwischen sinnlos-destruktiven Machtkämpfen und den Säulen gewaltfreier Erziehung wie Präsenz, Beharrlichkeit, Widerstand und Gesten der Versöhnung. Sie alle dienen dazu, um die Beziehung zum Jugendlichen zu kämpfen, statt den jungen Menschen verändern zu wollen. In psychodramatischen Inszenierungen konnten die Pädagoginnen erleben, dass Gewaltlosigkeit nicht gleichzusetzen ist mit Wehrlosigkeit, Passivität und Tatenlosigkeit, sondern eine intensivere Form der Präsenz einfordert und beinhaltet. Gewohnt, in einem lerntheoretischen Rahmen mit Verstärkungen und Sanktionen zu

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arbeiten, die von einer pädagogischen Machtposition der Erzieherinnen ausgeht, war es die vielleicht größte Herausforderung für die Kolleginnen, zu beginnen, diese zugunsten einer Haltung von Präsenz und Entschlossenheit aufzugeben. So wird Raum für Veränderung zugelassen. Gesten der Beziehungsgestaltung und deeskalative Prinzipien (wie die des NichtHineingezogenwerdens und des Aufschubs) wurden geübt und erprobt und ihre Wirkung sowohl in der Rolle der Erzieherin als auch in der des Jugendlichen gespürt. Wir führten die Begrifflichkeit »des besonderen Kindes mit besonderen Bedürfnissen« (Aarts, 2002) ein, indem wir bei jedem einzelnen Jugendlichen die Verhaltensebene und die dieser zugrunde liegenden Bedürfnisse herausarbeiteten. Ziel war, die Art der jeweils spezifisch notwendigen Präsenz festzulegen. Im zweiten Baustein zum Thema nahmen wir das Ausscheiden einer Erzieherin, die mittels ihrer mütterlichen Qualitäten durch eine hohes Maß an Präsenz bei den Jugendlichen gewirkt hatte, zum Anlass, jeder Kollegin mittels psychodramatischer Arbeitsweisen Zugang zu diesen Qualitäten in sich selbst zu ermöglichen. In einer soziometrischen Übung legten wir eine Landkarte an, welche die Systeme Gruppe, Team und Coachs erfasste und das Augenmerk auf vorhandene und gewünschte Qualitäten, abhängig von den Bedürfnissen der Jugendlichen, richtete. Wieder stand die Präsenz im Mittelpunkt. Ausgehend von dem Slogan »Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen« beschäftigten wir uns sodann mit den Systemen, die für die einzelnen Jugendlichen relevant waren und die für die pädagogische Arbeit ergänzend genutzt werden konnten. Zu guter Letzt gingen wir explizit auf einzelne Methoden des gewaltlosen Widerstands ein.

➪ Wie werden wir präsent? Unternehmen Team Obgleich die Pädagoginnen gern gleich »voll eingestiegen« wären und am liebsten sofort mit spektakulären Techniken wie einem Sit-in begonnen hätten, erfolgte die Umsetzung des Konzeptes in kleinen Schritten. Einführungsveranstaltung und den persönlichen Literaturstudien folgten Teamgespräche und Einzelkontakte mit den Erzieherinnen. Es wurde viel gefragt und hinterfragt, diskutiert und philosophiert. Allzu leicht hätten sich einige Techniken als Instrumentarien von Machtdemonstrationen missbrauchen lassen, wenn wir gleich »technisch« begonnen hätten. Unser Ziel war eine Veränderung der inneren Haltung, eine Zunahme der pädagogischen Präsenz im Gruppenalltag. Gemeinsam wollten wir den Fokus unserer Betrachtungen auf den einzelnen Jugendlichen und die Gruppe richten mit der Fragestellung »Was braucht dieses Kind, diese Gruppe, diese Familie gerade?«. In einer Art »Surplus-Reality«, verstanden als eine Erweiterung der äußeren Realität durch psychodramatisches Erleben (Leutz, 1986, S. 119), begannen wir deshalb

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Pädagogische Präsenz in der Heimerziehung

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über die erste Fortbildung hinaus, uns in vielen Teamsitzungen damit zu beschäftigen, wie sich pädagogische Präsenz in der Heimerziehung steigern ließe. Konkrete Beispiele aus dem Gruppenalltag setzten wir mit Hilfe psychodramatischer Methoden wie Rollentausch und Spiegeltechnik in Szene. Auf diese Weise konnten verschiedene Interventionen und innere Haltungen geübt und unmittelbar nachempfunden werden. Die pädagogische Präsenz wurde am eigenen Leib erfahren und im Rollentausch konnten ihre Auswirkungen beim Jugendlichen nachgespürt werden. Intrapersonale Rollenkonflikte – das heißt Anteile einer Rolle (so schließt beispielsweise die Mutterrolle verschiedene andere Rollen wie die der Gebärerin, der Liebhaberin, der Pflegerin, der Erzieherin, der Lehrerin der Kinder mit ein) werden nur in unterschiedlichem Maß akzeptiert oder sogar abgelehnt – in die Pädagoginnen durch Einladungen von Jugendlichen zu Machtkämpfen gerieten, konnten so noch einmal inszeniert und mit Hilfe von Hilfs-Ichs und Doppelgängern (s. dazu auch Leutz, 1986, S. 45) verdeutlicht werden. Gerade bei Intra-Rollenkonflikten handelt es sich um Anteile, die in die frühere Entwicklung eines Menschen zurückreichen können und einer Bearbeitung bedürfen, damit Handlungsalternativen zugelassen und entwickelt werden können. Dies wurde in einem fortwährenden Machtkampf eines jüngeren Mitarbeiters mit einem Jugendlichen der Gruppe deutlich. Sowohl der Pädagoge als auch der Jugendliche litten darunter. Trotz beidseitigen Bemühens konnten sie zunächst keinen Ausweg finden. Bereits ein Wort oder eine Stimmlage konnte Auslöser für eine Eskalation sein. Während der Jugendliche seine Anteile in der Einzeltherapie bearbeitete, wurde dem Pädagogen in Team- und Einzelsitzungen ebenfalls die Möglichkeit gegeben, eigene aggressive und abwertende Anteile bezüglich des Eskalationsmusters zu bearbeiten, um wieder handlungsfähig zu werden – ein Prozess, der mehrere Wochen in Anspruch nahm, bis auf der Handlungsebene Auswirkungen sichtbar wurden.

Mit der Fragestellung »Wie und wann lasse ich mich zu einem Machtkampf einladen? Wo sind meine persönlichen ›Knöpfe‹, auf die jemand anderes drücken muss, um mich zu kriegen?« erfuhren wir alle mehr über uns selbst (s. dazu auch Crone, 2004, S. 325). Das Ermöglichen und das Zulassen dieser Selbstreflexion erwies sich auf allen Ebenen (Jugendliche, Eltern, Erzieherinnen, Coachs) als unabdingbar, um folgerichtig die nächsten Schritte tun zu können. Wir selbst merkten, wie der Handlungsdruck, den die Mitarbeiterinnen spürten, an uns weitergegeben wurde, wenn Sätze fielen wie »So kann das mit X nicht mehr weitergehen. Da muss jetzt endlich mal was passieren!« und an uns appelliert wurde, drakonische Maßnahmen zu unterstützen und deutliche Grenzen in Form von Sanktionen zu setzen. In solchen Situationen wurden wir von den Kolleginnen eingeladen, uns ihrer Meinung entweder anzuschließen oder aber Gefahr zu laufen, uns mit ihnen in einen Machtkampf zu begeben. Essenziell erschien es uns in solchen Situationen, zunächst den Kolleginnen therapeutische Unterstützung zu geben, indem ihnen unsere Solidarität zuteil wurde und wir der Hoffnung Ausdruck gaben, dass wir, auf der Grundlage der von ihnen bereits geleisteten Arbeit, sicher gemeinsam eine für alle zufrieden stellende Lösung finden würden. Erst nachdem die Kolleginnen in ihrer

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eigenen Not Beachtung und Wertschätzung erfahren hatten, konnten wir gemeinsam den Blick auf das Kind und dessen Bedürfnisse richten und Lösungen erarbeiten.

Im Verlauf unserer Arbeit, bei der wir immer auch das Zusammenspiel der Systeme von Gruppe und Team reflektierten, wurden wir verstärkt auf die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern innerhalb des Teams aufmerksam. In unserer therapeutischen Jungengruppe waren die Frauen im Team, bedingt auch durch eine pädagogische Leiterin, nicht nur numerisch die dominanteren, während die Männer weniger präsent schienen. Analog fiel uns über die Arbeit mit den Biographien und Herkunftssystemen der Jugendlichen auf, dass dort Männer wenig vertreten waren. Dadurch tauchten Fragestellungen auf, wie männliche Identifikation entsteht und wie sich die männliche Präsenz im Team zeigte. Dies führte zur Gründung einer Männergruppe, in der sich ausschließlich die männlichen Kollegen über mehrere Wochen in Abständen zusammensetzten, um sich mit autobiographischen Anteilen und männlichen Initiationsriten zu beschäftigen. So wurde der Entwicklung einer größeren spezifisch männlichen Präsenz in Team und Gruppe Raum eröffnet. Das Thema »Präsent sein und Verantwortung übernehmen für eigenes Handeln« beschäftigte uns auch, als es um die Durchführung einer Gruppenfreizeit ging, die von den drei jüngeren Gruppenmitarbeiterinnen verwirklicht werden sollte. In einer Folge von mehreren Anleitungs- und Unterstützungsgesprächen mit dem »Freizeitteam« wurde deutlich, dass präsent sein im Sinne des GLW auch eine Präsenz im Team abverlangt. Das heißt, auch eine offene Auseinandersetzung innerhalb des Kollegenkreises, die Bereitschaft zu intensiver Reflexion und Selbstreflexion und ein wiederkehrendes gegenseitiges Einfordern von Verantwortlichkeit und Professionalität sind unbedingt notwendig. Letztendlich setzte sich die Einsicht durch, dass die Summe der oben beschriebenen Qualitäten eine conditio sine qua non ist, damit Pädagoginnen und Pädagogen im Gruppenalltag präsent sein können!

Pädagogische Präsenz auch für die Familien In der Regel hatten die Familien monatelange oder jahrelange Machtkämpfe hinter sich, bis eine stationäre Aufnahme in unsere Wohngruppe erfolgte. Entsprechend unterkühlt stellten sich zu diesem Zeitpunkt die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern dar. Das Selbstwertgefühl des Kindes,das sich aus der Familie ausgestoßen fühlte, war gering, ebenso das Vertrauen der Eltern in eigene (Erziehungs-)Kompetenzen. Aus Angst vor Eskalationen wagten manche Eltern nicht mehr, Anforderungen an ihr Kind zu stellen und hatten kapituliert. Andere befanden sich in einem Teufelskreis von Machtkämpfen, in denen jeder der Mitwirkenden nur noch von dem Wunsch besessen war, als Sieger daraus hervorzugehen. Dabei hatten Eltern und Kinder sich letztlich gegenseitig verloren. Die Formen des Machtkampfs der Kinder, mit denen wir im Beobachtungszeitraum arbeiteten, reichten von Gewalttätigkeit

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Pädagogische Präsenz in der Heimerziehung

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gegenüber den Eltern bis hin zu monatelanger Verweigerungshaltung mit vollkommenem Rückzug. Der Fokus unseres therapeutischen Bemühens lag deshalb von Beginn an auf ressourcenorientierter Arbeit und einem (erneuten) »Erwärmen« der Familienmitglieder füreinander. Bei der diagnostischen und anamnestischen Erhebung wurden einerseits familiäre und andere wichtige Bezüge soziometrisch abgefragt, andererseits die elterliche Präsenz und das Verhalten des Kindes (Omer u. von Schlippe, 2004) mit den dazu gehörenden innerfamiliären Interaktionsmustern analysiert. Wir thematisierten den Teufelskreis, in den die Familien hineingeraten waren. Dabei vermittelten wir den Eltern, dass viele Eltern solche und ähnliche Erfahrungen machen und teilten mit ihnen eigene Erfahrungen, die wir in unserer Elternrolle diesbezüglich gemacht hatten. Durch eine solche Form des vom klassischen Psychodrama abgewandelten Sharings (s. dazu auch Leutz, 1986, S. 120ff.), erlebten die Eltern sich in ihrem Leid nicht mehr allein und einmalig. Es wurde eine Verbindung geschaffen und angeboten, ihre Last sozusagen mit ihnen gemeinsam zu tragen. Es war uns wichtig, den Eltern für die Einladung, uns am Erziehungsprozess ihres Kindes zu beteiligen, zu danken und mit ihnen zusammen zielorientiert die Rahmenbedingungen zu erarbeiten, die zu einem Gelingen unseres gemeinsamen Projekts führen würden. »Gelebte Präsenz« (vgl. Crone, 2004, S. 325) – auch Eltern und Familien gegenüber – erlebten wir als Grundvoraussetzung, damit Entwicklungen Raum greifen können. Es war wichtig, die Aufträge der Eltern genau abzufragen und gemeinsame Ziele exakt zu formulieren. Dies beinhaltete das Bearbeiten und Reflektieren eigener Anteile der Eltern, die zur Entwicklung des Eskalationsprozesses beigetragen hatten. Im Verlauf der Sitzungen wurden familienrelevante Themen mit dem Augenmerk auf die Bedürfnisse des Kindes erarbeitet, die in unseren Handlungen Berücksichtigung finden mussten. Nur so konnten die nächsten Entwicklungsetappen erreicht werden. Schwerpunkt war, elterliche Präsenz herzustellen und dabei die Besonderheit und Einzigartigkeit der Eltern-Kind-Beziehung und deren gemeinsame Biographie zu betonen. Im praktischen Umgang wurde dies untermauert, indem wir regelmäßig mit den Eltern kommunizierten, sie an wesentlichen Entscheidungen und Interventionen durchgehend teilhaben ließen und sie, wann immer möglich, in alle relevanten Aktivitäten einbanden. Auch die Eltern ermunterten wir zu Gesten der Versöhnung, machten uns mit ihnen auf die Spurensuche nach schönen gemeinsamen Erlebnissen mit ihren Kindern aus vergangenen Zeiten und ermutigten sie dazu, daran anzuknüpfen. Vor allem die Väter, die sich vorher zum Teil wenig am Erziehungsprozess beteiligt hatten, motivierten wir, sich ihren Jungen (wieder) mehr zu widmen und bestärkten sie bei gemeinsamen Unternehmungen mit ihren Söhnen. Die Anforderungen an uns bezüglich gewaltloser Prinzipien wie Ausdauer und Beharrlichkeit und sich nicht auf Provokationen einzulassen beim Aufbau einer kontinuierlichen und konstruktiven Kooperationsbasis mit den Eltern verhielt sich oft

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analog zu jenen bei ihren Kindern. Eltern, die sich in ihrer Elternrolle durch die Fremdunterbringung ihrer Kinder als versagend erlebten und infolge dessen massiv gekränkt waren, brauchten nach ihren Angeboten zu Machtkämpfen an uns deutliche Versöhnungsgesten.

GLW in und mit der Gruppe Die Gruppe ist als wesentlicher Katalysator in der Erziehung anerkannt. Im Rahmen der Arbeit mit erlebnispädagogischen und soziometrischen Praktiken wurde dies bereits genutzt. Neu war es, einzelne Gruppenmitglieder oder die Gruppe als Ganzes zur Unterstützung für einzelne Jugendliche zu nutzen und dabei die Präsenz aller zu demonstrieren und so methodisch das Modell des GLW zu integrieren. Ein 15-Jähriger hatte zusammen mit zwei anderen Jugendlichen am Wochenende die ganze Gruppe und die Erzieherin terrorisiert. Zu dritt hielten sie sich an keinerlei Anweisungen, bedrohten Erzieherin und jüngere Gruppenmitglieder, spuckten und rotzten auf Tische und Fernseher und demonstrierten auch durch sexualisierte Reden und Verhaltensweisen ihre Machtposition. Die Situation eskalierte noch mehr, als einer von ihnen eine mit heißem Wasser gefüllte Kanne auf einen Jüngeren warf. Zwei der Beteiligten zeigten sich im Nachhinein betroffen und einsichtig und wollten ihre Taten wieder gutmachen, während X keinerlei Einsicht zeigte, sondern im Gegenteil vermittelte, dass er auch künftig beabsichtige, sein Verhalten beizubehalten. Es wurde eine außerordentliche Gruppenbesprechung einberufen, bei der X seine Haltung aufrecht erhielt und versuchte, das Szenario zu nutzen, um die damit scheinbar errungene Machtposition erneut zu demonstrieren. Daraufhin bat die pädagogische Leiterin ihren Kollegen, mit X den Raum bis auf Weiteres zu verlassen. Währenddessen wurde mit der Gruppe zwischen gezeigtem Verhalten und dem diesem zugrunde liegenden Bedürfnis differenziert und besprochen, was X in der momentanen Situation weiterhelfen könne. Im Anschluss daran wurde X gebeten, sich in die Mitte des Kreises von Jugendlichen und Erzieherinnen zu setzen. Auf vielfältige Weise erhielt er die Botschaft, dass niemand glaube, dass er »ein schlechter Kerl« sei. Jeder Jugendliche versicherte ihm, die hinter seiner Coolness vermutete Angst, sich zu zeigen, verstehen zu können. Ein Junge, der sich jahrelang von der Außenwelt isoliert hatte, ermunterte ihn: »Du musst einfach über deinen Schatten springen. Das geht, glaube mir, ich hab’s auch geschafft!« und wagte damit erstmals den Schritt für sich selbst, den anderen eigene innere Prozesse zu präsentieren. Ein anderer, dem mutistische Züge attestiert worden waren, begann zu schluchzen und sagte: »Ich kann das nicht mehr aushalten, dass du so cool tust.« Schließlich wurde die Gruppe ermuntert, den Kreis um X ganz eng zu schließen. Verbal und mittels Berührungen, Hand auflegen und Streicheln bekam er die Botschaft: »Komm, versuch’s, wage es, trau dich!« Am Ende erhoben sich alle und ermunterten ihn, sich im Kreis fallen zu lassen, sie würden ihn auffangen. Als er es nicht wagte, wurde er einige Minuten sanft von allen im Kreis gewiegt – ein Erlebnis, nach dem anschließend fast alle anderen Gruppenmitglieder auch verlangten. Insgesamt hatte die Sitzung mehr als zwei Stunden Zeit in Anspruch genommen und alle waren von Anfang bis Ende konzentriert und engagiert beteiligt.

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Die erneute Einladung des Jungen zum Machtkampf im Kreis der Gruppe wurde nicht angenommen. Stattdessen wurde auf die seinem Verhalten zugrunde liegenden Bedürfnisse (nämlich dem Wunsch nach Nähe und Beziehung) eingegangen. Die Gruppe fungierte dabei einerseits als Unterstützer, andererseits übernahm der Protagonist die Aufgabe, ein für die gesamte Gruppe aktuelles Thema zu bearbeiten. So unterstützten Protagonist und Antagonisten sich in einem wechselseitigen Prozess liebevoller Zuwendung, notwendige und vielleicht bisher fehlende Erfahrungen im gemeinsam Erlebten nachzuholen und im Rollentausch Gebende und Empfangende zu sein.

Die institutionelle Ebene Voraussetzung war und ist die Zustimmung auf Leitungsebene, um die Prinzipien des GLW durchführen zu können. Es war allen Beteiligten bewusst, dass sowohl der zeitliche als auch der energetische Einsatz für Mitarbeiterinnen größer sein wird. Darüber hinaus benötigten wir die Bereitschaft, als Unterstützer zu fungieren, auch bei Mitarbeiterinnen außerhalb der Gruppe und bei der Leitung. Für die Durchführung unseres Projekts erheblich war die Möglichkeit des vernetzten Arbeitens mit unterschiedlichen Bereichen der Gesamteinrichtung. Dies war vor allem mit der einrichtungsinternen Schule gegeben, die der Schule für Kranke der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Würzburg angeschlossen ist, und in der Kinder und Jugendliche entweder im Einzelunterricht oder in Kleinstgruppen von zwei bis vier Schülern unterrichtet werden. Wesentlich erwies sich jedoch auch die Kooperation mit der geschlossenen Clearinggruppe sowie mit dem Bereich, der erlebnispädagogische Maßnahmen in Finnland durchführt.

Das Umfeld Einbezogen wurden auch Nachbarn sowie Eltern von Freunden und Freundinnen der Jugendlichen. Einerseits in ihrer Funktion als Öffentlichkeit, andererseits als Unterstützer im Omer’schen Sinn. Wir kooperierten mit Schulen, in denen Jugendliche unserer Gruppe in Machtkämpfe mit Lehrerinnen und Mitschülerinnen verstrickt waren. Dort führten wir Aufklärungs- und Anleitungsgespräche durch und boten unsere Unterstützung an, Schülerinnen und Lehrerinnen bei regelmäßigen Treffen zu coachen.

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Methoden des gewaltfreien Widerstands im gruppenpädagogischen Alltag Der konkrete Praxistransfer vollzog sich zunächst über eine schrittweise Veränderung der inneren Haltung der Kolleginnen gegenüber den jungen Menschen. Die Beziehung zum einzelnen Jugendlichen rückte in den Mittelpunkt und damit die »innere moralische Verpflichtung, alles in der eigenen Macht stehende zu tun, damit sich das Kind oder der Jugendliche altersgemäß entwickeln kann« wie Crone (2004, S. 325) es so treffend zum Ausdruck brachte. Die Methoden und Techniken des Konzepts des gewaltlosen Widerstands wurden sukzessive eingeführt. Neben dieser Veränderung der inneren Haltung waren die wohl wesentlichsten und entlastendsten Leitlinien für die Gruppenpädagoginnen das Prinzip des NichtHineingezogenwerdens und des Aufschubs (Omer u.von Schlippe, 2004, S. 232ff.). Das Bewusstsein, eine Konfliktsituation, die zu eskalieren droht, nicht sofort und allein lösen zu müssen, führte zu einer deutlich spürbaren Entspannung in der erzieherischen Grundhaltung. Im Nachtdienst einer Erzieherin schlossen sich mehrere Jugendliche zusammen und randalierten im Garten. Die Erzieherin nahm in den Provokationen ihr gegenüber die Einladung zu einem Machtkampf deutlich wahr. Sie teilte den Jugendlichen in der Situation »lediglich« ihre Erwartung mit und entschied sich dann, die Bühne zu verlassen. Die Jugendlichen fuhren zunächst in ihrem Handeln fort und beendeten die Situation erst eine Weile später. Nachdem die Jugendlichen wieder in der Gruppe waren, lud die Erzieherin sie zum gemeinsamen Abendessen ein. Sowohl die Mitarbeiterin wie auch die Jungen brachten ihre Irritationen darüber, dass kein Machtkampf stattgefunden hatte, anderntags in Gespräche mit dem Fachdienst ein.

Im Gruppenalltag, in dem Jugendliche mehrmals am Tag mit provokativem Verhalten zu Machtkämpfen einladen und bisweilen auch darin gegen die anwesende Erzieherin koalieren und opponieren, wurden die Prinzipien wie von Omer für das Elterncoaching dargestellt, umgesetzt, vielfach unterstützt durch gemeinsame Reflexion und Supervision. Der Notwendigkeit einer pädagogischen Präsenz stehen nicht selten die Bedürfnisse der Jugendlichen entgegen. Im Rahmen von supervisorischen Einheiten war es notwendig, mit den Pädagoginnen zu reflektieren, welche Art des Kontakts zu den Jugendlichen erforderlich ist, um die Gruppenstrukturen einerseits aufrechtzuerhalten und den Jugendlichen andererseits zu signalisieren »Ich sehe dich, ich nehme dich wahr«. Eine hohe Relevanz hatte in diesem Zusammenhang immer die Fragestellung, welche Interventionen im Einzelkontakt und in der Gruppensituation eskalierend wirken. Wir erlebten es als effektiv, eine Handlungsalternative anzubieten und dabei gleichzeitig zu betonen, dass es allein die Entscheidung des Jugendlichen sei, welche Möglichkeit er wählen möchte. Bisweilen erschien es darüber hinaus sinnvoll, den

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Entscheidungszeitraum zu begrenzen, um die Spannung für den Jugendlichen überschaubar zu halten. Ein Jugendlicher verweigerte sich massiv, seinen Stockwerkdienst zu erledigen, und teilte dies dem anwesenden Erzieher unter Beschimpfungen mit. Dieser wandte sich ab und verließ den Raum. Nach einer gewissen Zeitspanne kehrte er zurück, um dem Jugendlichen mitzuteilen, dass dieser die Regeln kennen würde, dass es aber natürlich letztendlich seine ureigene Entscheidung wäre, sich daran zu halten oder nicht. Dabei wies der Erzieher noch darauf hin, dass es die Aufgabe des Teams sei, dafür zu sorgen, dass es in der Gruppe gerecht zugehe und die Arbeiten gerecht verteilt würden und das Team mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dafür Sorge tragen werde.

Die Pädagoginnen und Pädagogen lernten, sich nicht in überflüssige Diskussionen verwickeln zu lassen. Sie erfuhren, dass in Konfliktsituationen »weniger mehr ist« und sie begannen, sich auf wenige, dafür aber klare Botschaften zu beschränken. Wir nutzten Ankündigungen, bezogen auf Verhaltensweisen einzelner Jugendlichen ebenso wie in abgewandelter Form bei inakzeptablen Entwicklungen innerhalb des Gruppensystems. Wann immer möglich, bezogen wir die jeweilige Familie oder andere wichtige Bezugspersonen des oder der betroffenen Jugendlichen in Ankündigungen mit ein. Bei einem 16-jährigen gewaltbereiten Jugendlichen hatten die routinemäßig durchgeführten Drogenscreenings wiederholt einen positiven Cannabisbefund aufgewiesen. Da seine Eltern zu diesem Zeitpunkt sehr mit sich selbst beschäftigt waren und für ein gemeinsames Vorgehen nicht zur Verfügung standen, wurde beschlossen, die Ankündigung von zwei Pädagoginnen, einem für den Jugendlichen wichtigen Lehrer und dem ihm nahe stehenden Musiktherapeuten durchzuführen zu lassen. Es wurde ein Zeitpunkt gewählt, der einige Tage nach der Befunderhebung in der Mittagszeit lag. In seinem Zimmer wurde ihm in Anwesenheit aller oben genannten Beteiligten von einer Pädagogin mitgeteilt, dass sich sowohl Team als auch Eltern wegen seines Drogenkonsums um ihn sorgen würden und um seinetwillen entschieden hätten, dies nicht mehr hinzunehmen. Dabei würden alle zur Verfügung stehenden Mittel genutzt werden, um ihn dabei zu unterstützen, sein Leben künftig drogenfrei zu führen, ohne ihn demütigen und unterwerfen zu wollen.

Die Sitzung dauerte etwa zwanzig Minuten und hatte auf den Jungen nach eigenem Bekunden offenbar großen Eindruck gemacht – er erzählte noch wochenlang davon. Ergänzend wurde eine Telefonunterstützerrunde initiiert. Der Junge erhielt Anrufe von seinen Eltern, von Freunden, von einem Mitarbeiter des Jugendamtes, die ihm alle ihre Unterstützung zusicherten. Dem gruppenpädagogischen Konzept entsprechend wurde mit dem Jugendlichen darüber hinaus eine erlebnispädagogische Einzelmaßnahme durchgeführt. Das Prinzip des Herstellens von Öffentlichkeit war vor allem bei den Kindern und Jugendlichen wichtig, die aus den unterschiedlichsten Gründen aus ihrem Herkunftssystem heraus gefallen und ohne familiären Halt und Unterstützung waren, sich also entwurzelt fühlten. Hier bedienten wir uns der Unterstützung sämtlicher

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abrufbarer Helfersysteme wie Freunde, Eltern, Peergroup, Schule, Polizei, Jugendamt mit der Bitte, ihnen eine Rückmeldung im Omer’schen Sinne zu geben. Speziell bei einem Jungen, der Phasen aufwies, in denen er häufig entwich oder Mitarbeiterinnen offen mit Gewalt drohte, erwies sich das Prinzip der Beharrlichkeit als extrem wichtig. Insistierend versuchte er, uns abzuschütteln, signalisierte, dass ihm »ohnehin alles scheißegal« sei und er sowieso nicht in der Gruppe bleiben wolle. Nur durch stetige und konsequente Interventionen und Beziehungsangebote gelang es letztlich, einen dauerhaften Beziehungsabbruch zu vermeiden, in Kontakt zu bleiben und ihm die Möglichkeit zu eröffnen, in der Gruppe »Wurzeln zu schlagen«. Ein 14-jähriger Junge war morgens zusammen mit zwei weiteren Jugendlichen nicht in der Schule angekommen. Während eine Pädagogin den Jungen über sein Handy kontaktierte und ihn zum Schulbesuch aufforderte, nahm die Erzieherin Kontakt mit der Mutter auf. Da wir in enger Kooperation mit den Eltern standen und diese durch entsprechende Vorgespräche mit den Methoden des gewaltlosen Widerstands vertraut waren, rief die Mutter ihren Sohn ebenfalls auf Handy an. Dem Jungen gelang es an diesem Tag, zwar mit Verspätung, aber dennoch in die Schule zu gehen. Nachdem X wieder einmal einen Tag abgängig gewesen war, nutzten wir die Gruppe als Ressource. Er hatte innerhalb der Gruppe einige Jugendliche, denen er sich nahe fühlte. Wir erklärten der Gruppe vorher die Situation, in der X sich befand, und sagten, dass wir glaubten, dass er ihre Unterstützung brauchen würde. Wir fragten zum einen die Bereitschaft der anderen Gruppenmitglieder ab, zum anderen überlegten wir gemeinsam, was X wohl in dieser Situation benötigen würde. Anschließend holten wir X in den Gruppenraum, der die Einladung nur sehr zögerlich annahm und sehr abwehrend reagierte. Wieder äußerte er, dass es ihm »scheißegal« sei, was die anderen von ihm denken würden. Die ganze Gruppe bildete einen engen Kreis um ihn und bedachte ihn mit liebevollen Blicken. Die Pädagogin akzeptierte seine Aussage und bestätigte, dass diese Haltung sein gutes Recht sei. Dennoch sei es allen Erwachsenen und Jugendlichen der Gruppe wichtig, ihm zu vermitteln, dass er ihnen nicht »scheißegal« sei. Daraufhin sprach jeder im Kreis X persönlich an, indem er sagte: »Ich möchte, dass du in der Gruppe bleibst und ich werde dich dabei unterstützen!«

In Verbindung mit demselben Jugendlichen erwies sich auch das Nachgehen und Aufsuchen als bedeutsam. Auch wenn er bei den Versuchen mehrerer Mitarbeiterinnen, ihn an einschlägigen Orten aufzufinden, tatsächlich niemals entdeckt wurde, so zeigte allein das Bemühen darum Wirkung. Er zeigte sich beeindruckt, dass Jugendliche ihn an seinen Treffpunkten auf unsere Suche ansprachen, dass verschiedene Behörden mit uns Hand in Hand arbeiteten und dass wir uns für ihn so viel Mühe machten. Solche aufwändigen Aktionen waren nur machbar, weil die Mitarbeiterinnen von dem Konzept des gewaltfreien Widerstands überzeugt waren und deshalb die Bereitschaft zeigten, viel Zeit und Energie in dessen Durchführung zu investieren. Sit-ins wurden immer in enger Kooperation mit den Eltern durchgeführt und in der Regel von den Eltern selbst. Die ersten Sit-ins fanden im Zimmer des Jugendli-

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chen in der Einrichtung statt, bisweilen führten Eltern auch Sit-ins in der häuslichen Umgebung durch. Ein 16-Jähriger hatte mehrere Tage vor einem Elterngespräch einen aggressiven Ausbruch. Dabei hatte er Möbel beschädigt, Teile des Gruppenraums verwüstet und den Erzieher bedroht. Mit den Eltern wurde der Vorfall besprochen, der auch »alte Geschichten«, die zu Hause vorgefallen waren, wieder in ihnen wachrief. Es wurden die Eskalationsmuster erörtert. Im Anschluss an das Elterngespräch wurde ein Sit-in geplant, das die Eltern mit uns als Zeugen durchführen sollten. Nach dem Sit-in wirkte der Vater verändert und glühte förmlich vor Stolz. Er kam und erzählte stolz: »Ich habe zwanzig Minuten geschwiegen, das habe ich vorher noch nie geschafft.«

Die von Omer und von Schlippe als »unverzichtbarer Bestandteil« bezeichneten Gesten der Versöhnung erwiesen sich auch in unserem Setting als essenziell. Durch sie konnten die Kinder und Jugendlichen Veränderungen überhaupt erst zulassen, da sie so merken, spüren und erleben konnten, dass sämtliche unserer Handlungen für und nicht gegen sie gerichtet waren. Diese Versöhnungsgesten unabhängig vom aktuellen Verhalten des Kindes durchzuführen, erforderte in einem pädagogischen Gesamtkonzept, das sich an lerntheoretischen Grundlagen orientiert, zunächst ein Umdenken. Durch diese Angebote der Erzieherinnen, dem Jugendlichen beispielsweise einen Lieblingskuchen zu backen, eine Einzelaktivität zu unternehmen, die der Jugendliche sich schon lange gewünscht hatte oder aber die Hartnäckigkeit und Willenskraft eines Jugendlichen wertzuschätzen, gelang schließlich eine spürbare Verbesserung der Beziehungen innerhalb der Gruppe und des Teams. So wurde quasi ein Raum des sich Wertschätzens geschaffen, in dem die täglichen Machtkämpfe zwar nicht verschwunden, jedoch deutlich in den Hintergrund getreten waren zugunsten einer Atmosphäre des miteinander und voneinander Lebens, Lernens und sich Entwickelns. Die Begrenzung des Beziehungsangebotes auf den professionellen Kontext, wie von Crone (2004) beschrieben, war und ist damit zumindest teilweise aufgelöst – Pädagoginnen fühlten sich für »ihre« Jugendlichen verantwortlich und zeigten Bereitschaft, sich auch außerhalb ihrer regulären Dienstzeit für sie einzusetzen. Als Beleg dieser gewachsenen Beziehungsmuster und deren Dauerhaftigkeit kann der Umstand gelten, dass Jugendliche, die bereits längerfristig aus der Gruppe entlassen wurden, noch regelmäßigen Kontakt in Form von Besuchen und Anrufen suchen und halten.

Pädagogische Präsenz als unverzichtbarer Bestandteil in der Heimerziehung – Gedanken zum Abschluss Um es gleich vorwegzunehmen: Die Quintessenz nach beinahe zweijähriger Integration des Konzeptes vom GLW in eine Heimgruppe ist die, dass pädagogische Präsenz »mehr als eine Chance« (Omer u. von Schlippe, 2004) für die Erziehung im

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Heim ist. Sie ist ein »must«, wenn wir als »Professionelle« die Aufträge, die wir annehmen, ernst nehmen und unserer damit eingegangenen Verpflichtung gerecht werden wollen. Das Konzept, das ursprünglich für hoch eskalierte Beziehungen innerhalb familiärer Systeme in Tel Aviv entwickelt worden war, vermag auch im Kontext der Heimerziehung zweierlei: – Es trägt dazu bei, im pädagogischen Alltag auch in Krisensituationen handlungsfähig zu bleiben, und ist so gemäß des »erzieherischen Auftrages« wirkungsvoll. – Die Beziehung zwischen Pädagogin und Jugendlichem erfährt durch eine Veränderung der Präsenz von Profis qualitativ eine deutliche Verbesserung. Retrospektiv konnten durch die Umsetzung des Konzeptes die Situationen im Alltag einer Gruppe, die in der Vergangenheit häufig zu Eskalationen geführt hatten, reduziert werden. Unabdingbare Voraussetzung für die Einführung des Konzepts pädagogischer Präsenz und gewaltlosen Widerstands ist es jedoch, dass die Bereitschaft auf allen hierarchischen Ebenen vorhanden ist, eine Position des Nicht-Wissens und des Fragen-Stellens und des Zulassens von Fragen einzunehmen (von Schlippe, 2006). Die Profis müssen von ihrem Sockel steigen und die therapeutische und die pädagogische Position entmystifizieren, damit Austausch entstehen und sich so neuer Raum für Entwicklungen und Veränderungen öffnen kann. Nur auf diese Weise kann es Pädagogen gelingen, für Kollegen, Eltern und Jugendliche beispielhaft einen anderen Umgang mit Macht aufzuzeigen. Sie können dann stattdessen Verantwortung übernehmen, der sie durch Beharrlichkeit und entschiedene Haltung Präsenz verleihen. Sie geben damit jungen Menschen den Rahmen und die Orientierung, den diese so dringend brauchen, um sich ihren Möglichkeiten gemäß entwickeln zu können. Insofern ist das Modell des GLW im Sinne einer Prophylaxe und eines Umdenkens zu begreifen, das nicht allein die Deeskalation in Krisensituationen intendiert. Wenn wir aus dem Kreislauf symmetrischer Eskalationen von Gewalt, verbunden mit der Weigerung, Verantwortung anzunehmen, aussteigen wollen, besteht darin eine absolute Notwendigkeit. Gesamtgesellschaftlich gesehen möchte man sich wünschen, dass das Prinzip des GLW um sich greifen und Raum gewinnen möge in der professionellen Erziehung der Jugendhilfe, jedoch auch in der von Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen, in der alle Kinder irgendwann einmal verfügbar sind. Hier läge unseres Erachtens eine wirkliche Chance, ohne dass man, wie in jüngster Zeit auch in den Medien in Zusammenhang mit dem zunehmenden Bekannt Werden von Erziehungsschwierigkeiten in Schulen wiederholt geschehen, Schuldzuschreibungen machen und Menschen in die Rolle des Sündenbocks drängen müsste. In unserer Verantwortung als Profis liegt es, Kindern und Jugendlichen den Raum zu geben, den Menschen brauchen, um Beziehungen entwickeln und sich gesund entfalten zu können. Das Modell des GLW gibt dazu wertvolle Anregungen.

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Literatur Aarts, M. (2002). Marte Meo. Ein Handbuch. Harderwijk: Aarts Productions. Crone, I. (2004). Besondere Aufmerksamkeit verdient besondere Aufmerksamkeit. Systhema, 18 (3), 320–327. Hawellek, C., Schlippe, A. von (Hrsg.) (2005). Entwicklung unterstützen – Unterstützung entwickeln. Systemisches Coaching für Eltern nach dem Marte Meo Modell. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Leutz, G. A. (1986). Psychodrama, Theorie und Praxis. Berlin u. Heidelberg: Springer. Omer, H., Schlippe A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H. (2003a). Gewaltfreier Widerstand im Umgang mit gewalttätigen Kindern mit Zwangsstörungen. Systhema, 17, 215–230. Omer, H. (2003b). Prinzipien des gewaltlosen Widerstandes – Anleitung für Eltern. Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht. Schlippe, A. von (2006). Der Mythos der Macht und Krankheiten der Erkenntnistheorie – Systemisches Arbeiten zwischen Manipulation, Nicht-Wissen und gewaltlosem Widerstand. Vortrag in Osnabrück am 15.03.2006 (in diesem Buch ab S. 17).

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Martin Lemme, Ruth Tillner und Angela Eberding

PräsenzschafftAutorität

Martin Lemme, Ruth Tillner und Angela Eberding

Präsenz schafft Autorität Coaching von Lehrerinnen und Lehrern im gewaltlosen Widerstand gegen soziale Störungen und destruktive Verhaltensweisen in der Schule

Im Frühjahr 2004, noch auf der zweiten Tagung zur elterlichen Präsenz mit Haim Omer in Osnabrück, gründete sich ein Arbeitskreis von systemischen Familientherapeuten und Lehrern, um das Konstrukt der elterlichen Präsenz und die damit möglichen Handlungsinterventionen des gewaltfreien Widerstands für den Bereich der Schule zu adaptieren und nutzbar zu machen. Ausgehend von der Präsenz von Lehrerinnen und Lehrern soll in diesem Artikel eine Umsetzung beschrieben werden und erste Interventionen dargestellt werden.

Destruktives Verhalten und Belastungsgrenzen Störungen im Unterricht, destruktive Verhaltensweisen (Belästigungen, Beschimpfungen, Schreien oder Drohungen, aber auch Verweigerung, Schwänzen, Somatisierungen) gehören für viele Lehrer zum alltäglichen Ablauf. Paul, Schüler der 9. Klasse, stört den Unterricht, Verbalattacken und Drohungen richtet er gegen Mitschüler und Lehrer, er hat einige Dinge aus der Schule gestohlen. Max, Schüler der 8. Klasse, verweigert seit Wochen den Schulbesuch. Sarah, 7. Klasse, klagt morgens über Bauch- und Kopfschmerzen und nimmt ebenfalls seit Wochen nicht mehr am Unterricht teil. Und David, Schüler der 4. Klasse, hat regelmäßig keine Hausaufgaben und bringt durch seine Verweigerung und fortwährende Unruhe im Unterricht seine Lehrerin an ihre Belastungsgrenze. Der normale Ablauf am Vormittag wird damit deutlich in Frage gestellt, Lehrer sind in zusätzlicher Verantwortungsübernahme gefordert und erleben schnell ihre möglichen Handlungsgrenzen.

Diese und ähnliche Verhaltensweisen bringen Lehrer und Eltern auch an persönliche Grenzen und führen nicht selten zu großer Hilflosigkeit. Alles Predigen, Strafen, Ermahnen und Schimpfen zeigt in diesen Fällen selten Erfolg, verschlimmert häufig sogar die Situation. Das Verhältnis zwischen Lehrern und Eltern ist in solchen Fällen nicht selten stark belastet. Gegenseitige Schuldzuweisungen und Infragestellen der jeweiligen Kompetenz schaffen häufig eine wenig konstruktive Atmosphäre. Kinder berichten zuhause wie auch in der Schule unterschiedliche Zusammenhänge, tragen

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Präsenz schafft Autorität

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dadurch zu einer Eskalation zwischen Eltern und Lehrern bei. Darüber hinaus sind Lehrer beruflich eingespannt, stehen im Zentrum verschiedenster Erwartungen und hoher Ansprüche, versuchen eine sinnvolle Begrenzung ihrer Arbeitszeit zu erreichen. Klärungen derartiger Eskalationen und Auseinandersetzungen finden in der Regel am Nachmittag oder Abend statt, da in der Schulzeit selten Zeit dafür zu finden ist. Die Gegenreaktion auf Gewalttätigkeiten und sozialen Störungen ist dann in letzter Möglichkeit ein Schulausschluss.

Präsenz und Autorität von Lehrern Während es heute notwendig erscheint, über Autorität nachzudenken, war dies bis vor dreißig Jahren klar geregelt: Die Autorität des Lehrers war unumstritten. Heute erscheint es notwendig, von der (Wieder-)Herstellung der Präsenz und Autorität von Lehrern zu schreiben und zu sprechen. Lehrer werden sowohl politisch als auch gesellschaftlich in Frage gestellt. Dies verstärkt Hilflosigkeit und Unsicherheit, was in Belastungssituationen zu Eskalationen beitragen kann. Auch Eltern scheinen diesbezüglich einem Wandel in ihrer Haltung unterzogen. Viele Elternkurse machen deutlich, dass es offensichtlich notwendig ist, ein neues Bild wertschätzender Autorität zu gestalten. Ein guter Weg zwischen rigider und nachgiebiger Handlungsweise scheint für Lehrer wie Eltern hilfreich und erforderlich. In Modellen zum Umgang mit Gewalt wurde in Ansätzen darüber nachgedacht, welche therapeutischen Interventionen sozial auffällige Schüler erhalten müssen, um ihr destruktives Verhalten zu reduzieren (Cierpka, 2005; Korn u. Mücke, 2000; Weidner et al., 2004). Alternativ wurde über Interventionen und Konsequenzen nachgedacht, die das Auftauchen von Gewalt und sozialen Störungen aus Abschreckung unwahrscheinlicher machen. Hier soll ein dritter Weg beschrieben werden. Haim Omer hat ein Beratungsmodell für Schulen aufgebaut, welches er angelehnt hat an Überlegungen zum gewaltfreien Widerstand von Mahatma Gandhi (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004). In einem freiwilligen und ehrenamtlichen Modellprojekt an Schulen in Stadt und Landkreis Osnabrück arbeiten Lehrer und systemische Familientherapeuten gemeinsam in einem Arbeitskreis an der Ausarbeitung dieses Modells10 (Lemme u. Eberding, 2006). Ziel dabei ist es, ein Rahmenmodell zu entwickeln, das an den jeweiligen Schulen eingesetzt und realisiert werden kann. Unabhängig von einer Diagnose destruktiv handelnder Kinder erarbeiten wir Handlungsstrategien, die es ermöglichen, auch in kritischen und eskalierten Situationen wieder konstruktiv handeln zu können. 10 Zu diesem Zweck wurde der Verein ahimsa e. V. gegründet. Dieser Verein organisiert dieses Projekt und hat sich dem Ziel verschrieben, das Beratungsmodell weiter zu entwickeln und in der Praxis anzuwenden. Derzeit sind drei Schulen fest beteiligt, weitere Schulen sind im Kontakt mit dem Arbeitskreis.

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Das hier beschriebene Modell baut auf die Anwesenheit und Wirksamkeit der anleitenden Erwachsenen auf. Während es in Familien damit um die »elterliche Präsenz«, einem zentralen Begriff in dem Modell Omers, geht, erscheint es sinnvoll, in der Schule die »professionelle und persönliche Präsenz« des Lehrers in den Mittelpunkt zu rücken. Die Präsenz der Lehrer hat für die Kinder eine ebenso große Bedeutung, wie die der Eltern. Zum einen gestalten Lehrer einen großen zeitlichen Teil der Kindheit und Jugend mit, zum anderen erleben wir in Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen, welch große Bedeutung Lehrer als Vorbild oder auch Gegenbild darstellen. Dabei ist mit Präsenz zunächst die physische Anwesenheit gemeint. Die Anwesenheit wird mit erklärtem Widerstand gegen destruktive Handlungen verbunden und in ihrer Hartnäckigkeit und Unübersehbarkeit wirksam. Die Präsenz von Lehrern (und Eltern) wird dazu genutzt, um Eskalationskreisläufe und destruktive Polarisierungen zu durchbrechen. Dabei ist explizit der Einsatz von Macht, Dominanz und Konsequenzen ausgeschlossen. Wenn Lehrer an sozial brenzligen Orten an der Schule anwesend sind, wird dort weniger destruktives Verhalten auftauchen. Drei Lehrer berichteten im Rahmen des Projektes, dass die Konflikte sich auf dem Schulhof deutlich reduzierten, als sie mit mehreren Lehrern Aufsicht führten, somit keine uneinsehbaren Stellen auf dem Schulhof vorhanden waren. Aus der eigenen Erfahrung wissen wir, dass dort, wo eine Person Regeln und Vorgaben klar und deutlich vertritt, die Abläufe meist geordneter und ruhiger sind. So entwickeln wir im Arbeitskreis gemeinsam verschiedene Möglichkeiten der Umsetzung, in der Schule die eigene Anwesenheit sowohl grundsätzlich und frühzeitig jenseits von Konflikten als auch in Eskalationen zu nutzen. Die Entwicklung und Entfaltung der »professionellen Präsenz« eines Lehrers beginnt schon bei der Begrüßung der Kinder. Eine Lehrerin im Projekt übernahm eine neue Klasse. Sie entwickelte mit den Schülern Umgangsregeln. Zwar habe sie am Anfang weniger Lernstoff vermitteln können, doch habe sie dies mehr als nur aufgeholt, da sie die Wahrscheinlichkeit von auftauchenden Störungen reduziert hatte. An einer der projektbeteiligten Schulen besuchten die Lehrer in den ersten Wochen des neuen Schuljahres die Kinder und ihre Familien zu Hause, andere Lehrer begannen das Schuljahr mit einem gemeinsamen Eltern-Kinder-Tag in der Schule. Es konnte so eine gute Basis für eine Zusammenarbeit auch bei Schwierigkeiten gelegt werden. Der Besuch bei Schülern zu Hause macht sichtbar deutlich, dass eine aktive Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern möglich ist. Der Zeiteinsatz rechnet sich, da die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation deutlich reduziert wird, spätere Störungen weniger Zeit benötigen. Mögliche gemeinsame Schritte sind durchaus auch jenseits offener Gewalt und sozialer Störungen hilfreich: Sandra, Schülerin der 7. Klasse, entwickelte morgens massive Bauchschmerzen. Einige Tage ging sie dennoch zur Schule, musste aber innerhalb einer Woche dreimal abgeholt werden. Die Mutter machte sich Sorgen, medizinische Untersuchungen konnten keinen Befund diag-

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nostizieren. Die Kooperation zwischen alleinerziehender Mutter und Lehrerin war sehr konstruktiv aufgrund guter vorheriger Kontakte jenseits von Konflikten. So konnte schnell eine Angst vor Veränderungen in der Sitzordnung und ein Konflikt unter den Peers in der Klasse ausgemacht werden als Anlass für diese Bauchschmerzen. Die Lehrerin motivierte Mitschülerinnen, die gern mit Sandra zusammen sitzen wollten. Diese besuchten Sandra zweimal nachmittags, einmal vor der Schule. Sandra konnte wieder mit zur Schule gehen, als die beiden Freundinnen sie morgens gemeinsam mit der Lehrerin abholten. Die Lehrerin beschrieb diesen Vorfall als einen Glücksfall für die Klasse, da er zum Anlass für die Kommunikation untereinander genutzt werden konnte. Dies führte in der Wahrnehmung der Lehrerin zu einer deutlich verbesserten Klassenatmosphäre. Der von ihr getätigte Zeiteinsatz habe sich mittlerweile deutlich positiv ausgezahlt. Und die eigene Wahrnehmung von hilfreichen Handlungsalternativen habe ihr zusätzliche Sicherheiten in ihrer Präsenz gegeben.

Wissen um Unterstützung stärkt Präsenz Die Präsenz von Lehrern findet nicht isoliert statt. Sie ist abhängig von dem eigenen Wissen des Lehrers, dass er Rückhalt bei der Schulleitung, den Kollegen und auch den Eltern findet. Konflikte im Kollegium und Auseinandersetzungen mit Eltern, häufig dann mit gegenseitigen Schuldzuschreibungen, führen zur Destabilisierung der Präsenz des Lehrers. Insofern ist die Beratung einer Schule darauf ausgerichtet, diese Bündnisse herzustellen und zu stabilisieren. Dies zeigt sich an den meisten Schulen als ein grundsätzliches Problem. Zeit für Austausch und Kommunikation steht selten planmäßig zur Verfügung, muss zusätzlich geleistet werden. Manche Kollegien sind sehr groß. Hier gilt es an Schulen erlebbar werden zu lassen, dass eine regelmäßige Plattform zur persönlichen Auseinandersetzung mit derartigen Gedanken die eigenen Handlungsmöglichkeiten immens vergrößert und eine größere Zufriedenheit im Berufsalltag schafft. Die Lehrerinnen im Arbeitskreis berichten, dass sich schnell engagierte Kollegen angeschlossen haben, dass es aber mühsam ist, die Mehrheit aller zu erreichen. Dies konnte teilweise mittlerweile dadurch erreicht werden, dass Kollegen neugierig geworden sind durch erfolgreiche Interventionen der beteiligten Lehrer. Auch hier scheint die Devise der Hartnäckigkeit und Beständigkeit gültig zu sein. Ein Lehrer konnte nach mehrmaliger persönlicher Beratung von einem Beispiel guter kollegialer Zusammenarbeit berichten. An seiner Hauptschule konnten Wegegelderpressungen und damit verbundene Gewaltandrohungen beseitigt werden. Dazu war es erforderlich, dass Lehrer und Eltern über eine längere Zeit an den »Tatorten« auftauchten. Aufgrund der Anzahl der beteiligten Jugendlichen mussten es auch viele Erwachsene sein. Die Aufgabe der Lehrer- und Elterngruppe bestand darin, durch ihre Anwesenheit den Widerstand gegen die Gewalthandlungen zu bekunden. Dies wurde kurz und knapp im Sinne einer Ankündigung mitgeteilt. Gleichzeitig schlossen die Erwachsenen jede Gewalthandlung und Vorwurfshaltung aus. Handlungen des gewaltfreien Widerstands zeichnen sich durch ihre Hartnä-

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ckigkeit und Wiederholung aus und sind in der Regel nach mehrmaliger konsequenter Durchführung erfolgreich. So auch hier: Die Erwachsenengruppe blieb eine längere Zeit an den »Tatorten« und suchte auch die anderen Zugangswege zur Schule auf. Bald stellte sich heraus durch eine anonyme Befragung von Schülern, dass die Wegegelderpressungen überwunden waren. Gleichzeitig stellten die Beteiligten auch hier fest, dass trotz der zusätzlichen Zeit und Energie die eigene Sicherheit und Kompetenz im Umgang mit schwierigen Situationen gestärkt worden ist.

Deeskalation als Modell Jede Schule und jeder Lehrer möchte bestimmte, eigene Werte vermitteln, eine bestimmte Außenwirksamkeit erreichen. Die Präsenz des Lehrers hängt stark mit Handlungen diesbezüglich zusammen. Wenn ein Lehrer im Unterricht negative Zuschreibungen und Abwertungen benutzt, wird ihm zunehmend mehr Ablehnung und Eskalation entgegenschlagen. Demgegenüber wird ein Lehrer, der wertschätzend und klar seine Position vertritt, auch entsprechend positive Reaktionen von Schülern, Kollegen und Eltern erhalten. Eine Beratung an und in Schulen ist also zunächst eine an der Selbstdarstellung der Lehrer orientierte Auseinandersetzung. Autorität durch entsprechend positiv wertschätzende Präsenz: »Ich bin der Lehrer! Mit mir müsst und dürft ihr euch auseinander setzen!« Mit der Arbeit an der eigenen Präsenz ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten eine notwendige Voraussetzung in der Nutzung des gewaltfreien Widerstands. Alle Schritte, die zu einer Eskalation führen könnten, werden systematisch vermieden. Wir unterscheiden zwei grundsätzlich mögliche Formen der Eskalation. Die symmetrische Eskalation setzt Gewalt gegen Gewalt, Beleidigung und Angriff gegen Provokation. Die Lehrkräfte werden in diesem Zusammenhang geschult, auf jede Provokation, Beleidigung, Beschimpfung zu verzichten. Während dies in der Regel noch relativ einfach möglich ist, gilt es, die weniger bewussten Formen von Eskalation zu entdecken und zu vermeiden. Dazu gehört das »Predigen« ebenso wie Nachgeben und vollständige Ignorieren. Die zweite Dynamik lässt sich als komplementär beschreiben, denn auch Nachgiebigkeit führt durch erlebte Frustration und wechselseitige Feindseligkeiten zu einer Eskalation. Im Arbeitskreis üben und schulen wir uns selbst gegenseitig in deeskalierenden Verhaltensweisen. Wir entwickeln dabei Übungen, die wir auch an weiteren Schulen umsetzen können. In Situationen von Gewalt ist eine klare und eindeutige Haltung sinnvoll, das Benennen der Situation und der destruktiven Handlungen notwendig. Ein hohes Tempo, schnelle Antworten sind in der Regel eskalationsfördernd. So wird eingeübt, die Reaktionen zu verzögern, ohne die Handlung zu ignorieren (»Ich habe wahrgenommen, was dort passiert ist, und ich werde darüber nachdenken und eine Ant-

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wort geben.«). Verzögert, aber mit der Möglichkeit, sich direkt auf die kritische Situation zu beziehen, kann dann die Reaktion erfolgen. Die Schüler merken schnell, dass dies nichts mit Aufgeben und Ignorieren zu tun hat. »Ich muss nicht gewinnen, ich muss nur beharrlich sein!« ist ein Satz, der in der Beratung zentrale Bedeutung hat. Wir vermitteln, dass jeder Lehrer weniger in Eskalation gebunden ist, wenn sie/er sich nicht verwickeln lässt in Konflikten und aus der Auseinandersetzung um Gewinnen und Verlieren, Recht oder Nicht-Recht haben aussteigt. Auch Generalisierungen (immer, nie . . .) und Schuldzuschreibungen (Du-Botschaften) führen zur Ausweitung eines Konfliktes, ebenso wie verbale Attacken und Feindseligkeiten. Demgegenüber sind positive, integrierende Aussagen (»Wir« statt »Ihr« oder »Du«) so ausgerichtet, dass sie die Gewalt verneinenden Anteile (»konstruktive innere Stimmen«) des sich destruktiv verhaltenden Kindes reduzieren. Das betroffene Kind bleibt so in der Gemeinschaft einbezogen. An einer Schule sprachen sich die Lehrer einer Klasse ab, eine ablehnende Geste mit der Hand in den Situationen zu zeigen, in denen die Schüler sich gegenseitig beleidigten und beschimpften, sich vor den Lehrern auch gegenseitig anklagten. Den Schülern wurde dieses Verhalten gegenüber deutlich benannt. Sie erfuhren, dass die Lehrer dieser Klasse dieses Verhalten ablehnen und von nun an eben die Hand zur Ablehnung hochhalten. Da nahezu alle Lehrer dieser Klasse sich an dieser Geste beteiligten, reduzierte sich innerhalb kurzer Zeit diese Verhaltensweise deutlich.

Widerstand zeigen Ein dritter, wesentlicher Aspekt des gewaltfreien Widerstands gegenüber destruktiven Verhaltensweisen ist das Erlernen alternativer und wirksamer Formen des Widerstands, vor allem des Schweigens. Lehrer und Eltern benötigen Training, um die Fallen verbaler Auseinandersetzung zu vermeiden. Aussagen wie: »Ich bin mit deinem Verhalten nicht einverstanden und komme darauf zurück!« verbunden mit beharrlichem Schweigen und eindeutiger Präsenz sind Aussagen, die vom Gegenüber als kraftvoll und nicht überwindbar wahrgenommen werden. Demgegenüber wird ein Lehrer, der sich auf eine verbale Auseinandersetzung einlässt, von Schülern in der Regel nicht als Autorität wahrgenommen. Insofern besteht gewaltfreier Widerstand aus Handlungen und Beharrlichkeit. Im Arbeitskreis berichteten fast alle Lehrer, dass sie gerade mit der eigenen Temporeduzierung deutlich klarer wahrgenommen werden, aber auch sich selbst viel stärker im Blick behalten. Eine Lehrerin berichtete, dass die Klasse erheblich ruhiger geworden sei, seitdem sie weniger und pointierter redet. Sie nehme auch einen besseren Lernerfolg der Schüler wahr.

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Gewalt benennen, Schweigen überwinden Gewaltfreier Widerstand besteht aus Handlungen und richtet sich gegen Verhaltensweisen, nicht gegen Personen. Damit sind entsprechende Zuschreibungen und Polarisierungen ausgeschlossen. Das bedeutet, dass in einer Schule oder Klasse vorhandene Gewalt zunächst benannt werden muss. Dabei ist eine Auseinandersetzung mit der Fragestellung, was Gewalt ist, zwingend notwendig und in der Regel für alle Beteiligten (bei uns im Arbeitskreis und an jeder Schule) sehr anregend, manchmal auch aufregend. Wir definieren als Gewalt bereits jede Zwangshandlung und Androhung von entsprechenden Handlungen. Auch Beleidigungen und Beschimpfungen, Mobbing und Bullying werden so benannt. Wenn Lehrer beginnen, Gewalt zu definieren, erlauben sie auch, über Gewalt sprechen zu dürfen. Die Erfahrung zeigt, dass auch an Schulen, an denen Lehrer geglaubt haben, es gebe keine Gewalt, diese Illusion schwindet. Wer sich gegen Gewalt wendet, für den ist es auch zwangsläufig erforderlich, jede Form von Gewalt zu benennen und mit Widerstand zu belegen. Gewalt benötigt die Geheimhaltung, um sich auszuweiten. Demgegenüber wird im gewaltfreien Widerstand die Bereitschaft benötigt, jede Form der Geheimhaltung und Isolation aufzubrechen. Insofern ist es hilfreich, vorkommende Gewalthandlung ohne Diffamierung einzelner Personen in der Schule bekannt zu machen. Es erscheint hilfreich, in Klassen über entsprechende Vorkommnisse zu sprechen und zu überlegen, was jede/r Einzelne tun kann, um eine Wiederholung zu vermeiden. Zur Etablierung einer entsprechenden Vorgehensweise in der Kultur einer Schule könnten eine Schulzeitung oder Aushänge über Gewaltvorfälle und entsprechende Vermeidungsstrategien informieren. In einer Klasse empfehlen wir, gewalttätiges oder dissoziales Verhalten ebenfalls klar und eindeutig zu benennen. Sofern eine entsprechende Differenzierung möglich ist, raten wir auch an, die Schüler, die dieses Verhalten zeigen, direkt anzusprechen. Wie schon beschrieben, geht es um das Benennen von destruktiven Verhaltensweisen, nicht um Abwertung eines einzelnen Schülers. Das Benennen ermöglicht Entlastung und Schutz für andere Schüler der Klasse und überwindet Geheimhaltung. Der Lehrer spricht diesem Verhalten gegenüber seinen Widerstand aus, wünscht sich zudem einen guten Verbleib des Schülers in der Klasse. Darüber hinaus ermöglicht es dem Lehrer, mit Schülern unterschiedlich umzugehen und Regeln für einzelne einzuführen (Omer nennt dies »konstruktive Ungerechtigkeit«). Dem Lehrer stehen verschiedene Möglichkeiten der Visualisierung möglicher Veränderungen im Umgang mit Gewalt zur Verfügung, denn es erscheint hilfreich, sowohl aufzuzeigen, dass das Verhalten längere Zeit beobachtet wird, als auch, dass Veränderungen wahrgenommen und gegebenenfalls bekräftigt werden können. Eine Lehrerin schrieb entsprechend die Vorkommnisse und Häufigkeiten für alle sichtbar an die Tafel. Eine weitere Möglichkeit stellt der Beobachtungsbericht dar. In ihm werden Verhaltensnotierungen über eine längere Zeit durchgeführt, die dem Schüler deutlich machen, dass auf sein Verhalten geachtet wird. Dabei ist die Zu-

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sammenarbeit der Kolleginnen und mit den Eltern sowie die konstant hartnäckige Durchführung über mehrere Wochen von eminenter Bedeutung.

Schulische Gewaltstrukturen So eine Vorgehensweise ist nicht ohne Konsequenz für die Selbstreflexion einer Schule. Im Arbeitskreis konnten wir feststellen, dass jeder Lehrer zunächst lange Zeit bemüht ist, sich auch mit sich stark auffällig verhaltenden Schülern zu arrangieren. Neben viel gutem Zureden werden irgendwann Strafen und Konsequenzen verhängt. Offensichtlich wirken diese Verhaltensweisen bei verschiedenen Schülern aber eher eskalierend statt beruhigend. Je heftiger also eine solche Auseinandersetzung wird und je instabiler auch die Kooperation mit Eltern sich entwickelt, um so eher kommt es zu Ausgrenzungen von destruktiv handelnden Schülern. Die Handlungsalternativen von Schulen und Lehrern erscheinen dann begrenzt. Schulen fordern in der Regel von Schülern weitgehende Anpassung. Gewalt und starke soziale Störungen, insbesondere auch, wenn andere Beteiligte geschützt werden müssen, werden in der Regel disziplinarisch mit Schulausschlüssen und -verweisen geahndet. Dies schafft in der jeweiligen Situation Entlastung, stellt aber für den beteiligten Jugendlichen Entwicklungsweichen, die nicht selten eskalieren. Darüber hinaus verschafft es einem Lehrer, manchmal auch einer Schule, ein frustrierendes, hilfloses oder auch ärgerliches Gefühl. »Aus den Augen aus dem Sinn« heißt es in der Regel weder für die Schule noch die Lehrer, noch für die anderen und schon gar nicht für den betroffenen Schüler. Kontaktabbrüche und Ausschlüsse sind somit eskalierend. Wir motivieren Lehrer, auch nach Konflikten mit einem sich problematisch verhaltenden Schüler Kontakt zu halten, zum Beispiel durch Anrufe und Besuche. Eine Möglichkeit stellt der »alternative Schulausschluss« dar. Paul, 9. Klasse, wurde nach mehreren Eskalationen (Beschimpfungen, Gewaltanwendungen und Diebstählen) für mehrere Wochen aus der Schule ausgeschlossen. Dies war insofern besonders problematisch, als er an die jetzige Schule bereits strafversetzt worden war. In der Beratung und Kooperation konnte der Ausschluss auch konstruktiv genutzt werden. Ausgangspunkt war die zunächst notwendige Überwindung der Dissonanzen zwischen Eltern und Lehrern. Nachdem dies geschafft war, konnte abgesprochen werden, dass er die Lerninhalte als Lehrplan über die Zeit mit nach Hause bekam. Die Eltern bemühten sich um Unterstützung. Mitschüler besuchten ihn, hielten Kontakt. Anstehende Arbeiten schrieb er in der Schule in einem separaten Raum mit. Weitere Eskalationen seinerseits tauchten danach nicht wieder auf.

Wir empfehlen Schulen in ähnlichen Konflikten eher kürzere Ausschlusszeiten (z. B. drei Tage). Diese Zeit könnte dann vom Lehrer zu einer Auseinandersetzung in der Klasse über Gewalt und soziale Störungen sowie mit dem betroffenen Schüler füh-

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ren. Wir empfehlen den Besuch des Lehrers bei den Schülern in so einer Situation. Bei Paul konnte eine von der Klassenkonferenz verhängte Sanktion trotz (oder vielleicht auch gerade wegen?) ihres langen zeitlichen Umfangs zu einem Stopp seiner destruktiven Verhaltensweisen und einem deutlich besseren Klassenklima führen. Zudem wurde psychotherapeutische Hilfe von außen als Unterstützung genutzt.

Vernetzung Die Vernetzung innerhalb und außerhalb des Schulsystems stellt eine wichtige Grundlage zum Widerstand gegen Gewalt dar. Eine im Projekt beteiligte Lehrerin berichtete von einer eskalierten Situation in ihrer Klasse. Sie berichtete, dass sie sich sehr hilflos und allein gelassen gefühlt habe. In einer kurzen Aufstellung dazu erlebte sie Entlastung, als sich jemand aus dem Arbeitskreis an ihre Seite stellte. Das Wissen um Unterstützung allein reicht schon aus, um die Präsenz in kritischen Situationen zu stärken. Dies gilt auch und gerade bei Lehrern, die als Einzelperson einer jeweils größeren Gruppe (der Klasse) gegenüber stehen. Insofern gilt es in der Schule und mit den beteiligten Personen eine Kommunikation zu fördern, die eine konstruktive Auseinandersetzung mit Gewalt und eskalierenden Konflikten fördert. Dazu ist notwendigerweise schon frühzeitig Zeit und Raum einzuplanen. Der Einsatz ist in jedem Fall lohnenswert, weil dadurch Konflikte weniger häufig auftreten und eine Klärung schneller und dann auch weniger aufwändig möglich ist. An allen drei projektbeteiligten Schulen finden sich mittlerweile in der Regel monatlich (bis sechswöchig) Lehrer zu einem Arbeitskreis zusammen, in denen die Umsetzung des Arbeitsmodells in der Praxis reflektiert und weiterentwickelt wird. Begleitet werden diese Arbeitskreistreffen durch die am Projekt beteiligten Familientherapeuten. So können Intervisionskreise an den Schulen vor Ort entstehen, an denen jeder aus dem Kollegium mehr oder weniger regelmäßig teilnehmen kann. Auch hier mag die Erfahrung gelten, dass allein die Existenz eines solchen Arbeits- und Intervisionskreises die Erlaubnis gibt, über eigene negative Erfahrungen mit der persönlichen Präsenz zu sprechen. An vielen Schulen gibt es Streitschlichterprogramme und Moderatorinnen. Auch diese bereits vorhandenen Strukturen können genutzt werden, um auftauchende Gewalt zu ächten und konstruktive Lösungen von Konflikten anzubieten. In besonderen Fällen können auch weitere Vermittler an Schulen hilfreich sein, zum Beispiel ehemalige Schüler und Lehrer. Demgegenüber scheint das Hinzuziehen von Exekutiven nur dann sinnvoll, wenn die intensive Kooperation von beispielsweise der Polizei und Schule ohne Gewalt- und Konsequenzandrohung schon zur Kultur der Schule gehört. Im Sinne der Prinzipien des gewaltfreien Widerstands ist die Präsenz, die bereits mit Sanktion und Konsequenz verbunden ist, eher eskalierend zu erleben. Konstruktive Präsenz steht für das Handeln mit gewaltfreien, also auch nicht strafenden oder drohenden Mitteln.

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Eine Verbindung zur Ankündigung von Widerstand und der Darstellung von Vernetzung stellt die Reaktionspyramide dar. Sowohl für einen konkreten Fall als auch generell in einer Schule kann festgelegt werden, wer in welchen Fällen mit wem gemeinsam handelt. So würde die Pyramide aufsteigen vom einzelnen Lehrer über die Eltern zu mehreren Kollegen, dann zum Jahrgangs- oder Bereichsleiter bis hin zur Schulleitung und externen Institutionen und Personen. Hier wird deutlich gemacht, dass Gewalt nicht das Problem des Einzelnen ist. Eine Lehrerin in einer Schule entwickelte mit uns im Arbeitskreis ein derartiges Modell für ihre Klasse: Dort fielen zwei Schüler durch ihr Verhalten stark auf, ließen sich auch durch bisherige Ermahnungen nicht von dem problematischen Verhalten abbringen. Die Lehrerin sprach ihr Vorgehen in der notwendigen Klassenkonferenz unter Beisein der Eltern ab. Zunächst benannte sie das Verhalten der beiden Kinder vor der Klasse, sprach sie direkt darauf an, erklärte, sie werde alles ihr Mögliche tun, um das Verhalten zu verhindern und beide Kinder in der Klasse zu behalten. Sie schrieb das Verhalten auf die Tafel und machte eine Strichliste über die Häufigkeit. Im Unterricht sprach sie beim Auftreten nicht darauf an, sondern machte offen für alle sichtbar einen Strich. Am Ende einer jeden Woche gab es ein Reflektionsgespräch mit der Lehrerin. Bei Überschreiten einer festgelegten Menge von Strichen konnte die Lehrerin den nächsten Schritt einleiten und die Eltern ansprechen. Sollte auch dieser Schritt nicht hilfreich zur Vermeidung des Verhaltens sein, konnte die Lehrerin eine Kollegin zum Reflektionsgespräch heranholen, die als »Richterin« eingeführt worden ist. Diese Kollegin hatte bei anhaltendem Verhalten das Recht, einen Ausschluss für einen Tag auszusprechen. Bei einem Kind reduzierte sich das problematische Verhalten sofort. Beim anderen Kind mussten sowohl einmal die Eltern als auch die Richterin hinzugezogen werden. Nach dem Gespräch mit dieser Kollegin reduzierte auch dieses Kind das Verhalten drastisch. Auf keiner der Stufen wurde die nächste angedroht. Es folgten bei Eintreten lediglich entsprechende Mitteilungen. Die Lehrerin erntete besonders von den Eltern und den Kolleginnen viel Anerkennung und Unterstützung, die Situation in der Klasse war deutlich ruhiger.

Stimmen gegen Gewalt stärken In jedem System gibt es gewaltbereite, aber auch gegen Gewalt gerichtete Stimmen. So ist es in der Auseinandersetzung hilfreich und wichtig zu wissen, dass es unter Schülern oder Jugendlichen in der Regel eine Mehrheit gibt, die gegen Gewalt eingestellt ist. Dies ist häufig sogar bei gewaltbereiten Personen selbst so. Diese »inneren Stimmen« und Personen werden gestärkt, wenn deutlich wird, dass sich der Widerstand nicht gegen eine oder mehrere Personen richtet, sondern gegen die Gewalt. Insofern wird eine Handlungsweise zum Gegner erhoben, nicht Personen. Freundliche Interaktionsangebote werden von aggressiv handelnden Jugendlichen häufig negativ konnotiert. Eine Handlungsmöglichkeit stellen beziehungsstiftende Angebote dar, die abgekoppelt sind von einem erwarteten Wohlverhalten des betroffenen Jugendlichen. Hier erscheint es wiederum schon im Vorfeld von eskalierenden Kon-

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flikten hilfreich, wenn der Lehrer mit seiner Klasse zu Beginn einer gemeinsamen Zusammenarbeit überlegt, welche Handlungen dies sein könnten. Dies war der Vorschlag der im Projekt beteiligten Lehrer, als wir darüber sprachen, welche Gesten dafür in der Schule nutzbar sein könnten. Wir erleben diesen Vorschlag als sehr konstruktiv, da mit dieser positiv gerichteten Ankündigung schon ein gleichermaßen positiver Kommunikationsstil eingeführt wird. Diese beziehungsstiftenden Angebote sollen nicht vom Verhalten einer Klasse abhängen, also weder Belohnung noch Bestrafung durch Entzug sein. Es geht um Angebote, die die Klassenatmosphäre verbessern, Möglichkeiten auch persönlicher Begegnungen zwischen Lehrer und Schülern möglich machen. Dies könnten Ausflüge, Klassenfahrten oder auch gemeinsame Feiern sein. Über die bisher genannten Interventionsstrategien hinaus gibt es noch eine weitere Möglichkeit für Lehrer im Umgang mit schwierigen Verhaltensweisen von Schülern: das Sit-in. Im Sit-in wird der Schüler zu einem Gespräch geladen oder eine Gruppe von Erwachsenen (z. B. Lehrer und Eltern) suchen das Kind dort auf, wo es sich befindet. Zu Beginn wird der Anlass in knappen Worten von einem Sprecher der Gruppe beschrieben. Es wird deutlich gemacht, dass es um den Widerstand gegen ein klar umschriebenes destruktives Verhalten geht. Dabei wird nicht moralisiert, kein Vorwurf erhoben oder sonst in einer Art argumentiert oder erläutert. Danach wartet das Team schweigend auf Lösungsvorschläge seitens des Schülers. Ein wenig konstruktiv erscheinender oder bereits in der Vergangenheit erfolgloser Vorschlag wird ohne Diskussion abgelehnt. Sollte ein scheinbar hilfreicher Vorschlag unterbreitet werden, so wird mitgeteilt, dass das Team diesem Vorschlag eine Chance geben möchte. Es werden keine Warnungen, Bedingungen, Konsequenzen oder Drohungen ausgesprochen. Es wird auch nicht ein gegebenenfalls weiteres Sitin angekündigt. Sollte kein konstruktiver Vorschlag unterbreitet werden, so wird in ungefähr einer halben Stunde das Sit-in mit den Worten beendet, dass heute keine gute Lösung zu finden gewesen ist. Auch hier werden keine Drohungen und dergleichen mehr ausgesprochen. Ein Sit-in wird wiederholt durchgeführt, wenn das destruktive Verhalten anhält. Omer et. al. (2005) berichtet, dass interessanterweise Schüler, die keinen Lösungsvorschlag machen können, ebenso häufig ihr Verhalten verändern, wie diejenigen, die einen Vorschlag gemacht haben. Die beste Vorbereitung und die größtmögliche Kraft zur Reduzierung von Gewalt liegen im Erschaffen von Kooperation und Bündnissen. An den beteiligten Schulen und an den verschiedenen Schulen, an denen dieses Modell auch in Israel schon umgesetzt worden ist, sind die Rückmeldungen erstaunlich. Je mehr zunächst erlaubt worden ist, über Gewalt zu sprechen, um so mehr wurde auch deutlich, wie viel destruktive Verhaltensweisen tatsächlich vorhanden waren und bisher nicht entdeckt worden sind. Weiter erlebten die beteiligten Lehrer enorme Veränderungen bei sich selbst, im Kollegium und im Kontakt mit den Eltern.

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Literatur Cierpka, M. (Hrsg.) (2005). Möglichkeiten der Gewaltprävention. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Korn, J., Mücke, T. (2000). Gewalt im Griff. Band 2: Deeskalations- und Mediationstraining. Weinheim und Basel: Beltz. Lemme, M., Eberding, A. (2006). Präsenz und Autorität. Mit Gewaltfreiem Widerstand gegen soziale Störungen und destruktiven Verhaltensweisen in der Schule. Pädagogik, 58 (2), 18–21. Omer, H., Irbauch, R., Schlippe, A. von (2005). Soziale Störung und Gewalttätigkeit in der Schule. Pädagogik, 57 (2), 42–47. Omer, H., Schlippe, A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Weidner, J., Kilb, R., Kreft, D. (Hrsg.) (2004). Gewalt im Griff 1: Neue Formen des Anti-Aggressivitäts-Trainings. Weinheim u. München: Juventa.

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FamilieAufmerksam

Einbeziehung des Ansatzes in störungsspezifische Konzepte

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Familie Aufmerksam Ein integriertes Modell für Elterncoaching, Gruppen- und Einzeltherapie bei Kindern mit der Diagnose AD(H)S11 unter Einbeziehung des Konzepts der elterlichen Präsenz

»Was wäre, wenn die Störung keine ›Krankheit‹ wäre . . .?« So eröffne ich gern meine Artikel und Vorträge zum Umgang mit Kindern, die aufgrund ihrer Verhaltensweisen die Diagnose AD(H)S erhalten haben. Seit fast fünf Jahren arbeite ich mit Familien, die sich mit den besonderen Verhaltensweisen von so diagnostizierten Kindern auseinander setzen müssen, erfolgreich nach dem Coaching-Modell zur elterlichen Präsenz von Omer und von Schlippe (2002, 2004). Seit drei Jahren haben wir dazu das Gruppen- und Eltern-Coaching-Modell »Familie Aufmerksam« entwickelt. Aus einer ressourcenorientierten systemischen Perspektive gehe ich davon aus, dass es sich bei den von vielen als störend erlebten Verhaltensweisen der betroffenen Kinder um Reaktionen im ungünstigen Zusammenspiel verschiedener Bedingungen und Handlungen und um ursprünglich lebenskonstruktive Verhaltensweisen (»besondere Aufmerksamkeiten«) handelt. Begegnen wir (die Eltern, Lehrer, Fachleute) diesen mit »besonderer Aufmerksamkeit« – und manchmal auch Widerstand gegen den destruktiven Verhaltensanteil –, so können sie (wieder) zu einer Fähigkeit entwickelt werden. In unserer Eltern-Kind-Gruppe »Familie Aufmerksam« nutzen wir diese Sichtweise, verbinden sie mit systemischer Arbeit, dem Gruppen-Coaching von Eltern in ihrer Präsenz (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004), hypnotherapeutischen Selbstinstruktionsanteilen und der Energiefeld-Therapie (Kaufmann, 2002; Franke u. Schlieske, 2005).

11 Der im deutschen Gesundheitswesen genutzte Diagnoseschlüssel »ICD-10« kennt diesen Begriff nicht (Dillinget al., 1994). Dort wird differenziert zwischen der »Einfachen Aufmerksamkeitsstörung« und der »Hyperkinetischen Störung«. Im englischsprachigen Raum ist eher der Diagnoseschlüssel »DSM-IV« (Saß et al., 2001) verbreitet, wonach eine »Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (ADS)« mit zu differenzierenden Verhaltensanteilen beschrieben wird. AD(H)S ist somit eine geläufige Kurzform der Diagnose ADS bei Kindern, die besonders unruhig und hyperaktiv bei sozialen Auffälligkeiten sind.

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Worum geht’s? AD(H)S ist eine mögliche Beschreibung einer Auffälligkeit, die im Alltag von vielen Eltern, Psychotherapeuten und Beratern, Kinderärzten und Lehrern und sicherlich noch einigen anderen eine große Rolle spielt. In der Regel entsteht innerhalb kürzester Zeit ein großes Problemsystem um die betroffenen Kinder herum, der Fokus ist festgelegt. Die betroffenen Kinder stören, fallen auf, leisten nicht das, was sie doch vermeintlich könnten. Die Beschreibung »AD(H)S« erscheint defizitär. Systemisch denkende und arbeitende Therapeutinnen12 suchen nach Beschreibungen, die Ressourcen offen legen, die einen guten und konstruktiven Umgang möglich machen (Hennecke, 2000). Fragt man betroffene Eltern, so beklagen sie täglich mehrfach wiederkehrende Auseinandersetzungen, die die Not in der Auseinandersetzung mehr als deutlich machen: extremes Trödeln am Morgen, ständiges Wiederholen von Anweisungen, Schimpfen, Reibereien, Streit, Schreiereien, schlecht einschlafen und früh aufstehen, Stress bei den Hausaufgaben, Widerstand bei Grenzsetzung in teilweiser extremer Art und Weise. Untersuchungen (z. B. Döpfner et al., 2000a, 2000b, 2000c) kennzeichnen als schwierige Situationen die, in denen entweder – hohe Konzentration an einer längerfristigen Aufgabe (z. B. Hausaufgaben) erforderlich ist, – die Aufmerksamkeit der Eltern abgelenkt ist (z. B. Telefonieren, Besuch) oder – die Familie zusammenkommt und besondere Erwartungen an Verhalten und Gemeinsamkeit gestellt werden (z. B. Mahlzeiten). Die Hypothesen zu der Entstehung der Verhaltensweisen, die unter AD(H)S beschrieben werden, sind vielfältig (Hüther u. Bonney, 2002). Heute geht man weitestgehend von multifaktoriellen Bedingungszusammenhängen aus (Döpfner et al., 2002), die hier einzeln kurz erläutert werden sollen. Diese Klassifizierungen sollen nicht als Erklärungen verstanden werden, sondern die Komplexität des Phänomens AD(H)S beschreiben helfen: – AD(H)S ist eine funktionelle Störung des Gehirns oder ein Indikator für solche: Unter dieser Überschrift finden sich einzelne Hypothesen, die sich auf Untersuchungen vor allem neurologischer und biochemischer Art beziehen. So wurden Störungen des Neurotransmittersystems (Dopaminmangel) festgestellt, die beschreiben, dass die Nervenübertragung nicht reibungslos verläuft, das innere Regelsystem dazu nicht reibungslos abläuft, was zu den beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten führen könnte (Moll u. Rothenberger, 2001; Rothenberger u. Banaschewski, 2004). Bei dieser Hypothese setzt auch die Verschreibung von Me12 Im Folgenden verwende ich wechselnd Therapeutinnen/Therapeuten und Beraterinnen/Berater, meine damit alle der systemischen Arbeit verbundenen Tätigen. Außerdem nutze ich der besseren Lesbarkeit wegen mal die weibliche, mal die männliche Schreibweise.

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dikamenten (Methylphenidate, z. B. Ritalin®) an. Lange Zeit hielt sich auch die Vermutung von strukturell bedingten Störungen der Hirnfunktion, wenngleich dafür keine Hinweise gefunden werden konnten. Der Begriff der »minimalen Cerebralen Dysfunktion« beschrieb diese Annahme. Insgesamt erscheinen die Untersuchungen nicht einheitlich (Köhler, 2004). Mittlerweile gehen viele Untersuchungen nicht allein von Dopaminmangel aus, sondern konstatieren eine Imbalance des gesamten Neurotransmitter-Systems (Moll u. Rothenberger, 2001; Rothenberger u. Banaschewski, 2004). Die dazu entwickelten Medikamente zielen dementsprechend auf eine Balance des gesamten Systems (z. B. Strattera®). AD(H)S ist genetisch bedingt: Auffällig erscheint, dass mindestens ein Elternteil, häufig auch weitere Familienmitglieder, entferntere Verwandte oder Personen in der Mehrgenerationenperspektive ebenfalls von ähnlichen Verhaltensweisen betroffen sind. Schmela (2004) nennt dazu einige Adoptions- und Zwillingsstudien, die den hohen Anteil genetischer Disposition belegen. Sicherlich ist gerade in der Übernahme elterlicher Verhaltensweisen auch ein hoher sozialer Anteil festzustellen. AD(H)S als Störung des Immunsystems: Besonders wurden Zusammenhänge in Ernährung und Umwelteinflüssen im Sinne allergischer Reaktionen gesucht (Feingold, 1975). Tatsächlich scheint es immer wieder Beobachtungen von Eltern zu geben, die erleben, dass bestimmte Nahrungsmittel (Zucker, Phosphate, Farb- und Konservierungsstoffe, Milchprodukte) zu einer Verstärkung von Verhaltensweisen führten. Erfolge konnten allerdings bisher nur in Einzelfällen nachgewiesen werden. AD(H)S als Reaktion auf psychosoziale Belastungsfaktoren: Eltern, die ihre Kinder bei Therapeuten oder Ärztinnen vorstellen, erleben häufig Bemerkungen zu ihrem Erziehungsstil. Tatsächlich wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass mangelnde Grenzsetzung einen großen Anteil an der Störung ausmachen könnte. Einen kausalen Zusammenhang gibt es wohl kaum. Unbestritten jedoch führen die kritischen Verhaltensweisen zu einer wachsenden Hilflosigkeit der Eltern, die häufig eine fortwährende Eskalation und Steigerung der Dynamik nach sich ziehen. Psychosoziale Belastungsfaktoren, die eine deutliche Veränderung des Alltagsrhythmus bedeuten (Trennung, Scheidung, veränderte Anwesenheiten der Eltern), führen in der Regel zu einer Ausweitung der kritischen Auseinandersetzungen. AD(H)S ist ein normaler und natürlicher Teil des Spektrums menschlichen Verhaltens: Vor allem Thom Hartmann (1998) vertritt diese These und spricht bei Menschen mit dem Verhaltensmuster AD(H)S von den Erben der »Jäger« (»hunter«) gegenüber den »Sammlern« (»farmer«). Sammler seien in unserer Gesellschaft gesucht und willkommen, während Jäger mit ihren Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft weniger hilfreich sein könnten, als dies in der Vergangenheit gewesen sei. Dieser ressourcenorientierte Ansatz geht davon aus, dass wir im Um-

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gang mit betroffenen Menschen lediglich deren Besonderheiten wahrnehmen und sinnvoll entwickeln lassen müssten. In dieser Diskussion versteckt sich auch die Frage, inwieweit wir jemanden als »krank« beschreiben, die/der sich in unserem gesellschaftlichen Rahmen als »nicht normal« zeigt. Dabei könnte es sein, dass ein anderer gesellschaftlicher Zusammenhang wiederum das »Kranke« als »normal« beschreibt, während das bei uns »Normale« dort ja »krank« sein könnte. – AD(H)S ist ein Mythos, der von geldgierigen Arzneimittelfirmen und Ärzten in der Bemühung erfunden wurde, ihr Einkommen zu vermehren, oder von Lehrern, die dafür sorgen, dass die Schuld für das akademische Versagen ihrer Schülerinnen und Schüler nicht auf sie fällt. T. Hartmann benennt diese Theorie als Lieblingsthese von Rush Limbaugh, einem populären amerikanischen Politikkommentator und Talkshow-Moderator. Diese Hypothese berücksichtigt in eigenwilliger Art und Weise, dass wir uns in der Erklärung von Verhaltensmustern in der Regel höchstens Konstruktionen und Hypothesen entwickeln und bilden können, die uns helfen, die Zusammenhänge besser zu verstehen – ohne sie vollends zu begreifen. Heute geht man in der Literatur und Forschung von komplexeren Modellen und entsprechenden multimodalen Interventionen aus. So beschreiben Döpfner et al. (2000a) in einem allgemeinen Modell, dass eine erhöhte neurobiologische Vulnerabilität sich in bestimmten Funktionsdefiziten der kognitiven Entwicklung und Steuerung äußert. Sie manifestiere sich dann in hyperkinetischem Verhalten, wenn ein Mangel an äußerer Steuerung (mangelnde Grenzsetzung in der Erziehung) besteht und wenn spezifische Anforderungen an Ausdauer und Aufmerksamkeit gestellt werden (z. B. durch Spiel-, Leistungs- und Gruppensituationen in Kindergarten, Schule, aber auch Freizeit). Dieses Modell erscheint sehr einleuchtend und erklärend, entspricht damit unserem Bedürfnis Unerklärliches erklärbar zu machen.

Systemischer Erklärungsbedarf Eine zentrale systemische Grundannahme ist,dass eine (konflikthafte) Verhaltensweise sich aus zirkulären und wechselwirkungsbedingten Prozessen und Zusammenhängen ergibt. T. Hartmann (1998) geht von der Annahme aus, dass es Menschen mit Grundvoraussetzungen gibt, die in unserer Gesellschaft nicht gern gesehen werden. Tatsächlich werden betroffene Kinder im Säuglings- oder Kleinkindalter in der Regel als lebhaft mit einem starken Willen beschrieben, meistens wird das Verhalten aber noch nicht als extrem problematisch oder gar krank deklariert. Dies geschieht dann, wenn die Kinder in Rahmenbedingungen (in der Regel außerhalb der Familie) gelangen, in denen Vergleichbarkeiten in Verhalten und Leistungen hergestellt werden (Schule, z. T. auch Kindergarten). Die bisher unspezifischen Vulnerabilitäten und Fluktuationen (Schiepek, 1999) führen dann über vielfältige, komplexe Feedback-

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schleifen (negative, das problematische Verhalten verstärkende Feedbacks), über Reaktionen und Gegenreaktionen, Prozesse der Selbstkonzeptbildung und Erwartungserwartung oder über Behandlungs- und Problemlöseversuche zu den spezifischen, prägnanten Verhaltensmustern, hier AD(H)S13. Dabei sind sicherlich noch einige einzelne Aspekte zu beachten, die der Klärung bedürfen: 1. Zwar werden Säuglinge und Kleinkinder mit dem Verhaltensrepertoire eines »Hunters« noch nicht als krank beschrieben, dennoch werden sie nicht selten von den Eltern als schwierig und anstrengend erlebt. Dies betrifft in der praktischen Erfahrung häufig Eltern, die selbst eine deutliche innere Unruhe und Stimmungslabilität wahrnehmen oder eigenen, als problematisch erlebten Familienzusammenhängen entstammen. So kann schon früh nicht mehr zwischen Verhalten und der Person selbst differenziert werden, es kommt zu Reaktionen der Eltern, die das Kind als Ablehnung der eigenen Person erfährt. Auch Eltern erleben Reaktionen der Kinder nicht selten als persönliche Kränkung. Symmetrische und komplementäre Eskalationsdynamiken beschreiben die von allen Beteiligten als schwierig erlebte Entwicklung. Diese wird in der Regel mit Schuleintritt auch in anderen Zusammenhängen deutlich, damit spätestens dann auch »diagnostiziert«. 2. Scheinbar benötigen die betroffenen Kinder besonders viel Unterstützung und Geduld wie Orientierung, um eine gute Anpassung an die sie umgebende Gesellschaft mit eher konformen Leistungs- und Verhaltenserwartungen zu erreichen. Die in der Regel durch Gefühle wie Scham und Schuld, Ärger und Hilflosigkeit geprägten Verhaltensweisen führen zu einer stetig wachsenden Hilflosigkeit sowohl der Eltern als auch der Kinder, so dass ein das als problematisch betrachtete Verhalten verstärkender Kreislauf entsteht. Aus dieser Entwicklung heraus werden Kinder nicht selten dominant und überlegen den Eltern gegenüber (sie nehmen ja weniger Rücksicht), steuern zunehmend häufiger deren Verhalten, um kurzfristige »Erfolge« zu verbuchen. 3. Psychosoziale Veränderungen, einschneidende familiäre Entwicklungen (u. a. Trennungen) und geschwächte elterliche Präsenz (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004) durch gegenseitige oder äußere Abwertung so wie eigene Inkonsequenz oder überhöhte Entwicklungs- und Leistungserwartung führen ebenfalls zu einer Steigerung der Verhaltensweisen beim »besonders aufmerksamen« Kind. Denn diese Kinder scheinen die Lücken eines Systems schnell zu erkennen und für sich zu nutzen. 4. Sofern sich diese Abläufe chronifizieren, fortwährende Eskalationen entstehen, sich die Interaktionen auf konflikthafte Begegnungen reduzieren, kann es in einer Familie zu einem Muster von Machtorientierung kommen, in dem sich das Kind als besonders dominant herausstellt (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004). 5. Das vorstehend beschriebene Modell zur systemischen Erklärung von symptomatischen Verhaltensweisen wie eben die »besonderen Aufmerksamkeiten« 13 Ich verwende den Begriff AD(H)S im Sinne einer Kurzbeschreibung der umschriebenen Verhaltensmuster, ausdrücklich nicht als feststehende Diagnose-Zuschreibung.

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(Lemme, 2005) kann anhand der Erfahrungen und Entwicklungen von Kaufmann (2002) und Franke und Schlieske (2005) noch um eine Ebene erweitert werden: dem menschlichen Energiefeld. Ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen und der Tradition der fernöstlichen Medizin beschreiben beide, dass bereits frühe und häufig nicht mehr bewusste Trauma-Erfahrungen zu Störungen im Energiefeld des Menschen führen können. Ihrem teilweise etwas kausal anmutenden Modell liegt zugrunde, dass der Körper sich als Energiefeld bei Störungen Möglichkeiten der neuen Balance sucht, die zuvor durch Traumata ausgelöst worden sind. Diese Verknüpfungen sind demnach zum Teil recht umfangreich, verschlungen und in der Regel unbewusst. Auf die Nutzung dieses Zusammenhangs komme ich später noch zurück, da sich hier die Möglichkeit bietet, den Kindern eigene Hilfsmittel zur besseren Anpassung an sozial sie herausfordernde Situationen an die Hand zu geben.

Die Situation der Kinder und ihrer Familie Die betroffenen Kinder und Jugendlichen werden häufig als Störenfriede bezeichnet. Sie sind nicht selten an den Rand ihrer sozialen Gruppen gedrängt, haben dann wenig bis gar keine sozialen Kontakte, werden gemieden, weil sie als anstrengend, aggressiv und schwierig erlebt werden. Dies nehmen die betroffenen Kinder nicht immer bewusst wahr. Die Schule stellt für diese Kinder ein besonderes Problem dar. Stellen Sie sich einmal eine stark gefüllte Flughafen- oder Bahnhofshalle vor. Aus drei Meter Entfernung versucht Ihnen jemand etwas zu erläutern. Dies ist nur unter extrem hoher Konzentration möglich. Die besonders aufmerksamen Kinder erleben Schule wohl so ähnlich. Viele Nebengeräusche, Außenreize akustischer und visueller Art sowie innere impulsive Bedürfnisse machen es für diese besonders aufmerksamen Kinder sehr schwer sich auf die Vermittlung von Unterricht über einen längeren Zeitraum möglichst ohne eigene körperliche Aktivität zu konzentrieren. Die in der Regel deutlich negativen und strafenden Reaktionen anderer sind für die Kinder nicht (voll) verständlich, sie reagieren mit Irritation, was letztlich zu einer Verstärkung ihrer eigenen Verhaltensweisen sowie der darauf folgenden Reaktionen führt. Eine Eskalationsdynamik ist damit in vollem Gange. Das Selbstbild der betroffenen Kinder sinkt, sie werden manchmal stiller und zurückgezogener, häufiger aber aus ihrer Hilflosigkeit heraus aggressiver. Auch die betroffenen Familien verändern ihr Verhalten um das vermeintlich problematische Verhalten. Sie ziehen sich nicht selten zurück aus weiteren sozialen Kontakten, aus der Vermeidung von Schwierigkeiten, eigener Erschöpfung und/oder Angst und Scham. Nicht selten führt die Auseinandersetzung um das Thema auch zu Streit und Auseinandersetzungen zwischen den Eltern. Sie geraten in eine typische Situation, in der wir von Verlust der elterlichen Präsenz sprechen kön-

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nen. Barbara Ollefs und Arist von Schlippe (2005) beschreiben in einer Mind-Map (s. Abbildung 1, S. 55) ebendiesen Verlust. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass diese Mind-Map noch um zwei Aspekte erweiterbar ist: psychosoziale Belastungen (wie finanzielle Schwierigkeiten o. Ä.) und (chronische) Krankheit, die die eigene Belastbarkeit einschränken.

Wenn Kinder elterliches Verhalten steuern Fragen wir in eine Elternrunde hinein, was Kinder benötigen, um zu starken Persönlichkeiten heranzureifen, dann sind unter den häufigsten Antworten zu erwarten: Liebe, Halt und Sicherheit, Akzeptanz als eigene Person, eigene Fähigkeiten entwickeln und entdecken, Respekt, Freiheit und Selbstständigkeit (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Deutlich wird sicher aber schnell, dass Kinder, die Eltern gegenüberstehen, die ihre elterliche Präsenz verloren haben, eigene Lösungen zur Weiterentwicklung aufbauen. So werden gerade besonders aufmerksame Kinder häufig unruhiger und aggressiver, reagieren auf aggressive und ärgerliche Untertöne intensiv. Betroffene Eltern beschreiben, dass die Kinder schnell feindliche Absichten unterstellen, sich ungerecht behandelt fühlen. Sie agieren ihre Impulse lieber aus, als sie zu unterdrücken. Weiter können sie ihre Erregung nur schwer regulieren. An Grenzen und Regeln können sie sich ihrer Natur gemäß nur schwer halten, sozial geschätzte Problemlösefähigkeiten gehören nicht zu ihren Stärken. Um entsprechend ihre Bedürfnisse und Erwartungen umsetzen zu können, versuchen sie ihre Eltern im Verhalten zu beeinflussen, vielleicht sogar zu steuern. Sie wissen, dass ihre Eltern eher bereit sind zu reagieren, wenn sie »auf bestimmte Knöpfe« drücken: Provokation über Ärger, Kontrollerwartung, Hilflosigkeit, Schuld, Mitleid und Angst. Lassen sich Eltern über das »Drücken dieser Knöpfe« auf Auseinandersetzungen ein, eskaliert die Situation häufig, die Eltern erleben sich als erziehungsinkompetent oder ihre Kinder als nicht mehr ohne konkrete Behandlung tragbar. Da das familiäre Zusammenleben auch besondere Anforderungen an die eigene Aufmerksamkeit stellt, berücksichtigen wir dies in dem Eltern-Kind-Training »Familie Aufmerksam«.

»Besondere Aufmerksamkeiten« benötigen »besondere Aufmerksamkeiten« Die Anfragen für psychotherapeutische Unterstützung für hyperaktive und aufmerksamkeitsgestörte Kinder in meiner Praxis sind sehr zahlreich, wie dies wohl in vielen psychotherapeutischen Praxen mit Abrechnungsgenehmigungen für Kinder sein mag. Um dieser Zahl und den zum Teil eklatanten Wartezeiten zu begegnen, entwickelten wir ein Eltern-Kind-Modell für entsprechende therapeutische Interventionen.

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Aus der »Not« geboren, entdeckten wir, dass damit sich unsere Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten sowie die der Eltern und Kinder immens vergrößerten. Nach einem, manchmal auch mehreren Vorgesprächen (probatorische Sitzungen) wird über die Teilnahme entschieden. Insgesamt finden zwölf Gruppensitzungen (hundert Minuten) für die Kinder statt, acht für die Eltern. Dazu gibt es je nach Bedarf noch Einzelsitzungen für die Kinder zum Erlernen der Energiefeld-Therapie (EFT). Die Gruppensitzungen der Eltern finden größtenteils parallel zu den Gruppen der Kinder statt, es gibt einen gemeinsamen Beginn und ein gemeinsames Ende durch ein Ritual und kurzen Austausch. Das Training verbindet vier Aspekte: 1. Selbstwirksamkeitstraining der Kinder in einem sozialen Lernumfeld (Gruppe mit Kindern ähnlicher Besonderheit), 2. Anwendung der Energiefeld-Therapie als Hilfsmittel zur Selbsthilfe, 3. Coaching der Eltern zur Wiederherstellung ihrer elterlichen Präsenz mit gewaltfreien Mitteln, 4. Vernetzung der verschiedenen beteiligten Systeme, in denen die Kinder sich bewegen.

Kinder lernen sich selbst erleben – Training eigener Handlungskompetenzen14 Zur Steigerung ihrer eigenen Selbstwahrnehmung und Handlungskompetenz kommen die Kinder in einer Gruppe von vier bis sechs Kindern zusammen. Neben Übungen zur Entspannung lernen die Kinder zunächst, sich selbst in ihrem Körper und mit ihrem Wirken in der Gruppe besser wahrzunehmen. Insofern werden die Kinder wiederholt angesprochen auf ihr eigenes Handeln, auftretende Konflikte werden angegangen und mit für die Kinder umsetzbaren Handlungsalternativen versehen. Sie lernen so das von anderen als störend erlebte Verhalten zu differenzieren, möchten nicht selten eben dieses Verhalten selbst ändern, weil sie es als hinderlich erleben. Eine Möglichkeit dazu stellt das Externalisieren dar. Bei einem im Umgang von den Eltern als höchst schwierig erlebtem Kind benannten wir das als problematisch beschriebene Verhalten als »Bock«. Die Kinder erfinden manchmal ganz eigene Namen für ihre eigenen »besonderen« Verhaltensweisen (das »krawanige« ADS, Tiernamen). Dieser »Bock« wurde, wenn er auftauchte, gemeinsam nach draußen vertrieben, manchmal musste er auch noch eine Weile im Nachbarraum warten. Die eskalierenden Situationen reduzierten sich auf diese Art und Weise, da das Kind den »Bock« nicht selten schon vor dem Entstehen kritischer Situationen nach draußen schickte. Eine Erklärung dafür ist sicherlich, dass über diese Methode das Kind eine 14 Das Gruppentraining der Kinder wird an dieser Stelle nicht detailliert dargestellt. Dies wird noch an anderer Stelle erfolgen und kann bei Interesse beim Autor erfragt werden.

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Differenzierung erlebt hat. Neben der Abgrenzung des Problemverhaltens ist es von der eigenen Persönlichkeit unabhängig. Dies entlastet und ermöglicht neue Handlungskompetenzen im Umgang. Die Reaktion der Eltern wird vom Kind als positiv erlebt, da der Zugang ein unterstützender ist. Zudem entsteht gemeinsame Zeit und die Eltern werden als kompetent handelnd erlebt. Mit Videoaufnahmen kann den Kindern das eigene Verhalten gespiegelt werden, erneut sind eine Distanzierung und eine externe Betrachtung für die Kinder möglich. Darüber hinaus stellt auch Video eine Möglichkeit dar, die elterliche Präsenz zu stärken trotz physischer Abwesenheit. Denn mit der laufenden Kamera wird eine optionale Öffentlichkeit genutzt. Dabei geht es nicht darum, die Kinder oder Eltern defizitorientiert »vorzuführen«, sondern die Ressourcen herauszuheben. Das Gruppentraining für Kinder bewirkte für die meisten Kinder eine deutliche Entlastung im Umgang mit Lern- und Leistungssituationen und ermöglichte erfolgreiche Schritte in der Schule. Gleichzeitig macht der gemeinsame Termin von Eltern und Kindern für alle Beteiligten deutlich, dass der Umgang mit besonderen Verhaltensweisen eine Familienaufgabe ist, die Verantwortlichkeit für Veränderung wird damit geteilt.

Anwendung der Energiefeld-Therapie als Hilfe zur Selbsthilfe Dennoch war es für einige Kinder schwierig, die in der Gruppe erlebten Verhaltensweisen auf andere Systeme, vor allem Schule, auszuweiten. Da auch die Einbindung und Zusammenarbeit mit Lehrerinnen an dieser Stelle nicht jedes Mal gelingt, kommt es nicht selten zu der Anfrage oder Anforderung, ein Präparat mit Methylphenidat oder entsprechende Alternativen einzusetzen, wie zum Beispiel Ritalin® und Medikinet® oder auch Strattera®. Als Möglichkeit, auch dort Hilfestellungen leisten zu können, haben wir uns entschlossen, in den Ablauf der »Familie Aufmerksam« die Kinder in Einzelsitzungen im Umgang mit der Energiefeld-Therapie vertraut zu machen. Auch den Eltern werden entsprechende Herangehensweisen erläutert. Die Kinder erlernen so weitere Handlungskompetenzen und werden in den Einzelsitzungen bereits mit den Verfahrensweisen »behandelt«. Dabei beruht die Vorgehensweise auf die Aktivierung der Energiemeridiane des Menschen, wie wir sie bereits aus der traditionellen chinesischen Medizin in Zusammenhang mit Akupressur und Akupunktur kennen (Bohne et al., 2006; Franke u. Schlieske, 2005). Die Aktivierung erfolgt durch Klopfen von insgesamt 13 (bei Kindern z. T. erheblich weniger) Energiepunkten, an denen verschiedene Meridiane sich kreuzen und besonders angeregt werden können. Diese Aktivierung wird mit wiederkehrend ausgesprochenen Formeln selbstinstruktiven Charakters durchgeführt15. 15 Eine genauere Beschreibung der Vorgehensweise findet sich bei Kaufmann (2002), Franke und Schlieske (2005), Wagner (2004).

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Coaching von Eltern zur (Wieder-)Herstellung ihrer Präsenz Omer und von Schlippe (2002, 2004) beschreiben drei Ebenen der Wirksamkeit zur elterlichen Präsenz. Diese sei dann (wieder) vorhanden, wenn Eltern sagen könnten, dass sie – (wieder) handeln können – Handlungsebene, – vom eigenen Handeln überzeugt sind – Überzeugungsebene, – nicht allein sind, sich jederzeit Unterstützung holen können – systemische Ebene. Im Coaching für die Eltern greifen wir diese Ebenen auf und erarbeiten wesentliche Aspekte des gewaltfreien Widerstands nach den Prinzipien von Mahatma Gandhi: 1. Die Präsenz der Eltern ist für Kinder von grundlegender Bedeutung. Diese zeigt sich in physischer Anwesenheit und klaren Grundhaltungen sowie in dem Auftreten, der Deutlichkeit und Überzeugungskraft. Diese Haltung wird thematisiert und eingeübt. 2. Strategien deeskalierender Verhaltensweisen zur Reduzierung der als schwierig erlebten Auseinandersetzungen sind für die Eltern hilfreich und notwendig, um eskalativem Verhalten konstruktiv zu begegnen. 3. Gewalt und destruktive Verhaltensweisen sollen klar benannt sein, dürfen nicht verschwiegen werden, wenn Eltern sich entschieden haben, gegen diese vorzugehen. 4. Gewaltfreier Widerstand besteht in Handlungen, nicht im Reden. Eltern benötigen Training, um die Fallen verbaler Auseinandersetzung zu vermeiden und wirksame Formen des Widerstands zu finden. Dies wird trainiert. 5. Unterstützernetze werden aufgebaut, gerade innerhalb der Gruppe. So ist ein gemeinsames und gestärktes Handeln möglich. 6. Gewaltfreier Widerstand richtet sich gegen das gewalttätige, destruktive Verhalten, nicht gegen eine handelnde Person. Diese Haltung hilft, sich nicht zu sehr in Auseinandersetzungen hineinziehen zu lassen. Und daher werden die Vorgehensweisen des Widerstands um konstruktive Beziehungsgesten und Angebote zur Ausgestaltung der Beziehung ergänzt. Präsenz der Eltern: Die betroffenen Eltern erklären nicht selten zu Beginn der Gruppe Familie Aufmerksam, dass sie das Gefühl haben, schon alles ausprobiert zu haben. Sie beschreiben eine große Sorge über die Zukunft ihres Kindes und sind in der Regel erschöpft. Sie erleben häufig eine erste Entlastung, wenn sie in ihren Anstrengungen gewürdigt werden. Bei einigen erfolgt eine zweite Entlastung, wenn wir den Eltern mitteilen, dass sie bei aller Anstrengung es nicht erreichen werden, dass sie ihre Kinder verändern können. Andere Eltern schauen zunächst sehr ratlos. Dann steht schnell die Frage im Raum, was sie denn alternativ tun könnten. Alle Eltern, denen ich in der Praxis begegne, teilen deutlich mit, dass sie gute Eltern sein wollen. Und sie wissen, dass dies mit Zeit und Anwesenheit zu tun hat. So beginnen wir nach einer Beschreibung der Problematik und unserer Sicht von

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Zusammenhängen mit einem Gespräch über die Werte der Eltern, die sie vermitteln wollen. Anhand dieser Werte erarbeiten wir Möglichkeiten, diese zum Ausdruck zu bringen. In der Elterngruppe üben wir dazu einige Strategien ein. So entwickelt jeder bereits ein Gefühl für die eigene Haltung und kann ausprobieren, welche Handlungsweise für sich selbst und dem eigenen Kind wohl am hilfreichsten sein könnte. Elternpaare kommen nicht selten auch in die Diskussion über eigene Auseinandersetzungen. Wir motivieren sie dann zu ersten Experimenten mit ihrer Anwesenheit und entsprechender Hartnäckigkeit. In bisher eskalierenden Situationen motivieren wir Eltern, nach ihren Anweisungen (meistens Nein-Aussagen) schweigend anwesend zu bleiben. In mehreren Fällen berichteten Familien, dass sich ein Wutausbruch sofort veränderte, deutlich mehr Ruhe einkehrte oder die Situationen gegenüber vorherigen deutlich weniger eskalierten. In Zusammenarbeit mit Schulen haben wir sehr gute Erfahrungen mit der Anwesenheit der Eltern ohne Vorankündigung im Unterricht gemacht. In einer Klasse haben sich gleich vier Elternpaare zusammengeschlossen und sich zur Reduzierung der Schwierigkeiten in der Schule abwechselnd in den Unterricht begeben. Die Grundbotschaft dabei lautet: »Veränderung findet nur in der eigenen Person statt. Andere Menschen können wir weder kontrollieren noch per se verändern.« Deeskalationsstrategien: In der Vermittlung von entsprechenden deeskalierenden Handlungsweisen ist es erforderlich, dass die Eltern sich entscheiden, auf jede Form der Gewalt, Entwertung oder Unterwerfung zu verzichten. Wir vermitteln die Botschaft, dass ein Ausstieg aus dem »Teufelskreis« oder dem »Machtkampf« mit den Kindern hilfreich erscheint. Tatsächlich erleben die Eltern gerade durch deeskalative Verhaltensweisen sofort erfolgreiche Rückmeldung auf ihr erzieherisches Handeln. Die Verwunderung ist in der Regel groß, denn auch die Eltern erleben sich deutlich selbstzufriedener und ausgeglichener mit diesen neuen Handlungskompetenzen. Die genutzten und eingeübten Strategien dazu sind: – Verwendung von Ich-Botschaften, Vermeidung von Du-Botschaften, Vorwürfen; – aktives und ruhiges Zuhören; – Verringerung des Gesprächstempos durch Verzögerung der Antworten; – Klärungen können vertagt werden, sind eher möglich, wenn die Erregung geringer ausfällt; – Gespräche an aktuellen und konkreten Situationen festmachen; – Verallgemeinerungen vermeiden; – Predigen und »Auf-das-Kind-Einreden« vermeiden; – Ignorieren leichterer Verletzungen; – Schweigen. Insbesondere die Verzögerung der eigenen Reaktionen, das Vertagen auf einen späteren, ruhigeren Zeitpunkt und das Schweigen selbst mit anhaltender Aufmerksam-

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keit16 wird von den Eltern als völlig neu und andersartig sowie äußerst wirksam erlebt. Auch diese Strategien werden gemeinsam in der Gruppe geübt. Nicht jede Verhaltensweise passt zu jeder anwesenden Person und zu jeder Situation. Es erfolgt in der Regel ein lebendiger Austausch. Schweigen überwinden, klare Ansprachen: Wir motivieren die Eltern, wieder Mut zu haben, die destruktiven Verhaltensweisen zu benennen und ihnen zu begegnen. Das führt zur Festlegung auf die Verhaltensweisen, gegen die die Eltern sich durch ihren Widerstand wenden möchten. Wir nutzen dafür die Strategie der drei Körbe von Greene. Zunächst sprechen wir mit den Eltern gemeinsam über alle ihrer Ansicht nach nicht mehr zu tolerierenden Verhaltensweisen. Diese sammeln wir auf einem Flipchart. Dazu wird eine entsprechende Grafik gezeigt, auf der drei Körbe (grün, gelb und rot) gezeigt werden. Der rote ist der kleinste Korb der drei. Die Eltern werden eingeladen, die auf dem Flipchart aufgelisteten Verhaltensweisen auf die drei Körbe aufzuteilen. In den »grünen Korb« kommen alle Verhaltensweisen, die nach Ansicht der Eltern mit Widerstand zu begegnen sind, die aber nicht jetzt und sofort thematisiert werden müssen. In den »gelben Korb« kommen alle Verhaltensweisen des betroffenen Kindes, die umgehend und möglichst dringlich zu begegnen sind. In den »roten Korb« kommen schließlich die Verhaltensweisen, die jetzt als erste, dringlichst und sofort, mit Widerstand seitens der Eltern zu versehen sind. Wir gehen von ein oder zwei Verhaltensweisen aus, die im ersten Schritt genauer betrachtet werden. In einer Gruppendiskussion wird dann überlegt, ob diese Ziele realisierbar sind. Ziel ist nicht die Verhaltensänderung des Kindes, sondern die klare Haltung der Eltern dem Verhalten gegenüber. Die Formulierung und der Entscheidungsprozess führen zu einer klaren Beschreibung der Verhaltensweisen. Allein dieser Prozess schafft für die Eltern Veränderungen in der eigenen Einstellung, die im Kontakt zum Kind häufig erste schnell wahrnehmbare Veränderungen erwirken. Daraus wird eine Ankündigung17 formuliert, die die Eltern nach Vorlagen für sich formulieren und in der Gruppe vorstellen. Dabei üben wir mit den Eltern die Situation zur Durchführung der Ankündigung. Jemand aus der Gruppe übernimmt die Rolle des Kindes, es wird Ort und Zusammenhang der Übermittlung überlegt. Die Eltern führen in einem Rollenspiel die Situation durch, es wird gemeinsam reflektiert. Mit allein erziehenden Elternteilen wird überlegt, wer die Ankündigung begleiten kann. Dies ist durchaus auch schon jemand aus der Gruppe gewesen. In der Arbeit erleben wir, dass eben diese Ankündigung so viel Energie bei den 16 Schweigen wird hier unbedingt mit anhaltender Aufmerksamkeit verknüpft. Schweigen allein mit Abwendung der erwachsenen Person wird in der Regel als eher eskalierend und verletzend, ausgrenzend wahrgenommen. 17 Vorlagen dafür finden sich bei Omer und von Schlippe (2004) und in diesem Buch im Artikel von Barbara Ollefs und Arist von Schlippe.

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Eltern freisetzt, dass in einigen Fällen schon nach dieser Mitteilung des elterlichen Widerstands bei gleichzeitiger Formulierung der Liebe zu dem Kind sich die als schwierig beschriebenen Verhaltensweisen deutlich reduzieren oder sogar ganz verschwinden. Der neunjährige Kevin (Name geändert) ist als schwerst aufmerksamkeitsgestörter Junge diagnostiziert. Er hat als Diagnose AD(H)S erhalten und bekommt Ritalin® in hoher Dosis. Kevin verweigerte täglich die Hausaufgaben, zudem gab es wiederholte Probleme sowohl beim Aufstehen als auch beim Schlafengehen. Die Eltern formulierten die für sie nicht weiter duldbaren Verhaltensweisen in einer Ankündigung. Diese wurde Kevin gemeinsam an einem Nachmittag vorgetragen und schriftlich überreicht. Er legte die schriftlich verfasste Note auf den Wohnzimmerschrank. Als die Mutter am Abend überprüfte, ob das Papier dort noch lag, war es nicht mehr am gleichen Platz. Offensichtlich hatte Kevin es mit in sein Zimmer genommen. Kevin konnte sich danach besser als bisher an die meisten angesprochenen Verhaltensweisen halten, die Stimmung zu Hause entspannte sich deutlich.

Für die Eltern in unserer Gruppe ist es hilfreich, die eigenen Überzeugungen und Meinungen wieder vertreten und vorleben zu können. Darüber hinaus hilft es ihnen, wenn sie Hartnäckigkeit und Standhaftigkeit erlernen, weil genau diese Eigenschaften ihnen in der gewaltfreien Auseinandersetzung mit ihren Kindern weiter helfen. Zudem motivieren wir die Eltern in planvollem Vorgehen und dem Formulieren konkreter Ziele. Dazu überlegen wir Netzwerke, die für die Eltern erreichbar sind. Mit klar formuliertem Widerstand lässt sich auch familiär die Öffentlichkeit um die Familie herum nutzen. Auch die Klassenlehrerin wird systematisch eingebunden und mindestens informiert. In unserer Erfahrung hat sich gezeigt, dass viele Familien auch aus Scham sehr isoliert sind. Unter anderem nutzen wir deswegen die Gruppe, um auch den Selbsthilfeaspekt untereinander anzuregen. Die Botschaft, die an die Kinder durch die Eltern im Sinne einer Ankündigung vermittelt werden soll, ist: »Wir lieben dich! Wir machen uns Sorgen um dich und deine Zukunft und lehnen bestimmte Verhaltensweisen ab. Beides machen wir durch unser Handeln gleichberechtigt deutlich!« Handeln: Für die meisten Eltern ist es eine Herausforderung, weniger zu reden, weniger zu appellieren, weniger zu predigen. Die geringe Erfolgsaussicht und die hohe Anspannung, die dadurch entsteht, können die Eltern in einem Rollenspiel schnell erfahren. Wenn Eltern wieder handeln, erleben Kinder weniger Möglichkeiten, sie zu beeinflussen. Dies führt bei den meisten Familien zu mehr Klarheit und Eindeutigkeit, so dass auch weniger Protestversuche unternommen werden. Dieser Aspekt wird häufig von den Eltern untereinander vermittelt. Diejenigen, die erfolgreiche Schritte haben unternehmen können, berichten von ihren Erfahrungen und motivieren so andere Eltern, noch genauer auf die eigenen Verhaltens-

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weisen zu achten. Die Erfahrung zeigt, dass die Teilnehmer unserer Gruppe selbstkritisch das Handeln in den Vordergrund stellen und dabei die Menge ihrer Worte deutlich reduzieren. Unterstützernetze: Die Familien in unserer Schulung sind häufig eher isoliert, schämen sich bei gemeinsamen öffentlich Auftritten, versuchen diese zu vermeiden. Wir motivieren sie und helfen ihnen, wieder Öffentlichkeit herzustellen, Unterstützer zu gewinnen. Dabei ist die Gruppe der Eltern wichtig, weil sie durch die gemeinsame Erfahrung sich gegenseitig gut und intensiv unterstützen können. Wie oben schon erwähnt, gewinnt die Gruppe zunehmend an gegenseitiger Unterstützung. Während Familien häufig nicht als Unterstützer zur Verfügung stehen, fragen Eltern unserer Gruppen in kritischen Situationen zunehmend häufiger andere Gruppenmitglieder an. Mit den Familien suchen wir gemeinsam nach Vermittlern. Unter allen beteiligten Erwachsenen (auch Lehrerinnen und Erzieherinnen) organisieren wir Absprachen von Handlungsoptionen, die ineinander greifen und koordiniert sind. Wir motivieren die Eltern, auf die für das Kind wichtigen Personen zuzugehen und Unterstützung beim Ziel der Reduktion der destruktiven Verhaltensanteile zu finden. Dabei ist der Einsatz von Unterstützerinnen so unterschiedlich, wie die Bedürfnisse und die Vorstellungskraft sind. Sie reichen von rein zeitlicher und organisatorischer Entlastung über das Schaffen von Möglichkeiten für Elternzeit ohne Kinder bis hin zur Vermittlung, Moderation oder auch Mediation. Die Eltern werden darüber hinaus auch trainiert im Umgang mit Telefonrunden, Aufsuchen, Nachgehen: »Unterstützung macht mich stark!«, statt »Ich bin schwach und brauche Hilfe« eher: »Ich bin stark und flexibel und kann mir Hilfe organisieren.« Beziehung ausbauen: Je mehr die Eltern in der Lage sind, ihren Kindern die vorstehend beschriebenen Verhaltensweisen entgegen zu bringen, umso mehr schaffen sie es, sich nicht persönlich verletzt zu fühlen. Das wiederum hilft ihnen, auch gegenüber dem Kind stärker zwischen der Person und dem Verhalten zu differenzieren. Schon frühzeitig im Prozess überlegen wir mit den Eltern beziehungsstiftende Gesten und Aktionen jenseits von Konflikten. Die besten Erfahrungen haben wir diesbezüglich mit tatsächlichen gemeinsamen Aktionen des Kindes mit einem seiner Eltern gemacht. Dies kann über den ganzen Tag gehen oder auch eine intensive Spielzeit zu zweit sein. Den Eltern fallen schnell Ideen dazu ein. Teilweise kommen auch kleinere Gesten wie das Kochen eines bestimmten Lieblingsgerichtes zum Tragen. Die gemeinsame Aktion wird von den Kindern durch die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Eltern meistens als besonders angenehm und entlastend empfunden.

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Bündnisse und Vernetzung Unverzichtbarer Bestandteil in der Arbeit mit besonders aufmerksamen Kindern und ihren Familien ist die Zusammenarbeit mit den Lehrern (Lemme u. Eberding, 2006). Durch ihre besonderen Verhaltensweisen bekommen sie gerade in der Schule Probleme, wo sie doch über einen längeren Zeitraum am Vormittag sich still in eine Gruppe integrieren sollen. Dies führt schnell zu vielfältigen Auseinandersetzungen und Machtkämpfen. Nicht selten kommt es zu gegenseitigen Abwertungen zwischen Eltern und Lehrern. In Zusammenarbeit mit den Lehrerinnen versuchen wir die Präsenz der Eltern in der Schule und die Präsenz der Lehrer im Zuhause der Kinder zu verstärken. Durch diese Kooperation in den für die Kinder entscheidenden Alltagsbereichen können wir für die Kinder klare Vorgaben erarbeiten. Der Lehrer von Kevin war sehr schnell für eine Kooperation zu gewinnen. Zunächst fand ein gemeinsamer Termin der Eltern, des Lehrers und mir in der Schule statt. Dort wurden Grundabsprachen und Rollenverteilungen abgesprochen. Anschließend besuchte der Lehrer die Familie. Der Lehrer lernte die Wohnung sowie das Zimmer von Kevin kennen. Gemeinsam wurden bei diesem Besuch Strategien festgelegt, wie eine reibungslose Übermittlung der Hausaufgaben zunächst mit Kevin, aber im Notfall auch ohne Kevins Mithilfe funktionieren kann. In der Schule überprüfte der Klassenlehrer mit Unterschrift den korrekten Eintrag der Hausaufgaben, zuhause teilten die Eltern dem Lehrer mit, wie die Hausaufgaben abliefen. Bei Fehlen der Unterschriften vereinbarten der Lehrer und die Eltern Telefonate. Außerdem informierten sich die Eltern regelmäßig bei befreundeten Eltern eines Kindes aus der gleichen Klasse über die Hausaufgaben und Klassenarbeitstermine. So trug Kevin nicht mehr die alleinige Verantwortung für die Übermittlung.

Da die Schule ein für die Kinder besonders schwierig erlebtes Umfeld darstellt, laden wir die Lehrer der Gruppenkinder zu einem gemeinsamen Informationsnachmittag ein. Wir stellen unser Modell vor und motivieren zur gemeinsamen Vorgehensweise. Nicht selten gilt es dabei, Eltern und Lehrer wieder zu einer Kooperation zu motivieren. Konkrete Absprachen finden dann in gemeinsamen Gesprächen außerhalb der Gruppe statt. Dabei überlegen wir Besuche der Lehrerinnen bei den Kindern, Absprachen und Kontrollen zur Übermittlung der Hausaufgaben, Anwesenheit von Eltern im Unterricht oder auf dem Schulhof und ähnliche Strategien mehr. Das Nutzen systemischer Vernetzung bezieht sich natürlich lange nicht nur auf den Bereich der Schule. Freunde, Bekannte, auch von Kevin, sowie teilweise Familienmitglieder können hilfreich sein, die Anstrengungen zur Wiederherstellung der elterlichen Präsenz zu ermöglichen. Die Rollen sind dabei vielfältig: als Vermittler, als Zeugen zur Herstellung einer Öffentlichkeit (mit dem Ziel weiterer Eskalationsvermeidung), als Entlastung (damit die Eltern sowie das betroffene Kind auch mal »Pause« voneinander haben) und noch einige Möglichkeiten mehr. Bereits vorhandene Helfersysteme werden von uns in die Gruppe eingebunden, sofern dies möglich erscheint. Gerade die Kooperation mit vorhandenen sozialpädagogischen Familienhelfern hat sich hier als besonders hilfreich herausgestellt.

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Abschlussbemerkungen Es haben mittlerweile circa 35 Familien in diesem Zusammenhang in der Praxis das Vorgehen kennen gelernt. Das Zusammenleben dieser Familien veränderte sich deutlich. Die beschriebenen Veränderungen beziehen sich vorrangig auf die Verringerung des Eskalationen. Es wird aber fast so häufig von den Eltern berichtet, dass sie ihre Kinder anders betrachten, ihnen ruhiger und gelassener begegnen können. Sie sehen ihre Präsenz als deutlich gestärkt an und fühlen sich im eigenen Handeln sicherer. Die Kinder wiederum sind mehrheitlich deutlich ruhiger, gehen weniger in Auseinandersetzungen. So haben sich gerade auch die Konflikte unter Geschwisterkindern mit diesem Vorgehen deutlich gebessert. In den meisten Fällen reduzierten sich auch die Konflikte in der Schule, besonders dort, wo eine intensive Zusammenarbeit mit den Lehrerinnen möglich war. Einige Kinder konnten auch ihre Leistungen stabilisieren. Viele Familien erleben weiterhin heftige Debatten gerade mit behandelnden Ärzten, Institutionen und auch Lehrerinnen über die Gabe von Methylphenidaten. Dies hat uns bewegt, über den Einbezug der Energiefeld-Therapie nachzudenken. Erste Anwendungen diesbezüglich sind sehr erfolgreich und viel versprechend gewesen, eine entsprechende Auswertung ist noch nicht erfolgt. Unsere eigene Auseinandersetzung und Umsetzung des Konzeptes hat uns drei Aspekte zunehmend vertiefen lassen: 1. das Coaching der Eltern in der Gruppe durchzuführen, 2. mit Kindern und Eltern einen gemeinsamen Beginn und ein gemeinsames Ende der Gruppenstunden zu organisieren und 3. die Gruppenstunden sowohl an die jeweiligen Bedürfnisse anzupassen als auch mit der Haltung und den Interventionen gemäß dem Coaching vorzugehen. Im Text habe ich schon darauf hingewiesen, dass insbesondere die gegenseitige Unterstützung und der Selbsthilfe-Charakter mit dem Gruppencoaching deutlich verstärkt worden ist. Dies bedeutet zugleich eine genauere Auswahl der Familien für die Gruppe zu treffen, damit eine möglichst homogene Kooperation möglich ist. Die Erfahrungen sind, das berücksichtigt, fast ausnahmslos positiv. Eltern resignieren weniger und haben mehr Ausdauer, wenn sie von Erfolgen anderer hören. Die gegenseitige Unterstützung ist für manche Familien die einzig mögliche. Der gemeinsame Beginn mit den Kindern ermöglicht Spaßspiele, die in manchen Familien kaum oder gar nicht mehr möglich waren oder vermieden wurden, weil sie schnell eskalierten. In gemeinsamen Begegnungen und Übungen am Ende vermitteln wir den Eltern und den Kindern gemeinsame Möglichkeiten der Entspannung und manchmal sogar überhaupt wieder die Möglichkeit, in gemeinsamen Körperkontakt zu treten. Durch die mittlerweile wiederholte Durchführung der Kindergruppe konnte ein Programm entwickelt werden, das den Kindern die Möglichkeit gibt, neue Strategien erfolgreich mit ihren verschiedenen Sinnen zu erlernen. Subjektiv beschreiben die Kinder im ihrem Selbsterleben größere Eigenkompetenzen, gerade auch im So-

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Familie Aufmerksam

zialverhalten. Von den beteiligten Lehrern und den Eltern werden angemessenere Verhaltensweisen der Kinder beschrieben. Letztlich mag ich nicht beschreiben, ob sich wohl eher die Haltung der Kinder, der Eltern und/oder der Lehrer verändert hat, in jedem Fall regt eine besondere Aufmerksamkeit auch bei besonderen Aufmerksamkeiten offensichtlich Veränderungsprozesse an. Und das zeigt auf, dass es in der Arbeit mit elterlicher und professioneller wie persönlicher Präsenz offensichtlich um eine Haltungsänderung geht, nicht vorrangig um eine Methode.

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Angela Eberding und Martin Lemme

AdipositasbeiKindern–PräsenzvonEltern

Angela Eberding und Martin Lemme

Adipositas bei Kindern – Präsenz von Eltern Coaching im Rahmen einer Adipositasschulung im Kindesund Jugendalter

Seit 2001 werden im Kinderhospital Osnabrück Gruppenschulungen für adipöse Kinder angeboten. Wir nennen unser Schulungskonzept und unser »Maskottchen« AdiFit, zusammengesetzt aus adipös und dem Ziel, die Kinder darin zu unterstützen, fit(ter) zu werden.

AdiFit Das Schulungsteam ist interdisziplinär, bestehen aus Mitgliedern aus den Berufsgruppen Medizin, Ernährung, Psychologie, Pädagogik und Sport. Geschult wird nach den Richtlinien der Konsensusgruppe Adipositasschulung im Kinder- und Jugendalter (KgAS, siehe hierzu www.adipositas-schulung.de und Trainermanual »Leichter, aktiver, gesünder« 2004). An einer Gruppe nehmen jeweils zwölf Kinder im Alter zwischen 8 und 13 Jahren und ihre Familien teil. Jeder Kurs läuft über ein Jahr. Es finden wöchentliche Gruppentreffen in einem Sportverein statt, zwei zum Thema Medizin, zwölf zur Ernährung (inklusive drei Mal Kochen), zwölf Treffen zu psychosozialen Themen und bei 45 Treffen vermitteln wir den Kindern (wieder) Freude an der Bewegung. Über das Jahr verteilt finden vier Familiengespräche statt. Mit einem Fest am Ende wird der Kurs abgeschlossen, nach drei Monaten findet noch ein Elterngespräch statt, zu einem »Follow-up«-Treffen wird ein Jahr nach Kursende eingeladen. Bisher wurden acht Jahreskurse abgeschlossen (Lemme u. Eberding, 2006).

Schulungsindikation und -ziele Schulungsindikation und -ziele sind mit den Leitlinien der Adipositasgesellschaft im Kindes- und Jugendalter (AGA) identisch. Zu den Indikationen zählen: – Der Body-Mass-Index (BMI) der Kinder und Jugendlichen muss (im Regelfall) oberhalb 97. Perzentile liegen. – Die Kursteilnehmer müssen eine Regelschule besuchen.

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– Eine Gruppenfähigkeit muss vorhanden sein. – Es dürfen keine psychiatrischen oder schwerwiegende orthopädische Erkrankungen beim Kind oder beim Jugendlichen vorliegen. – Die Motivation von Kind und Eltern zur regelmäßigen Kursteilnahme und zur Veränderung des Ernährungs- und Bewegungsverhalten muss deutlich sein. Im AdiFit-Kurs werden folgende Schulungsziele verfolgt: – eine langfristige Gewichtsreduktion, – eine Senkung der Komorbidität, – die Verbesserung des aktuellen Ess- und Bewegungsverhaltens, – das Erlernen von Problembewältigungsstrategien, – die Förderung einer normalen körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung und Leistungsfähigkeit, – die Förderung der Erziehungskompetenz der Eltern.

Grundlagen, Aufbau und Inhalte der Schulung Erbanlagen bedingen die Adipositas wesentlich, in welchem Ausmaß wird kontrovers diskutiert. Daher finden wir in den Familien mit einem adipösen Kind meist mehrere adipöse Familienmitglieder oder solche mit Gewichtsproblemen. Entsprechende Erbanlagen müssen jedoch nicht zwangsläufig zu einer Adipositas führen. Auch eine sonnenempfindliche Haut führt nicht zwangsläufig zu sommerlichen Sonnenbränden. Entscheidend ist der individuelle Umgang mit »problematischen Erbanlagen«, bei den »guten Futterverwertern« zum Beispiel der familiäre Umgang mit Essen und Bewegung, das familiäre Freizeitverhalten, Einstellungen zum Aussehen, aber auch der Umgang mit Konflikten, Stress und Frust und das Erziehungsverhalten der Eltern (Grenzsetzung, Familienregeln). Auch kulturelle und Umwelteinflüsse (Werbung, ständige Erreichbarkeit von Nahrungsmitteln, Gefahren im Straßenverkehr etc.) spielen eine Rolle. Auffällig ist, dass bei vielen betroffenen Familien die Eltern zum Teil wenig physisch anwesend oder aus Hilflosigkeit nicht präsent sind. Eine weitere – historische – Perspektive: Unsere genetische Veranlagung hat sich sicherlich in den letzten 100 bis 150 Jahren nicht verändert. So schnell arbeitet die Evolution nicht. In Zeiten von Nahrungsmittelknappheit (durch Epidemien, Kriege, Umweltkatastrophen etc.) und ohne Maschinen, Computer, Fernseher verlängerte die Stoffwechsellage der »guten Futterverwerter« tendenziell deren Lebenserwartung. Erst unter »modernen« Lebensbedingungen kehrt sich dieser genetische Vorteil zum Nachteil um. Noch ist die menschlich-genetische »Ausstattung« für den Mangel, nicht für den Überfluss geeignet. Hier brauchen Eltern oftmals Unterstützung, um all diese Einflüsse zu »filtern« oder einzugrenzen, wenn sie zu einer Gesundheitsgefährdung ihres Kindes beitragen.

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Adipositas bei Kindern – Präsenz von Eltern

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Letztlich besteht die Herausforderung, im Rahmen einer Adipositasschulung nicht nur eine Verhaltensänderung von Kindern zu unterstützen, sondern eine Lebensstilveränderung einer ganzen Familie anzuregen. Dies unterscheidet die Adipositasschulung von anderen Schulungsprogrammen für Familien mit einem chronisch kranken Kind. Im Rahmen einer Asthmaschulung wird zum Beispiel viel Wissen über die Entstehung und Behandlung der Erkrankung sowie über den Umgang im Notfall (Asthmaanfall) an Eltern und Kinder vermittelt. In der Elternschulung spielt der Umgang mit Schuldgefühlen eher eine untergeordnete Rolle, eine Erziehungsschulung stärkt die Eltern darin, ihr Kind bei der regelmäßigen Inhalation zu unterstützen und gegebenenfalls Auslöser (z. B. Tierkontakt oder bestimmte Nahrungsmittel) zu vermeiden. Verhaltensänderungen der Eltern sind nur dann notwendig, wenn diese in Gegenwart ihres von Asthma betroffenen Kindes rauchen. Die Eltern brauchen in diesem Fall nicht einmal mit dem Rauchen aufhören, sie sollten nur nicht mehr im Haus und im Auto rauchen. Anders ist dies im Zusammenhang der Adipositas. Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten übernehmen Kinder früh von ihren Eltern (Epstein et al., 1989; Birch u. Fisher, 1996; Cullen et al., 2001). In Familien mit adipösen Kindern wird überdurchschnittlich viel Zeit vor Fernseher und Computer verbracht (Baron, 2001). Hochkalorische Getränke und Lebensmittel sind nicht nur in den Haushalten vorhanden, sie werden auch von Kindern und Eltern gleichermaßen konsumiert. Wenig gemeinsame Zeit (s. u.) führt dazu, dass es kaum Familienaktivitäten gibt, selten gekocht und/oder gemeinsam gegessen wird. »Fastfood« gehört zur alltäglichen Ernährung. Wie soll sich zum Beispiel Michael (alle Namen geändert) am Wochenende mehr bewegen, wenn sein adipöser Vater, der die ganze Woche im Lkw durchs Land fährt, seine stark begrenzte Freizeit zu Hause selbstverständlich vor dem Fernseher verbringt, weil er sich nur so »richtig« entspannen kann? Warum sollte Vanessa auf die Cola verzichten, wenn die Flaschen immer im Kühlschrank stehen, weil dies die einzige »Nervennahrung« ihrer Mutter ist? Und wie sollte Julia dem zweiten Stück Schokoladenkuchen widerstehen, wenn für Tante Frieda Liebe durch den Magen geht, sie die ganze Familie mit ihrem köstlichen Kuchen verwöhnt und alle anderen auch zulangen? Eine weitere Tatsache, die die Behandlung von Adipositas im Kindes- und Jugendalter von derjenigen aller anderen chronischen Erkrankungen (mit Ausnahme der Mukoviszidose) unterscheidet: Während Behandlungsfehler bei Asthma, Neurodermitis und Diabetes für Eltern und Kinder sofort oder sehr schnell zu spüren sind, liegen die Folgeerkrankungen von Adipositas weit in der Zukunft. Sie betreffen Zeitfenster, die für die meisten Kinder und Jugendlichen unvorstellbar sind. Übergewicht tut nicht weh, Hänseleien und schlechte sportliche Leistungen sind zwar unangenehm und/oder lästig, aber damit lässt sich leben. Der Wunsch nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung ist ein Zeichen unserer Zeit und Kultur. Wenn Kinder also ihr Übergewicht reduzieren und dafür ihr Ernährungs- Bewegungs- und Freizeitverhalten verändern müssen, brauchen sie die Unterstützung ih-

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rer Eltern, ihrer Familie. Dies erfordert zum einen eine Veränderung in der Erziehung und meist auch eine Lebensstilveränderung einzelner Erwachsener, wenn nicht sogar der ganzen Familie. Und jede/r von uns weiß, wie schwer es ist, sich (auch von gesundheitsgefährdenden) Gewohnheiten zu verabschieden. Aus diesen Gründen hat das Elterncoaching in der Adipositasschulung in Osnabrück eine zentrale Rolle.

Familien mit einem adipösen Kind Nicht nur in der Literatur (s. z. B. aid infodienst, 2004, S. 625), auch aus unserer jahrelangen Erfahrung können Merkmale beschrieben werden, die für Familien mit einem adipösen Kind (sicher nicht immer und nicht für alle Familien) zutreffen. Dazu gehört zum einen, dass (wie schon erwähnt) mehrere Familienmitglieder adipös sind. Essen spielt in diesen Familien oft eine wichtige Rolle. Eine Mahlzeit kann zum Beispiel die einzige gemeinsame Familienaktivität sein, die dann friedlich und mit viel Genuss gestaltet werden soll. Oftmals wird aber auch nur nebenbei (z. B. beim Fernsehen) gegessen. Mit Essen wird belohnt, gratuliert, begrüßt, getröstet. Alternativen sind (besonders gern bei Großeltern) wenig vorstellbar. Der Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel, manchmal schon deren Einschränkung, wird (aktiv wie passiv) als Bestrafung oder ungerechter Entzug empfunden. Oft ist wenig Zeit für gemeinsame Familienaktivitäten vorhanden, zum Beispiel durch eine hohe Arbeitsbelastung der Eltern, deren eigenes Freizeitverhalten oder durch die Tatsache, dass nur ein Elternteil für die Erziehung und Versorgung verantwortlich ist. Meist wissen die Eltern um die Notwendigkeit von Veränderungen (insbesondere wenn sie selbst auch betroffen sind), haben auch schon das eine oder andere versucht, jedoch ohne langfristigen Erfolg, häufig auch eher halbherzig. Dies führt dann zum Beispiel zu Gefühlen von Hilflosigkeit, Überforderung und Erschöpfung der Eltern. Sie resignieren, nehmen erzieherisch wenig bis gar keinen Einfluss mehr auf Ess- und Freizeitverhalten ihrer adipösen Kinder. Sie »arrangieren« sich mit der Situation, obwohl in der Regel ein hoher Leidensdruck und Schuldgefühle vorhanden sind. Umso höher ist dann die Erwartung an Profis, zum Beispiel an den Erfolg der Schulung. So berichtete die Mutter von Dominique in einem Interview im NDR am 13.10.2005: »Allein als Mutter schafft man das nicht. Was Mütter sagen, hat nicht so viel Gewicht und mir ging es darum, dass ihr jemand anderes das sagt. Ich hab’s vorher versucht, es fruchtete nicht. Und dann hab ich gedacht, wenn fremde Leute ihr das sagen, fruchtet es eher.« Sicherlich, auch das tun wir! Im Rahmen der Schulung wird den Kindern Wissen zum Beispiel über eine gesunde Ernährung vermittelt. Sie kochen zusammen und erfahren (wieder) Spaß an der Bewegung. Dieses Wissen im Alltag umzusetzen ist nicht die Aufgabe des Schulungsteam, auch nicht allein diejenige der Kinder, sie brauchen hierzu vor allen Dingen die Unterstützung

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Adipositas bei Kindern – Präsenz von Eltern

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ihrer Eltern, auch anderer Verwandter und von FreundInnen. Hier setzt die Elternschulung an.

Die Elternschulung Auch den Eltern wird in den Bereichen Medizin, Ernährung, körperliche Aktivität und Psychosoziales Wissen vermittelt. In allen Bereichen geht es – über die Wissensvermittlung hinaus – jeweils darum, mit den Eltern zu erarbeiten, wie sie das neue (und alte) Wissen im Alltag der Familie umsetzen können. Die Elternschulung umfasst im AdiFit Kurs folgende Themen: – Förderung der Erziehungskompetenz und der familiären Ressourcen, – Elterliche Förderung der Selbstwahrnehmung und Selbstakzeptanz des Kindes, – Motivationsförderung und realistische Zielplanung. Geschult werden die Eltern in Gruppensitzungen, teilweise gemeinsam mit ihren Kindern. Darüber hinaus finden im Laufe der Jahresschulung vier Familiengespräche statt. Es wird theoretisches und praktisches Wissen vermittelt und unter den Eltern (im Sinne einer Selbsthilfe) ausgetauscht und verstärkt. Im Rahmen von Übungen (Rollenspielen, kleinen Skulpturen) können die Eltern »probehandeln«, bevor sie neue Verhaltensweisen zu Hause ausprobieren. Die neuen (positiven wie negativen) Erfahrungen werden wieder in die Gruppensitzungen oder Familiengespräche getragen und ggf. neu überdacht und ausprobiert. Intime und/oder schambesetzte Themen werden nur in den Familiengesprächen behandelt. Die Elternschulung im Bereich »Psychosoziales« ersetzt keine Erziehungsberatung oder Familientherapie. Sollte sich herausstellen, dass ergänzende Hilfe notwendig ist, wird einer Familie längerfristige Beratung oder Therapie empfohlen. Beim Thema »Elterliche Förderung der Selbstwahrnehmung und Selbstakzeptanz des Kindes« bearbeiten wir mit den Eltern deren Sicht auf ihr Kind mit dem Ziel, dass sie es mit seinen Stärken und Schwächen differenziert wahrnehmen (lernen), um seine Veränderungsprozesse langfristig unterstützen und begleiten zu können. Stigmatisierungen (auch der Eltern), Schuldgefühle und Verantwortung für den Veränderungsprozess werden thematisiert. Beim Thema »Motivationsförderung und realistische Zielplanung« werden unrealistische Ziele der Gewichtsreduktion und der damit zusammenhängenden möglichen und notwendigen Verhaltensänderungen ebenso bearbeitet wie eine Schulung der Eltern bezüglich altersadäquater Forderung und Förderung des eigenen Kindes. Dazu gehört es, bisherige Gewohnheiten und Verhaltensmuster, die zum Übergewicht des Kindes geführt haben, zu sehen, zu verstehen und deren (möglicherweise auch positive) Funktion in der Familie zu erkennen. Im Rahmen des Themas »Förderung der Erziehungskompetenz und der familiären Ressourcen« geht es in erster Linie um eine Stärkung der Eltern bzgl. ihrer er-

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zieherischen Haltung und eine Verringerung ihrer Hilflosigkeit. Wie bereits erwähnt hat der familiäre Umgang mit Grenzen, Regeln, Konflikten und Affekten Einfluss auf das Ernährungs-, Bewegungs- und Freizeitverhalten von Kindern. Insofern ist es folgerichtig, die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken (mindestens) bezogen auf den Umgang mit gesundheitsschädigendem Verhalten in der Familie. Zentral ist es, Kompetenzen und Ressourcen zu stärken, zu unterstützen und/oder aufzubauen. In Osnabrück arbeiten wir hier inzwischen im Rahmen einer Erziehungsschulung mit Teilen des Modells der elterlichen Präsenz (s. Omer und von Schlippe, 2002, 2004). Dies soll im Folgenden kurz dargestellt werden. Der Anstoß, dieses Modell dem Coaching von Eltern adipöser Kinder zugrunde zu legen und es zu adaptieren, entstand durch unsere praktische Arbeit mit Familien mit einem adipösen Kind. Anders als im ursprünglichen Ansatz geht es in Familien mit einem adipösen Kind nicht vorrangig um gewalttätiges, sondern um gesundheitsschädigendes Verhalten von Kindern. Was uns veranlasst hat, mit dem Modell der elterlichen Präsenz zu arbeiten, waren nicht die Verhaltensweisen der Kinder, sondern die Haltung der Eltern. Sie haben ihre eigene Präsenz verloren durch ihre Hilflosigkeit, nachdem schon vieles ohne Erfolg ausprobiert worden ist, durch ihre Schuld- und Schamgefühle, weil sie sich für die Schwierigkeiten des Kindes verantwortlich fühlen, durch häufige Abwesenheit und/oder Überforderung in ihrer Lebenssituation. Hier setzten wir mit dem Coaching an.

Das Modell der elterlichen Präsenz Eltern, die ihr Kind im Kinderhospital wegen seiner Adipositas vorstellen, wünschen sich eine Veränderung. Von uns erwarten sie Unterstützung, da ihre Versuche, Einfluss auf das Übergewicht zu nehmen, nicht zum erwünschten Erfolg geführt haben, oder sie erwarten, dass wir ihr Kind »dünn« machen. Daher ist es uns wichtig, bereits im Erstkontakt und auch immer wieder im Laufe der Schulung deutlich anzusprechen, dass es die Aufgabe der Eltern ist, das Ernährungs- und Bewegungsverhalten ihrer Kinder zu beeinflussen. Wir können Eltern und Kind dabei »nur« unterstützen. Manchen Eltern erscheint dies nicht möglich. Für diese Familien ist das AdiFit-Schulungskonzept das geeignete. Wir empfehlen in diesem Fall zum Beispiel eine Erziehungs- oder Familientherapie. Familien, die in der Vorlaufphase der Schulung erfolgreich waren, wird die Kursteilnahme empfohlen. Nicht nur zu Beginn werden noch einmal die bisherigen erzieherischen Leistungen der Eltern wertgeschätzt. Wir veranlassen die Eltern sich ihrer Ressourcen und derjenigen ihrer Kinder bewusst zu werden. Wir ermutigen sie, sich nicht von Schuld- und Schamgefühlen lähmen zu lassen, sonder bestärken sie in ihren Ziel, nun im Rahmen der Schulung Neues auszuprobieren. Wir machen deutlich, dass wir sie in ihrer Rolle als Eltern coachen wollen, um ihnen besondere

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Adipositas bei Kindern – Präsenz von Eltern

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Ideen zur Überwindung besonderer, unerwünschter und als gesundheitsgefährdend angesehener Verhaltensweisen ihrer Kinder zu vermitteln. Ziel solle es sein, dass die Eltern ihre eigene Hilflosigkeit, Resignation, Frustration und ihre sozialer Isolation überwinden, dass es in den Familien seltener zu Eskalation kommt und dass die Erwartungen der Eltern an ihre Kinder und den Erfolg der Schulung realistisch ist. Anknüpfend an konkreten Alltagssituationen und die Werte, die »Kultur« und die Ziele jeder einzelnen Familie erinnern wir die Eltern an beziehungsweise coachen sie in pädagogischen Grundhaltungen, die den meisten Eltern natürlich nicht neu sind. Dazu gehören zum Beispiel die Wertschätzung anderer Personen (auch ihrer Kinder), der Respekt anderer Ansichten und Meinungen, der Verzicht auf Schuldzuweisungen und die Suche nach dem Schuldigen sowie der Verzicht auf verbale und körperliche Gewalt. Wir versuchen mit Kindern und Eltern eine gemeinsame Lösungsorientierung zu erreichen. Diese »Grundhaltungen« kennen die meisten Eltern und stimmen ihnen zu. Neu für die meisten ist die (von Haim Omer und Arist von Schlippe so genannte) Anerkennung der Einstellung, dass Eltern ihre Kinder nicht vollständig kontrollieren können und sollen, jedoch alles in ihrer Macht Stehende tun können und dürfen, damit bestimmte (hier gesundheitsgefährdende) Verhaltensweisen nicht mehr oder seltener auftreten; alles – nur nicht Gewalt oder Zwang. Neu ist vor allem der Fokus auf ein unerwünschtes Verhalten und nicht auf die Person des Kindes. Wir coachen die Eltern dahingehend, ihnen in ihrer Erziehungshaltung deutlich zu machen, dass sie ihr Kind lieben und sich deshalb Sorgen um dessen Zukunft machen. So können sie gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen ablehnen und beides (Liebe zum Kind und Ablehnen bestimmter Verhaltensweisen) durch ihr Handeln deutlich machen. Christoph fällt es besonders schwer, sein Bewegungsverhalten zu verändern. Er wirkt mit seinen 13 Jahren ruhig, tapsig, hat etwas von einem freundlichen Teddy. Seine Geschwister sind acht beziehungsweise zehn Jahre älter als er. Die Mutter berichte, anders als ihre »Großen« er sei schon immer ein angenehm stiller und bequemer »Vertreter« gewesen, ihr recht ähnlich. Alle Versuche von Christoph, sich im Alltag mehr zu bewegen, waren bisher weitgehend gescheitert. Er fand keine Sportart, die ihm zusagte und an die Abmachungen, häufiger mit Fahrrad oder Inlinern zu fahren oder spazieren zu gehen, hielt er sich selten. Die Mutter beklagte dies in einer Elternrunde. Er bekomme sie immer wieder doch herum, dass sie ihn mit dem Auto zum Beispiel zu Freunden oder in die Schule fahre. Er täte ihr halt leid, auch könne er wunderbar an ihre Liebe und Wertschätzung appellieren und überhaupt sei sie auch schon auf die erreichten Erfolge stolz und wenn es ihm doch so schwer falle . . . Wir konnten erarbeiten, dass die Mutter mit ihrem Verhalten nicht ihren Sohn, sondern dessen »destruktives« Verhalten unterstützt. Wenn sie ihn dagegen bei seinem Ziel unterstützen wolle, sein Übergewicht zu reduzieren, müsse sie sich beharrlich weigern, ihn zu transportieren. Gemeinsam mit den anderen Eltern wurden »Ausreden« gesammelt, zum Beispiel: »Ich habe den Autoschlüssel verlegt.«, »Ich habe versprochen, jetzt deinen Vater anzurufen.«, »Meine

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Haare sind nass.«. Gleichzeitig wurde überlegt, mit welchen Gesten die Eltern ihrem Sohn ihre Liebe zeigen können, zum Beispiel indem Frau P. ihrem Mann das Rasenmähen abnimmt, damit dieser mit Christoph etwas unternehmen kann. Lachend erzählte die Familie im nächsten Familiengespräch, dass sie die Ausreden inzwischen durchnummeriert hätten und die Mutter nur noch eine entsprechende Nummer nenne, wenn Christoph sie um einen Fahrdienst bäte (»Mal von Ausnahmen abgesehen«). Christoph selbst war mit der Verhaltensänderung seiner Eltern zufrieden, insbesondere weil der Vater mehr Zeit mit ihm verbringe und er tatsächlich abgenommen hatte, wo er vorher »nur« mit dem Gewicht stehen geblieben war.

Bisherige Interventionen und Appelle der Eltern haben sich meist an das Kind gerichtet: »Du sollst nicht heimlich essen!« »Warum hast du schon wieder so lange am Computer gesessen?«. Eskalationen gehörten zur Tagesordnung und sind ein Grund für die Hilflosigkeit der Eltern. Wir vermitteln daher Deeskalationsstrategien im Sinne des »gewaltfreien Widerstands« von Haim Omer und Arist von Schlippe. Dazu gehört unter anderem, mit den Eltern zu erarbeiten, dass sie in »Ich-Botschaften« sprechen und Vorwürfe vermeiden. In Übungen machen wir deutlich, wie destruktiv Verallgemeinern und wie unwirksam Predigten ist. Wir üben aktives und ruhiges Zuhören und das Führen von Gesprächen in dem die Eltern ihre an aktuellen und konkreten Situationen Erwartungen ihrer Kinder festmachen lernen. Auch dies sind Interventionen, die den meisten Eltern bekannt ist. Neu wiederum ist eine Intervention, die Haim Omer und Arist von Schlippe mit dem Satz beschreiben: »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!« Eltern (wie auch viele »professionelle« Pädagogen) glauben, ihre Reaktion sei nur dann wirksam, wenn sie sofort auf zum Beispiel eine Regelverletzung von Kindern erfolgt. Wir coachen dahingehend, dass es manchmal sinnvoll sein kann, das Tempo zu reduzieren, Antworten und Reaktionen zu verzögern, zum Beispiel bis die Emotionen wieder »heruntergekocht« sind, bis Zeit für ein ruhiges Gespräch ist oder nachdem die Eltern sich Rat und Unterstützung geholt haben. Die Klärung von aktuellen Konflikten kann auch vertagt werden. Wichtig ist hier, dass Eltern ihren Kindern gegenüber benennen, dass sie mit einem bestimmten Verhalten (z. B. prüfen, ob der Fernseher bei ihrer Rückkehr am späten Abend noch warm ist) unerwünschtes Verhalten wahrgenommen haben und später darauf zurück kommen werden. In Ruhe kann dann zu einem späteren Zeitpunkt mit dem Kind und gegebenenfalls einem anderen Erwachsenen überlegt werden, was das Kind und die Erwachsenen beim nächsten Mal tun können, wenn das Kind (hier zum Beispiel) gern noch fern sehen möchte, obwohl vereinbart war, dass an diesem Tag die »Fernsehzeit« bereits »abgesessen« war. Paul wurde nach dem Coaching seiner Eltern im Sommer auf dem Grillfest, nachdem er sich das zweite Mal eine Portion nachholen wollte, nicht an die Seite gezogen und ärgerlich ermahnt. Erstaunt stellte er fest, dass seine Mutter und sein Vater ihn unabhängig voneinander ansprachen und ihm mitteilten: »Paul, wir haben gesehen, dass du dir schon einmal nachgeholt hast. Bitte überlege selbst, ob du noch einmal gehen möchtest. Wir werden in Ruhe heute

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Adipositas bei Kindern – Präsenz von Eltern

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Abend zu Hause darüber sprechen.« Sowohl die Eltern als auch Paul berichteten später, sie hätten das Gespräch am Abend als sehr viel angenehmer erlebt als die vorhergehenden Streitigkeiten auf Festen. Um Paul darin zu unterstützen, demnächst bei seinem Ziel »Den Teller nur ein Mal füllen« zu erreichen, vereinbarte die Familie ein Zeichen, das Paul erinnern sollte, ohne ihn vor »allen Leuten« anzusprechen. Die Eltern fühlten sich weniger hilflos, Paul konnte danach bei den meisten Festen auf seine zweite Portion verzichten.

Wir coachen die Eltern in Interventionen zur Wiederherstellung ihrer elterlichen Präsenz. Dazu gehört, dass sie ihre eigene Überzeugung und Meinung vertreten und vorleben. Dies fällt den Eltern oft nicht leicht. Wenn es um ein verändertes Ernährung- und Bewegungsverhalten in der Familie geht, bedeutet dies oftmals eine Lebensstilveränderung für die (adipösen) Eltern. Auch hier geht es darum konkrete und erreichbare Ziele zu formulieren, sich Zeit zu lassen, planvoll vorzugehen und im Erziehungsverhalten hartnäckig und standhaft zu sein, nicht nur dem Kind, auch zum Beispiel Großeltern, Freundinnen der Kinder und anderen Erwachsenen gegenüber, die mit ihrem Freizeit-, Ernährungs- und Verwöhnverhalten die Ziele der Familie torpedieren. Wir versuchen den Eltern die Haltung zu vermitteln, dass Veränderung zuerst einmal in der eigenen Person stattfinden. Die Mutter von Sabrina berichtete, dass der Streit bei jeder Mahlzeit unaushaltbar und für sie schrecklich sei. Sabrina schimpfe und schreie, wenn sie nicht nachnehmen dürfe oder auf ein begrenztes Essen angesprochen werde. Sie versuche dann dagegen zu halten, was sie nicht immer schaffe – nicht selten gebe sie auch auf. Und wenn sie standhaft sei, dann falle ihr Mann ihr in den Rücken, in dem er mit Verweis auf die für ihn notwendige Ruhe oder möglichen Eindrücken der Nachbarn Sabrina das Erwünschte gebe. Gemeinsam wurde in den Elterngesprächen darüber nachgedacht, wie sich die Eltern gegenseitig stützen können, Rollenspielsituationen wurden durchgespielt. Schließlich konnten die Eltern stolz berichten, dass sie in verschiedenen Situationen zusammen dem Schreien widerstehen konnten, es keine Ausnahmen mehr gab, sie sogar einer Nachbarin beim Grillen im Garten berichten konnten, wie schwer Sabrina es falle, auf etwas zu verzichten. Neben der gegenseitigen Unterstützung hatten die Eltern gelernt, dass sie nicht persönlich mit Sabrinas Beschimpfungen gemeint sind. Sabrina reduzierte ihren Widerstand zunehmend.

Scham- und Schuldgefühle verhindern oft, dass Eltern sich Unterstützung holen und verstärken damit die Hilflosigkeit. In den Gespräche und Übungen in den Elternrunden machen die Eltern erst Erfahrungen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind und der Einbezug anderer die eigene Position nicht schwächt – im Gegenteil. Wir regen zum Beispiel an, dass sich Familien, die in einem Stadtteil wohnen oder deren Kinder sich befreundet haben, sich auch in den Ferien oder nach Kursende treffen, Freizeit gemeinsam verbringen oder Eltern sich gegenseitig unterstützen. Eltern werden dahingehend gecoacht, sich Verbündete oder Vermittler (z. B. Paten der Kinder, Sporttrainer, Verwandte oder Freunde) zu suchen. Wenn der Vater/die Mutter nicht präsent sein kann, können Telefonanrufe, Gespräche und gemeinsame Aktivitäten mit diesen Personen die Eltern in ihren Bemühungen unter-

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stützen, die gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen eines Kindes einzugrenzen. Wichtig ist hier eine gute Absprache unter den beteiligten Erwachsenen. Die Eltern sollen die Erfahrung machen, dass Unterstützung sie stark macht. Laura ist zwölf Jahre alt. Ihre Mutter starb, als sie acht, ihr Bruder fünf und die kleine Schwester drei Jahre alt war. Der Vater erzieht die Kinder allein, er arbeitet halbtags. Laura wirkte zu Beginn des Kurses meist mürrisch, unzufrieden und wenig beteiligt. In den ersten vier Monaten hielt sie ihr Gewicht, der BMI verringerte sich geringfügig. Da sie an einem insgesamt sehr erfolgreichen Kurs teilnimmt, war sie mit den von ihr erreichten Veränderungen überhaupt nicht zufrieden. Im ersten Familiengespräch beklagte sie sich heftig über ihren Vater: Er verbringe zu wenig Freizeit mit ihr, deshalb bewege sie sich zu wenig. Er teile die Süßigkeiten nicht richtig ein, habe ihr noch immer kein Konto eingerichtet, damit sie ihr Taschengeld sparen könne . . . Auch Herr K. klagte: Laura fordere zuviel, obwohl er sich oft schon mehr um sie kümmere als um »die Kleinen«, sie halte sich nicht an Absprachen, bewege sich nicht freiwillig . . . Deutlich wurde, dass die zeitlichen und energetischen Ressourcen des Vaters durch Arbeit und Alltag mit drei Kindern ausgeschöpft waren. Auf die Frage, wer Laura unterstützen könne bei ihren Bemühungen, ihr Freizeit und Essverhalten zu verändern, antwortete Laura sofort: »Tante Anneliese«. Der Vater war über diese Wahl erstaunt, aber einverstanden. Ein weiteres Familiengespräch fand wenige Tage später mit Laura und Tante Anneliese statt, in dem konkrete Vereinbarungen getroffen wurden. Seitdem gibt es »AdiFit-Zeiten« für die beiden, Tante Anneliese nimmt regelmäßig an den Elterneinheiten und Familiengesprächen des Kurses statt, Laura nimmt ab und wird immer wacher, zufriedener, ihr (alter) Humor blitzt immer öfter durch.

Herausforderung Adipositasschulung Schulungsprogramme für Familien mit einem chronisch kranken Kind (Asthma, Neurodermitis, Diabetes) gibt es in der Pädiatrie schon seit Jahren (vgl. von Schlippe u. Theiling, 2005). Eine Adipositasschulung mit den oben genannten Zielen erfolgreich durchzuführen, ist eine Herausforderung für die Kinder, deren Eltern und auch für uns Trainer. In unserer Kultur gibt es viel Wissen zum Umgang mit Mangel (»Der Teller wird leer gegessen!«, »Liebe geht durch den Magen.«), wenig dagegen zum Umgang mit Überfluss. Hier stehen nicht nur die medizinischen und psychosozialen Berufsgruppen vor neuen Aufgaben, sondern die Gesellschaft als Ganzes.

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Adipositas bei Kindern – Präsenz von Eltern

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Amelie Köllner, Barbara Ollefs und Arist von Schlippe

Forschung

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»ElterlichePräsenz«

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Amelie Köllner, Barbara Ollefs und Arist von Schlippe

»Elterliche Präsenz« Entwicklung eines Fragebogens zur elterlichen Präsenz

Vorbemerkung Der vorliegende Bericht beschreibt die Entwicklung eines Fragebogens, der eingesetzt werden kann, um die »Präsenz« von Eltern zu erfassen. Der Begriff der »elterlichen Präsenz« wurde von Haim Omer geprägt (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004). Er ist zum Ausgangspunkt für ein Beratungskonzept geworden, das als »systemisches Coaching für Eltern« bezeichnet wird. Es beruht auf der Doktrin des gewaltlosen Widerstandes und versucht, die Akzentuierung der Machtdimension, die bei Konflikten zwischen Eltern und Kindern oft im Mittelpunkt steht (»Du musst dich durchsetzen!«, »Das darfst du dir nicht gefallen lassen!«, »Ich fühle mich ohnmächtig meinem Kind gegenüber!«) durch die Betonung der »Anwesenheit« zu ersetzen: Eine gewaltlose Auseinandersetzung ist auch dann erfolgreich, wenn ein Machtkampf verloren wurde, der Elternteil aber präsent und im Kontakt mit dem Kind geblieben ist, ohne dieses zu entwerten, zu attackieren oder gar zu schlagen. Da es sich um ein verhältnismäßig junges Konzept handelt, liegen noch wenige Forschungsinstrumente vor. Zudem sind die Verbindungen zu anderen konzeptionell eng verwandten Begriffen wie etwa »elterliche Hilflosigkeit«, »soziale Unterstützung«, »Selbstwirksamkeitserleben« und »Selbstkonzept« noch ungeklärt. Aus diesem Grund haben wir uns vorgenommen, einen Fragebogen zu entwickeln, der explizit auf dem Konzept der elterlichen Präsenz aufgebaut ist und der sowohl ermöglicht, die Beziehungen zu anderen Konzepten empirisch besser zu klären, als auch Möglichkeiten bietet, Effekte therapeutischer oder beraterischer Interventionen speziell für die elterliche Präsenz besser abzuschätzen. Im Folgenden soll auf den Begriff des »Elterncoachings« nicht weiter eingegangen werden. Hierzu liegen verschiedene ausführliche Beschreibungen vor (Omer u. von Schlippe, 2002, 2004; Tsirigotis et al., 2006; s. a. eine Reihe von Beiträgen im vorliegenden Buch). Dagegen werden wir im Folgenden den Begriff der elterlichen Präsenz noch einmal ausführlicher behandeln, obwohl auch dieser bereits mehrfach dargestellt wurde. Eine ausführliche Begriffsbestimmung halten wir jedoch für die Fundierung des Fragebogens zur elterlichen Präsenz für erforderlich.

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Elterliche Präsenz Elterliche Präsenz ist eine Haltung der Eltern, die dem Kind die Botschaft vermittelt, dass sie da sind, da bleiben, nicht zu umgehen, nicht abzuschütteln, nicht zu bestechen oder zu übergehen sind. Präsent sein heißt so viel wie »anwesend sein«, also als Person mit eigenen Gedanken, Gefühlen, Wünschen und Handlungen »da« zu sein, und zwar nicht nur in Gedanken, sondern auch und vor allem körperlich: mit der ganzen Existenz da zu sein und Raum einzunehmen. Im Zusammenhang mit der Elternrolle beziehen sich diese Empfindungen auf eine Qualität des Elternseins, die verbunden ist mit Überzeugungen wie: »Ich zähle! Ich kann handeln! Das, was ich tue, sehe ich als richtig an! Ich bin nicht allein!« Dabei ist von Bedeutung, dass sowohl Elternteil wie auch Kind als zwei erkennbare Personen anwesend, das heißt präsent sind, um auf der Basis der »Gleichberechtigung der Stimmen« miteinander in Verhandlung treten zu können. Auch wenn die Situation zwischen Eltern und Kindern von einer ungleichen Machtverteilung gekennzeichnet ist, bedeutet Präsenz, dass beide Seiten das »Recht auf ihre Stimme« haben und wahrnehmen. So ist das Ziel nicht Gewinn oder Niederlage, vielmehr beruht die Präsenz auf dem Prinzip der Kooperation zwischen (durchaus ungleichen) Partnern.

Inhaltliche Strukturierung des Begriffs »elterliche Präsenz« Zur Fragebogenentwicklung bezogen wir uns auf die inhaltliche Strukturierung des Gegenstandsbereiches »elterliche Präsenz«, wie sie bei Omer und von Schlippe (2004, S. 34) vorgenommen wurde. Elterliche Präsenz lässt sich danach über drei Facetten beschreiben: Erlebensaspekt, Verhaltensaspekt und systemischer Aspekt. Erlebensaspekt: Der Erlebensaspekt beinhaltet zum einen, dass Eltern ihre Handlungen als Ausdruck der eigenen Lebensgeschichte, der daraus entwickelten Lebensanschauungen, Gefühle und Werte erleben. Die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit, die Wahrnehmung persönlicher Bedürfnisse, Gedanken, Gefühle und Wünsche, die Fähigkeit persönliche Präferenzen und Neigungen auszudrücken, sind die Grundlage für elterliche Präsenz. Es geht also darum, eine eigene Stimme als Mutter/Vater zu haben, die der Individualität entspricht. Im Zusammensein mit dem Kind kann sich diese Haltung darin ausdrücken, dass die Eltern ihre Kinder an Weltanschauungen (Religion), Hobbys oder Aktivitäten heranführen, die ihre persönlichen Präferenzen und Neigungen ausdrücken. Des Weiteren gehört zum Erlebensaspekt das Selbstwertgefühl in der elterlichen Rolle, das heißt, es geht zum einen um die Zufriedenheit und Unzufriedenheit in der Rolle als Eltern und zum anderen darum, wie sich ihre Erfahrungen in der Kindererziehung auf ihr Selbstbild auswirken. Die Erziehungserfahrungen können sich mit dem Selbstbild in positiver Weise decken und werden dann das Wirksamkeits-

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erleben stärken, während eine starke Differenz zwischen Selbstbild und Erfahrungen das Selbstwirksamkeitserleben schwächen wird. Saile (2000) spricht in diesem Zusammenhang von der emotionalen Seite des Selbstkonzepts. Ein weiterer Bereich des Erlebensaspektes ist die Überzeugung, über elterliche Kompetenzen zu verfügen. Ganz allgemein kann für den Begriff der Kompetenzerwartung auch der Begriff der Selbstwirksamkeitserwartung verwendet werden. Nach Bandura (1997) ist dies die optimistische Überzeugung von der eigenen Fähigkeit, schwierige Anforderungssituationen erfolgreich bewältigen zu können. Die elterliche Kompetenzüberzeugung hängt demnach vermutlich eng mit dem Selbstwertgefühl in der elterlichen Rolle zusammen. Saile (2000) beschreibt diesen Bereich als instrumentelle Seite des Selbstkonzepts. Er definiert Kompetenzüberzeugungen als Kognitionen von Eltern, die sich auf die Erreichbarkeit von Zielen durch eigenes Handeln beziehen und unterscheidet zwischen der allgemeinen Kompetenzüberzeugung, das Verhalten und die Entwicklung des Kindes beeinflussen zu können, der Kompetenzüberzeugung hinsichtlich der Steuerbarkeit kindlichen Verhaltens und der Kompetenzüberzeugung hinsichtlich der Wahrnehmung von Problemen und Gefühlen des Kindes und der Kommunikation darüber. Zusammenfassend lässt sich zum Erlebensaspekt sagen, dass dieser das Gefühl von Eltern beschreibt, das Richtige zu tun, also das »Bewusstsein für ein eigenes moralisches und persönliches Selbstvertrauen«. Verhaltensaspekt: Zum Verhaltensaspekt gehört erstens die Umsetzung elterlicher Kompetenzen, das heißt das Kind aus eigener Kraft versorgen, lenken und schützen zu können. Hierunter fällt beispielsweise, dass Eltern einschreiten, wenn es gefährlich wird und dass sie Aufmerksamkeit für ihr Kind zeigen. Zweitens zählt die körperliche Präsenz zum Verhaltensaspekt. Es ist wichtig, dass Eltern ein »anwesendes Verhalten« zeigen. Dazu gehört, dass Eltern Raum und Zeit im Leben des Kindes einnehmen – sicherlich ist dieser Bereich besonders durch das Alter des Kindes bestimmt, zum Beispiel beim Körperkontakt. Besonders kleine Kinder spüren die elterliche Präsenz am deutlichsten durch die körperliche Anwesenheit und Nähe der Eltern. Mit dem Älterwerden des Kindes entwickelt sich die körperliche Präsenz zunehmend in eine repräsentierte Form von Präsenz. Jedoch kann auch von älteren Kindern noch körperlicher Kontakt von den Eltern (z. B. eine freundschaftliche oder tröstende Umarmung, später vielleicht vermittelt über ein Telefonat) Ausdruck der Präsenz werden. Die körperliche Präsenz der Eltern bezieht sich aber nicht nur auf das Kind, sondern auch auf den Raum, den sie in der Familie und in ihrem eigenen Heim einnehmen. Beispielsweise ist der elterliche Zugang zu den Räumen der Wohnung eine Form der körperlichen Präsenz. Auch die Zeit, die Eltern aufwenden, um mit ihrem Kind zusammen zu sein oder einfach da zu sein, ist als ein Aspekt der körperlichen Präsenz zu verstehen. Außerdem gehört drittens das Interesse am Kind zum Verhaltensaspekt, wobei es darauf ankommt elterliches Interesse zu zeigen. Es offenbart sich beispielsweise,

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wenn Eltern wissen, was ihr Kind beschäftigt, seine Freunde kennen und auch die Interessen und Fähigkeiten des Kindes fördern – wenn sie wissen, wo ihr Kind ist und mit wem es umgeht. Ebenfalls eine Art von freundschaftlichem Zugewandtsein zum Kind wird im Verhaltensaspekt angesprochen. Viertens beinhaltet der Verhaltensaspekt auch die sorgende Präsenz, das Kind, die Familie und sich zu schützen und zugleich elterliche Verantwortung zu tragen. Dem Kind wird so auf der Verhaltensbasis die vielfältige Botschaft vermittelt, dass die Eltern hinter ihm stehen. Im Falle von Auseinandersetzungen ist das Wesentliche des Verhaltensaspektes, dass Eltern um ihr Kind und nicht gegen es kämpfen. Systemischer Aspekt: Der systemische Aspekt berührt zum einen die Frage nach dem Vorliegen von Unterstützung (bzw. das Bewusstsein davon) durch Partner oder Partnerin in der Erziehung der Kinder. Dazu gehört das gegenseitige Vertrauen der Eltern ineinander und in die wechselseitige Verlässlichkeit. Auch die Kommunikation und Konsensbildung über Erziehungsvorstellungen wie auch der Umgang mit Konflikten und Unstimmigkeiten im Kontakt mit dem Kind wird hier thematisiert. Des Weiteren beinhaltet der systemische Aspekt die Frage nach der Haltung weiterer bedeutsamer Personen, wie Familienmitglieder, Verwandte und Freunde gegenüber dem Elternteil. Die Erfahrung von Präsenz durch bedeutsame Dritte stärkt die Eltern in ihren Erziehungsbemühungen und gibt ihnen die Möglichkeit des Austausches über Sorgen und bei Unsicherheiten. Ein kontinuierlicher Boykott elterlicher Präsenz durch andere Personen (wie etwa die sprichwörtliche »Schwiegermutter«, die mit der Partnerwahl ihres Sohnes »nie einverstanden« gewesen ist und die die Erziehungsversuche seiner Partnerin entsprechend erschwert) ist dementsprechend eine kontinuierliche Quelle der Schwächung von Präsenz. Zuletzt umfasst der systemische Aspekt die Frage nach der Möglichkeit zur Bildung von Allianzen mit anderen Personen, die ebenfalls an der Erziehung des Kindes partizipieren, beispielsweise Lehrer, Erziehern, Gruppenleitern usw. Das Bündnis mit weiteren Personen des sozialen Umfeldes stärkt die Eltern in ihrem Erleben von Präsenz, auch in den Augen des Kindes. Je stärker Eltern in der Erziehung auf ein soziales Unterstützungssystem zurückgreifen können, das stärkt und stützt, desto ausgeprägter ist in der Regel die elterliche Präsenz. Für das Kind stellt das soziale Netz der Eltern »die Welt« dar, denn wenn das Kind erlebt, wie die Eltern oder der alleinerziehende Elternteil von bedeutsamen anderen Personen gestützt werden, dann stärkt das die Präsenz der Eltern in den Augen des Kindes (Omer u. von Schlippe, 2002, S. 140).

Elterliche Präsenz und Autorität Der Begriff der elterlichen Präsenz ist eng mit dem Begriff der Autorität verbunden. Dabei kann die Präsenz als Basis für elterliche Autorität verstanden werden. Autorität ist ein Begriff, der gerade in unserer Kultur vielfachen Brüchen unterworfen

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war und ist. Die enge Koppelung von Autorität und Macht und damit mit unbedingtem, unhinterfragbarem Gehorsam hat Autorität als Konzept vielfach diskreditiert (hierzu ausführlich Kap. 1 von Omer u. von Schlippe, 2004). Die Gefahr kann dann darin liegen, dass Eltern ihre Präsenz aus Angst vor Autorität aufgeben, dass sie versuchen, ausschließlich der »beste Freund« ihres Kindes zu sein, romantische Erziehungsideale zu verwirklichen – gelegentlich mit der Folge tiefer Enttäuschung und drastischer Strenge, die Ausdruck erfahrener Hilflosigkeit ist. Autorität, die auf Präsenz basiert, das heißt auf der Botschaft »Ich bin da!« (als Mutter/Vater und auch als Person), ist dabei viel akzeptabler, konstruktiver und menschlicher als eine Autorität, die auf Preisen, Strafen oder gar Ehrfurcht basiert. Die Botschaft »Ich bin da!« entspricht gleichfalls dem Blick auf die elterliche Rolle aus den verschiedenen Blickwinkeln der verhaltens-, humanistischen und systemischen Schulen. Damit kann »elterliche Präsenz« als ein integrierender Begriff verstanden werden. Baumrind (1967; in Reitzle et al., 2001) schlägt eine Einteilung in vier elterliche Erziehungsstile vor, je nach Ausprägung auf den beiden Dimensionen »responsiveness«, das heißt Zugänglichkeit, Aufgeschlossenheit oder Ansprechbarkeit, und »demandingness«, das heißt eine auf Einhaltung klarer Regeln bedachte Haltung der Eltern. Permissive Eltern werden nach Baumrind als nachsichtig beschrieben, sie insistieren nicht sonderlich auf Regeln. Im Prinzip erzieht sich das Kind selbst. Autoritäre Eltern dagegen stellen Regeln und Disziplin in den Vordergrund, sie bieten zugleich jedoch nur wenig Unterstützung und emotionale Nähe an. Niedrige Ausprägungen auf beiden genannten Dimensionen weisen hingegen unengagierte Eltern auf (Reitzle et al., 2001). Der Begriff des »authoritative parenting« bewegt sich in der Mitte zwischen den beiden Polen. Autoritative Eltern sind demnach zugänglich für die Bedürfnisse und Anliegen ihrer Kinder, halten zugleich aber auch klare und erklärbare Verhaltensregeln für ihre Kinder vor. Diese Haltung entspricht etwa der »elterlichen Präsenz«.

Elterliche Präsenz und Hilflosigkeit Der Begriff der erlernten Hilflosigkeit wurde von Seligman (s. z. B. Pleyer, 2003, 2004) geprägt. Die grundlegende Annahme seiner lerntheoretisch begründeten Theorie besteht darin, dass ein Individuum seine Passivität und das Gefühl nicht handeln zu können, sein eigenes Leben nicht steuern zu können, durch die Erfahrung unkontrollierbarer aversiver Ereignisse gelernt hat. Das dadurch entstehende Gefühl der Hilflosigkeit kann zu Depression führen. Die Theorie wurde von Abramson, Seligman und Teasdale (zit. nach Davison et al., 2002) revidiert. Sie betonen, dass neben der (objektiven) Erfahrung auch die Attribuierung aversiver Ereignisse ein wesentlicher Aspekt für erlernte Hilflosigkeit sein kann. Es kommt beim Menschen somit also auch darauf an, welchen Ursachen er/sie einem Misserfolgs-

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ereignis zuschreibt. Beim so genannten »depressiven Attributionsstil« werden schlechte Ergebnisse persönlichen, globalen und stabilen Wesensmängeln zugeschrieben. Die Auswirkungen dieses Attributionsstils führen dazu, dass der Mensch für sich keine Möglichkeit sieht, die Situation zu verändern. Er entwickelt zunehmend eine Erwartung der zukünftigen Nichtkontrolle aversiver Ereignisse. Im Prozess der Kindererziehung können auch Eltern Erfahrungen machen, die in Gefühlen von Hilflosigkeit münden. Pleyer (2003) hat in diesem Zusammenhang den Begriff der parentalen Hilflosigkeit als einen vielschichtigen fließenden Prozess individueller Lösungsversuche und Bewältigungsbemühungen verwendet. Er beschreibt sie als Folge- oder Begleiterscheinung eines nachhaltig erlebten (traumatischen) Scheiterns in dem Versuch, erwünschte Verhaltensänderungen beim Kind zu bewirken, die eigenen für richtig gehaltenen Erziehungsvorstellungen zu realisieren und eine erwünschte Form der Beziehung zum Kind herzustellen (Pleyer, 2003, 2004). Er zählt verschiedene Aspekte auf, über die das Konstrukt der parentalen Hilflosigkeit beschrieben werden kann: – Selektive Wahrnehmung für die kindlichen Bedürfnisse: Die kindlichen Signale werden als Angriffe gegen die eigene Person interpretiert. Hilflose Eltern fühlen sich schneller als andere von ihrem Kind angegriffen, entwertet oder bedroht (so eine Mutter, die ihr neunmonatiges Kind in der kinderpsychiatrischen Sprechstunde mit den Worten vorstellte: »Er schlägt immer in den Brei, wenn ich ihn füttern will. Das macht er, um mich zu ärgern!«). – Elterliche Konfliktvermeidung: Einerseits ist der elterliche Umgang mit dem Kind durch subtile Kritik, Abwertung und Provokation gekennzeichnet, andererseits weichen die Eltern aber aus, wo sie gefordert sind, Position zu beziehen. Oft sind Bewältigungsstrategien wie Fluchtmanöver und Unterwerfungsmuster zu sehen. Eltern erleben sich in dieser Situation in einer unentrinnbaren Zwangslage. Sie haben das Gefühl, in Konfliktsituationen zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden zu müssen, die beide gleichermaßen angstbesetzt sind. Entweder müssen sie ihr Kind dominieren oder sich ihm ausliefern und es so oder so verlieren. – Erfahrung von Einflussnahmeverlust: Diese geht bei den Eltern mit einer Tendenz zu Rückzug, Passivität und Distanzierung von der Elternverantwortung einher, was in der Familie mit einem Vakuum und Schwächung der elterlichen Präsenz erlebt wird. Dies kann soweit gehen, dass die Eltern sogar befürchten, dass ihre Anwesenheit störend sein könnte.

Elterliche Präsenz und elterliche Kooperation Wenn die Präsenz bedroht oder verloren ist, kann es zu gravierenden Kooperationsdefiziten auf der Paarebene und zu einem verdeckten oder offenen Machtkampf um die »richtige Erziehung« kommen. Zur Tendenz, eine Kooperation mit dem Partner

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zu vermeiden, kommt zusätzlich die Tendenz, sich (in der Erziehung) zu isolieren (Pleyer, 2004). Wenn der Partnerkonflikt von Beraterinnen oder auch von der Umwelt als Erklärung für das kindliche Fehlverhalten herangezogen wird, kommt es zu einer zusätzlichen Schwächung der elterlichen Präsenz. Der Paarkonflikt kann jedoch auch als Folge des problematischen Verhaltens des Kindes beschrieben werden und nicht nur implizit als dessen Ursache.

Entwicklung des Fragebogens zur elterlichen Präsenz Im Folgenden wird beschrieben, wie ausgehend von der Strukturierung der elterlichen Präsenz in Erlebens-, Verhaltens- und systemischer Aspekt der Fragebogen entstand.

Entwicklung einer Vorform des Fragebogens In einem ersten Arbeitsschritt wurde ein Fragebogen mit 180 Items generiert und zwar aus drei Quellen: 1. Itempool, der aus einem Expertenbrainstorming eines Arbeitskreises von Erziehungsberaterinnen und -beratern entstand, die sich längere Zeit theoretisch und praktisch mit dem Modell der elterliche Präsenz und des gewaltlosen Widerstandes beschäftigt hatten. 2. Achtzehn Items eines in Tel Aviv entwickelten Fragebogens zum Erleben elterlicher Hilflosigkeit (Parental Helplessness Questionnaire18). 3. Zwölf Items aus dem Fragebogen zur Erfassung von Kompetenzüberzeugung und Selbstwertgefühl als Eltern (FKSE) (Saile, 2000). 638 dieser Vorfragebögen wurden so an Eltern verteilt, dass von einer Zufallsstichprobe ausgegangen werden kann (Details s. Köllner, 2004). Der Rücklauf betrug 32 % (204 Fragebögen). Dies ist für eine offene Befragung dieser Art ausgezeichnet und deutet auf ein großes Interesse am Thema hin. 167 Fragebögen von Elternteilen von Kindern im Alter von 3 bis 18 Jahren konnten für die Auswertung verwendet werden. In verschiedenen Arbeitsschritten wurde die Itemzahl reduziert. 1. Alterskorrelation: Vor der Faktorenanalyse wurden die Items mit dem Alter der Kinder und der Eltern korreliert. Alle Items, die signifikant oder hoch signifikant mit dem Alter der Kinder und/oder mit dem Alter der Eltern korrelierten, wurden aus der weiteren Berechnung herausgenommen. Durch dieses Kriterium wurde die Anzahl der Items von 180 auf 133 reduziert. 18 Die Originalliteratur existiert nur auf Hebräisch (Avraham-Krehwinkel, 2001), uns lag eine von der Autorin angefertigte englische Übersetzung vor.

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2. Inhaltliche Aspekte: Nach kritischen Rückmeldungen zur mangelnden sprachlichen Genauigkeit der Formulierung wurden fünf weitere Items ausgeschlossen. 3. Trennschärfeanalysen und Reliabilitäten: Nach Trennschärfe- und Reliabilitätsanalysen wurden Items mit einer korrigierten Trennschärfe kleiner als .3 ausgeschlossen. Beim Erlebensaspekt wurden nacheinander vier Items entfernt, beim Verhaltensaspekt entfielen 15 Items, beim systemischen Aspekt wurden elf Items herausgenommen. Bei der Elterlichen Hilflosigkeitsskala mussten nur zwei Items gestrichen werden. Insgesamt wurden 31 Items aus der weiteren Berechnung ausgeschlossen, die Itemanzahl reduzierte sich damit auf 97.

Faktorenanalyse Mit den übrig gebliebenen 97 Items wurde eine Faktorenanalyse19 durchgeführt. Insgesamt gingen 130 Datensätze in die Analyse mit ein, das entspricht der Anzahl der Personen, die alle 97 Items beantwortet hatten. Aufgrund der Kommunalitäten und des Fürntratt-Kriteriums wurde die Itemanzahl von 97 auf 73 Items reduziert (Details s. Köllner, 2004). Eine anschließende erneute Trennschärfe- und Reliabilitätsanalyse pro Faktor zeigte, dass lediglich nur noch ein Item auszuschließen war. Die Reliabilitäten lagen insgesamt im guten bis sehr guten Bereich (zwischen .83 und .92). Die übrigen 72 Items verteilen sich auf drei Faktoren, die wie folgt interpretiert wurden: – 1. Faktor: Beschreibung der eigenen Person und des Kindes (depressiv negativ vs. konstruktiv positiv) – 2. Faktor: Kompetenzüberzeugung und aktives Interesse am Kind – 3. Faktor: Kooperation auf Paarebene und im sozialen Umfeld Um neben der formalen Struktur auch eine inhaltliche Kohärenz herzustellen, wurden nach der Benennung und Interpretation der drei Faktoren noch einige Items gestrichen, die inhaltlich nicht gut zu dem zugehörigen Faktor passten. So ließ sich die Itemanzahl von 72 auf 63 reduzieren.

Fragebogen-Endversion Die Endform des Fragebogens besteht also aus 63 Items, die sich auf drei Skalen (Faktoren) verteilen. Insgesamt werden durch diese 32,7 % der gesamten Varianz aufgeklärt. Die relativ geringe Gesamtvarianzaufklärung der dreifaktoriellen Lösung deutet auf die Komplexität des Konzepts »elterliche Präsenz« hin. Der Einsatz 19 Es handelte sich um eine Hauptkomponentenanalyse mit anschließender Varimax-Rotation.

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des Fragebogens darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass »elterliche Präsenz« ein wesentlich facettenreicheres Konstrukt ist, als das Instrument abbilden kann. – Erste Skala: Die Skala »Beschreibung der eigenen Person und des Kindes (depressiv negativ vs. konstruktiv positiv)« umfasst 27 Items. Ein hoher Punktwert bedeutet eine »depressiv negative Beschreibung der eigenen Person und des Kindes«, ein niedriger Wert hingegen eine »konstruktiv positive«. Die Trennschärfen der Items befinden sich im Bereich von .353 (Item 16) bis .699 (Item 86). Ursprünglich stammen die Items aus dem Bereich des Erlebens und der elterlichen Hilflosigkeit, ein einziges Item kommt aus dem Bereich des Verhaltens. Die Reliabilität der Skala ist sehr gut, sie liegt bei α = .915. Die Varianzaufklärung nach der Rotation beträgt 14,24 %. – Zweite Skala: Die Skala »Kompetenzüberzeugung und aktives Interesse am Kind« umfasst 20 Items, die alle in eine Richtung gepolt sind. Ein hoher Punktwert auf dieser Skala bedeutet eine hohe Kompetenzüberzeugung und aktives Interesse am Kind, ein niedriger Wert hingegen eine geringe. Die Items stammen aus dem Bereich des Verhaltens und dem des Erlebens. Die Trennschärfen liegen zwischen .312 (Item 57) und .607 (Item 51). Die Skala weist eine gute Reliabilität von α = .871 auf. Durch die Skala wird 10,59 % der Varianz aller Items aufgeklärt. – Dritte Skala: Die Skala »Kooperation auf Paarebene und im sozialen Umfeld« umfasst 16 Items, davon sechs zur Paarebene und zehn zum sozialen Umfeld. Alle Items stammen aus dem ursprünglich als »systemischer Aspekt« bezeichneten Bereich. Ein hoher Punktwert bedeutet auf dieser Skala eine geringe, ein niedriger Wert hingegen eine hohe Kooperation auf Paarebene und im sozialen Umfeld. Die Items weisen Trennschärfen auf im Bereich zwischen .329 (Item 36) und .529 (Item 128). Die Reliabilität ist gut und beträgt α = .826. Die durch diese Skala aufgeklärte Varianz aller Items beträgt nach der Rotation 7,86 %. Die beiden Bereich »Paarebene« und »soziales Umfeld« lassen sich allerdings nicht in zwei Unterskalen aufteilen, da die Reliabilität des Bereichs soziales Umfeld etwas zu niedrig ausfällt, sie beträgt α = .757. Die Reliabilität des Bereichs Paarebene liegt bei α = .812.

Eine erste Normierung Da wir bei der Datengewinnung von einer Zufallsstichprobe ausgegangen waren, wurde in einem weiteren Arbeitsschritt ein erster Versuch einer Normierung vorgenommen20. Um die Werte der Stichprobe in eine Standardnorm zu transformieren, war es zunächst notwendig, zu überprüfen, ob die Daten normalverteilt sind. Da sich Frauen und Männer zumindest in der ersten und dritten Skala signifikant unterscheiden, werden für alle drei Skalen unterschiedliche Normwerte für Frauen und Männer 20 Die Normierungstabellen befinden sich im Anhang.

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berechnet, somit werden auch jeweils beide Gruppen für alle drei Skalen auf Normalverteilung geprüft. Alle Prüfungen (Kolmogorov-Smirnov-Anpassungstest, Signifikanzniveau α = 5 %) zeigten keine Abweichung von der Normalverteilung, so dass es möglich wurde, die Werte in Standardnormen zu transformieren. Durch Aufteilung in eine Frauen- und eine Männergruppe fallen die Normierungsstichproben allerdings relativ klein aus, besonders die Gruppe der Männer mit einer Anzahl von N = 36 ist sehr klein. Aufgrund dessen ist die Repräsentativität der Stichproben fraglich, auch wenn diese normalverteilt sind. In Ermangelung einer größeren Stichprobe werden hier trotzdem als erste Orientierung Normierungstabellen ausgegeben. Zusätzlich werden in den Normierungstabellen noch die Prozentwerte angegeben, so lässt sich genau einsehen, wie viel Prozent der Personen der Stichprobe diesen oder einen kleineren Rohwert haben. In diesen Tabellen sind also die kumulierten relativen Häufigkeiten der Personen mit diesem oder einem kleineren Rohwert (in Prozent ausgedrückt) angegeben. Aufgrund der kleinen Stichproben ist es ratsam, sich nicht zu sehr an den T-Werten zu orientieren, zumindest sollte man vorsichtig bei der Interpretation sein, den individuellen Testrohwert in der Population einzuordnen. Es lassen sich aber auf jeden Fall Aussagen darüber treffen, wie sich ein erhobener individueller Testrohwert im Vergleich zu der Stichprobe verhält, auf der dieser Fragebogen basiert. Ein weiteres Problem stellen Decken- und Bodeneffekte dar. Optimalerweise sollten die T-Werte in einem Bereich von 1 bis 100 angegeben werden, doch das war nicht möglich: – in der ersten Skala tritt ein Bodeneffekt auf, das heißt, dass im unteren Bereich dieser Skala bei den Frauen ab einem T-Wert von 34, bei den Männern ab einem T-Wert von 33 nicht weiter differenziert werden kann, weil dies die Skalenuntergrenzen sind. Die beiden Werte entsprechen einem Rohwert von 27, und ein geringerer Wert ist hier nicht möglich, da bei den 27 Items dieser Skala nur ein Wertebereich von 27 bis 135 auftreten kann. Für die erste Skala heißt das konkret, dass zwischen Menschen mit extrem hoher Ausprägung einer konstruktiv positiven Beschreibung der eigenen Person und des Kindes nicht gut unterschieden werden kann; – in der zweiten Skala tritt ein Deckeneffekt auf, das heißt, dass im oberen Bereich der Skala ab einem T-Wert von 71 bei den Frauen und ab 76 bei den Männern nicht weiter differenziert werden kann, weil dies die Skalenobergrenzen sind; – in der dritten Skala tritt wie in der ersten Skala ein Bodeneffekt auf. Hier kann ab einem T-Wert von 37 bei den Frauen und ab 34 bei den Männern nicht weiter differenziert werden. Insgesamt sind die Decken- und Bodeneffekte allerdings nicht so gravierend, da bei allen drei Skalen innerhalb von zwei Standardabweichungen über und unter dem Mittelwert gut differenziert werden kann, das entspricht (bei Normalverteilung) 95,4 % der Fälle.

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»Elterliche Präsenz«

Erste Überlegungen zur Validität – Allgemeine Einschätzung des Kindes: Um erste Anzeichen dafür zu erhalten, ob

und inwieweit die Skala in der Lage ist, klinische Gruppen zu differenzieren, waren die befragten Eltern gebeten worden, einige Zusatzinformationen mit anzugeben. Die erste Variable ist die von den Eltern vorgenommene allgemeine Einschätzung ihres Kindes hinsichtlich der Stufen »unproblematisch« und »problematisch«. Die ersten beiden Skalen unterscheiden signifikant beziehungsweise hoch signifikant zwischen Eltern mit problematischen Kindern und Eltern mit unproblematischen Kindern21. Besonders die erste Skala unterscheidet deutlich zwischen den beiden Gruppen, das zeigt sich an der hohen Effektgröße von d = 1,051, das heißt, Eltern mit problematischen Kindern haben eine depressivere Beschreibung der eigenen Person und des Kindes als Eltern mit unproblematische Kind. Die zweite Skala weist einen mittleren Effekt mit d = .446 auf. Eltern mit unproblematischen Kindern weisen eine höhere Kompetenzüberzeugung und mehr aktives Interesse am Kind auf. Die dritte Skala unterschied nicht signifikant zwischen den beiden Gruppen, es ergab sich ein Trend, nach dem Eltern mit problematischen Kindern eine geringere Kooperation auf Paarebene und im sozialen Umfeld aufweisen als Eltern mit unproblematischen Kindern. Es wäre wünschenswert, diese Ergebnisse anhand einer größeren Stichprobe zu replizieren. – Geschlecht des Elternteils: Hier wurde das Geschlecht des Elternteils als Variable untersucht, mit natürlich zwei Faktorstufen, weiblich und männlich.Die erste Skala unterscheidet signifikant zwischen Frauen und Männern, das heißt Frauen weisen eher eine depressiv negative Beschreibung der eigenen Person und des Kindes auf als Männer, auch die Effektgröße ist niedrig bis mittelhoch. Vielleicht spiegelt sich hier wieder, dass die Prävalenz von Depression an sich bei Frauen etwa zwei- bis dreimal so hoch ist wie bei Männern (Davison et al., 2002). Die zweite Skala unterscheidet nicht zwischen Frauen und Männern, auch die Effektgröße ist niedrig. Die dritte Skala hingegen unterscheidet wieder signifikant mit einem mittleren Effekt zwischen Frauen und Männern. Männer scheinen eine geringere Kooperation im sozialen Umfeld zu nutzen als Frauen. Dies passt zu einer Untersuchung in Tel Aviv (Weinblatt, 2004), in der sich zeigte, dass das Bedürfnis nach Unterstützung der Männer wesentlich geringer war als das der Frauen. – Sorgen um Verhaltensweisen: Hier war allgemein und offen nach Sorgen gefragt, die sich die Eltern um Verhaltensweisen des Kindes machten. Es wurden die Faktorstufen »Sorgen aufgeschrieben« und »nichts aufgeschrieben« unterschieden. Wieder unterscheidet die erste Skala zwischen Elternteilen, die sich besondere Sorgen um Verhaltensweisen ihres Kindes machen und Elternteilen, die dies 21 Es wurden für alle der folgenden Variablen jeweils fünf t-Tests für unabhängige Stichproben durchgeführt.

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Amelie Köllner, Barbara Ollefs und Arist von Schlippe

nicht tun, diesmal hoch signifikant. Elternteile, die sich besonders sorgen, haben eine depressivere negative Beschreibung der eigenen Person und des Kindes als Elternteile, die im Fragebogen keine besonderen Sorgen um Verhaltensweisen ihres Kindes angaben. Die hohe Effektgröße von d = .981 unterstreicht die Bedeutsamkeit dieses Unterschieds. Die zweite Skala unterscheidet nicht signifikant zwischen den beiden Gruppen, auch der Effekt ist eher gering. Am Trend ist hier zu sehen, dass Eltern, die sich keine besonderen Sorgen um ihr Kind machen, eine höhere Kompetenzüberzeugung und aktives Interesse am Kind haben. Die dritte Skala als Ganzes unterscheidet nicht signifikant zwischen den beiden Gruppen, allerdings der 3.b)-Bereich »Kooperation auf der Paarebene«. Hier ist der Unterschied hoch signifikant mit einer mittleren Effektgröße, das heißt Eltern, die sich um ihr Kind besonders sorgen, haben eine geringere Kooperation auf der Paarebene. Vielleicht ist das so zu erklären, dass Elternteile, die sich von ihrem Partner unterstützt fühlen in der Erziehung, eher beruhigter sind, was Probleme mit ihrem Kind betrifft (nach dem Motto: »zusammen schaffen wir das schon«). – Geschlecht des Kindes: Hier unterscheidet keine der Skalen signifikant zwischen Elternteilen, die sich beim Fragebogen auf ihre Tochter konzentrierten und denen, die sich auf ihren Sohn bezogen. Auch die Effektgrößen sind alle gering und daher nicht von Bedeutung. Hier könnte vielleicht eine weitere Unterteilung in verschiedene Altersklassen Unterschiede zeigen. Zusammenfassung: Zusammenfassend liefern die Analysen erste, vorsichtige Hinweise auf die Differenzierungsfähigkeit des Fragebogens hinsichtlich unterschiedlicher Kriterien. Die ersten beiden Skalen unterscheiden signifikant zwischen Eltern mit unproblematischen und Eltern mit schwierigen Kindern. Die erste Skala und auch der Bereich »Paarebene« unterscheiden signifikant zwischen Eltern, die sich besondere Sorgen um ihr Kind machen und Eltern, die dies nicht tun. Die dritte Skala unterscheidet signifikant zwischen Müttern und Vätern.

Abschließende Diskussion und Wertung Allgemeines Eine ganze Reihe von Aspekten berechtigen dazu, die Qualität des entwickelten Fragebogens als positiv zu beurteilen. Zum einen zeigt die ausgezeichnete Rücklaufquote, dass viele Eltern Interesse an diesem Thema haben und auch, dass die Items »akzeptiert« werden22. Erwähnenswert ist hier insbesondere noch einmal, dass es sich bei 22 Sogar Eltern, deren Kind unter 3 oder über 18 Jahre alt war, füllten den Fragebogen aus, obwohl dieser dann für das Alter viel schlechter zu beantworten ist. Diese Bögen gingen

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»Elterliche Präsenz«

dem verteilten Fragebogen um die aufwändige Vorform (180 Items) handelt. Die verkürzte Endform des Fragebogens dürfte eine noch breitere Akzeptanz und ein noch höheres Interesse finden. Zum anderen kann davon ausgegangen werden, dass die Stichprobe im Rahmen der Möglichkeiten dieser Arbeit als repräsentativ angesehen werden kann,was eine vorsichtige Verallgemeinerung der Daten ermöglicht. Eine einzige Einschränkung bezüglich der Repräsentativität ist aufgrund des Ungleichgewichtes der Anzahl der Männer und Frauen zu machen.

Gütekriterien Reliabilität: Die Reliabilitäten der gefundenen drei Skalen sind als gut bis sehr gut zu bezeichnen. Leider konnte die dritte Skala nur heuristisch in zwei Unterskalen unterteilt werden, da eine der beiden Bereiche eine geringere Reliabilität als .80 aufwies. Neben den Reliabilitäten der Skalen wurde auch auf die korrigierten Trennschärfen der Items geachtet, diese liegen bei allen Items über .30. Validität: Erste Hinweise liegen vor, die weitere Untersuchungen mit diesem Instrument erfolgversprechend sein lassen. – Es kann davon ausgegangen werden, dass eine inhaltliche Validität des Fragebogens gegeben ist, da sich die Itemgenerierung hauptsächlich auf ein Expertenrating stützt. Die restlichen Items stammen aus zwei Fragebögen. – Die Integrierung des Fragebogens zur elterlichen Hilflosigkeit in den ersten Faktor könnte ein Indiz für das Vorliegen von Kriteriumsvalidität sein. – Die aufweisbaren Beziehungen unserer Skalen zu Beschreibungen der Kinder als problematisch/unproblematisch durch die Eltern, zum Geschlecht der Eltern und zu den Sorgen, die sie sich machen, sind ebenfalls Hinweise auf die Validität des Fragebogens. – Weiterhin kann die berechnete Faktorenanalyse in Form einer faktoriellen Validität als Konstruktvalidierung angesehen werden. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die drei extrahierten Faktoren eine relativ geringe Gesamtvarianz aufklären.

Offene kritische Fragen Der Fragebogen ist bislang nicht für allein erziehende Elternteile auswertbar, wobei dieses Problem sich hauptsächlich auf die dritte Skala »Kooperation auf Paarebene nicht in die Analyse mit ein. Einige Eltern schrieben frei Kommentare auf, wie sehr sie das Ausfüllen bereits zum Nachdenken über ihre Rolle als Eltern angeregt habe. Gelegentlich ergab sich aus dem Fragebogen eine Beratungsanfrage, die zu Weiterverweisung an eine Beratungsstelle führte.

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Amelie Köllner, Barbara Ollefs und Arist von Schlippe

und im sozialen Umfeld« bezieht. Aufgrund einer zu geringen Reliabilität des Bereiches »Kooperation im sozialen Umfeld« kann es nicht zu einer Bildung von Unterskalen kommen. Außerdem sollte bei einer Weiterentwicklung des Fragebogens berücksichtigt werden, nach verschiedenen Altersgruppen der Kinder zu unterscheiden, so dass wichtige Items, die aufgrund der Alterskorrelation herausgenommen wurden, Bestandteil des Fragebogens sein könnten. Zunächst ist der Fragebogen nur für Elternteile von Kindern im Alter von 3 bis 18 Jahren beantwortbar. Schließlich ist noch hinzuzufügen, dass natürlich auch weiterhin daran gearbeitet werden sollte, das Konstrukt der elterlichen Präsenz noch besser zu erfassen als mit den bisherigen drei Skalen. Die bislang geringe Gesamtvarianzaufklärung der Faktorenanalyse lässt es sinnvoll erscheinen, hier noch weitere Skalen zu entwickeln.

Literatur Avraham-Krehwinkel, C. (2001). Parental Helplessness Questionnaire. Tel Aviv (unveröffentlicht). Bandura, A. (1997). Self-efficacy. The exercise of control. New York: Freeman & Company. Davison, G. C., Neale, J. M., Hautzinger, M. (Hrsg.) (2002). Klinische Psychologie. Weinheim: Beltz/Psychologie Verlags Union. Köllner, A. (2004). Elterliche Präsenz. Entwicklung einer Skala. Osnabrück: Unveröffentlichte Diplomarbeit am FB Humanwissenschaften der Universität. Omer, H., Schlippe, A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Pleyer, K. H. (2003). »Parentale Hilflosigkeit«, ein systemisches Konstrukt für die therapeutische und pädagogische Arbeit mit Kindern. Familiendynamik, 28 (4), 467–491. Pleyer, K. H. (2004). Co-traumatische Prozesse in der Eltern-Kind-Beziehung. Systhema, 18 (2), 132–149. Reitzle, M., Winkler Metzke, C., Steinhausen, H.-C. (2001). Eltern und Kinder: Der Zürcher Kurzfragebogen zum Erziehungsverhalten (ZKE). Diagnostica, 47 (4), 196–207. Saile, H. (2000). Fragebogen zur Erfassung von Kompetenzüberzeugung und Selbstwertgefühl als Eltern (FKSE). Skalenkonstruktion und teststatistische Überprüfung. Trierer Psychologische Berichte. Band 27, Heft 1. Tsirigotis, C., Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (Hrsg.) (2006). Coaching für Eltern. Mütter, Väter und »Job«. Heidelberg: Carl Auer Systeme. Weinblatt, U. (2004). Non-Violent-Resistance. An intervention model for the treatment of parents of aggressive children. Unveröffentlichter Vortrag zur Tagung »Die Kunst des gewaltlosen Widerstandes gegenüber destruktivem Verhalten von Kindern und Jugendlichen – Elterliche Präsenz als systemisches Konzept«.

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Fragebogen zur elterlichen Präsenz

Anhang

FragebogenzurelterlichenPräsenz

Anhang Fragebogen zur elterlichen Präsenz (© Köllner u. von Schlippe 2004) – Im Folgenden geht es darum, wie Sie sich als Mutter bzw. Vater erleben. – Bitte konzentrieren Sie sich dabei auf nur eines Ihrer Kinder, auch wenn Sie mehrere Kinder haben. – Bitte beginnen Sie hier: Ich bin: Der Fragebogen bezieht sich auf: m Mutter m meine Tochter m Vater m meinen Sohn Mein Alter: ________ Jahre Alter des Kindes: ________ Jahre – Bitte überlegen Sie bei jeder der folgenden Aussage, ob und wie sehr sie für Sie zutrifft. Sie können dabei entscheiden zwischen: trifft nicht zu

trifft eher nicht zu

trifft teilweise zu

trifft eher zu

trifft genau zu

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…

– Bei den Fragen, die den Partner betreffen, gibt es noch die € für den Fall, dass Sie ohne Partner leben. – Besonders wichtig ist es, dass Sie für alle Aussagen ein Kreuz machen. Bitte lassen Sie nichts aus! – Wenn Sie sich nicht ganz sicher sind, kreuzen Sie einfach das für Sie am besten Passende an.

trifft nicht zu

trifft eher nicht zu

trifft teilweise zu

trifft eher zu

trifft genau zu

1.

In schwierigen Auseinandersetzungen mit meinem Kind kenne ich mich manchmal selber nicht mehr.

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…

2.

Mein Partner denkt, dass ich meinem Kind eine gute Mutter/ein guter Vater bin.

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3.

In Erziehungsfragen fühle ich mich kompetent.

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4.

Ich kenne andere Eltern, mit denen ich meine Erfahrungen austauschen kann.

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„

…

5.

Ich weiß, was mein Kind beschäftigt.



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…

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passt nicht, da kein Partner

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Anhang trifft nicht zu

trifft eher nicht zu

trifft teilweise zu

trifft eher zu

trifft genau zu

6.

Ich fühle mich wie ein Diener meines Kin-  des.

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…

7.

Bei Auseinandersetzungen mit meinem Kind rede ich auch von meinen eigenen Gedanken und Gefühlen.

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…

8.

Andere dürfen nicht mitkriegen, was wirk-  lich bei uns in der Familie los ist.

‚

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…

9.

Mein Kind kann ohne ersichtlichen Grund Ausraster haben.

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…

10. In der Vergangenheit habe ich meist richtig gegenüber meinem Kind gehandelt.



‚

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…

11. Ich habe Angst davor, dass mir mein Kind entgleitet.



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12. Ich habe als Mutter/Vater versagt.

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…

13. Ich kann die Stimmung meines Kindes er-  kennen.

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„

…

14. Ich bin es wert, als Mutter/Vater von meinem Kind geachtet zu werden.



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„

…

15. Meine Erziehungsbemühungen werden von meinem Partner durchkreuzt.



‚

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„

…

16. Durch mein Verhalten ermögliche ich es meinem Kind, Gefühle und Probleme anzusprechen.



‚

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„

…

17. Wenn ich an mein Kind denke, fühle ich mich bedrückt.



‚

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„

…

18. Es gibt Situationen, in denen ich mein Kind in seinem Zimmer aufsuche.



‚

ƒ

„

…

19. Meine Kompetenz als Mutter/Vater zeigt  sich auch in anderen Bereichen meines sozialen Lebens.

‚

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„

…

20. Durch das Verhalten meines Kindes verlie-  re ich meine Selbstbeherrschung.

‚

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„

…

21. Ich glaube, dass mein Kind das Bild hat, dass ich hinter ihm stehe.

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‚

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„

…

22. Mein Partner wirft mir die Verhaltensprobleme meines Kindes vor.



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„

…

23. Ich habe Angst vor meinem Kind.

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„

…

24. Ich fühle mich minderwertig, wenn ich an-  dere Mütter/Väter sehe.

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…

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passt nicht, da kein Partner

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Fragebogen zur elterlichen Präsenz trifft nicht zu

trifft eher nicht zu

trifft teilweise zu

trifft eher zu

trifft genau zu

25. Ich kenne die Hobbys meines Kindes.



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…

26. Konflikte mit meinem Kind halte ich vor anderen geheim.

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„

…

27. Ich besitze die Fähigkeiten, das Verhalten meines Kindes zu beeinflussen.



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„

…

28. Mein Kind glaubt, dass ich gegen es bin.



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„

…

29. Ich bin hilflos gegenüber den Wutausbrüchen meines Kindes.



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„

…

30. Ich habe mindestens eine gute Freundin/einen guten Freund, mit der/dem ich über Erziehungsprobleme sprechen kann.



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„

…

31. Ich nehme mir Zeit für mein Kind.



‚

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„

…

32. Ich weiß, wie ich »vernünftiges« Verhalten bei meinem Kind bewirken kann.



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„

…

33. Mein Kind und ich streiten ziemlich oft.



‚

ƒ

„

…

34. Auf meine Intuition als Mutter/Vater kann ich mich verlassen.



‚

ƒ

„

…

35. Ich fühle mich egoistisch, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse ausdrücke.



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„

…

36. Ich habe Angst, in der Erziehung viel falsch gemacht zu haben.



‚

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„

…

37. Ich kann mir im Notfall Hilfe holen.



‚

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„

…

38. Mein Kind droht, sich selbst zu verletzen, falls ich seine Forderungen nicht erfülle.



‚

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„

…

39. Ich spüre, wie es meinem Kind geht.



‚

ƒ

„

…

40. Mein Kind bringt mich dazu, mich auf eine für mich unangemessene Art und Weise zu verhalten.



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…

41. Mein Partner sabotiert gezielt meine Erzie-  hungsbemühungen.

‚

ƒ

„

…

42. Ich bin aufmerksam für mein Kind.



‚

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„

…

43. Mein Kind kann mir gegenüber gemein und verletzend sein.



‚

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…

44. Mein Kind erpresst mich emotional (es be-  hauptet, dass ich es nicht liebe, dass es benachteiligt wird usw.).

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…

45. Ich traue mich nicht, jemanden um Hilfe zu fragen, wenn ich Probleme mit meinem Kind habe.

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Anhang trifft nicht zu

trifft eher nicht zu

trifft teilweise zu

trifft eher zu

trifft genau zu

46. Wenn ich an meine Rolle als Mutter/Vater denke, habe ich insgesamt ein schlechtes Gewissen.



‚

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„

…

47. Ich fördere die Interessen meines Kindes.



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„

…

48. Ich bin mir sicher, in Erziehungsfragen kann mir niemand helfen.



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„

…

49. Bei Problemen mit meinem Kind gibt mein Partner mir die Schuld.

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„

…

50. Mein Kind glaubt nicht, dass ich meine Androhungen wahr mache, daher sind sie wirkungslos.

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„

…

51. Ich unterhalte mich mit meinem Kind.



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…

52. Ich spreche mit meinem Partner über die Probleme in der Erziehung.

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„

…

53. Ich fühle mich schwach gegenüber meinem Kind.



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„

…

54. Meine Verwandten/Freunde sabotieren ge-  zielt meine Erziehungsbemühungen.

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„

…

55. Ich habe das Gefühl, dass das, was ich tue, Ausdruck meiner eigenen Gefühle und Werte ist.

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„

…

56. Ich habe verschiedene Erziehungsmethoden vergeblich ausprobiert.

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…

57. Ich fürchte mich vor den verbalen und körperlichen Reaktionen meines Kindes.

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…

58. Ich verbringe gern Zeit mit meinem Kind.



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…

59. Ich habe das Gefühl, dass es Menschen gibt, die auf meiner Seite stehen.



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„

…

60. Ich versuche, an das Gewissen meines Kin-  des zu appellieren, aber es ignoriert mich.

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…

61. Es interessiert mich, was mein Kind beschäftigt.



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…

62. Ich denke, dass ich eine gute Mutter/ein guter Vater bin.



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…

63. Ich tausche meine Erfahrungen mit anderen Eltern aus.

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…

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Fragebogen zur elterlichen Präsenz

Zuordnung der Items zu den Skalen 1. Skala: Beschreibung der eigenen Person und des Kindes (depressiv negativ vs. konstruktiv positiv) Hierzu gehören die folgenden Itemnummern: 1, 6, 9, 11, 12, 17, 20, 23, 24, 28, 29, 33, 35, 36, 38, 40, 43, 44, 46, 50, 53, 56, 57, 60 Negativ gepolt sind die Itemnummern: 10, 21, 62 2. Skala: Kompetenzüberzeugung und aktives Interesse am Kind

Hierzu gehören die folgenden Itemnummern: 3, 5, 7, 13, 14, 16, 18, 19, 25, 27, 31, 32, 34, 39, 42, 47, 51, 55, 58, 61 Kein negativ gepoltes Item 3. Skala: Kooperation auf Paarebene und im sozialen Umfeld

Hierzu gehören die folgenden Itemnummern: 8, 15, 22, 26, 41, 45, 48, 49, 54 Negativ gepolt sind die Itemnummern: 2, 4, 30, 37, 52, 59, 63 Rotierte Komponentenmatrix der Faktorenanalyse mit 63 Items (aiI, aiII, aiIII: Faktorladungen; h2: Kommunalität) Item

aiI

aiII

aiIII

h2

40. Mein Kind bringt mich dazu, mich auf eine für mich unangemessene Art und Weise zu verhalten.

0,756

29. Ich bin hilflos gegenüber den Wutausbrüchen meines Kindes.

0,708

36. Ich habe Angst, in der Erziehung viel falsch gemacht zu haben.

0,656

0,442

20. Durch das Verhalten meines Kindes verliere ich meine Selbstbeherrschung.

0,612

–0,131 –0,106 0,403

46. Wenn ich an meine Rolle als Mutter/Vater denke, habe ich insgesamt ein schlechtes Gewissen.

0,609

–0,243 0,230

0,483

1.

0,604

–0,166

0,395

56. Ich habe verschiedene Erziehungsmethoden vergeblich ausprobiert.

0,592

–0,159 0,257

0,441

33. Mein Kind und ich streiten ziemlich oft.

0,583

–0,124

0,356

17. Wenn ich an mein Kind denke, fühle ich mich bedrückt.

0,580

–0,135 0,228

0,407

53. Ich fühle mich schwach gegenüber meinem Kind.

0,567

–0,222

0,375

43. Mein Kind kann mir gegenüber gemein und verletzend sein.

0,557

9.

0,534

In schwierigen Auseinandersetzungen mit meinem Kind kenne ich mich manchmal selber nicht mehr.

Mein Kind kann ohne ersichtlichen Grund Ausraster haben.

0,582 –0,103

0,512

0,320 0,118

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0,113

0,312

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Anhang

Item

aiI

60. Ich versuche, an das Gewissen meines Kindes zu appellie- 0,528 ren, aber es ignoriert mich.

aiII

aiIII

h2

–0,196 0,141

0,337

0,229

0,317

38. Mein Kind droht, sich selbst zu verletzen, falls ich seine Forderungen nicht erfülle.

0,509

10. In der Vergangenheit habe ich meist richtig gegenüber meinem Kind gehandelt.

–0,498 0,424

0,433

57. Ich fürchte mich vor den verbalen und körperlichen Reaktionen meines Kindes.

0,474

0,234

21. Ich glaube, dass mein Kind das Bild hat, dass ich hinter ihm stehe.

–0,471 0,321

0,327

62. Ich denke, dass ich eine gute Mutter/ein guter Vater bin.

–0,464 0,330

–0,152 0,347

24. Ich fühle mich minderwertig, wenn ich andere Mütter/Väter sehe.

0,464

44. Mein Kind erpresst mich emotional (es behauptet, dass ich es nicht liebe, dass es benachteiligt wird usw.).

0,456

28. Mein Kind glaubt, dass ich gegen es bin.

0,446

12. Ich habe als Mutter/Vater versagt.

0,440

–0,195 0,281

0,310

35. Ich fühle mich egoistisch, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse ausdrücke.

0,428

–0,163 0,149

0,232

23. Ich habe Angst vor meinem Kind.

0,428

11. Ich habe Angst davor, dass mir mein Kind entgleitet.

0,424

6.

0,373

Ich fühle mich wie ein Diener meines Kindes.

50. Mein Kind glaubt nicht, dass ich meine Androhungen wahr mache, daher sind sie wirkungslos.

–0,147 0,225

0,259 0,203

0,186 0,175

0,216 0,147

0,328

55. Ich habe das Gefühl, dass das, was ich tue, Ausdruck meiner eigenen Gefühle und Werte ist.

0,238

0,225 0,630

0,163 0,408

39. Ich spüre, wie es meinem Kind geht.

–0,186 0,621

0,422

42. Ich bin aufmerksam für mein Kind.

0,616

0,392

25. Ich kenne die Hobbys meines Kindes.

0,611

–0,164 0,401

–0,291 0,604

0,451

0,585

–0,104 0,359

0,554

–0,159 0,350

51. Ich unterhalte mich mit meinem Kind.

–0,177 0,541

–0,192 0,361

31. Ich nehme mir Zeit für mein Kind.

–0,282 0,526

–0,136 0,375

13. Ich kann die Stimmung meines Kindes erkennen.

0,504

0,261

27. Ich besitze die Fähigkeiten, das Verhalten meines Kindes zu beeinflussen.

0,492

0,243

16. Durch mein Verhalten ermögliche ich es meinem Kind, Gefühle und Probleme anzusprechen. 47. Ich fördere die Interessen meines Kindes. 7.

Bei Auseinandersetzungen mit meinem Kind rede ich auch von meinen eigenen Gedanken und Gefühlen.

0,134

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Fragebogen zur elterlichen Präsenz

Item

aiI

aiII

aiIII

h2

34. Auf meine Intuition als Mutter/Vater kann ich mich verlassen.

–0,219 0,467

0,273

58. Ich verbringe gern Zeit mit meinem Kind.

–0,279 0,433

–0,127 0,281

3.

–0,329 0,423

In Erziehungsfragen fühle ich mich kompetent.

0,294

32. Ich weiß, wie ich »vernünftiges« Verhalten bei meinem Kind bewirken kann.

–0,303 0,421

0,254

18. Es gibt Situationen, in denen ich mein Kind in seinem Zimmer aufsuche.

0,203

0,410

–0,120 0,224

61. Es interessiert mich, was mein Kind beschäftigt.

0,124

0,401

–0,152 0,199

19. Meine Kompetenz als Mutter/Vater zeigt sich auch in anderen Bereichen meines sozialen Lebens.

–0,214 0,401

0,208

0,400

0,173

14. Ich bin es wert, als Mutter/Vater von meinem Kind geach- –0,122 0,399 tet zu werden.

–0,193 0,212

49. Bei Problemen mit meinem Kind gibt mein Partner mir die Schuld.

0,158

0,668

0,493

41. Mein Partner sabotiert gezielt meine Erziehungsbemühungen.

0,273

0,589

0,422

63. Ich tausche meine Erfahrungen mit anderen Eltern aus.

0,227

0,284

–0,580 0,469

4.

0,210

0,250

–0,559 0,419

5.

Ich weiß, was mein Kind beschäftigt.

Ich kenne andere Eltern, mit denen ich meine Erfahrungen austauschen kann.

0,144

15. Meine Erziehungsbemühungen werden von meinem Partner durchkreuzt.

0,279

22. Mein Partner wirft mir die Verhaltensprobleme meines Kindes vor.

0,293

52. Ich spreche mit meinem Partner über die Probleme in der Erziehung.

–0,206 0,201

0,182

48. Ich bin mir sicher, in Erziehungsfragen kann mir niemand helfen.

0,334

0,557

0,390

0,551

0,422

–0,521 0,354 0,515

0,268

59. Ich habe das Gefühl, dass es Menschen gibt, die auf meiner Seite stehen.

–0,199 0,424

–0,502 0,472

30. Ich habe mindestens eine gute Freundin/einen guten Freund, mit der/dem ich über Erziehungsprobleme sprechen kann.

0,125

0,335

–0,490 0,368

45. Ich traue mich nicht, jemanden um Hilfe zu fragen, wenn ich Probleme mit meinem Kind habe.

0,143

–0,241 0,487

37. Ich kann mir im Notfall Hilfe holen.

–0,115 0,131

–0,436 0,221

54. Meine Verwandten/Freunde sabotieren gezielt meine Erziehungsbemühungen.

0,173

0,417

0,234

8.

0,242

0,385

0,210

Andere dürfen nicht mitkriegen, was wirklich bei uns in der Familie los ist.

0,173

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491096 — ISBN E-Book: 9783647491097

0,315

258

Anhang

Item

aiI

26. Konflikte mit meinem Kind halte ich vor anderen geheim. 2.

Mein Partner denkt, dass ich meinem Kind eine gute Mutter/ein guter Vater bin.

aiII

aiIII

–0,181 0,368 –0,225 0,154

h2 0,170

–0,325 0,180

Trennschärfetabellen der drei Skalen Korrigierte Trennschärfen und andere Daten der ersten Skala Item

Kodierung

Korrigierte Trennschärfe

Alpha bei Ausschluss des Items

Mein Kind bringt mich dazu, mich auf ei- Item 40 ne für mich unangemessene Art und Weise zu verhalten.

0,6881

0,9083

Ich bin hilflos gegenüber den Wutausbrü- Item 29 chen meines Kindes.

0,6999

0,9086

Ich habe Angst, in der Erziehung viel falsch gemacht zu haben.

Item 36

0,6665

0,9087

Durch das Verhalten meines Kindes verliere ich meine Selbstbeherrschung.

Item 20

0,5205

0,9115

Wenn ich an meine Rolle als Mutter/VaItem 46 ter denke, habe ich insgesamt ein schlechtes Gewissen.

0,6695

0,9092

In schwierigen Auseinandersetzungen Item 1 mit meinem Kind kenne ich mich manchmal selber nicht mehr.

0,5293

0,9114

Ich habe verschiedene Erziehungsmethoden vergeblich ausprobiert.

Item 56

0,6418

0,9095

Mein Kind und ich streiten ziemlich oft.

Item 33

0,5090

0,9117

Wenn ich an mein Kind denke, fühle ich mich bedrückt.

Item 17

0,6188

0,9099

Ich fühle mich schwach gegenüber meinem Kind.

Item 53

0,6247

0,9098

Mein Kind kann mir gegenüber gemein und verletzend sein.

Item 43

0,4360

0,9132

Mein Kind kann ohne ersichtlichen Grund Ausraster haben.

Item 9

0,4757

0,9135

Ich versuche, an das Gewissen meines Kindes zu appellieren, aber es ignoriert mich.

Item 60

0,5969

0,9103

Mein Kind droht, sich selbst zu verletzen, falls ich seine Forderungen nicht erfülle.

Item 38

0,4194

0,9134

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259

Fragebogen zur elterlichen Präsenz

Item

Kodierung

Korrigierte Trennschärfe

Alpha bei Ausschluss des Items

In der Vergangenheit habe ich meist rich- Item 10 um tig gegenüber meinem Kind gehandelt.

0,5164

0,9117

Ich fürchte mich vor den verbalen und körperlichen Reaktionen meines Kindes.

Item 57

0,4880

0,9121

Ich glaube, dass mein Kind das Bild hat, dass ich hinter ihm stehe.

Item 21 um

0,4777

0,9123

Ich denke, dass ich eine gute Mutter/ein guter Vater bin.

Item 62 um

0,5437

0,9112

Ich fühle mich minderwertig, wenn ich andere Mütter/Väter sehe.

Item 24

0,4975

0,9119

Mein Kind erpresst mich emotional (es behauptet, dass ich es nicht liebe, dass es benachteiligt wird usw.).

Item 44

0,4004

0,9134

Mein Kind glaubt, dass ich gegen es bin.

Item 28

0,4869

0,9122

Ich habe als Mutter/Vater versagt.

Item 12

0,5522

0,9116

Ich fühle mich egoistisch, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse ausdrücke.

Item 35

0,4412

0,9129

Ich habe Angst vor meinem Kind.

Item 23

0,4503

0,9129

Ich habe Angst davor, dass mir mein Kind entgleitet.

Item 11

0,4353

0,9147

Ich fühle mich wie ein Diener meines Kindes.

Item 6

0,3530

0,9146

Mein Kind glaubt nicht, dass ich meine Androhungen wahr mache, daher sind sie wirkungslos.

Item 50

0,3826

0,9141

Korrigierte Trennschärfen und andere Daten der zweiten Skala Item

Kodierung

Korrigierte Trennschärfe

Alpha bei Ausschluss des Items

Ich habe das Gefühl, dass das, was ich tue, Ausdruck meiner eigenen Gefühle und Werte ist.

Item 55

0,4533

0,8663

Ich spüre, wie es meinem Kind geht.

Item 39

0,5990

0,8617

Ich bin aufmerksam für mein Kind.

Item 42

0,5982

0,8617

Ich kenne die Hobbys meines Kindes.

Item 25

0,5387

0,8642

Durch mein Verhalten ermögliche ich es Item 16 meinem Kind, Gefühle und Probleme anzusprechen.

0,6074

0,8604

Ich fördere die Interessen meines Kindes.

0,5214

0,8638

Item 47

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260

Anhang

Item

Kodierung

Korrigierte Trennschärfe

Alpha bei Ausschluss des Items

Bei Auseinandersetzungen mit meinem Kind rede ich auch von meinen eigenen Gedanken und Gefühlen.

Item 7

0,3964

0,8683

Ich unterhalte mich mit meinem Kind.

Item 51

0,4788

0,8665

Ich nehme mir Zeit für mein Kind.

Item 31

0,5660

0,8617

Ich kann die Stimmung meines Kindes erkennen.

Item 13

0,4884

0,8648

Ich besitze die Fähigkeiten, das Verhalten meines Kindes zu beeinflussen.

Item 27

0,4599

0,8658

Auf meine Intuition als Mutter/Vater kann ich mich verlassen.

Item 34

0,5328

0,8634

Ich verbringe gern Zeit mit meinem Kind. Item 58

0,5256

0,8637

In Erziehungsfragen fühle ich mich kom- Item 3 petent.

0,4679

0,8657

Ich weiß, wie ich »vernünftiges« Verhalten bei meinem Kind bewirken kann.

Item 32

0,4484

0,8662

Es gibt Situationen, in denen ich mein Kind in seinem Zimmer aufsuche.

Item 18

0,3121

0,8743

Es interessiert mich, was mein Kind beschäftigt.

Item 61

0,3495

0,8694

Meine Kompetenz als Mutter/Vater zeigt sich auch in anderen Bereichen meines sozialen Lebens.

Item 19

0,3799

0,8691

Ich weiß, was mein Kind beschäftigt.

Item 5

0,4669

0,8656

0,4049

0,8678

Ich bin es wert, als Mutter/Vater von mei- Item 14 nem Kind geachtet zu werden.

Korrigierte Trennschärfen und andere Daten der dritten Skala Item

Kodierung

Korrigierte Trennschärfe

Alpha bei Ausschluss des Items

Bei Problemen mit meinem Kind gibt mein Partner mir die Schuld.

Item 49

0,5011

0,8126

Mein Partner sabotiert gezielt meine Erziehungsbemühungen.

Item 41

0,5292

0,8154

Ich tausche meine Erfahrungen mit ande- Item 63 um ren Eltern aus.

0,5045

0,8120

Ich kenne andere Eltern, mit denen ich meine Erfahrungen austauschen kann.

Item 4 um

0,4465

0,8162

Meine Erziehungsbemühungen werden von meinem Partner durchkreuzt.

Item 15

0,4501

0,8156

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261

Fragebogen zur elterlichen Präsenz

Item

Kodierung

Korrigierte Trennschärfe

Alpha bei Ausschluss des Items

Mein Partner wirft mir die Verhaltensprobleme meines Kindes vor.

Item 22

0,4632

0,8150

Ich spreche mit meinem Partner über die Item 52 um Probleme in der Erziehung.

0,5141

0,8116

Ich bin mir sicher, in Erziehungsfragen kann mir niemand helfen.

Item 48

0,3953

0,8203

Ich habe das Gefühl, dass es Menschen gibt, die auf meiner Seite stehen.

Item 59 um

0,5004

0,8134

Ich habe mindestens eine gute FreunItem 30 um din/einen guten Freund, mit der/dem ich über Erziehungsprobleme sprechen kann.

0,4170

0,8181

Ich traue mich nicht, jemanden um Hilfe Item 45 zu fragen, wenn ich Probleme mit meinem Kind habe.

0,4859

0,8143

Ich kann mir im Notfall Hilfe holen.

Item 37 um

0,3867

0,8194

Meine Verwandten/Freunde sabotieren gezielt meine Erziehungsbemühungen.

Item 54

0,3710

0,8207

Andere dürfen nicht mitkriegen, was wirklich bei uns in der Familie los ist.

Item 8

0,3962

0,8191

Konflikte mit meinem Kind halte ich vor anderen geheim.

Item 26

0,3291

0,8225

Mein Partner denkt, dass ich meinem Kind eine gute Mutter/ein guter Vater bin.

Item 2 um

0,3746

0,8200

Korrigierte Trennschärfen und andere Daten des ersten Bereiches 3.a) (soziales Umfeld) der dritten Skala Item

Kodierung

Korrigierte Trennschärfe

Alpha bei Ausschluss des Items

Ich kenne andere Eltern, mit denen ich meine Erfahrungen austauschen kann.

Item 4 um

0,5212

0,7217

Andere dürfen nicht mitkriegen, was wirklich bei uns in der Familie los ist.

Item 8

0,3574

0,7467

Konflikte mit meinem Kind halte ich vor anderen geheim.

Item 26

0,3570

0,7454

Ich habe mindestens eine gute FreunItem 30 um din/einen guten Freund, mit der/dem ich über Erziehungsprobleme sprechen kann.

0,4634

0,7306

Ich traue mich nicht, jemanden um Hilfe Item 45 zu fragen, wenn ich Probleme mit meinem Kind habe.

0,4520

0,7343

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262

Anhang

Item

Kodierung

Korrigierte Trennschärfe

Alpha bei Ausschluss des Items

Meine Verwandten/Freunde sabotieren gezielt meine Erziehungsbemühungen.

Item 54

0,2919

0,7524

Ich habe das Gefühl, dass es Menschen gibt, die auf meiner Seite stehen.

Item 59 um

0,5113

0,7263

Ich kann mir im Notfall Hilfe holen.

Item 37 um

0,3463

0,7465

Ich bin mir sicher, in Erziehungsfragen kann mir niemand helfen.

Item 48

0,2851

0,7455

0,5399

0,7186

Ich tausche meine Erfahrungen mit ande- Item 63 um ren Eltern aus.

Korrigierte Trennschärfen und andere Daten des zweiten Bereiches 3.b) (Paarebene) der dritten Skala Item

Kodierung

Korrigierte Trennschärfe

Alpha bei Ausschluss des Items

Mein Partner denkt, dass ich meinem Item 2 um Kind eine gute Mutter/ein guter Vater bin.

0,4586

0,8057

Mein Partner wirft mir die Verhaltensprobleme meines Kindes vor.

Item 22

0,6177

0,7772

Meine Erziehungsbemühungen werden von meinem Partner durchkreuzt.

Item 15

0,5943

0,7783

Mein Partner sabotiert gezielt meine Erziehungsbemühungen.

Item 41

0,5605

0,7949

Bei Problemen mit meinem Kind gibt mein Partner mir die Schuld.

Item 49

0,7242

0,7472

0,5595

0,7865

Ich spreche mit meinem Partner über die Item 52 um Probleme in der Erziehung.

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263

Fragebogen zur elterlichen Präsenz

Normierungstabellen 1. Skala: Rohwert

Prozentwert Frauen

Rohwert

Männer

T-Wert Frauen

Männer

27

34

33

28

34

34

29

35

35

30

36

36

31

37

37

27

0,8

28

1,7

29

2,5

31

5,8

32

7,4

33

9,9

11,1

32

38

38

34

10,7

16,7

33

38

39

35

19,0

19,4

34

39

40

36

22,3

35

40

41

37

2,8

8,3

25,0

36

41

42

38

24,0

36,1

37

41

43

39

26,4

41,7

38

42

44

40

30,6

39

43

45

41

34,7

40

44

46

42

36,4

41

44

47

43

38,0

55,6

42

45

48

44

40,5

58,3

43

46

49

45

48,8

61,1

44

47

50

46

50,4

45

47

51

47

54,5

69,4

46

48

52

48

57,0

72,2

47

49

53

49

60,3

48

50

54

50

65,3

49

50

55

51

66,9

50

51

56

52

72,7

75,0

51

52

57

53

73,6

80,6

52

53

58

54

74,4

53

54

59

55

75,2

83,3

54

54

60

56

76,9

91,7

55

55

61

57

78,5

56

56

62

58

79,3

57

57

63

52,8

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264

Anhang

Rohwert

Prozentwert Frauen

Rohwert

Männer

T-Wert Frauen

Männer

59

80,2

58

57

64

60

81,0

94,4

59

58

65

61

83,5

97,2

60

59

66

62

85,1

61

60

67

63

86,0

62

60

68

64

86,8

63

61

69

65

88,4

64

62

70

67

89,3

65

63

71

68

90,1

66

63

72

69

92,6

67

64

73

70

94,2

68

65

74

73

95,0

69

66

75

74

95,9

70

67

76

77

96,7

71

67

77

78

97,5

72

68

78

83

98,3

73

69

79

85

99,2

74

70

80

90

100,0

75

70

82

76

71

83

77

72

84

78

73

85

79

73

86

80

74

87

81

75

88

82

76

89

83

76

90

84

77

91

85

78

92

86

79

93

87

79

94

88

80

95

89

81

96

90

82

97

91

83

98

100,0

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491096 — ISBN E-Book: 9783647491097

265

Fragebogen zur elterlichen Präsenz

Rohwert

Prozentwert Frauen

Rohwert

Männer

T-Wert Frauen

Männer

92

83

99

93

84

100

94

85

95

86

96

86

97

87

98

88

99

89

100

89

101

90

102

91

103

92

104

92

105

93

106

94

107

95

108

96

109

96

110

97

111

98

112

99

113

99

114

100

2. Skala: Rohwert

Prozentwert Frauen

Rohwert

Männer

T-Wert Frauen

64

0,8

46

1

66

2,5

47

2

67

3,3

48

3

2,8

Männer

68

4,1

49

5

1

69

5,0

50

6

2

51

7

4

52

9

5

71 72

5,6 6,6

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491096 — ISBN E-Book: 9783647491097

266

Anhang

Rohwert

Prozentwert Frauen

Männer

73

9,1

8,3

74

12,4

13,9

75

13,2

76 77 78

25,6

79

33,1

80

35,5

81

38,0

82

43,8

83

46,3

55,6

84

52,1

85 86

Rohwert

T-Wert Frauen

Männer

53

10

7

54

11

8

16,7

55

12

10

16,5

22,2

56

14

11

19,8

25,0

57

15

13

58

16

14

38,9

59

18

16

47,2

60

19

17

61

20

19

62

22

20

63

23

22

61,1

64

24

23

59,5

66,7

65

26

24

63,6

72,2

66

27

26

87

68,6

77,8

67

28

27

88

70,2

68

30

29

89

73,6

69

31

30

90

81,0

70

32

32

91

85,1

86,1

71

33

33

92

86,8

94,4

72

35

35

93

90,9

97,2

73

36

36

94

94,2

100,0

74

37

38

96

96,7

75

39

39

98

98,3

76

40

41

99

99,2

77

41

42

100

100,0

78

43

44

79

44

45

80

45

47

81

47

48

82

48

50

83

49

51

84

50

52

85

52

54

86

53

55

83,3

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Fragebogen zur elterlichen Präsenz

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Anhang

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Charlotte Kötter und Arist von Schlippe

»Coach ingimgewaltlosenWiderstand«

Charlotte Kötter und Arist von Schlippe

»Coaching im gewaltlosen Widerstand« – was ist das eigentlich genau? Ein Kategoriensystem zur Untersuchung von Beratungsprozessen auf der Mikroebene

Einführung Wofür ist die Analyse von Beratungsprozessen überhaupt nützlich? Mit der Veröffentlichung des Buches »Autorität ohne Gewalt« (Omer u. von Schlippe, 2002) wurde der Ansatz des gewaltlosen Widerstandes in der Erziehung von Haim Omer in Deutschland vorgestellt. Er stößt seitdem auf zunehmendes Interesse. Weitere Veröffentlichungen, Artikel, Workshops und Tagungen folgten und immer mehr Therapeuten, Berater und andere Berufsgruppen arbeiten mittlerweile mit diesem Ansatz beziehungsweise mit Teilen davon. Die theoretischen Grundlagen des Erziehungscoachings sind fundiert und erscheinen einleuchtend. Eine erste Untersuchung über die Effektivität des Ansatzes in Deutschland wird derzeit durchgeführt (Ollefs, in Vorbereitung). Effektivitätsstudien vergleichen häufig nur auf der Makroebene verschiedene Methoden in ihrer Gesamtauswirkung. Offen bleibt dabei noch, was sich konkret in den Beratungen abspielt und wodurch Effekte im Einzelnen erzielt werden. Es ist also zu prüfen, ob die Methode in der Studie sachgemäß angewendet wurde. Dies ist insbesondere die Frage bei komplexen Ansätzen, zu denen das Konzept des gewaltlosen Widerstands fraglos zählt. Hier besteht die Kunst eines Beraters ja gerade darin, die einzelnen Maßnahmen nicht einfach der Reihe nach abzuspulen, sondern sie flexibel auf den jeweiligen Prozess abzustimmen: in einem Fall brauchen die Eltern vorrangig Hilfe bei der Rekrutierung eines Unterstützersystems, in anderen Fällen ist es wichtiger, dass sie Konfliktsituationen deeskalieren. Dadurch werden schon die Schwierigkeiten einer wissenschaftlichen Überprüfung eines solchen Konzeptes ersichtlich. Sind überhaupt Gruppenvergleiche möglich, wenn jeder einzelne Prozess von vielen Faktoren (Engagement der Eltern, Einsicht und Verhalten des Kindes, Vorhandensein von Unterstützern usw.) abhängt? Um diese und weitere Fragen zu beantworten, muss man sich auf die Mikroebene begeben und eine Möglichkeit finden, einzelne Beratungsprozesse mit einer objektiven und standardisierten Methode zu analysieren. Nur so kann man erkennen, inwieweit ein Beratungsprozess eigentlich den Interventionen des gewaltlosen Wi-

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derstands folgt, welche Schwerpunkte in dem jeweiligen Prozess gesetzt werden und wodurch sich zum Beispiel erfolgreiche von weniger erfolgreichen Coachings unterscheiden. Im Rahmen einer Diplomarbeit am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Osnabrück (Fach Klinische Psychologie) (Kötter, 2005) wurde daher ein qualitatives Kategoriensystem erstellt, das es ermöglicht, Coachingprozesse auf der Basis des »gewaltlosen Widerstandes« detailliert zu betrachten und außerdem zu überprüfen, wie hoch der Anteil der konzeptkonformen Interventionen ist, also die Konzepttreue (auch Adhärenz genannt). Darüber hinaus ermöglicht die genaue Analyse von Gesprächen die Hervorhebung bestimmter Schwerpunkte und vernachlässigter Aspekte. Dieses könnte im Weiteren eventuell besondere Vor- und Nachteile des Konzeptes und/oder der Arbeit der Berater aufdecken. Ein unmittelbarer und praktischer Nutzen des Systems besteht darin, dass die einzelnen Schritte, die in dem Manual zum Elterncoaching (Ollefs u. von Schlippe, in diesem Band) detailliert aufgelistet sind, hier noch einmal »unter das Mikroskop« gelegt werden, so dass die einzelnen Arbeitsschritte leichter nachvollzogen werden können. Die so gewonnenen Informationen können wiederum genutzt werden für die Diskussion quantitativ ermittelter Effekte, denn die Effekte oder auch deren Ausbleiben können durch die qualitativ gewonnenen Daten genauer erklärt werden. In der hier beschriebenen Diplomarbeit wurde das erstellte Kategoriensystem an drei Beratungsprozessen, die auf der Basis des »gewaltlosen Widerstandes« von erfahrenen Beratern und Beraterinnen durchgeführt wurden, erprobt und fundiert.

Entwicklung des Kategoriensystems Grundlage des Kategoriensystems bildeten zum einen die theoretischen Texte von Omer und von Schlippe, zum anderen das »Manual für das Elterncoaching auf Basis des gewaltlosen Widerstandes« (Ollefs u. von Schlippe, in diesem Band). Schließlich waren die transkribierten Gespräche der vorliegenden Beratungsprozesse Grundlage für die Bildung und Präzisierung der Kategorien. Der größte Teil der Kategorien wurde dabei deduktiv aus den theoretischen Überlegungen des Manuals entnommen, das heißt jede Maßnahme, die dort vorgeschlagen wird, bildete eine Kategorie (z. B. »Sit-in«, »Versöhnungsgesten«). Die jeweiligen zu den einzelnen Kategorien gehörenden Subcodes wurden aus den Aspekten des praktischen Vorgehens abgeleitet, die das Manual zu jeder Intervention aufführt. Dies gilt für alle Maßnahmen des gewaltlosen Widerstandes (Ankündigung, Sit-in, Deeskalationsstrategien, Unterstützersystem, Versöhnungsgesten) sowie für die Zielklärung (welche ja nicht explizit eine Maßnahme des GLW darstellt). Die restlichen Kategorien, die sich auf der einen Seite mehr auf übergeordnete Aspekte eines Coachings beziehen (wie therapeutische Grundhaltung und Allianzbildung zwischen Berater und Eltern) und auf der anderen Seite solche Interven-

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tionen beinhalten, die nicht zum Konzept passen, wurden in weiten Teilen induktiv aus den vorliegenden Gesprächen abgeleitet. Hier bilden also nicht die theoretischen Überlegungen die Grundlage, sondern das vorhandene Untersuchungsmaterial aus der konkreten Praxis.

Das Kategoriensystem Das Kategoriensystem besteht insgesamt aus zehn Kategorien mit jeweils drei bis neun Subcodes. Sechs dieser Kategorien beziehen sich direkt auf Interventionen des gewaltfreien Widerstands, zwei auf übergeordnete Aspekte der therapeutischen Haltung und Allianzbildung und zwei auf andere Maßnahmen, die nicht dem Manual entstammen. Die zugehörigen Subcodes stellen die eigentliche Grundlage der Mikroanalyse dar. Sie unterteilen die übergeordneten Kategorien in die einzelnen Schritte, die in der Beratung gemacht werden. So gehören zum Beispiel zur Ankündigung nicht nur das Erklären dieser, sondern auch die (z. T. gemeinsame) Formulierung und die Besprechung der richtigen Situation. Dadurch ermöglicht die Analyse nicht nur zu beurteilen, ob eine Maßnahme angesprochen wurde, sondern auch, wie der Berater konkret mit den Eltern an dieser Maßnahme gearbeitet hat. Aufschlussreich wäre beispielsweise, ob Berater dazu tendieren, die Maßnahmen lediglich zu erklären, ohne weitere Übungen oder ähnliches durchzuführen. Da viele der Interventionen im gewaltlosen Widerstand für Eltern häufig ungewohnt sind und sich andere Verhaltensmuster über lange Zeit eingeschliffen haben, reicht es sicherlich häufig nicht, den Eltern lediglich die Maßnahmen zu beschreiben und ihre Wirkung theoretisch darzulegen. Aufgrund dieser feinen Gliederung der Kategorien in die Subcodes wird es möglich, diese voneinander abzugrenzen und eindeutig zu definieren. Dafür wurde bei der Herausarbeitung der Subcodes jeweils eine genaue und umfassende Definition erstellt und diese durch Ankerbeispiele aus den vorliegenden Beratungsgesprächen anschaulich gemacht und klarifiziert. Beispielhaft sollen nun zwei Kategorien (Ankündigung und Unterstützersystem) und ihre Subcodes ausgiebig vorgestellt werden. Dabei wird zuerst die Kategorie genannt und eine Übersicht über die zugehörigen Subcodes aufgeführt. Im Anschluss werden die Definitionen und Ankerbeispiele23 der Subcodes angegeben. Die anderen acht Kategorien werden anschließend kurz aufgeführt.

23 Die Ankerbeispiele stammen aus den drei begleiteten Beratungsprozessen. Namen und andere kennzeichnende Merkmale der Familien und Personen wurden aus Gründen des Datenschutzes verändert.

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Kategorie A: Ankündigung – – – – –

A1: Erklären der Ankündigung A2: Richtige Situation und Vorgehen besprechen A3: Formulierung der Ankündigung A4: Vorbereitung auf Reaktion des Kinds A5: Reflexion der Erfahrungen mit der Ankündigung

A1. Erklären der Ankündigung: Die Beraterin erklärt, welchen Sinn die Ankündigung hat (z. B. Veröffentlichung der Schritte; Transparenz schaffen, Verpflichtung schaffen) und welche Wirkung sie haben soll. Außerdem wird erklärt, was die Ankündigung nicht sein soll (Drohung, Forderungen usw.). So werden hier auch Aussagen der Berater codiert, wenn sie, während sie an der Formulierung der Ankündigung arbeiten, zu bestimmten Bereichen Erklärungen abgeben, warum der Bereich in der Ankündigung enthalten ist und wieso er auf bestimmte Weise formuliert werden sollte (z. B. wenn es sonst als Drohung verstanden werden kann). Beispiel: ». . . dass Sie sagen, was Sie verändern werden und wollen. Was Sie aber auch nicht wollen! Dass Sie es nicht gegen ihn richten, sondern dass Sie aus ihrer Elternschaft einfach das tun und tun müssen.« A2. Richtige Situation und Vorgehen besprechen: Unter diesen Subcode fallen gemeinsame Überlegungen, in welcher Situation die Ankündigung vorgenommen wird (dies kann konkret ein Zeitpunkt oder Ort sein oder eher abstrakt, welche Merkmale eine »gute« Situation hat). Es wird besprochen, wie die Ankündigung ablaufen kann, zum Beispiel, wer sie verliest. Wird ein Rollenspiel durchgeführt, werden dabei nur die Aussagen codiert, die sich explizit auf die »richtige« Vorgehensweise beziehen. Beispiel: »Angenommen wir würden so eine Ankündigung machen, wäre es denn aus Ihrer Sicht gesehen sinnvoll, das gemeinsam mit dem Vater zu machen?« A3. Formulierung der Ankündigung: Die Ankündigung wird gemeinsam mit der Familie formuliert oder der Entwurf der Familie wird gemeinsam durchgesprochen. Es wird festgelegt, was die Ankündigung enthalten soll, zum Beispiel auch, wenn im Zuge der Erarbeitung der Ankündigung überlegt wird, auf welche Verhaltensweisen sie sich beziehen soll. Werden allerdings dann übergeordnete Ziele des Coachings aufgezeigt, werden diesbezügliche Aussagen nicht mehr unter diesem Code, sondern unter »Besprechung der Ziele des Coachings« gefasst. Interventionen, die diesem Code zugeordnet werden, können sehr konkret Formulierungsvorschläge und -hilfen beinhalten oder eher abstrakte Aspekte über die inhaltliche Gestaltung. Beispiel: »Ja, obwohl ich das schon ’ne gute Einleitung finde: ›Nina, wir wollen mal eben mit dir sprechen.‹ Damit schafft man auch schon ’ne gute Atmo-

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sphäre und wenn Sie noch einen positiven Ausdruck dazu setzen wollen, in die Ankündigung selber, dürfen Sie das tun.« A4. Vorbereitung auf Reaktion des Kindes: Es wird überlegt, wie die Reaktion des Kindes auf die Ankündigung sein kann und wie die Eltern dann reagieren können, um nicht in Erklärungen oder Eskalationen zu geraten. Beispiel: »Wir können hier gemeinsam mögliche Störquellen durchgehen. Er kann sich die Ohren zuhalten oder rausrennen, was auch immer. Was können Sie dann tun? Wichtig ist aber die Botschaft, die Sie verkünden.« A5. Reflexion der Erfahrungen mit der Ankündigung: Die Berater regen die Eltern an, über ihre Erfahrungen mit der Ankündigung zu sprechen und zum Beispiel zu überlegen, was gut gelaufen ist und wo es Schwierigkeiten gab oder wie die Reaktion des Kindes und das eigene Befinden waren. Reflexion bezieht sich hierbei aber auch darauf, warum eine Ankündigung möglicherweise nicht durchgeführt werden konnte. Beispiel: »Wieso hat das mit der Ankündigung in dieser Woche nicht geklappt?«

Kategorie U: Unterstützersystem – – – – – –

U1: Erklären der Idee von Unterstützern U2: Sammeln von Unterstützern und was sie tun können U3: Aktivierung von Unterstützern U4: Unterstützertreffen U5: Angebot des Beraters, Unterstützer zu aktivieren U6: Reflexion der Erfahrungen mit Unterstützern

U1. Erklären der Idee von Unterstützern: Dieser Code wird vergeben, wenn die Beraterin erklärt, wieso Unterstützung wichtig ist und wie diese aussehen kann. Es kann dabei zum Beispiel darum gehen, dass sie verdeutlicht, welche Rollen Unterstützer generell einnehmen können. Beispiel: »Was wir hier zusammen auch noch mal gucken könnten, was kann jeder Einzelne auch Unterschiedliches machen? Wer ist mehr so als Unterstützer, wo Sie wissen, da kann ich anrufen, der kann mich aufbauen oder schimpfen oder . . . wer kann mehr die Vermittlerrolle einnehmen, wer kann, wenn Sie ein Sit-in machen, dann da in Ihrem Rücken sitzen?« U2. Sammeln von Unterstützern und was sie tun können: Es werden Interventionen codiert, die die Familie dazu anregen, über mögliche Unterstützer nachzudenken und welche Aufgaben diese übernehmen können. Der Code wird ebenfalls dann vergeben, wenn die Beraterin mögliche Unterstützer vorschlägt. Beispiele: »Sie ha-

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ben noch eine Patentante erwähnt in England. Was ist mit der?«; »Gut, da müssten wir gucken, wir sammeln erst mal so. Gut. Wie heißt der denn?« U3. Aktivierung von Unterstützerinnen: Die Beraterin erklärt, wie Unterstützer zu gewinnen sind und regt die Familie dazu an, sich zu überlegen, wie, wann und wo sie auf mögliche Unterstützer zugehen können, um diese für sich zu gewinnen. Dieses kann dadurch geschehen, dass die Eltern in ihren Ideen bestätigt werden oder der Berater kann eigene Vorschläge und Ideen einbringen. Beispiel: »So, das wäre der nächste Schritt, den Sie da jetzt so machen würden nach der Ankündigung. Ich denke, es wäre wichtig, dass Sie nicht nur den Brief verschicken, sondern auch im Gespräch vielleicht . . .« U4. Unterstützertreffen: Der Berater schlägt ein gemeinsames Treffen mit den Unterstützern in der Beratungsstelle vor und erklärt, warum ein solches Treffen sinnvoll sein könnte und was in diesem Treffen passieren würde. Ebenso gehört die konkrete Planung eines Treffens zu diesem Subcode. Beispiel: »Gut. Es ist hilfreich, das wird hier auch erwähnt, mit den Leuten, die vor Ort sind, ein Treffen auch zu arrangieren. Hier. Um dann auch noch mal zu gucken, wer kann welche Rolle übernehmen?« U5. Angebot des Beraters, Unterstützer zu aktivieren: Der Berater bietet sich an, bei der Gewinnung von Unterstützern selbst aktiv zu helfen, indem er mit diesen in Kontakt tritt (indem er zum Beispiel Briefe an diese sendet oder sie anruft). Beispiel: »Ah ja, gut. Finde ich gut. Wenn Sie den Eindruck haben, es könnte hilfreich sein, wenn ich was Schriftliches verfasse oder mit ihm mal telefoniere oder irgendwie so, dann sagen Sie es mir.« U6. Reflexion der Erfahrungen mit den Unterstützern: Der Berater fragt nach Erfahrungen und/oder regt die Reflexion mit den Erfahrungen an, die die Familie bei der Sammlung, Aktivierung oder konkreten Hilfestellung von Unterstützern gemacht haben. Dazu gehören die Sammlung von hilfreichen und schwierigen Aspekten, sowie die Anregung, über das Befinden der Eltern und die Reaktion des Kindes zu reflektieren. Beispiel: »Ja. Und haben Sie mit Stefan gesprochen? Wie war das?«

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Weitere Kategorien Die weiteren Kategorien und Subcodes lauten wie folgt:24 Kategorie Z: Zielklärung – Z1: Fragen aus Erstinterview – Z2: Klärung der Coachingziele – Z3: Körbeübung – Z4: Reflexion des Coachings Kategorie H: Haltung im gewaltfreien Widerstand – H1: Elterliche Kooperation – H2: Transparenz – H3: Präsenz zeigen – H4: Erklärungen zur Kontrolle – H5: Beharrlichkeit – H6: Handlungsfähigkeit – H7: Verständnis für das Kind fördern – H8: Dominanzorientierung – H9: Haltung erklären Kategorie D: Deeskalationsstrategien – D1: Erklären von Deeskalation – D2: Analyse von Situationen, die zur Eskalation führen – D3: Aussteigen aus Eskalation – D4: Hilfen zum Aussteigen erarbeiten – D5: Vorbereitung auf nächsten Konflikt – D6: Reflexion der Erfahrungen mit Deeskalation Kategorie V: Versöhnungsgesten – V1: Erklären der Versöhnungsgesten – V2: Sammeln von Versöhnungsgesten – V3: Reflexion der Erfahrungen mit Versöhnungsgesten Kategorie S: Sit-in – S1: Erklären des Sit-ins – S2: Besprechung und Planung des Sit-ins – S3: Vorbereitung auf Reaktion des Kindes – S4: Reflexion der Erfahrungen mit dem Sit-in Kategorie AM: Andere gewaltfreie Maßnahmen – AM1: Dienstleistungsstreik 24 Eine ausführliche Fassung des Kategoriensystems kann über Erstautorin bezogen werden ([email protected]).

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– AM2: Telefonrunde und Aufsuchen – AM3: Andere gewaltfreie Aktionen Kategorie AI: Andere Interventionen – AI1: Experten- und Erfahrungswissen – AI2: Paarebene – AI3: Andere Institutionen – AI4: Andere Vorschläge/Ratschläge Kategorie TA: Therapeutische Allianz – TA1: Hoffnung vermitteln – TA2: Erziehungsstile erfragen – TA3: Gefühle der Eltern spiegeln – TA4: Verständnis für die Eltern – TA5: Anerkennung und Lob – TA6: Verfügbarkeit Berater/in – TA7: Ressourcen/Schwierigkeiten

Auswertung Die Auswertung des Kategoriensystems erfolgt in einem ersten Schritt in quantitativer Form, in dem die Häufigkeiten eines Subcodes oder einer gesamten Kategorie über ein Gespräch oder den gesamten Prozessverlauf ausgezählt werden (in der oben genannten Diplomarbeit geschah dies computergestützt mit Hilfe eines Analyseprogramms für qualitative Daten, MAX-QDA). Anhand dieser Häufigkeiten können Vergleiche zwischen einzelnen Sitzungen, unterschiedlichen Kategorien/Subcodes, unterschiedlichen Fällen usw. durchgeführt werden. Für die inhaltliche Interpretation kann sich der Forscher in einem zweiten Schritt auf die inhaltliche Ebene begeben und die konkreten Aussagen betrachten. Hierbei ist von Vorteil, dass durch die Kategorisierung eine inhaltliche Strukturierung vorgenommen wurde. Die Auswertung erfolgt demnach sehr nah am Inhalt und ermöglicht somit eine Interpretation auf individueller Basis, was einen großen Vorteil qualitativer Forschung darstellt.

Erfahrungen und Resümee Das Kategoriensystem ermöglicht es, Coachingprozesse bezüglich der Anwendung des Konzeptes des »gewaltlosen Widerstandes« objektiv und detailliert zu betrachten. In der oben genannten Diplomarbeit wurden drei Beratungsprozesse analysiert und Vergleiche zwischen den Prozessen angestellt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Konzept zwar beharrlich eingesetzt wird und Berater nur wenige an-

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dere Interventionen einfließen lassen. Dennoch gestalten sich die Prozesse sehr unterschiedlich und es werden jeweils individuelle Schwerpunkte gesetzt. So ist zum Beispiel die Ankündigung die einzige Maßnahme, die in allen Prozessen ausführlich besprochen wird. Es scheint, als ob das Konzept von Berater zu Berater und von Fall zu Fall flexibel eingesetzt und umgesetzt wird. Dies ist ganz im Sinne der »Erfinder«, die den Ansatz des »gewaltlosen Widerstands« nicht als ein allgemeingültiges Erziehungskonzept, sondern vielmehr als einen Rahmen für Beziehungen, Handlungen und Erleben sehen (Omer u. von Schlippe, 2002). Die drei Familien waren mit sehr unterschiedlichen Anliegen in die Beratung gekommen und auch die Prozesse verliefen sehr unterschiedlich. Während beispielsweise in einem Fall sich die alleinerziehende Mutter ihrem Sohn wieder annäherte und das auffällige Verhalten nachließ, eskalierte die Situation in einer anderen Familie und das Kind, aufgrund dessen Verhaltens sich die Eltern gemeldet hatten, musste schließlich in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen werden. Im Gegensatz zu quantitativer Forschung kann eine Prozessanalyse in diesen Fällen auf die Struktur und Inhalte erfolgreicher und weniger erfolgreicher Beratungsgespräche und -prozesse zurückgreifen und es wäre sicherlich interessant, dieses im größeren Rahmen, beispielsweise eines Extremgruppenvergleichs, durchzuführen, um mögliche Muster solcher Prozesse zu entdecken. Die Anwendung des Kategoriensystems ist nicht ganz einfach, da es transkribierter Texte und aufgrund der Komplexität einer genauen Einarbeitung des Forschers bedarf. Dennoch ist es ein Instrument, das wichtige und hilfreiche Informationen liefern kann über Beratungsprozesse auf der Basis des gewaltlosen Widerstands und somit auch für die Weiterentwicklung des Ansatzes genutzt werden kann.

Literatur Kötter, C. (2005). Gewaltloser Widerstand als systemisches Beratungskonzept – Prozessanalysen dreier Elterncoachings. Unveröffentlichte Diplomarbeit am FB Humanwissenschaften der Universität Osnabrück. Mayring, P. (2002). Einführung in die qualitative Sozialforschung. Weinheim: Beltz. Omer, H., Schlippe, A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Kritische Auseinandersetzung

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Antwo rtenaufkritischeBriefe

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»Liebe Frau R.«, »Lieber Herr T.«, »Lieber Wolfgang« Antworten auf kritische Briefe

Unkommentiert sollen an dieser Stelle drei Briefwechsel abgedruckt werden. Teils sind sie einseitig, weil die Briefe der Schreiber nicht aufgenommen werden konnten. Aus den Antworten kann jedoch der kritische Diskurs erschlossen werden.

Die Reaktion auf eine Rezension Lieber Herr Kollege, [. . .] beziehe mich auf Ihre Rezension des neuen Buches von mir und Haim Omer. Ich finde, Sie haben diesem Buch Unrecht getan. Auch wenn ich nun mitbekommen habe, dass man, wenn man es mit einer anderen, negativen Voreinstellung liest, durchaus Punkte findet, die diese Voreinstellung bestätigen – etwa die Akzentuierung von Eltern als Missbrauchsopfer –, so gäbe es doch genügend Punkte, an denen wir explizit die elterliche Hilflosigkeit adressiert haben und die Gewalttätigkeit gegenüber den Eltern nur als den Exzess einer solchen Dynamik bezeichnet haben. Sie haben systematisch die Punkte rausgesucht, mit denen sie das Buch schlecht machen konnten und alles verschwiegen, was es in ein anderes Licht stellen könnte. Nicht genug damit, Sie haben auch noch Negatives auf eine Weise dazu interpretiert, dass der explizit im Buch stehende Sinn verfälscht wird, oder Negatives dazu erfunden (»Time in« ist z. B. etwas völlig anderes als »Time out«; Einschließen der Kinder ist nirgends im Buch propagiert; systematische Belohnung mit Geld für Wohlverhalten, wo steht das, bitte schön? All diese Dinge sind diametral dem von uns vorgeschlagenen Weg entgegengesetzt). Dass Sie dann im Abschluss den »Nackengriff« in den Kontext der von uns vorgestellten Methoden stellen, ist geradezu infam und demagogisch. Denn – das haben wir oft genug betont – es geht gerade nicht um die Demütigung des Kindes, sondern um Methoden, die auch den Respekt vor den Rebellen ausdrücken und dazu gehört der Nackengriff sicher nicht. Und es geht uns nicht um mehr oder weniger versteckte Machtkonzepte, sondern darum, einen Rahmen bereitzustellen, innerhalb dessen die Selbstorganisation der Beziehung zwischen Eltern und Kindern wieder möglich wird [. . .] Freundliche Grüße

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Lieber Herr Kollege, [. . .] Bei Ihrer Antwort bleibt für mich das Gefühl des starken Nicht-Verstehens, vielleicht ist es ja gegenseitig. Vermutlich nicht zu beseitigen. Widersprüchlich klingt es, wenn Sie einerseits die Interventionen als »erprobtes Handwerkszeug« (welche?), andererseits als Machtmethoden kennzeichnen. Dass wir explizit uns auf ein Konzept beziehen, das an die Stelle der Machtauseinandersetzung die Möglichkeit zur Beziehung stellt, lassen Sie unter den Tisch fallen. Wie erklären Sie es, dass vor allem Erziehungsberater uns begeistert Rückmeldung geben, dass sie die Interventionen als unglaubliche Bereicherung für ihre Praxis ansehen? Aber, wie gesagt, ich glaube nicht, dass wir da »zusammenkommen« und ich will Sie nicht überzeugen. Es bleibt irgendwie das Gefühl der Böswilligkeit der Rezeption unseres Buches bei Ihnen, bei aller Höflichkeit in der Form [. . .] Freundliche Grüße Lieber Herr T., Sie sind ja auch von Fach. Sie kennen sicher die Erfahrung, dass so sehr man sich um Verstehen bemüht, es einfach nicht klappt. Da ich beim Lesen Ihrer Mail ziemlich heftige Gefühle bei mir erlebe und vermute, dass es Ihnen ähnlich geht, vermute ich, dass es noch irgendetwas gibt, um das es »eigentlich« geht, ich suche nach einem dritten Element, ohne es finden zu können. So bleibt mir nur, noch einmal inhaltlich auf Ihr Schreiben zu reagieren. Nehmen Sie es bitte als Zeichen der Wertschätzung für Sie und des Engagements für die Sache, dass ich Ihre Mail nicht einfach ignoriere, sondern mir Mühe gebe, schnörkellos und klar zu antworten. Die Sensibilität, die Sie jetzt für sich beanspruchen, hätte ich mir vor Ihrer Rezension für mich gewünscht, denn ich habe mich dadurch persönlich sehr beleidigt gefühlt. Haben Sie wirklich vorgehabt, eine solche Rezension, und auch noch ohne Rücksprache (das wäre jedenfalls eine Art von Dialogangebot gewesen, wie Sie es von mir bekamen, als ich den Entwurf las), an die Öffentlichkeit zu bringen und nicht damit zu rechnen, dass eine Antwort kommt, die Ihrem Stil entspricht? Ich wollte Sie nicht diffamieren, habe ja auch nicht Sie persönlich demagogisch genannt, ich kenne Sie nicht und, nein, ich vermute überhaupt nichts Derartiges bei Ihnen. Demagogisch finde ich nur das Heranziehen eines Extrembeispiels, um unseren Ansatz zu diskreditieren, nicht mehr und nicht weniger. Ich schrieb: »Dass Sie dann im Abschluss den ›Nackengriff‹ in den Kontext der von uns vorgestellten Methoden stellen, ist geradezu infam und demagogisch.« Das erlebe ich immer noch so und da, denke ich, wäre, bei ruhiger Betrachtung durchaus eine Entschuldigung angemessen. Zu Ihren drei Punkten: 1. Sie werfen mir vor, ich würde nicht auf die theoretischen Fragen in Ihrer Rezension eingehen. Abgesehen davon, dass Sie Ihrerseits auf keine meiner Fragen an

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Antworten auf kritische Briefe

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Sie in meinen Briefen eingegangen sind, kann ich nur sagen, dass ich mir Mühe gegeben habe, in der gebotenen Kürze auch unsere theoretischen Gedanken noch einmal zu explizieren. Ich glaube nicht, dass wir eine theoretische Begründung über den Bezug auf politische Konzepte vorgenommen haben. Vielmehr haben wir politische Konzepte daraufhin befragt, inwieweit sie nutzbar sein könnten für ein Vorgehen, das ich am sinnvollsten aus einer systemischen Perspektive rekonstruierbar finde, nämlich dass hier das Bereitstellen eines Rahmens möglich wird, innerhalb dessen die Selbstorganisation der Beziehung zwischen Eltern und Kind wieder in Gang kommen kann. 2. Hatte ich irgendwo gesagt – oder steht es irgendwo im Buch –, der Zwecke heilige die Mittel und die Methoden von Omer seien über jeden Zweifel erhaben? Zeigen Sie mir bitte die Stelle oder lassen Sie sich den Vorwurf gefallen, dass ich auch das als eine Interpretation beschreibe, die mir böswillig vorkommt (die Interpretation!). Sie haben sich jedenfalls, um unser Buch zu skizzieren, neben dem bereits erwähnten Nackengriff auf ein Vokabular bezogen, das in unserem Buch ganz explizit abgelehnt wird. So geht es gerade nicht darum, die Kinder/Jugendlichen »zu zwingen zu verhandeln oder wenigstens auf die elterlichen Erwartungen einzuschwenken« – wo steht das im Buch? Das aber ist die Quintessenz, die Sie aus den vorgestellten Interventionen ziehen: Es gehe darum, das Kind zu zwingen. Darum geht es gerade nicht. Abgesehen davon zitieren Sie die Interventionen zum Teil wirklich falsch – Time in ist nicht dasselbe wie Time out, Einschließen der Kinder wird nirgendwo propagiert, Belohnung mit Geld oder Entzug von Geld ohne Absprache ist nicht Teil des Konzepts (Entschuldigen Sie noch mal, aber muss man das nicht als böswillige Rezeption betrachten, zumindest wenn man davon ausgeht, dass der Rezensent das Buch gründlich gelesen habe?). Das Schweigen erfolgt ebenfalls nicht ohne Angabe von Gründen, vielmehr geht es darum, in der Ankündigung dem Kind einen klaren Frame für das veränderte elterliche Verhalten zu vermitteln. Interessant fand ich, dass Sie offenbar über gute epidemiologische Angaben darüber verfügen, wie es um die Respektlosigkeit, Erpressung und nackte Gewalt zwischen Eltern und Kindern steht, denn Sie benutzen das Wort »fälschlicherweise« – mithin handelt es sich um eine offenbar falsifizierte Behauptung. Damit ich nicht auch da den Vorwurf der Böswilligkeit erhebe, würde ich Sie heute herzlich bitten, mir die Quelle Ihrer Informationen zu nennen. Wir haben diese Daten auch nicht, wohl aber die Informationen von vielen Eltern, die ihre Beziehungen zum Kind so beschreiben. Was sagen Sie denn zu dem Brief der Mutter25? Darauf haben Sie sich auch nicht bezogen. Wenn Sie von mir verlangen, dass ich mich detailliert auf Ihre Argumente beziehe, kann ich das von Ihnen ebenfalls erwarten?

3. Ihr dritter Punkt: »Die Übertragung bestimmter Methoden von einem kulturellen Zusammenhang auf einen anderen bedarf einer besonderen Prüfung oder Reflektion. Das kann ich in Ihrem Buch nicht erkennen« macht mich etwas ratlos. 25 Ein positiver Brief einer betroffenen Mutter, der dem ersten Schreiben beigefügt war.

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Was genau hätten Sie da von mir erwartet, wie hätten Sie das im Buch erkennen können? Vielleicht sollte ich Ihnen einmal die Originaltexte von Haim Omer geben, so dass Sie erkennen können, wie viel Mühe ich mir gegeben habe, die Konzepte zu adaptieren. Es sind jeweils etwa 30 bis 40 % in den Büchern neu, von mir, von einem Deutschen geschrieben. Ich habe es genossen, von einem israelischen Kollegen, den ich als integre Persönlichkeit in höchstem Maße schätze, zu lernen und in der Auseinandersetzung mit ihm das Konzept weiterzuentwickeln. Wie hätte ich das anstellen können, dass Sie das im Buch erkennen? Haim hat mir mehrfach gesagt, dass er von der Auseinandersetzung mit mir sehr profitiert habe und seine Bücher selbst nun auch anders schreiben würde – nach Ihrer Logik dürfte er auch das dann nur nach »besonderer Prüfung und Reflexion«. Noch etwas zu Punkt 3: Ich weiß nicht, ob Sie wissen, dass wir eine größere Studie planen, an der sich eine große Zahl von Erziehungsberatungsstellen beteiligen will. Aber bevor ein solches Konzept daran geht, sich selbst zu überprüfen, braucht es erst mal genügend Expertise im Feld. Die ist inzwischen entstanden und wir werden im Laufe des Jahres mit der Studie beginnen. Warum schreibe ich so viel? Warum rege ich mich so auf? Warum habe ich nicht den Rat mehrerer Kolleginnen und Kollegen befolgt, einfach nicht zu reagieren? Warum habe ich trotz meiner Skepsis, dass wir beide uns nicht verstehen werden, nicht ablassen können, mir Ihretwegen die Nacht um die Ohren zu hauen? Vielleicht weil mir das Konzept so nahe ist und mich innerlich so tief bewegt. Vielleicht weil mich die Bateson’sche Theorie über »Macht als erkenntnistheoretischem Irrtum« schon so lange beschäftigt, die Idee, an der die Menschheit krankt, durch Macht in einen befriedigenden Zustand zwischenmenschlicher Beziehungen zu kommen. Vielleicht auch, weil ich die Idee habe, dass in den Ansätzen von Haim das Potenzial liegt, an der Wurzel der Gewaltentstehung wenigstens ein kleines bisschen etwas verändern zu können. Und wenn einem etwas nahe, wertvoll und kostbar ist, dann tut es besonders weh, wenn dem mit soviel Ignoranz und – nun, ich wollte nicht schon wieder Böswilligkeit schreiben und scrollte den Text noch einmal runter, um Ihre Mail noch einmal zu lesen – nein, Sie haben von sich persönlich, von Ihren Motiven eigentlich außer einem kurzen Wort über Ihre Kränkung nichts geschrieben. Was Ihre persönliche Seite anbetrifft, so haben Sie sich hinter drei – sorry, ich muss es so schreiben, ich habe sie ja auch beantwortet – oberlehrerhaften Fragen versteckt. Mehr habe ich nicht zu sagen, freundliche Grüße Dieser dritte Brief blieb ohne Antwort.

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Ein Antwortbrief an Frau R. Liebe Frau R., herzlichen Dank für den Brief [. . .], in dem Sie mir eine Reihe kritischer Gedanken über den Ansatz des »gewaltlosen Widerstands« und der »elterlichen Präsenz« (bzw. Präsenz des Lehrers) schreiben. Ihr Brief hat mich sehr beschäftigt, und ich möchte gern auf die Punkte, die Sie benannt haben, eingehen. In mancher Hinsicht gebe ich Ihnen recht, zumindest teilweise. Natürlich gibt es keine »auffälligen Kinder« ohne jemanden, der sie als »auffällig« bezeichnet, der Begriff »auffällig« macht nur Sinn, wenn man den Kontext mit bedenkt. Doch gibt es Kinder, die für ihre Umgebung eine besondere Herausforderung darstellen und das bedeutet, dass sie die Kreativität und Prägnanz ihrer Umwelt im besonderen Maße anfordern. Hierfür sind Eltern – und auch Lehrer – oft nur wenig vorbereitet und durch die entstehenden Beziehungskonstellationen manchmal überfordert. Das Konzept, dass Prof. Omer und ich entwickelt haben, soll in diesem Fall dazu dienen, die Präsenz wieder herzustellen, so dass die Möglichkeiten für eine positive Beziehung zwischen Eltern und Kind (bzw. Lehrer und Kind) wieder möglich wird. Sie problematisieren, auch hier gebe ich Ihnen teilweise recht, das Wort »Kampf«. Sie beziehen sich ja mehrfach auf das Buch »Autorität ohne Gewalt«, viele unserer Überlegungen sind in »Autorität durch Beziehung« verändert und sprachlich genauer gefasst. Da ich vermute, dass Sie dieses Buch noch nicht besitzen, freue ich mich, Ihnen ein Exemplar zukommen zulassen. Sie werden dort im Vorwort von »Autorität durch Beziehung« von Dr. Rotthaus sehen, dass auch er dem Begriff des Kampfes sehr skeptisch gegenübersteht. Ich habe mit Haim Omer darüber auch durchaus kontrovers diskutiert, für ihn ist es wichtig diesen Begriff beizubehalten, weil er an dieser Stelle nicht darüber hinweg täuschen möchte, dass es Fälle gibt, in denen die Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern/Lehrern und Kindern durchaus eine solche Qualität gewinnen kann. Gerade für diese Fälle ist es ihm wichtig, Konzepte bereit zu stellen, die helfen, dass diese Auseinandersetzungen eben nicht in Destruktion eskalieren, sondern dass in dem Kampf und in der Auseinandersetzung die Möglichkeit für eine gute Beziehung wieder hergestellt wird. Ich habe mich inzwischen mit diesem Begriff anfreunden können, vor allem, indem ich mir klar wurde, dass es nicht darum geht, dass diese Art des Vorgehens eine »gute« Eltern/Lehrer-Kind-Beziehung kennzeichnet, sondern dass das Konzept Möglichkeiten der Reparatur einer drastisch fehl gelaufenen Entwicklung bietet, durch die die Betroffenen allesamt in für sie schädliche Positionen geraten sind. Wenn also eine Beziehung durch kontinuierliche Eskalation, durch Entwertung, bis hin zu körperlicher Gewalt gekennzeichnet ist, dann finde ich den Begriff Kampf durchaus angemessen. Doch es ist eine besondere Art von Kampf! Es geht nicht darum, zu siegen (wie das Wort impliziert), sondern darum zu ringen, wieder in eine gute Beziehungsform gelangen zu können. Wenn dies – und sei sie nur ansatzweise – gelungen ist, dann sollte natürlich der Kampf beendet werden – ähnlich

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sollte in dem von Ihnen erwähnten Beispiel »Anne« natürlich nicht das Verschwinden der Lieblingsgegenstände das Herzstück der Beziehung zwischen Eltern und Kind sein. In »Autorität durch Beziehung« haben wir explizit formuliert, dass der »Kampf« nur dazu dienen soll, die Rahmenbedingungen wiederherzustellen, durch die eine liebevolle (und authentische, da bin ich mit Ihnen völlig einer Meinung) Beziehung zwischen Kind und Erziehungsperson wieder möglich wird. In dem besagten Band möchte ich Sie an dieser Stelle besonders auf das Konzept des »feindseligen Wahrnehmungsfehlers« hinweisen. Dieses Konzept ist für mich ein Schlüssel zum Verständnis des Kindes: Kinder, die zu aggressiven Verhalten neigen, zeigten in psychologischen Untersuchungen, dass sie auf ein neutrales oder sogar freundliches Beziehungsangebot des erwachsenen Gegenübers mit einer viel höheren Wahrscheinlichkeit feindselig reagierten als nicht zu Aggression neigende Kinder. Das heißt, diese Kinder leben mit einer grundsätzlich misstrauischen Haltung zur Umwelt und verhalten sich dann auf eine Weise – und das ist die Tragik – die diese negative Erwartung bestätigt (wenn man jemanden, der einen freundlich entgegen kommt, mit Aggression antwortet, sinkt natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass er im nächsten Schritt freundlich ist, drastisch). Aus diesem Grund haben wir im zweiten Buch auch noch deutlicher die Bedeutung der Versöhnungsgesten herausgestellt. Ich bevorzuge es, hier von Gesten der Wertschätzung und Liebe zu sprechen, im Wesentlichen geht es darum, dem Kind neben dem »Kampf« unmissverständliche Signale dafür zu liefern, dass man es liebt (bzw. wenn dieses der Erziehungsperson nicht – mehr – möglich ist: dass man es schätzt und respektiert). Wir haben in dem zweiten Buch die Bedeutung vor allem der Deeskalation und der Gesten der Wertschätzung sehr stark betont. Diese beiden Handlungen, so vermute ich, dürften mit Ihren Grundhaltungen ausgesprochen gut vereinbar sein. Ich weiß nicht, in welchem Workshop Sie gewesen sind, ich hoffe auch, dass Sie neben den Aussagen, die Sie zitiert haben, auch viel über die Dinge gehört haben, die ich jetzt im Brief noch mal hervorgehoben habe. Manchmal werden natürlich in einem Workshop und in der Vermittlung einzelne Aspekte stärker thematisiert und hervorgehoben als andere. Ich hoffe sehr, dass ich mit meinem Brief ein wenig dazu beitragen konnte, dass nicht ein Eindruck bei Ihnen von der Tagung und dem Workshop zurück bleibt, der damit, wie ich das Modell verstehe, nur wenig zu tun hat. Ich kenne alle Kollegen gut, die auf der Tagung Workshops durchgeführt haben und ich glaube, dass die meisten der von Ihnen skizzierten Ziele auch von ihnen geteilt werden dürften (wie auch von mir), besonders: – der doppelte Fokus, der sich sowohl auf den Lehrer als auch auf den Schüler richtet, – die Idee, dass es darum geht (zumindest langfristig) das Wohlsein beider Seiten zu erhöhen – und dass Authentizität in der Beziehung anzustreben ist. Einen Unterschied sehe ich, wie bereits beschrieben, in dem Verständnis des Wortes Kampf. Das andere ist das Stichwort »Öffentlichkeitsarbeit«. Sie sprechen davon,

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dass es darum gehen sollte, durch Diskretion bei Konflikten einen geschützten Rahmen sicher zu stellen. Dieses kann ich so lange vorbehaltlos unterschreiben, solange Diskretion nicht mit Isolation einhergeht. Ich habe vielfach erlebt, wie Erziehungspersonen (im klassischen Fall allein erziehende Mütter) völlig auf sich gestellt und allein mit dramatischen Problemen umzugehen versuchen und sich aus Scham oder aus falsch verstandenem Gefühl, ihr Kind schützen zu müssen (das sich seinerseits manchmal dafür überhaupt nicht interessiert), immer weiter in die Hilflosigkeit geraten sind. Sicher wird es nicht dazu kommen, dass unsere Positionen vollkommen deckungsgleich sind – und ich glaube auch, dass das nicht anzustreben wäre –, das wäre ja dann das Ende jeder Diskussion. Aber ich hoffe, dass Ihr positives Interesse an der systemischen Familientherapie und auch an den systemisch ausgerichteten Ansätzen des Eltern- und Lehrer-Coachings wach und lebendig bleibt. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn Sie die Weiterentwicklung unserer Konzepte weiterhin kritisch und neugierig begleiten würden. Mit freundlichen Grüßen

Briefwechsel mit Wolfgang Loth Lieber Arist, anbei die gelungene Diplomarbeit zurück26 [. . .] Insgesamt finde ich, dass das schon ein reifes Stück Arbeit ist. Ich finde es auch sehr gut, dass du dran bleibst und auf diese Art daran arbeitest, ein empirisches Fundament für den Ansatz zu bauen. Und da bin ich natürlich schon gleich in dem Bereich, der mich ein wenig umtreibt. Ich finde es einerseits sehr gut und schön, dass mit solchen Arbeiten ein Nachweis möglich ist, dass und wie der Ansatz des GLW in der Praxis ankommt und sich dort bewährt und wie er sich dort bewährt. Ich bleibe innerlich dann – das andererseits – an Punkten hängen, die mir gar nicht so angenehm sind, weil sie sich nicht so leicht mit meiner Vorliebe für die Haltung in Einklang bringen lassen. Die Arbeit von Frau Süllow zeigt ja schön, dass die Haltungsmomente in der Praxis besser abschneiden als die technischen Aspekte. Das gefällt mir natürlich insbesondere im Hinblick auf meine Argumentation im Diskussionsbeitrag in Systhema27. Je mehr ich darüber nachdenke, schleicht sich dann so etwas ein wie: was wäre, wenn die Vorliebe für Haltung nicht auch so etwas bedeutet wie: man schreckt vielleicht doch davor zurück, an den Punkt zu gehen, 26 Süllow, M. (2006). Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Unveröffentlichte Diplomarbeit am FB Humanwissenschaften der Universität Osnabrück. 27 Loth, W. (2005). Elterncoaching – Modus oder Mode? Einige Überlegungen und Thesen. Systhema, 19 (3), 347–354.

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an dem es weh tut. Ich weiß nicht, ob ich mich da verständlich genug ausdrücken kann. Vielleicht so rum: Haim Omer als der ursprüngliche Ideengeber zu diesem Ansatz hat den ja in einem Kontext entwickelt, in dem Präsenz eine andere, ursprünglichere, vielleicht sogar lebensnotwendigere Bedeutung hat. Das Land lebt von seiner Präsenz, wäre ansonsten schon platt. Und in Haims Arbeiten wird ja auch immer wieder deutlich, dass er bereit und in der Lage ist, genau da hinzugehen, wo’s weh tut, und das zu tun, was notwendig ist: sich dem Erschreckenden zu stellen und nicht davor wegzulaufen. Das hat mich immer sehr beeindruckt. Die Frage der Präsenz ist hierzulande irgendwie anders gepolt. Präsenz ist uncool, passt nicht zum savoir vivre oder so ähnlich, ich weiß nicht. Wer sich hierzulande klar bekennt, wirkt eher wie einer, der nicht elegant über den Zaun seiner Befindlichkeiten schauen kann, irgendwie engstirnig. Bitte, ich schreibe das hier ungeschützt und nicht zu Ende bedacht und erst recht nicht in der Absicht, das Präsenzkonzept zu kippen, im Gegenteil. Ich weiß nur noch nicht weiter mit der Frage: Lässt sich die Frage der Präsenz auf die Eltern begrenzen? Wie ist elterliche Präsenz möglich in einem Kontext, der zu »distraction«, Konsumgewusel, trallala und Hochgeschwindigkeitsoszillation nicht nur einlädt, sondern nötigt? Anders gesagt: Kann das Konzept der »elterlichen Präsenz« unpolitisch gedacht werden? Ohne gesellschafts-politische Stoßrichtung? Wie können Menschen (in der Regel Eltern) wieder Kraft und richtungs-differenzierende Selbstwirksamkeit erleben, wenn ihre sie leitenden Rahmenbedingungen sie nur noch als statistische Größen (Konsumenten, Wähler, Klatschmasse bei Fernsehshows . . .) einsetzen. Kann hier Haltung allein weiterhelfen? Ich denke, dass die Bezugnahme auf Gandhi und Martin Luther King genau hier schräg wird. Das war ein politisches Engagement! Das hat sie das Leben gekostet. Das hat wehgetan. Das gab es nicht umsonst, was die gemacht haben, das hat für Wirbel gesorgt und wurde bekämpft. Auf jeden Fall war das ein Widerstand, der nicht bloßes Aushalten war, sondern Widergang sozusagen, Widerbewegung (die berühmten Märsche!). Vielleicht piekst mich daran auch nur die Furcht, dass die politisch (also finanziell) Rahmen gebenden Entscheider im Ministerium das Konzept als weichkochbares (also finanziell »neutral« haltbares) Angebot verbaseln, es dann, wie jetzt die berühmte Migrantenfrage, aufdrängen, ohne auch nur im Entferntesten dran zu denken, dass das nicht »ohne Weiteres« zu haben ist [. . .] Na gut, Arist, das ist mir nun etwas flott und vermutlich ohne korrigierende Hilfe eines Denkapparates aus den Fingern geflossen [. . .] Ich muss es daher wohl noch mal explizit sagen, dass ich großen Respekt vor dieser Arbeit habe, sie von Herzen unterstütze, und mein unklares Unwohlsein nichts mit dem Konzept zu tun hat, sondern mit den Bedingungen seiner Rezeption. Lass dich davon nicht beirren [. . .] Sei herzlichst gegrüßt

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Lieber Wolfgang, herzlichen Dank für deinen Brief [. . .] Ich habe mich über deine Anerkennung sehr gefreut. Sehr erfreut und zugleich betroffen war ich von den Gedanken, die du im weiteren Verlauf gemacht hast. Betroffen, weil ich sofort das Gefühl hatte: Da ist was »Wahres« [. . .] dran, da stimmt etwas. Mir wurden meine zwiespältigen Gefühle Haim gegenüber deutlich, wenn ich mit ihm um die Frage gerungen habe, ob wir Begriffe wie »Macht« oder »Kampf« aus dem Buch herausnehmen (meine Position) oder drin lassen sollten (seine). Zwiespältig waren sie, weil ich Haim da immer sehr authentisch erlebt habe und gleichzeitig nicht den Eindruck hatte, dass er da irgendein persönliches Thema mit verhandelt, sondern eine Form von sehr tief greifendem Engagement gegen Gewalt. Plötzlich fühle ich mich als »Weichei« und Trittbrettfahrer. Wenn ich das so [. . .] schreibe, meine ich es nicht ganz so. Natürlich bin ich auch engagiert in dem Thema, aber es dient(e) auch der Karriere und die vollen Konsequenzen (hier kann ich mich ja auch immer gut hinter meinem Uni-Job verstecken) trage ich gerade nicht selbst. Nun sehe ich auch die vielen Rückmeldungen von Kollegen, die sagen, wie wichtig ihnen die »Haltung« sei, in einem neuen Licht. Angesichts von Gewalt und Hilflosigkeit ist es wohl leichter, vom »Mythos der Macht« zu sprechen, gewaltlosen Widerstand in die Arbeit mal so »einfließen« zu lassen, hier mal ein wenig Deeskalation zu empfehlen, dort schon sogar einmal ein Sit-in zu wagen, als sich mit vollem, auch politischen Engagement in die gewaltlose Auseinandersetzung zu begeben [. . .] Herzlichen Dank!

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Die Autorinnen und Autoren

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Die Autorinnen und Autoren

Waltraud Danzeisen, Diplom-Sozialarbeiterin (FH), ist Familien- und Heilkundliche Psychotherapeutin und Dozentin an der Katholischen Hochschule in Freiburg. E-Mail: [email protected] Olaf Düring, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Kinderund Jugendlichenpsychotherapeut, leitet die AWO-Familienberatungsstelle in Osnabrück. E-Mail: [email protected] Angela Eberding, Dr. phil., Diplom-Pädagogin, Systemische Familientherapeutin und Supervisorin (IFW/SG), ist im Kinderhospital Osnabrück und selbstständig als Supervisorin tätig und seit drei Jahren intensiv mit der Umsetzung zur elterlichen und professionellen Präsenz in verschiedenen Zusammenhängen beschäftigt. E-Mail: [email protected] Ursula Engelking, Diplom-Psychologin, Systemische Familientherapeutin, ist Leiterin der Caritas-Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche in Rheda-Wiedenbrück. E-Mail: [email protected] Michael Grabbe, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, systemischer Lehrtherapeut und lehrender Supervisor am Institut für Familientherapie Weinheim, Ausbildung und Entwicklung e. V., arbeitet in eigener Praxis in Melle. E-Mail: [email protected] Amelie Köllner, Diplom-Psychologin, in Weiterbildung zur Systemischen Familientherapeutin (IFW), ist Stationstherapeutin auf der Jugendlichenstation im HanseKlinikum Stralsund/Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. E-Mail: [email protected] Bruno Körner, Diplom-Sozialpädagoge (FH), Systemischer Familientherapeut (IFW/SG), mehrjährige Tätigkeit in der ambulanten und stationären Jugendhilfe, Eltern-, Familien-, Teamberatung, freiberufliche Tätigkeit im Bereich Coaching und Gewaltprävention. Dozent für den Fachbereich Elterncoaching am Institut für Fa-

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Die Autorinnen und Autoren

milientherapie Weinheim, Ausbildung und Entwicklung e. V. E-Mail: [email protected] Charlotte Kötter, Diplom-Psychologin, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am IFT Institut für Therapieforschung in München. E-Mail: [email protected] Martin Lemme, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Systemischer Familientherapeut und Supervisor (IFW/SG), in eigener Praxis tätig. Seit drei Jahren intensiv mit der Umsetzung zur elterlichen und professionellen Präsenz in verschiedenen Zusammenhängen beschäftigt, Vorsitzender des Vereins ahimsa e. V. E-Mail: [email protected] Barbara Ollefs, Diplom-Psychologin, systemische Familientherapeutin und Supervisorin, arbeitet am Kinderhospital Osnabrück in der familienmedizinischen Betreuung chronisch kranker Kinder (Asthma bronchiale und Diabetes mellitus). Seit 2003 ist sie an der Universität Osnabrück mit der Vorbereitung und Durchführung eines Forschungsprojektes zur Evaluation des Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand tätig. E-Mail: [email protected] Haim Omer, Ph.D., ist Professor für Klinische Psychologie an der Universität von Tel Aviv. Arist von Schlippe, Prof. Dr. phil., Diplom-Psychologe, hat den Lehrstuhl für Führung und Dynamik von Familienunternehmen an der Wirtschaftsfakultät der Universität Witten/Herdecke inne. Er ist lehrender Supervisor und Lehrtherapeut am Institut für Familientherapie Weinheim, Ausbildung und Entwicklung e. V. E-Mail: [email protected] Ruth Tillner, Diplom-Sozialpädagogin, Systemische Familientherapeutin und Supervisorin (IFW/SG), Moderatorin, ist in eigener Praxis mit den Schwerpunkten Supervision und Fortbildung tätig. E-Mail: [email protected] Elisabeth Uschold-Meier, Diplom-Pädagogin, Psychodramatikerin DFP/DAGG, mehrjährige Tätigkeit in der stationären Jugendhilfe als Therapeutin und pädagogische Leiterin, Eltern-, Familien- und Teamberatung, Beratung von Kindern und Jugendlichen, Coaching. E-Mail: [email protected]

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Wenn Sie weiterlesen möchten ... Haim Omer / Arist von Schlippe Stärke statt Macht Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde

Die Erschütterung der erzieherischen Autorität gilt als eine der entscheidenden Ursachen für den dramatischen Anstieg von Gewalt und Kriminalität unter Kindern und Jugendlichen. Doch kann elterliche und pädagogische Autorität heutzutage nicht mehr auf Furcht, blinden Gehorsam und Machtausübung gründen. Es müssen die in unserer Gesellschaft vorherrschende Werte von freiem Willen, Individualität und kulturellem Pluralismus berücksichtigt werden. Die Psychologen Haim Omer und Arist von Schlippe führen den Begriff der »neuen Autorität« ein, der das Ergebnis eines langjährigen Denkund Erfahrungsprozesses darstellt. Zu den zentralen Konzepten dieser neuen Autorität gehören Präsenz und gewaltloser Widerstand. Die Anwendung hat sich auch im Schulbereich bewährt, wo Eltern und Lehrer ein Bündnis gegenseitiger Hilfe und Unterstützung bilden, und bindet im darüber hinaus auch Gemeindemitglieder erfolgreich ein.

Haim Omer / Arist von Schlippe Autorität ohne Gewalt Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. »Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept Mit einem Vorwort von Reinmar du Bois

Zunehmend verlieren Eltern in ihrer Familie die Autorität. Sie werden an den Rand der Familie gedrückt und fürchten sich vor ihren Kindern. Die Kinder haben in der Familie das Heft in die Hand genommen – sei es durch renitentes Verhalten, durch eine körperliche Symptomatik, durch Suiziddrohungen, durch destruktives Verhalten oder offene Gewalt. In diesem Buch wird ein Vorgehen für Eltern vorgestellt, das auf den Gedanken Gandhis über den gewaltlosen Widerstand basiert: Schrittweise stellen die Eltern ihre elterliche Präsenz wieder her und sorgen gleichzeitig dafür, dass die Punkte, an denen es gewohnheitsmäßig zu Eskalationen kam, entschärft werden. Das Buch beruht auf der erfolgreichen Arbeit von Haim Omer mit hunderten von Familien, in denen die Häufigkeit gewalttätiger Interaktionen dadurch deutlich zurückgegangen ist.

Haim Omer / Arist von Schlippe Autorität durch Beziehung Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung Mit einem Vorwort von Wilhelm Rotthaus

Autorität ist kein Begriff, der spontan mit Beziehung in Verbindung gebracht wird. Tatsächlich führt Autorität, die durch Furcht, Bestrafung und Distanz hergestellt wird, eher zum Verlust von Bezogenheit. Wenn sie aber auf Präsenz basiert, das heißt auf der elterlichen Botschaft: »Wir sind da und wir bleiben da!«, dann kann Autorität sogar den wesentlichen Rahmen bieten, der Beziehung möglich macht. In Beratungen berichten Eltern, dass die Beziehung, nicht selten durch Gewaltakte oder durch selbstzerstörerische

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Handlungen seitens des Kindes, verloren gegangen ist. Die Eltern fühlen sich in einer solchen Situation hilflos, verlieren ihre Stimme, ihren Platz, ihren Einfluss. Gleichzeitig steigt damit die Gefahr, dass dann auch Geschwister zu Opfern werden. Die Autoren greifen die Prinzipien des gewaltlosen Widerstands auf und bieten als »Coaching für Eltern« praktische Hilfen an, wie elterliche Präsenz wiederhergestellt werden kann. Sowohl Beraterinnen und Berater als auch betroffene Eltern können mit Hilfe der beigefügten Anleitung die konkreten Schritte für die Wiedergewinnung der elterlichen Präsenz nachvollziehen. Sie lernen, systematisch zu deeskalieren, und verstehen die Bedeutung von Versöhnungsgesten und die Rolle der Aktivierung von sozialer Unterstützung. Eine große Bedeutung hat hier die unerlässliche Allianz zwischen Lehrern und Eltern – so dass auch Pädagogen das Buch mit Gewinn lesen werden.

Haim Omer / Eli Lebowitz Ängstliche Kinder unterstützen Die elterliche Ankerfunktion Mit einem Vorwort von Arist von Schlippe. Aus dem Hebräischen von Miriam Fritz Ami-Ad.

Ängste gehören zur Entwicklung eines Kindes und können in Übergangsphasen, nach seelischen Erschütterungen oder Krisen auftreten. Bei manchen Kindern halten diese Angstzustände jedoch länger an oder werden sogar zu dauerhaften Begleitern. Im Unterschied zu Angststörungen von Erwachsenen wirken sich die Ängste bei Kindern nicht nur auf sie selbst aus, sondern auch die Eltern sind mit ihren Reaktionen und Umgehensweisen stark einbezogen. In der systemischen Perspektive stellen die Eltern die Schlüsselfigur dar, die einerseits unbeabsichtigt zur Verstärkung und zum Fortbestehen der Ängste beitragen oder aber dem Kind helfen können, Entwicklungskrisen durchzustehen und die Störungen zu überwinden. Es ist daher schwierig, die Ängste eines Kindes zu verstehen und zu behandeln, ohne nicht auch die elterlichen Reaktionen zu begreifen und zu verändern. Mit dem zentralen Bild der Ankerfunktion befürworten die Autoren, dass neben Schutz und Sicherheit durch elterliche Präsenz auch fördernde Unterstützung unabdingbar ist. So kann das Kind seine Kräfte sammeln und lernen, das Problem selbständig zu bewältigen.

Christian Hawellek / Arist von Schlippe (Hg.) Entwicklung unterstützen – Unterstützung entwickeln Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell

Marte meo (lateinisch sinngemäß »auf eigene Faust«) bedeutet soviel wie »aus eigener Kraft etwas erreichen«. Dieses Motto beschreibt die Grundidee des Arbeitsmodells psychosozialer Prävention und Intervention, das Maria Aarts in den Niederlanden entwickelt hat. Es basiert auf der Annahme, dass Eltern über ein breites Repertoire intuitiver Verhaltensweisen verfügen, die es ihnen ermöglichen, die Entwicklung ihrer Kinder auf natürliche Weise zu unterstützen und zu fördern. In der Marte-Meo-Beratung lernen sie, diese Fähigkeiten und Ressourcen zu erkennen, zu nutzen und so die Kommunikationsprozesse mit den Kindern zu verbessern. Videoaufnahmen vom Kind und seinen Beziehungspersonen liefern nicht nur konkrete Hinweise über die individuellen Entwicklungsanforderungen, die ein Kind stellt, sondern auch Informationen über die Art und Wirkung entwicklungsfördernder Kommunikationsweisen von Eltern, Betreuerinnen und Betreuern.

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Wirksame Gewaltprävention Manfred Cierpka (Hg.) Möglichkeiten der Gewaltprävention 2., überarbeitete Auflage 2008. 254 Seiten mit 6 Abb. und 11 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46209-6

Die Diskussion über eine zunehmende Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen ist allgegenwärtig. Wie sind die ganz unterschiedlichen Phänomene von Gewalt in dieser Altersgruppe zu erklären und wie lässt sich dem langfristig entgegensteuern? Die Beiträge des Buches beschäftigen sich einleitend mit den Entstehungsbedingungen von Gewalt in Familien und den Folgen frühkindlicher Belastung durch erfahrene Gewalt und deren Auswirkungen auf die seelische und körperliche Entwicklung. Das Hauptgewicht der folgenden Beiträge liegt in der Darstellung, wissenschaftlichen Bewertung und Diskussion verschiedener familien- und kindbezogenen Präventionskonzepte und -ansätze im deutschsprachigen Raum. Vorgestellt werden Elternseminare, Beratungsangebote für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern, frühe Hilfen zur Förderung der kindlichen Resilienz, Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Elternhaus, Kindergarten und Schule, schulische Präventionsprogramme gegen Gewalt sowie Konzepte, die die Erziehungskompetenz von Eltern stärken.

Haim Omer / Nahi Alon / Arist von Schlippe Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung Mit einem Vorwort des Dalai Lama 2. Auflage 2010. 230 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-49100-3

Der Dalai Lama schreibt im Vorwort zu diesem Buch, dass jedes menschliche Wesen nach Glück verlangt und ein Recht darauf hat. Doch Disharmonie, Streit und Gewalt bringen dem Menschen immer wieder Leid. Unversehens geraten wir in Prozesse der Dämonisierung des Anderen, der anderen Gruppe, des anderen Volkes. Wir nehmen das Gegenüber nur noch in negativem Licht wahr, machen es zum Monster, das es mit aller Macht zu bekämpfen gilt. Die psychotherapeutisch tätigen Autoren erklären, wie es dazu kommt, und zeigen – auch anhand überzeugender Fallbeispiele – Wege der Deeskalation und Entdämonisierung. »So beeindruckend die theoretischen Hintergründe und weit zurückreichenden ideengeschichtlichen Wurzeln beider beschriebenen Sichtweisen sind, so bestechend konsequent und klar sind die therapeutischen Konsequenzen der Autoren ... Ich habe das Buch mit sehr viel Gewinn gelesen und empfehle es uneingeschränkt.« Cornelia Tsirigotis, Systeme

»Ein notwendiges Buch für alle an wirkungsvoller Präventionsarbeit interessierten Fachkräfte.« Sozialmagazin

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Familientherapie aktuell Alexander Korittko / Karl Heinz Pleyer Traumatischer Stress in der Familie

Christian Hawellek Entwicklungsperspektiven öffnen

Systemtherapeutische Lösungswege

Grundlagen beobachtungsgeleiteter Beratung nach der Marte-Meo-Methode

Mit Geleitworten von Gerald Hüther und Wilhelm Rotthaus. 2010. 322 Seiten mit 8 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-40207-8

In diesem Buch wird die Methodik der systemischen Therapie mit den Grundsätzen moderner Psychotraumatologie und Traumatherapie in Verbindung gebracht. Ziel ist es, traumatisierten Familien Lösungswege zu eröffnen, die ihnen dazu verhelfen können, nach erlittener Traumatisierung ein möglichst symptomfreies Leben zu führen. Neu ist, dass hier praxisorientiert beschrieben wird, wie Eltern und Kinder gemeinsam von Beratung oder Therapie profitieren können. Im ersten Teil werden neben historischen Aspekten der Psychotraumatologie die Ressourcen und Selbsthilfekräfte von Familien erläutert. Anhand von Beispielen wird erörtert, wie Familien und Paare nach einer Traumatisierung von außen (z. B. durch Unglücke, Krieg und Bürgerkrieg, frühkindliche Traumatisierung der Eltern, Tod eines Elternteils, traumatische Erfahrungen bei Pflegekindern) in Beratungsstellen unterstützt werden können. Im zweiten Teil des Buches werden systemtherapeutische Lösungswege im Bezugsrahmen der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Vorworte von Gerald Hüther und Wilhelm Rotthaus leiten den Band ein.

Mit einem Vorwort von Arist von Schlippe. 2012. 139 Seiten mit 25 Illustrationen, 6 Abb. und 11 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40217-7

Die Niederländerin Maria Aarts hat die von ihr begründete videobasierte Beratungs- und Coaching-Methode Marte Meo genannt, was »aus eigener Kraft« bedeutet. Der Pädagoge und Marte-Meo-Supervisor Christian Hawellek stellt in übersichtlicher Form die Grundlagen dieses Beartungs- und Therapieformats vor. Ausgehend von einer Charakteristik üblicher Beratungsverläufe werden die Besonderheiten der Methode dargestellt. Dabei gilt ein besonderes Augenmerk den sogenannten natürlichen entwicklungsunterstützenden Dialogen. Sie liefern die Vorbilder der Marte-Meo-Methode. Im weiteren werden die für die beobachtungsgeleitete Beratung charakteristischen Schritte von Kontrakt, Videobeobachtung, Videointeraktionsanalyse, Videoberatung und Follow-up-Video konkretisiert und anhand von Beispielen veranschaulicht. Die Darstellungen machen fortlaufend deutlich, wie sich die Marte-Meo-Methode unter theoretischen und praktischen Gesichtspunkten in die etablierte Landschaft der psychosozialen Hilfen einfügen lässt.

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525491096 — ISBN E-Book: 9783647491097