Wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen: Leitfaden für die Arbeit mit Eltern von Nesthockern [1 ed.] 9783666453335, 9783525453339

138 52 2MB

German Pages [247] Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen: Leitfaden für die Arbeit mit Eltern von Nesthockern [1 ed.]
 9783666453335, 9783525453339

Citation preview

Haim Omer Dan Dulberger

Wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen Leitfaden für die Arbeit mit Eltern von Nesthockern

Haim Omer Dan Dulberger

Wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen Leitfaden für die Arbeit mit Eltern von Nesthockern Aus dem Englischen von Astrid Hildenbrand

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit einer Abbildung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Martijn/stock.adobe.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-45333-5

Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Globale Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Ein Wort der Vorsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Mit Dankbarkeit und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Kapitel 1 Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Der Übergang ins Erwachsenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Von der Krise zum Scheitern: Die Rolle der elterlichen Verunsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Ein realistisches Ziel: Die funktionale Abhängigkeit . . . . . . . . 30 Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren . . . . . . . . . . . . . . . 32 Dysfunktionale Abhängigkeit vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Kapitel 2  Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Fruchtlose Erfahrungen mit therapeutischer Hilfe . . . . . . . . . 58 Die Entscheidung, therapeutisch mit den Eltern zu arbeiten ohne Einbezug des Nesthockers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

6

Inhalt

Das Narrativ der Totalverantwortung für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Die Auswirkungen der elterlichen Rundumversorgung . . . . . 66 Schwierigkeiten der Eltern, ihre Rundumversorgung einzustellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Der gewaltlose Widerstand und dysfunktionale Abhängigkeit . 70 Der Umgang mit elterlichen Vorbehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Therapieziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Kapitel 3 Die Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Rahmenbedingungen und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Die Eröffnungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Die Ankündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Unterstützende Rolle anderer Berufsgruppen . . . . . . . . . . . . . 115 Der Prozess des Versorgungsentzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Die Versorgungsdienste zurückfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Das Recht auf Privatsphäre einschränken . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Den Wohnsitz des Unerwachsenen wechseln . . . . . . . . . . . . . . 131 Die Abschlussphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Kapitel 4 Suiziddrohungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Der Schatten des Suizids in Familien mit dysfunktionaler Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen 142 Eine detaillierte Fallstudie zu einer suizidalen Krise . . . . . . . . 154 Indikationen und Kontraindikationen für den Einsatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen . . . . . . . . . 158

Inhalt

Kapitel 5 Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten, die am Erwachsenwerden scheitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Internetabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Schulverweigerung und sozialer Rückzug . . . . . . . . . . . . . . . . 172 »Tyrannische« Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Verantwortungsloser Umgang mit Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Kapitel 6 Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Beunruhigende Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Alte Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Der gewaltlose Widerstand in einem psychiatrischen Kontext . 194 Der gewaltlose Widerstand in einer psychiatrischen Klinik .196

Kapitel 7 Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen (Ohad Nahum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Mit dem erwachsenen Kind zusammenkommen . . . . . . . . . . . 208 Entwicklungspsychologische Faktoren im Erleben des erwachsenen Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Das therapeutische Zusammentreffen mit dem erwachsenen Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Schamgefühle durch ein neues Narrativ transformieren . . . . . 221 Schamgefühle durch schrittweise Konfrontation trans­formieren und Ängste abbauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Schamgefühle durch Wiedereintritt in die Lebenswelt transformieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Gespräch mit dem erwachsenen Kind im Rahmen der laufenden Elterntherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

7

8

Inhalt

Die Einzelsitzung mit dem erwachsenen Kind . . . . . . . . . . . . . 228 Paralleltherapie mit den Eltern und dem erwachsenen Kind . 231 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Inspirationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Ermutigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Einführung

Dieses Buch ist ein Ratgeber für Therapeutinnen und Therapeuten, die mit Familien arbeiten, in denen erwachsene Kinder auf höchst dysfunktionale Weise von den Eltern abhängig sind, und es beruht auf unserer zehnjährigen klinischen Arbeit mit Hunderten solcher Familien. Es ist das Resümee unserer Erkenntnisse über das dabei angewandte Therapiekonzept des gewaltlosen Widerstands und präsentiert unsere Einsichten in die Prozesse der dysfunktionalen Ab­ hängigkeit, der elterlichen Rundumversorgung und des Versorgungsentzugs sowie deren Funktionen für die Fortsetzung bzw. Linderung der Leiden dieser Familien. Seit 2009 benutzen wir den Begriff dysfunktionale Abhängigkeit für ein zwischenmenschliches Muster, das sich in bestimmten Familien zwischen jungen Erwachsenen oder Jugendlichen und deren Eltern herausbildet. Die meisten dieser »Unerwachsenen« leben im Elternhaus, sind für gewöhnlich nicht erwerbstätig und machen weder eine Schul- noch Berufsausbildung. Im Kern verweist dysfunktionale Abhängigkeit auf die Vorstellung – die vom erwachsenen Kind und den Eltern geteilt wird –, dass der junge Mensch unzulänglich und unfähig ist. Aufgrund dieser Vorstellung fühlen sich die Eltern dazu verpflichtet, ihre erwachsenen Kinder zu beschützen und zu beschirmen, die ihrerseits das Gefühl haben, ohne die elterlichen Dienste nicht leben zu können. Sobald die Eltern aus ihrer Rolle auszubrechen versuchen, reagieren die »Unerwachsenen« ungnädig mit Säbelrasseln. Im Laufe der Zeit erleben beide Seiten diese Situation als unentrinnbar. Dysfunktionale Abhängigkeit kann sich in einer Familie jahrzehntelang hartnäckig halten.

10

Einführung

Die Erforschung des »Nesthockerphänomens« steckt noch in den Kinderschuhen (Pozza, Coluccia, Kato et al., 2019), auch wenn vieles darauf hindeutet, dass es ein weit verbreitetes und wachsendes gesellschaftliches Phänomen ist. Man schätzt, dass insgesamt 40 Millionen Jugendliche und junge Erwachsene in Ländern der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) weder erwerbstätig sind noch sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden und dass fast zwei Drittel dieser Bevölkerungsgruppe (28 Millionen junge Menschen OECD-weit) sich auch nicht um Erwerbstätigkeit bemühen (OECD, 2016; OECD, 2019). In den USA leben mehr junge Erwachsene bei ihren Eltern als bei einem Lebenspartner oder einer Lebenspartnerin (Vespa, 2017), und 2019 lag das durchschnittliche Heiratsalter in den USA bei etwa 29  Jahren (U. S.  Census Bureau, 2019). Psychiater und Psychotherapeuten befassen sich zunehmend mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sozial isoliert sind und zurückgezogen in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer leben (Li u. Wong, 2015; Pozza et al., 2019). In Studien über stark suizidgefährdete Jugendliche hat man festgestellt, dass es eine große Gruppe von jungen Menschen gibt, die der »stillen Gefahr der Psychopathologie und suizidalen Verhaltens« unterliegen und Merkmale aufweisen wie festgefahrene Lebensführung, verringerte Schlafdauer und intensiver Medienkonsum (Carli et al., 2014). Unserer Erfahrung nach fallen die meisten Nesthocker mit Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit in diese Kategorien. Doch die Tatsache, dass sie oftmals introvertiert sind und soziale Kontakte meiden, hält viele von ihnen nicht davon ab, ihre Ansprüchlichkeit äußerst lautstark oder sogar ausgesprochen gewalttätig kundzutun. Auch wenn Nesthocker in den meisten Fällen ans Haus, an eine Wohnung oder ein Zimmer gebunden sind, hindert sie das nicht daran, ihre Anspruchshaltung in einer Lebensweise zu manifestieren, die von finanzieller und sozialer Verantwortungslosigkeit sowie von Suchtverhalten geprägt ist. Im Zentrum unseres Verstehens und unserer Behandlung von dysfunktionaler Abhängigkeit liegt der Prozess der Rundumversor­ gung. Die Eltern stellen sich auf die Bedürfnisse und Erwartungen ihres Kindes ein, wenn sie beharrlich ihren Gestus, ihre Verhaltensweisen und Regeln anpassen, damit ihr Nachwuchs nicht leiden

Einführung

muss. Die Rundumversorgung kann freiwillig geschehen, wenn die Eltern aus Mitgefühl für ihr Kind handeln, oder unter Zwang erfolgen, wenn sie sich durch extreme Reaktionen des Kindes dazu genötigt fühlen. Eine Rundumversorgung führt nachweislich dazu, dass sich Angst, Vermeidungsverhalten und Dysfunktion bei Kindern und Erwachsenen mit den unterschiedlichsten Störungen perpetuieren (Shimshoni, Shrinivasa, Cherian u. Lebowitz, 2019). Die elterliche Rundumversorgung prognostiziert auch, dass die (sowohl medizinische als auch psychologische) Behandlung des Nesthockers misslingt (Garcia et al., 2010). Dysfunktionale Abhängigkeit in Verbindung mit Rundumversorgung bildet ein pathologisches Beziehungsmuster (Tomm, St. George, Wulff u. Strong, 2014), von dem das Familienleben beherrscht wird. Mit dem Begriff Versorgungsentzug bezeichnen wir die einseitige und therapeutische Demontage dieses Musters. In diesem Buch stellen wir den Behandlungsansatz des gewaltlosen Widerstands vor, um damit Eltern von jugendlichen und erwachsenen Kindern mit Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit zu helfen. Unseres Wissens ist dieses Konzept die erste systematische Therapie von Eltern, mit dem wir diesem schnell wachsenden Problem begegnen. Es gibt therapeutische Programme bei Sozialphobie, Internetabhängigkeit und dem Hikikomori-Phänomen1, aber sie alle konzentrieren sich auf die problembehafteten jungen Menschen. Wir halten dies für eine schwerwiegende Einschränkung; denn die meisten dieser jungen Erwachsenen sind überhaupt nicht an Therapie interessiert. Interessiert daran sind die Eltern. Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands (Omer, 2001; Omer u. von Schlippe, 2011; Omer, 2010)2 ist besonders geeignet, um die Eltern beim Zurückfahren ihrer Rundumversorgung zu unterstützen. Dafür gibt es mehrere Gründe:

1 In Japan werden Menschen, die niemals ihr Haus verlassen, als Hikikomori bezeichnet – Anm. d. Übers. 2 Eine umfassendere Liste von Publikationen zum Thema gewaltloser Widerstand (NVR, Non-Violent Resistence) siehe https://www.haimomer-nvr.com.

11

12

Einführung

a) Durch gewaltlosen Widerstand werden die Eltern für Situationen sensibilisiert, in denen sie ausgebeutet und unter Druck gesetzt werden. In dieser Hinsicht folgt der gewaltlose Widerstand seitens der Eltern seinem gesellschaftspolitischen Modell. Der erste Schritt des gewaltlosen Widerstands als Form des politischen Kampfes besteht darin, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Unterwerfung der Opfer weder Gottes Wille noch ein Naturgesetz ist. Entsprechend besteht der erste Schritt des gewaltlosen Widerstands seitens der Eltern darin, ihr Bewusstsein dafür zu schärfen, dass sich ihre Unterwürfigkeit nicht zwangsläufig aus der Verfassung ihres Kindes ableitet, sondern das Resultat von Gewohnheit, Angst und Druck ist. Wenn die Eltern verstehen, wie zerstörerisch sich die Rundumversorgung des Nesthockers auswirkt, erkennen sie schnell, welcher Schaden dadurch auch für ihr eigenes Leben und das ihrer anderen Kinder entsteht. b) Das Konzept des gewaltlosen Widerstands wurde entwickelt, um das Risiko der Eskalation zu verringern, das die Eltern meistens in kompletter Angst vor der Durchführung der notwendigen Veränderungen verharren lässt. c) Durch gewaltlosen Widerstand werden die Eltern und die Familie von der Isolation erlöst. Wir werden zeigen, dass Isolation zu den wichtigen Faktoren gehört, die dysfunktionale Abhängigkeit aufrechterhalten. Der Übergang von der Einsamkeit zur Unterstützung ist der Schlüssel, der die Eltern dazu befähigt, sich selbst und ihr Kind aus der Falle dysfunktionaler Abhängigkeit zu befreien. Folglich ist der gewaltlose Widerstand nicht nur der erste Ansatz in der Therapie von Eltern von Nesthockern, sondern auch die einzige Behandlung, bei der die Schwierigkeiten der Eltern die gleiche Aufmerksamkeit erfahren wie die des Kindes. In diesem Buch beschreiben wir den Begriff der dysfunktionalen Abhängigkeit im Sinne einer familiensystemischen Situation, die mit dem gescheiterten Eintritt ins Erwachsenenalter verknüpft ist. Vorgestellt wird auch der gewaltlose Widerstand als Behandlungsansatz, um Eltern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit zu helfen.

Einführung

Als wir zum ersten Mal Familien mit Nesthockern in Behandlung hatten, gab es fast keine Fachliteratur zu dem Phänomen, das wir sahen. Wir erlebten dysfunktionale Abhängigkeit als unbekanntes Gelände und gewannen Erkenntnisse hauptsächlich durch direkte klinische Beobachtungen, auf deren Grundlage wir unsere eigenen Landkarten erstellten. Dabei stellten wir fest, dass dysfunktionale Abhängigkeit vielleicht nicht nur ein wichtiger Faktor der psychischen Gesundheit, sondern auch ein wachsendes soziales Phänomen ist, das der interdisziplinären Erforschung auf breiter Basis bedarf. Therapeutisch gesehen ist dieses Buch ein Leitfaden für den gewaltlosen Widerstand bei Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit. Es beruht auf einer jahrelangen Praxis und Verfeinerung in Hunderten von Fällen und bildet den Abschluss einer Reihe von manualisierten Umsetzungen des Konzepts des gewaltlosen Widerstands bei unterschiedlichsten Krankheitsbildern wie etwa: Störungen des Sozial­verhaltens mit oppositionell-aufsässigem Verhalten (Omer u. von Schlippe, 2011), Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts­ störungen (ADHS; Schorr-Sapir, 2018), Angststörungen (Lebo­witz u. Omer, 2013), Jugenddelinquenz (Lothringer-Sagi, 2020), Dia­betes bei Adoleszenten (Rothman-Kabir, 2018), Computerabhängigkeit (Sela, 2019), gefährlichem Autofahrverhalten von Jugendlichen (Shim­shoni et  al., 2015) sowie vermeidender/restriktiver Nahrungsaufnahme (Shimshoni, Silver­man u. Lebowitz, 2020). Weitere Leitlinien zum gewaltlosen Wider­stand wurden nicht auf der Grundlage von Diagnosen ent­wickelt, sondern in Kontexten von Umsetzungen, beispielsweise durch Pflegeltern (Van Holen, Vanderfaeillie, Omer u. Vanschoonlandt, 2018) und in psychiatrischen Kliniken (Goddard, Van Gink u. Van der Stegen, Van Driel u. Cohen, 2009). Bis jetzt ist eine klinische Studie mit 27 Familien, die sich unserer Intervention unterzogen haben, veröffentlicht worden (Lebowitz, Dolberger, Nortov u. Omer, 2012). Inzwischen ist unser Ansatz aus unserer Sicht reif für weitere Forschungen, und wir hoffen, dass dieses Buch zu einer Erweiterung seiner Evidenzbasis anspornt. Auch wenn die Wirksamkeit des Konzepts des gewaltlosen Widerstands bei Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit bislang noch sehr begrenzt bewiesen ist, haben die momentane Begriffsbildung und Therapiemethode eine breiter angelegte Forschungsbasis. Erstens hat

13

14

Einführung

sich der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei vielen Krankheitsbildern als wirksam erwiesen (um nur einige Literaturhinweise zu erwähnen: Omer u. Lebowitz, 2016; Weinblatt u. Omer, 2008; Lebowitz, Marin, Martino, Shimshoni u. Silverman, 2020; Ollefs, von Schlippe, Omer u. Kriz, 2009).3 Zweitens gibt es zunehmend Belege dafür, dass bei einer Reihe von Krankheitsbildern ein Zusammenhang besteht zwischen der Rundumversorgung durch die Familie und der Schwere der Symptome, der funktionellen Beeinträchtigung, der Wirksamkeit der Therapie und der Belastung der Betreuungspersonen (Shimshoni et al., 2019). Wie erwähnt, gab es wenig wissenschaftliche Literatur über Familien mit Nesthockern, die unsere früheren klinischen Erkundungen hätten stützen können. Dafür fanden wir aber einen reichhaltigen Bestand an saloppen und abfälligen Begriffen für Erwachsene, die auf dysfunktionale Weise von ihren Eltern abhängen. Begriffe wie »Unerwachsene« und »Hotel-Mama-Kinder« könnten im Sinne einer weiteren Stigmatisierung gedeutet und verwendet werden. Eine solche Absicht schließen wir kategorisch aus, wenn wir Begriffe wie »Unerwachsene« benutzen. Wir sehen die dysfunktionale Abhängigkeit nicht als eine solitäre »Geisteshaltung«, die es zu behandeln gilt, sondern als Teil eines Systemmusters, das sowohl die »beschuldigten« Nesthocker als auch die »bedrohten« Eltern einschließt. Dieses Muster ist keine Störung, die dem Nesthocker inhärent ist (es hat nichts zu tun mit der DSM-IV-Diagnose einer abhängigen Persönlichkeitsstörung). Unsere Arbeit zielt darauf ab, dieses Systemmuster zu transformieren und zu zeigen, wie kontextspezifisch dysfunktionale Abhängigkeit ist. Ähnliche Überlegungen gelten für unsere Verwendung des Begriffs »Unerwachsene«. Erwachsenwerden ist noch nie schwieriger gewesen als in unserer Zeit der verlängerten Adoleszenz und des Übergangs ins Erwachsenenalter. Angesichts dieser Schwierigkeit sind Fehlschläge beim Erwachsenwerden erwartbar, wodurch Millionen von Individuen und Familien aus den normativen Diskursen hinsichtlich Kindes- und Jugendalter und Erwachsensein herausfallen. 3 Eine vollumfängliche Publikationsliste zum Thema gewaltloser Widerstand siehe: https://www.haimomer-nvr.com/publications-and-research.

Einführung

Die genannten Zahlen von jungen Menschen in OECD-Ländern, die weder erwerbstätig sind noch sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden, sprechen für sich. Werden diese Menschen gesellschaftlich als Einzelfälle stigmatisiert, kommt das einer Leugnung der sozialen Verantwortung für ihre Situation gleich. In Kapitel 1 (Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunk­tionale Abhängigkeit) verknüpfen wir dysfunktionale Abhängigkeit bei Unerwachsenen mit dem Irrgarten des Übergangs ins Erwachsenen­ alter (Arnett, 2004) und beschreiben sie als Scheitern am Erwachsenwerden. Die Abhängigkeit eines Kindes von seinen Eltern kann als funktional oder dysfunktional beschrieben werden. Wir zeigen, wie beide Arten voneinander unterschieden werden können, und machen deutlich, dass wir mit unserem Ansatz nicht »Unabhängigkeit« pflegen (was wir für ein recht problematisches Ziel halten), sondern beim Übergang von dysfunktionaler Abhängigkeit zu funktionaler Abhängigkeit helfen wollen. Die wichtigen Veränderungen, die wir zu fördern versuchen, sind: a) Entwicklung einer Zeitperspektive, die es den Eltern erlaubt, sich um größere Bereitschaft zum Handeln zu bemühen; b) Unterstützung der Eltern, damit sie aus dem Hintergrund heraustreten und Präsenz gewinnen können; c) Befreiung der Eltern von ihrer Opfermentalität zugunsten eines neuen Willens zum eigenen Wohlbefinden; d) Unterstützung der Eltern, damit sie der Ansprüchlichkeit des Nesthockers entgegentreten können; e) Verschiedene Formen von Gewalt, Erpressung und Ausbeutung erkennen und sich diesen widersetzen. In Kapitel 2 (Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit) zeigen wir, warum sich der gewaltlose Widerstand seitens der Eltern zur Behandlung von dysfunktionaler Abhängigkeit eignet. Wir schildern auch, warum Versuche der Einzeltherapie des oder der Unerwachsenen oder eine herkömmliche Elternberatung meistens scheitern und unterschiedlich gestaltet sein können, beispielsweise: a) Der oder die Unerwachsene lehnt eine Therapie ab; b) Der oder die Unerwachsene willigt in die Therapie ein, die dysfunktionale Abhängigkeit besteht aber weiter; c) Den Eltern wird geraten, bedingungslose Akzeptanz zu zeigen, die Abhängigkeit bleibt dadurch aber unbeeinflusst; d) Den Eltern wird geraten, standhaft zu sein, sie sind aber entmutigt,

15

16

Einführung

wenn sie vor einer drohenden Eskalation einknicken. Wir behaupten, dass die Eltern fast immer die motivierten Partner sind, dass sie es verdienen, als Klienten um ihrer selbst willen betrachtet zu werden, und dass Eltern und Therapeut von ihrer Aufgabe abgelenkt würden, wenn der Unerwachsene einbezogen würde. Das Kapitel schließt damit, dass wir Behandlungsziele bestimmen und uns überlegen, was realistischerweise therapeutisch erwartet werden kann. In Kapitel 3 (Die Intervention) präsentieren wir detailliert die Leitlinien des Konzepts des gewaltlosen Widerstands bei dysfunktionaler Abhängigkeit. Die Therapie wird nicht Sitzung um Sitzung beschrieben, da dies die Berücksichtigung der besonderen Merkmale einer Familie behindern würde. In den Leitlinien werden die wesentlichen Behandlungsphasen, die mit jeder Phase verbundenen Ziele und Aufgaben sowie Weisen des Umgangs mit elterlichen Einwänden beschrieben. Solche Leitlinien sind schon in früheren Forschungen über den Ansatz des gewaltlosen Widerstands formuliert worden, um eine hinreichende Einheitlichkeit zu gewährleisten. In der Eröffnungsphase geht es darum: die therapeutische Allianz aufzubauen; das Problem neu zu rahmen, damit neue Optionen möglich sind; über die elterliche Rundumversorgung zu sprechen; am Problem der elterlichen Übernahme der Totalverantwortung zu arbeiten; die Notwendigkeit eines unterstützenden Netzwerks zu erklären; und zu trainieren, wie eine Eskalation vermieden werden kann. Zum Abschluss dieser Phase wird ein therapeutischer Fahrplan präsentiert. Im nächsten therapeutischen Schritt wird die Ankündigung formuliert und mitgeteilt. Diese ist ein halbformelles Ereignis, bei dem die Eltern ihrem unerwachsenen Kind sowohl mündlich als auch schriftlich übermitteln, welche Veränderungen in ihrer Einstellung und ihrem Verhalten sie einzuführen beschlossen haben. In der Ankündigung wird das Konzept des gewaltlosen Widerstands so dargelegt, dass die Betonung auf dem Widerstand liegt und nicht auf der Kontrolle. Bei der Vorbereitung der Ankündigung und ihrer Übergabe werden die Eltern in das Prinzip des gewaltlosen Widerstands eingeführt, das heißt: a) Sie lernen, ihren Widerstand als Funktion ihrer eigenen Bereitschaft zu sehen, statt als Funktion der Reaktionen ihres Kindes; b) Sie bereiten sich auf den Umgang mit den Reaktionen ihres Kindes vor, ohne dass die Situation eskaliert;

Einführung

c) Sie lernen, sich auf Veränderungen in ihrem Verhalten zu konzentrieren, statt auf sofortige Verbesserungen bei ihrem Unerwachsenen zu fokussieren. Die nächste Aufgabe ist dem Aufbau einer Unter­ stützergruppe gewidmet und kann parallel zur Vorbereitung der Ankündigung durchgeführt werden. Der Therapeut oder die Therapeutin hilft den Eltern, soziale Unterstützung zu bekommen, er bzw. sie leitet die Sitzung mit den Unterstützern und betreut die Gruppe nach der Sitzung weiter. Die nächste therapeutische Phase zielt auf die konkrete Umsetzung des Versorgungsentzugs, die allmählich und systematisch verläuft. In dieser Phase hat die Bewältigung gewalttätiger, zerstörerischer und gefährlicher Verhaltensweisen oberste Priorität. Der Versorgungsentzug umfasst eine Reihe von Vorgängen, in denen die elterlichen Dienste allmählich zurückgefahren und gegebenenfalls Lebensmodalitäten verändert werden. Der Therapeut hilft den Eltern, sich Ziele zu setzen, Reaktionen ihres Unerwachsenen aufzufangen und die Beziehung zum Kind zu erhalten. Die Abschlussphase hat meistens ein offenes Ende und bietet den Eltern die Möglichkeit, im Krisenfall die Therapie für kurze Zeit wieder aufzunehmen. In Kapitel 4 (Suiziddrohungen) stellen wir das Konzept des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen vor, die in Familien mit Unerwachsenen implizit oder explizit sehr präsent sind. Die Fachliteratur über Suizid ist zwar sehr umfangreich, aber wenig ist darüber geschrieben worden, wie Eltern mit Suiziddrohungen umgehen können. Beim Ansatz des gewaltlosen Widerstands helfen wir den Eltern, dass sie den Schritt von der Hilflosigkeit zur Präsenz, von der Isolation zur Unterstützung, von der Unterwerfung zum Widerstand, von der Eskalation zur Selbstkontrolle und von der Distanzierung zur unterstützenden Betreuung schaffen. In Kapitel 5 (Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten, die am Erwachsenwerden scheitern) befassen wir uns damit, wie sich dysfunktionale Abhängigkeit schon im Kindesalter oder in der Adoleszenz abzeichnet. Zu den hauptsächlichen Risikofaktoren gehören Computerabhängigkeit, Schulverweigerung, soziale Zurückgezogenheit, »tyrannische« Verhaltensweisen und verantwortungsloser Umgang mit Geld. In Kapitel 6 (Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen) zeigen wir, wie man mit Situatio-

17

18

Einführung

nen umgeht, die Anpassungen an die in Kapitel 3 beschriebene Vorgehensweise erfordern. Dazu zählen unter anderem: Notfälle (z. B. psycho­tischer Akut­zustand, Suizidversuch oder Ärger mit der Polizei), beunruhigende Zustände, die noch keine vollentwickelte dysfunktionale Abhängigkeit darstellen, sehr alte Eltern und die Umsetzung des Konzepts des gewaltlosen Widerstands in einer psychiatrischen Klinik. In Kapitel 7 (Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachse­ nen), das Ohad Nahum mit uns verfasst hat, beschreiben wir dysfunktionale Abhängigkeit aus der Perspektive des Unerwachsenen und gehen der Frage nach, wie der Kontakt zu ihm (entweder im Rahmen einer parallelen Einzeltherapie oder einer Einzelsitzung mit dem Therapeuten der Eltern) die Chancen auf Verbesserung erhöhen kann. Als Fazit des Buches weisen wir auf einige der vielen Fragen hin, die noch der Untersuchung und Erforschung bedürfen, wobei wir die Ätiologie und die sozialen Auswirkungen dysfunktionaler Abhängigkeit wie auch die Wirksamkeit unserer Intervention betrachten. Erwähnt wird auch, dass es Mut braucht, um die Intervention zu einem Erfolg zu machen. Das Phänomen der dysfunktionalen Abhängigkeit kann bei den Eltern, den Unerwachsenen und bei Therapeuten große Angst hervorrufen. Das Konzept des gewaltlosen Widerstands ist für uns sowohl auf gesellschaftlicher Ebene wie auch in familialen Kontexten mit dem Vorteil verbunden, dass er beim Sanftmütigen, beim Ängstlichen und beim Unterdrückten zu Mut inspiriert.

Globale Vielfalt Ein nicht gelingendes Eintreten ins Erwachsenenalter und dysfunktionale Abhängigkeit werden in vielen Kulturen beobachtet. Es ist noch ein großes Stück Arbeit nötig, um das Zusammenspiel von globalen Entwicklungen und kulturspezifischen Faktoren bei der Ausprägung dieser Phänomene zu verstehen (Teo u. Gaw, 2010). Das Gleiche sollte für die Entwicklung effektiver kulturspezifischer Interventionen gelten. Größtenteils sind wir damit im Kontext unserer eigenen Kultur beschäftigt. Gleichwohl sind wir sicher, dass viele

Mit Dankbarkeit und Anerkennung

andere Kulturen es nützlich fänden, wenn bei der Anwendung der in diesem Buch vorgestellten Interventionsmodelle in einer bestimmten Kultur deren spezifischen Bedeutungen, Symbole und Krisen des Erwachsenwerdens berücksichtigt würden.

Ein Wort der Vorsicht Dieses Buch ist als Leitfaden für Fachleute für psychische Gesundheit gedacht, die an Interventionen nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands interessiert sind. Der therapeutische Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit kann in professioneller Hinsicht sehr bereichernd sein und zugleich Sorgfalt voraussetzen, da er einige tief verwurzelte Familienmuster ins Wanken bringt. Wir raten davon ab, unsere therapeutischen Leitlinien ohne den entsprechenden Hintergrund der Profession für psychische Gesundheit oder ohne Unterstützung durch ein Team oder eine Supervision durch einen auf diesem Gebiet erfahrenen Mitarbeiter umsetzen zu wollen.

Mit Dankbarkeit und Anerkennung Für zehn Jahre therapeutischer Arbeit, auf die wir zurückblicken dürfen, möchten wir den Personen unseren Dank aussprechen, deren Kooperation, Einsatz und Weitblick diese möglich gemacht haben. In allererster Linie sind es die bemerkenswert mutigen Eltern, ihre erwachsenen Kinder und deren erweiterter Familienkreis, die uns ersucht haben, sie durch ihre tiefen Täler der Schatten und Ängste zu begleiten. In vielerlei Hinsicht wollen wir dazu beitragen, dass durch ihr Bemühen andere Menschen motiviert werden. Danken möchten wir auch den Teammitgliedern, die an unserer klinischen Reise in das unbekannte Gelände der dysfunktionalen Abhängigkeit teilgenommen haben: Ohad Nahum, Eli Lebowitz, Yuval Nuss, Amos Spivak, Dana Mor, Lital Mellinger, Efi Nortov, Nevo Pik, Mazal Landes und Uri Nitsan. Danken möchten wir auch dem Personal der Psychiatrischen Frauenstation des Sheba Medical Center, Ramat Gan, Israel, das

19

20

Einführung

2013–2014 unsere Arbeit mit Familien, deren erwachsene Kinder dort stationär behandelt wurden, unterstützt hat, vor allem Yosef Zohar, Alzbeta Juven Wetzler, Bruria Nussbaum, Sinaya Cohen und Nava Peri. Besonderer Dank und Anerkennung gelten unseren Kolleginnen und Kollegen, die über die Jahre mit uns kooperiert haben, um in ihren eigenen Ländern die Praxis des gewaltlosen Widerstands bei Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit zu etablieren: Peter Jakob in England, Willem Beckers in Belgien, Jan Olthof und Henk Breugem in den Niederlanden, Michaela Fried in Österreich und Tamara Wilson in Kanada.

Kapitel 1 Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

Noch nie war die Reise eines jungen Menschen ins Erwachsenendasein so langwierig und risikoreich wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Komplexität an Wahlmöglichkeiten, die Unsicherheit ihres Ausgangs, die Herrschaft von Individualismus und Konkurrenzdruck können zu einer schweren Last werden. Vielen jungen Menschen erscheint der Weg ins Erwachsenendasein an manchen Stellen wie ein bedrohlicher Irrgarten. In diesem Buch geht es um Familien mit jungen Menschen, die an dem einen oder anderen Punkt aufhören, sich in die psychosoziale Erwachsenenwelt hineinzuentwickeln. Statt sich immer weiter vom Elternhaus zu entfernen, graben sie sich noch tiefer darin ein. Die Nähe zu anderen Menschen wird durch soziale Netzwerke und Computerspiele ersetzt. Auf biologischer Ebene sind diese jungen Menschen Erwachsene, aber im psychosozialen Sinn sind sie noch Kinder. Wir nennen sie Nesthocker oder Unerwachsene, und das um sie herum sich entwickelnde Familienmuster bezeichnen wir als dys­ funktionale Abhängigkeit. In diesem Buch versuchen wir, die Familiendynamik zu verstehen, durch die eine solche Situation zum Dauerzustand wird, und Wege zu eröffnen, um diese zu verhindern oder umzukehren. In diesem Prozess sind die Eltern unsere potenziellen Partner. Sie sind meistens diejenigen, die motiviert sind und denen geholfen werden kann, die eingefrorene Entwicklung ihres Unerwachsenen aufzutauen. Seit Beginn der frühen 2000er Jahre untersuchen und behandeln wir Hunderte von Familien mit jungen Erwachsenen oder Adoleszenten, die in dieser Hinsicht gefährdet sind. Allein die Anzahl von

22

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

Eltern, die bei uns Hilfe gesucht haben, weist auf ein wachsendes Problem hin, das trotz seiner Schwere oft hinter Mauern von Schamgefühlen, Hilflosigkeit und Angst versteckt bleibt. Nesthocker bzw. Unerwachsene sind meistens weder erwerbstätig, noch stehen sie in Schul- oder Berufsausbildung. Ihre sozialen Bindungen zu Gleichaltrigen sind sehr gering. Viele von ihnen haben einen umgekehrten Tag-Nacht-Rhythmus und sind abhängig von sozialen Netzwerken oder Computerspielen. Oft verbringen sie ihre wachen Stunden zu Hause und verschanzen sich in ihrem Zimmer. In gewissen Fällen schließt der Nesthocker die Tür ab und kommt nur nachts aus seiner Höhle. Manche Unerwachsene verbringen zwar einen Teil ihrer Zeit außerhalb des Elternhauses und gehen auch mit Freunden aus, hängen aber physisch und finanziell vollkommen von ihren Eltern ab. Über die Jahre verbringen selbst die besonders extrovertierten unter den Unerwachsenen die meiste Zeit ihres Lebens abgeschottet von der Umwelt. Die Eltern von Unerwachsenen leben in ständiger Sorge und Angst. Dieser Seelenzustand belastet ihre Schlafqualität, ihre Gesundheit, ihre Arbeitsfähigkeit und das Familienleben. Spannungen in der Paarbeziehung haben tendenziell mit dem Unerwachsenen zu tun und sind mit vielen Schuldzuweisungen verbunden. Ein Schleier der Heimlichkeit umgibt die Familie. Besuche werden meistens vermieden, und der Kontakt zur Verwandtschaft und zum Freundeskreis ist auf ein Minimum reduziert. Die Geschwister von Unerwachsenen sind in der Regel unab­ hängig und halten physisch oder emotional Abstand zu ihrem problematischen Geschwisterteil. Manchmal fühlen sie sich verpflichtet, sich auf die Seite der Eltern zu stellen, stehen aber deren Überfürsorglichkeit auch äußerst kritisch gegenüber und ärgern sich über das Unmaß an Aufmerksamkeit und Ressourcen, das dem Nesthocker zuteilwird. Der Unerwachsene erwartet und verlangt von seinen Eltern diverse emotionale und materielle Zuwendungen, zum Beispiel Geld, hauswirtschaftliche Dienste, Beförderung. Gleichzeitig stülpt er akzeptablen elterlichen Verhaltensweisen ungewöhnliche Einschränkungen über. Diese Forderungen unterlegt der Unerwachsene mit Erklärungen über seine Unfähigkeit (»Ich kann nicht zur Schule

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

Hilflosigkeit Angst

Schuld­ zuweisungen Zugeständnisse der Eltern Abhängigkeit des Unerwachsenen

Scham­ gefühle

Drohung

Mitleid Abbildung 1: Dysfunktionale Abhängigkeit

oder zur Arbeit gehen!« oder: »Ich kann nicht aus dem Haus gehen!« oder: »Ich bin krank!«), mit Schuldzuweisungen (»Daran seid ihr schuld!« oder: »Ihr habt mich zu dem gemacht, was ich bin!«) und mit Drohungen (»Wenn ihr das nicht macht, dann geschieht etwas ganz Schreckliches!«). Derlei Botschaften werden nicht immer explizit gemacht. Manchmal ist die einzige klar geäußerte Forderung die, in Ruhe gelassen zu werden; aber die Botschaft »Lasst mich in Ruhe!« läuft auf jede Menge Dienstleistungen hinaus, mit deren Hilfe der Unerwachsene erst in die Lage versetzt wird, in Ruhe gelassen zu werden. Seine von Unfähigkeit, Schuld und Drohung gesättigte Botschaft verstärkt diese Forderungen mit dem Unterton eines unveräußerlichen Rechts – zu einem Gefühl der Anspruchsberechtigung. Die Eltern reagieren auf derlei Botschaften meistens mit Mitleid, Schuldgefühlen und Angst. Diese Einstellung bildet die perfekte Ergänzung zu dem von Unfähigkeit, Schuldzuweisungen und Drohungen durchzogenen Verhaltensmuster des Unerwachsenen. Die Eltern entwickeln ein Gefühl von Verpflichtung als Gegenstück zu der Dysfunktion ihres Kindes und stellen sich auf dessen ständig zunehmende Bedürfnisse und Erwartungen ein. Diese Zugeständnisse verstärken die Hilflosigkeit des Unerwachsenen, was wiederum das Gefühl der Eltern intensiviert, dass sie keine andere Wahl haben, als ihre Zugeständnisse auszudehnen (Abb. 1). Frustriert darüber

23

24

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

präsentiert der eine oder andere Elternteil dem Nesthocker gelegentlich ein paar wütende Forderungen, was meistens zur Eskalation führt, bei der die Unerwachsenen in Panik geraten, Tobsuchtsanfälle bekommen oder mit Suizid drohen. Dann fühlt sich ein Elternteil zu Zugeständnissen verpflichtet, was die Misere der Familie weiter verschlimmert. Dieser Teufelskreis kann über Jahre oder gar Jahrzehnte andauern. Die Isolation des Nesthockers wird dadurch verschärft, dass die Eltern sich sträuben, ihr Geheimnis zu lüften. Die Familie zieht sich in sich selbst zurück, sodass Einflüsse von außen nicht mehr zum Familiensystem durchdringen können. Mit zunehmender Erfahrung im Umgang mit solchen Familien stellten wir fest, dass bestimmte Muster dysfunktionaler Abhängigkeit einhergingen mit den vielfältigsten klinischen Krankheitsbildern (z. B. Angststörungen, Lernschwächen, Aufmerksamkeits- und Hyper­ akti­vi­tätsstörungen – ADHS, Zwangsstörungen, Depressionen, Sozialphobie, hochfunktionalem Autismus, Anorexia nervosa, Verhaltensstörungen), oft aber keine eindeutige Pathologie zu erkennen war. Wir stellten auch fest, dass viele von uns behandelten Eltern, die ihre Rundumversorgung ohne Eskalation erfolgreich zurückfahren und den Forderungen und Angriffen des Unerwachsenen widerstehen konnten, signifikante Verbesserungen erreichten (Lebowitz et al., 2012). Durch unsere Interventionen konnten wir die zugrunde liegenden psychischen Störungen zwar nicht beheben, aber abmildern, indem wir die Handlungskompetenz des Unerwachsenen verbesserten, wodurch das Leiden verringert und die Chancen erhöht wurden, dass der Unerwachsene mehr Verantwortung übernahm. Als wir diesen Eltern zuhörten, erkannten wir viele Muster, die wir in unserer therapeutischen Arbeit mit Familien sahen, deren jüngere Kinder dysfunktionale Verhaltensweisen zeigten und die in der Falle aus Mitleid, Schuldgefühlen und Angst gefangen waren. Auch diese Eltern schwankten zwischen Rundumversorgung und wütenden Forderungen. Der wesentliche Unterschied war der, dass die Muster der Familien mit Unerwachsenen rigider und extremer, die Drohungen bedrohlicher und die Verzweiflungsgefühle stärker waren. Die Entwicklungsuhr der Familien war anscheinend angehalten worden und konnte nicht wieder zum Laufen gebracht werden.

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

Ein weiterer markanter Unterschied lag in der großen Sorge der Eltern, der Unerwachsene könne Suizid begehen. Diese Drohung war bei sehr vielen von uns behandelten Fällen ein Thema und zeigte sich als mächtiges Abschreckungsmittel für elterliche Initiativen. Das macht deutlich, welch zwanghafter Natur die Abhängigkeitsbeziehung ist. Der Nesthocker hat den Schutz, den die Eltern ihm bieten, so erlebt, als ob das deren einzige Lebensoption sei. Dieses Gefühl der existenziellen Bedrohung war bei den Eltern jüngerer Kinder deutlich weniger ausgeprägt. Eine individuelle Psychotherapie empfindet der Unerwachsene oftmals als Bedrohung oder als Möglichkeit, Initiativen der Eltern, die deren Schutzverhalten untergraben könnten, hinauszuzögern. Meistens sagen diese Unerwachsenen zu ihren Eltern: »Ich brauche keine Therapie!« oder: »Ihr seid doch diejenigen, die ein Therapie machen müssten!«. Der Unerwachsene hat aber nicht deshalb recht, weil die Eltern mehr Hilfe brauchen als er selbst, sondern weil sie üblicherweise die Motivation zu einer Therapie haben. Als wir uns auf Nesthocker bzw. Unerwachsene zu konzentrieren begannen, betraten wir unbekanntes Gelände, eine dunkle Galaxie isolierter Eigenwelten, alle bewohnt von in sich eingeschnürten Familien und gefangen in einer Blase der Verzweiflung. Die Familienstruktur schien sich einzig und allein auf den Zweck hin entwickelt zu haben, einen Unerwachsener in einer komplett abgeschiedenen Welt zu konservieren. Überrascht von unseren Beobachtungen, nahmen wir die klinische Literatur als Leitfaden. Viele der Unerwachsenen hatten eine glaubhafte psychiatrische Diagnose, mit der sich aber ihre extreme Abhängigkeit, Hilflosigkeit, Gewaltbereitschaft, ihr Festkrallen und Gefühl der Anspruchsberechtigung kaum erklären ließen. Die von uns beobachtete Familiendynamik war über eine breite Palette an Diagnosen hinweg sehr ähnlich; und war der Teufelskreis aus Abhängigkeit und Rundumversorgung einmal durchbrochen, besserte sich – unabhängig von der Diagnose – das Klima zwischen Unerwachsenem und Familie merklich. Die dysfunktionale Abhängigkeit scheint folglich ein diagnoseübergreifendes Phänomen zu sein. Allmählich stellten wir fest, dass »Unerwachsene« mit ähnlich dysfunktionalen Verhaltensweisen in vielen modernen Kulturen stigmatisiert werden,

25

26

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

zum Beispiel als »Bumerang-Kinder« oder »Nesthocker« (Deutschland), »adultescents« (junge Erwachsene, die noch im Teenageralter stecken), »NEETs« (not in employment, education or training; weder erwerbstätig noch in Schul- oder Berufsausbildung), »KIPPERS« (kinds in parents’ pockets eroding retirement savings; Kinder, die den Eltern auf der Tasche liegen und deren für den Lebensabend Erspartes aufbrauchen), »Parasaito Shinguru« (parasitäre Einzelwesen, Japan), »bamboccioni« (Kindsköpfe, Jammerlappen, Italien) oder »mammoni« (Muttersöhnchen, Italien), »Hotel Mama« (Elternhaus, in dem junge Erwachsene nach der Adoleszenz wohnen, Österreich) und »Tanguy-Syndrom« (junge Erwachsene, die sich nur zögernd vom Elternhaus lösen; nach dem französischen Film »Tanguy«). Derlei Etikettierungen lassen darauf schließen, dass Erwachsenwerden in der heutigen Gesellschaft sich als riskant und schwierig erweist. Das Konzept des Übergangs ins Erwachsenalter, das zu Beginn des 21. Jahrhunderts formuliert wurde, bot einen kulturübergreifenden Blick auf dieses Phänomen (Arnett, 2000) und ist von daher eine gute Ausgangsbasis.

Der Übergang ins Erwachsenalter Viele in den 1950er und 1960er Jahren geborene Erwachsene reiben sich die Augen angesichts ihrer Kinder, die mit Mitte zwanzig noch bei den Eltern und auf deren Kosten leben, zwischen Jobs and Liebesbeziehungen hin und her huschen, freizügig mit unrealistischen Berufsplänen experimentieren und ihr mageres Einkommen für hochwertige Konsumgüter ausgeben. »Als ich in deinem Alter war«, beschweren sich die Eltern, »war ich schon verheiratet und hatte zwei Kinder!« oder: »Als ich 18 war, konnte ich es kaum erwarten, aus meinem Elternhaus auszuziehen!«. Aus elterlicher Perspektive ist die richtige Entwicklungsordnung zerbrochen und droht nun, zu einer Kluft zwischen Adoleszenz und Erwachsensein zu werden. Eine diesbezügliche Theorie besagt, dass diese Kluft eine neue Entwicklungsphase, eine Übergangsphase bzw. emerging adulthood (Arnett, 2004) darstellt. Diese Transitionsphase ist nicht einfach eine verlängerte Adoleszenz, weil sie einen viel weiteren

Der Übergang ins Erwachsenalter

Erkundungshorizont fern von der elterlichen Kontrolle ermöglicht. Sie ist aber auch kein Erwachsensein, weil sie nicht mit den Verantwortlichkeiten einhergeht, die ein Erwachsener traditionell übernimmt. Diese Phase wird als eine Zeit beschrieben, in der man die eigene Identität, berufliche Neigungen und zwischenmenschliche Beziehungen erkundet. Es ist eine Zeit der Instabilität, wenn Wohnsitze sich verlagern und Pläne gemacht werden, damit man sie revidieren kann. Die Transitionsphase ist die Lebensphase von offenen Zukunftsmöglichkeiten und hohen Erwartungen und bietet dem allmählich ins Erwachsenendasein übergehenden Menschen die Gelegenheit, sich von der in vielen Herkunftsfamilien eigenen chronischen Unzufriedenheit zu befreien. Einige Beobachter der Transitionsphase sehen diese Zeit als äußerst wünschenswertes Phänomen. Sie befürworten begeistert das Recht von jungen (und weniger jungen) Menschen, ihre Identität zu erforschen und verschiedene Beschäftigungen und Beziehungen auszuprobieren. Sie sehen in dieser Schwellenphase eine kreative Reaktion auf ein verwirrendes postindustrielles Zeitalter. Diese jungen Menschen werden in optimistischen Begriffen beschrieben, beispielsweise als »erfolgreich, kämpferisch und hoffnungsfroh« (Arnett u. Schwab, 2012) oder »umtriebig, freudvoll und großen Träumen folgend« (Arnett u. Schwab, 2014). Auch die Neurobiologie scheint die Transitionsphase positiv zu sehen und beruft sich auf Studien, die nahelegen, dass die strukturelle Entwicklung des adoleszenten und postadoleszenten Gehirns nach neuen und vielfältigen Erfahrungen verlangt. Demnach entspricht diese Transitionsphase der Gehirn­ entwicklung und fördert sogar den IQ (Steinberg, 2014). Es kommt nicht von ungefähr, dass die meisten begeisterten Befürworter der Transitionsphase selbst in dieser Phase stehende junge Menschen sind. Wie ein sich in dieser Phase befindlicher Blogger feststellte: »Als ich das sich abzeichnende Erwachsensein verdaute, schmeckte nichts so süß und erfüllend – als ob man ohne Schuldgefühle und Blähungen einen ganzen Käsekuchen verspeist. Denn man hat uns das ganze Leben lang gesagt, wir sollten einfach nur immer diese Treppen hochklettern. Transition ist das das, was geschieht, wenn wir die Treppe verlassen und mit der Erkundung beginnen – all die Sackgassen und falschen Abzweigungen eingeschlossen« (Angone,

27

28

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

2014). Menschen im Übergang zum Erwachsensein rechtfertigen sich gern damit, dass sie ihren Eltern die Theorie der Schwellenphase erklären. Viele Eltern finden diese Transitionsphase auch gut und unterstützen ihre zwanzigjährigen und noch älteren Kinder bereitwillig. Doch das Ganze hat auch eine Schattenseite. Viele sehen den Übergang zum Erwachsenen eher als Krise denn als eine Zeit des Experimentierens. Das dysfunktionale Abhängigkeitsmuster, das wir hier thematisieren, veranschaulicht diese Krise und das Scheitern, sie zu lösen. Unerwachsene scheinen tatsächlich keine neue Identität zu erkunden. Sie entfalten nicht dieses dynamische Versuch-und-Irrtum-­ Prinzip, nach dem angehende Erwachsene hinsichtlich Wohnort, Partnerwahl und Korrekturen von Plänen vorgehen. Zwar experimentieren einige von ihnen vielleicht mit alternativen Selbstbildern, aber dies geschieht nur in der Fantasie oder in der virtuellen Welt. Sie erforschen nicht ihre eigenen Möglichkeiten und haben kein Interesse an anderen Menschen, abgesehen von ihren Eltern, die für sie aber nur Objekte von Schuldzuweisungen und Dienstleister sind. Dysfunktionale Abhängigkeit scheint demnach die andere Seite der Medaille der Transitionsphase zu sein. Genau das geschieht, wenn der Übergang zum Erwachsensein scheitert.

Von der Krise zum Scheitern: Die Rolle der elterlichen Verunsicherung Im Rahmen der Transitionsphase müssen die heutigen Eltern junger Erwachsener eine Rolle spielen, für die sie kein Vorbild haben, und gegen ihre eigenen Wertvorstellungen handeln. Als sie selbst heranwuchsen, mussten die jungen Menschen nicht aus dem Elternhaus hinauskomplimentiert werden. Im Gegenteil: Die junge Generation zog schon in einem relativ frühen Lebensalter in die Welt hinaus. Das durchschnittliche Heiratsalter bei Frauen und Männern zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und Mitte der 1970er Jahre war stabil: 21 Jahre bei den Frauen und 23 Jahre bei den Männern. 2000 war das durchschnittliche Heiratsalter bei den Frauen auf 25 bzw. auf 27 bei den Männern gestiegen. Heute liegen die Vergleichszahlen

Von der Krise zum Scheitern: Die Rolle der elterlichen Verunsicherung

besonders in den Mittel- und Oberschichten bei 28 bzw. 30 Jahren (U. S. Census Bureau, 2018). Nach der traditionellen Rollenverteilung zwischen Eltern und Kind halten die Eltern an ihrem Kind fest, und das Kind versucht, sich abzulösen. Früher wurde der Übergang ins Erwachsensein so formuliert, als ob er etwas sich von selbst Ereignendes sei. Kinder wurden »volljährig«, »mündig«, »reif«, »flügge«, »selbstständig« oder »verließen das Nest«. Die Eltern von heute sind viel stärker daran beteiligt, ihre Kinder zum Erwachsensein anzustoßen, als es ihre eigenen Eltern waren. Es braucht neue Ausdrücke, um diese aktive Rolle zu beschreiben. Wir sprechen davon, das Kind »loszulassen« und es »fortzuschicken«. Heute kann man nicht mehr darauf zählen, dass das Nest sich von selbst leert. Manchmal muss es geleert werden. Viele Eltern von Unerwachsenen erleben »Vergleichsmomente«, wenn sie an die Bedingungen denken, unter denen sie unbarmherziger aufwuchsen als ihre eigenen Kinder und ihr Übergang in die erwachsene Unabhängigkeit abrupter geschah. Fast die Hälfte der Eltern von angehenden Erwachsenen gab in einer 2013 von der Clark University durchgeführten Umfrage an, dass sie ihren 18- bis 29-Jährigen »häufige Unterstützung bei Bedarf« oder »regelmäßige Zuschüsse zum Lebensunterhalt« (Arnett u. Schwab, 2013) gebe. Als die Eltern nach der finanziellen Unterstützung gefragt wurden, die sie von ihren eigenen Eltern erhalten hatten, sagten nur 14 Prozent dieser Eltern, dass sie »häufige Unterstützung« oder »regelmäßige Zuschüsse zum Lebensunterhalt« bekommen hätten, als sie selbst in den Zwanzigern gewesen waren. Dieser Unterschied zwischen dem, was heutige Eltern ihren Kindern geben, und dem, was sie von ihren eigenen Eltern erhalten hatten, ist eine ständige Quelle der Ambivalenz beim elterlichen Geben. Hin und wieder fragen sich die Eltern: »Wo sollen wir die Grenze ziehen zwischen zu wenig, genug und zu viel?« Aus dieser Verunsicherung erwächst oft eine gemischte Botschaft, in der übertriebene Zuwendungen verknüpft sind mit Klagen wie »Als ich in deinem Alter war«, Nörgeleien über die Abhängigkeit des Kindes und unrealistischen Erwartungen von Dankbarkeit und Leistungen. Es gibt keine festgelegten Leitlinien, wie man mit einem Kind in der Übergangsphase zum Erwachsenwerden umgehen soll. Es

29

30

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

gibt aber eine Menge Entwicklungstabellen und Leitlinien, wann die Sauberkeitserziehung beginnen sollte, wann Mädchen in die Pubertät kommen und welche normativen kognitiven Fähigkeiten ein Adoleszenter hat. Dieser Entwicklungsweg hört bei 18 Jahren auf und nimmt dann die Form eines langen, nebligen Tunnels an, eines Irrgartens, der (mit Glück) zu Ende ist, wenn das Kind in den Dreißigern ist, manchmal in Verbindung mit einer Heirat, mit Elternschaft, eigener Wohnung und finanzieller Unabhängigkeit. Die Eltern von angehenden Erwachsenen wissen nicht, was richtig ist und was sie erwarten können. Tut es unserem Kind gut, wenn es bei uns wohnt? Sollten wir von ihm Miete verlangen? Müssen wir wirklich noch wissen, wohin und mit wem es ausgeht? Dieses normative Vakuum führt dazu, dass Eltern heutzutage weitaus verwundbarer sind. Um unangemessenen Forderungen widerstehen zu können, brauchen Eltern einen festen Grund unter ihren Füßen. Doch heutige Eltern stehen auf Treibsand. Die Situation wird noch schwieriger, wenn die Eltern Angst und Schuldgefühle haben und sich nicht einig sind. Wenn solche Bedingungen sich mit der Anpassung an Schwierigkeiten seitens des Kindes paaren, werden Risiken der Krise beim Erwachsenwerden zu einem Scheitern am Erwachsenwerden. Der mit sich ringende Adoleszente kann sich dann zu einem Unerwachsenen entwickeln.

Ein realistisches Ziel: Die funktionale Abhängigkeit Die persönliche Unabhängigkeit gehört als höchster Wert so sehr zur modernen Weltsicht, dass ein zufriedenes Erwachsenenleben ohne sie nur schwer vorstellbar ist. Unabhängigkeit ist ein Synonym für ein normatives Erwachsensein. Sie ist Voraussetzung einer modernen Gesellschaft und eng verknüpft mit hochwertigen Begriffen wie Authentizität, Individualität und Freiheit. Unabhängigkeit ist die Krönung des Selbstseins. Der Begriff der Abhängigkeit ist dagegen voller negativer Assoziationen. Aber das war nicht immer so. Früher hielt man die Unabhängigkeit eher für eine Idealvorstellung als für einen normativen Zustand. Sie galt nicht als Qualitätsmerkmal des Erwachsenseins.

Ein realistisches Ziel: Die funktionale Abhängigkeit

Die Auffassung von persönlicher und finanzieller Unabhängigkeit als Wesensmerkmal des Erwachsenseins wurde durch den Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg befeuert. Seit den späten 1940er Jahren wird durch die Verfügbarkeit von Autos, Darlehen, Hypotheken und erschwinglichen Konsumgütern jungen Menschen das Gefühl vermittelt, dass Unabhängigkeit sofort greifbar ist. Seit den 1980er Jahren jedoch scheint sich das Narrativ der Unabhängigkeit im Belagerungszustand zu befinden. Sinkende Löhne, Marktzusammenbrüche und steigende Wohnkosten lassen den Traum von Unabhängigkeit zunehmend schwerer realisieren. Doch bei genauerer Betrachtung kann Erwachsensein nicht mit Unabhängigkeit gleichgesetzt werden. Die finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern bedeutet fast automatisch die Abhängigkeit von einem Arbeitsmarkt und der ihn regulierenden Wirtschaft. Die Heirat als ein traditionelles Merkmal der Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie bedeutet eigentlich eine neue wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Eheleuten. Auch in der florierenden Nachkriegswirtschaft waren die Menschen zwangsläufig von einem Arbeitgeber abhängig, damit sie ihre Hypotheken bezahlen konnten. Sie hatten einfach genug Kaufkraft, Beschäftigungssicherheit und Zugang zur Technik, um sich in ihrer Abhängigkeit unabhängig fühlen zu können. Alles in allem könnte die volle Umsetzung von Unabhängigkeit im Sinne eines Ideals der totalen Freiheit eher auf Exzentrik und Marginalität hindeuten als auf menschliche Reife. Der komplett unabhängige Mensch wäre wahrscheinlich auch unzuverlässig, wie viele verlassene Ehepartner, Kinder oder Eltern bestätigen würden. Tatsächlich ist das Leben gewissermaßen eine unendliche Kette von Abhängigkeiten. Unabhängigkeit ist das Erleben von Abhängigkeiten, die so zuverlässig sind, dass wir sie als selbstverständlich hinnehmen. Die im Leben so zahlreich vorhandenen Unfälle, Brüche und Störungen erinnern uns daran, wie fragil unsere Unabhängigkeit sein kann. Deshalb wollen wir Eltern und Unerwachsenen nicht helfen, von der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit zu gelangen, sondern sie unterstützen, sich aus einer dysfunktionalen Abhängigkeit zu lösen und zu einer funktionalen Abhängigkeit zu gelangen. Funktionale Abhängigkeit stellt sich ein, wenn Menschen auf eine Weise voneinander abhängen, dass ihr gegenseitiges Überleben, ihre

31

32

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

Anpassung und ihr Wohlergehen erhalten werden. Dabei geht es um die Fähigkeit, einen Mittelweg zu finden zwischen meinem Vorteil und dem der anderen, um die Balance zwischen Geben und Nehmen und zwischen Helfen und Hilfe bekommen. Es gibt viele gesellschaftliche Normen, mit deren Hilfe wir zwischen akzeptablen und inakzeptablen Formen von Abhängigkeit unterscheiden können. Wenn Nachbarn gelegentlich etwas voneinander ausleihen und es dann wieder zurückbringen oder wenn Freunde sich gegenseitig helfen, nachdem das Problem allein nicht zu lösen war, oder wenn behinderte Menschen pflegerische Betreuung brauchen, sind das allgemeine Beispiele für sozial akzeptable Abhängigkeit. Wenn aber Nachbarn immer nur von anderen leihen, aber selbst nichts verleihen, oder wenn Freunde einander zum Helfen nötigen, sind das Beispiele für inakzeptable Formen von Abhängigkeit. Die Unterscheidung zwischen akzeptablen und inakzeptablen Formen von Abhängigkeit ist auch für Eltern und Kinder von Bedeutung. Selbst kleine Kinder wissen schon, dass sie manche Dinge selbst bewältigen müssen. Wenn sie größer sind, lernen sie, dass ihre Mithilfe im Haushalt erwartet wird. Und wenn sie erwachsen werden, erwartet man, dass ihre Beziehung zu den Eltern zunehmend symmetrisch wird. Wenn die Eltern älter werden, kann sich die Abhängigkeitsrichtung umkehren, und die Kinder müssen vielleicht die Eltern unterstützen. Im Fall von dysfunktionaler Abhängigkeit brechen diese Erwartungen in sich zusammen. Die Eltern unterstützen ihr Kind nicht mehr auf konstruktive Weise, sondern erfüllen dessen ungemessene Erwartungen. Unerwachsene empfangen keine angemessene Unterstützung von ihren Eltern, sondern beuten sie durch Passivität, emotionalen Druck und Nötigung aus.

Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren Lernen, zwischen dysfunktionaler und funktionaler Abhängigkeit zu unterscheiden, ist vielleicht die allererste Aufgabe der Eltern von Unerwachsenen. Im Rahmen unserer therapeutischen Arbeit haben wir fünf Fragen formuliert, mit deren Hilfe Eltern die eine Art der Abhängigkeit von der anderen Art unterscheiden können.

Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren

Haben wir eine zeitliche Perspektive? Können wir einem Horizont des besseres Zusammenwirkens entgegensehen? Sechs Jahre lang hatte Bernd (28 Jahre) in einem Studentenwohn­ heim gewohnt, den Masterabschluss in Geschichte gemacht und stun­ denweise als akademische Hilfskraft gearbeitet. Als seine Bewerbung um ein zur Promotion führendes Aufbaustudium abgelehnt wurde, war er am Boden zerstört. Er zog wieder bei den Eltern ein und verbrachte die meiste Zeit mit Schlafen oder grübelte über sein Scheitern nach. Eines Tages sahen seine Eltern, Sabine und Jan, wie er versunken einen Turm aus Legosteinen baute. Da sie froh waren, dass er zur Abwechs­ lung etwas Produktives machte, kramten sie alle seine Baukästen aus seiner Kinderzeit hervor und legten sie auf ein Regal im Wohnzimmer. Ab da verbrachte Bernd immer mehr Zeit im Wohnzimmer und baute Legostädte. Er schien das Interesse an seinem Freundeskreis verloren zu haben, ging aber gelegentlich mit seinen Eltern aus, wenn sie ein­ kaufen gingen oder ihre Freunde besuchten. Ein Jahr ging vorüber, ohne dass sich etwas an Bernds Zustand geändert hätte. Als Bernds Eltern zu uns kamen, waren sie zutiefst besorgt, doch Jan mimte Zuversicht über die Situation. Er sagte, sein Sohn scheine akti­ ver und weniger zurückgezogen. »Ja«, sagte Sabine, »aber sollten wir darauf beharren, dass er aus seinem Zimmer kommt, um unsere Gäste zu begrüßen? Oder sollen wir ihn in Ruhe lassen? Er ist schließlich ein erwachsener Mann.«

Elterliche Anpassung an die Eigenheiten ihres Kindes kann hilfreich sein, wenn Aussicht auf ein besseres Zusammenwirken besteht. Doch Bernds Eltern schienen eine solche Orientierung verloren zu haben. Der Vater sah Bernds tagelanges Spielen mit Legosteinen für ein gutes Zeichen. Die Mutter bezeichnete Bernd als »einen erwachsenen Mann«, aber nur als Rechtfertigung dafür, dass er ungestört in seinem Zimmer bleiben durfte. Diese Eltern kamen dem kindischen Verhalten ihres Sohnes entgegen. Als sie ihn mit Legosteinen spielen sahen, stellten sie ihm noch seine früheren Baukästen bereit. Hatten sie vergessen, dass Bernd bis vor kurzem eigenständig gelebt, studiert und gearbeitet hatte? Bernds Eltern versorgten ihren Sohn, als ob sie ein Kind versorgen würden. Sie kramten seine Spielzeuge hervor, kochten für

33

34

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

ihn, nahmen ihn mit zu ihren Freunden und erfreuten sich daran, wie er mit Legosteinen spielte. Es schien geboten zu sein, in diese Situation wieder eine Vorstellung von Zeit und Aussichten auf ein besseres Zusammenwirken zu bringen. Wir verwenden verschiedene Fragen, Botschaften und Sprachbilder, damit sich die Eltern auf das Thema Zeit neu einstellen können. Eine Frage, die sich vielleicht als hilfreich erweist, lautet: »Wo sehen Sie Ihren Platz in zehn Jahren?« Wir wollen den Eltern helfen, sich auf ihr fortschreitendes Alter zu konzentrieren. Bernds Eltern waren 58 und 53, und deshalb bat der Therapeut sie, sich in ihr Lebensalter von 68 und 63 hineinzudenken. In diesem Gespräch wurde deutlich, dass sie irgendwann in der Zukunft – unabhängig von der Verfassung ihres Sohnes – ihre Beschützerrolle werden aufgeben müssen. Loslassen ist der Prozess, in dem die Eltern ihre Verantwortung für das erwachsen werdende Kind ablegen. Statt zu fragen »Was können wir für unser Kind tun?«, fragen sie »Was sollten wir für unser Kind nicht mehr tun?«. Um diesen Prozess des Loslassens zu veranschaulichen, erzählen wir oft die Geschichte vom Adlernest, die wir von einem von uns behandelten Vater gehört haben. Adlerhorste sind grobe Gestelle, die mit weichen Materialien wie Gras, Blättern und Federn sowie härteren Materialien wie Zweigen ausgestattet sind. Wenn die Jungvögel größer werden, beginnt ein Elternteil das Nest abzubauen, indem er zuerst langsam die weichen Materialien und schließlich auch die härteren Materialien entfernt, sodass die Jungen spüren, es ist an der Zeit fortzufliegen. Eine klare zeitliche Perspektive ist ein wesentliches Kriterium, um funktionale Unterstützung von dysfunktionaler Rundumversorgung zu unterscheiden. Was soziale Unterstützung heißt, besagt folgende Redewendung: »Man sollte die Angel zur Verfügung stellen und nicht den Fisch!« Anhand dieses Spruches lässt sich die Rundumversorgung von der Unterstützung abgrenzen. Die Rundumversorgung ist nicht nur nicht hilfreich, sondern schädlich. Sie garantiert alles andere als den Prozess, dass der Unerwachsene sich bemühen oder die für ein besseres Zusammenwirken nötigen Fertigkeiten entwickeln würde. Die Beelterung kann sogar den paradoxen Effekt haben, dass das Kind an seinen Ablösungsbemühungen

Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren

gehindert wird, solange die Eltern nicht zu dem Schluss kommen, dass ihre Dienste nicht mehr benötigt werden. In einer Studie über ängstliche Kinder, die eine Therapie verweigerten, stellte man fest, dass viele dieser Kinder sich deshalb nicht behandeln lassen wollten, weil sie im Fall einer Therapie befürchteten, die Eltern würden sich nicht mehr auf ihre Ängste einstellen (Lebowitz, Omer, Hermes u. Scahill, 2014). Wenn die Eltern eine zeitliche Perspektive entwickeln und einem besseren Zusammenwirken freudig entgegensehen, können sie sich die Frage stellen: »Fördern die Dienste, die wir unserem Kind anbieten, seine Handlungsfähigkeit?« Diese Frage ist ein notwendiger Schritt, um einer dysfunktionalen Abhängigkeit entgegenzuwirken. Doch an diesem Punkt kommen oft Zweifel auf, ob der Uner­ wach­sene überhaupt in der Lage ist, ohne die besonderen elterlichen Dienste zu leben und zu handeln. Die Eltern berufen sich dann vielleicht auf die Diagnose ihres Kindes und auf ihre eigene bittere Geschichte von Misserfolgen und Enttäuschungen. So entsteht ein Pessimismus, der verhindert, dass sie Aussichten auf ein besseres Zusammenwirken entwickeln können. Wenn derlei lähmende Sorgen aufkommen, besteht eine hilfreiche therapeutische Antwort darin, dass man die Eltern zu einem Gedankenexperiment anregt. Dabei sollen sie sich zwei Familien vorstellen, die jeweils ein Kind mit einer schweren psychischen Erkrankung haben. In der ersten Familie beschließen die Eltern, dass es angesichts der Krankheit ihres Kindes zwecklos ist, an das Kind Forderungen zu stellen, ihm Grenzen zu ziehen oder in ihm Erwartungen zu wecken. Sie behandeln ihr Kind als Pflegefall und finden sich mit ihrem Schicksal ab. Sie erdulden Verschlimmerung und Gewalttätigkeit, die sie der Krankheit ihres Kindes zuschreiben. Sie ziehen sich den Zorn ihrer anderen Kinder zu und reduzieren die Kontakte mit ihren Verwandten und Freunden, weil ihr soziales Netzwerk nicht versteht, wie schwerbehindert ihr Kind ist. In der zweiten Familie beschließen die Eltern, dass es trotz der Krankheit ihres Kindes klare Grenzen und Pflichten gibt. Sie verteidigen sich und ihre anderen Kinder gegen Gewalttätigkeit und Zwang. Sie konzentrieren sich auf Leistungsstärken ihres kranken Kindes und sehen diese als Anzeichen einer möglichen Ver-

35

36

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

besserung in schwächeren Bereichen. Sie begrenzen ihre Dienste auf Bereiche, in denen ihr Kind sich ihrer Ansicht nach nicht selbst zu helfen weiß. Anschließend bittet der Therapeut die Eltern, sich die Lage dieser beiden Familien fünf Jahre später vorzustellen. Welche Situation der Familie und welche Verfassung des Kindes würden sie vermuten? Irgendwann kann der Therapeut seine eigene Schlussfolgerung einbringen: »Ich weiß nicht, wie hoch der Grenzwert der Handlungsfähigkeit Ihres Kindes ist. Vielleicht ist er so hoch (der Therapeut zieht eine imaginäre Linie an seiner Taille) oder so hoch (er zieht eine imaginäre Linie über seinem Kopf). Ich weiß aber, dass das Leistungsniveau Ihres Kindes gegenwärtig so hoch ist (er zieht eine imaginäre Linie an seinen Knöcheln).« Leben wir ein eigenständiges Leben? Wie können wir unsere Präsenz zurückgewinnen? Viele Eltern von Unerwachsenen sind der Ansicht, dass die Therapie überhaupt nichts mit ihnen zu tun hat. Ginge es nicht um die Therapieverweigerung bei ihrem Kind, wären sie nicht in der therapeutischen Praxis. Sie sind hier um ihres Kindes, nicht um ihrer selbst willen. Tatsächlich haben in vielen Familien die Eltern ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche aus den Augen verloren und halten diese – verglichen mit denen des Kindes – als vernachlässigbar. Joseph (54 Jahre) und Sandra (50 Jahre) kamen zu uns wegen ihres Sohnes Kevin (25 Jahre), der sechs Jahre zuvor das Abitur gemacht hatte und seitdem noch im Elternhaus wohnte. Er schlafe tagsüber, sei nachts wachs und arbeite nur gelegentlich. Kevin gehe abends aus und wecke bei seiner Rückkehr die Eltern auf, indem er durchs Haus wandere, sich etwas koche, Fernsehen schaue und manchmal Freunde unterhalte. Er nehme oft ihr Auto und benutze ohne Erlaubnis ihre Kre­ ditkarte. Er habe seine Mutter gequält, indem er sie zweimal in ihrem Haus eingesperrt habe, als sie ihm kein Geld geben wollte. Der Gedanke, nach der Arbeit nach Hause zu gehen, erfüllte Sandra mit Panik. Joseph arbeitete zu Hause und beschwerte sich, dass Kevin ihn dabei schamlos unterbreche. Sandra kochte für ihn und machte seine Wäsche. Joseph machte Arzttermine für ihn und brachte ihn zu Ärzten

Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren

und bezahlte seine Strafzettel. Kevin komme oft ins Wohnzimmer, wo seine Eltern fernsehen, und nehme wortlos die Autoschlüssel an sich. Wenn Sandra zu protestieren wage oder auch nur frage, wann er das Auto zurückbringe, schaue er darüber demonstrativ hinweg. Sie seufzte: »Es ist, als ob ich unsichtbar wäre!« Joseph sagte, dass Gespräche mit seinem Sohn so seien, als ob man gegen eine Wand rede. Der Therapeut zählte zunächst einige unbefriedigte Grundbedürfnisse der Eltern auf, zum Beispiel Schlaf, Ruhe, Sicherheit und Respekterweisung. Als der Therapeut die Eltern bat, über diese Aspekte der Beziehung nachzu­ denken, unterbrach Joseph ihn mit den Worten: »Hören Sie, wir sind nicht hier wegen dem, was wir brauchen. Es geht nicht um uns, es geht um Kevin!« Der Prozess, in dem die Eltern immer mehr in den Hintergrund treten, offenbart sich manchmal an allmählichen Veränderungen in der Vertei­ lung des Wohnraums. In der späten Adoleszenz belegt das Kind meistens ein Zimmer im Elternhaus. Mit den Jahren übernimmt der Nesthocker das Wohnzimmer und danach andere Räume, um dort seine Siebensachen zu lagern. Wenn die Eltern schwächer werden und weniger mobil sind, bleibt für sie am Schluss oft nur ein kleines Zimmer übrig, und ihr Kind belegt den Rest des Hauses. In einem unserer Fälle zog ein 25-­jähriger Mann zwei große Hunde in seinem Elternhaus auf. Als die Mutter sich beklagte, dass die Hunde die Möbel beschädigten und das Haus ver­ schmutzten, zäunte er etwa zwei Drittel des Hauses ein und erklärte sie zu seinem Territorium. Als die Mutter sagte, sie könne den Schmutz nicht aushalten, gab er ihr zurück, es stehe ihr frei zu putzen, während er die Hunde ausführe.

Die Eltern verlieren manchmal nicht nur ihren Lebensraum, sondern auch ihr soziales Leben, ihre Freizeit und sogar die Verbindung zu ihren eigenen Gefühlen. Der Unerwachsene monopolisiert ihre Aufmerksamkeit. Sie fragen sich immer wieder: Wie können wir ihn dazu bringen, sich eine Arbeit zu suchen? Wie können wir ihn dazu bringen, sein Zimmer zu verlassen und ins Wohnzimmer zu kommen? Was können wir tun, damit er unter die Leute geht? Wie können wir ihn zur Therapie bewegen? Wie können wir ihn motivieren? Wie können wir es schaffen, dass er weniger Angst hat, mehr Selbstwertgefühl hat, zufrieden ist?

37

38

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

Damit ein Prozess der positiven Veränderung in Gang gesetzt werden kann, müssen die Eltern aus der Selbstverleugnung heraustreten und mehr Präsenz zeigen. Präsenz wird erzeugt, wenn die Eltern sich so verhalten, dass sie dem Unerwachsenen zu verstehen geben: »Wir sind hier, und wir bleiben hier! Wir sind nicht nur deinetwegen hier, sondern auch um unser selbst willen!« Wir sagen den Eltern, dass das größte Geschenk, das sie ihren Kindern machen können, das ihrer neu gewonnenen Präsenz von Menschen mit Bedürfnissen und Gefühlen ist. Die Eltern treten aus ihrem Rückzug hervor, wenn sie erklären: »Wir haben Bedürfnisse, also leben wir!« Wenn die Eltern ihrem Wunsch nach Schlaf, Respekterweisung, Sicherheit und Wohlbefinden Vorrang geben, sind sie eher in der Lage, für sich selbst und für ihr Kind – unabhängig von seinem Alter – zu sorgen. Die Entscheidung, bestimmten elterlichen Bedürfnisse Priorität einzuräumen, steigert nicht nur die elterliche Betreuungsfähigkeit, sondern gibt den Kindern aller Altersstufen auch ein dringend benötigtes Modell der Autonomie und Selbstversorgung. Die elterlichen Angewohnheiten, sich selbst zum Verschwinden zu bringen, zeigen sich während der Behandlung oft daran, dass die Eltern auf jeden Vorschlag des Therapeuten oder der Therapeutin mit einer Prognose der erwarteten Reaktion ihres Kindes antworten. Das klingt so, als ob sie kein Recht auf eine eigene Meinung hätten, die ihr Kind für inakzeptabel hält. Manchmal sind die Eltern es so sehr gewohnt, die Gedanken ihres Kindes, statt ihre eigenen zu denken, dass sie auf die Vorschläge oder Kommentare des Therapeuten sogar in der Stimmlage ihres Kindes antworten. Therapeutin: »Ein Instrument, mit dem wir arbeiten, ist die Ankündigung. Sie besteht aus einem Text, den Sie auf gewissermaßen formelle Art Ihrem Sohn vortragen und ihm dabei erklären, dass Sie beschlossen haben, seine inakzeptablen Verhaltensweisen nicht mehr zu dulden.« Vater: »Wie meinen Sie das? Ist das etwas, das wir zu ihm sagen?« Therapeutin: »Sie lesen ihm das von einem beschriebenen Blatt vor.« Mutter: »Mir ist es egal, was auf Ihrem dämlichen Blatt steht!« Therapeutin: »Entschuldigung?« Mutter: »Ich meine, genau das würde er sagen. Er wird nicht zuhören.«

Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren

In der Therapiesitzung inszenieren die Eltern ihre Zurückgezogenheit manchmal auch so, dass sie ständig fragen: »Was sagen wir, wenn er/sie …?« oder: »Wie reagieren wir, wenn er/sie …?«. Wir bezeichnen das als negative Hypnose. Die Eltern sind so sehr auf das Verhalten ihres Kindes konzentriert, dass sie alle Optionen aus dem Blick verlieren, die keine direkte Reaktion auf das Signal des Unerwachsenen sind. Ein Vorschlag, den viele Eltern hilfreich finden, bezieht sich auf die Richtungsänderung von der Frage »Was können wir für unser Kind tun?« hin zu der Frage »Was können wir für unser Kind nicht tun?«. Die Eltern entwickeln den Mut, ihrem Nesthocker mitzuteilen, dass sie für ihn keine Dienste mehr leisten werden. Diese elterlichen Reaktionen werden dann in der Therapie besprochen, geprobt oder im Rollenspiel eingeübt. Wenn ernsthaft darüber nachgedacht wird, was Eltern für ihr Kind nicht tun können, ist das eine Möglichkeit, dass sie ihre Präsenz als Personen wiedergewinnen. Das ist ein entscheidender Moment, um von einer dysfunktionalen zu einer funktionalen Abhängigkeit zu gelangen. Oft schlagen wir noch eine andere Richtung vor, um die Eltern aus ihrem reaktiven Trancezustand aufzuwecken; wir verschieben den Fokus von der Frage »Was können wir für unser Kind tun?« hin zu der Frage »Was wollen wir als Eltern aus uns machen?«. Anhand dieser Fragen erkunden wir gemeinsam mit den Eltern, wie sie ihre Rolle im Leben ihres erwachsenen Kindes definieren und welche alternativen Perspektiven es auf diese Rolle noch gibt. Wenn die Eltern sich darin verankern, wer sie sein möchten, hilft ihnen das, ein Gefühl von Präsenz im Leben ihres Unerwachsenen zu entwickeln, und führt sie zu der Entdeckung, was sie eigentlich tun sollten – und zwar nicht als Reaktion auf das Verhalten ihres Kindes, sondern in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Vorstellung vom elterlichen Auftrag. Haben wir uns in das Los der totalen Aufopferung für unser Kind gefügt? Dürfen und sollen wir nach unserem Wohlbefinden streben? Frank und Sarah kamen wegen ihrer Tochter Adriana (34 Jahre) zu uns. Bis zum Alter von 24 wirkte Adriana wie eine typische angehende Erwachsene. Sie absolvierte das Abitur, machte einen Abschluss in einer

39

40

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

renommierten Schauspielschule und trat in professionellen Theater­ produktionen auf. Sie war gesellschaftlich aktiv und hatte eine langjäh­ rige Liebes­beziehung gehabt. Dann fing sie an, zwanghaft ihre Hände zu waschen und übertrieben viel Zeit im Badezimmer zu verbringen. Sie entwickelte eine hart­näckige Angst, durch ihre eigenen Exkremente ver­ giftet zu werden. Diese Sorgen wurden der zentrale Punkt ihres Lebens. Sie gab ihre Arbeit auf, zog sich aus sozialen Aktivitäten zurück und verbrachte die meiste Zeit ihres Wachzustands mit Reinigungsritualen und Badezimmeraufenthalten. Sie lehnte kategorisch jede Form von Behandlung ab. Sarah, Adrianas Mutter, wurde immer mehr in die Rituale der Tochter einbezogen. Wenn Sarah nicht das tat, was Adriana wollte, wurde die Tochter verbal und physisch ausfällig. Frank sah hilflos zu, wie das Familienleben auseinanderbrach. Sechs Jahre nach dem Ausbruch von Adrianas Störung zog Sarah aus dem gemeinsamen Elternschlafzimmer aus und schlief auf dem Sofa vor Adrianas Zimmer, damit sie der Tochter für die nächtlichen Rituale zur Verfügung stand. Adrianas Forderungen nach Sarahs Zeit und Zuwendung erreichten den Punkt, an dem Adriana mit Suizid drohte, sollte ihre Mutter sie länger als ein paar Stunden allein lassen. Frank stürzte sich in seine Arbeit und versuchte, so wenig Zeit wie möglich daheim zu sein, und verbrachte die Nacht gelegentlich in seinem Büro. Er suchte Trost bei seiner Tochter Silvia, Adrianas ältester Schwester, die sich von der Familie distanziert hatte. Um sich auf Adriana einzustellen, gaben die Eltern Unsummen an Geld für Unmengen an Toi­ lettenpapier, Gasheizung, Wasser und Seife aus. Frank vertraute uns an, dass jedes Mal, wenn Adrianas Name auf dem Display seines Mobiltelefons aufleuchte, sein Puls rase und er einen Schmerz in der Brust verspüre. Nach ein paar Sitzungen brach Sarah die Therapie mit der Begrün­ dung ab, dass Adriana ihre Anwesenheit zu Hause brauche. Frank und Silvia besuchten sich weiterhin. Nach monatelanger sorgfältiger Über­ legung und Beratung im größeren Familienkreis wurde vorgeschlagen, dass Sarah aus ihrer Rolle als Adrianas Dienerin vorsichtig entlassen wer­ den sollte, indem sie ein paar Wochen lang das Haus verlassen und durch eine Pflegeperson und einige Familienangehörige ersetzt werden sollte. Frank und Silvia luden Sarah und fünf weitere Familienmitglieder zu einer entscheidenden Therapiesitzung ein. Sarah sagte ihre Teilnahme zu, unter anderem aus dem Grund, weil sie sich für alle Entscheidun­

Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren

gen in Bezug auf Adriana verantwortlich fühlte. In dieser Sitzung zeigte Sarah sich mit dem obigen Plan einverstanden. Am nächsten Tag betrat eine zehnköpfige Gruppe bestehend aus Frank, Silvia, Sarahs Bruder, drei anderen Verwandten, einem Psychiater, zwei Pflegekräften und dem Familientherapeuten das Haus der Familie. Der Psychiater teilte Sarah mit, dass die Pflegekräfte ihre Putzpflichten übernehmen würden. Sarah, die mit ihrem Auszug »unter Zwang« einverstanden war, brauchte ganze fünf Minuten, um ihre Sachen zu packen und mit ihrem Bruder das Haus zu verlassen, womit sie ein Jahrzehnt der Unterwürfigkeit beendete. Innerhalb einer Woche steigerten sich Sarahs Stimmung und Appetit, und sie konnte besser schlafen. Sie nahm ihre Hobbys wieder auf und holte die verlorene Zeit nach. Frank und Sarah zogen zusammen in eine Mietwohnung. Während sich das medizinische Team und weitere Familienmitglieder wechselseitig um Adriana kümmerten und ihr bei der Anpassung an eine neue Wirklichkeit halfen, erlebten Frank und Sarah einen ehelichen Neubeginn. Am Ende der Therapie beschrieben sie diese Phase als zweite Flitterwochen. Nach sechs Monaten kehrte das Paar nach Hause in eine völlig neue Situation zurück. Sarah schlüpfte nicht wieder in ihre alte Rolle, in der sie ihrer Tochter unangemessene Dienste geleistet hatte. Adrianas Zwangsstörung ging zurück. Sie nahm Medika­ mente und machte eine Psychotherapie. Sarah sagte: »Es ist unglaublich, dass Adriana das überlebt hat und ich atmen kann!«

Oft wenden sich die Eltern von Unerwachsenen erst an eine Bera­ tungsstelle, wenn ihr Leiden unerträglich wird. Selbst dann sagen Sie häufig noch, dass sie gern weiter leiden würden, wenn es nur ihrem Kind endlich gut ginge. Unser Beratungsprozess beginnt mit dem Versuch, das Blatt dieser aufopferungsvollen Haltung zu wenden. Damit die Eltern das Kind loslassen können, müssen sie ihr eigenes Leiden abschütteln und sich ihrem Wohlergehen verpflichten, das ein hoher Wert im Leben ist und Sicherheit, Gesundheit, soziale Kontakte sowie das Recht auf Zufriedenheit einschließt. Eine dysfunktionale Abhängigkeit wird perpetuiert, wenn diese Werte der Besänftigung der Ängste des Kindes untergeordnet werden. Wir fragten einmal eine aufopferungsvolle Mutter: »Wenn Sie wüssten, dass das Streben nach einem erfüllteren Leben der beste Beitrag wäre, den Sie für sich selbst und für Ihr Kind leisten könnten – wür-

41

42

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

den Sie das tun?« Sie antwortete: »Wenn es helfen würde, würde ich sogar auch das tun!« Aber das Opfer, das mit der Last eines dysfunktional abhängigen Kindes einhergeht, ist nicht einfach nur der Schmerz, der verschwin­ den wird, weil man sich das wünscht. Rundumversorgende Eltern sehen für das Überleben ihres Kindes keine andere Möglichkeit, als dafür ihren Schlaf, Seelenfrieden, ihr Eheleben und Wohlgefühl zu opfern. Aufopferungsvolle Eltern verkörpern ein Modell der totalen Hingabe, das in vielen Kulturen bewundert wird. Solche Eltern würden sich wertlos fühlen, müssten sie diese Rolle aufgeben. Selbstaufopferung beruht auf der Annahme, dass nur die Eltern das Kind retten können. Nur die Eltern verstehen die Bedürfnisse des Kindes, fühlen seine Not und sind der Hingabe fähig, um für dieses Kind zu sorgen. Manchmal gehen Schuldgefühle in Selbstaufopferung über. Manche Eltern meinen, sie müssten für alte Fehler büßen, die sie in der Vergangenheit mit dem Kind gemacht haben. Umgekehrt erwarten sie unerträgliche Schuldgefühle oder eine Leere, wenn sie diese Rolle aufgeben würden. Sie würden sich wie die Eltern von Hänsel und Gretel fühlen, die ihre Kinder im Wald aussetzen. Solange diese Annahmen unhinterfragt weiterbestehen, wird die dysfunktionale Abhängigkeit aufrechterhalten. Um dieses Pflichtband aufzulösen, arbeiten wir mit einem systematischen Überzeu­ gungsprozess. Opferbereite Eltern sollen die schwerwiegende Wechselwirkung begreifen, die zwischen ihrem Eingehen auf die Forderungen und Erwartungen des Unerwachsenen und dem Weiterbestehen seiner Handlungsunfähigkeit besteht. Zu Beginn der Behandlung wird das entsprechende Gespräch geführt, in dem meistens auch erste Experimente, wie die Rundumversorgung reduziert werden kann, zur Sprache kommen. Oft ist es hilfreich, sich auf Forschungsdaten und klinische Erfahrungen dazu zu beziehen, wie die elterliche Rundumversorgung zu einer Verschärfung der Symptomatik und der Handlungsunfähigkeit führen kann. Dabei sollen sich die Eltern auch Zeiten vorstellen oder sich daran erinnern, als ihr Kind handlungsfähiger war. Wenn die Eltern erste Schritte eines Versorgungsentzugs machen, werden dessen Auswirkungen sorgfältig beurteilt. Fast immer zeigt der Unerwachsene selbst unter lautem Protest eine

Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren

gewisse Anpassungsfähigkeit. Das hilft, die erbarmungslose Logik der Selbstaufopferung zu entschärfen. Die Eltern sollen sich auch vorstellen, was geschehen würde, wenn ihre Unterstützung aufgrund von Vorgängen, über die sie keine Kontrolle hätten, ihrem Kind nicht mehr zur Verfügung stünde. Manche opferbereite Eltern lassen uns an ihren Fantasien teilhaben, wenn sie krank wären oder ins Krankenhaus eingeliefert werden müssten, sodass sie notgedrungen ihre Rollen als Pflichtretter aufgeben müssten. Auf diese Weise wird es langsam möglich, die Vorstellung zu entkräften, dass ausschließlich die aufopferungsvollen Eltern den Nesthocker retten können. Im Gegenteil: Die fortgesetzte Aufopferung wird nun als Garantie dafür gesehen, dass es dem Unerwachsenen so niemals besser gehen wird. Dieses Gespräch mündet in den Vorschlag, dass die größte Hoffnung für den Unerwachsenen darin bestünde, die Eltern würden auf ihre opferbereite Rolle verzichten. Von dieser Möglichkeit sind viele Eltern fasziniert. Das könnte den Weg zu der besonderen Strategie der »ehrenvollen Atempause« bereiten. Mit der Hilfe einer Unterstützergruppe aus Verwandten und Freunden wird der aufopferungsvolle Elternteil zeitweilig aus dem Spielfeld genommen. Der andere Elternteil und die Unterstützergruppe stellen sicher, dass sie die Aufgabe auf menschliche und zugleich resolute Weise angehen werden. Man sollte betonen, dass vielleicht eine ganze Gruppe von Personen nötig ist, um das zu leisten, was ein opferbereiter Elternteil leistet. In dieser Anerkennung liegt eine gewisse Ehre. Durch die Präsenz einer Gruppe ermutigender und engagierter Stimmen, unterstützt von Fachkräften, ist es dem aufopferungsvollen Elternteil oftmals möglich, einen kühnen Sprung in eine wohlverdiente Ruhepause zu machen. So kann sich das gesamte Umfeld der dysfunktionalen Abhängigkeit auf einen Schlag verändern. Paul war 16, als er allmählich aufhörte, zur Schule zu gehen. Er war sehr ängstlich und ein Perfektionist und fing an, die Schule zu schwänzen, nachdem er mit knapper Not eine Prüfung in Mathematik, einem Fach, in dem er geglänzt hatte, bestanden hatte. Zuerst weigerte er sich, an Prüfungstagen zur Schule zu gehen, und dann blieb er allmählich regel­ mäßig zu Hause. Mark, sein Vater, bot ihm an, ihn zur Schule zu fahren und

43

44

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

mit seinen Lehrern zu reden. Eine Zeit lang schien Paul zu kooperieren, aber eines Tages hatten Vater und Sohn eine heftige Auseinandersetzung, und Paul stieß Mark aus seinem Zimmer. Dieser Vorfall schockierte Pauls Mutter, Alice, die sich auf die Seite ihres Sohnes stellte und Mark vorwarf, die Angst des Sohnes noch zu steigern. Von diesem Zeitpunkt an ging Paul überhaupt nicht mehr zur Schule, verweigerte das Gespräch mit seinem Vater und schloss sich in seinem Zimmer ein. Alice wurde zu Pauls Rund-um-die-Uhr-Betreuerin. Sie brachte ihm die Mahlzeiten in sein Zimmer und war ständig abrufbereit, falls Paul beruhigt werden müsste. Drei Monate später versprach Paul, wieder zur Schule zu gehen unter der Bedingung, dass seine Eltern ihm erlaubten, in eine Gästesuite umzu­ ziehen, die sie gelegentlich vermieteten. Alice und Mark waren damit einverstanden. Paul bezog die Suite, aber nach einem nur zweitägigen Schulbesuch kam er nach Hause und erklärte, dass er nicht mehr dahin zurückgehe. Alice gab ihre Arbeitsstelle auf, um Pauls Vollzeitbetreuerin zu werden. Sie putzte seine Suite, führte täglich lange Gespräche mit ihm, kochte besondere Gerichte für ihn und servierte sie ihm in sei­ nem Zimmer. Paul fing an zu fordern, dass sie sich von Mark trennen solle mit der Begründung, sein Vater habe ihn immer herabgewürdigt und emotional traumatisiert. Zu der Gästesuite, die Paul bezogen hatte, gehörten ein Badezimmer, eine Miniküche und ein Kühlschrank, was ihn in Kombination mit dem engagierten Zimmerservice seiner Mutter in die Lage versetzte, sich in seinen Räumen komplett abzukapseln. Er brach alle seine Verbindungen zur Umwelt ab, bis auf die Beziehung zu seiner Mutter. Dies ging ein Jahr lang so fort. In der ersten Therapiesitzung brach Mark in Tränen aus und sagte, er habe vergessen, wie sein Sohn aussehe. Obwohl Alice sich voll und ganz auf Paul eingestellt hatte, wusste sie, dass er und sein Vater sich recht nahegestanden waren – zumindest bis zu dem Moment, als Mark gegen Pauls Schulschwänzerei etwas unternehmen wollte. Doch angesichts der zerbrochenen Vater-Sohn-Beziehung sah Alice sich als Pauls einzige noch verbliebene Verbindung zum Leben. In den ersten drei Monaten der Therapie ging es darum, zu verstehen, wie Alices Bemutterung nur dazu führte, dass Pauls Selbstisolation mög­ lich wurde. Obwohl sie begriff, dass ihre ständige Verfügbarkeit ihrem Sohn nicht half, sagte sie, dass sie nicht anders handeln könne. Sie hatte das Gefühl, Pauls Sauerstoffschlauch zu sein und er ohne sie ersticken

Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren

würde. Gleichzeitig war sie zu der Ansicht gelangt, dass Paul eigentlich behindert sei. Wir baten sie, sich vorzustellen, wie es Paul ergehen würde, wenn sie krank werden würde. Sie antwortete, dass sie sich ihrem Sohn widmen würde, solange sie dazu in der Lage sei. An dieser Stelle erinnerte Mark sich an ein kritisches Familienereignis. Als Paul 12 war, machte er eine Episode schwerer Angstzustände durch. Er schlief immer öfter bei seinen Eltern und überredete Alice schließ­ lich dazu, nachts in seinem Zimmer zu schlafen. Einige Monate später bekam Alices Mutter, die im Ausland lebte, die Diagnose einer unheil­ baren Krebserkrankung. Alice fuhr ins Ausland, um ihre Mutter in ihren letzten Lebensmonaten zu betreuen. Paul reagierte auf Alices Abwesen­ heit sehr positiv. Nach ihrer Rückkehr stellte sie fest, dass Paul während ihrer Abwesenheit wieder allein in seinem Zimmer geschlafen und Mark beim Einkaufen, Putzen und Kochen geholfen hatte. Die beiden machten einen dreitägigen Angelausflug. Paul war sehr stolz auf seine Leistungen. Diese Erinnerung trug dazu bei, dass Alice ihre Auffassung, ihrem Sohn durch Selbstaufopferung helfen zu können, abschwächen konnte. Es wurde deutlich, dass Pauls Bewältigungsoptionen, solange er in der Suite wohnen durfte und von seiner Mutter versorgt wurde, extrem gering bleiben würden. Alice dachte darüber nach, dass sie vielleicht einen wei­ teren Notfall brauchen würde, um für Paul nicht verfügbar sein zu müssen. Zur nächsten Therapiesitzung wurden die beiden Brüder von Mark und deren Frauen sowie die zwei engsten Freundinnen von Alice ein­ geladen. Allen Teilnehmenden war bewusst, wie positiv Paul auf Alices Abwesenheit aufgrund der Krankheit ihrer Mutter vor vier Jahren reagiert hatte. Alle waren sich einig, dass Pauls Schutzhafen im Grunde ein Ort der Stagnation war, an dem er immer weniger handlungsfähig werden würde. Alice stimmte dem zu, sagte aber auch, dass sie sich nicht davon abhalten lassen würde, sich um Pauls Rettung zu bemühen. Eine Freundin von Alice machte ein aufregendes Angebot: Sie und Alice würden eine dreiwöchige Wanderung im Himalaya machen, von der sie schon immer geträumt hätten. Die Reise würde eine allmähliche Anpassung an Hoch­ gebirgsbedingungen erfordern, und Mobilfunknetze gebe es dort nicht. Alle im Raum fanden die Idee gut und waren sich einig, dass sowohl Paul als auch Alice das verdient hätten. Nach einem Monat der Vorbereitung machten sich Alice und ihre Freundin auf den Weg zum Himalaya. Alice verzichtete darauf, Mark

45

46

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

Vorschläge zu machen oder Anweisungen zu geben, wie er mit Paul umzugehen hätte. Sie beschloss auch, ab dem Moment ihrer Abreise telefonisch nicht mehr erreichbar zu sein. Mehrere Therapiesitzungen lang dachten Mark, seine Brüder und der Therapeut sich einen Plan aus, wie man in Pauls Territorium »ohne Eskalation eindringen« könnte. Paul willigte schließlich ein, einen seiner Onkel in sein Zimmer zu lassen. Der Onkel blieb eine Stunde lang bei dem Jungen, danach durfte Mark in das Zimmer kommen. Zuerst vermied Paul den Blickkontakt zu seinem Vater und antwortete auf alle seine Fragen nur einsilbig, ging aber in den darauf folgenden Tagen mit ihm einkaufen und beteiligte sich aktiv an der Haushaltsführung. Als Alice von ihrer Reise zurückkam, stellte sie fest, dass Paul sich zu einem Intensivkurs in Computerprogrammierung angemeldet hatte. Einige Monate später zog er aus dem Elternhaus aus in eine kleine Woh­ nung, die zu finden die Eltern ihm geholfen hatten. Sein nächster Schritt war, dass er sich zum Militärdienst verpflichtete, wo er als Programmierer arbeitete. Paul sprach nie über die Ereignisse vor seinem Auszug aus dem Elternhaus und blieb zutiefst verletzt davon, dass sein Vater – so empfand er es – ihn gezwungen habe, aus seinem Zimmer herauszukommen. Er brach schließlich den Kontakt zu Mark ab, fiel aber nie mehr in seine dysfunktionale Abhängigkeit von seinen Eltern zurück.4

Ermuntern wir etwa unseren Unerwachsen in seiner Anspruchshaltung? Lisa (60  Jahre) kam wegen Schwierigkeiten mit ihrem Sohn Lars (23 Jahre) zu uns. Lars hatte mit 17 das Gymnasium abgebrochen und die letzten sechs Jahre in einem Kellerraum in dem gemeinsamen Haus seiner Mutter und seines Stiefvaters gelebt. Er hatte ein halbes Jahr lang in einem Computerladen gearbeitet, die Arbeit aber aufgegeben, weil er meinte, er verdiene eine bessere Bezahlung. Nachdem er festgestellt hatte, dass andere Jobs noch schlechter bezahlt waren, fing er an, die meiste Zeit in seinem Zimmer zu verbringen oder mit ein paar Freunden abzuhängen. Er schlief tagsüber und ging nachts weg. Lisa kochte für ihn, machte seine Wäsche und putzte hinter ihm her. Sie füllte sogar 4 In der Zeit der Coronapandemie erfuhren wir, dass Paul die Verbindung zu seinem Vater nach zehn Jahren wieder aufnahm.

Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren

seine Rasierwasservorräte auf und führte Buch über die in der Flasche noch vorhandene Rasierwassermenge, damit er immer genug davon hatte. Lars hatte sich nie daran gestört, seine Mutter um diese Dienste zu bitten; er glaubte, Anspruch darauf zu haben, und Lisa gehorchte. Und als die örtliche Drogerie die Marke von Lars’ Lieblingsrasierwasser nicht mehr führte und Lisa keine Vorräte mehr besorgen konnte, geriet Lars in Wut. Lisa spürte einen Hauch von Schuldgefühlen. Sie dachte, seine Erwartungen und ihr Pflichtgefühl seien wegen seiner psychischen Probleme etwas Selbstverständliches.

Ansprüchlichkeit ist nicht nur eine persönliche Einstellung, sondern eine zwischenmenschlich konstruierte Realität. Lars und Lisa hatten nicht nur ihre eigene Sicht auf Rasierwasser, sondern inszenierten gemeinsam ihre dysfunktionale Bindung. Zu den Diensten, die ansprüchliche Unerwachsene von ihren Eltern erwarten, gehören Wäsche waschen, putzen, Essen kochen, Geld geben, freie Verfügung über deren Auto, absolute Ungestörtheit und das Recht auf Beruhigung und Geborgenheit. Die dunklere Seite der Ansprüchlichkeit ist das »Recht«, den Eltern Vorwürfe zu machen und sie zu quälen, wenn sie den Erwartungen des Nesthockers nicht nachkommen oder seine Handlungsunfähigkeit mutmaßlich überhaupt erst verursacht haben. Die rundumversorgenden Eltern eines Unerwachsenen arbeiten schwer, um ihn zufrieden zu stellen. Über 60 oder 70 Jahre alte Eltern kochen, putzen, machen Einkäufe für ihre Kinder in den Zwanzigern und Dreißigern. Sie geben ihnen nicht nur ein Taschengeld, sondern bezahlen ihnen manchmal regelrechte »Löhne«, machen Arzttermine und fahren sie irgendwo hin, damit sie pünktlich dort ankommen. Die Eltern arbeiten auch schwer, um die problematischen Verhaltensweisen ihrer Unerwachsenen vor Freunden und Familienmitgliedern zu verheimlichen. Die dysfunktionale Bindung beruht auf der gemeinsamen An­ nah­me, dass der Unerwachsene sich absolut nicht selbst helfen kann und die Eltern (oder ein Elternteil) die Einzigen sind, die für ihn sorgen können. Versuche, diese Annahme in Frage zu stellen, führen meistens zu angedrohter oder konkreter Gewalt durch den Unerwachsenen, zu Schuldgefühlen bei den Eltern und auf beiden Sei-

47

48

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

ten zu großer Angst. Wie Atlas tragen die Eltern die Welt des Kindes auf ihren Schultern und haben Angst vor der Katastrophe, die im Fall ihres Scheiterns über sie hereinbrechen würde. In einer eher funktionalen Abhängigkeitsbeziehung ist die Verbindung zwischen Unfähigkeit und Versorgungsdienste weitaus flexibler. Es besteht die Erwartung, dass die Handlungsfähigkeit des Abhängigen allmählich größer wird, wenn die Dienste zurückgefahren werden. Selbst wenn die Behinderung körperlicher Natur ist, sucht man kontinuierlich nach Möglichkeiten, die Einschränkung zu kompensieren. Eine Lockerung der dysfunktionalen Abhängigkeit und die Wiederherstellung einer Vorstellung von Alternativen sind deshalb ein notwendiger Schritt, um eine funktionalere Abhängigkeit zu fördern. Ein Weg dahin ist der, dass man den Eltern hilft, ihre Überzeu­ gung aufzugeben, dass sie dem erwachsenen Kind die einzige Stütze seien. Eine hilfreiche Strategie besteht darin, die Eltern mit einem Experten für finanzielle Sanierung oder Finanzen in Kontakt zu bringen. Dieser Schritt kann nützlich sein, auch wenn der Unerwachsene keine Lust zur Kooperation hat. Wenn beispielsweise ein Unerwachsene das Geld verschleudert, können die Eltern einen Finanzexperten heranziehen, der seinen Umgang mit Geld in den Blick nimmt und ihn berät, wie er mit seinem Geld haushalten kann. Jede weitere Geldzuwendung ist dann abhängig davon, wie der Bericht des Experten ausgefallen ist. Will der Unerwachsene dann nicht kooperieren, fühlen sich die Eltern weitaus mehr berechtigt, ihre Geldzuwendungen zurückzuhalten. Diese Einstellung ist in der Gesellschaft weithin akzeptiert: Wenn eine Person, ein Unternehmen oder ein Staat insolvent wird, hängt die Hilfe von einem Sanierungsplan ab, in dem die Wirtschaftsleistung des Schuldners genau unter die Lupe genommen wird. Da die Eltern nicht in einer guten Position sind, um die Ausgaben ihres erwachsenen Kindes zu überprüfen, kann durch die Hinzuziehung einer dritten Partei beiden Seiten eine gewisse Fairness garantiert werden, ohne dass die Eltern in die Privatsphäre ihres Kindes eindringen müssen. Viele der von uns behandelten Eltern konnten ihre Muster der Geldzuwendungen verändern, sobald sie einen Finanzexperten an ihrer Seite hatten. Der Unerwachsene wird zwar oft protestieren, sich schließlich aber

Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren

anpassen. Bei manchen Unerwachsenen kann mit der Hinzuziehung eines Experten für Sanierungspläne, auch wenn damit kein unmittelbarer Fortschritt verbunden ist, ein Prozess in Gang kommen, in dem ihre Bedürfnisse von den elterlichen Diensten abgekoppelt werden. In einer Studie mit erwachsenen Kindern mit hochfunktionalem Autismus haben wir Folgendes gezeigt: Wurde den Eltern geholfen, den späteren Übergang ihres Kindes in ein Heim für geistig Behinderte ins Auge zu fassen, konnten sie sich darauf vorbereiten, ihre Rundumversorgung allmählich zurückzufahren und mithin die Anspruchshaltung ihres Kindes zu mildern (Golan, Shilo u. Omer, 2016). Eine andere Strategie, die dysfunktionale Abhängigkeit zu lockern, ist die, dass man die Kernfamilie wieder mit ihrem größeren sozialen Netzwerk in Verbindung bringt. Wenn sich die Beziehungsmuster einer dysfunktionalen Abhängigkeit zu entwickeln beginnen, wird dadurch die Isolation der Familie tendenziell verstärkt und zugleich die elterliche Bewältigungsfähigkeit geschwächt. Mithilfe einer Unterstützergruppe aus Verwandten und Freunden können die Eltern ihr ausschließliches Engagement für den Unerwachsenen reduzieren. Der Unerwachsene seinerseits bekommt eine Erfahrung der dezentralisierten Unterstützung geboten. Glücklicherweise gehen Unterstützer und Unterstützerinnen von außen weniger auf die Erwartungen des Unerwachsenen ein und schaffen somit bessere Bedingungen für den Übergang in eine funktionalere Abhängigkeit. Alex (64 Jahre) und Diana (56 Jahre) kamen zu uns wegen ihrer Tochter Amelie (28 Jahre), die in den letzten vier Jahren fast nur über ihren kör­ perlichen Zustand nachgegrübelt hatte. Die Jalousien in ihrem Zimmer waren dauernd geschlossen. Die Wände waren vollgeklebt mit Notizen auf Post-its und mit Ausdrucken, auf denen bestätigende Botschaften der Selbstermutigung standen (z. B.: »Es gibt Licht am Ende des Tunnels.«) und Drohungen gegen ihre Eltern (z. B.: »Sie hat mich krank gemacht, dafür wird sie bezahlen.«). Die Ausdrucke waren medizinische Befunde. Nach eigener Aussage konnte Amelie aufgrund ihrer chronischen Bauch­ schmerzen nicht arbeiten, studieren, ausziehen und keine sozialen Bezie­ hungen eingehen. Aufgrund der Schmerzen könne sie auch nicht richtig essen, deshalb sei sie untergewichtig. Amelie war überzeugt, dass die Schmerzen chronische Folgeschäden der Psychopharmaka seien, die

49

50

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

sie auf Anordnung ihrer Mutter nehmen müsse. Die Medikamente waren verschrieben worden, nachdem Amelie paranoide Symptome, viele behin­ dernde Ängste gezeigt und wiederholt mit Suizid gedroht hatte. Sie schrieb ihre Symptome einem schrecklichen Geheimnis zu, das sie seit Jahren mit sich trage und nicht aufdecken könne. Ihre Symptome traten auf, als sie zwischen 18 und 24 Jahre alt war und äußerlich noch wie viele andere angehende Erwachsene wirkte. Sie hatte den Bachelor­ abschluss in Biologie gemacht, auf dem Universitätscampus gelebt, sich mit Freunden getroffen und einen Job gehabt. Doch mit 24 fing sie an, alle ihre Ressourcen einem einzigen Projekt zu widmen: medizinische Belege dafür zu finden, dass die Psychopharmaka ihr Leiden verursacht habe. Sie hatte alle erdenklichen medizinischen Tests machen lassen, alle verfügbaren Therapien ausprobiert, die entsprechende medizinische Literatur gelesen, mit international bekannten Wissenschaftlern korre­ spondiert und war mit der Zeit so etwas wie eine Expertin für gastrische Auswirkungen von Psychopharmaka geworden. Für ihren Zustand machte sie ihre Eltern verantwortlich – sie hätten ihr befohlen, die Medikamente zu nehmen –, und deshalb müssten sie auch Abhilfe schaffen. Von ihrer Mutter erwartete Amelie, dass diese permanent zur Verfügung stand, um mit ihr über ihren Zustand und ihre Behandlungen zu sprechen. Von ihren Eltern verlangte sie, dass diese alle Kosten für ihre manchmal abstrusen und teuren Behandlungen bezahlten und sie zu ihren zahlreichen Arztterminen fuhren. Amelie reagierte heftig, sobald ihre Eltern das Haus verlassen wollten, wenn auch nur für ein paar Stunden, weil sie sich fragte, wie diese sich amüsieren könnten, wenn die Tochter gerade Todesqualen erleide. Diana lebte in ständiger Angst um Amelie. Jede Nacht wachte sie mehrere Male auf, um zu schauen, ob ihre Tochter noch atmete. Nach den ärztlichen Untersuchungen war Amelie körperlich gesund. Alex und Diana schrieben ihr Leiden einer psychischen Störung zu. In der Vergangenheit hatte Amelie psychische Probleme eingeräumt. Sie war mehrere Jahre lang zweimal wöchentlich zur Psychotherapie gegangen und hatte diese dann abgebrochen mit der Erklärung, dass sie durch die Therapie ihre psychischen Probleme habe lösen können und jetzt nur noch ihre körperliche Gesundheit zu beachten sei. Die Eltern gaben jeden Monat Unsummen an Geld für Amelies Behand­ lungen aus. In der verzweifelten Hoffnung, die Tochter möge von zu Hause

Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren

ausziehen, hatte Alex ein Bankkonto mit 25.000 Euro eingerichtet und gewünscht, dass sie das Geld für die Miete einer Wohnung verwenden würde. In den Therapiesitzungen erkannten Alex und Diana, dass der ent­ scheidende Punkt nicht der war, ob Amelie wirklich krank war, sondern die Frage, ob ihre Krankheit eine Rechtfertigung für ihr Anspruchsver­ halten war. Die beiden beschlossen, der Tochter Folgendes zu sagen: 1. Dass sie ihr Leiden voll und ganz verstehen. 2. Dass sie sich für ihr Leiden und ihre Art der Lebensführung nicht verantwortlich fühlen. 3. Dass sie ihr bei einem konstruktiven Plan gern helfen möchten, ihre Krankheit aber etwas ist, um das sie sich selbst kümmern muss. 4. Dass sie sie nicht mehr zu Arztterminen fahren, nicht mit ihr über ihre Beschwerden reden, ihr nicht mehr bei Internetrecherchen helfen und auch nicht ihre Behandlungen bezahlen. 5. Dass sie angesichts ihres Alters aus dem Elternhaus ausziehen und eine eigene Wohnung nehmen sollte. Dafür setzen sie eine Frist von drei Monaten. Amelie reagierte auf die elterlichen Mitteilungen zuerst mit einer ver­ deckten Suiziddrohung: »Gut, ich habe mich schon von allen verab­ schiedet!« Der Therapeut beraumte eine außerterminliche Sitzung mit Amelies Verwandten und Freunden an, um über Möglichkeiten der Unter­ stützung ihrer Eltern zu sprechen. Da sie Amelies Suiziddrohung erwartet hatten, hatten sie schon einen Plan parat. Die Eltern informierten einige Unterstützer und Unterstützerinnen aus dieser Gruppe, von denen dann jeder Amelie kontaktierte und ihr auf seine Weise die folgende allgemeine Botschaft zukommen ließ: »Deine Eltern haben uns über ihre Entschei­ dung unterrichtet und erzählt, dass du dich schon von allen verabschiedet hättest. Du sollst wissen, dass ich mich sehr um dich sorge und mich nicht von dir verabschieden möchte. Ich sage ›Hallo‹ und ›Wir bleiben in Kontakt‹ und ›Schauen wir, wie ich dir helfen kann‹.« Amelie drohte nicht mehr mit Suizid. Ein paar Wochen nach der Ankündigung nahm sie Kontakt zu ihrem Vater auf, mit dem sie über ein Jahr lang nicht mehr gesprochen hatte, und sagte: »Ich habe ver­ standen, dass du mich in drei Monaten aus dem Haus werfen möchtest. Hilfst du mir, eine Wohnung zu finden?!« Die Eltern ignorierten Amelies fordernden Ton, informierten aber die Unterstützer darüber, dass Amelie

51

52

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

bereit sei, eine Wohnung für sich zu suchen. Von diesem Augenblick an freute sich Amelie über die Unterstützung der Gruppe. Ein paar Freunde der Familie halfen ihr, eine Wohnung zu finden. Ihr Onkel half ihr beim Mietvertrag. Eine Tante kaufte mit ihr zusammen ein paar Haushalts­ artikel ein. Ihre Schwester und ihr Schwager halfen ihr beim Umzug und leisteten ihr die ersten beiden Tage Gesellschaft. Es stellte sich heraus, dass Amelie auch ein paar Freundinnen aus alten Zeiten hatte, zu denen sie wieder Kontakt aufnahm. Zwei Wochen nach ihrem Auszug rief Amelie ihre Mutter an und versuchte mit einer neuen Strategie, diese in ihre alte Forderung nach Abhilfe einzubinden. »Mama«, sagte sie begeistert, »wir brauchen ein systemisches Herangehen an mein Problem hier. Alle, die wir kennen, können gemeinsam die Therapie finden, die mir gut tut!« Das war schon eine Verbesserung: ein Vorschlag und keine Forderung. Die Mutter ant­ wortete: »Du hast recht, wir brauchen wirklich ein systemisches Heran­ gehen. Warum sprichst du nicht mit Tante Gisela darüber?« Amelie rief ihre Tante an und wollte deren Hilfe, um eine neue Therapie für ihre Magenprobleme zu finden. Die Tante antwortete: »Es tut mir leid, meine Liebe, ich würde dir wirklich gern helfen, aber ich fürchte, ich verstehe nicht viel von diesen Dingen.« Amelie bestand nicht auf ihrer Forderung. Weil dies kein Märchen mit einem glücklichen Ende ist, behaupten wir auch nicht, dass Amelies Probleme gelöst waren. Doch die Bindung durch Anspruchshaltung war gelockert worden, und Optionen für die Entwicklung einer eher funktionalen Abhängigkeit waren geschaffen.

Werden wir genötigt? Erpresst? Ausgebeutet? Das vielleicht krasseste Merkmal dysfunktionalen Abhängigkeit ist, dass sie auf Zwang und Ausbeutung beruht. Die Eltern werden nicht nur dazu veranlasst, sich mit Empathie und Mitgefühl auf die Leiden ihres Unerwachsenen einzustellen, sondern manchmal durch eine Mischung aus Aggression, emotionaler Erpressung und unverhohlener Ausbeutung dazu gezwungen. Direkte physische Gewalt ist besonders offenkundig im Kindesalter und in der Adoleszenz oder wenn die Eltern älter werden und oft völlig hilflos sind. Viele Eltern haben uns erzählt, dass ihre Unerwachsenen im Kindes- und Jugendalter sehr gewalttätig gegen sie gewesen, mit zunehmender Reife aber ruhiger geworden seien. Es kommt allerdings nicht sel-

Dysfunktionale Abhängigkeit vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter

ten vor, dass die elterlichen Versuche des Versorgungsentzugs neue Gewaltausbrüche auslösen. Häufiger aber ist die Gewalt, die der Unerwachsene androht, gegen ihn selbst gerichtet – wie etwa bei Suiziddrohungen. Viele Eltern sind überrascht, wenn sie hören, dass man sich gegen Suiziddrohungen immer zur Wehr setzen sollte, da sie einen extrem gewalttätigen Akt darstellen, durch den sowohl das Leben des erwachsenen Kindes als auch das der Eltern zerstört würde. Es gibt auch noch andere Formen von schonungsloser emotionaler Erpressung. So können Unerwachsene damit drohen, jegliche Beziehungen zu ihren Eltern abzubrechen, Geheimnisse der Eltern preiszugeben, ihr eigenes Vermögen (das sie von den Eltern oder Großeltern bekommen haben) zu verkaufen oder von zu Hause abzuhauen (diese Drohung kommt öfter in der Adoleszenz vor). Wahlweise verlässt der Nesthocker sein Bett nicht mehr, isst nichts mehr oder nimmt Medikamente und zeigt Anzeichen eines Gefühlszusammenbruchs. In solchen Fällen wird die Erpressung offenkundig, wenn der Unerwachsene die Eltern wegen seines Zusammenbruchs beschuldigt. Die Deprimiertheit scheint bei vielen Unerwachsenen nicht allzu groß zu sein, wenn sie mit Freunden telefonieren oder nachts aufstehen, um heimlich etwas zu essen. In der therapeutischen Arbeit mit den Eltern ist es wichtig, dass Gewalt, Erpressung und Ausbeutung offen thematisiert werden. Das darf nicht in einem entrüsteten Ton geschehen, sondern sollte als Fakt vorgetragen werden. In unserer Therapie werden Eltern dazu ermuntert, ihre Dienste zurückzufahren und zugleich gegen Gewalt, Erpressung und Ausbeutung Widerstand zu leisten. Zu diesem Zweck muss das Objekt des Widerstands explizit benannt werden. Solange die Eltern die Verhaltensweisen ihres Unerwachsenen immer wieder beschönigen, bleiben sie vielleicht hilflos.

Dysfunktionale Abhängigkeit vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter Die Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit tauchen im frühen Erwachsenenalter nicht aus heiterem Himmel auf. Sie entwickeln sich fast immer aus Beziehungsmustern, die im Kindesalter und in der

53

54

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

Adoleszenz aufscheinen. Diese Entwicklungsgeschichte hilft erklären, warum Eltern von Unerwachsenen unsere Hilfe aufgesucht haben. Haim Omer hat mehrere Bücher über Familien geschrieben, in denen die Kinder höchst problematische Verhaltensweisen entweder »externalisierender« (z. B. Gewalt, Impulsivität, Risiko­verhalten, Drogenmissbrauch, Kriminalität) oder »internalisierender« (z. B. Angst, Zwangsstörungen, sozialer Rückzug, Computerabhängigkeit) Art gezeigt haben. Er hat das Konzept des gewaltlosen Widerstands entwickelt, um Eltern solcher Kinder zu helfen, ihre eigenen pro­ blematischen Reaktionen des Um-sich-Schlagens oder Nachgebens zu überwinden. Als Alternative brachte man den Eltern bei, wie sie Eskalationen vermeiden und sich zugleich beharrlich gegen die problematischen Verhaltensweisen des Kindes wehren können (Omer u. von Schlippe, 2011). Als der Ansatz des gewaltlosen Widerstands auf neue Bereiche ausgedehnt wurde, konzeptualisierten wir ihn als eine mögliche Hilfe für die Eltern, eine Ankerfunktion zu entwickeln, um den zerstörerischen Kräften widerstehen zu können, die den Unerwachsenen und die Familie mitzureißen drohen (Omer, Steinmetz, Carthy u. von Schlippe, 2013). Diese Ideen zogen ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit auf sich. In vielen Ländern wurden Vereine für gewaltlosen Widerstand5 gegründet, was in sechs internationalen Konferenzen (London, Antwerpen, München, Malmö, Tel Aviv und Linz) gipfelte und viele lokale Ereignisse nach sich zog, an denen Tausende von Menschen teilnahmen.6 Immer mehr Eltern von Unerwachsenen kamen mit Problemen zu uns, die denjenigen ähnlich waren, in deren Zusammenhang der gewaltlose Widerstand ursprünglich seine Beachtung gefunden hatte. Wir erkannten zwei wiederkehrende Themen: Die Verhaltensweisen der Unerwachsenen hatten Ähnlichkeit mit denen jüngerer Kinder, deren Eltern wir behandelt hatten; und die gegenwärtigen Interaktionsmuster zwischen den Eltern und dem Unerwachsene waren schon in der Vergangenheit manifest. Daraus 5 Dieser Ansatz und die Vereinsnamen (NVR, Non-Violent Resistence Societies) erscheinen manchmal zusammen mit der Abkürzung NA (Neue Autorität)). 6 Die ausführliche Bibliografie zum Ansatz des gewaltlosen Widerstands und zum Konzept der neuen Autorität in verschiedenen Sprachen findet sich auf der Website www.haimomer-NVR.com.

Dysfunktionale Abhängigkeit vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter

schlossen wir, dass die meisten Unerwachsenen, deren Eltern wir behandelten, wahrscheinlich die erwachsenen Versionen der Kinder aus unseren früheren Studien waren. Das Phänomen der dysfunktionalen Abhängigkeit schien demnach ein Kontinuum zu sein, das sich vom Kindesalter durch die Adoleszenz bis ins Erwachsenenalter hinein erstreckt. Unsere Studien mit Kindern und Adoleszenten hatten gezeigt, dass die Wirkungen von Interventionen des gewaltlosen Widerstands über kurzfristige Effekte hinauszugehen schien (Omer u. Lebowitz, 2016). Der Grund dafür lag wahrscheinlich darin, dass die Eltern aus ihrer ursprünglichen Passivität und Isolation herausgekommen waren, Eskalationen vermeiden konnten, die Rundumversorgung eingestellt und gelernt hatten, der Gewalttätigkeit, Erpressung und Ausbeutung durch ihr Kind zu widerstehen. Bei unserer therapeutischen Arbeit mit Kindern und Unerwachsenen stellten wir natürlich Unterschiede in der Stimmungslage einer Familie, der Intensität der elterlichen Verzweiflung, im Ausmaß von Schuldgefühlen und in Bezug auf die Angst vor Konsequenzen fest. Derlei Unterschiede müssen besonders berücksichtigt werden. Wir haben gemerkt, dass der einzelne Therapeut sich oft allzu unsicher fühlt, um mit den potenziell explosiven Fällen von Uner­ wachsenen umgehen zu können. So kann die Behandlung von Kindern und Adoleszenten durchaus von einem Therapeuten oder einer Therapeutin allein durchgeführt werden, wohingegen die Therapie der Eltern von Unerwachsenen meistens ein Team erforderlich macht. Der Therapeut der Eltern braucht vielleicht die Hilfe und den Rückhalt eines Psychiaters, Sozialarbeiters, Finanzberaters oder eines Rehabilitationsexperten. Notwendig ist professionelle Unterstützung, wenn auch nur, um den Mut zur Aktion aufzubringen. Denn selten findet man Therapeuten und Therapeutinnen, die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, wenn sie es mit Eltern zu tun haben, die angesichts der extremen Reaktionen ihres erwachsenen Kindes in Panik geraten. Es braucht Mut, den Eltern immer wieder zu helfen, trotz großer Schwierigkeiten Widerstand zu leisten, ohne dass die Situation eskaliert. Dieser Mut entsteht nicht allein beim Therapeuten; er ist ein Produkt der Teamarbeit. Genauso wie die Eltern ein stützendes Netzwerk brauchen, um sich selbst verankern und ihr Kind stabilisieren

55

56

Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit

zu können, braucht der Therapeut sein eigenes Netzwerk, um die notwendige Stabilität, Sicherheit und Deckung bieten zu können. Deshalb meinen wir, dass das ideale Behandlungssetting für den Umgang mit Unerwachsenen in einer Rehabilitationsklinik mit multidisziplinärem Personal zu finden ist. Als Minimalsetting empfehlen wir, dass Therapeutinnen und Therapeuten, die die Eltern von Unerwachsenen behandeln, Intervision oder Supervision beanspruchen.

Kapitel 2  Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit

Das Beziehungsmuster von dysfunktionaler Abhängigkeit wird durch die ineinander verstrickten Überzeugungen, Erwartungen, Gefühle und Handlungen sowohl seitens der Eltern als auch ihrer erwachsenen Kinder aufrechterhalten. Beide Seiten gehen fest davon aus, dass der Unerwachsene handlungsunfähig ist und die Eltern nicht imstande sind, dem Druck des Nesthockers etwas entgegenzusetzen. Das Leiden des Unerwachsenen führt bei den Eltern zu Zugeständnissen, die von Schuldgefühlen, Mitleid und Angst herrühren. Hin und wieder wird dieses Beziehungsmuster durch Anfälle von Frustration und Wut durchbrochen, was zu wirkungslosen Forderungen der Eltern und zu erbitterten Vorwürfen und Drohungen des Unerwachsenen führt. Solche Ausbrüche sind weit davon entfernt, diese dysfunktionale Bindung zu schwächen, sie verstärken sie eher; denn die Eltern leben oft in Angst vor deren Wiederholung und Konsequenzen. Alle unangemessenen Dienste der Eltern verstärken sowohl das Gefühl der Unzulänglichkeit auf Seiten der Unerwachsenen als auch die elterliche Gewohnheit der Rundumversorgung. Durch Geheimnistuerei und soziale Isolation wird dieses dysfunktionale Beziehungsmuster weiter verschärft. Je isolierter die Familie ist, desto unlösbarer ist die Bindung durch eine dysfunktionale Abhängigkeit. Als wir gerade an diesem Kapitel schrieben, kam eine Mutter zu uns und sagte: »Ich bin hier, weil meine Tochter die Schule abgebrochen hat, als sie 14 war, und seither hat sie das Haus nicht mehr verlassen.« Als der Therapeut fragte, wie alt die Tochter nun sei, antwortete die Mutter: »40.«

58

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

Auch wenn sowohl die Unerwachsenen als auch die Eltern in die dysfunktionale Bindung verwickelt sind, gestalten sich die Veränderungsoptionen alles andere als symmetrisch. Es bestehen enorme Unterschiede in der Bereitschaft beider Parteien, sich für den Veränderungsprozess zu engagieren. Kurz gesagt: Der Unerwachsene, wie alt er auch immer sein mag, will den Schutzschirm, den die Eltern aufgespannt haben, nicht verlassen, während die Eltern wollen, dass ihr Kind erwachsen wird und handlungsfähig ist. Früher waren viele Therapeuten der Auffassung, dass auch die Eltern diese Abhängigkeitsbindung aufgrund ihrer eigenen unbewussten Wünsche erhalten wollen. Wir meinen, dass diese Annahme unbegründet ist. Die Eltern bewahren ihre beschützende Stellung nicht deshalb, weil sie das so möchten, sondern weil sie keine Alternative dazu sehen. Wenn sie die Mittel und Unterstützung haben, ihre Rundumversorgung einzuschränken, tun sie das meistens auch. Dagegen unternehmen Unerwachsene, die in ihrer Dysfunktionalität tief verwurzelt sind, selten bereitwillig die kühnen Schritte hin zu mehr Autonomie und Handlungskompetenz. Sind sie sich selbst überlassen, klammern sie sich an ihre Vermeidungsstrategien.

Fruchtlose Erfahrungen mit therapeutischer Hilfe Die große Mehrheit der Eltern, die bei uns in Therapie waren, hatte früher schon einmal professionelle Hilfe gesucht. Die Ergebnisse waren jedoch aus folgenden Gründen enttäuschend: Der Unerwachsene verweigerte die Therapie; der Unerwachsene war mit der Einzeltherapie einverstanden, die Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit bestanden aber weiterhin; den Eltern wurde empfohlen, bedingungslose Akzeptanz zu zeigen; oder den Eltern wurde geraten, unnachgiebig zu sein. Das erwachsene Kind verweigert die Therapie Unserer Erfahrung nach lehnen die meisten Unerwachsenen eine Therapie ab. Manchmal weigern sie sich sogar, auch nur an einer einzigen Evaluierungssitzung teilzunehmen. Diese Unnachgiebigkeit stürzt die Eltern in Hilflosigkeit. Psychiater und Psychothera­

Fruchtlose Erfahrungen mit therapeutischer Hilfe

peuten sagen ihnen oft: »Ihr Kind ist erwachsen. Wenn es nicht in Behandlung kommen möchte, dann kann ich auch nichts tun!« Die Eltern versuchen meistens, ihr Kind vom Nutzen einer Behandlung zu überzeugen. Ihre erste Frage an uns lautet oft: »Wie können wir ihr/ihm klarmachen, dass sie/er eine Therapie braucht?« Das ist ein aussichtloses Unterfangen, weil eine Therapie, die dem Unerwachsenen von den Eltern aufgezwungen wird, meistens zum Scheitern verurteilt ist. Außerdem könnten Eltern in ihrem Eifer, ihr erwachsenes Kind in Behandlung zu bringen, versucht sein, problematische Zugeständnisse zu machen. Letztlich kann eine von den Eltern initiierte Therapie dem Unerwachsenen einen Hebel für eine neue Drohung in die Hand geben: »Wenn ihr dieses oder jenes nicht macht, breche ich die Therapie ab!« Der Unerwachsene ist mit der Einzeltherapie einverstanden, die Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit bestehen aber weiterhin Eine Einzeltherapie kann auf unterschiedliche Weise die Problemsituation sogar noch zementieren, statt zu einer besseren Handlungskompetenz zu führen. Zum einen bekommt der Unerwachsene ein Mittel angeboten, um jegliche Veränderungsinitiative der Eltern zu durchkreuzen. Wenn sie also ihre Erwartung äußern, dass er sein Verhalten ändern solle, antwortet er: »Daran arbeite ich schon in meiner Therapie!« Folglich kann die Behandlung als Schirm dienen, der den Unerwachsenen vor ungewollten Interventionen der Eltern beschützt. Zum anderen kann die Therapie zu einem dicken Katalog der elterlichen Erziehungsfehler geraten, ob diese real sind oder nur eingebildet. Oft stellen die Eltern dann zu ihrer Bestürzung fest, dass die Therapie eine neue Munitionsquelle im Vorwurfsrepertoire des Unerwachsenen geworden ist. Den Eltern wird empfohlen, bedingungslose Akzeptanz zu zeigen Unter Therapeuten und Therapeutinnen herrscht die gängige Einstellung, dass die Eltern motiviert werden müssten, ihr Kind so zu akzeptieren, wie es nun einmal ist. Unerwachsene werden oft so gesehen, dass sie aufgrund vergangener und gegenwärtiger Störungen in der elterlichen Bestätigung unter geringem Selbstwertgefühl

59

60

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

leiden. Zwar ist die Bestätigung des kindlichen Erlebens sicherlich wichtig, aber die bedingungslose Akzeptanz wird oft als eine große Umarmung der Eltern gedeutet. Elterliche Forderungen fasst der Unerwachsene dann als implizite Kritik auf, wodurch sein Selbstwertgefühl weiter ausgehöhlt wird. Nicht selten führen Begriffe wie bedingungslose Akzeptanz, Bestätigung und Entschädigung zu einer Vorwurfsorgie, was dann wiederum eine endlose Rundumversorgung rechtfertigt. Eine von uns behandelte Mutter hat das so formuliert: »Ich habe meinem Mann erlaubt, meine Tochter zu traumatisieren, und jetzt ist sie wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln. Wie kann ich nicht auf sie achtgeben wollen?« Den Eltern wird geraten, unnachgiebig zu sein Manche Fachleute meinen, solange die Eltern sich auf die Erwartungen des Unerwachsenen voll und ganz einstellen, ändert sich nichts. Deshalb empfehlen sie den Eltern, alle ihre Dienste abrupt zurückzufahren oder den Unerwachsenen sogar aus dem Elternhaus zu vertreiben. Eine solche Empfehlung ist meistens zum Scheitern verurteilt, weil sie weder die Schwierigkeiten der Eltern noch die Gefahr einer Eskalation und auch nicht den Umstand berücksichtigt, dass eine Systemveränderung Zeit braucht, bis sie Früchte trägt.

Die Entscheidung, therapeutisch mit den Eltern zu arbeiten ohne Einbezug des Nesthockers Das elterliche Training in gewaltlosem Widerstand gilt als eine wirksame Behandlungsform, wenn die Kinder noch jünger sind. Ist das »Kind« aber zwischen 20 und 30, erscheint das Elterntraining etwas fragwürdig. Ist die Kindererziehung dann immer noch Aufgabe der Eltern? Wir arbeiten therapeutisch mit den Eltern von Unerwachsenen, weil dysfunktionale Abhängigkeit ein systemisches Problem ist. Die Eltern sind genauso ein Teil des Systems wie der Unerwachsene. Diese Überlegung würde eher eine Familientherapie nahelegen als ein Elterntraining. Nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands sind jedoch die Eltern – wie auch andere Betreuungspersonen – unweigerlich die Klienten. Wir empfehlen,

Die Entscheidung, therapeutisch mit den Eltern zu arbeiten

dass der Unerwachsene einzeltherapeutisch behandelt wird, wenn er dies bereitwillig akzeptiert. Doch aus zahlreichen Gründen ist der Ansatz des gewaltlosen Widerstands erfolgreicher, wenn man mit den Eltern allein arbeitet. Die Eltern sind motiviert Eine passende Antwort auf die Frage: »Wer ist der Klient?« lautet: »Der Klient ist derjenige, der bereit ist zu schwitzen!« Im Fall von dysfunktionaler Abhängigkeit sind fast immer die Eltern diejenigen, die die erforderlichen Anstrengungen auf sich nehmen möchten. Sie sind es meistens, die die Last schultern, sich um die Zukunft Sorgen machen, sich erschöpft fühlen und die oftmals ausgebeutet, erpresst und schikaniert werden. Sie sind diejenigen, die auf Zeitdruck sensibler reagieren, wenn sie schwächer werden. Die Eltern haben nicht weniger Hilfe verdient als der Unerwachsene Obwohl die meisten Eltern sich für eine Therapie entscheiden, um ihrem Kind zu helfen, und nur wenige von ihnen Hilfe für sich selbst suchen, rechtfertigt ihr Leiden, dass man sie als Klienten um ihrer selbst willen betrachtet. Das Leiden der Eltern muss nicht weniger gelindert werden als das ihres Kindes. Doch es braucht eine erhebliche Überzeugungskunst, damit die Eltern eine solche Lage in diesem Licht sehen können. Die Eltern sind so sehr daran gewöhnt, die Bedürfnisse ihres Kindes zu befriedigen, dass sie ihre eigenen Wünsche tendenziell ignorieren. Das ist ein typisches Merkmal einer dysfunktionalen Bindung. Manche Eltern können sich nicht darauf einlassen, ihr eigenes Leben zu verbessern, solange sie nicht begreifen, dass sie nur auf diesem Weg ihrem Kind helfen können. Durch die Einbeziehung des Unerwachsenen in die Therapie werden die Eltern von ihren Aufgaben abgelenkt Nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands bestehen die wesent­ lichen Ziele für die Eltern darin, wieder eine Verbindung zu ihrem eigenen Selbst aufzubauen, sich ihrer eigenen Rechte, Wünsche und Bedürfnisse zu versichern, ihren Platz und Einfluss in der Familie wieder zu behaupten, aggressive, ausbeuterische und andere unannehm­

61

62

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

baren Verhaltensweisen zurückzuweisen und die Rundumversorgung zu reduzieren. Ist das erwachsene Kind in der Therapie anwesend, werden die Eltern meistens von diesen Zielen abgelenkt. Die Eltern von Unerwachsenen sind nämlich so konditioniert, dass sie die Bedürfnisse und Gefühle ihres Kindes über ihre eigenen stellen, und somit würde ihre gesamte Aufmerksamkeit von dessen Gefühlsreaktionen im Therapieraum beherrscht. Außerdem sind Unerwachsene selten empfänglich für die elterliche Absicht, die Rundumversorgung zurückzufahren, und stemmen sich in vielen Fällen entschieden dagegen und unternehmen Sabotageversuche. Die Planung des Versorgungsentzugs ist schon hart genug, wenn der Unerwachsene abwesend ist. Aber wenn er anwesend ist, kann dieses Vorhaben schier unmöglich sein. Durch die Einbeziehung des Unerwachsenen in die Therapie wird der Therapeut von seiner Aufgabe abgelenkt Therapeutinnen und Therapeuten, die nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands arbeiten, wurden in ihrer Ausbildung darauf vorbereitet, auf die emotionalen Bedürfnisse zu reagieren, die die Klientinnen und Klienten ihnen anvertrauen. Therapeuten sind auch darauf ausgerichtet, dem Leiden von Kindern besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die Theorien, die unser Denken als Therapeuten geprägt haben, befassen sich meistens mit der Frage, wie die Versäumnisse der Eltern auf ihren Kindern lasten – und nicht umgekehrt. Für Therapeuten, die nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands arbeiten, ist es nicht ganz leicht, sich zu den Bedürfnissen und Leiden der Eltern zu positionieren, zumal Eltern auf die Schwierigkeiten ihrer Kinder oft auf problematische Weise reagieren. In solchen Situationen würde die Therapeutin oder der Therapeut durch die Anwesenheit des Unerwachsenen im Therapieraum von seiner schwer errungenen Konzentration auf die Eltern abgelenkt. Therapeuten, die nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands arbeiten, laden den Unerwachsenen aber zu einer Einzelsitzung ein. Denn eine persönliche Begegnung mit dem Unerwachsenen hilft dem Therapeuten, dessen Zustand einzuschätzen, den Austausch mit den Eltern zu verbessern, die sich ansonsten unbehaglich fühlen könnten, weil sie »das Kind hintergehen«, und therapeutischen

Das Narrativ der Totalverantwortung

Entscheidungen eine solidere Basis zu geben. Viele Eltern fragen uns, wie sie ihre Kinder zu dieser Sitzung einladen sollen. Wir schlagen ihnen Folgendes vor: »Wir wissen, dass wir Erziehungsprobleme haben. Jetzt sind wir es, die Hilfe brauchen. Wir haben einen Therapeuten gefunden, der sich mit der Unterstützung von Eltern auskennt. Er möchte dich gern zu einer Sitzung einladen, um herauszufinden, wie du ihm helfen kannst, damit er uns hilft. Wir versuchen nicht, dich durch Tricks zu einer Therapie zu überreden. Es wird nur eine einzige Sitzung sein. Du würdest uns helfen.« Viele Unerwachsene reagieren positiv auf diese Vorgehensweise, und wenn es auch nur darum geht, ihre Sichtweise der Geschichte zu präsentieren.

Das Narrativ der Totalverantwortung für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Der Wunsch der Eltern, »dem Unerwachsenen begreiflich zu machen, dass er eine Therapie braucht«, führt nicht zu einem produktiven Unterfangen. Dieser Wunsch steht symbolhaft für eine problematischere Einstellung: für die Überzeugung, dass allein die Eltern dafür verantwortlich sind, dass es ihrem Kind wieder gutgeht. Natürlich wollen alle Eltern, dass ihre Kinder gesund sind. Das Problem entsteht jedoch dann, wenn die Eltern sich für ein solches Resultat zuständig fühlen. Für diese Art von unangebrachter Verantwortlichkeit stehen Aussagen wie etwa: »Wie können wir unser Kind kontaktfreudiger machen?« oder: »Wie können wir unser Kind zum Arbeiten bewegen?« oder: »Wie können wir unser Kind zur Zustimmung veranlassen?« oder: »Wie können wir unser Kind zum Essen bewegen?« oder: »Wie können wir unser Kind davon überzeugen, dass uns seine Schwester nicht lieber ist?«. Derlei Fragen beruhen auf zwei problematischen Annahmen. Erstens: Die Eltern haben die Pflicht, ihre Kinder zu veranlassen, das zu tun, was gut für sie ist. Zweitens: Die Eltern haben die Kontrolle darü­ber, ihre Kinder zu veranlassen, das zu tun, was gut für sie ist. Die erste Annahme ist aus ethischer und psychologischer Sicht falsch; die zweite ist sachlich unbegründet. Beginnen wir mit der zweiten

63

64

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

Annahme, die wir als Illusion der Kontrolle bezeichnet haben; diese bezieht sich auf die Überzeugung der Eltern, dass sie die Kontrolle über die Entscheidungen und Handlungen ihres erwachsenen Kindes haben (Omer u. von Schlippe, 2011). Die Eltern haben natürlich keine Kontrolle über die Gedanken und Gefühle ihrer Kinder, was sowohl bei kleinen Kindern als auch bei erwachsenen zutrifft. Die Eltern haben auch keine Kontrolle über das Verhalten ihres Kindes. Gelegentlich können sie einem jüngeren Kind ihren Willen aufzwingen, aber eine Vorschrift für Benehmen löst sich meistens in Luft auf, sobald das Kind außer Sichtweite ist. Kontrolle ist von daher eine Illusion. Die Eltern können nur ihr eigenes Handeln kontrollieren. Ausgehend von der Illusion der Kontrolle, wird dem Narrativ der Totalverantwortung auch die ethische Grundlage entzogen; denn niemand kann für etwas verantwortlich gemacht werden, das er nicht tun kann. Dieses Narrativ ist auch entwicklungspsychologisch problematisch, da es die Verantwortung vom Kind weg verlagert. Das gilt für alltägliche wie auch für entscheidende Situationen. Wenn die Eltern ihr Kind beispielsweise ständig daran erinnern, die Hausaufgaben zu machen, oder es jeden Morgen wecken, dann hat es wenig Chancen, Verantwortung zu übernehmen. Es gibt zahllose Beispiele, wie Unerwachsene durch die elterliche Vorstellung von der Totalverantwortung in entscheidenden Dingen bevormundet werden. Wenn die Eltern sich gänzlich dafür verantwortlich fühlen, wie der Unerwachsene mit Geld umgeht, wird er in finanziellen Dingen wahrscheinlich verantwortungslos bleiben. Wenn die Eltern sich dafür verantwortlich fühlen, ihrem erwachsenen Kind die Angst zu nehmen, stehen die Chancen gut, dass es kein Rüstzeug für die Lebensbewältigung entwickeln kann. Folglich perpetuiert die Vorstellung von der Totalverantwortung die negativen Folgen einer Rundumversorgung. Hilft man den Eltern, sich der Last der Totalverantwortung zu entledigen, ist das der erste Schritt, mit dem Unerwachsene sich von der Bevormundung befreien können. Doch das Narrativ der Totalverantwortung ist tief verwurzelt. Oft meinen die Eltern, sie könnten und müssten ihr Kind heilen, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich selbst dafür die Schuld geben, dass es ihm nicht gutgeht. Viele Eltern kommen zu uns mit tiefen Schuld-

Das Narrativ der Totalverantwortung

gefühlen, das Leben ihres Kindes zerstört zu haben. Selbst wenn sie eine andere Person, meistens einen Lebenspartner oder eine Lebenspartnerin, dafür verantwortlich machen, fühlen sie sich schuldig, weil sie nicht interveniert haben. Dieses Schuldgefühl wegen vergangener Geschehnisse ist verknüpft mit dem Gefühl von Verantwortung für das, was in der Gegenwart passiert. Die Eltern sehen es dann als ihre absolute Pflicht an, für das Kind zu sorgen und das ihm in der Vergangenheit zugefügte Unrecht wiedergutzumachen. So reichen die Eltern dem Unerwachsenen die Sauerstoffmaske. Das erwachsene Kind in diesem heiklen Moment im Stich zu lassen, das wäre der schlimmstmögliche Verrat. Dieses Verantwortungsgefühl reicht auch in die Zukunft hinein. Die Eltern glauben: »Nur wir können dafür sorgen, dass es unserem Kind besser geht!« Deshalb müssen Unerwachsene aus Sicht der Eltern in eine Therapie geführt, unter andere Menschen gebracht oder für sie Jobs arrangiert werden. Wenn die Eltern nach dem Warum gefragt werden, antworten sie wahrscheinlich entgeistert: »Ja, wer denn sonst?« Mit dem Konzept des gewaltlosen Widerstands soll Eltern geholfen werden, sich sowohl vom Gefühl der Totalverantwortung als auch von der Illusion der Kontrolle freizumachen. Die Eltern können sich gegen die Handlungen ihrer Kinder wehren oder sie unterstützen, aber sie können das Handeln der Kinder nicht bestimmen. Deshalb haben alle Botschaften an den Unerwachsenen die Form: »Wir werden das machen!« und niemals: »Du wirst das machen!«. Wenn die Eltern in der 1. Person Singular oder Plural sprechen, übernehmen sie die Verantwortung für ihr eigenes Tun. Wir sagen den Eltern auch, dass sie unseres Erachtens nicht die Ursache für die Probleme ihres Unerwachsenen sind. Wir meinen, dass solche Probleme entstehen, wenn verschiedene Faktoren, zum Beispiel Genetik, soziale Umstände, schlechte Einflüsse und Pech, ineinandergreifen. Vielleicht wussten die Eltern nicht, wie sie die negativen Auswirkungen verhindern konnten. Aber wie hätten sie wissen können, dass ihre natürlichen Gefühle, nämlich ihr Kind beschützen zu wollen, zu so negativen Auswirkungen führen würden? Sehr oft hat sich eine problematische Situation trotz ihrer besten Absichten oder gerade wegen ihrer besten Absichten entwickelt. Manchmal haben Ratschläge, die die Eltern von Fachleuten bekommen hatten, die Sache noch

65

66

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

schlimmer gemacht und dem dysfunktionalen Abhängigkeitsband eine weitere Schleife hinzugefügt. Wenn wir den Eltern helfen, diese Annahmen zu überwinden, beginnt sich das Knäuel in der Eltern-Kind-Beziehung zu lockern. Dann werden graduelle Freiräume sichtbar. Die Kontrollversuche nehmen ab. Die Eltern werden empfänglich für ihre wesentliche Aufgabe, sich selbst aus der dysfunktionalen Bindung zu befreien.

Die Auswirkungen der elterlichen Rundumversorgung Der Zusammenhang zwischen der Rundumversorgung durch die Eltern und der Dysfunktion ihres Kindes wurde zum ersten Mal bei Familien aufgezeigt, in denen Kinder oder Unerwachsene mit einer Zwangsstörung lebten. Man stellte fest, dass die Rundumversorgung mit der Schwere der Symptome, einer Dysfunktion sowie dem Scheitern von kognitiver Verhaltenstherapie und medikamentöser Behandlung korrelierte (Garcia et al., 2010; Storch et al., 2007). Die Bedeutung dieses Befunds ist leicht zu unterschätzen. Üblicherweise ist nicht davon auszugehen, dass der Erfolg einer medikamentösen Behandlung von einem Interaktionsrahmen abhängt. Deshalb ist es überraschend, dass, solange die elterliche Rundumversorgung auf einem hohen Niveau bleibt, die Medikation nicht die erwarteten Wirkungen hat. Dass das auch für die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) bei einem Kind zutrifft, ist nicht weniger überraschend. Denn weshalb sollte die elterliche Rundumversorgung die positiven Effekte schmälern, die aufgrund einer KVT im kognitiven und verhaltensbezogenen Bereich üblicherweise erzielt werden? Die Antwort lautet, dass sowohl eine Medikation als auch eine KVT nur dann erfolgreich sein können, wenn sie dem Patienten helfen, seine Vermeidungsstrategien abzulegen und die Herausforderungen des Lebens zu bewältigen. Doch solange die elterliche Rundumversorgung besteht, ist es dem Kind möglich, solche Schritte zu unterlassen. Zwei gewichtige Gründe sprechen dagegen: Der Unerwachsene hat vielleicht Angst, dass die Eltern ihre Dienste zurückfahren, wenn er beginnt handlungsfähig zu werden; und

Die Auswirkungen der elterlichen Rundumversorgung

damit man wieder eine normale Handlungskompetenz erlangen kann, braucht es Mut (auch mit Unterstützung durch KVT und Medikamente). Die elterliche Rundumversorgung schwächt den Entschluss des Kindes zur Veränderung. Aus diesen Gründen kann der Erfolg der KVT wie auch der Medikamente durch die Beelterung untergraben werden. Allmählich wurden die Untersuchungen zur Rundumversor­gung durch die Eltern auf andere Störungen ausgeweitet. Man hat festgestellt, dass sich die elterliche Rundumversorgung auch bei anderen Angststörungen, bei hochfunktionalem Autismus, Essstörungen, Dysfunktion nach Schädel-Hirn-Verletzungen und bei Depression ähnlich auswirkt (Shimshoni et al., 2019). Eine wichtige Frage dabei war, ob sich die Symptome und die Handlungskompetenz des Kindes, unabhängig von einer anderen Therapieform, positiv verändern würden, wenn die Eltern ihre Rundumversorgung reduzieren könnten. Einige Studien haben gezeigt, dass dies der Fall ist. Das Programm Supportive Parenting for Anxious Childhood Emotions (SPACE, Unterstützte Elternschaft bei Angstgefühlen des Kindes) (Lebowitz u. Omer, 2013) ist eine Adaption des Konzepts des gewaltlosen Widerstands und sollte den Eltern von Kindern mit Angststörungen helfen, ihre Rundumversorgung zu begrenzen. Die Ergebnisse waren vielversprechend: Wenn die Eltern darin geschult wurden, ihre Rundumversorgung zu reduzieren, führte das zu ähnlich positiven Veränderungen der Symptome und der Handlungskompetenz des Kindes, wie sie mithilfe der KVT bei kooperationswilligen Kindern erreicht wurden (Lebowitz et al., 2020). Interessanterweise waren 70 Prozent der Kinder, die zuvor eine Therapie verweigert hatten, mit einer Behandlung einverstanden, nachdem ihre Eltern das Training abgeschlossen hatten. Als die Kinder gefragt wurden, weshalb sie ihre Meinung geändert hätten, gaben sie zwei Antworten: »Ich hatte Angst, dass ich in der Therapie etwas tun müsste, was ich absolut nicht tun könnte! Jetzt weiß ich, dass ich solche Situationen überstehen kann.« Und: »Ich dachte, wenn ich zur Therapie gehe, würden meine Eltern nicht mehr das tun, was sie für mich getan haben. Aber sie haben sowieso damit aufgehört.« Diese Antworten lassen erkennen, weshalb die Beelterung beim Kind zur Therapieverweigerung führen kann.

67

68

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

Schwierigkeiten der Eltern, ihre Rundumversorgung einzustellen Selbst wenn die Eltern das Prinzip des Versorgungsentzugs begreifen, haben sie vielleicht immer noch Einwände dagegen. Versteht der Therapeut die Vorbehalte der Eltern, kann er ihnen helfen, diese Hindernisse zu überwinden. Damit wir unseren Dialog mit den Eltern verbessern und sie zum Versorgungsentzug motivieren können, müssen wir ihnen aufmerksam zuhören und über ihre Einwände sprechen. Im Folgenden sind ein paar Argumente aufgelistet, auf die Therapeuten und Therapeutinnen vorbereitet sein sollten, wenn sie mit Eltern von Unerwachsenen arbeiten. »Mein Kind leidet an einer psychischen Krankheit und kann des­ halb nicht mit dem Leben eines Erwachsenen zurechtkommen!« Die Überzeugung, dass das problematische Verhalten des Kindes auf eine psychische Störung zurückzuführen ist und ein unüberwindbares Hindernis für seine Handlungsfähigkeit darstellt, hält viele Eltern davon ab, ihre Rundumversorgung einzuschränken. Sie haben das Gefühl, dass dieser Schritt ungerecht und so sei, als ob von einem querschnittgelähmten Menschen erwartet würde, dass er gehen könne. Eltern mit dieser Auffassung sehen Verhaltensprobleme tendenziell als etwas in der Psyche Verwurzeltes und unterschätzen folglich die Bedeutung, die die zwischenmenschliche Interaktion für das Fortbestehen bzw. Lösen der Probleme hat. Eltern von Unerwachsenen haben oftmals Angst, dass ein Versorgungsentzug angesichts der psychischen Störung ihres Kindes nicht nur ungerecht wäre, sondern auch verheerende Auswirkungen hätte. »Wenn wir unsere Rundumversorgung einstellen, wird unser Kind gefährliche Reaktionen zeigen!«Aus vielen Eltern spricht die Angst, dass der Unerwachsene als Antwort auf den Versorgungsentzug sich selbst oder ihnen etwas antun könnte. Solche Ängste sind vollkommen nachvollziehbar. Manche Eltern haben wirklich erlebt, dass ihr Kind auf diese Weise reagiert hat.

Schwierigkeiten der Eltern, ihre Rundumversorgung einzustellen

»Nur lieblose Eltern können ihrem Kind ein solches Leiden zufügen!« Diese Eltern glauben, dass der Versorgungsentzug per definitionem bedeutet, sie würden ihr Kind nicht lieben und sie zu schlechten Eltern machen, wenn sie ihre Rundumversorgung zurückfahren. Solche Eltern benutzen das Leiden ihres Kindes oft als Begründung dafür, dass sie ihm rundum dienen müssten. Sie behaupten, dass sie mit ihrer Rundumversorgung schon kaum die Schwierigkeiten des Kindes kompensieren könnten, also wäre der Versorgungsentzug doppelt ungerecht. »Das Leben zu Hause wird ein Schlachtfeld werden!« Viele Eltern haben Angst davor, dass ein Zermürbungskrieg losgehen würde, wenn sie sich zu einem Versorgungsentzug entscheiden. Selbst bei einem jüngeren Kind kann diese Angst entmutigend sein; bei einem Unerwachsenen, der oft stärker ist als die Eltern, ist das ein echtes Anliegen. »Wenn wir jemandem von dem Problem erzählen, wird sich unser Kind ausgesetzt und verraten fühlen!« Dieser Vorbehalt zielt auf den Versuch, ein Unterstützernetzwerk zu mobilisieren, das im Konzept des gewaltlosen Widerstands eine zentrale Rolle spielt. Will man die Eltern zu diesem Schritt mobilisieren, müssen sie den Schleier des Geheimnisses um das Problem lüften. Viele Unerwachsene fordern absolute Geheimhaltung und drohen manchmal schreckliche Konsequenzen an, sollten die Eltern ihr Problem preisgeben. »Wir können das einfach nicht tun! Jedes Mal, wenn wir es versucht haben, sind wir gescheitert!« Viele Eltern fühlen sich unfähig, ihre Rundumversorgung zu reduzieren, weil der Unerwachsene in dem daraus resultierenden Konflikt noch störrischer wird, als sie es sind. Aufgrund einer Reihe früherer Niederlagen sind solche Eltern davon überzeugt, dass sie nicht gewinnen können. Unser Argument lautet, dass der Ansatz des gewaltlosen Widerstands am besten geeignet ist, derlei Einwände zu entkräften und die Eltern so zu mobilisieren, dass sie ihre Rundumversorgung begrenzen und Eskalationen verhindern können, und dass sie dabei unterstützt werden, sich gegen Erpressung, Ausbeutung und Gewalt abzusichern.

69

70

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

Der gewaltlose Widerstand und dysfunktionale Abhängigkeit Der gewaltlose Widerstand im Sinne einer gesellschaftspolitischen Doktrin hilft den Opfern von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung, ihre Fähigkeit zum Widerstand auf grundsätzlich friedvolle und nichteskalierende Weise zurückzugewinnen (Sharp, 1973). Der gewaltlose Widerstand im Rahmen des Elterntrainings ist eine Adaption dieser Doktrin an die Familie und wurde konzipiert, um Eltern zu helfen, mit ihren gewaltbereiten und selbstzerstörerischen Kindern umzugehen (Omer u. von Schlippe, 2011). Frühe Studien zum Ansatz des gewaltlosen Widerstands haben sich auf Eltern konzentriert, die Kinder mit Verhaltensstörungen und oppositionell-­ aufsässigem Verhalten hatten. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass dieser Ansatz zu einem signifikanten Nachlassen der Symptome der Kinder, der Eskalation zwischen Eltern und Kind sowie der Hilflosigkeit der Eltern führte (Omer u. Lebowitz, 2016). Ein besonders ermutigendes Ergebnis der Studie war die niedrige Abbruchquote unter den Eltern, was nahelegt, dass sie daran glaubten, dass das Programm auf ihre Bedürfnisse und Schwierigkeiten eingehen würde. Eine zentrale Frage war dabei, wie sich der gewaltlose Widerstand auf das Leiden des Kindes und die ElternKind-Beziehung auswirken würde. Der Grund, weshalb diese Frage besonders wichtig war, lag darin, dass Fachleute, die nur oberflächlich mit dem Konzept des gewaltlosen Widerstands vertraut waren, sich manchmal über einen allzu rigorosen Therapiestil beklagten. Mehrere Ergebnisse zeigten, dass diese Bedenken unbegründet waren. Denen zufolge wurden nämlich die elterliche Strafbereitschaft und Impulsivität durchweg verringert, die Machtkämpfe und Entfremdung zwischen Eltern und Kind abgeschwächt und häufiger positive Gesten der Eltern beobachtet (Lavi-Levavi, Shachar u. Omer, 2013; Weinblatt u. Omer, 2008). Obwohl das ursprüngliche Therapieprogramm auf externalisierende Auffälligkeiten ausgerichtet war, stellte man auch eindeutige Besserungen bei internalisierenden Auffälligkeiten fest, vor allem bei Angst und Depression (Schorr-Sapir, 2018). Nach und nach entwickelte man spezielle Anpassungen des Konzepts des gewaltlosen Widerstands im Rahmen von Angststörungen (Lebo-

Der gewaltlose Widerstand und dysfunktionale Abhängigkeit

witz u. Omer, 2013), bei Anzeichen dysfunktionaler Abhängigkeit (Lebowitz, Dolberger, Nortov u. Omer, 2012), bei hochfunktionalem Autismus (Golan, Shiloh u. Omer, 2016), bei Adoleszenten mit Diabetes (Rothman-­Kabir, 2018), Computer- und Smartphone-­Abhängigkeit (Sela, 2019) und Schulverweigerung (Omer, Schorr-Sapir u. Efron, 2016). Bei allen diesen Zuständen zeigte der Ansatz des gewaltlosen Widerstands vielversprechende Ergebnisse bei Kindern und Eltern. Demnach scheinen die Ziele dieses Ansatzes nicht nur darin zu bestehen, dass er die Aggression des Kindes abbremst, sondern auch Ängste und Depressionen abmildern hilft. Diese Ergebnisse sagen uns, dass die Eltern mithilfe des Konzepts des gewaltlosen Widerstands Neue Autorität (Omer, 2010) entwickeln können, durch die sie im Leben des Kindes eine Anker­ funktion (Omer et al., 2013) ausüben. Wir stellten die Hypothese auf, dass diese Neue Autorität mit ihrer Ankerfunktion auf vier Säulen beruht: Präsenz, Selbstkontrolle, Struktur und Unterstützung. Präsenz Die Präsenz der Eltern, das Gegenteil von dem Zustand, wenn die Eltern im Hintergrund verschwinden, drückt sich in Botschaften aus wie etwa: »Hier sind wir!« oder: »Das ist mein Körper!« oder: »Das sind unsere Bedürfnisse!« oder: »Das sind unsere Rechte!«. Mit der Ausübung des gewaltlosen Widerstands gewinnen die Eltern ihren Platz, ihren Einfluss und ihre Stimme zurück und treten somit wieder als aktive Mitglieder im Familienleben in Erscheinung. Selbstkontrolle Die Eltern verankern sich durch Selbstkontrolle. Dadurch, dass sie Eskalation vermeiden, Einschüchterungsversuchen entgegentreten und den negativen Gefühlen ihres Kindes nicht auf gleiche Weise begegnen, fügen sie ihrer elterlichen Verankerung Stabilität hinzu. Durch ihre Selbstkontrolle können die Eltern nicht nur negative Reaktionen vermeiden, sondern auch die Fähigkeit des Ausdauerns und Durchhaltens erwerben. Früher hielt man die elterliche Autorität für die Fähigkeit, das Kind zu kontrollieren. Doch durch diese Einstellung wird die Eltern-Kind-Beziehung zu einem Machtkampf. Damit die Eltern ihr Kontrollbedürfnis aufgeben können, müssen

71

72

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

sie einsehen, dass sie nicht über die von ihrem Kind getroffenen Entscheidungen bestimmen können. Sie können für ihre Kinder nicht studieren, nicht für sie ausgehen, Kontakte knüpfen, arbeiten oder eine Therapie machen. Sie können lediglich ihre eigenen Entscheidungen kontrollieren. Diese Erkenntnis ist sowohl enttäuschend als auch befreiend zugleich. Natürlich ist es enttäuschend, die eigenen Rettungsfantasien loszulassen. Aber gleichzeitig ist es befreiend für die Eltern, weil sie das aufgeben, was sie nicht erreichen können, und sich nun auf das konzentrieren, was sie erreichen können. Das ist die beste Art und Weise, ihnen und ihrem Kind aus der wechselseitig gelegten Falle zu helfen. Struktur Der gewaltlose Widerstand ist das Gegenmittel zu den Grenzero­sio­ nen, wie sie typisch ist für Familien mit Unerwachsenen. Der Therapeut hilft den Eltern, Grundregeln zu bestimmen und Routinen einzuführen, die der gesamten Familie wieder ein Gespür für Ordnung und Sicherheit geben. Die Grundregeln bestehen aus roten Linien, an die sich die Eltern selbst halten und die sie hartnäckig, aber gewaltlos zu verteidigen lernen. Diese Regeln haben nicht die Form eines in der 2. Person Singular artikulierten Befehls: »Du machst das jetzt so und so!«, sondern die eines verbindlichen in der 1. Person Plural artikulierten Engagements: »Wir machen das jetzt so und so!« Damit dieses Vorgehen gelingt, müssen die Eltern ihre roten Linien wählen, definieren, ankündigen und auch ziehen. Typische rote Linien sind: »Wir werden gegen Gewalttätigkeit und Erpressung Widerstand leisten!« oder: »Wir werden uns gegen die Ausbeutung wehren!« oder: »Wir werden nachts den Internetrouter ausschalten!« oder: »Wir werden uns gegen die Angewohnheit verwahren, dass du in deinem Zimmer isst!«. In den folgenden Kapiteln geht es darum, wie Eltern solche roten Linien ziehen können. Allein können sie das nicht schaffen; sie brauchen die Hilfe ihrer Unterstützer und Unterstützerinnen. Unterstützung Der Therapeut oder die Therapeutin hilft den Eltern, ein unterstützendes Netzwerk aufzubauen, zu dem meistens Verwandte, Freunde und manchmal auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Der Umgang mit elterlichen Vorbehalten

kommunaler Einrichtungen gehören. Diese Gruppe unterstützt die Eltern dadurch, dass sie ihnen ein Fundament verschafft, das ihnen Mut macht, sie zu pragmatischem Handeln motiviert und ihr Handeln legitimiert. Mithilfe dieses Netzwerks wird die Schutzschicht durchbrochen, hinter der die dysfunktionale Bindung innerhalb der Kernfamilie aufrechterhalten wird. Die Beziehung zwischen den Eltern und dem Nesthocker ist ein Mechanismus, bei dem jede Seite automatisch auf die Signale der anderen Seite reagiert. Wird dieser Mechanismus für äußere Einflüsse geöffnet, können die Eltern und der Unerwachsene neue Optionen finden. Die Hinzuziehung von Unterstützern ist oftmals der entscheidende Schritt, um eine besonders tiefe und dauerhafte Transformation im Bereich dysfunktionaler Abhängigkeit zu bewirken.

Der Umgang mit elterlichen Vorbehalten Im sozialpolitischen Feld beginnt der gewaltlose Widerstand, wenn die Opfer von Unterdrückung zu der Erkenntnis gelangen können, dass ihr Zustand nicht normal, gottgegeben oder sonst wie vorherbestimmt ist. Auf ähnliche Weise beginnt der gewaltlose Widerstand in der Familie. Wenn die Eltern überzeugt sind, dass es normal ist, alle Ansprüche ihres Kindes aufgrund seiner psychischen Verfassung zu befriedigen, muss der Therapeut oder die Therapeutin ihnen zu der Einsicht verhelfen, dass ihre Situation keine absolute Notwendigkeit darstellt, sondern das Resultat automatisch abgespulter Interaktionsmuster ist. Die Eltern müssen spüren, dass die Befreiung von ihren erlebten Zwängen eine reale Alternative darstellt. Zu diesem Zweck hilft ihnen der Therapeut, sich an Gelegenheiten zu erinnern, bei denen der Unerwachsene noch handlungsfähiger war. Sie sollen auch überlegen, ob sie im Gestus ihres Kindes eine gewisse Ausbeutung ihnen gegenüber entdecken können. Dadurch wird oft ein Maß an angebrachtem Zorn hervorgerufen, der die Eltern mobilisieren hilft. Danach sollen die Eltern sich auf spezifische Bereiche konzentrieren, in denen der Unerwachsene wahrscheinlich selbstständig eine Lösung finden würde, wenn sie ihm ihre Dienste verweigern könnten.

73

74

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

Viele Eltern fürchten, dass ein Versorgungsentzug für ihr Kind auf traumatische Weise schmerzhaft wäre. So gehen sie beispielsweise davon aus, dass sich seine Angst bis zum Kollaps steigern könnte. Solchen Eltern kann durch eine psychoedukative Maßnahme geholfen werden, bei der sie erfahren, dass Angst physiologisch selbstbegrenzend ist. Wenn der Angstpegel steigt, reagiert der Körper normalerweise mit antagonistischen Reaktionen auf die erste Erhöhung des Hormonspiegels, des Blutdrucks, der Herzfrequenz und der Muskelspannung, also auf die physiologischen Grundlagen der Angst. Deshalb ist die Angstkurve glockenförmig. Der Angstpegel steigt nicht ins Unendliche, sondern er geht zuerst hoch und dann wieder nach unten. Deshalb sind Konfrontationstherapien bei Angststörungen wirksam. Diese Erklärung wirkt auf viele Eltern beruhigend. Eltern von ängstlichen Kindern und Adoleszenten können nach und nach ihre Rundumversorgung einstellen, wenn sie begreifen, dass die dadurch hervorgerufene Angst ihres Kindes allmählich nachlässt (Lebowitz u. Omer, 2013). Das Gleiche gilt für Eltern von Unerwachsenen. Wenn die Eltern verstehen, dass der Zustand ihres Unerwachsenen unter anderem durch ihre eigene Angst vor der Angst erhalten wird, können sie es ertragen, wenn das erwachsene Kind auf ihre Entscheidung zum Versorgungsentzug mit Angst reagiert. Ein zentraler Aspekt einer solchen Diskussion ist eine Neubewertung des Aushaltevermögens von Unerwachsenen. Viele Eltern reagieren positiv auf den Gedanken, dass die Fähigkeit, etwas auszuhalten, kultiviert werden kann. Sie stimmen oft zu, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach ein Segen für den Unerwachsenen wäre, wenn er Situationen erleben würde, in denen er keine andere Wahl hätte, als sie zu ertragen. Die Eltern fragen sich oft: »Wie können wir unser Kind davon überzeugen, dass es etwas aushalten muss?« Dem Unerwachsenen einfach erzählen, dass er durchaus etwas aushalten könne, ist nicht sehr hilfreich; denn er würde dann versuchen, das Gegenteil zu beweisen. Diese Beobachtung führt zu der Einsicht, dass er seine Fähigkeit, etwas auszuhalten oder zu ertragen, selbst entdecken muss. Die Eltern können ihr eigenes Verständnis ihrem Kind nicht einfach überstülpen. Sie können den Lernprozess des erwachsenen Kindes weder steuern noch kontrollieren.

Der Umgang mit elterlichen Vorbehalten

Unerwachsene können dies tatsächlich nur lernen, wenn ihre Eltern sie nicht mehr steuern, aufklären und überzeugen wollen. Doch die Eltern können in diesem Prozess eine aktive Rolle übernehmen, indem sie ihr eigenes Aushaltevermögen kultivieren. Sie können ihrem erwachsenen Kind etwa sagen: »Früher konnte ich Situa­tionen, in denen du Angst hattest, schlecht aushalten. Inzwischen weiß ich, dass ich das kann.« Statt dem Unerwachsenen also zu sagen: »Ich weiß, dass du etwas aushalten kannst!«, sagen sie: »Ich weiß, dass wir etwas aushalten können!« Im einen Fall halten die Eltern eine Moralpredigt und provozieren so den Unerwachsenen, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Im anderen Fall gibt es weder Predigt noch aufmunternde Worte. Die Eltern denken lediglich über die innere Veränderung nach, die sie erfahren haben. Dieses Vorgehen ist weitaus überzeugender, weil kein Versuch zu überzeugen damit einhergeht. Ein zentrales Element im Konzept des gewaltlosen Widerstands ist die Unterstützung, die enorm zum Aushaltevermögen beiträgt. Gandhi sagte immer, dass der Mut von Menschen, die den gewaltlosen Widerstand praktizieren, nicht in der Einsamkeit geboren werde, sondern in der Gemeinsamkeit. Unterstützung wird auf vielschichtige Weise erfahren. So helfen die Unterstützer und Unterstützerinnen den Eltern beispielsweise dadurch, dass sie ihnen ein Gefühl von Legitimation geben, ihnen die Übernahme einiger ihrer Pflichten anbieten, ihnen direkte Ermutigung geben oder in schwierigen Momenten einfach an ihrer Seite bleiben. Außerdem wirken Unerwachsene im Beisein von Unterstützern tendenziell reifer, als wenn sie mit ihren Eltern allein sind. Das kann daran liegen, dass der Unerwachsene in Anwesenheit von Unterstützern sich weniger kindisch fühlt oder weil der Mechanismus des Leidens und der Rundumversorgung bei Unterstützern nicht so engmaschig und gut geölt ist wie bei den Eltern. Wenn die Eltern im therapeutischen Kontext mit Unterstützern über ihre Familienprobleme sprechen, bekommen sie oft spontane Äußerungen der Ermutigung und der Legitimation zu hören. Hier sind einige typische Beispiele: Die Eltern eines 17-jährigen Mädchens erzählten in einer Sitzung mit Unterstützern, dass sie als Paar nicht mehr weggegangen seien, seit

75

76

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

ihre Tochter eine extreme Angst davor habe, wegzugehen oder allein zu Hause zu bleiben. Der Bruder des Vaters schlug vor, dass er die ers­ ten Male, sollten die Eltern ihre Ausflüge wieder aufnehmen wollen, mit dem Mädchen telefonisch Kontakt halten würde. Der nicht weit entfernt lebende Großvater bot an, auf einen kurzen Besuch vorbeizukommen. Das überzeugte die Eltern, dass das Wagnis eines gemeinsamen Aus­ flugs eine reale Möglichkeit wäre. Nachdem die Eltern ein paar Mal allein weggegangen waren, verließ die Tochter in Begleitung einer Cousine nach zwei Jahren zum ersten Mal wieder das Haus. Die Eltern eines 14-jährigen Jungen, der nicht in die Schule gehen wollte und von Computerspielen abhängig war, erzählten der Unterstützer­ gruppe von ihrer Absicht, den Computer während der Schulstunden und nach zehn Uhr abends auszuschalten. Eine enge Freundin der Familie, die ein gutes Verhältnis zu dem Jungen hatte, bot an, mit ihm über die­ ses Thema zu sprechen. Später erzählte sie von ihrem Gespräch. Als der Junge gegen die Entscheidung seiner Eltern protestiert habe, habe sie geantwortet: »Willst du, dass sie dich aufgeben? Das können sie nicht tun! Und ich kann das auch nicht!«

Das elterliche Aushaltevermögen wird gesteigert, wenn die Eltern – wenn auch nur kurzfristig – von ihrem Totalengagement für ihren Unerwachsenen entlastet werden. Wenn wir die Eltern in gewaltlosem Widerstand trainieren, erkunden wir, wie der weniger eingebundene Elternteil (meistens der Vater) den anderen Elternteil in schwierigen Situationen entlasten kann. Auch Großeltern können für derlei Aufgaben gut geeignet sein, besonders dann, wenn sie keine Hauptlieferanten von Diensten für den Nesthocker sind. Auf jeden Fall müssen die Unterstützer und Unterstützerinnen über die schädlichen Folgen der Rundumversorgung informiert werden, damit sie dem Druck des Unerwachsenen besser Stand halten können. Diese Art der Unterstützung mildert die Angst der Eltern, von anderen und von sich selbst als »schlechte Eltern« wahrgenommen zu werden. Doch viele Eltern sträuben sich, andere Menschen um Hilfe zu bitten. Die üblichen Vorbehalte der Eltern sind: a) Sie befürchten, dies würde sie als schwach dastehen lassen. b) Sie glauben, dass die Enthüllung des Geheimnisses in ihrem Kind unerträgliche Scham-

Der Umgang mit elterlichen Vorbehalten

gefühle auslösen würde. c) Sie meinen, dass keine Unterstützer zu finden sind. d) Sie haben Angst, dass das Kind auf extreme Weisen reagieren könnte. Wir haben verschiedene Optionen entwickelt, mit derlei Vorbehalten umzugehen. a) Den Eltern, die befürchten, dass ihre Bitte um Unterstützung sie als schwach dastehen lassen würde, hilft man, indem Unterstützung als etwas Befähigendes betrachtet wird. Unterstützung ist weit davon entfernt, sie als schwach erscheinen zu lassen; sie verleiht ihnen vielmehr eine neue Art von Stärke, nämlich die zu sagen: »Wir!« statt »Ich!«. Dieser Übergang zur 1. Person Plural spielt im Konzept des gewaltlosen Widerstands eine zentrale Rolle. Unerwachsene sticheln oft gegen die Eltern, weil diese bei anderen Personen Hilfe suchen. Nun lernen die Eltern, stolz zu antworten: »Unser einziger Fehler war der, dass wir uns so lange allein herumgeplagt haben!« b) Beim Thema Schamgefühle hilft die Therapeutin oder der Therapeut den Eltern durch die Überlegung, dass es negative und positive Arten der Scham gibt. Im negativen Sinn ist mit Scham der Ausschluss verbunden (z. B.: »Du gehörst nicht hier her!«), was genau das Gegenteil von dem ist, wenn Scham in einem stützenden Kontext erlebt wird. Die Unterstützer und Unterstützerinnen werden speziell angewiesen, einen positiven Kontext dadurch zu schaffen, dass sie ihre Sorge und Anerkennung zum Ausdruck bringen; dass sie dem Unerwachsenen sagen, dass sie an ihn glauben und er ihrer Ansicht nach seine Schwierigkeit überwinden könne; und dass sie ihm ihre Hilfe anbieten, um gemeinsam eine Lösung zu finden. Viele Eltern können dem Gedanken an »konstruktiven Schamgefühlen« etwas abgewinnen und sehen ein, dass ihr Kind durch Geheimnistuerei dieser Lebenserfahrung konkret beraubt wird. c) Die Eltern, denen angeblich keine Unterstützer zur Verfügung stehen, können ermutigt werden, diese Annahme proaktiv zu überdenken. Viele Eltern schränken ihre sozialen Kontakte zu Freunden oder Verwandten aus Scham über den Zustand ihres Nesthockers ein. Wenn diese selbstauferlegte Abschottung aufgehoben wird, kann das zu einem Wendepunkt werden. Manchmal schließen die Eltern bestimmte Personen, zum Beispiel die Großeltern, als Unterstützer aus mit der Begründung, sie sollten wegen ihres Alters und ihres

77

78

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

Gesundheitszustands nicht behelligt werden oder seien mit ihren eigenen Problemen vollauf beschäftigt. Die meisten Eltern können davon überzeugt werden, dass es wahrscheinlich nicht sehr rücksichtsvoll ist, die Großeltern auszuschließen. Tatsächlich reagieren die Großeltern auf den Hilferuf der Eltern fast immer unterstützend und zeigen nicht nur Kooperationsbereitschaft, sondern lassen auch erkennen, dass ihre Hilfe für ihr eigenes Kind (den Elternteil) und das Enkelkind für sie höchst bedeutsam ist. Therapeuten, die die Vorbehalte der Eltern mühevoll erkunden, können diese oftmals dazu bringen, eine effektive Unterstützergruppe aufzubauen. Es zeigt sich, dass diese Fähigkeit erlernt werden kann. An unserem Zentrum tätige Therapeuten und Therapeutinnen können die Eltern ziemlich erfolgreich dazu motivieren, ein stützendes Netzwerk zu schaffen. Die größte Schwierigkeit der Eltern, die sie mit der Einbindung von Unterstützern und mit dem gesamten Projekt des Versorgungsentzugs haben, ist die Angst vor der Überreaktion ihres Unerwachsenen. Im Rahmen des Trainings in gewaltlosem Widerstand werden derlei Ängste niemals ausgeblendet. Im Gegenteil: Sie finden ernsthafte Berücksichtigung, und den Eltern wird geholfen, angemessene Bewältigungsstrategien zu entwickeln. d) Zu den angsteinflößenden Themen, die im Training in gewaltlosem Widerstand immer angesprochen werden, gehört die Angst vor der Eskalation. Wir wollen, dass die Eltern sowohl die sym­ metrische als auch die komplementäre Eskalation verstehen. Bei der symmetrischen Eskalation zeigen die Eltern und ihr Kind ähnliche Reaktionen (beschuldigen, anschreien und sich gegenseitig drohen), wobei der Zirkel mit jeder Reaktion intensiviert wird. Bei der komplementären Eskalation machen die Zugeständnisse der Eltern den Unerwachsenen nur noch fordernder. Eine besonders problematische Form der Komplementärdynamik ist die Erpressung; wenn die Eltern der Erpressung nachgeben, wird der Unerwachsene zu immer weiteren Erpressungen ermutigt. Im Rahmen des Trainings in gewaltlosem Widerstand lernen die Eltern, beide Arten der Eskalation zu identifizieren und zu vermeiden. Dabei lernen die Eltern auch erkennen, an welcher Stelle sie verwundbar sind und wodurch ihre Wut ausgelöst wird. Im Rollenspiel lernen sie, wie sie sich auf explosive Situationen vorbereiten, ihre

Der Umgang mit elterlichen Vorbehalten

Reaktionen hinauszögern (»Man soll das Eisen schmieden, wenn es kalt ist!«; dazu Näheres in Kapitel 3), herrische Botschaften unterlassen und respektvolle Entschlossenheit vermitteln können. Unterstützer und Unterstützerinnen können auch gut helfen, das Eskalationsrisiko zu verringern. Denn wenn Unterstützer und Unterstützerinnen präsent sind, geht es fast immer ohne Gewalttätigkeit ab. Die Eltern werden ermuntert, ihre Unterstützer zu rufen, wenn sie eine potenziell explosive Situation kommen sehen. Ihre bloße Präsenz, selbst über das Telefon, bietet den Eltern Schutz und trägt zur Entschärfung der Situation bei. Unterstützer können auch vermitteln, dass die Eltern und ihr Unerwachsener einen annehmbaren Kompromiss finden. Auch können Unterstützer den Unerwachsenen dazu einladen, Zeit mit ihnen zu verbringen, sodass sowohl das erwachsene Kind als auch die Eltern eine Erholungspause haben. In der Zeit, in der der Unerwachsene von zu Hause weg ist, zeigt er oftmals seine etwas funktionalere Seite. Ein wichtiger Teil des Trainings in gewaltlosem Widerstand, in dem auf viele potenziellen Vorbehalte der Eltern eingegangen wird, ist eine sorgfältige Vorbereitung für Worst-Case-Szenarien. Manchmal werden die Eltern allein schon durch das Gespräch über ein derartiges Szenario innerlich gestärkt. Typisch ist hier die Angst der Eltern, dass der Unerwachsene auf ihre Schritte mit seinem Auszug reagiert, auf die schiefe Bahn gerät oder wohnungslos wird. Der Grund, weshalb sich diese Art von Drehbuch oft schon beim Erzählen in Luft auflöst, liegt darin, dass es im Widerspruch zu allem steht, was die Eltern über ihr Kind wissen. So wird zum Beispiel ein anspruchsvoller, kontrollbesessener und besitzergreifender junger Mensch wohl kaum unter einer Brücke schlafen wollen. Oder ein sehr ängstlicher und zurückgezogener Jugendlicher wird wohl kaum zu einem Kriminellen werden. Wir helfen den Eltern verstehen, dass ihr Unerwachsene nicht in die Art von Schwierigkeiten geraten wird, die für ihn untypisch wären. Für viele Eltern ist es sehr nützlich, sich die eigentlichen Entwicklungslinien vorzustellen, die ihr Kind vor sich hat. Beispielsweise: »Die stärkste Gefahr für Ihr Kind ist die, dass es völlig isoliert wird!« oder: »Sein/ihr größtes Risiko ist es, dass er/sie die reale Welt gegen die virtuelle Welt ein-

79

80

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

tauscht!«. Wenn der Therapeut derlei Botschaften vermittelt, geht das nicht auf seine prophetische Gabe zurück, sondern er schließt von dem, was in der Gegenwart geschieht, auf das, was in der Zukunft wahrscheinlich sein wird. Zu den hilfreichsten Narrativen, auf deren Basis die Eltern mit ihren angsteinflößenden Szenarien umgehen können, zählt nicht nur die Vorstellung, was das erwachsene Kind tun könnte, sondern auch die, was die Eltern tun könnten. In den besonders detaillierten Drehbüchern werden Schritte in Richtung Versorgungsentzug, die möglichen Reaktionen des Unerwachsenen und die Vorbereitung der Eltern auf den Umgang mit solchen Reaktionen thematisiert. Dabei können die Eltern lernen, wie sie mit unterschiedlichsten Situationen, zum Beispiel wenn der Unerwachsene die Eltern aus seinem Zimmer ausschließt, sie physisch zu attackieren droht, Eigentum zerstört, auszieht, vermisst wird oder mitten in der Nacht zu schreien beginnt, am besten umgehen. Es ist ein wesentlicher Teil des Trainings in gewaltlosem Widerstand, dass Szenarien bis ins Einzelne durchgespielt werden, um solchen Eventualitäten begegnen zu können. Das für die Eltern unvorstellbarste Szenario ist der Suizid des Unerwachsenen. Erstaunlicherweise gibt es zwar eine Fülle von Fachbeiträgen zum Thema Suizidalität, aber es gibt praktisch keine Forschung darüber, wie man mit Suiziddrohungen umgeht. Und doch drohen Unerwachsene sehr häufig mit Suizid, was ihren Eltern großen Kummer bereitet und manchmal das gesamte Projekt des Versorgungsentzugs gefährdet. Da eine solche Situation für viele Eltern eine zentrale Sorge ist, haben wir diesem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet (siehe Kapitel 4). Um eine positive und stabile therapeutische Allianz aufzubauen, ist es entscheidend, dass man den Vorbehalten der Eltern geduldig zuhört. Wann immer die Eltern sagen, dass sie sich mit einem therapeutischen Schritt schwertun, sollte der Therapeut/die Therapeutin besonders aufmerken. Ein scheinbarer Mangel an elterlicher Kooperation sollte nicht einem Mangel an Motivation zugeschrieben werden, sondern realen Zwangslagen, die beachtet werden müssen. Die wichtigen Fragen, die der Therapeut in solchen Fällen stellen sollte, lauten: »Was genau macht diesen Schritt für Sie so schwie-

Therapieziele

rig?« oder: »Wie können Sie diesen Schritt so verändern, dass Sie sich damit leichter tun?« oder: »Meinen Sie, Sie brauchen zusätzliche Hilfe?«. Wenn der Therapeut solche Fragen offen und behutsam angeht, fühlen sich viele Eltern, die zuvor nicht handlungsfähig waren, danach imstande zu handeln.

Therapieziele Die Eltern fragen uns oft, wie erfolgreich unsere Behandlungen sind. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir unsere Ziele und unsere Definition von Erfolg deutlich machen. Eine realistische Vorstellung von dem, was zu erreichen ist und was nicht erreicht werden kann, ist entscheidend, um eine gute Arbeitsbeziehung zu bewahren und die Eltern motiviert und vorbereitet zu halten. Das Ziel der Therapie ist es, eine dysfunktionale Abhängigkeit allmählich in eine funktionale Abhängigkeit zu transformieren. Da die Eltern die eigentlichen Klienten der Intervention sind, erwarten wir, dass sich eine Veränderung zuallererst bei ihnen manifestiert. Wenn die Eltern fragen »Aber was ist mit unserem Kind, wird es ihm besser gehen?« oder: »Wird es heiraten, arbeiten, unabhängig sein?«, muss der Therapeut immer wieder bekräftigen: »Sie haben kein Kontrolle über Ihr Kind, aber Sie können eine bessere Kontrolle über sich selbst gewinnen. Dadurch, dass Sie das Problem von Ihrer Seite her in den Griff bekommen, bieten Sie Ihrem Kind bessere Optionen, ein besseres Leben und mehr Handlungskompetenz zu haben.« Durch die Praxis des gewaltlosen Widerstands werden die Eltern in die Lage versetzt, das Risiko einer Eskalation zu verringern; vom Zustand der Hilflosigkeit überzugehen in eine wirksame Aktivität; Unterstützung zu finden; als Paar besser zu kooperieren; sich gegen Gewalt, Demütigung und Ausbeutung zu verteidigen; ihre Rundumversorgung einzustellen; ihr Repertoire an effizienten Reaktionen zu vergrößern; ihr Verhältnis zu ihrem Kind zu verbessern und auf ihr eigenes Wohlbefinden zu achten. Positive Veränderungen in diesen Bereichen sind durch Forschungen zum gewaltlosen Widerstand gut dokumentiert (Omer u. Lebowitz, 2016; https://www.haimomer-nvr. com/publications-and-research). Auf die Gefahr hin, dass wir uns

81

82

Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang

wiederholen, möchten wir betonen, dass das Leiden der Eltern nicht weniger Beachtung verdient als das ihres Kindes. Und solange Eltern nicht bereit sind, sich selbst zu helfen, werden sie nicht in der Lage sein, ihrem Kind zu helfen. Positive Veränderungen bei den Eltern führen meistens dazu, dass sich auch beim Unerwachsenen etwas verändert, beispielsweise: Gewalttätigkeiten gegen die Eltern und Demütigungen der Eltern werden weniger; Angst und Depression schwächen sich ab; soziale Beziehungen werden solider; Selbstisolation und Computerabhängigkeit gehen zurück; und viele Unerwachsene beginnen (wieder) zu arbeiten oder zu studieren (Lebowitz et al., 2012). Manche Ziele, die für viele Eltern wichtig sind, eignen sich nicht für das Training in gewaltlosem Widerstand. Die Therapeutin oder der Therapeut sollte das den Eltern verständlich machen, wann immer sie darauf zu sprechen kommen. Zu diesen Zielen gehören, den Unerwachsenen zu einer Therapie zu überzeugen; ihn zur Einnahme von Medikamenten zu überreden; die zugrunde liegende Störung des Unerwachsenen zu kurieren; seine Wertvorstellungen zu verändern und ihn zufrieden zu machen. Diese Ziele sind nicht akzeptabel, weil die Eltern durch ihr beharrliches Verfolgen solcher Ziele die Chancen reduzieren, dass sie real werden. Wie gesagt, können Eltern solche Dinge nicht in die Tat umsetzen lassen. Das Einzige, was sie tun können, ist, dass sie die Bedingungen dafür schaffen, sie möglich zu machen.

Kapitel 3 Die Intervention

In Kapitel 2 wird dysfunktionale Abhängigkeit als eine gemeinsam konstruierte Wirklichkeit beschrieben, wobei die Eltern und der Unerwachsene eine enge Verbindung miteinander eingehen und sich zugleich von ihrer sozialen Welt abschotten. Die Intervention beginnt damit, dass wir den Eltern helfen, ihr Narrativ der Totalverantwortung für den Zustand ihres erwachsenen Kindes abzulegen und sich auf ihre eigene positive Veränderung zu konzentrieren. In diesem Kapitel werden Schritte und Instrumente vorgestellt, mit deren Hilfe die Eltern lernen, auf dieses Narrativ zu verzichten; den Fokus auf sich selbst zu richten; sich Unterstützung zu holen; dem Druck, den Drohungen und gegenüber der Gewalttätigkeit ihres Unerwachsenen Widerstand zu leisten; dysfunktionalen Erwartungen den Boden zu entziehen; und mit ihren eigenen Ängsten auf konstruktive Weise umzugehen. Im Rahmen des Versorgungsentzugs riskieren die Eltern vielleicht Konfrontation und Eskalation. Für die Therapeutinnen und Therapeuten besteht bei dieser Intervention eine große Herausforderung darin, dieses Risiko zu minimieren und zugleich den Eltern zu ermöglichen, die besten Aspekte ihrer Beziehung zu ihrem Kind zu bewahren. Für diese Aufgabe eignet sich das Konzept des gewaltlosen Widerstands im Sinne einer Annäherung an eine kon­ struktive Auseinandersetzung, sodass Konflikte verringert und die gegenseitige Heilung befördert werden können (Omer, Alon u. von Schlippe, 2016).

84

Die Intervention

Rahmenbedingungen und Verlauf Klienten Die Intervention wird mit einem Elternteil oder beiden Eltern bzw. einer primären Bezugsperson durchgeführt. Der Prozess lässt sich anwenden bei Problemen mit Unerwachsenen wie auch mit Adoleszenten, die Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit manifestieren, wie wir sie zuvor beschrieben haben. Meistens initiieren die Eltern die Intervention, aber manchmal tun das auch andere Familienmitglieder für sie, und in einem solchen Fall nehmen diese an der ersten Sitzung teil. Der Unerwachsene nimmt nur an einer Einzelsitzung mit dem Therapeuten teil, wenn er die Einladung dazu überhaupt annimmt. Dauer und Tempo der Intervention Eine Intervention umfasst üblicherweise 10 bis 20 Sitzungen. Die ersten Sitzungen finden einmal pro Woche statt, können aber auch in größeren Abständen erfolgen, sobald die Eltern etwas Rüstzeug in der Problembewältigung erworben haben. Eine Sitzung wird mit dem Unterstützernetzwerk der Familie durchgeführt, und diese dauert im Allgemeinen etwas länger. Gelegentlich wird der Therapieprozess auf »Bereitschaftsbetrieb« gestellt, wenn es einen gewissen Fortschritt gegeben hat (wenn sich beispielsweise die Situation zu Hause stabilisiert hat und der Unerwachsene etwas handlungsfähiger geworden ist), und den Eltern wird empfohlen, sich bei einem Rückfall wieder zu melden. Während einer akuten Krise könnten zwei oder drei Sitzungen pro Woche abgehalten werden. Diagnosen Die Intervention ist bei keinerlei psychiatrischer Diagnose indiziert oder kontraindiziert. Wir haben Eltern behandelt, deren erwachsene Kinder eine diagnostische Bandbreite von Zwangsstörungen, Sozialphobie, posttraumatischer Belastungsstörung, Aufmerksamkeitsund Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), Lernschwächen, manischdepressiven Erkrankungen, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen, Panikattacken bis zu Essstörungen aufwiesen, und Eltern von Un­­ erwachsenen ohne eindeutige Diagnose. Die meisten der von uns

Rahmenbedingungen und Verlauf

behandelten Fälle von Unerwachsenen waren weder erwerbstätig noch befanden sie sich in einer Schul- oder Berufsausbildung. Die meisten von ihnen lebten im Elternhaus, und diejenigen, die nicht im Elternhaus lebten, wurden ausnahmslos von ihren Eltern finanziell und auf andere Weise unterstützt. Der einzige gemeinsame Nenner über die gesamte diagnostische Bandbreite hinweg war eine starre, dysfunktionale Abhängigkeit, bei der die Eltern für das erwachsene Kind umfassende und seinem Alter unangemessene Dienste erbrachten. Altersspanne Das Alter der jungen Menschen, deren Eltern wir behandelten, reichte von 16 bis 45 Jahren. Bei Adoleszenten ist diese Behandlung besonders dann indiziert, wenn eine starke Dysfunktionalität gepaart ist mit einer Abhängigkeitsbindung. Zu dieser Gruppe von Adoleszenten gehören solche, die den Schulbesuch verweigern, vom Internet abhängig sind, ihre sozialen Kontakte abbrechen, sich in ihrem Zimmer verbarrikadieren oder die Eltern zwingen, ihre dysfunktionalen Forderungen zu erfüllen. Teamarbeit Aufgrund der Komplexität und des hohen Drohpotenzials solcher Fälle ist es sehr empfehlenswert, dass die Therapie in einem für Teamarbeit geeigneten Umfeld durchgeführt wird, zum Beispiel in einer klinischen Einrichtung oder einer Selbsthilfegruppe mit professioneller Begleitung. Doch in der Elternberatung kann man diesen Leitfaden zu Präventionszwecken benutzen, wenn es um leichtere Fälle mit beunruhigenden Anzeichen, aber ohne Symptome einer chronischen dysfunktionalen Abhängigkeit (siehe Kapitel 5) geht. Interventionsverlauf Auch wenn der Verlauf und die Dauer der Intervention von Familie zu Familie stark variieren können, folgen sie einem typischen Verlaufsbogen, der als Fahrplan dienen kann. Wenn den Eltern dieser Verlaufsbogen erklärt wird, ist das an sich schon eine therapeutische Maßnahme, weil sie dadurch eine zeitliche Perspektive entwickeln und sich auf die vor ihnen liegenden Herausforderungen vorbereiten können.

85

86

Die Intervention

Während der Eröffnungsphase entwickeln die Therapeutin oder der Therapeut und die Eltern gemeinsam ein Bild davon, wie die dysfunktionale Bindung beschaffen ist, welche Schwierigkeiten und Stärken der Unerwachsene hat und wie die Verlaufskurve aussieht, aus der heraus die Eltern und ihr Kind zu ihrem gegenwärtigen Zustand gelangt sind. Danach stellt der Therapeut die Behandlungsziele vor: den Eltern zu helfen, ihre Übernahme der Totalverantwortung abzulegen; sich vor Zwängen, Angriffen und Ausbeutung zu schützen; ihre Rundumversorgung einzuschränken; und eine Eskalation zu verhindern. Die zweite Phase ist durch zwei parallel verlaufende Prozesse gekennzeichnet: für den Nesthocker eine formale Ankündigung, in der die Eltern ihre geplanten Veränderungen erklären, vorbereiten und ihm präsentieren und die Verhaltensweisen beschreiben, die sie nicht mehr dulden werden; und ein stützendes Netzwerk von Verwandten und Freunden aufbauen. In der dritten Phase wird die konkrete Umsetzung des Versorgungsentzugs angegangen. Die Eltern hören allmählich auf, ihr erwachsenes Kind rundum zu versorgen, und finden Möglichkeiten, seine negativen Reaktionen ohne Eskalation zu bewältigen. Die Intervention schließt mit einem Rückblick auf das Erreichte und mit Überlegungen, die Eltern auf mögliche Schwierigkeiten in der Zukunft vorzubereiten. Manche Eltern kommen zu einem späteren Zeitpunkt für ein paar Sitzungen wieder, um sich Beistand in einer Krise oder bei einem drohenden Rückfall zu holen.

Die Eröffnungsphase Die Eröffnungsphase umfasst im Allgemeinen drei bis vier Sitzungen und bezieht sich auf die folgenden Aufgaben: Eine Arbeitsallianz aufbauen Das primäre Ziel der Eröffnungsphase ist es, den Eltern eigene Spielräume anzubieten, in denen sie über ihr eigenes Wohlbefinden, ihre Bedürfnisse, Interessen und Anliegen nachdenken und bessere Alternativen im Umgang mit ihrem erwachsenen Kind finden können.

Die Eröffnungsphase

Vielen Eltern ist überhaupt nicht klar, dass sie nicht nur die Instru­ mente der Therapie sind, sondern auch deren Klienten. Wenn die Eltern zu uns kommen, stehen sie als Individuen meistens zu sehr im Hintergrund und sind so tief in die Probleme ihres Kindes versunken, dass sie sich nur noch in Verbindung mit seinem Wohlergehen wahrnehmen können. Der Therapeut muss ihnen helfen, sich aus dem Sog von Zwängen und Provokationen zu befreien. Dadurch, dass er sie sowohl als Eltern als auch als eigenständige Personen sieht, verschafft er ihnen eine sichere Distanz zu den erdrückenden Interaktionen mit ihrem Unerwachsenen und bietet ihnen einen sicheren Platz, sich mit ihrer Lage auseinanderzusetzen. Aus dieser günstigen Perspektive können die Eltern entdecken, dass sie proaktiv statt reaktiv handeln können. Dann beginnen sie, neue Wege des Handelns und Lebens zu planen und umzusetzen. Die Haltung des Therapeuten vermittelt den Eltern das Gefühl, dass er an ihrer Seite ist, ihren Schmerz versteht und ihre Wünsche und Bemühungen respektiert; dass er ein gemeinsames Ziel befördert, das für die Eltern wichtig und akzeptabel ist; und dass er ihnen hilft, sich die Mittel zum Erlangen dieses Ziels zu beschaffen, während er ihre Anliegen sorgsam im Blick behält. Am Ende der Eröffnungsphase sollten die Eltern eine klare Vorstellung von der auf sie zukommenden Arbeit haben, ein Gefühl des Aufbruchs zu neuen Ufern verspüren und den Eindruck haben, dass der von ihnen gewählte Therapeut sie bei der Durchführung dieser Arbeit leiten und unterstützen kann. Das Problem so beschreiben, dass neue Optionen möglich erscheinen In allen Lebensbereichen, die die Eltern beschreiben, sucht der Thera­ peut oder die Therapeutin nach Ausnahmen oder Anzeichen von Flexibilität, die der pessimistischen Grundhaltung der Eltern entgegenwirken können. Doch sollte der Therapeut ihre Schwierigkeiten nicht herunterspielen. Die eilige Suche nach Lösungen kann die Eltern verletzen und die Chancen auf eine gute Arbeitsallianz beeinträchtigen. Wichtig ist, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren; denn wenn die Eltern tendenziell in die Vergangenheit ihres erwachsenen Kindes eintauchen, kann das die Hoffnung abwürgen. Deshalb werden die Eltern gebeten, mit der Schilderung ihrer gegenwärtigen Schwierig-

87

88

Die Intervention

keiten anzufangen. Wenn sie bei der Vergangenheit beginnen wollen und erklären, wie sich ihre momentane Situation entwickelt hat, kann der Therapeut sagen: »Darüber sprechen wir sehr bald, aber zuerst hätte ich von Ihnen gern eine Beschreibung der gegenwärtigen Schwierigkeiten, damit ich verstehen kann, wie diese sich entwickelt haben.« Zu einem angemessenen Bild der augenblicklichen Situation gehören die Alltagsroutine des Unerwachsenen (z. B. sein Schlaf-WachRhythmus, sein Tagesplan und seine Beschäftigungen), problematische Verhaltensweisen (z. B. verbale oder physische Gewalttätigkeit, selbstschädigende oder suizidale Handlungen oder Drohungen, Zwangsverhalten), Bereiche der Handlungsfähigkeit (z. B. Arbeitsstelle, Studium, Autofahren, anderen helfen, Interessenbereiche) und das Verhältnis zu den Eltern und anderen Personen. Wenn die Eltern alle diese Dinge im Einzelnen beschreiben, fragt die Therapeutin oder der Therapeut, wie lange diese Muster schon sichtbar sind und ob es Zeiten gab, in denen sich ihr Kind anders benommen hat. Wenn ein positives Ereignis ausgemacht wird, kann der Therapeut sagen: »Das zeigt doch, dass sie/er in dieser Hinsicht handlungsfähiger sein kann« oder: »Wir sehen, dass sie/er Fähigkeiten besitzt, die je nach Situation schwanken«. Meistens reagieren die Eltern auf diese Art von Kommentaren positiv, vor allem dann, wenn der Therapeut darauf achtet, ihre Schwierigkeiten nicht herunterzuspielen. So kann der Therapeut sagen: »Angenommen, er/sie ist dazu in der Lage, dann kann ich mir vorstellen, wie enttäuschend es ist, dass er/ sie das nicht immer macht.« Danach sollen die Eltern beschreiben, wie sich der Unerwachsene entwickelt hat, wann bei ihm die ersten Anzeichen des Problems sichtbar wurden, wie sein schulischer und beruflicher Weg und seine besten Lebensphasen ausgesehen haben, welche Leistungen er erbracht, wie er auf Fehlschläge reagiert hat und wie die Eltern mit Schwierigkeiten in der Vergangenheit umgegangen sind. Wichtig ist dabei, sich auf Wendepunkte zu konzentrieren. Die Zeiten, in denen die Handlungskompetenz des Unerwachsenen – wenn auch nur vorübergehend – besser war, sagen etwas aus über die Umstände, unter denen bestimmte Fähigkeiten vielleicht möglich waren. Negative Wendepunkte weisen auf potenzielle Hindernisse hin. Wendepunkte können zeigen, dass eine dysfunktionale

Die Eröffnungsphase

Abhängigkeit kein unabänderlicher Zustand ist. Sie können Hoffnung und Motivation für Veränderung geben. Motivation kann aber auch dadurch geweckt werden, dass die statische Seite der dysfunktionalen Abhängigkeit betrachtet wird. So kann der Therapeut oder die Therapeutin erkunden, wie lange schwierige Phasen im Leben des Unerwachsenen gedauert haben. Wenn die Eltern den Prozess einem Datum zuordnen und all die Jahre zählen, die ohne Veränderung – außer ihrem eigenen Älterwerden – verflossen sind, kann das in ihnen eine stärkere Bereitschaft zum Handeln anstoßen. In den Lebensverläufen von Unerwachsenen finden sich fast immer Zeiten, in denen sie handlungsfähiger waren. Viele Eltern erwähnen das erfolgreiche Studium ihres Kindes, seine Erwerbstätigkeit, außerhalb des Elternhauses verbrachte Zeiten, Freundschaften, Liebesbeziehungen oder Auslandsreisen. Die Bedeutsamkeit solcher Ereignisse geht unter dem massiven Gewicht der gegenwärtigen Dysfunktion oftmals verloren. Es braucht ein engagiertes Bemühen, um diese Ereignisse genauer in den Blick nehmen zu können und die wertvollen Informationen zu bergen, die etwas über das Handlungspotenzial des Unerwachsenen verraten. In Fällen von dysfunktionaler Abhängigkeit fallen eigentlich alle diese positiven Versuche am Ende in sich zusammen. Das Studium wird abgebrochen, Beziehungen gehen in die Brüche, die Erwerbstätigkeit wird aufgegeben. In der Therapie sollen die Eltern beschreiben, was ihrer Ansicht nach dazu geführt hat, dass ihr erwachsenes Kind aufgegeben hat, und wie sie reagiert haben. Das Gespräch über solche negativen Wendepunkte wecken bei fast allen fürsorglichen Eltern die Beschützerinstinkte. Während in der einen Familie die Kinder schließlich wieder auf die Beine kommen, ist dies in der Familie mit einem Nesthocker zum Scheitern verurteilt. Hier werden Demoralisierung und Abhängigkeit eher noch vertieft und die Eltern in ihrer Beschützerrolle bestärkt. Über elterliche Rundumversorgung sprechen Nachdem die Eltern den gegenwärtigen Zustand beschrieben und Familiengeschichten aus der Vergangenheit erzählt haben, ist ein guter Zeitpunkt gekommen, um über ihre Rundumversorgung zu sprechen. Die meisten Eltern begreifen, dass die Dienste, die sie für

89

90

Die Intervention

ihr erwachsenes Kind erbringen, unangemessen sind. Diese Einsicht sollte der Therapeut durch die Erklärung vertiefen, wie eine Rundumversorgung die Dysfunktion nur verstärkt und zu noch größerer Angst und zum Rückzug führt. In den meisten Fällen verstehen die Eltern, wie sie in ihrem Versuch, den Unerwachsenen zu retten, vielleicht genau das Gegenteil erreichen. Wichtig ist, dass der Therapeut sich die Erklärung der Eltern, weshalb sie ihre Dienste, die der Unerwachsene mittlerweile von ihnen erwartet, nicht einfach beenden können, mit Empathie anhört. Der Therapeut oder die Therapeutin stimmt den Eltern zu, dass sie ihre wenn auch unangemessenen und schädlichen Dienste nicht unvermittelt stoppen können. Ihn muss geholfen werden, ihre Dienste Schritt für Schritt und auf sichere und konstruktive Weise einzustellen. Im Verlauf einer Therapie können sich derlei Gespräche viele Male wiederholen. Während des Sprechens über die unzähligen Weisen, in denen sich die elterliche Rundumversorgung manifestiert, verfolgt der Therapeut das Ziel, das familiale Geflecht von Beschützung und Leiden zu entwirren. Wir haben diesen Prozess als »therapeutisches Umpflügen« bezeichnet, weil man in die Muster, die eine Lockerung der elterlichen Dienste verhindern, hineingreift, sie aufreißt und wendet, sodass die Saat der Veränderung aufgehen kann. Ein hilfreiches Bild, das die Schäden einer elterlichen Rundumversorgung zeigt, ist das von einem Elternhaus, das zu einem mor­ biden Unterschlupf oder einer Höhle der Stagnation verkommen ist und dem Nesthocker keine Genesung ermöglicht, sondern seinen Verfall befördert. Das Ziel der Therapie ist es, diesen Unterschlupf niederzureißen. Die Übernahme von Totalverantwortung ansprechen Den Eltern muss unbedingt bewusst gemacht werden, dass ihr Unerwachsener durch den Versorgungsentzug nicht sofort handlungsfähig wird, sondern dass vielmehr die Bedingungen für seine Handlungs­ fähigkeit geschaffen werden. Diese Klarstellung lässt die Eltern oft Fragen stellen wie zum Beispiel: »Aber wie können wir ihn davon überzeugen, dass das gut für ihn ist?« oder: »Wie schaffen wir es, sie aus der Schutzhütte heraus und in die Welt hinein zu bringen?« oder: »Wie bewegen wir ihn dazu, zur Arbeit zu gehen?«. In diesen Fragen spie-

Die Eröffnungsphase

gelt sich das Narrativ der Totalverantwortung wider. Die Therapeutin oder der Therapeut sollte den Eltern geduldig erklären, dass der Unerwachsene umso störrischer wird, je mehr die Eltern auf diese Resultate hinarbeiten. Die Eltern werden wiederholt fragen: »Aber am Ende wird er doch handlungsfähig sein, oder?« Und der Therapeut sollte darauf immer wieder antworten: »Wenn Sie Ihre Rundumversorgung zurückfahren, bieten Sie Ihrem Kind eine reelle Chance, handlungsfähig zu werden und ein besseres Leben zu haben. Aber eine direkte Kontrolle haben Sie darüber nicht. Nicht Sie sind es, die ihn/sie zum Arbeiten, Studieren und zu sozialen Kontakten bewegen können.« Auch wenn die Eltern diese Überlegung dem Prinzip nach vielleicht verstehen, muss das Narrativ der Totalverantwortung immer wieder in den Blick gerückt werden, solange sie praktische Schritte auf dem Interventionsbogen unternehmen. Je mehr die Eltern zum Handeln imstande sind, desto besser verstehen sie den Prozess – und umgekehrt. Über das Erfordernis eines Unterstützernetzwerks sprechen Der Mangel an einem Unterstützernetzwerk ist eng verbunden mit Errichtung eines stagnierenden »morbiden Unterschlupfs«. Die Iso­ liertheit der Eltern ist sowohl Auswirkung als auch Ursache des Verfalls. Eine Auswirkung insofern, als die Eltern aus Scham über die häuslichen Geschehnisse oft den Kontakt zu ihrem Umfeld reduzieren oder der Nesthocker absolute Geheimhaltung über die Situation fordert. Eine Ursache insofern, als von außen kommende positive Beiträge und Alternativen umso schwerer anzunehmen sind, je isolierter die Familie ist. In einem geschlossenen Familiensystem werden Anregungen vermieden. Je isolierter die Familie ist, desto hoffnungsloser ist die Situation. Der Prozess, in dem Unterstützung gesucht wird, ist sowohl abschreckend als auch inspirierend. Er ist abschreckend, weil sich die Eltern mit ihren Schamgefühlen und ihrer Angst konfrontieren müssen. Er ist inspirierend, weil die von der Unterstützergruppe angebotene Hilfe und Solidarität die Eltern stärkt und Fenster zur Welt öffnet. Der Therapeut kann den Gedanken an ein Unterstützernetzwerk ins Gespräch bringen, indem er es mit dem Bild eines stagnierenden, morbiden Unterschlupfs verknüpft: »Ich erwarte von Ihnen nicht, dass Sie nach dieser Sitzung nach Hause gehen und den morbiden Unterschlupf abreißen, den Sie für

91

92

Die Intervention

Ihr Kind einmal unabsichtlich aufgebaut haben. Um das tun zu können, brauchen Sie Hilfe. Die Eltern, die eine solch komplizierte Aufgabe allein bewältigen möchten, sind zu schwach und verletzbar, um diese gut erfüllen zu können. Ihr Kind weiß nur allzu gut, auf welchen Knopf es bei Ihnen drücken muss. Die Situation wird sich völlig verändern, sobald Sie einmal von Verwandten und nahen Freunden umgeben sind. Ich kann mir vorstellen, dass der Gedanke, andere Personen in die Geschehnisse zu Hause einzubeziehen, nicht so ganz leicht ist. Wir können über diese Schwierigkeit später sprechen und erst einmal Wege erkunden, wie wir mit allen Ihren Vorbehalten umgehen, die Sie vielleicht haben. Sie müssen aber wissen, dass Ihr Leben und das Leben Ihres Kindes nicht mehr das gleiche sein wird, wenn Sie sich einmal Unterstützung geholt haben.« Eskalation verhindern lernen Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands ist nicht nur auf Gewaltlosigkeit im strengen Sinn ausgerichtet, sondern auch auf Deeskalation. Personen, die den gewaltlosen Widerstand sowohl im gesellschaftlichen wie auch im familialen Feld in die Praxis umsetzen, vermeiden sorgsam eine Provokation oder Vergeltung. Die Eskalation ist ein wesentlicher Faktor, der die elterliche Rundumversorgung perpe­tuiert, weil die Eltern sich ängstigen, wenn ihre Veränderungsversuche zu schroffen Konfrontationen führen. Von Beginn der Behandlung an muss man den Eltern helfen, die Dynamik der Eskalation zu verstehen, und ihnen Instrumente an die Hand geben, ihren eigenen Beitrag zu diesen Prozessen zu verringern. Es hat sich gezeigt, dass man mit den folgenden Prinzipien und Fertigkeiten, die wir bei unterschiedlichsten Zuständen beim Training in gewaltlosem Widerstand angewendet haben, diese Ziele erreichen kann (Omer u. von Schlippe, 2011). »Man soll das Eisen schmieden, wenn es kalt ist!« Die Verkehrung des Sprichworts »Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist« soll den Eltern helfen, der Versuchung zu widerstehen, unverzüglich auf die Handlungen und Provokationen des Unerwachsenen zu reagieren. So kann eine Eskalation abgeschwächt werden, weil die Eltern sich beruhigen können, bevor sie ihrer Wut Luft machen, oder sie ihren Impuls zügeln können, ihr erwachsenes

Die Eröffnungsphase

Kind schon beim ersten Anzeichen von Leiden retten zu wollen. Die meisten Eltern können nachvollziehen, dass die Provokationen ihres Kindes darauf abzielen, wütende Reaktionen oder beschützende Verhaltensweisen in ihnen auszulösen. In dem Moment, in dem sie auf diese Weise reagieren, »sind sie in der Falle«. Wenn die Eltern diesen Mechanismus verstehen, können sie sagen: »Das akzeptieren wir so nicht. Wir werden über unsere Schritte nachdenken und dich später darüber informieren!« Eine solche Aussage empfinden die Eltern manchmal als leere Drohung, weil sie nicht wissen, was sie anschließend tun können. Diesbezüglich kann der Therapeut ihre Ungeduld dämpfen, indem er ihnen sagt, dass sie im Laufe der Therapie lernen werden, wie sie entschlossen reagieren können, ohne dass die Situation eskaliert. Wenn die Eltern ihre Reaktion hinauszögern, hat das viele Vorteile: Die Stimmung wird ruhiger, die Eltern entwickeln eine gewisse Widerstandskraft, und die angespannten Muster aus Aktion und Reaktion, die die Abhängigkeitsbindung erhalten, werden gelockert. »Sie müssen nicht gewinnen, sondern nur beharrlich sein!« Zu den schädlichen Ursachen der Eskalation gehört die Überzeu­ gung, dass Probleme durch Machtdemonstration gelöst werden können. Diese Einstellung ist höchst destruktiv, weil sie zu immer stärkeren Schlägen führen kann, und spiegelt sich in der ironischen Redewendung wider: »Was mit Gewalt nicht erreicht werden kann, kann mit mehr Gewalt erreicht werden.« Eine solche Grundhaltung lässt die Beziehung zwischen Eltern und Kind zu einer Abfolge von Machtproben werden, in denen jede Konfrontation noch schlimmer ist als die letzte. Der Glaube an eine Reaktion, die »es ihm (dem Unerwachsenen) ein für alle Mal zeigen wird«, führt zu krassen Gegenschlägen, die sich mit dem Kleinbeigeben der Eltern abwechseln. Dagegen beruht der Leitsatz »Man muss nicht gewinnen, sondern nur beharrlich sein« auf der Annahme, dass Verbesserungen heranreifen werden, wenn die Eltern beharrlich sind. Die erforderliche Beharrlichkeit meint keine starre Wiederholung der immer gleichen Aktionen; sie drückt sich vielmehr in der Bereitschaft aus, weiterhin nach Lösungen zu suchen, geduldig nach Teilverbesserungen zu streben und Sensibilität für die geringsten Anzeichen positiver Veränderungen zu entwickeln.

93

94

Die Intervention

»Ich habe keine Kontrolle über dich, sondern nur über mich!« Die Versuche der Eltern, den Unerwachsenen zu kontrollieren, gehen fast immer nach hinten los. Doch standfest zu bleiben ist nicht das Gleiche wie der Versuch zu kontrollieren. Wenn Eltern einen festen Standpunkt einnehmen, üben sie Kontrolle über sich selbst aus, nicht über ihr Kind. Die Eltern sagen nicht zu ihm: »Du wirst jetzt tun, was ich dir sage!«, sondern vielmehr: »Ich werde jetzt das tun, was ich sage!« Die Illusion der Kontrolle aufzugeben und sich auf die Kontrolle des eigenen Selbst zu konzentrieren, das fällt vielen Eltern schwer. Vielleicht sagen sie: »Wenn sie uns beschimpft, wird von uns erwartet, dass wir ruhig hier sitzen bleiben?« oder: »Wird von uns erwartet zu dulden, dass er uns auf der Nase herumtanzt?«. Die Machtfrage lassen wir alles andere als unberücksichtigt; wir sprechen sie offen an. Wir sagen zu den Eltern: »Sie müssen viel stärker sein, als Sie es heute sind, aber auf eine andere Weise stark.« Die Festigkeit der Eltern lässt sich am besten im Bild des Ankers ausdrücken: »Wenn Ihr Kind Sie angreift, starten Sie keinen Gegenangriff, sondern bleiben fest im Boden verankert!« »Erkennen und vermeiden Sie Ping-Pong-Interaktionen!« Eskalationen zeichnen sich oft durch einen starren symmetrischen Schlagabtausch aus, der von dem Geist beseelt ist: »Gleiches mit Gleichem vergelten.« Bei den Eltern erkennt man diese Tendenz, wenn sie immer wieder fragen: »Was sagen wir, wenn er/sie dieses oder jenes sagt … (und so weiter)?« oder: »Wenn dieses oder jenes geschieht, wie reagieren wir dann darauf?«. Die beste Antwort ist hier meistens: »Überhaupt nicht!« Wenn man lernt, sich vom Zwang zum Reagieren freizumachen, ist das ein wichtiger Schritt, den auf der Beziehung lastenden Griff der Eskalation zu lockern. »Unterlassen Sie es, zu predigen, zu argumentieren oder überzeugen zu wollen!« Wenn die Eltern ihr erwachsenes Kind zu überreden versuchen, führt das meistens dazu, dass es schroff oder gänzlich abweisend reagiert. Viele Eltern beharren darauf, dass ihr Kind eine Therapie beginnt, Kontakt zu anderen Menschen aufnimmt oder sich eine Arbeit sucht. Jeder Überredungsversuch macht alles nur noch

Die Eröffnungsphase

schlimmer. Werden diese kontraproduktiven Überredungsversuche vermieden, kann das einen deeskalierenden Effekt haben. Vielleicht ist es eine gute Idee, dem Unerwachsenen zu sagen: »Ich verstehe ja, dass mein Genörgel respektlos und kontraproduktiv ist. Ich werde mein Bestes geben, um das sein zu lassen! Wenn ich wieder ins alte Muster zurückfalle, musst du mir das sagen.« »Entschärfen Sie mithilfe von Unterstützern explosive Situationen« Manchmal scheuen die Eltern davor zurück, Unterstützerinnen und Unterstützer hinzuzuziehen, weil sie vielleicht einen Wutanfall des erwachsenen Kindes befürchten. Dies kommt gelegentlich vor und geschieht besonders dann, wenn der Unerwachsene zum ersten Mal mit Unterstützern konfrontiert ist. Danach gestaltet sich deren Einfluss bei einer drohenden Eskalation meistens positiv. Wird ein Unterstützer in die Situation einbezogen, hat das im Allgemeinen eine beruhigende Wirkung auf den Unerwachsenen. Die Anwesenheit eines Unterstützers ist wahrscheinlich das beste Abwehrmittel gegen physische Gewalttätigkeit. Unterstützer und Unterstützerinnen helfen auch vermitteln und tragen zur Kompromissbildung bei. Sie können den Nesthocker auch zu einem Spaziergang einladen oder Zeit mit ihm verbringen, sodass eine Eskalation abgefangen wird. Einen Fahrplan für den therapeutischen Prozess vorlegen Wenn die Eltern einen Überblick über den Behandlungsverlauf bekommen, vermittelt ihnen das ein Gefühl der Sicherheit. In der folgenden Passage wird gezeigt, wie das Vorhaben formuliert werden kann: »Ich möchte mit Ihnen nun unsere nächsten Schritte durchgehen. Wir beginnen damit, dass wir herausfinden, welches die problematischen Dienste und Versorgungshandlungen sind, durch die Sie unabsichtlich eine dysfunktionale Abhängigkeit Ihres Kindes ermöglichen. Wir werden die Fallstricke identifizieren lernen, die bei Ihnen zur Eskalation führen, und Wege zu deren Vermeidung suchen. Wir werden einen gemeinsamen Plan entwickeln, wie der ›morbide Unterschlupf‹ abgerissen und das überfürsorgliche Verhalten durch eine positive Unterstützung ersetzt werden kann. Anschließend werden wir eine Ankündigung vorbereiten, die eine halbformale

95

96

Die Intervention

Erklärung ist, in der Sie Ihr Kind über die von Ihnen geplanten Veränderungen informieren. Die Ankündigung wird sowohl schriftlich überreicht als auch mündlich vorgetragen. Mit dieser Formalie soll ein Übergangsritus suggeriert und der Beginn einer neuen Phase in Ihrem Familienleben signalisiert werden. Ich werde Ihnen helfen, die Ankündigung zu übermitteln und mit der Reaktion Ihres Kindes klarzukommen. Begleitend werden wir darüber sprechen, wie Sie sich Unterstützung holen und was Sie vernünftigerweise von Ihren Unterstützern erwarten können. Wenn Sie Vorbehalte gegen dieses Vorgehen haben, spreche ich gern mit Ihnen darüber. Wir werden eine längere Sitzung (ca. 90 bis 120 Minuten) zusammen mit Ihren Unterstützern abhalten. Durch die Hinzuziehung von Unterstützerinnen und Unterstützern wird sich der Kontext des Problems verändern. Ihr Kind wird an dieser Sitzung zwar nicht teilnehmen, aber nach und nach herausfinden, dass Sie jetzt nicht mehr allein mit den Problemen sind und diese auch nicht mehr geheim halten. Nach der mit den Unterstützern durchgeführten Sitzung wird eine Liste aller Unterstützer zusammengestellt, und diese werden regelmäßig über neue Entwicklungen informiert. Nachdem die Ankündigung Ihrem Kind übermittelt und die Sitzung mit den Unterstützern abgehalten worden ist, werden wir einen allmählichen und systematischen Prozess des Versorgungsentzugs einleiten. Wir werden Ihnen beistehen, mit den Reaktionen Ihres Kindes fertig zu werden, sodass Sie diesen standhalten können, ohne nachgeben oder zum Gegenschlag ausholen zu müssen. Wir werden intensiv darüber nachdenken, wie wir Sie und Ihr Kind vor heftigen Reaktionen schützen können. Der Prozess des Versorgungsentzugs wird Ihnen und Ihrem Kind neue Möglichkeiten eröffnen. Wir werden sorgsam auf positive Anzeichen von Veränderung achten, weil diese manchmal nur schwer zu erkennen sind. Wichtig ist dabei, dass Sie der Versuchung widerstehen, ›den Fluss antreiben zu wollen‹, das heißt, Ihr Kind zu solchen Aktionen zu überreden, die Sie von ihm sehen möchten. Unser Ziel ist nicht so ehrgeizig, dass wir Ihr Kind voll und ganz unabhängig machen wollen, sondern dass sich Ihr Verhältnis zueinander von einer dysfunktionalen in eine eher funktionale Abhängigkeit verwandelt. Doch das würde bereits einen großen Unterschied ausmachen.«

Die Eröffnungsphase

Dieser Fahrplan ist eine Quelle der Hoffnung. Seine Ziele sind nicht totaler, sofortiger oder unrealistischer Natur. Angesichts der umfassenden Vorbereitung und der darin involvierten Unterstützung scheinen das Projekt machbar und die Aufgaben bewältigbar zu sein. Wir wissen, dass die Eltern diese Grundgedanken, die allen Programmen zum gewaltlosen Widerstand zugrunde liegen, überaus hilfreich finden. Von daher empfehlen wir dem Therapeuten, den Eltern seine eigene Version des Therapieplans in Schriftform vorzulegen und das obige Beispiel so zu modifizieren, dass es zu seinem Arbeitsstil passt. Ein paar typische Fragen ansprechen Die Eltern stellen gegen Ende der Eröffnungssitzung oft drei Fragen: 1. »Sollen wir unserem Kind sagen, dass wir in Therapie sind?« 2. »Wird die Therapeutin/der Therapeut unser Kind sehen wollen?« 3. »Was machen wir jetzt?«

Was die erste Frage angeht: Wir ermutigen die Eltern dazu, ihrem Kind zu sagen, dass sie in Therapie sind und dass es dafür drei Gründe gebe. Erstens spielt die Transparenz im Konzept des gewaltlosen Widerstands eine zentrale Rolle, und wenn die Eltern ihrem Kind ehrlich mitteilen, dass sie sich um ihrer selbst willen für professionelle Hilfe entschieden haben, demonstrieren sie eine neue Offenheit, die oftmals im Gegensatz zu der früheren Geheimnistuerei steht. Zweitens erzählen die Eltern ihrem erwachsenen Kind manchmal deshalb nicht, dass sie therapeutische Hilfe suchen, weil sie Angst vor seinen Reaktionen haben (»Wie könnt ihr es wagen, hinter meinem Rücken mit einer anderen Person über mich zu reden?«). Angst gebiert Angst, und wenn die Eltern ihr Kind nicht informieren, geben sie einer negativen Emotion nach, durch die der Status quo verstärkt wird. Drittens schließt die Reaktion des Unerwachsenen fast immer Hoffnung ein und ist nicht nur Protest. Auch wenn Unerwachsene die Fortsetzung der elterlichen Dienste einzufordern scheinen, verlangen sie in ihrem Innersten danach, dass sich ihr Zustand verändert. Wir sagen den Eltern, dass solche unausgesprochenen Wünsche »die Veränderungspartei im inneren Parlament« des erwachsenen Kindes sind. Wir gehen davon aus, dass

97

98

Die Intervention

es in diesem »inneren Parlament« immer auch positive Stimmen gibt. Doch mit der fortwährenden Rundumversorgung durch die Eltern werden diese Stimmen zum Schweigen gebracht. Die Situation verändert sich, wenn die Eltern ihre Rundumversorgung einstellen, Eskalationen vermeiden lernen und Unterstützung mobilisieren. Was die zweite Frage zur Einbindung des erwachsenen Kindes in die Therapie angeht: Wir ermuntern die Eltern, ihr Kind zu einer einzigen Therapiesitzung einzuladen, und weisen sie an, ihm zu sagen: »Du hast uns früher schon so oft gesagt, dass, wenn etwas schiefläuft, es unser Problem sei und nicht deins und dass wir uns Hilfe suchen sollten. Wir haben eingesehen, dass das stimmt, und momentan gehen wir zu einem Therapeuten, der uns bei der Lösung unseres Problems hilft. Der Therapeut meint, dass er uns bei der Lösung unseres Problems helfen könnte, wenn er auch mit dir reden würde.« Viele Unerwachsene reagieren positiv auf diesen Vorschlag; denn er steht im Einklang mit ihrem »inneren Parteiflügel«, der sich nach Veränderung sehnt, und schwingt mit in dem »Parteiflügel«, der die Veränderung als strategische Bedrohung sieht und den Therapeuten als einen Veränderungsagenten, der streng zu überwachen ist. Die Eltern ihrerseits empfinden Unterstützung dadurch, dass der Therapeut mit ihrem Kind gesprochen und einen direkten Eindruck von seinen Schwierigkeiten bekommen hat. Dabei darf der Therapeut den Unerwachsenen auf keinen Fall davon zu überzeugen versuchen, dass die Therapie der Eltern auch gut für ihn selbst sei. Wenn der Unerwachsene den Wunsch nach einer Therapie äußert, verweist man ihn an einen anderen Therapeuten. Wir empfehlen dringend, dass der Therapeut, der die Eltern in Behandlung hat, nicht auch das erwachsene Kind als Klient annimmt und dann mit beiden Parteien parallel arbeitet. Solch ein Arrangement würde unnötige Komplikationen und Loyalitätskonflikte heraufbeschwören. Wenn der Unerwachsene das Therapieangebot annimmt (oder bereits in Therapie ist), ist es lohnenswert, dass man eine kooperative Beziehung zu dessen Therapeuten entwickelt; denn die therapeutische Arbeit mit den Eltern kann dadurch sehr profitieren. Doch manchmal erlaubt der Unerwachsene seinem Therapeuten nicht, dem Therapeuten seiner Eltern Informationen über ihn zukommen zu lassen. In solchen Fällen sind die meisten The-

Die Ankündigung

rapeuten damit einverstanden, dass der Therapeut der Eltern sie zumindest auf dem Laufenden hält; denn so wird ihre Schweigepflicht dem Klienten oder der Klientin gegenüber nicht verletzt. Auf diesen Punkt gehen wir in Kapitel 6 und 7 näher ein. Die dritte Frage »Was machen wir jetzt?« resultiert manchmal aus der bestürzenden Einsicht der Eltern, dass ihr Umgang mit ihrem erwachsenen Kind wahrscheinlich abträglich ist. Auch wenn man von ihnen nicht erwarten kann, dass sie ihre Situation nach ein oder zwei Sitzungen ändern, können sie dennoch erste Schritte in diese Richtung unternehmen. Sie können beispielsweise Tagebuch über die Interaktionen mit ihrem Kind führen. Ein solches Tagebuch offenbart sowohl viele automatische Handlungen der Rundumversorgung als auch einige typische eskalierende Augenblicke der Interaktion zwischen Eltern und Unerwachsenem. Die Eltern werden dazu angehalten, besonders auf erniedrigende oder ausbeuterische Momente seitens des Unerwachsenen zu achten. Diese neue Bewusstheit führt tendenziell dazu, dass die Eltern ihre Art zu reagieren verändern und sie folglich nur schwer ein Muster fortsetzen können, das ihnen jetzt demütigend und ausbeuterisch vorkommt. Diese ersten Veränderungen sind Wasser auf die therapeutische Mühle und helfen, die Eltern auf die noch folgenden gewichtigeren Schritte vorzubereiten. Die in den ersten Sitzungen erzielten kleinen Veränderungen geben den Eltern oft eine Vorschau darauf, wie sie mithilfe der Therapie Dinge erreichen können, zu denen sie sich zuvor nicht imstande gefühlt hatten.

Die Ankündigung Eine Ankündigung gleicht einem Übergangsritus: einem feierlichen, formalen und gesellschaftlich bestätigten Ereignis, das einen Übergang zwischen sozialen Zuständen markiert. Zu den Übergangsriten zählen Schuleintritt, Konfirmation, Schulabschluss, Eheschließung, Scheidung oder Vertragsunterzeichnung. In allen diesen Fällen wird die Statusveränderung markiert durch ein besonderes Ereignis, dem nicht nur die direkt daran beteiligten Personen beiwohnen, sondern auch Zeugen, die das Geschehen bestätigen und für gültig erklären.

99

100

Die Intervention

Die formale Atmosphäre und die Einbeziehung anderer Personen sind notwendig, um eine Grenze zu ziehen, sodass die Beteiligten nachher anders denken, fühlen und handeln können. Mit der Ankündigung, die die Eltern für ihr erwachsenes Kind vorbereiten, soll ihr Übergang weg von der Rundumversorgung und Passivität markiert werden. Die Übermittlung der Ankündigung ist somit der formale Eröffnungsakt der elterlichen Widerstandskampagne. Die Ankündigung ist kein Vertrag, sondern eine Deklaration: »Hier stehen wir! Hiermit ist für uns entschieden, wie wir unser Leben führen wollen!« Die Vorbereitung der Ankündigung ist nicht weniger bedeutsam wie deren Übermittlung. Wenn die Eltern ihre Ankündigung erarbeiten, internalisieren sie ihre Grundsätze, koordinieren sie ihre Position, sammeln sie den Mut zur Übermittlung und bereiten sie sich auf die Bewältigung der Reaktion ihres Unerwachsenen vor. Manche Eltern fühlen sich unbehaglich, wenn sie eine formale Ankündigung machen sollen, und bevorzugen ein eher ungekünsteltes und spontanes Gespräch. Der Punkt ist aber genau der, einen Übergang so zu markieren, dass er alles andere als »ungekünstelt« ist, insbesondere vor dem Hintergrund, dass das, was die Eltern für ungekünstelt oder spontan halten, ein Muster der Stagnation, Gewalttätigkeit und Verzweiflung ist. Wenn die Ankündigung sowohl mündlich als auch schriftlich in quasi formaler Art präsentiert wird, ist das ein kodierter Entschluss der Eltern zur Veränderung. Die Eltern, die so handeln, übermitteln die Botschaft: »Das ist jetzt eine besondere Angelegenheit!« Die Ankündigung an sich ist eine knappe, aber umfassende Beschreibung von zwei oder drei Bereichen, in denen sich das Verhalten der Eltern verändern wird. Zum Beispiel: »Wir werden uns gegen Gewalttätigkeit und Einschüchterung wehren!« oder: »Wir werden keine Dienste mehr erbringen, die jemandem in deinem Alter unangemessen sind!« oder: »Wir werden dir nicht mehr unter die Arme greifen, wenn du wieder in finanziellen Schwierigkeiten bist!« oder: »Wir werden deinen Befehlen nicht mehr gehorchen oder deine Regeln befolgen, was Mahlzeiten, Gesundheitspflege, Ordnung, Geld, Lärm, sozialen Kontakt oder sonstige Zumutungen betrifft«.

Die Ankündigung

Manchmal beinhaltet die Ankündigung einen ganz spezifischen Punkt, zum Beispiel: »Wir sind nicht damit einverstanden, dass nachts der Computer oder der Fernseher in unserem Haus läuft!« oder: »Wir werden dir in den nächsten vier Monaten dein Taschengeld nach und nach streichen!«. Solche Details geben der Ankündigung einen äußerst pragmatischen Ton. Es ist allerdings wichtig, dass die Ankündigung nicht zu einer langen Liste von gestrichenen Diensten gerät. Es sollten nur zwei oder drei Bereiche des Widerstands ausdrücklich erwähnt werden, damit die Botschaft der Eltern nicht verwässert wird. Wenn die Eltern den Einwand vorbringen, dass die Ankündigung viele schädliche Verhaltensweisen nicht abdeckt, muss man ihnen erklären, dass das Spektrum an Veränderungen, die sie vorhaben, weit über das hinausgeht, was in der Ankündigung aufgezählt wird. Die Ankündigung ist keine erschöpfende Liste, sondern ein Eröffnungsakt. Manche Eltern erwähnen in der Ankündigung ihre eigenen Einschränkungen (z. B. ihr Alter oder ihre finanzielle Situa­ tion) oder ihr Recht auf ein erfüllteres Leben. Das sind wertvolle persönliche Zusätze, die der Ankündigung einen tieferen menschlichen Ton verleihen. Ein Element, das sich in der Ankündigung immer abbilden sollte, ist die Entscheidung der Eltern, den Schleier des Geheimnisses zu lüften und Unterstützung zu suchen, wo diese auch immer zu finden ist. Die Eltern gestalten ihre Ankündigung unterschiedlich lang und weitschweifig, manche halten sie so kurz und prägnant wie möglich. Ein Witwer, der von seinem 30-jährigen spielsüchtigen Sohn erpresst worden war, lieferte die kürzest mögliche Ankündigung ab: »Es reicht!« Nachdem Therapeut und Vater über andere Versionen gesprochen hatten, kamen sie zu dem Schluss, dass diese Botschaft ihre Aufgabe besser erfülle als alles andere. Die Ankündigung wird immer in der 1. Person Plural (»wir«) geschrieben. Sie wird niemals als Verbot formuliert, etwa: »Du darfst uns nicht anschreien oder bedrohen!« Dafür gibt es zwei Gründe: Die Sprache des Verbots lädt den Unerwachsenen dazu ein, den Eltern zu beweisen, dass sie sich irren; und durch ein Verbot wird die persönliche Präsenz abgeschwächt. Befehle klingen unpersönlich; und Unpersönlichkeit ist genau das, was wir vermeiden wollen.

101

102

Die Intervention

Die Ankündigung ist eine einseitige Botschaft, in der die Eltern eine Veränderung in ihrer Einstellung erklären. Der Unerwachsene wird nicht um sein Wohlverhalten gebeten, weil von ihm nichts gefordert wird. Er wird auch nicht um seine Zustimmung gebeten, weil ihm nichts vorgeschlagen wird. Die Eltern sagen oft: »Aber er wird niemals zustimmen!« Solche Eltern glauben, dass alle Positionen, die sie einnehmen, bedeutungslos sind, solange ihr Kind diesen nicht zustimmt. Durch die Ankündigung wird eine Veränderung in eben dieser Annahme signalisiert. Auch wenn der Unerwachsene gegen die Ankündigung protestiert, sich ihr widersetzt oder sie ignoriert; auch wenn er das Blatt zerknüllt oder zerreißt; auch wenn er sich gleich zu Beginn der Ankündigung davonmacht; die Ankündigung ist in der Welt (ein kämpferischer Jugendlicher ging so weit, dass er das Papierblatt schluckte). Die Reaktion des Unerwachsenen erlaubt den Eltern zu sagen: »Es wird nicht von dir erwartet, dass du zustimmst. Wir sagen dir, was wir machen werden! Wir haben dir aus Anstand eine Kopie der Ankündigung gegeben, damit wir nicht hinter deinem Rücken etwas tun.« Vielen Eltern fällt es schwer, eine klare Ankündigung zu machen. Für sie fühlt sich eine Aussage, die ihre unerschütterliche Entschlossenheit vermittelt, wie eine Verletzung eines geheiligten Tabus an. Viele Eltern verspüren den dringenden Wunsch, ihre Aussage mit Rechtfertigungen, Erklärungen und Entschuldigungen zu entschärfen. Wenn sie anfangen, von ihrem Kind etwas zu fordern, kommen sie schnell von der Forderung zur Entschuldigung. Doch die Ankündigung befähigt sie dazu, sich gegen diese Tendenz zu behaupten. Manche Eltern befürchten, dass die Ankündigung eine drastische Reaktion bei ihrem erwachsenen Kind auslöst. In solchen Fällen empfiehlt es sich, mit der Übermittlung der Ankündigung zu warten, bis die Unterstützersitzung abgehalten worden ist. Andere Eltern wollen wiederum sofort mit der Ankündigung weitermachen und nicht warten, bis die Unterstützer zusammengekommen sind. Diese Eltern sollten dazu ermutigt werden, aber der Therapeut muss sicherstellen, dass sie auf den Umgang mit einer möglichen und durch die Ankündigung ausgelösten Eskalation vorbereitet sind und den Gedanken an eine Unterstützergruppe nicht aufgegeben haben.

Die Ankündigung

Der Therapeut ermuntert die Eltern, sich verschiedene Szenarien zu den Reaktionen ihres erwachsenen Kindes vorzustellen und zu überlegen, wie sie im Einzelfall mit der Situation umgehen würden. Therapeutinnen und Therapeuten, die mit dem Rollenspiel arbeiten, könnten die Eltern bitten, einzelne Szenen durchzuspielen. Viele Eltern zeigen Humor und Kreativität, wenn sie im Wechsel die Rolle ihres Kindes inszenieren. Der in Szene gesetzte Unerwachsene schreit, hält sich die Ohren zu, macht Geräusche, schlägt den Eltern die Ankündigung aus der Hand, wirft sich auf die Couch und dreht sein Gesicht zur Wand, bricht in Tränen aus oder bettelt die Eltern an, sich erweichen zu lassen. Die Aufgabe des diese Rolle spielenden Elternteils ist es, diesen Ausbrüchen zu widerstehen und mit dem Vorlesen des Blattes weiterzumachen. Wenn diesem Elternteil das Vorlesen physisch unmöglich wird, kann er die Übermittlung der Ankündigung abschließen und sagen: »Wir haben nicht erwartet, dass du zuhörst, was wir zu sagen haben. Aber du reagierst genauso, wie wir es hier auf dem Blatt beschrieben haben. Wir werden eine Kopie davon an den Kühlschrank hängen. Du kannst es lesen, wenn du magst. Ob du es tust oder nicht – wir werden auf jeden Fall weitermachen!« Wenn der Unerwachsene verhindert, dass die Eltern nicht einmal das sagen dürfen, können sie ihm im Laufe des Tages eine entsprechende Notiz unter seiner Zimmertür durchschieben. Diese Art von Vorbereitung gibt vielen Eltern – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – das Gefühl, auf eine Weise zu handeln, die von der Reaktion ihres erwachsenen Kindes unabhängig ist. Im Rahmen der Vorbereitung der Ankündigung sind die meisten Eltern in der Lage, ihre Bedenken wegen Risiken und Konsequenzen des Versorgungsentzugs anzusprechen. Die Eltern, die durch diese Vorbereitungsprozedur fähiger geworden sind, den Reaktionen ihres erwachsenen Kindes auf die Ankündigung standzuhalten, steuern schnell auf die Fähigkeit zum Versorgungsentzug zu. Deshalb ist es keine verschwendete Zeit, wenn der Therapeut oder die Therapeutin zwei oder drei Sitzungen auf die Vorbereitung der Ankündigung verwendet. Dies motiviert und stärkt die Eltern, die kommenden Herausforderungen anzunehmen. Der folgende Ankündigungstext wurde einem 28-jährigen Nesthocker überreicht, der früher einmal selbstständig gelebt und einen

103

104

Die Intervention

Bachelorabschluss in Geschichte gemacht hatte. Danach ist er wieder bei den Eltern eingezogen, hat sich isoliert, die Kommunikation mit seinen Eltern eingestellt und seine gesamte Zeit vor dem Computer verbracht.

Lieber Matthias, wir haben beschlossen, eine Therapie zu machen, damit wir bei unseren Problemen mit Dir Hilfe bekommen. Hier sind einige unserer Gedanken, an denen wir Dich teilhaben lassen möchten. Wir sind jetzt 66 und 62 Jahre alt und haben das Bedürfnis, ein paar grundlegende Veränderungen in unserem Leben vorzunehmen. In den letzten vier Jahren, seit Du ins Elternhaus zurückgekehrt bist, haben wir unseres Erachtens die falschen Angewohnheiten und Einstellungen entwickelt. Wir wissen, dass Du einen starken Willen hast und dass wir, was immer wir auch wünschen, Deine Entscheidungen und Verhaltensweisen nicht kontrollieren können. Wir können Dich nicht davon überzeugen, dass Du ein Problem hast oder dass Du eine Therapie brauchst. Wir können Dich nicht dazu bringen, Dass Du aus Deinem Zimmer kommst oder Dir eine Arbeit suchst. Wir wissen, dass Du genau das tun wirst, was Du willst. Doch wir haben unsere eigenen Wünsche und Pläne. Und wir haben beschlossen, dass wir Dir nicht erlauben, darüber zu bestimmen, wie wir unser Leben zu führen und unser Haus zu verwalten haben. Deshalb wollen wir Dir unsere wesentlichen Entscheidungen ankündigen: Wir werden Dir nicht mehr die Dienste angedeihen lassen, die für Dein Alter und für unseres unangemessen sind. Wir werden nicht mehr für Dich kochen, Dir nicht mehr das Zimmer putzen, nicht mehr Deine Bedürfnisse finanzieren und Dir keine Internetverbindung zur Verfügung stellen. Wenn Du weiterhin in unserem Haus wohnst, erwarten wir von Dir, dass Du Dich an den Kosten beteiligst. Wir lassen Dich wissen, welchen Betrag wir für angemessen halten. Wir haben beschlossen, eine Lebensweise, bei der Tag und Nacht umgekehrt sind, nicht zu unterstützen. Wir werden deshalb Schritte unternehmen, damit der Fernseher und die Computer hier bei uns zwischen 23:00 und 8:00 Uhr abgeschaltet sind. Es ist unser Haus und es sind unsere

Unterstützung

Ressourcen, und wir wehren uns dagegen, dass sie aus unserer Sicht unangemessen genutzt werden. Wir teilen Dir mit, dass wir all diejenigen, die uns nahestehen, über unsere Entscheidungen informiert haben. Wir haben sie gebeten, uns zu unterstützen. Es ist uns nicht leichtgefallen, unsere Gewohnheit, Dinge geheim zu halten, zu überwinden, aber wir sind überzeugt, dass wirkliche Veränderungen Offenheit voraussetzen. Unser Haus, das für Gäste lange Zeit verschlossen war, wird ihnen ab jetzt offenstehen. Wir vertrauen auf Deine Fähigkeit, etwas aus Deinem Leben zu machen. Wir glauben, dass wir durch unsere Mitwirkung an Deiner Abschottung eigentlich einen Mangel an Vertrauen in Dich demonstriert haben. Wir meinen, das war komplett falsch, sowohl für uns als Eltern als auch für Dich als dem geliebten und geschätzten Sohn, der Du bist. Deine Dich liebenden Eltern

Unterstützung Durch die Vorbereitung der Ankündigung fühlen sich viele Eltern bereit zum Handeln. Manche wollen die Ankündigung gleich umsetzen, andere dagegen lieber warten, bis sie Rückhalt durch eine Unterstützergruppe haben. Wenn die Eltern die Ankündigung lieber übermitteln wollen, noch bevor sie mit den Unterstützern zusammengekommen sind, ist das keine Entschuldigung dafür, diese Sitzung zu umgehen oder zu verschieben. Dadurch könnte die gesamte Intervention gefährdet werden; denn der soziale Rückhalt ist ein entscheidender Faktor für deren Erfolg. Angesichts einer dysfunktionalen Abhängigkeit leiden Familien oft unter sozialer Isolation. In vielen Fällen brechen die Eltern fast alle Kontakte zu Verwandten und Freunden ab. Einige von uns behandelte Eltern haben uns berichtet, dass ihre häuslichen Schwierigkeiten und ihr Gefühl von Totalverantwortung ihre Leistungen am Arbeitsplatz gefährden würden. Manche von ihnen gingen sogar früher in Rente, damit sie sich voll und ganz den Bedürfnissen ihres Nesthockers widmen konnten. Manchmal haben sich die Eltern bereits während der

105

106

Die Intervention

Adoleszenz des Unerwachsenen für ihre Berentung entschieden. Wir meinen, dass solche Entscheidungen eine dysfunktionale Abhängigkeit tendenziell verschärfen. Ein weiterer gravierender Faktor ist es, wenn die Geschwister von Unerwachsenen das Elternhaus schon verlassen haben und die Eltern wegen der beklemmenden Atmosphäre daheim dann nicht mehr besuchen. Das Leben in solchen Familien entspricht sinnbildlich der Tatsache, dass die Fensterläden geschlossen sind. In weniger extremen Fällen bewahren sich die Eltern ihre sozialen Kontakte und erlauben anderen einen flüchtigen Blick in den Zustand ihrer Familie. Doch die eigentlich harten Dinge, unter denen sie leiden, zum Beispiel Gewalttätigkeit, Erpressung und Suiziddrohungen, werden fast immer geheim gehalten. Tendenziell verschlimmern die Digitalkultur, einabgeschottetes städtisches Umfeld und das Schrumpfen des größeren Familienkreises die Isolation dieser Familien. Die meisten Familien, die zu uns kommen, schreiben ihre Isolation den problematischen Verhaltensweisen ihres erwachsenen Kindes zu. Sie verstecken sich, weil sie sich schämen. Diese Erklärung ist verständlich, aber der ursächliche Zusammenhang hat zwei Richtungen. Die Isolation ist sowohl ein Ergebnis als auch eine Ursache der Dysfunktion. Deshalb ist es ein großer Schritt nach vorn, wenn eine Unterstützergruppe aufgebaut wird. Ein Unterstützernetzwerk verleiht den Eltern die Stärke und Legitimation, die sie brauchen, um sich von erdrückenden Mustern zu befreien. Es besteht wenig Aussicht, dass sie ohne Unterstützung ihre Angst und Verzweiflung überwinden, und deshalb verwenden wir als Therapeuten große Mühe darauf, sie davon zu überzeugen, dass sie sich ausreichend Unterstützung holen sollen. Die Eltern davon überzeugen, sich Unterstützung zu holen Die Therapeutin oder der Therapeut bittet die Eltern, ihre Schwierigkeiten und die Tatsache, dass sie in Therapie sind, mit einer Gruppe von nahen Verwandten und Freunden zu teilen. Dann laden die Eltern ihre Unterstützerinnen und Unterstützer zu einer gemeinsamen Therapiesitzung ein, in der diese mehr über den Zustand der Familie und ihr Veränderungsbemühen erfahren und in der über Möglich-

Unterstützung

keiten gesprochen wird, die elterlichen Anstrengungen zu fördern. Zu der Unterstützergruppe gehören üblicherweise Angehörige des größeren Familienkreises, die Geschwister des Unerwachsenen, nahe Freunde und Kollegen der Eltern, Personen, die mit dem erwachsenen Kind verbunden sind oder waren, und manchmal auch ein Nachbar. Die geografische Nähe zu der Familie ist nicht erforderlich, da die Unterstützung auch telefonisch oder per E-Mail möglich ist. Unterstützer, die weiter weg wohnen, können an der Therapiesitzung über Telefon- bzw. Videokonferenz teilnehmen oder später eine Aufzeichnung der Sitzung anschauen. Wenn die Eltern der Idee, sich Unterstützung zu holen, abweisend gegenüberstehen, sollte der Therapeut ihren Gründen wachsam und empathisch zuhören. Ein gängiger Vorbehalt ist »der Intimitätsreflex«, das heißt die Vorstellung, dass die Probleme der Eltern und des Unerwachsenen niemand anders etwas angehen. Weitere Vorbehalte sind: Schamgefühle auf Seiten der Eltern und des erwachsenen Kindes; die Angst, dass die Enthüllung des Geheimnisses traumatisierend sein oder drastische Reaktionen hervorrufen könnte; und das Gefühl, keine Unterstützer zu haben. Therapeutisch besteht die Herausforderung darin, diese Einwände zu zerstreuen, ohne die Eltern zu verstimmen. Manchmal besteht die Tendenz, dass die Eltern, nachdem das Thema Unterstützung aufgebracht worden ist, eine Sitzung auslassen oder sich von der Intervention distanzieren. Dann kann man sie kontaktieren und ihnen sagen, dass ihre Vorbehalte wichtig sind und der sorgfältigen Betrachtung bedürfen. Sehr reservierten Eltern kann der Therapeut einen Mittelweg vorschlagen, das heißt, die Unterstützer Schritt für Schritt und nach Bedarf einzubinden. Bei einigen Familien führte dieses allmähliche Herantasten dazu, dass weitere Unterstützerinnen und Unterstützer hinzugezogen wurden, als die Eltern beispielsweise mit Gewalttätigkeit oder Suiziddrohungen konfrontiert waren. Eine ausreichende Kenntnis der typischen Vorbehalte, die die Eltern gegen eine Unterstützergruppe vorbringen, kann sehr hilfreich sein und die Erfolgschancen erhöhen. Therapeutinnen und Therapeuten, denen unser Ansatz neu ist, sollten die in Kapitel 2 aufgeführte Liste elterlicher Vorbehalte (S. 76 ff.) noch einmal zu

107

108

Die Intervention

Rate ziehen. Schon nach wenigen behandelten Fällen entwickelt man eine angemessene Fertigkeit im Umgang mit derlei elterlichen Einwänden. Wir sagen Therapeuten, die mit unserem Vorgehen noch nicht vertraut sind, dass sie ihre »erste Sporen« für die Arbeit nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands verdienen würden, nachdem sie drei Sitzungen mit Unterstützern einberufen und abgehalten hätten. Oftmals holen sich die Eltern deshalb widerstrebend Unterstützung, weil sie der Ansicht sind, dass sie die erdrückende Last ihrer Totalverantwortung für das Wohlergehen ihres erwachsenen Kindes mit niemandem teilen können. Deshalb hat das Gespräch über die elterlichen Vorbehalte den zusätzlichen therapeutischen Wert, dass den Eltern eine Last abgenommen und ihr Seelenleben erträglicher gemacht wird. Zusätzlich zu den in Kapitel 2 präsentierten Gründen für die Einbeziehung von Unterstützern können praktische Schritte unternommen werden, um den Eltern bei der Suche nach Unterstützung zu helfen. Der Therapeut bittet die Eltern, eine Liste ihrer Verwandten und Freunde anzulegen und diese Personen nacheinander zu beschreiben. Am Ende dieses Vorgehens liegt meistens eine Auswahlliste potenzieller Unterstützerkandidaten vor. Die Therapeutin oder der Therapeut kann den Eltern auch helfen, einen Brief an diese Kandidaten zu schreiben und sie zu einer Unterstützersitzung einzuladen. Schon aufgrund eines solchen Angebots schreiben viele Eltern eigenständig eine Einladung an potenzielle Unterstützer und Unterstützerinnen. Manchmal sind reservierte Eltern nach gutem Zureden schließlich damit einverstanden, einen einzigen Unterstützer einzuladen. Hat der Therapeut das Gefühl, dass die therapeutische Allianz hinreichend robust ist, kann er dazu sagen: »Wunderbar! Jetzt brauchen wir nur noch neun weitere Unterstützer!« Die Sitzung mit den Unterstützern Die Zusammenkunft der Unterstützer und Unterstützerinnen ist oft das wichtigste Ereignis der ganzen Therapie. Hier wird der Schleier der Geheimnistuerei gelüftet und die Bereitschaft der Familie gesteigert, neue Optionen in Betracht zu ziehen. Die Eltern werden von der Last der Isolation befreit, und ihr Engagement zu handeln

Unterstützung

wird gestärkt. Die von uns einberufenen Unterstützergruppen helfen und fördern die gesamte Kernfamilie: die Eltern, den Unerwachsenen und die Geschwister. Nie bleiben die Eltern unberührt, wenn die Unterstützer ihnen ihre Anerkennung für ihre Bemühungen und für ihr Kind bekunden. Um diese Resultate jedoch maximieren zu können, muss der Therapeut auf mögliche Fallstricke vorbereitet sein. Oft machen sich die Unterstützerinnen und Unterstützer Gedan­ ken darüber, dass der Unerwachsene sich von einer Gruppe von Leuten vielleicht in die Enge getrieben fühlt, auch wenn das noch so gut gemeint sein kann. Es ist zu empfehlen, dass pro Woche nur ein oder zwei Unterstützer das erwachsene Kind kontaktieren. Diese Kontakte sollten mit den Eltern koordiniert werden. Der Therapeut oder die Therapeutin unterweist die Unterstützer, wie sie mit dem Unerwachsenen am besten umgehen. Sie sollten ihm zu verstehen geben, dass sie sich bewusst sind, dass bei ihm zu Hause problematische Ereignisse stattfinden werden, und ihm zugleich ihre Zuwendung, Hilfsbereitschaft und Überzeugung zeigen, dass er seine Schwierigkeiten bewältigen wird. Im Internet kann ein vertrauliches Unterstützerforum eingerichtet werden, und die Unterstützer können sich per E-Mail oder WhatsApp über ihre Kontakte mit dem Unerwachsenen gegenseitig informieren. So wird die Kampagne des Versorgungsentzugs zu einem Bestandteil der laufenden Kommunikation innerhalb der Gruppe. Solche Lagebesprechungen können gute Nachrichten wie auch Berichte über unerfreuliche oder belastende Ereignisse beinhalten. Der Therapeut kann sich auch an dem Forum beteiligen und seine Sichtweise und Deutung der aktuellen Entwicklungen anbieten. Als Unterstützerinnen und Unterstützer könnte man sich unbe­ haglich fühlen, wenn man zu einer Gruppe gehört, in der über die Angelegenheiten einer erwachsenen Person hinter deren Rücken gesprochen wird. Darüber darf man aber nicht vergessen, dass es in der Zusammenkunft der Unterstützer nicht um den Nesthocker geht, sondern um die lang andauernde Krise, in der sich die Eltern befinden. Die Unterstützung des Unerwachsenen ist sicherlich ein wichtiges Motiv, aber die unmittelbaren Empfänger der Hilfe sind die Eltern. Der Therapeut sollte sich darüber bewusst sein, dass manche Unterstützer die Spannung zwischen

109

110

Die Intervention

den Eltern und dem Unerwachsenen als Loyalitätskonflikt erleben könnten. Aus diesem Grund sollte man jüngere Unterstützer wie Freunde oder Geschwister des Unerwachsenen vielleicht nicht zu der Zusammenkunft der Unterstützer und Unterstützerinnen hinzuziehen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht helfen können. Unter der Anleitung der Therapeutin oder des Therapeuten lernen die Eltern, wie sie um deren Mithilfe bitten. In vielen Fällen hat sich die Hilfe der jungen Menschen als entscheidender Faktor erwiesen, dem Unerwachsenen zu vermitteln, dass er nicht allein ist. Nachstehend ist die Botschaft eines Therapeuten an die ältere Schwester, deren Bruder gerade in einer akuten manischen Episode steckte und die Bedenken gegenüber der Teilnahme an dem Unterstützertreffen geäußert hatte: »Ich kann Ihre Bedenken verstehen, dass die Teilnahme an unserem Unterstützertreffen Sie in einen Loyalitätskonflikt bringen könnte. Ich finde es völlig nachvollziehbar, wenn Sie sich entscheiden würden, nicht zu kommen. Ich halte diese Sitzung für äußerst dringlich, weil Ihr Bruder an einer akuten psychischen Krankheit leidet und damit ein hohes Risiko verbunden ist. In einem solchen Zustand können Menschen sich auf eine Weise verhalten, die für sie selbst und andere höchst schädlich sein kann. Die Personen, die Ihrem Bruder beistehen, kommen zusammen, um eine Art Sicherheitsnetz für ihn und die Familie aufzuspannen. Viele Menschen, die sich in einem Zustand wie Ihr Bruder befinden, reagieren positiv auf Hilfeangebote, manchmal genau auf dem Höhepunkt ihrer Krise, manchmal in einer späteren Phase. Das zeigt, dass sie in ihrem tiefsten Inneren wissen, dass sie Hilfe brauchen. Es gibt eine Menge wissenschaftlicher Belege dafür, dass da, wo ein Unterstützernetzwerk existiert, die Chancen auf eine erfolgreiche Bewältigung der Krise weitaus höher sind. Noch einmal: Ich werde Ihre Entscheidung respektieren, wenn Sie an dem Treffen nicht teilnehmen möchten. Ihre Hilfe kann sehr bedeutsam sein, selbst wenn Sie an der Sitzung nicht teilnehmen.« Die Schwester des kranken jungen Mannes entschied sich, an der Sitzung nicht teilzunehmen, bat aber darum, auf dem Laufenden gehalten zu werden. Sie wurde zu einem wesentlichen positiven Einflussfaktor in der Entwicklung.

Unterstützung

Eine weitere Herausforderung ist es, wenn die Unterstützer während der Sitzung die Eltern oder den Unerwachsenen kritisieren. Der Therapeut oder die Therapeutin sollte derlei Bemerkungen höflich, aber bestimmt entgegentreten. Fast immer wird die Gruppe den Therapeuten in seiner Position bestärken. In Ausnahmefällen kann es ratsam sein, auf die Hilfe eines problematischen Unterstützers zu verzichten, zum Beispiel auf die eines Verwandten, der sich dem Unerwachsenen gegenüber beleidigend benimmt. Der Therapeut eröffnet das Unterstützertreffen mit einem Dank an alle dafür, dass sie gekommen sind, und stellt fest, dass auch der kleinste Beitrag viel bewirken kann. Dann bittet er die Anwesenden, sich vorzustellen und ein paar Worte über ihre Beziehung zu den Eltern und dem erwachsenen Kind zu sagen. Die meisten Unterstützer und Unterstützerinnen, die den Unerwachsenen kennen, werden etwas Nettes über seine Persönlichkeit sagen und so zu einer positiven Darstellung seiner Eigenschaften und Fähigkeiten beitragen. Über solche Beschreibungen ist man oft erstaunt, wenn man bedenkt, wie negativ das Bild der Eltern von ihrem Kind aufgrund der momentanen Krise gefärbt ist. Aber für die Personen von außerhalb der Kernfamilie ist es wesentlich leichter, sich an die Fähigkeiten und Eigenschaften zu erinnern, die die Eltern des Unerwachsenen vielleicht vergessen haben. Nach dieser Vorstellungsrunde kann der Therapeut oder die Therapeutin auch einschätzen, welche Anwesenden sich am besten für diese oder jene Unterstützerrolle eignen, und zwar im Hinblick auf ihre Nähe zu dem einen oder anderen Familienmitglied, ihre Verfügbarkeit, ihr Alter und ihre physische Distanz vom Elternhaus. Vielleicht steht der eine oder andere Teilnehmer den Eltern oder einem Elternteil näher und kann sich deshalb auf die Unterstützung ihres Wohlbefindens konzentrieren. Andere haben vielleicht eine besondere Beziehung zu dem Unerwachsenen und können ihn in einer Zeit unterstützen, die er möglicherweise als eine verstörend radikale Verschiebung in seinem Umfeld erlebt. Wieder andere können die Geschwister des Unerwachsenen unterstützen, die durch die Situation vielleicht schwer beeinträchtigt sind. Nach dieser ersten Runde fordert der Therapeut die Eltern auf, der Gruppe ihre Schwierigkeiten zu schildern, und bemerkt dazu,

111

112

Die Intervention

dass vielleicht nicht alle Anwesenden mit der Situation in der Familie vertraut sind. Viele Eltern empfinden das als einen quälenden Moment, da sie gegen ihre innersten Überzeugungen hinsichtlich Privatsphäre und Loyalität handeln und Informationen preisgeben sollen, die sie manchmal jahrelang geheim gehalten haben. Angesichts dieser Situation könnten die Eltern versucht sein, ihr Problem herunterzuspielen, insbesondere dann, wenn es mit Vorfällen von Gewalttätigkeit, Einschüchterung und Ausbeutung verbunden ist. Sodann kann die Therapeutin oder der Therapeut die Eltern respektvoll bitten, weitere Einzelheiten über die härteren Momente ihrer Interaktion mit ihrem erwachsenen Kind zu schildern. An dieser Stelle können Details zum Vorschein kommen, die bis dahin geheim gehalten worden sind. Die Mitglieder des Unterstützerforums, von denen manche das unausgesprochene Leiden der Familie gespürt haben müssen, begreifen schließlich die Abgründe der Notlage der Familie. Durch diese Aufdeckung werden oft heftige emotionale Reaktionen ausgelöst. Teilnehmende brechen in Tränen aus, geraten in Wut oder sind geschockt. Hier hat der Therapeut die Aufgabe, derlei Reaktionen in positive und pragmatische Bahnen zu lenken. Nachdem die Eltern ihre Geheimnisse offengelegt haben, resümiert der Therapeut die Notlage der Familie, unterrichtet die Gruppe über die negativen Auswirkungen der Rundumversorgung und gibt einen Überblick über den Therapieplan. Dann bittet man die Eltern, der Gruppe ihren Entwurf der Ankündigung vorzulesen. Der Therapeut oder die Therapeutin erklärt der Gruppe, dass die Übermittlung der Ankündigung an das erwachsene Kind den Beginn des elterlichen gewaltlosen Widerstands markiert; dass die Eltern ihre Aufgabe nicht allein bewältigen können und dass die Unterstützer eine entscheidende Rolle spielen können, wenn sie den Eltern helfen, ihre Herausforderung erfolgreich zu bewältigen. Eine einfache Hilfestellung besteht darin, die Eltern zu besuchen und zu dem Nesthocker Kontakt aufzunehmen. Wenn der Unerwachsene nicht mit einem Unterstützer sprechen möchte, sollte der ihm eine geschriebene Nachricht hinterlassen. Den Unterstützerinnen und Unterstützern wird gesagt, dass auch ein einziger Besuch und eine E-Mail oder WhatsApp-Nachricht an

Unterstützung

den Unerwachsenen schon etwas bewirken kann, insbesondere bei Gewalttätigkeit oder sonstigen Drohungen. Schon allein die Einbeziehung von Unterstützern kann einen deeskalierenden Effekt haben. Unsere Forschung und Erfahrung haben gezeigt, dass die Gefahr extremer Verhaltensweisen erheblich reduziert wird, wenn jemand von außerhalb der Kernfamilie entweder persönlich oder telefonisch anwesend ist. Der Therapeut schließt diesen Teil der Diskussion mit der Frage ab, wer im Fall einer Eskalation im Elternhaus den Unerwachsenen kontaktieren sollte. Auf diese Frage melden sich immer Freiwillige. Wichtig ist, das Gespräch von der Familiengeschichte oder der mutmaßlichen Psychopathologie des Unerwachsenen wegzulenken. Der Fokus sollte pragmatisch und nach vorn gerichtet bleiben. Der Therapeut kann hervorheben, dass die Chancen des Unerwachsenen auf mehr Handlungskompetenz durch die fortgesetzte Rundumversorgung schmerzlich verletzt würden. Einige Unterstützer äußern vielleicht Bedenken, dass ihre Einbeziehung nachteilige Effekte haben, zum Beispiel Angst erzeugen könnte, dass der in die Enge getriebene Unerwachsene zusammenbrechen oder Suizid versuchen würde. Der Therapeut sollte sich mit diesen Sorgen beschäftigen, ohne sich in pauschale Beschwichtigungen zu flüchten wie »Das passiert nie und nimmer!« oder »Solche Suiziddrohungen sind nur zur Demonstration!«. Wir würden eher empfehlen, der Gruppe die Erfahrung mitzuteilen, dass nämlich durch die Einbindung von Unterstützerinnen und Unterstützern das Risiko krasser Handlungsweisen reduziert werde. Der Therapeut könnte die Gruppe auch darü­ber informieren, dass er zur Verfügung stehe, wenn es potenzielle Krisen zu bewältigen gelte. Im Laufe der Gruppendiskussion ergeben sich oft hilfreiche Bemerkungen. Manchmal werden denkbare Handlungsoptionen vorgeschlagen. Der Therapeut kann anregen, dass einige Unterstützer häusliche Spannungen reduzieren helfen, indem sie den Unerwachsenen einladen, eine Weile bei ihnen zu bleiben. Eine bewährte Vorgehensweise ist es, die Unterstützer zu fragen, ob sie das erwachsene Kind über ein Wochenende bei sich aufnehmen oder zur Entschärfung einer Krise beitragen würden. In vielen unserer Fälle diente

113

114

Die Intervention

eine Verschnaufpause außerhalb des Elternhauses als Auszeit, die eindeutig zu Verbesserungen führte. Bevor die Sitzung geschlossen wird, bittet der Therapeut die Unterstützerinnen und Unterstützer, noch offene Fragen zu stellen oder sonstige Anliegen zu äußern, und schlägt den Eltern vor, ein E-Mail- oder WhatsApp-Forum einzurichten, in dem alle Anwesenden Informationen über ihre Kontakte mit dem Unerwachsenen mitteilen können. Unterstützer anleiten Im Nachgang zu dem Unterstützertreffen können ein oder zwei Unterstützer den Unerwachsenen kontaktieren, um einen konstruktiven Dialog mit ihm zu beginnen. Außerdem kann ein Unterstützer im Elternhaus vorbeischauen, falls es zu Gewalttätigkeiten oder Drohungen gekommen ist. Dadurch wird ein wichtiger »Präzedenzfall« geschaffen; denn der Unerwachsene versteht jetzt, dass die Eltern in Extremsituationen nicht mehr allein sind. Der Therapeut koordiniert das Unterstützernetzwerk. Nachdem die E-Mail-Gruppe oder das WhatsApp-Forum eingerichtet sind, nutzt der Therapeut diese Kommunikationsplattform, um die Gruppe zu begrüßen und ihr Erfolg zu wünschen. Jeder Unterstützer, der Kontakt zu dem Unerwachsene aufgenommen hat, soll eine kurze Beschreibung des Ereignisses posten. In den Therapiesitzungen entscheiden die Therapeutin oder der Therapeut und die Eltern gelegentlich gemeinsam über bestimmte Kernbotschaften. Allmählich entwickelt sich dann eine Rollendifferenzierung. Manchen Unterstützerinnen und Unterstützern gelingt es, einen positiven Draht zu dem erwachsenen Kind aufzubauen und den Kontakt zu halten. Wenn sich das als möglich erweist, verläuft der Versorgungsentzug reibungsloser, weniger polarisierend und vielfältiger an Bewältigungsoptionen. Die Unterstützer können Vermittlung anbieten, gemeinsame Aktivitäten mit dem Unerwachsenen vorschlagen und eine gesunde Distanzierung von den Eltern schaffen. Bei dieser Art von Unterstützung können Möglichkeiten für die Aufnahme eines Studiums, die Suche nach einem Arbeitsplatz oder einer Wohnung außerhalb des Elternhauses erkundet werden.

Unterstützende Rolle anderer Berufsgruppen

Manche Mitglieder der Unterstützergruppe können auch als Puffer gegen Drohungen und Gewalt wirken. Auch wenn sie dem Unerwachsenen nicht nahestehen, vermittelt ihre physische Präsenz im Elternhaus in Zeiten der Eskalation, dass die Eltern den Ausbrüchen ihres erwachsenen Kindes nicht mehr schutzlos ausgeliefert sind. Wenn die Unterstützer und Unterstützerinnen im Elternhaus eintreffen, zieht sich der Unerwachsene meistens in sein Zimmer zurück. Der Unterstützer bleibt eine Weile bei den Eltern und hinterlässt deren Kind eine schriftliche Nachricht. Manchmal bleibt der Unterstützer über Nacht, um für die Sicherheit der Eltern zu sorgen. Im Nachgang zu einem solchen Besuch nimmt das Chaos meistens ab, manchmal für lange Zeit. Der Besuch eines Unterstützers hilft den Eltern auch, ihren Versorgungsentzug fortzusetzen. Auch Telefonanrufe von Unterstützern tragen zur Gewaltreduktion bei. Wenn die Eltern bedroht werden, können sie sich in ihr Zimmer einschließen und Hilfe holen. In einem unserer Fälle flüchtete sich die alleinerziehende Mutter einer äußerst impulsiven Tochter mit ihrem Mobiltelefon in einen Schutzraum. Kurz danach klingelte das Telefon der Tochter. Eine Viertelstunde später traf der erste Unterstützer ein. Die Tochter hat die Mutter nicht mehr angegriffen. Eine andere Rolle eines Unterstützers ist die, dass er sich ein paar Tage lang in das Elternhaus begibt, damit die Eltern eine kurze Verschnaufpause einlegen können. Diese Rolle übernehmen oft die Großeltern des Unerwachsenen. Ein paar Tage lang weg von zu Hause kann bei den Eltern das Gefühl entstehen lassen, dass sie sich aus ihrer Situation lösen können.

Unterstützende Rolle anderer Berufsgruppen Eine wichtige Rolle bei der Unterstützung spielen Berufsgruppen, die normalerweise nicht an der Unterstützersitzung teilnehmen, aber im Verlauf der Intervention zu verschiedenen Zeitpunkten kontaktiert werden können. Neben dem Therapeuten des Unerwachsenen kann eine unterstützende Rolle auch von der Polizei, einem Psychi­ater, einer Sozialarbeiterin, einem Sozialpädagogen oder einer Finanzberaterin eingenommen werden.

115

116

Die Intervention

Die meisten Eltern wollen sich nicht an die Polizei wenden aus Angst, dass entweder der Unerwachsene Ärger mit dem Gesetz bekommt oder die Sache nach hinten losgeht. Doch die Hinzuziehung der Polizei kann in Verbindung mit einer Therapie nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands hilfreich sein7. Zu diesem Zweck kann die Therapeutin oder der Therapeut den Eltern vorsorglich ein an die Polizei adressiertes Schreiben geben, damit sie dieses verwenden können, falls sie sich zu einem Hilferuf genötigt sehen oder Nachbarn die Polizei rufen sollten. In dem Brief wird erklärt, dass die Eltern wegen der schwierigen Situation mit ihrem erwachsenen Kind in Therapie sind. Ist der Therapeut überzeugt, dass die Eltern gegenüber ihrem Kind nicht gewalttätig sind, sollte er das in dem Schreiben deutlich zum Ausdruck bringen. Die Eltern legen dann dem Polizeibeamten, der am Ort eintrifft, den Brief vor. Hier ist ein typisches Beispiel für ein solches Schreiben:

Für die Polizei Andreas und Silke, die Eltern von Markus (17 Jahre alt), sind damit einverstanden, dass ich Ihnen Folgendes mitteile: Ich bin auf die Beratung von Eltern spezialisiert, die mit aggressiven Adoleszenten zu tun haben. Andreas und Silke haben mich wegen der Schulverweigerung, Internetsucht und wegen des hoch aggressiven Verhaltens ihres Sohnes aufgesucht. Ich habe ihnen dieses Schreiben ausgestellt für den Fall, dass sie polizeiliche Hilfe benötigen. Aus meiner Sicht bemühen sich die Eltern nach Kräften, um auf positive Weise mit dem Problem umzugehen, damit ihr Sohn seine Schwierigkeiten überwinden kann. Auf der Basis unserer Beratungen habe ich festgestellt, dass die Eltern sich sehr um Markus kümmern und sich um ihn sorgen, und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sie ihm gegenüber gewalttätig wären. Nach meinem Ermessen sollte ihr Hilferuf ernst genommen werden, da es ihr einziger Wunsch ist, dass

7 Nicht immer ist dies möglich oder wünschenswert. In gewissen Ländern oder unter bestimmten Teilen der Bevölkerung, die der Polizei nicht vertrauen können, wäre das unangebracht. Der Therapeut und die Eltern sollten sich dann ausschließlich auf andere Unterstützer verlassen.

Unterstützende Rolle anderer Berufsgruppen

Markus begreifen würde, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun werden, um sich zu schützen und ihm zu helfen, gesund zu werden. Wenn es einem Polizeibeamten möglich wäre, Markus in der kommenden Woche noch einmal aufzusuchen, stehen die Chancen gut, dass Ihre Intervention einen dauerhaften positiven Effekt haben wird. Mit freundlichen Grüßen [Der Therapeut/die Therapeutin]

Wir haben festgestellt, dass Polizisten und Polizistinnen gut reagieren, wenn sie eine solche Botschaft lesen. Manchmal setzt sich der Polizist eine halbe Stunde lang oder auch länger mit dem Unerwachsenen zusammen. In manchen der von uns behandelten Fällen hat die Polizei unserer Bitte entsprochen und das erwachsene Kind ein paar Tage nach dem elterlichen Hilferuf wieder kontaktiert. Uns sind fast keine Fälle bekannt, in denen die Anwesenheit eines Polizeibeamten einen gewalttätigen Unerwachsenen nicht beruhigt hätte und konkrete Maßnahmen oder eine Ingewahrsamnahme nötig gewesen wären. Liegt bei dem erwachsenen Kind die Diagnose einer psychischen Krankheit vor, die es selbst oder die Eltern gefährden könnte, sollte der Therapeut dies in seinem Schreiben an die Polizei erwähnen. Die Polizei wird dann ihr Standardverfahren anwenden und, falls eine klare Gefahr besteht, den Unerwachsenen in eine psychiatrische Notaufnahme zur Begutachtung bringen. Oftmals sind Psychiater an dem therapeutischen Programm beteiligt. War das erwachsene Kind vor Beginn der Intervention in psychiatrischer Behandlung, informiert die Therapeutin oder der Therapeut der Eltern den behandelnden Psychiater und schlägt einen Informationsaustausch vor. Viele Psychiaterinnen und Psychiater gehen bereitwillig auf solche Vorschläge ein, da beide Seiten davon profitieren können. Was die Schweigepflicht anbelangt, könnte der Psychiater die Erlaubnis des Unerwachsenen einholen, um zu dem Therapeuten der Eltern Kontakt aufnehmen zu dürfen. Die erwachsenen Kinder stimmen solchen Bitten tendenziell zu. In akuten Fällen, in denen der Unerwachsene vor Beginn der Intervention nicht in psychiatrischer Behandlung war und sich einer

117

118

Die Intervention

Beurteilung oder Behandlung verweigert, könnten der Psychiater, die Eltern und ihr Therapeut immer noch beratschlagen, ob eine Indikation für eine Zwangseinweisung vorliegt. Solch ein Vorgang geschieht nicht leichtfertig. Aber in Fällen, wo es ein echtes Risiko für die Sicherheit der Eltern oder des Unerwachsenen selbst besteht, sollte diese Möglichkeit in Betracht gezogen werden. In manchen Fällen wird der Unerwachsene in einer psychiatrischen Klinik schon stationär behandelt. In Kapitel 6 beschreiben wir den Sonderfall eines therapeutischen Systems, das Eltern, deren Therapeut und psychiatrische Betreuungspersonen einbezieht. Auch durch Sozialarbeit und mittels Reha-Einrichtungen kann die Intervention untermauert werden, indem die Eltern punktuell von ihrer Betreuungslast befreit werden und, was nicht weniger wichtig ist, ihnen geholfen wird, das Narrativ der Totalverantwortung hinter sich zu lassen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in sozialen Einrichtungen können dem Unerwachsenen helfen, dass er in ein Reha-Programm oder in eine betreute Wohngemeinschaft aufgenommen wird. In einem Projekt für Eltern von erwachsenen Kindern mit hochfunktionalem Autismus (Golan et al., 2016) wurde den schon älteren Eltern und ihren behinderten erwachsenen Kindern dazu verholfen, sich zum allerersten Mal mit Rehabilitationsdiensten vertraut zu machen und die entsprechenden Einrichtungen zu besuchen. Die Eltern berichteten, dass sie zum ersten Mal etwas Hoffnung für die Zukunft geschöpft hätten. Gelegentlich ziehen wir Finanzberater hinzu, wenn Unerwachsene Schulden anhäufen und von den Eltern erwarten, dass sie diese bezahlen. In solchen Fällen besteht ein wesentliches Ziel des Versorgungsentzugs darin, dass die Eltern ihre finanzielle Unterstützung einstellen, solange der Unerwachsene nicht bereit ist, sich in Geldsachen beraten zu lassen und seine finanziellen Geschäfte einer sachkundigen Person gegenüber offenzulegen. Gewöhnlich entwickelt der Berater oder die Beraterin zusammen mit dem erwachsenen Kind einen finanziellen Sanierungsplan. Die finanzielle Unterstützung durch die Eltern hängt dann davon ab, wie der Unerwachsene sich an den Sanierungsplan hält. Unerwachsene, die in Geldangelegenheiten beraten werden, haben bessere Aussichten, in finanziellen Dingen verantwortungsbewusst zu werden.

Der Prozess des Versorgungsentzugs

Über diese ganz allgemeinen Rollen und Aufgaben hinaus erfüllen die Unterstützerinnen und Unterstützer weitere wichtige Funktionen, die sie je nach den individuellen Mustern ihrer Beziehung zu dem Unerwachsenen gestalten. Im Laufe unserer therapeutischen Arbeit haben wir eine anregende und unendlich kreative Vielfalt von Unterstützungsarten erlebt, die alles übertreffen, was eine Intervention bzw. ein Therapeut verordnen können. In unserer eher bescheidenen Rolle als Therapeutinnen und Therapeuten müssen wir schlicht und einfach dazu beitragen, dass eine solche Vielfalt entstehen kann.

Der Prozess des Versorgungsentzugs Nachdem die Ankündigung aufgesetzt ist und die Unterstützer mobilisiert worden sind, ist die Voraussetzung geschaffen für die zentrale Aufgabe der Eltern: Reduktion der Rundumversorgung und Abriss des stagnierenden »morbiden Unterschlupfs«. Dieser Prozess ist entscheidend dafür, dass das Muster einer funktionaleren Abhängigkeit entstehen kann. Die Arbeit an einer funktionaleren Abhängigkeit geht einher mit der Prävention von Eskalationen. Man muss damit rechnen, dass der Unerwachsene sich der elterlichen Initiative widersetzt. Diese unmittelbare Reaktion stellt – verglichen mit der relativen Ruhe, die sich die Eltern bis dahin durch ihre Versorgungsdienste vielleicht erkauft haben – eine Eskalation dar. Doch mithilfe der Leitlinien des gewaltlosen Widerstands können die Eltern diese Eskalation beträchtlich verringern und sie auf die allerersten Phasen des Prozesses begrenzen. Da das erwachsene Kind begreift, dass seine Eltern entschlossen sind, nicht wieder in ihre frühere Rolle zu schlüpfen, und da die Eltern lernen, dass sie imstande sind, die Reaktion ihres Kindes zu ertragen, ohne dass sie nachgeben oder um sich schlagen, klingt die Eskalation allmählich ab. Der Prozess des Versorgungsentzugs wird nach den folgenden Prinzipien durchgeführt.

119

120

Die Intervention

Gewalttätige, zerstörerische und gefährliche Verhaltensweisen zuerst Handlungen und Muster, die die Eltern, ihr erwachsenes Kind oder andere Personen verletzten oder gefährden, sollten ganz oben auf der Prioritätenliste stehen, wenn elterlicher Widerstand und Versorgungsentzug konkret werden. Typisch für zerstörerische Verhaltensmuster sind Suiziddrohungen, physische oder emotionale Gewalttätigkeit, Vandalismus und Erpressung. Oftmals wenden die Eltern hier ein, dass ebendieses Muster durch das Projekt des Versorgungsentzugs hervorgerufen würde. Für sie bedeuten Versorgungsentzug und hohes Risiko zwei Seiten ein und derselben Medaille. Als Therapeut oder Therapeutin hat man die Aufgabe, den Eltern verständlich zu machen, dass sie diese beiden Seiten trennen sollten. In Fällen von Erpressung beispielsweise, die typisch ist für dysfunktionale Abhängigkeitsbindungen, sind Drohungen und Versorgungsdienste aufs Engste miteinander verknüpft: »Wartet nur, wenn die Sache nicht so weiterläuft wie bisher, werdet ihr schon sehen, was ich tun werde!« Wir wollen den Eltern helfen, diese beiden Elemente voneinander zu trennen und zwei Botschaften zu vermitteln: »Wir werden uns wehren und uns schützen!« Und: »Wir werden unsere Versorgungsdienste auf angemessene Weise abwägen!« »Angemessene« Versorgungsdienste sind solche, die geeignet sind, bei Unerwachsenen eine bessere Handlungsfähigkeit zu erzeugen. Elterliche Dienste, die die Handlungskompetenz behindern oder das Familienleben beeinträchtigen, werden ausgemustert. Zu diesem Zweck lernen Eltern, dass sie sich wehren und sich schützen und zugleich die drohende Eskalation, vor der sie verständlicherweise Angst haben, kontrollieren können. Genau das ist das oberste Ziel des Konzepts des gewaltlosen Widerstands. Will man gegen Gewalttätigkeit auf nichteskalierende Weise Widerstand leisten, ist es angebracht: den Schleier der Geheimniskrämerei zu lüften; Unterstützer hinzuziehen; Eskalationsfallen zu identifizieren und zu vermeiden; und die menschliche Fähigkeit zu akzeptieren, dass man nur sich selbst und sonst niemanden kontrollieren kann. Jeder Akt des elterlichen Versorgungsentzugs fordert uns heraus, sich auf diese Prinzipien zu berufen und herauszufinden, wie sie auf die konkrete Situation anzuwenden sind. Der

Der Prozess des Versorgungsentzugs

Therapeut sollte jeden einzelnen Schritt mit den Eltern besprechen und mit ihnen planen, wie die Leitlinien des gewaltlosen Widerstands bezüglich Geheimhaltung, Unterstützung, Eskalation und Selbstkontrolle umgesetzt werden können. Nach und nach internalisieren die Eltern diese Prinzipien und sind schließlich imstande, sie eigenständig umzusetzen. Je weniger sich die Eltern vor ihrem erwachsenen Kind fürchten, desto weniger fürchtet sich das erwachsene Kind vor dem Erwachsenwerden Verständlicherweise sind die Eltern sehr ängstlich, wenn sie mit dem Versorgungsentzug beginnen, vor allem weil Unerwachsene auf die Verweigerung der elterlichen Dienste besonders heftig reagieren. Wenn die Eltern feststellen, dass sie sich Unterstützung holen, sich schützen und sich behaupten können, lässt ihre Angst nach. Je mutiger sie werden, desto eher erkennt der Unerwachsene, dass seine Eltern nicht mehr allein sind, dass sie seine drastischen Momente überstehen können und dass er wiederum ihre Entscheidung, ihre Dienste einzustellen, überleben kann. Besonders wichtig es, dass der Unerwachsene schon früh im Prozess des Versorgungsentzugs erkennen kann, dass die Eltern wirklich das »Unmögliche« tun: nämlich die Rundumversorgung zu stoppen. Die Verweigerung von Versorgungsdiensten kann den Eltern zunächst wie eine unüberwindbare Hürde vorkommen. Damit sie diese Schwierigkeit bewältigen können, sagt man ihnen, dass sie den Therapeuten kontaktieren und mit ihm über besondere Probleme sprechen und auch zusätzliche Therapiesitzungen haben können. Die Mitglieder der Unterstützergruppe werden meistens durch ein Online-Forum auf dem Laufenden gehalten. Vielen Eltern gibt der Umstand, dass sie ein Schreiben an die Polizei zur Hand zu haben, ein zusätzliches Gefühl von Sicherheit. Manche Eltern haben das Bedürfnis, dass ein oder zwei Unterstützer bei ihnen zu Hause physisch präsent sind, wenn sie mit ihrem Programm des Versorgungsentzugs beginnen. Nur selten wird die Polizei hinzugezogen. Alle diese Maßnahmen sind vorübergehender Natur. Der Handlungsdruck lässt schließlich nach, und der Versorgungsentzug wird zu einem Teil des Alltagslebens.

121

122

Die Intervention

Unterstützung ist der Schlüssel zum erfolgreichen Versorgungsentzug Wenn die Eltern Unterstützerinnen und Unterstützer einzubeziehen beginnen, haben sie oftmals das Gefühl, ein geheiligtes Tabu zu brechen. Die Einbindung von Unterstützern verändert die Situation der Familie unwiederbringlich; denn ein gelüftetes Geheimnis kann nicht wieder eingefangen werden. Und wenn die Eltern ihr Unterstützernetzwerk einmal aufgebaut haben, kehren sie selten zu ihrer früheren Lebensweise in Isolation zurück. In Ausnahmefällen kann der Unerwachsene vorübergehend in die Wohnung eines Verwandten oder Freundes ziehen. Solche Situationen bergen bedeutsame Optionen in sich. Werden sie gut bewältigt, beschleunigt dies den Prozess des Versorgungsentzugs. Opferbereitschaft ist per se ein Versorgungsdienst Gewalttätigkeit ist nicht immer eine Konsequenz der elterlichen Verweigerung von Versorgungdiensten, sondern manchmal ein fester Bestandteil des »normalen« Familienlebens. In vielen Fällen sind die Eltern und ihr Besitz gewohnheitsmäßig physischer Gewalt ausgesetzt. Sich gegen Gewalttätigkeit zu wehren, das ist die oberste Aufgabe im Rahmen des Versorgungsentzugs. Manchmal sind die Eltern überrascht zu hören, dass wir ihre Opferbereitschaft als eine Art von schädigendem Dienst beschreiben, den sie leisten. Tatsächlich dienen sich die Eltern oft selbst dem Unerwachsene als Boxsack an. Diese Dienste sind in zweifacher Hinsicht schädlich, da sie sowohl den Eltern enormes Leiden zufügen als auch den Charakter des Unerwachsenen tief beschädigen. Wenige Dinge können einen Menschen so absolut verderben wie der Umstand, wenn er die totale Macht über andere hat. Von daher stellt das Konzept des gewaltlosen Widerstands eine große Hoffnung sowohl für die Eltern als auch für den Unerwachsenen dar. Mit ihrem Widerstand gegen Gewalttätigkeit und Unterdrückung geben die Eltern dem erwachsenen Kind und auch sich selbst eine reale Chance.

Die Versorgungsdienste zurückfahren

Der Versorgungsentzug ist ein langsamer Prozess Was den Versorgungsentzug anbelangt, erleben sowohl die Eltern als auch der Unerwachsene eine tiefgreifende Angst. Um mit dieser Angst umzugehen und in der Annahme, dass es keine gewalttätigen oder zerstörerischen Ausbrüche mehr gibt, die vorher noch zu bewältigen sind, macht man am besten langsam weiter, indem man mit den leichteren Aufgaben beginnt und zu den schwierigeren übergeht, wenn die Eltern mehr Vertrauen gewonnen haben. Der Versorgungsentzug durch die Eltern kann in drei Ebenen unterteilt werden, wobei der Schwierigkeitsgrad jeweils gesteigert wird: a) Versorgungsdienste zurückfahren; b) das Recht auf Privatsphäre einschränken, und wenn nötig, c) den Wohnsitz des Unerwachsenen wechseln.

Die Versorgungsdienste zurückfahren Die Reduktion der Versorgungsdienste wird zwar für die leichteste der drei Aufgabenkategorien gehalten, aber die Eltern können sie auch als schwierig erleben. Deshalb empfehlen wir, dass die Dienste stufenweise abgebaut werden, statt sie abrupt einzustellen. Wir raten auch, mit der Familie sorgsam die Reihenfolge und die Geschwindigkeit des allmählichen Zurückfahrens zu besprechen; denn jede Familie hat ihre eigene Auffassung von der Wichtigkeit und der Sinnhaftigkeit einer Versorgungsleistung und von den Kosten, wenn die Leistung eingestellt wird. Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit (es gibt eine unendliche Vielfalt elterlicher Versorgungsdienste), vermittelt aber eine Vorstellung von den wichtigen Bereichen, die zu beachten sind. Wäsche machen, kochen, putzen, einkaufen und Fahrdienste Die meisten Eltern würden der Aussage zustimmen, dass die regelmäßige Versorgung des Nesthockers mit diesen Diensten unangemessen sein kann. Wenn durch solche Versorgungsleistungen eine dysfunktionale Abhängigkeit befördert wird, dann ist ein guter Zeitpunkt gekommen, um die Dienste zu verringern oder zu beenden. Spricht man mit den Eltern über derlei Dienste, kommen

123

124

Die Intervention

wichtige Phänomene zum Vorschein, zum Beispiel das Narrativ der Totalverantwortung, infantilisierende Vorstellungen von den Fähigkeiten ihres erwachsenen Kindes und ihre Neigung, die Bedeutung des eigenen Handelns herabzumindern. So können die Eltern beispielsweise sagen: »Wäsche machen und kochen sind kein Problem, das mache ich sowieso für die ganze Familie!« oder: »Weshalb sollte ich sie/ihn nicht irgendwohin fahren? Ich habe Zeit, und wenn ich sie/ihn nicht irgendwohin fahre, bleibt sie/er die ganze Zeit in ihrem/seinem Zimmer«. Wenn der Therapeut die Eltern auffordert, über derlei Vorstellungen zu sprechen, können sie diese vielleicht verändern. Viele Eltern begreifen, dass die Handlungsfähigkeit ihres erwachsenen Kindes darunter leidet, wenn sie solche offensichtlich trivialen Aufgaben wie selbstverständlich übernehmen. Finanzielle Unterstützung geben Wenn dem Unerwachsenen die finanzielle Unterstützung gekürzt wird, ist das ein großer Akt des Versorgungsentzugs. Viele Eltern geben ihrem erwachsenen Kind monatlich ein Taschengeld, oftmals in Form eines Dauerauftrags bei einer Bank. Das Taschengeld kann schrittweise gekürzt und innerhalb von ein paar Monaten komplett gestrichen werden. Die finanzielle Unterstützung des erwachsenen Kindes kann auch so aussehen, dass die Eltern seine Kleidung, Ausgaben für Unterhaltung, Reisen oder Suchtmittel bezahlen oder Strafzettel, Autokosten, persönliche oder geschäftliche Schulden oder Anwaltskosten übernehmen. Die Unterstützer und Unterstützerinnen können den Eltern helfen, die mit dem finanziellen Versorgungsentzug verknüpften Spannungen zu entschärfen, indem sie dem Unerwachsenen Hilfe bereitstellen (vorzugsweise durch eine dritte Person), wie er einen finanziellen Sanierungsplan entwickeln kann. Wenn die Eltern früher für ausstehende Bankkredite ihres erwachsenen Kindes gebürgt haben, können sie sowohl die Bank als auch ihr Kind davon in Kenntnis setzen, dass sie für so etwas nicht mehr zur Verfügung stehen. Manchmal greifen die Eltern ein, damit der Unerwachsene seine Kreditkarte nicht verliert. In einem solchen Fall sagen wir ihnen, dass der Verlust der Kreditkarte die wichtige Konsequenz hat, dass der Unerwachsene seine finanzielle Verantwortung eben auf seine Weise erfahren muss.

Die Versorgungsdienste zurückfahren

Internet- und Mobilfunkverbindungen finanzieren Viele Eltern und ihre erwachsenen Kinder halten den Zugang zu Internet und Mobilfunk für die selbstverständlichste Versorgungsleistung überhaupt. Wenn die Eltern die regelmäßig anfallenden Kosten für Internet- oder Mobilfunkverträge des Unerwachsenen nicht mehr übernehmen oder das Mobilfunkkonto auf seinen Namen übertragen, können das kleine, aber höchst symbolische Schritte zum Versorgungsentzug sein. Falls der Unerwachsene internetsüchtig ist, müssen die Eltern vielleicht radikalere Maßnahmen ergreifen (siehe Kapitel 5, S. 163 ff.). Fragwürdige Gewohnheiten mitmachen Viele Eltern übernehmen die dysfunktionalen Gewohnheiten ihres erwachsenen Kindes und kooperieren mit ihm bei Zwangsritualen oder erlauben ihm, seine Mahlzeiten in seinem Zimmer einzunehmen. Um sich gegen derlei Gewohnheiten zu wehren, halten die Eltern es oftmals für notwendig, dessen Recht auf Privatsphäre zu beschneiden. Dem Unerwachsenen gestatten, das Elternhaus und seine Ausstattung zu missbrauchen oder zu kontrollieren Der Unerwachsene kann sein Elternhaus auf verschiedene Weisen für seine eigenen fragwürdigen Zwecke und zum Nachteil der anderen Familienmitglieder benutzen. Eine typische Situation ist die, dass erwachsene Kinder, die nur nachts aus ihrem Zimmer kommen, um sich geräuschvoll ein Nachtmahl zuzubereiten, die Küche der Eltern in großer Unordnung hinterlassen. Manche Unerwachsene nehmen die für die Familie vorgesehenen Bereiche in Beschlag und erklären diese gegenüber Geschwistern oder Eltern gelegentlich sogar zu »Verbotszonen«. Unerwachsene mit Zwangsstörungen benutzen das Elternhaus manchmal als Bühne für Zwangsrituale oder als Lagerraum. Wieder andere veranstalten Partys, wenn die Eltern weg sind, und brauchen deren Alkoholvorräte auf. Wenn die Eltern versuchen, ihr Zuhause zurückzuerobern, ist Unterstützung natürlich ein entscheidendes Moment.

125

126

Die Intervention

Das Bedürfnis des Unerwachsenen nach unbegrenzter Rückversicherung stillen oder Vorwurfstiraden entgegennehmen Viele Eltern stehen ihrem erwachsenen Kind rund um die Uhr zur Verfügung, um ihm unbegrenzte Rückendeckung zu geben. Die ständige Rückversicherung ist eine Form von Rundumversorgung, die mit dem Fortbestehen von Angststörungen verknüpft ist (Shimshoni et al., 2019). Man kann den Eltern dabei helfen, dass sie ihrem Kind nicht unaufhörlich Rückendeckung geben, indem sie eine übliche Wendung benutzen: »Du weißt, was ich denke. Ich diskutiere mit dir nicht mehr darüber« oder: »Ich gebe dir jetzt noch einmal eine kurze Antwort. Dann werde ich dir nicht mehr antworten«. Manche Eltern greifen zu dem Mittel, dass sie dem Unerwachsenen ankündigen, den Austausch miteinander auf ein kurzes Gespräch pro Tag zu beschränken und weitere Telefonanrufe 24 Stunden lang nicht anzunehmen. Eine besonders hinterhältige Interaktion ist die Inszenierung von ritualisierten Vorwurfstiraden, in denen die Eltern immer wieder beschuldigt werden, den Unerwachsenen zu dem gemacht zu haben, was er heute ist, und die implizite Botschaft mitschwingt, dass sie jetzt den Preis dafür zu zahlen hätten. Unabhängig davon, was die Eltern in der Vergangenheit ihrem Kind zugefügt haben oder nicht, hilft man ihnen zu verstehen, dass ihre grenzenlose Empfänglichkeit für derlei Anschuldigungen sowohl für sie selbst als auch für den Unerwachsenen zutiefst verletzend ist. So werden die Eltern bereit, sich zu schützen, ihre Reaktion auf diese Grübeleien einzuschränken und zu deren Abwehr Unterstützer hinzuziehen. In dem Zusammenhang können sie ihrem erwachsenen Kind ankündigen, sich nicht mehr auf solche Tiraden einzulassen und alle beschuldigenden Textbotschaften sofort an einen Unterstützer weiterzuleiten, der dann in ihrem Auftrag antworten wird. Statt also eine Antwort von seinen Eltern zu bekommen, erhält der Unerwachsene eine Antwort von einem Unterstützer. Danach wird diese Art von negativer Kommunikation weniger werden. Die Angst der Eltern überwinden helfen Alle diese Schritte zum Versorgungsentzug durch die Eltern kann deren Angstpegel in die Höhe treiben. Die Aufgabe der Therapeutin

Die Versorgungsdienste zurückfahren

oder des Therapeuten ist es, die Sorgen und Vorbehalte der Eltern anzusprechen und sie darauf vorzubereiten, was geschehen könnte. In diesem Gespräch werden oft wieder Aspekte aufgegriffen, die früher in der Therapie schon einmal thematisiert worden sind, doch dieses Mal beziehen sie sich auf spezielle Akte des Versorgungsentzugs. Durch die pragmatische Fokussierung auf die aktuelle Interventionsphase können die Eltern ihre Angst besser überwinden, als das in den früheren und allgemeineren Diskussionen der Fall war. Wenn solche Gespräche im Verlauf des konkreten Versorgungsentzugs stattfinden, verwandeln sich ungute Vorahnungen der Eltern in ein Gefühl, etwas geleistet zu haben. Unerwachsene reagieren ganz unterschiedlich auf die Entscheidung ihrer Eltern, ihre Dienste für ihn zu reduzieren. Manche versuchen, »die Rebellion der Eltern« durch Wutausbrüche zu unterdrücken, und verwüsten die Wohnung oder drohen mit Suizid. Manche beschuldigen die Eltern, sie verraten zu haben, und behaupten, dass das neuartige Vorgehen der Eltern alles nur noch schlimmer machen würde. Wieder andere versuchen, die Sache hinauszuzögern, und sagen, sie würden gern unabhängig werden, aber dies brauche eben Zeit, und sie würden diesen Prozess gern in ihrer eigenen Geschwindigkeit abwickeln, und die elterlichen Akte des Versorgungsentzugs machten alles nur schlimmer. Manche Unerwachsene reagieren so, dass sie die Schritte der Eltern zu ignorieren vorgeben, ziehen sich in ihr Zimmer zurück oder bleiben im Bett. Wie ein Unerwachsener auch immer reagiert und vorausgesetzt, die Eltern sind hinreichend entschlossen und konsequent in ihrem Handeln, wird er einsehen, dass sich die Räder in Bewegung gesetzt haben und dass der Zufluchtsort, den er sich gebaut hat, nie mehr derselbe sein wird. Die Weigerung der Eltern, dem Nesthocker ihre Rundumversorgung angedeihen zu lassen, nimmt Fahrt auf, und selbst seine krasseren Reaktionen können die Eltern zu weiteren Schritten des Widerstands einladen, vor allem dann, wenn sie bereit sind, das Zimmer ihres erwachsenen Kindes nicht mehr als sakrosankt zu betrachten.

127

128

Die Intervention

Das Recht auf Privatsphäre einschränken Tabus zu brechen, das verlangt Mut, aber wenn einmal das erste Tabu gebrochen wurde, ist es leichter, den nächsten Tabubruch zu begehen. Die Eltern haben schon die sakrosankte Linie der absoluten Privatsphäre überschritten, indem sie Unterstützer und Unterstützerinnen hinzugezogen haben. Auf diesen Tabubruch bezieht sich der Protest des Unerwachsenen: »Wie könnt ihr es wagen, mit Fremden über mein Privatleben zu reden?« Damit die Eltern sich gegen die Wut des Unerwachsenen wehren können, spricht der Therapeut mit ihnen über den Gedanken, dass die Privatsphäre kein prädestinierter einzelner Wert ist, sondern einer unter vielen. Die Privatsphäre sollte respektiert werden, aber nur so lange, wie sie nicht auf destruktive Weise beansprucht wird. Die Gesellschaft maßt für sich das Recht an, in Fällen von gewalttätigen oder anderen zerstörerischen Verhaltensweisen, zum Beispiel bei häuslicher Gewalt, das Recht auf Privatsphäre aufzuheben. Die gleiche Regel gilt, wenn der Unerwachsene seine Eltern oder Geschwister quält oder seine Privatsphäre für selbstzerstörerische Aktionen missbraucht. Wenn das Geheimnis der Familie durch die Einbindung von Unterstützern aufgebrochen wird, gerät der Unerwachsene darüber meistens in heftige Wut. Das kann unmittelbar dazu führen, dass er seine Eltern und die Unterstützer boykottiert. Doch in der Regel bleibt er mit einem oder zwei ausgewählten Unterstützern in Kontakt. Und nach und nach hebt der Unerwachsene seinen Boykott auf, besonders dann, wenn die Eltern und Unterstützer sich ihm gegenüber positiv verhalten. Auf diese Weise bekommen sowohl die Eltern als auch ihr erwachsenes Kind Hilfe, die vorher nicht möglich war. Die nächste Ebene, auf der das Recht auf Privatsphäre eingeschränkt wird, betrifft das Zimmer des Unerwachsenen, das sich meistens in einem chaotischen Zustand befindet. Viele erwachsene Kinder lagern in ihrem Zimmer zwischen Bett und Computer stapelweise Klamotten, Papiere, leere Essbehälter und Unrat. Viele von ihnen weigern sich nicht nur, ihr Zimmer sauber zu machen, sondern verbieten es auch anderen, das zu tun. Alle Versuche der Eltern, diese Situation zu ändern, stoßen auf grimmigen Widerstand. Wenn sie es irgendwie schaffen, das Zimmer ihres Kindes zu betreten,

Das Recht auf Privatsphäre einschränken

hören sie den entsetzten Schrei: »Raus aus meinem Zimmer!« Dieser Befehl erschallt dann in einem besonders entrüsteten Ton. Die Eltern verfallen angesichts eines solchen Anspruchs auf ein absolutes Recht oft in bestürztes Schweigen. Manche sagen: »Aber er hat recht! Das ist sein Zimmer!« Dann sollte der Therapeut antworten: »Es ist nicht nur sein Zimmer. Es ist sein Zimmer in Ihrem Haus!« Anders ausgedrückt: Das Zimmer des Unerwachsenen ist sein Zimmer nicht im Sinne eines unveräußerlichen Besitzes, sondern in einem bedingten Sinn, nämlich als ein Recht, das die Eltern unter Erfüllung bestimmter Bedingungen dem Unerwachsenen zugestehen. Fast alle Eltern sind sich darin einig, dass das Recht ihres Kindes auf ein eigenes Zimmer so lange respektiert werden sollte, wie der Raum nicht auf destruktive Weise genutzt wird. Wenn das erwachsene Kind diese Bedingung verletzt, haben die Eltern nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, das absolute Recht auf Privatsphäre in seinem Zimmer aufzukündigen. Aus diesem Gedanken erwächst der Plan, wie die von dem Unerwachsenen schändlich missbrauchte Privatsphäre eingeschränkt werden kann. Als Erstes empfehlen wir den Eltern, das Zimmer ihres erwachse­ nen Kindes dreimal täglich zu betreten und jeweils zehn Minuten lang darin zu bleiben. Sie können versuchen, mit ihrem Kind ein Gespräch anzufangen, oder sie sagen gar nichts. Wenn der Unerwachsene fragt, was sie da machen, können sie sagen: »Dein Zimmer ist ein Teil unserer Wohnung!« Weitere Erklärungen sind nicht notwendig. Die Eltern sollten, wie vorgesehen, zehn Minuten im Zimmer bleiben, selbst wenn der Unerwachsene den Raum verlässt. Sie können versuchen, ein bisschen Ordnung in das Chaos zu bringen, oder eine Botschaft schreiben, die sie auf dem Computertisch hinterlassen. Solche Aktionen erinnern daran, dass die Eltern präsent sind. Oftmals protestiert der Unerwachsene, dass das nicht nur die Wohnung der Eltern sei, sondern auch seine. Dann können die Eltern sagen: »Du bist unser Kind, und du kannst gern bei uns wohnen. Aber das ist unser Haus!« Manchen Eltern fällt die Übermittlung dieser Botschaft nicht leicht. Diese zögerliche Haltung kann der Therapeut oder die Therapeutin als Hinweis deuten, dass man darüber sprechen muss, wie sehr die Eltern im Hintergrund verschwunden sind und wie wich-

129

130

Die Intervention

tig es ist, dass sie ihre Präsenz, ihre Stimme und ihre Rechte wieder beanspruchen. Am Ende gelingt es eigentlich allen Eltern, nicht nur zu sagen, dass das ihre Wohnung oder ihr Haus ist, sondern sich auch mit dieser einfachen Wahrheit zu identifizieren. Wenn der Unerwachsene sein Zimmer abschließt und den Eltern den Zutritt verweigert, ist es vielleicht erforderlich, das Türschloss auszubauen. Dazu braucht es die Hilfe der Unterstützer und Unterstützerinnen. Sie können dem erwachsenen Kind sagen, dass die Eltern das Schloss ausbauen lassen, wenn die Tür verschlossen bleibt. Wenn sich der Unerwachsene in seinem Zimmer verbarrikadiert, indem er Möbel gegen die Tür rückt, können die Eltern die Tür entfernen lassen. Das kann eine zeitweilige Maßnahme sein oder dazu führen, dass das erwachsene Kind seinen Auszug beschließt. Die Unterstützerinnen und Unterstützer können bei diesem Übergang helfen, indem sie dem Unerwachsenen zum Beispiel eine vorübergehende Unterkunft anbieten. Dieser benimmt sich im Haus eines Unterstützers auf eine weitaus reifere Art und Weise. Die Übergangsbleibe ist folglich ein wichtiger Schritt zu einer funktionaleren Abhängigkeit. Der Aufenthalt im Haus eines Verwandten ist meistens begrenzt und kann als Phase des Übergangs zu einer dauerhafteren Lösung dienen. In dieser Zeit sollten die Gastgeber des Unerwachsenen dazu eingeladen werden, an einer oder zwei Therapiesitzungen teilzunehmen. In allen von uns behandelten Fällen hat sich ein vorübergehender Wohnungswechsel als recht vorteilhaft herausgestellt. Die Eltern staunen oft darüber, wie herzlich, rücksichtsvoll und angenehm der Unerwachsene zu anderen Menschen sein kann, während er sich ihnen gegenüber abscheulich benimmt. In den seltenen Fällen, in denen sich das erwachsene Kind im Haus von Verwandten schlecht benimmt, können andere Unterstützer hinzugezogen werden; dies führt meistens zu einer rapiden Verbesserung. Es scheint, als ob die dysfunktionalen Verhaltensweisen des Unerwachsenen nicht genug Zeit gehabt hätten, sich in der neuen Umgebung zu verwurzeln, und noch viel stärker von externen Faktoren beeinflusst sind, als das im Elternhaus der Fall war. In den meisten Fällen führen die elterlichen Besuche im Zimmer des Unerwachsenen jedoch nicht zu einem Wohnungswechsel.

Den Wohnsitz des Unerwachsenen wechseln

Manchmal reagiert der Unerwachsene so, dass er sein Zimmer verlässt und die Präsenz der Eltern zu ignorieren versucht. Manchmal beschädigt das erwachsene Kind mutwillig die Räume der Eltern. Ihnen hilft man dann damit, dass sie unter beharrlichem Einsatz ihren gewaltlosen Widerstand entfalten können: Sie dokumentieren den angerichteten Schaden und rufen die Unterstützer, soziale Dienste oder die Polizei herbei. Mit dieser Grundhaltung kann die Gewalttätigkeit gestoppt und der Weg für die Aushandlung neuer Regeln bereitet werden. Wenn die Eltern ihre Versorgungsdienste und gegebenenfalls auch das Recht des Unerwachsenen auf Privatsphäre einschränken, wird die Handlungskompetenz von Unerwachsenen in vielen Fällen größer. Gewalttätigkeiten, Demütigungen gegenüber den Eltern und Eskalationen werden weniger. Die positive Seite der Eltern-KindBeziehung, die zuvor in der Schwebe war, kommt wieder zum Vorschein. Viele erwachsene Kinder beginnen dann, sich im elterlichen Haushalt und an den Lebenshaltungskosten zu beteiligen. Andere fangen an zu studieren, suchen sich eine Arbeitsstelle und nehmen Kontakt zu anderen Menschen auf. Doch manchmal wird die Handlungsfähigkeit des Nesthockers nicht besser; denn er scheint mit den Schritten der Eltern allzu locker umzugehen und verharrt weiterhin in tiefer Passivität. Dann ist es vielleicht notwendig, die nächste Ebene der Ablösung anzusteuern und den Unerwachsenen zum Auszug aus dem Elternhaus zu bewegen.

Den Wohnsitz des Unerwachsenen wechseln Will der Therapeut den Eltern bei dieser wichtigen Entscheidung beistehen, braucht er Geduld, Feingefühl und Empathie. Die meisten Eltern wissen eigentlich, dass ihr erwachsenes Kind außerhalb des Elternhauses handlungsfähiger sein kann. In vielen Fällen hat ihr Kind das in der Vergangenheit schon bewiesen. In einigen Fällen war die Rückkehr des Unerwachsenen ins Elternhaus ein schwerer Rückschlag für seine Handlungskompetenz. Für einen resilienteren jungen Menschen kann eine vorübergehende Rückkehr ins Elternhaus nach lebensverändernden Ereignissen (z. B. Abschluss

131

132

Die Intervention

des Studiums, Ende einer Ehe, Arbeitsplatzverlust, Entlassung aus dem Militärdienst) eine Phase der Erholung sein. Doch für die Unerwachsenen, über die wir hier sprechen, stellt das Elternhaus vielleicht kein Sprungbrett dar, sondern eine problematische Rückkehr ins Nest. Wie im Tierreich verlassen manche Vögel ihr Nest von selbst, manche brauchen dabei Hilfe. Einigen Eltern mag der Akt des Loslassens wie ein Rauswurf erscheinen. Sie zucken schon bei der bloßen Erwähnung dieser Möglichkeit vor Entsetzen zurück: »Was denn, soll ich ihn/sie aus dem Haus werfen?« Dem Aufenthalt des Unerwachsenen im Elternhaus ein Ende zu machen, das ist natürlich die weniger leichte Option im Prozess des Versorgungsentzugs. Einen solchen Schritt unternimmt man erst dann, wenn die Möglichkeiten, die Versorgungsdienste zurückzufahren und das Recht auf Privatsphäre einzuschränken, ausgeschöpft sind. In der Abwägung, ob eine separate Wohnung notwendig ist oder nicht, sollten der Therapeut und die Eltern sich mehrere Fragen stellen: Haben die bis jetzt unternommenen Schritte zu einer funktionaleren Abhängigkeit geführt? Gibt es Anzeichen dafür, dass die Beziehung des Unerwachsenen zu den anderen Familienmitgliedern besser geworden ist, dass er sich stärker im Haushalt beteiligt, Kontakte zu anderen Menschen aufnimmt oder sich eine Arbeitsstelle sucht? Liegen solche Hinweise auf Fortschritte vor, gibt es keinen Grund, dem Unerwachsenen Druck zu machen. Die genannten Vorgänge können dann dazu führen, dass entweder der Unerwachsene das Elternhaus auf eigene Initiative verlässt oder die Situation sich so weit normalisiert, dass das Zusammenwohnen zu einer akzeptablen Lebensform wird. Doch fehlende Fortschritte oder die fortgesetzte Abschottung des Unerwachsenen legen nahe, dass der Kern des Problems im Zusammenleben von Eltern und ihrem erwachsenen Kind liegt. In diesem Fall ist der problematische Versorgungsdienst, den die Eltern leisten und der geändert werden muss, das Zusammenleben selbst. Dann sollten die Eltern dem Unerwachsenen offiziell mitteilen, dass sie nicht mehr mit ihm unter einem Dach wohnen wollen, und ihm offen und ehrlich sagen: »Wir meinen, dass du komplett von uns abhängig sein wirst, solange du noch bei uns wohnst. Wir wissen zwar nicht, ob du außerhalb des Elternhauses handlungs-

Den Wohnsitz des Unerwachsenen wechseln

fähiger bist, aber wir wollen nicht die Voraussetzungen dafür schaffen, dass du weiterhin so passiv bleibst.« Das ist eine ganz andere Aussage als die: »Wir machen das nur in deinem eigenen Interesse!« Eine solche Erklärung würde wahrscheinlich den weiteren Widerspruch des Unerwachsenen provozieren; denn niemand möchte von einem anderen gesagt bekommen, was zu seinem Besten ist oder nicht. Vorzugsweise können die Eltern ihre Mitteilung sehr kurz fassen: Sie wollen nicht diejenigen sein, die dem Unerwachsenen seine fortgesetzte Passivität ermöglichen. Gegen diese Botschaft kann er sich nicht so leicht zur Wehr setzen oder sie zurückweisen. Selbst wenn der Unerwachsene andeutet, dass ihn das alles nicht kümmert, können die Eltern zeigen, dass es ihnen ganz wichtig ist. Als letzten Ausweg können die Eltern dem Unerwachsenen noch eine andere Wahrheit erzählen: »Auch wenn du mit uns nicht einer Meinung bist, aber wir möchten unsere Wohnung nicht mehr auf Dauer mit jemandem teilen. Wir sind jetzt über 60, unsere Bedürfnisse und Vorlieben haben sich verändert, wir brauchen unsere Ruhe und Privatsphäre.« Danach teilen die Eltern dem Unerwachsenen entweder unter vier Augen oder durch einen Mediator mit, dass sie ihm ihre Hilfe und Unterstützung nicht vorenthalten würden. Doch werde ihre Hilfe neue Formen annehmen. Der Therapeut oder die Therapeutin bespricht mit den Eltern, wie sie ihrem erwachsenen Kind helfen können, eine neue Bleibe zu finden und vielleicht zu finanzieren. Dieses Gespräch ist sehr wichtig, weil das Gefühl der Eltern, ihr Kind aus dem Elternhaus zu werfen, thematisiert werden muss. Ihre Bereitschaft, ihrem Kind direkt oder durch die Unterstützerinnen und Unterstützer zu helfen, verwandelt den »Rauswurf« in ein »graduelles Hinausheben«. Die Eltern bedürfen nicht der Zustimmung des Unerwachsenen. Sie unternehmen Schritte, um das Zusammenleben zu beenden. Viele Eltern fragen sich, was letztlich passiert, wenn ihr er­ wachse­­nes Kind seinen Auszug schlicht und einfach verweigert. Auf der Basis zahlreicher Fälle antworten wir darauf, dass dies selten geschieht. Wenn die Eltern wirklich reif dafür sind, ihre erwachsenen Kinder in die Welt zu schicken, bleiben diese selten im Elternhaus wohnen. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass der

133

134

Die Intervention

Nesthocker sich weiterhin weigert auszuziehen, können die Unterstützer hinzugezogen werden und ihm sagen, dass sie ihm helfen würden, er aber aus dem Elternhaus ausziehen müsse. In seltenen Fällen sollten soziale Dienste oder die Polizei involviert werden. Fast immer hat der Unerwachsene das Elternhaus schließlich verlassen, wenn das zu einem zentralen Ziel der Behandlung erklärt wurde. In einigen von uns behandelten Fällen sind die Eltern in ein Haus oder eine Wohnung gezogen, wo kein Platz für den Unerwachsenen war. Manchmal fing der Unerwachsene an, eine größere Handlungskompetenz zu zeigen, nachdem die Eltern Schritte unternommen haben, ihn zum Auszug aus dem Elternhaus zu bewegen. In einigen Fällen wurde sogar eine gewisse Balance erreicht und die dysfunktionale Abhängigkeit in der Familie so stark abgebaut, dass die Eltern ihre Entscheidung rückgängig machen wollten. Doch mithilfe der Unterstützer und Unterstützerinnen machten sie ihrem erwachsenen Kind klar, dass sie nicht zu dem früheren Zustand zurückkehren würden. Manchmal führt die Entscheidung, das Zusammenleben von Eltern und erwachsenem Kind zu beenden, zu weiteren Verän­ derungen. Einige Unerwachsene waren schließlich damit einverstanden, psychiatrische Hilfe anzunehmen, die sie bis dahin erbittert verweigert hatten. Einige überzeugten ihre Eltern, dass sich ihre Lage durch die Suche nach Arbeit verbessern würde, so dass die Eltern bereit wurden, sich weiter zu gedulden. Doch häufiger wurde die Entscheidung der Eltern, dass ihr erwachsenes Kind das Elternhaus verlassen soll, innerhalb von ein paar Monaten bis zu einem Jahr in die Tat umgesetzt. Nachdem der Unerwachsene das Elternhaus verlassen hat, wird die Therapie der Eltern fortgesetzt. Wichtig ist, die Angst der Eltern um ihr erwachsenes Kind zu beschwichtigen und über die Art von Beistand, die sie ihm zukommen lassen sollten oder nicht, zu sprechen. Manche Eltern kaufen für ihr Kind dann immer Lebensmittel ein und füllen sogar seinen Kühlschrank auf. Manche Eltern sind außerordentlich besorgt darüber, wie der Unerwachsene seine freie Zeit verbringt, und versuchen, von Nachbarn oder Freunden des Unerwachsenen Informationen zu bekommen. In dieser Phase der

Die Abschlussphase

Behandlung ist es eine wichtige Aufgabe des Therapeuten, sich mit derlei Reaktionen der Eltern zu befassen und sie zu motivieren, ihre Versorgungsleistungen weiter einzuschränken. Manche erwachsene Kinder, besonders die handlungsfähigeren unter ihnen, halten ihre Aktivitäten vor den Eltern geheim und begründen dies so, dass mit ihrer zunehmenden Unabhängigkeit von den Eltern diese sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollten. Der Wunsch des Unerwachsenen nach Privatsphäre kann auch auf seine Verstimmtheit oder Wut zurückzuführen sein. Dadurch, dass der Unerwachsene die Eltern über seine Aktivitäten im Dunkeln lässt, bestraft er sie vielleicht dafür, dass sie ihn aus dem Elternhaus geworfen haben. In vielen Fällen lässt diese Wut schließlich nach und macht einer angemesseneren und vielleicht sogar liebevollen Eltern-Kind-Beziehung Platz.

Die Abschlussphase Der Therapieansatz des gewaltlosen Widerstands für Eltern, deren Beziehung zu ihrem erwachsenen Kind von einer dysfunktionalen Abhängigkeit geprägt ist, ist ohne vorgegebenes Ende. Zeitweise ist eine Follow-up-Sitzung pro Monat oder alle zwei Monate empfehlenswert. Darüber hinaus sollte die Therapeutin oder der Therapeut mit den Eltern besprechen, unter welchen Bedingungen sie die Therapie kurzfristig wieder aufnehmen möchten. Wenn der Unerwachsene beispielsweise in einer Krise ist, in eine Klinik eingewiesen wird, den Arbeitsplatz verloren hat oder außergewöhnliche Geldforderungen an die Eltern stellt, kann das einen so starken Druck erzeugen, dass sich die dysfunktionale Abhängigkeit wieder herausbildet. Derlei Eventualitäten sollten während der Abschlussphase besprochen werden. Die Therapie geht meistens ihrem Ende entgegen, wenn ein gewisses Gleichgewicht erreicht ist, bei dem die dysfunktionale Abhängigkeit von einem funktionaleren Muster abgelöst wird. Anzeichen dafür könnten sein, dass Gewalttätigkeit und emotionale Erpressung aufhören, die elterlichen Versorgungsdienste zurückgefahren werden und das erwachsene Kind wieder gängige beruf-

135

136

Die Intervention

liche und soziale Aktivitäten aufnimmt. Die Therapie kann auch dann beendet werden, wenn das erwachsene Kind das Elternhaus verlässt, die Eltern mit ihren damit verbundenen Ängsten umgehen und einen Rückfall in die Falle der Rundumversorgung abwehren können. Wenn der Unerwachsene weiterhin im Elternhaus wohnt, geht eine wichtige Überlegung dahin, ob das Haus auch wirklich kein stagnierender »morbider Unterschlupf« mehr ist. Das bedeutet, dass er an den Aktivitäten der Familie teilnimmt, sich nicht mehr in sein Zimmer einschließt und dieses kein Versteck mehr, sondern ein Teil des Hauses oder der Wohnung ist. Über solche Veränderungen muss der Therapeut mit den Eltern rückblickend sprechen. Die Eltern sollten darin geschult werden, Anzeichen von Gefahren zu erkennen, damit sie rechtzeitig darauf reagieren können. Optimal ist es, wenn die Eltern und der Therapeut oder die Therapeutin gemeinsam entscheiden, die Therapie zu beenden. Manchmal sagen die Eltern eine Sitzung ab und machen keinen neuen Termin, sobald ein gewisser Fortschritt erkennbar ist. In solchen Situationen sollte der Therapeut eine weitere Sitzung anberaumen, um darü­ber zu sprechen, was erreicht worden ist und wie unerwünschte Entwicklungen verhindert werden können. Wir sind nicht der Meinung, dass es Aufgabe des Therapeuten ist, die Eltern zu einer Fortsetzung der Therapie zu überreden. Selbst wenn der Therapeut die Beendigung der Therapie für verfrüht hält, ist es besser, den elterlichen Wunsch nach Beendigung zu berücksichtigen und diesen als Ausdruck ihres Bedürfnisses nach einer wohlverdienten Ruhepause zu betrachten. Das, was die Eltern bis dahin erreicht haben, lässt sich gut einschätzen, wenn der Therapeut mit ihnen die Aufzeichnungen aus der ersten Therapiesitzung noch einmal durchgeht. So bekommen sie eine gute Sicht auf ihre Fähigkeit, Widerstand zu leisten und ihre Versorgungsdienste abzubauen, sowie auf die Handlungskompetenz ihres Kindes. Auch die Besinnung auf die Umstände, unter denen die Eltern zur ersten Sitzung gekommen sind, gibt ihnen eine klare Erinnerung daran, was verhindert worden ist. Doch nicht jede Therapie findet ein glückliches Ende. Manchmal kommen die Eltern zu einer oder zwei Sitzungen und ziehen dann den Schluss, dass diese Art von Behandlung für sie unpassend ist

Die Abschlussphase

oder dass sie noch nicht bereit dafür sind. Manchmal scheinen die Eltern zwar willens zu sein, doch die Therapie schleppt sich dahin, ohne dass konkret etwas passiert. Das rührt oftmals daher, dass ein Elternteil oder beide Eltern nicht zum Versorgungsentzug bereit sind. Wenn der Therapeut auch durch gutes Zureden bei ihnen nichts erreicht, kann es ratsam sein, den Eltern zu sagen, dass zumindest vorläufig ein Fortschritt nicht möglich erscheint. Manchmal stößt diese aufrichtige Vermutung bei den Eltern erste Schritte an, durch die die Therapie wieder auf Kurs gebracht wird. Insgesamt niedrig ist der Anteil der Eltern, die sich auf die Therapie nicht einlassen oder mitten in der Behandlung aufgeben. Rückblickend möchten wir mit einer Liste von positiven Veränderungen schließen, die erwartbar sind, wenn die in diesem Kapitel beschriebenen Schritte unternommen werden: Ȥ Wenn die Eltern ihrem erwachsenen Kind weniger Versorgungsdienste angedeihen lassen, als es seinem Alter angemessen ist, erlangt es größere Handlungskompetenz. Ȥ Wenn die Eltern fähiger werden, sich gegen ihr erwachsenes Kind zur Wehr zu setzen, nehmen an die Eltern gerichtete Gewalttätigkeiten, Erpressungen und Demütigungen ab. Ȥ Wenn die Eltern ihre Selbstkontrolle steigern, gibt es weniger Konflikte mit ihrem erwachsenen Kind. Ȥ Wenn die Eltern damit aufhören, sich zu rechtfertigen, oder ihre Schuldgefühle Schritt für Schritt beruhigen lernen, gibt es weniger Vorwürfe von Seiten des Unerwachsenen. Ȥ Je stärker sich die Eltern auf ihre eigenen Bedürfnisse konzentrieren, desto mehr handelt das erwachsene Kind so, dass die elterlichen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Ȥ Je weniger die Eltern ihrem erwachsenen Kind permanent Rückversicherung geben, desto eher entwickelt es Möglichkeiten, die eigenen Emotionen zu regulieren. Ȥ Wenn die Eltern ihren Wunsch aufgeben, das Leben des Uner­ wachsenen zu steuern, findet er gangbarere Wege, sein Leben in den Griff zu bekommen. Ȥ Wenn die Eltern den Umgang mit Schamgefühlen lernen und den Schleier der Geheimnistuerei lüften, dann leiden sie und ihr erwachsenes Kind weniger unter der Isolation.

137

138

Die Intervention

Ȥ Wenn die Eltern Unterstützung annehmen können, werden ihre Hilflosigkeit und ihre Impulsivität abgefedert. Ȥ Wenn die Eltern aufhören, dem Unerwachsenen seine Gedanken, Gefühle oder Handlungen vorzuschreiben, ist er eher imstande, eigenständig zu denken, zu fühlen und zu handeln.

Kapitel 4 Suiziddrohungen

»Unser Sohn ist 26. Er arbeitet nicht und studiert nicht. Er wohnt bei uns und verbringt fast die ganze Zeit abgeschottet in seinem Zimmer. Er vermeidet es, mit uns zu reden, und antwortet nur einsilbig, wenn wir ihn ansprechen. Wenn wir ihn nach seinen Zukunftsplänen fragen, sagt er zu uns, wir sollten ihn allein lassen, dass er nicht einmal sicher sei, überhaupt weiterleben zu wollen, und dass wir ihn nur noch näher an den Rand brächten, wenn wir ihn unter Druck setzen.« »Unsere 16-jährige Tochter hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Obwohl sie Freunde hat und eine gute Studentin ist, ist sie neuerdings zurückgezogen, weint viel und malt höchst beunruhigende Bilder. Sie hat auf Facebook eine Botschaft gepostet, in der sie ihren Freunden Lebewohl sagt. Eine ihrer Freundinnen war darüber besorgt und hat uns angerufen. Wir haben nach ihr geschaut und haben sie im Keller gefunden, wo sie gerade ein Nylonband um einen Haken in der Decke wickelte.« »Unsere 24-jährige Tochter ist ausgebildete Lehrerin und hat zwei Jahre lang in einer Grundschule gearbeitet. Vor einem Jahr hat sie ihre Stelle aufgegeben und seither keine neue Arbeit gesucht. Sie lebt im Eltern­ haus, hilft aber nicht im Haushalt mit und nimmt auch nicht am Familien­ leben teil. Sie sagt, sie könne sich in der hochgradig auf Wettbewerb ausgerichteten Welt draußen nicht wiederfinden. Jedes Mal, wenn wir überlegen, dass wir sie auffordern sollten, eine Arbeitsstelle zu finden, sind wir besorgt, sie könnte sich etwas antun.«

140

Suiziddrohungen

Der Schatten des Suizids in Familien mit dysfunktionaler Abhängigkeit Diese Fälle zeigen, in welch unterschiedlichen Formen die Suiziddrohungen in den von uns behandelten Familien auftreten. Die erste Form ist eine ganz allgemeine Drohung, um die Eltern in Schach zu halten. Die zweite Form ist ein ernsthafter Versuch, dessen Umsetzung die Eltern im letzten Moment verhindern konnten. Die dritte Form beinhaltet zwar keine explizite Drohung, aber die Eltern sind doch besorgt. In den meisten hier beschriebenen Fällen ist der Schatten eines Suizids immer präsent, auch wenn ihr erwachsenes Kind das niemals ausdrücklich erwähnt. Als wir anfingen, therapeutisch mit den Eltern zu arbeiten, die adoleszente und erwachsene Kinder hatten und deren Beziehung zueinander von dysfunktionaler Abhängigkeit geprägt war, wurde bald deutlich, dass explizite wie implizite Suiziddrohungen der jungen Menschen die Familien vor große Herausforderungen stellten. Überrascht mussten wir erkennen, dass es trotz einer umfangreichen Literatur über Suizid nur sehr wenig darüber gibt, wie man auf Suiziddrohungen reagiert. Mit unserem therapeutischen Ansatz wollen wir den Eltern helfen, sowohl die Wucht als auch das Risiko der Drohungen zu verringern. Mit dem Begriff »Wucht« meinen wir die von der Drohung ausgehende zwingende Auswirkung, dass die Eltern bis zur Unterwerfung eingeschüchtert werden und das Familienklima vergiftet wird. Viele Eltern glauben, dass die Gefahr der Selbsttötung nur dadurch reduziert werden kann, dass sie die Erwartungen ihres Unerwachsenen erfüllen. Ihrer Auffassung nach gibt es keine andere Option, dem Zwang und dem Risiko zu begegnen. Wir sind der gegenteiligen Ansicht: Der beste Weg, das Suizidrisiko zu mindern, ist auch der beste Weg, den Zwang zu reduzieren. Zwischen der zwingenden Wucht von Suiziddrohungen und dem Selbsttötungsrisiko besteht eine Wechselwirkung, und zwar die, dass die elterliche Willfährigkeit in die Eskalation mündet. Batesons (1985) klassische Analyse führte zu der Erkenntnis, dass eine Eskalation symmetrischer oder komplementärer Natur sein kann. Bei der symmetrischen Eskalation sind die beiden Seiten gespiegelt: Schreien

Der Schatten des Suizids in Familien mit dysfunktionaler Abhängigkeit

führt zu weiterem Schreien, Schläge zu weiteren Schlägen und Drohungen zu weiteren Drohungen. Der Konflikt eskaliert, weil jede Seite glaubt, sie müsse lauter brüllen, heftiger schlagen oder stärker drohen als die andere Seite. Die komplementäre Eskalation folgt der Logik der Erpressung: Sich den Drohungen fügen steigert das Risiko, dass der Erpresser sowohl seine Forderungen als auch seine Drohungen erhöht, die notwendig sind, damit die fortgesetzte Willfährigkeit des Opfers gewährleistet ist. Die Gefahr beider Eskalationsarten ist größer als die Summe ihrer Teile, denn symmetrische und komplementäre Eskalation potenzieren sich wechselseitig. So führt zum Beispiel die kontinuierliche Frustration über die eigene Unterwerfung (komplementäre Eskalation) zu Ausbrüchen gegen die erpressende Partei, was Anfälle von symmetrischer Eskalation auslöst. Am Ende erhöhen sich die Einsätze immer mehr. Die einzige Möglichkeit, diese Spirale zu bremsen, ist die, dass man sich auf nichteskalierende Weise gegen die Drohung wehrt. Genau das ist das Ziel des Konzepts des gewaltlosen Widerstands. Ein weiterer Grund, weshalb das Nachgeben bei Suiziddrohungen tendenziell das Suizidrisiko erhöht, ist, dass die Dysfunktion des erwachsenen Kindes durch die elterliche Rundumversorgung verstärkt wird. Und wenn der Unerwachsene weniger handlungsfähig ist, verschärfen sich seine Verzweiflung und Isolation noch mehr. Unser Ziel ist es, diesen heimtückischen Prozess umzukehren. Es ist genau dieser Charakter einer suizidalen Krise, der die Einbeziehung von Unterstützern in ein Familiensystem rechtfertigt, zu dem bis dahin Hilfe von außen nicht durchdringen konnte. Auch wenn der Unerwachsene wütend darauf reagiert, so verändert sich die Familienkonstellation, wenn Unterstützer hinzugezogen werden. Vielleicht sind die Eltern über die Reaktion ihres erwachsenen Kindes zuerst beunruhigt, aber das kann sich schnell ändern, wenn die Unterstützer und Unterstützerinnen destruktive Reaktionen eindämmen helfen. Wir kennen keinen einzigen Fall, in dem die geplante Einbindung von Unterstützern einen Suizidversuch provoziert hätte. Dagegen erhöht sich das Risiko so lange, wie die Familie in ihrer Blase verbleibt. Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb der Schatten der Selbsttötung permanent über solchen Familien schwebt, deren Be-

141

142

Suiziddrohungen

ziehungsmuster von dysfunktionaler Abhängigkeit geprägt ist. Die Abhängigkeitsbindung setzt sich aus zahllosen »Rettungsakten« zusammen. Im Inneren des Bandes befindet sich eine starke Überzeugung, wonach die Existenz des Unerwachsenen mit den Handlungen verknüpft ist, die auszuführen die Eltern sich verpflichtet fühlen. Diese sehen sich als Garanten der Existenz ihres Kindes. Banale Fragen, wie sie in anderen Familien gestellt werden, zum Beispiel »Sollen wir ins Kino gehen?« oder: »Wohin sollen wir in den Ferien fahren?«, können in solchen Familien als Fragen über Leben und Tod erfahren werden. Diesen Eltern zu helfen, sich von ihrer untragbaren Bürde zu befreien, ist ein Hauptziel unserer therapeutischen Arbeit. Wenn die Therapie nach dem Ansatz des gewaltlosen Widerstands abgeschlossen ist, stellt die Erleichterung der Eltern darüber, dass sie kleine Dinge tun können, die in anderen Familien für selbstverständlich gehalten werden, eine unserer Belohnungen dar.

Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen Das Konzept des gewaltlosen Widerstands konzentriert sich auf Drohungen, die in einem Kontext der Einschüchterung entstehen. Die Drohung kann expliziter (der Unerwachsene droht, dass er sich umbringen wird, wenn die Eltern dieses oder jenes tun bzw. nicht tun) oder impliziter (das erwachsene Kind lässt die Andeutung Selbsttötung durchblicken) Natur sein. Wenn der Unerwachsene die Eltern einschüchtert, heißt das nicht notwendigerweise, dass seine Drohung rein demonstrativer Art ist. Wir sind der Auffassung, dass jede Drohung ein Risiko darstellt und dass durch eine Nichtbeachtung der Drohung das Risiko in der Tat größer werden kann. Im Rahmen des gewaltlosen Widerstands helfen wir den Eltern, auf eine Drohung ihres Kindes so zu reagieren, dass sie nicht als rein demonstrativ etikettiert und ihrer zwingenden Wucht doch etwas entgegengesetzt wird. Eine Suiziddrohung hat zweifellos einen Zwangscharakter; denn sie droht nicht nur die momentane Interaktion zu beenden, sondern auch alle zukünftigen Interaktionen. Sie ist buchstäblich das

Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen

»letzte Wort«. Wir halten Suiziddrohungen für die gewalttätigste Form der Kommunikation. Die Tatsache, dass das vorgesehene Objekt der Gewalttätigkeit das erwachsene Kind ist, das die Drohung ausspricht, mindert in keiner Weise die Wucht der Botschaft. Der Unerwachsene droht, mit einem Schlag sein eigenes Leben und das seiner Eltern zu zerstören. Die Eltern reagieren auf Suiziddrohungen oft mit Panik, schlagen um sich, blenden die Drohung aus oder verharren in Passivität. Solche Reaktionen haben mehrere Schattenseiten. Durch Panik werden der Erregungszustand und die fehlende Kontrolle noch gesteigert (Lebowitz u. Omer, 2013); wenn die Eltern um sich schlagen oder sich der Situation ergeben, eskaliert der Konflikt (Omer u. von Schlippe, 2011); und wenn sie in Passivität verharren, die Drohung ignorieren oder herunterspielen, bleibt ihr Kind mit dem Gefühl zurück, nicht unterstützt zu werden. Alle diese elterlichen Reaktionen sind mit einem Suizidrisiko in Zusammenhang gebracht worden (Daniel u. Goldston, 2009; Dube, Anda, Felitti, Chapman, Williamson u. Giles, 2001; Fergusson, Woodward u. Horwood, 2000; Johnson, Cohen, Gould, Kassen, Brown u. Brook, 2002; Wagner, Silverman u. Martin, 2003). Die meisten Therapieprogramme, bei denen die Eltern einbe­ zogen werden, zielen darauf ab, die Kommunikation innerhalb der Familie zu verbessern, positive Interaktionen auszuweiten und das Band zwischen Eltern und Kind zu stärken (z. B. Diamond, Diamond, Levy, Closs, Ladipo u. Siqueland, 2011; 2010; Hooven, 2013; ­Stanley et al., 2009). Diese Ziele sind wichtig, denn die Literatur belegt, dass suizidale Kinder und ihre Eltern in diesen Bereichen ernsthafte Defizite aufweisen (Kashani, Goddard u. Reid, 1989; Wagner et al., 2003). Wir sind jedoch der Meinung, dass in den meisten dieser Programme einige Probleme nicht angesprochen werden. Junge Menschen mit Suizidgedanken verschließen sich oft einer Behandlung (Wyman et al., 2008; Carlton u. Deane, 2000); die Eltern sind in tiefer Verzweiflung und sollten um ihrer selbst willen als Klienten betrachtet werden; wenig Aufmerksamkeit erhält die mit der Drohung verbundene Interaktion, die an sich schon ein Risikofaktor darstellt, und vernachlässigt wird auch die Frage, wie Eltern das destruktive Potenzial dieser Interaktion entschärfen können.

143

144

Suiziddrohungen

Im Kopf eines Menschen, der mit Selbsttötung droht, findet ein interner Streit über Leben und Tod statt. Shneidmans (1985) fruchtbare Suizidtheorie beruht auf dieser Prämisse. Er verortet diesen inneren Dialog im »inneren Parlament« der suzidgefährdeten Person und geht davon aus, dass die lebensbejahenden Stimmen wahrscheinlich die Oberhand haben, solange der Suizid nicht durchgeführt worden ist. Wenn die drohende Person angegriffen wird, die Eltern passiv bleiben oder die Drohung ignorieren, könnte das die »Suizidfraktion« im »inneren Parlament« stärken. Aufgrund des von Suiziddrohungen ausgehenden Drucks ist ein zweiphasiger Ansatz erforderlich: eine Phase der Eindämmung, in der die Eltern mit der unmittelbaren Krise kämpfen, gefolgt von einer Phase der Verankerung, in der die Eltern sich in ihrer elterlichen Rolle und im Unterstützersystem so verankern, dass die Stabilität ihres Kindes gesteigert wird. Mit dem Konzept des gewaltlosen Widerstands wird die Eindämmung begünstigt und die Verankerung befördert, indem nämlich die folgenden Prozesse unterstützt werden: Von der Hilflosigkeit zur Präsenz Angesichts einer Suiziddrohung fühlen sich die Eltern oft wie gelähmt, haben Gefühlsausbrüche, unterwerfen sich der Drohung oder versuchen, diese zu ignorieren. Die in diesen Reaktionen gespiegelte Hilflosigkeit kann sehr negative Auswirkungen haben: Das erwachsene Kind fühlt sich allein gelassen, der Konflikt eskaliert, und dysfunktionale Muster werden perpetuiert. Wenn die Eltern aber so handeln, dass sie Präsenz vermitteln statt Hilflosigkeit, kann die Krise eingedämmt und die Grundlage für eine weitere Besserung gelegt werden. Die Phase der Eindämmung beginnt mit einer Ankündigung, in der die Eltern dem Unerwachsenen ihre Entscheidung mitteilen, dass sie in seinem Leben präsent bleiben werden und der Selbsttötung nach besten Kräften entgegentreten wollen. Diese Ankündigung wird auf ähnliche Weise übermittelt wie die in Kapitel 3 beschriebene Ankündigung. Hilfreich ist es, bei der Mitteilung einen Unterstützer in der Nähe zu haben. Hier ist ein anschauliches Textbeispiel:

Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen

Liebe Emma, wir sind entschlossen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um einen Suizid zu verhindern und Dir in Deinen Schwierigkeiten beizustehen. Wir werden uns nicht von Dir distanzieren, sondern Dir so nahe bleiben, wie wir können. Wir werden das Geschehen nicht länger geheim halten, sondern bei jeder Person Hilfe holen, die uns zu helfen bereit ist. Wir meinen, dass Hilfe zu holen jetzt unsere höchste Pflicht ist, denn die Entscheidung über Leben und Tod ist keine Privatsache. Wir wissen, dass wir eine schwierige Zeit durchmachen werden, aber wir werden diese zusammen durchstehen. Deine Dich liebenden Eltern

Wenn die Hilflosigkeit der Eltern in eine stärkere Präsenz übergeht, zeigt sich das daran, dass die Kontakte zu ihrem Kind zunehmen. Wenn die Drohung besonders akut ist (z. B. wenn es Anzeichen für konkrete Vorbereitungen zur Selbsttötung gibt oder es schon einen Suizidversuch gegeben hat), sollten die Eltern nach ihrem Kind schauen lassen, und zwar nicht nur, um einen Suizid zu verhindern, sondern auch als Zeichen ihrer fürsorglichen Präsenz. Der Beobachter des Kindes sendet die Botschaft: »Wir sind bei dir und werden nach besten Kräften auch bei dir bleiben!« Oft wenden die Eltern ein, dass sie den Beobachter nicht für immer auf seinem Posten halten könnten und das Suizidrisiko wieder größer werde, sobald ihr Kind allein sei. Es ist tatsächlich unmöglich, immer auf der Hut zu sein. Der Beobachter vermittelt aber eine Botschaft der Fürsorge und Einbindung, durch die bei dem gefährdeten Menschen das Gefühl der Isolation verringert wird. Diese Erfahrung wird intensiviert, wenn die Beobachter Verwandte oder Freunde sind, die abwechselnd nach dem Unerwachsenen schauen. Ein Adoleszenter oder junger Erwachsener, der die Zuwendung mehrerer Personen erlebt, die stunden- und tagelang bei ihm bleiben, wird sich weniger verlassen fühlen. Das Gefühl von Verbundenheit, das mit dieser Erfahrung einhergeht, kann seinen Todeswunsch bezwingen.

145

146

Suiziddrohungen

Der allmähliche Übergang von der Eindämmung zur Verankerung lässt sich daran festmachen, dass die intensive Überwachung des oder der Suizidgefährdeten in eine eher virtuelle Manifestation der Präsenz übergeht (z. B. mittels regelmäßiger Telefonkontakte oder Textbotschaften). Wenn es den Eltern gelingt, in Risikosituationen sich im Geist ihres Kindes Präsenz zu verschaffen, wird die Gefahr geringer (Omer, 2016). Und genau diese Präsenz der Eltern und Unterstützer macht das erwachsene Kind stark gegenüber Suizidgedanken. Die intensive Präsenz während der ersten Phase vermittelt die Botschaft von Eindämmung der Gefahr. Die Präsenz, die durch mehrfache fürsorgliche Botschaften aus verschiedenen Quellen erreicht wird, vermittelt Verankerung. Der Übergang von der Eindämmung zur Verankerung ist vergleichbar mit einer zunehmenden Verlängerung der Ankerleine. Das Kind bleibt mit dem Anker verbunden, hat aber immer mehr Spielraum für Bewegungen. Von der Isolation zur Unterstützung Wenn die Familie die Suiziddrohung geheim hält, wird dadurch die Verbundenheit miteinander drastisch reduziert. Die Geheimniskrämerei ist sowohl für das erwachsene Kind wie auch für die Eltern schädlich, weil die Eltern gegenüber emotionaler Erpressung maximal verletzlich bleiben, Möglichkeiten der Unterstützung eingeschränkt sind und die rekursiven Aspekte der mit der Suiziddrohung verbundenen Interaktion perpetuiert werden. Geheimnistuerei und Isolation sind Nahrung für Suiziddrohungen. Dagegen führt es oft zu einer raschen Veränderung der Bedingungen, die eine suizidale Dynamik aufrechterhalten, wenn der Schleier des Geheimnisses gelüftet und ein Unterstützernetzwerk hinzugezogen wird. Die Forschung hat gezeigt, dass bei Suizidgefahr die Unterstützung des gefährdeten Menschen einen positiven Einfluss auf ihn hat. In einer bemerkenswerten Studie (King et al., 2019) sollten Adoles­zente, die wegen eines Suizidversuchs in stationärer Behandlung waren, »fürsorgliche Erwachsene« benennen, von denen sie nach ihrer Entlassung Unterstützung erwarteten. Diese Unterstützer wurden dazu motiviert, den wöchentlichen Kontakt zu den Jugendlichen aufrechtzuerhalten. Elf bis 14 Jahre nach der indizierten Klinikeinweisung fand man dramatische Mortalitätsunterschiede zwischen dieser

Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen

Gruppe und Kontrollgruppen, denen diese Behandlung nicht zuteil geworden war. Ein solches Vorgehen könnte auch in einigen von uns behandelten Fällen möglich sein, doch viele Unerwachsene würden der Bitte, fürsorgliche Erwachsene zu benennen, nicht nachkommen wollen. Die Eltern wären dann diejenigen, die die Unterstützerinnen und Unterstützer auswählen. Unsere Erfahrungen zeigen, dass die erwachsenen Kinder oft Hilfe von solchen Unterstützern zu akzeptieren bereit sind, die sie nicht selbst ausgewählt haben. Viele Eltern, die früher nur zögerlich Kontakt zu Unterstützern aufgenommen hatten, ändern ihre Ansicht, wenn sie mit einer Suiziddrohung konfrontiert sind; denn an diesem Punkt wird das Recht auf Privatsphäre hintangestellt. Die Unterstützer und Unterstützerinnen haben dann kein Problem damit, mit dem Unerwachsenen über seine Suiziddrohung zu sprechen, wenn sie ihm zum Beispiel mitteilen: »Natürlich sind wir darüber informiert! Es ist eine Frage von Leben und Tod!« oder: »Wenn deine Eltern das geheim gehalten hätten, wäre das so, als ob sie dich aufgegeben hätten! Weder sie noch wir wollen dich aufgeben!«. Eine Suiziddrohung ist oftmals ein Wendepunkt in der Therapie, aber man muss den Eltern helfen, dass sie ihren Wunsch nach Unterstützung ihren potenziellen Helfern auch mitteilen. Die folgende Botschaft, die sowohl mündlich als auch schriftlich übermittelt wurde, haben die Eltern eines Adoleszenten potenziellen Unterstützern zukommen lassen:

Lieber X, unsere Tochter Marie hat damit gedroht, sich das Leben zu nehmen, wenn wir darauf beharren, dass sie wieder zur Schule geht. Das ist das erste Mal, dass wir beschlossen haben, um Hilfe zu bitten. Wir sind jetzt als Eltern in Therapie, in der wir lernen, wie wir Hilflosigkeit und Isolation überwinden können. Wir wissen, dass wir die Situation verschlimmern, wenn wir allein bleiben und das Geheimnis für uns behalten. Also möchten wir Dich zu einem Unterstützertreffen einladen. In der Zwischenzeit holen wir eine Suizidwache, damit Marie nicht allein ist. Wir entwickeln auch einen Plan, wie wir uns durch Maries Drohung nicht weichkriegen lassen, sondern wie

147

148

Suiziddrohungen

wir ihr helfen können, sobald als möglich wieder zur Schule zu gehen. Wir wären sehr dankbar, wenn Du uns diese Woche besuchen und mit Marie sprechen könntest, wenn sie damit einverstanden ist. Wenn sie nicht damit einverstanden ist, könntest Du ihr eine kurze schriftliche Nachricht hinterlassen. Dein Besuch wird auf jeden Fall enorm wichtig für uns sein. Herzlichen Gruß Silvia und Jakob

Der Aufbau eines Unterstützernetzwerks ist nicht nur entscheidend für die Phase der Eindämmung, sondern auch dafür, dass der Übergang zur Verankerungsphase leichter wird. Durch die Einbeziehung von Unterstützern in der suizidalen Krise wird es wahrscheinlicher, dass die Eltern auch Hilfe bei anderen, weniger dringlichen Problemen suchen, die für die Verankerungsphase typischer sind. Dadurch, dass den Eltern ein Unterstützersystem zur Verfügung steht, sind sie in der Lage, sich in ihrer Elternrolle zu verankern. In dieser Hinsicht ist die Ankermetapher besonders passend: Ein kleiner Anker kann ein relativ großes Schiff aufgrund seiner Flunken (die Unterstützer) stabilisieren; ein Anker mit nur einer Flunke (die isolierten Eltern) wäre weitaus weniger wirksam. Von der Unterwerfung zum Widerstand In Familien mit einem Unerwachsenen ist die Suiziddrohung fast immer das letzte Glied in einer Kette von Interaktionen, die auf zwanghaften und dysfunktionalen Forderungen beruhen. Die Suiziddrohung ist die logische Schlussfolgerung. Die Botschaft »Wenn ihr dieses oder jenes nicht für mich macht, kann ich nicht mehr leben!« ist das Resümee der Bindung einer dysfunktionalen Abhängigkeit. Es klingt vielleicht alles andere als einleuchtend, dass die Eltern genau dann, wenn der Unerwachsene mit Selbsttötung droht, sich den Forderungen widersetzen sollten, auf die sie bis dahin meistens eingegangen sind. Doch unsere Erfahrung hat gezeigt, dass die Suiziddrohung eines erwachsenen Kindes auf einzigartige Weise ein Fenster öffnen kann. Das Extreme an einer Suiziddrohung legitimiert dazu, genau die Muster zu durchbrechen, die zu dieser Lage geführt

Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen

haben. Die Drohung zeigt den Eltern, wie zerstörerisch eine Rundumversorgung sein kann. Alle Versuche, der Drohung zu begegnen, ohne dass das zwanghafte Versorgungsmuster geändert wird, macht die nächste Drohung umso wahrscheinlicher. Die Eltern können Widerstand leisten, wenn sie dabei unterstützt werden, und Unterstützung wird wegen der Suiziddrohung bereitwillig gegeben. Manche Unterstützer und Unterstützerinnen werden gebeten, den Unerwachsenen bald nach der Ankündigung zu kontaktieren. Manchmal sind schon ein oder zwei Unterstützer im Haus. Die Eltern können dem erwachsenen Kind sagen: »Wir haben schon ein paar Leute benachrichtigt, die uns nahestehen. Onkel Stefan ist im Esszimmer und weiß, was gerade vor sich geht.« So können die Unterstützer den Übergangsritus, wie er in der Ankündigung signalisiert worden ist, bezeugen und bestätigen. Wenn das erwachsene Kind bereits einen Suizidversuch unternommen hat, können die Unterstützerinnen und Unterstützer ins Krankenhaus kommen oder den Unerwachsenen zu Hause besuchen und ihm somit zu verstehen geben, dass die Situation sich geändert hat. Die Eltern zeigen ihren Widerstand auch gegen die Suizidabsicht an sich. Damit ihr Widerstand aber Wirkung zeigt, sollte er nicht die Form einer Moralpredigt annehmen, sondern die einer existenziell verbindlichen Begegnung. Die Therapeutin oder der Therapeut befragt die Eltern über die Personen, die für ihr erwachsenes Kind wichtig sind. Diese Personen werden dann gebeten, den Unerwachsenen zu besuchen, mit ihm offen über seine suizidale Absicht zu sprechen und auch »um sein Leben zu bitten«. Solche »Bittsteller« sagen ihm oder ihr, wie wichtig er oder sie für sie ist und welch unerträgliche Schmerzen sein oder ihr Suizid ihnen zufügen würde. Die Kandidaten für diese Rolle sind typischerweise die Großeltern, Onkel, Geschwister und Freunde des Unerwachsenen. Wir schließen nicht aus, dass auch jüngere Kinder unter den »Bittsteller« (die um das Leben der gefährdeten Person bitten) sein können, vor allem dann nicht, wenn das erwachsene Kind einen konkreten Suizidversuch unternommen hat. Den Einwand, dass diese Situation für das jüngere Kind psychisch grausam sei, weisen wir zurück; die Selbsttötung eines geliebten Menschen wäre noch viel grausamer. Außerdem sind Geschwister oftmals Zeugen von Suiziddrohungen.

149

150

Suiziddrohungen

Deshalb hilft es den Geschwistern, wenn sie in die Intervention einbezogen werden, nicht weniger als den Eltern. Wir meinen, dass die Einbindung von Geschwistern, wenn sie klare und altersgemäße Informationen bekommen, diesen eine konstruktive Rolle in der suizidalen Krise zuweist. Das ist weitaus besser, als sie in der Rolle von vermutlich uninformierten Zuschauern zu belassen. Die 16-jährige Anna wurde nach ihrem Suizidversuch auf eine psychi­ atrische Station eingewiesen. Als sie nach einigen Wochen entlassen wurde, hatten ihre Eltern große Angst und suchten uns wegen einer Therapie auf. Der Therapeut fragte sie, welche Personen in Annas Leben am wichtigsten seien. Die Eltern nannten sofort ihre Großmutter und ihren 12-jährigen Bruder Arthur. Beide wurden zu einer Sitzung mit den Eltern eingeladen. Beide waren nicht über das Ereignis unterrichtet worden, obwohl Arthur die Eltern gefragt, aber keine Antwort erhal­ ten hatte. Der Therapeut half den Eltern dabei, dass sie den beiden die Wahrheit sagen konnten. Dann erklärte er, dass die beiden Anna durch eine direkte Ansprache helfen könnten, da sie ihr am nächsten stünden. Der Therapeut bereitete sie darauf vor, wie sie offen mit Anna reden und gegebenenfalls um ihr Leben bitten konnten. Er sagte ihnen auch, dass sie nicht mit ihr schimpfen, sondern in einem liebevollen und für­ sorglichen Ton mit ihr reden sollten. Arthur bat darum, mit Anna allein bleiben zu dürfen. Nach etwa einer Viertelstunde klopften die Eltern an die Tür, um festzustellen, dass Bruder und Schwester sich weinend in den Armen lagen. Anna schwor, sie würde nie mehr versuchen, sich das Leben zu nehmen.

Wenn die Eltern erleben, dass sie sich den dysfunktionalen Forderungen ihres erwachsenen Kindes in einer suizidalen Krise entgegenstellen können, kann das von unschätzbarem Wert sein und ihnen helfen, ein seit langem bestehendes Muster der Rundumversorgung und Unterwerfung zu durchbrechen. Diese Erfolge stellen sich allerdings nicht automatisch ein. Viele Eltern kehren nach der überstandenen Krise zu ihrer Familienroutine zurück. Um dies zu verhindern, muss darauf geachtet werden, dass die Eindämmung der Krise in die Verankerung der Eltern transformiert wird. Die Eltern müssen den Zusammenhang zwischen ihrem Versorgungs-

Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen

verhalten und der suizidalen Krise erkennen können. Die Botschaft an die Eltern lautet: »Wenn Sie vermeiden konnten, sich der Suiziddrohung zu unterwerfen, können Sie das bestimmt auch unter weniger extre­men Bedingungen.« So wird die suizidale Krise vielleicht zu einer Gelegenheit, eine Menge unpassender Versorgungsdienste einzustellen. Wenn die Eltern lernen, dem Druck einer Suiziddrohung standzuhalten, wird das zu einer selbstverankernden Erfahrung, die ihnen hilft, sich auch in anderen Situationen zu stabilisieren. Von der Eskalation zur Selbstkontrolle Suiziddrohungen kommen nicht aus heiterem Himmel; ihnen geht ein emotionales Crescendo voraus, das von den Eltern unabsichtlich angefacht wird. Die Eltern sind oft gefangen in einem Doppelmuster aus symmetrischer und komplementärer Eskalation. Mithilfe des Konzepts des gewaltlosen Widerstands können sie dieses Muster erkennen und vermeiden. Im Rahmen von Therapiesitzungen werden eskalierende Situationen untersucht und Reaktionen vorgeschlagen und inszeniert, die die elterliche Selbstkontrolle sichtbar werden lassen. Dadurch, dass die Betonung auf die Selbstkontrolle gelegt wird und nicht auf die Kontrolle der anderen Menschen, kann eine positive Veränderung im suizidalen Tauziehen zwischen Eltern und ihrem Kind befördert werden. Die Eltern sollten dem Unerwachsenen sagten: »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um dich davon abzuhalten, dir das Leben zu nehmen! Aber wir wissen, dass wir dich nicht kontrollieren können!« Der Zwang zur Kontrolle wird somit ersetzt durch die Pflicht zum Widerstand. Wenn man Widerstand leistet, hat man keine Kontrolle über andere Personen. Doch die lebensbejahende Kraft, die durch Widerstandshandlungen transportiert wird, überwiegt bei weitem das Eingeständnis der Eltern, dass sie keine Kontrolle über die Handlungen ihres erwachsenen Kindes haben. Mit der Botschaft des Beharrens (»Du musst nicht gewinnen, sondern beharrlich sein!«) kommt der Zeitfaktor hinzu, der im Verzicht darauf, die Handlungen des Unerwachsenen zu kontrollieren, eine Rolle spielt. Diese Botschaft ist ein gutes Gegengift zu dem Gefühl, das absolute Dringlichkeit signalisiert und die suizidale Dynamik

151

152

Suiziddrohungen

anfeuert. Die Eltern reagieren auf die Aussage ihres Kindes: »Macht dieses oder jenes, oder ich bringe mich um!« mit der Botschaft: »Wir stehen dir heute, morgen und auch übermorgen zur Seite!«. Sie lernen tief durchatmen und denken dann nicht mehr in einem Zeitrahmen von Stunden oder Tagen, sondern von Wochen und Monaten. Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands ist im Grunde in beiden Zeitrahmen wirksam. Der Therapeut hilft den Eltern, im Hier und Jetzt entschlossen zu handeln, allerdings auf eine Weise, die Ausdauer und Selbstkontrolle vermittelt und nicht Panik, Wut und Hilflosigkeit. In den von einer Abhängigkeitsbindung geprägten Interaktionen wird das Gefühl extremer Dringlichkeit beim Unerwachsenen durch das elterliche Gefühl extremer Dringlichkeit vervielfacht. Statt einer Allianz zwischen dem erwachsenen Kind und seinen Eltern gibt es eine panische »Allianz der Dringlichkeit«, also eine wechselseitige Spirale suizidalen Erschreckens. Im Konzept des gewaltlosen Widerstands dagegen wird der suizidale Antrieb nicht mehr als Feuer betrachtet, das sofort zu löschen ist, sondern als Fieber, das bis zu seinem Abklingen ertragen werden muss. Die Eltern sollten dem Unerwachsenen aber nicht sagen: »Du kannst den Schmerz schon ertragen!«, sondern vielmehr: »Wir bleiben bei dir und stehen die Sache miteinander durch!« So lassen sie ihr Kind an ihrer eigenen Durchhaltekraft teilhaben. Von der Distanzierung und Feindseligkeit zur Fürsorge und Unterstützung Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands ist nicht begrenzt auf den Kampf gegen gewalttätige, unterdrückende und destruktive Handlungen, sondern schließt auch Manifestationen von Respekt und Fürsorge in sich ein. Das gilt auch für die sozialpolitische Arena und noch weitaus mehr für die Umsetzung des Konzepts des gewaltlosen Widerstands in der Familie. Wenn die Eltern Fürsorge und Respekt zum Ausdruck bringen, kann das einen lebensbejahenden Einfluss auf das »innere Parlament« ihres Kindes haben. Doch manchmal fühlen die Eltern sich in dieser Fähigkeit gehemmt, weil der Prozess der gegenseitigen Distanzierung und Feindseligkeit den fürsorglichen Dialog blockieren kann. Ein gängiger Grund, weshalb die Eltern ihre positiven Gefühle nicht zum Ausdruck bringen können,

Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen

ist ihre Erwartung, dass ihr Kind diese ignorieren oder unverhohlen zurückweisen wird. In unserem Therapieprogramm helfen wir den Eltern, Schritte zu unternehmen, durch die Fürsorge, Respekt und Versöhnung zum Ausdruck kommen, auch wenn sie eine potenziell negative Reaktion ihres Kindes erwarten. Die Eltern werden ermuntert, ihrem Kind positive Botschaften in Schriftform zukommen zu lassen, ihm kleine Geschenke zu machen oder eine gemeinsame Aktivität vorzuschlagen, die ihnen früher einmal Freude bereitet hat. Die Eltern werden explizit auf die mögliche Zurückweisung solcher Gesten vorbereitet. In dem Fall können sie ihrem Kind sagen: »Ich mache das, weil ich mich um dich sorge, aber ich kann dich nicht zwingen, meine Liebe zu akzeptieren.« Eine Mutter backte einen Kuchen für ihren 16-jährigen Sohn, der sich umzubringen drohte, wenn sie ihn in seinem Computerspiel unterbre­ chen würde. Sie klopfte an seine Tür und sagte: »Ich habe einen Kokos­ nusskuchen für dich gebacken!« Als er sie und ihren Kuchen durch die Tür hindurch verfluchte, antwortete sie: »Ich habe ihn für dich gebacken, weil ich dich gern habe, aber ich kann dich nicht zwingen, ihn zu essen!« Dann stellte sie den Kuchen in den Kühlschrank und drängte ihren Sohn zu der Entscheidung, entweder hart gegen sich zu sein und den Kuchen auszuschlagen oder seinen Stolz hinunterzuschlucken und den Kuchen zu genießen. Nach zwei Wochen, in denen der Junge hart gegen sich geblieben war, aß er heimlich den Kuchen.

Wir meinen, dass ein Stück von Mutters Kuchen im Bauch eines Adoleszenten einen positiven emotionalen Dienst leisten kann, selbst wenn er sich weigert, dies anzuerkennen. Die Eltern fühlen sich durch solche Ereignisse bestärkt, weil ihre Fürsorge nicht mehr davon abhängig ist, dass ihr Kind sie akzeptiert. Der Unerwachsene wiederum lernt, dass seine Feindseligkeit nichts an der elterlichen Zuneigung zu ihm ändert. Eine Mutter schmuggelte in die Schultasche ihres 15-jährigen Sohnes Bonbons, die in Papier mit unerwarteten Botschaften der Anerkennung eingewickelt waren (z. B.: »Ich weiß, dass Dich niemand zu Fall bringen

153

154

Suiziddrohungen

kann!« und: »Ich weiß, dass das, was Du letzte Woche getan hast, aus Loyalität zu Deinen Freunden geschah!«).

Wir glauben, dass er die eingeschmuggelten »Fürsorge-Bonbons« als eine ganz kleine Erinnerung daran erlebt haben könnte, dass er Grund zum Weiterleben hat. Solche Botschaften kommen auch bei älteren Kindern an. Selbst Kinder in den Zwanzigern und Dreißigern haben versöhnlich auf elterliche Botschaften der Anerkennung reagiert. Nachdem Armin (29 Jahre) innerhalb eines einzigen Monats zwei Sui­ zidversuche unternommen hatte, fing sein Vater an, ihm jeden Tag eine Nachricht zu schreiben. Die Botschaften waren kurz, meistens nicht länger als ein Absatz, in denen der Vater seine Gefühle zum Ausdruck brachte, Geschichten aus der Vergangenheit erzählte und Fotos von ihren gemeinsamen Reisen dazulegte. Der Vater setzte diese Tätigkeit Tag für Tag über Monate hinweg fort. Nach einem Jahr erzählte Armin seinem Vater, dass diese Botschaften ihn am Leben erhalten hätten, bis er seine Krise überwunden gehabt habe.

Eine detaillierte Fallstudie zu einer suizidalen Krise Martha und Elmar kamen zwei Monate nachdem ihr Sohn Tobias (21 Jahre) ihnen aus der Uni eine Textnachricht geschickt hatte, in der er mitteilte, dass er überall gescheitert sei und nicht mehr weiterleben könne, zur Therapie. Sie fuhren schnell in die Stadt, in der er studierte, und fanden ihn betrunken vor. Zunächst lehnte er ihr Angebot ab, ihn mit nach Hause zu nehmen, und beschuldigte sie dann, sein Leben zu zerstören. Doch nach einer gewissen Überredungsarbeit war er damit einverstanden, mit den Eltern nach Hause zu gehen. In den darauf folgenden Wochen deutete Tobias immer wieder an, sich das Leben nehmen zu wollen. Martha wurde depressiv und hatte riesige Angst, wann immer Tobias aus dem Haus ging. Elmar fühlte sich durch diese Drohungen komplett paralysiert. Die Not der Eltern wurde noch größer durch die Tatsache, dass Tobias weder mit einem Psychotherapeuten noch mit einem Psychiater sprechen wollte. Tobias nahm immer das Auto der Mutter, wenn er nachts wegging, kehrte am frühen Morgen zurück und verbrachte die meiste Zeit des

Eine detaillierte Fallstudie zu einer suizidalen Krise

Tages im Bett. Wenn er nachts wegfahren wollte und im Auto kein Ben­ zin war, beschimpfte er Martha wegen ihrer Nachlässigkeit. Er beklagte sich, dass seine Eltern seine Entscheidung, seinem Leben ein Ende zu machen, durchkreuzt hätten, und fügte hinzu, dass er das nächste Mal nicht so naiv sei und sie über seine Absicht informieren würde. Die Eltern erzählten dem Therapeuten, dass ihr Verhältnis zu Tobias schon immer hitzig gewesen sei. Sobald sie etwas von ihm verlangt hät­ ten, habe er sie mit einem Tobsuchtsanfall zum Schweigen gebracht oder gedroht, aus ihrem Leben zu verschwinden. Er sei dreimal in Einzel­ therapie gewesen, allerdings erfolglos. Die Eltern wurden gebeten, die Dienste, die sie Tobias zuteilwer­ den ließen und die ihrer Ansicht nach unpassend für einen 21-Jährigen seien, einmal aufzulisten. Es stellte sich heraus, dass sie eine typische Arbeitsteilung hatten: Elmar sorgte sich um all die praktischen Dinge (er hatte Tobias bei der Immatrikulation an der Universität geholfen, ihm ein Zimmer besorgt, die Geldüberweisungen erledigt und seine Kreditkartenschulden beglichen). Martha kümmerte sich um Tobias’ emotionale Bedürfnisse und führte manchmal stundenlang endlose Telefongespräche mit ihm. Diese Gespräche, die Martha als »Vorwurfs­ orgien« bezeichnete, waren für sie eine Qual, aber sie hatte Angst davor, sie zu beenden. Zusammen mit dem Therapeuten zeichneten die Eltern ein Bild von den zwanghaften Mustern, die zwischen Tobias und ihnen bestanden. Alle Versorgungsdienste, die mit Tobias’ Drohungen oder mit ihrer Angst vor den Reaktionen des Jungen zusammenhingen, wurden nun als Einzelteile eines Teufelskreises sichtbar. Die Verbindung zwischen unangemesse­ nen Diensten, eskalierenden Mustern und verfehlten Versuchen zu helfen auf der einen Seite und Tobias’ Drohungen und Überreaktionen auf der anderen Seite wurde den Eltern deutlich vor Augen geführt. Elmar und Martha stimmten zu, dass die Therapie darauf abzielen sollte, ihre eigene Präsenz zu manifestieren, und dass sie gleichzeitig Tobias’ Forderungen oder Provokationen nicht mehr nachgeben würden. Sie wurden beim Verfassen einer Ankündigung unterstützt und gebeten, eine Liste von Unterstützern zusammenzustellen. Die zweite Therapiesitzung fand drei Tage nach der ersten Sitzung statt. Die Eltern und der Therapeut besprachen, wie sie die Ankündi­ gung übermitteln und sich für Tobias’ Reaktion wappnen könnten. Elmar

155

156

Suiziddrohungen

lehnte es ab, Unterstützer hinzuziehen, aber die Tatsache, dass Tobias’ Brüder, Marthas Brüder und zwei noch lebende Großeltern von den Suizid­drohungen wussten, half ihm erkennen, dass Verschwiegenheit kein gangbarer Weg war. Für eine Woche später wurde eine Unterstützer­ sitzung anberaumt. In der Zwischenzeit organisierten die Großeltern und die Onkel von Tobias es so, dass sie telefonisch erreichbar waren, wenn die Ankündigung übermittelt wurde. In der Ankündigung erklärten Martha und Elmar, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um mit Tobias in Kontakt zu bleiben. Sie gaben an, dass sie ihre unpassen­ den Versorgungsdienste reduzieren würden; denn jetzt verstünden sie, wie schädlich diese seien. Sie sagten auch, dass sie bereit seien, bei kon­struktiven Plänen mitzuwirken, würden aber Tobias’ momentane Lebensweise nicht mehr mittragen. Unerwarteterweise sagte Tobias nichts und las die Ankündigung sogar noch einmal durch, nachdem die Eltern sie mündlich vorgetragen hatten. Er blieb in seinem Zimmer bis zum Abend und verließ dann, wie üblich, wortlos das Haus. Die Eltern schickten ihm eine Textnachricht und fragten, wann er zurückkomme. Als Tobias darauf nicht antwortete, riefen die Eltern drei Freunde von ihm an und baten sie, dem Jungen zu sagen, sie seien äußerst beunruhigt. Tobias rief Martha zurück und fragte sie, ob sie nun total verrückt seien. Martha erklärte ihm, sie hätten seine Freunde nicht behelligt, wenn er sie von seinen Plänen unterrichtet hätte. Zornig legte Tobias auf. Am nächsten Tag rief der Großvater Tobias an und sagte ihm, dass er die Eltern bei der Suche nach ihm unterstützen würde, wenn er verschwunden wäre, weil weder er noch sie ihn aufgeben wollten. Er lud Tobias ein, ein paar Tage zu ihm zu kommen. An dem Unterstützertreffen nahmen zwölf Personen teil. Die Unter­ stützer erklärten sich bereit, telefonisch erreichbar zu sein, falls Tobias mit Suizid drohen sollte. Ein paar gute Freunde der Familie, die im Aus­ land lebten, wurden ebenfalls einbezogen. Sie versprachen, Tobias tele­ fonisch oder per E-Mail zu unterstützen. Ihr Beitrag war wichtig, weil Tobias diese Personen sehr schätzte. Einer von Elmars Freunden, ein Finanzberater, wollte mit Tobias über Geldangelegenheiten sprechen. Er machte dem Jungen klar, dass die Eltern ihn nicht mehr auffangen würden, wenn seine Kreditkarte gesperrt würde. Er sagte Tobias, er wisse, dass er bei seinen Freunden Schulden habe und dass er gern mit ihm zusammen einen Finanzplan entwickeln würde.

Eine detaillierte Fallstudie zu einer suizidalen Krise

In der darauf folgenden Woche drohte Tobias noch zweimal mit Selbsttötung. Beide Male riefen seine Eltern die Unterstützer an, die dann ins Elternhaus kamen oder Tobias telefonisch kontaktierten. Einmal war Tobias gewalttätig, woraufhin zwei Unterstützer ihn auf eine lange Autofahrt mitnahmen. Sie blieben bei ihm bis spät in die Nacht. Etwa um vier Uhr morgens wollte Tobias nach Hause gehen, um zu schlafen. Einer der Unterstützer schlug vor, dass sich die Sache mit seinen Eltern erst beruhigen und er nicht auf der Stelle heimgehen solle. Stattdessen würde er im Haus des Unterstützers bleiben. Tobias war damit einver­ standen und blieb bei dieser Familie schließlich drei Tage lang. Während dieser Zeit war er bereit, dass der Finanzberater ihm bei der Aufstellung eines Haushaltsplans half. Er akzeptierte auch den Vorschlag des Unter­ stützers, einen Psychiater aufzusuchen; einen solchen Ratschlag hatte Tobias noch kategorisch abgelehnt, als seine Eltern ihm das vorgeschla­ gen hatten. Tobias wurde zu einem Psychiater überwiesen, der mit uns zuvor schon zusammengearbeitet hatte. Der Psychiater teilte Tobias mit, dass er dessen Eltern von der Behandlung benachrichtigen, ihnen aber nichts über sein persönliches Leben mitteilen würde. Nach einem kurzen Gespräch über dieses Arrangement war Tobias mit der Therapie einverstanden. Der Psychiater brachte die Eltern auf den neuesten Stand, was Tobias betraf, und wurde umgekehrt von dem Therapeuten, der nach dem Ansatz des gewaltlosen Widerstands arbeitete und die Eltern in Therapie hatte, auf den neuesten Stand gebracht. Auf diese Weise erhielt Tobias mithilfe des Unterstützernetzwerks der Eltern schließlich professionellen Beistand. Wenn Tobias anfing, seiner Mutter Vorwürfe zu machen, beendete sie das Gespräch. Bei diesen Gelegenheiten erwiesen sich die beiden Unterstützer aus dem Ausland als besonders hilfreich. Sie riefen Tobias an und sagten ihm, dass die Vorwürfe, ganz zu schweigen von der Res­ pektlosigkeit gegenüber seiner Mutter ihm nicht helfen würden. Doch sie hätten Vertrauen in ihn, dass er die Krise meistern könne. Diese Gesprä­ che waren viel kürzer als die mit Martha. Die Unterstützer schmuggelten gelegentlich auch Nachrichten der Eltern hinein, die deren Anerken­ nung und Erinnerungen an Zeiten ausdrückten, als Tobias etwas ganz Besonderes gemacht hatte. Sie sagten zum Beispiel: »Dein Vater hat mir erzählt, wie du das Auto auf deiner Auslandsreise repariert hast, als es den Anschein hatte, du würdest die Nacht über festhängen! Das wusste

157

158

Suiziddrohungen

ich gar nicht!« oder: »Deine Mutter hat mir erzählt, dass sie sich immer auf dich verlassen konnte, wenn sie Probleme hatte. Sie berichtete mir, wie du einen Monat lang deinen jüngeren Bruder zur Schule und zurück begleitet hast, als er von anderen schikaniert wurde!«. Nach den Semesterferien ging Tobias zurück zur Uni. Martha war trau­ rig, dass ihre ganz eigene Beziehung zu ihrem Sohn sich abgekühlt hatte; Tobias redete jetzt lieber mit seinem Vater Elmar statt mit seiner Mutter. In der letzten Sitzung sprachen der Therapeut und die Eltern darüber, wie sie reagieren sollten, wenn die Schwierigkeiten wieder aufträten. Als Tobias im dritten Jahr an der Universität war, hatte er eine neue Krise, die mit manischen Symptomen einherging. Es stellte sich heraus, dass er Ecstasy genommen hatte. Er willigte ein, zu dem Psychiater zu gehen, zu dem er eine gute Beziehung aufgebaut hatte. Dieser konnte Tobias überzeugen, in einen kurzen Klinikaufenthalt einzuwilligen. Nach zwei Wochen stationärer Behandlung klangen die Symptome ab, und Tobias wurde nach Hause entlassen. Mit den Eltern fanden noch ein paar Therapiesitzungen statt, und die Unterstützer wurden mobilisiert. Deren Hilfe war entscheidend dafür, dass Tobias seine medikamentöse Behandlung fortsetzte. Seine Prob­ leme waren noch lange nicht bewältigt, aber die Bedingungen für den Umgang mit ihnen waren jetzt besser als in der Vergangenheit.

Indikationen und Kontraindikationen für den Einsatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen Auch wenn der Ansatz des gewaltlosen Widerstands auf die Unterstützung der Betroffenen ausgerichtet ist, kann die Vorstellung, dass er bei Suiziddrohungen das Mittel der ersten Wahl ist, Zweifel aufkommen lassen. Fachleute reagieren auf Suiziddrohungen von Kindern meistens mit dem Anliegen, dem Kind mehr positive Zuwendung zukommen zu lassen. Aus diesem Grund könnte ein Ansatz, der allein auf der Verbesserung der Bindungsqualität beruht, eine eher sofortige Wirkung in diesem Bereich haben. Wir meinen, dass in vielen Fällen die Angemessenheit eines solchen Ansatzes tatsächlich außer Frage steht. Diamond et al. (2010; 2011) haben gezeigt, dass in Fällen, in denen Suizidgedanken unmittelbar verknüpft sind

Indikationen und Kontraindikationen

mit dem Fehlen lebensbejahender Gefühle und einem tiefen Gefühl der Zurückweisung (z. B. Adoleszente, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung mit ihren Eltern zerstritten sind), nicht nur die Eltern-Kind-Beziehung gefestigt wird, sondern auch Depressionen und Suizidalität verringert werden, wenn sich die Therapie auf die Erhöhung der elterlichen Akzeptanz und Verbesserung der Qualität der Eltern-Kind-Bindung konzentriert. Wir sehen ein Kontinuum zwischen solchen Fällen, in denen Suizidgedanken aus einem Gefühl der Vernachlässigung und Zurückweisung heraus aufkommen, und solchen Fällen, in denen Suiziddrohungen im Rahmen von Forderungen nach unangemessenen Versorgungsdiensten entstehen. Idealerweise sollte die Therapie des Kindes an seine Position auf diesem Kontinuum angepasst werden: Familien, die sich eher an dem Pol von Vernachlässigung/Zurückweisung bewegen, würden eine bindungsbasierte Intervention erhalten, während bei Familien, die sich eher an dem Pol von Eskalation/Zwang bewegen, eine Intervention nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands angezeigt wäre. Wir nehmen an, dass in Fällen, in denen die Suiziddrohung Elemente der Einschüchterung enthält und die Beziehung zwanghaft-versorgender Natur ist, die Therapie des gewaltlosen Widerstands besonders effizient sein sollte. Wir betonen aber, dass der Ansatz des gewaltlosen Widerstands darauf abzielt, die ElternKind-Bindung wiederherzustellen und zu stabilisieren. In dieser Hinsicht ist dieser Ansatz nicht nur kein Gegensatz zur bindungsbasierten Therapie, sondern er kann faktisch als bindungsorientiert betrachtet werden. Tatsächlich wird das Konzept des gewaltlosen Widerstands aufgrund der Verankerung der Eltern (Omer et al., 2013) als Brücke zwischen der elterlichen Autorität und einer sicheren Bindung gesehen. Therapeutinnen und Therapeuten fragen oft, ob Fälle von schweren Psychopathologien keine Kontraindikation zu unserem Ansatz darstellen. Wir möchten betonen, dass der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei komplizierten klinischen Zuständen lediglich ein einzelnes Element des therapeutischen Prozesses ist. Die suizidgefährdete Person und ihre Familie erfordern mehrere Arten der professionellen Zuwendung. Der Umstand, dass im Konzept des gewaltlosen Widerstands die systematische Verbindung zu sozialen und professionellen Helfern angelegt ist, erleichtert die Integration dieser Faktoren.

159

160

Suiziddrohungen

Das Konzept des gewaltlosen Widerstands ist eingesetzt worden bei stationär behandelten psychotischen Adoleszenten (Goddard et al., 2009), bei Adoleszenten und Erwachsenen mit AutismusSpektrum-Störung (Golan et al., 2016) und bei jungen Erwachsenen mit Depressionen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen bzw. mit ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörungen (Lebowitz et al., 2012). Solche Fälle erfordern mehr Aufmerksamkeit und oftmals eine längere Behandlungsdauer. Besondere Anstrengungen sollten darauf verwendet werden, die Therapie der Eltern zu koordinieren mit der Arbeit anderer Fachkräfte. Könnte der gewaltlose Widerstand gefährlich sein? Wir halten das für möglich, wenn bestimmte Vorsichtsmaßnahmen nicht getroffen werden. Erstens kann der gewaltlose Widerstand falsch angewendet und der Unerwachsene auf provokante Weise herausgefordert werden. Diesem Punkt sollte man Beachtung schenken. Den Eltern sollte man helfen, mit ihrem Kind auf unterstützende Weise zu kommunizieren und dabei möglichst wenig Kontrolle auszuüben. Sehr wichtig ist auch, dass ein oder zwei Mitglieder der Helfergruppe eine eindeutige Rolle in der Unterstützung des Unerwachsenen zugewiesen bekommen. Die für diese Rolle am besten geeigneten Kandidaten haben oder hatten zu ihm eine positive Beziehung. Dabei ist besonders darauf zu achten, dass die Unterstützerinnen und Unterstützer in der Phase der Eindämmung auch zur Verfügung stehen. Ein klares Unterstützungsangebot stärkt die positiven Stimmen im »inneren Parlament« des jungen Menschen. Ist ein solcher Unterstützer nicht verfügbar, könnte es gerechtfertigt sein, die Freunde des Unerwachsenen zu kontaktieren. Diese würden meistens nicht an einem Unterstützertreffen teilnehmen, um Loyalitätskonflikten vorzubeugen, aber sie sollten darüber informiert werden, dass der junge Mensch in einer Krise steckt und mit Suizid gedroht hat. Unter diesen Umständen sind Freunde meistens besonders gute Helfer. Derlei Vorsichtsmaßnahmen sind typisch für das Konzept des gewaltlosen Widerstands und sollen das Suizidrisiko verringern. Dagegen könnte das Risiko sich erhöhen, wenn die Eltern ihre Versorgungsdienste abrupt einstellen, ohne dass der junge Mensch begleitet oder unterstützt wird.

Kapitel 5 Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten, die am Erwachsenwerden scheitern

In Kapitel 1 haben wir erwachsene Kinder beschrieben, die an einem bestimmten Punkt im Leben aufhören, sich zu psychosozial erwachse­ nen Personen zu entwickeln. Unsere therapeutische Begegnung mit deren Familien haben uns gezeigt, dass diese Entwicklung vielleicht schon während der Adoleszenz zu einem Stillstand gekommen ist. Die problematischen Verhaltensweisen, die wir als mögliche Vorläufer von dysfunktionaler Abhängigkeit identifiziert haben, waren vor allen Dingen: a) Digitalsucht; b) Schulverweigerung und sozialer Rückzug; c) »tyrannische« Verhaltensweisen und d) verantwortungsloser Umgang mit Geld. Forschungen über Adoleszente und Erwachsene, die sich bis zu dem Grad aus dem sozialen Leben zurückgezogen haben, dass sie in der Außenwelt in ihrer Handlungskompetenz eindeutig reduziert waren, weisen auf eine mutmaßliche Kontinuität zwischen diesen beiden Gruppierungen hin. In einer viel zitierten Studie wurde eine große Gruppe von Adoleszenten, die ähnliche Merkmale wie viele Unerwachsene aufwiesen, als Personen mit »unsichtbarem Suizidrisiko« kategorisiert (Carli et al., 2014). Obwohl die Jugendlichen in dieser Gruppe kaum »sichtbare« Risikofaktoren aufwiesen, zum Beispiel ille­galen Drogengebrauch und exzessiven Alkoholkonsum, zeigten sich bei ihnen Phänomene wie hoher Medienkonsum, inaktives Verhalten und Störungen des Schlaf-Wach-Zyklus. Es stellte sich heraus, dass diese sozial zurückgezogenen, digital abhängigen und von Schlafproblemen betroffenen jungen Menschen ein ähnliches Niveau an Suizidgedanken, Angst und Depression hatten wie Gleichaltrige in der Gruppe mit »sichtbaren« Risiken. Wir sind der Auffassung,

162

Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten

dass bei Adoleszenten mit einem »unsichtbaren Risiko« die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass aus ihnen dysfunktional abhängige Unerwachsene werden. Vielleicht spielen hier zwei Faktoren zusammen und verschleiern diese Kontinuität: Erstens können viele dieser Jugendlichen eine Fassade normativen Verhaltens aufrechterhalten, wodurch verhindert wird, dass ihr höchst problematischer Zustand aufgedeckt wird. Zweitens existiert in den meisten Ländern auf dem Gebiet der psychiatrischen Gesundheitsdienste immer noch eine strikte Trennung im Übergang von Kindern zu Erwachsenen. Die Trennlinie liegt beim Alter von 18 Jahren. Vermutlich sehen Fachleute, die Kinder und Adoleszente behandeln, kaum jemals Erwachsene in ihrer Praxis – und umgekehrt. Selbst wissenschaftliche Zeitschriften machen diese Unterscheidung und tragen so zu der selektiven Blindheit bei, aufgrund derer das genannte Phänomen bis jetzt nicht zu Tage gebracht wurde. Da, wie erwähnt, unsere therapeutische Arbeit mit den Eltern von Kindern und Adoleszenten mit dysfunktionalen Handlungsmustern bekannt wurde, kamen immer mehr Eltern von erwachsenen Kindern zu uns. Ein Wassertropfen wurde zu einer Flut. Folglich können wir aufgrund unserer Position im professionellen Feld diese Kontinuität mit besonderer Klarheit bezeugen. Weitere Forschungen sind erforderlich, um die Entwicklungswege nachzuverfolgen, die vom unsichtbaren Risiko oder sozialen Rückzug in der Adoleszenz zu dysfunktionaler Abhängigkeit im Erwachsenenalter führen; und ebenso braucht es in der Gesundheitsversorgung mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit an der Trennlinie zwischen den Menschen unter 18 Jahren und denen über 18 Jahre. Wir machen in diesem Kapitel Vorschläge, wie die Eltern von Adoleszenten die frühen Muster erkennen können, die vielleicht Vorläufer einer dysfunktionalen Abhängigkeit sind, sodass unmittelbare Beeinträchtigungen und Entwicklungsrisiken reduziert werden können.

Internetabhängigkeit

Internetabhängigkeit8 Dieser Begriff gilt für alle Formen der Abhängigkeit von Bildschirmen jeglichen Formats. Man könnte sagen, dass das Smartphone in vielen Haushalten wie ein weiteres Familienmitglied gehandhabt wird. Es ist in fast jeder Begegnung zwischen Kindern und ihren Freunden oder Eltern präsent, allerdings in unterschiedlichen Funktionen. Wenn Kinder unter Gleichaltrigen sind, ist das Handy der soziale Klebstoff. Einer von uns (Haim Omer) reiste kürzlich in einem Zug voller Heranwachsender, die gerade von der Schule kamen; alle saßen beieinander, redeten miteinander und hielten ihre Smartphones in den Händen. Einige von ihnen sprachen miteinander, und andere zeigten ihren Freunden das, was auf dem Display ihrer Handys zu sehen war. Es war offensichtlich, dass das Gerät zu ihrer Kommunikation beitrug, tote Momente überbrücken half und Gesprächsstoff für einen weiteren Austausch bot. Die Jugendlichen verloren sich nicht in ihren Smartphones, sondern nutzten sie, um eine gemeinsame Realität zu schaffen. Auf diese Weise nutzen sie ihre Smartphones nicht, wenn sie mit ihren Eltern zusammen sind. Dazu bedarf es nur eines kurzen Blicks auf Familien in Restaurants. In diesem Kontext trennt und isoliert das Handy fast immer: Die Kinder sind in ihren Smartphones versunken und weit entfernt von den Lebenswelten ihrer Eltern. Die Eltern spüren eine besondere Art von Hilflosigkeit, wenn es um die virtuelle Welt geht, unter anderem deshalb, weil sie sich technologisch unterlegen fühlen. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern im virtuellen Raum ist verglichen worden mit dem Verhältnis zwischen Immigranten und Einheimischen. Vielen Eltern kommt die digitale Welt fremd vor; anders als ihre Kinder schauen sie von außen darauf und fühlen sich dort unbehaglich. Angesichts dieser Kluft geben viele Eltern auf. Somit bleibt das Kind allein und sieht sich mit den Gefahren der virtuellen Welt konfrontiert.

8 Dieser Abschnitt über Internetabhängigkeit wurde gemeinsam verfasst mit Yaron Sela und Merav Zach.

163

164

Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten

Angesichts dieser Schwierigkeiten und des Ausmaßes ihrer Hilflosigkeit wären viele Eltern überrascht zu hören, dass es vielleicht nur kurze Zeit braucht, um ihr Gefühl der Entfremdung zu verringern und die Risiken zu senken, denen ihre Kinder ausgesetzt sind. In einer Studie über Eltern, die wegen der digitalen Aktivitäten ihrer Kinder besorgt waren, stellten wir fest, dass nach drei Sitzungen Gruppentraining in »Wachsamer Sorge in der digitalen Welt« die Eltern sich nicht mehr hilflos fühlten, ihre Präsenz steigerten und schädliche Praktiken verringern konnten (Sela, 2019). Wir haben gezeigt, dass die Eltern sich in dem Bereich dann besser auskannten, bereitwilliger schützende Schritte unternahmen und erfolgreich die Anzahl der Stunden reduzierten, die ihr Kind vor allem spät in der Nacht vor dem Monitor zubrachte. Diese Ergebnisse haben eine hohe Signifikanz, da dies die erste Studie ist, in der die Abhängigkeit vom Smartphone auf der Basis von Serverdaten objektiv gemessen wurde und nicht nur auf einem subjektiven Bericht gründete. Wir glauben, dass eine gesteigerte Präsenz der Eltern in der digitalen Welt ihrer Kinder zumindest während der Adoleszenz die beste Garantie ist, um die Entwicklung von Internetabhängigkeit abzuwehren, die wiederum typisch ist für eine dysfunktionale Abhängigkeit im Erwachsenenalter (Omer, 2016). Nachstehend werden Probleme behandelt, mit denen die Eltern sich auseinandersetzen lernen können. Umgang mit Internetabhängigkeit Wenn der junge Mensch auf schädliche Weise im virtuellen Raum versunken ist, kann sich das so äußern, dass er sich zunehmend aus der familialen und sozialen Umgebung ausklinkt, seine schulischen Leistungen nachlassen, er sich verstärkt abschottet, Schlafstörungen hat oder sogar seine Handlungsfähigkeit in der realen Welt zugunsten der virtuellen Welt komplett aufgibt. Viele Eltern fragen uns, ob und wie und wie weit sie die vor Bildschirmen verbrachte Zeit ihres Kindes einschränken können. Die Erfahrung lehrt, dass die Begrenzung der täglichen Stundenzahl oftmals unwirksam ist. Mit einer solchen Restriktion kommen die Eltern in die Rolle von Aufsehern, die die Stunden zählen und mit dem Kind streiten. Diese Atmosphäre beschädigt die Beziehung zum Kind und laugt die Eltern aus. Statt eine bestimmte Anzahl von Stun-

Internetabhängigkeit

den festzulegen, können die Eltern ein paar ganz klare Regeln ausgeben, zum Beispiel: »Kein Smartphone, bevor du zur Schule gehst, während der Mahlzeiten oder nach zehn Uhr abends.« Der Vorteil solcher Regeln ist, dass sie fürs Feilschen weniger anfällig sind. Die Eltern sollten nicht glauben, dass sie derlei Einschränkungen ohne intensive Vorbereitung durchsetzen können. Der Versuch, durch Forderungen und Drohungen die vor Monitoren verbrachte Zeit ihres Kindes begrenzen zu können, ist zum Scheitern verurteilt. Die Welt der Displays hat im Leben ihres Kindes eine so durchschlagende Präsenz, dass die Proteste der Eltern tendenziell untergehen. Die Situation ändert sich, wenn die Eltern sich der Aufgabe mit der Geduld und Ernsthaftigkeit nähern, die dafür notwendig sind. Zu diesem Zweck sollten sie ihre Positionen koordinieren, ihre Einschränkungen unmissverständlich ankündigen (ratsam ist eine formale Ankündigung), Unterstützung und Legitimation für ihre Position aufbauen und sich auf entschlossenes Handeln vorbereiten, falls und wann immer die Grenzen verletzt werden. Bertram und Annette besuchten eine Vorlesung über den problemati­ schen Bildschirmgebrauch. Anschließend fragten sie den Dozenten, wie sie die zu einer unangenehmen Routine gewordene Gewohnheit ihrer Kinder, während des Essens auf ihre Smartphones zu starren, ändern könnten. Der Ratschlag: Die Eltern bereiteten eine schriftliche Ankün­ digung vor, versammelten ihre drei Kinder (15, 14 und 10 Jahre alt) um den Tisch und teilten ihnen Folgendes mit: »Seit kurzem sind unsere gemeinsamen Mahlzeiten keine Familien­ ereignisse mehr. Wir sind eher wie eine Sammlung von einzelnen Leu­ ten, die in ihre Handys vertieft sind. Wir haben beschlossen, dass wir alles Notwendige tun werden, um diese für unser Familienleben sehr schädliche Angewohnheit zu ändern. Bertram und ich haben beschlos­ sen, unsere Smartphones während der Mahlzeiten auszuschalten. Diese Regel gilt jetzt auch für euch. Am Tisch wird es keine Smartphones mehr geben. Wir verlangen von euch, dass ihr eure Handys ausschaltet, damit bei den Mahlzeiten nichts mehr klingelt. Wir haben diese Entscheidung euren Großeltern, euren beiden Tanten und deren Kindern mitgeteilt, damit alle ihre Smartphones ausgeschaltet haben, wenn wir in unserem Haus zusammen essen.«

165

166

Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten

Alle Kinder bekamen ein Exemplar der Ankündigung in Schriftform. Bei der nächsten Mahlzeit schalteten die Eltern ihre Smartphones in Anwesenheit ihrer Kinder aus und baten diese, das auch zu tun. Niemand erhob einen Einwand. Die Eltern baten ihre Verwandten, diese Regel zu respektieren, wenn sie zu Familienessen eigenladen waren. Dieser Brauch, die Telefone auszuschalten, wurde auch im Haus der Großeltern umgesetzt, wodurch die Kraft der Regel gestärkt wurde. Annettes jün­ gere Schwester war beeindruckt und führte diese Regel auch in ihrer Familie ein. Bertrams Schwester sah keine Notwendigkeit, eine ähnliche Restriktion in ihrer eigenen Familie einzuführen, war aber damit einver­ standen, die Regel zu respektieren, wenn sie und ihre Kinder bei Bertram und Annette zum Essen eingeladen waren.

Wenn die Eltern Anzeichen dafür entdecken, dass ihr Kind das Smartphone oder den Computer auf eindeutig schädliche Weise benutzt, müssen sie strengere vorbeugende Maßnahmen ergreifen. Nachstehend sind ein paar typische Warnsignale aufgeführt, die eine entschlossenere Intervention rechtfertigen: Ȥ Der junge Mensch schließt die Tür ab, wenn er am Computer sitzt. Ȥ Er sitzt bis spät in die Nacht vor dem Bildschirm. Ȥ Er belastet unerlaubt die Kreditkarte der Eltern. Ȥ Er vernachlässigt die Schule zugunsten virtueller Aktivitäten. Ȥ Er nimmt nicht an Mahlzeiten und anderen Familienaktivitäten teil. Ȥ Er zieht sich von sozialen Aktivitäten zurück. Ȥ Er schreit die Eltern an, wenn er bei seiner Tätigkeit am Computer unterbrochen wird. Der Prozess des Widerstands beginnt am besten mit einer formalen Ankündigung. Eine solche Ankündigung könnte folgendermaßen lauten: »Wir wissen, wie wichtig der Computer in deinem Leben ist. Aber wir haben festgestellt, dass du zu lange vor dem Computer oder mit dem Handy sitzt und dir das grundsätzlich schadet, zum Beispiel was die Schule betrifft oder deinen Schlaf. Wir werden alles tun, um dem entgegenzutreten und um sicherzustellen, dass du Computer und Handy auf konstruktive und nicht auf zerstörerische Weise benutzt.«

Internetabhängigkeit

Nach der Ankündigung kommt deren Umsetzung. Dabei sind ein paar praktische Schritte empfehlenswert. Einen Zeitpunkt festsetzen, zu dem alle Monitore ausgeschaltet sind Die Eltern müssen einen Zeitpunkt festlegen, ab dem alle Bildschirme ausgeschaltet sein müssen. Allerdings sollten die Eltern den Computer des Kindes nicht ausschalten, wenn er gerade benutzt wird. Das führt oftmals zur Eskalation. Die Eltern können ihr Ziel auf verschiedenen Wegen erreichen, ohne in diese Falle zu laufen, und ihrem Kind beispielsweise sagen, dass sie den Computer blockieren werden, wenn es ihn nicht ausschaltet. Die Eltern sollten den Computer blockieren, wenn das Kind nicht anwesend ist, zum Beispiel, indem sie den Internetempfang abschalten oder die Maus entfernen. Sie können ihrem Kind auch sagen: »Du hast fünf Minuten Zeit, um deine Arbeit abzuspeichern und den Computer auszuschalten. Danach stellen wir sicher, dass er heruntergefahren ist.« Kommt das Kind dieser Aufforderung nicht nach, sollten die Eltern ein paar Sekunden lang den Strom abschalten. Wenn dies aus einer sicheren Distanz geschieht, wird der brachiale Akt des Drückens des Abschaltknopfes abgefedert. Oder ein Unterstützer kann das Kind warnen, dass die Eltern den Strom abstellen werden. Wenn die Eltern eine gewalttätige Reaktion des Kindes erwarten, sollten sie tags darauf den Computer ausschalten und ihn blockiert lassen, bis das Kind sich bereit erklärt, sich an die Regeln zu halten. Die Hinzuziehung von Unterstützerinnen und Unterstützern ist entscheidend dafür, dass eine Eskalation verhindert und die Position der Eltern legitimiert wird. Außerdem ist das Zugeständnis seitens des Kindes meistens verbindlicher, wenn Zeugen anwesend sind, als wenn die Zusage nur vor den Eltern gegeben wird. Die Internetverbindung trennen Manchmal müssen die Eltern die Internetverbindung eine Zeit lang unterbrechen. Darauf müssen sie sich verbindlich festlegen und vorbereiten. In vielen Fällen nutzt das Kind das Internet nämlich für notwendige Aktivitäten, zum Beispiel um Hausaufgaben von der Webseite der Schule herunterzuladen. In solchen Fällen sollten

167

168

Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten

die Eltern für die Zeit, in der die Internetverbindung getrennt ist, für alternative Optionen sorgen. Eine Möglichkeit, die viele Eltern nicht kennen, ist die Bereitstellung von Internetdiensten für eine begrenzte Zeitdauer. Ferner gibt es Smartphone-Apps, die den Computer täglich zu einer festgelegten Zeit ausschalten. Kinder, die es gewöhnt sind, Tage und Nächte vor dem Computer zu verbringen, protestieren vielleicht, wenn sie keinen Internetzugang haben. Doch unsere Erfahrung mit Hunderten von Familien zeigt, dass die meisten Eltern die Internetverbindung trennen oder das Handy ihres Kindes ausschalten können, wenn sie sich darauf vorbereiten und Unterstützung holen. Unserer Erfahrung nach werden die Albtraumszenarien, die viele Eltern fürchten, nicht wahr. Wenn Monitore oder Smartphones gesperrt werden, kann das beim Kind Wut oder Tränen hervorbringen, aber wenn die Eltern geplant und entschlossen zu handeln bereit sind, gibt ihnen das letztlich Kraft und verringert das Risiko, dass ihr Kind den Einflüssen aus dem Internet regellos ausgesetzt ist. Das Smartphone beschlagnahmen Diese Maßnahme ruft bei vielen Eltern intensive Ängste hervor. Viele sehen das Smartphone als einen fast natürlichen Teil ihres Kindes und eine Beschlagnahmung als Verletzung eines geheiligten Tabus. Die Eltern haben auch Angst davor, was passieren könnte, wenn ihr Kind außer Haus ist und sie keinen Kontakt zu ihm aufnehmen könnten. Deshalb müssen die Eltern darauf vorbereitet werden, wenn sie ihrem Kind das Handy wegnehmen, insbesondere dann, wenn das Telefon missbräuchlich verwendet wird. An diesem Punkt ist die Beschlagnahme des Smartphones gerechtfertigt. In den meisten von uns behandelten Fällen hat die Beschlagnahmung nur ein paar Tage und in einigen wenigen Fällen ein paar Wochen gedauert. Einige Jugendliche rebellierten gegen die Beschlagnahme, indem sie von ihrem eigenen Geld ein neues Smartphone kauften. In solchen Fällen verboten die Eltern ihrem Kind, das Handy zu Hause zu benutzen. Die Eltern hielten eine solche Maßnahme für gerechtfertigt, wenn das Smartphone wie eine süchtig machende Droge benutzt wurde. Genauso wenig, wie sie ihrem Kind den Konsum illegaler Drogen zu Hause erlauben würden, sollten sie dies bei

Internetabhängigkeit

einer Smartphone-Sucht tun. Zu einer physischen Auseinandersetzung sollte es wegen eines Smartphones nicht kommen. Manche Eltern sagten ihrem Kind, dass sie ihm das Handy wegnehmen würden, wenn es das Gerät trotz ihres Verbotes benutzen würde. Dann schafften die Eltern das Smartphone weg, als das Kind schlief, oder sie verlangten von ihm, dass es das Smartphone in Anwesenheit von Unterstützern aushändigen solle. Die Unterstützer und Unterstützerinnen tragen nicht nur dazu bei, dass die elterliche Maßnahme bekräftigt wird, sondern helfen auch dem Kind, sein Smartphone zurückzubekommen, wenn es die von den Eltern geforderten Einschränkungen akzeptiert hat. Oftmals sind die Eltern überrascht, dass ihr Kind den neuen Regeln zustimmt, wenn der Vorschlag von einer dritten Partei respektvoll vorgetragen wurde. Simon und Renate schauten hilflos zu, als ihre Tochter Rhea (16 Jahre) die Schule abbrach und Tage und Nächte auf der Plattform Facebook verbrachte. Als der Therapeut den Eltern vorschlug, dass sie Rheas Gebrauch des Smartphones begrenzen sollten, schrie Simon: »Das ist ja ein extremes Vorgehen. Das ist so, als ob Sie von mir verlangten, mei­ ner Tochter den Arm abzuschlagen! Woher weiß ich, dass das nicht zu Depressionen führt oder etwas Drastisches mit ihr macht?« Später im Gespräch kam heraus, dass Rhea nie damit gedroht hatte, sich etwas anzutun, und depressiv war sie auch nicht. Der Therapeut erklärte: Auch wenn es derlei Drohungen gegeben hätte, wäre die Antwort darauf nicht, Rheas virtuelle Welt zu Lasten einer normalen Handlungskompetenz unangetastet zu lassen. Der Therapeut richtete sein Augenmerk auf die Wendung »meiner Tochter den Arm abschlagen«, worin sich die übertriebene Angst und das Gefühl von Unrechtmäßigkeit ausdrücke, wenn in Bezug auf das Smartphone eine Aktion gestartet werde. Nach einem Prozess, in dem die Eltern sich auf unterschiedliche Szenarien des Widerstands seitens ihrer Tochter vorbereitet hatten, machten sie eine Ankündigung, intensivierten ihre Kontrolle, und als dies alles nicht zu einer Verbesserung führte, sperrten sie den Computer und nahmen Rhea das Smartphone weg. Zur Überraschung der Eltern hörte Rhea zu der Zeit dieser Ereignisse mit ihren Protesten auf. Sobald sie sah, dass ihre Eltern ihre Drohung wahr machten, fing sie sofort zu verhandeln an. Die Diskussionen dauer­

169

170

Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten

ten mehr als zwei Wochen. In dieser ganzen Zeit konnte Rhea ohne ihren Computer oder ihr Smartphone leben. Der Grund, weshalb diese Phase so lange dauerte, war, dass die Eltern von Rhea verlangten, sie solle wieder in die Schule gehen. Es gab zwar immer noch Schwierigkeiten, nachdem Rhea wieder über ihren Computer und ihr Handy verfügen konnte, aber ihr Handymissbrauch war deutlich geringer geworden. Als der Therapeut am Ende der Therapie Rheas Vater an das Sprachbild erinnerte, der Tochter den Arm abzuschlagen, sagte Simon: »Ich kann es nicht glauben, dass ich so etwas gedacht habe. Als ob das Smartphone so heilig wäre wie das Leben meiner Tochter!« Achim und Nina sind die Eltern von Martin (14 Jahre), der bis vor einem Jahr ein ausgezeichneter Schüler, aktiver Pfadfinder und ein beliebter Junge war. Die Veränderung, die damit begann, dass Martin sich intensiv mit Online-Spielen beschäftigte, hatte seine Eltern völlig unvorbereitet erwischt. Innerhalb weniger Monate hatte er sich von fast allen sozialen Aktivitäten zurückgezogen, und seine schulischen Leistungen waren entsprechend schlecht geworden. Er kam spät nachts nach Hause und verließ früh am Morgen das Haus, um stundenlang im Park zu sitzen und auf seinem Smartphone Spiele zu spielen. Sein Verhältnis zu seinen Eltern, das zuvor sehr gut gewesen war, verschlechterte sich rapide. Die Eltern bereiteten eine Ankündigung vor, die sie Martin in Anwe­ senheit von zwei Großeltern, einem Onkel, einer Tante und Richard, einem älteren Cousin, den Martin bewunderte, präsentierten. In der Ankündigung sagten die Eltern, sie würden alles in ihrer Macht Stehende tun, um der Spielsucht Einhalt zu gebieten, die Martins Leben im Griff hatte. Nach der Sitzung lud Richard den Jungen zu einem Treffen ein, um über Möglichkeiten einer angemessenen Lösung des Problems zu sprechen. Die beiden trafen sich in einem Café. Nach einem zweistün­ digen Gespräch schrieben sie zusammen einen Vorschlag auf. Dem­ zufolge versprach Martin, erst dann mit Online-Spielen zu beginnen, wenn er die täglichen Hausaufgaben gemacht habe. Er war auch damit einverstanden, den Computer erst nach dem Abendessen und nur in Anwesenheit eines Elternteils oder eines Unterstützers einzuschalten; dessen Aufgabe würde darin bestehen, den Zeitpunkt zu notieren, zu dem Martin mit dem Spielen angefangen habe, und ihn eine Viertel­ stunde, bevor seine ihm zugestandenen drei Stunden abgelaufen wären,

Internetabhängigkeit

auf das Spielende aufmerksam zu machen. Martin sagte zu, den Com­ puter auszuschalten, sobald er diese Warnung erhalten würde. Martin versprach auch, die Spiele nicht auf seinem Smartphone zu spielen, und akzeptierte, dass er sein Smartphone abgeben müsse und das Recht, einen Computer in seinem Zimmer zu haben, verwirken werde, wenn er dieses Versprechen brechen würde. Richard entwickelte mit Martin einen Plan, wie er die versäumten Schularbeiten nachholen könnte. Innerhalb von zwei Monaten hatte Martin in allen wichtigen Bereichen, die er vernachlässigt hatte, das Versäumte wieder aufgeholt. Zur gro­ ßen Überraschung war Martin selbst zu dem Schluss gekommen, dass die Spielerei im Internet sein Leben ruinierte. Innerhalb kurzer Zeit wurden die Bedingungen, unter denen der Junge seinen Computer benutzen durfte, irrelevant, weil er das Online-Spielen komplett auf­ gegeben hatte.

Die Eltern sind oftmals skeptisch, ob diese Schritte überhaupt garantieren könnten, dass ihr Kind den schädlichen Computergebrauch nicht an einem anderen Ort oder auf andere Weise fortsetzen würde. An diesem Einwand können wir den Eltern die tiefere Bedeutung des Konzepts des gewaltlosen Widerstands klarmachen. Sie können sich dagegen wehren, dass ihr Kind den Computer missbräuchlich verwendet, aber sie können nicht darüber bestimmen, was ihr Kind tatsächlich macht. Der Widerstand ist sinnvoll, selbst wenn es dem Kind gelingt, die gesetzten Regeln zu unterlaufen. Die Botschaft der Eltern lautet: »Wir geben dir nicht die Mittel an die Hand, damit du dich selbst zerstörst!« oder: »Wir sind nicht damit einverstanden, dass unser Zuhause zu einem stagnierenden ›morbiden Unterschlupf‹ wird!«. Der Umstand, dass das Kind außerhalb des Elternhauses oder manchmal dadurch, dass es die Eltern zu Hause beschwindelt, erfolgreich das bekommt, was es will, macht den elterlichen Widerstand nicht unwirksam. Die Ähnlichkeit zwischen unserer therapeutischen Arbeit mit den Eltern von Adoleszenten und unserem Behandlungsvorgehen bei den Eltern von erwachsenen Kindern ist unverkennbar. Wenn die Eltern entschlossen handeln, um den digitalen Missbrauch durch ihr Kind zu unterbinden, leisten sie eine wichtige Arbeit, mit der sie einer dysfunktionalen Abhängigkeit bei ihrem erwachsenen Kind

171

172

Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten

vorbeugen. Wir erklären dies den Eltern so: »Die missbräuchliche Nutzung des Computers durch Ihr Kind gefährdet dessen Zukunft. Vielleicht gehört Ihr Kind zu den Heranwachsenden, die sich immer mehr zurückziehen und bildschirmabhängig sind bis zu dem Punkt, an dem sie im realen Leben nicht mehr handlungsfähig sind.« Dies motiviert viele Eltern zum Handeln. Wir sagen ihnen eigentlich nur offen und ehrlich das, was sie bereits vermutet haben.

Schulverweigerung und sozialer Rückzug Viele Unerwachsene haben eine Karriere der Schulverweigerung und/oder des sozialen Rückzugs hinter sich. Zur Schulverweigerung kommt es oftmals bei Kindern in den frühen bis mittleren Schuljahren, und sie kann sich in der Adoleszenz zu einem chronischen Phänomen entwickeln. Der Schulabbruch ereignet sich meistens in der Realschule, im Gymnasium oder in einer berufsbildenden Schule. Dem Ereignis kann Schulversagen, eine akute psychische Krise oder eine gescheiterte Anpassung an das Leben außerhalb des Elternhauses vorausgehen. Der soziale Rückzug in der Adoleszenz setzt sich oft ins Erwachsenenalter hinein fort. Der junge Mensch zieht sich dann vielleicht ins Elternhaus oder auch in sein eigenes Zimmer zurück, wo er zum Einsiedler wird. Die Schulverweigerung hat starke Auswirkungen auf die Identität eines Kindes. Zu der Schülerrolle gehören nicht nur schulische Leistungen, sondern auch die Festlegung der Alltagsroutine, das Gefühl der Zugehörigkeit, die Bezugsgruppe und eine Orientierung auf die Zukunft hin. Wenn die Schulverweigerung chronisch wird, wird die kindliche Identität als Schüler ersetzt durch schädliche Formen der Selbstcharakterisierung wie etwa »unfähig«, »schräg« oder »krank«. Der innere Dialog des Kindes ist gekennzeichnet durch defätistische Überzeugungen wie: »Ich kann den Druck nicht aushalten« oder: »Ich gehöre nicht dazu!« oder: »Ich bin ein Versager!«. Derlei Auffassungen werden unabsichtlich verstärkt durch das Umfeld, etwa durch ein psychiatrisches diagnostisches Etikett, geringere Erwartungen an die eigene Handlungsfähigkeit und die Schaffung einer künstlichen Umwelt, in der Passivität gefördert wird.

Schulverweigerung und sozialer Rückzug

Viele Eltern sind sich nicht sicher, ob sie ihr Kind mit Drohungen und Bestrafungen zwingen sollen, wieder zur Schule zu gehen, oder ob sie sich mit dem Leiden ihres Kindes identifizieren und ihm erlauben sollen, zu Hause zu bleiben. Beide Herangehensweisen scheitern oft und lassen die Eltern und ihr Kind ratlos zurück. Unser therapeutisches Programm, das den Eltern beim Problem der Schulverweigerung ihres Kindes helfen soll, bringt diese auf ihre Ankerfunktion zurück, in der sie den Kräften Widerstand leisten können, die ihr Kind vom Schulbesuch abhalten und seine Identität als Schüler bedrohen (Omer, Schorr-Sapir u. Efron, 2016). Dieser Prozess unterstützt die Eltern darin, ihre Führungsrolle in der Familie wieder einzunehmen und ihre Präsenz, die in den Hintergrund getreten war, wieder zu demonstrieren. Unsere therapeutische Arbeit mit den Eltern von schulverweigernden Kindern umfasst – wie unser therapeutisches Programm für die Eltern von Unerwachsenen – die Formulierung einer Ankündigung, den Aufbau eines Unterstützernetzwerks (in dem die Lehrer eine zentrale Rolle spielen), Maßnahmen zur Verringerung der elterlichen Rundumversorgung und proaktive Schritte, mit deren Hilfe die kindliche Identität als Schüler bewahrt wird. Die Eltern und Lehrer entwickeln zusammen einen Plan, wie das Kind über den Lehrplan, die Hausaufgaben und Schulereignisse auf dem Laufenden gehalten werden kann. Der Kontakt zu Schulkameraden und Lehrern wird gepflegt oder wieder aufgenommen. Wichtig ist, den Ablauf eines regulären Schultags beizubehalten, auch wenn das Kind zu Hause ist. Die Eltern sorgen dafür, dass am Abend davor die Schultasche gepackt wird. Außerschulische Aktivitäten, die mit dem Schulbesuch nicht vereinbar sind oder das Fernbleiben von der Schule verstärken, sind verboten. Entwickelt wird ein Plan, vorzugsweise gemeinsam mit dem Kind, wie seine Rückkehr in die Schule gestaltet werden soll. Die Unterstützer aus der Schule und dem größeren Familienkreis stehen dem Kind bei, die schulischen Schwierigkeiten oder Probleme mit Lehrern oder Schulkameraden zu bewältigen. Obwohl dieses Programm viel Ähnlichkeiten mit unserem therapeutischen Programm für Eltern von Unerwachsenen aufweist, gibt es auch einen bedeutsamen Unterschied. Die Eltern schulpflichtiger Kinder sind für deren Schulbesuch verantwortlich; erwachsene Kin-

173

174

Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten

der sind, zumindest gesetzlich, für sich selbst verantwortlich. Deshalb ist es nicht die Aufgabe der Eltern von Unerwachsenen, ihr erwachsenes Kind zu gemahnen, seinen Verpflichtungen nachzukommen, es zur Arbeitsstätte zu begleiten oder sich mit seinen Lehrenden an der Universität zu beraten und Lösungen für die Probleme zu suchen, die sein Fernbleiben von Kursen oder Veranstaltungen entschuldigen würden. Die Eltern erwachsener Kinder sollten sich darauf beschränken, ihr Kind in die Außenwelt zu entlassen, es dorthin aber nicht zu eskortieren. Auch die Eltern jüngerer Kinder sind nur begrenzt verantwortlich für die Dysfunktion ihres Kindes. So sollten die Eltern eines Adoleszenten, der sich sozial zurückzieht, nicht dessen Freunde zu sich nach Hause einladen oder Telefonanrufe tätigen, die ihr ängstliches Kind zu vermeiden versucht, oder zwischen ihrem Kind und der Außenwelt zu vermitteln versuchen. Die Eltern können die sozialen Kontakte ihres Kindes fördern, aber definitiv nicht das ausweichende Verhalten ihres Kindes dadurch kompensieren, dass sie an seiner Stelle handeln. Die wesentliche Aufgabe der Eltern eines sozial unsicheren Kindes besteht darin, seine Rundumversorgung einzustellen und die Entstehung eines stagnierenden »morbiden Unterschlupfes« zu verhindern. Wenn man einen Adoleszenten überreden will, ihm in den Ohren liegt oder ihn bearbeitet, doch soziale Kontakte aufzubauen, geht das Unterfangen oft nach hinten los. Der Widerstand der Eltern ist meistens viel wichtiger als der Druck der Eltern. Predigen, Drohungen oder Bestechung sind immer unpassend. Alle Maßnahmen, die wir in Kapitel 3 beschrieben haben, um die Rundumversorgung zu stoppen und den Unterschlupf niederzureißen, sind auch bei Kindern sinnvoll, die den Schulbesuch verweigern und sich sozial zurückziehen. Im Umgang mit manchen Adoleszenten ist der Grad des elterlichen Engagements und Widerstands wahrscheinlich genauso hoch wie im Umgang mit erwachsenen Kindern. Deshalb sind die Eltern, die gelernt haben, eine entschlossene, aber nichteskalierende Auseinandersetzung mit einem aufmüpfigen Adoleszenten zu führen, in einer guten Position, in der sie verhindern können, dass eine regelrechte Abhängigkeitsbindung entsteht. Diese Eltern werden die Anzeichen erkennen und die typischen Fehler vermeiden, die die Eltern von bereits

»Tyrannische« Verhaltensweisen

erwachsenen Kindern machen. Die Eltern, die wir behandelt haben, als ihre Kinder Adoleszente waren, kommen manchmal zurück zu uns, wenn es im frühen Erwachsenenalter ihrer Kinder einen Rückschlag gibt. Es hat sich herausgestellt, dass diese Eltern besser darauf vorbereitet waren, mit der Krise fertig zu werden, als die Eltern, die zum ersten Mal zu uns kamen, als ihr Kind schon erwachsen war.

»Tyrannische« Verhaltensweisen Eine andere Vorstufe von dysfunktionaler Abhängigkeit bei Unerwachsenen zeichnet sich ab, wenn der junge Mensch bereits im Kindesalter und in der Adoleszenz schwer zu kontrollierende und dominierende Verhaltensweisen ausgebildet hat. Derartige Verhaltensweisen deuten auf eine komplette Umkehrung der üblichen Familienhierarchie hin, was bis zu dem Punkt reichen kann, dass solche Kinder als »tyrannisch« (Franc u. Omer, 2017) bezeichnet werden. Solche Muster können sich sehr früh zeigen (in manchen Fällen schon bei Dreijährigen). Kinder mit solchen Verhaltensweisen sind mit Diagnosen assoziiert worden, die von Trennungsängsten oder Sozialphobien, oppositionell-aufsässigem Verhalten, obsessiv-­ zwanghaftem Verhalten, hochfunktionalem Autismus bis zu emotionalen Dysregulationsstörungen reichen. Was alle diese Kinder jedoch gemeinsam haben, das ist die Tendenz, ihren Willen durch Schreien, Wutanfälle, extreme Drohungen und körperliche Attacken oder auch auf subtilere Weise durchzusetzen, zum Beispiel durch Instrumentalisierung ihres gesundheitlichen Zustands, durch Panik­attacken oder implizite Drohungen, sich etwas anzutun, wenn die Eltern nicht gehorchen. Die folgenden Überlegungen können zur Klärung beitragen, ob ein Kind »tyrannische« Verhaltensweisen an sich hat. Haben Sie Angst davor, wie Ihr Kind reagieren wird? Das ist ein subjektives Kriterium, das nicht unbedingt mit dem konkreten Verhalten des Kindes oder mit seinem Alter zu tun hat. So leben manche Eltern sehr kleiner Kinder in unterwürfigem Entsetzen vor deren Wutanfällen. Verständnis für die Ängste der Eltern kann helfen, sie zu überwinden. Manche Eltern wagen es beispiels-

175

176

Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten

weise nicht, ihr körperlich erkranktes Kind aufzuregen, damit es nicht noch mehr Schmerzen erleiden muss. Einige dieser Kinder übertreiben vielleicht ihr gesundheitliches Problem, um die Eltern in Schach zu halten. Das kann bei vielen Kindern mit Zyanose (Blausucht) oder Typ-1-Diabetes der Fall sein. Meistens setzt das kontrollierende Kind eine Fülle von Mitteln ein, um die Eltern zu terrorisieren. So spielt ein diabeteskrankes Kind vielleicht mit den Ängsten der Eltern vor seiner Unterzuckerung, oder es verirrt sich immer mal wieder, um seine Eltern in Spannung zu versetzen (Rothman-Kabir, 2018). Wenn man ein solches Verhalten des Kindes als »Manipulation« bezeichnet, hilft das nicht weiter; denn dadurch können sich im Kind weitere Ängste entwickeln, das elterliche Subsystem kann weiter geschwächt und die Kontrolle seitens des Kindes gesteigert werden. Verzichten Sie auf wichtige Aktivitäten, weil Ihr Kind Probleme hat? Die meisten Eltern geben irgendwann einige ihrer Aktivitäten auf, um ihre Kinder zu versorgen, aber in Familien mit Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit opfern die Eltern tendenziell fundamentale Aktivitäten ihres Lebens, die nicht aufgegeben werden sollten. So entsagen manche geschiedene Eltern ihrem Recht auf eine Intimbeziehung, weil das Kind darauf beharrt: »Entweder ich oder er/sie!« Andere Eltern geben ihre berufliche Karriere auf. Auch das soziale Leben der Eltern wird manchmal stark beeinträchtigt, weil entweder die von ihrem Kind auferlegten Einschränkungen so umfassend sind oder weil sie das Gefühl haben, dass andere Menschen ihnen nicht glauben oder sie kritisieren. All das sind gängige Erfahrungen; denn viele dieser Kinder verhalten sich außerhalb ihrer Familien unendlich viel besser als zu Hause, was selbst bei nahen Verwandten dazu führt, dass sie den Berichten der Eltern misstrauen oder diese für ihre Schwierigkeiten selbst verantwortlich machen. Hindert Ihr Kind Sie an gewohnheitsmäßigen Entscheidungen? In manchen Familien kontrolliert das Kind, welches Essen auf den Tisch kommt, wer wo am Tisch sitzt oder welches Familienmitglied morgens zuerst ins Bad darf. Die Geschwister müssen gehorchen,

»Tyrannische« Verhaltensweisen

weil sie sonst von dem kontrollierenden Kind bestraft werden oder Klagen der Eltern riskieren, die auf deren Einsicht bauen, den Familienfrieden zu wahren. Viele Geschwister eines dominierenden Kindes vergeben ihren Eltern nie, dass sie ihr Wohlbefinden den Forderungen ihres problematischen Bruders oder der kontrollierenden Schwester geopfert haben. Manchmal ist es in einer Familie so normal, dass die von dem kontrollierenden Kind diktierten Regeln befolgt werden, dass es große Mühe macht, diesen Zustand zu erkennen. Schämen Sie sich dafür, was bei Ihnen zu Hause geschieht? Schamgefühle sind eng verbunden mit dem Gefühl, isoliert zu sein. Viele Eltern sagen uns, dass ihre häusliche Situation so bizarr sei, dass sie mit anderen Menschen darüber nicht sprechen könnten. Schamgefühle beeinträchtigen auch ihr Selbstbild als Eltern. Sie würden allmählich darüber nachdenken, ob sie bei einer grundlegenden Erziehungsaufgabe gescheitert seien. Der Therapeut muss sich unbedingt mit den Schuldgefühlen der Eltern auseinandersetzen, wenn er sie auf ein Treffen mit den Unterstützern vorbereiten will. Zu wissen, dass andere Eltern ähnliche Probleme mit ihrem Kind haben, kann eine große Hilfe für sie sein. Diesen Umstand nutzen wir bei der Gruppentherapie nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands, die wir zusammen mit unseren Kollegen in Frankreich für Eltern, deren Kinder »tyrannische« Verhaltensweisen zeigen, entwickelt haben (Franc u. Omer, 2017). Ist Ihr Kind gewalttätig? Die Therapeutin oder der Therapeut muss rasch das Thema Gewalt ins Gespräch bringen, weil die Eltern Gewalttätigkeiten tendenziell herunterspielen. Beispielsweise sagte eine von uns behandelte Mutter einmal, dass ihr 15-jähriger Sohn, wenn er aufgebracht sei, mit seinen Händen und Füßen herumzapple. Es bedurfte einiger Nachfragen, um die Tatsache ans Licht zu bringen, dass die Hände und Füße ihres Sohnes nicht nur »zappelten«, sondern die Mutter mehrere Male grün und blau geschlagen hatten. Auch verbale Gewalttätigkeit bedarf der genauen Beschreibung. So ist ein Kind, das »Halt die Klappe!« schreit, nicht zu vergleichen mit einem Kind,

177

178

Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten

das seine Eltern mit extremen Beleidigungen überhäuft. Fast ausschließlich in solchen Familien haben wir eine Art von Gewalttätigkeit gesehen, die darin besteht, dass ein Kind sich physisch an die Eltern klammert, ihnen direkt ins Ohr brüllt oder nachts in deren Zimmer stürmt und sie vom Schlafen abhält. Diese Art von Gewalt sendet eine ganz andere Botschaft aus als die Gewalttätigkeit eines Kindes mit Verhaltensstörungen. Während dieses die Eltern schlagen kann, damit sie ihm aus dem Weg gehen, ist das tyrannische Kind gewalttätig in dem Sinn, dass es sagt: »Du gehörst mir! Ich kann verhindern, dass du weggehst, schläfst oder mit anderen redest!« Die Botschaft der Besitzergreifung ist typisch für diese Art von Eltern-Kind-Beziehung. Obwohl die Beziehung zwischen tyrannischen Kindern und ihren Eltern oft Ähnlichkeit hat mit der erzwungenen Bindung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern, gibt es einen wichtigen Unterschied. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wollen Unerwachsene allein gelassen werden. Da sie sich schon sicher sind, dass die Eltern nicht entkommen können, sind sie auch nicht daran interessiert, die Eltern auf Schritt und Tritt zu kontrollieren. Wenn aber die Eltern ihre Versorgungsdienste einstellen wollen, zeigen die Unerwachsene wieder einige typische Verhaltensweisen von »tyrannischen Kindern«. Unser Therapieprogramm für die Eltern von tyrannischen Kindern weist viele Parallelen zu der in Kapitel 3 beschriebenen Intervention auf. Auch diese Eltern müssen die üblen Auswirkungen einer Rundumversorgung zur Kenntnis nehmen und die Unterschiede zwischen dysfunktionaler und funktionaler Abhängigkeit, den Prozess der Eskalation, die Ankündigung, das Unterstützernetzwerk und den Prozess des Versorgungsentzugs kennen lernen. Das zentrale Ziel der Therapie besteht darin, die Eltern und ihr Kind aus dem verhängnisvollen Griff zu befreien, in dem sie gefangen sind. Das ist auch das zentrale Therapieziel bei Familien mit einem Nesthocker. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die in diesem Sinn erfolgreich behandelten Eltern von »tyrannischen Kindern« die Entwicklung einer lebenslangen dysfunktionalen Abhängigkeit verhindern können.

Verantwortungsloser Umgang mit Geld

Verantwortungsloser Umgang mit Geld Adoleszente, die einen verantwortungslosen Umgang mit Geld pflegen, entwickeln eine andere Art von Abhängigkeit als Kinder und Jugendliche, deren Probleme mit Internetabhängigkeit, Schulverweigerung, sozialem Rückzug oder extremem Kontrollverhalten zusammenhängen. Sie entwickeln sich oft zu erwachsenen Kindern, die zwar nicht mehr im Elternhaus leben, aber auf eine Weise davon abhängig bleiben, die nicht weniger destruktiv ist als die von Nesthockern, die noch ans Elternhaus gebunden sind. Diese erwachsenen Kinder legen oft eine dreiste Anspruchshaltung an den Tag und benehmen sich, als ob es selbstverständlich sei, dass die Eltern für ihre Schulden aus verantwortungslosen Finanzabenteuern, leichtsinnigen Ausgaben, Strafzetteln oder Glücksspielen aufkommen müssten. Zeigen sich die Eltern dann einmal abgeneigt, die Schulden ihres Kindes zu begleichen, reagiert der Unerwachsene mit Zornesausbrüchen oder Suiziddrohungen. Die Eltern von Adoleszenten, die derartige Verhaltensweisen zeigen, können ihren Kindern dadurch helfen, dass sie mit ihnen offen über finanzielle Dinge reden. Geld ist ein gutes Gesprächsthema, weil die Eltern mit einem einfachen Rechenexempel ihre Argumente untermauern können. Wenn die Erklärungen ihres Kindes keinen Sinn ergeben, sind in seinen Abrechnungen mit Sicherheit ein paar unberücksichtigte Posten oder Unstimmigkeiten. Somit ist das Finanzgebaren gut geeignet, um Transparenz zu schaffen. Doch viele Eltern vermeiden eine zugespitzte Diskussion, obwohl sie das Menetekel an der Wand sehen. Als ich (Haim Omer) 15 Jahre alt war, fing ich an, in Sao Paulo im Tabak­ laden meiner Eltern zu arbeiten, der von Abraham, dem Cousin meiner Mutter, geführt wurde. Ich übernahm jeden Tag am Nachmittag für zwei Stunden seine Schicht. Wie vereinbart erhielt ich für meine Arbeit 50 Cruzeiros am Tag, die ich direkt aus der Ladenkasse entnahm. Abra­ ham mochte mich, und wir hatten eine enge und ebenbürtige Bezie­ hung zueinander, die weit über das hinausging, was man angesichts unseres Altersunterschieds hätte erwarten können. Das hätte dazu beigetragen können, dass er die Augen vor der Tatsache hätte ver­

179

180

Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten

schließen können, dass ich nicht nur die vereinbarte Geldsumme aus der Kasse nahm, sondern mir noch eine weitere Entschädigung sowohl in Form von Zigaretten als auch in Form weiterer und nicht deklarierter Geldbeträge gönnte. Ich brachte mich mit einer List zu der Annahme, dass meine Diebstähle unbemerkt blieben. Meine Eltern stellten mir nie Fragen, denn sie vertrauten darauf, dass Abraham ein Auge auf mich haben würde. Erst zwei Jahre nachdem ich in dem Laden angefangen hatte zu arbeiten, zerstörte Abraham meine Illusion, als er mir unmiss­ verständlich andeutete, dass er genau wisse, wie viel Geld in der Laden­ kasse fehle. Ich schämte mich und hörte auf zu stehlen (doch meine Zigarettenvorräte füllte ich weiterhin auf). Über all die Jahre habe ich mich gefragt, wie sich Abrahams nachsichtige Nichtbeachtung auf mein Leben ausgewirkt hatte. Ich glaube, sie trug zu meinem undisziplinierten Umgang mit Geld bei, der mein Finanzgebaren als junger Erwachsener und Vater immer noch prägte. Außerdem gab es ernsthafte Fallstricke, in denen ich mich beinahe verfangen hätte. Ich hatte einen ein paar Jahre älteren Freund, der in Schwierigkeiten geraten war, weil er Schulden gemacht und in dem Rei­ sebüro, in dem er arbeitete, Geld unterschlagen hatte. Er erzählte mir von einem komplizierten Trick, mit dem er glaubte, seine Schulden mehr als zurückbezahlen zu können. Er bat mich, ihm eine bestimmte Geld­ summe zu leihen, die er benötige, um seinen Plan umsetzen zu können. Zum Glück geschah dies, gleich nachdem Abraham mir klar gemacht hatte, dass er von dem verschwundenen Geld in der Kasse wisse. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich überreden lassen, meinem Freund aus dem Schlamassel herauszuhelfen, und wäre selbst in einen Schlamassel hineingeraten.

Wenn die Eltern mit ihrem Kind über finanzielle Dinge sprechen möchten, ist ein guter Weg der, dass sie ihm beispielsweise mitteilen: »Wir wissen, dass du in finanziellen Schwierigkeiten bist, und wir möchten mit dir reden und dir helfen, dass du solche Schwierigkeiten zukünftig vermeiden kannst!« Eine solche Botschaft zeigt, dass die Eltern aus Liebe und Sorge für ihr Kind handeln. Das Gespräch zielt hauptsächlich darauf ab, Transparenz zu schaffen. Transparenz ist nicht nur wichtig bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei einem Unerwachsenen, der Schulden hat und erwartet, dass seine

Verantwortungsloser Umgang mit Geld

Eltern ihn retten. Der folgende Fall verdeutlicht, wie Transparenz im sozialen Netzwerk des Jungen dazu diente, dass er keine Schulden mehr machen konnte. Die Eltern von Christian (15 Jahre) hatten für den Jungen, als er noch klein war, ein Sparkonto eingerichtet und gehofft, ihr Kind zu einem sparsamen Menschen zu erziehen. Doch Christian, der teure Hobbys entwickelte, setzte seine Eltern unter Druck, sodass sie ihm den Zugang zu seinen Ersparnissen ermöglichten, und umgehend gab er das meiste davon für seine Briefmarkensammlung aus. Später entwickelte er eine Leidenschaft für elektronische Geräte, verkaufte seine Briefmarken­ sammlung und fing an, Geräte online zu kaufen und zu verkaufen. Dann fanden die Eltern heraus, dass er Glücksspiele machte. Er hatte alle seine Geräte verkauft und gab den Erlös für Sportwetten aus. Christian vernachlässigte die Schule und lieh sich von seinen Freunden zusätz­ lich Geld für seine Glücksspiele. Zwei Monate, nachdem seine Eltern die Sache mit den Glücksspielen und den Schulden herausgefunden hatten, teilte seine Großmutter den Eltern mit, dass er in Tränen zu ihr gekom­ men sei und sie um Geld gebeten habe, um seine Schulden bei einem Freund zurückbezahlen zu können. Der Junge versprach ihr, dass so etwas nie wieder passieren würde, und sie musste ihm versprechen, dass sie seinen Eltern nichts davon erzählen würde. Die Großmutter gab ihm das Geld und behielt das Geheimnis für sich, aber als die Eltern ihr von Christians Glücksspielen erzählten, sagte sie ihnen, was geschehen war. Die Eltern sagten Christian, dass sie von seinen Schulden, seinem Glücks­ spiel und dem Geld wüssten, das er von der Großmutter geliehen hatte. Sie sagten ihm auch, dass sie ihn sehr genau im Auge behalten würden. Christians Vater und sein Bruder gingen zusammen zu den Warenläden, in denen Christian seine Wettscheine kaufte. Die Verkäufer versprachen, ihm keine Wettscheine mehr zu verkaufen. Der Vater kontaktierte auch einige von Christians Freunden und sagte ihnen, dass bei seinem Sohn die große Gefahr bestehe, spielsüchtig zu werden. Die meisten seiner Freunde reagierten verständnisvoll und sagten dem Vater, sie würden nicht dazu beitragen, dass Christian Wettscheine kaufe oder sonstige Spielaktivitäten ausübe. Die Eltern riefen den größeren Familienkreis zusammen, erklärten den Anwesenden das Problem und baten sie, Chris­ tian kein Geld zu geben. Dabei stellte sich heraus, dass er es bereits

181

182

Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten

geschafft hatte, Geld von seiner anderen Großmutter zu bekommen, und zwei ältere Cousins um Anleihen gebeten hatte. Die Eltern kündig­ ten Christian an, sie würden regelmäßige Kontrollen in seinem Zimmer machen. Die Situation schien sich zu beruhigen. Doch zwei Jahre spä­ ter fanden sie einen Wettschein in seinem Zimmer. Sie konfrontierten Christian mit seinem Verhalten und nahmen die intensive Kontrolle des Jungen wieder auf. Die Eltern wussten jetzt, dass bei Christian die große Gefahr bestand, spielsüchtig zu werden. Obwohl sie es geschafft hat­ ten, ihn bis zu seinem Abitur einigermaßen vom Glücksspiel abzuhalten, waren sie sich alles andere als sicher, was die Zukunft bringen würde. Zumindest würden sie von schlimmen Entwicklungen nicht mehr kalt erwischt werden (Omer, 2016).

Im folgenden Fallbeispiel wird veranschaulicht, wie Transparenz bei einem erwachsenen Kind erreicht wurde, das seine finanzielle Situation nicht aufdecken wollte, aber erwartete, dass die Eltern seine Schulden bedienten: Rudi (27 Jahre) war finanziell von seinen Eltern abhängig. Er lebte in einem Apartment, das sie für ihn angemietet hatten, und sie bezahl­ ten alle seine Ausgaben. In der Vergangenheit hatte Rudi sich als fähig erwiesen, eine Arbeitsstelle zu behalten. Doch er hatte davon geträumt, Schauspieler zu werden, und seine Eltern hatten ihm erlaubt, diesen Traum zu realisieren. Er wurde an einer renommierten Schauspielschule angenommen, brach die Ausbildung aber während des ersten Jahres ab. Dann bewarb er sich an einer anderen Schauspielschule, fiel aber beim Vorsprechen durch. Danach kehrte Rudi nicht mehr an seinen Arbeits­ platz zurück, und seine Eltern gaben ihm weiterhin dieselbe monatliche Geldsumme, als wenn er studieren würde, auch deshalb, weil sie ihn für einen Menschen mit künstlerischer Begabung hielten. Aber er schien mehr Geld zu brauchen, als die Eltern ihm gaben. Er wandte sich wegen weiterer finanzieller Unterstützung an die Eltern, nachdem seine Bank ihm mitgeteilt hatte, dass seine Kreditkarte demnächst gesperrt werden würde. Die Eltern beschlossen, dass sie bei ihm volle Transparenz errei­ chen müssten, aber Rudi weigerte sich, seine Konten offenzulegen, und behauptete, dass sie seine Privatangelegenheit seien. Die Eltern sagten ihm, sie würden gern einen Fachmann zu Rate ziehen, der mit ihm seine

Verantwortungsloser Umgang mit Geld

Konten durchgehen und ihm bei der Entwicklung eines Sanierungsplans helfen würde. Sie sagten ihm auch, dass sie ihm helfen würden, aus sei­ nen Schulden herauszukommen, aber nur unter professioneller Aufsicht. Der Finanzberater würde den Eltern Kurzberichte zukommen lassen, in denen die Details von Rudis Ausgaben nicht aufgeführt wären. Rudi zeigte sich mit den elterlichen Bedingungen einverstanden und koope­ rierte mit dem Finanzberater. Er nahm eine Arbeit an, wechselte mehrere Male den Arbeitsplatz, war aber nicht lange arbeitslos. Ein Jahr später hatte er die meisten seiner Schulden abbezahlt und einen Teil des Geldes, das ihm seine Eltern für laufende Ausgaben gege­ ben hatten, zurückbezahlt. Nach ein paar stabilen Jahren waren die Eltern versucht, Rudi zu seinem 30. Geburtstag ein Geschenk zu machen und ihm zu ermöglichen, seinen Traum von einer Theaterreise nach Lon­ don zu verwirklichen. Zu ihrem Erstaunen endete die Reise nach London mit neuen Schulden, was Rudis schwer erkämpfte Stabilität gefährdete. Die Eltern wandten sich wieder an den Finanzberater. Diese Ereignisse machten deutlich, dass sie mit allen Situationen vorsichtig sein mussten, in denen Rudi ihre finanziellen Zuwendungen auf unkontrollierte Weise genießen konnte.

183

Kapitel 6 Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

Es ist erforderlich, dass das in Kapitel 3 vorgestellte Interventionsvorgehen an die besonderen Bedingungen angepasst wird, unter denen die Familie therapeutische Hilfe sucht. Die Ausgangssituation ist eine andere, wenn beispielsweise die Eltern wegen eines akuten Notfalls Hilfe suchen oder der Zustand in der Familie chronisch ist, wenn das erwachsene Kind gleichzeitig in psychiatrischer stationärer Behandlung ist oder sich weigert, sein Zimmer zu verlassen, oder wenn die Eltern in den Sechzigern oder in den Achtzigern sind. Alle diese Situation stellen besondere Herausforderungen an die Betroffenen. In diesem Kapitel beschreiben wir, wie die Intervention situativ angepasst wird und die Besonderheiten einer Situation als potenzielle Hebel zur Veränderung genutzt werden.

Notfälle Die Eltern kommen oft dann zu uns, wenn ein Notfall eingetreten ist, zum Beispiel, wenn ihr Kind einen Gewaltausbruch hatte, einen Suizidversuch unternommen hat, einen psychotischen Zusammenbruch oder Ärger mit der Polizei hatte. Jede Familie hat ihre eigene Definition von einer Krise. Für manche Eltern liegt eine Krise in dem Moment vor, in dem ein Adoleszenter von verbaler zu physischer Gewalt übergeht; für andere ist eine Krise der Übergang von Suiziddrohungen zum konkreten Versuch; für wieder andere Eltern liegt eine Krise vor, wenn die Nachbarn involviert sind. Krisen bieten auch Möglichkeiten; denn die Tatsache, dass etwas als außer-

186

Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

gewöhnlich erlebt wird, rechtfertigt außergewöhnliche Maßnahmen. So können Aufgaben, die zu den frühen Phasen der Intervention gehören, beschleunigt werden. In weniger als zwei Wochen kann die Ankündigung übermittelt und das Unterstützertreffen durchgeführt werden. Notfälle rechtfertigen Tabubrüche und die Überschreitung von Linien, die noch nie zuvor überschritten worden sind. Der Therapeut, der eine solche Gelegenheit flink ergreift, stellt vielleicht fest, dass bereits in der ersten Therapiesitzung eine starke therapeutische Allianz entwickelt werden kann. Dagegen stellt der Therapeut, der auf das elterliche Gefühl der Dringlichkeit eher bedächtig reagiert, vielleicht fest, dass eine solche Gelegenheit verwirkt ist, da die Bedürfnisse der Eltern noch nicht berücksichtigt worden sind. Die Bewältigung eines Notfalls gibt den Eltern ein Befähigungsgefühl. Doch ein erfolgreiches Krisenmanagement ist etwas anders als nur eine Beruhigung der Situation. Eine Krise zum Abflauen zu bringen ist weit davon entfernt, Fähigkeiten zu verleihen, wenn ein Notfall zum Beispiel zur weiteren Rundumversorgung führt. Mit unserer Praxis verfolgen wir das genaue Gegenteil: Wir nutzen den Notfall als eine Gelegenheit, damit die Eltern ihre Rundumversorgung reduzieren. So kann das Notfallmanagement zu einem Modell für die gesamte Intervention werden. Susanne (65 Jahre) war Witwe und Mutter von zwei sehr handlungs­ kompetenten Töchtern und einem Sohn, Fritz (38 Jahre), der ein sehr ausgeprägtes Anspruchsdenken zeigte. Fritz lebte in einem Apartment, das Susanne gehörte, nahm gelegentlich eine Arbeit an und hatte bei vielen Leuten Schulden. Oft drohte er mit Suizid, um seiner Mutter wei­ teres Geld aus der Tasche zu ziehen, oder er deutete an, er werde von seinen Gläubigern bedroht. Susannes eigene finanzielle Situation wurde zunehmend angespannt, während Fritz’ Schulden sich nicht zu verrin­ gern schienen. Der Notfall wurde ausgelöst, als Fritz seine Mutter telefonisch bedrängte und darauf beharrte, dass sie ihm Geld gebe, und ihr erzählte, er sei in ernsthafter Gefahr. Einmal kam er mitten in der Nacht in ihre Wohnung und drohte, dass sie »für die Konsequenzen verantwortlich« sei, wenn sie ihm nicht helfen würde. Sobald er seine Mutter sah, rauchte er eine Zigarette nach der anderen, was er sonst nirgendwo machte. In

Notfälle

einem solchen Anfall schien Fritz sich mit Nikotin vergiften zu wollen, und Susanne musste den Krankenwagen rufen. Sie dachte, er würde versuchen, einen Herzinfarkt auszulösen. Im Laufe einer Therapiesitzung fing Susanne an zu weinen und fragte den Therapeuten: »Kann ich ihn irgendwie dazu bringen, dass er mit dem Rauchen aufhört?« Die Mutter konnte nicht mehr schlafen, ver­ lor ihren Lebenswillen und ging nicht mehr ihre Enkelkinder besuchen. Ihr Blutdruck stieg, und sie spürte Schmerzen in der Brust. Sie fühlte sich schuldig dafür, dass sie ihren Töchtern das Erbe ihres Vaters nahm, indem sie ihrem Sohn Geld gab. Beim Umgang mit einem Notfall ist es ein Leitprinzip, Prioritäten zu setzen und direkte und erreichbare Ziele zu formulieren. Susanne hatte sich drei unerreichbare Ziele gesetzt: Fritz dazu zu bringen, mit dem Rauchen aufzuhören; seine Schulden zu begleichen; und ihn für seine Finanzen verantwortlich zu machen. Doch der Notfall war nicht nur der von Fritz, sondern auch der von Susanne. Aus dieser Perspektive ließen sich einige klar erreichbare und doch nicht weniger wichtige Ziele defi­ nieren. Wir konnten Susanne helfen, Fritz’ Erpressungen zu widerstehen; sie konnte ihre eigene Gesundheit schützen; sie konnte sich gegen Fritz’ Manipulation und Druckausübung erfolgreich wehren; und sie konnte mehr Zeit mit ihren Enkelkindern verbringen. Um diese Ziele zu erreichen, musste Susanne sich auf ihr Unterstützernetzwerk verlassen. Angesichts des enormen Drucks, unter dem sie stand, war Susanne ohne Wenn und Aber bereit, die Hilfe ihrer Töchter, Schwiegersöhne, Brüder, Schwester und ihrer besten Freundin einzuholen. Mithilfe der Unterstützer wurde Fritz mitgeteilt, dass seine Mutter seine Telefonanrufe nicht mehr annehmen würde. Er könne ihr Mitteilun­ gen durch die Unterstützer zukommen lassen. Man sagte ihm, dass seine Mutter bei den Töchtern übernachten werde. Der Onkel teilte Fritz mit, dass er, wenn er das wolle, ihm helfen würde, Kontakt zu einem Finanz­ berater aufzunehmen. Mit der Unterstützung ihres Schwiegersohns, der Arzt war, entwickelte Susanne einen Plan für ein gesünderes Leben. Sie fing an, täglich Spaziergänge zu machen. Ihr Blutdruck normalisierte und stabilisierte sich, und sie konnte wieder besser schlafen. Die Zeit, die sie mit ihren Enkelkindern verbrachte, gab ihr das Gefühl, etwas Gutes für sie, ihre Töchter und für sich selbst zu tun. Es vergingen etwa drei Wochen, bis Fritz’ Drängen nachließ.

187

188

Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

Susannes veränderte Einstellung zeigte sich, als sie ein paar Monate später den Therapeuten fragte, ob es die richtige Entscheidung ihrer­ seits wäre, ihr Vermögen an ihre drei Kinder zu gleichen Teilen zu ver­ erben. In der Vergangenheit habe sie Angst vor diesem Schritt gehabt, weil Fritz anscheinend angenommen habe, dass er mehr als seinen ihm zustehenden Anteil erben würde, das Apartment, in dem er lebte, ein­ geschlossen.

Die meisten der von uns behandelten Fälle durchlaufen akute und stabile Phasen. Familien mit einem Unerwachsenenen kommen zu uns wegen eines dauerhaften dysfunktionalen Zustands, der von gelegentlichen Krisen durchbrochen wird. Wenn die Situation stabil ist, kann es schwieriger sein, die Eltern zum sofortigen Handeln zu bewegen. Doch der Therapeut sollte nicht einfach zuwarten, bis der Notfall eintritt. Wenn er den Eltern hilft, eine Ankündigung zu verfassen, ein Unterstützernetzwerk aufzubauen und die Rundumversorgung ihres Kindes einzustellen, sind das alles Schritte, die eine kontrollierte Krise auslösen können. Solche durch eine Intervention induzierten Krisen können besonders effizient sein, die Eltern zu mobilisieren, weil sie sich im Vorfeld vorbereiten können und von der Krise nicht kalt erwischt werden. Durch die Vorbereitung auf die Krise sind sie eher imstande, sich selbst zu kontrollieren, eine Eskalation zu vermeiden, ihre Botschaften angemessen zu vermitteln, sich Unterstützung zu holen und eine resiliente Einstellung zu entwickeln.

Beunruhigende Situationen Oft kommen die Eltern zu uns wegen eines Problems mit einer Situation, die zuerst keine Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit zeigt. Viele Fälle von dysfunktionaler Abhängigkeit entstehen aus einem belastenden Lebensereignis, zum Beispiel durch die Beendigung einer Beziehung, Arbeitsplatzverlust, Tod eines nahestehenden Menschen, eine schwere Krankheit oder einen schlimmen Unfall. Solche Krisen, wie schmerzhaft sie auch sein mögen, können sich im eigenen Tempo und von selbst lösen. In anderen Fällen werden durch Lebenseinbrüche oder Niederlagen die eher funktionalen Aspekte

Beunruhigende Situationen

des Handelns beeinträchtigt. Vielleicht sucht der junge Mensch dann Zuflucht in seinem Elternhaus. Natürlich wollen die Eltern ihr leidendes Kind unterstützen. Allerdings müssen sie aufpassen, dass die zeitweilige Bleibe sich nicht in einen stagnierenden »morbiden Unterschlupf« verwandelt. Die Risiken sind besonders hoch, wenn die Eltern ihr Kind für sehr verwundbar halten, seine Fähigkeit der Krisenbewältigung unterschätzen und ihm das Vermeiden von Pro­ blemen ermöglichen. Diese Überschneidung von Krisensituation und Rundumversorgung kann sich als heimtückisch herausstellen. Hier muss die Therapeutin oder der Therapeut den Eltern helfen, schädlichen Prozessen gegenüber wachsam zu bleiben, eine unterstützende, aber keine überbeschützende Haltung einzunehmen, Botschaften der Hoffnung auf Handlungskompetenz des Kindes zu formulieren und gegebenenfalls einen klaren Plan zu entwickeln, damit die Situation nicht in einen chronischen Zustand übergeht. Elterliche Befürchtungen sind etwas ganz Normales und so vielschichtig wie das Elternsein selbst. Die Art, wie die Eltern über ihre Sorgen und ihr Kind sprechen, sagt viel aus über ihre Ängste und Wünsche. Die Sorgen der Eltern können auch ein Fenster in die Vergangenheit öffnen und uns sagen, warum dieses Kind ihrer Ansicht nach in Schwierigkeiten ist und weshalb sie sich um dieses Kind mehr Sorgen machen als um ihre anderen Kinder. Mit den Fragen des Therapeuten kann die Aufmerksamkeit der Eltern auf das Thema Rundumversorgung gelenkt werden, zum Beispiel: »Wenn Sie sich sorgen, ist das überhaupt zum Vorteil Ihres Kindes?« oder: »Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Sie sich diesem Kind gegenüber anders verhalten, als sie es einem anderen Kind im gleichen Alter gegenüber tun würden?« oder: »Gibt es Dinge, die Sie aus Sorge um Ihr Kind tun und die seine Selbstständigkeit beschneiden?«. Wenn man bei diesen Fragen den richtigen Ton trifft, können die Eltern spüren, dass der Therapeut oder die Therapeutin den Kern ihrer Erziehung berührt hat. Damit der Therapeut das Handlungspotenzial des jungen Menschen einschätzen kann, muss er nach seiner täglichen Routine fragen, nach seinen Leistungen in der Schule und am Arbeitsplatz, nach seinen sozialen Kontakten und Aktivitäten, nach seiner Fähigkeit, altersgemäße Aufgaben durchzuführen, und nach dem Verhältnis

189

190

Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

zu den anderen Familienmitgliedern. Wenn das Bild, das die Eltern in dem Moment von ihrem Kind haben, nicht eindeutig zeigt, dass es dysfunktionale Verhaltensaspekte entwickelt hat, kann der Therapeut ein paar Szenarien mit den Eltern erarbeiten, mit deren Hilfe sie sich Klarheit über die Handlungsfähigkeit ihres Kindes verschaffen können, falls neue Sachverhalte entstehen. In solchen Fällen dient der erste therapeutische Kontakt dem vorbereitenden Ziel, dass die Eltern möglichen problematischen Entwicklungen gegenüber wachsamer sind und sich besser darauf konzentrieren. Daniel (21 Jahre) war im zweiten Jahr auf der Uni. Seine Eltern, Alfred und Hilda, suchten uns auf, weil sie sehr beunruhigt waren, dass bei dem Jungen irgendetwas Schlimmes vor sich gehe und sie über seine reale Situation aber völlig im Dunkeln tappten. Mit Unterstützung des Therapeuten konnten sie ihre Sorgen deutlicher artikulieren und einige zielführende Fragen formulieren, die sie Daniel nach dieser Sitzung stel­ len konnten. Nachdem sie mit ihrem Sohn gesprochen hatten, kamen sie zur nächsten Therapiesitzung mit dem Gefühl, dass er allzu eifrig ihre Sorgen zerstreut hatte, aber trotzdem gab es wenig mehr, das sie zu diesem Zeitpunkt tun konnten. Daraufhin half der Therapeut den Eltern zu bestimmen, welche Grenzen überschritten sein und welche Unsicherheiten vorliegen müssten, die eine weitere Beratungssitzung erforderlich machen würden. Drei Wochen später stellten die Eltern fest, dass Daniel sie angelogen hatten. Er hatte ihnen erzählt, er sei immer noch an der Uni, während er sein Studium schon fast ein Jahr zuvor abgebrochen hatte. Die Eltern kamen wieder zur Therapie, und nach wenigen Sitzungen fühlten sie sich hinreichend dafür gerüstet, die Bedingungen zu verändern, unter denen sie Daniel weiterhin zu unterstützen bereit waren. Sie stellten ihre Zah­ lungen für Daniels Studium ein, und er nahm diverse Aushilfsarbeiten an. Zwei Jahre später waren sie damit einverstanden, Daniel die Rückkehr zur Universität finanziell zu ermöglichen, behielten ihn aber dieses Mal genau im Auge und beobachteten, was passieren würde. Johanna (25 Jahre) kehrte ins Elternhaus zurück, nachdem die Bezie­ hung zu ihrem Verlobten in die Brüche gegangen war. Die Eltern, Tino und Kim, kamen zu uns, weil sie über den psychischen Zustand ihrer Tochter

Beunruhigende Situationen

beunruhigt waren. Sie schien depressiv zu sein und vernachlässigte ihr Erscheinungsbild. Doch sie ging weiter zur Arbeit und traf sich auch weiterhin mit ihren Freundinnen. Mithilfe des Therapeuten entwickelten die Eltern ein paar Szenarien zu möglichen Veränderungen von Johannas Stimmungslage, Verhalten oder Lebenssituation. Die Eltern kamen ein paar Monate später wieder, nachdem Johanna ihre Arbeit aufgegeben hatte und fast die ganze Zeit in ihrem Zimmer verbrachte. Mithilfe des Therapeuten fanden sie Unterstützer, und einer von ihnen überzeugte Johanna davon, dass sie mit einem Psychiater sprechen müsse. Sie nahm Antidepressiva und ging einige Zeit später auch wieder zur Arbeit, und sie traf sich wieder mit Freundinnen. Ein halbes Jahr später halfen die Eltern ihr, ein eigenes Apartment zu mieten.

Diese Fallbeispiele zeigen den Verlauf einer kurzen präventiven Intervention, um eine mögliche Verschlechterung hin zu einer dysfunktionalen Abhängigkeit abzuwenden. Durch die Fähigkeit des Therapeuten, die Sorgen der Eltern empathisch anzusprechen und ihnen bei der Erarbeitung eines Szenarios zu möglichen problematischen Entwicklungen zu helfen, konnte er eine therapeutische Allianz aufbauen, die sich als brauchbar erwies, als die beunruhigenden Anzeichen in Alarmzeichen übergingen. Präventive Interventionen bei beunruhigenden Zuständen, die noch keine ausgewachsene dysfunktionale Abhängigkeit darstellen, folgen dem allgemeinen Prinzip: Der entwicklungspsychologische Zeitpfeil ist unumkehrbar. Es ist zwar die Aufgabe der Eltern, ihr Kind zu unterstützen, aber niemals in eine Richtung, die gegen den Verlauf seiner Entwicklung gerichtet ist. Das bedeutet, die Eltern helfen ihrem Kind, aber nicht auf eine Weise, die ihm eine Umkehr erlaubt. In diesem Sinne hat ihr Geben eine anstoßende Funktion. Die Botschaften der Eltern sollten deutlich machen, dass sie eine Umkehr des entwicklungspsychologischen Zeitpfeils nicht akzeptieren. Beispielsweise: »Brichst du die Schule ab? Dann gehst du entweder in eine andere Schule oder suchst dir eine Arbeit. Zu Hause bleiben ist keine Option!« oder: »Du bist in einer psychischen Krise und kannst nicht studieren oder arbeiten? Lass uns überlegen, wie du Hilfe bekommen kannst, um deine Krise zu bewältigen. Hilfe verweigern und Computerspiele spielen, das ist keine Option!« oder:

191

192

Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

»Du brauchst nach einer schlechten Erfahrung in der Außenwelt eine Weile Ruhe im Elternhaus? Wir freuen uns, dich zu sehen und dir helfen zu können, allerdings zu anderen Bedingungen als jenen, als du noch ein Kind warst. Einfach nur bei uns bleiben und nichts tun, das ist keine Option!«. Solche Botschaften werden nicht nur in Worten ausgedrückt, sondern auch in emotionalen Handlungen. Dem jungen Menschen einen Anstoß geben ist der Prozess, durch den solche Worte wahr gemacht werden.

Alte Eltern Eine besondere und extrem herausfordernde Bedingung ist gegeben, wenn ältere Menschen physisch zu schwach sind, um die starke Führungsrolle zu spielen, die das Therapieprogramm des gewaltlosen Widerstands den Eltern üblicherweise abverlangt. Mit fortschreitendem Alter der Eltern kehrt sich das Unterstützungsmuster oftmals um, und die Eltern können aufgrund ihres physischen oder psychischen Zustands von ihren Kindern abhängig werden. Nicht selten schreibt genau der Umstand, dass das erwachsene Kind zu Hause lebt, ihm eine zentrale Rolle in diesem Prozess zu. Gelegentlich funktioniert die Rollenumkehr zum Vorteil aller Beteiligten. Der Unerwachsene kann dann in die Position kommen, einige der vielen Versorgungsdienste, die er von den Eltern erhalten hat, zurückzugeben. Und die Eltern erhalten dann vielleicht eine Entschädigung für all die Jahre ihrer Aufopferung und Mühsal. Doch in vielen Fällen ist das Bild düsterer. Sozialarbeiter, die auf geriatrische Versorgung spezialisiert sind, können viele Horrorgeschichten von vernachlässigenden oder gewalttätigen erwachsenen Kindern erzählen. Wenn die Mobilität der Eltern sich verschlechtert, beansprucht der Unerwachsene vielleicht mehr Raum im Elternhaus als seinen eigenen nicht verhandelbaren Bereich. Wir kennen Fälle, in denen der Unerwachsene das Elternhaus für Trink- und Spielgelage nutzte, während ein entkräfteter Elternteil allein blieb und auf sein Zimmer beschränkt war. Wir behaupten nicht, eine Lösung für das ernsthafte Problem zu haben, wenn die alten Eltern von ihren erwachsenen Kindern malträtiert werden. Doch wenn eine Arbeits-

Alte Eltern

allianz mit den anderen Kindern der geplagten Eltern oder ihren nahen Verwandten entwickelt werden kann, sind manche Schritte der Abhilfe durchaus möglich. In einigen von uns behandelten Fällen bat eine Koalition aus besorgten Kindern und Enkelkindern die alten Eltern um Zustimmung, eine Schutzschicht zwischen den Eltern und ihrem erwachse­ nen Kind ziehen zu dürfen. Manchmal wurden Sozialdienste oder die Polizei hinzugezogen, die ein übergriffiges Beziehungsmuster durchbrachen und sich darum kümmerten, dass die Eltern besser versorgt wurden. In einigen von uns behandelten Fällen, in denen die Eltern aus einem lebenslang praktizierten Muster heraus, ihr erwachsenes Kind zu beschützen, davor zurückschreckten, ihre besorgten anderen Kinder zum Handeln zu ermächtigen, schrieben diese ihre eigene Ankündigung an die verletzbaren Eltern und präsentierten diese dann in Anwesenheit der Unterstützergruppe. So erhielt beispielsweise ein 89-jähriger Witwer eine solche Ankündigung von dreien seiner Kinder, die von sechs anderen Familienmitgliedern unterstützt wurden.

Lieber Vater, wir alle sind zu der Einsicht gelangt, dass Du zu einem Gefangenen in Deinem eigenen Haus geworden bist. Du und Mutter haben sich immer für uns Kinder aufgeopfert, besonders für Johannes, weil er psychisch krank ist. Aber wir alle sind der Auffassung, dass die Dinge inzwischen zu weit gehen. Es ist nicht in Ordnung, dass Dein Haus, das Du und Mutter immer sauber und ordentlich gehalten haben, zur Herberge für Dutzende streunender Katzen geworden ist, die es in einen Müllberg verwandeln. Früher hat Johannes die Katzen immer auf der Straße gefüttert, ohne sie mit ins Haus zu bringen. Da Du nun zu schwach zum Protestieren geworden bist, existiert diese Grenze nicht mehr. Das ist nur ein Anzeichen dafür, wie beängstigend Deine Situation geworden ist. Wir wissen, dass Du schlecht behandelt wirst, dass Du vernachlässigt und schikaniert wirst. Wir haben einen Sozialarbeiter kontaktiert, der morgen vorbeikommen und sich die Sache anschauen wird. Wir haben auch einen Vertreter der städtischen Müllentsorgung beauftragt. Wir wollen, dass die Katzen aus dem Haus ver-

193

194

Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

schwinden und es gereinigt wird. Nächsten Monat wird ein Mitglied dieser Gruppe jede Nacht hier im Haus schlafen. Wir haben Johannes angeboten, dass er ins Apartment der Familie ziehen darf, das Du und Mutter uns vier in Eurem Testament vererbt habt. Wir werden unser Bestes tun, um für Johannes zu sorgen, aber das kann nicht auf Deine Kosten geschehen! Wir haben Dich sehr gern und werden unser Möglichstes tun, damit Du ein erträgliches Leben hast!

Bald danach waren die meisten Katzen aus dem Haus verschwunden, das Haus war gereinigt und eine Zugehfrau angeheuert worden. Johannes (66 Jahre alt, das älteste »Kind« in unserem Therapieprogramm) ver­ suchte, Widerstand zu leisten, aber der Sozialarbeiter holte die Polizei. Die Familie fand schließlich einen Kompromiss. Johannes durfte vier Katzen im Haus behalten, aber durch die wöchentlichen Besuche von Johannes’ Geschwistern und die Anstellung einer Zugehfrau wurden die Lebensbedingungen des Vaters weitaus erträglicher.

Der gewaltlose Widerstand in einem psychiatrischen Kontext Es ist durchaus üblich, dass eine Familie oder ein Therapeut in diagnostische Fragen verwickelt wird. Viele Eltern fragen uns: »Was hat mein Kind denn?« oder: »Wie können wir sie/ihn davon überzeugen, dass sie/er die Medikamente nimmt?«. Oftmals ist das erwachsene Kind zwar in psychiatrischer Behandlung, aber die dysfunktionale Abhängigkeit besteht weiter. Dann sind die Eltern sogar noch bestürzter. »Sollten die Medikamente geändert werden?« oder: »Können Sie einen anderen Psychiater empfehlen?«. Um sich nicht im psychiatrischen Irrgarten zu verlieren, schlagen wir, wann immer derlei Fragen im Raum stehen, einen anderen Fokus vor. Unserer Ansicht nach sollten die Eltern lernen, wie sie sich selbst schützen und sich dysfunktionalen Erwartungen ihres Kindes entziehen können, auch wenn die vorhandenen klinischen Daten weder ein schlüssiges Bild ergeben noch eine wirksame medikamentöse Behandlung ermöglichen. Das bei der Intervention vorgelegte Tempo und der

Der gewaltlose Widerstand in einem psychiatrischen Kontext

Umfang der vorgeschlagenen Veränderung werden sich wahrscheinlich danach unterscheiden, ob das erwachsene Kind an paranoider Schizophrenie, einer Zwangsstörung oder an Internetabhängigkeit leidet, aber der Kernprozess und die zentralen Ziele der Intervention bleiben gleich. Der Prozess des Versorgungsentzugs sollte in Gang gesetzt werden, auch wenn keine schlüssige Antwort auf die Frage nach der Diagnose oder Medikation gefunden werden kann. Schließlich weigern sich viele erwachsene Kinder, einer medizinischen Behandlungsweise nachzukommen oder zuerst einmal mit einem Psychiater zu sprechen. Wenn die Eltern darauf beharren, dass ihr erwachsenes Kind eine Therapie macht, bekommen sie eigentlich selten die Ergebnisse, die sie erwarten. In vielen von uns behandelten Fällen entschloss sich der Unerwachsene zu einer Therapie, sobald die Eltern aufgehört hatten, ihn zu bedrängen und zu versorgen. Unser Programm für die Eltern von Kindern, die Angststörungen hatten und eine Therapie verweigerten, erbrachte ein unerwartetes Ergebnis: 70 Prozent der Kinder waren bereit, sich in Therapie zu begeben, nachdem die Eltern ein Training in gewaltlosem Widerstand absolviert hatten.9 Als die Kinder nach dieser Veränderung befragt wurden, verknüpften sie ihren Sinneswandel mit der Tatsache, dass die Eltern aufgehört hätten, durch ihre Dienste die Ängste der Kinder zu schüren. Das gilt wahrscheinlich auch für viele erwachsene Kinder. Wann immer ein Psychiater oder ein anderer professioneller Betreuer involviert ist, versuchen wir, eine partnerschaftliche Bezie­ hung aufzubauen. Die Kommunikation mit dem Psychiater, dem Sozialarbeiter oder dem Psychotherapeuten des erwachsenen Kindes reduziert widersprüchliche Botschaften, was letztlich das Chaos im System verringert. Forschungen haben gezeigt, dass durch eine zunehmende »Verbundenheit« (sowohl unter den Fachleuten als auch innerhalb des Familienkreises) extreme Risiken wie Suizid reduziert werden (Center for Disease Control and Prevention, 2008). Die Therapie von Familien mit einem Unerwachsenen kann nicht 9 Das Programm zu gewaltlosem Widerstand für Eltern von Kindern mit Angststörungen wird als SPACE (Supportive Parenting for Anxious Child­ hood Emotions) bezeichnet (Lebowitz u. Omer 2013).

195

196

Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

nur für die Eltern höchst belastend sein, sondern auch für die Therapeutin oder den Therapeuten. Zu unseren Teamberatungen ziehen wir oft Psychiater und Sozialarbeiter hinzu, die mit unserem Ansatz vertraut sind. Auch wenn der Unerwachsene das Gespräch mit einem Psychiater verweigert, kann eine gemeinsame Beratung der Experten Hilfe bringen.

Der gewaltlose Widerstand in einer psychiatrischen Klinik Das Konzept des gewaltlosen Widerstands hat sich insofern als wirksam erwiesen, als der Einsatz von körperlicher Fixierung und Gewalt auf Psychiatriestationen reduziert wird (Goddard et al., 2009). In psychiatrischen Settings kann der gewaltlose Widerstand auch noch auf andere Weise hilfreich sein. Die Einweisung in eine Klinik geschieht oft dann, wenn die Familie dem Druck des problematischen Verhaltens des erwachsenen Kindes nicht mehr standhalten kann. Das kann infolge eines gewalttätigen Ausbruchs, einer psychotischen Episode oder eines Suizidversuchs passieren. Manchmal ist es nicht die Verfassung des Unerwachsenen, die sich verschlechtert hat, sondern die Fähigkeit der Familie, diesem Zustand standzuhalten, zum Beispiel wegen Krankheit, Scheidung oder einer finanziellen Krise. Auch wenn die Einweisung in eine psychiatrische Klinik zur stationären Behandlung oft schmerzhaft ist, kann sie auch zumindest kurzfristig Erleichterung verschaffen. Auf den ersten Blick eröffnet die Klinikeinweisung des Unerwachsenen neue Horizonte, weil die in der Familie waltenden Mechanismen der Rundumversorgung und Nötigung aufgrund der Abwesenheit des erwachsenen Kindes gestört sind. Doch die dysfunktionale Abhängigkeit verschwindet dadurch nicht; sie wird einfach der Situation angepasst. Obwohl die Blase, in der die Eltern und ihr erwachsenes Kind von der Außenwelt abgeschirmt geblieben sind, im Augenblick der Klinikeinweisung platzt, wird in diesen Prozess vielleicht ein neuer Partner, das Krankenhauspersonal, eingeführt, was die dysfunktionale Abhängigkeit unabsichtlich verschlimmern kann.

Der gewaltlose Widerstand in einer psychiatrischen Klinik

Die Beziehung zwischen Personal und Patient ist eine ganz andere als die zwischen den Eltern und ihrem erwachsenen Kind. Meistens kann das Personal nicht durch solche Drohungen oder Gewalttätigkeit, denen die Eltern ausgesetzt sind, unter Druck gesetzt werden; und das Personal bietet dem Patienten auch nicht die Dienste an, die das erwachsene Kind vor unangenehmen Situationen geschützt hat. Obwohl man auf Stationen für chronisch Kranke manchmal Zeuge eines »Unterschlupfs« wird, das an das chronifizierte Umfeld von Unerwachsenen zu Hause erinnert, ist dies auf Akutstationen, auf denen Patienten und Patientinnen nicht lange verweilen, meistens nicht der Fall. Und doch kann in vielen Fällen der Klinikaufenthalt tatsächlich ein Glied in einer Kette sein, das die dysfunktionale Abhängigkeit perpetuiert. Der Klinikaufenthalt kann einem Thermostat ähneln, der das Familiensystem dadurch am Laufen hält, dass er es vor der Überhitzung bewahrt. Zu beobachten ist dies in Fällen von immer wiederkehrenden Aufenthalten in der Psychiatrie (auch als »Drehtüreffekt« bezeichnet). Viele Menschen, die immer wieder in die Klinik eingewiesen werden, sind Unerwachsene mit Eltern, die ihrem Kind eine hochgradige Rundumversorgung bieten. Abgesehen davon, dass eine Klinikeinweisung den verzweifelten Familien von Unerwachsenen in akuten psychiatrischen Zuständen als Druckventil dient, kann ein Klinikaufenthalt die Abhängigkeitsbindung auf andere Weise verstärken. Wenn die Eltern ihr erwachsenes Kind zur stationären psychiatrischen Betreuung einweisen, wird das sowohl von den Eltern als auch von ihrem Kind oft als traumatisch erlebt. Die Eltern sagen uns häufig, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um ihr Kind nie mehr in eine klinische Einrichtung geben zu müssen. Der Unerwachsene seinerseits beschuldigt meist die Eltern für die Einweisung und fügt damit ihrer dysfunktionalen Bindung eine neue Schicht von Schuldgefühlen hinzu. Während des Klinikaufenthalts des Unerwachsenen hört der Druck zur elterlichen Rundumversorgung nicht auf. Das erwachsene Kind bombardiert die Eltern vielleicht mit Telefonanrufen, Klagen wegen seines Leidens, seiner schlechten Behandlung und seines entsetzlichen Lebens. Die Eltern erhalten vielleicht lange und detaillierte Listen all der Dinge, die sie bei ihrem Klinikbesuch mitbringen sollen.

197

198

Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

Manche Eltern rufen wiederholt in der Klinik an, weil sie um ihr Kind zutiefst besorgt sind. Manche verlangen besondere Bedingungen, beschuldigen das Personal wegen schlechter Behandlung ihres Kindes und drohen damit, die Medien darüber zu informieren oder das Krankenhaus zu verklagen. Das Personal reagiert oft verärgert und beschuldigt manchmal den Patienten wegen der Schwierigkeiten mit seinen Eltern. Der Zermürbungskrieg zwischen Eltern und Personal kann äußerst schädlich sein. Das Personal verliert an Einflussmöglichkeit, weil diese von den Eltern untergraben wird; die elterliche Überzeugung, dass nur sie für ihr erwachsenes Kind sorgen können, wird bestärkt; und der Unerwachsene gewinnt neue Möglichkeiten, die Eltern in die Unterwerfung zu zwingen. Konflikte zwischen dem Personal und den Eltern sind nicht nur eine Belastung für psychiatrische Stationen, sondern auch für Tagesschulen, Internate und andere Einrichtungen, die sich um die jungen Menschen kümmern. Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands arbeitet mit dem Konzept der Neuen Autorität, um ihn an solche Settings anzupassen. Die Notwendigkeit dieses neuen Konzepts ergibt sich aus der Tatsache, dass die traditionelle Autorität, insbesondere in Bildungsund Therapiesettings, nicht mehr akzeptiert ist. Im traditionellen Sinn beruht Autorität auf Distanz, strenger Kontrolle und einer steilen Hierarchie. Neue Autorität dagegen beruht auf Präsenz, Selbstkontrolle und Unterstützung. Das Konzept der Neuen Autorität erweist sich für Fachleute in institutionellen Einrichtungen oft als interessant, weil es auf positive Weise Stärke vermittelt. Neue Autorität hat den Vorteil, dass mit ihrer Hilfe ein gemeinsamer Nenner zwischen dem Personal und den Eltern gefunden werden kann. So lautet eine Botschaft, die das Personal und die Eltern im Gespräch miteinander umzusetzen lernen: »Wir sitzen alle im selben Boot« (Omer, 2010). Anhand der folgenden Beispiele zeigen wir, wie die Prinzipien der Neuen Auto­ rität angewendet werden können, wenn ein erwachsenes Kind in die Klinik eingewiesen wird. Präsenz Der Mitarbeiter der Nachtschicht bemerkte, dass ein Patient auf der Station einen neu angekommenen Patienten im Krankenzimmer schika­ nierte. Er sagte dem aggressiven Mitpatienten, dass er ein Auge auf ihn

Der gewaltlose Widerstand in einer psychiatrischen Klinik

haben und das übrige Personal informieren werde. In den darauf folgen­ den Stunden kam der Mitarbeiter immer wieder in das Krankenzimmer zurück, beobachtete manchmal von der Tür aus, setzte sich manchmal an das Bett des aggressiven Patienten und manchmal an das Bett des schikanierten Patienten und fragte beide ruhig, ob alles in Ordnung sei. Dann berichtete dieser Mitarbeiter seiner Kollegin von der Tagschicht über die Geschehnisse. Diese teilte beiden Patienten mit, dass sie über den Vorfall in Kenntnis gesetzt worden sei und der Kollege mit ihr in Kontakt bleiben werde. Später am Tag rief die Stationsleitung beide Patienten einzeln zu sich und sagte ihnen, dass das Personal auf dem Laufenden gehalten werde, um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung sei. Durch diese kollektive Demonstration von Präsenz fühlte das Opfer sich sicher, der Aggressor wusste, dass er beobachtet wurde, und das gesamte Personal gewann vor sich selbst und in den Augen der Patien­ ten an Autorität.

Selbstkontrolle Das Personal auf einer reinen Frauenstation war darauf trainiert, wie es reagieren musste, wenn es von einer sehr provokanten Patientin verbal attackiert wurde. Die Mitarbeiterinnen hatten immer einen Zettel in der Tasche, auf dem stand: »Ich werde das mit den anderen Kolleginnen besprechen!« Wann immer eine Mitarbeiterin von einer Patientin verbal angegriffen wurde, verschränkte sie die Arme und sagte nichts, während sie die aggressive Patientin ruhig anschaute. Wenn die Verbalattacke nicht nachließ, zeigte die Mitarbeiterin der Patientin den Zettel und ent­ fernte sich. Etwa eine Stunde später ging eine andere Mitarbeiterin auf die Patientin zu, erinnerte sie an das Geschehene und teilte ihr mit: »Wir müssen einen Weg finden, um Ihre Wutausbrüche zu verringern!« Bevor die besagte Patientin über das Wochenende nach Hause geschickt wurde, rief der Direktor sie zu sich und ging mit ihr die Geschehnisse durch, als sie in der Woche zuvor das Personal verbal attackiert hatte. Der Direktor gab der Patientin Stift und Papier und ließ sie 15 Minuten allein, um darüber nachzudenken, wie sie ihr Verhalten ändern könnte. Als er wiederkam, saß die Patientin vor einem leeren Blatt. Der Direktor sagte: »Wir werden weiterhin nach einer Lösung suchen. Jetzt können Sie nach Hause gehen!« Als sie nach dem Wochenende zurückkehrte, beschimpfte sie das Personal nicht mehr.

199

200

Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

Unterstützung Die Zusammenarbeit mit den Eltern (und manchmal auch mit anderen Familienmitgliedern) ist einer der wichtigen Aspekte, in dem sich auf einer psychiatrischen Station neue Autorität von traditioneller Autorität unterscheidet. Das Personal sagt zu den Eltern: »Wenn wir im Einklang miteinander handeln, wird der Aufenthalt Ihrer Tochter auf der Station sich sowohl für sie als auch für Sie als hilfreich erweisen!« Die meisten Eltern reagieren darauf positiv, vor allem wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zeigen, dass sie daran interessiert sind, die Schwierigkeiten der Eltern mit ihrem erwachsenen Kind zu klären. In Sitzungen, in denen das Personal und die Eltern vertreten sind, sollen Möglichkeiten erwogen werden, wie die Eltern sich selbst schützen und ihre Rundumversorgung reduzieren können. Dabei werden Pläne entwickelt, wie sie auf Drohungen, Attacken, wiederholte Telefonanrufe, endlose Forderungen nach Rückversicherung und Ansprüche auf unangemessene Versorgungsdienste reagieren können. Die Eltern werden zum Mitmachen eingeladen, wenn das Personal bestimmte Regelungen wie zum Beispiel Sit-ins, Dokumentationspflichten oder die Mobilisierung von Unterstützung umsetzt. Das Personal bietet den Eltern an, dass sie in der Woche nach der Entlassung ihres erwachsenen Kindes telefonische Unterstützung erhalten können. So ist der Klinikaufenthalt vielleicht ein Schritt hin zur Befreiung der Familie und kein weiteres Glied in der Kette dysfunktionaler Abhängigkeit.

Die Behandlung nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands in einer psychiatrischen Klinik umfasst alle drei Seiten des Dreiecks: Personal, Eltern und Patient oder Patientin. Das Personal und die Eltern Die ersten Sitzungen verfolgen das Ziel, eine Arbeitsallianz zwischen dem Personal und den Eltern aufzubauen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an solchen Sitzungen teilnehmen (meistens der Arzt des Patienten, eine Pflegekraft und ein Sozialarbeiter), machen den Eltern klar, dass sie alle Partner im Behandlungsprozess sind. Die Eltern werden darüber informiert, wie das Personal mit dem Verhalten ihres erwachsenen Kindes umgeht, und manchmal auch um

Der gewaltlose Widerstand in einer psychiatrischen Klinik

ihre Meinung dazu gebeten. Solche Treffen bieten ausgezeichnete Gelegenheiten, Konflikte zwischen dem Personal und den Eltern vorzubeugen. Die Eltern sind oft angenehm überrascht darüber, von Seiten des Personals emotionale und praktische Unterstützung zu erhalten. Die Arbeitsallianz, die aus diesen Sitzungen erwächst, schafft gute Bedingungen dafür, die weiteren Bemühungen der Eltern zu unterstützen, wenn ihr Kind dann wieder zu Hause ist. Das Personal und der Patient Die Mitarbeiter kommen zusammen, um über dysfunktionale Mus­ter der Abhängigkeit zwischen ihnen selbst und den einzelnen Patienten zu sprechen. Das Personal ist oftmals geteilter Meinung, wobei einige Mitarbeiter eine bestrafende Haltung einnehmen und die anderen eine beschützende Position vorziehen. Das erinnert an die Meinungsunterschiede zwischen den beiden Elternteilen von erwachsenen Kindern. Das Ziel der Mitarbeiterbesprechung ist es, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, damit Situationen nicht eskalieren und keine Rundumversorgung stattfindet. Da diese Fertigkeiten für die Leitung der gesamten Station relevant sind, können sie in den allgemeinen Mitarbeitertreffen erlernt und diskutiert werden, sodass eine gemeinsame Sprache geschaffen wird. Die Eltern und ihr erwachsenes Kind In den Sitzungen, an denen das Personal und die Eltern teilnehmen, kann es auch um die elterliche Rundumversorgung gehen. Die Eltern werden darin unterstützt, über ihre auf die Rundumversorgung ihres erwachsenen Kindes angelegten Reaktionen sowohl während seines Klinikaufenthalts als auch zu Hause zu reflektieren und diese zu reduzieren. Die zu Hause verbrachten Wochenenden des Unerwachsenen sind wichtig, um die Eltern auf seine Entlassung vorzubereiten. In den Wochen nach der Entlassung des Patienten bleibt das Personal in telefonischem Kontakt mit den Eltern und bietet manchmal ein paar Auffrischungssitzungen an, um ihnen zu helfen, den während des Klinikaufenthalts begonnenen Versorgungsentzug fortzusetzen. Manchmal sind sich das Personal und die Eltern darin einig, dass das erwachsene Kind nicht nach Hause entlassen, sondern in eine andere stationäre oder eine rehabilitative Einrichtung überwiesen werden sollte.

201

202

Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

Lea (34 Jahre) wollte sich das Leben nehmen, indem sie aus dem drit­ ten Stock ihres Elternhauses sprang. Sie wurde mehrmals operiert und erholte sich körperlich unglaublich gut. Doch ein Jahr später wurde sie wegen Depressionen und Suizidgedanken in eine psychiatrische Kli­ nik eingewiesen. In den darauf folgenden fünf Jahren pendelte sie zwi­ schen ihrem Elternhaus und dem Krankenhaus, wobei sich allmählich ein beachtlicher Bestand an Diagnosen und medizinischen Behandlungen anhäufte. Zum Zeitpunkt unserer Intervention wurde sie beschrieben als eine Person, die »an einer endogenen Depression (Major Depression), einer Borderline-Persönlichkeitsstörung mit abhängigen und narzissti­ schen Merkmalen und einer niedrigstufigen Persönlichkeitsorganisation leidet«. Diese komplexe Diagnose half nicht, einen klaren Behandlungs­ plan zu entwickeln. Lea zeigte multiple somatische Beschwerden und Funktionsprobleme, verweigerte aber hartnäckig Physiotherapie oder eine Rehabilitationsmaßnahme. Zu ihren früheren Behandlungen zählten Psychopharmaka, Elektrokrampftherapie und Psychotherapie – was aber alles zu keiner Besserung geführt hatte. Das Klinikpersonal sah sie kom­ men und gehen. Ihre Gespräche mit den Eltern und dem Personal waren geprägt von endlosen Klagen über körperliche Beschwerden. Statt über ihre Schmerzen zu sprechen, jammerte, stöhnte und schluchzte sie. Ihre hauptsächliche Beschwerde war die, dass niemand ihre Schmerzen ernst nehme. Doch als man ihr anbot, an einem multidisziplinären Programm bei chronischen Schmerzen teilzunehmen, weigerte sie sich und sagte, sie sei dafür viel zu depressiv oder habe zu starke Schmerzen. Das Leben ihrer Eltern, Stefanie und Tim, war von Leas Bedürfnissen stark in Anspruch genommen. Fünf Jahre lang hatten sie ihre Tochter voller Furcht vor einem weiteren Suizidversuch behütet, sie zu Ärzten gebracht, für sie eine spezielle Diät gekocht und ihren permanenten Klagen zugehört. Stefanie gab ihren Arbeitsplatz auf, nachdem Lea sie mehrmals von der Arbeit weggeholt und gesagt hatte, sie habe eine große Menge Tabletten geschluckt. Obwohl sich herausstellte, dass Lea gelogen hatte, um ihre Mutter nach Hause zu holen, hatte Stefanie nicht das Gefühl, solche Anrufe ignorieren zu können, weil dies das Leben der Tochter kosten könnte. Stefanie und Tim gingen nie zusammen aus und luden auch keine Gäste mehr zu sich ein. Der Kreislauf von Einweisung in die Klinik und Entlassung aus der Klinik führte zu einem Muster der dysfunktionalen Abhängigkeit zwi­

Der gewaltlose Widerstand in einer psychiatrischen Klinik

schen Lea, ihren Eltern und dem Krankenhauspersonal. Im Krankenhaus zog Lea die Aufmerksamkeit des Personals ganz bewusst auf sich. Sie schrie laut, warf sich auf den Boden, drohte mit Suizid oder beschuldigte das Personal krimineller Vernachlässigung, hielt ihre Sorgen manchmal schriftlich fest und las sie dann laut vor. Die Mitarbeiter versuchten zuerst, Lea zu beruhigen, stumpften aber mit der Zeit in ihren Reaktionen ab. Dann rief Lea ihre Eltern an und teilte ihnen mit, sie werde misshandelt, und verlangte, nach Hause gehen zu dürfen. Das Personal vermied den Kontakt zu den Eltern und vermutete, sie glaubten Leas Anschuldigungen. Die Eltern kamen täglich ins Krankenhaus und schmuggelten unerlaubte Sachen ein. Nach zwei oder drei Monaten dieser Routineabläufe kamen Lea, ihre Eltern und das Personal überein, dass die Patientin nach Hause geschickt werden sollte, wobei alle Seiten ein schlechtes Gefühl hatten. Das Personal beschuldigte die Eltern, Leas Zustand zu perpetuieren, und die Eltern beschuldigten das Personal, ohne Empathie und Professiona­ lität zu agieren. Obwohl die Eltern sich schworen, die Tochter nie mehr in die Klinik zu bringen, würde sich der Kreislauf früher oder später wieder einstellen. In der Aussage eines Mitarbeiters spiegelt sich die allgemeine Verzweiflung: »Lea lähmt alle mit ihren Schmerzen!« Auf Initiative des leitenden Psychiaters wurde ein Berater, der nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands arbeitete, auf die Station geholt. Nachdem das gesamte Personal einen Intensivkurs in gewalt­ losem Widerstand absolviert hatte, wurde ein Plan ausgearbeitet, wie mit Leas neuerlicher Wiedereinweisung umzugehen ist. Die Eltern waren überrascht, als der Psychiater ihnen sagte, dass sie Hilfe vom Personal verdient hätten, weil es Lea erst dann besser gehen würde, wenn sich ihr eigenes Leben verbessern würde. Man sagte den Eltern, dass Leas größte Hoffnung auf Genesung darin bestehe, dass sich zwischen ihnen und dem Personal eine gute Arbeitsbeziehung entwickle. Der Berater, der den Ansatz des gewaltlosen Widerstands verfolgte, nahm ebenfalls an diesem Treffen teil und schlug den Eltern eine Reihe von Sitzungen mit ausgewählten Stationsmitarbeitern vor, um sicherzustellen, dass die in der Klinik erreichten Besserungen auch nach Leas Entlassung Bestand hätten. Schon nach einer Woche gab es markante Verbesserungen in der Beziehung zwischen den Eltern und dem Personal. Insgesamt wurden 21 Sitzungen mit den Eltern abgehalten, 14 davon während Leas Klinik­ aufenthalt und sieben nach ihrer Entlassung.

203

204

Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

Zu Beginn der Sitzungen war das erste Ziel, eine gemeinsame Ant­ wort auf Leas Klagen über ihre Schmerzen zu entwickeln. Die Eltern begriffen, dass Lea, solange sie durch ihr Jammern und Heulen Auf­ merksamkeit bekam, in ihrer Regression bleiben würde und die Eltern in ihrem Leiden verharren würden. Man sollte Lea sagen, dass sowohl ihre Eltern als auch das Personal wüssten, dass sie tatsächlich Schmer­ zen habe. Doch sie könnten nicht mir ihr kommunizieren, wenn sie »die Schmerzen sprechen ließ«, das heißt, wenn sie ihre Schmerzen durch Schreien und Stöhnen ausdrücke. Sie könnten nur mit ihr kommunizie­ ren, wenn sie »über ihre Schmerzen sprach«. Der Berater, der nach dem Ansatz des gewaltlosen Widerstands arbeitete, teilte Lea in Anwesen­ heit des gesamten Personals mit, dass zukünftig alle bereit seien, mit ihr über ihre Schmerzen zu sprechen, wenn sie ihrerseits bereit sei, in einer kontrollierten Art zu reden und die Suche nach Hilfemaßnahmen zu unterstützen. Doch »die Schmerzen sprechen zu lassen«, das werde nicht mehr akzeptiert. Die erste Aufgabe der Eltern und des Personals bestand darin, ihre Fähigkeit so weit zu entwickeln, dass sie Leas Verhalten schweigend ertragen konnten, ohne sie zu ermahnen oder ihr zu Hilfe zu eilen, wann immer sie die Schmerzen sprechen ließ. Doch wenn Lea über ihre Schmerzen redete, würden sie gemeinsam nach möglichen Lösungen suchen. Sollte Lea sich gegen die Erkundung von Behandlungsoptio­ nen wehren, würde man zu ihr sagen: »In Ordnung, du bist jetzt nicht bereit, also können wir nichts machen. Vielleicht können wir später etwas machen.« Drei Sitzungen waren dem Bemühen gewidmet, die Eltern dagegen immun zu machen, dass sie sich nicht davon aufzehren ließen, wenn Lea die Schmerzen sprechen ließ. Mit dem Personal wurden diverse Situationen als Rollenspiele inszeniert, wobei die Mitarbeiter lernten, Lea Botschaften zu vermitteln, in denen ihre neue Haltung zum Ausdruck kam, zum Beispiel: »Früher konnte ich Ihr Geschrei nicht ertragen. Jetzt kann ich es aushalten. Ich weiß, dass Sie Schmerzen haben, und ich bin bereit, mit Ihnen über Möglichkeiten der Schmerzlinderung zu sprechen. Aber ich werde nicht mehr mit Ihnen reden, wenn Sie sich weigern, über Behandlungsoptionen nachzudenken.« Manchmal war das Rollenspiel so effizient, dass es für die Teilnehmenden regelrecht belebend war. Wir meinen, dass diese Momente der Allianz zwischen den Eltern und dem Personal der Situation eine emotionale Tiefe gaben.

Der gewaltlose Widerstand in einer psychiatrischen Klinik

Nach ein paar Tagen war Lea viel weniger damit beschäftigt, ihre Schmerzen sprechen zu lassen, und ihre Bereitschaft zu normalen Unter­ haltungen nahm rasch zu. Nun hatten sowohl die Eltern als auch das Per­ sonal einen überzeugenden Erweis der Kraft, die von einer koordinierten, konsequenten und nichteskalierenden Strategie ausging. Lea ließ zunehmend weniger die Schmerzen sprechen und konnte ihre Kommunikationsfähigkeit verbessern, was zu einem überraschen­ den Resultat führte: Sie teilte mit, sie wolle in ein Wohnheim mit einem intensiven Rehabilitationsprogramm ziehen, statt nach Hause zu gehen. Lea sagte, sie werde niemals unabhängig werden, wenn sie weiterhin bei ihren Eltern lebe. Doch ein paar Tage später änderte Lea ihre Meinung und bat darum, sofort nach Hause zu den Eltern entlassen zu werden, damit sie sich für den Übergang in das Wohnheim vorbereiten könne. Nach Ansicht des Personals würde Leas Rückkehr ins Elternhaus aber ihre früheren Errungenschaften gefährden. Die Eltern zögerten. Der Berater, der nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands arbeitete, ließ die Eltern wissen, dass es nun an der Zeit für ein Unterstützertreffen sei; denn die Eltern bräuchten Unterstützung in der Frage, ob sie sich entscheiden sollten, dass Lea nach Hause entlassen wird, oder ob sie an der Entscheidung festhalten sollten, sie in der Klinik zu lassen, bis sie ins Reha-Zentrum geschickt würde. Zu dem Treffen kamen acht Unterstützer (die beiden Brüder von Lea und ihre Schwägerin, die beiden Schwestern von Stefanie, ihre Männer und ein guter Freund von Tim). Die Unterstützer wurden über die Ziele und das Dilemma unterrichtet, ob Lea nach Hause entlassen werden oder im Krankenhaus bleiben sollte, bis sie direkt ins Reha-Zentrum überwiesen werden würde. Alle Unterstützer waren sich mit dem Perso­ nal einig. Die Sitzung war eine beeindruckende Erfahrung für alle Betei­ ligten. Leas jüngere Schwester sagte, dass dies seit Leas Suizidversuch das erste Mal gewesen sei, dass die Bedürfnisse der Eltern in Betracht gezogen worden seien. Die Eltern spürten, dass die Unterstützer ihnen den Rücken stärkten, und akzeptierten die Entscheidung, Lea auf der Psychiatriestation zu behalten. Sie schrieben eine Ankündigung des Inhalts, dass sie Lea sehr gern hätten und sie niemals verlassen wür­ den, dass sie aber mit der Haltung des Personals voll übereinstimmten, sie in der Klinik zu behalten, bis sie in das Reha-Zentrum überwiesen werden würde.

205

206

Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen

Als die Eltern Lea die Ankündigung übergaben, waren die drei allein, wobei drei Mitarbeiter draußen vor der Tür warteten. Nach ein paar Minu­ ten gingen diese in den Raum und sahen, dass Lea in Tränen aufgelöst war und die Eltern in tiefer Bekümmernis waren, aber fest zu ihrer Ent­ scheidung standen. Nach einer Weile sagte Lea: »Ich sehe ein, dass ich keine Chance habe. Ich muss hier bleiben, bis ich ins Reha-Zentrum überwiesen werde.« Die Tatsache, dass die Eltern ihrer Tochter sagen konnten, dass sie nicht nach Hause kommen könne, war eine Demonstration ihrer neuen Stärke und des Erfolgs der ihnen zuteil gewordenen Unterstützung. In den darauf folgenden Wochen versuchte Lea immer wieder, ihre Eltern umzustimmen. Doch Tim und Stefanie standen zu ihrer Entscheidung, die Tochter in der Klinik zu behalten. Nach einem viermonatigen Klinik­ aufenthalt kam Lea ins Reha-Zentrum. Die Eltern hatten sieben wei­ tere Sitzungen absolviert, um sicherzustellen, dass sie nicht in ihr altes Muster der Rundumversorgung zurückfielen. Ihr Leben veränderte sich weiter. Sie gingen ins Kino und in die Oper, machten Urlaub im Ausland, und Stefanie ließ sich zur Yoga-Trainerin ausbilden. Sie begannen auch, Verwandte und Freunde zu besuchen, und luden diese zu sich ein. Lea riss dreimal aus dem Reha-Zentrum aus. Die Eltern widersetzten sich ihrer Forderung, im Elternhaus bleiben zu dürfen, und überredeten sie zur Rückkehr ins Reha-Zentrum. Doch es wurde klar, dass Lea wie­ der davonlaufen würde. Als Lea schließlich ins Elternhaus zurückkehren durfte, verweilte sie nicht mehr immer im Bett und kehrte auch nicht zu ihrer passiven Haltung zurück. Sie ließ nicht mehr die Schmerzen sprechen, und die Eltern gaben ihre neu gewonnene Freiheit auch nicht auf. Lea achtete auf ihr Äußeres, ging aus dem Haus, nutzte bereitwil­ lig öffentliche Verkehrsmittel, ging zur kognitiven Verhaltenstherapie, machte Physiotherapie und Hydrotherapie, entwickelte eine jahrelange enge Verbundenheit mit einem anderen Menschen und nahm Kontakt zu einer Sozialarbeiterin auf, die ihr bei der Suche nach einer Arbeit helfen sollte. Eine Folgestudie fünf Jahre später zeigte, dass das Erreichte aufrechterhalten werden konnte und eine Klinikeinweisung nicht mehr stattgefunden hatte.

Kapitel 7 Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen Ohad Nahum

In diesem Buch geht es um Eltern von Unerwachsenen, um deren Erfahrungen, Herausforderungen und ihre äußerst wichtige Aufgabe, ihr Kind in die Lage zu versetzen, dass es den Übergang von einer dysfunktionalen Abhängigkeit in eine funktionale Abhängigkeit schafft. Mit der hier vorgestellten Therapieart soll für die Eltern ein sicherer Platz geschaffen werden, an dem ihre Bedürfnisse genauso berücksichtigt werden wie die ihres erwachsenen Kindes. Mit zunehmender Therapieerfahrung haben wir Möglichkeiten gefunden, die erwachsenen Kinder kennenzulernen. Dieses Kapitel ist ihrer Perspektive gewidmet, wie wir sie entweder aus der Einzelsitzung mit dem erwachsenen Kind oder aus den Berichten seines Therapeuten begriffen haben, wenn eine solche Therapie möglich war. Wie wir sehen werden, konnten wir anhand dieser Kontakte das Erleben des erwachsenen Kindes besser verstehen und fruchtbare Möglichkeiten für unsere Arbeit sowohl mit den Eltern als auch mit den erwachsenen Kindern eröffnen. In den vorangegangenen Kapiteln wird beschrieben, wie sich die Beziehungsmuster mit Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit entwickeln und während der Adoleszenz und in das frühe Erwachsenenalter hinein perpetuieren. In diesem Kapitel geht es darum, wie wichtig die Begegnung mit dem erwachsenen Kind ist; es beschreibt auch die Bedingungen, die erwachsene Kinder als Einflussfaktoren für ihre soziale Abschottung erkennen lassen, und ihr subjektives Erleben sowie die innere Logik ihres passiven und zurückgezogenen Verhaltens, das als ein potenzielles Mittel zum psychischen Überleben eingesetzt wird. Darüber hinaus bietet

208

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

das Kapitel einige Leitlinien für die therapeutische Arbeit mit dem erwachsenen Kind sowie Beispiele verschiedener therapeutischer Settings, in denen eine solche therapeutische Arbeit stattfindet.

Mit dem erwachsenen Kind zusammenkommen In unserer therapeutischen Arbeit mit den Familien von Uner­wachse­ nen sind wir für drei Optionen offen geblieben: das erwachsene Kind zu einer Einzelsitzung einzuladen; mit seinem aktuellen Therapeuten außerhalb unseres eigenen Teams zusammenzuarbeiten; oder, wenn möglich, dem Fall zwei Mitarbeiter des Teams zuzuweisen, wobei einer mit den Eltern und der andere mit dem erwachsenen Kind arbeitet. Unerwachsene, die mit dem Besuch einer einzigen Therapiesitzung einverstanden waren, wurden gefragt, ob sie an einer Einzeltherapie interessiert seien. Falls sie damit einverstanden waren, wurden sie an ein Mitglied unseres Teams verwiesen, aber nicht an den Therapeuten oder die Therapeutin, der oder die die Eltern des erwachsenen Kindes behandelte. Wenn die Unerwachsenen schon in Therapie waren, fragten wir sie um die Erlaubnis, ihre Therapeuten zu kontaktieren. Angesichts der Tatsache, dass sozialer Rückzug und Therapieverweigerung bei den erwachsenen Kindern, deren Familien bei uns in Therapie sind, häufig vorkommen, überrascht es vielleicht nicht, dass die meisten Unerwachsene alle drei Optionen zurückwiesen. In solchen Fällen wurde die Therapie der Eltern, wie sie in den vorigen Kapiteln beschrieben wird, fortgesetzt. Selbst in diesen Fällen waren die Erkenntnisse, die wir aus der Sitzung mit anderen erwachsenen Kindern in einem ähnlichen Dilemma gewonnen hatten, hilfreich für unsere Arbeit mit den Eltern. Solche Begegnungen halfen uns, das komplexe Erleben dieser oftmals talentierten jungen Menschen zu begreifen, die mit einem anhaltenden Gefühl von Verstrickung, Verletzung und Schmerz leben. Die Eltern erwähnten oft, dass sie ihr Kind mithilfe unserer Beschreibung der Erfahrung ihres Kindes emotional besser verstehen, zu ihm wieder eine Verbindung aufbauen, die blockierte Kommunikation überwinden und Eskalationskreisläufe verringern konnten. Anders ausgedrückt:

Entwicklungspsychologische Faktoren im Erleben des erwachsenen Kindes

Wenn die Eltern mit empathischem Verstehen und einer klaren Vorgehensweise ausgestattet wurden, fühlten sie sich stärker verankert.

Entwicklungspsychologische Faktoren im Erleben des erwachsenen Kindes Bei den meisten Unerwachsenen lassen sich mehrere Bedingungen in ihrer Kindheit oder Jugend zurückverfolgen, die sich angehäuft und zu ihrer gegenwärtigen Abschottung und ihrem sozialen Rückzug beigetragen haben. Zu den häufigsten Bedingungen zählen entwicklungspsychologische Vulnerabilität, widrige Lebenserfahrungen und eine problematische Beziehung zu ihren Eltern. Entwicklungspsychologische Vulnerabilität In unserer therapeutischen Arbeit mit erwachsenen Kindern haben wir oft eindeutige Spuren vergangener oder noch andauernder Verwundbarkeiten gefunden, die bei ihnen das Gefühl von Kompetenz untergraben haben. Beispielsweise können ADHS und Lernschwächen zu Schulversagen und wiederholter Frustration führen, wodurch das Kompetenzgefühl, die Motivation und das Selbstwertgefühl unterminiert werden. Eine Sozialphobie kann dazu führen, dass der junge Mensch die Schule abbricht oder andere soziale Einrichtungen verlässt. Ein Kind mit ADHS, Lernschwächen oder Störungen aus dem autistischen Spektrum kann aufgrund fehlender sozialer Fähigkeiten wiederholt Erfahrungen des Scheiterns machen. Wenn derlei Verwundbarkeiten auf eine elterliche Rundumversorgung treffen, kann sich ein Beziehungsmuster von dysfunktionaler Abhängigkeit entwickeln. Ronnie (26 Jahre) hatte seit frühen Kindertagen extreme Gefühlsaus­ brüche. Er hatte auch eine sehr geringe verbale Intelligenz und erheb­ liche Lernschwächen, sodass er seine Bedürfnisse nicht angemessen zum Ausdruck bringen konnte. Auf Frustrationserfahrungen reagierte er mit Weinen und Schreien, und dem konnte nur dadurch abgeholfen werden, dass die Eltern ihn aus der Situation befreiten. Der Vater schlief

209

210

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

bei Ronnie im Bett, nachdem die Familie zu der Überzeugung gelangt war, dass das Kind wegen seiner Angst nicht allein schlafen könne. Als Ronnie erwachsen war, waren seine Ausbrüche noch furchterregender und schlossen Suiziddrohungen und Gesten ein, die immer wieder zu Klinikaufenthalten führten. Da er nicht darüber reflektieren konnte, was mit ihm geschah, erschien ihm die Welt vermutlich wie ein furchteinflö­ ßender Ort voller Schrecken, während er die totale Verfügbarkeit seiner Eltern als die letzte und einzige Rettung erlebte. Seine Schreie klangen oft wie die Hilferufe eines Ertrinkenden. Doch es gab auch Situationen, in denen Ronnie seine Frustration und schreckliche Angst kontrollieren konnte, wodurch sich ein Fenster zu den anderen Nuancen seines Erlebens öffnete, die sich von seiner ihn überflutenden Unruhe, Frustration und schrecklichen Angst unter­ schieden. So waren beispielsweise während seiner Schulzeit seine Ausbrüche im Unterricht selten, und in den letzten Jahren wurde er bei jeder Klinik­einweisung ruhiger, noch bevor er Medikamente verabreicht bekam. Auch wenn Ronnie gelegentlich von einer niederschmetternden Verzweiflung gepackt wurde, schien es, als ob er seinen Gefühlszustand besser regulieren konnte und sich etwas besser fühlte, wenn Menschen um ihn herum waren, die nicht sofort zu seiner Rettung angerannt kamen. Durch diese etwas weiträumigere Perspektive auf Ronnies (sowohl fähiges als auch ängstliches) Innenleben konnten seine Eltern sich einen gewissen Raum zum Atmen verschaffen und etwas Hoffnung schöpfen. Sie begannen zu verstehen, dass Ronnie sogar weniger – und nicht stärker – unter seiner Ängstlichkeit leiden könnte, wenn sie sich weniger zu seiner Rettung gezwungen fühlten.

Widrige Lebenserfahrungen Traumatische Erfahrungen, zum Beispiel der Tod eines Angehörigen, gequält zu werden, Unfälle, Krankheiten oder Operationen, können das erwachsene Kind in seinem Innersten erschüttern. So wurden insbesondere soziale Traumata, wenn beispielsweise jemand geächtet oder gequält wird, als Auslöser für die Entwicklung des Zustands eines Hikikomori (vgl. S. 11; Tamaki, 2013) befunden. Derlei Erfahrungen können sich ballen und eine kontinuierliche Belastung hervorrufen, die den jungen Menschen mit seinen Vermeidungsstrategien an einem normalen Entwicklungsverlauf hin-

Entwicklungspsychologische Faktoren im Erleben des erwachsenen Kindes

dern. Bei vulnerablen Kindern spielt unserer Auffassung nach nicht ein einzelnes traumatisches Ereignis bei der Entstehung einer dysfunktionalen Abhängigkeit eine Rolle, sondern diese allmähliche Anhäufung von Belastungen. Zu den Beispielen für widrige Ereignisse, die erwachsene Kinder als Wendepunkte ihres Lebensverlaufs erwähnen, zählen Umzug der Familie, Schulwechsel, Liebeskummer oder auch ein relativ harmloser Fahrradunfall oder ein Missgeschick. Auch wenn man solche Ereignisse höchstens als unangenehme oder normale Rückschläge betrachten könnte, erleben und beschreiben viele Unerwachsenen diese als etwas Einschneidendes in ihrem Leben. Die Eltern von Lars (21 Jahre) kamen zur Therapie ein Jahr nachdem der Junge das Studium abgebrochen hatte, ins Elternhaus zurückge­ kehrt war und sich in sein Zimmer einschloss. In seiner Einzelsitzung erzählte Lars dem Therapeuten, dass es ihm trotz seiner Lernschwäche und seiner begrenzten sozialen Kompetenzen gelungen sei, die ersten beiden Jahre an der Uni durchzuhalten und während dieser Zeit fast immer einer Teilzeitbeschäftigung nachzugehen. Doch seine soziale Isolation, die Belastung durch das Studium und die Distanz zum Eltern­ haus seien für ihn zunehmend schwieriger zu ertragen gewesen. Den Rest habe ihm eine enttäuschende Liebesbeziehung am Ende seines zweiten Studienjahres gegeben. Er habe sich in ein Mädchen verliebt, das seine Liebe zu erwidern schien. Doch als er versucht habe, dar­ aus eine romantische Liebesbeziehung zu machen, habe die junge Frau ihn zurückgewiesen. Er habe Trost bei Cannabis gesucht, aber seine Situation sei nur noch schlimmer geworden. Wann immer er das Mädchen mit Freunden in der Cafeteria habe lachen sehen, habe er geglaubt, sie lachten wahrscheinlich über ihn. Dies schien wie eine Neuauflage seiner frühen Erfahrungen in der Schule. »Ich war schlau, aber verschroben und gehörte nie dazu«, sagte er in unserem Gespräch. »Die anderen Kinder hänselten mich ständig, und sie hatten immer jede Menge Gründe, über mich zu lachen.« Diese Erfahrung verstärkte sein Gefühl, dass er zu einem Leben der Zurückweisung und des Aus­ geschlossenseins verdammt sei. Dass er sich von allem abschottete, war keine getroffene Wahl, sondern eine Spiegelung seiner fehlenden Wahlmöglichkeiten.

211

212

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

Problematische Beziehung zu den Eltern Wenn die Eltern ihr Kind unaufhörlich kritisieren, sie es an Unterstützung fehlen lassen oder das Kind zurückweisen, behindert das die Entwicklung von Selbstwirksamkeit, wodurch das Selbstwertgefühl des heranwachsenden Kindes und folglich seine Fähigkeit beschädigt wird, mit den Herausforderungen des Lebens fertig zu werden. Dies wird in Karins (25 Jahre) Beschreibung ihrer Erfahrungen mit ihren Eltern anschaulich gemacht. »In meiner Jugendzeit hatte ich oft Streit mit meiner Mutter, und sie schrie mich an und sagte Dinge wie: ›Pack deine Sachen und mach, dass du aus unserem Haus kommst!‹ Mein Vater ging nicht dazwischen und beschützte mich nicht. Ich packte meine Sachen und schlief bei Freun­ dinnen zu Hause, manchmal eine ganze Woche lang. Gut, ich war ein aufmüpfiger Teenager, ich machte viele unbesonnene und gefährliche Sachen. Aber meine Mutter versuchte, mich total zu kontrollieren. Wenn ich nicht folgte, warf sie mich hinaus oder gab mir kein Geld. Auch heute noch, wenn ich ein Vorstellungsgespräch für einen Teilzeitjob habe, fragt sie mich verächtlich: ›Ist das ein Vorstellungsgespräch? Also komm, das ist eine stumpfsinnige Arbeit! Willst du denn gar nichts aus dir machen?‹« Karins Mutter widersprach dem Bericht ihrer Tochter nicht. Sie fühlte sich zutiefst schuldig wegen ihrer verletzenden Bemerkungen und beschrieb die ständigen Sorgen, in denen die Eltern lebten, als Karin sich in schlechter Gesellschaft befunden habe, betrunken nach Hause gekommen sei und immer wieder Geld von ihr gestohlen habe. Den Vorfall, bei dem die Mutter Karin befohlen habe, das Haus zu verlassen, habe es nur einmal gegeben, nachdem Karin auf die Versuche der Mutter, Gren­ zen zu ziehen, mit physischen Angriffen reagiert und das Mobiltelefon der Mutter in die Toilette geworfen habe.

In solchen Fällen ist es nicht die Aufgabe des Therapeuten, herauszufinden, was tatsächlich geschehen ist. Doch wenn der Therapeut des Kindes und der Therapeut der Eltern zusammenarbeiten, können sie das subjektive Erleben auf beiden Seiten so validieren, dass sich vielleicht neue Möglichkeiten auftun. In diesem Fall sagte der Therapeut zu Karins Mutter:

Entwicklungspsychologische Faktoren im Erleben des erwachsenen Kindes

»Ich verstehe, dass Sie sich wegen der Art und Weise, wie Sie manch­ mal auf Karin reagiert haben, schuldig fühlen. Auch jetzt reagieren Sie vielleicht noch auf problematische Weise, wenn Karin gute Neuigkei­ ten hat, wenn sie beispielsweise versucht, eine Arbeit zu finden. Um ehrlich zu sein: Sowohl bei Karin als auch bei Ihnen brennt schnell die Sicherung durch. Wir möchten Ihnen helfen, dass Ihr Gefühl der Hilf­ losigkeit geringer, das der Unterstützung stärker wird und Sie fähig sind, konstruktiv zu handeln. In unserer gemeinsamen therapeutischen Arbeit werden Sie lernen, auf Karins Provokationen nicht einzugehen und ihre negativen Neigungen auch nicht zu begünstigen. Im Gegen­ teil: Wir werden Wege finden, wie Sie sich gegen Ihre Tochter wehren und sie gleichzeitig unterstützen können. Eltern, die sich nicht mehr hilflos fühlen, können vielleicht auch Fehler aus der Vergangenheit ein­ gestehen. Sie tun das dann aus einer Position der Stärke heraus und nicht aus Schwäche. Das könnte für Sie und Ihre Tochter eine wichtige Erfahrung sein.« Zu Karin sagte der Therapeut: »Ich zweifle nicht daran, dass Sie sich von Ihrer Mutter schonungslos kritisiert und zurückgewiesen gefühlt haben. Von ihrem Therapeuten weiß ich, wie hilflos sie sich oft gefühlt hat, vor allem während Ihrer Adoleszenz. Ich weiß auch, dass sie heute ihre Fehler von damals erkennt, und ich weiß, wie schuldig sie sich wegen ihrer negativen Reaktionen Ihnen gegenüber fühlt. Ihre Mutter möchte eine weniger explosive Beziehung zu Ihnen aufbauen. Sie hat Sie gern und sorgt sich um Sie und möchte ihrerseits die Dinge anders gestalten. Wären Sie bereit, ihr eine Chance zu geben?«

Solche Neurahmungen sind oft das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen dem Therapeuten des erwachsenen Kindes und dem Therapeuten der Eltern. Sie verweisen darauf, wie in das Familiensystem wieder Empathie einziehen kann. Dann kann auch das Bedauern über vergangene Handlungen ausgedrückt werden, ohne dass dafür eine unangemessene Entschädigung verlangt werden muss. Eine solche Wiedergutmachung, die das Gefühl der Abkehr von der Familie verringert, kann dazu beitragen, dass das erwachsene Kind eine weniger entfremdete Haltung der Welt gegenüber entwickelt.

213

214

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

Das Gefühl von Inkompetenz beim erwachsenen Kind Unerwachsenen erzählen uns oft, wie sie den Glauben an ihre Fähigkeit, ihren Lebensweg zu steuern, verloren und wie unfähig sie sich gefühlt hätten, den Herausforderungen gewachsen zu sein, die außerhalb des Elternhauses auf sie warteten. Nach und nach seien sogar einfachste Routineangelegenheiten zu einer Tortur geworden. Aufgaben wie etwa die Bewältigung von Behördengängen oder der Einstieg in eine Berufsausbildung seien nahezu unmöglich geworden. Das erwachsene Kind – wie auch seine Eltern und die ganze Familie – wirkt auf den außenstehenden Beobachter manchmal unmotiviert. Doch der Unerwachsene besitzt eine kraftvolle Motivation: das Bedürfnis nämlich, weitere Fehlschläge und schmerzhafte Zurückweisungen zu vermeiden. Anders ausgedrückt: Seine Motivation ist die der Selbsterhaltung. Er glaubt, dass die Aufrechterhaltung seines Rückzugs die einzig mögliche Option ist. Selbst wenn das erwachsene Kind erfindungsreich zu sein scheint, benutzt es seine Ressourcen oft dazu, die Dinge so zu belassen, wie sie eben sind. Diese Einstellung geht oft einher mit einer defensiven Haltung, zum Beispiel der, dass die Eltern für seine eigenen Schwierigkeiten verantwortlich gemacht werden. Manche Unerwachsenen beschuldigen ihre Eltern dafür, dass sie genetisch schlecht ausgestattet oder ungefragt in diese Welt gesetzt worden seien. Sogar der Schatten eines Erfolgs kann zu einer Bedrohung ihrer schwer erreichten Balance werden. Der Grund dafür ist, dass sie Angst haben, ein Erfolg könnte die Erwartungen anderer entfachen. Aus diesem Grund benutzen erwachsene Kinder, wenn sie zum Beispiel zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden, ihnen ein neues Studienprogramm angeboten wird oder sie eine Möglichkeit zum Kontakteknüpfen haben, oft Ausdrücke wie: »Ich bin ein hoffnungsloser Fall!« oder: »Es ist einfach zu spät!« oder: »Wer will schon jemanden wie mich?«. Solche Reaktionen sind Waffen, um Gelegenheiten abzuwehren, die der Unerwachsene als existenzielle Gefahren und als starke Bedrohung seines Ich-Erlebens wahrnimmt. Zu erwähnen ist hier, dass viele erwachsene Kinder in manchen Lebensbereichen ein beeindruckendes Wissen und eine Könnerschaft entwickeln, was in einem offenkundigen Gegensatz zu ihrer sozialen und lebenspraktischen Unfähigkeit steht. Sie können in

Entwicklungspsychologische Faktoren im Erleben des erwachsenen Kindes

politischen Dingen, auf dem Gebiet der Jazzmusik oder der Astrophysik Experten sein oder enormes Wissen im Bereich Origami, Philosophiegeschichte oder komplexer Computerspiele entwickeln. Solche Fertigkeiten verleihen ihnen ein gewisses Selbstwertgefühl und geben ihnen Schutz. Leider halten sie derlei Talente vor einer Anwendung in der realen Welt oft hermetisch verschlossen. Schamgefühle Permanente Schamgefühle sind in der emotionalen Welt von Unerwachsenen vielleicht die wichtigsten Empfindungen. Angst, Depres­ sion und Wut – sie alle spielen immer mal wieder ihre Rollen, aber so alles durchdringend wie das Schamgefühl ist wahrscheinlich keine Empfindung. Das Festklammern am Rückzug in die Selbstisolation kann zwar ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, allerdings um den Preis eines tiefen Schamgefühls. Jens (27 Jahre) war noch nie einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Nachdem er über sechs Jahre lang auf einen ersten akademischen Abschluss hin studiert hatte und in demselben Kurs mehrfach durch­ gefallen war, gab er auf und zog sich in sein Elternhaus zurück, wo er die meiste Zeit mit Computerspielen verbrachte. Er brach alle Kontakte zu seinen Freunden ab und erklärte, er könne sich nicht mehr mit ihnen treffen, weil sie ihn über sein Leben ausfragen würden. Er vermied die Begegnung mit Verwandten, damit ihn niemand nach seiner Arbeit oder seinem Studium fragen konnte. »Ich schäme mich so sehr! Keiner spielt mehr in meiner Liga.« Das Haus verließ er nur selten.

Scham ist eine sehr schmerzhafte Erfahrung und geht oft einher mit dem Wunsch, sich zum Verschwinden zu bringen (was sich in der Alltagssprache spiegelt: »Ich schäme mich in Grund und Boden!«). Für viele Unerwachsene wird dieser Wunsch, sich zu verstecken und zu verschwinden, zum zentralen Merkmal ihres Lebens. Aus diesem Grund ziehen es so viele von ihnen vor, nachts aufzubleiben und tagsüber zu schlafen. Eines der von uns befragten erwachsenen Kinder beschrieb das so: »Ich schäme mich, Freunde einzuladen. Ich schäme mich, mit meiner Familie zu sprechen. Ich habe keine Antworten. Sie haben alles Mögliche aus ihrem Leben gemacht, und

215

216

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

ich nicht.« Der Wunsch, sich zu verstecken, kann sich zu einem Drang nach Selbstauslöschung zuspitzen und manchmal zu einem Suizidversuch führen. Schamgefühle können sich zu Selbsthass auswachsen, wie es die folgenden Zitate zweier von uns befragten erwachsenen Kindern veranschaulichen: Sybille (29 Jahre): »Ich hasse mich. Ich verstehe nicht, wie all die Zeit vor­ übergegangen ist und ich nichts gemacht habe! Nicht nur, dass ich nichts erreicht habe, es gibt auch keine Möglichkeit, dass ich das jemals könnte!« Andy (20): »Ich habe überhaupt nichts verdient! Ich bin ein totaler Ver­ sager! Ich bin ein Nichts, ich bin eine Null, ich bin Müll!«

Für viele erwachsene Kinder ist diese Art von Selbstgespräch uner­ träglich. Eine Möglichkeit, wie sie sich selbst schützen, ist die, dass sie ein hochgradig soziales Gewissen ausbilden. Auf diesem Weg können sie ein gewisses Selbstwertgefühl entwickeln und auf die Menschen in ihrem Umfeld herunterschauen, was folglich ihr Gefühl von Minderwertigkeit verringert. Jonathan (36 Jahre), der weder erwerbstätig war noch studierte, wid­ mete die meiste Zeit seiner Tage der Verwaltung eines Internetforums zur Rettung ausgesetzter Hunde. Er ging nur nachts weg, suchte nach Streunern und vermied jegliches Zusammentreffen mit früheren Freun­ den oder Familienmitgliedern. Wenn er über andere, insbesondere über seine Eltern sprach, kam eine regelrechte Wut über deren vermeintliche Grausamkeit und Indifferenz zum Vorschein. In solchen Momenten war er stolz darauf, dass er einer Welt den Rücken gekehrt hatte, die er für moralisch verwerflich hielt.

Man könnte staunen über die Diskrepanz zwischen Jonathans Sorge um die ausgesetzten Hunde und seinen unbarmherzigen Anschuldigungen gegenüber seinen Eltern. In dieser Diskrepanz spiegelt sich seine Identifikation mit den Schwachen und Unterdrückten. Solche hohen moralischen Ansprüche können oftmals darauf hinweisen, wie schwierig es für diese jungen Menschen ist, die Kompromisse einzugehen, die ihnen das Handeln in der kon-

Entwicklungspsychologische Faktoren im Erleben des erwachsenen Kindes

kreten Welt ermöglichen könnten. Die Kluft zwischen ihren Idealen und der Außenwelt kann so groß werden, dass sie zu einem unüberbrückbaren Abgrund wird. Bei diesem Prozess rückt die Eingangstür zur konkreten Welt in weite Ferne. Dieser Paralysezustand erinnert an die existenzielle Falle, wie sie in Kafkas Erzählung »Vor dem Gesetz« (1915) beschrieben wird. In der Erzählung bemüht sich ein Mann vom Land, ein Tor zu passieren, das den Eingang zu »dem Gesetz« versperrt. Wir sehen »das Gesetz« als den Zustand der Dinge, wie sie sein sollten, dass der Zugang zu »dem Gesetz« gleichbedeutend wäre damit, dass man seine Bestimmung findet und sein Potenzial und seine hohen Ideale erkennt. Das Tor wird von einem Türhüter bewacht, und der Mann vom Land wartet darauf, dass der Wächter ihm Zutritt gewährt. Dies wird zwar niemals geschehen, aber der Mann wartet und wartet. Er bringt seine besten Jahre mit warten zu. Der Türhüter erklärt dem Wartenden, dass er nur der rangniedrigste Wächter sei, und das bedeute, dass es eine nie endende Kette von Wächtern zu überwinden gelte, wobei jeder Türhüter mächtiger und furchterregender sei als der vorherige. Der Mann vom Land stellt sich eine Kette von endlosen Hindernissen vor, die er unmöglich überwinden könne. Jede bedeutsame Handlung erfordert in seiner Vorstellung eine übermenschliche Kraft, und jeder neue Schritt ist noch schwieriger als der vorherige. Einer unserer Klienten beschrieb das so: »Ich möchte nichts versuchen und nicht leiden, nur um dann festzustellen, dass der nächste Schritt noch mehr Anstrengung erfordert, und der nächste dann noch um einiges mehr.« In Kafkas Erzählung beugt sich der Wächter, als der Mann vom Land nach Jahren des Wartens am Sterben ist, über diesen, damit er ihn durch sein nachlassendes Gehör noch erreichen kann, und ruft ihm zu, dass das Tor, das er nicht habe passieren können, nur für ihn bestimmt gewesen sei, und jetzt, da er sterbe, geschlossen werde. Die letzte Vision des Sterbenden ist die von einem hellen Licht, das hinter den sich langsam schließenden Türen scheint. Die meisten Unerwachsenen warten jedoch nicht in ruhiger Resignation ab, sondern befinden sich in einem permanenten inneren Aufruhr. Selbst wenn sie sanft und zufrieden wirken, werden sie von Schamgefühlen verzehrt. Um ihr Erleben der Schamgefühle abzuwehren, können sie in Drogensucht oder Abhängigkeit von Computer-

217

218

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

spielen versinken. Diese Entlastung erreichen sie aber nur, wenn sie allein gelassen werden; denn bei jedem Kontakt mit anderen Menschen kommen ihre Schamgefühle wieder hoch. Tatsächlich fordern viele erwachsene Kinder von ihren Eltern: »Ich will überhaupt nichts von euch! Lasst mich einfach nur allein!« Manchmal suchen sie Zuflucht bei einer anderen Linderung: Sie attackieren und beschuldigen andere. Ulrich (42 Jahre) beschuldigte häufig seinen Vater, der ein Jahr zuvor aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden war. »Du bist ein Parasit! Du und deinesgleichen sind die Ursache für unsere wirtschaftliche Krise! Wegen Leuten wie dir besteht keine Möglichkeit, dass andere sich durch nor­ male Arbeit einen anständigen Lebensunterhalt verdienen können. Und jetzt willst du noch, dass ich arbeite, damit das Land für deine Pension bezahlen kann! Aber ich gehe nicht für einen Mindestlohn arbeiten, nur um deinen parasitären Lebensstil zu unterstützen!«

In manchen Fällen sind die Attacken gegen das Umfeld versteckt und implizit, finden meistens im Kopf des erwachsenen Kindes statt und sind nicht konkret auf die Eltern gerichtet, sondern auf die Ungerechtigkeit, den Kapitalismus, Materialismus, die soziale Ungleichheit usw. Auch wenn viele dieser Behauptungen vielleicht richtig sind, verwenden die Unerwachsenen sie als Agenda, die ihren Ekel vor der Welt erklärt und ihren Rückzug in die Isolation rechtfertigt. Dadurch wird die Kluft zwischen Innen und Außen, zwischen ihm und anderen Menschen und zwischen der Illusion der Kontrolle durch die Flucht ins eigene Zimmer und dem völligen Kontrollverlust, den er in der Außenwelt erlebt, noch größer. Die Abkehr von der Umgebung fungiert auch als Verteidigung gegen soziale Zurückweisung. Wenn man sich von den Menschen entfernt, die einen zurückweisen, ist das ein universaler Mechanismus des Selbstschutzes. Der Unerwachsene gewinnt wieder die Kontrolle, indem er die Menschen zurückweist, die ihn zurückgewiesen haben oder ihn zurückweisen könnten. Lukas (27 Jahre) hat sich seit Beendigung seines Militärdienstes, wo er einen äußerst frustrierenden Job hatte, für den er sich überqualifiziert hielt, in sein Zimmer zurückgezogen. Seine Versuche, seinen Posten

Entwicklungspsychologische Faktoren im Erleben des erwachsenen Kindes

wechseln zu dürfen, stießen auf taube Ohren, und seine Vorgesetz­ ten verschlimmerten seine Schwierigkeiten, weil sie ihm sagten, sie würden »ihn schon noch geradebiegen«. Lukas sah seine Erfahrung in der Armee als Wendepunkt an. Er wolle nicht länger eine Schach­ figur der Gesellschaft sein, die ihn unterdrückt und gedemütigt habe. Er sagte: »Wenn du nicht in ihr Schema passt, dann fick dich, du hängst fest, und es kümmert keinen. Die Gesellschaft wird uns weiterhin alle zermalmen, wenn wir immer weiter das zulassen, was mir passiert ist. Deshalb weigere ich mich einfach, zu arbeiten, etwas beizutragen, Teil des Systems zu sein.«

Bis jetzt haben wir davon gesprochen, wie frühe Vulnerabilitäten, belastende Lebensereignisse und negative Interaktionen zu einem chronischen Gefühl des Versagens führen. Neue Optionen werden als Bedrohungen erlebt, weil sie ihre Schatten weiterer Enttäuschungen vorauswerfen. Um sich zu schützen, zieht sich das erwachsene Kind in die Passivität zurück und beschuldigt oftmals andere für seine Misere, was ein Manöver ist, um der quälenden inneren Scham zu entkommen. Mit solchen Schamgefühlen lassen sich vielleicht die bösartigen Attacken einiger Unerwachsener gegen ihre Eltern erklären. Die tiefe Kluft zwischen ihrer Passivität in der Welt und ihrem Zorn, den sie zu Hause entfalten, verweist uns auf ihr Verlangen, ihr Gefühl der Hilflosigkeit und Minderwertigkeit zu kompensieren. Überlebensmodus Wir haben gesehen, wie die Wechselwirkung von objektiven Verwundbarkeiten und Schwierigkeiten, einschneidenden Lebensereignissen und negativen Interaktionen mit bedeutsamen anderen Menschen zu einem Gefühl von Inkompetenz und tiefgreifenden Schamgefühlen und letztlich zur Entscheidung für den Rückzug in die Isolation als einem Akt der Selbsterhaltung führen kann. Alle Initiativen in der realen Welt sind ausgeschlossen und verheißen nur weitere Zurückweisung und Kritik. Wenn die Selbstachtung der Treibstoff ist, mit dem wir uns durch die Welt bewegen, dann stehen dem Unerwachsenen – wie er seine Situation begreift – nur ein paar Tropfen zur Verfügung. Das erwachsene Kind agiert in einem zu bewahrenden »Überlebensmodus« – jede Handlung außerhalb

219

220

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

seines Schutzgebiets ist wie der Versuch, die Wüste in einem Auto zu durchqueren, in dem ständig die Reservetank-Leuchte blinkt. Lebt der Unerwachsene nach seiner Regel im kleinen Reich seines Zimmers, bewahrt er sich seine Schutzbedingungen und die elterlichen Dienste, die ihm zuteilwerden; und manifestiert er gegenüber seinen Eltern oder der Gesellschaft insgesamt manchmal sein prekäres Gefühl, von einem besonderen, hohen Wert gelenkt zu sein, dann werden diese Vorgänge zu Handlungen des Überlebens. Auch wenn es noch so ineffizient sein mag, aber extreme Passivität, Selbstabschottung und Abdichtung gegenüber allen Anforderungen und Erwartungen stellen einen Versuch dar, wieder ein minimales Gefühl von Wert und Macht zu gewinnen. Noch tragischer ist es, dass einige dieser jungen Erwachsenen in ihre eigene Inkompetenz investieren. Zu beweisen, dass sie hoffnungslose Fälle sind, wird zu ihrem Triumph, mit dem sie selbst die eifrigsten und willigsten Retter »besiegen«. Doch auch ihr Pyrrhussieg ist nur eine Fußnote ihres überwältigenden und schmerzhaften Schamgefühls.

Das therapeutische Zusammentreffen mit dem erwachsenen Kind Wenn man bedenkt, wie allgegenwärtig die Schamgefühle im Erleben des erwachsenen Kindes sind und dass diese möglicherweise ein Hindernis für seine spätere Wiedereingliederung darstellen, sollte es das oberste Ziel der Therapie sein, seine Schamgefühle abzufedern. Doch erwachsene Kinder stehen meistens unter dem Eindruck, sich wegen sehr vieler Dinge schämen zu müssen. Eine schmeichelnde Haltung von therapeutischer Akzeptanz und ein bedingungslos positives Feedback reichen vielleicht nicht aus, solange der Unerwachsene weiterhin in Passivität und Abhängigkeit verharrt. Eine Möglichkeit unserer Problembewältigung ist es, eine Unterscheidung zwischen »destruktiver« und »konstruktiver« Scham einzuführen. Destruktive Schamgefühle führen zur Abtrennung; konstruktive Schamgefühle schaffen Optionen einer neuerlichen Verbundenheit. Wenn Scham in einem Kontext von Ausschluss und Demütigung erlebt wird, ist das zutiefst schädigend. Wenn Scham

Schamgefühle durch ein neues Narrativ transformieren

aber in einem Kontext der Unterstützung erfahren wird, kann das die Brücke zu einem neuen Zugehörigkeitsgefühl sein. Die zentrale Frage in der Therapie ist: Wie kann das Erleben von Scham so trans­ formiert werden, dass Schamgefühle konstruktiv sind und eher verbinden, als dass sie zerstören und abtrennen?

Schamgefühle durch ein neues Narrativ transformieren Nachdem die Eltern von Alex (30 Jahre) mit einem anderen Therapeuten aus unserem Team, der nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands arbeitet, zur Beratung gekommen waren, stimmte der junge Mann einem Gespräch mit mir (Ohad Nahum) zu und blieb danach neun Monate lang in Einzeltherapie. Alex hatte sieben Jahre lang auf einen Abschluss in einem anspruchsvollen Beruf hingearbeitet, es aber vermieden, die Abschluss­ prüfung zu machen. Diese Erfahrung hinterließ in ihm ein erdrückendes Gefühl der Niederlage. Er beschrieb sich als ein Mensch, der in der Schule immer langsam gewesen und in zwischenmenschlichen Beziehungen leicht verletzbar sei. Seine Eltern beschrieb er als kritisierende und abwertende Personen. Sie hätten ihn oft zu motivieren versucht, aber auf eine Weise, die er als herabsetzend empfunden habe. Seine Gefühle von Inkompetenz und seine Angst vor Verletzungen in Kombination mit seinem empfindlichen Wesen hätten ihn allmählich dazu geführt, ein risi­ koloses und eingeschränktes Leben in Zurückgezogenheit zu bevorzugen. »Ich muss Situationen vermeiden, in denen ich etwas fühle«, sagte er, »weil Gefühle immer negativ sind. Ich würde bei all den Gefühlen, die ich habe, am liebsten die Löschtaste drücken.« Er schilderte seine intensiven Schamgefühle, als ein Kindheitsfreund ihn auf Facebook fand und zu seiner Hochzeit einlud. »Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte«, sagte Alex. »Ich will nicht aus dem Haus gehen und mich mit irgendwelchen Fragen beschäftigen müssen. Ich habe ihn und meine Freunde seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Nein … ich glaube nicht, dass ich dorthin gehen kann … was kann ich ihnen denn sagen?« Zu einem späteren Zeitpunkt in der Therapie sagte er: »Wie schafft man es, an jemanden heranzukommen? Wie kann ich erklären, dass ich in all den Jahren überhaupt nichts gemacht habe?«

221

222

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

Meine Antwort darauf lautete: »Ich verstehe Ihr Schamgefühl und Ihr Gefühl des Scheiterns. Und doch verbringen viele junge Menschen in der heutigen Welt viel Zeit damit, allen erdenkbaren seltsamen Beschäfti­ gungen nachzugehen, bevor sie einen Beruf wählen und ihrem Lebens­ weg eine Richtung geben. Viele verbringen Jahre damit, ›sich einfach nur selbst zu finden.‹ Vielleicht können wir zusammen überlegen, wie Sie sich in dem Labyrinth Ihrer Suche verloren haben. Und dann wissen wir vielleicht, was Sie den anderen über Ihre ›verlorenen Jahre‹ erzäh­ len können?« Statt zu versuchen, unverzüglich Alex’ Schamgefühle zu lindern, erklärte ich seine Empfindungen für nachvollziehbar, schlug aber zugleich eine alternative Lebenserzählung vor, in der Alex sich verloren hatte, als er wie viele junge Menschen an der Schwelle zum Erwachsen­ sein auf der Suche nach sich selbst war. Die Entwicklung einer neuen Erzählung für Alex’ »verlorene Jahre« könnte nämlich ein wichtiges therapeutisches Ziel sein. In den darauf folgenden Sitzungen arbeite­ ten Alex und ich gemeinsam an der Entwicklung dieser Geschichte, die erfüllender und facettenreicher war als seine Selbstbeschreibung als Totalversager, ohne dass wir seine Situation verzerren oder idealisieren mussten. Alex war in seiner akademischen Ausbildung festgefahren. Seine hart­ näckige Verfolgung eines Ziels, das wahrscheinlich nicht zu ihm passte, war vielleicht ein tragischer Fehler gewesen, aber seine dabei gezeigte Verbissenheit ließ annehmen, dass er eine kämpferische Seite hatte. Wir sprachen über junge Menschen, die urplötzlich feststellten, dass sie jahrelang auf dem falschen Weg waren, über andere, die endlose Reisen um die ganze Welt machten, und wieder andere, die ihr Heil in Drogen oder Kulthandlungen suchten. Nach und nach kristallisierte sich eine neue Lebenserzählung heraus: »Ich bin anders und langsam, ich habe schon immer viel Zeit gebraucht, um mich entscheiden und anpassen zu können. Es ist schade, dass ich so lange dafür gebraucht habe, aber ich habe nun genug gelitten. Es ist an der Zeit, etwas anderes zu versuchen. Aber jetzt werde ich langsam machen und vorsichtig sein. Ich werde mich nicht kopfüber in etwas stür­ zen, das falsch für mich ist.« Mit dieser neuen Formulierung wurde der Weg für eine Haltung bereitet, die Alex ein sorgfältiges Experimentieren ermöglichte, das wiederum ein gutes Gegenmittel für seinen Rückzug war.

Schamgefühle durch schrittweise Konfrontation transformieren

Schamgefühle durch schrittweise Konfrontation transformieren und Ängste abbauen Doch die Neuerzählung seines Lebens reicht vielleicht nicht aus, um dem Lebensverlauf des erwachsenen Kindes eine andere Richtung zu geben. Angst und Scham halten den Unerwachsenen im Modus der Vermeidungsstrategie. Notwendig sind neue Erfahrungen, damit Angst und Ausweichverhalten langsam abgebaut und Schamgefühle in einen Sinn fürs Kämpfen umgewandelt werden können. Einem erwachsenen Kind, das mit Vermeidungsstrategien be­ frach­tet ist, kommt jede Aktion vielleicht wie die Besteigung des Mount Everest vor. Deshalb können selbst kleine Schritte in die richtige Richtung einen Veränderungsprozess anschieben, der wiederum das neue, sich langsam entwickelnde Lebensnarrativ speist. Diesen Prozess nennt man in der kognitiven Verhaltenstherapie die allmähliche Konfrontation, in der man sehr kleine und langsame Schritte geht, die ihrerseits langsam wieder ein Gefühl von Kompetenz wachsen lassen. Für einen Nesthocker, der sein Zimmer monate­lang nicht verlassen hat, kann selbst der nächtliche Gang um das Haus oder eine halbe Stunde auf einer Parkbank sitzen mit seinem Mobiltelefon in der Hand ein Anfang sein. Diese winzigen Schritte haben einen paradoxen Effekt, den ich als Strategie des »homöopathischen Prinzips« bezeichnen möchte. Der paradoxe Effekt des homöopathischen Prinzips zeigt sich darin, dass einige dieser anfänglichen Konfrontationsaufgaben, die in dem erwachsenen Kind Schamgefühle auslösen, in kleinen und kontrollierten Dosen heilsam sind. Dies kann dem Therapeuten oder der Therapeutin eine gute Gelegenheit bieten, ein Gespräch über angestrebte Ziele einzuleiten. Das war der Fall bei Alex, der seine Ansprüche ändern musste, die ihn immer wieder dazu führten, den Abschluss eines für ihn ungeeigneten Studiums zu versuchen. Im Gespräch über die Bedeutung kleiner Konfrontationsaufgaben betonte der Therapeut, dass selbst eine kleine Errungenschaft unendlich viel mehr ist als überhaupt keine. So kann der Therapeut dem erwachsenen Kind beispielsweise mitteilen: »Es braucht doppelten Mut, das zu tun: einmal den nötigen Mut, um eine Aufgabe wie diese überhaupt durchzuführen, und zum anderen den nöti-

223

224

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

gen Mut, um eine solch kleine Aufgabe durchzuführen!« Wenn der Unerwachsene die Umsetzung einer sehr kleinen Aufgabe akzeptiert, ist das ein wichtiges Ereignis im Prozess der Transformation von Schamgefühlen. Wenn er einen bescheidenen Schritt als eine bedeutsame Errungenschaft akzeptiert, zeugt das von seiner Bereitschaft zu handeln – trotz seiner noch vorhandenen Schamgefühle. Bei Alex führte die schrittweise Rückkehr zu einer aktiven Handlungs­ routine dazu, dass sich seine angestrebten Ziele veränderten. Alex lernte, sich mit realistischeren Zielen anzufreunden, ohne sich gedemütigt zu fühlen. Obwohl die Konfrontation äußerst behutsam vor sich ging, wurden die einzelnen Aufgaben zunehmend bedeutsamer. Alex fing an, zweimal in der Woche einen Spaziergang zu machen, per E-Mail nahm er Kontakt zu einer ausgewählten Gruppe alter Freunde auf, und nach ein paar Monaten suchte er einen Job. Jeder kleine Schritt trug dazu bei, sein Lebensnarrativ so umzugestalten, dass er schließlich seine Familie und Freunde daran teilhaben lassen konnte. Alex erzählte seiner Familie, dass er aus früheren Fehlern gelernt habe und es falsch gewesen sei, an einem für ihn ungeeigneten Studiengang so lange festzuhalten. Ein Jahr später hatte er eine Teilzeitbeschäftigung angenommen. So konnte er sich eine kleine Einzimmerwohnung leisten. Nach einem Gespräch zwi­ schen dem Therapeuten von Alex und dem Therapeuten seiner Eltern waren die Eltern damit einverstanden, die Miete für Alex’ Apartment drei Jahre lang zu übernehmen, aber seine Rechnungen musste er selbst bezahlen. Diese Vereinbarung war anfangs zwar etwas heikel, aber sie war von Dauer. Am Ende der Therapie sagte Alex, dass der schwierigste Teil der gewesen sein, sich wieder in die Welt hineinzubegeben. Was ihm am meisten geholfen habe, so sagte er, sei die Vorstellung gewesen, dass es für viele junge Menschen schwierig sei, ihren Weg ins Leben zu finden. Auch die Idee von der Langsamkeit sei enorm wichtig für ihn gewesen. Er sagte, dass diese Erkenntnisse ihm geholfen hätten, seine Schamgefühle zu ertragen und in seinem eigenen Tempo weiterzugehen.

Schamgefühle durch Wiedereintritt in die Lebenswelt transformieren

Schamgefühle durch Wiedereintritt in die Lebenswelt transformieren Es besteht ein prägnanter Unterschied zwischen der Scham, die im Rahmen des sozialen Rückzugs erlebt wird, und der Scham, die im Rahmen des Wiedereintritts in die soziale Welt erfahren wird. Der Übergang zwischen diesen beiden Polen ist möglicherweise die tiefste Transformation, die viele Unerwachsenen auf ihrem Weg zur Genesung durchmachen. Deshalb ist es das oberste Ziel der Therapie, dem erwachsenen Kind aus seiner Isolation herauszuhelfen. Ein Unerwachsene, der zu einer Therapie bereit ist, ist einem solchen Vorhaben meistens eher zugeneigt als einer, der jede therapeutische Hilfe ablehnt. In Fällen von Totalverweigerung hängt die Hoffnung des jungen Menschen, aus der Isolation herauszufinden, fast ausschließlich von der Bereitschaft der Eltern ab, eine Unterstützergruppe hinzuzuziehen. Im Gegensatz dazu hat ein Unerwachsene, der sich in Therapie begibt, schon den ersten Schritt zum Wiedereintritt in die Lebenswelt gemacht, wenn auch nur im äußerst geschützten Kontext der Psychotherapie. Diesen Punkt kann der Therapeut betonen, indem er zum Beispiel sagt: »Ihre Bereitschaft, mit mir über Ihre Schwierigkeiten zu sprechen, kann nicht als selbstverständlich angesehen werden. Viele junge Menschen in Ihrer Situation wagen diesen Schritt nicht. Aber die beste Aussicht auf eine Veränderung ist wahrscheinlich dann gegeben, wenn Sie unsere Sitzungen als Unterstützung betrachten und ich als Brücke dienen und Ihnen helfen könnte, die Kluft zu überwinden, die Sie von anderen Menschen trennt.« Die Transformation von Schamgefühlen, die einsetzt, wenn der Unerwachsene mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen beginnt, wird unter anderem dadurch erreicht, dass seine Erfahrungen in der Therapie erforscht werden. Wir haben bereits gesehen, wie es durch die Entwicklung einer neuen Lebensgeschichte geholfen hat, auf andere Weise mit seinen Eltern und anderen Menschen zu kommunizieren. Alle diese Kontakte waren Wasser auf die therapeutische Mühle und ermöglichten ein konstruktives Gespräch über die sich wandelnde Art von Alex’ Schamgefühlen. Es war genau die Unterscheidung zwischen »konstruktiven« und »destruktiven« Scham-

225

226

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

gefühlen, die in Alex’ Bewältigungsrepertoire zu einer bedeutsamen persönlichen Ressource wurde. Der Wiedereintritt in die Lebenswelt sollte wie alle anderen Prozesse der Konfrontation langsam vor sich gehen. Ein junger Mensch, der in der Vermeidung sozialer Kontakte versunken ist, muss Unterstützung spüren, wenn er die ersten Schritte in diese Richtung geht. Die Therapeutin oder der Therapeut kann herausfinden, ob der Nesthocker irgendwelche Kontakte hat, beispielsweise auch anonyme Kontakte über das Internet. Man kann beispielsweise darüber sprechen, ob das erwachsene Kind sich einer Therapiegruppe von Personen mit einer sozialen Phobie anschließt oder sich an einem Internetforum von einsamen jungen Menschen, von Langzeitarbeitslosen oder spielsüchtigen jungen Menschen beteiligt. Einige der wichtigsten Kontakte, die in früheren Beziehungen des jungen Menschen bedeutsam waren, aber lange Zeit vernachlässigt wurden, können versuchsweise neu belebt werden. Der Therapeut kann eine Brückenfunktion ausüben, indem er Möglichkeiten der Kontaktaufnahme plant und für spätere Zusammentreffen ein Rollenspiel entwirft.

Gespräch mit dem erwachsenen Kind im Rahmen der laufenden Elterntherapie Für erwachsene Kinder, die zu einer Einzelsitzung zusammen mit dem Therapeuten der Eltern kommen oder eine Individualtherapie machen, können sich Veränderungsoptionen auftun, die denjenigen, die sich allen Kontakten verschließen, nicht zugänglich sind. Doch auch diejenigen, die das Gespräch mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin ausschlagen, lassen therapeutische Versuche, sie zu erreichen, vielleicht nicht ganz unbeeindruckt. So haben viele erwachsene Kinder, die zuvor gegen jegliche Hilfsangebote immun waren, gut darauf reagiert, als ein Unterstützer akzeptierend auf sie zuging. Als die Eltern darüber hinaus ihre Rundumversorgung reduzierten, änderten einige Nesthocker, die zuvor eine Therapie verweigert hatten, ihre Ansichten. Manche erwachsene Kinder verlangen für ihre Einwilligung in eine Therapie als Gegen­

Gespräch mit dem erwachsenen Kind im Rahmen der laufenden Elterntherapie

leistung, dass die Eltern den Versorgungsentzug einstellen. Doch die Eltern sollten sich davor hüten, auf eine solche Forderung einzugehen, weil dadurch sowohl die Aussichten auf eine Therapie des Unerwachsenen als auch die Therapie der Eltern ernsthaft gefährdet werden könnten. Manche erwachsene Kinder entscheiden sich jedoch für eine Therapie, obwohl die Eltern sich weigern, den Prozess des Versorgungsentzugs einzustellen. In Studien zum Ansatz des gewaltlosen Widerstands (Lebowitz et al., 2014) hat man festgestellt, dass die meisten Kinder, die zuvor professionelle Hilfe abgelehnt hatten, sich zu einer Therapie bereit erklärten, als die Eltern ihre Rundumversorgung einstellten. Das trifft auch auf Unerwachsene zu, obwohl der Prozentsatz der Bereitschaft zu einer Therapie in dieser Gruppierung wahrscheinlich geringer bleibt. Auch eine Einzelsitzung mit dem erwachsenen Kind und dem Therapeuten der Eltern kann in mancher Hinsicht hilfreich sein. Dadurch kann ein umfassenderes Bild von der Situation des erwachsenen Kindes und der Familienkonstellation entstehen. Der Un­erwachsene kann sowohl das Bemühen der Eltern als auch ihre Fürsorge und Sorge besser verstehen lernen, und vielleicht eröffnen sich dadurch neue Wege der Hilfe und der Vermittlung. Selbst wenn die Eltern die Situation ihres Kindes ausführlich beschreiben, kann nur eine persönliche Begegnung dem Therapeuten der Eltern ein zuverlässiges Bild von dem Unerwachsenen, seinem inneren Zustand und seinen zwischenmenschlichen Beziehungen vermitteln. Familiendynamiken werden oft als Tanz beschrieben. Statt dass der Therapeut sich also die Rolle und die Schritte des Kindes im Familientanz nur vorstellt, begegnet er dem Tänzer persönlich. Auch die Eltern werden gewissermaßen beruhigt, wenn der Therapeut oder die Therapeutin sich einen Eindruck von dem erwachsenen Kind, seinen Stärken, Verwundbarkeiten und Fähigkeiten aus erster Hand verschaffen kann. Ferner erlaubt die Sitzung dem Therapeuten, einen empathischen und ausgiebigeren Blick auf den klinischen Zustand des Unerwachsenen zu werfen. Obwohl die Sitzung nicht an den Leitlinien eines diagnostischen Gesprächs ausgerichtet ist, führt der Umstand, dass der Therapeut das erwachsene Kind beobachten kann, vielleicht zu einer provisorischen Diagnose. In einigen der von uns behandelten Fällen wurden auf diese Weise neue Optionen

227

228

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

der Behandlung eröffnet. Schlussendlich kann die Therapeutin oder der Therapeut in die Lage versetzt sein, dem erwachsenen Kind die Absichten der Eltern zu erklären. Erwachsene Kinder reagieren meistens bejahend auf das erklärte Ziel der Eltern, Eskalationen zu entschärfen. Manchmal übernehmen sie dieses Ziel sogar für sich selbst. Der Therapeut klärt den Unerwachsenen darüber auf, dass die Therapie der Eltern nicht darauf abzielt, ihn zu kontrollieren, sondern den Eltern zu helfen, dass sie sich selbst kontrollieren lernen. Ein weiterer potenzieller Gewinn des Gesprächs mit dem Unerwachsenen besteht darin, dass Unterstützerinnen und Unterstützer einbezogen werden können. Wenn die Sitzung in einer angenehmen Atmosphäre verläuft, kann der Therapeut oder die Therapeutin dem erwachsenen Kind mitteilen, dass auch die Hinzuziehung von ausgewählten Unterstützern zu seinem Vorteil wäre. Beispielsweise könne der Unerwachsene von deren Fähigkeit profitieren, zwischen ihm und seinen Eltern zu vermitteln. Die Einbindung der Unterstützergruppe kann dazu führen, dass der Unerwachsene die Unterstützer tendenziell als Vertreter der Gesellschaft sieht, die ihn nicht aufgegeben hat, und sie nicht als Personen betrachtet, die seinen Interessen gegenüber komplett feindlich gesinnt sind.

Die Einzelsitzung mit dem erwachsenen Kind Leon (36 Jahre) lebte bei seinem Vater, der den Sohn zwar finanziell vollumfänglich unterstützte, sich aber Sorgen machte, dass er sich das nicht auf unbegrenzte Zeit leisten könne. Leons Mutter war einige Jahre zuvor durch einen Autounfall ums Leben gekommen, und dieses Ereignis hatte Leons Abschottung noch intensiviert. Nach Auskunft von Leons Vater sei die Mutter die einzige Person gewesen, die »ihn manchmal herausziehen oder zu einer Aktion veranlassen konnte«. Der Vater erzählte dem Therapeuten, dass Leon an großer Angst und einer zwanghaften Sammelwut leide und tagsüber zunehmend zerstreut und angespannt wirke. Der Hausarzt verschrieb Leon ein Psychopharmakon für den Fall, dass sich die Angst bis zur Panikattacke steigern sollte. Obwohl der Angstpegel in der letzten Zeit gestiegen sei, weigere der Sohn sich, zu einem Therapeuten zu gehen.

Die Einzelsitzung mit dem erwachsenen Kind

Der Vater kam ursprünglich zu uns zur Beratung, weil der Sohn jeg­ liche Art von Behandlung verweigerte. Nach ein paar Sitzungen fing er an, sich gegen Leons zwanghaftes Verhaltensmuster zu wehren, das sich außerhalb seines Zimmers im gemeinsamen Wohnbereich entfaltete, und gleichzeitig versicherte er sich, dass er dem Sohn entgegenkommende Gesten zeigte und ihm Unterstützung anbot. Er ließ Leon die folgende von Empathie getragene Botschaft zukommen: »Mein Sohn, Du leidest in den letzten Jahren an Ängsten und Zwängen, die Dein Leben und auch meins in einem unerträglichen Maß einschrän­ ken. Anfangs dachte ich, dass sich die Situation bessern würde, wenn ich Dir nur Zeit lasse, aber die Lage ist noch schlimmer geworden. Der Ver­ lust Deiner Mutter war ein schrecklicher Schlag für uns beide, aber jetzt habe ich beschlossen, dass ich Dich nicht auch noch verlieren möchte! Ich sehe, wie sich Dein Leiden in letzter Zeit verstärkt hat, und ich mache mir Sorgen und habe mir deshalb Beratung geholt in der Hoffnung, die Situation bei uns zu Hause ändern zu können. Es tut mir leid, aber ich verstehe nicht alles, was Du durchmachen musst. Es würde mich sehr freuen, wenn Du mit mir zu einer Sitzung mit meinem Therapeuten kom­ men würdest, damit er mir verstehen helfen könnte, was gerade vor sich geht und wie ich Dir auf angemessene Weise beistehen kann.« Leon war mit dem Vorschlag des Vaters einverstanden und kam mit ihm zur Sitzung. Nach fünf Minuten verlangte Leon, mit dem Therapeu­ ten persönlich sprechen zu dürfen. In dem Gespräch wurde schnell klar, dass Leon sich schrecklich quälte und nicht nur unter großer Angst litt, sondern auch unter einem paranoiden Zustand und sich davor fürchtete, auf der Straße angegriffen zu werden. Deshalb hatte er immer, auch zu unserer Sitzung, ein Messer bei sich. Nachdem Leon seine Gefühlslage kurz skizziert hatte, sagte ich zu ihm: »Leon, ich verstehe, dass Sie schrecklich leiden – Sie werden von solch entsetzlichen Ängsten heimgesucht, dass Sie sich sogar in per­ manenter und extremer Gefahr wähnen. Sie haben es nicht verdient, so leiden zu müssen; Sie haben es verdient, mit sich zufrieden sein zu dürfen und für sich sorgen zu können. Aber ich verstehe auch, dass Sie dazu im Moment einfach nicht die Kraft haben und Hilfe brauchen. Ihre Verfassung ist nicht nur unerträglich für Sie, sondern auch für Ihren Vater. Er macht sich Sorgen um Sie und möchte, dass Sie die bestmög­ liche Behandlung bekommen. Ich meine, dass sich Ihr Leiden so sehr

229

230

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

intensiviert hat, das es gerechtfertigt wäre, wenn Sie eine gewisse Zeit lang in eine psychiatrischen Tagesstätte gingen, damit man für Sie eine bessere Art von Therapie findet – eine bessere Therapie als das Psycho­ pharmakon, das Ihnen nicht die notwendige Entlastung bringt. Wären Sie bereit, zusammen mit Ihrem Vater sich diese psychiatrische Tagesstätte einmal anzuschauen und herauszufinden, nur herauszufinden, was man Ihnen dort anbieten könnte? Ich denke, dass diese Option vielleicht Angst in Ihnen hervorruft, aber zumindest wird Ihr Leiden dann einen Sinn und Zweck haben: nämlich die Bürde Ihrer Angst zu verringern und wieder ein Gefühl von Sicherheit in der Welt zu gewinnen.« Nachdem ich versprochen hatte, mit dem Psychiater der psychiat­ rischen Tagesstätte zu sprechen, war Leon damit einverstanden, das Vorhaben auszuprobieren. Der Psychiater schlug ihm vor, ein paar Tage in der Klinik zu bleiben, bis die Medikamente Wirkung zeigten. Leon stimmte zu. Nach einem kurzen Klinikaufenthalt gingen seine Paranoia und Ängste zurück. Zwischenzeitlich bereitete sich der Vater darauf vor, seine Rundumversorgung des Sohnes zu begrenzen, und steigerte seine Widerstandskraft gegenüber Leons Zwängen und seiner Sammel­ wut. Schritt für Schritt nahm Leons Handlungskompetenz zu. Aufgrund seines Klinikaufenthalts hatte er Anspruch auf eine Behindertenrente aus der Sozialversicherung und auf mehrere geschützte Arbeitsplätze, die sich Leon zusammen mit dem Sozialarbeiter der psychiatrischen Tagesstätte näher anschaute.

Auch wenn nicht alle Einzelsitzungen mit einem erwachsenen Kind in eine solche Zusammenarbeit und Bereitschaft, therapeutische Hilfe anzunehmen, münden, so veranschaulicht Leons Fall doch, wie wichtig es ist, dem erwachsenen Kind eine helfende Hand zu reichen; denn auch eine Einzelsitzung kann zu einem Wendepunkt werden, wenn sie in einer von Hoffnung und Empathie getragenen Atmosphäre stattfindet.

Paralleltherapie mit den Eltern und dem erwachsenen Kind

Paralleltherapie mit den Eltern und dem erwachsenen Kind Thomas (35 Jahre) war das jüngste Kind von drei Geschwistern und das einzige, das noch bei den Eltern lebte. Er war ein stiller, angenehmer, introvertierter junger Mann, wirkte entspannt und gemütvoll – zumindest für den außenstehenden Beobachter. Thomas vermied soziale Interaktio­ nen und unterhielt – abgesehen von seinen Eltern – keinerlei zwischen­ menschliche Kontakte. Er hatte mehrere Teilzeitjobs, die es ihm aber nicht erlaubten, eine eigene Wohnung zu nehmen, und die für soziale Interaktionen auch nicht förderlich waren. Thomas hatte eine Ausbildung zum staatlich zertifizierten Rechnungsprüfer absolviert, war aber drei­ mal durch die Zertifizierungsprüfung gefallen. Er beabsichtigte, weiter bei seinen Eltern zu wohnen, obwohl diese meinten, dass der Aufenthalt im Elternhaus für seine Handlungsfähigkeit und seine Chancen auf ein selbstständiges Leben nachteilig sei. Thomas’ Eltern hatten die ersten Phasen unserer Therapie hinter sich, hatten erfolgreich Unterstützer hinzugezogen und einige ihrer unan­ gemessenen Versorgungsdienste zurückgefahren. Allmählich reifte in ihnen der Entschluss, dass es für Thomas an der Zeit sei, das Eltern­ haus zu verlassen, und dass sie ihm dabei finanziell helfen würden. Sie setzten ein Datum für seinen Auszug fest und betonten auch, dass sie immer noch für ihn da seien. Einer der Unterstützer schlug Thomas vor, eine Therapie bei jemandem zu machen, der sich auf Fälle wie den seinen spezialisiert habe. Thomas war damit einverstanden, eine Therapie zu machen, und willigte ein, dass sein Therapeut sich mit dem Therapeuten seiner Eltern austauschte. Dadurch öffnete sich der Weg zu einer frucht­ baren Zusammenarbeit beider Parteien. Thomas hegte unter anderem die Hoffnung, dass er mit seiner Bereit­ schaft, eine Therapie zu machen, den Eltern seinen guten Willen zeigen und sie so vielleicht dazu bringen würde, ihre Bitte an ihn, das Eltern­ haus zu verlassen, noch einmal zu überdenken. Trotz dieses verborgenen Motivs ließ er sich aktiv auf die Therapie ein. Sein Therapeut war beein­ druckt von der Feinfühligkeit und der Großzügigkeit seines Klienten. Erstaunlicherweise schöpfe Thomas Mut aus seinen Eltern, aber er hatte ständig Angst davor, sie zu enttäuschen. Er schämte sich, dass er durch die Zertifizierungsprüfung gefallen war, und grübelte unerbittlich über

231

232

Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen

seine verpassten Gelegenheiten nach. Trotz alledem gelang es ihm, ein paar Schritte zu unternehmen, die er früher vermieden hätte. Er und sein Therapeut sprachen darüber, wie Thomas damals seine Prüfungen angepackt habe, und sie machten einen detaillierten Plan, wie Thomas sich besser auf eine Prüfung vorbereiten könnte. Er willigte ein, sich im Vorfeld auf Bewerbungsgespräche vorzubereiten. Er und sein Therapeut machten es sich zur Aufgabe, Szenarien zu entwickeln, in denen Thomas’ Bewerbung abgelehnt wurde. Nach ein paar Monaten fand Thomas einen besseren Arbeitsplatz. Doch als das Datum, das seine Eltern für seinen Auszug aus dem Elternhaus festgelegt hatten, näher rückte, konnte Thomas es immer noch nicht allein aushalten, auch wenn die Eltern ihm dabei helfen wür­ den. Er sagte, er verstehe zwar seine Eltern, aber das vorgelegte Tempo sei zu schnell. Im Gespräch seines Therapeuten mit dem Therapeuten der Eltern wurde die Basis dafür geschaffen, dass der Prozess des Aus­ zugs aus dem Elternhaus neu verhandelt wird. Thomas erklärte seinen Eltern, dass er seinen Arbeitsplatz behalten werde, ihn aber die Vorbe­ reitung eines weiteren Versuchs, die Zertifizierungsprüfung zu schaffen, auch belaste. Die Eltern waren damit einverstanden, seinen Auszug zu verschieben. Ein halbes Jahr nach dem von den Eltern festgelegten ursprünglichen Auszugsdatum zog Thomas aus dem Elternhaus aus und in ein kleines Apartment ein. Ein Jahr später legte er die Prüfung ab und fing an, als Rechnungsprüfer zu arbeiten. Seine Therapie dauerte weitere zwei Jahre. In diesem Fall hatte die Zusammenarbeit zwischen den Therapeuten der beiden Parteien es ermöglicht, eine angemessene Geschwindigkeit zu entwickeln, die sich für Thomas und seine Eltern als geeignet erwies.

Diese verschiedenen Settings (Einzelsitzung, Paralleltherapie innerhalb unseres Teams und Zusammenarbeit mit dem Therapeuten des erwachsenen Kindes), in denen wir die Unerwachsenen, deren Eltern sich in unserem Team einer Therapie nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands unterzogen haben, besser kennen lernen konnten, haben unsere Interventionen sehr bereichert. Darüber hinaus haben sich einige dieser Projekte für einige wenige erwachsene Kinder insofern als sehr hilfreich erwiesen, als sie sich auf die Reise machen und sich aus eigener Kraft von quälenden Vermeidungs-

Paralleltherapie mit den Eltern und dem erwachsenen Kind

strategien, dem Rückzug in die Isolation und der Abschottung von der Außenwelt befreien konnten. Es wäre wunderbar, wenn mehr erwachsene Kinder solche Chancen ergreifen würden. Leider tun das die meisten von ihnen nicht.

233

Abschließende Bemerkungen

In diesem Buch führen wir den Begriff der dysfunktionalen Abhän­ gigkeit ein, der einen Zustand des Familiensystems beschreibt und damit verbunden ist, dass ein Kind der Familie den Übergang ins Erwachsensein nicht schafft. Wir stellen auch unseren Therapieansatz vor, mit dem wir den Eltern von Adoleszenten und erwachsenen Kindern mit Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit helfen wollen. Nach unserem Wissen ist das vorliegende Buch das erste, das eine systematische Behandlung eines Zustands thematisiert, der sich mutmaßlich weltweit ausbreiten wird. Als Pionierprojekt muss das Buch eine Menge unbeantworteter Fragen aufwerfen, die es weiter zu erforschen gilt. Wir hoffen innigst, dass Klinikerinnen und Kliniker, Forscher und Forscherinnen sich gleichermaßen von den folgenden stichwortartigen Notizen inspirieren lassen und unseren Spuren in dieses noch unerschlossene Gelände folgen.

Inspirationen Dysfunktionale Abhängigkeit und der junge Mensch, der weder erwerbstätig ist noch eine Schul- oder Berufsausbildung macht Fast allen erwachsenen Kindern, die wir in den vergangenen zehn Jahren behandelt haben, könnte man diese Merkmale zuschreiben. Sie gingen keiner Beschäftigung nach, befanden sich weder in einer schulischen noch beruflichen Ausbildung und haben sich auch nicht aktiv darum bemüht. Laut Schätzungen der OECD gibt es allein in ihren Mitgliedstaaten mehr als 28 Millionen erwachsene Kinder,

236

Abschließende Bemerkungen

auf die diese Merkmale zutreffen (OECD, 2016). Wie hoch könnte der Anteil an dieser Population sein, der unserer Definition von Unerwachsenen entspricht? Welcher Zusammenhang besteht zwischen dysfunktionaler Abhängigkeit und der Situation junger Menschen, die sich weder in die Erwerbstätigkeit noch in eine Schuloder Berufsausbildung wagen? Faktoren, die für dysfunktionale Abhängigkeit prädisponieren Welche Faktoren machen Individuen und Familien anfällig dafür, dass sie von Verhaltensmustern beherrscht werden, die aus dem Zusammenhang zwischen Abhängigkeit und Rundumversorgung entstehen? Wenn wir mehr über diese Faktoren herausfinden, könnte das auf lange Sicht helfen, das Risiko einzuschätzen, inwieweit junge Menschen den Schritt ins Erwachsensein nicht schaffen. Die Untersuchung von Carli et al. (2014) bietet bereits wichtige Hinweise auf die möglichen Prädiktoren, die während der Adoleszenz den Übergang ins Erwachsensein erschweren. Prävention – damit der Übergang ins Erwachsensein gelingt Wir haben vier Bedingungen für das Scheitern der Transitionsphase beschrieben, die im Kindesalter und in der Adoleszenz ein Risiko darstellen und wahrscheinlich mit der Entstehung dysfunktionaler Abhängigkeit beim erwachsenen Kind verknüpft sind. Durch die Erforschung dieser und möglicherweise anderer Bedingungen könnten die Risiken des Scheiterns beim Übergang ins Erwachsensein besser eingeschätzt und vielleicht vorbeugende Interventionen entwickelt werden. Dysfunktionale Abhängigkeit und Psychopathologie Wie in Kapitel 1 erwähnt, sind sich die Muster dysfunktionaler Abhängigkeit über eine große Bandbreite von Diagnosen hinweg sehr ähnlich; und ist der Kreislauf aus Abhängigkeit und Rundumversorgung erst einmal durchbrochen worden, hat sich die Atmosphäre zwischen erwachsenem Kind und der Familie deutlich entspannt, und zwar unabhängig von der Diagnose des jungen Menschen. Die dysfunktionale Abhängigkeit scheint demnach ein diagnoseübergreifender Zustand zu sein (Shimshoni et al.,

Inspirationen

2019). Trotzdem bleibt die Frage, wie verschiedene psychiatrische Zustände mit Interventionen bei dysfunktionaler Abhängigkeit interagieren. Inwieweit erlegen verschiedene Zustände spezifische Zwänge oder Parameter auf, die für die Entwicklung, Konfiguration und Behandlung von dysfunktionaler Abhängigkeit bedeutsam sind? Die Wirksamkeit der Therapie nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands bei dysfunktionaler Abhängigkeit Bei dysfunktionaler Abgängigkeit wird das Konzept des gewaltlosen Widerstands in verschiedenen Vorgehensweisen umgesetzt. Bei einer Variation sind nur die Eltern in Therapie. Bei einer anderen Variation sind sowohl die Eltern als auch die erwachsenen Kinder die Klienten. Die Frage der Wirksamkeit der Intervention ist für beide Parteien von Bedeutung, unabhängig davon, ob das erwachsene Kind der aktive Klient oder der passive Empfänger ist. Dysfunktionale Abhängigkeit und die Öffentlichkeit Man darf nicht annehmen, dass dysfunktionale Abhängigkeit ausschließlich durch familieninterne Faktoren ermöglicht wird. Viele makrosoziale, ökonomische, kulturelle und normative Einflüsse tragen ebenso dazu bei, dass diese Art von Abhängigkeit perpetuiert wird. Beispielhaft dafür stehen soziokulturelle Diskurse über Themen wie Privatsphäre, Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung, Selbstregulation und Freiheitsliebe; die demografischen Fakten und die Kultur des Erwachsenwerdens; Konjunkturschwächen, Arbeitslosigkeit und hohe Eintrittsbarrieren in den Arbeitsmarkt; und das fehlende öffentliche Bewusstsein für dysfunktionale Abhängigkeit schlechthin. Was kann auf gesellschaftlicher Ebene getan werden, um Familien mit erwachsenen Kindern zu helfen, damit sie ihr Problem erkennen und Wege finden, wie sie ihre Schwierigkeiten auf ein Minimum beschränken können?

237

238

Abschließende Bemerkungen

Ermutigungen Wir möchten mit einigen Erkenntnissen schließen, die wir in unserer zwanzigjährigen Erfahrung in der Behandlung von Eltern mit schwierigen Kindern mithilfe des Ansatzes des gewaltlosen Widerstands gewonnen haben. Eltern, die in gewaltlosem Widerstand trainiert werden, müssen den Mut aufbringen, viele Dinge zu tun, die sie niemals zu tun gewagt hätten. Das gilt für die Eltern von Kindern aller Altersgruppen, aber umso mehr noch für Eltern von erwachsenen Kindern. Auch Therapeutinnen und Therapeuten brauchen Mut, um die Eltern in einem Prozess zu begleiten, der oft mit starken Emotionen, schrecklichen Bedrohungen und potenziell verletzenden Handlungen überfrachtet ist. Diese therapeutische Aufgabe würde völlig abschreckend wirken, hätte sie nicht ihre Basis in dem, was wir über gewaltlosen Widerstand sowohl in der sozialpolitischen Welt als auch in Familienkontexten wissen. Der gewaltlose Widerstand hat sich nicht entwickelt, um den Mutigen zu nutzen, sondern denjenigen zu helfen, die sich bis dahin ihrem Schicksal ergeben haben, als ob dies ein Teil der natürlichen Ordnung wäre. Der gewaltlose Widerstand in der sozialpolitischen Arena wird typischerweise durch einen Initialakt der Verweigerung eingeleitet, der die Gemeinschaft der Widerstand leistenden Menschen zusammenschweißt. Von ihrem Mut sind diese Menschen sogar selbst überrascht. Dasselbe gilt auch für den familialen Kontext. Die Eltern entdecken erstaunt, dass sie handeln können. Auch Therapeuten und Therapeutinnen, die noch nie nach dem Ansatz des gewaltlosen Widerstands gearbeitet haben, sind oft überwältigt vom Mut der Eltern und von ihrer eigenen Führungsrolle. Haben Therapeuten einmal die anregenden Wirkungen eines Unterstützertreffens, einer Sitzung mit einem gewalttätigen erwachsenen Kind oder eine Telefonrunde mit einem gefährdeten Adoleszenten (Omer u. von Schlippe, 2011) erlebt, beginnen sie, an die Fähigkeit der Eltern zu glauben, sich gegen die Flut von Gefahren zu stemmen, die das Kind und die Familie zu überwältigen drohen. Dieser Mut erweist sich als ansteckend. Am Ende wird auch das erwachsene Kind »von Mut erfasst« und in die Lage versetzt, die Herausforderungen des Lebens besser zu bewältigen.

Ermutigungen

Der Zustand dysfunktionaler Abhängigkeit stellt eine totale Entmutigung in der Familie dar. Gleichzeitig stellt der Umgang mit diesem Zustand einige besonders geschätzte Wertvorstellungen in der traditionellen Psychotherapie in Frage. Sehr oft verbinden sich in solchen Familien chronische Gewalttätigkeit, Übergriffe und Stagnation mit jahrzehntelanger sozialer Scham und Geheimnistuerei; doch in der traditionellen Psychotherapie wird die Privatsphäre als ein absoluter Wert gesehen, und diese Verschwiegenheit ist vielleicht genau das Gegenteil von dem, was diese Familien brauchen. Die Eltern von erwachsenen Kindern sind aufgrund ihrer unterwürfigen Rolle fest an ihr Narrativ der Totalverantwortung gebunden; dabei ist dieses Narrativ ziemlich deckungsgleich mit den gängigen sozialen und therapeutischen Diskursen über Elternschaft, wodurch der Glaube an die elterliche Totalverantwortung, wenn nicht gar an die ausgesprochene Schuld der Eltern verstärkt wird. Viele Eltern erwachsener Kinder sehen den fehlenden Dialog zwischen ihnen und ihren Kindern als das Hauptproblem und unterhalten Hoffnungen, diesen Dialog durch eine Therapie in Gang zu bringen. Eine Therapie kann und sollte zwar einen Dialog anstreben, aber ein absolutes Vertrauen in dessen allumfassende Heilkraft kann nachteilig sein, vor allem dann, wenn die Fortsetzung des Gesprächs den Weg zum Handeln in die Ferne rückt oder versperrt. Wir sind der Auffassung, dass die Instrumente und Wertvorstellungen des Konzepts des gewaltlosen Widerstands helfen können, diese Fallen zu umgehen. Durch die Reaktionen der Eltern auf unser Therapieprogramm fühlen wir uns sehr ermutigt. Verzweiflung wird durchflutet von Hoffnung, und Lähmung verwandelt sich in Handlung. Die tiefgreifendste Transformation wird aber in der Sitzung mit den Unterstützerinnen und Unterstützern erlebt. Wenn das schwache »Ich« eines Elternteils zu dem starken »Wir« einer fürsorglichen und engagierten Gruppe wird, dann verändert sich alles. Wir sind überzeugt, dass diese kleinen Gemeinschaften der Schmelztiegel sind, in dem die Angst in Mut umgeschweißt wird.

239

Literatur

Angone, P. (2014). What is emerging adulthood? And why it explains millennials in their 20s. Internet blog https://allgroanup.com/featured/what-isemerging-­adulthood-and-why-it-explains-your-twenties/. Arnett, J. J. (2000). Emerging adulthood: A theory of development from the late teens through the twenties. American Psychologist, 55 (5), 469–480. Arnett, J. J. (2004). Emerging adulthood the winding road from the late teens through the twenties. New York; Oxford: Oxford University Press. Arnett, J. J., Schwab, J. (2012). The Clark University Poll of Emerging Adults: Thriving, struggling, and hopeful. Worcester, MA: Clark University. Arnett, J. J., Schwab, J. (2013). The Clark University Poll of Parents of Emerging Adults: Harmony, support, and (occasional) conflict. Worcester, MA: Clark University. Arnett, J. J., Schwab, J. (2014). Becoming established adults: Busy, joyful, stressed – and still dreaming big. The Clark University Poll of Established Adults Ages 25–39. Worchester, MA: Clark University. Bateson, G. (1985). Ökologie des Geistes: Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. [Engl. Orig.: Steps to an ecology of mind. NY: Ballantine Books, 1972]. Carli, V., Hoven, C. H., Wasserman, C., Chiesa, F., Guffanti, G., Sarchiapone, M., Apter, A., Balazs, J., Brunner, R., Corcoran, P., Cosman, D., Haring, C., Iosue, M., Kaess, M., Kahn, J. P., Keeley, H., Postuvan, V., Saiz, P., Varnik, A., Wasserman, D. (2014). A newly identified group of adolescents at »invisible« risk for psychopathology and suicidal behavior: findings from the SEYLE study. World Psychiatry, 13, 1, 78–86. Carlton, P., Deane, F. P. (2000). Impact of attitudes and suicidal ideation on adolescents’ intentions to seek professional psychological help. Journal of Adolescence, 23 (1), 35–45. doi:10.1006/jado.1999.0299. Center for Disease Control and Prevention [CDC] (2008). Strategic direction for the prevention of suicidal behavior: Promoting individual, family, and community connectedness to prevent suicidal behavior. Retrieved from http:// www.cdc.gov/ViolencePrevention/.

242

Literatur

Daniel, S. S., Goldston, D. B. (2009). Interventions for suicidal youth: A review of the literature and developmental considerations. Suicide & Life Threatening Behaviors, 39 (3), 252–268. doi:10.1521/suli.2009.39.3.252. Diamond, G. M., Diamond, G. S., Levy, S., Closs, C., Ladipo, T., Siqueland, L. (2011). Attachment-based family therapy for suicidal lesbian, gay and bisexual adolescents: A treatment development study and open trial with preliminary findings. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training, 49 (1), 62–71. Diamond, G. S., Wintersteen, M. B., Brown, G. K., Diamond, G. M., Gallop, R., Shelef, K. et al. (2010). Attachment-based family therapy for adolescents with suicidal ideation: A randomized control trial. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 49, 122–131. Dube, S. R., Anda, R. F., Felitti, V. J., Chapman, D. P., Williamson, D. F., Giles, W. H. (2001). Childhood abuse, household dysfunction, and the risk of attempted suicide throughout the life span: Findings from the Adverse Childhood Experiences Study. JAMA, 286(24), 3089–3096. Fergusson, D. M., Woodward, L. J., Horwood, L. J. (2000). Risk factors and life processes associated with the onset of suicidal behaviour during adolescence and early adulthood. Psychological Medicine, 30 (1), 23–39. Franc, N. Omer, H. (2017). Accompagner les parents d’enfants tyranniques. ­Malakoff: Dunod. Garcia, A. M., Sapyta, J. J., Moore, P. S., Freeman, J. B., Franklin, M. E., March, J. S., Foa, E. B. (2010). Predictors and moderators of treatment outcome in the pediatric obsessive compulsive treatment study. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 49, 1024–1033.  Goddard, N., Van Gink, K., Van der Stegen, B., Van Driel, J., Cohen, A. P. (2009). ›Smeed het ijzer als het koud is‹. Non-Violent Resistance op een acuut psychiatrische afdeling voor adolescenten. Maandblad Geestelijke Volksgezondheid, 64, 531–539. Golan, O., Shilo, H., Omer, H. (2016). Non‐violent resistance parent training for the parents of young adults with High Functioning Autism Spectrum Disorder. Journal of Family Therapy, 40, 4–24. doi:10.1111/1467-6427.12106. Hooven, C. (2013). Parents-CARE: A suicide prevention program for parents of at-risk youth. Journal of Child and Adolescent Psychiatric Nursing, 26, 85–95. http://dx.doi.org/10.1037/0003-066X.55.5.469. Johnson, J. G., Cohen, P., Gould, M. S., Kassen, S., Brown, J., Brook, J. S. (2002). Childhood adversities, interpersonal difficulties, and risk for suicide attempts during late adolescence and early adulthood. Archives of General Psychiatry, 59 (8), 741–749. Kashani, J. H., Goddard, P., Reid, J. C. (1989). Correlations of suicidal ideation in a community sample of children and adolescents. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 28 (6), 912–917. doi:10.1207/ s15374424jccp1802_7.

Literatur

King, C. A., Arango, A., Kramer, A., Busby, D., Czyz, E., Foster, C. E., Gillespie, B. W., YST Study Team (2019). Association of the Youth-Nominated Support Team Intervention for Suicidal Adolescents With 11- to 14-Year Mortality Outcomes: Secondary Analysis of a Randomized Clinical Trial. JAMA Psychiatry, 76 (5), 492–498. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2018.4358. Lavi-Levavi, I., Shachar, I. Omer, H. (2013). Training in non-violent resistance for parents of violent children: Differences between fathers and mothers. Journal of Systemic Therapies, 32, 79–93. Lebowitz, E. R., Dolberger, D., Nortov, E., Omer, H. (2012). Parent training in Non Violent Resistance for adult entitled dependence. Family Process, 51, 90–106. Lebowitz, E. R., Marin, C., Martino, A., Shimshoni, Y., Silverman, W. K. (2020). Parent-based treatment as efficacious as Cognitive-Behavioral Therapy for childhood anxiety: A randomized noninferiority study of supportive parenting for anxious childhood emotions. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 59 (3), 362–372. https://doi.org/10.1016/j. jaac.2019.02.014. Lebowitz, E. R. Omer, H. (2013). Treating child and adolescent anxiety: A guide for caregivers. Hoboken, NJ: Wiley and Sons. Lebowitz, E. R., Omer, H., Hermes, H., Scahill, L. (2014). Parent training for childhood anxiety disorders: The SPACE program. Cognitive and Behavioral Practice, 21 (4), 456–469. Li, T. M., Wong, P. W. (2015). Youth social withdrawal behavior (hikikomori). A systematic review of qualitative and quantitative studies. Australian & New Zealand Journal of Psychiatry, 49 (7), 595–609. Lotringer-Sagi, Z. (2020). Vigilant care among juvenile offenders: Development of a short-term intervention and an analysis of its efficiency and theoretical basis. (Doctoral dissertation). Tel Aviv University. OECD (2016). The NEET challenge: What can be done for jobless and disengaged youth? Society at a Glance 2016: OECD Social Indicators, OECD Publishing, Paris. DOI: https://doi.org/10.1787/soc_glance-2016-4-en. OECD (2019). Youth not in employment, education or training (NEET) (indicator). doi: 10.1787/72d1033a-en (Accessed on 03 August 2019). Ollefs, B., Schlippe, A. von, Omer, H., Kriz, J. (2009). Jugendliche mit externalem Problemverhalten: Effekte von Elterncoaching. Familiendynamik, 34 (3), 256–265. Omer, H. (2001). Helping parents deal with children’s acute disciplinary problems without escalation: The principle of non-violent resistance. Family Process, 40/1, 53–66. Omer, H. (2016). Wachsame Sorge. Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Alon, N., Schlippe, A. von (2016). Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung (4. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

243

244

Literatur

Omer, H., Haller, R. (2020). Raus aus der Ohnmacht. Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Lebowitz, E. R. (2015). Ängstliche Kinder unterstützen. Die elterliche Ankerfunktion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Lebowitz, E. R. (2016). Nonviolent Resistance. Helping caregivers reduce problematic behaviors in children and adolescents. Journal of Marital and Family Therapy, 42 (4), 688–700. Omer, H., Schlippe, A. von (2009). Stärke statt Macht: »Neue Autorität« als Rahmen für Bindung. Familiendynamik, 34 (3), 246–254. Omer, H., Schlippe, A. von (2010). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2011). Autorität ohne Gewalt: Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. »Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept (8. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schlippe, A. von (2016). Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung (9. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Omer, H., Schorr-Sapir, I. Efron, R. (2016). Behandlungsprotokoll für Schulverweigerung. In C. A. Rexroth, T. Lustig (Hrsg.), Schulvermeidung. Frühzeitig – interdisziplinär – gesamtgesellschaftlich (S. 33–58). Göttingen: V&R Unipress. Omer, H., Steinmetz, S., Carthy, T., Schlippe, A. von (2013). The anchoring function: Parental authority and the parent-child bond. Family Process, 52 (2), 193–206. Omer, H., Streit, P. (2019). Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Pozza, A., Coluccia, A., Kato, T., et al. (2019). The ›Hikikomori‹ syndrome: Worldwide prevalence and co-occurring major psychiatric disorders: a systematic review and meta-analysis protocol. BMJ Open 2019;9:e025213. doi: 10.1136/bmjopen-2018-025213. Rothman-Kabir, Y. (2018). Applying »The New Authority« model in families of poorly balanced adolescents with type 1 diabetes. (Doctoral dissertation). Tel Aviv: Tel Aviv University. Schorr-Sapir, I. (2018). The efficacy of ›nonviolent resistance‹ parent training for treating ADHD in children. Tel Aviv: Tel Aviv University. Sela, Y. (2019). Examining efficacy of »technological parental monitoring« versus »parental vigilant care« for reducing problematic internet usage among adolescents. (Doctoral dissertation). Tel Aviv: Tel Aviv University. Sharp, G. (1973). The politics of nonviolent action. Boston: Extending Horizons Books. Shimshoni, Y., Farah, H., Lotan, T., Grimberg, E., Dritter, O., Musicant, O., Toledo, T., Omer, H. (2015). Effects of parental vigilant care and feedback on novice driver risk. Journal of Adolescence, 38, 69–80.

Literatur

Shimshoni, Y., Shrinivasa, B., Cherian, A. V., Lebowitz, E. R. (2019). Family accommodation in psychopathology: A synthesized review. Indian Journal of Psychiatry, 61 (Suppl. 1), S93-S103. doi:10.4103/psychiatry.IndianJPsychiatry_530_18. Shimshoni, Y., Silverman, W. K., Lebowitz, E. R. (2020). SPACE-ARFID: A pilot trial of a novel parent-based treatment for avoidant/restrictive food intake disorder. International Journal of Eating Disorders, 53, 10, 1623–1635. https://doi.org/10.1002/eat.23341 Shneidman, E. S. (1985). Definition of suicide. Northvale, NJ: Jason Aronson. Stanley, B., Brown, G., Brent, D. A., Wells, K., Poling, K., Curry, J. et al. (2009). Cognitive-behavioral therapy for suicide prevention (CBT-SP). Treatment model, feasibility, and acceptability. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 48 (10), 1005–1013. doi:10.1097/ CHI.0b013e3181b5dbfe. Steinberg; L. (2014). The case for delayed adulthood. New York Times internet edition, Sept. 19, 2019 https://www.nytimes.com/2014/09/21/opinion/sunday/­ the-case-for-delayed-adulthood.html. Storch, E. A., Geffken, G. R., Merlo, L. J., Jacob, M. L., Murphy, T. K., Goodman, W. K., Larson, M. J., Fernandez, M., Grabill, K. (2007). Family accommodation in pediatric obsessive-compulsive disorder. Journal of Clinical Child and Adolescent Psychology, 36, 207–16. Tamaki, S. (2013). Hikikomori: Adolescence without end. Minneapolis: University of Minnesota Press. Teo, A. R., Gaw, A. C. (2010). Hikikomori, a Japanese culture bound syndrome of social withdrawal? A proposal for DSM-5. The Journal of Nervous and Mental Disease, 198, 444–449. Tomm, K., St. George, S., Wulff, D., Strong, T. (2014). Patterns in interpersonal interactions. Inviting relational understandings for therapeutic change. New York: Routledge. U. S. Census Bureau (2018). Historical Marital Status Tables Revised: November 14, 2018 https://www.census.gov/data/tables/time-series/demo/families/­ marital.html. U. S. Census Bureau (2019). Decennial Censuses, 1890 to 1940, and Current Population Survey, Annual Social and Economic Supplements, 1947 to 2019. Van Holen, F., Vanderfaeillie, J., Omer, H., Vanschoonlandt, F. (2018). Training in non-violent resistance for foster parents: A randomized controlled Trial. Research on Social Work Practice, 28 (8), 931–942. DOI: 10.1177/1049731516662915. Vespa, J. (2017). The changing economics and demographics of young adulthood: 1975–2016. Current Population Reports, P20-579, U. S. Census Bureau, Washington, DC, 2017. Wagner, B. M., Silverman, M. A. C., Martin, C. E. (2003). Family factors in youth suicidal behaviors. The American Behavioral Scientist, 46 (9), 1171–1191. doi:10.1177/0002764202250661.

245

246

Literatur

Weinblatt, U. Omer, H. (2008). Non-violent resistance: A treatment for parents of children with acute behavior problems. Journal of Marital and Family Therapy, 34(1). 75–92. Wyman, P. A., Brown, C. H., Inman, J., Cross, W., Schmeelk-Cone, K., Guo, J. et al. (2008). Randomized trial of a gatekeeper program for suicide prevention: 1-year impact on secondary school staff. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 76 (1), 104–115. doi:10.1037/0022-006X.76.1.104.