Das zweibändige Handbuch ist die erste umfassende Gesamtdarstellung der literarischen Verarbeitung von "Wende"
386 95 3MB
German Pages 1061 [1063] Year 2003
Table of contents :
Frontmatter
Inhalt: Band 1
1. Einleitung
2. „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb des ehemaligen „Leselandes“
3. ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘? – Versuch einer Begriffsbestimmung
4. Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
5. Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
6. Abschied und Ankunft
7. Schlussbemerkungen
Backmatter
Frontmatter
Inhalt: Band 2
1. Primärliteratur
2. Dokumentationen / Sachbücher (Auswahl)
3. Tonträger (Auswahl)
4. Sekundärliteratur
Frank Thomas Grub ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur Band 1
Frank Thomas Grub
›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur Ein Handbuch Band 1: Untersuchungen
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003
P Gedruckt auf säurefreiem Papier, E das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017775-7 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
” Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Inhalt: Band 1 1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
2
„Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb des ehemaligen „Leselandes“ . . . . . . . . .
17
2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.2.8 2.2.9 2.2.10 2.3 2.4 2.5
3 3.1 3.2
Die DDR – ein „Leseland“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Situation der Verlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau-Verlag, Berlin / Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volk & Welt, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) / Leipzig . . . . . . . . . . . . Hinstorff-Verlag, Thuhoff-Verlag, Rostock . . . . . . . . . . . . Eulenspiegel / Das Neue Berlin, Berlin – edition ost, Berlin Neues Leben, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volk und Wissen, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Verlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neugründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen der ‚Wende‘ auf westdeutsche Verlage . . . Buchhandel und Bibliothekswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Situation der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . Uneinig in die Einheit: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akademie der Künste, Schriftstellerverband und P.E.N. . . ‚Literatur der ‚Wende‘ ‘ oder ‚Wendeliteratur‘?– Versuch einer Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 23 27 31 34 35 36 37 38 39 41 46 48 52 57
68
Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach einem Phantom: der ‚große Wenderoman‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs I: Anna Seghers: Der gerechte Richter (1990) . . .
71 84 90
4
Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘ . . . . . . . . . . . .
96
4.1 4.2 4.3 4.4
Zur Sprache der ‚Wende‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 ‚Wendesprache‘ und ‚Wendeliteratur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 110 ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Sprache im ‚essayistischen Roman‘ – Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog (1992) . . . . . . . . . . . 122
VI
Inhalt
5
Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
5.1 5.1.1
Debatten und Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . Verschlafene Beobachter? – Die Intellektuellen und die ‚Wende‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Privilegien – die Kluft zwischen Intellektuellen und restlicher Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „Topos vom Schweigen“ (Helmut Peitsch) . . . . . . . . Konkret: Die Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Herbst 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Illusion von der Realisierbarkeit eines demokratischen Sozialismus nach der ‚Wende‘ . . . . . . . . . Exkurs II: Geistliche Texte zu ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ . . . . Die Antipoden Grass und Walser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Das Monstrum will Großmacht sein“ – Günter Grass . . Exkurs III: Günter Grass: Ein weites Feld (1995) . . . . . . „Die sanfte Revolution in der DDR: für mich das liebste Politische, seit ich lebe […].“ – Martin Walser . . . Die Extreme versöhnen – Günter de Bruyn . . . . . . . . . . . Nation, Vereinigung und ‚Normalisierung‘ – erste Debatten nach dem Herbst ’89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlust der Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essays zum Thema Utopieverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Heins Parabel Kein Seeweg nach Indien (1990) Ein Stellvertreterkrieg: der ‚deutsch-deutsche Literaturstreit‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Geist und Macht‘ – Staatssicherheit und Literatur . . . . . Eine neue Debatte: Heiner Müller und Christa Wolf . . . . Sascha Anderson und der bröckelnde Mythos vom Prenzlauer Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Fall „Mitsu“: Monika Maron . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Umgang mit Akten: Chancen und Risiken . . . . . . . . Die Stasi in der ‚Wendeliteratur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs IV: Vom „Gefühlsstau“ zum „gestürzten Volk“ – Psychologische Erkenntnisse zur ‚Wende‘ . . . . . .
5.1.1.1 5.1.1.2 5.1.1.3 5.1.1.4
5.1.2 5.1.2.1 5.1.2.2 5.1.2.3 5.1.3 5.1.4 5.1.4.1 5.1.4.2 5.1.5 5.1.6 5.1.6.1 5.1.6.2 5.1.6.3 5.1.6.4 5.1.6.5
5.2 5.2.1 5.2.1.1 5.2.1.2 5.2.1.3 5.2.1.4
‚Ich‘ und die ‚Wende‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protokolle, Porträts, Reportagen und Tagebücher . . . . . . Protokoll-Literatur und Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . Porträts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reportagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagebücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130 132 136 141 147 155 159 162 163 167 171 177 179 186 187 192 196 210 218 224 230 232 239 243 248 255 255 268 270 273
Inhalt
5.2.1.5
5.2.2 5.2.2.1 5.2.2.2 5.2.2.3 5.2.2.4 5.2.2.5 5.2.2.6 5.2.2.7 5.2.2.8 5.3 5.3.1 5.3.1.1 5.3.1.2 5.3.1.3 5.3.1.4 5.3.2 5.3.2.1 5.3.2.2 5.3.2.3 5.3.2.4 5.3.2.5 5.3.3 5.3.3.1 5.3.3.2 5.3.3.3 5.3.3.4 5.3.4 5.3.4.1 5.3.4.2
Ein literarisches Tagebuch – Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine (1990); weitere Tagebuchnotizen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern . . . . . . . . . . . . Autobiografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elfriede Brüning: Und außerdem war es mein Leben (1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter de Bruyn: Zwischenbilanz (1992) – Vierzig Jahre (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Kant: Abspann (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rita Kuczynski: Mauerblume (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus (1993) . . . . . Neuauflagen, Neuausgaben und Fortsetzungen . . . . . . . . Fiktionale Autobiografien und die Autobiografie in der fiktionalen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identitätssuche einer Schriftstellerin – Christa Wolf: Was bleibt (1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angst, Entfremdung und Identitätssuche . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach einer neuen Sprache . . . . . . . . . . . . . Was bleibt im Kontext des Wolfschen Werkes . . . . . . . . . Titel und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reden als Befreiung und gegen das Vergessen – Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck (1991) . . . . . . Formale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Demontage eines Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Strudel der ‚Wende‘-Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Sinnbild des Birnbaums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verabschiedung eines Gründervaters – Monika Maron: Stille Zeile sechs (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Konflikt zwischen Rosalind und Beerenbaum als Generationenkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Konflikt zwischen Rosalind und Beerenbaum als Freudsche Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Realität und Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freundschaft statt Utopie – Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma (1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Umgang mit der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entlarvung gängiger Ost-West-Diskurse . . . . . . . . . . .
VII
289 299 308 309 312 315 318 321 323 325 328 332 333 335 339 343 345 346 348 350 352 353 354 356 362 365 368 369 370 375
VIII Inhalt 5.3.4.3 5.3.4.4 5.3.5 5.3.5.1 5.3.5.2 5.3.5.3 5.3.5.4 5.3.6 5.3.6.1 5.3.6.2 5.3.6.3 5.3.6.4 5.3.7
5.3.7.1 5.3.7.2 5.3.7.3 5.3.8 5.4 5.4.1 5.4.2
Freundschaft statt Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abendspaziergang (1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der unfreiwillige Aufstieg eines ‚überzeugten Vertreters‘ – Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen (1995) . . . Hinrich Lobek – die Biografie eines Anti-Helden . . . . . . . Ost-West-Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aspekt der Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs V: Weitere ‚Wende‘-Texte von Jens Sparschuh . . . Alltag nach der ‚Wende‘ – Ingo Schulze: Simple Storys (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formale Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altenburg als Schauplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modernisierung als Schock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chroniken der ‚Wende‘ – Erich Loest: Nikolaikirche (1995) und Martin Jankowski: Rabet oder Das Verschwinden einer Himmelsrichtung (1999) . . . . . . . . . . Aufbau und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Wende‘-Legenden und ihre Demontage . . . . . . . . . . . . . . Die Einheit als Ernüchterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein ‚Nachwenderoman‘ – Uwe Timm: Johannisnacht (1996) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.4.8
Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Keine Zeit für Lyrik“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Bilanz gelebten Lebens – Schreiben über das Land unmittelbar vor dem Mauerfall . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Wende‘ und Fall der Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschied von der DDR / Ankunft in der Bundesrepublik . Grenz-Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unvollkommene Revolution und Schwierigkeiten im vereinigten Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ‚Wendegedicht‘ schlechthin: Volker Braun: Das Eigentum (1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kuriose ‚Lyrik‘ – Erich Honecker: Tiefe Eindrücke (1993)
5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.5.5
Dramatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Hein: Die Ritter der Tafelrunde (1989) . . . . . . Herbert Achternbusch: Auf verlorenem Posten (1990) . . . Botho Strauß: Schlußchor (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Pohl: Karate-Billi kehrt zurück (1991) . . . . . . . . . . Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar (1993) . . . . . . . . . . . .
5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6 5.4.7
381 383 384 385 387 390 393 394 399 400 402 403 404
408 409 411 413 414 417 417 427 428 433 448 452 457 463 466 479 484 491 505 513
Inhalt
IX
6
Abschied und Ankunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.3.1 6.1.3.2 6.1.3.3 6.1.4
Von IMs und Alteigentümern – Aspekte der Figurengestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der IM – das (un)erkannte Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Wendehals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Typen ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Zoo-Blicke‘ aufs ‚Ossiland‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Wossis‘: ‚Wessis‘ im ‚Ossiland‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alteigentümer und westdeutscher Investor . . . . . . . . . . . .
529 529 533 538 539 540 549 555
6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3
‚Ostalgie‘? – ‚Ostalgie‘! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Ostalgie‘ und Ostprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die DDR lebt! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Ostalgie‘ und Ost-Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
558 563 573 579
6.3 6.3.1 6.3.1.1 6.3.1.2 6.3.1.3 6.3.1.4 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.4.1 6.3.4.2
‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Metaphorik und Motivik . . . . ‚Verfall‘ und ‚Aufbau‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untergang: ‚Verfall‘ und Abbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neubeginn: ‚Aufbau‘ und Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Verfall‘ versus ‚Aufbau‘ – Abbruch versus Aufbruch? . . . Keine Chance zum Neubeginn: Selbstmorde . . . . . . . . . . Das Eigene geht, das Fremde kommt . . . . . . . . . . . . . . . . Vereinigung – sexuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Motiv der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arno Surminski: Kein schöner Land (1993) . . . . . . . . . . . ‚Zeit‘ in weiteren fiktionalen Texten und Essays . . . . . . .
592 593 593 599 603 606 610 614 619 620 623
6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.2.1 6.4.2.2 6.4.3
Die ‚Wende‘ – intertextuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Die Welt ist Text‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bezüge zur antiken Mythologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Braun: Iphigenie in Freiheit (1992) . . . . . . . . . . . . Christa Wolf: Medea. Stimmen (1996) . . . . . . . . . . . . . . . Muttermörder Brussig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
636 636 646 647 659 663
6.5
Von Utopia nach Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
7
Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679
Inhalt: Band 2 Zur Titelaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Abkürzungen / Kurztitel von Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . XIII 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
1.8 1.9 1.10
Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dramatik / Drehbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autobiografien / Erinnerungen / Erfahrungsberichte / Tagebücher / Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protokoll-Literatur und verwandte Formen . . . . . . . . . . . Essays / Reden / Briefe / Reportagen / Gespräche / Kommentare / Kolumnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hörspiele / Features (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildbände / Text-Bild-Bände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
Dokumentationen / Sachbücher (Auswahl) . . . . . . . . . . . . 210
3
Tonträger (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
4 4.1 4.2 4.3 4.4
Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monografien / Sammelbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufsätze / Artikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monografien, Aufsätze und Materialien zu einzelnen Themen bzw. Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . Buchhandel / Bibliotheken / Verlagswesen / Literarisches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatssicherheit und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.6 1.7
4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4
1 1 8 80 95 109 127 133 197 198 202
231 231 231 238 265 265 282 292 297
1
Einleitung
Die meisten Menschen in Ost und West dürften sich 1989 mit der staatlichen Teilung Deutschlands weit gehend abgefunden gehabt haben.1 Besonders jüngere Westdeutsche fühlten sich der DDR so gut wie nicht verbunden: Der Staat zwischen Elbe und Oder war ihnen fremder als irgendein Staat des westlichen Auslands. ‚Wende‘ und Vereinigung2 kamen also eher unvorhergesehen und überraschend. Wie – im wahrsten Sinne des Wortes – ‚unglaublich‘ der Fall der ‚Mauer‘ war, beschreibt Günter Grass sehr anschaulich in seiner Chronik Mein Jahrhundert (1999), deren Beitrag zum Jahr 1989 selbstverständlich der ‚Wende‘ gewidmet ist: Während wir [das Ehepaar Grass; F.Th.G.] uns […] Behlendorf näherten, lief im sogenannten „Berliner Zimmer“ des Bekannten meines Bekannten mit fast auf Null gedrehtem Ton das Fernsehen. Und während noch die beiden bei Korn und Bier über das Reifenproblem plauderten und der Parkettbesitzer meinte, daß an neue Reifen im Prinzip nur mit dem „richtigen Geld“ ranzukommen sei […], fiel meinem Bekannten mit kurzem Blick in Richtung tonlose Mattscheibe auf, daß dort offenbar ein Film lief, nach dessen Handlung junge Leute auf die Mauer kletterten, rittlings auf derem obersten Wulst saßen und die Grenzpolizei diesem Vergnügen tatenlos zuschaute. Auf solche Mißachtung des Schutzwalls aufmerksam gemacht, sagte der Bekannte meines Bekannten: „Typisch Westen!“ Dann kommentierten beide die laufende Geschmacklosigkeit – „Bestimmt ein Kalter-Kriegs-Film“ – und waren bald wieder bei den leidigen Sommerreifen und fehlenden Winterreifen. […] Während wir bereits im Bewußtsein der kommenden, der mauerlosen Zeit lebten und – kaum zu Hause angekommen – die Glotze in Gang setzten, dauerte es andererseits der Mauer noch ein Weilchen, bis endlich der Bekannte meines Bekannten die paar Schritte übers frischverlegte Parkett machte und den Ton des Fernsehers voll aufdrehte. Ab dann kein Wort mehr über Winterreifen.3
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Zur westdeutschen Sicht vgl. Gerhard Herdegen: Perspektiven und Begrenzungen. Eine Bestandsaufnahme der öffentlichen Meinung zur deutschen Frage. Teil 1: Nation und deutsche Teilung. In: Deutschland Archiv 20 (1987) 12, S. 1259-1273. Der Begriff ‚Vereinigung‘ ist dem – historisch falschen – der ‚Wiedervereinigung‘ vorzuziehen, denn 1990 wurden zwei Staaten vereinigt, die in dieser Form zuvor keine Einheit gebildet hatten. Günter Grass: 1989. In: G.G.: Mein Jahrhundert. Göttingen 1999; S. 332-335, S. 333f.
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Für viele Menschen, vor allem in der DDR bzw. den östlichen Bundesländern4, dürfte die ‚Wende‘ eines der wichtigsten Ereignisse, wenn nicht das einschneidendste Ereignis in ihrem Leben gewesen sein. Der 1951 in Dresden geborene Schriftsteller Michael Wüstefeld bringt dies in seiner Erzählung Grenzstreifen (1993) zum Ausdruck, die er mit den Sätzen eröffnet: Es war der Sommer nach der Grenzöffnung. Für uns, in deren Geburtsurkunden für immer DDR eingetragen bleibt, hatte eine andere Zeitrechnung begonnen. Für uns gab es ein neues Jahr Null.5
Auch Birgit Herkula (*1960) bezieht sich in Am Ende eines langen Ganges gleich im ersten Satz auf die ‚Wende‘; sie spricht nicht von neuer „Zeitrechnung“, benennt aber eine „neue Zeit“: Als die neue Zeit anbrach, kaufte sich Marie von ihren Ersparnissen ein kleines, pinkfarbenes Auto, das aussah wie eine fröhliche Kiste.6
Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass der Fall der Mauer literarisch oft zum ‚unerhörten Ereignis‘ im Goetheschen Sinne überhöht wird, etwa in Thea Herolds (*1960) Erzählung Die Augen der Malerin (1996): Das war der Anfang. Und dann ging sie auf. Nein, sie fiel um. Die Mauer fiel um. Die Mauer fiel der Länge nach um. Die Malerin konnte gerade noch die Zehen wegziehen. Immer, wenn sie sich am Anfang fühlte, fiel etwas um. Manchmal ein Bücherstapel oder ein Weinglas oder sie selbst. Diesmal also die Mauer. Der Anfang ist ein Hunger. Ein weißer Tunnel aus Nichts. Sie weiß nichts. Es geht nichts. Es hält nichts. Es zählt nichts.
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Auch der Begriff ‚neue Bundesländer‘ ist historisch nicht korrekt, denn: „Die neuen Länder sind so alt wie die alten Länder; allerdings sind die meisten der ersteren ein Stück älter als die meisten der letzteren. Sie alle sind Gründungen der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die auf dem von ihnen eingenommenen deutschen Staatsgebiet, soweit es nicht an Polen und die Sowjetunion gefallen war, eine föderale Ordnung auf der Grundlage von Landesgrenzen einrichteten, die nur zum Teil […] historisch begründet waren. […] Die Bezeichnung neue Länder für die 1945 großenteils noch vor den Ländern der Westzonen gebildeten Länder der sowjetischen Besatzungszone läßt sich nicht aufrechterhalten. Richtiger wäre es, von den östlichen Ländern der neuen deutschen Republik zu sprechen […].“ (Friedrich Dieckmann: Die neuen Länder. In: Deutschland in kleinen Geschichten. Hrsg. von Hartmut von Hentig. München 1995; S. 95-99, S. 95 u. 99; Hervorhebung im Original). Michael Wüstefeld: Grenzstreifen. Warmbronn 1993 (Roter Faden 36), S. 3. Die im ersten Satz evozierte neue ‚Zeitrechnung‘ zieht sich leitmotivisch durch den gesamten Text, an dessen Ende der Eingangssatz wieder aufgenommen wird. Birgit Herkula: Am Ende eines langen Ganges. In: B.H.: Das fröhliche Ende einstürzender Burgen. Kurzprosa. Mit Zeichnungen von Iris Hartmann. Magdeburg 1994; S. 100f., S. 100.
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Diesmal ging es nicht nur ihr so, sondern allen. Die ganze Stadt vergaß sich. Sie schwebte. Und soff. Und feierte. Sie grölte. Sie vergaß alles Vorher. Sie wurde blaß vor Schreck und dann rot vor Eifer. Und die Stadt tat so, als hätte sie es genauso gewollt. Als wäre ihr ganzer Irrsinn in die Mauer hineingegangen, die man nun selig davonschleppte, als hätte die Mauer alle sanktionierten Halbheiten entschuldigt, und von nun an wollte man so leben, wie es geschrieben stand. Die Mauer verschwand schnell, und eilig verschleppte man Segment für Segment mit Bulldozern und auf Lastzügen. Nachts donnerten die Tieflader an der Veranda vorbei.7
In Volker Brauns ebenfalls 1996 erschienener Erzählung Die vier Werkzeugmacher heißt es dagegen verhaltener: […] kurz nach dem Auftritt der Massen wurde die Mauer (der sogenannte Schutzwall) geöffnet – halb aus Versehen, indem der verständliche Beschluß mißverständlich voreilig vorgelesen wurde von einem unfreiwilligen Eulenspiegel, wie er im Apparat nicht zu erhoffen war; man nahm das Papier für bare Münze, und einer setzte einen Fuß hinüber und kein Schuß fiel und er zog den anderen Fuß nach, vor den fassungslos aufatmenden Wachposten. Schon dieser komische Vorgang hätte können stutzen machen, denn in dem kleinen Land, das sich eben reckte innen und in Bewegung war, war nun kein Halten mehr, und statt zu retten begann alles zu rennen.8
Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, wie unterschiedlich der Fall der Mauer in der Literatur dargestellt bzw. verarbeitet wird. Wie auch immer man die Ereignisse bewerten mag, die damit einhergehenden Veränderungen sind offensichtlich. Die Ereignisse der ‚Wende‘, die Vereinigung von Bundesrepublik und Deutscher Demokratischer Republik, vor allem aber die Folgen dieser Prozesse haben tiefe Spuren in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hinterlassen – und das bei weitem nicht nur in Deutschland. Zahlreiche Sondersendungen in den Medien, verstärkt im November 19999, aber auch im Oktober 2000, belegen das nicht nachlassende Interesse an ‚Wende‘ und ‚Einheit‘. Wann die Voraussetzungen für diese Ereignisse geschaffen wurden, ist nicht eindeutig festzulegen: Vieles spricht für die Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU im März 1985 und seine Politik, die mit den Schlagworten ‚glasnost‘ und ‚perestroika‘ umrissen werden kann; anderen Auffassungen zufolge ist bis zur Umsetzung des so genannten 7
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Die Augen der Malerin. Die Mauer fiel der Länge nach um. Die Malerin konnte gerade noch die Zehen wegziehen. Der Tag, an dem dies geschah, stand nicht im Kalender. Eine Erzählung von THEA HEROLD. In: Das Magazin (1996) 11; S. 43-47, S. 44. Volker Braun: Die vier Werkzeugmacher. In: Sinn und Form 48 (1996) 2; S. 165-180, S. 166; Hervorhebung im Original. Vgl. etwa das Programmheft von DeutschlandRadio – Die zwei Programme 1999 (11).
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‚NATO-Doppelbeschlusses‘ 1983 oder sogar bis zu den Ostverträgen von 1970 zurückzugehen.10 Für die Schriftstellerinnen und Schriftsteller kann mit gewissen Einschränkungen der X. Schriftstellerkongreß der DDR (1987) als Ausgangspunkt angesetzt werden; damals kam es zu mehreren Zwischenfällen: So verlangte Horst Matthies die Änderung der Tagungsordnung und „wünschte sich Plenartagungen mit Reden und freier Diskussion“11, und Christoph Hein forderte in seiner Rede innerhalb der Arbeitsgruppe IV Literatur und Wirkung die Abschaffung der Zensur12: Das Genehmigungsverfahren, die staatliche Aufsicht, kürzer und nicht weniger klar gesagt: die Zensur der Verlage und Bücher, der Verleger und Autoren ist überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar.13
Dabei kritisierte Hein auch den Aspekt der Selbstzensur: Und der Autor, dem es nicht gelingt, aus seiner Arbeit die ihr folgende Zensur herauszuhalten, wird gegen seinen Willen und schon während des Schreibens ihr Opfer: er wird Selbstzensur üben und den Text verraten oder gegen die Zensur anschreiben und auch dann Verrat an dem Text begehen, da er seine Wahrheit unwillentlich und möglicherweise unwissentlich polemisch verändert.14
Die Tagung endete mit einem Eklat, da der für Umweltfragen zuständige Minister Hans Reichelt, der die Zuhörer eigentlich hatte beruhigen sollen, vom Podium geklatscht wurde.15 10
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Vgl. Horst Teltschik: Vorwort zu: H.T.: 329 Tage. Innenansichten der Einigung. Berlin 1991; S. 7-9, S. 7. Teltschiks Auffassung dürfte gewagt sein, zumal damit indirekt zum Ausdruck gebracht wird, die ‚Wende‘ wäre vom Westen betrieben worden. Dieter Schlenstedt: Der aus dem Ruder laufende Schriftstellerkongreß von 1987. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40); S. 16-31, S. 17; Hervorhebung im Original. Heins Rede ist zweifellos von großer Bedeutung für das An- und Aussprechen von Missständen nicht nur im Literaturbetrieb der DDR. Es ist allerdings vor einer Überschätzung zu warnen. Der Text wurde häufig wieder abgedruckt, fast immer fehlt der Hinweis, dass die Rede ‚lediglich‘ in einer Arbeitsgruppe, nicht aber im Plenum gehalten wurde. Das schmälert den Inhalt des Geäußerten sicher nicht, wohl aber dessen Wirkungsgrad. Christoph Hein: Literatur und Wirkung. In: X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Arbeitsgruppen. Schriftstellerverband der DDR. Berlin (DDR) / Weimar 1988; S. 224-247, S. 228. Es mag auch Heins Verdienst gewesen sein, dass das im Wesentlichen seit der Zeit der sowjetischen Militäradministration bestehende Druckgenehmigungsverfahren im Frühjahr 1989 abgeschafft wurde. Ebd., S. 229. Vgl. zu diesem Komplex die beiden Bände X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Plenum. Schriftstellerverband der DDR. Berlin (DDR) / Weimar 1988 sowie X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Arbeitsgruppen. Schriftstellerverband der DDR. Berlin (DDR) / Weimar 1988.
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Im Rahmen einer in erster Linie literaturwissenschaftlich motivierten Untersuchung können die historisch-politischen Ereignisse nicht eigens in befriedigendem Umfang und mit der gebotenen Differenzierung dargestellt werden. Im Folgenden seien daher lediglich einige ‚Eckdaten‘ genannt16: im Vorfeld die Proteste der Bevölkerung nach den Aktionen der Staatssicherheit gegen die Berliner Umweltbibliothek im Herbst 1987, die Vorgänge im Umfeld der traditionellen Demonstration zum Gedenken an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar 1988 in Ost-Berlin, die Proteste gegen mögliche Fälschungen bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1989, die Besetzung von Botschaften der Bundesrepublik Deutschland in mittel- und osteuropäischen Staaten im Sommer und Frühherbst 1989
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Für detaillierte Informationen vgl. Hannes Bahrmann / Christoph Links: Chronik der Wende. Die DDR zwischen 7. Oktober und 18. Dezember 1989. Berlin 1994. Der Vorläuferband war noch während der eigentlichen Geschehnisse verfasst worden und erstmals 1990 in je einer ost- und einer westdeutschen Ausgabe erschienen: Hannes Bahrmann / Christoph Links: Wir sind das Volk. Die DDR zwischen 7. Oktober und 17. Dezember 1989. Eine Chronik. Berlin (DDR) / Weimar (Texte zur Zeit) bzw. Wuppertal 1990; Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Beitritt. Hrsg. von Volker Gransow und Konrad H. Jarausch. Köln 1991 (Bibliothek Wissenschaft und Politik, Band 47); Keine Gewalt! Der friedliche Weg zur Demokratie. Eine Chronik in Bildern. Hrsg. von Norbert Heber und Johannes Lehmann. 2., überarbeitete Auflage. Berlin 1991; Hans-Hermann Hertle: Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989. 8. Auflage. Berlin 1999; Werner Kern: Drei letzte Jahre. Vom Sturm auf die Zionsbibliothek bis zur deutschen Einheit. Korrespondentenberichte aus Ost-Berlin vom [sic] November 1987 bis Oktober 1990. Blieskastel 2000; Bernd Lindner: Die demokratische Revolution in der DDR 1989 / 90. Bonn 1998 (Deutsche ZeitBilder); Chronik der Ereignisse in der DDR. Hrsg. von Ilse Spittmann und Gisela Helwig. 4. erweiterte Auflage. Köln 1990 (Edition Deutschland Archiv); Ulrich Mählert: Kleine Geschichte der DDR. München 1998 (Beck’sche Reihe); Hermann Weber: DDR. Grundriß der Geschichte 1945-1990. Vollständig überarbeitete und ergänzte Neuauflage. Hannover 1991 (Edition Zeitgeschehen); Werner Weidenfeld / Karl-Rudolf Korte (Hgg.): Handbuch zur deutschen Einheit. Durchgesehener Nachdruck. Bonn 1994. Unter besonderer Betonung der Rolle der protestantischen Kirche vgl. Gerhard Rein: Die protestantische Revolution 1987-1990. Ein deutsches Lesebuch. Mit Graphiken von Manfred Butzmann und Martin Hoffmann. Berlin 1990. Speziell für Leipzig vgl. Thomas Ahbe / Michael Hofmann / Volker Stiehler: Wir bleiben hier. Erinnerungen an den Herbst ’89. Mit einer Chronik von Uwe Schwabe. Leipzig 1999 (die ausführliche Chronik umfasst das Gebiet der gesamten DDR); Neues Forum Leipzig: Jetzt oder nie – Demokratie. Leipziger Herbst ’89. Mit einem Vorwort von Rolf Henrich. Leipzig 1989 / München 1990; Leipziger DEMONTAGEBUCH. DEMO. MONTAG. TAGEBUCH. DEMONTAGE. Zusammengestellt und mit einer Chronik von Wolfgang Schneider. Leipzig 1990 sowie Von Leipzig nach Deutschland. Oktober ’89 / Oktober ’90. Zeittafel und Fotografien. Mit einem Vorwort von Stadtpräsident Friedrich Magirius und einem Nachwort von Heinz Czechowski. Leipzig 1991; analog für Dresden siehe Eckhard Bahr: Sieben Tage im Oktober. Aufbruch in Dresden. Hrsg. mit freundlicher Unterstützung der „Gruppe der 20“, Dresden. Mit einem Geleitwort von Superintendent Christof Ziemer und dem Abschlußbericht der Unabhängigen Untersuchungskommission. Mitarbeit: Sven Bartnik und Elisabeth Groh. Leipzig 1990.
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sowie die Ausreisewellen aus der DDR zur gleichen Zeit. Spätestens ab Sommer überschlagen sich die Ereignisse: Am 21. / 22. August 1989 wird der Demokratische Aufbruch gegründet, am 9. September 1989 das Neue Forum. Am 7. Oktober feiert die DDR den vierzigsten Jahrestag ihrer Gründung; zwei Tage später findet in Leipzig die bisher größte Montagsdemonstration statt – an diesem Tag dürfte sich entschieden haben, dass kein Blut fließen würde. Mit der Öffnung der Berliner ‚Mauer‘ am 9. November17 endet die ‚heiße‘ Phase der ‚Wende‘. Immer häufiger erschallen bei Kundgebungen neben „Wir sind das Volk“ die Rufe „Wir sind ein Volk“ [Hervorhebung von mir; F.Th.G.] sowie die aus dem nicht mehr gesungenen Text der Becher-Hymne stammende Zeile „Deutschland, einig Vaterland“. War es zuvor vor allem darum gegangen, die DDR aus sich selbst heraus zu reformieren, werden nun – unter maßgeblichem Einfluss der Bundesrepublik – die Weichen zur Einheit gestellt; die im Oktober 1989 noch eher verdeckte Heterogenität der Demonstrantengruppen tritt immer deutlicher zu Tage.18 Am 18. März 1990 finden freie Wahlen zur (letzten) Volkskammer statt, am 1. Juli tritt der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft, am 3. Oktober wird die Vereinigung in formaler Hinsicht nach Art. 23 GG vollzogen. Auf die Euphorie folgte allerdings eine wechselseitige Ernüchterung, bisweilen ist gar von „Entfremdung“19 die Rede: Rasch stellte sich heraus, dass die Einheit nicht ‚zum Nulltarif‘ – und das bei weitem nicht nur im finanziellen Sinne – zu haben war bzw. ist. Helga Königsdorf (*1938), die den Prozess der ‚Wende‘ und der Vereinigung intensiv sowohl mit essayistischen als auch mit fiktionalen Texten literarisch begleitet hat20, unterscheidet 1990 – dieser Stimmung entsprechend – verschiedene „Phasen der Revolution“, die sie im gleichnamigen Aufsatz näher beschreibt:
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Vgl. dazu Hans-Hermann Hertle: Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates. 2., durchgesehene Auflage. Opladen / Wiesbaden 1999; darin insbes. Kap. 3.4.: Schabowskis Zettel oder Warum die Mauer fiel, S. 202-240. Vgl. dazu auch Bernd Lindner / Ralph Grüneberger: Vorbemerkung. In: B.L. / R.G. (Hgg.): Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst. Bielefeld 1992; S. 7-9, S. 8. Vgl. dazu: Deutsche Entfremdung. Zum Befinden in Ost und West. Hrsg. von Wolfgang Hardtwig und Heinrich A. Winkler. München 1994 (Beck’sche Reihe). Die Beiträge dieses Sammelbandes entstanden im Rahmen einer Vortragsreihe zum Thema „Wahrnehmungen. Zum deutschen Befinden in Ost und West“, die das Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität im Wintersemester 1992 / 93 veranstaltete. Vgl. überblicksartig: Jean E. Conacher: Pressing for Change: The Case of Helga Königsdorf. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31), S. 164-176.
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Die schöne Phase der Revolution […] Die visionäre Phase […] Die Phase des Wahlkampfes […] Die Phase des ökonomischen Umbaus […] [sowie die] Konsolidierungsphase […].21
Wie diese Ereignisse, Vorgänge und Phaseneinteilungen letztendlich einzuordnen sind, sei vor allem den Historikern überlassen – ebenso die Aufgabe, möglicherweise strittige Daten innerhalb des Prozesses der ‚Wende‘ genauer zu analysieren und zu bewerten. Zu betonen ist allerdings, dass ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ nicht zwangsläufig zusammengehören. Nicht erst die Auseinandersetzungen um die Feierlichkeiten zum 9. November 1999, bei der Angehörige der Bürgerbewegung zunächst weit gehend unberücksichtigt blieben, haben die Notwendigkeit einer exakten Begriffsverwendung deutlich gemacht. ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ sind zwar durch die historischen Fakten untrennbar miteinander verbunden – die ‚Wende‘ schuf die Voraussetzungen für die Einheit –, diese Verbindung entspricht jedoch nicht unbedingt einer historischen Logik der Zwangsläufigkeit. Exemplarisch zitiert sei in diesem Zusammenhang Jens Reich (1993), der sich gegen eine „Geschichtsverdrehung“ wehrt: Alle reden davon, daß im November 1989 eine wunderbare, friedliche Revolution stattgefunden habe. Das war im September, Oktober! Da riskierten die Demonstranten Kopf und Kragen, wenn sie „Wir sind das Volk!“ riefen. […] Mit der Demonstration vom 4. November endete diese Bewegung. Danach kam die Volksbewegung zur deutschen Einheit. Sie allerdings begann im November. Ich kann sie nicht für besonders friedlich erklären – die Leipziger Demonstrationen erhielten deutlich aggressive Züge. Sie war auch nicht wunderbar – da war zu viel von der Sehnsucht nach dem Wirtschaftswunder dabei. […] Ich will den November nicht schlechtmachen. Aber die große Zeit der Befreiung war wirklich der Oktober! Bitte keine Geschichtsverdrehung!22
Revolutionäre Ereignisse und Vereinigung sind also auch im Hinblick auf ihre literarische Verarbeitung nicht unbedingt zu verbinden, auch wenn in der vorliegenden Arbeit eine gemeinsame Betrachtungsweise gewählt wurde.
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Helga Königsdorf: Die Phasen der Revolution. In: Das Argument 32 (1990) 3; S. 340f., S. 341; im Original kursiv. Jens Reich: Oktober, zum Henker! In: J.R.: Rückkehr nach Europa. Zur neuen Lage der deutschen Nation. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe. München 1993; S. 171, S. 171.
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Der Begriff ‚Wende‘ wird im Folgenden für die Ereignisse von Sommer 1989 bis zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 gebraucht; der Begriff ‚Vereinigung‘ für die Zeit danach bis zum 3. Oktober 1990. Versuche, begrifflich exaktere Festlegungen vorzunehmen, dürften zum Scheitern verurteilt sein oder sind missverständlich: So verwenden Herberg, Steffens und Tellenbach (1997) „die Wende als Bezeichnung für die politischen Ereignisse des Herbstes 1989 in der DDR. Für den Zeitraum vom Sommer 1989 bis zum Ende des Jahres 1990 wird von uns die Bezeichnung Wendezeit verwendet.“23 ‚Wende‘ und Vereinigung waren Anlass für zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Publizisten, Essayisten und Liedermacher, aber auch für bisher nicht mit schriftlichen Äußerungen hervorgetretene Menschen, sich literarisch mit diesen Prozessen auseinander zu setzen. Das Thema ist omnipräsent; im allerweitesten Sinne literarische Verarbeitungen finden sich mittlerweile sogar in medizinischen Fachwörterbüchern, wie folgender Auszug aus dem „Pschyrembel“ belegt; unter dem Lemma ‚Steinlaus‘ ist dort eine ganz eigene Theorie über den Fall der Mauer zu lesen: Das Ausbleiben von Beobachtungen nach 1989 (256. Auflage dieses Werkes) scheint einerseits die Theorie zu bestätigen, nach der die St. den Fall der Berliner Mauer nicht nur ausgelöst [113], sondern dadurch auch zugleich zur Vernichtung ihrer Existenzgrundlage beigetragen habe. […] Tatsächlich ist eine Species der St., unter Aussparung der Großbaustelle Berlin, 1996 in einer bayerischen Klinik aufgetreten u. als Petrophaga hospitalis Cranacensis beschrieben […].24
Die Bandbreite der Publikationen aus der Zeit der ‚Wende‘ und über die ‚Wende‘ ist riesig und mittlerweile kaum noch überschaubar. Sie reicht von Sachbüchern und Dokumentationen über Sammelbände mit mehr oder weniger polemischen Texten25, Personenlexika mit satirischem Hintergrund26 23
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Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. WörterBuch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6), S. 13; Hervorhebungen im Original. Art. ‚Steinlaus (Petrophaga lorioti)‘. In: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch. 258., neu bearbeitete Auflage mit 2052 Abbildungen und 250 Tabellen. Bearbeitet von der Wörterbuch-Redaktion des Verlages unter der Leitung von Helmut Hildebrandt. Berlin / New York 1998, S. 1500. Vgl. etwa Karl-Eduard von Schnitzlers im Hinblick auf die Form tagebuchnahe Aufzeichnungen Der rote Kanal. Armes Deutschland. Hamburg 1992 sowie Provokation. 2. Auflage. Hamburg 1994. Ähnlich, aber journalistisch schwächer, auch: Heinz Jacobi: Deutschdeutsch. Materialien gegen ein Volk. Das Anschluß-Lesebuch. München 1990 (Der Bote, Sonderband IV); Ders.: Tod und Teufel. Polemiken. München 1991 (Der Bote Nr. 12). Reinhold Andert: Unsere Besten. Die VIPs des Ostens. Fotos von Robert Michel. Berlin 1999 (vollständig überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe des 1993 erstmals erschienenen Bandes „Unsere Besten – Die VIPs der Wendezeit“).
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bis zum Höhenkammroman, -gedicht und -drama, vom Tagebuch über die Reportage zum Essay. Am Umfang der in Band 2 enthaltenen Bibliografie lässt sich leicht ablesen, dass die Zahl allein der Primärtexte so groß ist, dass die meisten Werke hier nicht ausführlich dargestellt werden können. Es ist daher unerlässlich, exemplarisch zu arbeiten. Zunächst wird daher – nach Gattungen getrennt und von einigen wenigen Texten ausgehend – zumindest ein Teil der meines Erachtens wesentlichen Werke vorgestellt. Betrachtet man den Bereich der literaturwissenschaftlichen Publikationen, so ist mittlerweile auch hier eine Vielzahl an Veröffentlichungen erschienen. Dabei überwiegt die Zahl der Sammelbände und Aufsätze diejenige der Monografien bei weitem; es dominieren die weniger umfangreichen Publikationsformen. Offenbar besteht eine gewisse Scheu, sich bereits zum jetzigen Zeitpunkt ausführlich wissenschaftlich mit der Thematik zu beschäftigen. Der unleugbar fehlende historische Abstand und die bei einigen Texten sicherlich hohe politische Brisanz27 mögen nur zwei der möglichen Erklärungen für diese Tatsache sein. Im Vordergrund steht meist die Analyse und Interpretation der Texte von Autorinnen und Autoren der Höhenkammliteratur. Die meisten Sammelbände wurden von ausländischen Germanisten herausgegeben und geschrieben; offenbar fällt es aus der Fremdperspektive leichter, sich mit der Thematik auseinander zu setzen. Die niederländische, die US-amerikanische und die englische Germanistik dürften die eifrigsten Beiträger über die ‚Wendeliteratur‘ sein.28 Leider fehlen den Verfasserinnen und Verfassern nicht selten wesentliche Detailkenntnisse über die DDR; bisweilen werden deshalb heikle Thesen formuliert. Einige Sammelbände richten sich an ein spezifisches Publikum im Ausland und behandeln daher ‚Wende‘ und deutsche Einheit überblicksartig unter den verschiedensten Gesichtspunkten.29 27
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Man denke etwa an die Auseinandersetzung um Günter Grass’ Roman Ein weites Feld (Göttingen 1995), der meist weniger auf literaturwissenschaftlicher als auf politischer Ebene diskutiert wurde. Einen Eindruck hiervon gibt der Band Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Hrsg. von Oskar Negt. Göttingen 1996. Stellvertretend genannt seien die von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen herausgegebenen Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik (insbes. Band 36: Literatur und politische Aktualität. Amsterdam / Atlanta 1993) und die Sammelbände Germany Reunified. A Five- and Fifty-Year Retrospective. Edited by Peter M. Daly, Hans Walter Frischkopf, Trudis Goldsmith-Reber, Horst Richter. New York / Washington, D.C. / Baltimore / Boston / Bern / Frankfurt a.M. / Berlin / Vienna / Paris 1997, 1999 (McGill European Studies, Vol. 1) sowie German Literature at a Time of Change 1989-1990. German Unity and German Identity in Literary Perspective. Edited by Arthur Williams, Stuart Parkes and Roland Smith. Bern / Berlin / Frankfurt a.M. / New York / Paris / Wien 1991. Etwa: The German Revolution of 1989. Causes and Consequences. Edited by Gert-Joachim Glaeßner and Ian Wallace. Oxford / Providence 1992; Les conséquences de l’unification allemande. Sous la direction de Dieter Gutzen. Paris 1997 (Collection Premier Cycle); La
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Die früheste relativ umfassende Monografie zum Thema ‚Wendeliteratur‘ stammt von Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 198930; sie stellt allerdings lediglich einen ersten Versuch der Bestandsaufnahme dar, bereits die Auswahl der Primärtexte ist problematisch. Wehdekings Monografie erschien 1995, der Verfasser konnte somit viele zwischenzeitlich erschienene und für die Thematik wichtige Texte noch nicht berücksichtigen. Einen ähnlichen Anspruch wie Wehdeking erhebt Emmerich im Kapitel „Wendezeit (198995)“ der Neuausgabe seines Standardwerks Kleine Literaturgeschichte der DDR.31 Auch bei ihm sind nach 1995 erschienene Texte naturgemäß nicht berücksichtigt. Andere Monografien beschäftigen sich mit Einzelaspekten der ‚Wendeliteratur‘, dabei dominiert die Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Literatur und Staatssicherheit‘.32 Neben sich auf Texte des vergangenen Dezenniums konzentrierenden Untersuchungen gibt es auch erste literaturwissenschaftliche Versuche, Parallelen zwischen den ‚Wendezeiten‘ in der deutschen Literatur 1945 und 198933 oder auch den ‚deutschen Einheiten‘ 1870 / 71 und 1990 herzustellen.34 So äußert Katherine Roper (1993): „The literary images produced by
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mise en œuvre de l’unification allemande (1989-1990). Sous la direction de Anne Saint Sauveur-Henn et Gérard Schneilin. Asnières 1998 (Collection Publications de l’Institut d’Allemand d’Asnières No. 25); Renate Luscher: Deutschland nach der Wende. Daten, Texte, Aufgaben für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning / München 1994. Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989. Stuttgart / Berlin / Köln 1995. Wolfgang Emmerich: Wendezeit (1989-95). In: W.E.: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 435-525. Vgl. v.a. Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Durchgesehene Ausgabe. Berlin 1999; Feinderklärung. Literatur und Staatssicherheit. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold (text+kritik 120, Okt. 1993); MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg. Hrsg. von Peter Böthig und Klaus Michael. Leipzig 1993. Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997. Legitimiert wird der Band u.a. durch die Fixierung einer ‚Epoche‘, denn „die Jahre 1945 und 1989 bestimmen die Nachkriegsliteratur wohl überhaupt erst als faßbare ‚Epoche‘.“ (S. 3) Die Herausgeber betonen allerdings: „Mit den hier vorgestellten differenten Zugangsweisen auf eine in seinem geschichtlichen Kontext analysierte Literatur soll jede historische Etikettierung gerade verabschiedet werden – obwohl oder gerade weil die gewählten historischen Momente vorschnelle Ein- und Zuordnungen allzu schnell nahelegen mögen.“ (S. 2; Hervorhebung im Original) Daniel Fulda: Nur „frischerwachtes“ Grauen vor der Geschichte? Literarische Kommentare zur deutschen Einheit 1870 und 1990. In: WW 44 (1994) 2; S. 258-270; Daniel Fulda: Telling German History: Forms and Functions of the Historical Narrative Against the Background of the National Unifications. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1), S. 195-230; Katherine Roper: Imagining the German Capital: Berlin Writers on the Two Unification Eras. In:
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Berlin writers of the 1990s suggest numerous points of contact with their literary forebears of the 1870s.“35 Unter anderem werden Zusammenhänge gesehen zwischen Friedrich Spielhagens (1829-1911) In Reih’ und Glied (1866) und Peter Schneiders Der Mauerspringer (1982), aber auch zwischen Julius Rodenbergs (1831-1914) Die Grandidiers (1879) und Botho Strauß’ Schlußchor (1991); die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Wichtige Aufsätze erschienen nicht nur in literarischen bzw. literaturwissenschaftlichen oder germanistischen Zeitschriften (wie Sinn und Form, neue deutsche literatur, Weimarer Beiträge, Wirkendes Wort, Colloquia Germanica, Germanic Notes), sondern auch in eher politisch orientierten Zeitschriften (z.B. Aus Politik und Zeitgeschichte, Die politische Meinung) sowie in Tages- und Wochenzeitungen (vor allem Freitag, Die Zeit). Einige Zeitschriften – insbesondere ausländische – widmeten dem Thema Sondernummern.36 Wesentlich sind natürlich auch Rezensionen zu einzelnen Texten. Dabei fällt auf, dass in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vergleichsweise wenige der hier interessierenden Texte besprochen worden sind bzw. werden, den Gegenpol dazu bilden aus nahe liegenden Gründen der Freitag, Die Zeit und das Neue Deutschland. Die allgemeinen germanistischen Bibliografien verzeichnen nur einen Bruchteil der relevanten Texte. Insofern war 1996 das Erscheinen der ersten umfassenden eigenständigen Bibliografie zur „Wende-Literatur“ bzw. zur „Literatur der Deutschen Einheit“37 zu begrüßen. Neben der Liste der Primärtexte enthält die Bibliografie einen Rezensionsteil, eine Fernsehbibliografie, ein Verzeichnis von Spiegel-Artikeln „zur Literatur
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1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1), S. 171-194. Katherine Roper: Imagining the German Capital: Berlin Writers on the Two Unification Eras. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1); S. 171-194, S. 171. Stellvertretend seien genannt Allemagne d’aujourd’hui. Politique, Économie, Société, Culture. Nouvelle Série No. 114 Oct.-Déc. 1990 (Numéro spécial publié avec le concours du Centre de recherche sur l’Allemagne contemporaine de l’Université de Valenciennes); New German Critique (1991) 52 (Special Issue on German Unification); The Germanic Review LXVII (1992) 3 und 4: Theme Issue: The End of GDR Literature; Colloquia Germanica 27 (1994) 1: Literarische Antworten auf die deutsche Einigung und den Untergang der DDR; Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 28 (1996) 4: Débats autour de la nation allemande et de l’identité nationale dans l’Allemagne unifiée (1989-1995): la conscience nationale introuvable? Textes réunis et publiés par Denis Goeldel; German Life and Letters 50 (1997) 2: Special East German Number. Jörg Fröhling / Reinhild Meinel / Karl Riha (Hgg.): Wende-Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der Deutschen Einheit. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Wien 1996 (Bibliographien zur Literatur- und Mediengeschichte, Band 6) [2. Auflage 1997, 3. Auflage 1999].
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der Deutschen Einheit“ und eine „Chronik wichtiger Wende-Ereignisse“. Weitere Sekundärtexte werden nicht berücksichtigt. Der Spiegel ist allerdings sicher nicht die erste Adresse für literaturwissenschaftliche Untersuchungen. Das Buch stellt zweifellos ein wichtiges Arbeitsinstrument dar, vermag aber weder im Hinblick auf die Auswahl der Texte noch im Hinblick auf die Gliederung restlos zu überzeugen. Es enthält zahlreiche Fehler, häufig werden Untertitel nicht oder nicht vollständig zitiert, mal werden die Vornamen desselben Autors ausgeschrieben, dann wieder nicht (etwa im Falle von Hans Joachim Schädlich). Offensichtlich haben sich die Herausgeber auch nicht die Mühe einer konsequenten Autopsie gemacht: Mehrere der verzeichneten Texte sind nie erschienen, sondern waren lediglich angekündigt.38 Eine amerikanische Sciencefiction-Novelle aus dem Jahre 1964 und deren Fortsetzung von 1990, die den Untertitel „Ein Wendebuch“ tragen, sind wohl zu den weiteren ‚Irrläufern‘ in der Bibliografie zu zählen.39 Aufgenommen wurde auch die nach der ‚Wende‘ erschienene Taschenbuchausgabe eines Buches von Jürgen Fuchs über den Alltag in der NVA aus dem Jahr 1988.40 Naturgemäß spielt die ‚Wende‘ darin keine Rolle – auch wenn sich der Text natürlich in Kenntnis der historischen Ereignisse anders liest. Zum ‚Wendebuch‘ wird er dadurch freilich nicht. Die meisten der in der ersten Auflage befindlichen Fehler erscheinen auch noch in der dritten. Weitere Bibliografien – etwa die Internet-Bibliografie des GoetheInstitutes Bordeaux – sind zwar ausführlich kommentiert, aber höchst lückenhaft.41 38
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Etwa Kuno Schmidts Zweihundertsiebzehn Tage, das 1991 im Hildburghäuser Verlag Die Frankenschwelle erscheinen sollte (persönliche fernmündliche Auskunft des Verlagsleiters Hans-Jürgen Salier im Dezember 2000). Ebenso: Mathias Wedel: Kranke von drüben. Empirische Untersuchungen zur Typenvielfalt der Wessis unter besonderer Beachtung seiner Verschlagenheit, Antriebsschwäche und Inkontinenz. Berlin: Elefanten Press, 1992 (persönliche fernmündliche Auskunft des Espresso Verlags im März 2001). „Wendebuch“ ist hier ganz wörtlich zu nehmen: Wenn man den jeweils anderen Teil lesen möchte, muss man das Buch ‚wenden‘: Roger Zelazny: Das Friedhofsherz. Novelle. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rosemarie Hundertmarck. Ein Wendebuch. München 1993. / Walter Jon Williams: Eine Elegie für Engel und Hunde. Novelle. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Jakob Leutner. Deutsche Erstausgabe. Ein Wendebuch. München 1993. Jürgen Fuchs: Das Ende einer Feigheit. Reinbek 1992 [zuerst Reinbek 1988]. Es muss fairerweise eingeräumt werden, dass die genannte Bibliografie nur Texte versammelt, die in der Bibliothek des Instituts vorhanden sind. Um Vollständigkeit kann es also hier nicht gehen. Vgl. insbes. den Teil „Wenderomane. Literatur zur deutschen Einheit. Eine annotierte Bibliographie mit Texten und Sekundärliteratur / Le roman de la chute du Mur. La littérature de l’unification allemande. Une bibliographie annotée avec textes et études“ (http: / / www.goethe.de / fr / bor / wende / deindex.htm) in Ergänzung von „Deutschland nach dem Fall der Mauer. Eine Bibliographie / L’Allemagne après la chute du mur [sic]. Une bibliographie“ (http: / / www.goethe.de / fr / bor / frimur.htm).
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Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll ein Überblick über die Vielzahl der literarischen Verarbeitungsversuche der ‚Wende‘ 1989 / 90 in der DDR und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten gegeben werden. Dabei sind auch ästhetische Fragen zu berücksichtigen sowie Fragen nach Konstanten und Entwicklungstendenzen. Das bedeutet nicht, dass im vorliegenden Band der Versuch unternommen wird, eine Literaturgeschichte der vergangenen etwa zehn Jahre zu schreiben; neben diesen Aspekten, die selbstverständlich eine Rolle spielen, soll über eine ‚Bestandsaufnahme‘ hinausgehend untersucht werden, ob in den literarischen Werken der Wendezeit und über die ‚Wende‘ neue Aspekte, beispielsweise im Bereich der Motivik, enthalten sind. Auch deshalb enthält die vorliegende Darstellung vergleichsweise viele, häufig umfangreiche Zitate. Es geht immer wieder um dieselben Ereignisse und Vorgänge; insofern interessieren vor allem Fragen der literarischen Umsetzung, die sich anhand von Zitaten am besten veranschaulichen lassen. Zudem sind die meisten der besprochenen Texte nicht mehr im Buchhandel greifbar und auch nur in wenigen Bibliotheken einsehbar. Allzu viele schwer nachvollziehbare Umschreibungen und Querverweise würden die Darstellung unverständlich machen. Es ist davon auszugehen, dass das Jahr 1989 keinen Bruch in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur darstellt, denn, so Brigitte Burmeister (1994): Genausowenig wie die Autoren, die schon früher die DDR verlassen haben, im Westen völlig neue Schreibweisen an den Tag legten, wird das bei denen aus dem „Beitrittsgebiet“ der Fall sein. Nur sind wir allesamt jetzt konfrontiert mit einem anderen Literaturbetrieb, einem anderen Umfeld der Maßstäbe, Erwartungen, Urteile, der Geschwindigkeiten und Lautstärken.42
Zudem haben sich beide deutsche Literaturen, falls es denn je zwei gegeben haben sollte, Ende der achtziger Jahre wieder einander angenähert.43 Die ‚Wende‘ wurde durchaus literarisch vorbereitet44, auch wenn man die Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in diesem Prozess nicht überschätzen sollte. Aber Verlagsreihen wie Außer der Reihe (begründet 1988 bei Aufbau) oder auch Kontakte (Mitteldeutscher Verlag) zeigen bei 42 43
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Brigitte Burmeister: Schriftsteller in gewendeten Verhältnissen. In: Sinn und Form 46 (1994) 4; S. 648-654, S. 654. Vgl. dazu auch: Günter Erbe: Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem „Modernismus“ in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR. Opladen 1993 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Band 68). Vgl. dazu etwa Heimo Schwilk: Gegen den Strich. Die andere Literatur der DDR. In: Heimo Schwilk: Wendezeit – Zeitenwende. Beiträge zur Literatur der achtziger Jahre. Bonn / Berlin 1991, S. 162-168.
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aller Ambivalenz, dass Ende der achtziger Jahre versucht wurde, jüngeren, zumindest nicht unkritischen Autoren Foren zu bieten – selbst wenn dies ein Mittel gewesen sein mag, zuvor primär im Verborgenen sich vollziehende Strömungen zu kanalisieren und damit letztendlich auch stärker kontrollieren zu können. Der nicht unproblematische Begriff ‚Wendeliteratur‘ wird im zweiten Kapitel dieser Arbeit erörtert. Zuvor ist es jedoch notwendig, die schlagartig erfolgten Veränderungen im Bereich der Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur, im weiteren Sinne des Literaturbetriebs überhaupt, darzustellen. Das sich anschließende Kapitel beschäftigt sich mit der Sprache der ‚Wende‘. Die Schwerpunkte der Arbeit bilden die Darstellung der zahlreichen Debatten und Auseinandersetzungen, welche die Literatur betreffen, die Vorstellung exemplarischer Texte sowie Fragen nach einer spezifischen Motivik und Figurengestaltung. Dabei scheint es sinnvoll, die drei Hauptgattungen Epik, Lyrik und Dramatik zunächst getrennt zu betrachten, um dann in einem weiteren Schritt verbindende Elemente herauszuarbeiten. Bearbeitet wurde in diesem Zusammenhang ein Zeitraum von etwa zehn Jahren (1989-1999), wobei einige wenige Texte, beispielsweise Christoph Heins Theaterstück Die Ritter der Tafelrunde45, das 1988 uraufgeführt wurde, diesen Rahmen durchbrechen. Bei aller – völlig berechtigter – Kritik an positivistischen Ansätzen scheint es im Hinblick auf das Thema nötig, wo es sinnvoll ist, die Biografie einiger Autorinnen und Autoren in die Darstellung mit einzubeziehen. Ich halte es für wichtig, beispielsweise auf ggf. vorhandene Stasi-Akten, seien dies nun ‚Täter-‘ oder ‚Opfer‘-Akten, hinzuweisen oder im Falle von Monika Marons Roman Stille Zeile sechs (1991)46 auf Parallelen zwischen dem Stiefvater der Autorin, Karl Maron, und der Figur des Herbert Beerenbaum aufmerksam zu machen. Es ist davon auszugehen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Texte Ausdruck persönlicher ‚Wende‘-Verarbeitungs- und Bewältigungsversuche einzelner Autorinnen und Autoren ist. Um den oben angedeuteten Defiziten Rechnung zu tragen, stellt Band 2 der vorliegenden Untersuchung kein Literaturverzeichnis im herkömmlichen Sinne dar, sondern eine auch unabhängig vom Haupttext zu benutzende thematische, Primär- und Sekundärtexte verzeichnende Bibliografie. 45
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Christoph Hein: Die Ritter der Tafelrunde. In: C.H.: Die Ritter der Tafelrunde und andere Stücke. Berlin / Weimar 1990, S. 131-193. Heins Stück kann sicherlich zu denjenigen Werken gezählt werden, die die ‚Wende‘ gewissermaßen vorbereitet haben. Da aber eine solche These schwer überprüfbar sein dürfte, wird – mit der gebotenen Vorsicht – nur im Falle einzelner Texte auf eine mögliche Rolle im Zusammenhang mit der ‚Wende‘ verwiesen. Monika Maron: Stille Zeile sechs. Roman. Frankfurt a.M. 1991.
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Aufgenommen wurden – im Sinne Gérard Genettes47 – konsequent auch die Untertitel sämtlicher Primärtexte. Diese sind meines Erachtens gerade bei der ‚Wendeliteratur‘ in besonderem Maße wichtig, man denke beispielsweise an die Gattungsbezeichnung von Jens Sparschuhs Der Zimmerspringbrunnen: „Ein Heimatroman.“48 Band 2 versteht sich ausdrücklich nicht als Literaturverzeichnis zu Band 1: Nicht aufgenommen wurden zitierte Texte, die keinen wie auch immer gearteten Bezug zur ‚Wende‘ aufweisen. Eine solche Vorgehensweise ist möglich, weil aus Gründen der Benutzerfreundlichkeit ohnehin alle wesentlichen bibliografischen Angaben in den Fußnoten zu finden sind. An der vorgenommenen Auswahl der im vorliegenden Band behandelten Texte, noch stärker jedoch an der Bibliografie, wird deutlich, dass dieser Darstellung ein erweiterter Literaturbegriff zu Grunde liegt.49 Dies ist bei den Themen ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ unabdingbar. Beide Komplexe haben viel mit Alltagserfahrungen zu tun, die in zahlreichen literarischen Formen, häufig gerade nicht der Höhenkammliteratur, ihren Ausdruck finden. Dass viele der Texte gehobenen ästhetischen Ansprüchen kaum Genüge tun, versteht sich dabei von selbst, doch ein rein ästhetischer Zugang zum Thema wäre ohne Zweifel nicht sehr gewinnbringend. Das Zustandekommen einer Darstellung dieses Umfangs hängt von zahlreichen Faktoren ab, die weit über den fachlichen Bereich hinausgehen. Vielen Personen bin ich daher zu Dank verpflichtet: Für die Anregung zur Entstehung dieser Arbeit und fachliche Unterstützung danke ich Herrn Professor Dr. Gerhard Sauder; Herrn Professor Dr. Lutz Götze danke ich für kritische Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge. Für finanzielle Unterstützung danke ich meinen Eltern, Leni und Adolf Ludwig Grub, meiner Großmutter, Elli Fried, meiner Großtante, Blondina Klinger, der Landesgraduiertenförderung des Saarlandes, die mir ein zweijähriges Stipendium gewährte, sowie der Vereinigung der Freunde der Universität des Saarlandes e.V. und der Union-Stiftung e.V., Saarbrücken, die großzügig den Druck bezuschussten. Den größten Anteil am Gelingen des Projektes haben diejenigen Freundinnen und Freunde sowie Bekannten, die mir in bisweilen schwierigen Phasen der Arbeit mit Rat und Tat zur Seite standen und teilweise auch 47
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Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französichen von Dieter Hornig. Frankfurt a.M. / New York 1992. Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln 1995. Vgl. dazu Thomas Grimm: Was ist Literatur? Versuch einer Explikation des erweiterten Literaturbegriffs. Neuried 2000 (Deutsche Hochschuledition, Band 102).
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beim Korrekturlesen geholfen haben: Nicole Trapp, Philipp Kiefer und Cornelia Gerhardt sowie Hanne Bode und Dr. Ose Meerbach, im Vorfeld außerdem Irmgard Schmidt. Ihnen sei besonders herzlich gedankt. Dr. Heiko Hartmann, Annelies Aurich und Katja Hermann, alle de Gruyter, sowie Wolfram Burckhardt danke ich für die kompetente Betreuung des Manuskripts und die zügige Produktion. Saarbrücken, im Juli 2003
Frank Thomas Grub
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„Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb des ehemaligen „Leselandes“ Und dann erkannte er, daß die Bücher hier im Westen nichts mehr wert waren. Es dauerte eine ganze Weile, bevor dieser Gedanke in seinem Hirn Fuß faßte, um so nachhaltiger war der Schock, den er auslöste. Die Bücher glitten ihm aus den Händen … er war ja schließlich selbst Schriftsteller, jedenfalls bildete er sich das ein! Er hatte immer ein Schriftsteller sein wollen, sein Leben lang … ein Produzent für die Ramschkiste! Zweimal im Jahr wurden, mit einem riesigen Brimborium von keifender Werbung, dem übersatten Markt eine Unmenge neuer Bücher aufgebürdet, innerhalb kürzester Frist gilbten und schimmelten sie in den Ramschkisten vor den verödeten Buchhandlungen.“1 (Wolfgang Hilbig: Das Provisorium, 2000)
2.1 Die DDR – ein „Leseland“? Auf die Verschiedenartigkeit der Literaturbetriebe von Bundesrepublik und DDR und die damit verbundenen Konsequenzen ist immer wieder hingewiesen worden. So betont Theo Buck (1990) in einem Aufsatz über Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller: „Unterschiedliche Gesellschaftssysteme führen grundsätzlich andere Strukturen des literarischen Lebens herbei.“2 Luc Lamberechts (1993) spricht von zwei ‚Kultursystemen‘: Unberücksichtigt blieb der fundamentale Unterschied zweier Kultursysteme: das Kulturmodell DDR wurde ganz einfach aus westlicher Sicht bewertet und ohne besinnende Relativierung „abgewickelt“. Dies geschah gerade in einer historisch-gesellschaftlichen Phase, wo in der BRD der Anspruch auf eine ästhetische Autonomie der Kunst wiederbelebt wurde.3 1 2 3
Wolfgang Hilbig: Das Provisorium. Roman. Frankfurt a.M. 2000, S. 180. Theo Buck: Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller. In: Juni. Magazin für Kultur & Politik 4 (1990) 2-3; S. 121-135, S. 121. Luc Lamberechts: Zwei Kulturmodelle im Widerspruch. Über den kultursoziologischen Kontext der Literatur in BRD und DDR. In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36); S. 39-52, S. 40.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Trotz dieser sicher nicht falschen Feststellungen muss mit Frank Hörnigk (1992) gesehen werden, dass die DDR über ihre gesamte Geschichte hinweg als eine vorherrschend industriell bestimmte Gesellschaft immanent an die Wachstumsdynamik – und damit auch an die Informations- und Kommunikationsverhältnisse der Industriegesellschaften des Westens, besonders an die der Bundesrepublik Deutschland angekoppelt [war], auch wenn viele von deren kulturellen Ausdrucksformen ihr nur über den Bereich der Medien zugänglich waren.4
Im Vergleich zwischen Bundesrepublik und DDR wird gern betont, dass die DDR vor der ‚Wende‘ ein „Leseland“ gewesen sei. Statistiken stützen zunächst einmal diese These: Die DDR stand, „was die Pro-Kopf-Produktion von Büchern angeht, neben der Sowjetunion und Japan an der Spitze in der ganzen Welt: Auf jeden DDR-Bürger kamen pro Jahr, statistisch gesehen, zwischen sechs und neun Bücher.“5 Zahlenangaben dieser Art belegen jedoch relativ wenig. Hält man dennoch am Mythos vom „Leseland“ fest, so ist auch dessen Kehrseite zu berücksichtigen, auf die Christoph Hein bereits 1988 hinwies: Die DDR wird gelegentlich als ein Leseland bezeichnet. Und wenn man die Zahlen der Auflagen und Auflagenhöhen liest, wenn man die stets überfüllten Buchhandlungen und sich schnell leerenden Regale sieht, ist man geneigt, dieser Bezeichung zuzustimmen. Das ist, bei aller erwiesenen Qualität, jedoch nicht das Verdienst unserer Literatur, sie ist nicht besser und nicht schlechter als die anderer Länder. Auch wird bei uns nicht mehr und nicht weniger als in anderen Ländern gelesen. Es werden hier jedoch weit mehr als in anderen Ländern Bücher gelesen. Die korrekte Bezeichnung wäre also: Buchleseland. Das Verdienst dafür gebührt unserer Presse, unseren Medien. Ihre Zurückhaltung in der Berichterstattung und der verläßliche Konsens ihrer Meinungen führte dazu, daß kaum ein Bürger unseres Landes mehr als ein paar Minuten sich mit ihnen zu beschäftigen hat. Der Leser wird durch Neuigkeiten nur für kurze Zeit abgelenkt und kann sich dann wieder unseren Büchern zuwenden, von denen er nicht nur Unterhaltung und Geschichten, sondern auch Neues und Wahres erhofft.6
Im weiteren Verlauf seines Beitrags macht Hein auch auf mögliche negative Folgen dieser Situation aufmerksam, denn: 4
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Frank Hörnigk: Die Literatur bleibt zuständig: Ein Versuch über das Verhältnis von Literatur, Utopie und Politik in der DDR – am Ende der DDR. In: The Germanic Review LXVII (1992) 3; S. 99-105, S. 100. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 49. Christoph Hein: Literatur und Wirkung. In: X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Arbeitsgruppen. Schriftstellerverband der DDR. Berlin (DDR) / Weimar 1988; S. 224-247, S. 233.
2.1 Die DDR – ein „Leseland“?
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Für Autoren ist es durchaus eine zweischneidige Angelegenheit, in einem Land zu leben, das vor allem Bücher liest. Die schöne Seite ist bekannt, das sind vergleichsweise hohe Auflagen, ständig und schnell vergriffene Bücher, eine hohe Wertschätzung ihrer Urheber, ein – zumindest außerhalb von Presse und Medien – nicht abreißendes Gespräch über Bücher und ihre Themen. Problematischer ist die hohe und, wie ich meine, zu hohe Bedeutung, die man hierzulande Autoren beimißt. Man neigt dazu, sie – willig oder gegen ihren Willen – auf einen Sockel zu heben und dem Schriftsteller eine übergroße Autorität zu verleihen. Auf einem Sockel aber läßt sich nicht arbeiten, weil auf ihm keine Erfahrungen zu machen sind, ohne die unsere Arbeit nicht möglich ist.7
Bereits hier nimmt der Schriftsteller wesentliche Argumente vorweg, die im Zuge der Auseinandersetzung um die Rolle der Intellektuellen zur Zeit der ‚Wende‘ ausgetauscht wurden. Die besondere Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der DDR, auf die vielfach hingewiesen wurde und wird, sollte allerdings auch nicht überbewertet werden. Spätestens mit dem Inkrafttreten der Währungsunion änderten sich die Bedingungen auf der Produktions- und Distributionsseite radikal; die Bedingungen auf der Rezeptionsseite hatten sich vor allem durch eine Interessenverlagerung bereits zuvor geändert. Wie schnell diese Entwicklungen erfolgten, verdeutlicht der Nachsatz von Wulf Kirsten (1997) zu einem Buch des 1928 geborenen Dichters und Malers Armin Müller: Die in letzteres Buch eingestreuten Prosastücke stammen vorwiegend aus dem „untergegangenen“ Band „Ich sag dir den Sommer ins Ohr. Ein Tagebuch“ (1989). Wegen allzu kritischen [sic] Bemerkungen, die unmittelbare Gegenwart und Wirklichkeit betreffend, hatte die „Thüringische Landeszeitung“ den begonnenen Vorabdruck rasch abbrechen müssen. Als das Buch Monate später erschien, fand es auf Grund der unmittelbar darauf einsetzenden dramatischen Herbstereignisse, die Bücher kein Politikum mehr sein ließen, kaum noch Beachtung und verschwand im Strudel wilder Umschichtungen und Entwertungen, während dessen Bücher gleich welchen Inhalts auf Mülldeponien landeten. Außerdem verschwand der Verlag, zweifaches Opfer krimineller Energien, im Orkus der deutschen Verlagsgeschichte.8
Als Folge der staatlichen Teilung entwickelten sich zwei über Jahrzehnte weit gehend getrennte Literaturbetriebe in Ost und West: Es gab zwei Schriftstellerverbände, zwei P.E.N.-Zentren, zwei Buchmessen – in Frankfurt a.M. bzw. Leipzig –, zwei Börsenvereine – den Börsenverein des
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Ebd., S. 243. Wulf Kirsten: Nachsatz. In: Armin Müller: Klangholz. Kalendergeschichten. Rudolstadt 1997 (Thüringen-Bibliothek, Band 6); S. 81-86, S. 85f. Gemeint ist der Rudolstädter Greifenverlag.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Deutschen Buchhandels e.V. (Frankfurt a.M.) und den Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig –, zwei Bibliografien mit ‚nationalem‘ Anspruch und zwei entsprechende Bibliotheken: die Deutsche Bibliothek in Frankfurt a.M. und die Deutsche Bücherei in Leipzig. Die doppelte Existenz einiger Einrichtungen wurde in zum Teil heftigen und häufig allzu emotional geführten Auseinandersetzungen diskutiert. Manche Vereinigungen liefen eher reibungslos ab – nachdem der Leipziger Börsenverein im April 1990 Neuwahlen angesetzt hatte, wurde am 18. Dezember 1990 der Fusionsvertrag der beiden Börsenvereine unterzeichnet9 –, andere erwiesen sich als außerordentlich schwierig, etwa im Falle der Schriftstellerverbände, mehr noch im Falle der beiden P.E.N.-Zentren (vgl. 2.5). Die beiden Buchmessen blieben bestehen, obwohl man der Leipziger Buchmesse nach einem massiven Einbruch der Besuchszahlen im März 1990 schon das Aus prophezeit hatte. Die im Frühjahr stattfindende Leipziger Messe ist stärker als Publikumsmesse konzipiert, das zeigt sich auch an dem umfangreichen Rahmenprogramm Leipzig liest; seit 2003 schreibt man schwarze Zahlen. Die Deutsche Bücherei wurde zum 3. Oktober 1990 Teil der Deutschen Bibliothek mit Hauptsitz in Frankfurt am Main; mit der Vereinigung wurde die Zahl der in Leipzig Angestellten stark reduziert. Die bibliografische Erfassung der in Deutschland erscheinenden Literatur teilen Frankfurt und Leipzig sich nunmehr im Verhältnis 2 zu 1; nach wie vor sind in beiden Bibliotheken alle in Deutschland erschienenen Druckerzeugnisse vorhanden. Neben den erwähnten Aufgaben und der Fortführung der ausschließlich in Leipzig existierenden Sammlungen „Sozialistica“ und „Deutsche Exilliteratur“ sowie der Bewahrung der 4600 Bände der Reichsbibliothek der Deutschen Nationalversammlung von 1848, kamen mit der Vereinigung auch neue Aufgaben auf die Deutsche Bücherei zu. In diesem Zusammenhang ist vor allem das neu gegründete Zentrum für Bucherhaltung zu nennen, in dem unter anderem eine Anlage zur chemischen Massenentsäuerung von Büchern errichtet wurde.10 Es darf nicht vergessen werden, dass manche Institutionen überhaupt nicht vereinigt oder in andere integriert, sondern schlicht ‚abgewickelt‘ wurden, allen voran die Akademie der Wissenschaften der DDR.11 9
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Letzter Vorsitzender des Ost-Börsenvereins war Jürgen Gruner, der auch über mehr als 20 Jahre den Verlag Volk & Welt leitete. Vgl. zu diesem Thema Hans Altenhein: Spur der Bücher. Am 17. Dezember wird Jürgen Gruner, Altvorsteher des Leipziger Börsenvereins, 65 Jahre alt. Er leitete über mehr als zwei Jahrzehnte den DDR-Verlag Volk & Welt, der auf internationale Literatur spezialisiert war. In: Börsenblatt v. 15.12.1995, S. 23. Vgl. überblicksartig zur Deutschen Bücherei: M. Bechtel: „Frei statt [sic] für freies Wort“. Die Deutsche Bücherei in Leipzig. In: PZ / Wir in Europa (1993) 73, S. 22. Vgl. dazu: Wolfgang Raible: Impressionen beim Evaluieren. Zur Abwicklungder [sic] kulturwissenschaftlichen Einrichtungen der ehemaligen DDR-Akademie der Wissenschaften. In: Die Abwicklung der DDR. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau. Göttingen 1992 (Göttinger Sudelblätter), S. 54-63.
2.1 Die DDR – ein „Leseland“?
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Im Rahmen dieses Handbuchs können nicht alle Aspekte der Vereinigung zweier getrennter Literaturbetriebe betrachtet werden; besonderes Augenmerk ist aber den Verlagen als Bindegliedern zwischen Literaturproduktion und -rezeption zu widmen. In der DDR unterstanden die Verlagshäuser der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur, kurz HV. Die fertig gedruckten und gebundenen Bücher wurden in der Regel zentral nach einem festen Schlüssel über den Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) ausgeliefert: Zuerst wurden die Niederlassungen des (staatlichen) Volksbuchhandels bedient, dann die Buchhandlungen der NVA, der Parteien und (Massen-)Organisationen und schließlich die wenigen privaten Buchläden. Als Anfang 1990 die HV aufgelöst wurde, hatte diese Entscheidung drastische Konsequenzen nicht nur für die Distribution. Tonnenweise wurden Bücher entsorgt: Am 1. Mai 1991 öffneten Studenten aus Jena eine Mülldeponie bei Espenhain und entdeckten unter faulenden Kartoffeln und Bauschutt Unmengen von Büchern – man schätzt etwa 500 Tonnen (!), die der Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) dorthin ‚entsorgt‘ hatte. Dabei handelte es sich nicht ‚nur‘ um politische ‚Altlasten‘, sondern auch um Werke bedeutender Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart. Viele der betroffenen Autoren reagierten entsetzt; schon bald wurde die Entsorgung der Bücher Gegenstand literarischer Texte12, fand aber vor allem Eingang in die Publizistik. Exemplarisch zitiert sei die Reaktion des in Halle lebenden Schriftstellers Dieter Mucke (*1936), der auf einer Pressekonferenz des Verbandes deutscher Schriftsteller am Rande der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1991 äußerte: Meines Erachtens handelt es sich hier wirklich um die größte Büchervernichtung in Deutschland seit der Nazizeit, und ich möchte darauf aufmerksam machen, daß der in dem bekannten Heine-Wort benannte schreckliche Kausal-Zusammenhang, wer Bücher verbrennt / vernichtet, verbrennt / vernichtet auch Menschen, keine logische Abstraktion oder historische Reminiszenz ist, sondern schon wieder deutsche Gegenwart. Deshalb fordere ich als ein in Leipzig geborener Dichter, daß dieses barbarische und faschistoide Verbrechen der Büchervernichtung endlich geahndet wird und daß nach der Absetzung des sächsischen Innenministers auch der sächsische Minister für Wissenschaft und Kultur seinen Hut zu nehmen hat.13
Das Besorgnis erregende Vorgehen des LKG hatte einen höchst pragmatischen Hintergrund: Platzmangel. Wie viele andere Waren aus DDR-Pro12 13
Vgl. etwa Johannes Mittenzweis Gedicht Die neue Freiheit. In: J.M.: Wendejahre. Gedichte. Berlin 1997, S. 22-25. Dieter Mucke; zit. nach: Dieter Mucke. In: Regine Möbius: Autoren in den neuen Bundesländern. Schriftsteller-Porträts. Hrsg. vom Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Leipzig 1995; S. 205-213, S. 211f.; Text im Original kursiv.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
duktion ließen Bücher sich nicht mehr verkaufen. Die Journalistin Karin Großmann machte bereits im April 1990 in der Sächsischen Zeitung auf die chaotischen Zustände nach dem Ende der HV aufmerksam: Zu guter Letzt kriegt die DDR noch Hochgebirgscharakter. Es wachsen die Eier- und Schweineberge. Jüngste Erhebungen: Bücher. DDR-Literatur wird in mancher Buchhandlung schon bis zu siebzig Prozent reduziert verkauft. Einige schicken Lieferungen zurück, ohne zu prüfen, ob sie verkäuflich oder nicht zu verkaufen sind.14
Detlef Stapf (1990) bestätigt diesen Eindruck; die von ihm geschilderte Situation ist repräsentativ für die gesamte DDR: Wir konnten uns überzeugen: Ein großer Teil der ohnehin knapp bemessenen Lagerkapazität der Teterower Volksbuchhandlung ist durch Buchbestände blockiert, die niemand mehr kaufen will. Kompendien der Gesellschaftswissenschaften, Pädagogik, Staats- und Rechtswissenschaften, belletristische Titel von DDR-Autoren, deren Reflexionen von DDR-Wirklichkeit eventuell noch für Historiker von Interesse sind, stapeln sich bis zur Decke. Im Wertumfang von etwa 3 Mio. Mark sind im Buchhandel des Bezirkes Neubrandenburg etwa zwei Drittel des Warenbestandes betroffen, schätzt Horst Steffen. Vier Wochen vor der Währungsunion ist unklar, wer diese Altlasten in voller Höhe bezahlen soll. Bisher entschied und finanzierte solche Abschreibungen des Ministerium für Kultur. Im Rahmen einer Ministerratsentscheidung von vergangener Woche sind für die „Abdeckung des Handelsrisikos“ für die Buchhandlungen des Bezirkes nur etwa 600 000 Mark bewilligt worden. Danach steht für die makulierten Bücher die Frage: Wohin damit? Der Altstoffhandel sitzt auf Papierbergen und nimmt diese Mengen wohl nicht ab. Die Maschinerie Planwirtschaft ist bei den Verlagen noch nicht zum Stehen gekommen. Nach wie vor treffen Titel unverkäuflicher Literatur ein. So liefert der Staatsverlag Gesetzestexte solange, bis andere beschlossen werden.“15
Einen Ausweg fand der Katlenburger Pfarrer Martin Weskott16: Mit Hilfe eines Kleinbusses, eines LKWs und freiwilliger Helfer rettete er mehrere 14
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Karin Großmann: Verlage auf Talfahrt oder: Wird Volker Braun Ladenhüter? In: Sächsische Zeitung v. 18.4.1990; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen und Zeitschriften der DDR. Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Nr. 9 – 15.5.1990, S. 15. Detlef Stapf: Bücher, die keiner mehr kaufen will. In: Nordkurier Nr. 61 v. 16.6.1990; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen und Zeitschriften der DDR. Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Nr. 12 – 5.7.1990; S. 14f., S. 14f. Vgl. dazu: Martin Weskott. Katlenburger Bücherpastor – Begegnungen mit deutscher „Müll-Literatur“. In: Frank Quilitzsch: Wie im Westen so auf Erden. Gespräche mit Schriftstellern und Liedermachern, Dichtern und Theaterleuten, Rocksängern und Pastoren. München 1998, S. 70-74; Jörg Magenau: Ein Narrenhaus, bedingte Nutzung weiter möglich. Auch das Unverständliche in Ehren halten: Wie Pfarrer Martin Weskott
2.2 Zur Situation der Verlage
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Tonnen Bücher und gründete in seiner Gemeinde die Lesereihe Begegnung mit Müll-Literatur, in deren Rahmen Autorinnen und Autoren, deren Bücher auf der Müllhalde gelandet waren, aus eben diesen Werken vorlesen. In einem weiteren Schritt bezog Weskott die Bücher nicht mehr ausschließlich von Deponien, sondern direkt von Verlagen, Buchhandlungen und Bibliotheken, die ihre Bestände entsorgen wollten. Die geretteten Bücher werden in Ställen in Katlenburg gelagert und im Rahmen der Aktion Brot für die Welt gegen eine Spende abgegeben oder gemeinnützigen Zwecken zugeführt. Rund fünfzig ehrenamtliche Mitarbeiter sind inzwischen mit der ‚Betreuung‘ der Bücherbestände beschäftigt.
2.2 Zur Situation der Verlage Die dargestellten Vorgänge lassen erahnen, wie schwierig die Situation auch für die einzelnen Buchverlage war und – das Beispiel vom Ende des Verlags Volk & Welt 2001 belegt dies – nach wie vor ist. Innerhalb weniger Jahre hat sich die Verlagslandschaft der DDR bzw. der östlichen Bundesländer grundlegend ändern und an die neuen Bedingungen anpassen müssen. In der DDR waren die Verlage entweder „Volkseigentum“, de facto also im Besitz des Staates, oder Eigentum der Parteien oder gesellschaftlicher Organisationen wie dem Kulturbund. Die Ausgangsbedingungen waren denkbar schlecht, denn mit dem Wegfall des gelenkten Vertriebs über den erst später privatisierten LKG17 mussten die Verlage unter hohem Zeitdruck selbstständig neue Vertriebsnetze aufbauen. Zudem waren viele in der DDR renommierte Verlagshäuser im Westen einem breiten Publikum völlig unbekannt. In der Regel ohne über entsprechende finanzielle Mittel für Marketingaktionen zu verfügen und ohne Kenntnisse in diesem Bereich schien es zunächst nahezu unmöglich, im Westen Fuß zu fassen. Auf finanzielle Rücklagen konnte kaum ein Verlag bauen, denn wer Gewinne machte, musste diese an das Ministerium für Kultur abführen. Mit der Währungsunion fielen 30% des Exportes in die ehemaligen „Bruderstaaten“ weg, gleichzeitig drängten über 2000 Verlage aus den ‚alten‘ Bundesländern als Konkurrenz auf den vergleichsweise kleinen Markt. Angesichts dieser Zahlen stellte der 1990 erfolgte offizielle Ankauf von
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und der Schauspieler Peter Sodann die Bücher der DDR bewahren wollen. In: FAZ v. 26.2.2002 sowie Wilhelm Boeger: 3. Dichter im Nebel der Wendezeiten / Zu Gast in Pfarrer Weskotts Bücherscheune / Das Treffen in Katlenburg. In: W.B.: Der Leihbeamte kehrt zurück. Neue Berichte aus Deutsch-Deutschland. Halle (S.) 1999, S. 45-50. Die Privatisierung erfolgte mittels eines Management Buy-Outs, Gesellschafter wurden acht ehemalige Mitarbeiter und der bisherige Geschäftsführer Jürgen Petry.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Büchern aus Ost-Verlagen im Wert von fünf Millionen Mark18 lediglich einen Tropfen auf den heißen Stein dar. Außerdem kaufte das traditionell an Belletristik interessierte Publikum weniger Bücher. Für dieses Phänomen gibt es vor allem zwei Gründe: eine veränderte Interessenlage und Geldmangel. Immerhin stiegen mit der Währungsunion die Buchpreise schlagartig auf Westniveau – im Gegensatz zu den Einkommen. Prioritäten wurden anders gesetzt: Die Nachfrage nach belletristischer Literatur sank, denn es galt, einen Nachholbedarf insbesondere an Ratgeberliteratur (Steuerrecht, Umschulungs- und Weiterbildungsprogramme), aber auch an ‚Enthüllungsbüchern‘, etwa über die Staatssicherheit, zu befriedigen. Was für den Verlag Volk & Welt gültig war, traf im Grunde genommen für alle Verlage der ehemaligen DDR zu: Es mußte neu nachgedacht, neu gelernt, neu organisiert werden. Alles geschah in rasendem Tempo: Vertriebsstrukturen aufbauen. Den Verlag ins Bewußtsein von Feuilletonchefs, Kulturredakteuren und Rezensenten bringen. Autoren finden. Einen alten Markt nicht verlieren und einen neuen Markt gleichzeitig erschließen. Traditionen bewahren und parallel dazu neue Äcker durchpflügen.19
Ein wettbewerbsrechtliches Problem auf Ost-West-Ebene stellten die Lizenzausgaben dar; der Einigungsvertrag benachteiligte hier die Verlage aus dem Osten: Erloschen sind nämlich mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 alle Lizenzvergaben westdeutscher Verlage an Verlage der DDR, während Lizenzvergaben der DDR-Verlage an westdeutsche Verlage weiterhin Gültigkeit haben. Das wirkt sich besonders auf den auflagenstarken Taschenbuchmarkt aus. So konnte der Fischer-Taschenbuchverlag in Frankfurt am Main die zu DDR-Zeiten vom Verlag Volk & Welt erworbenen Lizenz-Rechte an deutschsprachigen Übersetzungen des japanischen Schriftstellers Kenzaburô Ôe nutzen, um im Herbst 1994 unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Auszeichnung dieses Autors mit dem Nobelpreis für Literatur preiswerte Taschenbuchausgaben auf den Markt zu bringen, während der Lizenzgeber Volk & Welt lediglich mit Neuauflagen der Hardcover-Ausgaben, die erheblich teurer sind, aufwarten durfte.20
Zahlreiche Autoren aus der DDR mussten sich nun für einen Verlag entscheiden, aus Gründen der Sicherheit entschlossen viele sich, ganz 18
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Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 30. [Anon.]: Ein bißchen abgehoben – aber längst nicht im siebten Himmel … Verlagsporträt. Redaktioneller Beitrag für BuchMarkt 1994 (10); S. 1-7, S. 2f. Dietger Pforte: Unvereint – vereint. Literarisches Leben in Deutschland. In: ndl 44 (1996) 1; S. 182-209, S. 195f. (ndl-extra).
2.2 Zur Situation der Verlage
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zu ihrem Westverlag zu wechseln, zum Beispiel Volker Braun. Christoph Hein dagegen blieb bis 2000 bei Aufbau, wechselte dann aber zu Suhrkamp. Meist schließen die Verträge der Autoren mit den West-Verlagen Nachauflagen älterer Werke in früheren Ost-Verlagen aus, so dass auch dieser Markt wegbrach. Ein weiteres rechtliches Problem stellten die so genannten „Plusauflagen“ dar: Westverlage hatten gegen einige ehemalige DDR-Verlage geklagt, weil diese – in gängiger Praxis – höhere Auflagen als die vereinbarten druckten. Das ‚gewonnene‘ Geld landete allerdings nicht in den Kassen der Verlage.21 Die Treuhandanstalt22 war für die Betreuung und Privatisierung von 54 Buch- und Zeitschriftenverlagen zuständig – ein Unterfangen, das teilweise ausgesprochen kompliziert war, da zahlreiche Verlage durch ihre indirekte Anbindung an Parteien und Organisationen in ungeklärten Rechtsverhältnissen existierten. Ein Vertreter der Treuhand, Achim Schneider, äußerte im April 1991 auf der Deutschen Literaturkonferenz in Leipzig: „Die Treuhandanstalt hält es für ihre wichtigste Aufgabe, alle Verlage in den neuen Bundesländern zu erhalten. Nicht um jeden Preis, aber um einen hohen.“23 Wesentliche Aspekte im Hinblick auf den Zuschlag für einzelne Investoren waren dabei: […] – daß die Verlage an ihren Standorten erhalten werden sollten und die neuen Eigentümer durch notwendige Investitionen für das zukünftige Verlagsprogramm Arbeitsplätze sichern. […] – daß die Weiterexistenz der Verlage nicht nur die Arbeitsplätze der Verlagsmitarbeiter sichert, sondern auch für die Existenz vieler freier Mitarbeiter, wie Autoren, Übersetzer und Grafiker notwendig ist. – Zugleich sind die Verlage Auftraggeber für weitere Unternehmen in der Region, zum Beispiel für Druckereien oder Buchbindereien.24
Im Rahmen einer Pressekonferenz am 14. November 1991 zog die Treuhand ein „positives Resümé der Buchverlags-Privatisierung“: 21 22
23
24
Vgl. dazu: [Anon.]: Ein bißchen abgehoben – aber längst nicht im siebten Himmel … Verlagsporträt. Redaktioneller Beitrag für BuchMarkt 1994 (10); S. 1-7, S. 6f. Die Anstalt selbst wurde zum Gegenstand zahlreicher – auch literarischer – Texte; vgl. etwa Günter Grass: Ein weites Feld. Roman. Göttingen 1995. Es dominieren aber eher essayistische Texte, z.B.: Christa Luft: Treuhandreport. Werden, Wachsen und Vergehen einer deutschen Behörde. Berlin / Weimar 1992 (Aufbau Sachbuch). Achim Schneider: Über die Situation der Verlage in den neuen Bundesländern. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra); S. 191-194, S. 192. Treuhand Informationen 1, Mai 1991, 8.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Von den insgesamt 54 Buch- und Zeitschriftenverlagen, für deren Betreuung und Privatisierung das Direktorat Dienstleistungen verantwortlich ist, konnten 36 in die Hände neuer unternehmerisch aktiver Eigentümer übergeben werden. Die Privatisierung der restlichen 18 Buchverlage kann noch in diesem Jahr abgeschlossen werden.25
Trotz dieser – wohl ausschließlich von der Treuhand selbst positiv bewerteten – Anstrengungen, bedeutete das Jahr 1990 für viele Verlage das ‚Aus‘. Zu den ‚Verlierern‘ der ‚Wende‘ zählt etwa der renommierte Rudolstädter Greifenverlag.26 Andere Verlage wurden auf mehr oder weniger direktem Weg ihren alten Eigentümern zurückgegeben bzw. wiedervereinigt, soweit die Sitze der Stammhäuser nach 1945 in den Westen verlagert worden waren: Beispiele sind neben dem 1992 den West-Gesellschaftern rückübertragenen ReclamVerlag (Leipzig, Stuttgart) die Musikverlage Breitkopf & Härtel (Leipzig, Wiesbaden) und Edition Peters (Leipzig, Frankfurt a.M.), der Gustav Fischer Verlag (Jena, Stuttgart), der Insel-Verlag (Leipzig, Frankfurt a.M., nun unter dem Dach von Suhrkamp), B.G. Teubner (Leipzig, Stuttgart) und Georg Thieme (Leipzig, Stuttgart). Bei Reclam hatte man ab März 1990 im Bereich des Vetriebs kooperiert. Doch bereits kurze Zeit später wurde die Schließung des Leipziger Hauses diskutiert. Erst im November 1994 sprach sich die Gesellschafterversammlung für die Erhaltung des Standorts Leipzig aus, allerdings sorgten zahlreiche Kündigungen für Unruhe.27 Im Folgenden wird die Entwicklung einiger – vor allem belletristisch ausgerichteter – Verlagshäuser28 exemplarisch dokumentiert. 25 26
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Treuhand Informationen 8 / 9, Dezember 1991, 11. Vgl. dazu Carsten Wurm / Jens Henkel / Gabriele Ballon: Der Greifenverlag zu Rudolstadt. 1919-1993. Verlagsgeschichte und Bibliographie. Wiesbaden 2001 (Veröffentlichungen des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens, Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte, Band 15). Zum Stand der Dinge im April 1991 vgl. Heinfried Henniger: Ein ungeklärtes Verhältnis. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra), S. 194-196. Zum Verhältnis ‚Reclam-West‘ – ‚Reclam-Ost‘ vgl. Auskünfte über uns. Zwischen zwei Zäsuren. Reclam Leipzig 1950-1992. In: Kopfbahnhof. Almanach 5. Fünf Jahrhunderte Einsamkeit. Die europäische Kultur in der Erfahrung der anderen. Leipzig 1992, S. 115181. Zur Situation der Fachverlage vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 34; für die Zeitschriftenverlage vgl. das Kapitel 13. April 1991. Verleger kennen ihre Macht. In: Birgit Breuel (Hg.): Treuhand intern. Tagebuch. Frankfurt a.M. / Berlin 1993, S. 232-239. Häufig wurden von einer Zeitschrift lediglich der Name und die Abonnentenkartei durch den neuen Eigentümer übernommen, nicht aber der Verlag und damit in der Regel auch nicht die
2.2 Zur Situation der Verlage
2.2.1
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Aufbau-Verlag, Berlin / Weimar
Der 1945 gegründete Aufbau-Verlag war der bedeutendste und größte Verlag für Belletristik in der DDR. Zu den Schwerpunkten zählten und zählen Werke von Autorinnen und Autoren der Exilliteratur, der Gegenwartsliteratur sowie Klassiker-Ausgaben. Bis zum Zusammenbruch der DDR hatte Aufbau 4500 Erstauflagen in 125 Millionen Exemplaren veröffentlicht, die Titel des angegliederten Verlags Rütten & Loening nicht mitgerechnet.29 Vor der ‚Wende‘ besaß Aufbau gut 5000 Autorenrechte, allerdings waren nur etwa 300 Titel lieferbar. Der Verlag beschäftigte 186 Mitarbeiterinnen
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Redakteure. Im Bereich der Zeitungen und Zeitschriften, die eine wesentliche Rolle als Kulturvermittler spielen, ist als wichtigste Neugründung die Wochenzeitung Freitag zu nennen, die aus dem 1946 vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in Berlin gegründeten Kultur-Wochenzeitung Sonntag, der 1953 in Düsseldorf gegründeten Volkszeitung (früher: Deutsche Volkszeitung) und der 1950 vom VVN in Frankfurt a.M. gegründeten Zeitung die tat hervorging. Die Ost-West-Wochenzeitung wird von Günter Gaus, Christoph Hein, Gerburg Treusch-Dieter und Wolfgang Ullmann herausgegeben und erscheint in Berlin. Andere Zeitungen und Zeitschriften überlebten kaum die ‚Wende‘ – etwa die in Ost-Berlin erschienenen Temperamente. Blätter für junge Literatur: „Die Zeitschrift geht […] sang- und klanglos ein, bevor wir überhaupt den Kampf um den Markt aufnehmen konnten. Zwei Hefte sind fertig. Von 5 / 90 lag der Umbruch vor, 6 / 90 war im Satz. Beide wurden gestoppt und ausgebucht. Schlimmer als zu Hagers Zeiten; da wurden wenigstens nur einzelne Druckbogen […] eingestampft und neu gedruckt. Nur wird diesmal … alles streng marktwirtschaftlich begründet.“ (Thomas Wieke, ehemaliges Redaktionsmitglied der Temperamente, in: Kulturelles Mosaik / Rückschritt des Monats. In: Der Literat 32 (1990) 9, S. 248). Über die Rolle der von der Akademie der Künste herausgegebenen Zeitschrift Sinn und Form in der Zeit der ‚Wende‘ informiert ein Artikel von Stephen Parker: Re-establishing an all-German identity. Sinn und Form and German unification. In: The New Germany. Literary and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 14-27. Im selben Band findet sich ein Aufsatz von Brian Keith-Smith über „Little magazines in the former GDR since 1989“, S. 28-45. Zu neuen Aufgaben des Feuilletons vgl. Leonore Brandt: Die Rolle des Feuilletons als Vermittler von Literatur. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8, S. 141-241 (ndl-extra); S. 197-204. Zur Rolle der westdeutschen Zeitschrift „Emma“ in der Wendezeit gibt es eine Untersuchung, die auch auf die Entwicklung der DDR-Frauenzeitschrift Für Dich eingeht: Margaret Stone: EMMA and the Wende. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31), S. 155-163. Vgl. Carsten Wurm: Jeden Tag ein Buch. 50 Jahre Aufbau-Verlag. 1945-1995. Berlin 1995, S. 99 bzw. S. 139. Zur Geschichte von Rütten & Loening vgl. Carsten Wurm: 150 Jahre Rütten & Loening. … mehr als eine Verlagsgeschichte. 1844-1994. Mit einem Geleitwort von Alfred Grosser. Berlin 1994.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
und Mitarbeiter, etwa ein Drittel davon arbeitete im Lektorat. Im ersten Halbjahr 1990 konnte noch ein Umsatz von 15 Millionen DDR-Mark erzielt werden, der nach Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 beinahe völlig wegbrach: Der Umsatz betrug in diesem Monat nur noch 30 000 DM.30 Nach der Vereinigung wurden dem Verlag zahlreiche Lizenzen für Titel aus dem Westen gekündigt, die ausschließlich für das Vertriebsgebiet der selbstständigen DDR galten und die – nach gängiger Praxis – jeweils nur für eine Auflage galten. Zahlreiche Autorinnen und Autoren verließen den Verlag endgültig, etwa Christa Wolf, die zu Luchterhand ging, wo ihre Bücher vor 1990 im Westen erschienen; andere ‚gingen fremd‘, beispielsweise Helga Königsdorf, die einige Titel bei Rowohlt und Rowohlt Berlin veröffentlichte. Irmtraud Morgner hatte in ihrem Testament die Rechte an ihren Texten Luchterhand übertragen; auch die Rechte an den Werken von Peter Hacks und Stephan Hermlin gingen dem Verlag verloren. Im September 1991 erwarb ein Konsortium um den Immobilienhändler Bernd F. Lunkewitz31 für 900 000 DM die Verlage Aufbau und Rütten & Loening. Bis heute sind allerdings die Eigentumsverhältnisse nicht endgültig geklärt, da der Aufbau-Verlag als Eigentum des Kulturbundes gar nicht von der Treuhand als ausschließlich für die Privatisierung von Volkseigentum zuständigen Institution hätte verkauft werden dürfen.32 Die SED hatte jedoch irrtümlicherweise geglaubt, der Verlag gehöre ihr. Deshalb konnte am 22. Februar 1990 der Vorstand der PDS beschließen, den Verlag rückwirkend zum 1. Januar in Volkseigentum zu überführen und damit de facto in die Verwaltung durch die Treuhand. Nur so ist zu erklären, dass „dem Verlag Mittel aus der Kasse der Nachfolgepartei PDS in beträchtlicher Höhe zu[flossen; F.Th.G.], die ihm erst einmal zu überleben halfen.“33 Zum 1. Juli folgte die Umwandlung in eine „GmbH i.A.“ unter Leitung der Geschäftsführer Elmar Faber, Peter Dempewolf und Gotthard Erler. 1991 wurde das Weimarer Haus geschlossen.34 Um sicherer Eigentümer des Verlages zu werden, kaufte Lunkewitz im März 30 31 32
33 34
Gotthard Erler; vgl. [Anon.]: Das Aufbau-Wunder. In: Der Spiegel 52 (1998) 15 v. 6.4.1998; S. 214-216, S. 214. Bernd F. Lunkewitz, Thomas Grundmann, Eberhard Kossack und Ulrich Wechsler. Vgl. „Denen brennt die Hütte“. Aufbau-Verleger Bernd F. Lunkewitz über „kriminelle Machenschaften“ der Treuhand und die Notwendigkeit einer neuen deutschen Literatur in der Berliner Republik. In: Der Spiegel 52 (1998) 15 v. 6.4.1998; S. 217-219, S. 217f. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 441. Weimar war wegen der 1964 erfolgten Integrierung des 1946 gegründeten Thüringer Volksverlags einschließlich des Arion Verlags zweiter Verlagsort von Aufbau geworden; vgl. dazu: Vereinigte Verlage von Berlin und Weimar. In: Carsten Wurm: Jeden Tag ein Buch. 50 Jahre Aufbau-Verlag. 1945-1995. Berlin 1995, S. 53-55.
2.2 Zur Situation der Verlage
29
1995 Aufbau ein zweites Mal, der Prozess um die damit zusammenhängende Schadensersatzklage gegen die Treuhand-Nachfolgerin BvS dauert an. 1998 wurde in diesem Zusammenhang immerhin festgestellt, dass der Verlag tatsächlich Eigentum des Kulturbundes sei, die 1955 gelöschte Eintragung in das Handelsregister wurde erneut verfügt.35 Da die Immobilie des Stammsitzes in der Französischen Straße 32 und eine weitere Immobilie von der Treuhand vor dem Verkauf an Lunkewitz aus dem Unternehmen herausgelöst worden waren, musste der traditionelle Verlagssitz aufgegeben werden und der Verlag in die Neue Promenade 6 umziehen. Parallel dazu wurde im Herbst 1996 das Kundenmagazin Neue Promenade ins Leben gerufen, in dem die Bücher der Verlagsgruppe präsentiert werden. Unklar sind die Hintergründe für die Entlassung des langjährigen Geschäftsführers Elmar Faber im September 1992; sein Nachfolger wurde Bernd F. Lunkewitz selbst. Gregor Zalkawski (1992) fasst zusammen: Der rätselhafte Thronsturz wurde weder vom Hauptgesellschafter Bernd F. Lunkewitz noch vom jetzigen Verlagsleiter und Aufbau-Programmchef Gotthard Erler hinreichend erklärt. Da ist von einer „Weggabelung“ (Lunkewitz) die Rede, an der sich der Verlag jetzt, ein Jahr nach der Privatisierung, strategisch und konzeptionell neu orientieren müsse. […] Hier habe man sich von Fabers Vorstellungen vom „prätentiösen, wertvollen Buch“ trennen müssen, um den Weg des lesbaren, preiswerten Buches zu gehen, das sich auch der ostdeutsche Leser leisten könne. Faber hatte das als „Trivialisierung des Programms“ gedeutet und seinen Abschied hingenommen.36
Der Verlag, in dem heute 35 Mitarbeiter und sieben Außendienstmitarbeiter tätig sind, wurde umstrukturiert, der Umsatz konnte kontinuierlich gesteigert werden: von sechs Millionen DM 1991, über rund 15 Millionen 199537, 17 Millionen DM 1997, auf 30 Millionen DM 1999; damit schreibt der Verlag schwarze Zahlen.38 Diese vergleichsweise positive Entwicklung erklärt sich nicht zuletzt durch den Erfolg der 1991 – vom damaligen Verlagsleiter Elmar Faber – gestarteten Taschenbuchreihe auf der einen und durch mehrere Hardcover-Titel auf der anderen Seite: Während die hohe Auflage des 1992 publizierten dritten Bandes von Erwin Strittmatters Romanzyklus „Der Laden“ (bis heute über 100 000) noch auf 35 36 37 38
Vgl. Irmtraud Gutschke: „Aufbau“ nun doch Kulturbundeigentum. Bernd F. Lunkewitz bekam Recht im Streit mit der Treuhand. In: ND v. 8.7.1998. Gregor Zalkawski: Marktwirtschaft im Leseland. „Aufbau“ und „Volk & Welt“: Zwei Ostberliner Verlage in Nöten. In: Basler Zeitung v. 29.9.1992. Vgl. Sven Boedecker: Versunkene Landschaften. Was blieb vom Leseland DDR? Die meisten Ostverlage wirtschaften auf Sparflamme. In: Die Woche v. 29.3.1996. Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 32.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
das Konto des ehemaligen DDR-Leserpublikums gehen dürfte, sind die neueren Auflagenrenner wie Victor Klemperers Tagebücher (knapp 150 000)39 und Alfred Kerrs Reportagen-Sammlung „Wo liegt Berlin?“ (fast 50 000) gesamtdeutsche Überraschungen.40
Die Backlist umfasste schon 1995 wieder gut 1000 Titel; rund 80 Prozent der Bücher werden in Westdeutschland verkauft.41 Einen nicht zu unterschätzenden Anteil an diesem Erfolg dürfte Marcel Reich-Ranicki haben, der vergleichsweise viele Bücher des Aufbau-Verlages im Literarischen Quartett besprach bzw. besprechen ließ. Auch die Vergabe von Lizenzen ins Ausland brachte dem Verlag Geld: Für eine Lizenzausgabe der Klemperer-Tagebücher erhielt Lunkewitz 550 000 Dollar.42 Mit Klassikern werden nach wie vor hohe Umsätze erzielt, an erster Stelle dürfte dabei Fontane stehen, dessen Werk in einer von Gotthard Erler herausgegebenen Neuausgabe erscheint. Zur Aufbau-Verlagsgruppe gehört neben dem Aufbau Taschenbuch Verlag und Rütten & Loening, wo man nunmehr vor allem Unterhaltungsliteratur produziert43, seit 1994 auch der Leipziger Gustav Kiepenheuer Verlag. Neueren Entwicklungen folgend wurde Der Audio Verlag (DAV) gegründet, der Hörbücher produziert. Die früher bei Aufbau und Rütten & Loening erscheinenden Zeitschriften überlebten, wenn auch nicht alle in ihren Stammhäusern: die Weimarer Beiträge wechselten nach der Übernahme durch den 1973 aus der DDR weggegangenen Peter Engelmann zu dessen Passagen Verlag nach Wien; Sinn und Form wird weiterhin von der Akademie der Künste herausgegeben, wechselte aber innerhalb der Gruppe von Rütten & Loening zu Aufbau. Die 1993 mit dem Alfred Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnete ndl erscheint seit Januar 1991 „in alleiniger Partnerschaft mit dem Aufbau-Verlag“44 und ist damit nicht 39
40 41
42 43 44
Es sei an dieser Stelle lediglich darauf verwiesen, dass die Veröffentlichung der Tagebücher selbst weniger eine Überraschung darstellte – so findet sich der Abdruck eines Tagebuchblattes bereits 1988 in der ndl (vgl. ndl 36 (1988) 10, S. 9-12) als vielmehr der dadurch ausgelöste überragende Erfolg, der sich auch in der einige Jahre später erfolgten Teilverfilmung zeigt. [Anon.]: Das Aufbau-Wunder. In: Der Spiegel 52 (1998) 15 v. 6.4.1998; S. 214-216, S. 215. Vgl. „Denen brennt die Hütte“. Aufbau-Verleger Bernd F. Lunkewitz über „kriminelle Machenschaften“ der Treuhand und die Notwendigkeit einer neuen deutschen Literatur in der Berliner Republik. In: Der Spiegel 52 (1998) 15 v. 6.4.1998; S. 217-219, S. 219. [Anon.]: Das Aufbau-Wunder. In: Der Spiegel 52 (1998) 15 v. 6.4.1998; S. 214-216, S. 216. So wurden allein 1997 über 50 000 Exemplare des Romans Die Päpstin von Donna W. Cross verkauft. Hausmitteilung; zit. nach Anton Krättli: Seismische Erschütterung auf dem Parnass. Verwirrungen nach der Vereinigung. In: Schweizer Monatshefte 71 (1991); S. 195-199, S. 195.
2.2 Zur Situation der Verlage
31
mehr Organ des Schriftstellerverbandes. Chefredakteur ist seit 1995 Jürgen Engler. Von 1994 bis 1996 wurde auch Sprache im technischen Zeitalter von Aufbau verlegt. 2.2.2
Volk & Welt45, Berlin46
Volk und Welt, der führende Verlag der DDR für Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, wurde am 1. März 1947 gegründet. Zu seinen ersten Autoren gehörten Stephan Hermlin mit einer Übersetzung von Gedichten Paul Eluards und Hans Mayer mit seiner berühmten Monografie über Büchner und seine Zeit. 1964 – im Zuge einer Neustrukturierung der Verlagslandschaft der DDR – wurde Volk und Welt mit Kultur und Fortschritt vereinigt, dem ebenfalls 1947 gegründeten Verlag der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Nicht zuletzt dadurch wurden die osteuropäischen Literaturen, insbesondere die der Sowjetunion, zum Programmschwerpunkt; der Verlag war aber für die gesamte ausländische Literatur zuständig. Nach 1971, als durch den Grundlagenvertrag die Bundesrepublik Deutschland zum „Ausland“ wurde, fanden deshalb auch Werke westdeutscher Schriftsteller Eingang ins Programm. In Lizenzausgaben veröffentlichte Volk und Welt Texte unter anderem von H. C. Artmann, Simone de Beauvoir, Thomas Bernhard, Luis Buñuel, Italo Calvino, Friedrich Dürrenmatt, Umberto Eco, Hans Magnus Enzensberger, Erich Fried, Max Frisch, Wolfgang Hildesheimer, James Joyce, Norman Mailer, Robert Musil, Nathalie Sarraute und Rabindranath Tagore. Gegen zahlreiche Widerstände konnte die erste Freud-Ausgabe der DDR durchgesetzt werden. Die meisten Lizenzrechte galten aber nur für das Gebiet der DDR und erloschen mit der Vereinigung. Weitere Autorenrechte gingen aus anderen Gründen verloren, etwa im Falle des Kirgisen Tschingis Aitmatov. Bekannt war der Verlag, der Ende der achtziger Jahre rund 150 Mitarbeiter, davon 50 (!) Lektoren beschäftigte47, außerdem durch seine exzellent gestalteten Reihen, die sämtlich über kurz oder lang eingestellt werden mussten: Erkundungen, die Weiße Reihe mit internationaler Lyrik 45 46
47
Frühere Schreibweise: Volk und Welt. Nach Abschluss des Manuskripts erschien ein Band, der ausführlich über die Geschichte des Verlags informiert: Leonhard Kossuth: Volk & Welt. Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag. 1. (korrigierte) Auflage. Berlin 2002. Dazu Dietrich Simon: „50 Lektoren bei Volk & Welt hieß, jede Sprache konnte hier gelesen werden. Wir waren ein Institut für Weltliteratur. Die besondere Funktion, die wir in der DDR hatten, wurde dann mit dem Ende des Staates aufgehoben.“ ([Anon.]: Die Zukunft beherrscht die Gegenwart. 50 Jahre Verlag Volk & Welt in Berlin. Früher hochrangiges Institut für Weltliteratur, konzentriert sich Volk & Welt heute auf Literatur aus dem Osten. Ein Interview mit Dietrich Simon. In: Börsenblatt v. 9.1.1998; S. 18f., S. 18f.).
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
des 20. Jahrhunderts, häufig in zweisprachigen Ausgaben, Spektrum, Ex libris und ad libitum. Neu eingeführt wurde nach der ‚Wende‘ die essayistisch ausgerichtete Reihe Zur Lage der Nation. Zwischen 1947 und 1986 wurden bei Volk und Welt 4780 Titel produziert, davon 3091 Erstauflagen. Der Verlag veröffentlichte Werke von 1500 Autoren aus 76 Staaten und druckte mehr als 82 Millionen Exemplare insgesamt.48 1989 erschienen noch 150 Titel in ca. drei Millionen Exemplaren. Von 1990 bis 1992 arbeitete der Verlag in der Rechtsform einer GmbH unter Verwaltung der Treuhand. Das Programm wurde auf 40 bis 50 Titel pro Jahr reduziert. Im April 1991 berief die Treuhand den Düsseldorfer Manager Ingo-Eric M. Schmidt-Braul zum Geschäftsführer, der bis 1990 bei Econ und nach der ‚Wende‘ als Unternehmensberater bei Volk und Welt tätig gewesen war. Im Juni 1992 verkaufte die Treuhand ohne Wissen der Mitarbeiter den Verlag für den symbolische Betrag von einer Mark an zwei Brüder des bayrischen Büroartikelherstellers Treuleben und Bischof. Es kam zu erheblichen Protesten der Belegschaft gegen diese Form der Privatisierung; nur wenige Tage später gaben die Käufer den Verlag zurück. Am 15. Juli 1992 wurde der Germanist und damalige Betriebsratsvorsitzende Dietrich Simon (*1939), der seit 1969 im Verlag arbeitete, zum Geschäftsführer gewählt. Im Dezember wurde Volk und Welt schließlich über ein Management-Buy-Out-Verfahren zu 35% von den Mitarbeitern und zu 65% vom Förderkreis des Verlages Volk und Welt e.V. übernommen. Vorsitzender des Förderkreises, der aus Freunden, Autoren und anderen dem Verlag nahe stehenden Personen gebildet wurde, war Fritz J. Raddatz; zu den Mitgliedern zählten außerdem Manfred Bissinger, Friedrich Dieckmann, Wieland Förster, Helmut Frielinghaus, Fritz Rudolf Fries, Günter Gaus, Günter Grass, Rolf Hochhuth, Joachim Kersten, Adolf Muschg, Dietger Pforte, Lothar Reher, Thomas Reschke und Michel Tournier. 1993 interessierte sich die französische Verlagsgruppe Albin Michel für den Verlag, erhielt aber nicht den Zuschlag. Brigitte Seebacher-Brandt polemisierte daraufhin in Unkenntnis der tatsächlichen Situation sowohl gegen Volk und Welt als auch gegen alle früheren DDRVerlage, denn: „Keiner der DDR-Verlage hatte je eine wirtschaftliche Existenzberechtigung, sie brauchten nach der Wende Liquiditätshilfen, um Löhne zu bezahlen, nicht um Investitionen zu tätigen.“49 Dieser Angriff rief zahlreiche ablehnende Reaktionen hervor. Fritz-Jochen Kopka entgegnete Seebacher-Brandt in der Wochenpost unter anderem: „Rein logisch ist dazu zu sagen, daß man einem DDR-Unternehmen, das in 48 49
Vgl. Ute Grundmann: Erfolg mit „Kassengift“. Zum „50jährigen“ von Volk & Welt: Interview mit GF Dietrich Simon. In: BuchMarkt (1997) 12, S. 18f., S. 19. Brigitte Seebacher-Brandt: Wenn die Treuhand Gutes tut. Die Aktivitäten um den Verlag Volk & Welt: Nein zu den Franzosen, ja zur Nostalgie. In: FAZ v. 2.12.1993.
2.2 Zur Situation der Verlage
33
anderem ökonomischem Kontext stand, schlecht vorwerfen kann, daß es nicht marktwirtschaftlich organisiert war.“50 Zum 1. Mai 1995 kaufte der Münchner Wirtschaftsanwalt Dietrich von Boetticher, der im Jahr zuvor den Luchterhand Literaturverlag und den Limes Verlag übernommen hatte, mit der Wochenpost allerdings gescheitert war, den Verlag. Er gab eine Bestandsgarantie von fünf Jahren ab und eine Garantie über 10 Arbeitsplätze. Die drei Verlage unterhielten einen gemeinsamen Vertrieb, wobei die ‚Quasi-Zusammenlegung‘ gewisse Schwerpunktaufteilungen mit sich brachte, um Konkurrenz innerhalb der Gruppe zu vermeiden. Dietrich Simon stellte dies 1997 so dar: Wir sind in einer Eigentümer- und Vertriebsgemeinschaft mit Luchterhand und Limes; und es gibt innerhalb der Gruppe Abstimmungen: wir kümmern uns um deutsche Autoren (Luchterhand ebenfalls), ansonsten pflegen wir den Schwerpunkt Osteuropa, vor allem die russische Literatur; was Ausflüge in westliche Regionen nicht ausschließt.51
Ab dem 1. Januar 1996 kooperierte der Verlag auch mit Gerhard Wolf Janus press; auf den Buchmessen trat man gemeinsam auf. Im gleichen Jahr zog der Verlag von seinem Stammhaus in der Glinkastraße (BerlinMitte) in die Kreuzberger Oranienstraße um, da die Treuhand auch hier die verlagseigene Immobilie aus dem Verlagsvermögen herausgelöst und separat an die Bundesregierung verkauft hatte. Weil das Haus im neuen Regierungsviertel liegt, hatte der Verlag nur einen befristeten Mietvertrag erhalten können, der schließlich auslief. Mit den zehn verbliebenen Mitarbeitern, darunter zwei Lektoren, wurden jährlich rund 20 bis 30 Titel produziert. Zu den ehrgeizigsten Projekten des Verlages zählten die auf 13 Bände angelegte erste werkgetreue und nahezu vollständige deutsche Ausgabe der Werke Michail Bulgakows sowie eine dreibändige Ausgabe der Werke von Sergej Jessenin zum 100. Geburtstag und 70. Todestag des Dichters. 1997 lag der Umsatz bei drei Millionen DM; vier Fünftel der Bücher wurden in den alten, ein Fünftel in den ‚neuen‘ Bundesländern verkauft52, die Backlist umfasste rund 145 Titel53 mit Auflagen zwischen 2000 und 100 000 Exemplaren. Der größte Verkaufserfolg war Thomas 50 51 52
53
Fritz-Jochen Kopka: Linke Treuhandträume. Volk & Welt privatisiert. In: Wochenpost v. 9.12.1993. Ute Grundmann: Erfolg mit „Kassengift“. Zum „50jährigen“ von Volk & Welt: Interview mit GF Dietrich Simon. In: BuchMarkt (1997) 12; S. 18f., S. 18. Vgl. Die Zukunft beherrscht die Gegenwart. 50 Jahre Verlag Volk & Welt in Berlin. Früher hochrangiges Institut für Weltliteratur, konzentriert sich Volk & Welt heute auf Literatur aus dem Osten. Ein Interview mit Dietrich Simon. In: Börsenblatt v. 9.1.1998; S. 18f., S. 19. Vgl. Rudolf A. Schmeiser: 50 Jahre Volk & Welt. Einst der wichtigste ostdeutsche Verlag für internationale Literatur. In: Buchhändler heute (1997) 12; S. 86f., S. 87.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Brussigs Roman Helden wir wir (1996) mit bis 1998 etwa 100 000 verkauften Exemplaren; Lizenzrechte an diesem Buch wurden in zehn Länder verkauft, darunter die USA und Südkorea. Trotz dieser durchaus positiven Entwicklung musste der Verlag mit Ablauf der Bestandsgarantie 2001 die Arbeit einstellen, die Schwelle zu den schwarzen Zahlen hatte er nicht erreicht.54 2.2.3
Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) / Leipzig55
Der Mitteldeutsche Verlag wurde 1946 in Halle (Saale) als volkseigener Verlag gegründet. Seit Mitte der sechziger Jahre verstand er sich in erster Linie als „Verlag für sozialistische deutsche Gegenwartsliteratur“; mit der Moskauer Novelle (1961) und Der geteilte Himmel (1963) erschienen hier die ersten Bücher von Christa Wolf. 1990 / 91 erfolgte die Privatisierung. Von den über 100 Autorinnen und Autoren, die vor 1989 ihre Texte beim Mitteldeutschen Verlag veröffentlichten, verließen viele, u.a. Günter de Bruyn und Volker Braun, den Verlag und publizierten fortan in erster Linie bei ihren West-Verlagen (S. Fischer bzw. Suhrkamp). Unmittelbar nach der ‚Wende‘ konnte der Mitteldeutsche Verlag seine Existenz zunächst vor allem durch Behördenverzeichnisse und gedruckte Wegweiser mit Hinweisen auf neue Läden, Handwerker usw. sicherstellen. Dank der relativ späten Einführung der Gelben Seiten in den neuen Bundesländern konnte diese Marktlücke für einige Zeit genutzt werden. Mit Einführung dieses und weiterer kostenloser Branchenverzeichnisse ging der Umsatz in diesem Bereich allerdings rasch auf etwa 10% zurück. Es folgte eine Orientierung hin zur Regionalliteratur, daneben erschienen eine Reihe von Text- und Bildbänden über Sachsen-Anhalt. Dieses Marktsegment wird heute als weit gehend „gesättigt“ betrachtet. Von den früher achtzig Mitarbeitern wurden bis 1993 75% entlassen.56 1996 ging der Verlag in die Gesamtvollstreckung, da die nunmehr noch 15 vertraglich zu erhaltenden Arbeitsplätze nicht mehr gesichert werden konnten; man stand vor dem ‚Aus‘. Nach einem Monat konnte der Verlag unter Leitung des neuen Gesellschafters, einer Hallenser Druckerei, und eines neuen Geschäftsführers seine Arbeit wieder aufnehmen. Der Schwerpunkt wurde noch stärker auf den Sach- und Fachbuchbereich gelegt, so 54 55
56
Vgl. dazu Fritz J. Raddatz: Abgewickelt. Der Verlag Volk und Welt ist tot. In: Die Zeit v. 22.3.2001. Die Angaben beziehen sich auf ein persönliches Gespräch am 11.6.1999 im Verlag mit Herrn Dr. Michael Pantenius, damals zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit, und Herrn Zander, dem aus dem Westen stammenden, damals neuen Vertriebschef des Hauses. Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 441.
2.2 Zur Situation der Verlage
35
dass sich jetzt drei Programmsäulen herausgebildet haben: Bildbände und Sachbücher, Behördenverzeichnisse und juristische Fachliteratur. Durch die Kooperation mit Partnern wie der Staatskanzlei Sachsen-Anhalt und der Evangelischen Akademie konnten feste Mindestabnahmezahlen erzielt werden, so dass das Risiko für den Verlag gemildert ist. Rund 80% der heute publizierten Titel besitzen einen regionalen Bezug. Der Bereich der Belletristik, für den der Verlag einmal bekannt war, ist nur noch von untergeordneter Bedeutung. 2001 erwarb der Mitteldeutsche Verlag den Namen und die Buchbestände der Anhaltischen Verlagsgesellschaft Dessau, deren Programm nunmehr als Imprint fortgeführt wird. Im Zentrum dieses Unterprogramms stehen vor allem Bücher über die Kunst- und Kulturgeschichte von Städten und Stätten in Sachsen-Anhalt sowie über bekannte Persönlichkeiten, die aus dieser Region stammen. 2.2.4 Hinstorff-Verlag, Thuhoff-Verlag, Rostock Im Gegensatz zu den drei bisher betrachteten Verlagen ist der HinstorffVerlag keine Nachkriegsgründung, sondern wurde bereits 1831 von Detlef-Karl Hinstorff ins Leben gerufen. Der Verlag war vor der ‚Wende‘ vor allem für niederdeutsche Mundartliteratur, aber auch für die Bücher von Franz Fühmann, Fritz Reuter, Rolf Schneider und teilweise auch von Klaus Schlesinger zuständig, um die Bekanntesten zu nennen. Zu DDR-Zeiten produzierte man mit 45 Angestellten jährlich rund 85 Titel mit Auflagen von je zehn- bis zwölftausend Exemplaren.57 Nach der ‚Wende‘ wurde der Verlag vom Hannoveraner Heinz Heise Verlag gekauft – einem Verlag für Telefonbücher. Ähnlich wie beim Mitteldeutschen Verlag musste ein Großteil des belletristischen Programms gestrichen werden, so dass der Schwerpunkt heute bei Bildbänden und regional auf Norddeutschland ausgerichteten Reisebüchern liegt. Betrachtet man das Verhältnis der den einzelnen Sparten gewidmeten Anzahl an Seiten im Gesamtverzeichnis 2002 / 2003 sowie die Gruppierung der einzelnen Sparten, so erkennt man leicht die verschiedenen Gewichtungen: Von 19 Seiten des Stammhauses – die 20. Seite verzeichnet die Bücher des angegliederten Thuhoff-Verlages – sind sechs der „Belletristik“ im engeren Sinne, drei ‚Niederdeutschem‘ (Mundartliteratur und Erzählliteratur im weiteren Sinne), vier dem ‚kulturhistorischen Sachbuch‘, eine ‚Maritimem‘ und Ratgebern (Reihe creaktiv), vier „Biographien / Bildbände[n]“ und eine (auch historischen) „Kochbücher[n]“ gewidmet. Traditionell steht die Bel57
Vgl. Josef Schlösser: Trotz Schwierigkeiten Optimist geblieben. In: Der Demokrat Nr. 66 v. 19.3.1990; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen und Zeitschriften der DDR. Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Nr. 7 – 18.4.1990, S. 17.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
letristik an erster Stelle des Verzeichnisses58, wenngleich der größte Teil des Gewinns aus den mittlerweile wieder rund 50 im Jahr produzierten Titeln mit Sachbüchern und Bildbänden erwirtschaftet wird. 2.2.5
Eulenspiegel / Das Neue Berlin, Berlin – edition ost, Berlin
Der 1954 gegründete Eulenspiegel Verlag und der 1946 gegründete Verlag Das Neue Berlin bildeten bereits seit Ende der 50er Jahre eine Einheit sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf personeller Ebene. Ende der 80er Jahre hatten die parteieigenen Verlage knapp 100 Mitarbeiter. Nach der ‚Wende‘ kauften Mitarbeiter die Verlage der PDS ab. Der Versuch, beide Verlage in Form einer Mitarbeiter-GmbH von etwa 20 Personen zu erhalten, scheiterte jedoch: 1993 leitete die Treuhand das Konkursverfahren ein. Die ehemalige Verlagssekretärin Jacqueline Kühne und der Literaturwissenschaftler und Kritiker Matthias Oehme kauften die Konkursmasse und gründeten die Verlage neu. 1995 wurde mit vier Mitarbeitern ein Umsatz von rund 3 Mio. DM erwirtschaftet, von denen 96% im Osten erzielt wurden; 1999 beschäftigte das Unternehmen sechs Mitarbeiter, die einen Umsatz von rund vier Millionen DM erwirtschafteten, 95% davon im Osten.59 Das Verlagsprogramm des Eulenspiegel Verlages – in erster Linie Bücher der Bereiche Humor und Satire, die zumindest im Osten hohe Verkaufszahlen versprechen60 –, wurde weit gehend beibehalten. Neu ins Programm genommen wurden neben Spielen auch Hörbücher, für die – dem allgemeinen Trend folgend – mit der Ohreule mittlerweile ein eigenes Hörbuch-Label existiert. In der ebenfalls neuen Kinderbuchreihe Die kleine Eule erscheinen Kinderbuchklassiker der DDR, beispielsweise Heinz Behlings Teddy Brumm und Alarm im Kasperletheater sowie Horst Beselers Käuzchenkuhle. Auch eine Ausgabe der Gedichte Alfred Lichtensteins ist im Programm; im Frühjahr 2003 kam die auf 15 Bände angelegte Ausgabe der Werke von Peter Hacks auf den Markt. Das Neue Berlin dürfte einer der populärsten Publikumsverlage der DDR gewesen sein. Neben der ersten Fontane-Ausgabe der DDR erschienen hier vor allem Kriminal- und Sciencefiction-Romane. 1996 konnte der Verlag 40 Neuerscheinungen auf den Markt bringen, wobei wesentliche Umstrukturierungen erkennbar sind: Mit wenigen Ausnahmen trennte 58 59
60
Hinstorff. Gesamtverzeichnis 2002 / 2003. Belletristik. Niederdeutsches. Sachbücher. Bildbände. Kochbücher. [Rostock 2002]. Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 33f. Z.B.: Heinz Jankofsky: Der Schein fürs Sein. Personalausweis für unsere Bürger der Deutschen Demolierten Republik. Berlin 1995.
2.2 Zur Situation der Verlage
37
sich Das Neue Berlin von der Sciencefiction-Literatur, der Stellenwert der Sachbücher und der Kriminalliteratur stieg deutlich an. So ist die schon zu DDR-Zeiten lancierte Taschenbuchreihe Delikte – Indizien – Ermittlungen (DIE) „nach wie vor eine erste Adresse vor allem für den deutschen Krimi, der sich durch Themen des hiesigen sozialen Umfeldes, solides Erzählen und Verzicht auf Klischees auszeichnet.“61 Einen weiteren Schwerpunkt bilden Memoiren und Biografien, die teilweise auch als Hörbücher erscheinen. Seit 1996 erscheint bei Das Neue Berlin eine Ausgabe der Werke Georg Hermanns. Mit der edition ost wurde 1991 ein Verlag gegründet, der sich versteht „als politischer und parteiunabhängiger Sachbuchverlag, als ein interessantes, notwendiges Element in der demokratischen, pluralistischen Bücherund Medienlandschaft.“62 Im Herbstprogramm 1999 heißt es weiter: Er dokumentiert mit Hartnäckigkeit und Ausdauer vornehmlich deutsche Zeitgeschichte mit Schwerpunkt Ostdeutschland. Der Name war und bleibt Programm. Selbstverständlich sollen der kritischen Auseinandersetzung keine geographischen Grenzen gesetzt werden. Doch allzu oft will man den Ostdeutschen ihre Biographien deuten und erklären. Sie sollten aber Gelegenheit haben, das selbst zu tun. Und: Obgleich die DDR-Deutschen das bis 1989 bestehende politische System selber stürzten (gewiß mit unterschiedlichen Intentionen) und eben nicht von der Bonner Republik befreit wurden, fühlen sich nicht wenige wie nach einer Niederlage. Es ist offenkundig nötig, das beschädigte Selbstbewußtsein der Ostdeutschen zu stärken – und jene Westdeutschen, die noch immer Dankbarkeit glauben einfordern und ihren Landsleuten Vorschriften erteilen zu müssen, mit deren Sicht zu konfrontieren, die alles andere als uniform ist und neben Schwarz und weiß viele Farbtöne erkennen läßt.63
Die edition ost dürfte eine nicht unwesentliche Rolle bei der Herausbildung eines eigenen ostdeutschen Selbstverständnisses gespielt haben und noch spielen. 1998 konstituierte sich der Verlag in Form einer Aktiengesellschaft neu, konnte aber nicht selbstständig erhalten werden: Seit dem Frühjahr 2001 erscheinen die Bücher bei Das Neue Berlin als Imprint unter dem Signet edition ost im Verlag Das Neue Berlin. 2.2.6
Neues Leben, Berlin
Neues Leben wurde 1946 ebenfalls als parteieigener Verlag gegründet und unterhielt ein Programm aus Abenteuer- und Sciencefiction-Büchern, die sich vor allem an ein jugendliches Publikum richteten. Daneben erschienen 61 62 63
Pressemitteilung 50 Jahre Verlag DAS NEUE BERLIN. Berlin 1996, S. 2. Hans Modrow / Peter Brandt / Lothar de Maizière: Zeitgeist und Mainstream […]. In: edition ost. Neuerscheinungen Herbst 1999, ohne Paginierung. Ebd.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
hier die Werke von Brigitte Reimann und Klassikerausgaben von Karl May und Jules Verne. Zum 1. Juli 1990 kauften einige Mitarbeiter der PDS den Verlag ab und führten ihn in Form einer GmbH weiter. Peter Walther fasst die Situation des Verlages im Jahre 1995 zusammen: Die Karl-May-Bücher, von denen früher bis zu 250.000 Exemplaren je Titel gedruckt wurden, werden heute mit 5.000 Exemplaren aufgelegt und nur schleppend verkauft. Von den einst 91 Mitarbeitern sind 4 übriggeblieben, die immerhin noch 25 Titel im Jahr produzieren.64
Heute bietet Neues Leben ein Mischprogramm aus politischen Büchern, Werken von Brigitte Reimann sowie einer Karl May- und einer Jules VerneWerkausgabe an. Im Januar 2000 starb Rudolf Chowanetz, der den Verlag seit 1975 geleitet hatte; sein Nachfolger wurde Andreas Henselmann. Im Herbst 2000 wurde das Programm weiter beschnitten, zugleich aber die neue Taschenbuchreihe Nachtfalter ins Leben gerufen. 2.2.7
Volk und Wissen, Berlin
Volk und Wissen nahm als einziger Schulbuchverlag der DDR eine Sonderstellung innerhalb der Verlagslandschaft ein. Er wurde 1945 als GmbH in Berlin gegründet; Mitbegründer waren die Stadt Leipzig und die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung. Bereits vor der ‚Wende‘ dürfte Volk und Wissen zahlreichen westdeutschen Lehrern bekannt gewesen sein, da einige Lehr- und Lernmaterialien, insbesondere aus dem mathematischnaturwissenschaftlichen Bereich, in Lizenzausgaben auch in der damaligen Bundesrepublik Deutschland erhältlich waren. Nach der ‚Wende‘ drohte dem Verlag die Liquidierung. 1991 übernahm die West-Berliner Cornelsen-Verlagsgruppe das Haus; seitdem ist Volk und Wissen selbstständig geführte Cornelsen-Tochter. Zum Schuljahr 1992 / 93 konnten bereits 80, teilweise neu entwickelte, zumindest aber neu bearbeitete Lehrbücher und zahlreiche Begleitmaterialien vorgestellt werden, die in fast allen Bundesländern die Zulassung erhielten. Während 1992 die Darstellung des Verlagsprogramms in nur einem Katalog Platz fand, waren es 1999 fünf verschiedene. 1995 übernahm Volk und Wissen den Bochumer Schulbuchverlag Kamp. 1997 wurden in Erfurt, Rostock und Magdeburg die ersten Förderschulen der Nachhilfeorganisation Schülerkolleg, einer weiteren Verlagstochter, eröffnet. Für den Grundschulbereich erscheint seit Oktober 1998 zweimal im Jahr das Kundenmagazin Klexer und seit Mai 1999 mit Archimedes ein weiteres Kundenmagazin, das sich an Gymnasiallehrer der mathematisch-naturwis64
Peter Walther: Von Klassik bis leptosome Kritzeleien. Bewegung im alten Leseland: Die ehemaligen DDR-Verlage in Berlin fünf Jahre nach dem Neubeginn. In: taz v. 12. / 13.8.1995.
2.2 Zur Situation der Verlage
39
senschaftlichen Fächer richtet. In den neuen Bundesländern ist Volk und Wissen der mit Abstand führende Schulbuchverlag, auf Gesamdeutschland bezogen steht er an fünfter Stelle. Schwerpunkte sind der Grundschulbereich, der Bereich der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer und der Bereich der Lehrwerke für Russisch. Im April 1997 beschäftigte Volk und Wissen 130 Mitarbeiter, das Gesamtprogramm umfasste etwa 1200 lieferbare Titel für den Unterricht an Grundschulen, Sonderschulen und beiden Sekundarstufen der weiterführenden Schulen. Pro Jahr werden ca. 5,5 Millionen Unterrichtsmaterialien verkauft.65 Neben Cornelsen engagierte sich mit dem Ernst Klett Verlag, Stuttgart, ein weiterer westdeutscher Schulbuchverlag im Osten. Bereits im Frühjahr 1990 war mit dem Ernst Klett Schulbuchverlag eine kleine Niederlassung in Leipzig gegründet worden, 1995 folgte die Gründung des Ernst Klett Grundschulverlags. Im Folgejahr verlagerte Klett seinen gesamten geisteswissenschaftlichen Sektor an die Pleiße und baute 1996 dort ein neues Verlagshaus. Der geografische Sektor der Verlagsgruppe sitzt seit Mitte 1998 in Gotha, dem Standort des renommierten Justus Perthes-Verlages, den Klett 1992 erworben hatte. 2.2.8
Weitere Verlage
Die Geschichte anderer Verlage soll hier nur angedeutet werden. Relativ unkompliziert gestaltete sich die Entwicklung der kircheneigenen oder kirchennahen Verlage: Der 1951 gegründete und bis zur ‚Wende‘ eher geduldete – da der Zensur nicht unmittelbar unterliegende – katholische St. Benno Verlag, Leipzig, wird als GmbH von den Bischöfen von DresdenMeißen, Erfurt, Görlitz und Magdeburg gehalten. 1998 setzte man rund sechs Millionen DM um – primär über den eigenen Versand, die Erfurter Dombuchhandlung und einige Weltbild plus-Filialen, die St. Benno in Sachsen auf Franchise-Basis betreibt.66 Andere Verlage hatten gleichfalls zumindest etwas günstigere Ausgangsbedingungen: Die 1960 gegründete Edition Leipzig etwa war beinahe 30 Jahre lang auf Export eingerichtet. Eine ähnliche Position hatte der Verlag der Kunst, Dresden, dessen Produktion bis 1989 etwa zur Hälfte ins Ausland ging. Ab dem Frühjahr 1990 arbeitete man mit dem Münchner C.H. Beck-Verlag zusammen, bevor der Verlag von Gordon & Breach Science Publishers und Sachadae International Publishing übernommen wurde. 65 66
Vgl. Brief von Kirsten Bercker, Assistentin der Geschäftsführung des Volk und Wissen Verlags, an Frank Thomas Grub (28.5.1999). Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 35.
40
2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Die Schweizer Dornier-Medienholding übernahm gleich fünf DDR-Verlage: den in Brandenburgisches Verlagshaus umbenannten Militärverlag der DDR, Berlin, die Edition Leipzig, Leipzig, Teile des Henschel Verlags Kunst und Gesellschaft, Berlin, die E.A. Seemann Kunstverlagsgesellschaft, Leipzig, und den Urania-Verlag, früher Leipzig, seit 1996 Berlin. Die alten Verlagsprofile wurden weit gehend beibehalten. Der Henschel Verlag war 1945 von Bruno Henschel gegründet worden, der vor 1933 bereits Leiter des Volksbühnenverlages war. Ab 1951 gehörte der Verlag der SED. Zu DDR-Zeiten war Henschel der wichtigste Theaterverlag. Nach der ‚Wende‘ kam es zu einer Aufsplittung: Die Bereiche Bühnenvertrieb, Zeitschriften und Buch gingen getrennte Wege. Während der Zeitschriftenverlag nicht mehr existiert – immerhin erscheinen die früher hier publizierten Druckerzeugnisse Theater heute und Neue Bildende Kunst in anderen Häusern – konnte der Bühnenvertrieb als Henschel Schauspiel weiterexistieren. Der Buchverlag wurde von 1990 bis 1992 von den Mitarbeitern getragen – mit Unterstützung durch ein Darlehen der PDS. Nachdem man 1992 Konkurs anmelden musste, erfolgte der Kauf durch Dornier. Der Verlag der Nation war 1948 in Berlin als Verlag für ehemalige Wehrmachtsoffiziere gegründet worden. Schwerpunkte bildeten Biografien, Klassikerausgaben, historische Romane, Reiseberichte, Übersetzungen mittel- und osteuropäischer Autoren, illustrierte Anthologien sowie deutschsprachige Romane der Gegenwart. Hier erschienen die beiden ersten Romane von Brigitte Burmeister.67 Zu DDR-Zeiten umfasste das Programm über 1000 Titel. Als der Verlag nach der ‚Wende‘ vor dem ‚Aus‘ stand, übernahm ihn 1992 Diethard H. Klein (Bayreuth) mit seiner Bücher GmbH und konnte so die bereits beschlossene Liquidation abwenden. 1998 führte der Verlag wieder 120 Titel und wurde zum 1. Juli in die Verlagsgruppe Husum integriert. Der Verlag für die Frau war am 1. Juli 1946, zunächst unter dem Namen VE Otto Beyer-Verlag für die Frau, in Leipzig gegründet worden. In den ersten Jahren der DDR standen Bücher mit Tipps zu Themen wie ‚Aus Alt mach Neu‘ sowie Ratgeber mit Beschäftigungsvorschlägen für Kinder während der Stromsperren im Mittelpunkt des Programms. Später traten Koch- und Backbücher hinzu, von 1950 bis 1989 erschien hier das Jahrbuch für die Frau. 1991 erfolgte die Privatisierung, der Verlag ist seitdem Teil der Nürnberger Gong-Gruppe. Den Kern bilden das umfangreiche Programm an vielfach regional orientierter Koch- und Backliteratur, Ratgeberliteratur sowie die Verbraucherzeitschrift Guter Rat! 67
Brigitte Burmeister: Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde. Ein kleiner Roman. Berlin (DDR) 1987; Liv Morten [d.i. Brigitte Burmeister]: Das Angebot. Kriminalroman. Berlin (DDR) 1990.
2.2 Zur Situation der Verlage
41
Ein Verlag, dessen Name nach wie vor Programm ist, ist der Berliner Kinderbuchverlag. Er wurde von der Münchner Meisinger-Gruppe übernommen. 2.2.9
Neugründungen
Angesichts der häufig ungeklärten Eigentumsverhältnisse und den mit der Privatisierung einhergehenden Schwierigkeiten, wie etwa im Falle des Aufbau-Verlages, entschlossen sich viele früher in der Verlagsbranche Tätige, aber auch Branchenneulinge, eigene Verlage zu gründen. Für die Zeit von November / Dezember 1989 bis Sommer / Herbst 1990 kann man von einem regelrechten ‚Verlagsgründungsboom‘ sprechen.68 Die hohe Zahl der Neugründungen darf jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass es sich meist um Klein- bzw. Kleinstverlage mit bis zu drei Mitarbeitern handelt(e), deren Produkte oft Nischenexistenzen führ(t)en und allzu häufig nicht lange überlebten. Die meisten dieser Verlage wurden im Ostteil Berlins gegründet, wie aus der unten stehenden Übersicht hervorgeht. Stellvertretend für viele seien genannt: – BasisDruck, Berlin, hervorgegangen aus der Bürgerbewegung; – Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg; – der im August 1990 von Wilfried M. Bonsack als Autorenverlag gegründete BONsai-typART Verlag, Berlin; – Corvius Presse, ebenfalls Berlin, gegründet von Hendrik Liersch; – Axel Dietrich-Verlag, gegründet 1993 in Peenemünde, mit ausschließlich regionaler Ausrichtung; – Faber & Faber, Leipzig, gegründet am 6. September 1990 vom ehemaligen Geschäftsführer des Aufbau-Verlags, Elmar Faber, und dessen Sohn Michael; der Verlag ist praktisch die Wiederbelebung der bereits 1983 ins Leben gerufenen Sisyphos-Presse, wo Pressedrucke und Originalgrafiken hergestellt wurden. In verschiedenen Reihen – der auf 40 Bände angelegten DDR-Bibliothek, Die Sisyphosse, Die Graphischen Bücher. Erstlingswerke deutscher Autoren des 20. Jahrhunderts, Leipziger Liebhaber-Drucke – erscheinen belletristische Bände und Kunstbücher in bibliophiler Ausstattung; – Edition Fischerinsel, Berlin;
68
Vgl. Rolf Sprink: Zur Situation der neuen Verlage. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra); S. 188-191, S. 188.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
– Forum Verlag, Leipzig, hervorgegangen noch aus dem Herbst 1989, aber politisch unabhängig vom Neuen Forum. Der Forum Verlag versteht sich in erster Linie als Sachbuchverlag und hatte den ersten ‚offiziellen‘ Auftritt 1990 auf der Alternativen Buchmesse mit dem Buch Jetzt oder nie – Demokratie!, das kurze Zeit später auch in westdeutscher Lizenzausgabe bei C. Bertelsmann erschien; – Verlag Galerie auf Zeit von Thomas Günther, Berlin; – Galrev (Palindrom für ‚Verlag‘) mit den Editionen Galrev und Druckhaus; in der Lychener Straße (Prenzlauer Berg) gegründet von Sascha Anderson und Rainer Schedlinski.69 Pro Jahr enstehen 15 bis 20 Bücher mit vergleichsweise hohen Auflagen von bis zu 2000 Exemplaren; – die von dem Grafiker und Lyriker Christian Ewald und dem Buchbinder und Papiermacher Ralf Liersch gegründete Katzengraben-Presse in Berlin-Köpenick, wo vor allem limitierte bibliophile Ausgaben entstehen; – Klatschmohn-Verlag, Rövershagen bzw. Bentwisch / Rostock, gegründet 1995; – Kontext-Verlag, Berlin, gegründet von Torsten Metelke und Benn Roolf; – LeiV-Verlag, Leipzig, unter dem Dach des LKG; – Linden-Verlag, Leipzig, der als Autorenverlag ausschließlich die Werke von Erich Loest verlegt und mit westdeutschen Verlagen wie Steidl und Hohenheim zusammenarbeitet; – Micado Verlags- und Verwaltungsgesellschaft mbH, Köthen; hier wird vor allem satirische, im weiteren Sinne ‚ostalgische‘ Literatur verlegt, zum Beispiel Reinhard Ulbrichs Knigge für Deutsche (1998)70, Andreas Kämpers und Reinhard Ulbrichs „ostdeutsches Fahrtenbuch“ Grüner Pfeil und Ferkeltaxe (1997)71 sowie das Kleine Lexikon großer Ostprodukte (1996)72 der selben Autoren. Letzteres erreichte bis 1999 eine Gesamtauflage von über 20 000 Exemplaren.73 Ungewöhnlich ist die symbolträchtige Preisgestaltung der Bändchen: Der Knigge für Deutsche war für den „Einheizpreis“ von 19,89 DM zu haben, das „Fahrtenbuch“ kostete vor der Einführung des Euro 17,04 DM; 69
70
71 72 73
Beide mussten nach ihrer Enttarnung als Stasi-Spitzel vorübergehend aus der Verlagsleitung ausscheiden; vgl. dazu: Vorzimmer der Macht. Der Ost-Berliner Galrev-Verlag, Flaggschiff der Lyriker-Avantgarde vom Prenzlauer Berg, ist wieder in der Hand von ehemaligen Stasi-Spitzeln. In: Der Spiegel 46 (1992) 31 v. 27.7.1992, S. 147-151. Reinhard Ulbrich: Knigge für Deutsche: Über den Umgang mit Westmenschen / Knigge für Deutsche: Über den Umgang mit Ostmenschen. Ein Wendebuch. Graphiken von Axel C.A. Jirsch. Köthen 1998. Grüner Pfeil und Ferkeltaxe. Ein ostdeutsches Fahrtenbuch. Ziemlich alphabetisch geführt von Andreas Kämper (Bild) und Reinhard Ulbrich (Text). Köthen 1997. Kleines Lexikon großer Ostprodukte. Gemäß TGL Nullachtfünfzehn aufgezeichnet von Reinhard Ulbrich und fotografiert von Andreas Kämper. Köthen 1996. Neufünfländer Garten Zeitung. Nachrichten mit Buschzulage Nr. 1, Okt. 1999, ohne Paginierung.
2.2 Zur Situation der Verlage
43
– Spotless-Verlag, Berlin, gegründet 1992 als Verlag für „Linke Literatur und Tatsachenreports“. Das Programm ist relativ heterogen und reicht von Erzählungen Erik Neutschs74 bis hin zu einem Buch, das der Frage Ermordete die Stasi Marylin Monroe?75 nachgeht; – Thom-Verlag, Leipzig; – UVA (Unabhängige Verlagsbuchhandlung Ackerstraße), gegründet von Dorothea und Matthias Oehme. Neben Literatur im engeren Sinne wurden hier auch Schulungsbücher für Computeranwendungen verlegt. Als Oehme die Verlage Eulenspiegel und Das Neue Berlin übernahm, wurde die UVA quasi ‚geopfert‘76; – der nach seinem Gründer benannte Uwe Warnke Verlag, Berlin; – Horst Liebschers Verlag Zyankrise, gleichfalls Berlin. Viele der im Osten Berlins angesiedelten Verlage korrespondieren mit Kleinverlagen im Westteil der Stadt.77 Hervorzuheben sind zwei Neugründungen, die mittlerweile nicht mehr zu den Kleinverlagen zu zählen sind und deren Programm sich weniger an ein Nischenpublikum richtet: der Ch. Links Verlag und der Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag in Berlin. Beide Verlage verstehen sich allerdings nicht als Literaturverlage im engeren Sinne. Der Ch. Links Verlag78 wurde 1989, noch in den Wirren der ‚Wende‘-Zeit, als erster unabhängiger Verlag der DDR von Christoph Links, Marianne Greiner und Peter Richnow gegründet und am 5. Januar 1990 als LinksDruck in Form einer GmbH in das Ostberliner Handelsregister eingetragen. Aus dem Verlag, den Christoph Links, ein Sohn des Verlegers Roland Links, zunächst in seiner Privatwohnung betrieb, zog man schon im Juli 1990 in ausgebaute Verlagsräume um und konnte zur Frankfurter Buchmesse im Oktober das erste Programm vorstellen.79 Dieses besteht in erster Linie aus Sachbüchern zu Fragen der DDR-Geschichte und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten: 74 75 76 77
78
79
Neutsch, Erik: Der Hirt und Stockheim kommt. Zwei Erzählungen. [Berlin] 1998. Bernd Hoegner: Ermordete die Stasi Marylin Monroe? Tatsachenreport – nicht zuletzt über die CIA. [Berlin] 1993. Vgl. Bernd Heimberger: Zwischen Streben und Scheitern. Berliner Verlage nach der Wende. In: Berliner Lesezeichen (1997) 9, S. 14-16, S. 15. Vgl. dazu Dietger Pforte: Literatur und Politik. Zur literarischen Topographie Berlins im vierten Jahr nach der politischen Wiedervereinigung der Stadt. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 72-91, S. 84. Vgl. zur Verlagsgeschichte auch den Sammelband: Christoph Links / Christian Härtel (Hgg.): Über unsere Bücher läßt sich streiten. Zehn Jahre Ch. Links Verlag. Berlin 1999. Vgl. „Der Mauerfall war für mich das Startsignal“. Rückblende: 10 Jahre nach dem Mauerfall. Ein Erfahrungsbericht des (Ex-Ost-)Berliner Verlegers Christoph Links. In: BuchJournal (1999) 3; 10-13, 11.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Ziel war es zunächst, die „weißen Flecken“ der DDR-Geschichte aufzuarbeiten und mit Debatten-Bänden in die laufenden politischen Auseinandersetzungen einzugreifen. Diesem Grundanliegen ist der Verlag bis heute treu geblieben, auch wenn sich das Programm inzwischen erkennbar geweitet hat und wir ein Sachbuchverlag für die gesamte deutsche Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts geworden sind.80
Der Begriff ‚Sachbuch‘ wird relativ weit aufgefasst, denn auch die Essaysammlungen von Christoph Dieckmann erscheinen bei Ch. Links. 1996 hatte der Verlag fünf feste Mitarbeiter, darunter drei Frauen. In den ersten Jahren wurden rund drei Viertel der Produktion im Westen verkauft.81 1991 hatte sich der Umsatz auf 600 000 DM verdoppelt, für 1992 strebte man 750 000 DM an82, für 1996 bereits zwei Millionen DM.83 Mit be.bra., dem Berlin-Brandenburg-Verlag, existiert bereits ein Schwesterunternehmen. Die Entwicklung des Verlages ist positiv; dennoch weist sein Gründer immer wieder darauf hin, dass es sich bei seinem Unternehmen keineswegs um einen größeren Verlag handelt: „Ich soll immer als Beispiel herhalten, um die blühende Verlagslandschaft Ost zu dokumentieren. […] Wir fünf Leute mit unseren 20 Titeln im Jahr sind das aber leider nicht.“84 Ein ähnlich ausgerichtetes Programm hat der 1994 von Oliver Schwarzkopf mit finanzieller Unterstützung seines Bruders gegründete Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag. Hier erscheinen zahlreiche Sachbücher, Bildbände und Lexika, in erster Linie zu DDR-Themen. So zählten zu den Erfolgstiteln des Jahres 1999 die Bände 50 Jahre DDR85, Messemännchen und Minol-Pirol86 sowie Sibylle87, ein Buch über die gleichnamige „Zeitschrift für Mode und Kultur“. Auch Jürgen Kuczynkis Klassiker Dialog mit meinem Urenkel wurde bei Schwarzkopf & Schwarzkopf neu herausgegeben, erstmals in der „ungekürzten und unzensierten Originalfassung“
80 81
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10 Jahre Wende. 10 Jahre Mauerfall. 10 Jahre Ch. Links Verlag. Vorschau Herbst 1999, S. 2. Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 36. Vgl. Benjamin Jakob: „Weniger Wachstum als erhofft, aber Wachstum“. In: Neues Deutschland v. 29.9.1992. Vgl. Sven Boedecker: Versunkene Landschaften. Was blieb vom Leseland DDR? Die meisten Ostverlage wirtschaften auf Sparflamme. In: Die Woche v. 29.3.1996. Zit. nach Ebd. 50 Jahre DDR. Der Alltag der DDR, erzählt in Fotografien aus dem Archiv des ADN. Mit den Original-Bildunterschriften. Mit Texten von Helga Königsdorf und Walter Heilig. Hrsg. und kommentiert von Günther Drommer. Berlin 1999. Simone Tippach-Schneider: Messemännchen und Minol-Pirol. Werbung in der DDR. Berlin 1999. Sibylle. Modefotografie aus drei Jahrzehnten DDR. Hrsg. von Dorothea Melis. Berlin 1998.
2.2 Zur Situation der Verlage
45
(Klappentext).88 Der Fortsetzungsband89 und weitere Bücher Kuczynskis erschienen ebenfalls hier. 1994 und 1995 konnten die Umsätze jeweils verdreifacht werden90, 1999 wurde mit 10 Mitarbeitern ein Umsatz von ca. 2,5 Millionen DM erzielt.91 Ein letztes Beispiel für Neugründungen ist der ebenfalls in Berlin ansässige Verlag Gerhard Wolf Janus press, der im Frühjahr 1990 von Gerhard und Christa Wolf gegründet wurde. Im Programm sind sowohl Bücher als auch Graphik-Editionen; Schwerpunkte bilden die Belletristik, insbesondere Lyrik, Sachbücher, Künstlerbücher und entsprechende Mischformen. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Bücher in der eigens von Otl Aicher entworfenen Schrift „rotis“ gesetzt. Bei Vertrieb, Öffentlichkeitsarbeit und Werbung arbeitete Wolf zunächst mit BasisDruck, dann mit Luchterhand, mit Steidl und schließlich mit Volk & Welt / Luchterhand zusammen, seit dem Ende von Volk & Welt ausschließlich mit Luchterhand. Gestützt wird der Verlag von der im Januar 1992 gegründeten janus – Gesellschaft zur Förderung experimenteller Literatur und Kunst e.V. mit zwei ABM-Stellen. Seit 1996 erscheint auch die literarische Zeitschrift moosbrand bei Janus press. Im selben Jahr wurde ein Verlagsbüro in Kreuzberg eingerichtet. Für Wolf ist Janus press kaum ein Objekt zum Geldverdienen – er sieht den Verlag vielmehr als Produkt dieser „Wende- und Umbruchszeit“ damals, und der ganzen dazugehörenden Euphorie. Heute müßte man ja zuerst den Vertrieb organisieren und dann erst produzieren. Bei uns lief das genau umgekehrt, aber es war das, was mich eigentlich interessierte. Mein Hauptaugenmerk war und ist, daß die Autoren weiter arbeiten und publizieren können.92
88
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Jürgen Kuczynski: Dialog mit meinem Urenkel. Neunzehn Fragen und ein Tagebuch. Berlin 1996 (Schwarzkopf & Schwarzkopf POLITIK). [Erstausgabe: J.K.: Dialog mit meinem Urenkel. Neunzehn Briefe und ein Tagebuch. Berlin (DDR) / Weimar 1983]. Ders.: Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel. Fünfzig Fragen an einen unverbesserlichen Urgroßvater. Berlin 1996 (Schwarzkopf & Schwarzkopf POLITIK). Vgl. Sven Boedecker: Versunkene Landschaften. Was blieb vom Leseland DDR? Die meisten Ostverlage wirtschaften auf Sparflamme. In: Die Woche v. 29.3.1996. Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 36. 7 Jahre Janus press. Gerhard Wolf im Gespräch mit Peter Böthig. In: Die Poesie hat immer recht. Gerhard Wolf. Autor, Herausgeber, Verleger. Ein Almanach zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Peter Böthig. Berlin 1998; S. 215-226, S. 224.
46
2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
2.2.10 Auswirkungen der ‚Wende‘ auf westdeutsche Verlage Obwohl naturgemäß die Verlage im Osten die Hauptbetroffenen der Folgen von ‚Wende‘ und Vereinigung waren, änderte sich auch in der westdeutschen Verlagslandschaft einiges. Der Luchterhand Literaturverlag befand sich bereits seit 1987 in Schwierigkeiten, hatte mehrfach den Eigentümer gewechselt, dabei seinen Sitz von Darmstadt über Frankfurt a.M. nach Hamburg und Zürich verlagert und ist nun in München ansässig, seit kurzem als Teil der Verlagsgruppe Random House. Von der renommierten Taschenbuchreihe Sammlung Luchterhand hatte man sich vorübergehend trennen müssen. Wegen der genannten Krisen, aber auch durch den Wegfall vieler Lizenzausgaben von DDR-Verlagen – hier einmal in umgekehrter Richtung – verließen zahlreiche Autoren das Traditionshaus. Durch die veränderte Rolle Berlins siedelten sich zahlreiche Verlage in der Hauptstadt an oder gründeten Tochterunternehmen: So wurde bereits 1990, ein knappes halbes Jahr nach der Maueröffnung, innerhalb der Holzbrinck-Gruppe Rowohlt Berlin als ‚Ableger‘ von Rowohlt in Reinbek gegründet. Damit „reagiert er [der Rowohlt-Verlag; F.Th.G.] auf die historischpolitischen [sic] Veränderungen, die Berlin einmal mehr zum Schnittpunkt kultureller und intellektueller Strömungen Europas macht [sic].“93 Das erste Programm, erschienen im Frühjahr 1991, umfasste rund 20 gebundene Bücher. Während der Verlag editorisch vom Mutterhaus weit gehend unabhängig ist, befindet sich die Geschäftsführung in Reinbek. Vom Rotbuch Verlag, der von Berlin nach Hamburg umzog, also eine gegensätzliche Standortentwicklung vollzog, übernahm Rowohlt Berlin die Kultur- und Literaturzeitschrift Kursbuch. Eine weitere Neugründung ist der Berlin Verlag, der zunächst unter der Leitung des bis 1995 als Cheflektor bei S. Fischer tätigen Arnulf Conrad stand und mittlerweile zu Bertelsmann / Random House gehört. Fasst man die Situation der Verlage in den östlichen Bundesländern zusammen, so zeigt sich, dass es nach der ‚Wende‘ zu zahlreichen Neugründungen kam und zugleich viele Traditionshäuser erhalten werden konnten – wenn auch mit meist dramatisch reduzierter Mitarbeiterzahl. Die Mehrheit der Neugründungen ist zu den Klein- und Kleinstverlagen zu rechnen, die häufig ein regional begrenztes Nischendasein führen. Unbestrittene Qualität, etwa im Falle des Greifenverlags oder von Volk & Welt, war und ist in der Marktwirtschaft keine Überlebensgarantie. Einschränkend ist allerdings zu sagen, dass ein oberflächlicher Vergleich der Angestelltenzahlen in den einzelnen Verlagen vor und nach 1989 nur einen bedingten Aussagewert hat: In DDR-Verlagen waren Übersetzer, Lektoren, 93
[Anon.]: Rowohlt … informiert. Verlagsgeschichte. Reinbek [o.J.], 3.
2.2 Zur Situation der Verlage
47
Korrekturleser usw. in der Regel fest angestellt und lebten nicht mehr oder weniger freiberuflich von Auftragsarbeiten, wie es im Westen meist der Fall ist. Zudem kostete die Umstellung auf Computersatz zahlreiche Arbeitsplätze – eine Entwicklung, die auch bei einem Fortbestehen der DDR über kurz oder lang stattgefunden hätte. In Deutschland existieren heute rund 2100 Verlage, die jährlich weit über 50 000 Neuerscheinungen auf den Markt bringen. Es stimmt allerdings nachdenklich, dass nur gut 4% der 1998 erschienen 57 578 Erstauflagen aus den ‚neuen‘ Ländern kommen.94 Mischprogramme sind durchaus geeignet, das unternehmerische Risiko zu mindern, ostdeutschen Leseerfahrungen und -gewohnheiten95 wird in aller Regel nur von ostdeutschen Verlagen Rechnung getragen: Kaum jemand im Westen dürfte etwa die in der DDR äußerst populäre Figur „Ottokar“96 kennen. Und welcher Westdeutsche kannte, zumindest vor Ausstrahlung der Verfilmung, Erwin Strittmatters Trilogie Der Laden97? Vierzig Jahre der Teilung dürften also auch die Leseerfahrungen maßgeblich verändert haben – eine Tatsache, die sich beispielsweise in der Zahl der Autorenlesungen widerspiegelt. Bernd Schirmer stellt in diesem Zusammenhang resigniert fest: […] ich habe meine Leser in der DDR gehabt, und im Westen nicht sehr viele dazu gewonnen, muß ich schon sagen. Wenn ich Lesungen habe, in Ost und West, ist es zehn zu eins. Also zehn Lesungen habe ich im Osten, eine habe ich im Westen, und in letzter Zeit schon keine mehr. Denn das Verhältnis zwischen Ost und West hat sich, in der Ignoranz des Westens gegenüber dem Osten, so verändert, daß sie sich überhaupt nicht für das interessieren, was im Osten passiert.98
Und Ulrike Bresch stellt 1996 fest, dass sechs Jahre nach der Vereinigung ein „wiedererwachtes Interesse weniger auf die Wirkung der Bestsellerlisten, sondern häufiger auf alte Vorlieben, manchmal auf die magische Jahreszahl 1989“99 verweise. Zu dieser Erkenntnis gelangte Bresch nach 94
95 96 97 98 99
Vgl. Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandels- und Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 36. Vgl. dazu: Dietrich Löffler: Lektüren im „Leseland“ vor und nach der Wende. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 98 v. 20.3.1998, S. 20-30. Z.B.: Ottokar Domma sen.: Ottokar und die neuen Deutschen. Berlin 1991 (Reiher Humor). Erwin Strittmatter: Der Laden. Roman. Erster Teil / Zweiter Teil / Dritter Teil. Berlin / Weimar 1983 / 1987 / 1992. Jill Twark: So larmoyant sind sie im Osten gar nicht: Gespräch mit Bernd Schirmer. In: GDR Bulletin 26 (1999); S. 39-44, S. 41. Lese-Gründe und Eigen-Sinn. Die Bewohner des einstigen Leselandes DDR mieden im vereinten Deutschland erst einmal die bunten Bücherläden und die neu sortierten Bibliotheken. Sechs Jahre später verweist wiedererwachtes Interesse weniger auf die Wirkung
48
2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Gesprächen mit Leserinnen und Lesern in Rostock, Berlin und Halle. Die Angaben halten damit lediglich eine Tendenz fest, empirisch belegt sind die Daten nicht.
2.3 Buchhandel und Bibliothekswesen Das Gros der Bücher wurde in der DDR in den Volksbuchhandlungen verkauft; viele von ihnen mussten unmittelbar nach der ‚Wende‘ schließen. Gründe hierfür waren nicht zuletzt überhöhte Mietforderungen100: Schließlich waren auch Buchhandlungen häufig in günstigen Lagen und nun um so stärker begehrten Standorten angesiedelt. Dietger Pforte, der Leiter des Referats Literatur- und Autorenförderung bei der Berliner Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten, zeigt am Beispiel Berlins die (Standort-)Probleme des Buchhandels auf: Daß die renommierte Heinrich-Heine-Buchhandlung am Bahnhof Zoo erst nach heftigen öffentlichen Protesten bleiben durfte, wo sie seit über vierzig Jahren ist, zeigt deutlich, wie gefährdet Buchhandlungen in guten Lagen sind, seitdem ganz Berlin wieder Hauptstadt werden soll und will.101
Bei der Privatisierung des Volksbuchhandels befürchtete man zudem – nach einschlägigen Erfahrungen – die Entstehung monopolartiger Strukturen auf Grund großflächiger Übernahmen durch Filialisten wie Gondrom, Hugendubel, Montanus / Phönix (jetzt: Thalia) und Bouvier.102 Mit Hilfe des Börsenvereins wurde dies allerdings verhindert, so dass letztendlich etwa 80% der Volksbuchhandlungen von den Mitarbeitern übernommen
100
101 102
der Bestsellerlisten, sondern häufiger auf alte Vorlieben, manchmal auf die magische Jahreszahl 1989. ULRIKE BRESCH sprach in Rostock, Berlin und Halle mit Lesern über anregende Lektüre nach der Wende. In: Das Magazin 1996 (10); S. 56-60, S. 56. Vgl. Dietger Pforte: Literatur und Politik. Zur literarischen Topographie Berlins im vierten Jahr nach der politischen Wiedervereinigung der Stadt. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 72-91, S. 85. Ebd., S. 86. Dietger Pforte äußerte in diesem Zusammenhang: „Sosehr ich es begrüße, daß etwa Bouvier sich auf dem Berliner Markt sehr engagiert; wenn aber plötzlich ein Unternehmen 12 oder 13 große und wichtige Buchhandlungen in der ehemaligen Hauptstadt der DDR hat, dann kann das auch zu einer Verdrängung der ganz kleinen Buchhandlungen in den einzelnen Stadtbezirken führen. Wir sind da mit den Unternehmern gottlob in einer guten Gesprächssituation; sie sehen selbst, daß das auch für sie auf Dauer nicht nützlich sein kann. Geht es doch darum, ein möglichst dichtes Netz von Buchhandlungen überall zu erhalten.“ (Ebd.)
2.3 Buchhandel und Bibliothekswesen
49
werden konnten.103 Ein Überleben war damit jedoch keineswegs gesichert: Innerhalb kürzester Zeit mussten in den Buchhandlungen Recherchemöglichkeiten auch für die nun auf den Markt drängenden westdeutschen Bücher geschaffen werden. Mit Unterstützung des Bundesinnenministeriums wurden über 250 kleinere und mittlere Sortimente kostenlos mit Computern ausgestattet.104 Bereits im Januar 1990 lud Rowohlt Buchhändler aus der DDR zu einem Fachkurs ein105, fast ebenso kurzfristig wurde das System der Bestellnummern vereinheitlicht. Zum 2. Juli 1990 wurde die Buchpreisbindung auch in der DDR eingeführt. Dieser Vorgang erwies sich als unproblematisch, da die Buchpreise auch in der DDR entsprechend planwirtschaftlicher Vorgaben festgelegt waren. Buchhandlungen in den neuen Bundesländern haben es auch zehn Jahre nach der Vereinigung nicht leicht: Das Interesse an schöner Literatur ist deutlich gesunken, von einem „Leseland“ kann nicht die Rede sein. Nach wie vor ist die Kaufkraft im Osten geringer als im Westen. Und auf das vor allem für kleinere Buchhandlungen wichtige Schulbuchgeschäft wirken sich nun die sinkenden Schülerzahlen negativ aus, da in den ersten Nachwendejahren die Geburtenraten deutlich zurückgingen. Von dieser Entwicklung betroffen sind natürlich auch die neuen Medienkaufhäuser, die in größeren Städten, vor allem aber in Berlin, angesiedelt wurden: Fnac Deutschland, Herder und Virgin Megastore hatten zunächst Existenzschwierigkeiten106; eine Ausnahme bildet das „KulturKaufhaus“ Dussmann in der Friedrichstraße.107 Heute existieren in den östlichen Bundesländern ca. 1100 Buchhandlungen, das sind rund 200 mehr als 1990 in der DDR. Neben dem traditionellen Buchhandel bildet sich verstärkt ein ‚zweiter Markt‘ für Bücher heraus: Ende September 1997 wurde auf Initiative der Rheinländerin Heidi Dehne in Mühlbeck-Friedersdorf bei Bitterfeld vom Förderverein Buchdorf Mühlbeck-Friedersdorf e.V. das erste deutsche Buchdorf gegründet. In der alten Schule, dem früheren Lebensmittelladen, der 103
104 105
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107
Vgl. dazu Nils Kahlefendt: Abschied vom „Leseland“? Die ostdeutsche Buchhandelsund Verlagslandschaft zwischen Ab- und Aufbruch. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13 / 2000 v. 24.3.2000; S. 29-38, S. 31. Vgl. Ebd., S. 30. Vgl. [Anon.]: Wir sind darauf vorbereitet. In: Norddeutsche Neueste Nachrichten Nr. 69 v. 22.3.1990; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen und Zeitschriften der DDR. Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Nr. 7 – 18.4.1990; S. 17f., S. 17. Dietger Pforte: Literatur und Politik. Zur literarischen Topographie Berlins im vierten Jahr nach der politischen Wiedervereinigung der Stadt. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 72-91, S. 86. Vgl. dazu: [Anon.]: Augen- und Ohrenschmaus im KulturKaufhaus. Vom 31. Oktober an Kultur neu erleben in der Mitte Berlins. In: Mittenmang 2 (1997) 15, S. 3; Peter Dussmann: Die Einheit ermöglichte neue Wege. In: Deutsche Einheit. Gedanken, Einsichten und Perspektiven. Hrsg. von Eberhard Diepgen. Berlin 2000, S. 79-84.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
ehemaligen Schmiede und weiteren Gebäuden haben sich mittlerweile 13 Antiquariate angesiedelt; die meisten von ihnen sind auf bestimmte Bereiche spezialisiert. Neben einem regen Buchan- und -verkaufsverkehr finden hier auch Lesungen und weitere Veranstaltungen statt. In den nächsten Jahren soll die Zahl der Antiquariate auf 30 bis 35 wachsen; die Besucherzahlen stiegen zwischen 1997 und 2001 um 50%. 1999 entstand im brandenburgischen Waldstadt Wünsdorf ein ähnliches Projekt; hier wurden die alten Kasernengebäude zur Bücherstadt mit über 100 000 Büchern. Vorbild für beide Orte ist das 1961 von Richard Booth im walisischen Hay-on-Wye gegründete erste Buchdorf der Welt, dem mittlerweile zahlreiche weitere Gründungen gefolgt sind: unter anderem 1984 in Redou (Belgien), 1993 in Breedevort (Niederlande) und 1996 in Fontenoy-la-Joûte (Frankreich). Ebenfalls in den ‚neuen Bundesländern‘, im mecklenburgischen Groß Breesen, wurde das erste und bisher einzige deutsche „Bücherhotel“ gegründet.108 Dramatische Änderungen vollzogen sich im Bereich der Bibliotheken. Aussagekräftiges Zahlenmaterial ist zu diesem Bereich allerdings kaum zu erhalten – zu wenig vergleichbar sind die Angaben sowie die Basis für deren Erhebung. 1989 gab es in der DDR 17 619 Bibliotheken mit 104 Millionen Bänden. Zumindest im Hinblick auf die Dichte des Bibliotheksnetzes schnitt die wesentlich größere Bundesrepublik mit 18 567 Bibliotheken und 259 Millionen Bänden rein quantitativ betrachtet schlechter ab. Vergleichweise ungünstig präsentierten sich die wissenschaftlichen Bibliotheken der DDR, während die öffentlichen Bibliotheken überproportional gut wegkamen.109 An Stelle wenig aussagekräftiger Überblicksdaten seien im Folgenden drei Beispiele aus Bernburg (Saale), Magdeburg und Jena kurz dargestellt: In Bernburg an der Saale betrug 1989 der Gesamtbestand der Stadt- und Kreisbibliothek mit angeschlossenen Zweigstellen 113 894 „Einheiten“. Das waren 2,8 pro Einwohner. Mit 11.851 Benutzern waren 29,3% der Bernburgerinnen und Bernburger dabei. Sie entliehen im Jahr 303.033 „Einheiten“ – 7,4 pro Benutzer. Sie wurden über 48 Ausleihstellen in Wohngebieten, Schulen, Betrieben und Feierabendheimen erreicht. Ein Netz aus 15 hauptberuflich und 39 nebenberuflich geleiteten Bibliotheken zog sich über das ganze Gebiet des Kreises Bernburg.110 108 109
110
Vgl. Franz Lerchenmüller: schatzsuche im regal. Im Herzen von Mecklenburg-Vorpommern steht Deutschlands einziges Bücherhotel. In: FR v. 29.12.2001 (Magazin Reisen). Vgl. Elmar Mittler: Zur Rolle und Situation der Bibliotheken in den neuen Bundesländern. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra), S. 219224. Volker Ebersbach: Lies doch mal! Die Besonderheit der Bücher. In: LeseZeichen. Stadtbibliothek Bernburg (Saale). Hrsg. von der Stadt Bernburg (Saale) und der Bernburger Wohnstättengesellschaft mbH. Bernburg (S.) [2000]; S. 6-31, S. 28.
2.3 Buchhandel und Bibliothekswesen
51
Nach der ‚Wende‘ brach die Finanzierung zusammen; nach und nach wurden die Zweigstellen geschlossen. Zum 1. Juni 1991 wurde die Bernburger Stadtbibliothek in die Trägerschaft der Kommune überführt, von 1992-1996 erfolgte eine Umstellung des Kataloges und der Ausleihe auf Computer; zahlreiche Bücher wurden abgestoßen. 1998 wurde der Neubau des Bibliotheksgebäudes beschlossen, das 2000 eröffnet wurde. Anfang der neunziger Jahre stiegen die Nutzerzahlen wieder: „von 1991 mit 4.472 Benutzern bis 1999 auf 5.604 Benutzer. Dazu stieg die jährliche Gesamtentleihung von 1991 mit 147.085 Medieneinheiten auf 251.042 Medieneinheiten im Jahr 1999.“111 Auch in Magdeburg brachte die ‚Wende‘ einen starken Rückgang der Leihzahlen: Gertraud Walter, die stellvertretende Direktorin der Magdeburger Stadt- und Bezirksbibliothek Wilhelm Weitling stellt fest, dass bis zum Juni 1990 im Vergleich zum Vorjahr 30% weniger Bücher entliehen wurden. Zudem mussten Wege gefunden werden, die nun nachgefragte Literatur auch anbieten zu können: Bei den neuen Überlegungen, die wir uns machen [sic], stimme ich mit Ihnen bei den Inhalten überein, in Richtung Angebotserweiterung. So sehen wir uns gegenwärtig auf dem internationalen Buchmarkt um und kaufen an, was jetzt dringend gebraucht wird. Also konkret, Literatur über das neue Steuerrecht zum Beispiel, über das marktwirtschaftliche Management, aber auch Reiseliteratur, die da jetzt eine richtige Lebenshilfe ist. Wir planen, unseren Buchbestand dadurch um knapp 30 000 Titel zu erweitern.112
In der Jenaer Ernst-Abbe-Bibliothek registrierte man Anfang 1991 5000 Leser weniger als in den Jahren davor – allerdings bei wieder leicht steigenden Leihzahlen. Auch hier wurde das Programm umstrukturiert: Mehr als 3000 Bände „gesellschaftswissenschaftlicher“ Literatur und nicht gefragter Belletristik wurden ausgesondert und machten 5000 Neuankäufen Platz. Besonders groß war der Nachholbedarf an Reiseliteratur, Geschichte, Recht, Religion, Computerliteratur, deutscher Literaturgeschichte und Belletristik.113
Aus heutiger Sicht wurde bisweilen allzu radikal „ausgesondert“, denn zahlreiche Werke namhafter DDR-Autorinnen und -Autoren fielen Aktionen 111 112
113
Ebd., S. 30. Cordula Bischoff: Marx liegt wie Blei. In: Volksstimme Nr. 136 v. 14.6.1990; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen und Zeitschriften der DDR. Hrsg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Nr. 12 – 5.7.1990, S. 14. [oke]: Hunger und Durst. In: Thüringische Landeszeitung Nr. 25 v. 30.1.1991; zit. nach Pressespiegel. Aus Zeitungen der neuen Bundesländer. Nr. 3 – 27.2.1991; S. 14f., S. 15.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
dieser Art zum Opfer. Auch bei der Zusammenlegung von Bibliotheken wurde kräftig aussortiert: So übernahm bei der Schließung des 1983 eröffneten Pariser Kulturzentrums der DDR das westdeutsche Goethe-Institut lediglich „400 der rund 8000 Bände der Bibliothek“.114 Das gut ausgebaute Bibliotheksnetz konnte bedauerlicherweise nicht erhalten werden, und mit dem Ende vieler Betriebe kam auch das Ende für die hauseigenen Werksbibliotheken. Eigenständige Kinder- und Jugendbibliotheken wurden aufgegeben, aber nicht immer durch entsprechende Abteilungen in größeren Bibliotheken ersetzt; ein ähnliches Schicksal erlitten die Patientenbibliotheken in vielen Polikliniken.115 Immerhin erhielten zahlreiche Bibliotheken in der DDR Spenden aus dem Westen von unterschiedlichen Gebern: Neben öffentlichen Geldern des Bundes, insbesondere des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft, und einzelner Partnerländer im Westen, flossen auch Gelder und Sachspenden von Privatleuten und aus der Wirtschaft – so stellte die VW-Stiftung 10 Millionen DM für die ostdeutschen Universitätsbibliotheken zur Verfügung. Die Bestände der Berliner Deutschen Staatsbibliothek sind nach wie vor in zwei Häusern untergebracht: Unter den Linden bzw. am Tiergarten. Die Forderung nach einer „Deutschen Nationalbibliothek“, die in einem einzigen Gebäude, beispielsweise auf dem Schlossplatz entstehen könnte, ist immer wieder erhoben worden.116
2.4 Zur Situation der Autorinnen117 und Autoren Angesichts der instabilen Verlagslandschaft insbesondere nach der Einführung der DM am 1. Juli 1990 ist es durchaus verständlich, dass zahlreiche Autorinnen und Autoren ihren angestammten Verlegern den Rücken kehrten und vergleichsweise sichere Verträge mit westdeutschen Verlags-
114 115 116 117
Vgl. [dpa]: Kulturzentrum der DDR in Paris geschlossen. In: SZ v. 24.9.1990. Vgl. dazu Renate Preuß: Aus dem Tagebuch einer Krankenhausbibliothekarin II (6. bis 14. Februar 1990). In: WendeBlätter – werkstatt 1. Sebnitz 1991, S. 32f. Vgl. Johannes Willms: Zur Mitte, bitte! Plädoyer für eine Deutsche Nationalbibliothek in Berlin. In: SZ v. 3.5.2001. Zu den Lebensbedingungen speziell von Schriftstellerinnen nach der ‚Wende‘ vgl. Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück. Hrsg. von Anna Mudry. Frankfurt a.M. 1991 sowie Eva Kaufmann: Adieu Kassandra? Schriftstellerinnen aus der DDR vor, in und nach der Wende: Brigitte Burmeister, Helga Königsdorf, Helga Schütz, Brigitte Struzyk, Rosemarie Zeplin. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31); S. 216-225, S. 222.
2.4 Zur Situation der Autorinnen und Autoren
53
häusern abschlossen. Viele Verlage im Osten sahen sich aus materiellen Gründen zur Kündigung bestehender Verträge gezwungen. Spätestens mit der Vereinigung kam es zu zahlreichen Veränderungen auch in juristischer Hinsicht, die sich direkt auf die Situation der Schriftsteller auswirkten. Im Zuge der Währungsunion wurden 4000 Mark übersteigende Sparbeträge lediglich zum Kurs von 1:2 umgetauscht. Die meist frei schaffenden Schriftsteller dürften davon ungleich härter betroffen gewesen sein, da sie – im Vergleich zu regelmäßig verdienenden Arbeitnehmern – in höherem Maße auf Rücklagen angewiesen sind. Die Situation war für viele Schriftsteller besonders schwierig, weil Renten- und Versicherungsansprüche aus DDR-Zeiten nicht angerechnet wurden, das in der alten Bundesrepublik geltende Künstlersozialversicherungsgesetz für sie aber erst im Januar 1992 in Kraft treten sollte118, während sie seit dem 31. März 1990 keine staatlichen Zuwendungen mehr erhielten.119 Zugleich fielen die früher in größerer Zahl vorhandenen Möglichkeiten weg, durch Lesungen in Bibliotheken und Kulturhäusern zusätzlich Geld zu verdienen. Nicht zuletzt durch drohende Existenzkrisen gerieten zahlreiche Autoren in eine Identitätskrise – eine Situation, die sich direkt auf das Schreiben ausgewirkt haben dürfte und noch auswirkt. So stellt Heinz Czechowski 1992 fest: „Alles hat sich verändert. Das Preisthermometer steigt unaufhörlich. Nur meine Einkünfte haben es aufgegeben, sich anzugleichen.“120 Mit diesen Gefühlen geht eine mangelnde Schreibmotivation einher: Ich kann mir plötzlich keinen Grund mehr vorstellen, der mich zum Schreiben veranlaßt. Ich blicke auf das Manuskript neben mir. Jeder Satz, den ich zufällig lese, scheint mir absurd, beliebig, austauschbar. Ich, ein Verfasser von Gelegenheitstexten. Einer, der nur dann schreiben sollte, wenn er den inneren Auftrag dazu spürt.121
Auch Jurek Becker (1992) sieht in den veränderten Marktbedingungen zentrale „Folgen der Wiedervereinigung für die Literatur“. Sein Blick in die Zukunft fällt düster aus:
118 119 120 121
Vgl. Dunja Welke: Deutsche Einheit: „Aus“ für die DDR-Literatur? Zur Situation der Schriftsteller nach der Wende. In: Der Ginkgobaum 11 (1992); S. 240-251, S. 242. Vgl. Theo Buck: Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller. In: Juni. Magazin für Kultur & Politik 4 (1990) 2-3; S. 121-135, S. 130. Heinz Czechowski: Ständige Vertreibung [1992]. In: H.C.: Nachtspur. Gedichte und Prosa 1987-1992. Zürich 1993; S. 220f., S. 220. Ders.: Schreibtage. 1 Die Klimaverschiebung. Das Ozonloch. Der Treibhauseffekt [April 1990]. In: H.C.: Nachtspur. Gedichte und Prosa 1987-1992. Zürich 1993; S. 188-190, S. 188.
54
2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
Daß DDR-Literatur der westdeutschen immer ähnlicher wird, hat nicht nur seinen Grund in dem, was ich eben erzählt habe, also im Wegfall der Institution ‚Zensor‘, sondern diese Ähnlichkeit wird auch erzwungen werden. Wissen Sie, von wem? Vom Markt. Auf die armen DDR-Autoren, die bis jetzt von ihren Einkünften in der DDR gelebt haben, also von hochsubventionierten Büchern, von Papierkontingenten, auf die wartet ja ein furchtbarer Schock. Sie werden es lernen müssen, sich unter Hyänen zu behaupten, auf dem sogenannten ‚freien Markt‘ zu behaupten; das heißt, ihre Bücher werden den Erfordernissen dieses Marktes, den Regeln dieses Marktes entsprechen müssen, oder sie werden untergehen. […] Und in der DDR werden die alten Verlage aufhören zu existieren, und es wird bald in der DDR nur noch solche Verlage geben, die so sind wie die westdeutschen Verlage. Und wenn sie nicht so sind, werden sie verschwinden.122
Am 24. und 25. April 1991 fand am Rande der Leipziger Buchmesse ein Symposion der Deutschen Literaturkonferenz statt zum Thema Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Bereits an der Tatsache, dass sich eine zweitägige Veranstaltung ausschließlich diesen Fragen widmete, ist der hohe Stellenwert der Problematik abzulesen. In der Einleitung zum Protokoll heißt es: Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller in den neuen Bundesländern ist besorgniserregend, und die Existenzbedingungen der Literatur sind nachhaltig bedroht. So ungesichert die zur Zeit diskutierten Zahlen und Fakten sind, so unzweifelhaft erscheint es, daß viele Autoren kaum Arbeitsmöglichkeiten haben und daß deshalb möglichst schnell Maßnahmen getroffen werden müssen, um ihnen Perspektiven für ihre persönliche Zukunft und ihren sozialen Status aufzuzeigen. […] Sinn der Tagung war es, bei den Verlagen und den Rundfunkanstalten sowie bei den Kulturinstitutionen und den zuständigen staatlichen und kommunalen Stellen Verständnis für die besondere Situation der Autoren zu wecken, Anregungen für ihre Integration in das literarische Leben des vereinigten Deutschland zu vermitteln und Anstöße für rasche Hilfsmaßnahmen zu geben.123
122 123
Jurek Becker in: Literarische Porträts: Jurek Becker. Begleitheft zum Videofilm. München 1992, S. 8. Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra), S. 142; Text im Original kursiv.
2.4 Zur Situation der Autorinnen und Autoren
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Die thematische Breite der Beiträge ist entsprechend groß; sie reicht von der reinen Zustandsbeschreibung bin zum pragmatisch orientierten Vortrag mit konkreten Erläuterungen etwa zu Förderungsmöglichkeiten.124 Rainer Kirsch (*1934) blickt in seinem Vortrag zunächst zurück auf die Situation der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der DDR: Mit einiger Generalisierung läßt sich sagen, ein Schriftsteller in der DDR war ein ernstgenommener Mensch. Gedruckt oder nicht gedruckt, gelobt oder getadelt, vielerwähnt oder in Zeitungen und Medien überhaupt nicht vorkommend, wurde und wußte er sich doch ernstgenommen, das heißt, er empfand sich als wichtig im Gemeinwesen und hatte ein entsprechendes Selbstbewußtsein. (Selbstbewußtsein, erinnere ich, ist der Kunst-Produktion förderlich, wenn nicht für sie unabdingbar; ohne Wette aufs Publikum, d.i. auch auf die Nachwelt, nimmt kaum jemand die Mühen und Risiken eines künstlerischen Berufs auf sich.) Ähnlich generalisierend läßt sich sagen, ein Schriftsteller in der DDR konnte sich – Begabung und Fleiß vorausgesetzt und die Schwierigkeiten mit der Zensur berücksichtigt – von den Erträgnissen seiner Arbeit in aller Regel ernähren, teils ordentlich, teils recht und schlecht, aber doch. Ein mittleres Schriftsteller-Einkommen dürfte zwischen dem eines Oberstufenlehrers und dem eines Universitätsprofessors gelegen haben; bei den niedrigen Grundkosten für Miete und Nahrungsmittel ließ sich schon von 800 oder 1000 Mark im Monat leben. (Ich rede hier von den Freiberuflichen. Von den 1000 Mitgliedern des DDR-Schriftstellerverbandes waren im Juli 1990 25 Prozent berufstätig, hatten also irgendeine Anstellung, 30 Prozent waren Rentner; zu den verbleibenden 450 Freiberuflichen zählten 250 literarische Übersetzer.) „Von den Erträgnissen sich ernähren“ soll hier heißen: ohne Stipendien und andere Zuwendungen, die zwar vorkamen, auch gelegentlich rettend gewesen sein mögen, mit denen sich aber nie fest rechnen ließ. Ich habe Statistiken studiert 124
Vgl. Ferdinand Melichar: Die Bedeutung der Verwertungsgesellschaft Wort für die Schriftsteller in den neuen Bundesländern. In: Ebd., S. 170-176; praktische Informationen zur Künstlersozialversicherung bzw. -sozialkasse finden sich bei Siegfried Heise: Die soziale Situation der Schriftsteller in den neuen Bundesländern – eine Zustandsbeschreibung. In: Ebd., S. 176-187; über Literaturförderung informieren auch Hans Altenhein: Literaturförderung. In: Ebd., S. 228-230, Dietger Pforte: Zur Literatur- und Autorenförderung in den Bundesländern. In: Ebd., S. 231-236, und Hartmut Vogel: Was der Bund für die Literatur tut. In: Ebd., S. 237-240. Informationen zur aus dem ehemaligen Kulturfonds hervorgegangenen Stiftung Kulturfonds gibt Wolfgang Patig: Eine Stiftung für die neuen Länder. In: Ebd., S. 225-228. Die Stiftung wurde am 24.9.1990 als Stiftung öffentlichen Rechts gegründet und arbeitet eng mit der Kulturstiftung der Länder, dem Deutschen Literaturfonds e.V., dem Kunstfonds e.V., dem Musikrat e.V., dem Fonds Darstellende Künste e.V., dem Fonds Soziokultur e.V. und mit der Künstlersozialkasse zusammen. Das Stiftungskapital beträgt 92 Mio. DM, daneben besitzt die Stiftung Immobilien, in erster Linie Künstlerheime wie Schloss Wiepersdorf (vgl. dazu Schloß Wiepersdorf. Künstlerhaus in der Mark Brandenburg. Hrsg. von Verena Nolte und Doris Sossenheimer. Göttingen 1997 [Veröffentlichung des Künstlerhauses Schloß Wiepersdorf der Stiftung Kulturfonds]). Eine satirische Auseinandersetzung mit der Stiftung stellt Matthias Biskupeks Roman Schloß Zockendorf. Eine Mordsgeschichte (Leipzig 1998) dar; der Stiftungsname wird hier bezeichnenderweise zu „Stiftung KulturTest e.V.“ abgewandelt. Handlungsort ist das unschwer als Schloß Wiepersdorf zu erkennende „Künstlerhaus Schloß Zockendorf“.
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
und gefunden, daß ein gestandener Schriftsteller im Durchschnitt während zwanzig Berufsjahren auf drei Jahresstipendien von je 9600 Mark kam, also auf drei oder vier Monatsgehälter eines westlichen Feuilletonredakteurs.125
Die am 25. April verabschiedete Schlusserklärung enthält einen Katalog teilweise ausgesprochen konkreter Forderungen: Die Referate und Diskussionen bei diesem Symposion haben gezeigt, daß es vieler Maßnahmen bedarf, um in allen Bundesländern gerechte und gleichwertige Bedingungen für den Schutz und die Entfaltung des literarischen Lebens zu schaffen. Dies gilt vor allem für die Situation in Hörfunk und Fernsehen, in Verlagswesen und Buchhandel, in Presse und in Bibliotheken sowie für die soziale Sicherung der Autoren und Publizisten. Diese Situation ist in den neuen Bundesländern alarmierend. Deswegen fordert die Deutsche Literaturkonferenz vorrangig folgende Maßnahmen: 1. Einrichtung eines Kulturausschusses im Deutschen Bundestag, damit die dem Bund durch den Einigungsvertrag übertragenen kulturpolitischen Aufgaben zur Realisierung der Einheit schnell und verantwortungsbewußt verwirklicht werden. 2. Dem Bibliothekssterben in den neuen Bundesländern durch Bereitstellung entsprechender finanzieller Mittel Einhalt zu gebieten. 3. Wahrung des verfassungsmäßigen Kulturauftrages des öffentlich rechtlichen Rundfunks durch Ausweitung des literarischen Programms, insbesondere die Sicherung und Verbreiterung des „Deutschlandsenders (DS) Kultur“. 4. Finanzielle Unterstützung für die Unterhaltung und Schaffung von Möglichkeiten zu Begegnungen von Autoren untereinander und mit dem Publikum sowie für Verleger zur Präsentation ihrer Bücher in der Öffentlichkeit. 5. Anstrengungen der Kommunen, dem Buchhandel durch verträgliche Mietpreispolitik das Überleben zu ermöglichen. 6. Sofortige Angleichung der Portogebühren für Büchersendungen an die für die alten Bundesländer geltenden Regelungen. Die Deutsche Literaturkonferenz begrüßt die während des Symposions erklärte Absicht des Freistaates Sachsen, das Leipziger Literaturinstitut neu zu gründen.126
125
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Rainer Kirsch: Das Rad der Geschichte. Gesellschaftlicher Status und soziale Situation der Schriftsteller in den neuen Bundesländern. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra); S. 164-170, S. 164f.; Hervorhebung im Original. Schlußerklärung. In: Ebd., S. 240f.; Hervorhebung im Original.
2.5 Uneinig in die Einheit
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2.5 Uneinig in die Einheit: Akademie der Künste, Schriftstellerverband und P.E.N. Nicht nur bei der Vereinigung der beiden Akademien der Künste, sondern auch bei der Zusammenführung der beiden Schrifstellerverbände sowie der beiden seit 1951 existenten deutschen P.E.N.-Zentren spielten Fragen der Vergangenheitsbewältigung, insbesondere im Hinblick auf die Tätigkeit von Mitgliedern für den Staatssicherheitsdienst, eine zentrale Rolle. Am 16. Juli 1990 war Heiner Müller als Nachfolger von Manfred Wekwerth Präsident der Ost-Berliner Akademie der Künste127 geworden; zum 3. Oktober 1990 erfolgte die Umbenennung in Akademie der Künste zu Berlin. Für Müller war klar, dass die beiden Akademien eines Tages vereinigt werden würden, die Ost-Berliner Akademie sollte allerdings nicht einfach in der West-Akademie aufgehen. Müllers „Wunschdatum“ für eine solche Vereinigung war 1994, während der Berliner Senat die Finanzierung bereits zum 31. März 1992 einstellen wollte – eine Frist, die später bis zum 30. Juni 1992 verlängert wurde.128 Am 11. Oktober 1991 unterbreitete Heiner Müller einen Kompromissvorschlag129, in dessen Folge es am 9. Dezember 1991 zu einer so genannten „Umbildungswahl“ kam. Deren Ziel war es, die Mitgliedschaft in der Akademie auf eine strikt demokratische Prozedur zu stützen, ihr Ergebnis war die Verminderung einer Mitgliederzahl, deren Höhe (etwa hundertzwanzig) im Hinblick auf eine Vereinigung mit der West-Akademie mit ihren 270 in- und ausländischen Mitgliedern auf starke Vorbehalte gestoßen war. Bei dieser Reduktionswahl hatten sich die Mitglieder der DDR-Akademie (sie waren bis 1989 sowohl gewählt wie regierungsbestätigt) zu Wahlmännern einer neuen Mitgliedschaft ernannt, die aus der alten nach dem Kriterium hervorgehen sollte, daß jedes neue Mitglied mehr als die Hälfte der Stimmen der anwesenden alten Mitglieder erhalten müsse; wer sich der Wahl versagte, war automatisch nicht mehr Mitglied.130
Die Folge dieser Umbildungswahl war eine Reduzierung der Mitgliederzahl von 122 auf 69, also um beinahe 50%; nach einigen Austritten und Todesfällen blieben schließlich 62 Mitglieder, von denen 21 gleichzeitig 127
128 129 130
Vgl. überblicksartig Friedrich Dieckmann: Divan mit Sprungfedern – Aspekte der Berliner Akademie-Vereinigung. In: Marion Dönhoff / Peter Bender / Friedrich Dieckmann / Adam Michnik / Friedrich Schorlemmer / Richard Schröder / Uwe Wesel: Ein Manifest II. Weil das Land Versöhnung braucht. Reinbek 1993, S. 103-120. Vgl. Jan-Christoph Hauschild: Bericht für eine Akademie. In: J.-C.H.: Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel. Eine Biographie. Berlin 2001; S. 452-455, S. 452. Vgl. dazu Ebd., S. 454. Friedrich Dieckmann: Divan mit Sprungfedern – Aspekte der Berliner Akademie-Vereinigung. In: Marion Dönhoff / Peter Bender / Friedrich Dieckmann / Adam Michnik / Friedrich Schorlemmer / Richard Schröder / Uwe Wesel: Ein Manifest II. Weil das Land Versöhnung braucht. Reinbek 1993; S. 103-120, S. 108.
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Mitglieder der West-Akademie waren. Dennoch war keine schlichte Fusion möglich, denn Walter Jens, der Präsident der West-Akademie, verlangte die Hinzuwahl jedes einzelnen Mitglieds in selbige, vor allem, um Hermann Kant und Manfred Wekwerth, die weiterhin Mitglieder geblieben waren, nicht aufnehmen zu müssen. Nach diesem Procedere blieben, abgesehen von den Doppelmitgliedern, nur noch 30 der ‚alten‘ zuzüglich rund 20 neu hinzugewählter Mitglieder der Ost-Akademie. Jens vollzog „eine Kehrtwendung um 180 Grad“ und „warb jetzt, Warnungen von Günter Kunert und anderen Dissidenten zum Trotz, für eine Kollektivaufnahme der neugewählten 50 Mitglieder in die West-Akademie – hauptsächlich mit der Begründung, es gelte das großartige Archiv und wenigstens einige Arbeitsplätze von Akademiemitarbeitern aus dem Osten zu retten.“131 Der Wahlvorgang der am 2. Februar 1992 erfolgten en bloc-Aufnahme „war ein mehrfacher Verstoß gegen die Satzung der Akademie West, die die Einzelaufnahme von Mitgliedern in geheimer Wahl vorsah.“132 Unter Protest verließen deshalb Günter Kunert, Reiner Kunze, Peter Demetz und 23 weitere Künstler die Akademie. Reiner Kunze begründete seinen Schritt in einem Interview: Wenn man einen Autor wie Sascha Anderson, für den ich nichts Entschuldigendes vorzubringen habe – seine Verlogenheit ist erbärmlich –, zur Rechenschaft zieht, weil er Stasi-Täter war, dann darf man nicht jene en bloc, also unbesehen, in eine freie Akademie aufnehmen, die ihr Leben lang privilegiert den Staat international aufgewertet haben, zu dessen Wesen es gehörte, Wesen wie Sascha Anderson hervorzubringen. Das ist nicht gerecht.133
Die erfolgte Literarisierung der Kontroverse mag das Ausmaß der Differenzen belegen. So heißt es bei Gerhard Zwerenz (1995): Endlich lehnte er [Herr Z., eine Zwerenz nahe stehende Kunstfigur; F.Th.G.] es ab, zu wissen, ob die Akademie noch bestehe und aus welchen Mitgliedern und aus welchen nicht. Ein Trauerspiel aus unendlich vielen Akten ist mein Fall nicht, sagte er. Einen Moment erwog er noch, eine Komödie darüber zu schreiben. Was er indessen schnell unterließ. Der Komödie muß irgendeine kleine, witzige Weltläufigkeit einwohnen. Ist das nicht der Fall, reicht es selbst zur Farce nicht.134 131 132 133
134
Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 452. Ebd. [Interview mit Angelika Diekmann]: „Die Akademie war das Netz …“ Gespräch mit Reiner Kunze zum Austritt aus der Akademie der Künste – Stellungnahme von Walter Jens. In: Passauer Neue Presse v. 12.2.1992. Gerhard Zwerenz: 107. In: G.Z.: Die Antworten des Herrn Z. oder Vorsicht, nur für Intellektuelle. Mit einer Dokumentation: „Freunde und Feinde über Zwerenz“. Querfurt 1997; S. 62f., S. 62f.
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1993 erfolgte nach Abschluss eines Staatsvertrages die Neugründung der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg – einer nunmehr für beide Länder zuständigen Einrichtung. Die Archive, Sammlungen und Nachlässe aus dem Besitz der beiden Berliner Akademien wurden in Form einer Stiftung unter einem Dach vereinigt.135 Die Aufsicht wechselt alle drei Jahre zwischen beiden Ländern; Präsident von 1997-2003 war der ungarische Autor György Konrád (*1933); sein Nachfolger ist der Schweizer Adolf Muschg (*1934). Trotz der nunmehr erfolgten Klärung dürfte das Ansehen der Akademie durch die Umstände der Vereinigung Schaden genommen haben. Von der Vereinigung betroffen war auch die von der Ost-Akademie herausgegebene Zeitschrift Sinn und Form. Nach langwierigen Verhandlungen und der Gründung einer „Gesellschaft für Sinn und Form“ wurden Name wie Redaktion übernommen und Autoren aus dem Westen gewonnen.136 Nach der Währungsunion, ab Heft Nr. 5 / 1990, betrug der Preis einheitlich 9,50 DM – mit der Folge, dass die Verkaufszahlen in der DDR drastisch sanken und der Verkauf in den Staaten des ehemaligen Ostblocks zusammenbrach: Wurden Mitte der achtziger Jahre 8000 Exemplare einer Nummer verkauft, waren es 1993 noch 3500.137 Seit 1994 erscheint Sinn und Form bei Aufbau, Nachfolger von Max Walter Schulz, dem Chefredakteur von 1983 bis 1990, wurde 1991 Sebastian Kleinschmidt.138 Im Hinblick auf die Vereinigung der beiden Schriftstellerverbände äußerte 1990 Uwe Friesel, der damalige Vorsitzende des (westdeutschen) Verbands deutscher Schriftsteller (VS): Wir wollen die Schriftstellerorganisation aus der ehemaligen DDR nicht einfach schlucken. Sie will ihre Existenz bis Jahresende einstellen und den Mitgliedern empfehlen, in unseren Verband und damit der IG Medien beizutreten. Die Gewerkschaft kann für sie einiges in Sachen Rechtsschutz, Künstlersozialgesetz und Urheberrecht tun. Zunächst denken wir an eine Gründung von Ortsverbänden des VS im östlichen Teil, dann an Strukturen ähnlich den ehemaligen Bezirke [sic]. Im Mai will der VS zu einem gemeinsamen Kongreß einladen. Vielleicht mit konkretem Thema.139 135 136
137 138 139
Seit Januar 2001 werden im Archiv der Akademie auch die Archivalien des P.E.N.-Zentrums der DDR aufbewahrt. Vgl. Stephen Parker: Re-establishing an all-German identity. Sinn und Form and German unification. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 14-27, S. 14f.; Hervorhebungen im Original. Vgl. Ebd. Zu Sinn und Form vgl. auch Stimme und Spiegel. Fünf Jahrzehnte Sinn und Form. Eine Auswahl. Hrsg. von Sebastian Kleinschmidt. Berlin 1998. Uwe Friesel in Thüringer Landeszeitung (treff) v. 27.10.1990, S. 2; zit. nach Reinhard Andress: DDR-Schriftsteller und die Herbst-Ereignisse 1989 in der DDR. In: Schatzkammer der deutschen Sprachlehre, Dichtung und Geschichte 17 (1991) 1; S. 26-45, S. 45.
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Vor dieser dann auch vollzogenen Vereinigung standen allerdings zahlreiche nicht nur interne Auseinandersetzungen. Am 21. Dezember 1989 trat Hermann Kant als Vorsitzender zurück.140 Auf einem „Außerordentlichen Schriftstellerkongreß“, der vom 1. bis 3. März 1990 stattfand, leitete der Verband seine Neuformierung ein.141 Markiert wurde dieser Vorgang vor allem durch die Wahl Rainer Kirschs zum neuen Verbandsvorsitzenden und die Ausarbeitung einer neuen Satzung142: Einerseits sollte der Verband nun stärker eine Interessenvertretung der Schriftstellerinnen und Schriftsteller sein, zugleich aber als „Ort literarischen Gedankenaustauschs“ erhalten bleiben. Daneben wurde eine Kommission eingesetzt, deren Ziel die Aufarbeitung der Verbandsgeschichte war. Der umfangreiche Mitarbeiterstab sollte abgebaut und damit zugleich die Eigenfinanzierung betrieben werden. Die Bezirksverbände lösten sich nach und nach auf, Landesverbände wurden gegründet. Dirk von Kügelgen (1990) zufolge habe der Verband das Vertrauen der Mitglieder wahren können. Ein Beleg dafür ist, daß nur wenige Autoren den Verband verlassen haben, daß weit mehr neu hinzugekommen sind […]. Über 1100 deutsch- und sorbischsprachige Schriftsteller und Übersetzer, Lyriker, Essayisten und Herausgeber, Film- und Theaterautoren sind inzwischen im Schriftstellerverband vereint.143
Ursprünglich hatte man an eine längerfristige Vereinigung des ostdeutschen Schriftstellerverbandes mit dem westdeutschen VS gedacht144, doch es kam anders – eine Entwicklung, die von Kügelgen zutiefst bedauert: Uns wurde keine Zeit gelassen. Der Schriftstellerverband sollte im vereinten Deutschland keine Chance bekommen, sich als eigenständiger Interessenvertreter von Autoren einzubringen – nur so ist zu verstehen, daß von der Regierung selbst eine befristete Übergangsfinanzierung zwar zugesagt, dann aber verweigert wurde, ohne auch nur die Konzeption des Verbandes für sein Weiterbestehen im geeinten Deutschland zur Kenntnis zu nehmen. Dem Verband wurde seine Erneuerung nicht gestattet, das war eine politische Entscheidung.145
140 141
142 143 144 145
Vgl. dazu [dpa]: DDR-Autoren-Verband: Kant zurückgetreten. In: Saarbrücker Zeitung v. 22.12.1989. Vgl. dazu: Theo Buck: Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller. In: Juni. Magazin für Kultur & Politik 4 (1990) 2-3; S. 121-135, S. 133. Den ohne Präsidium stattfindenden Schriftstellerkongress eröffnete Volker Braun; vgl. Die Vernunft ermutigen, in der Dimension der Welt zu denken. Eröffnungsworte VOLKER BRAUNS an den DDR-Schriftstellerkongreß. In: BZ v. 2.3.1990. Vgl. dazu Dirk von Kügelgen: Aus und weiter. Die Situation des Schriftsteller-Verbandes der ehemaligen DDR. In: Der Literat (1990) 11; S. 309-311, S. 309. Ebd., S. 310. Vgl. Ebd. Ebd.
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Am 12. Juli 1990 beriet der Vorstand über die Situation. Die Ergebnisse der Sitzung fasste Rainer Kirsch in einem Brief an die Mitglieder zusammen: Und daß ein Berufsstand mit einmaligen geschichtlichen Erfahrungen und etlicher professioneller Kapazität seine Interessenvertretung verliert, wird allenfalls bedauernd zur Kenntnis genommen. Was ist zu tun und zu bedenken? Ich meine, auch namens des Vorstandes: 1. Der Schriftstellerverband der DDR muß auch über den Jahreswechsel hinaus rechtsfähig gehalten werden, sollte sich also zunächst nicht auflösen. 2. Im bald einheitlichen Deutschland ist eine mitgliederstarke Autoren-Organisation durchsetzungsfähiger als mehrere zersplitterte; dies gilt insbesondere für anstehende urheberrechtliche, Versicherungs- und Steuerfragen und angesichts der Schwierigkeit, für hiesige Autoren annähernd gleiche Markt-Chancen zu erreichen. 3. Ein en-bloc-Beitritt des Verbandes zum VS in der Gewerkschaft Medien ist weder satzungsgemäß möglich noch politisch wünschenswert. Vielmehr sollte jede und jeder von uns überlegen, ob sie bzw. er dem VS beitreten will … Entschließen sich genügend Kollegen zu diesem Schritt, blieben also unsere Landesverbände vorerst bestehen und aus ihnen könnten zu einem Stichtag – etwa zum 1. Januar 1991 – Landesgruppen des VS hervorgehen.146
Das bevorstehende Ende des Schriftstellerverbandes sieht er äußerst kritisch, insbesondere im Hinblick auf den Ruf des westdeutschen VS: Ich will nicht verschweigen, daß der VS drüben keine sonderlich gute Presse hat und wichtige Autoren ihm nicht angehören; wir, milde gesagt, haben auch keine gute Presse. Der Zeitgeist … will uns vom Tisch; die Frage ist, wie schwer unsere Ärsche wiegen. Was, schließlich, wollen wir anders, als normale Schriftsteller in einem normalen Land zu sein? Und arbeiten dürfen, unter Benutzung unseres Kopfes. Gleichwohl mag die oder jene, der oder jener meinen, künftig allein, ohne Verband, besser zurechtzukommen – das zu überlegen ist ja jetzt Zeit. Wünschen freilich würde ich mir Solidarität […].147
Ende 1990 löste sich der Schriftstellerverband schließlich auf, zumal er keine Subventionen mehr erhielt. Damit blieb den Autorinnen und Autoren nur noch, in den westdeutschen VS einzutreten oder dies eben sein zu lassen. Im VS diskutierte man nun, ob sämtliche früheren Mitglieder des Schriftstellerverbandes aufgenommen werden sollten, die dies beantragten. Der Vorstand erarbeitete eine interne Liste mit 21 Namen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die nicht erwünscht seien. Diese Liste, auf der neben Hermann Kant auch Dieter Noll und Gisela Steineckert standen, 146 147
Zit. nach Ebd.; Hervorhebung im Original. Zit. nach Ebd., S. 311.
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veröffentlichte das Neue Deutschland im März 1991 – ein Vorgang, der naturgemäß für Aufregung sorgte. Allerdings hielt der (West-)Berliner Verband sich später nicht an diese Vorgaben.148 Am 27. / 28. April 1991 fand in Lübeck-Travemünde der erste Schriftstellerkongress des vereinten VS statt. Im April 1994 wurde in Aachen mit Erich Loest ein in mehrerlei Hinsicht ‚gesamtdeutscher‘ Schriftsteller zum Bundesvorsitzenden des Verbandes gewählt. Zum Vermögen des Schriftstellerverbandes149 gehörten diverse Einrichtungen: Das Schriftstellerheim Friedrich Wolf in Petzow wurde von der Stiftung Kulturfonds weitergeführt, die Zeitschrift ndl ab Januar 1991 vom Aufbau-Verlag herausgegeben, das Archiv des Verbandes vom Archiv der Akademie der Künste übernommen. Die verbandseigene Bibliothek wurde aufgelöst, die wenigen verbliebenen Mitarbeiter entließ man. Am langwierigsten gestaltete sich die Vereinigung der beiden seit 1951 in das westdeutsche P.E.N.-Zentrum mit Sitz in Darmstadt und das P.E.N.Zentrum der DDR mit Sitz in Berlin gespaltenen deutschen P.E.N.-Zentren150, die vor der ‚Wende‘ kaum miteinander korrespondierten.151 Zudem war der DDR-P.E.N., Hans Joachim Schädlich (1995) zufolge, seinem Wesen nach kein nationales Zentrum des internationalen P.E.N., sondern eine staatliche Organisation der DDR. Diese Organisation wurde aus Mitteln des DDR-Staatshaushalts finanziert und von der internen SED-Parteigruppe gelenkt. Die Charta des Internationalen P.E.N. wurde den Mitgliedern dieser Organisation vorenthalten; sie sollten und konnten sich nicht unterschriftlich zu den Zielen der P.E.N.-Charta bekennen, so daß sie gar keine Mitglieder des P.E.N. waren. Die staatliche Organisation namens DDR-P.E.N. ist vor allem durch die permanente Verletzung der Prinzipien des Internationalen P.E.N. bekannt geworden; sie hat den Namen P.E.N. gröblich mißbraucht und stellte nichts anderes als ein kulturpolitisches Instrument der DDR-Diktatur dar.152 148 149
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Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 450. Die Untersuchungen um die tatsächliche Vermögenshöhe des Schriftstellerverbandes gestalteten sich als aufwändig. Eine satirische Verarbeitung dieser Vorgänge findet sich bei Renate Holland-Moritz: Wohin flossen die Millionen? Die geheimen Reichtümer des Schriftstellerverbandes [1990]. In: R.H.-M.: Ossis, rettet die Bundesrepublik! Mit Illustrationen von Manfred Bofinger. Berlin 1993, S. 91-94. Vgl. zur Geschichte der beiden deutschen P.E.N.-Zentren: Friedrich Dieckmann: Deutsche PEN-Geschichten. Eine Akten-Lese. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13-14 / 96 v. 22.3.1996, S. 42-54; zur Diskussion um die Vereinigung beider Zentren vgl. auch Helga Schubert: Die Gute-Menschen-Falle. Helga Schubert warnt vor einer En-Bloc-Übernahme des Ost-PEN. In: Der Tagesspiegel v. 28.1.1995. Vgl. Dorothea von Törne: Vereinigung nach langer ideologischer Trennung. Schmerzhafter Prozess der Zusammenführung der deutschen PEN-Clubs. In: Das Parlament v. 8.-15.9.2000. Hans Joachim Schädlich: [o.T.]. [Berlin, 7.1.1995]. In: PEN-Stimmen. In: europäische ideen (1995) 94 (Deutschland 1945 / PEN-Stimmen); S. 37-73; S. 40-41, S. 41.
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Zu den Wendeereignissen äußerte der DDR-P.E.N. sich erst relativ spät. Am 22. September verabschiedete das Präsidium des P.E.N.-Zentrums der DDR153 eine verhalten kritische Erklärung zum 40. Jahrestag der DDR: An den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Genossen Erich Honecker Die Richtlinien des internationalen P.E.N. verlangen von uns, die Friedenspflicht der Staaten anzumahnen, sich gegen rassistische Vorurteile zu wenden, nationalen Größenwahn zurückzuweisen und die Freiheit des Wortes zu verteidigen. Wir haben die Deutsche Demokratische Republik immer als einen Ort angesehen, an dem sich unsere Grundsätze verwirklichen lassen. Das Präsidium des P.E.N.-Zentrums DDR Günther Cwojdrak, Günther Deicke, Friedrich Dieckmann, Fritz Rudolf Fries, Stephan Hermlin, Prof. Dr. Heinz Kamnitzer (Präsident), Walter Kaufmann (Generalsekretär), Rainer Kerndl, Helga Königsdorf, Werner Liersch, Prof. Dr. Dr. h.c. Rita Schober, Jean Villain154
Am 26. Oktober 1989 richteten einige Mitglieder des Ost-P.E.N. eine Erklärung an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Egon Krenz.155 Der damalige Präsident, Heinz Kamnitzer, distanzierte sich öffentlich davon und erklärte noch im selben Monat seinen Rücktritt.156 Sein Nachfolger wurde Heinz Knobloch, der sich allerdings nicht lange im Amt halten konnte und dem schließlich der Literaturwissenschaftler und Essayist Dieter Schlenstedt folgte.157 In den ersten Nachwende-Jahren hatte der Ost-P.E.N., der sich nun wieder Deutsches P.E.N.-Zentrum (Ost) nannte, durchaus zu einer angemessenen Form der Vergangenheitsbearbeitung gefunden, bei der es zudem nicht nur um das eigene Selbstverständnis ging, sondern um das literarische Leben in der DDR und unmittelbar nach der ‚Wende‘ überhaupt: 1992 fanden in der Pankower literaturWERKstatt vier in der Mehrzahl 153 154 155
156 157
Das Deutsche P.E.N.-Zentrum Ost hatte sich 1967 in P.E.N.-Zentrum der DDR umbenannt. Erklärung des Präsidiums des P.E.N.-Zentrums DDR zum 40. Jahrestag der DDR (22.9.1989). In: ndl 38 (1990) 1, S. 161 [zuerst in: ND v. 22.9.1989]. Vgl. [(ADN)]: P.E.N.-Präsident stellt seine Tätigkeit ein. Auseinandersetzung um Erklärung von Präsidiumsmitgliedern des P.E.N.-Zentrums DDR an Egon Krenz. In: ND v. 28. / 29.10.1989. Vgl. Ebd. Vgl. Dorothea von Törne: Vereinigung nach langer ideologischer Trennung. Schmerzhafter Prozess der Zusammenführung der deutschen PEN-Clubs. In: Das Parlament v. 8.-15.9.2000.
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von Dieter Schlenstedt moderierte Gespräche zur Selbstaufklärung statt. Die unter den Überschriften Dageblieben – Weggegangen, Hermann Kant – Friedrich Schorlemmer158, Autor, Verleger, Zensor, Kritiker sowie Widerspruchsgeschichte des P.E.N.159 stehenden öffentlichen Diskussionsabende hatten folgendes Ziel: Unter jeweils bestimmten Themen sollten Erinnerungen und Einsichten in die Geschichte ausgetauscht werden, es galt die Hoffnung, durch Rede und Gegenrede die kritische Selbsterkenntnis der Beteiligten zu fördern, bereichernde Differenzen und notwendige Grenzziehungen zu verdeutlichen, Anregungen für die Arbeit in der Gegenwart zu vermitteln.160
Diese Bestrebungen wurden von vielen, insbesondere auf westdeutscher Seite, als nicht ausreichend betrachtet, denn, so Hans Joachim Schädlich (1995): Die Umbenennung des DDR-PEN, der Austritt einiger besonders belasteter Funktionäre (u.a. des Regierungsverantwortlichen für die Zensur) und die Aufnahme unbelasteter Schriftsteller können die Geschichte dieser Organisation nicht löschen. Sie wird vielmehr drastisch vor Augen geführt in Gestalt von SED-Literaturfunktionären, Stasi-Spitzeln und früheren Führungs-Figuren, die der Gruppe noch immer angehören. Die Vereinigung des DDR-PEN mit dem PEN-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland wäre ein Akt zynischer Verhöhnung aller PEN-Mitglieder, die sich in Wort und Tat für die Ziele der PEN-Charta eingesetzt haben und einsetzen.161
1992 fand in Berlin eine erste gemeinsame Tagung beider Präsidien statt, auf der keine Einigung erzielt werden konnte. Nachdem der Ost-P.E.N. 1994 in finanzielle Schwierigkeiten geriet, bemühte man sich von westdeutscher Seite, unter der Präsidentschaft von Gert Heidenreich, eine Vereinigung zu vollziehen. Zahlreiche Proteste, insbesondere von aus der DDR vertriebenen Schriftstellern, waren die Folge dieser Anstrengungen. Schließlich wollte man nicht mit den früheren Tätern vereint werden. Die nächste Etappe
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Hintergrund des Gesprächs stellte Friedrich Schorlemmers Forderung dar, Hermann Kant neben Honecker und Mielke vor ein Tribunal zur Bewältigung der DDR-Geschichte zu stellen. Kant war daraufhin aus dem P.E.N. ausgetreten, nach eigenen Angaben um die Situation zu entkrampfen (vgl. Gespräche zur Selbstaufklärung ’92. Dokumentation nach Tonbandkassetten. Als Manuskript vervielfältigt vom Deutschen P.E.N.-Zentrum (Ost). Berlin 1993, S. 59f. Vgl. Gespräche zur Selbstaufklärung ’92. Dokumentation nach Tonbandkassetten. Als Manuskript verfielfältigt vom Deutschen P.E.N.-Zentrum (Ost). Berlin 1993, S. 5. Dieter Schlenstedt: Vorbemerkung. In: Ebd., S. 7. Hans Joachim Schädlich: [o.T.]. (Berlin, 7.1.1995). In: europäische ideen (1995) 94 (Deutschland 1945 / PEN-Stimmen); S. 40f., S. 41.
2.5 Uneinig in die Einheit
65
der Auseinandersetzung wurde mit dem so genannten „Mainzer Beschluss“ vom Mai 1995 eingeläutet, denn auf Grund zahlreicher Proteste scheiterte bereits der Versuch einer Abstimmung über eine Vereinigung beider P.E.N.Zentren. Ingrid Bacher, die neue westdeutsche Präsidentin, „pochte darauf, dass sich die PEN-Brüder Ost unzweideutig und konsequent von der Altlast Staatsverstrickung distanzieren müssten, bevor an Gemeinsamkeiten auch nur gedacht werden könne. Sie läutete die ‚Pausen‘-Runde ein“162 und bereitete „den dahindümpelnden Annäherungsversuchen ein Ende“163: Man beschloss, „bis auf weiteres keine neuen Vereinigungsverhandlungen auf Präsidiumsebene zu führen, was den Ost-Generalsekretär Laabs zu den Kommentaren ‚Rückfall in den kalten Krieg‘ und ‚Hallstein-Doktrin auf dem Gebiet der Literatur‘ veranlaßte.“164 Es folgte eine Flut von Mitgliederbewegungen zwischen Ost und West. Jürgen Fuchs, Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Hans Joachim Schädlich und andere verließen den westdeutschen P.E.N. Günter Grass dagegen trat im Sommer 1995 aus Solidarität auch in den Ost-P.E.N. ein, wobei er betonte: „Ich werde dem West-PEN nicht mehr angehören können, wenn er den Ost-PEN weiterhin vor der Tür lässt.“165 Seinem Beispiel folgten knapp 80 Mitglieder des westdeutschen P.E.N., darunter die Gräfin Dönhoff, Walter Jens, Klaus Staeck und Peter Rühmkorf. Sie wurden fortan als Doppelmitglieder geführt. Einige Mitglieder kehrten beiden P.E.N.-Zentren den Rücken: So trat Jürgen Fuchs 1995 in das P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland (Centre of Germanspeaking Writers Abroad) mit Sitz in London ein, dem 1934 von Exil-Schriftstellern gegründeten ‚Exil-P.E.N.‘.166 Eine vermittelnde Position nahm Joochen Laabs ein, der sich gegen eine Gleichsetzung des Ost-P.E.N. mit dem DDR-P.E.N. wendete, die bereits aus statistischen Gründen nicht gerechtfertigt sei, denn [v]on den jetzigen 144 Mitgliedern des Ost-PEN sind 73 seit 1990 hinzugekommen. Andererseits hat eine Reihe Mitglieder den PEN verlassen, die zu Zeiten der DDR
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Dorothea von Törne: Vereinigung nach langer ideologischer Trennung. Schmerzhafter Prozess der Zusammenführung der deutschen PEN-Clubs. In: Das Parlament v. 8.15.9.2000. Ebd. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 455. Zit. nach Rüdiger Thomas: „Sich ein Bild machen“. Auf der Suche nach einer gemeinsamen Kultur. In: Wolfgang Thierse / Ilse Spittmann-Rühle / Johannes L. Kuppe (Hgg.): Zehn Jahre Deutsche Einheit. Eine Bilanz. Opladen 2000; S. 247-272, S. 265; im Original kursiv. Vgl. Dietger Pforte: Unvereint – vereint. Literarisches Leben in Deutschland. In: ndl 44 (1996) 1; S. 182-209, S. 190 (ndl-extra).
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2 „Ein Buch vom Müll“ – Veränderungen im Literaturbetrieb
dazu keine Veranlassung gehabt hätten. Im gegenwärtigen Präsidium bin ich der einzige, der überhaupt schon Mitglied des DDR-PEN war.167
Im Westen war Karl-Otto Conrady mittlerweile Nachfolger Ingrid Bachers geworden und versuchte einen neuerlichen Kurs der Wiederannäherung, zumal die Londoner Zentrale des P.E.N. gemahnt hatte, endlich zu einer Einigung zu kommen. Auf ostdeutscher Seite stimmte man – inzwischen unter der Präsidentschaft von B.K. Tragelehn – am 4. April 1998 auf der Jahrestagung in Berlin mit 60 von 62 Stimmen für den so genannten „Verschmelzungsvertrag“ mit dem westdeutschen P.E.N.168 Nach wie vor belasteten den Verband die möglichen Stasi-Verstrickungen vor allem von Hans Marquardt, des ehemaligen Leiters von Reclam (Leipzig), und des Schrifststellers Erich Köhler, der in den siebziger Jahren als IM „Heinrich“ Klaus Schlesinger bespitzelt haben soll.169 Diese und weitere Fälle wollte man mittels eines „Ehrenrates“ klären. Auf westdeutscher Seite wurde der Weg für eine Vereinigung schließlich am 15. Mai frei gemacht: 97 von 103 Mitgliedern des West-P.E.N.s stimmten für den Zusammenschluss. Doch erst am 30. Oktober 1998 konnte die Vereinigung auch juristisch besiegelt werden. Zum ersten Präsidenten des wieder vereinigten P.E.N. wurde mit großer Mehrheit Christoph Hein gewählt, dem es zumindest teilweise gelang, ausgetretene Mitglieder zurückzuholen. Er wurde im Frühjahr 2000 durch den 1947 in Teheran geborenen Schriftsteller SAID abgelöst. Angesichts der jahrelangen Selbstbespiegelungen im Zuge des Einigungsprozesses war die Wahl von SAID, der weder Ost- noch Westdeutscher ist und bereits auf Grund seiner Herkunft eine stärkere Außenperspektive auf die deutschdeutschen Verhältnisse einnimmt, sicher sinnvoll. Ihm folgte 2002 Johano Strasser. Mit dem Ende der DDR fielen meist auch die entsprechenden Trägerschaften für Gedenkstätten, Archive und Schriftstellerheime weg. Um das entstandene Vakuum auszufüllen, wurden literarische Gesellschaften gegründet, unter anderem die Hans-Fallada-Gesellschaft mit Sitz in Feldberg, die Theodor-Fontane-Gesellschaft mit Sitz in Potsdam, die Anna-SeghersGesellschaft und die Friedrich-Wolf-Gesellschaft, beide mit Sitz in Berlin.
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[Klaus Staeck / Joochen Laabs]: Wie bei den Kaninchenzüchtern? Zwei Stellungnahmen zu den Vereinigungsquerelen in den deutschen PEN-Clubs. In: SZ v. 24.2.1995. Vgl. Birgit Warnhold: Die (Fusions-)Kuh muß vom Eis. Ost-Pen stimmte bei Jahrestagung in Berlin mit klarer Mehrheit für Verschmelzung mit West-Verband. In: LVZ v. 6.4.1998 Vgl. Ebd.
2.5 Uneinig in die Einheit
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Die Fritz-Reuter-Gesellschaft zog von Lübeck nach Neubrandenburg um, die beiden Shakespeare-Gesellschaften vereinigten sich wieder.170 Aus dem Brecht-Zentrum der DDR ging das Literaturforum im BrechtHaus hervor, im Pankower Haus eines nicht-öffentlichen Schriftsteller-Clubs befindet sich nun die literaturWERKstatt berlin, und aus dem Zentrum für Kinderliteratur der DDR wurde LesArt – Berliner Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur. Als Vorbilder für die beiden erstgenannten Häuser fungierten in erster Linie das Literarische Colloquium Berlin (LCB) und das Literaturhaus Berlin im Westteil der Stadt. Das in Leipzig angesiedelte Literaturinstitut „Johannes R. Becher“, die damals einzige institutionalisierte Stätte für eine Autorenausbildung in Deutschland, sollte zunächst ersatzlos geschlossen werden. Nach Verhandlungen mit dem Freistaat Sachsen konnte diese Einrichtung aber unmittelbar nach ihrer Schließung als der Universität angegliedertes Deutsches Literaturinstitut Leipzig neu gegründet werden171; ihr erster Direktor war Bernd Jentzsch. Am DLL arbeiten zahlreiche Gastdozentinnen und -dozenten; das Studium an dieser heute aus dem Literaturbetrieb der Bundesrepublik kaum noch wegzudenkenden Institution ist auf sechs Semester angelegt.
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Vgl. Dietger Pforte: Unvereint – vereint. Literarisches Leben in Deutschland. In: ndl 44 (1996) 1; S. 182-209, S. 201f. (ndl-extra). Vgl. Ebd., S. 203 (ndl-extra); vgl. dazu auch Hans Joachim Meyer: Zur Perspektive des Instituts für Literatur in Leipzig. In: Überlebenschancen? Die berufliche und soziale Situation der Schriftsteller und die Existenzbedingungen der Literatur in den neuen Bundesländern – Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Problems. Symposium der Deutschen Literaturkonferenz. Leipzig, 24. und 25. April 1991. Protokoll. In: ndl 39 (1991) 8; S. 141-241 (ndl-extra), S. 214-219.
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‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘? – Versuch einer Begriffsbestimmung Seit drei Jahren sehe ich in Deutschland die Kritiker mit den Fingern auf den Tisch trommeln: Wo ist der deutsche Einheitsroman? Das kann den armen Hund, der sich hinsetzt vor ein leeres Blatt Papier, schon lähmen. In vielen Schriftstellerzimmern schwebt die Erwartung wie eine fürchterliche giftige Wolke.1 Jurek Becker (1994) Das Aufregendste an der Forderung nach dem deutschen Roman zur deutschen Einheit ist, daß solch eine Forderung überhaupt gestellt wird.2 Friedrich Christian Delius (1994 / 95) Ich hoffe, daß die von der Literaturkritik geschaffene Kategorie des ‚Wende-Romans‘ an Entkräftung bald zugrunde geht und auch mein Buch wieder freiläßt.3 Brigitte Burmeister (1995)
Im Mündlichen wie im Schriftlichen wird mit dem Begriff ‚Wendeliteratur‘ relativ frei umgegangen. Das Kompositum erscheint sowohl in journalistischen als auch in literaturwissenschaftlichen Texten, wird jedoch selten genug problematisiert, geschweige denn definiert. Ein Grund hierfür mag der fehlende historische Abstand sein, ein anderer die Tatsache, dass jeder eine mehr oder weniger klar umrissene Vorstellung vom Inhalt dieses Begriffes haben dürfte, denn oberflächlich betrachtet scheint er sich zunächst selbst zu erklären. Im Falle der ‚Wendeliteratur‘ dürfte eine primär thematische Herangehensweise am sinnvollsten sein. Annäherungen ergeben sich aber häufig auch implizit, etwa aus dem Kanon der in Monografien und Aufsätzen be1
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[Interview mit Martin Doerry und Volker Hage]: „Zurück auf den Teppich!“ Der Schriftsteller Jurek Becker über seine neue Fernsehserie, über deutsche Dichter und die Nation. In: Der Spiegel 48 (1994) 50 v. 12.12.1994; S. 195-200, S. 197. Friedrich Christian Delius: Warum ich ein Einheitsgewinnler bin oder Die neuen alten Erwartungen an die Literatur. In: F.C.D.: Die Verlockungen der Wörter oder Warum ich immer noch kein Zyniker bin. Berlin 1996; S. 58-84, S. 70. [Interview mit Dorothea von Törne]: Haben Sie noch die Mauer im Kopf, Frau Burmeister? In: Der Tagesspiegel v. 9.11.1995.
3 Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
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handelten Primärtexte. Eine andere Form der Kanonisierung auf indirektem Wege vollzieht sich über Schulbücher für den Deutschunterricht im In- und Ausland sowie die dazugehörigen Lehrwerkteile und Unterrichtsmaterialien. Volker Wehdeking (1995) nennt in seinem Buch über die literarische Verarbeitung der ‚Wende‘ vier „Portalromane zur Vereinigungsproblematik“: Martin Walsers Die Verteidigung der Kindheit (1991), Monika Marons Stille Zeile Sechs (1991), Wolfgang Hilbigs „Ich“ (1993) und Brigitte Burmeisters Unter dem Namen Norma (1994).4 Allerdings ist die ‚Wende‘ lediglich in Burmeisters Roman eines der zentralen Themen. In Hilbigs Text wird sie nur angedeutet, die Handlung von Walsers Roman endet bereits 1987, und Marons Buch spielt Mitte der achtziger Jahre. Astrid Herhoffer und Birgit Liebold (1993) gehören zu den Ersten, die den Begriff ‚Wendeliteratur‘ benutzen und eine erste Umschreibung wagen: Und wen wundert es, daß ein Ereignis von solcher Tragweite eine ganze Flut von literarischen Werken hervorgebracht hat, die im folgenden unter dem Begriff Wendeliteratur zusammengefaßt werden sollen. […] Unter Wendeliteratur sollen also alle jene Werke zusammengefaßt werden, – die sich stofflich auf die Zeit der Wende beziehen, welche – wenn man den Medien Glauben schenken darf – im Osten keineswegs und auch im Westen (hoffentlich!) lange noch nicht abgeschlossen ist, – die durch den Wegfall von Zensur und Selbstzensur oder durch intensive Materialforschung (wie zum Beispiel in alten Dokumenten und Stasiakten) erst möglich wurden. […] Die ungeheure Vielzahl der Publikationen zu diesem Thema machen [sic] einen Gesamtüberblick unmöglich, zumal das Spektrum vom Gedicht bis zum aufgearbeiteten Treuhand-Bericht reicht […].5
1996 geben Jörg Fröhling, Reinhild Meinel und Karl Riha unter dem Titel Wende-Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der Deutschen Einheit die erste umfassende Bibliografie zum Thema heraus. Die Bearbeiter haben sich für den Obertitel Wende-Literatur entschieden, denn [n]icht nur im Buchhandel, sondern auch bei den Autoren selbst, in der Literaturkritik und Literaturwissenschaft zeichnet sich der Begriff ‚Wende-Literatur‘ als ein fester terminus technicus ab. 4 5
Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989. Stuttgart / Berlin / Köln 1995, S. 14. Astrid Herhoffer / Birgit Liebold: Schwanengesang auf ein geteiltes Land. Der Herbst 1989 und seine Folgen in der Literatur. In: Buch und Bibliothek 45 (1993) 6 / 7; S. 587-604, S. 587f.; Hervorhebungen im Original.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
So unterschiedlich die Folgen auch sein mögen – allen Publikationen ist gemein, daß sie die politischen Veränderungen thematisieren: authentisch, fiktional oder reflexiv.6
Wie bei Herhoffer und Liebold steht also auch hier der thematisch-stoffliche Bezug im Vordergrund. Im Untertitel des Bandes tritt die Bezeichnung „Literatur der Deutschen Einheit“ hinzu. Eine explizite Begriffsdefinition wird nicht gegeben, die Bearbeiter legen aber ihre Kriterien für die Aufnahme der Titel offen: Kriterien für die Auswahl der aufgenommenen Titel waren […] einerseits der stoffliche Bezug zur Wende, andererseits wurden Publikationen berücksichtigt, die erst durch den Wegfall von Zensur und Selbstzensur erscheinen konnten und drittens solche Veröffentlichungen, die auf intensiven Materialaufarbeitungen, wie etwa Stasiakten, beruhen.7
Eine Einschränkung wird sinnvollerweise vorgenommen: Publikationen zum Thema Wende gibt es in den verschiedensten Bereichen, zum Beispiel Abhandlungen unter wirtschaftlichen Aspekten wie unter rechtlichen, politischen, soziologischen oder kulturellen Gesichtspunkten. Ihre Subsumierung unter dem Begriff der ‚Wende-Literatur‘ scheint daher problematisch.8
Weder bei Herhoffer und Liebold, noch bei Fröhling, Meinel und Riha werden Texte berücksichtigt, in denen gesellschaftliche Zustände dargestellt werden, die möglicherweise zur ‚Wende‘ geführt haben oder diese vorbereiteten. Nach 1989 erschienene Texte, die solche Verhältnisse darstellen, berücksichtigt also lediglich Wehdeking, wobei deren Bedeutung aber überproportional in den Vordergrund gerückt wird. In einem weiter gefassten Verständnis könnte man durchaus auch vor 1989 geschriebene oder erschienene Texte zur ‚Wendeliteratur‘ zählen. Zudem werden in vielen literarischen Texten die ‚Wende‘-Ereignisse kaum thematisiert, bilden aber die unabdingbare Voraussetzung für die Handlung. Gerhard Sauder (2000) fasst zusammen: Der Begriff ist nicht völlig zufriedenstellend, orientiert er sich doch an einem politischen und gewiß auch mentalitätsgeschichtlichen Faktum ohne Hinweis auf ein spezifisch ästhetisches Profil dieser Phase. Unter ‚Wendeliteratur‘ sollen Texte 6
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Die Herausgeber: Vorwort zur dritten Auflage. In: Jörg Fröhling / Reinhild Meinel / Karl Riha (Hgg.): Wende-Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der Deutschen Einheit. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Wien 1999 (Bibliographien zur Literatur- und Mediengeschichte, Band 6); S. 7-12, S. 7. Ebd., S. 12. Ebd.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
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verstanden werden, die – in welcher Form auch immer – die Übergangszeit von 1989 / 1990 als Motiv, Allegorie, zentrale Metapher oder Plot gewählt haben.9
Mit dem Begriff spielen einige „Wendebücher“ im wörtlichen Sinne, etwa Das Wendebuch10, eine 1990 im (Ost-)Berliner Verlag Technik erschienene Sammlung vor allem von Karikaturen und Cartoons zur ‚Wende‘ und zum Umbau insbesondere des Wirtschaftssystems, oder Reinhard Ulbrichs Knigge für Deutsche (1998).11 In der Mitte müssen diese Bücher vom Leser umgedreht, also „gewendet“ werden, um den jeweils anderen Teil lesen zu können. Doch diese Tatsache kann natürlich keine Grundlage für eine wissenschaftliche Bestimmung des Begriffs abgeben.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘ ‚Wendeliteratur‘ ist ein gattungsübergreifender Begriff: Die ‚Wende‘ wird in Textsorten aller Art thematisiert, was nur folgerichtig ist, denn die Prozesse von ‚Wende‘ und Vereinigung umfassen alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Gerade deshalb sind neben den drei ‚großen‘ Genres Lyrik, Epik und Dramatik auch die zahlreichen essayistischen und philosophischen Texte, Gespräche, Reden, Briefe, Tagebücher usw. in die Betrachtung miteinzubeziehen. Nicht selten stellen sie eine wichtige Ergänzung zu den im engeren Sinne literarischen Texten dar, Mischformen sind häufig.12 In 9 10 11
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Gerhard Sauder: Erzählte ‚Wende‘: Formen und Tendenzen der ‚Wendeliteratur‘. In: Studia Niemcoznawcze XIX (2000); S. 291-305, S. 291. Das Wendebuch. Eingeleitet von M. Sondermann Cartoons E. Brendel Texte. Berlin 1990. Reinhard Ulbrich: Knigge für Deutsche: Über den Umgang mit Westmenschen. / Über den Umgang mit Ostmenschen. Ein Wendebuch. Graphiken von Axel C.A. Jirsch. Köthen 1998. Zu einem ähnlichen Schluss kommen Fröhling, Meinel und Riha im Zusammenhang mit dem Versuch, eine Gliederung für die Bibliografie zu finden: „Bei einem Großteil der in dieser Bibliographie vertretenen Publikationen handelt es sich um literarische Mischformen, die eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Genre nicht zulassen. Aus diesem Grund wurde auf eine formale Kategorisierung verzichtet.“ (Die Herausgeber: Vorwort zur dritten Auflage. In: Jörg Fröhling / Reinhild Meinel / Karl Riha (Hgg.): Wende-Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der Deutschen Einheit. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Wien 1999 (Bibliographien zur Literatur- und Mediengeschichte, Band 6); S. 712, S. 11.) Ein Beispiel für eine solche Mischform ist Eva-Maria Hagens (*1934) Buch Eva und der Wolf (Düsseldorf / München 1998). Hagen gehörte – bis zu ihrem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 – zu den erfolgreichsten Schauspielerinnen in der DDR. Ein Jahr nach Biermann verließ auch sie die DDR. Im Mittelpunkt der Veröffentlichung steht der Briefwechsel zwischen ihr und ihrem Freund Wolf Biermann in den
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
diesem Sinne ist das Zugrundelegen eines erweiterten Literaturbegriffs unabdingbar, will man sich den Phänomenen ‚Wende‘ und ‚Vereinigung‘ nähern.13 Explizit dokumentarische Texte können selbstverständlich auch als ‚Wendeliteratur‘ bezeichnet werden; sie finden jedoch im Rahmen der vorliegenden Darstellung kaum Berücksichtigung. Unmittelbar auf einen kleineren geografischen Raum beschränkt sind etwa die Publikationen von Hans-Gerd Adler, der sich in Wir sprengen unsere Ketten (1990)14 auf das Eichsfeld bezieht, sowie von Salier und Salier, die sich in Es ist Frühling und wir sind so frei! (2000)15 in erster Linie mit dem Kreis Hildburghausen beschäftigen. Im Hinblick auf eine Bestimmung des Begriffes sind folgende Aspekte besonders wichtig: Aspekt 1: Der thematisch-stoffliche Bezug zur ‚Wende‘ Dieser Aspekt spielt die zweifellos wichtigste Rolle. Die Hauptschwierigkeit dürfte dabei das Problem der Grenzziehung sein: Hier scheint in Zweifelsfällen eine eher großzügige Verfahrensweise angebracht; eine Grauzone des Ermessens wird aber stets bleiben. Häufig stellen die Herbstereignisse des Jahres 1989 und die Vereinigung beider deutscher Staaten lediglich die Voraussetzung beispielsweise für eine Romanhandlung dar. So hat die völlig neue Rechtssituation nach
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Jahren 1965 bis 1977. Der Band enthält jedoch auch Tagebuchaufzeichnungen, zahlreiche Dokumente, darunter Berichte des Staatssicherheitsdienstes und den Ausreiseantrag, sowie Fotografien. Relevant ist dieses Buch für die Thematik weniger wegen der dargestellten, beinahe klassisch zu nennenden, Liebesgeschichte als wegen der differenzierten Einblicke, die es in die Alltagswelt der Künstler in der DDR und die Bandbreite der Möglichkeiten staatlicher Repression auf diese Gruppe gewährt. Insofern wird hier nicht nur eine mehr oder weniger persönliche Bilanz über einen Lebensabschnitt gezogen, sondern über einen wichtigen Abschnitt der DDR-Geschichte überhaupt. Denn die Biermann-Ausbürgerung und ihre Folgen stellen zweifelsohne einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Einschnitt im Kulturleben der DDR dar und sind unabdingbar für das spätere Verständnis der ‚Wende‘. Zur Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die infolge der Biermann-Affäre die DDR verließen, vgl. Ian Wallace: Ein Leben in der Fremde? DDR-Schriftsteller im Westen, 1976-1989. In: Literatur und politische Aktualität. Hrsg. von Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen unter Mitarbeit von Anthonya Visser. Amsterdam / Atlanta 1993 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 36), S. 179-192. Im weitesten Sinne sind auch Bücher, die so gut wie keinen Text, aber Zeichnungen, Cartoons und Karikaturen von Künstlern aus Ost und West mit entsprechenden Unterschriften / Kommentaren enthalten, zur ‚Wendeliteratur‘ zu zählen (vgl. etwa Alles Banane. Hrsg. von Holger Behm in Zusammenarbeit mit Werner Tammen. Berlin 1990). Hans-Gerd Adler: Wir sprengen unsere Ketten. Die friedliche Revolution im Eichsfeld. Eine Dokumentation. Leipzig 1990. Hans-Jürgen Salier / Bastian Salier: Es ist Frühling und wir sind so frei! Die 89er Revolution im Kreis Hildburghausen – eine Dokumentation. Hildburghausen 2000.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
73
der Vereinigung und die dadurch erst möglich gewordene so genannte ‚Vereinigungskriminalität‘ in den östlichen Bundesländern eine Vielzahl von Büchern hervorgebracht, die eher als ‚Kriminalliteratur‘ bzw. ‚Polit‘oder ‚Spionage-Thriller‘ bezeichnet werden sollten16, denn es handelt sich meist weniger um eine literarische Verarbeitung der ‚Wende‘ und der Folgen der deutschen Vereinigung im engeren Sinne als um Kriminalromane mit mehr oder weniger konventionellem Plot vor dem Hintergrund der ‚deutschen Einheit‘. Die Zeit der ‚Wende‘, in der viele Gesetze zumindest de facto außer Kraft gesetzt waren, und die ersten Jahre der ‚Einheit‘, die mit einer nicht unerheblichen Vereinigungskriminalität auch auf staatlicher Ebene einhergingen, mögen sich als neuer Hintergrund anbieten, bleiben aber letztlich austauschbar. Auch deshalb werden diese Texte im Rahmen der vorliegenden Darstellung kaum berücksichtigt. In anderen Texten wird die ‚Wende‘ dagegen in nur einem Satz thematisert. Dieses Faktum sagt allerdings nicht zwangsläufig etwas über den Stellenwert der ‚Wende‘ innerhalb des Textes aus, denn häufig wird durch die bewusst kurze Erwähnung ein deutlicher Einschnitt auf der Zeitebene markiert, wie das folgende Beispiel aus Wolfgang Hilbigs Erzählung Versuch über Katzen (1994) zeigt: Eines Tages fuhr ich dann doch nach L., um das Haus in der Junghanßstraße aufzusuchen. Die Verhältnisse hatten sich unterdessen geändert, die alte Staatsmacht war zusammengebrochen und hatte einer anderen Platz gemacht. Ganz L. befand sich in euphorischer Aufbruchsstimmung, überall wurden alte Gemäuer eingerissen und neue Bauten aufgepflanzt; fast fürchtete ich, die Junghanßstraße könne bereits ein Opfer der Entsorgungsarbeiten geworden sein.17
Wieder andere, wenn auch nur wenige, lange vor der ‚Wende‘ verfasste Texte, werden zur ‚Wendeliteratur‘, wenn sie durch die ‚Wende‘ einen neuen Stellenwert erhielten und deshalb eine Neuauflage gedruckt wurde, wie im Falle von Karl Jaspers’ (1883-1969) Essay über Freiheit und Wiedervereinigung (1960).18 Diese Texte sind aber sicher nicht zum Kern der ‚Wendeliteratur‘ zu zählen. Der thematische Bezug ist selbstverständlich auch bei historischen Romanen gegeben, denn diese gehen allegorisch mit ‚Wende‘ und Einheit 16
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Etwa: Frank Goyke: Der kleine Pariser. Roman. Berlin 1996; Dieter Meichsner: Abrechnung. Roman. Berlin 1998; Deutschland einig Mörderland. Hrsg. von Karen Meyer. Berlin 1995 (DIE Krimis); Barbara Riedmüller. Berlin-Krimi. Berlin 1992; Peter Zeindler: Feuerprobe. Roman. Zürich 1991. Wolfgang Hilbig: Versuch über Katzen. In: W.H.: Die Arbeit an den Öfen. Erzählungen. Berlin 1994 (Wolffs Broschuren); S. 53-100, S. 96f. Karl Jaspers: Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik. Vorwort von Willy Brandt. Mit einer Nachbemerkung zur Neuausgabe von Hans Saner. München / Zürich 1990 [Erstausgabe München 1960].
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
um. Beispiele sind Detlef Opitz’ (*1956) Roman Klio, ein Wirbel um L. (1996)19, aber auch der Alexander-Roman (1992)20 von Gisbert Haefs (*1950). Aspekt 2: ‚Wendeliteratur‘ im Sinne von Literatur, die erst nach dem Wegfall von Publikationsbeschränkungen (Zensur, Selbstzensur usw.)21 erscheinen durfte Beispiele hierfür sind Rainer Lindows Roman Trauergesellschaft22 (1990), die erste selbstständige Ausgabe von Irmtraud Morgners Roman Rumba auf einen Herbst (1992)23, aber auch die Neuausgabe von Brigitte Reimanns 19 20 21
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Detlef Opitz: Klio, ein Wirbel um L. Roman. Göttingen 1996. Gisbert Haefs: Alexander. Der Roman der Einigung Griechenlands „Hellas“. Zürich 1992. Vgl. dazu: Ausstellungsbuch ZENSUR IN DER DDR. Geschichte, Praxis und ‚Ästhetik‘ der Behinderung von Literatur. Erarbeitet und herausgegeben von Ernst Wichner und Herbert Wiesner. Berlin 1991 (Texte aus dem Literaturhaus Berlin, Band 8) sowie Walter Süß: Ein Geschäft von trostloser Borniertheit. Ausstellung „Zensur in der DDR“. In: Das Parlament v. 10.5.1991. Wiechner und Wiesner stellen fest: „Die Akten zeigen mit erschreckender Deutlichkeit, daß Zensur und Förderung von Literatur in der DDR unauflösbar zu einem Netz kulturpolitischer Lenkung verknüpft waren. […] Zensur war die selbstverständliche Voraussetzung der Förderung.“ (S. 11f.). Manfred Jäger grenzt die Zensur in der DDR von gewissermaßen ‚traditionellen‘ Formen der Zensur ab: „In früheren Zeiten hat die Zensur viel stärker über die Köpfe der Autoren hinweg gehandelt. Die Zensur in der DDR hat (dagegen) die Zustimmung der Betroffenen gewollt. Also, insofern hat die Zensur in der DDR in aller Regel ein Urheberrecht des Autors respektiert. Das hieß aber, er mußte den Streichungen, den Auslassungen, den Veränderungen immer zustimmen. Insofern wurde der Autor in den Genehmigungsprozeß mit hineingenommen, und auf diese Weise ist er an der Verstümmelung des Werkes immer mitschuldig gewesen.“ (Manfred Jäger: Das Wechselspiel von Selbstzensur und Literaturlenkung in der DDR. Vortrag anläßlich der Ausstellung „Zensur in der DDR“ (Berlin, Mai 1991); zit. nach Frank Hörnigk: Die Literatur bleibt zuständig: Ein Versuch über das Verhältnis von Literatur, Utopie und Politik in der DDR – am Ende der DDR. In: The Germanic Review LXVII (1992) 3; S. 99-105, S. 102; vgl. auch Andrea Jäger: Schriftsteller-Identität und Zensur. Über die Bedingungen des Schreibens im „realen Sozialismus“. In: Kultur und Macht – Deutsche Literatur 1949-1989. Hrsg. vom Sekretariat für kulturelle Zusammenarbeit nichttheatertragender Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen, Gütersloh. Bielefeld 1992, S. 71-83. Jäger wendet sich klar gegen einen weit verbreiteten Irrtum: den „unmittelbaren Rückschluß von der Tatsache, daß ein Buch in der DDR veröffentlicht wurde, darauf, daß dieses auch ‚irgendwie‘ staatstragend und parteilinientreu verfaßt sein müsse.“ (S. 71) Rainer Lindow: Trauergesellschaft. Wie Josef der Zimmermann die Geschichte erlebte. Roman. Halle(S.) / Leipzig 1990. Im Klappentext heißt es: „Wenn eine Idee zur Staatsdoktrin erstarrt und alles ausgrenzt und bekämpft, was ihr nicht dient, gerät sie früher oder später in eine Krise und kehrt sich gegen sich selbst. / Im Herbst 1989 setzt ein Volk seine Regierung gewaltlos ab. Noch nie gab es in der deutschen Geschichte einen derartigen Vorgang. Dieses Buch, sieben Jahre davor geschrieben und von Verlagen der DDR aus politischen Gründen abgelehnt, berichtet mit tragikomischen, dokumentaren und phantastischen Mitteln von Ursachen, die das Volk auf die Straße brachten. […]“ Irmtraud Morgner: Rumba auf einen Herbst. Roman. Hrsg. und mit einem Nachwort von Rudolf Bussmann. Mit einem Essay von Doris Janhsen. Hamburg 1992.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
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Roman Franziska Linkerhand (1998)24, der zu DDR-Zeiten lediglich in verstümmelter Form erscheinen durfte. Für die Zeit der frühen DDR ist die 1999 erschienene Anthologie Die Welt ist eine Schachtel25 zu nennen. Die darin enthaltenen Texte von Susanne Kerckhoff (1918-1950), Eveline Kuffel (1935-1978), Jutta Petzold (*1933) und Hannelore Becker (1951-1976) ändern das Bild der in der DDR entstandenen Literatur zwar nicht grundlegend, ergänzen es jedoch im Detail. Bisweilen werden auch aktuelle Texte in Kombination mit früheren veröffentlicht: Das Berliner Kabarett Die Distel druckte 1990 – im Anhang zu ihrem aktuellen Programm – Texte aus dem im Herbst 1988 verbotenen Programm Keine Mündigkeit vorschützen.26 Ob es in diesem Zusammenhang legitim ist, auch die Tagebücher von Brigitte Reimann zur ‚Wendeliteratur‘ zu zählen27, ist anzuzweifeln. Es ist sicher richtig, dass die Tagebücher der 1973 verstorbenen Autorin wohl kaum in der DDR hätten veröffentlicht werden dürfen, zur ‚Wendeliteratur‘ werden sie dadurch jedoch nicht. Die Veröffentlichung historischer (biografischer) Dokumente, die vor 1989 in der DDR niemals hätten erscheinen dürfen, fand in relativ großem Umfang statt. Zu nennen sind hier insbesondere die Publikationen des früheren Politbüromitgliedes Rudolf Herrnstadt (1903-1966)28, des ehemaligen Aufbau-Verlagsleiters Walter Janka (1914-1994)29 und des früheren Ers24 25
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Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Roman. Ungekürzte Neuausgabe. Bearbeitung und Nachbemerkung Angela Drescher. Nachwort von Withold Bonner. Berlin 1998. Die Welt ist eine Schachtel. Vier Autorinnen in der frühen DDR. Susanne Kerckhoff, Eveline Kuffel, Jutta Petzold, Hannelore Becker. Hrsg. und kommentiert von Ines Geipel. Berlin 1999. Vgl.: Dokumentation des 1988 verbotenen Programms Keine Mündigkeit vorschützen. In: Gisela Oechelhaeuser (Hg.): Von der Wende bis zum Ende. Wendejahr – die Distel im Scharfen Kanal. Berlin 1990, S. 81-95. Vgl. Dieter Gutzen: Literatur zum Thema „Von einem Land und vom anderen“. Die ‚Wende‘ und die deutsche Vereinigung im Spiegel von Literatur und Literaturkritik. Literaturliste (Auswahl) zur Vorlesung am Germanistischen Seminar der Universität Bonn im Wintersemester 1997 / 98, S. 4. Rudolf Herrnstadt: Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953. Hrsg., eingeleitet und bearbeitet von Nadja Stulz-Herrnstadt. Reinbek 1990 (rororo aktuell). Vgl. die neu durchgesehene Ausgabe: Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); Ders.: Spuren eines Lebens. Berlin 1991; Ders.: … bis zur Verhaftung. Erinnerungen eines deutschen Verlegers. Berlin / Weimar 1993; zu den Hintergründen des Prozesses vgl. die Dokumentation von Walter Janka mit dem – missverständlichen – Titel: Die Unterwerfung. Eine Kriminalgeschichte aus der Nachkriegszeit. Mit einem Vorwort von Günter Kunert. Hrsg. von Günter Netzeband. München / Wien 1994; vgl. in diesem Zusammenhang auch Wolfgang Harich: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR. Berlin 1993. Vgl. zu Jankas Autobiografie Manfred Jäger: Die Autobiographie als Erfindung von Wahrheit. Beispiele literarischer Selbstdarstellung nach dem Ende der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 41 / 92 v. 2.10.1992; S. 25-36, S. 27-29.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
ten Sekretärs des Deutschen Schriftstellerverbandes Gustav Just (*1921).30 Die Publikation dieser Dokumente erfüllt teilweise (selbst-)therapeutische Funktionen; so betont Rudolf Herrnstadt: Die nachstehende Erklärung ist ein Dokument, das einmal geschrieben werden mußte, weil anders die Wahrheit nicht zu erkämpfen ist, aber zugleich ein Dokument, das ich selber vergessen möchte und – ich glaube, dazu die Kraft zu haben – vergessen werde, sobald die Wahrheit erkämpft worden ist.31
Häufig wurden Werke aber auch lediglich nachgedruckt bzw. um zusätzliche Texte ergänzt, etwa im Falle der Neuausgabe von Gerhard Zwerenz’ (*1925) Großelternkind (1996).32 Früher geschriebene, aber nach der ‚Wende‘ erstmals veröffentlichte Texte wurden meist mit entsprechenden Vor- oder Nachworten versehen; beispielsweise erklärt der – fiktive – Herausgeber von Steffen Menschings Pygmalion (1991) im Nachwort: Der Autor konzipierte die Grund-Geschichte Ende 1987, begann 1988 mit der Niederschrift, im Sommer 1989 lagen zwei Drittel des Romans vor. Trotz öffentlicher Leseabende in Bibliotheken und Theatern zweifelte der Verfasser, ob er seinen Stoff jemals in Buchform der literarischen Öffentlichkeit dieses Landes würde vorstellen können. Mit den gesellschaftlichen Herbststürmen des 89er Jahrs legten sich diese Befürchtungen, um neuen zu weichen. Würde der Text, so lautete die bange Frage nun, jetzt noch Sinn machen, auf Lesererwartungen treffen, angesichts der Wirren, der Winkelzüge der alten, der Profilierungssüchte der neuen Politiker, in Anbetracht von Enthüllungen, Skandalen, Wirtschaftschaos, Supermarktschlachten, möglich gewordenen Reiseplänen, Gebrauchtwagenanzeigen und Wahlkampf? Die Zeit drängte.33
In vielen Fällen ist es schwierig, bisweilen unmöglich nachzuprüfen, weshalb ein Text in der DDR nicht erschien: Nicht immer waren mit der Zensur im Zusammenhang stehende Gründe ausschlaggebend, und häufig
30 31
32 33
Gustav Just: Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre. Mit einem Geleitwort von Christoph Hein. Berlin (DDR) 1990. Rudolf Herrnstadt: Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953. Hrsg., eingeleitet und bearbeitet von Nadja Stulz-Herrnstadt. Reinbek 1990 (rororo aktuell), S. 55. Vgl. dazu auch: Gisela Kraft: Partei privat. In: G.K.: West-östliche Couch. Zweierlei Leidensweisen der Deutschen. Noten und Abhandlungen. Berlin 1991, S. 39-63. Gerhard Zwerenz: Das Großelternkind. Querfurt 1996. Steffen Mensching: Nachwort zu: Pygmalion. Ein verloren geglaubter dubioser Kolportage-Roman aus den späten 80er Jahren. Entschlüsselt und herausgegeben von Steffen Mensching. Halle (S.) 1991; S. 439-442, S. 440.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
77
dienen in der DDR nicht erschienene Texte als angebliche Beweise für ein oppositionelles Dasein der betroffenen Autorinnen und Autoren. Doch auch in der DDR konnten völlig andere Gründe das Erscheinen eines Textes verhindern. Manche ‚Wendehälse‘ innerhalb des Literaturbetriebs werden deshalb vielmehr selbst zum Gegenstand der ‚Wendeliteratur‘, zum Beispiel in Matthias Biskupeks Satirensammlung Wir Beuteldeutschen oder Wie ich zum Widerstandskämpfer wurde (1991).34 Biskupek setzt sich aber auch auf essayistischer Ebene mit dieser Problematik auseinander; in der Vorbemerkung zu seinem Text Renitenter Pfarrer (1990 / 1999) äußert er: Nachstehendes ist im Frühjahr und Sommer 1989 recherchiert worden; im September 1989 habe ich den Text geschrieben. Wieder mal zu pflichtbewußt habe ich den Abgabetermin eingehalten, wo kurz danach plötzlich eine Revolution diverse Termine hatte. Beim Schreiben vermutete ich noch, daß mein Text erneut nur ein Testballon sein könnte: wie vorsichtig muß ich die Wahrheit sagen, damit sie nicht geschluckt, sondern gedruckt wird. Inzwischen wird Wahrheit in jeder Form verbreitet; Unwahrheiten werden aber kaum seltener als früher gedruckt. Lese ich heute, im Januar 1990, den Text, sehe ich, wie vorsichtig wir uns alle auszudrücken verstanden. Keine fünf Monate sind vergangen. Ein im Text Zitierter kam sogar und wollte seine damalige Meinung gänzlich gewendet sehen. Machen wir aber aus der Vorsicht von damals plötzlich den Widerstandskampf aus heutiger Sicht, so wären wir wieder mal dabei, unsere Geschichte von heute aus, aus der Sicht von Siegern zu schreiben. […]35
Aspekt 2 betrifft auch Texte, die vor 1989 nur in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht waren, nun aber auch in Lizenzausgaben für das Vertriebsgebiet der DDR auf den Markt kamen. Ein Beispiel ist Monika Marons Roman Flugasche (1981). Nachdem das Ministerium für Kultur der DDR trotz wiederholter Streichungen die Druckgenehmigung für diesen Roman, der eigentlich im Rudolstädter Greifenverlag erscheinen sollte36, verweigert hatte, erschien die ursprüngliche Fassung des Textes in Frankfurt am Main bei S. Fischer. 1990 kündigte ihn der Mitteldeutsche Verlag in seiner „Vorschau“ an: „Neu wurden nach Redaktionsschluß noch einige Titel ins Programm aufgenommen […]: Monika Maron / Flugasche / Roman / […]. Ihr [Marons; F.Th.G.] Debütroman liegt 10 34 35
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Matthias Biskupek: Wir Beuteldeutschen oder Wie ich zum Widerstandskämpfer wurde. Satiren, Glossen und Feuilletons. Berlin 1991. Ders.: Vorbemerkung zu: Renitenter Pfarrer. In: M.B.: Die geborene Heimat. Spöttische Lobreden. Rudolstadt / Jena 1999 (Thüringen-Bibliothek, Band 8); S. 34-49, S. 34 [Erstveröffentlichung 1990]. Maron hatte 1978 ein Förderstipendium des Greifenverlages für die Arbeit an Flugasche erhalten.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Jahre zurück und wird erstmals in der DDR veröffentlicht.“37 Maron zog allerdings ihre Einwilligung zur Veröffentlichung beim Mitteldeutschen Verlag zurück, zumal die Fischer-Ausgabe kurze Zeit später auch in der DDR problemlos erhältlich war. Dennoch erschien 1990 im Berliner Union Verlag eine ausschließlich „zum Vetrieb in der Deutschen Demokratischen Republik“ bestimmte (Taschenbuch-)Ausgabe.38 Nach der ‚Wende‘ erstmals in der DDR gedruckt und zu lesen war nun auch das im Westen in kürzester Zeit zum Klassiker avancierte Buch Der vormundschaftliche Staat (1990) von Rolf Henrich (*1944).39 Weitere Beispiele sind das im Westen 1966 erschienene Theaterstück Die Plebejer proben den Aufstand40 von Günter Grass, die in der Bundesrepublik erstmals 1974 erschienene Autobiografie Der Widerspruch (1991)41 von Gerhard Zwerenz, aber auch das Buch des Liedermachers Karl („Kalle“) Winkler, der nach dreizehn Monaten Haft in den Westen abgeschoben bzw. ‚freigekauft‘ wurde. Seine Erlebnisse hat er in dem Band Zur Klärung eines Sachverhalts (1990) aufgeschrieben, der unter dem Titel Made in GDR bereits 1983 in der Bundesrepublik erschienen war. Im Vorwort der DDRAusgabe äußert er angesichts der bevorstehenden Vereinigung: Deutschland einig Vaterland – ich fühle mich so fremd, so fremd, wenn ich nach acht Jahren wieder einreise. Und sehe, wie innerlich fremd sich die Deutschen in Wirklichkeit sind. Nicht nur die von Ost und West, auch die Generationen untereinander. Nach dem Faschismus fand keine Vergangenheitsbewältigung statt. Nur Hitler wäre es gewesen, und alle anderen haben angeblich von nichts gewußt oder beriefen sich auf Befehlsnotstand. Unsere Großeltern waren es. Und in den letzten 40 Jahren waren es nicht nur die paar Honeckers, die ihr eiligst eingesperrt habt, um euch selber reinzuwaschen. Ihr, unsere Eltern, wart es auch! Durch euer Schweigen, euer Nicht-wissen-Wollen, eure Lügen, eure Zustimmung, euer Dulden. Was wäre denn gewesen, wenn ihr nicht mehr mitgemacht hättet? – Ihr hättet nicht mehr mitgemacht. Aber jetzt habt ihr angeblich von nichts gewußt, habt unter Befehl gestanden, wolltet eure Jobs nicht verlieren. Und windet und wendet und lügt und heuchelt, aufs neue. Diesmal müssen wir alles aufdecken! Diesmal müssen wir alles zur Sprache bringen! Erst dann werden wir frei sein. Und nicht nur im bunten Warenhaus. Wir Deutsche.42 37 38 39 40 41 42
[Verlagsprogramm]: Vorschau 1990. Mitteldeutscher Verlag. [Halle (S.) / Leipzig 1990]. Monika Maron: Flugasche. Roman. Berlin (DDR) 1990. Rolf Henrich: Der vormundschaftliche Staat. Mit einem Gespräch zwischen Kurt Masur und Rolf Henrich. Leipzig / Weimar 1990 [zuvor: Reinbek 1989]. Günter Grass: Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel. Mit einem Essay und einem Gespräch. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit). Gerhard Zwerenz: Der Widerspruch. Autobiographischer Bericht. Berlin 1991 (Texte zur Zeit); zuerst: Frankfurt a.M. 1974 (Fischer Format). Karl Winkler: Zur Klärung eines Sachverhalts. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
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Mit den zuvor nicht gegebenen Publikationsmöglichkeiten wird auch in Titeln gespielt. Ein Beispiel hierfür ist Werner Heiduczeks Sammlung Im gewöhnlichen Stalinismus (1991), die den Untertitel „Meine unerlaubten Texte“43 trägt. Die ‚Wende‘ brachte aber auch Wiederveröffentlichungen älterer Texte von erst nach 1989 einem breiteren Publikum bekannt gewordenen Autorinnen und Autoren. Ein prominentes Beispiel aus dem Bereich der Publizistik ist Daniela Dahn (*1949), deren erstes Buch 1980 im Mitteldeutschen Verlag erschienen war.44 Dem Neudruck von Spitzenzeit fügte sie ein „Spätes Nachwort“45 an, das sie im Sommer 2000 schrieb. Dahns nach der ‚Wende‘ erschienene Bücher46 sind äußerst erfolgreich. Aspekt 3: ‚Wendeliteratur‘ im Sinne von Texten, die das Leben in Deutschland vor und nach der ‚Wende‘ aus der Perspektive der Nachwendezeit reflektieren Die ‚Wende‘ mag hier in den seltensten Fällen zentrales Thema sein, bildet jedoch häufig sowohl Anlass für eine Beschäftigung mit sich selbst als auch mit der eigenen Vergangenheit. In den Jahren nach 1990 erschienen so viele Autobiografien und autobiografische Texte wie nie zuvor (vgl. dazu ausführlich 5.2.2), aber auch zahlreiche detaillierte Biografien, die einen verstärkten Bedarf an Informationen bedienen.47
43 44
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47
Zeit), S. 6f.; im Original durchgängig kursiv. Winklers Buch ist nicht nur interessant wegen der Darstellung seiner eigenen Geschichte, der Haft usw., sondern im Zusammenhang mit unserem Thema auch und gerade im Hinblick auf die Reflexionen über das Verfahren des „Freikaufens“ von Häftlingen durch die Bundesrepublik und auf Winklers Wahrnehmung des Westens vor dem Fall der Mauer, in den er – gegen seinen Willen und seine politische Überzeugung – abgeschoben wird. Vgl. dazu v.a. das Kapitel „Westen“, S. 179-196. Werner Heiduczek: Im gewöhnlichen Stalinismus. Meine unerlaubten Texte. Tagebücher – Briefe – Essays. Leipzig / Weimar 1991. Daniela Dahn: Spitzenzeit. Feuilletons und eine Collage. Halle (S.) / Leipzig 1980 bzw. Dies.: Spitzenzeit. Lebenszeichen aus einem gewesenen Land. Reinbek 2000 (rororo Sachbuch). Dies.: Spätes Nachwort. In: Ebd., S. 207-222. Dies.: Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten. Vom Kampf um Häuser und Wohnungen in den neuen Bundesländern. Rechtsberatung: Barbara Erdmann. Reinbek 1994 (rororo aktuell); Dies.: Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit. Berlin 1996; Dies.: Vertreibung ins Paradies. Unzeitgemäße Texte zur Zeit. Reinbek 1998 (rororo aktuell); Dies.: Wenn und Aber. Anstiftungen zum Widerspruch. Reinbek 2002 (rororo Sachbuch). Vgl. etwa Jochen von Lang: Erich Mielke. Eine deutsche Karriere. Unter Mitarbeit von Claus Sibyll. Berlin 1991; Markus Jodl: Amboß oder Hammer? Otto Grotewohl. Eine politische Biographie. Berlin 1997.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Aspekt 4: ‚Wendeliteratur‘ im Sinne von dokumentarischen Texten, deren Publikation durch das Ende der DDR erst möglich wurde, sowie Forschungsberichte über die DDR und Teilbereiche des Lebens in der DDR Nach der ‚Wende‘ wurden zahlreiche, bisher unter Verschluss gehaltene Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich. Diese Entwicklung betrifft natürlich vor allem den historisch-politischen Bereich, doch auch die Literaturwissenschaft profitiert von der Öffnung vieler Archive, etwa in Bezug auf neue und differenziertere Erkenntnisse über die Hintergründe und Folgen der Biermann-Ausbürgerung innerhalb der DDR, insbesondere im Zusammenhang mit der so genannten ‚Biermann-Petition‘.48 Der von der Literaturwissenschaft bisher am gründlichsten ausgewertete Bereich betrifft die Akten der Staatssicherheit (vgl. dazu ausführlich 5.1.6). Ohne sie wäre etwa der von Joachim Walther und anderen herausgegebene Band Protokoll eines Tribunals (1991)49, der die Transkriptionen von Tonbandaufzeichnungen der folgenschweren Versammlung des Schriftstellerverbandes der DDR vom 7. Juni 1979 enthält, undenkbar gewesen. Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes dürften den weitaus größten Anteil dieser Publikationen stellen; doch auch Akten des FBI, beispielsweise ein fast 1000 Seiten umfassendes Dossier über Anna Seghers aus den vierziger Jahren50, wurden nun zugänglich. Die meisten Beiträge dieser Art sind nicht in Buchform, sondern in Zeitschriften publiziert worden. So hatte Klaus Höpcke 1977 seinen in Heft 37 der Weltbühne erschienenen Artikel Lust an der Wahrheit an Franz Fühmann gesandt und diesen um seine Meinung dazu gebeten. Fühmann antwortete am 20. November 1977 mit einem Offenen Brief, der damals – auch in abgewandelter Form – nicht erscheinen durfte. 1990 druckte Sinn und Form schließlich den Brief51, versehen mit einem Postscriptum Januar 1990 von Höpcke.52 48
49
50 51
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In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Hrsg. von Roland Berbig, Arne Born, Jörg Judersleben, Holger Jens Karlson, Dorit Krusche, Christoph Martinkat, Peter Wruck. Berlin 1994 (Forschungen zur DDR-Geschichte, Band 2). Zur Rolle Biermanns vgl. überblicksartig Joachim Wittkowski: Die DDR und Biermann. Über den Umgang mit kritischer Intelligenz: Ein gesamtdeutsches Resümee. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 20 / 96 v. 10.5.1996, S. 37-45. Joachim Walther / Wolf Biermann / Günter de Bruyn / Jürgen Fuchs / Christoph Hein / Günter Kunert / Erich Loest / Hans-Joachim Schädlich / Christa Wolf (Hgg.): Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979. Reinbek 1991 (rororo aktuell). Alexander Stephan: Die FBI-Akte von Anna Seghers. In: Sinn und Form 42 (1990) 3, S. 502-509. Franz Fühmann: Offener Brief an den Leiter der Hauptverwaltung Buchhandel und Verlage im Ministerium für Kultur Klaus Höpcke. In: Sinn und Form 42 (1990) 3, S. 459-465. Der letzte Satz und damit das Fazit seines kurzen Textes lautet treffend: „Das Scheitern
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
Aspekt 5:
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‚Wendeliteratur‘ im Sinne von vor 1989 geschriebener Literatur, die die ‚Wende‘, etwa durch die explizite oder implizite Thematisierung von Missständen in der DDR, ‚vorbereitete‘
Eva Kaufmann (1994) stellt über die Ende der achtziger Jahre erschienenen Romane einiger Schriftstellerinnen aus der DDR fest: „All diesen Texten ist mehr oder weniger zwischen den Zeilen die Warnung eingezeichnet: wenn es weitergeht wie bisher, entsteht großer, nicht wiedergutzumachender Schaden, mit unabsehbaren Folgen.“ Sie meint: Daß Texte mit solcher Tendenz gedruckt wurden, setzte listige Schreibstrategien voraus, die an der Zensur vorbei die Leserinnen und Leser erreichten, mit denen sich die Autorinnen im Einverständnis fühlten. Sie alle hatten die Fähigkeit entwickelt, ihren Werken kunstvoll Untertexte einzuschreiben, mit den verschiedenen Spielarten des Komischen zu operieren, vor allem die Möglichkeiten der Ironie für das Verwirrspiel um Bedeutungen und Standpunkte auszunutzen.53
Ein Beispiel hierfür ist die – allerdings erst 1991 erschienene und damals kaum beachtete – Anthologie Labyrinthe.54 Der Band versammelt „Träume und Traumgeschichten“ von Autorinnen und Autoren aus der DDR aus der Zeit um 1989. Das Medium Traum dürfte sich in besonderer Weise eignen, ansonsten ‚Unsagbares‘ dennoch an- und auszusprechen. Als schwierig und wohl kaum im Interesse der Verfasser liegend erweisen sich die vielfältigen Bestrebungen, Texte aus der DDR per se als Gesellschaftskritik zu lesen. Ein solches Vorgehen birgt die Gefahr einer eindimensionalen Rezeption, die sich bereits im Zusammenhang mit der ‚DDR-Literatur‘ als heikel erwiesen hat. Der Begriff ‚Wendeliteratur‘ kann also in einem engeren wie in einem erweiterten Verständnis gebraucht werden. Problematisch an ihm ist nicht zuletzt die Tatsache, dass der wesentlichen Rolle, die die ‚Einheit‘ als Folge der ‚Wende‘-Ereignisse spielt, nicht auch auf der begrifflichen Ebene Rechnung getragen wird. Zudem erweist sich eine Abgrenzung des Begriffs der ‚Wende-‘ von dem ohnehin problematischen Begriff der ‚DDR-Literatur‘
53
54
der damaligen Publikationsversuche unterstrich, wie berechtigt die von Franz Fühmann ausgedrückten Sorgen waren.“ (Klaus Höpcke: Postscriptum Januar 1990. In: Sinn und Form 42 (1990) 3; S. 465f., S. 466). Eva Kaufmann: Adieu Kassandra? Schriftstellerinnen aus der DDR vor, in und nach der Wende: Brigitte Burmeister, Helga Königsdorf, Helga Schütz, Brigitte Struzyk, Rosemarie Zeplin. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31); S. 216-225, S. 218. Labyrinthe. Träume und Traumgeschichten. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Klaus Hammer. Berlin 1991.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
als schwierig, insbesondere im Hinblick auf den Zeitraum 1989 / 90, als die DDR noch als Staat existierte. Deshalb müsste in der Diskussion um den Begriff ‚Wendeliteratur‘ verstärkt der umstrittene Begriff der ‚DDR-Literatur‘ mit einbezogen werden, zumindest jedoch dessen Inhaltsseite. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verwendeten und verwenden diesen Begriff völlig unkritisch, andere mit der gebotenen Differenzierung. Versteht man ‚DDR-Literatur‘ als ‚in der DDR entstandene Literatur‘ und fragt nach der heutigen Bedeutung dieser Texte, erhält man kaum eine fundierte Auskunft. Hans-Joachim Schädlich (1990) fragt also zu Recht: Wovon war die Rede, wenn die Rede von der „DDR-Literatur“ war? War die Rede vom Geburtsort der Autoren? Oder vom Wohnort der Autoren? Oder von dem Ort, an dem Bücher geschrieben wurden? Oder von dem Ort, an dem Bücher publiziert wurden? […] […] Zu welcher deutschen Literatur gehören jene Autoren, die im Laufe der Jahre aus dem Osten in den Westen gezogen sind, und zu welcher deutschen Literatur gehören ihre Bücher? Ich zähle mehr als 60 Autoren; meine Liste ist unvollständig. Begriffe wie „die beiden deutschen Literaturen“ können systematisch in die Irre führen, denn in Wahrheit ist die deutsche Literatur gar nicht geteilt.55
Und Brigitte Burmeister (1994) stellt fest: Die Begriffe ‚DDR-Literatur‘ und ‚DDR-Schriftsteller‘ können, sofern sie nicht als bloße Ortsangaben gebraucht werden, immer nur signifikante Teilaspekte oder Teilmengen, nicht die Heterogenität der Schreibweisen, Existenzformen, Literaturauffassungen und politischen Haltungen in der ehemaligen DDR bezeichnen.56
Ohne die Literatur der nach 1976 in den Westen gegangenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR ist die ‚DDR-Literatur‘ nicht zu denken. Ihnen kommt nach der ‚Wende‘ eine besondere Rolle zu, denn Diskussionen werden auch über die Rolle der ‚weggegangenen‘ bzw. der ‚dagebliebenen‘ Intellektuellen geführt.57 ‚DDR-Literatur‘ ist also stärker inhaltlich zu verstehen, weniger geografisch und am wenigsten rein zeitlich. Denn ob mit der staatlichen Einheit 55
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Hans Joachim Schädlich: Tanz in Ketten. Zum Mythos der DDR-Literatur. In: FAZ v. 28.6.1990. Vgl. dazu auch Günther Rüther: Nur „ein Tanz in Ketten“? DDR-Literatur zwischen Vereinnahmung und Selbstbehauptung. In: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997; S. 249-282, insbes. S. 252-255: II. Zum Begriff „DDR-Literatur“. Brigitte Burmeister: Schriftsteller in gewendeten Verhältnissen. In: Sinn und Form 46 (1994) 4; S. 648-654, S. 653. Vgl. dazu auch „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.“ Über Motive von AutorInnen, in der DDR zu bleiben, und heutige Bedingungen des Schreibens. Eine Dokumentation mit Originalbeiträgen von: Brigitte Burmeister, Uwe Saeger, Jens Sparschuh. Hgg.: Heinrich Böll Stiftung, Wolfgang Gabler, Helmut Lethen. Berlin 1999.
3.1 Fünf Aspekte der ‚Wendeliteratur‘
83
die ‚DDR-Literatur‘ zwangsläufig ihr Ende gefunden hat, ist fragwürdig, selbst wenn man sich in den Feuilletons darüber einig zu sein scheint. So meint Volker Hage 1990: „Nun ist sie also wieder vereint, die deutsche Literatur.“58 Ulrich Greiner äußert sich im selben Jahr ähnlich: „Mit dem Ende der Zweiteilung Deutschlands ist auch das Ende der literarischen Teilungen gekommen.“59 Dagegen erschien 2000 ein text+kritik-Sonderband mit dem Titel DDR-Literatur der neunziger Jahre.60 Auf jeden Fall haben die ‚Wende‘ und die Diskussionen um das Ende der ‚DDR-Literatur‘ eine neue Welle der Beschäftigung mit Werken der Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR ausgelöst. Der veränderte Blickwinkel bestätigt in vielen Fällen einmal mehr, auf welch einseitige Art und Weise man im Westen Literatur aus der DDR rezipiert hat.61 Unterdessen schreitet eine Kanonisierung der ‚DDR-Literatur‘ fort. Dieser Prozess vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen: durch die Herausgabe von Reihen, etwa der „DDR-Bibliothek“ im Leipziger Verlag Faber & Faber, aber auch durch die Aufnahme bestimmter Texte in Schulbücher und Lehrwerke etwa des Deutschen als Fremdsprache. Beide Formen der Kanonisierung sind nicht unproblematisch, stehen doch immer bestimmte Absichten hinter der Aufnahme eines Textes in Reihen, Anthologien und Lehrwerke jedweder Art, ohne dass diese stets transparent gemacht würden. Man scheint sich jedoch darüber einig zu sein, dass ‚DDR-Literatur‘ weiterhin Unterrichtsgegenstand sein soll. Theo Mechtenberg (1994) stellt in einer von der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages in Auftrag gegebenen Expertise fest: Aus dieser Einschätzung resultiert die Aufgabe, die DDR-Literatur […] in eine Gesamtkonzeption deutscher Nachkriegsliteratur zu integrieren und bildungspolitisch für eine entsprechende Rezeption Sorge zu tragen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die von der Konzeption einer ‚sozialistischen Nationalliteratur‘ sowie von kulturpolitischen Vorgaben bestimmten zentralen Lehrpläne die Behandlung der für den Emanzipationsprozeß bedeutsamen Autoren, Werke, Konflikte und Entwicklungen unberücksichtigt ließen. Ohne ein bildungspolitisches, die DDR-Literatur unter bestimmten Aspekten integrierendes Konzept dürfte eine umfassende Aufarbeitung der DDR-Diktatur schwerlich möglich sein und der Grundlage für ein geistiges Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands ein tragfähiges Element fehlen.62 58 59 60 61
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Volker Hage: Da war was, da bleibt was. In: Die Zeit v. 5.10.1990. Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik. In: Die Zeit v. 2.11.1990. Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): DDR-Literatur der neunziger Jahre (text+kritik Sonderband IX / 00). Vgl. dazu etwa die Vielzahl der Beiträge zu „wiedergelesenen“ Texten unter dem Titel „Einsichten – Verstrickungen – Nachträge“ in: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 81-224 sowie Kerstin Hensel: Ohne Angst und an allen Dummköpfen vorbei. In: K.H.: Angestaut. Aus meinem Sudelbuch. Halle (S.) 1993, S. 54-61, insbes. S. 58f. Theo Mechtenberg: Expertise, im Auftrag der Enquete-Kommission des Deutschen Bun-
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Die oben genannten Beispiele mögen belegen, dass sich die Bezeichnung ‚Wendeliteratur‘ kaum als literaturwissenschaftlich fundierter Gattungsbegriff wird etablieren lassen. Möglicherweise wird sie sich jedoch in gewissem Ausmaß nicht zuletzt wegen ihrer Kürze und der damit verbundenen leichteren Deklinierbarkeit im Sinne eines vor allem thematisch ausgerichteten Begriffes durchsetzen. Zudem mangelt es an brauchbaren Gegenvorschlägen; Julia Kormanns (1999) Versuch, den Begriff der ‚Wendeliteratur‘ von der „Literatur nach 1989“ abzugrenzen und vor allem den zuletzt genannten Begriff zu etablieren63, dürfte wenig bringen – zu breit ist zumindest das alltagssprachliche Verständnis der Bezeichnung ‚Literatur nach 1989‘.
3.2
Auf der Suche nach einem Phantom: der ‚große Wenderoman‘
Eng verbunden mit dem Begriff ‚Wendeliteratur‘ ist die primär in den Feuilletons gebrauchte Bezeichnung ‚Wenderoman‘. Dessen Erscheinen wurde vielfach eingefordert und kaum weniger häufig gefeiert. Karl-Wilhelm Schmidt stellt 1996 dennoch fest: Der berufsmäßige Leser reibt sich verwundert die Augen. Er sucht nach Texten von (ehemaligen) DDR-Autoren, vor allem fiktionalen, die jenen historischen Umbruchsprozeß in den Blick nehmen, Folgeprobleme artikulieren. Die Suche ist mühsam, das Ergebnis nicht überwältigend […].64
Über die Gründe hierfür spekuliert Schmidt: „fehlende Distanz aufgrund des geringen zeitlichen Abstandes, veränderte Strukturen und Rahmen-
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destags zur ‚Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland‘. Manuskript 1994, S. 30; zit. nach: Dietger Pforte: Literatur und Politik. Zur literarischen Topographie Berlins im vierten Jahr nach der politischen Wiedervereinigung der Stadt. In: The New Germany. Literary and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 72-91, S. 75. Vgl. Julia Kormann: Literatur und Wende. Ostdeutsche Autorinnen und Autoren nach 1989. Wiesbaden 1999 (Literaturwissenschaft / Kulturwissenschaft). Karl Wilhelm Schmidt: Geschichtsbewältigung. Über Leben und Literatur ehemaliger DDR-Autoren in der wiedervereinten Bundesrepublik. Eine Bestandsaufnahme kulturpolitischer Debatten und fiktionaler, essayistischer sowie autobiographischer Publikationen seit der Vereinigung. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Pluralismus und Postmodernismus. Zur Literatur- und Kulturgeschichte in Deutschland 1980-1995. Vierte, gegenüber der dritten erweiterte und aktualisierte Auflage. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1996 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Band 25); S. 353-395, S. 369.
3.2 Auf der Suche nach einem Phantom
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bedingungen (Erwerbssituation, Produktion, Rezeption), fehlendes Verlagsinteresse, persönliche Erfahrungen (Christa Wolf-Debatte um Was bleibt).“65 Karl-Rudolf Korte (1996) hält dagegen die Suche nach dem ‚Wenderoman‘ für grundsätzlich falsch: Sogenannte Epochenromane sollte man dabei jedoch nicht suchen […]. Den Epochenroman zwischen Wende und Einheit kann es nicht geben, wenn schon dann mindestens zwei, nämlich einen aus West- und einen aus Ostsicht. Epochenromane als Gesamtpanorama der gesellschaftlich-politischen Strömungen können angesichts unserer vieldimensionierten Wirklichkeit heute nicht mehr entstehen. Die neue Unübersichtlichkeit läßt kein Porträt der Gesellschaft als Ganzes mehr zu. Das war noch in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre anders [sic]. Nur so konnten die großen Zeitromane von Böll, Grass, Johnson, Lenz entstehen […].66
Die Forderungen nach dem ‚Wenderoman‘ lassen sich bis zum 9. November 1989 zurück verfolgen, wie ein Bericht von Hans Christoph Buch (1990) zeigt: Am 9. November 1989, dem Tag, an dem die Berliner Mauer dem Druck der ostdeutschen Bevölkerung nachgab, hielt ich einen Vortrag an einer amerikanischen Universität. Die erste Frage, die man mir stellte, nachdem ich meine spontane Freude über dieses Ereignis zum Ausdruck gebracht hatte, lautete: wann erscheint der große Roman über den Tag, an dem die Mauer fiel? Haben Sie das fertige Manuskript schon in der Tasche? Leider mußte ich meine Zuhörer enttäuschen. Der große Roman über die Berliner Mauer ist bis heute nicht geschrieben worden, genausowenig wie der große Roman über die Französische Revolution oder die Studentenrevolte von 1968. Und der große Roman über den Tag, an dem die Mauer fiel, wird vielleicht nie geschrieben werden. Solche historischen Ereignisse haben Schriftsteller als Chronisten nicht nötig; sie beschreiben sich sozusagen selbst, in Form von Augenzeugenberichten und Interviews, die im Fernsehen gesendet und in Zeitungen gedruckt oder kommentiert werden; und sie bringen ihre eigene Poesie hervor, die sich in Flugblättern, Transparenten und Slogans wie „Die Phantasie an die Macht!“ oder „Wir sind das Volk!“ ausdrückt.67
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Ebd., S. 372; Hervorhebung im Original. Karl-Rudolf Korte: Berichte zur Lage der Nation. Vom Umgang mit der erzählenden Literatur im vereinten Deutschland. In: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 28 (1996) 4; S. 551-564, S. 556. Hans Christoph Buch: Intra Muros. Die Berliner Mauer und die deutsche Literatur. In: H.C.B.: An alle! Reden, Essays und Briefe zur Lage der Nation. Frankfurt a.M. 1994; S. 11-20, S. 11 [geschrieben 1990; zuerst erschienen in Dimension (Austin / Texas) 19 (1992) 2]; vgl. auch den Beginn von H.C.B.: Die Stunde der Dichter. Die Meinungsmacher produzieren nur Sperrmüll. Und die Lyriker sind Experten für alles, was in ihren Reden nicht vorkommt. In: Die Zeit v. 4.12.1992.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Danach gefragt, was er „über diese Tage“ – gemeint sind die Tage der ‚Wende‘ – schreibt, antwortete Christoph Hein bereits am 4. November 1989 in einem Interview: Das alles ist sicher ein Stoff für Literatur, aber drei Generationen nach mir. Kunst strickt ungern mit heißer Nadel. In der Vergangenheit hatten Kunst und Literatur von einem Bonus gelebt, der sich auf einem Mißverhältnis gründete. Statt der Zeitung kauften sich die Leute ein Buch. Jetzt sehe ich Anzeichen dafür, daß sich die Zeitungen mit Politik befassen und die Kunst dadurch entlastet wird. Damit wird Kunst wieder auf ihre eigentlichen Aufgaben zurückgeführt. Langfristig wird eine Entlastung von Literatur stattfinden.68
Andreas Isenschmidt (1993) bezweifelt, dass es je einen ‚Wenderoman‘ geben wird: Wir warten, will ich sagen, auch nicht auf den Roman zur EG-Agrarpolitik. Und wir wüßten, um ein besseres Beispiel zu geben, noch nicht mal zu sagen, welches der Roman der Französischen Revolution sei. Es zeugt von einem verschrobenen Literaturverständnis, Schriftsteller für Leute zu halten, die mit leichtem Zeitverzug die politische Agenda in Romanform umgießen. Die vielen Veranstaltungen zum Thema Literatur und Wende zeugen so gesehen von einer heillosen und vulgären Politisierung der literarischen Erwartungen.69
Im gleichen Zusammenhang wagt er die Prophezeiung: Ich deutsche meine Vermutung aus: Deutschlandeinheitwende ist als literarisches Thema heute oft so lendenlahm wie Straußens Reichsadler.70 Es befruchtet kaum jemanden. Wenn wir die wirklich geglückten Bücher und die Leseerfahrungen in den Blick fassen, ist Deutschlandeinheitwende im Westen heute als literarisches Thema nicht sonderlich produktiv. Ich sagte: heute, und ich sagte: als literarisches Thema. Denn natürlich wurde über kein anderes Thema soviel geredet, debattiert, getalkt wie über dieses. Wer reisefreudig ist, kann jede zweite Woche an eine Tagung zum Thema „Literatur und Kritik im Jahre x der deutschen Einheit“ reisen, gestern Hiddensee, heute Leipzig. Aber einmal angekommen, macht man oft eine merkwürdige Erfahrung. Wenn man über Deutschlandeinheitwende spricht, spricht
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[Interview mit Dieter Krebs]: Weder das Verbot noch die Genehmigung als Geschenk. BZ sprach mit dem Schriftsteller Christoph Hein nicht vorrangig über Literatur. In: BZ v. 4. / 5.11.1989. Andreas Isenschmidt: Literatur nach der „Wende“ – die Situation im Westen. In: ndl 41 (1993) 8 (Wachsende Verstörung – florierender Betrieb? Zur Situation der deutschen Literatur im dritten Einigungsjahr. Symposion der Deutschen Literaturkonferenz, Leipzig, 4. Juni 1993; ndl extra); S. 172-178, S. 175. Isenschmid spielt hier auf den Adler in Botho Strauß’ Drama Schlußchor (1991; vgl. dazu 5.5.3) an.
3.2 Auf der Suche nach einem Phantom
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man nicht über Literatur. Und wenn man sich den intensiven literarischen Erfahrungen zuwendet, spricht man nicht über Deutschlandeinheitwende.71
Auf Seiten der Schriftsteller gibt man sich skeptisch. Günter Grass (1995) äußerte sich in diesem Zusammenhang klar: „Es wird ihn nie geben, den Roman über die deutsche Einheit, ich habe ihn nicht schreiben wollen. Das sind Suggestionen und Erwartungen, die von außen kommen.“72 Michael Rutschky (1995) fürchtet: „[…] je genauer ich mir einen solchen Roman der ‚Wende‘ […] ausdenke, um so weniger Lust bekomme ich, ihn zu schreiben. Oder auch nur zu lesen.“73 Zudem warnt er: „Ein auf nationales Hochgefühl spekulierender Roman, der Trennung und Zerrissenheit am 3. Oktober 1990 glorios in neuer Einheit enden ließe, käme uns, um das mindeste zu sagen, geschmacklos vor […].“74 Einer der wenigen Autoren, die eine literarische Verarbeitung der ‚Wende‘ geradezu einfordern, ist Friedrich Christian Delius (*1943). In seinen im Wintersemester 1994 / 95 in Paderborn gehaltenen und unter dem Titel Die Verlockungen der Wörter (1996) erschienenen Poetik-Vorlesungen bemerkt er: Selten waren die Zeiten für Schriftsteller so günstig wie heute. Nicht in jedem Jahrhundert war es den aufmerksameren Leuten vergönnt, ein Gesellschaftssystem ohne Krieg zusammensinken zu sehen und seine Vereinigung mit einer stärkeren, anders verfaßten Gesellschaft zu beobachten […]. Überall sind Nuancen zwischen eingebildeter und wirklicher Aussichtslosigkeit, zwischen Befreiung und Belastung zu erspüren, überall, ich spreche von der Literatur, wäre neues, unerhörtes Material, das buchstäblich auf der Straße liegt, zu sehen, aufzuheben und zu bearbeiten. Kurz, so viel Spannung war nie, und die Schriftsteller sind gut dran, die ihre eigenen Spannungen auf die allgemeinen Zerreißproben zu projizieren verstehen.75
Doch so plakativ wie sie zunächst scheinen mag, ist seine Forderung nicht; er stellt klar: 71
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Andreas Isenschmid: Literatur nach der „Wende“ – die Situation im Westen. In: ndl 41 (1993) 8 (Wachsende Verstörung – florierender Betrieb? Zur Situation der deutschen Literatur im dritten Einigungsjahr. Symposion der Deutschen Literaturkonferenz, Leipzig, 4. Juni 1993; ndl extra); S. 172-178, S. 173; Hervorhebungen im Original. [Interview mit Jochen Hieber]: Ich will mich nicht auf die Bank der Sieger setzen. Ein Gespräch mit Günter Grass über den Roman „Ein weites Feld“, die Reaktionen der Kritik, die deutsche Einheit und den Blick aufs eigene Leben. In: FAZ v. 7.10.1995. Michael Rutschky: Das übergroße Ereignis, die geteilten Erzähler. Mutmaßungen über den Roman der „Wende“. In: ndl 43 (1995) 4; S. 228-234, S. 230. Ebd., S. 231. Friedrich Christian Delius: Warum ich ein Einheitsgewinnler bin oder Die neuen alten Erwartungen an die Literatur. In: F.C.D.: Die Verlockungen der Wörter oder Warum ich immer noch kein Zyniker bin. Berlin 1996; S. 58-84, S. 67f.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Der Roman zur deutschen Einheit? Wenn ich beklage, daß bislang wenige Autorinnen und Autoren sich den neuen Verhältnissen zu nähern scheinen, meine ich nicht, unsere Zunft sei aufgerufen, schleunigst „den Roman zur deutschen Einheit“ abzuliefern. Die Erwartung ehrt uns, aber sie ist nicht zu bedienen.76
Über die Form des ‚Romans zur deutschen Einheit‘ macht Delius sich dennoch – als einer von wenigen – Gedanken: Erwartet wird offenbar ein Werk, das die Umbrüche und Umstürze der letzten Jahre ordnet, unserer Gesellschaft auf 500 Seiten zum Ausdruck verhilft, Figuren vorstellt, welche mindestens die Erfahrungen der potentiellen Leser gemacht haben, und die beschleunigte Zeit, die wir im Rausch erlebt haben, einmal gerinnen läßt und dadurch überschaubar, konkret und wieder „wirklich“ macht und „die Epoche“ wiederspiegelt [sic]. Auch wenn dies eine eher naive Erwartung an die Literatur ist, ich freue mich, daß es sie gibt. Immerhin ist das ein deutliches Zeichen, daß nicht nur Schriftsteller den (literarischen) Wörtern eine Zukunft wünschen.77
Die trotz aller Vorbehalte nicht verstummenden Forderungen nach dem – meist mit dem Adjektiv ‚groß‘ attribuierten – Wenderoman‘ dürften ein Grund dafür sein, dass der ungeschriebene Wenderoman in der Literatur der neunziger Jahre zu einem Topos wurde. Zahlreiche Titel spielen mit diesem Aspekt: Uwe Timm veröffentlichte keinen ‚Wenderoman‘, aber immerhin Eine Wendegeschichte (1999).78 Joachim Lottmanns ironisch betitelter Roman Deutsche Einheit (1999) dürfte die umfangreichste Auseinandersetzung auf dieser Ebene darstellen: Immer wieder wird der große Einheitsroman thematisiert, den der Ich-Erzähler schreiben will, aber nicht kann.79 Die meisten Autorinnen und Autoren begegnen dem Postulat auf der satirischen Ebene: 1994 erschien bei Volk & Welt mit Fritzleben. Roman einer Wende80 von „Lutz Tilger“ ein Buch, bei dem es sich keineswegs um einen Roman handelt, sondern um die Sammlung von Rezensionen eines Romans, der sich unter mysteriösen Umständen selbst vernichtete. In der Vorbemerkung heißt es: Am 16. Juli 1994, 21.39 MESZ, vernichteten sich alle 521.612 Exemplare, die bis dahin von Lutz Tilgers Roman „Fritzleben“ verkauft worden waren. Der Katastrophe fielen überdies sämtliche Lagerbestände des Buches sowie das Manuskript
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Ebd., S. 69; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 70f. Uwe Timm: Eine Wendegeschichte. In: U.T.: Nicht morgen, nicht gestern. Erzählungen. Köln 1999; S. 130-158. Vgl. etwa Joachim Lottmann: Deutsche Einheit. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1995. Zürich 1999, S. 99f. Lutz Tilger: Fritzleben. Roman einer Wende. Berlin 1994 (Zur Lage der Nation).
3.2 Auf der Suche nach einem Phantom
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und die Druckunterlagen zum Opfer. Ein Zusammenhang mit dem Aufprall des Kometen Shoemaker-Levy 9 auf den Jupiter muß vermutet werden. […] Möglicherweise handelt es sich um einen kosmischen Witz, daß nur die Rezensionen des großen Wenderomans erhalten blieben. Immerhin haben wir dadurch die traurige Möglichkeit, ein, wenn auch widersprüchliches Bild des kometenhaft erschienenen Romans „Fritzleben“ zu bewahren.81
Die Idee zu Fritzleben geht auf Adolf Muschg zurück82, der auf einer Zusammenkunft des Förderkreises von Volk & Welt dazu aufgerufen hatte, die „real existierenden Rezensionen eines real nicht existierenden Romans“ zu schreiben, denn: „Daß es den großen deutsch-deutschen Roman noch nicht – und möglicherweise nie – gibt, darf uns wahrlich nicht hindern, ihn zu rezensieren.“83 In Fritzleben sind 17 Rezensionen des „großen Wenderomans“ enthalten, unter anderem von Thorsten Becker, Jan Philipp Reemtsma und Urs Widmer. Die Texte reagieren teilweise aufeinander, parodieren frühere Texte ihrer Autoren und gehen damit weit über eine reine Buch- und Autorenfiktion hinaus. Fritzleben ist nicht der einzige ‚verlorene‘ ‚Wenderoman‘. Auch Adolf Endler bedauert in seiner 1994 gehaltenen Jenaer Poetik-Vorlesung den Verlust des lang ersehnten Werkes: Zur Hälfte erst fertig; und dann außerdem ins Wasser gefallen, der angeblich „definitive“, wenn nicht sogar „ultimative“ WENDE-ROMAN aus der Feder meines kürzlich verstorbenen Busenfreundes Edmond „Ede“ Nordfall84; ins magnolienduftende und giftig aufschäumende Badewasser gefallen (oder geschmissen?) das an sich schon unförmige und kohlstrunkartige Konvolut, welches jetzt an einen zerfransten und strohtrocken auseinandertriefenden Basketball o.ä. erinnern will. Ja, leider, leider, dieser von vielen eher angstvoll erwartete Enthüllungsroman (oder was es auch immer geworden wäre) dürfte bis auf schmähliche, kaum praktikable Reste für alle Zeiten perdu sein; fragt sich nur, ob infolge einer Unachtsamkeit oder aber einer von Ede Nordfall bewußt eingefädelten Literatur-Katastrophe.85
Die Handlung von Jurek Beckers Roman Amanda herzlos (1992) endet am 3. Januar 1989 – eine Tatsache, in der David Rock die Weigerung Beckers 81 82 83 84 85
[Vorbemerkung]. In: Lutz Tilger: Fritzleben. Roman einer Wende. Berlin 1994 (Zur Lage der Nation); S. 7, S. 7. Vgl. Ursula Escherig: Fritzleben liegt mitten in Deutschland. Dietrich Simon, Geschäftsführer des Verlags Volk und Welt. In: Der Tagesspiegel v. 15.1.1994. Blick v. 30.5.1994; zit. nach Klappentext. Der Name spielt bezeichnenderweise mit den Buchstaben a-d-o-l-f-e-n-d-l-e-r. Adolf Endler: Ede Nordfalls „Wende-Roman“. In: Edwin Kratschmer (Hg.): Dem Erinnern eine Chance. Jenaer Poetik-Vorlesungen „Zu Beförderung der Humanität“ 1993 / 94. Köln 1995; S. 177-184, S. 178 [8. Vorlesung, gehalten am 14. Dezember 1994 im Hörsaal 24 der Friedrich-Schiller-Universität]; Hervorhebung im Original.
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
sieht, den ‚Wenderoman‘ zu schreiben, der von ihm erwartet wird.86 Für Rocks These spricht zumindest die ironische Brechung im vorletzten Satz des Buches, in dem es um die Aussicht auf ein Leben in Westdeutschland geht: „Und weißt du, daß es an jeder Ecke Bananen zu kaufen gibt?“87
Exkurs I: Anna Seghers: Der gerechte Richter (1990) Mit Der gerechte Richter erschien 1990 posthum eine Novelle von Anna Seghers, die für Diskussionen sorgte. Den historischen Hintergrund im engeren Sinne bildet der im Zuge des Ungarnaufstands 1956 von Anna Seghers in Absprache mit dem damaligen Kulturminister Johannes R. Becher gefasste Plan, Georg Lukács außer Landes zu bringen. Mit der konkreten Ausführung dieses Vorhabens war Walter Janka betraut, der seit 1952 den Aufbau-Verlag leitete.88 Ulbricht untersagte die Reise jedoch, und am 6. Dezember 1956 wurde Janka „unter der Anklage der konterrevolutionären Verschwörung gegen die Regierung Ulbricht“89, kurz nach dem Philosophen Wolfgang Harich, verhaftet und in einem vom 23. bis 26. Juli 1957 stattfindenden Schauprozess zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Mitangeklagt waren der ehemalige Chefredakteur des Sonntag, Heinz Zöger, dessen Stellvertreter Gustav Just und der Rundfunkredakteur Richard Wolf. Nach vier Jahren unter schwersten Haftbedingungen wurde Janka, unter anderem auf Betreiben westdeutscher P.E.N.-Mitglieder, freigelassen. Im Laufe des Prozesses, an dem neben Anna Seghers auch Willi Bredel und Helene Weigel teilnahmen, wurde Janka beschuldigt, allein den genannten Plan geschmiedet zu haben – eine Anschuldigung, der weder Seghers noch Becher widersprachen. 1989 erschienen unter dem Titel Schwierigkeiten mit der Wahrheit90 drei Kapitel aus der zwei Jahre später erschienenen Autobiografie Jankas,
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Vgl. David Rock: Christoph Hein und Jurek Becker: Zwei kritische Autoren aus der DDR über die Wende und zum vereinten Deutschland. In: German Life and Letters 50 (1997) 2; S. 182-200, S. 195. Jurek Becker. Amanda herzlos. Roman. Frankfurt a.M. 1992, S. 384. Die Banane spielt überhaupt eine wichtige Rolle in den ‚Wende‘-Texten. Sie steht für die Möglichkeiten des westlichen Konsums und wurde zum Symbol der ‚Wende‘ schlechthin. Vgl. dazu auch Thomas Rosenlöcher: Der Untergang der Banane. In: ndl 40 (1992) 12, S. 167-170. Vgl. Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit), S. 30-37. Michael Rohrwasser: Wer ist Walter Janka? Eine biographische Notiz. In: Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 115-124, S. 121. Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Reinbek 1989; auch: Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit). Die Auszüge las der damals Fünfundsiebzigjährige auch am
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Spuren eines Lebens.91 In seinem Text, der ein außergewöhnlich breites Echo hervorrief92, wirft Janka Anna Seghers vor, während des Prozesses gegen ihn geschwiegen zu haben: Anna Seghers sah betroffen zu Boden. Sie schwieg, als Lukács verleumdet und fälschlich beschuldigt wurde. Sie erhob sich nicht, um ihren Protest in den Saal zu rufen, zu fordern, daß sie gehört wird. Nein, sie schwieg. Und sie schwieg auch nach dem Prozeß.93
Und später heißt es: Anna Seghers […] blieb stumm. Als hätten sich die Worte des Herrn Melsheimer [Ernst Melsheimer, 1897-1960, Generalstaatsanwalt; F.Th.G.] gegen Lukács nicht auch gegen sie gerichtet. Gerade sie hätte sich der Mitverantwortung nicht entziehen dürfen. Schon deshalb nicht, weil sie die namhafteste Frau war, die es sich leisten konnte, ihre Stimme der Wahrheit zu leihen. Ein wenig Mut hätte ihrem Ruf nicht geschadet und ihre Position nicht gefährdet. Selbst Ulbricht hätte es nicht gewagt, sie verhaften oder auch nur belästigen zu lassen. All das wußte sie. Trotzdem blieb sie stumm.94
Für Janka wäre es „wissenswert, was Anna Seghers auf die Frage antworten könnte, wie sie mit ihrem Schweigen zurechtkam.“95 Nur wenige verteidigten Anna Seghers oder suchten Erklärungsversuche für deren Verhalten. Steffie Spira, die eng mit der Seghers befreundet war, berichtet in ihren 1990 veröffentlichten „Tagebuch-Notizen“ Rote Fahne mit Trauerflor: „Ich habe Anna gefragt, warum sie dem Walter nicht hilft oder warum sie nichts sagt. Und damals hat sie, ohne sich zu genieren, geantwortet: ‚Nein, ich will nicht, ich mag nicht.‘“96 Jürgen Kuczynksi nimmt die Autorin dagegen in Schutz97, ebenso Erich Loest 2000 in seiner Festrede anlässlich ihres 100. Geburtstages:
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28. Oktober 1989 im Deutschen Theater. Zitiert wird nach der DDR-Ausgabe, deren Text „vom Autor neu durchgesehen“ wurde. Ders.: Spuren eines Lebens. Berlin 1991. Vgl. Nach langem SCHWEIGEN endlich SPRECHEN. Briefe an Walter Janka. Hrsg. von Alfred Eichhorn und Andreas Reinhardt. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit). Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Berlin (DDR) / Weimar (Texte zur Zeit), S. 39f. Ebd., S. 93. Ebd., S. 40. Steffie Spira: Rote Fahne mit Trauerflor. Tagebuch-Notizen. Freiburg i.B. 1990, S. 134. Jürgen Kuczynski: Für Anna Seghers. In: europäische ideen (1991) 76 (StasiSachen), S. 54-59 [Vortrag, gehalten 1990 in Nürnberg anlässlich des 90. Geburtstages von Anna Seghers; gekürzte Fassung].
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3 ‚Literatur der ‚Wende‘‘ oder ‚Wendeliteratur‘?
Die Präsidentin hatte sich eingemischt, still und wirkungsvoll. Das geschah natürlich ohne Protokoll und Zugluft. Anna Seghers hat gegen die Verhaftung und Verurteilung von Walter Janka nicht öffentlich protestiert, sich aber im Innenministerium und bei Ulbricht für ihn verwendet. Auch das kann niemand schwarz auf weiß nach Hause tragen.98
Christiane Zehl Romero schreibt in ihrer 2003 erschienenen SeghersBiografie über die Vorgänge: Seghers machte sich während der Gerichtsverhandlungen ausführliche Notizen in ihre [sic] Taschenkalender, hält darin aber in erster Linie das Gesagte fest und versieht es mit gelegentlichen Fragezeichen. Aus diesen Notizen geht meines Erachtens hervor, daß ihr nichts klar war und daß sie sich darum bemühte, Anklage und Verteidigung erst einmal zu verstehen. Was sie wirklich dachte, schrieb sie nicht nieder. […] Das Urteil gegen Janka scheint sie aber trotz aller Versuche, sie und andere die Staatsfeindlichkeit und Gefährlichkeit des Mannes einsehen zu lassen, erschüttert zu haben. Sie soll noch einmal – vergeblich – bei Ulbricht vorgesprochen und dann bei einer Freundin geweint haben, obwohl das sonst nicht ihre Art war. […] Auch an Erich Wendts Schulter soll sie in Tränen ausgebrochen sein, was er mit männlicher Herablassung registrierte. […] Dann allerdings gab sie auf. Bemühungen um eine Freilassung Jankas, wie sie vom Westen aus unternommen wurden, machte sie nicht.99
1990 druckte Sinn und Form das Novellenfragment Der gerechte Richter von Anna Seghers100; im gleichen Jahr erschien bei Aufbau eine Buchfassung.101 Der Text kann als bisher unbekannte Reaktion der Dichterin auf den Prozess gegen Janka gedeutet werden.
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Erich Loest: Genossin Anna. Zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin Anna Seghers. In: E.L.: Träumereien eines Grenzgängers. Respektlose Bemerkungen über Kultur und Politik. Stuttgart / Leipzig 2001; S. 216-226, S. 222 [Festrede in der Staatskanzlei von Rheinland-Pfalz in Mainz am 24. November 2000]. Auf Forderungen, die Literaturgeschichte umzuschreiben und Texte von Anna Seghers nicht mehr in der Schule zu lesen, äußerte Erich Loest schon 1990: „Die Literaturgeschichte muß nicht umgeschrieben, sie sollte ergänzt werden.“ (Erich Loest: Plädoyer für eine Tote. In: E.L.: Zwiebeln für den Landesvater. Bemerkungen zu Jahr und Tag. Mit einem Nachwort von Heinz Klunker. Göttingen / Leipzig 1994; S. 89-93, S. 93 [zuerst in: Sonntag v. 15.7.1990, mehrfach nachgedruckt, u.a. in: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft 1992]). Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie 1947-1983. Berlin 2003, S. 174f. Anna Seghers: Der gerechte Richter. In: Sinn und Form 42 (1990) 3, S. 479-501. Bisher war man davon ausgegangen, dass der Text 1957 / 58 entstand (vgl. u.a. den entsprechenden Hinweis beim Erstdruck); Christiane Zehl Romero vermutet jedoch eine spätere Entstehungszeit (vgl. dazu C.Z.R.: Anna Seghers. Eine Biographie 1947-1983. Berlin 2003, S. 183-185). Dies.: Der gerechte Richter. Eine Novelle. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit).
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Die Hauptfigur Viktor Gasko – Vor- und Nachnahme bestehen wie Jankas Name aus zwei Silben – hat eine ähnliche Biografie wie der damalige Leiter des Aufbau-Verlags: Äußerlich betrachtet ist auch er jemand, „der bald vierzig Jahre alt war, mit starken, dunklen Brauen und dunklem Haar, von aufrechter, stolzer Haltung“.102 Auch er hatte im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft, war danach in Frankreich interniert worden, nach der Besetzung Frankreichs in deutsche Gefangenschaft geraten und am Ende des Krieges nach Deutschland zurückgekehrt. Gasko wird verhaftet, weil er jahrelang Berichte ins Ausland geliefert haben soll. Er wird dem jungen Untersuchungsrichter Jan vorgeführt, der als „gerecht“, „erfahren und zuverlässig über seine Jahre hinaus“103 gilt und dessen Ziel es ist, „durch seinen Beruf Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen, nach einer Zeit voll Gewalt und Gemeinheit.“104 Für eine Schuld Gaskos kann Jan keinerlei Beweise finden, zudem streitet Gasko die gegen ihn erhobenen Vorwürfe ab. Professor Kalam, Jans Lehrer, ein wie Gasko von den Faschisten Verfolgter, befiehlt Jan regelrecht, den Unschuldigen für schuldig zu erklären. Gasko soll zum Geständnis gezwungen werden, doch dieser äußert „ein ums andere Mal, daß nichts und niemand ihn dazu bringen könne, etwas zu bekennen, was er niemals begangen hatte.“105 Im Laufe des Prozesses wirft der Angeklagte dem Untersuchungsrichter vor, die sozialistische Idee zu pervertieren: Was macht ihr aus dieser Idee, ihr? Sie waren auch noch ein anderer vor drei Jahren! […] Hat denn das bißchen Macht Sie so schnell verdorben? Hat man Ihnen befohlen, mich schuldig zu finden? Was hat man aus Ihnen gemacht, in drei Jahren! Wollen Sie Ihren Posten nicht verlieren?106
Jan gerät dadurch in einen unlösbaren Konflikt mit sich selbst: Ich aber, ich hab von der ersten Minute an seiner Schuld gezweifelt. Doch hab ich auch nur den geringsten Grund, an Kalams Urteil zu zweifeln? An diesem alten, treuen, ergebenen Mann? Der zehn Jahre und länger in faschistischen Kerkern gesessen hat? – Warum bin ich meinen Zweifel niemals ganz losgeworden, obwohl Kalam mir sagte, Gaskos Schuld steht unwiderlegbar fest?107
Kalam warnt Jan, der sich in seinem Gewissenskonflikt weigert, die Anklage zu formulieren: 102 103 104 105 106 107
Anna Seghers: Der gerechte Richter. In: Sinn und Form 42 (1990) 3; S. 479-501, S. 481. Ebd., S. 480. Ebd., S. 479. Ebd., S. 494. Ebd., S. 485. Ebd., S. 487.
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Sie scheinen sich da ein seltsames Bild von unserer Arbeit zu machen. […] Wie oft hab’ ich Ihnen schon versichert, daß die Schuldfrage feststeht durch die Einsicht einiger Menschen, die so hoch über mir stehen, wie –“ Er suchte einen Vergleich, darum kam Jan ihm zuvor. „Wie Sie über mir.“108
Bereits zuvor hatte Kalam geäußert: Was man dem Gasko vorwirft, kommt von einer Seite, die über jeden Zweifel erhaben ist. An der Beschuldigung, darüber mußt du dir klar sein, von vornherein, ist gar kein Zweifel möglich. Darauf stell dich ein, wenn du mit dem Mann sprichst.109
Jan überprüft seine Haltung, doch die „Verhöre in seinem Innern“110 lassen ihn immer wieder zu der Erkenntnis kommen, dass Gasko unschuldig sei. Er wird schließlich selbst verhaftet, der Prozess einem anderen Untersuchungsrichter übertragen. Als Angeklagter befindet er sich nun in der gleichen Situation wie Gasko: Er gilt als „tückischer Mensch“, „der das Recht, das ihm anvertraut worden war, hatte drehen wollen, Saboteure schützen, Verräter freisprechen.“111 Auch der für ihn zuständige Untersuchungsrichter versucht mehrfach, ihn zum Eingestehen einer Schuld zu zwingen, er leugnet jedoch und wird in ein Straflager gesteckt, wo er Gasko wiedertrifft, der einen Selbstmordversuch hinter sich hat. Beide Angeklagte bleiben konsequent und durchbrechen damit die ihnen zugedachte Rolle. Die Erzählung endet verhalten optimistisch: Jahre später treffen Gasko und Jan sich in der Freiheit wieder und bestätigen einander, dass sie im Recht seien: „Sie waren fest geblieben für sich und für alle, wenn sie dafür auch nicht gefeiert wurden, es blieb ein Sieg, ein ungefeierter […].“112 Diese Erkenntnis kann durchaus als Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus gedeutet werden. Seghers’ Text bringt letztlich vor allem die eigene Erkenntnis zum Ausdruck, dass ein Eingreifen ihrerseits in den Prozess sinnlos gewesen wäre und sie Janka ohnehin nicht hätte helfen können – eine Einschätzung, die aus heutiger Sicht fragwürdig scheint. Die Autorin hatte sich aber zumindest innerlich mit dem Prozess auseinander gesetzt, den Text jedoch nie einem Verlag angeboten: Bis 1989 befand er sich in einer Mappe, auf der „Wichtig“ und „Durcharbeiten“ stand.113 Nachdem Janka den Text zur Kenntnis genommen hatte, zeigte er sich betroffen: 108 109 110 111 112 113
Ebd., S. 489. Ebd., S. 482. Ebd., S. 491. Ebd., S. 495. Ebd., S. 501. Vgl. dazu Carola Opitz-Wiemers Michael Opitz: „Die DDR ist die Summe dessen, was vermeidbar gewesen wäre“. In: Der Ginkgobaum 11 (1992); S. 252-263, S. 258f.
3.2 Auf der Suche nach einem Phantom
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Diese Erzählung […] hat mich zutiefst erschüttert. Deshalb, weil mir immer wieder der Vorwurf gemacht wird, ich hätte Frau Seghers durch meine Kritik in eine schwierige Situation versetzt. Und ich erkläre hier wiederholt, meine Kritik richtet sich nicht gegen die Schriftstellerin. Sie richtet sich nur gegen die Genossin, die zur falschen Zeit eine falsche Parteidisziplin geübt hat. Sie hätte damals nicht mehr schweigen dürfen. Sie hätte sich auch den Luxus des Sprechens leisten können, weil sie zu den Persönlichkeiten zählte, die Ulbricht ganz bestimmt nicht angerührt hätte. […] Diese Erzählung ist für mich ein ganz furchtbares Problem. Denn sie ist mit das Beste, was Anna Seghers nach meinem Prozeß geschrieben hat. […] Diese Erzählung ist nicht nur gut geschrieben, sondern sie ist vom Inhalt her so bedeutsam, daß ich glaube, sie ist weit schwerwiegender als die letzten Romane, die Frau Seghers hier in der DDR geschrieben hat […].114
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[Interview mit Horst Lange]: Nach Tiananmen mußten wir unser Schweigen brechen. BZ mit Walter Janka im Gespräch. In: BZ v. 14. / 15.4.1990.
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Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘ Und als […] so gut wie Schluß war mit der DDR, wurde ihr Einfluß auf Sprache erst recht thematisiert, und heute ist die Zahl der Äußerungen über Sprache und Sprachlosigkeit in der DDR, über Befreiung der Sprache mit der Wende, über alte und neue Sprache kaum noch zu überblicken. Es muß was auf sich gehabt haben mit der Sprache.1 (Peter Porsch: DDR: Alltag und Sprache. Was bleibt nach der „Wende“?, 1990)
Die vorliegende Darstellung kann und will nicht den Anspruch einer linguistischen Untersuchung der ‚Wende‘-Sprache erheben.2 Sprache war und ist aber ein wichtiger und – auch in fiktionalen Texten – häufig thematisierter Aspekt der ‚Wende‘, der hier nicht außer Acht gelassen werden darf. Wolf Oschlies hält bereits 1990 fest: „Westliche wie östliche Kommentare stimmten darin überein, daß diese Revolutionen, speziell die in der DDR, durch die Sprache vorbereitet, ausgelöst, umgesetzt und fortgeführt wurden“.3 Im Folgenden soll es um grundlegende Erkenntnisse über die Sprache der ‚Wende‘-Zeit, um auf sprachlicher Ebene vorgenommene Abgrenzungen zwischen Ost und West sowie um die Rolle von Sprache in die ‚Wende‘ thematisierenden Texten gehen.
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Peter Porsch: DDR: Alltag und Sprache. Was bleibt nach der „Wende“? In: Deutsch – Eine Sprache? Wie viele Kulturen? Vorträge des Symposions abgehalten am 12. und 13. November 1990 an der Universität Kopenhagen. Hrsg. von Bjørn Ekmann, Hubert Hauser, Peter Porsch und Wolf Wucherpfennig. Kopenhagen / München 1991 (Kopenhagener Kolloquien zur deutschen Literatur, hrsg. von Klaus Bohnen und Bjørn Ekmann, Band 15 / Text & Kontext Sonderreihe, Band 30); S. 127-140, S. 127. Siehe hierzu die unter 4.4.3 in der Bibliografie genannten Titel. Wolf Oschlies: „Wir sind das Volk“. Zur Rolle der Sprache bei den Revolutionen in der DDR, Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien. Köln / Wien 1990, S. 9; Hervorhebung im Original.
4.1 Zur Sprache der ‚Wende‘
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4.1 Zur Sprache der ‚Wende‘ Vor der ‚Wende‘ war die Sprache in der DDR häufig Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Insofern verwundert es, dass die Rolle der Sprache im Zuge der Herbstereignisse 1989, der Vereinigung 1990, insbesondere aber in den Folgejahren, tendenziell unterschätzt wurde.4 Während bis in die siebziger Jahre hinein Linguisten in Ost wie West die umstrittene Auffassung vertraten, dass sich in der DDR eine eigene deutsche Sprache herausbilde5, wurde am Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre im Hinblick auf die Unterschiede zwischen der deutschen Sprache in der Bundesrepublik und der DDR festgestellt, dass diese sich „ausschließlich im Wortschatz nachweisen“ lassen: „Rechtschreibung, Aussprache und Grammatik bleiben von gesellschaftlichen Umwälzungen oder staatlichen Beeinflussungen schon deshalb verschont, weil sie für Parteiideologen uninteressant sind.“6 Trotzdem muss von der Existenz zweier „Kommunikationssysteme“ ausgegangen werden, in denen die selben Begriffe sich inhaltlich unterschieden, denn, so Horst Dieter Schlosser (1993): Nicht wenige Mißverständnisse beruhten auf der Unterstellung, daß die WendeProgramme wenn nicht politisch, so doch sprachlich von Ost wie West differenzlos verstanden werden könnten. Darin wurde die nach langem Hin und Her noch vor der Wende erzielte Übereinstimmung von Linguisten aus Ost und West mißachtet, wonach die deutsche Sprachgemeinschaft zwar noch bestehe, inzwischen aber verschiedene Kommunikationsgemeinschaften entstanden seien. Nur unter Rücksicht auf diese Differenzierung sind eben auch die Wende-Parolen angemessen zu verstehen.“7 4
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Vgl. auch Norbert Dittmar / Ursula Bredel: Vorwort. In: N.D. / U.B.: Die Sprachmauer. Die Verarbeitung der Wende und ihrer Folgen in Gesprächen mit Ost- und WestberlinerInnen. Berlin 1999; S. 5f., S. 5. Vgl. Dagmar Blei: Ist die ‚Sprache der Wende‘ eine ‚gewendete Sprache‘? Bemerkungen zum Sprachgebrauch in der (ehemaligen) DDR. In: InfoDaF 17 (1990) 4; S. 391-401, S. 393. Günther Drosdowski: Geteilte Sprache im geeinten Land? Beobachtungen zum Gebrauch des Deutschen in Ost und West zwischen 1945 und 1990. In: Allgemeine Zeitung (Mainz) v. 27.10.1990 (Wochenend-Journal); vgl. auch Zweierlei Deutsch? Über Sprachentwicklungen im geteilten Land berichtet Horst Taubmann (Süddeutscher Rundfunk, Studio Heidelberg, Wissenschaftsredaktion, Wissenschaft im Gespräch, Redaktion: Frank Niess, Sendung: 19.5.1990, SDR 2; Sendemanuskript, 21 S.). Eva-Maria Tschurenev geht heute allerdings von der Existenz einiger „Sprachgewohnheiten“ aus, „die zwar nicht überall in Ostdeutschland gebraucht, aber als selbstverständlich empfunden werden, während ein westdeutscher Gesprächsteilnehmer nicht recht weiß, wie er sie deuten soll, und gewiß auch umgekehrt.“ Für den Osten nennt sie u.a. die „passive Verbkonstruktion“ und die „[s]ubstantivische Rede“ und weist eine spezifische Verwendung des Lexems ‚man‘ nach (Eva-Maria Tschurenev: Ostdeutscher Sprachgebrauch. Was jeder kennt, muß noch einmal betont werden: Über Eigenheit und Eigenständigkeit. In: FAZ v. 2.2.2001). Horst Dieter Schlosser: Die ins Leere befreite Sprache. Wende-Texte zwischen Euphorie
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Eine Bilanz hinsichtlich DDR-spezifischer Lexeme zieht das 2000 erschienene Wörterbuch zur Sprache in der DDR8, dessen „Anliegen [...] die Darstellung des in 40 Jahren gewachsenen spezifischen DDR-Wortschatzes einschließlich seines Gebrauches“ ist.9 Das von Birgit Wolf erstellte Wörterbuch ist allerdings aus linguistischer Perspektive nicht immer ernst zu nehmen; es enthält Lexeme wie ‚Ballast der Republik‘, ‚BAM‘ und ‚Banane‘, wobei die Bearbeiterin starke Wertungen vornimmt: ‚Banane‘ etwa wird einleitend erklärt mit der Aussage „Symbol für die in allen Bereichen herrschende Mangelwirtschaft.“10 Durch solche Aussagen dürften Klischeevorstellungen eher noch verstärkt werden. Dagmar Blei (1990) weist darauf hin, dass Transparenttexte bei Demonstrationen Zeugnisse einer „kritischen Auseinandersetzung mit der administrativen Bevormundung des Volkes sowie mit den Verschleierungspraktiken des SED-Parteiapparates“ darstellen: „Auffallend ist dabei die Ausnutzung stilistischer, besonders emotional-expressiver sprachlicher Mittel und Strukturen zur Verdeutlichung des Volkswillens“.11 Zur Sprache der ‚Wende‘ und den sprachlichen Veränderungen in der Folgezeit sind mittlerweile zahlreiche Untersuchungen erschienen; die ausführlichste, sich nicht nur auf Eindrücke, sondern umfangreiches empirisches Material stützende, stammt von Norbert Dittmar und Ursula Bredel (1999).12 Die meisten Arbeiten zur Thematik erschienen jedoch zunächst in Form von Sammelbänden, die sich häufig nicht nur an ein Fachpublikum richten.13 Einen überzeugenden Überblick zur Thematik
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und bundesdeutscher Wirklichkeit. In: Muttersprache 103 (1993) 3; S. 219-230, S. 221. Birgit Wolf: Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch. Berlin / New York 2000. Hinweise zur Benutzung. In: Birgit Wolf: Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch. Berlin / New York 2000; S. X-XVII, S. X. Art. ‚Banane‘. In: Birgit Wolf: Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch. Berlin / New York 2000, S. 16. Dagmar Blei: Ist die ‚Sprache der Wende‘ eine ‚gewendete Sprache‘? Bemerkungen zum Sprachgebrauch in der (ehemaligen) DDR. In: InfoDaf 17 (1990) 4, S. 391-401, S. 397. Norbert Dittmar / Ursula Bredel: Die Sprachmauer. Die Verarbeitung der Wende und ihrer Folgen in Gesprächen mit Ost- und WestberlinerInnen. Berlin 1999. Grundlage der primär auf Methoden der Sprachsoziologie und der Diskursanalyse basierenden Studie sind Interviews mit 39 Informantinnen und Informanten aus dem früheren Ostteil Berlins und 38 aus dem früheren Westteil. Die Gespräche wurden zwischen Herbst 1993 und Frühjahr 1996 geführt, also mit vergleichsweise großem Abstand zu den historischen Ereignissen. Vgl. Von „Buschzulage“ und „Ossinachweis“. Ost-West-Deutsch in der Diskussion. Hrsg. von Ruth Reiher und Rüdiger Läzer. Berlin 1996; darin v.a.: Undine Kramer: Von Ossi-Nachweisen und Buschzulagen. Nachwendewörter – sprachliche Ausrutscher oder bewußte Etikettierung? (S. 55-69), Reinhard Hopfer: Wessianisch für Ossis. Vorschläge für eine soziolinguistische deutsch-deutsche Enzyklopädie (S. 94-109); Klaus-Dieter Ludwig:
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nebst einer umfassenden Bibliografie liefert Peter von Polenz (1993)14, wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der von Gotthard Lerchner herausgegebene Sammelband Sprachgebrauch im Wandel. Anmerkungen zur Kommunikationskultur in der DDR vor und nach der Wende (1992).15 Über so genannte Schlüsselwörter der Wendezeit informiert der gleichnamige Band, herausgegeben 1997 von Dieter Herberg, Doris Steffens und Elke Tellenbach.16 Die Verfasser weisen nach, dass die ‚Wendezeit 1989 / 90‘ über 1000 neue Wörter hervorbrachte; über die Entstehung und Bedeutung dieser Wörter wird ausführlich informiert, zahlreiche kontextualisierte Beispiele geben Aufschluss über Gebrauch und Entwicklung. Von Polenz, der in seiner Darstellung zunächst auf die „Sprachlichkeit in der Revolution“ und die „Voraussetzungen der Sprachrevolte“ eingeht, differenziert unter anderem sechs „lexikalische Formen der Sprachrevolte“: ‚Wortvermeidung / -tabuisierung‘, ‚Bezeichnungswandel‘, ‚sprachkritischer Wortersatz‘, ‚neue Feindwörter‘, ‚Bedeutungswandel / Begriffsbesetzung‘ und ‚Wortimport aus dem Westen‘.17 Daneben sieht er sechs „sprachpragmatische Formen der Sprachrevolte“: ‚alltagssprachliche und vulgäre Ausdrucksformen‘, ‚graphemische Wortspiele‘, ‚Reimsprüche‘, ‚Wortspiele mit Personennamen‘, ‚Wortspiele mit semantischer Ambiguität‘ sowie ‚variierte Sprichwörter und Redensarten‘.18 Diese Formen bilden einen ‚neuen Diskurs‘. „Dem […] Zweck der Konsolidierung des neuen Diskurses dienen interdiskursive Zitierungen und Umformulierungen von Textfragmenten aus dem alten Diskurs […].“19 Ein Beleg hierfür ist Christa Wolfs am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz gehaltene Rede: Darin heißt
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Der „Einheitsduden“ oder: Was ist geblieben? DDR-spezifischer Wortschatz im DUDEN von 1991 (S. 110-134). Als ‚Nachfolgeband‘: Mit gespaltener Zunge? Die deutsche Sprache nach dem Fall der Mauer. Hrsg. von Ruth Reiher und Antje Baumann. Berlin 2000; darin zusammenfassend Ruth Reiher / Antje Baumann: Vorwort. Vom „Wendedeutsch“ zum „Gesamtdeutsch“ (S. 7-15). Peter von Polenz: Die Sprachrevolte in der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik. In: ZGL 21 (1993) 2, S. 127149. Gotthard Lerchner (Hg.): Sprachgebrauch im Wandel. Anmerkungen zur Kommunikationskultur in der DDR vor und nach der Wende. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1992 (Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte, Band 1). Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. WörterBuch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6). Peter von Polenz: Die Sprachrevolte in der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik. In: ZGL 21 (1993) 2; S. 127-149 S. 132f. Ebd., S. 133-135. Ebd., S. 136; Hervorhebung im Original.
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es: „[…] wir drehen alte Losungen um, die uns gedrückt und verletzt haben, und geben sie postwendend zurück.“20 Sie selbst tut dies mit einer Redewendung, die auf Marx bzw. Hegel zurückgeht – „[…] dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße“21 – und mit zwei Lenin variierenden Zitaten: „‚Mißtrauen ist gut, Kontrolle noch besser‘“22 sowie „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg! Sehen aber die Bilder der immer noch Weggehenden, fragen uns: Was tun? Und hören als Echo die Antwort: Was tun!“23 Die ‚Wende‘ hat mehrere Phraseologismen hervorgebracht, die mittlerweile feste Bestandteile der deutschen Sprache sind, beispielsweise Gorbatschows Ausspruch „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, die Losung „Wir sind das Volk“ und Willy Brandts Äußerung „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“.24 „Wir sind das Volk“ wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum „Satz des Jahres“ 1989 gewählt.25 Hervorzuheben ist die Vielzahl der ‚Losungen‘ der Demonstrierenden: „Wir sind das Volk“, „Wir bleiben hier“, „Keine Gewalt“, „Mit dem Fahrrad durch Europa, aber nicht als alter Opa“, „Vorschlag für den 1. Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei“, „40 Jahre DDR: Ruinen schaffen ohne Waffen“.26 Peter von Polenz schränkt jedoch ein: Die DDR-Sprachrevolte dauerte nur einen Herbst lang. Schon im Dezember wurde auf Demonstrationen und Kundgebungen immer mehr von Fahnenschwenkern
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Christa Wolf: Sprache der Wende. Rede auf dem Alexanderplatz. In: C.W.: Reden im Herbst. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 119-121, S. 120. Ebd., S. 119. Ebd., S. 120. Ebd. Hier bezieht sich Christa Wolf auf Lenin und dessen Schrift Was tun? von 1902. Deren Titel ist wiederum von Nikolaj Tschernyschewskijs gleichnamigem Roman von 1863 abgeleitet. Willy Brandt: … und Berlin wird leben. Berlin, John-F.-Kennedy-Platz, 10. November 1989. In: W.B.: „… was zusammengehört“. Über Deutschland. 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bonn 1993; S. 33-38, S. 36. „Wort des Jahres“ 1989 wurde ebenfalls ein ‚Wendewort‘: ‚Reisefreiheit‘; 1990 folgten ‚die neuen Bundesländer‘, 1991 ‚Besserwessi‘. Vgl. dazu auch: Losungen auf den Transparenten während der Protestdemonstration auf dem Alexanderplatz in Berlin am 4. November und der Montagsdemonstrationen in Leipzig. In: Charles Schüddekopf (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Reinbek 1990, S. 205f.; Leo Hoppert: Egon reiß [sic] die Mauer ein … Leipziger DEMO-Sprüche. Münster 1990; Ewald Lang: Wendehals & Stasi-Laus. Demo-Sprüche vor der Wende. München 1999 (Heyne Mini Nr. 33 / 1451) sowie Ruth Reiher: „Wir sind das Volk“. Sprachwissenschaftliche Überlegungen zu den Losungen des Herbstes 1989. In: Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende“ und „Vereinigung“. Hrsg. von Armin Burkhardt, K. Peter Fritzsche. Berlin / New York 1992 (Sprache, Politik, Öffentlichkeit, Band 1), S. 45-57.
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„Deutschland – einig Vaterland“ gerufen, und die witzigen, sprachkreativen Sprüche wurden immer seltener.27
Im Zusammenhang mit den Stasi-Akten ist zu betonen, dass die spezifische Sprache, in der die zahllosen Berichte und anderen Aufzeichnungen gehalten sind, ein nahezu unerschöpfliches Forschungsgebiet für Linguisten darstellt.28 In der Zeit der ‚Wende‘ gingen zudem Lexeme, die zuvor ausschließlich dem internen Sprachgebrauch des Ministeriums für Staatssicherheit zuzurechnen waren, von einem Tag auf den anderen in den öffentlichen Sprachgebrauch über.29 Frank Schirrmacher (1995) schlägt einen Bogen zum Jahr 1945, indem er feststellt: „Das Vokabular der Wende, das wird eine spätere Philologie detailliert erweisen, war in weiten Teilen und nicht ohne demagogischen Unterton dem Jahr 1945 entnommen.“ Denn „[n]och einmal, wenn auch auf zivilere Weise, schien eine Stunde Null zu schlagen. Von Siegern und Besiegten war die Rede, von einer westdeutschen ‚Besatzungsmacht‘, von neuen Persilscheinen und alten Kollaborationen.“30 Das ist zweifellos richtig, greift aber nicht weit genug, da Vokabeln wie ‚Anschluss‘ nicht in Schirrmachers Konzept passen. Im Hinblick auf andere Schlagworte aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, die nun wieder aufleben, ist ihm allerdings Recht zu geben, etwa im Falle von: ‚verlorene Jahre‘, ‚Nachholbedarf‘, ‚Normalisierung‘, ‚Vergangenheitsbewältigung‘. Die Forderungen der an der ‚Wende‘ aktiv Beteiligten fasst Horst Dieter Schlosser (1993) in sechs Punkten zusammen: 1. Zielpunkt der Reformforderungen ist die DDR, der sich die Dissidenten trotz aller Kritik emotional verbunden fühlen (unser Land, unser Staat). 2. Die DDR ist reformierbar und muß im Sinne von Ideen und Idealen reformiert werden, die unter dem Namen der SED nur deformiert waren. […] 27
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Peter von Polenz: Die Sprachrevolte der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik. In: ZGL 21 (1993) 2; 127-149 S. 137; Hervorhebung im Original. Die bisher erschienenen Analysen tragen allerdings kaum der Tatsache Rechnung, dass mit dem Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit ein eigenes „Wörterbuch der Stasi“ mit normativem Anspruch existierte; vgl. Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit“. Hrsg. von Siegfried Suckut. 3. Auflage. Berlin 2001 (Analysen und Dokumente, Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik; 5). Vgl. dazu auch Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6); S. 276-291, insbesondere S. 276. Frank Schirrmacher: Wir und die Einheit: In: Die politische Meinung 40 (1995) 311, S. 55-63, S. 55.
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3. Insbesondere die Normen des sozialen Miteinanders, die in der antikapitalistischen Wendung der DDR begünstigt schienen, müssen bewahrt oder – in Anlehnung an Gorbatschows Umgestaltungsprogramm – reformuliert werden. Dafür taugt zumindest nach Meinung einiger Gruppen immer noch der Begriff Sozialismus (eigentlicher Sozialismus). 4. Auch in sächlicher Hinsicht ist Bewährtes zu erhalten; aber es muß aus den einschnürenden Bedingungen des SED-Machtmonopols befreit werden. Ökologische Erfordernisse dürfen nicht weiter verdrängt werden. 5. Von westlichen Demokratien sind jene Elemente politischer Ordnung zu übernehmen, welche die Freiheit für alle erweitern und sichern. 6. Das Verhältnis der Deutschen in Ost und West kann nur bei einer Reform der beiden Staaten auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die marktwirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik kann nur bedingt Anregungen geben, da sie Risiken für den Zusammenhalt der Gesellschaft in sich birgt (Ellenbogengesellschaft).31
Für das Scheitern dieser Forderungen macht er auch sprachliche Schwierigkeiten verantwortlich; er erkennt eine „allmähliche Auflösung der Wende und ihrer Sprache“32: 1. Die Reflexionen und Aufrufe der Dissidenten befreiten sich zwar in wichtigen Punkten von der Gängelung durch die SED-Sprachlenkung, konnten aber die Lücke, die das SED-Offizialidiom nach seiner Verdrängung hinterließ, nicht wirksam füllen. Dafür fehlte der ‚neuen Sprache‘ schlicht die Bewährung im politischen Alltag. 2. Die Sprache der Dissidenten war in wesentlichen Bereichen noch weit von einer terminologischen Fixierung der programmatischen Aussagen entfernt, die eine Anwendung in politischer Praxis erlaubt hätte. Darin ähnelt sie (anders als die verschwommene Rhetorik westdeutscher Prägung) auf sympathische Weise der semantischen Offenheit alltagssprachlicher und literarischer Gepflogenheiten in der DDR. 3. Damit fehlte aber der bis dahin weitgehend auf Nichtoffizielles beschränkten Alltagskommunikation ein Halt, den das SED-Offizialidiom für alle überindividuellen Regelungen auf seine Weise durchaus geboten hatte. 4. Die Auseinandersetzung mit den sich schon unter der Modrow-Regierung deutlich wandelnden äußeren Lebensumständen, erst recht mit den radikal neuen Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie und der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion […] konnte nun weder in der oft noch zu allgemeinen Programmsprache der Wende-Akteure noch in der für den offiziellen Bereich untauglich gemachten Alltagssprache geleistet werden.
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Horst Dieter Schlosser: Die ins Leere befreite Sprache. Wende-Texte zwischen Euphorie und bundesdeutscher Wirklichkeit. In: Muttersprache 103 (1993) 3; S. 219-230, S. 228; Hervorhebungen im Original. Ebd.; im Original kursiv.
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5. Die DDR-Bevölkerung mußte ab 1990 eine ihr zutiefst fremde ‚Sprache‘, die Spezialcodes einer neuen Bürokratie, neuer Wirtschafts- und Sozialstrukturen lernen. Schon dadurch wurde dem weitverbreiteten Gefühl, es sei alles nur übergestülpt worden, der Boden bereitet.“33
Peter Porsch (1990) sieht in der Sprache der Wendezeit einen jetzt unübersehbaren Nachteil. Mit ihr waren keine wirklichen Programme zum Aufbau der Alternative zu formulieren. Die in den Losungen enthaltenen Handlungsaufforderungen wirkten durch ihre Paradoxie, wurden aber nicht wörtlich genommen. […] Den Sieg im Bereich der Programmatik trug hingegen mehr und mehr die ‚Sprache‘ der bundesdeutschen Alt-Parteien davon.34
Nach der ‚Wende‘ war also gewissermaßen ein ‚Sprachvakuum‘ entstanden: Die ‚alte‘, offizielle Sprache der DDR galt nicht mehr, vor allem durch den Zusammenbruch der entsprechenden Institutionen. Eine ‚neue‘ Sprache, wie sie immer wieder eingefordert wurde, konnte sich nicht etablieren, da – parallel zum Vormarsch des Westens auch auf anderen Gebieten – die westliche bzw. westdeutsche offizielle Sprache an die Stelle des Vakuums trat.35 Peter von Polenz (1993) bestätigt diese Entwicklung; nach der Vereinigung sah „es so aus, als würde der bisherige westdeutsche Sprachgebrauch nun ganz selbstverständlich als gesamtdeutscher aufgefaßt.“36 Denn [n]ach der vorübergehenden Phase spontaner, sprachkreativer Befreiung von hochgradig ideologisierter, institutionalisierter und ritualisierter Sprache gerieten die neuen Bundesbürger also in die beispiellose sprachpolitische Situation, sich sehr rasch ein bisher nur oberflächlich rezipiertes oder imitiertes System öffentlicher Kommunikation total aneignen zu müssen, ohne in diesen Prozeß viel Eigenes einbringen zu können. Die daraus entstandene Ratlosigkeit drückt sich in dem zu diesem Thema ‚wohl häufigsten Satz von Schülern, Eltern und Kollegen‘ einer Schule hart an der ehemaligen Grenze aus: Es ist nicht alles schlecht gewesen in der DDR […].37
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Ebd., S. 230; Hervorhebung im Original. Peter Porsch: DDR: Alltag und Sprache. Was bleibt nach der „Wende“? In: Deutsch – Eine Sprache? Wie viele Kulturen? Vorträge des Symposions abgehalten am 12. und 13. November 1990 an der Universität Kopenhagen. Hrsg. von Bjørn Ekmann, Hubert Hauser, Peter Porsch und Wolf Wucherpfennig. Kopenhagen / München 1991 (Text & Kontext Sonderreihe, Band 30); S. 127-140, S. 136. Vgl. auch Dagmar Blei: Ist die ‚Sprache der Wende‘ eine ‚gewendete Sprache‘? Bemerkungen zum Sprachgebrauch in der (ehemaligen) DDR. In: InfoDaF 17 (1990) 4; S. 391-401, S. 391. Peter von Polenz: Die Sprachrevolte der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik. In: ZGL 21 (1993) 2; S. 127-149, S. 139. Ebd., S. 139f.; Hervorhebung im Original.
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Von der oben erwähnten ‚neuen‘ Sprache ist immer wieder die Rede. Helga Königsdorf äußert sich 1990 ironisch zu diesem Thema: Überhaupt muß ich nun noch einmal eine neue Sprache lernen. Und das ist gut so. Denn die alte war, weiß Gott, nicht hübsch. Die neue Sprache ist feiner, wie alles jetzt ein bißchen feiner wird. Wie schön das doch klingt: Liberalisierung der Preise. Da wären wir früher nie drauf gekommen.38
Peter Schneider (*1940) gibt in seinem Essay Man kann sogar ein Erbeben verpassen (1990) Beispiele für die Bedeutungsverschiebungen von Wörtern durch die ‚Wende‘: Die gesprochene und geschriebene Sprache hat sich fast über Nacht verändert. Ganze Territorien der politischen Umgangssprache stehen plötzlich verlassen da, andere, längst vergessene werden wiederentdeckt und neu besiedelt. Zum Beispiel ist das Wort „Kommunismus“ entweder gar nicht mehr oder nur noch in Verbindung mit dem Wort „Katastrophe“ zu hören. Der Begriff „Sozialismus“ wird, wenn überhaupt, nur noch mit dem hastig vorgehaltenen Adjektiv „demokratisch“ verwendet. Eine rätselhafte Variante dazu liefert die Rede vom „sozialistischen Sozialismus“ oder auch von „sozialistischer Marktwirtschaft“. Und was ist aus dem bis dato vielgebrauchten Begriff „Antikommunist“ geworden? Wenn nicht alles täuscht, ist das ehrwürdige Schimpfwort auf dem besten Weg, ein Ehrentitel zu werden.39
Der Prozess des Sprachwandels lässt sich anhand verschiedener Ereignisse verdeutlichen: Im Laufe des Jahres 1989 wurde immer häufiger ein Kommunikationsproblem innerhalb der DDR thematisiert. Welchen Stellenwert diese Problematik in der zweiten Jahreshälfte gewonnen hat, belegt der Gründungsaufruf des Neuen Forums vom 10. September 1989: „In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.“40 Ähnliche Forumlierungen finden sich in den Gründungsaufrufen weiterer Gruppen, etwa des Demokratischen Aufbruchs am 1. Oktober 1989.41 Bemerkenswert ist an dem oben zitierten Satz nicht nur das offene
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Helga Königsdorf: Es lebe der Kapitalismus! In: ND v. 21. / 22.7.1990. Peter Schneider: Man kann sogar ein Erdbeben verpassen. Plädoyer für eine Vergangenheitsbewältigung der Linken. In: Die Zeit v. 27.4.1990. „Aufbruch 89 – Neues Forum“. Gründungsaufruf des Neuen Forum vom 10. September 1989. In: Charles Schüddekopf (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Reinbek 1990; S. 29-31, S. 29. Vgl. dazu Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland. Köln 1993, S. 337ff.
4.1 Zur Sprache der ‚Wende‘
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Ansprechen eines Kommunikationsproblems, sondern das Negieren der von der DDR offiziell propagierten Einheit von Staat und Gesellschaft. Vor allem nach Überschreiten des Höhepunkts der Bürgerbewegung rückt die Sprache immer stärker ins Zentrum von Ansprachen und Predigttexten. So auch im Rahmen der Demonstration der Berliner Kulturschaffenden auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989. Sprache ist in mehreren Beiträgen das wesentliche Thema.42 Das belegen die folgenden Ausschnitte aus Reden, die mit rund einer Million Menschen ein außerordentlich großes Publikum fanden.43 Stefan Heym wendet sich vor allem gegen die offizielle Sprache in der DDR: Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen. Den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung!44
Christa Wolf macht die Sprache zum Hauptgegenstand ihrer Rede. Sie beginnt: Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei über die Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zurufen: Demokratie – jetzt oder nie! Und wir meinen Volksherrschaft […].45
Statt von „Wende“ würde sie allerdings lieber von „revolutionärer Erneuerung“ sprechen.46 Sie bemerkt:
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Vgl. dazu auch Johannes Volmert: Auf der Suche nach einer neuen Rhetorik. Ansprachen auf den Massendemonstrationen Anfang November ’89. In: Sprache im Umbruch. Politischer Sprachwandel im Zeichen von „Wende“ und „Vereinigung“. Hrsg. von Armin Burkhardt, K. Peter Fritzsche. Berlin / New York 1992 (Sprache, Politik, Öffentlichkeit, Band 1), S. 59-110 sowie Reinhard Hopfer: Christa Wolfs Streit mit dem „großen Bruder“. Politische Diskurse der DDR im Herbst 1989. In: Ebd., S. 111-133. Bei Volmert, der auch ausführlich auf die Ansprachen auf der Leipziger Montagsdemonstration vom 6. November 1989 eingeht, finden sich zudem Transkriptionen der Ansprachen von Stefan Heym, Christoph Hein, Friedrich Schorlemmer und Christa Wolf. Eine erzählerische Verarbeitung dieser Veranstaltung findet sich bei Volker Braun; vgl. V.B.: Das Nichtgelebte. Eine Erzählung. Leipzig 1995 (Die Sisyphosse, Eine Bücherreihe), S. 14. Beitrag von Stefan Heym zu: Reden auf der Demonstration für Pressefreiheit in Berlin. In: ndl 38 (1990) 3; S. 173-177; S. 176f., S. 176. Christa Wolf: Sprache der Wende. Rede auf dem Alexanderplatz. In: C.W.: Reden im Herbst. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 119-121, S. 119. Ebd.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war, und erinnert sich ihrer Gefühlswörter. Eines davon ist „Traum“. Also träumen wir mit hellwacher Vernunft.47
Als wichtigster Satz der zurückliegenden Wochen gilt für sie „der tausendfache Ruf: Wir – sind – das – Volk! Eine schlichte Feststellung. Die wollen wir nicht vergessen.“48 Vergleichsweise früh bezieht sich Wolf auch auf die Wörter ‚Dialog‘ und ‚Wendehälse‘.49 Bereits im Oktober hatte sie in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die Bedeutung der Sprache für eine Umsetzung der Forderungen der Bürgerbewegung hervorgehoben: Was ich verstehe, ist, daß das Gespräch, das in der DDR an der Basis im weitesten Umfang begonnen hat, öffentlich werden muß. Das bedeutet, daß die Medien – das ist meiner Ansicht nach der erste Schritt – sich für dieses Gespräch öffnen müssen. Wenn in den Medien eine andere Sprache gesprochen wird, eine Sprache der Vernunft und eine Sprache der Mäßigung, so bin ich ganz sicher, daß ein großer Teil der Bevölkerung, der auf diese Sprache wartet, bereit ist zuzuhören, auch zuzuhören den Argumenten, die meinetwegen anderen Argumenten dann entgegengestellt werden – können und müssen. Aber es müssen Argumente sein. Es dürfen nicht Verhöhnungen sein.50
Sprache erscheint ihr letztlich als einziges Mittel, etwas zu bewegen51: Im Namen von Künstlern und Vertretern von Bürgerinititativen erklärt Wolf am 8. November 1989 im DDR-Fernsehen, unter besonderem Hinweis darauf, „kein anderes Mittel als unsere Worte“ zu haben: […] wir alle sind tief beunruhigt. Wir sehen die Tausende, die täglich unser Land verlassen. Wir wissen, daß eine verfehlte Politik bis in die letzten Tage hinein ihr [sic] Mißtrauen in die Erneuerung dieses Gemeinwesens bestärkt hat. Wir sind uns der Ohnmacht der Worte gegenüber Massenbewegungen bewußt, aber wir haben kein anderes Mittel als unsere Worte. Die jetzt noch weggehen, mindern unsere Hoffnung. Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns!52 47 48 49 50
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Ebd., S. 120. Ebd., S. 121. Ebd., S. 119 bzw. S. 120. Interview des Deutschlandfunks mit Christa Wolf [8.10.1989]. In: ndl 38 (1990) 1; S. 168-172, S. 171; Hervorhebung im Original [zuerst in: Deutsche Volkszeitung / die tat v. 13.10.1989]. Auch und gerade im zeitlichen Umfeld der ‚Wende‘ thematisiert sie immer wieder die Sprache; vgl. dazu die zahlreichen in Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994 (Köln 1994) abgedruckten Beiträge. Appell Christa Wolfs an DDR-Bürger: Fassen Sie Vertrauen! Erklärung von Künstlern und Vertretern von fünf Bürgerinitiativen im DDR-Fernsehen. In: ND v. 9.11.1989.
4.1 Zur Sprache der ‚Wende‘
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Almuth Berger, Pfarrerin an der St. Bartholomäuskirche in Berlin, erhebt in ihrer am 13. November 1989 gehaltenen Ansprache die Sprachlosigkeit vor der ‚Wende‘ zum Thema und setzt diese ins Verhältnis zur aktuellen Situation: Wir waren lange sprachlos, und unsere Zunge war gefesselt. Wir haben geschwiegen in der Elternversammlung und im Betrieb, in der Volkskammer und auf der Straße. Wir haben höchstens hinter vorgehaltener Hand geredet oder in unseren vier Wänden oder vielleicht noch in kirchlichen Räumen. Wir haben unsere Kinder gelehrt zu schweigen und vieles zu verschweigen. Wir haben es viele Jahre lang immer wieder aufgeschoben zu reden, mancher hat es dabei fast ganz verlernt, andere – viele andere – sind gegangen, weil sie nicht länger schweigen wollten. […] Aber das Wunder ist geschehen: Hunderttausende sind auf die Straße gegangen – in Leipzig und Dresden und Berlin, in Plauen oder Magdeburg oder Eisenach … Sie sind nicht mehr stumm, sondern sie reden und rufen und veschaffen sich Gehör: „Wir sind das Volk!“ Wir haben endlich eine Sprache gefunden für unsere Wünsche und Sorgen, unsere Hoffnungen und Nöte, und wir müssen dafür sorgen, daß wir auch in Zukunft nicht mehr zu überhören sind, daß wir das Sprechen nicht wieder verlernen und daß wir es unsere Kinder richtig lehren. Es ist wunderbar zu merken, wie Menschen reden können und befreit sind, wie sie aufleben, die Journalisten z.B., wie da etwas heil wird, was lange kaputt war.53
Peter Stahl (1990) hebt kurz nach Inkrafttreten der Währungsunion die Verluste auch im Bereich der Sprache hervor, die das Ende der DDR-Mark mit sich bringt. Denn mit dem Verlust der Währung geht der Verlust vieler DDR-spezifischer Geschäfte, Waren und Gepflogenheiten einher – und damit zugleich der entsprechenden Ausdrücke und Wendungen: Nun ist sie tot! Unsere, ach, so oft zu leicht verdiente Begleiterin in HO, WtB und FZR, in die Komplexannahmestellen, die Getränkestützpunkte und neuerschlossenen Erlebnisbereiche. Sie, die uns dazu verhalf, die Höhen der Kultur zu erstürmen, Nationalpreisträger zu bezahlen und Ehekredite zu tilgen, sie, die nicht müßig war, Füllhörner zu füllen wie den Kulturfonds der DDR, das Konto junger Sozialisten, den Jahresendprämienfonds. Sie, die in klingender (oder scheppernder) Münze so großartige Orden und Ehren begleitete wie Aktivist der ersten Stunde, Held der sozialistischen Arbeit, Kollektiv der sozialistischen Arbeit, Karl-Marx- und Orden der Völkerfreundschaft, sie ist nicht mehr!
53
Almuth Berger: Wir waren zu lange stumm. Ansprache in der Gethsemanekirche OstBerlin bei der Andacht am 13. November. In: Räumt die Steine hinweg. DDR Herbst 1989. Geistliche Reden im politischen Aufbruch. Mit einem Geleitwort von Heinrich Albertz. Hrsg. von Andreas Ebert, Johanna Haberer und Friedrich Kraft. München 1989 (Sonntagsblatt-Taschenbuch); S. 71-75, S. 72f.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Wie werden wir nun weiterleben ohne sie? So liebgewordene Sätze wie „Sie werden placiert!“, werden wir sie noch vernehmen? Werden wir uns in Beschwerdebüchern noch über Sättigungsbeilagen, Beratungsmuster und Behelfsverpackungen für Vierfruchtmarmelade äußern dürfen? Werden wir uns noch wundern können über Mitteilungen wie: Reserviert! Zur Zeit keine Bedienung! Wegen Warenannahme geschlossen! Aus technischen Gründen geschlossen! […] Die teure Tote regierte nach Plan. Unser und der Weg der Wirtschaft ward vorgezeichnet. Wir wollten überholen, ohne einzuholen, wir wurden berufsgelenkt und jugendgeweiht. Wir hatten unsere Hausgemeinschaft und unseren Vertrauensmann, den sozialistischen Wettbewerb, die Fahrt zum Ettersberg, unsere Pfingsttreffen mit Winkelementen, Traditionskabinette und Fahnenappelle, wir schlenderten durch die Straßen der Besten, wir hatten Erntekapitäne, Kombinate und PGH, LPG, BHG, VdgB, VEB und VEG.54
Fasst man den Inhalt der oben zitierten Redeausschnitte, Kommentare und Stellungnahmen zusammen, so lässt sich erkennen, dass der Sprache eine Indikatorfunktion für den jeweiligen Status quo von ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ zukommt: Ihre Veränderung im Sinne einer Befreiung ist eines der nicht zu unterschätzenden Ergebnisse der Bürgerbewegung. Nach der Vereinigung beider deutscher Staaten tritt dagegen die Diskussion um ein deutsch-deutsches Sprach- bzw. Kommunikationsproblem in den Vordergrund. Insofern verwundert es nicht, dass Horst Drescher folgende „Literaturfrage ’91“ stellt: „Die schicksalsschwangere bange Frage für den ehemaligen DDR-Schriftsteller heute, sie lautet: Ist von Ihnen schon etwas ins Westdeutsche übersetzt worden?!“55 Doch hinter dem scheinbaren Sprachproblem verbergen sich vielmehr die unterschiedlichen Erfahrungen der Ost- und der Westdeutschen. Vor allem im Zusammenhang mit der so genannten ‚Protokoll-Literatur‘ (vgl. 5.2.1.1) gewinnt dieser Aspekt an Bedeutung: Angelika Behnk und Ruth Westerwelle bringen in Die Frauen von ORWO (1995) mehrfach die Verständigungsschwierigkeiten zum Ausdruck, die sie als Frauen aus dem Westen in Gesprächen mit Frauen aus dem Osten hatten. Im Vorwort heißt es: „Die ‚Film‘ war unser Leben“, wie oft hörten wir diesen Satz. Wir verstanden die Verbundenheit, wenn wir z.B. an das Leben im ‚Kohlenpott‘-Revier in Westdeutschland dachten. Immer wieder suchten wir nach ‚Übersetzungsbeispielen‘ aus dem Westen, um zu verstehen. Manchmal lieferten die Frauen selbst die Übersetzungen; sie kannten sich bereits im Westterminus [sic] aus, während wir oft ratlos nach Begriffen suchten. Diese ‚Übersetzungen‘ brachten uns aber auch zu einem neuen Nachdenken über unser Leben im Westen.56 54 55 56
Peter Stahl: Ostgeld. In: Sonntag v. 22.7.1990 (Rücksichten). Horst Drescher: Literaturfrage ’91. In: Nie wieder Ismus! Neue deutsche Satire. Hrsg. von Manfred und Christine Wolter. Berlin 1992; S. 99, S. 99. Angelika Behnk / Ruth Westerwelle: Vorwort / Zwei Westfrauen machen sich auf den Weg,
4.1 Zur Sprache der ‚Wende‘
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Noch Jahre nach der ‚Wende‘ bestehen diese Unterschiede. Wendelin Szalai (1998) weist im Zusammenhang mit seinen Überlegungen über ‚Wossis‘ im Rahmen der „Dresdner Erzählwerkstatt“ auf die Notwendigkeit einer „mentale[n] Dolmetscherleistung“ hin: Die Wessis, die hier sind, sind ja „Wossis“, das ist eine besondere Spezies. Westdeutsche, die hierher gekommen sind, leben zwei Perspektiven in sich. Und die braucht man noch sehr lange. Die mentale Dolmetscherleistung, die hat man am Anfang unterschätzt. Gelegenheiten wie diese, wo man sich in Gruppen Zeit nimmt, um miteinander zu reden, sind ein Weg, um innere Vereinigung – wenn man schon dieses abgedroschene Wort nimmt – zu erreichen. Das ist ein Langzeitprozeß. Die Enttäuschung […] hängt damit zusammen, daß die politische und juristische Vereinigung nach sieben Jahren die eine Sache ist, die äußerliche. Aber die mentale, die innere Vereinigung, die dauert sehr lange.57
In diesem Zusammenhang sei auf Ursula Bredels 1999 erschienene umfassende „Studie zur narrativen Verarbeitung der ‚Wende‘ 1989“58 verwiesen. Erzählen ist für sie „das prominente sprachliche Alltagsmuster zur Bearbeitung von Bruchstellen im individuellen Erleben“59 und „keine Ad-hoc-Konstruktion des Alltags, sondern eine regelhafte kommunikative Ressource zur interaktivem Darstellung und Bewältigung vergangener Wirklichkeit.“60 Das Erzählen besitzt damit einen zentralen Stellenwert auch und gerade für die – eben nicht nur sprachliche – Bewältigung der Ereignisse im Herbst 1989 und danach. Basis für Bredels Untersuchungen ist ein umfangreiches Korpus zwischen 1991 und 1996 entstandener narrativer Interviews. Ziel der Linguistin ist es, die ‚Sprache in Umbruchsituationen‘ zu charakterisieren und damit auch zu ergründen, inwieweit das ‚Erzählen im Umbruch‘ Veränderungen unterliegt. Sie erstellt deshalb in ihrer Untersuchung unter anderem eine struktur-funktionale Erzähltypologie des Umbruchs61, deren Adaption allerdings im Rahmen einer primär literaturwissenschaftlichen Untersuchung wenig hilfreich scheint, an dieser Stelle jedoch nicht unerwähnt bleiben soll.
57
58 59 60 61
Ostfrauen zu einem Stück Industriegeschichte zu befragen. In: A.B. / R.W.: Die Frauen von ORWO. 13 Lebensbilder. Leipzig 1995; S. 6-13, S. 7. Standpunkte austauschen: Motivationen, sich anzunähern. Neugier auf andere und sich selbst. In: Dreizehn deutsche Geschichten. Erzähltes Leben aus Ost und West. Hrsg. von Winfried Ripp und Wendelin Szalai. Hamburg 1998; S. 11-39, S. 24f. Ursula Bredel: Erzählen im Umbruch. Studie zur narrativen Verarbeitung der „Wende“ 1989. Tübingen 1999 (Stauffenburg-Linguistik). Ebd., S. 13. Ebd., S. 13f. Vgl. zusammenfassend: VI. Schlußbetrachtung. In: Ebd., S. 183-186.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
4.2 ‚Wendesprache‘ und ‚Wendeliteratur‘ Der rasante Wandel der Sprache, insbesondere im Bereich der Lexik, wird auch in zahlreichen fiktionalen Texten beschrieben, beispielsweise in Bernd Schirmers (*1940) Roman Schlehweins Giraffe (1992). Das titelgebende Tier hat Carl-Ernst Schlehwein, ein Freund des Ich-Erzählers, für 50 DM bei der Abwicklung eines volkseigenen Tierparks62 erstanden, gibt es aber schließlich in die Obhut des Ich-Erzählers. Dieser schreibt alle Wörter auf, die er nach der ‚Wende‘ für bemerkenswert hält. Dabei stellt er fest, dass viele Wörter einen neuen Stellenwert erhalten, aber auch einen Bedeutungswandel erfahren haben: „Umdenken, einklagen, Seilschaft, Altlast, Warteschleife, Wendehals, herunterfahren, abwickeln, abschmelzen, Treuhand, filetieren.“63 Andere Wörter haben nun „Konjunktur“: „Wende. Wendehals. Mauerspecht. Wahnsinn. […] Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Marketing. Holding. Outfit. Stasisyndrom. Wegbrechen. Wohlstandsmauer.“64 Da er selbst mit seiner Wortsammlung „nichts anfangen“ kann, schenkt der Ich-Erzähler sie dem Schriftsteller Ralph B. Schneiderheinze, mit dem er des Öfteren verwechselt wird. In dieser Sammlung enthalten sind auch folgende Wörter: Blockflöte, Begrüßungsgeld, Wahlfälscher, Mahnwache, Seilschaft, Mauerspecht, Altlast, Devisenbeschaffer, flächendeckend, Talsohle, Warteschleife, plattwalzen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, Schnäppchen, Evaluierung, runder Tisch, unterpflügen, überführen, überstülpen, Wohngeld, Schnupperpreis, sich rechnen, Superossi, Verbraucherzentrale, abschmelzen, Filetstück, Koko-Imperium.65
Eine ähnliche, allerdings weniger umfangreiche Aufzählung findet sich in Peter F. Müllers (*1954) und Wolfgang Sabaths (*1937) „Realsatire“ Peanuts aus Halle (1998): „Neue Vokabeln wie ‚Fashion‘, ‚Center‘ und ‚Discount‘ kamen auf. Die Alten verstanden erst nur Bahnhof, dafür waren die Jüngeren um so fixer.“66
62
63 64 65 66
Schirmers Roman stellt nicht die einzige literarische Verarbeitung der Abwicklung eines Tierparks dar. Rolf Liebold macht die Schließung des Tierparks Friedrichsfelde, der vermutlich auch Schirmer Pate stand, zum Gegenstand einer seiner „Ossi“-Satiren. Vgl. Rolf Liebold: Ossi im Tierpark. Oder: In dieser verrückten Zeit braucht man eben ein dickes Fell. In: R.L.: Geschichten vom kleinen Ossi. Alte und neue Abenteuer im Ländchen der Wendehälse. Mit 27 Zeichnungen von Heinz Jankofsky. Berlin 1991, S. 117-121. Bernd Schirmer: Schlehweins Giraffe. Roman. Frankfurt a.M. 1992, S. 18. Ebd., S. 28. Ebd., S. 141. Peter F. Müller / Wolfgang Sabath: Prolog zu: P.F.M. / W.S.: Peanuts aus Halle. Eine Realsatire zur Vereinigungskriminalität. Berlin 1998; S. 9-12, S. 9.
4.2 ‚Wendesprache‘ und ‚Wendeliteratur‘
111
Dass ein Teil dieser Wörter bereits nach wenigen Jahren vergessen war, zeigt sich an folgendem Beispiel aus Brigitte Burmeisters (*1940) Roman Pollok und die Attentäterin (1999). Die Ich-Erzählerin meint rückblickend: Zur Wendezeit in aller Munde hier, eine plötzlich populäre Zauberformel, sogar Herr Reim hatte eines Tages, während er mir ein Kotelettstück auslöste, beschwingt von Beziehungen zu einem potentiellen Geschäftspartner in Westfalen gesprochen, dann nicht mehr, mit der gescheiterten Unternehmensgemeinschaft auch das Wort aufgegeben. Wer setzte noch auf joint ventures, einen Hoffnungsträger an runden Tischen von damals, ein zurückgetretenes, inzwischen belächeltes Wort. Komisch, daß es mir jetzt einfiel […].67
Das im essayistischen Bereich am häufigsten diskutierte Wort dürfte der Ausruf „Wahnsinn!“ sein. So betont Roger Willemsen (*1955) in Gehe nicht über Los! (1991): „Wahnsinn“, immer wieder „Wahnsinn“, „das ist Wahnsinn“, jedenfalls „unbeschreiblich“ oder „unbegreiflich“, aber am ehesten doch „Wahnsinn“. Das Überschreiten der Grenze zeigte die neuen Deutschen in einem sprachkritischen Delirium, sie konnten es einfach nicht ausdrücken, und wie im Liebeslied die Worte immer zu schwach sind, all die Leidenschaft zu fassen, liebten sich Westdeutsche und Ostdeutsche erst einmal sprachlos und hemmungslos mit der ganzen Kraft ihres „Wahnsinns“.68
Peter Bender (1994) beginnt seinen Essay zum 9. November 1989 mit dem Satz: „Das Wort des Tages hieß ‚Wahnsinn‘.“69 Eine satirische Annäherung an die Problematik einer ‚deutschen Identität‘ liefert Martin Buchholz (*1942) in Wir sind, was volkt, untertitelt mit Vom Ur-Sprung in der deutschen Schüssel – ein satirisches Schizogramm.70 Im Hinblick auf die Verwendung des Ausrufs „Wahnsinn!“ stellt er fest: 67 68
69
70
Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 69f.; Hervorhebung von mir; F.Th.G. Roger Willemsen: Gehe nicht über Los! In: Klaus Bittermann (Hg.): Der rasende Mob. Die Ossis zwischen Selbstmitleid und Barbarei. Mit Beiträgen von: Henryk M. Broder, Wiglaf Droste, Roger Willemsen, Gabriele Goettle, Christian Schmidt, Peter Schneider, Michael O.R. Kröher, Gerhard Henschel, Klaus Bittermann. Berlin 1993 (Edition Tiamat, Critica Diabolis 37); S. 44-54, S. 44 [zuerst erschienen unter dem Titel Delirium Germanicum in: ZEITmagazin Nr. 1 / 1991 v. 28.12.1990]. Peter Bender: Die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989. In: Der 9. November. Fünf Essays zur deutschen Geschichte. Von Peter Bender, Wolfgang Benz, Hans Mommsen, Fritz Stern, Heinrich August Winkler. Hrsg. von Johannes Willms. München 1994; S. 66-82, S. 66. Martin Buchholz: Wir sind, was volkt. Vom Ur-Sprung in der deutschen Schüssel – ein satirisches Schizogramm. Berlin 1993.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Alle Irren waren los. Da war irre was los. Und wahrscheinlich haben auch Sie gedacht, was damals alle gestammelt haben: „Waaahnsinn!“ Das ist die sauberste Diagnose, die sich das deutsche Volk jemals gestellt hat.71
Hans Arnfried Astel (*1933) ‚diagnostiziert‘ in seinem gleichnamigen Gedicht die Doppelbödigkeit des Wortes bzw. seines Verwendungszusammenhangs: WAHNSINN „Wahnsinn!“, rufen die Irren beim Verlassen ihrer Anstalt.72
Der Ausruf „Wahnsinn!“ wurde im Übrigen keineswegs mit der ‚Wende‘ geboren. Bereits 1987 geht Peter Schneider auf Wort und Ausruf in seinem Essay Berliner Geschichten73 ein. Nach der ‚Wende‘ betont er: Was in Berlin seit vier Wochen „Wahnsinn“, „irre“, „nicht zu fassen“ heißt, bezeichnet in Wahrheit nur den Zustand vor der Öffnung der Mauer. Denn daß man von einem Ende einer Straße zum anderen laufen kann, ist eigentlich das Normalste auf der Welt. Offensichtlich haben wir uns an den verrückten Zustand derart gewöhnt, daß wir die Normalisierung nun als verrückt empfinden.74
Neben der Hervorhebung neuer Lexeme oder solcher, die einen Bedeutungswandel durchliefen, ist die Sprache auf übergeordneter Ebene vor allem Thema satirischer Texte. Ihr kommt dabei die Rolle als Ausdrucksmedium von Charaktereigenschaften zu, die nicht zuletzt auf die Herkunft ihrer 71 72 73
74
Ders.: 8. Wie das deutsche Wesen west in West und Ost als so’nes und solches. In: Ebd.; S. 85-93, S. 93. Hans Arnfried Astel: Wahnsinn. In: H.A.A.: Wohin der Hase läuft. Epigramme und ein Vortrag. Mit einem Essay von Hubert Fichte. Leipzig [1992], S. 61. Peter Schneider: Berlin, Berlin … Wo der „Wahnsinn“ eine natürliche Heimat hat. Ein Bericht vom Schnittpunkt zweier Welten. In: Natur (1987) 9, S. 72-75 (Auskunft über Deutschland). Schneider geht davon aus, dass das Wort „Ende der siebziger Jahre“ „die Berliner Kneipen und Partys eroberte.“ (S. 72) Schneider ist im Übrigen einer der wenigen westdeutschen Autoren, die sich vor der ‚Wende‘ mit der deutschen Teilung beschäftigt haben (vgl. v.a. seine Erzählung Der Mauerspringer aus dem Jahre 1982). Eine ähnliche Rolle kommt Hans Christoph Buch (vgl. die älteren Texte in H.C.B.: An alle! Reden, Essays und Briefe zur Lage der Nation. Frankfurt a.M. 1994, z.B. das 1988 geschriebene Selbstporträt mit eisernem Vorhang, S. 7f.), Botho Strauß (vgl. 5.5.3) und natürlich Martin Walser (vgl. 5.1.2.2) zu. Ders.: West-Östliche Passagen. In: P.S.: Extreme Mittellage. Eine Reise durch das deutsche Nationalgefühl. Reinbek 1990; S. 13-32, S. 28f. [geschrieben im Dezember 1989; zuerst erschienen in leicht veränderter Form in Die Zeit v. 9.2.1990].
4.2 ‚Wendesprache‘ und ‚Wendeliteratur‘
113
Benutzer schließen lassen. Matthias Biskupek (1992) betont in der Satire Wie ein DDRler jetzt sprechen lernen sollen müßte (1992) die Rolle der veränderten Sprache in der veränderten Gesellschaft: Wenn wir bald mitten drin in der Wiedereinheit stehen, soll man uns doch nicht mehr anhören können, wo wir herkommen. Wer sagt schon gleich jedem, daß er aus der Baracke stammt. Also dürfen wir nicht mehr mittelelbisch singen, lausitzisch rrrollen oder eine hallesche Kleeje machen, sondern müssen neutral sprechen. Bißchen anheben den gesamten Tonfall, keine Wortabsenkungen, bißchen durch die Nase, etwas unbeteiligt, und ganz weenich sprechen. Wissend schauen. Klug nicken. Hin und wieder „Ähm“ machen. Das ist gesamtdeutsch. Was gesamtdeutsch ist, wirkt. Was wirkt, ist effizient.75
Biskupek weist auch auf die Bedeutung der korrekten Aussprache hin: „Daß wir statt Kaufhalle Supermarkt (nicht Suhbermargd – ßjuppermarrkitt), statt Kollektiv Team und statt Kaderunterlagen Personalbögen sagen, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben.“76 Vor der allzu häufigen Verwendung bestimmter Wörter warnt er: „Folgende Wörter benutzen wir sparsam, aber durchaus hartnäckig-wiederkehrend: Marktchancen. Exorbitant. Leasing-Modell. Branche.“77 Es besteht also ein enormer Anpassungsdruck. Rolf Liebold thematisiert die gleiche Problematik wie Biskupek in der Satire Ossi muß westdeutsch lernen. Oder: Beim Sprechen kommt es immer auf die kleinen, feinen Unterschiede an (1991).78 Nicht nur an dem Ausschnitt aus Matthias Biskupeks oben zitierter Satire wird deutlich, wie wichtig der Aspekt der zumindest äußerlichen – und damit oberflächlichen – Anpassung via Sprache ist. In Annett Gröschners (*1964) Debütroman Moskauer Eis (2000) findet Annja Kobe, Ich-Erzählerin und Tochter eines Gefrierforschers, im Geldbeutel ihres aus ungeklärten Gründen schockgefrosteten Vaters ein Rezept für „Die ideale Eiskrem“: Mir fällt sofort auf, daß Vater das Wort Feinfrost nicht mehr benutzt und statt dessen das im Westen übliche Wort Tiefkühlen verwendet. Vielleicht war die ideale Eiskrem sein letztes Forschungsprojekt, mit dem er gehofft hatte, das Institut in die neue Zeit hinüberzuretten.79 75
76 77 78
79
Matthias Biskupek: Wie ein DDRler jetzt sprechen lernen sollen müßte. In: Nie wieder Ismus! Neue deutsche Satire. Hrsg. von Manfred und Christine Wolter. Berlin 1992; S. 81-83, S. 81. Ebd., S. 81f. Ebd., S. 82. Rolf Liebold: Ossi muß westdeutsch lernen. Oder: Beim Sprechen kommt es immer auf die kleinen, feinen Unterschiede an. In: R.L.: Geschichten vom kleinen Ossi. Alte und neue Abenteuer im Ländchen der Wendehälse. Mit 27 Zeichnungen von Heinz Jankofsky. Berlin 1991, S. 95-99. Annett Gröschner: Moskauer Eis. Roman. Leipzig 2000, S. 153.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Kobes Antrag hat also nur Chancen, wenn er auch sprachlich auf der Höhe der Zeit ist. Weitaus seltener als die Einführung oder der Bedeutungswandel einzelner Lexeme wird die Verwendung von DDR-spezifischen Ausdrücken in literarischen Texten problematisiert. In Joachim Lottmanns Roman Deutsche Einheit (1999) heißt es: Es war „Schau“, womit sie nicht „Show“ meinte (gemacht, unecht), sondern das Gegenteil: Es machte was her, war aufregend, geil. Alles, was „schau“ war (groß oder klein geschrieben), bedeutete „toll“. Sie hatte eine Schau-Lehrerin, war auf eine Schau-Schule gegangen, trug ein Halstuch, das schau war. Sie verwendete das Wort für ihr Leben gern. Es war wohl ein Ost-Berliner Slang-Wort, an das ich mich erst gewöhnen mußte. DDR war schau. Aber die neuen Verhältnisse waren auch nicht schlecht (wenn auch nicht schau): Reisen zu können bedeutete Maren mehr als der ganze SED-Plunder.80
Authentische Vorbilder für die oben angeführten Beispiele existieren in großer Zahl. Die Treuhandanstalt unternahm mehrere Versuche, das ihr anhaftende Negativ-Image wenigstens zu relativieren. So heißt es zu Beginn von Treuhand intern (1993): Dieses Buch ist all denen gewidmet, die von unserer Arbeit betroffen sind, die hinter den Vorhang schauen wollen. Es wird den Argwohn nicht beseitigen, der uns immer noch entgegenschlägt. Aber es soll einladen zur Auseinandersetzung mit uns, mit den Dingen, mit der Zukunft.81
Der Aspekt der Sprache ist in diesem Zusammenhang wichtig, weil die Treuhand 1992 einen mit 1000 DM dotierten Wettbewerb ‚ausschrieb‘, um das Wort ‚abwickeln‘ zu ersetzen. Zu den Hintergründen dieser Aktion erklären die Autoren: Seit Frühjahr 1990 verbreiteten die deutschen Medien nur Spott und Häme über dies Wort. „Und weil die Menschen bei Abwicklung eher an die Massenentlassung als an die neue Struktur denken, die manchmal ja auch in der Liquidation entsteht, hält Tränkner82 seine Berufsbezeichnung inwischen für das häßlichste Wort der Welt“, schreibt die „tageszeitung“ am 8. Januar 1992. Tränkner bietet spaßeshalber 500 Mark für denjenigen, der eine bessere Bezeichnung findet. Durch Zufall hat davon ein Redakteur der „Berliner Zeitung“ erfahren und die Nachricht veröffentlicht. Presse, Rundfunk und Fernsehen reagie80
81 82
Joachim Lottmann: Deutsche Einheit. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1995. Zürich 1999, S. 199; zur Verwendung des Lexems „schau“ vgl. auch Friedrich Kröhnke: P 14. Roman. Zürich 1992, S. 138. Der Vorstand der Treuhandanstalt: Einleitung. In: Birgit Breuel (Hg.): Treuhand intern. Tagebuch. Frankfurt a.M. / Berlin 1993; S. 9-23, S. 23. Ludwig M. Tränkner, damals Leiter des Direktorats Abwicklung der Treuhandanstalt.
4.2 ‚Wendesprache‘ und ‚Wendeliteratur‘
115
ren positiv. Nur ein Tagesschau-Moderator und das „Neue Deutschland“ bringen einen negativen Unterton in die Meldung. Überrascht ist das Direktorat Abwicklung über die Reaktion im Lande. Briefe und Postkarten laufen körbeweise ein, die Schreiber schlagen generell positive Begriffe vor: Vermögens-Recycling, Abbauregulierung, Refusion, Wertschätzung, Neutralisation, Neukonzeption, Neustrukturierung. Eine Anruferin aus Holland empfiehlt der Treuhand gar, nicht nur das Direktorat Abwicklung, sondern gleich die Anstalt umzubenennen. Ihr Tip: statt Treuhand künftig Neuhand. Eine Gruppe Berliner Wirtschaftsjournalisten entscheidet sich nach eingehender Debatte schließlich für den Begriff „Rekonstruktion“, den eine Leipziger Kauffrau eingesandt hat. „Rekonstruktion“ setzt sich letztlich nicht durch, weil das Wort Abwicklung tatsächlich keineswegs das häßlichste Wort der Welt ist, wie der Chef der Abteilung meint.83
Außer ‚abwickeln‘ im Bereich der Treuhand, das einen Bedeutungswandel durchgemacht hat, sind vor allem im Zusammenhang mit der Arbeit der Gauck- bzw. Birthler-Behörde Neologismen entstanden. Exemplarisch genannt sei das Verb ‚gaucken‘; das bedeutet, jemanden daraufhin überprüfen, ob sich in den Akten der Gauck-Behörde Hinweise auf Stasimitarbeit finden. Besonders unglücklich funktionierte das „Gaucken“ beim Umbau der ostdeutschen Universitäten; es erschien als sehr praktikables, zugleich hinterlistiges Verfahren der Personalplanung […].84
Neben der ‚neuen‘ Sprache der Nachwendezeit wird auch die Sprache von Reden über die Themen ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ literarisch verarbeitet. In Pollok und die Attentäterin (1999) führt Brigitte Burmeister sprachliche Versatzstücke vor, die in zahlreichen Reden zu finden waren und zum Teil noch sind. Karl Innozenz Weiss, der seine Autobiografie durch einen Ghostwriter schreiben lässt, hat in der DDR einen kometenhaften Aufstieg erlebt, floh dann aber in den Westen. Zurückgekehrt in die alte Heimat, hält er eine Rede: „Wer von uns“, rief er aus, „hätte noch vor einem Jahrzehnt eine Zusammenkunft wie diese hier in der Messestadt für möglich gehalten? Aber gehofft haben wir, hüben wie drüben, und die Hoffnung auf Taten gegründet. Es schmälert nicht die Leistung der Politiker, wenn des Beitrages all jener gedacht wird, die mit aufopferndem Fleiß und wirtschaftlichem Können den freien Teil unseres Vaterlandes aus einem Trümmerfeld in blühende Landschaften verwandelt haben. Sie schufen damit die Voraussetzung, die Schäden der Diktatur zu beheben, unter der unsere 83 84
8. Januar 1992. Abwicklung – ein Wort des Jahres. In: Birgit Breuel (Hg.): Treuhand intern. Tagebuch. Frankfurt a.M. / Berlin 1993; S. 296-301, S. 297. Michael Rutschky: Wie erst jetzt die DDR entsteht. Vermischte Erzählungen. In: Merkur 49 (1995) 9 / 10; S. 851-864, S. 859.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Landsleute drüben und, wie sie wissen, eine Zeitlang auch ich selbst unverschuldet zu leiden hatten.“85
In Wortwahl und Satzbau erinnert dieser Auszug an zahllose Reden, wie sie etwa der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hielt. Doch das ist lediglich eine Parallele. Eine weitere – diesmal zu Reden der Gründerväter der DDR, etwa Walter Ulbricht – zeigt sich an anderer Stelle. Weiss versteht sein Buch als ein Vermächtnis an die junge Generation. Möge sie begreifen, daß sie den Wohlstand, in den sie hineingeboren wurde, der Ausrichtung am Gemeinwohl und der Selbstlosigkeit derer zu verdanken hat, die ihr vorangingen. Wenn das Beispiel meines Lebens dazu beiträgt, den Sinn für Verantwortung zu stärken, den Egoismus einzudämmen und den rechten Umgang mit dem Erbe zu befördern, habe ich meine Dankesschuld gegenüber den Vätern abgetragen. Man gibt ja immer nach vorne. Dann ist mir auch um die Zukunft unserer Republik nicht bange.86
Wenigstens der letzte Satz ist typisch für die Diktion Ulbrichts. Fast wörtlich spricht er ihn in einem Propagandafilm aus, dessen Gegenstand ein Treffen zwischen ihm und Jugendlichen ist.87
4.3 ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘? Für die im Rahmen der vorliegenden Arbeit meist mit den Begriffen ‚Wende‘ und ‚Vereinigung‘ der beiden deutschen Staaten bezeichneten Vorgänge gibt es zahlreiche Benennungsversuche, von denen Friedemann Spicker (1990) einige zusammengestellt hat: […] Wandel, Wende, Auflösung, Revolution, Sturz- oder Zangengeburt einerseits zu (Wieder-) Vereinigung, Vereinnahmung, Einheit, Beitritt, Eintritt, Aufnahme, Anschluß, Zusammenschluß, Einverleibung, Unterwerfung andererseits.88
85 86 87
88
Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 118f. Ebd., S. 119. Ein Ausschnitt findet sich auf der Videokassette Kinder, Kader, Kommandeure (atlas film 7445; Produktion: Defa-Studio für Dokumentarfilme GmbH Berlin, Wesnigk / Kissel Filmproduktion Hamburg; Buch und Regie: Wolfgang Kissel; Deutschland 1992). Friedemann Spicker: Wie gehört zusammen, was zusammenwächst? Deutsche Schriftsteller zur deutschen Einheit Oktober 1989 – Oktober 1990. In: Dokilmunhak. Koreanische Zeitschrift für Germanistik 31 (1990) 45; S. 377-406, S. 386; zum Begriff ‚Anschluss‘ vgl. Ernst Ullrich-Pinkert: Zeitenwende, Zeichenwende. Zur Symbolik der Wende in Deutschland – 1989 / 91. In: Der Ginkgobaum 11 (1992); S. 272-284, S. 281.
4.3 ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘?
117
Mit den Bezeichnungen ‚Wende‘, ‚Revolution‘, ‚Umwälzung‘, ‚Umbruch‘, ‚Umsturz‘, ‚Veränderung‘, ‚Wandlung‘, ‚Wandel‘, ‚Erneuerung‘ und ‚Reform‘ haben sich die Linguisten Herberg, Steffens und Tellenbach ausführlich auseinander gesetzt.89 Der Literaturwissenschaftler Hannes Krauss fragt 1993: Wie nennen, was im Spätsommer und Herbst 1989 die DDR aufgebrodelt, durchgeschüttelt und schließlich von der Landkarte gewischt hat? Wende? Revolution? Wiedervereinigung? Keines der Wörter faßt, daß damals in wenigen Wochen ein Staat sich aufgelöst hat, die Lebensplanungen und -lügen von Millionen Menschen umgestoßen, Opfer- und Täterrollen zur Unkenntlichkeit vermischt und alle möglichen Gesellschaftstheorien über Nacht zur Makulatur wurden.90
Der Begriff ‚Wende‘ war vor 1989 / 90 in beiden deutschen Staaten unterschiedlich belegt und hat einen Bedeutungswandel erfahren: In der Bundesrepublik bezeichnete er den Regierungswechsel 1982 und den damit verbundenen Amtsantritt von Helmut Kohl als Bundeskanzler; in der DDR wurde der Begriff „im Juni 1953 benutzt, als die SED den Versuch fingierte, mit diesem Wort einen neuen, liberaleren Kurs zu bezeichnen.“91 Im Herbst 1989 wurde er erneut für den Wechsel der SED zu einem liberaleren Kurs verwendet und geht vermutlich auf Egon Krenz zurück, der ihn in seiner Antrittsrede als Nachfolger Erich Honeckers vom 18. Oktober 1989 verwendete: Der neue Staats- und Parteichef kündigte damals an, eine „Wende“ einleiten zu wollen.92 Dennoch unterliegt der ‚Wende‘-Begriff einem eher unkritischen Gebrauch; zumindest im Alltag dürfte er sich durchgesetzt haben. Während Anfang Februar 1990 Rainer Schedlinski, übrigens mit ähnlichen Worten wie die eingangs zitierte Helga Königsdorf, feststellt:
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Vgl. Kapitel 1. Bezeichnungen für die politischen Ereignisse des Herbstes 1989 in der DDR und für damit zusammenhängende gesellschaftliche Veränderungen. In: Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6), S. 10-23 sowie 80-90. Hannes Krauss: Verschwundenes Land? Verschwundene Literatur? Neue Bücher – alte Themen. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 273-278, S. 273. Wolfgang Bergsdorf: Deutsch wieder attraktiv. In: Die politische Meinung 36 (1991) 260; S. 29-37, S. 34; vgl. auch Dieter Herberg / Doris Steffens / Elke Tellenbach: Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989 / 90. Berlin / New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Band 6), S. 17. Vgl. dazu auch Ludger Kühnhardt: Umbruch – Wende – Revolution. Deutungsmuster des deutschen Herbstes 1989. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40-41 / 97 v. 26.9.1997; S. 12-18, S. 13.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
denn die phase der schönen revolution ist vorbei, und einige ihrer kinder, nämlich die, die im oktober und november noch in keiner nachrichtensendung fehlten und die jetzt auf der bildfläche kaum mehr zu sehen sind, hat die revolution schon gefressen93,
weist Heiner Müller im Herbst 1990 in einem Interview mit dem Spiegel die Anwendung des Revolutionsbegriffs zurück: Aber zurück zur Revolution. Man darf das, glaube ich, nicht so pathetisch nehmen, so heroisieren. Was da wirklich passiert ist, war ein Staatsbankrott. […] die Substanz dieser DDR-Gesellschaft war schon ausgehöhlt. Das war nur noch ein Zombie.94
Sein „Traum wäre gewesen, daß man sich Zeit läßt für diese Vereinigung und sie allmählich angeht.“95 Auch Günter de Bruyn (1990) hat Vorbehalte gegenüber der Verwendung des Revolutionsbegriffs, diese liegen aber vor allem auf der Ebene des historischen Vergleichs: Auch der Begriff Revolution ist historisch beladen. Benutzt man ihn für die Ereignisse vom Herbst 1989, liegt der Verdacht der Heroisierung nahe, zumindest aber der der Einseitigkeit. Denn der Aufruhr der Straße (nach Feierabend) war nur Glied einer längeren Ursachenkette, die sich durch Stichworte wie Gorbatschow, Massenausreise, Ungarn und Polen grob andeuten läßt. Vielleicht sogar waren die Aktionen der Menge nicht Ursache, sondern schon Folge. Da das System bereits ökonomisch und politisch bankrott war, ließ es sie zu.96
Uwe Kolbe (*1957) fragt 1991 etwas vorsichtiger im Freitag: Mag es denn Revolution genannt werden, wenn der verfaulte, immer wieder ausbetonierte Baumstamm von den hungrigsten Scharen der ihm einwohnenden Kerbtiere verlassen wird und letztlich fällt. Wenn dann die restliche Rinde abplatzt, kommt
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94
95 96
Rainer Schedlinski: die phase der schönen revolution ist vorbei. In: r.s.: die arroganz der ohnmacht. aufsätze und zeitungsbeiträge 1989 und 1990. Berlin / Weimar 1991; S. 47-56, S. 56; Hervorhebung im Original [zuerst erschienen in der woz (Zürich) und in der taz, gekürzt in Elsevier (Amsterdam)]. [Interview mit Hellmuth Karasek, Matthias Matussek und Ulrich Schwarz]: „Jetzt ist da eine Einheitssoße“. Der Dramatiker Heiner Müller über die Intellektuellen und den Untergang der DDR. In: Der Spiegel 44 (1990) 31 v. 30.7.1990; S. 136-141, S. 139. Ebd. Günter de Bruyn: Jubelschreie, Trauergesänge. Die Nachwirkungen der Zensur führen zu einer literarischen Klimavergiftung – in beiden Teilen Deutschlands. Verbotene Bücher verlieren den Heiligenschein des Märtyrertums. Denn so war es doch: Wer ein schlechtes verbotenes Buch auch schlecht nannte, wurde zum Komplizen des Zensors; wer ein gutes verbotenes Buch lobte, geriet in den Verdacht, es nur wegen des Verbots zu tun. In: Die Zeit v. 7.9.1990.
4.3 ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘?
119
das darunter nahrungsuchende Gewimmel zum Vorschein. Der optische Effekt ist, daß der tote Baum zu leben scheint: Konvulsionen, Paroxysmen, Rotation, Revolution – mag einer darin erkennen, was er will.97
Stefan Heym (1913-2001) und Werner Heiduczek (*1926) bedienen sich dagegen konsequent des Begriffs ‚Revolution‘, allerdings versehen mit den Attributen „sanft“, oder auch „sonderbar“.98 Heym ist einer der wenigen Autoren, die sich vom Begriff ‚Wende‘ distanzieren: „Nach den vom Volke mit einem Schuß Ironie als Wende bezeichneten Ereignissen des Oktober und November […].“99 Dass zahlreiche Begriffe einem wertenden Gebrauch unterliegen, steht außer Frage. In der Regel wird eher der Versuch einer Distanzierung von bestimmten Begriffen unternommen, konstruktive Vorschläge sind seltener. Nicht nur am Beispiel Heyms wird deutlich, dass diejenigen Autorinnen und Autoren, die den Begriff der ‚Revolution‘ für die Ereignisse von 1989 verwenden möchten, ihn auffallend häufig in Verbindung mit Attributen benutzen: Peter Glotz spricht 1990 von einer „mitteleuropäischen Revolution“100, Erich Loest 1992 von einer „Kerzenrevolution“101 und HansDietrich Genscher 2000 von einer „Freiheitsrevolution“. Diese betrachtet er „als ein stolzes Kapitel deutscher Freiheitsgeschichte […]. Es vollendete sich, was 1848 / 49 gewagt und 1918 erneut versucht wurde.“102 Wie Glotz betont Genscher den über Deutschland hinausgehenden Aspekt, er sieht eine „europäische Freiheitsrevolution in verschiedenen Ländern des sowjetischen Machtbereichs“.103 Peter Neckermann (1991) nimmt eine Unterscheidung innerhalb der ‚Wende‘-Ereignisse vor; er spricht erstaunlicherweise von „Reform Movement in September and October of 1989“ sowie von „Revolution in 97 98
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Uwe Kolbe: Die Heimat der Dissidenten. Nachbemerkungen zum Phantom der DDROpposition. In: Freitag v. 27.9.1991. Stefan Heym / Werner Heiduczek: Nachwort. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990; S. 421-423, S. 421 bzw. 422. Stefan Heym: Außenstelle. In: S.H.: Auf Sand gebaut. Sieben Geschichten aus der unmittelbaren Vergangenheit. München 1990; S. 16-25, S. 21. Peter Glotz: Erste Rede. Europa nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. In: P.G.: Der Irrweg des Nationalstaats. Europäische Reden an ein deutsches Publikum. Stuttgart 1990; S. 17-40, S. 17. Erich Loest: Diese Schule, diese Stadt. In: E.L.: Zwiebeln für den Landesvater. Bemerkungen zu Jahr und Tag. Mit einem Nachwort von Heinz Klunker. Göttingen / Leipzig 1994; S. 101-108, S. 106 [Dankrede zur Verleihung der Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt Mittweida / Sa. am 25.9.1992]. Hans-Dietrich Genscher: Geleitwort. In: Hans-Jürgen Salier / Bastian Salier: Es ist Frühling und wir sind so frei! Die 89er Revolution im Kreis Hildburghausen – eine Dokumentation. Hildburghausen 2000; S. 6-8, S. 6. Ebd., S. 7.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
Winter 1989 / 1990“.104 Der 1936 in Bautzen geborene und in Leipzig lehrende Historiker Hartmut Zwahr (1993) setzt ebenfalls beide Begriffe in ein Verhältnis zueinander: Wende oder Revolution? Die friedliche Revolution brachte die Wende! Sie führte den Machtwechsel und über diesen schließlich auch den Systemwechsel herbei. Daß es ein bloßer Zusammenbruch war, kann ich aus dem Erleben heraus nicht bestätigen. Wer die Wucht der Demonstrationen nicht gespürt und deren langen Rhythmus nicht verarbeitet hat, dem ist Wesentliches entgangen.105
Während Erich Kuby (*1910) das erste Kapitel seines Essays Der Preis der Einheit (1990) plakativ mit „Wieder keine Revolution“106 überschreibt, wehrt Klaus Hartung sich im selben Jahr gegen Tendenzen, den Titel Revolution den Ereignissen in der DDR abzusprechen. Ich glaube aber, daß niemand das Recht hat, einer geschichtlichen Bewegung, die selbst mit diesem Begriff gearbeitet hat, solchermaßen nachträglich Zensuren zu erteilen. Außerdem wird sich – das ist die These des Buches – der widersprüchliche und oft deprimierende Gang der Vereinigung nicht erklären lassen, wenn man den Herbst 1989 nicht als Revolution betrachtet.107
Auch an anderer Stelle betont Hartung: Es ist weder Zeit für Nostalgie der friedlichen Revolution, noch Zeit, um jetzt, wie es viele bundesdeutsche Linke tun, die Revolution mit einem gehässigen Fragezeichen zu versehen, weil die Revolutionäre mit den schwarzrotgoldenen Fahnen nicht zur klassischen Ikonographie passen. Es war eine Revolution, und die Tatsache, daß eine hochgerüstete Zentralgewalt ohne Blutvergießen zusammenstürzte, berechtigt zur Vermutung, daß vierzig Jahre Realsozialismus nicht nur gesellschaftlichen Rückschritt bedeutet haben.108
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Peter Neckermann bereits im Inhaltsverzeichnis zu seiner Monografie: The Unification of Germany or The Anatomy of a Peaceful Revolution. New York 1991 (East European Monographs, No. CCCIII), ohne Seitenangabe. Hartmut Zwahr in der Einleitung zu: H.Z.: Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR. 2. Auflage. Göttingen 1993 (Sammlung Vandenhoeck); S. 7-10, S. 9. Erich Kuby: Wieder keine Revolution. In: E.K.: Der Preis der Einheit. Ein deutsches Europa formt sein Gesicht. Hamburg 1990; S. 9-40, S. 9. Klaus Hartung: Postscriptum. In: K.H.: Neunzehnhundertneunundachtzig. Ortsbesichtigungen nach einer Epochenwende. Frankfurt a.M. 1990 (Luchterhand Essay); S. 218f., S. 218; Hervorhebungen im Original. Ders.: Der große Radwechsel oder Die Revolution ohne Utopie. In: Nichts wird mehr so sein, wie es war. Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken. Hrsg. von Frank Blohm und Wolfgang Herzberg. Leipzig 1990; S. 164-186, S. 179.
4.3 ‚Wende‘ oder ‚Revolution‘?
121
Dieser Auffassung widerspricht die amerikanische Journalistin Jane Kramer. Im Mai 1992 äußert sie – die tatsächlichen Verhältnisse ignorierend – in einer Reportage über die Stasi-Verbindungen mit der Prenzlauer Berg-Szene: Eine Revolution jedenfalls hat in Ostdeutschland nicht stattgefunden. Die Leute sprechen zwar von der „Revolution“, und die Malerin Bärbel Bohley, die in der ostdeutschen Friedensbewegung aktiv war, wird manchmal als „die Mutter der Revolution“ bezeichnet, doch die Mauer in Ostdeutschland brach deshalb zusammen, weil das Land buchstäblich in Stücke fiel – und das hatte sehr wenig mit den Dichtern vom Prenzlauer Berg oder mit den tausenden von politischen Häftlingen zu tun oder gar mit den Massen, die in Leipzig, Dresden und Berlin mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ auf den Straßen marschierten. Ostdeutschland brach zusammen, weil der Staat bankrott war, weil die Industrie und die Landwirtschaft bankrott waren, weil kein Geld mehr da war und weil nur noch ein Massaker die Ostdeutschen davon hätte abhalten können, abzuhauen.109
Die oben genannten Beispiele stammen aus dem essayistischen Bereich. Die dahinter stehende Diskussion um die Begriffe ‚Wende‘ und ‚Revolution‘ fand aber auch Eingang in den Bereich der fiktionalen Literatur. Matthias Zwarg (*1958) legt sich in seinem Brief an K. Marx (1992) nicht fest, weist aber auf die unterschiedlichen Begriffe und Attribuierungen hin: Denn, muß [sic] Du wissen, wir hatten neulich etwas, das die einen eine „Veränderung“, andere eine „Wende“, dritte wiederum eine „Revolution“, manche schließlich am liebsten gar nicht beim Namen nenne [sic]. Zu den Substantiven gehören natürlich auch Attribute – Du darfst Dir selbst eins raussuchen. Anzubieten habe ich: „demokratisch“, „historisch“, „erstaunlich“, „sanft“, „bemerkenswert“, „überraschend“ und „friedlich“. Ach, K., das hättest Du sehen sollen, es wäre Dir eine Augenweide gewesen. Was waren wir für ein „das Volk“, was haben wir gewendet und gewendet und verändert und verändert und revoltiert und revoltiert! Ein einzig Volk von Wenderinnen und Wendern, Veränderinnen und Veränderern, Revoltierern und Revolutionärinnen waren wir! Du solltest sehen, wie die Mäntelchen nun mit der Innenseite nach außen im Winde hängen!110
In Brigitte Burmeisters Roman Pollok und die Attentäterin (1999) wird die Fragestellung am Rande gestreift: Hier heißt es über Wolfgang Dichsner,
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Jane Kramer: Die Stasi auf dem Prenzlauer Berg [Mai 1992]. In: J.K.: Unter Deutschen. Briefe aus einem kleinen Land in Europa. Aus dem Amerikanischen von Elke und Gundolf S. Freyermuth. „Die Stasi auf dem Prenzlauer Berg“ wurde von Eike Geisel übersetzt. Berlin 1996 (Edition Tiamat, Critica Diabolis 63); S. 219-303, S. 227f. Matthias Zwarg: Brief an K. Marx. Halle (S.) 1992, S. 8f.
122
4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
einen ehemaligen Studenten der Ich-Erzählerin: „Eine Wende würdest du überstehen, doch das hier ist eine Revolution!“111 Die Entscheidung, ob es sich nun um eine ‚Wende‘ oder eine ‚Revolution‘ gehandelt hat, sei den Historikern überlassen – die sich freilich auch nicht einig sind. Die lebhaft geführte Diskussion um die Begriffe zeigt jedenfalls, welchen Stellenwert diese Frage Anfang der neunziger Jahre besaß. Anhand der Begriffe lässt sich zumindest tendenziell das Gewicht ablesen, das die jeweiligen Autorinnen und Autoren den Ereignissen beimessen: der ‚Revolution‘ kommt dabei in der Regel die höhere Wertschätzung zu. Der Philosoph Manfred Riedel (*1936) schlägt statt ‚Revolution‘ übrigens den Begriff der „Zeitkehre“ vor; dieser ist bereits im Titel seines Buches – Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land (1991) – enthalten: Daß sich die Zeit kehrt, ist eine Erfahrung im Augenblick. Sie kommt plötzlich: wenn politische Ruhe in Bewegung umschlägt und in diesem Umschlag Vergangenheit mit Zukunft so zusammenprallt, daß die für dauerhaft gehaltene Ordnung eines Landes mit einem Mal zerspringt. Nach innen, was soziologischen Beobachtern des Zeitgeschehens als Implosion erscheint, wie nach außen: was wir mit der umfassenderen Bezeichnung von Innen- und Außenaspekten des Gesamtgeschehens unserer Tage eine Revolution nennen. Wir verstehen darunter, was wir erfahren haben, die Umdrehung des Geschehens am Grunde der Zeit, eine Umkehr. Und wir möchten beschreiben, daß es sich dabei nicht um eine Rückkehr handelt (was das Wort Revolution ursprünglich besagt, das gewöhnlich für Umsturz und Aufbruch steht), sondern um eine Zeitkehre: womit die Geschichte in Deutschland und Europa einen anderen Anfang nimmt.112
Verbunden mit diesem „Anfang“ findet sich bei Riedel eine ausführliche Reflexion der gegenwärtigen und möglichen künftigen Rolle des vereinten Deutschland.113
4.4 Sprache im ‚essayistischen Roman‘ – Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog (1992) Kurt Drawert wurde 1956 als Sohn eines SED-Funktionärs geboren und lebt in Leipzig. In der DDR wurde er vor allem bekannt durch den sich im
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Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 14. Einleitung. In: Manfred Riedel: Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land. Berlin 1991; S. 9-17, S. 9; Hervorhebungen im Original. Vgl. Epilog. Kehre der Zeit als „Zeitkehr“ oder: das Tragische in der Geschichte. In: Manfred Riedel: Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land. Berlin 1991, S. 209-224.
4.4 Sprache im ‚essayistischen Roman‘
123
Titel an Günter Eich anlehnenden Lyrikband Zweite Inventur (1987).114 1989 erhielt er den Leonce-und-Lena-Preis, vier Jahre später den IngeborgBachmann-Preis; für Spiegelland wurde ihm der Förderpreis der JürgenPonto-Stiftung verliehen. Spiegelland entstand 1990 / 91 in Schleswig-Holstein, also mit zumindest geografischem Abstand zu den Ereignissen in der DDR bzw. den östlichen Bundesländern. Es handelt sich um einen Text, in dem Clemens Murath (1995) zufolge konsequent „die Referenzunsicherheit des sprachlichen Zeichens reflektiert und damit der Wahrheitsanspruch von Sprache dekonstruiert“115 wird. Dieser Anspruch schlägt sich auch in der Form nieder: In 19 Monologen werden Teile der (Familien-)Geschichte des Ich-Erzählers wiedergegeben. Es handelt sich weder um Essays noch um reine Prosatexte mit linearer Handlung; Spiegelland ist eine „Sammlung von thematisch locker miteinander verbundenen Skizzen“116, die im Klappentext vorgeschlagene Klassifikation lautet „essayistischer Roman“. Im Zentrum des Textes steht die Sprache; sie wird bereits im titellosen Gedicht erwähnt, das dem Haupttext vorangestellt ist: … doch es muß auch eine Hinterlassenschaft geben, die die Geschichte, auf die ich selbst einmal, denn das Vergessen wird über die Erinnerung herrschen, zurückgreifen kann wie auf eine Sammlung fotografierten Empfindens, und die die Geschichte, denn das innere Land wird eine verfallene Burg sein und keinen Namen mehr haben und betreten sein von dir als einem Fremden mit anderer Sprache, erklärt.117
In diesem Gedicht werden bereits die Hauptthemen des folgenden Textes benannt: der Wandel der Sprache und das Anschreiben zunächst gegen das Vergessen, schließlich aber, um vergessen zu können. Im letzten Kapitel heißt es:
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Kurt Drawert: Zweite Inventur. Gedichte. Berlin (DDR) / Weimar 1987 (Edition Neue Texte). Clemens Murath: Beschädigtes Sprechen und eloquentes Schweigen – Anmerkungen zu Kurt Drawerts deutschem Monolog Spiegelland. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 381-394, S. 389; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 383. Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog. Frankfurt a.M. 1992, S. 8.
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4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
[…] ich wollte meine Herkunft vergessen, die Bilder meiner Kindheit wollte ich entschieden vergessen, die Geschichte meines Vaters und die Geschichte meines Großvaters, einmal aufschreiben und dann für immer vergessen […].118
Zu dieser Ebene des Vergessens tritt eine Ebene der Rechtfertigung: zum einen findet sich dies im Gedicht angedeutet durch das erste Wort „… doch“, dem eine ganze Zeile eingeräumt wird, zum anderen außerhalb des Haupttextes in der Widmung zu Beginn des Buches: „Meinen Söhnen Lars und Tilman im Sinne einer Erklärung“.119 Den größten Raum in Drawerts Text nimmt die Darstellung eines über Generationengrenzen hinweg gestörten Vater-Sohn-Verhältnisses ein. Im Mittelpunkt steht dabei der Prozess der Weigerung eines Sohnes, die Sprache seines Vaters zu sprechen. Die Mutter spielt praktisch keine Rolle, wohl aber der Großvater. Die männlichen Ahnen verkörpern für den Ich-Erzähler ein äußerst negatives Deutschlandbild: Beide verhielten und verhalten sich opportunistisch. Der Großvater, der sich als Widerstandskämpfer ausgab120, steht dabei nicht nur für die DDR, sondern auch für das ‚Dritte Reich‘. Zufällig findet der Erzähler beim Blättern in der „Familienchronik“ des Großvaters eine angeschimmelte Fotografie, die eigentlich hätte vernichtet werden sollen: Großvater in der Mitte seiner jungen, blonden Familie unter dem Christbaum, stolze Geste, Modebart, in Uniform, herausgeputzte, zum siegreichen Vater emporschauende Söhne, und auf der Rückseite die Notiz: „Für Führer, Volk und Vaterland – Weihnachten 1941“.121
Der Großvater ist damit als Lügner entlarvt, die Familienchronik als Farce: Alles, aber auch alles Lüge, dachte ich, nicht nur die zur Familienchronik gewordene Geschichte der Ehe war bloße Erfindung, sondern auch die gesamte Biografie war eine zur Wahrheit ernannte Wunschbiografie und bloße Erfindung, deren trauriger Schatten auf sieben mal zehn Zentimetern zu sehen war.122
Der Erzähler begreift: „Ich hatte nur in die andere Richtung zu denken und die Erzählungen, Behauptungen und Aussagen meines Großvaters umzukehren und sie zu verstehen als das, was sie waren: eine spiegelbildliche Projektion.“123 Dabei überlegt er durchaus: 118 119 120 121 122 123
Ebd., S. 154. Ebd., S. 7. Vgl. Ebd., S. 60. Ebd., S. 59; vgl. auch Ebd., S. 42 sowie S. 65. Ebd., S. 59f.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 63.
4.4 Sprache im ‚essayistischen Roman‘
125
Vielleicht war ich auf eine seitenverkehrte Weise ebenso intolerant und kompromißlos geworden wie er oder wie mein Vater. […] Vielleicht tönten ihre Behauptungen in meinen Behauptungen mit, hat sich ihre Sprache in meine Sprache gemischt, so wie sich die Sprache der Macht in ihre Sprache gemischt hat […]. Aber das glaube ich nicht.124
Der Enkel versucht, sich von der Vergangenheit bzw. deren Verleugnung und den damit verbundenen Lügen zu befreien. Das Foto veranlasst ihn, einen Text mit dem Titel „Beschreibung einer Fotografie“ zu verfassen, in dem er einen radikalen Gegenentwurf zum früheren Bild des Großvaters zeichnet. Dieser erscheint nun als verlogener und opportunistischer Nazi. Kontinuierlich habe er sich angepasst – sein Enkel drückt dies aus mit dem Bild der „braune[n] Unterwäsche […], auf der die rote Kleidung getragen wurde“.125 Die versuchte Demontage des Mythos vom konsequenten Antifaschismus, eines der Haupt-Gründungsmythen der DDR also, hat Folgen: Als der Großvater den Text zu lesen bekommt, will er eine Klage anstrengen, spricht ständig von „Ehrabschneidung“ und setzt die Familie unter Druck126; der Vater erleidet einen Herzinfarkt (von dem er sich jedoch rasch wieder erholt). Vater und Großvater waren beide lediglich „Repräsentanten der gerade gültigen Verhältnisse“127; der Erzähler spürt, dass nicht sie es sind, die sprechen, „sondern daß etwas Fernes, Fremdes, Äußeres gesprochen hatte, etwas, das sich lediglich seiner (oder ihrer) Stimme bediente.“128 Der Vater verfügte nicht über ein Wort eigene Sprache […], durch die er ein aufgeklärter, an die Kraft der Vernunft glaubender Mensch hatte sein können, er ist derart sprachlos gewesen und hat die ganze Sprachlosigkeit der Gesellschaft wiederholt, daß er tatsächlich immer nur auf Überführungen hinauslaufende Aussprachen führen konnte […].129
Protest scheint aussichtslos, zumal die Bande zur Macht nicht zerschnitten werden, denn dieses Wahngebäude ist so fest, dachte ich, daß es keine Korrektur und kein Gespräch mehr zuläßt, so daß jede versuchte Korrektur und jedes versuchte Gespräch, das nur in der Grammatik der Macht hätte durchgeführt werden können, schon 124 125 126 127 128 129
Ebd., S. 40f. Ebd., S. 69. Vgl. Ebd., S. 64-73. Ebd., S. 70. Ebd., S. 26. Ebd., S. 120.
126
4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
eine Verführung gewesen wäre, im Wahngebäude sich zu verlieren. Man redet ihre Sprache und hat verloren […].130
Dennoch rebelliert der Sohn gegen die Herrschaftsstrukturen und versucht, der Zwangslage zu entkommen – durch Rückzug: Das Sprechen wie auch das Hören wurde mir zum Erlebnis der Angst, denn hatte Vater gesprochen, so schien es zunächst ein vertrautes, verbindliches und bekanntes Sprechen gewesen zu sein, denn es war ein aus vertrauten, verbindlichen und bekannten Wörtern zusammengesetztes Sprechen, das vorgab, identische Inhalte zu vermitteln, um schließlich nichts als Täuschung und Leere zu hinterlassen und zu zeigen, daß das Sprechen keinen gesicherten Sinn gibt.131
Sprache ist für den Protagonisten untrennbar mit Herrschaft verbunden, denn über den Wörtern lag ein Schatten empfundener Ungültigkeit und der Herrschaftsanspruch des Vaters (oder des Großvaters, beispielsweise), und diese Sprache zu benutzen wäre zugleich eine Form der Unterwerfung gewesen […].132
Folgerichtig verweigert er das Sprechen: Ich verlernte das Sprechen und stürzte vor allen meinen Vater in Sorgen, in eine von mir bezweckte Kränkung: der Sohn, ein Ebenbild seiner selbst ohne Sprache, ein blinder Spiegel, eine Wasserfläche, die kein Bildnis zurückwirft […].133
Ziel war der Tod der Herrschaftssprache, wie „W.“, ein Jugendfreund des Erzählers, ausführt: […] und so haben wir die Sprache unserer hochbeamteten Väter […] verweigert mit aller Entschiedenheit und gewußt, daß sie sterben würde eines Tages wie ein krankes, sieches Tier, Nur [sic] der Zeitpunkt […] war niemandem klar.134
Die DDR erscheint als Staat, der eine Scheinwirklichkeit auch mit Hilfe der Sprache vorspiegelte: […] alle Menschen waren durch Sendungen und Bücher und sanfte Versprechen in eine Realität hineingezogen worden, vor der die Realität der Verbrechen und Kriege und Verfallenheiten unwirklich wurde, sie waren mit einer Geborgenheit bestraft, die
130 131 132 133 134
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,
S. 71. S. 27. S. 25. S. 14.
4.4 Sprache im ‚essayistischen Roman‘
127
eine Illusionsgeborgenheit war, das ganze Land lebte in einer Illusionsgeborgenheit und mit Illusionsbegriffen und in einer Illusionsrealität […].135
Diese „Illusionsrealität“ brach mit der ‚Wende‘ zusammen. Letztere wird allerdings in ihrem Ablauf vom Ich-Erzähler eher kritisch beurteilt, denn „diese Revolution“ ist eine von Anfang an zum Scheitern verurteilte Revolution gewesen, da sie die Sprache des Systems nicht verließ und lediglich versuchte, sie umzukehren, so daß das System kein gestürztes System, sondern ein lediglich umgekehrtes System geworden ist.136
Nach Ansicht des Erzählers ist „[d]er arrogant als Revolution vermerkte Herbst 89 […] nichts als der unvermeidliche Steinschlag in den Spiegel gewesen […].“137 Auch deshalb ist die ‚Wende‘ kritisch zu betrachten, wie der Protagonist zu „W.“ sagt: … doch mit dem Land sterben die Begriffe noch nicht, die es hervorgebracht hat, wir haben, sagte ich zu W., den ich zufällig, nach fast 10 Jahren, wiedertraf, mit Begriffen gelebt und mit einer Sprache gelebt, die über Existenzen entschied und über Biografien, ritualisierte Verständigungssätze, magische Verkürzungen, Formeln der Anpassung oder der Verneinung, auswendig gelernt, dahingesagt, die Verformung der Innenwelt durch die Beschaffenheit der Wörter […].138
Von der neuen Sprache, die allmählich an die Stelle der alten tritt, grenzt der Ich-Erzähler sich radikal ab; es ist eine Sprache, die so wenig wie irgendwas mit der Sprache zu tun hat, die ich suchte, auf die ich wartete oder die ich wieder herstellen wollte, die ich schon einmal besessen haben mußte und nun wieder herstellen wollte und die das ganze Gegenteil war einer Sprache, die mir stündlich abverlangt wurde und auf schon irrationale Weise mit Modeanzügen und Aktenkoffern, Geldanleihen und Unterarmsprays usw. in Verbindung zu bringen war.139
Sein Versuch, die „bis dahin unmöglich gebliebene Erfahrung zu machen, aus dem Westen in den Osten zu kommen“140, führt zu einer Identitätskrise: „ich fuhr, es war ein Spiegellabyrinth, in dem ich mich bewegte, ich war ein anderer, ich war kein anderer, ich wollte ein anderer sein, und ich bin 135 136 137 138 139 140
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S. S.
88. 23. 67. 12. 138. 122; Hervorhebungen im Original.
128
4 Befreiungen – Aspekte der ‚Wendesprache‘
kein anderer gewesen, ich fuhr und ich haßte.“141 Über der DDR nach der ‚Wende‘ schwebt eine apokalyptische Stimmung; was er sieht, beschreibt der Protagonist als öde[n], zerrissene[n] Landschaft, die voll war von toter oder sterbender Gesellschaft, voll von toter oder sterbender Sprache, die von einer anderen toten oder sterbenden Sprache ersetzt werden würde oder bereits ersetzt worden war, hastig hingeklebte Reklameschilder, wo vorher Losungen standen, deren über den farbigen Bildrand hinausreichende Endungen mit dem Putz der Wände zerbrachen, Frittenbuden und Plunderkisten, Billigartikel, vergoldeter Ramsch, Prostituierte, die sich ficken ließen in Containern und Bussen, die auf Parkplätzen standen. Autowracks, ohne Nummernschild, in Seitenstraßen gestellt, als wären sie die Vergangenheit selbst, die man eilig verließ, provisorische Zeltunterkünfte für Banken, Firmen und Warenketten […], um mich her schien es nur noch Idioten, Spekulanten und Verbrecher zu geben […].142
Im Hinblick auf die Sprache gelangt der Protagonist im Sinne einer Summe seiner Überlegungen zu der Feststellung: Durch die Sprache haben wir uns aus der Wirklichkeit entfernt, und wir leben in ihr als in einer Ersatzwirklichkeit, so empfand ich, der genaue Gedanke müsse sich semantisch zerstören und zur Unsprechbarkeit oder Unhörbarkeit oder Unschreibbarkeit oder Unlesbarkeit führen, und so war der gültige, brauchbare Satz, von dem ich in rhetorischer Weise sprach, genaugenommen das Schweigen, in das ich gestürzt war, der gültige Satz war der verschwiegene Satz in dieser Zeit, die ausgesprochenen oder niedergeschriebenen Sätze waren Verneinungen der gültigen Sätze […].143
Die Rezeption des Buches war gespalten: Christine Cosentino (1994) sieht in Drawerts Text den „Ausdruck eines erschütternden Alleinseins und einer fundamentalen Identitätslosigkeit, ein Dokument über Sprachlosigkeit im kranken Raum ‚eines paranoischen Diskurses der Macht‘ […].“144 Hannes Krauss (1993) zufolge mache Drawert – ganz ohne Pathos – deutlich, warum nicht nur die in ihren zum Mythos erstarrten Bildern lebenden Gerontokraten davon nicht loskommen, sondern auch ihre jun-
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Ebd., S. 124. Ebd., S. 139f. Ebd., S. 136. Diese Erkenntnis findet sich als Grundannahme in Gert Neumanns (*1942) Roman Anschlag (Köln 1999) wieder. Christine Cosentino: Der „blinde Spiegel“ der Sprachnot: Kurt Drawerts Essayband Spiegelland: Ein deutscher Monolog. In: Germanic Notes and Reviews 25 (1994) 2; S. 1-3, S. 1.
4.4 Sprache im ‚essayistischen Roman‘
129
gen Opfer. Offenbar hat man sie mit anderswo untauglichen Wahrnehmungs- und Lebensmustern ausgestattet.145
Clemens Murath (1995) kritisiert dagegen: Spiegelland […] gerät in Widerspruch zu sich selbst: Einerseits handelt es sich um eine schonungslose Abrechnung mit der DDR, andererseits betont der Autor durchgängig, wohl unter dem Einfluß poststrukturalistischer Theorien, die Rhetorizität des Textes, die die Möglichkeit eindeutiger Aussagen unterläuft und letztendlich gar das erzählende Subjekt zur rhetorischen Fiktion werden läßt. Damit stellt der Text sich selbst in Frage und unterminiert sein eigenes Anliegen, nämlich die Gültigkeit eines ‚anderen Sprechens‘ zu bezeugen und die Schuldigen zu benennen.146
Mit diesem Einwand hat Murath sicher nicht Unrecht. Dennoch bleibt Drawerts Text eines der eindrucksvollsten literarischen Zeugnisse zum Thema Sprache aus der Perspektive der unmittelbaren Nachwendezeit.
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Hannes Krauss: Verschwundenes Land? Verschwundene Literatur? Neue Bücher – alte Themen. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 273-278, S. 278. Clemens Murath: Beschädigtes Sprechen und eloquentes Schweigen – Anmerkungen zu Kurt Drawerts deutschem Monolog Spiegelland. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 381-394, S. 380; Hervorhebung im Original.
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Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen Die Wendezeit ist eine Blütezeit der Essayistik und Publizistik. Die Fülle der Beiträge gerade in diesem Bereich ist kaum zu überschauen. Essays in einem weiten Verständnis des Begriffs dürften den größten Anteil von Texten der so genannten ‚Wendeliteratur‘ stellen. Brigitte Burmeister (1991) erklärt diese Dominanz aus der Tatsache, dass in den Zeiten, in denen „eine neue Möglichkeit gesellschaftlicher Verständigung zum Vorschein kam“, „[k]ein Gedanke an Schriftstellerei“ blieb.1 Mit diesem Ungleichgewicht ist durchaus auch eine Gefahr verbunden, auf die Andreas Isenschmidt (1993) aufmerksam macht: All das ist jetzt schon schön für die Leser. Und wenn der zweite Band von de Bruyns Memoiren und, wer weiß, vielleicht ein Werk namens „Erwachsenenmuster“ von Christa Wolf erschienen sein werden, wird sich unser Vergnügen vertiefen. Aber was schön für die Leser ist, ist zugleich problematisch für die Literatur. Sie bekundet, wie mir scheint, einige Mühe, sich aus dem Schatten der Essayistik und Publizistik zu befreien.2
In den vergangenen zehn Jahren wurden selbst Politiker häufig zu Autoren und umgekehrt. So griff die letzte Präsidentin der Volkskammer, Sabine Bergmann-Pohl, einmalig zur Feder um ihre Eindrücke des Wandels festzuhalten (vgl. 5.2.2). Die Oppositionsgruppe Demokratie jetzt schlug Christa Wolf gar für das Amt der Staatspräsidentin vor.3 Auch wenn es dazu nicht kam und auch wenn die Volkskammer den Verfassungsentwurf des Runden
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Brigitte Burmeister / Gerti Tetzner: Keine Macht, aber Spielraum. In: Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück. Hrsg. von Anna Mudry. Frankfurt a.M. 1991; S. 30-59, S. 32. Andreas Isenschmidt: Literatur nach der „Wende“ – die Situation im Westen. In: ndl 41 (1993) 8; S. 172-178, S. 173. Vgl. dazu Anton Krättli: Schwierigkeiten mit der „Wende“. Die Schriftsteller in der DDR. In: Schweizer Monatshefte 70 (1990); S. 26-29, S. 28f.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Tisches ablehnte, zu dem Christa Wolf die Präambel geschrieben hatte4, so zeigen sich hieran doch die engen Verbindungen zwischen Literatur und Politik in dieser Zeit. Die ‚Wendeliteratur‘ ist damit zum größten Teil zwangsläufig eine politische Literatur – was die meist breit geführten Kontroversen um die Enttäuschung über den Verlauf der ‚Revolution‘, den Verlust der sozialistischen Utopie, den Abschied von der DDR, die Art und Weise der ‚Vereinigung‘, aber auch um Fragen der Nation und ein neues deutsches Selbstverständnis5 erklären mag. Im Folgenden soll es darum gehen, Hauptstränge der Diskussion aufzuzeigen, Postionen zu verdeutlichen und die Hintergründe für bestimmte, aus heutiger Sicht möglicherweise bereits kaum mehr nachvollziehbarer Kontroversen darzustellen. Zu diesen in einem weiter gefassten Verständnis als ‚kulturpolitisch‘ zu bezeichnenden Debatten treten natürlich auch im engeren Sinne politische wie die für das Selbstverständnis der nun größer gewordenen Bundesrepublik wichtige Diskussion über den zukünftigen Regierungssitz.6 Karl-Wilhelm Schmidt (1996) unterscheidet vier größere kulturpolitsche Debatten seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten: Mit der Veröffentlichung ihrer Erzählung Was bleibt im Frühsommer 1990 löste Christa Wolf eine erste Debatte aus, die schon bald zu einem beispiellosen deutschdeutschen Literaturstreit um ‚Linksintellektualismus‘ und ‚Gesinnungsästhetik‘ eskalierte. […] Wenig später schloß sich eine zweite Diskussion an, die Wolf Biermann im Herbst 1991 mit seiner Büchner-Preis-Rede eröffnete, indem er einen der Protagonisten der Prenzlauer-Berg-Szene, Sascha Anderson, bezichtigte, Kontakte zur Staatssicherheit gehabt zu haben. […] Der bereits in einem ersten Zugriff überaus kontrovers geführte Feuilleton-Streit um Literatur und Staatssicherheit eskalierte im Januar 1993 erneut. Die Enttarnung Christa Wolfs und Heiner Müllers als Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit läutete eine weitere Runde in der Auseinandersetzung um den Zusammenhang von Literatur und Staatsmacht und zugleich einen dritten deutsch-deutschen Literaturstreit ein […]. 4
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Vgl. dazu Ulrich K. Preuß: Auf der Suche nach der Zivilgesellschaft. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches. In: FAZ v. 28.4.1990 sowie Hans Kügler: Positionen – Schriftsteller zur deutschen Einheit (1989-1990). Über die Verarbeitung negativer politischer Erfahrungen. In: Kultureller Wandel und die Germanistik der Bundesrepublik. Hrsg. von Georg Behütuns und Jürgen Wolff. Stuttgart 1992; S. 194-216, S. 206. Vgl. dazu auch Astrid Herhoffer / Birgit Liebold: Schwanengesang auf ein geteiltes Land. Der Herbst 1989 und seine Folgen in der Literatur. In: Buch und Bibliothek 45 (1993) 6 / 7; S. 587-604, S. 590. Vgl. Berlin – Bonn. Die Debatte. Alle Bundestagsreden vom 20. Juni 1991. Hrsg. vom Deutschen Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit. Köln 1991. Zum durch die ‚Wende‘ veränderten Berlin vgl. Klaus Schütz: Über eine veränderte Stadt. In: Deutsche Einheit. Gedanken, Einsichten und Perspektiven. Hrsg. von Eberhard Diepgen. Berlin 2000, S. 212-222. Auf rein politische Debatten wird im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Die vierte – (kultur-)politisch ebenfalls höchst brisante – Auseinandersetzung nahm ihren Anfang im Diskurs der Fachdisziplin. In diversen Publikationen erhob vor allem der Berliner Germanist Richard Herzinger7 den Vorwurf, Heiner Müller – und mit ihm Volker Braun, Christa Wolf oder Christoph Hein – betreibe ‚Zivilisationskritik,‘ [sic] mache sich des ‚Antiwestlertums‘ schuldig und sei der ‚Neuen Rechten‘ zuzuschlagen.8
Von der vierten Auseinandersetzung soll hier nicht die Rede sein. Stellvertretend für viele Kritiker von Herzingers Ansatz sei Frank Hörnigk (1997) zitiert, der mit Recht feststellt: In der Verteidigungspose selbsternannter Verteidiger der Werte westlicher Demokratie erinnern die Positionen Herzingers oder Domdeys in ihrer diametralen Entgegensetzung komischerweise nicht selten an die Gralshütermentalität der orthodoxen Verteidiger des sozialistischen Realismus.9
5.1.1 Verschlafene Beobachter? – Die Intellektuellen und die ‚Wende‘ Wir, die Schriftsteller, die Mitglieder der Künstlerverbände und der Akademien, die Intellektuellen des Landes, wir werden eines Tages die Frage zu beantworten haben: „Wo wart ihr [sic] eigentlich damals? Wo zeigte sich eure [sic] Haltung? Wo blieb euer – und sei’s noch so ohnmächtiges – Wort?“ Und dann wird uns keine noch so kluge und geschickte Antwort vor der Scham schützen können, wenn wir heute noch immer schweigen.10 (Christoph Hein, 1989)
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Vgl. Richard Herzinger: Masken der Lebensrevolution. Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers. München 1992; Ders.: Die obskuren Inseln der kultivierten Gemeinschaft. Heiner Müller, Christa Wolf, Volker Braun – deutsche Zivilisationskritik und das neue Antiwestlertum. In: Die Zeit v. 4.6.1993 (Literatur); ergänzend dazu: Iris Radisch: Dichter in Halbtrauer. Junge Autoren nach dem Ende der DDR. In: Die Zeit v. 4.6.1993 (Literatur); dagegen Thomas Assheuer: Im PartisanenNest der „Neuen Rechten“? Richard Herzingers Attacken gegen die Schriftsteller Heiner Müller, Christa Wolf und Volker Braun. In: FR v. 9. / 10.6.1993. Karl-Wilhelm Schmidt: Literaturdebatten des westlichen Feuilletons um Heiner Müller. Vom ‚IM‘ zum ‚Neuen Rechten‘. In: Monteath, Peter / Alter, Reinhard (Hgg.): Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38), S. 51-73, S. 51f.; Hervorhebung im Original; vgl. dazu auch Thomas Anz: Der Streit um Christa Wolf und die Intellektuellen im vereinten Deutschland. In: Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the Wall. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38); S. 1-17, S. 14. Frank Hörnigk: Heiner Müllers ‚Endspiele‘. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40); S. 315-327, S. 320. Christoph Hein: Rede auf der Versammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR (14.9.1989). In: ndl 38 (1990) 1; S. 146-153, S. 152.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Und alle Intellektuellen, hüben wie drüben, sehen mit schreckensweit geöffneten Augen: In Deutschland findet eine Revolution statt, und sie können sagen, sie sind nicht dabeigewesen.11 (Ulrich Greiner: Keiner weiß mehr. Was passiert, wenn was passiert, 1989) Die Literatur hat seit Jahren Vorarbeit geleistet auf ihrem, dem geistigen Feld. Die Stärke ihrer Wirkung ist natürlich schwer meßbar, aber sie war da. Daß bei dem eigentlichen Geschehen im Oktober, November anderes auslösend wirkte, spricht doch nicht gegen diese vielleicht notwendige Bodenbereitung.12 (Günter de Bruyn, 1990) Vor allem aber sind es ihre literarischen Werke, die dazu beigetragen haben, daß die Maßstäbe nicht verlorengingen, trotz all der Brüche und Inkonsequenzen in manchem dieser Bücher. Und so haben diese Schriftsteller selbstverständlich auch dazu beigetragen, daß es zu den gesellschaftlichen Veränderungen gekommen ist.13 (Reiner Kunze, 1991)
Obige Zitate verdeutlichen, wie kontrovers die Positionen über die ‚Beteiligung‘ insbesondere von Schriftstellerinnen und Schriftstellern an der ‚Wende‘ waren und sind. Diese Positionen sollen im Folgenden etwas genauer betrachtet werden. Dabei gehe ich von einem weit gefassten Publizistik-Begriff aus, der auch Reden, Gespräche und Interviews einschließt. Einige Texte sind wegen ihres hohen Bekanntheitsgrades geradezu klassisch geworden, etwa Günter Grass’ Ein Schnäppchen namens DDR (1990).14 Fasst man das sich bietende Bild zusammen, so erkennt man, dass viele prominente Intellektuelle die ‚Wende‘ zwar durchaus mit vorbereitet haben, im Herbst 1989 aber in den seltensten Fällen die Hauptakteure gewesen sind, sondern eher eine Funktion der kritischen Begleitung wahrnahmen. Reinhard Andress (1991) weist darauf hin, dass sie
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Ulrich Greiner: Keiner weiß mehr. Was passiert, wenn was passiert. In: Die Zeit v. 10.11.1989; ähnlich auch Michael Schneider: Wenn die Welt sich schneller ändert als die Weltbilder. In: M.S.: Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DMKolonie. Berlin 1990; S. 7-16. [Interview mit Regina General]: Stimme einer Stimmung. Gespräch mit Günter de Bruyn über die Frage, ob die Revolution ohne die Schrifsteller stattgefunden hat. In: Die Zeit v. 9.3.1990. [Interview mit Wolfgang Kraus]: Gegenseitig überfordert? Reiner Kunze antwortet. In: Die politische Meinung 36 (1991) 265; S. 37-44, S. 38. Günter Grass: Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Reden vorm Glockengeläut. Göttingen 1990. Der titelgebende Essay erschien erstmals in der Zeit v. 5.10.1990.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
auch praktische Arbeit [leisteten]: Daniela Dahn, Jürgen Rennert, Christoph Hein und Christa Wolf wirkten z.B. bei Untersuchungsausschüssen zu den polizeilichen Übergriffen am 7. / 8. Oktober in Leipzig und Berlin mit, und Helga Schubert fungierte beispielsweise als Pressesprecherin des Runden Tisches, der bei den Umwälzungen das gemeinsame Forum für die verschiedenen Erneuerungskräfte in der DDR bildete und in Verhandlungen mit der DDR-Regierung trat.15
Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Essayisten und Publizisten haben die Ereignisse des Herbstes 1989, vor allem aber den Einigungsprozess kontinuierlich beobachtet, kommentiert und analysiert. Übergreifende Tendenzen im Hinblick auf ihre Positionen zur Zeit der ‚Wende‘ zu beschreiben ist schwierig – zu zahlreich und vielfältig sind die Stimmen, als dass man Einzelpersonen gerecht werden könnte. An dieser Stelle muss kurz auf die Bezeichnung ‚Intellektuelle‘ eingegangen werden.16 Gerade im DDR-spezifischen Kontext ist die Verwendung des Begriffs problematisch; im offiziellen Sprachgebrauch war in der DDR meist von ‚Intelligenz‘ die Rede. Der Mediziner und Molekularbiologe Jens Reich (*1939), einer der führenden Köpfe des Neuen Forums, hat 1992 bereits relativ früh eine umfassende Analyse der Rolle der ‚Intelligenz‘ in der DDR vor, während und nach der ‚Wende‘ vorgelegt.17 Reich, der – nach eigener Aussage – selbst 30 Jahre lang zur Intelligenz gehörte, liefert eine ausführliche Bestimmung des mehrdeutigen Begriffs. Dabei geht er von der in der DDR am häufigsten intendierten Bedeutung aus, einer Rückübersetzung des russischen Wortes „Intelligentsia“, und meint somit eine soziale Schicht.18 Reich stellt fest: 15
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Reinhard Andress: DDR-Schriftsteller und die Herbst-Ereignisse 1989 in der DDR. In: Schatzkammer der deutschen Sprachlehre, Dichtung und Geschichte 17 (1991) 1; S. 26-45, S. 31. Zur Rolle der Intellektuellen in der SBZ / DDR bzw. den östlichen Bundesländern vgl. ausführlich Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000. Leipzig 2001. Jens Reich: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelligenz und die Macht. Berlin 1992. Vgl. Ebd., S. 28ff. Zum Begriff der ‚Intelligenz‘ vgl. ausführlich Jürgen Kuczynski: Die Intelligenz. Studien zur Soziologie und Geschichte ihrer Großen. Köln 1987 (Kleine Bibliothek Geschichte, 468), insbes. Kap. I: „Der Begriff der Intelligenz“ (S. 11-54). Einleitend definiert Kuczynski knapp: „Unter Intelligenz verstehen wir zweierlei. Einmal die Intelligenz als Inbegriff ausgeprägter Fähigkeit, das Wesen einer Sache richtig zu erfassen. Und sodann die Gesamtheit der geistig Schaffenden. Natürlich ist Intelligenz im ersten Sinne absolute Voraussetzung für die Intelligenz im zweiten.“ (S. 11). Zur Rolle der ‚Intelligenz‘ vgl. auch Dieter Geulen: Politische Sozialisation der staatsnahen Intelligenz in der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 12 / 99 v. 19.3.1999, S. 3-14 sowie Ders.: Politische Sozialisation in der DDR. Autobiographische Gruppengespräche mit Angehörigen der Intelligenz. Opladen 1998. Siehe darin v.a. Kapitel 2.3 „Reflexionen über die DDR und ihr Scheitern“ (S. 248-273). Ausführlich wird in diesem Zusammen-
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Die Position der Intelligenz krankte daran, daß sie objektiv Systemstabilisator war, obwohl die Individuen besonders in der Spätzeit den Glauben an das System verloren hatten und sich für Proletariat hielten. Auch in der Intelligenz spiegelte sich also eine Umkehr der Wahrheitsfunktion, mit entsprechenden Spannungen im inneren Weltbild, aushaltbar nur noch durch Spaltung der äußeren Welt in die Anpassungswelt und die warme eigene (unmittelbare berufliche Tätigkeit, Familie).19
Die Frage, ob die Intellektuellen in der DDR überhaupt konstruktive Beiträge zur ‚Wende‘ geleistet haben bzw. leisten konnten, ist oft gestellt worden. Versucht man, die nach der ‚Wende‘ erhobenen Anschuldigungen zusammenzufassen, so wirft man den Intellektuellen insbesondere vor, sie hätten sich Privilegien verschafft, Konflikte mit der Macht vermieden, Themen wie Staatssicherheit und Umweltzerstörung konsequent gemieden und sich im Großen und Ganzen linientreu verhalten. Zwei Aspekte spielen dabei vor allem eine Rolle: die Frage nach den Privilegien und die Frage nach der Existenz einer intellektuellen Opposition, denn, so der Schriftsteller Uwe Kolbe 1991: „Im deutlichen Gegensatz zur damaligen Lage in den sozialistischen Staaten Polen, CˇSSR, Ungarn, UdSSR gab es in der Deutschen Demokratischen Republik keine antisozialistische Opposition.“20 Dieser Äußerung ist zumindest in Bezug auf die Intellektuellen zuzustimmen. Als problematisch erweist sich jedoch die in der Regel damit verbundene Abwertung, denn es wird oft übersehen, dass von Seiten der Intellektuellen zahlreiche Reformvorschläge gemacht wurden. Andererseits sind auch die mit einer systemimmanenten Kritik verbundenen Schwierigkeiten zu sehen, auf die Hans Joachim Schädlich (1990) hinweist: Manche Schriftsteller unter der kommunistischen Diktatur haben sich als Kritiker von Erscheinungsformen der Diktatur verstanden, ohne die Diktatur selbst in Frage zu stellen. Ihre systemimmanente Kritik war den Unterdrückten gewiß von partiellem Nutzen. Die Feststellung, daß systemimmanente Kritik auch den Unterdrückern von Nutzen war, weil sie die Grenzen des Systems fraglos voraussetzte, wird als unfein empfunden.21
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hang auf das so genannte „Theorem der falschen Leute an der Spitze“ eingegangen (vgl. insbesondere S. 254-264; für die ‚künstlerische Intelligenz‘ siehe Frank Hörnigk: Die künstlerische Intelligenz und der Umbruch in der DDR. In: Die DDR auf dem Weg zur Deutschen Einheit. Probleme, Perspektiven, Offene Fragen. Dreiundzwanzigste Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 5. bis 8. Juni 1990. Köln 1990 (Edition Deutschland Archiv), S. 139-145. Jens Reich: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelligenz und die Macht. Berlin 1992, S. 81. Uwe Kolbe: Die Heimat der Dissidenten. Nachbemerkungen zum Phantom der DDROpposition. In: Freitag v. 27.9.1991. Hans Joachim Schädlich: Über Dreck, Politik und Literatur [1990]. In: H.J.S.: Über Dreck, Politik und Literatur. Aufsätze, Reden, Gespräche, Kurzprosa. Berlin 1992; S. 25-29, S. 27; vgl. dazu auch: Ders.: Literatur und Widerstand [1985]. In: Ebd., S. 62-66.
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Insofern lässt Schädlich auch das Argument nicht gelten, Literatur in der DDR sei „eine Art Lebenshilfe für Unterdrückte“ gewesen.22 5.1.1.1 Privilegien – die Kluft zwischen Intellektuellen und restlicher Bevölkerung Die Problematik der Privilegien ist breit diskutiert worden – meist im Rahmen von Selbstbefragungen oder autobiografischen Schriften. Schon 1988 hatte Christoph Hein die Fragwürdigkeit der Privilegien im Rahmen seines Arbeitsgruppen-Beitrags über Literatur und Wirkung auf dem X. Schrifstellerkongreß der DDR dargestellt: Die bislang erreichten, gewährten oder erkämpften Ausnahmen – etwa für Künstler, für Schriftsteller – sind, was immer sie auch sonst bedeuten, Privilegien. Und Privilegien sind Krebsgeschwüre einer sozialistischen Gesellschaft, denn sie schaffen Klassen, die sich durch Vorrechte unterscheiden, die durch Ausnahmen voneinander getrennt sind, denen durch Sonderrechte eine Verständigung erschwert wird.23
Ein Jahr später konstatiert Helga Königsdorf (*1936) in einem Brief an den Genossen „K.B.“ eine „Intellektuellenfeindlichkeit“, die sie hauptsächlich auf diese Privilegien zurückführt, aber zugleich auch in einen umfassenderen Kontext stellt: Natürlich hatten sie [die Intellektuellen; F.Th.G.] Privilegien. In diesem Feudalsystem wurde ja nur mit Privilegien regiert. Jeder hatte praktisch irgendwelche Privilegien. Das wichtigste Privileg aber war, daß die Intellektuellen mit ihrer Arbeit voll identifiziert waren. Unsere Ängste und der Zwang zur Selbstzensur, das alles zählt nicht mehr. […] Nicht vergessen wird man, daß einige von uns ihr Produkt auf dem Weltmarkt anbieten durften. Das ist gerade der neuralgische Punkt. Die Arbeiter waren ihrer Arbeit total entfremdet. Ihr Produkt wurde billig verhökert. Sie bekamen dafür schlechtes Geld. Nun haben sie es einfach satt. Und man kann ihnen nicht mehr kommen mit „unser Land“. Worauf sollen sie auch stolz sein. Dieses Land hat sie jahrelang durch seine schlechte ökonomische Strategie im Vergleich mit den „Brüdern und Schwestern“ zu Menschen zweiter Klasse gemacht.24
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Ders.: Über Dreck, Politik und Literatur [1990]. In: Ebd.; S. 25-29, S. 28. Christoph Hein: Literatur und Wirkung. In: X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Arbeitsgruppen. Schriftstellerverband der DDR. Berlin (DDR) / Weimar 1988; S. 224-247, S. 245. Helga Königsdorf: Lieber Genosse K.B.! [18.12.1989]. In: H.K.: 1989 oder Ein Moment Schönheit. Eine Collage aus Briefen, Gedichten, Texten. Berlin (DDR) / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 117-119, S. 119.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Wie Königsdorf bezieht auch Bernd Wagner (*1948) sich in der letzten seiner Reden „an die Kreuzberger Sperlinge“ (1989 / 1990) auf den Aufruf Für unser Land (vgl. 5.1.1.3): Und sie fragen sich nicht ohne Recht, wenn sie einen Aufruf der Künstler „Für unser Land“ lesen, welches Land meint ihr eigentlich, das Land eurer Mecklenburger Bauernhäuser oder das der Braunkohlegruben? Die jetzt beklagte Intellektuellenfeindlichkeit haben die Intellektuellen und Künstler selbst zu verantworten: Es war nicht der Staat, der die Künstler vom Volk getrennt hat, sie mußten ihre Privilegien schon selbst annehmen. Es reicht eben nicht, über Jahre hin, zu den existentiellen Problemen des Landes zu schweigen oder sie in Geheimsprache verpackt unter dem Ladentisch zu handeln und dann, wenn der Damm gebrochen ist, eine Demonstration zu organisieren, an deren Spitze man zusammen mit Stasichef Markus Wolf auftritt, während der Bautzenhäftling Janka zehn Meter weiter unten vor der Bühne steht – auch wenn man an diesem Damm gebohrt hat. Es reicht eben nicht, das alte stalinistische Vokabular neu anzuwenden und Leipzig den Titel „Heldenstadt“ zu verleihen. Und es reicht nicht einmal, in einer Kommission zur Untersuchung der Gewalt gegen Demonstranten zu arbeiten – nicht um eine wirkliche Autorität zu bewahren oder zu erlangen. Revolutionen bringen es mit sich, daß Autoritäten gestürzt werden, eine nach der anderen – es ist ihr Ziel. Und sie machen nicht vor geistigen Autoritäten halt, wenn diese, auf welch gut gemeinte Weise auch immer, an der Macht partizipierten. Sperlinge, findet ihr nicht auch, daß das Duo Wolf / Müller mit zunehmendem Alter immer mehr wie eine Reinkarnation des Duos Seghers / Brecht erscheint, wobei der eine Teil die mehr hausfraulichen Aufgaben erfüllt, während der andere seine Funktion als göttlicher Stellvertreter ausübt? Das heißt nichts anderes, als daß nie wirklich mit der Tradition gebrochen wurde, in der Bekenntnis an erster und Kritik an zweiter Stelle kommt. […] Die Intellektuellen müssen sich fragen lassen, worum es ihnen bei der Forderung nach Erneuerung des Sozialismus in der DDR wirklich geht: Hier im Westen, ob um mehr als das Festhalten an einer Utopie unter der Voraussetzung, daß sie andere realisieren, im Osten, ob um mehr als das Bedürfnis, weiter geschützt an den Realitäten dieser Welt vorbeileben zu können.25
Geradezu leitmotivisch zieht sich die Frage der Privilegien durch Rita Kuczynskis (*1944) Autobiografie Mauerblume (1999). Dabei reflektiert
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Bernd Wagner: Blitzschlag, Angst und Vaterlandsliebe. Rede an die Kreuzberger Sperlinge. In: B.W.: Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-9. Berlin 1991; S. 5-34, S. 26f.; Hervorhebung im Original. Geschrieben im Dezember 1989; erstmals veröffentlicht unter dem Titel Blitzschlag, Angst und Vaterlandsliebe. Letzte Rede an die Kreuzberger Sperlinge. In: Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas. Schriftsteller aus beiden deutschen Staaten über ihr nationales Selbstverständnis. Hrsg. von Françoise Barthélemy und Lutz Winckler. Frankfurt a.M. 1990; S. 101-125, S. 116f.; Hervorhebung im Original.
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die zeitweilige Schwiegertochter des Wirtschaftswissenschaftlers Jürgen Kuczynski (1904-1997) immer wieder die eigene Position: Über den Grund der zahlreichen Privilegien von namhaften Schriftstellern und Künstlern in der DDR hatte ich mir bis zu meinem Abgang aus der Akademie kaum Gedanken gemacht. Ich begriff erst jetzt ihre politische Rolle. Da es in den Medien nur eine fiktive Öffentlichkeit gab, waren die Schriftsteller und Künstler als freiberufliche Individuen eine personifizierte Möglichkeit, Mißstände auszusprechen bzw. Mißstände zu vertuschen. Auch sie konnten eine Mittlerfunktion zwischen Regierung und Regierten innerhalb des DDR-Staatsvolks einnehmen und waren daher von enormer politischer Bedeutung. Diese Mittlerfunktion konnte in doppelter Weise wahrgenommen werden. Von den kritischen Künstlern, indem sie in und mit ihren Werken versuchten, Mißstände und Unzulänglichkeiten auszusprechen, um sie in der Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen. Von den Staatskünstlern und Hofdichtern, indem sie in ihren Werken die bestehenden sozialistischen Zustände als die glücklichsten Zustände der Menschheit überhaupt priesen. In politisch ausgeglichenen Zeiten hielten sich linientreue und kritische Künstler die Waage und trugen somit zum Interessenausgleich, innerhalb des von der Parteiführung überwachten Meinungsbildungsprozesses, bei. In politisch angespannten Zeiten gewannen die Künstler, die sich als Propagandisten der herrschenden Orthodoxie verstanden, die Oberhand. Inhalt und Maß des Gesprächs im Volksstaat wurden durch die Zensurbehörde im Kulturministerium oder durch die Zensur der Literatur- und Tageszeitungen bestimmt. Je größer die tatsächlichen Differenzen zwischen Volk und Staatsmacht, desto wichtiger wurden für die DDR-Bürger die Schriftsteller und Künstler, die aussprachen, was alle wußten. Kritische Künstler und Schriftsteller, die mehr sagten, als sie sagen durften, wurden gemaßregelt. […]26
Später heißt es: Ja, die Privilegien – an der Geschichte ihrer demokratischen Aufweichung könnte die Geschichte des Niederganges der DDR beschrieben werden, die auch ein Kampf um die Gleichheit der Privilegien war. Das heißt, in dem Maße, da die DDR wirtschaftlich und politisch in die Knie ging, in dem Maße versuchte die herrschende Politbürokratie über die breitere Streuung der Privilegien zu steuern, was auf Dauer nicht mehr zu steuern war. Mit der immer differenzierteren Bewilligung von Sonderrechten, das heißt Sonderfreiheiten, versuchte sie, die einzelnen Berufsstände und sozialen Schichten voneinander zu isolieren, um sie gegeneinander auszuspielen und zu disziplinieren.27
Die oben wiedergegebenen Äußerungen belegen, in welchem Ausmaß die Privilegien nicht nur die Kluft zwischen ‚Intellektuellen‘ und ‚normaler‘ Be26 27
Rita Kuczynski: Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze. München 1999, S. 188f. Ebd., S. 248.
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völkerung vergrößerten, sondern auch Kommunikationsbarrieren schufen. Relevant ist in diesem Zusammenhang auch die Frage der verschiedenen ‚Öffentlichkeiten‘, auf die Peter Uwe Hohendahl (1994) hinweist. Er vertritt folgende These: Im Herbst 1989 meinten die Schriftsteller, daß die Stunde gekommen sei, in der sie zum erstenmal das Volk gegenüber der Partei wirksam vertreten könnten. Das Forum hierfür sollte allerdings nicht die Parteiöffentlichkeit sein; stattdessen stellte man sich eine im freien Austausch der Bürger begründete sozialistisch-demokratische Öffentlichkeit vor. Jedoch war den Schriftstellern die Tatsache nicht hinreichend klar, daß ihre eigene Position genau durch die Ereignisse, die sie selbst mitherbeigeführt hatten, untergraben worden war, und zwar durch Dekonstruktion der Parteiöffentlichkeit. Sie hatten, sozusagen, ihr Mandat verloren, für das Volk zu sprechen.28
Auch für Helga Schubert (*1940) spielt diese Frage eine Rolle; sie bestreitet die Existenz eines Gegensatzes zwischen der „Kulturbürokratie“ und „den meisten Schriftstellern“: Die Legende existiert, die Schriftsteller und Künstler hätten zum Zusammenbruch der DDR beigetragen, weil sie trotz Zensur zwischen den Zeilen zu ihren Lesern und Leserinnen sprachen, wie sozusagen die Sklavensprache die dummen Zensoren überwand. Bei dieser These geht man von einem Gegensatz zwischen Kulturbürokratie in den Ministerien und im Zentralkomitee auf der einen und den meisten Schriftstellern in der DDR auf der anderen Seite aus.29
Monika Maron (*1941) veröffentlichte 1990 einen Essay mit dem Titel Die Schriftsteller und das Volk30, in dem sie den großen Abstand zwischen vielen Intellektuellen und dem Volk beklagt. Beide Gruppen verfolgten unterschiedliche Ziele: Während es der breiten Bevölkerung um eine schnelle Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse gegangen sei, kämpften die Intellektuellen um den „Erhalt ihrer Utopie“.31 Maron kritisiert die Rolle insbesondere der privilegierten Intellektuellen (zu denen sie freilich zeitweise selbst gehörte), die „16 Millionen Menschen auch für die 28
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Peter Uwe Hohendahl: Wandel der Öffentlichkeit. Kulturelle und politische Identität im heutigen Deutschland. In: Claudia Mayer-Iswandy (Hg.): Zwischen Traum und Trauma – Die Nation. Transatlantsiche Perspektiven zur Geschichte eines Problems. Tübingen 1994 (Stauffenburg Colloquium, Band 32); S. 129-146, S. 136. Helga Schubert: Bücherverbrennung einmal anders. In: H.S.: Das gesprungene Herz. Leben im Gegensatz. München 1995; S. 60-66, S. 64 [zuerst in: Neue Zeit (Berlin) v. 10.3.1993]. Monika Maron: Die Schriftsteller und das Volk. In: Der Spiegel 44 (1990) 7 v. 12.2.1990, S. 68-70. Ebd., S. 70.
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Zukunft zum Objekt einer Idee degradieren“32 wollten und damit einen „Labortest an unfreiwilligen Versuchspersonen“33 anstrebten. Insofern hat sie zunächst durchaus Verständnis für den gesteigerten Konsumbedarf der Ostdeutschen. Enger gefasst bezieht sich Marons Kritik auf einen Anfang Dezember 1989 unter dem Titel Aschermittwoch in der DDR im Spiegel und in der jungen Welt veröffentlichten Beitrag von Stefan Heym: Danach, Aschermittwoch. Aus dem Volk, das nach Jahrzehnten Unterwürfigkeit und Flucht sich aufgerafft und sein Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte und das soeben noch, edlen Blicks, einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien, wurde eine Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef. Welche Gesichter, da sie, mit kannibalischer Lust, in den Grabbeltischen, von den westlichen Krämern ihnen absichtsvoll in den Weg plaziert, wühlten; und welch geduldige Demut vorher, da sie, ordentlich und folgsam, wie’s ihnen beigebracht worden war zu Hause, Schlange standen um das Almosen, das mit List und psychologischer Tücke Begrüßungsgeld geheißen war von den Strategen des Kalten Krieges.34
Die DDR hätte seines Erachtens eine Vorreiterrolle übernehmen können, wie er bereits im Oktober geäußert hatte: Eine Deutsche Demokratische Republik, aber eine bessere als die real existierende, ist notwendig, schon als Gegengewicht gegen die Daimler-Messerschmitt-BölkowBlohm-BASF-Höchst [sic] -Deutsche-Bank-Republik auf der anderen Seite der Elbe; notwendig ist ein sozialistischer Staat auf deutschem Boden, der seinen Bürgern wahre Freiheit und alle Rechte garantiert, die freien Bürgern zustehen. Und nicht nur um der Menschen willen, die in der DDR leben und in ihr auch ausharren möchten; ein vernünftig funktionierender DDR-Sozialismus wäre vonnöten auch für die außerhalb der Republik, denn überall in der Welt leidet die Linke unter dem Fiasko des SED-Staates, überall höhnen die Reaktionäre: was, Sozialismus! Schaut ihn euch doch an, diesen Sozialismus, dem das eigene Volk in Scharen davonläuft!35
Maron greift Heym scharf an; ihrer Auffassung nach „denunziert“ er sich in diesen Sätzen selbst, indem er seinen idealischen Anspruch als das erkennen läßt, was er ist: die Arroganz des Satten, der sich vor den Tischmanieren eines Ausgehungerten ekelt. Wäre Heym ein Einzelfall, könnte ich diese Entgleisung ertragen
32 33 34 35
Ebd. Ebd. Stefan Heym: Aschermittwoch in der DDR. In: Der Spiegel 43 (1989) 49 v. 4.12.1989 (Spiegel-Essay); S. 55-58, S. 55. Ders.: Ist die DDR noch zu retten? Ein Schriftsteller und sein Staat. Aus dem real existierenden muß ein wirklicher Sozialismus werden. In: Die Zeit v. 13.10.1989.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
141
und darüber schweigen. Aber er ist kein Einzelfall. Er wagt in seinem patriarchalischen Selbstverständnis und geschützt durch seine achtenswerte Biographie nur einen besonders harschen Ton. Diesmal ist nicht die Regierung vom Volk enttäuscht, diesmal sind es die Dichter.36
Sie betont ausdrücklich, dass sie sich lieber auf die Seite der Intellektuellen schlagen würde, es aber für wichtig halte, „eine Diskussion um die Zukunft der Menschen in der DDR“ zu führen. Mit dieser Perspektivübernahme steht sie weit gehend alleine da. Zudem zitiert sie Heym sinnentstellend, weil unvollständig, denn bei ihm heißt es im Anschluss an die oben zitierten Sätze: Aber es ist ja verständlich. […] Nicht sie sind schuld, diese Vergierten, an ihrer Entwürdigung; schuld sind die, die da in dem Land hinter der Mauer eine Wirtschaft führten, in welcher Mangel an Logik zu Mangel an Gütern führte und selbst der beste Wille und die beste Arbeit zu Ineffizienz und schäbiger Frucht verkamen.37
5.1.1.2 Der „Topos vom Schweigen“ (Helmut Peitsch) Häufig ist die Auffassung zu lesen, dass die Intellektuellen in Ost wie West keinerlei konstruktive Beiträge zur ‚Wende‘ geleistet, sondern mehr oder weniger ‚geschlafen‘ hätten. Joachim Fest (1989) meint: „Das kritische Bewußtsein ist in Sprachlosigkeit versunken und desavouiert noch im nachhinein das Pathos der moralisch-politischen Instanz, die es für sich reklamiert.“38 Er kritisiert „[d]ie ungeheure Entfernung zwischen denen, die herkömmlicherweise das Wort führen, und den Akteuren auf den Straßen […].“39 In anderen Staaten Mittel- und Osteuropas sei dies anders gewesen: In Deutschland, Ost wie West, waren es […], im Unterschied zu Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien, gerade nicht die Intellektuellen, die den 9. November oder was ihm voraufging [sic] und folgte, vorbereitet und herbeigeführt haben.40
36 37 38 39 40
Monika Maron: Die Schriftsteller und das Volk. In: Der Spiegel 44 (1990) 7 v. 12.2.1990; S. 68-70, S. 68. Stefan Heym: Aschermittwoch in der DDR. In: Der Spiegel 43 (1989) 49 v. 4.12.1989 (Spiegel-Essay); S. 55-58, S. 55. Joachim Fest: Schweigende Wortführer. Überlegungen zu einer Revolution ohne Vorbild. In: FAZ v. 30.12.1989. Ebd. Ebd.
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Wolf Lepenies äußert 1992: „Die Geschichte raste, und die Intellektuellen traten auf der Stelle; als die Nacht des Mauerdurchbruchs zum Tage wurde, war die Avantgarde der deutschen Intellektuellen zur Nachhut geworden.“41 Er stellt fest: Das Schicksal der Intellektuellen in der untergegangenen Republik, die so deutsch und so wenig demokratisch war, hat etwas Tragisches an sich. […] Wir haben im östlichen Deutschland aus nächster Ferne eine Tragödie in fünf Akten miterlebt. Fünf Tage lang konnten sich die Intellektuellen des Landes als Helden fühlen. Dieser kurzlebige Heroismus wird zunächst einmal die Situation der deutschen Geistesarbeiter beeinflussen. Daraus werden sich aber auch Konsequenzen für das Zusammenwachsen der europäischen Kulturen ergeben.42
Vor einem bereits entstandenen Mythos warnt er eindringlich: Unter Komponisten und Poeten, Regisseuren, Schriftstellern und Malern aus der Deutschen Demokratischen Republik überlebt hartnäckig ein Mythos der verpaßten Gelegenheit. Es ist der Mythos, der die fünf Tage vom 4. bis zum 9. November 1989 zur heroischen Epoche der einzigen gelungenen deutschen Revolution verklärt. Am 4. November kündete die von Künstlern und Schriftstellern in Ost-Berlin organisierte Großdemonstration den Fall des Ancien régime an. Am 9. November führte die überstürzte, ungeplante und auch auf eine Konspiration innerhalb der Nomenklatura zurückgehende Öffnung der Berliner Mauer zum Kollaps der Deutschen Demokratischen Republik. Wäre es nur gelungen, die Anarchie und das Chaos des 9. November zu verhindern, hätte man unverzüglich damit begonnen, endlich den wahren Sozialismus aufzubauen! So aber degenerierte, was eine wirkliche Revolution unter Anleitung der intellektuellen Avantgarde hätte werden können, zur Implosion eines Regimes.43
Die These, die ‚Wende‘ sei durch die Intellektuellen vorbereitet worden, lässt er nicht gelten, denn: Die Revolution in der DDR wurde weder von einer Gewerkschaft erkämpft noch von Intellektuellen vorbedacht [sic]. […] Die Helden dieser Revolution waren, mit wenigen Ausnahmen in Kirchenkreisen, keine Intellektuellen. Im Gegensatz etwa zur Tschechoslowakei waren Künstler und Studenten in der Deutschen Demokratischen Republik keineswegs die Speerspitzen der Revolte.44 41 42
43 44
Wolf Lepenies: Folgen einer unerhörten Begebenheit. Die Deutschen nach der Vereinigung. Berlin 1992 (Corso bei Siedler), S. 35. Ders.: Helden für fünf Tage: Das Drama der Intellektuellen in der Deutschen Demokratischen Republik. In: W.L.: Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa. Frankfurt a.M. / New York / Paris 1992 (Edition Pandora, Band 10, Europäische Vorlesungen I); S. 56-61, S. 56f. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Ein Grund hierfür liege darin, dass die DDR „zum einzigen Land in Mittel- und Osteuropa“ geworden sei, „in dem sich die Intelligenz von der Masse der Bevölkerung weitgehend entfremdete.“45 In diesem Zusammenhang betont er noch einmal das Fehlen einer intellektuellen Opposition in der DDR: Im Unterschied zu Ländern wie Polen und Ungarn gab es in der Deutschen Demokratischen Republik weder einen wirklichen Samizdat noch eine Katakombenkultur – abgesehen von einigen oppositionellen Kirchengemeinden. Auch brachte das Land keinen Kreis engagierter Emigranten hervor wie etwa Ungarn. Intellektuelle, die das Land verließen oder die verjagt und ihrer Staatsbürgerschaft beraubt wurden, gingen in der Regel in die Bundesrepublik, wo sie weiter in ihrer Muttersprache publizieren konnten. Diejenigen, die blieben, fanden in der Regel Mittel und Wege, um sich mit der Nomenklatura zur [sic] arrangieren. Gewiß: nicht alle Intellektuellen waren fellow travellers, aber fast alle genossen die soziale Sicherheit und die Subsidien, die der literarischen und der wissenschaftlichen Intelligenz von einem autoritären Regime zugeteilt wurden.46
Der Münchner Philosoph Dieter Henrich (*1927) stellt 1990 resigniert fest: Eine Entwicklung, die Aussichten wie diese verspricht, hätte eigentlich die deutschen Intellektuellen beredt werden lassen müssen. So hätte man erwarten können, daß sie das revolutionäre Geschehen in Deutschland mit einer Bemühung um Verständigung und um Klarheit über seine Perspektiven begleiten würden, die Rang und Gewicht des Geschehens entspricht. Doch zunächst herrschte Stummheit. Und noch immer ist die Zahl der Beiträge klein, die auf das Geschehen ein Licht fallen lassen, das mehr erfaßt als die Probleme, welche gerade die größte Dringlichkeit haben in dem politischen Prozeß, der aus der deutschen Teilung herausführen soll. […] In der Reaktionsschwäche der deutschen Intellektuellen wird man wohl auch eine Folge der Anpassung an die Außenperspektive auf die Lage in Deutschland und der bloßen Eingewöhnung in die Teilung zu erkennen haben. Die Reaktionen im westlichen Ausland waren jedenfalls über Monate weit spontaner und von grundsätzlicherem Gewicht. Inzwischen versiegen sie auch dort; und man rätselt nun vor allem über die Stummheit der Deutschen und über die Syndrome von Gedanken und Motiven, die sich halb entwickelt hinter ihr verbergen möchten.47
Theo Buck (1992) sieht die „Schriftsteller als Wegbereiter einer ‚Revolution‘ ohne Schriftsteller“.48 Und Gert Ueding (1992) vertritt die Meinung, es sei 45 46 47 48
Ebd., S. 59. Ebd.; Hervorhebung im Original. Dieter Henrich: Einleitung zu D.H.: Eine Republik Deutschland. Reflexionen auf dem Weg aus der deutschen Teilung. Frankfurt a.M. 1990; S. 7-15, S. 12f. Theo Buck: Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller. In: Juni 4 (1990) 2-3; S. 121-135, S. 125.
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„nicht mehr zweifelhaft, welche Rolle sich die Schriftsteller selber bei den Herbstereignissen 1989 in der DDR haben spielen sehen, nämlich allenfalls die von überraschten Zaungästen, die nicht für möglich hielten, was da vor ihren Augen passierte.“49 Für ihn steht fest: Jeder, der über den Tag hinaussah und nur ein wenig weiter zurück, konnte sehen und erlebte es täglich, daß die spektakulären Demonstrationen in Leipzig, Berlin oder Dresden gar nicht die Wirkursachen der politischen Erschütterungen, sondern bereits deren Folgeerscheinungen waren.50
Uedings Auffassung ist nicht falsch, sie verkennt jedoch den Stellenwert der Demonstrationen. Zudem fehlt bei ihm eine Differenzierung in verschiedene Phasen des Umbruchs, die genauer betrachtet werden müssten. Diejenigen, welche die DDR von innen heraus reformierten wollten, verurteilt Ueding: Das [Ueding bezieht sich auf Ausführungen von Rolf Schneider; F.Th.G.] wurde im Februar 1990 geschrieben, als viele Kollegen Schneiders ihre Landsleute vom weiteren Exodus abbringen (den Motor also stillegen), die „Hierbleiber“ von den „Ausreißern“ wie die Guten von den Schlechten geschieden wissen wollten und sich womöglich „höhere sozialistische Entwicklungsstrukturen“ an der Stelle eines administrativ zentralistischen Systems wünschten.51
Dagegen finden sich in der Anthologie Die Geschichte ist offen (1990) Antworten auf die Frage: „Brauchen wir eine neue Republik? Alternativen für die DDR“.52 Für Michael Naumann, den Herausgeber des Bandes, steht fest: Revolutionen werden von Dichtern angemeldet. Wenn jene ausbrechen, sind die Poeten am meisten überrascht. Daß sie so mächtig wären, hätten sie nie geglaubt. Nur die Politiker haben es immer gewußt. Sonst gäbe es keine Zensur. Nun ist sie abgeschafft, und in der DDR entsteht – langsam, langsam – eine offene Gesellschaft.53
49 50 51
52
53
Gert Ueding: Revolution ohne Intellektuelle. In: Die politische Meinung 37 (1992) 271; S. 79-88, S. 83f. Ebd., S. 82. Ebd. Weniger polemisch formuliert, findet sich diese These auch bei Friedemann Spicker; Vgl. F.S.: Wie gehört zusammen, was zusammenwächst? Deutsche Schriftsteller zur deutschen Einheit Oktober 1989 – Oktober 1990. In: Dokilmunhak. Koreanische Zeitschrift für Germanistik 31 (1990) 45; S. 377-406, S. 382. Michael Naumann: Vorwort. In: M.N. (Hg.): Die Geschichte ist offen. DDR 1990: Hoffnung auf eine neue Republik. Schriftsteller aus der DDR über die Zukunftschancen ihres Landes. Reinbek 1990 (rororo aktuell); S. 9-13, S. 10. Ebd., S. 13.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Eine der wenigen Äußerungen über das Verhalten auch der westdeutschen Intellektuellen stammt von Karl-Rudolf Korte (1996). Vor allem mit Blick auf sie erklärt er: Die deutsche Teilung wies den Literaten Rolle und Themen zu. Seit der staatlichen Einheit haben die Literaten als Intellektuelle in Deutschland ihre Funktion gänzlich eingebüßt. Ihre Marktnische als Repräsentanten und gutes Gewissen der bundesrepublikanischen Identität ging mit der deutschen Einheit verloren.54
Dabei führt Korte allerdings nicht aus, was denn die ‚bundesrepublikanische Identität‘ ausmache, deren Existenz er ohne weiteres unterstellt. Nur wenige widersprachen den oben zitierten Auffassungen; zu nennen sind hier vor allem Helmuth Kiesel55, Helmut Peitsch56 und Dunja Welke.57 Kiesel (1991) meint, dass ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ den Intellektuellen keineswegs die Sprache verschlagen hätten: Einfach geschwiegen haben die Intellektuellen […] nicht. Aber ihre Stimmen gingen unter, weil sie – zum größten Teil – getragen waren von Bedenken und Befürchtungen, die quer zur Dynamik des geschichtlichen Prozesses standen und oft nicht nachvollziehbar waren.58
Seine Auffassung über die Rolle der Intellektuellen zu jener Zeit fasst er in zehn Thesen zusammen: These 1: Die Vorbehalte vieler Intellektueller gegenüber einem vereinigten Deutschland sind zu verstehen als Spätfolgen einer entsprechenden deutschlandpolitischen Festlegung in den sechziger Jahren. […] These 2: Haupthindernis für die angemessene Beurteilung der deutschlandpolitischen Möglichkeiten und Fälligkeiten von 1989 / 90 war die These von der einen „Kulturnation“ in zwei Staaten mit zwei komplementären Gesellschaftssystemen. […] 54
55 56 57 58
Karl-Rudolf Korte: Berichte zur Lage der Nation. Vom Umgang mit der erzählenden Literatur im vereinten Deutschland. In: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 28 (1996) 4; S. 551-564, S.554. Helmuth Kiesel: Die Intellektuellen und die deutsche Einheit. In: Die politische Meinung 36 (1991) 264, S. 49-62. Helmut Peitsch: Wider den Topos vom „Schweigen“. Westdeutsche Schriftsteller zur ‚Einheit‘. In: Das Argument 33 (1991) 6, S. 893-901. Dunja Welke: Deutsche Einheit: „Aus“ für die DDR-Literatur? Zur Situation der Schriftsteller nach der Wende. In: Der Ginkgobaum 11 (1992), S. 240-251. Helmuth Kiesel: Die Intellektuellen und die deutsche Einheit. In: Die politische Meinung 36 (1991) 264; S. 49-62, S. 50.
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These 3: Die deutsche Literatur insgesamt hat sich indessen mit der politischen Teilung Deutschlands nie abgefunden, sondern hat die Teilung und ihre negativen Effekte für die Politik und Kultur in ganz Deutschland immer wieder beklagt. […] These 4: In der 1989 aufflammenden Diskussion meldeten sich vor allem und mit besonderer Vehemenz die Befürworter der Zweistaatlichkeit zu Wort und hielten an der Zweistaatentheorie länger fest als die meisten Politiker. […] These 5: Die Hauptargumente der Befürworter einer zu bewahrenden Zweistaatlichkeit Deutschlands waren realitätsfremd, denunziatorisch und wenig stichhaltig. […] These 6: Einzuräumen ist, daß die Vereinigung Deutschlands möglicherweise durch ein normatives Defizit gekennzeichnet ist, das die gesellschaftliche Kommunikation und die politische Identitätsbildung auf lange wie kurze Sicht belasten könnte und deswegen möglichst rasch behoben werden sollte. […] These 7 [bezieht sich auf] [d]as Verhältnis von Theorie und Praxis […] These 8: Die Diskussion über die deutsche Vereinigung hat unter Intellektuellen und Schriftstellern zu einer Rehabilitierung der politischen Entwicklung und Kultur der Bundesrepublik geführt, allerdings auf Kosten einer wohlwollenden politischen Entwicklung des vereinigten Deutschland. […] These 9: Die intellektuellen und schriftstellerischen tätigen [sic] Befürworter der Vereinigung artikulierten sich mit einer großen und historisch signifikanten Moderatheit. […] These 10: So wenig wie zu einer intellektuellen „Mobilmachung“ für die Wiedervereinigung ist es zu einer poetischen Feier der neuen deutschen Einheit gekommen. […].59
Helmut Peitsch (1991) erkennt speziell im Hinblick auf die Schriftstellerinnen und Schriftsteller einen „Topos vom Schweigen“, der sich mittlerweile etabliert habe:
59
Ebd., S. 50-59; Hervorhebungen im Original.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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In dem Topos vom Schweigen lassen sich […] drei Bedeutungen unterscheiden: Erstens seien die Schriftsteller von den Ereignissen überrascht worden; zweitens sollen sie keine positive Stellung bezogen haben; drittens kennzeichne diese Reaktion einheitlich die Schriftsteller in der Bundesrepublik wie in der DDR. Ich möchte zunächst belegen, daß alle drei Behauptungen falsch sind, und anschließend fragen, weshalb dieses verzerrte Bild von der Reaktion der westdeutschen Schriftsteller auf den 9. November bis heute vorherrscht.60
In der Tat belegen zahlreiche Beispiele, dass viele Intellektuelle sich bereits Jahre zuvor engagiert haben. So etwas wie einen Gradmesser für dieses Verhalten kann es natürlich nicht geben. Dass Intellektuelle die ‚Wende‘ konsequent begleitet haben, ist allerdings sicher und sei im Folgenden dargestellt. 5.1.1.3 Konkret: Die Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Herbst 1989 Über die Aktivitäten von Schriftstellerinnen und Schriftstellern im Herbst 1989 gibt die in drei Teilen Anfang 1990 in der ndl erschienene Dokumentation Für notwendige Erneuerung Aufschluss.61 Teil 1 ist die Bemerkung vorangestellt: Auch die Schriftsteller der DDR haben zum demokratischen Dialog aufgerufen und im Prozeß der gesellschaftlichen Erneuerung in unserem Land ihre Stimme erhoben. NDL dokumentiert in diesem und in folgenden Heften Äußerungen in chronologischer Folge.62
Am 14. September 1989 bezeichnen die Schriftstellerinnen Daniela Dahn, Siegrid [sic] Damm, Helga Königsdorf, Helga Schütz, Gerti Tetzner, Christa Wolf und Rosemarie Zeplin in einer Erklärung des Berliner Schriftstellerverbandes die Ausreisewelle aus der DDR als „ein Zeichen für angestaute grundsätzliche Probleme in allen Bereichen der Gesellschaft“ und fordern den sofortigen Beginn eines „demokratische[n] Dialog[s] auf allen Ebenen“.63 60 61
62 63
Helmut Peitsch: Wider den Topos vom „Schweigen“. Westdeutsche Schriftsteller zur ‚Einheit‘. In: Das Argument 33 (1991) 6; S. 893-901, S. 893. Für notwendige Erneuerung. In: ndl 38 (1990) 1-3; S. 145-175; S. 152-189; S. 163-191; vgl. in diesem Zusammenhang auch die beiden Bände Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft. Berlin 1990 / 1989 [sic] (Temperamente 1) sowie Charles Schüddekopf (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Reinbek 1990. Für notwendige Erneuerung. In: ndl 38 (1990) 1; S. 145-175, S. 145; im Original kursiv. Erklärung des Berliner Schriftstellerverbandes. In: Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft. Berlin 1990 / 1989 [sic] (Temperamente 1); S. 30, S. 30.
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Am selben Tag, also drei Tage nachdem Ungarn seine Grenze zu Österreich offiziell geöffnet hat und bereits 15 000 Menschen geflüchtet sind, hält Christoph Hein eine viel beachtete Rede auf der Versammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR. Der Gustav Just gewidmete Text darf in der DDR zunächst nicht gedruckt werden. Versehen mit einer Erklärung des Bedauerns, veröffentlicht Hein ihn schließlich am 6. Oktober in der Zeit.64 Am 29. Oktober erscheint die Rede schließlich doch in der DDR: unter dem Titel Gutgemeint ist das Gegenteil von wahr im Sonntag65, später auch in der ndl.66 Bekannt wird der Text unter dem Titel des Erstdrucks: Die fünfte Grundrechenart. Diese besteht darin, daß zuerst der Schlußstrich gezogen und das erforderliche und gewünschte Ergebnis darunter geschrieben wird. Das gibt dann einen festen Halt für die waghalsigen Operationen, die anschließend und über dem Schlußstrich erfolgen. Dort nämlich wird dann addiert und summiert, dividiert und abstrahiert, multipliziert und negiert, subtrahiert und geschönt, groß- und kleingeschrieben nach Bedarf, wird die Wurzel gezogen und gelegentlich auch schlicht gelogen. Diese fünfte Grundrechenart dient dazu, den Vorschriften und Anordnungen zu genügen und dennoch der Strafe und Isolierung zu entgehen. Anwendung findet diese Rechenkunst im Privaten wie im Volkswirtschaftlichen, und auch diese Kunst kennt ihre Lehrlinge, Stümper und großen Meister.67
Das Prinzip der ‚fünften Grundrechenart‘ führt Hein an zahlreichen Beispielen in erster Linie aus der Geschichte des Stalinismus auch in der DDR aus.68 Enger auf die Situation in der DDR bezogen stellt er fest: Unter dem Schlußstrich unserer, uns aus Schule und Zeitung sattsam bekannten Geschichtsbetrachtung, unter dem Schlußstrich, über den sich dann das als wissenschaftlich, objektiv und gesetzmäßig bezeichnete Gebäude von Fakten, Folgerungen
64 65 66 67 68
Christoph Hein: Die fünfte Grundrechenart. Rede zur Geschichte im Ostberliner Schriftstellerverband am 14. September. In: Die Zeit v. 6.10.1989. Ders.: Gutgemeint ist das Gegenteil von wahr. In: Sonntag v. 29.10.1989. Ders.: Rede auf der Versammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR (14.9.1989). In: ndl 38 (1990) 1, S. 146-153. Ders.: Die fünfte Grundrechenart. Rede zur Geschichte im Ostberliner Schriftstellerverband am 14. September. In: Die Zeit v. 6.10.1989. Auf dieses Problem kam und kommt Hein immer wieder zurück; vgl. Christoph Hein: Ein Berliner Traum im Oktober 1989, der bereits im August 1968 von deutschen Panzern auf dem Wenzelsplatz überrollt wurde. Zur Podiumsdiskussion „DDR – wie ich sie träume“. 24. Oktober 89. In: C.H.: Die fünfte Grundrechenart. Aufsätze und Reden 1987-1990. Frankfurt a.M. 1990; S. 182-183, S. 182: „Ich fürchte, wir haben – wie auch andere sozialistische Länder – noch nicht den entscheidenden Schritt zur Überwindung des Stalinismus getan, nämlich eine Veränderung der Struktur.“; vgl. auch Christoph Heins Beitrag zu: Reden auf der Demonstration für Pressefreiheit in Berlin [4. November 1989]. In: ndl 38 (1990) 3; S. 173-177, S. 175f.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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und Bewertungen aufbaut, um den endgültigen und bereits zuvor gezogenen Schluß zu beweisen, stand und steht das kräftige Wort vom „Sieger der Geschichte“.69
Eine solche Vorgehensweise ist seines Erachtens ausgeprochen problematisch, denn: In einer Geschichtsbetrachtung, die dieser Grundrechenart huldigt, wird mit Auslassungen, Vernachlässigungen und scholastischen Rösselsprüngen gearbeitet, es wird verschwiegen und geglättet, um aus dem Labyrinth der Geschichte möglichst fleckenlos und schnell zu jenem Ausgang in die Gegenwart zu gelangen, der dem gewünschten Selbstverständnis am nächsten kommt.70
Hein macht auch auf die schwer wiegenden gesundheitlichen Folgen dieser Vorgehensweise aufmerksam: Es macht mich krank, es macht mich physisch und psychisch krank, in einem Land und in einer Stadt zu wohnen, in denen fortwährend Bürger Ausreiseanträge stellen und ausreisen. Es macht mich krank, die besorgten oder hämischen Kommentare der westlichen Medien zu hören. Oder die Kommentare in unseren Zeitungen zu lesen, die den Vorgang zu banalisieren und zu erklären versuchen, indem sie nicht die Ursachen nennen, sondern die Folgen. Oder wenn im staatlichen Fernsehen eine Prozent-Rechnerei angestellt wird, mit der man die Bedeutungslosigkeit dieser Auswanderungswelle beweisen will. Wenn eine Mutter ein Kind verliert, so ist es schlimm, zynisch und unverzeihlich, ihr vorzurechnen, sie habe nur einen kleinen Prozentsatz ihrer Kinder verloren. Und die aus unserem Land gegangen sind und gehen, sind unsere Kinder, sind unsere Kollegen, Freunde, Mitbürger. Dieser Verlust ist nicht zu entschuldigen und ist unersetzlich.71
Deshalb fordert Hein: Der Staat und die Gesellschaft müssen die tatsächlichen Ursachen dieses Verlustes bekämpfen. Es gibt Möglichkeiten, diesen Aderlaß ohne Gewalt oder Zwang oder neue beschränkende Gesetze zu stoppen. Dafür gibt es sogar mehrere Möglichkeiten, allerdings gibt es keinen Weg, bevor nicht ein offener Dialog zwischen Regierung und Regierten darüber stattfindet.72
69 70 71 72
Ders.: Die fünfte Grundrechenart. Rede zur Geschichte im Ostberliner Schriftstellerverband am 14. September. In: Die Zeit v. 6.10.1989. Ebd. Ebd. Ebd.
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Am 11. Oktober 1989 verabschiedet das Präsidium des Schriftstellerverbandes eine Mitteilung, in der festgestellt wird: Ideologische, ökonomische und soziale Stagnation gefährden zunehmend das bisher Erreichte. Die Ignoranz der Medien ist unerträglich. Der öffentliche demokratische Dialog auf allen gesellschaftlichen Ebenen über Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit, Mißwirtschaft und Bevormundung muß sofort beginnen. Besorgte Haltungen und Äußerungen dürfen nicht unterdrückt und kriminalisiert werden.73
Am 2. November folgt eine weitere Resolution, unterzeichnet von 28 Mitgliedern des Verbandes. Unter der Formel „Kontinuität und Veränderung“ wird festgestellt: „Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es um ein neues Deutschland. Heute geht es um eine neue Deutsche Demokratische Republik.“74 Höhepunkt der Ereignisse des Herbstes 1989 im Hinblick auf die Rolle der Intellektuellen ist die Demonstration für Pressefreiheit auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November.75 Christa Wolf bezeichnet diese Veranstaltung am 31. Januar 1990 in ihrer Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Hildesheim als den „Punkt der größtmöglichen Annäherung zwischen Künstlern, Intellektuellen und den anderen Volksschichten“.76 Christoph Hein geht in seiner Rede auf den Stellenwert der bisherigen Demonstrationen ein: Ohne diese Demonstrationen wäre die Regierung nicht verändert worden, könnte die Arbeit, die gerade erst beginnt, nicht erfolgen. Und da ist an erster Stelle
73 74
75
76
Mitteilung des Präsidiums des Schriftstellerverbandes der DDR. In: ndl 38 (1990) 1; S. 174, S. 174. Entschließung von 28 Mitgliedern des Schriftstellerverbandes vom 2. November 1989. In: Charles Schüddekopf (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Reinbek 1990; S. 200-202, S. 202. Vgl. 4. November ’89. Der Protest. Die Menschen. Die Reden. Hrsg. von Annegret Hahn, Gisela Pucher, Henning Schaller, Lothar Scharsich. Berlin (DDR) 1990 sowie die Beiträge, die unter dem Titel Reden auf der Demonstration für Pressefreiheit in Berlin abgedruckt sind in: ndl 38 (1990) 3, S. 173-177; unter der Überschrift 4. November 1989. Protestdemonstration Berlin-Alexanderplatz: Tonbandprotokolle der Reden von Stefan Heym, Christoph Hein, Friedrich Schorlemmer und Christa Wolf auch in: Charles Schüddekopf (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution. Mit einem Nachwort von Lutz Niethammer. Reinbek 1990, S. 207-215. Veröffentlicht sind Teile der Kundgebung auch auf 2 CDs: Berlin Alexanderplatz 4.11.’89. Die Kundgebung am Vorabend des Mauerfalls. Mit den Reden von Stefan Heym, Gregor Gysi, Friedrich Schorlemmer, Christa Wolf, Heiner Müller, Christoph Hein, Steffi [sic] Spira, Markus Wolf, Jens Reich, Lothar Bisky u.a. Berlin 1999 (Amiga / BMG). Christa Wolf: Zwischenbilanz. Rede in Hildesheim. In: FR v. 8.2.1990.
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Leipzig zu nennen. Ich meine, der Oberbürgermeister unserer Stadt sollte im Namen der Bürger Berlins – da wir alle gerade mal hier zusammenstehen – dem Staatsrat und der Volkskammer vorschlagen, die Stadt Leipzig zur „Heldenstadt der DDR“ zu ernennen. Wir haben uns an den langen Titel „Berlin – Hauptstadt der DDR“ gewöhnt. Ich denke, es wird leichter sein, uns an ein Straßenschild „Leipzig – Heldenstadt der DDR“ zu gewöhnen. Der Titel wird unseren Dank bekunden. Er wird uns helfen, die Reform unumkehrbar zu machen. Er wird uns an unsere Versäumnisse und Fehler in der Vergangenheit erinnern. Und er wird die Regierung an die Vernunft der Straße mahnen, die stets wach blieb und sich, wenn es notwendig ist, wieder zu Wort meldet.77
Er fordert: Verfilzung, Korruption, Amtsmißbrauch, Diebstahl von Volkseigentum – das muß aufgeklärt werden, und diese Aufklärung muß auch bei den Spitzen des Staates erfolgen. […] Von Bürokratie, Demagogie, Bespitzelung, Machtmißbrauch, Entmündigung und auch Verbrechen war und ist diese Gesellschaft gezeichnet. […] Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklagbar ist. Einen Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht.78
Stefan Heym betont in seiner Ansprache die Abgrenzung vom Stalinismus; zugleich gibt auch er seiner Hoffnung auf eine sozialistische DDR Ausdruck: Der Sozialismus, nicht der Stalinsche, der richtige, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes. Freunde, Mitbürger, üben wir sie aus, diese Herrschaft.79
Vier Tage später, am 8. November, verliest Christa Wolf in der Aktuellen Kamera, der Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens, einen Appell von Künstlern und Bürgerinitiativen. Darin fordert sie die Bürgerinnen und Bürger zum Bleiben auf: Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger, wir alle sind tief beunruhigt. Wir sehen die Tausende, die täglich unser Land verlassen. Wir wissen, daß eine verfehlte Politik bis in die letzten Tage hinein ihr [sic] Mißtrauen in die Erneuerung dieses Gemeinwesens bestärkt hat. Wir sind uns der Ohnmacht der Worte gegenüber Massenbewegungen bewußt, aber wir haben kein 77 78 79
Beitrag von Christoph Hein zu: Reden auf der Demonstration für Pressefreiheit in Berlin. In: ndl 38 (1990) 3; S. 173-177; S. 175f., S. 176. Ebd. Beitrag von Stefan Heym zu: Reden auf der Demonstration für Pressefreiheit in Berlin. In: ndl 38 (1990) 3; S. 173-177; S. 176f., S. 177.
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anderes Mittel als unsere Worte. Die jetzt noch weggehen, mindern unsere Hoffnung. Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns! […] Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, daß er wieder im Keim erstickt wird. Wir brauchen Sie. Fassen Sie zu sich und zu uns, die wir hierbleiben wollen, Vertrauen.80
Nach wie vor hält man also am Sozialismus fest. Am 20. November 1989 schreibt Christoph Hein an Michael Naumann beim Rowohlt-Verlag: Ich denke, die Intellektuellen haben in den vergangenen Jahren einen kleinen Beitrag geleistet, um zu diesen Veränderungen zu gelangen. Und ich denke, derzeit ist praktische Arbeit wichtiger als die Abgabe von Erklärungen. Ich jedenfalls bin durch verschiedene „beruftsfremde“ Arbeiten verhindert, für Ihren Band einen Aufsatz zu schreiben. (Meine Tätigkeit z.B. in der Untersuchungskommission, die die Vorgänge und Hintergründe der Übergriffe staatlicher Sicherheitskräfte zwischen dem 7. und 9. Oktober aufhellen will, wird – hoffe ich – für diese neue Republik mehr leisten als Resolutionen oder Absichtserklärungen.) Wir haben ein sehr gewagtes Experiment in unserem Land vor: Wir versuchen seit ein paar Wochen, hier eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Die könnte dann für die vom Westen derzeit gewünschte Wiedervereinigung eine brauchbare und zukunftsweisende Grundlage abgeben. Es gibt eine Chance für unsere Hoffnung, allerdings ist es die erste und gleichzeitig die letzte. Wenn wir scheitern, frißt uns McDonald.81
Am 23. November 1989 nimmt der Bezirksverband der Berliner Schriftsteller endlich auch die im Juni 1979 erfolgten Ausschlüsse zurück und rehabilitiert die betroffenen Mitglieder.82 Der Aufruf Für unser Land vom 26. November 1989, dessen Endfassung Christa Wolf überarbeitete, wird am 28. November von Stefan Heym im Internationalen Pressezentrum verlesen und erscheint am 29. November – hier tritt die Überschrift hinzu – auf Seite zwei des Neuen Deutschland83, kurz darauf auch in der Wochenpost.84 Kern des Aufrufes ist die Forderung nach einer weiterhin
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Appell Christa Wolfs an DDR-Bürger: Fassen Sie Vertrauen! Erklärung von Künstlern und Vertretern von fünf Bürgerinitiativen im DDR-Fernsehen. In: ND v. 9.11.1989. Christoph Hein: Brief an den Rowohlt-Verlag, Reinbek. In: C.H.: Die fünfte Grundrechenart. Aufsätze und Reden 1987-1990. Frankfurt a.M. 1990; S. 210, S. 210. Vgl. Beschluß des Bezirksverbandes der Berliner Schriftsteller (23.11.1989). In: ndl 38 (1990) 3, S. 191. Für unser Land. In: ND v. 29.11.1989. Für unser Land. In: Wochenpost v. 8.12.1989.
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eigenständigen DDR bei gleichzeitiger Warnung vor einem „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte“85: Uns bleibt nur wenig Zeit, auf die verschiedenen Möglichkeiten Einfluß zu nehmen, die sich als Auswege aus der Krise anbieten.
Entweder können wir auf die Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind.
Oder wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird. Laßt uns den ersten Weg gehen. N o c h haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. N o c h können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.86
Doch zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller weigern sich zu unterschreiben. Günter de Bruyn begründet diesen Schritt für seine Person „by indicating that writers must give up their role as spokesmen for the people because newspapers and parliament could now tackle taboo themes.“87 Christoph Hein und Ulrich Plenzdorf argumentieren ähnlich. Plenzdorf nimmt zudem Anstoß an der Vokabel „sozialistisch“. Seine Vokabeln seien „umweltfreundlich, antifaschistisch, demokratisch, sozial und gerecht“.88 85 86
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88
Für unser Land. In: ND v. 29.11.1989. Ebd.; Hervorhebungen im Original; „Entweder“ / „Oder“ im Druck einander gegenübergestellt; vgl. zu dem Appell auch: Arno Widmann: Unter Linden. Unfreundliche Bemerkungen zum Aufruf „Für unser Land“, den DDR-Autoren im November 1989 lancierten. In: taz v. 7.4.1990. Hartmut Steinecke: From two german literatures to one literature? Reflections on German Unity and certain literary developments from 1976 to 1990. In: London German Studies 14 (1993) 5; S. 187-203, S. 201. Anton Krättli: Schwierigkeiten mit der „Wende“. Die Schriftsteller in der DDR. In: Schweizer Monatshefte 70 (1990); S. 26-29, S. 27; im Original kursiv.
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Kritisiert wird der Aufruf außerdem von Manfred Bierwisch89, aber auch von Seiten vieler Bürgerinnen und Bürger.90 Die meisten von ihnen reiben sich an der Tatsache, dass der Sozialismus als Ziel festgelegt und damit ein fester Weg vorgegeben werde.91 Ad absurdum geführt wird der Aufruf aber durch die Unterschrift von Egon Krenz, der in einem Artikel im Neuen Deutschland Beifall spendet.92 Zudem richtet der Appell sich im Grunde genommen nur noch an eine vergleichsweise kleine Gruppe von Intellektuellen – die Mehrheit stimmt längst ‚mit den Füßen‘ ab. Reinhard Andress (1991) gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken: Außerdem war dieser Aufruf unter den damaligen emotionalen Umständen einfach fehl am Platz; denn er fiel in die Zeit, wo das wahre Ausmaß der desolaten Wirtschaftssituation, der Umweltzerstörung und des Amtsmißbrauchs aufgedeckt wurde, und auch in die Zeit, wo das Nachholbedürfnis der Bevölkerung seinen Höhepunkt im zum erstenmal möglichen Zugang zu den Konsummöglichkeiten des Westens erreichte.93
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Vgl. Manfred Bierwisch: Ausgrenzung ist nicht akzeptabel. Noch einmal zum Aufruf „Für unser Land“. In: BZ v. 4.1.1990 (Standpunkt). Vgl. etwa den unter der Überschrift „Haben nur ein Leben“ veröffentlichten Leserbrief von Frank Schmidt aus Döbeln in der LVZ v. 16. / 17.12.1989. Vgl. dazu: II. Der Aufruf „Für unser Land“. In: Gerhart Maier: Die Wende in der DDR. Zweite, aktualisierte Auflage. Bonn 1991 (Bundeszentrale für politische Bildung; Kontrovers), S. 53-56. Egon Krenz an Initiatoren des Appells: Meine Unterschrift unter den Aufruf „Für unser Land“. In: ND v. 30.11.1989. Die Rolle von Egon Krenz ist überhaupt schwierig. Noch am 1. November 1989 hatte er sich an die Berliner Schriftsteller in Reaktion auf deren Erklärung vom 14. September 1989 gewandt (vgl. Erklärung – beschlossen auf der Mitgliederversammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR (14.9.1989). In: ndl 38 (1990) 1, S. 145). Das neue Staatsoberhaupt hing offenbar einem bereits lange vor der ‚Wende‘ über weite Strecken überholten Schriftsteller-Bild nach, demzufolge Autoren im Sinne des Staates ohne weiteres funktionalisiert werden könnten: „Die eingeleitete Wende, die es durch konkrete Taten weiter zu untermauern gilt, braucht auch fürderhin und jetzt erst recht das Wort der Autoren unseres Landes. Die notwendige Erneuerung unserer Gesellschaft kann nur gelingen, wenn sie von den breitesten Schichten des Volkes getragen wird. Das diesem Ziel dienende umfassende, offene Gespräch muß fester Bestandteil unserer politischen Kultur werden. Dabei werden Wort und Tat auch der Schriftsteller gebraucht, damit wir gemeinsam der Verantwortung gegenüber unserem Volk für ein sinnerfülltes Leben in Frieden und in einem stetig attraktiver werdenden Sozialismus gerecht werden. Ich möchte die Hoffnung ausdrücken, daß Ihr unserer Politik der Wende Eure ganze Unterstützung angedeihen laßt.“ (Die Wende benötigt das Wort der Autoren. Brief von Egon Krenz an Berliner Schriftsteller. In: BZ v. 1.11.1989). Reinhard Andress: DDR-Schriftsteller und die Herbst-Ereignisse 1989 in der DDR. In: Schatzkammer der deutschen Sprachlehre, Dichtung und Geschichte 17 (1991) 1; S. 26-45, S. 35.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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5.1.1.4 Die Illusion von der Realisierbarkeit eines demokratischen Sozialismus nach der ‚Wende‘ Die größte Illusion vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller dürfte die Hoffnung auf einen reformierten Sozialismus gewesen sein, für den man im Zuge der ‚Wende‘ eintrat. So bekennt Christa Wolf Ende Oktober 1989 im DDR-Fernsehen: Ich setze schon immer, und bleibe auch dabei, auf die Alternative Sozialismus, wobei diese Alternative natürlich, und das wird eine ganze Zeit dauern, neu zu definieren ist. Es kann sogar sein, daß in unserem Land, das ein ziemlich großes Potential von nicht nur klugen, sondern auch gut ausgebildeten Leuten hat, wie sich jetzt zeigt, die zur Überraschung vieler bereit sind, sich neu zu engagieren, daß da vielleicht eine Alternative entwickelt werden könnte. Ich meine das in einem ganz bescheidenen Sinn. Aber ich sehe eigentlich nicht, was dem wirklich entgegenstehen sollte, wenn die bis jetzt noch sehr harten destruktiven Strukturen umgeändert sind.94
Im Februar 1990 erkennt sie allerdings eklatante Irrtümer und Fehleinschätzungen: zum Beispiel die, daß das neue, im Widerstand entwickelte Selbstbewußtsein der DDR-Bürger in Zukunft dem einschüchternden Selbstbewußtsein vieler Bundesbürger standhalten könnte; da hatte ich vorschnell von den Menschen, die ich kannte und in jenen Wochen in großer Zahl neu kennenlernte, auf alle anderen geschlossen, und ich hatte auch die Breite der bewußten Widerstandsbewegung überschätzt. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, was eigentlich vor und nach der sogenannten Wende vielen Bürgern in der DDR das Selbstwertgefühl, ihren Stolz, ihre Würde reduziert oder genommen hat. „Wir sind das Volk“ – ein kurzer geschichtlicher Augenblick, in dem das Volk, seiner Identität anscheinend gewiß, Souverän und Subjekt seiner eigenen Geschichte war. „Wir sind ein Volk!“ – wäre das wirklich die Steigerungsform?95
Auf dem Außerordentlichen Kongress des Schriftstellerverbandes der DDR erklärt Wolf am 3. März 1990, dass eine der Aufgaben der Schriftsteller darin bestehe, „der Restauration, die vorrückt, für unser Teil zu widerstehen.“96 Christoph Hein erklärt am 4. Dezember 1989 im Vorwort zu Gustav Justs Memoiren Zeuge in eigener Sache (1990):
94 95 96
[Interview mit Alfried Nehring]: Leben oder gelebt werden. Christa Wolf im Gespräch mit Alfried Nehring. In: Film und Fernsehen 18 (1990) 2; S. 14-20, S. 20. Dies.: Nachtrag zu einem Herbst. In: C.W.: Reden im Herbst. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 7-17, S. 10; Hervorhebung im Original. Dies.: Heine, die Zensur und wir. Rede auf dem Außerordentlichen Schriftstellerkongreß der DDR. In: Ebd.; S. 163-168, S. 168.
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Verzagen wir nicht! Vier Jahrzehnte gab es Gründe genug zum Verzagen. Verzweifeln wir nicht angesichts des Sumpfes! Geben wir uns nicht auf! Denn daß dieser Sumpf sichtbar wurde, ist ein Zeichen unseres Erfolges. Endlich haben wir eine Chance. Wir haben sie erst jetzt. Und wir sollten sie – da wir sie endlich erkämpft haben – für uns nutzen und sie nicht vertun. Diese Chance ist nach dreizehn Jahren Faschismus und vierzig Jahren Stalinismus sehr klein. Aber sie ist vorhanden. Sie ist erst jetzt vorhanden. Wir sollten noch heute unser Bäumchen pflanzen.97
Und einen Monat später äußert er in einem Gespräch mit dem Spiegel: Die Intellektuellen haben, ein bißchen, ihre Arbeit schon getan. Ein bißchen, sage ich; sie haben zuwenig getan. Intellektuelle sind bedauerlicherweise nicht immer die mutigsten Leute. Die Kirche allerdings hat sich erstaunlich entwickelt. Sie hat sich verantwortlicher, handlungsfähiger als andere Kräfte im Staat erwiesen – und zwar auch für eine sozialistische Gesellschaft.98
Doch nach den Volkskammerwahlen im März 1990 äußert schließlich auch er auf die Frage „Welche politische Prognose stellen Sie der DDR?“: Die Selbständigkeit der DDR ist hier verludert und vertan worden – und nicht durch die Schuld Westdeutschlands. Dieses marode System hier hat keine Chance, aufrecht und mit Würde eine Vereinigung herbeizuführen. Es wird deshalb auch kein Agreement geben, sondern eine Übernahme durch die BRD.99
Stefan Heym geht im Oktober 1989 auf die Möglichkeiten ein, „den Versuch unter neuen, demokratischen Bedingungen noch einmal zu unternehmen.“100 Er stellt fest: Und die Gegner höhnen, Marx ist tot; und weisen, mit Recht übrigens, auf die Rückständigkeit und den Verfall im Land und die geistige Öde, den Schmutz in den Städten und Flüssen, den Mangel, außer an Schnaps, an so gut wie allem, was das Leben bunt und vergnüglich macht, und auf die tagtäglichen Rechtswidrigkeiten, die Vettern- und Privilegienwirtschaft und die Willkür der Mächtigen, mit welcher diese den Leuten vorschreiben, was sie zu tun und zu denken haben und wohin sie sich bewegen dürfen und wann. […] 97
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99 100
Christoph Hein: „… und andere“ (Für Gustav Just). In: Gustav Just: Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre. Mit einem Geleitwort von Christoph Hein. Berlin (DDR) 1990; S. 5-11, S. 10f. [Interview mit Ulrich Schwarz und Hartmut Palmer]: „Die DDR ist nicht China“. SPIEGEL-Gespräch mit dem DDR-Schriftsteller Christoph Hein. In: Der Spiegel 43 (1989) 43 v. 23.10.1989; S. 29-31, S. 31. [Interview mit Sigrid Löffler]: Die Idee des europäischen Hauses ist gestorben. In: profil (Wien) v. 11. / 12.3.1990. Stefan Heym: Ist die DDR noch zu retten? Ein Schriftsteller und sein Staat. Aus dem real existierenden muß ein wirklicher Sozialismus werden. In: Die Zeit v. 13.10.1989.
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In Wahrheit aber ist nicht Marx tot, sondern Stalin, und fehlgeschlagen ist nicht der Sozialismus, sondern nur dieser besondere, real existierende; der andere, bessere, in dessen Namen so viele tapfere Menschen ihre Ideen gaben und ihr Blut, steht noch aus. Und der Gedanke liegt nahe, jetzt, da sich der Wandel anbahnt im Umfeld der Republik, dem wirklichen Sozialismus, in dem die Menschen Brüder werden und Hand in Hand, in Freiheit und Gerechtigkeit, ihr Leben gestalten, auch hier zum Durchbruch zu verhelfen und dem Staate DDR einen neuen Inhalt zu geben.101
Ähnlich stellt er die Situation auch in seiner Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 dar (vgl. 5.1.1.3). Noch im Dezember glaubt er zu erkennen: „[…] eine Hoffnung ist da, gegen alle Wahrscheinlichkeit […].“102 Er begründet seine Sicht mit der Feststellung: […] zwei kapitalistische deutsche Staaten sind nicht vonnöten. Die Raison d’être der Deutschen Demokratischen Republik ist der Sozialismus, ganz gleich in welcher Form, ist, eine Alternative zu bieten zu dem Freibeuterstaat mit dem harmlosen Namen Bundesrepublik.103
Später appelliert er an die Menschen in der DDR: „Sie alle – achten Sie darauf – wo und wie Sie manipuliert werden.“104 Am 18. März, dem Tag der Volkskammerwahlen, äußert aber auch er resigniert: „Es wird keine DDR mehr geben. Sie wird nichts sein als eine Fußnote in der Weltgeschichte.“105 Der 18. März bzw. die Wahlergebnisse bedeuten damit das Ende aller Hoffnungen, nicht nur auf einen reformierten Sozialismus, sondern auf ein Weiterbestehen der DDR überhaupt. Die Eigenstaatlichkeit der DDR wurde zunächst keineswegs in Frage gestellt.106 In der Einleitung zu dem noch im Dezember 1989 erschienenen Band Aufbruch in eine andere DDR betont der Herausgeber Hubertus Knabe: 101 102 103 104
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Ebd.; Hervorhebung im Original. Stefan Heym: Aschermittwoch in der DDR. In: Der Spiegel 43 (1989) 49 v. 4.12.1989 (Spiegel-Essay); S. 55-58, S. 58. Ebd. Zit. nach Karin Freitag: Denken ist gefragt und nicht zuletzt Zivilcourage. DEUTSCH in einem anderen LAND – Abend mit Stefan Heym in der Freien Volksbühne. In: ND v. 12. / 13.1.1991. Stefan Heym am 18.3.1990; zit. nach Theo Buck: Die ‚Oktoberrevolution‘ in der DDR und die Schriftsteller. In: Juni 4 (1990) 2-3; S. 121-135, S. 121; im Original kursiv. Vgl. u.a. Wolfgang Herzberg: Rede auf der Versammlung des Bezirksverbandes Berlin (14.9.1989). In: ndl 38 (1990) 1; S. 153-160, v.a. S. 158-160; Brief des Bezirksverbandes Potsdam an das Präsidium der Volkskammer der DDR (10.10.1989). In: ndl 38 (1990) 1; S. 172-174; Podiumsdiskussion „DDR – wie ich sie träume“ im Berliner Haus der Jungen Talente (24.10.1989). In: ndl 38 (1990) 2; S. 156-160; „Wider den Schlaf der Vernunft“ – Gemeinschaftsaktion Berliner Künstler in der Erlöserkirche (28.10.1989). In: ndl 38 (1990) 2; S. 164-189.
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Auffällig ist, daß die meisten der hier versammelten Beiträge in einem Punkt weitgehend Übereinstimmung zeigen: Die DDR soll entgegen den Wünschen manches Bonner Politikers nicht von der Landkarte verschwinden und sie sollte eine sozialistisch inspirierte Alternative zur Konsumgesellschaft in der Bundesrepublik bilden. Daraus folgt ein stark empfundenes Verwantwortungsbewußtsein für eine stabile DDR, das selbst vor unpopulärer Kritik wie der an der überstürzten Öffnung der Grenzen nicht zurückschreckt. Anders als in den anderen Warschauer-Pakt-Staaten ist bei vielen DDR-Oppositionellen die antikapitalistische, linke Orientierung so stark, daß man sich manchmal wundert, warum die SED diese so hartnäckig bekämpft hat. Nimmt man diese Gemeinsamkeit zum Ausgangspunkt, dürften die Chancen für einen „runden Tisch“ zwischen einer erneuerten Führung und einer institutionalisierten Opposition, mit dem Ziel, eine konsensfähige, zukunftsweisende Politik für die DDR zu formulieren, gar nicht so schlecht stehen.107
Auch in dem 1990 erschienenen Sammelband Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas108 sprach sich niemand unter den Beiträgerinnen und Beiträger für eine Vereinigung aus. Der häufig geäußerte Vorwurf, es habe keine konkreten Vorschläge zur Realisierung eines ‚dritten Weges‘ gegeben, ist freilich nicht haltbar. Dokumentiert sind in diesem Zusammenhang wichtige Beiträge beispielsweise in der 1989 / 90 erschienen Anthologie Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft109 sowie in der von Frank Blohm und Wolfgang Herzberg herausgegebenen Anthologie Nichts wird mehr so sein, wie es war. Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken. Der 1990 als Gemeinschaftsausgabe der Verlage Reclam (Leipzig) und Luchterhand (Frankfurt a.M.) erschienene Band versammelt Texte von Autorinnen und Autoren aus Ost und West, die in erster Linie aus den Reihen der Politik und der Wissenschaft kommen. Frank Blohm thematisiert in der Einleitung den bei Erscheinen des Buches bereits nicht mehr zu realisierenden ‚dritten Weg‘: Wer wollte, durfte hoffen: auf eine DDR, die sich befreit von 40 Jahren pseudosozialistischem Parteifeudalismus und menschenverachtender Staatssicherheit, von Staatlichkeitswahn und der Herrschaft einiger weniger alter Männer. Hoffen auf
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Hubertus Knabe: Die deutsche Oktoberrevolution. In: H.K. (Hg.): Aufbruch in eine andere DDR. Reformer und Oppositionelle zur Zukunft ihres Landes. Reinbek 1989 (rororo aktuell); S. 9-20, S. 19. Vgl. Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas. Schriftsteller aus beiden deutschen Staaten über ihr nationales Selbstverständnis. Hrsg. von Françoise Barthélemy und Lutz Winckler. Frankfurt a.M. 1990, S. 9f. Vgl. André Brie / Michael Brie / Wilfried Ette: Diskussionsmaterial zu einer Konzeption des modernen Sozialismus vom 8.10.89. In: Oktober 1989. Wider den Schlaf der Vernunft. Berlin 1990 / 1989 [sic] (Temperamente 1), S. 106-115.
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eine DDR, in der die verstaatlichten Produktionsmittel wirklich in Volkes Hände gelangen: genossenschaftlich organisiert oder im Aktienbesitz der Belegschaft, was nicht nur Mitbesitz, sondern auch Mitverantwortung bedeuten würde. Gehofft werden durfte auf eine DDR, bei der Demokratie nicht am Arbeitsplatz aufhört, bei der Pressefreiheit nicht die Freiheit einiger weniger Medienkonzerne ist, die Bevölkerung Tag und Nacht mit entpolitisierender Unterhaltung zu narkotisieren; bei der das Recht auf Eigentum nicht das Recht von Spekulanten meint, sich legal, aber in verbrecherischer Weise Grundbesitz anzueignen. Zu hoffen war auf eine Gesellschaft, die nicht systematisch Verantwortungslosigkeit produziert, die Freude an der Arbeit nicht abwürgt, die aber andererseits nicht das Konkurrenzprinzip um jeden Preis einführt und Menschen zu einer Ware macht; im Bereich des Möglichen schien eine Gesellschaft, in der Solidarität mit den Schwachen nicht zu einem Schlagwort gerinnt, in der nicht Millionen von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Drogenabhängigen und psychisch Kranken achselzuckend in Kauf genommen werden. Konkrete Utopie war angesagt, eine Mehrheit schien für diese Alternative gewinnbar – unerläßliche Vorbedingung jeder neuen Gesellschaft. Das „Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch, den die Stalinisten aus der DDR getrieben hatten, war vom Leben rehabilitiert worden, wie es Hans Mayer sinngemäß formulierte. Und so hieß der Arbeitstitel für das vorliegende Buch: „Hoffnung DDR“.110
Exkurs II: Geistliche Texte zu ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ Die wohl klarsten in der Öffentlichkeit ausgesprochenen Worte im Herbst 1989 stammen von – in der Regel protestantischen – Geistlichen. Predigt-, Andachts- und Gebetstexte mit deutlichem Zeitbezug wurden allerdings selten gesammelt und veröffentlicht. Ausnahmen bilden der Band Räumt die Steine hinweg, erschienen noch Ende 1989111 und die Anthologie Dona nobis pacem112 aus dem Folgejahr. Wie emotional und politisch die Predigten zur Zeit der ‚Wende‘ geprägt waren und wie streitbar die Pfarrer waren und sind, die diese Texte verfassten, sei kurz an Friedrich Schorlemmers Predigt zum Reformationstag 1989 in der Wittenberger Schlosskirche gezeigt. Schorlemmer (*1944) war 110
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Frank Blohm: Einleitung. In: Nichts wird mehr so sein, wie es war. Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken. Hrsg. von Frank Blohm und Wolfgang Herzberg. Leipzig 1990; S. 7-17, S. 7f; Hervorhebung im Original. Siehe in diesem Band v.a. den Beitrag von Ernest Mandel (*1923): Unter welchen Bedingungen die DDR tatsächlich zu einer neuen Hoffnung werden kann (S. 150-163). Räumt die Steine hinweg. DDR Herbst 1989. Geistliche Reden im politischen Aufbruch. Mit einem Geleitwort von Heinrich Albertz. Hrsg. v. Andreas Ebert, Johanna Haberer und Friedrich Kraft. München 1989 (Sonntagsblatt-Taschenbuch). Dona nobis pacem. Herbst ’89 in Leipzig. Friedensgebete, Predigten und Fürbitten. Hrsg. von Günter Hanisch, Gottfried Hänisch, Friedrich Magirius und Johannes Richter. 2. korrigierte Auflage. Berlin 1996 [zuerst Berlin (DDR) 1990].
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damals Dozent am Predigerseminar Lutherstadt Wittenberg. Mit Bezug auf Jesaja 62, 6-12 erklärt er: Nicht mehr sollen die Fremden, ja unsere Feinde das bekommen. An die soll nicht verschleudert werden, was hier erarbeitet wurde. Also nicht mehr die Schweine zu Dumpingpreisen in den Westen, und die Gülle bleibt bei uns. Nicht mehr Blumen, Gemüse und Pfirsiche aus den Gewächshäusern und Plantagen rund um die Stadt in die übersättigte Stadt West-Berlin. Nicht mehr das Beste ins Töpfchen des Westens und das Schlechtere in das Kröpfchen des Ostens. Keine Privilegien mehr, keine japanischen Keller für die neuen „Könige“, aber auch keine westlich-fürstlichen Häuser für Bischöfe auf Hiddensee. Keine Jagdreviere mehr für die hohen Herren, die doch ganz die Diener des Volkes sein wollen und – ich darf es sagen, da es im Text um Wein ging – keinen Freyburger Wein mehr für die „Imperialisten“ in den Devisenhotels, sondern in unseren Läden. […] Wir wollen uns auch nicht auf morgen vertrösten lassen, sondern die Früchte unserer Arbeit und dieses schönen Landes und dieses reichen Landes und dieses fruchtbaren Landes jetzt ernten können.113
Schorlemmer vertritt – und das mag in diesem Kontext sinnvoll und gerechtfertigt sein – bedingt die Diktion der Machthaber, selbst wenn er das Wort „Imperialisten“ in Anführungszeichen setzt. Seine Predigt stellt das System nicht in Frage, spricht Missstände aber unmittelbar an. Gottfried Keller, Pfarrer ebenfalls in Wittenberg, heftet am selben Tag seine Sieben Thesen zum Dialog an die Tür des Wittenberger Rathauses: 1. Im Dialog wird der Gegner nicht als Feind, sondern als andersdenkender Partner angenommen. 2. Im Dialog wird keine Machtfrage entschieden, sondern die Beziehungen der Dialogpartner werden neu geklärt. 3. Ziel des Dialogs ist nicht, seine Meinung zum Sieg zu bringen, sondern zu einer gemeinsam akzeptierten neuen Lösung zu kommen, bei der es weder Sieger noch Verlierer gibt. 4. Dialog ist der Verzicht auf Gewaltanwendung, der Verzicht auf Warnungen, Drohungen und Abschreckungen, um so die Menschenwürde des anderen zu bewahren. 5. Dialog ermöglicht, Schwächen, Fehler, Versagen und Schuld einzugestehen, ohne die eigene Menschenwürde zu verlieren. 6. Im Dialog werden eigene und gesellschaftliche Tabu-Grenzen überschritten, die bisher anderen angelastet und bei ihnen bekämpft wurden, um sie in die eigene Verantwortung hineinzunehmen. 113
Friedrich Schorlemmer: Laßt euch aufrichten. Predigt in der Schloßkirche der Lutherstadt Wittenberg zum Reformationstag am 31. Oktober. In: Räumt die Steine hinweg. DDR Herbst 1989. Geistliche Reden im politischen Aufbruch. Mit einem Geleitwort von Heinrich Albertz. Hrsg. v. Andreas Ebert, Johanna Haberer und Friedrich Kraft. München 1989 (Sonntagsblatt-Taschenbuch); S. 35-40, S. 38.
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7. Dialog führt zu größerer Ganzheit im persönlichen und gesellschaftlichen Leben, hilft, widersprüchliche Impulse zu integrieren und ihre Potenzen für die Weiterentwicklung zu gewinnen.114
Kellers Thesen schließen in formaler Hinsicht an die Lutherschen an. Dabei stellt der Pfarrer eines der Schlagworte der ‚Wende‘ in den Vordergrund: „Dialog“. Oberflächlich betrachtet sind die Thesen allerdings nicht sonderlich kritisch, weil sie sich auf allgemeiner Ebene bewegen und zunächst keinen unmittelbaren Zeitbezug erkennen lassen. Sieht man jedoch genauer hin, ändert sich dies schnell. Der prominenteste Geistliche des Herbstes ’89 dürfte Christian Führer sein, Pfarrer an der Leipziger Stadtkirche St. Nikolai. Rückblickend schreibt er: Wir werden immer wieder gefragt, warum die Erneuerung in Leipzig begann, warum es nicht auf der Straße, sondern in der Kirche begann. Ich habe dafür die Antwort hier gefunden; die Menschen hatten von sich aus nicht die Kraft, sie hatten zu lange resigniert am Boden gehockt, um sich selbst zu erheben. Es reichte allenfalls zur Flucht. Das ewige Licht, das Licht des Evangeliums mußte erst ihre Herzen und Sinne erreichen, daß sie wieder innere Kraft bekamen, daß sie diese sinnlose, namenlose Angst verloren, daß sie die hingeworfenen Körner kleiner Vergünstigungen erkannten als das, was sie waren: armselige Almosen. Und es erwuchs zu unser aller Erstaunen die Kraft.115
Anfang 1990, spätestens jedoch mit der Vereinigung, tritt der Stellenwert der Predigttexte zurück, denn ihre Bedeutung liegt nicht zuletzt in der Verknüpfung mit den Protestkundgebungen und Massenbewegungen. Heute besitzen die Texte in erster Linie dokumentarischen Charakter. An ihre Stelle traten andere von kirchlichen Funktionsträgern verfasste Texte, die ebenfalls nur selten publiziert wurden: Texte, in denen die Schwierigkeiten des Einigungsprozesses angesprochen werden. Neben den zahlreichen Büchern von Friedrich Schorlemmer (vgl. v.a. die in der Bibliografie unter 1.7 aufgeführten Titel) gehört Hans Zinnows (*1937) Eine Wende für uns. Hoffnungstexte für ein neues Land116 zu den wenigen Vertretern dieses Genres. Zinnow ist seit 1990 als Referent für missionarische Verkündigung in der Arbeitsgemeinschaft Missionarische 114
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Gottfried Keller: Sieben Thesen zum Dialog. An die Wittenberger Rathaustür geheftet vor etwa 15000 Bürgern am Reformationsgedenktag, 31. Oktober. In: Ebd.; S. 41f., S. 41f. Christian Führer: Kraft den Müden. Ansprache während der Friedensdekade in der St.Nikolai-Kirche Leipzig beim „Abend für den Frieden“ am 17. November. In: Ebd.; S. 76-81, S. 80. Hans Zinnow: Eine Wende für uns. Hoffnungstexte für ein neues Land. NeukirchenVluyn 1992.
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Dienste (AMD) tätig und war zuvor langjähriger Leiter des Missionarischdiakonischen Gemeindedienstes in Berlin-Brandenburg. Seine Texte greifen jeweils einen oder mehrere Aspekte der Vereinigung auf – beispielsweise die Währungsunion oder die häufig erhobene Frage nach den angeblich ‚verlorenen Jahren‘ der DDR-Zeit. Zinnow verbindet so die unmittelbare Gegenwart mit den Worten der Bibel. Während im Osten der Höhepunkt des politischen Engagements von Geistlichen in der unmittelbaren Zeit der ‚Wende‘ liegt, analysierte und kommentierte man im Westen seitens der Kirchen vor allem den Einigungsprozess. Peter Beier, der damalige Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, geht bei weitem nicht nur kirchlichen Fragestellungen nach. Im Vorwort zu seiner „Streitschrift“ Am Morgen der Freiheit (1995) stellt er fest: Längst nämlich wuchs nicht zusammen, was zusammengehört, und längst sind die Gründe für mißglückte Wendemanöver – bei aller Freude über Gelungenes und Erreichtes – nicht am Tage. Der Westen unseres Landes unterschätzt den Osten, der Osten überschätzt den Westen. Wir können nicht sagen, daß wir uns kennen. Die während und nach der Wende aufgebrochenen Wunden heilen schwer. Und sicher nicht von selbst. Mein Beitrag als Beitrag eines Grenzgängers aus Leidenschaft will innerkirchlich und womöglich öffentlich um Verständnis werben für das Notwendige: die vorsichtige und fürsorgliche Annäherung von Vorurteilen, um sie zum Verschwinden zu bringen. Dieser wichtige Dienst der Kirche ist noch zu leisten. Auch gilt wohl: Nur wo um Mittel und Wege gestritten wird, läßt sich der gemeinsame Weg finden. Frei heraus sage ich, daß ich auch in diesem Essay nach der Devise verfahre: Im Zweifel immer für den Osten. Die Menschen haben genug für eine Zeche bezahlt, die wir alle machten. Vor mehr als fünfzig Jahren.117
5.1.2 Die Antipoden Grass und Walser Diejenigen Germanisten, die die These vertreten, dass die Intellektuellen keineswegs geschwiegen hätten, stellen vor allem Günter Grass und Martin Walser als Antipoden heraus. Hans Kügler (1992) unterscheidet folgende Positionen und bringt diese mit den entsprechenden Vertretern bzw. der entsprechenden Vertreterin in Verbindung: 1. „Die Einheit als ‚gelingende deutsche Geschichte‘ (M. Walser)“ 2. „ ‚Häßlich sieht diese Einheit aus‘ (G. Grass). Die deutsche Einheit als ‚Spottgeburt‘ (G. Grass)“ 117
Peter Beier: Vorwort zu: P.B.: Am Morgen der Freiheit. Eine Streitschrift. NeukirchenVluyn 1995, S. 7f.
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3. „Die Zurücknahme. ‚Schon wahr: Die da mitgegangen sind, haben Geschichte gemacht. Doch deutsche Geschichte geht anders, ich hatte es fast vergessen.‘ (Chr. Wolf)“.118 In der Tat können Grass und Walser als Vertreter der jeweiligen Extremposition angesehen werden. Deshalb seien die wesentlichen Thesen beider Schriftsteller etwas ausführlicher dargestellt. Die gewählte Vorgehensweise darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbstverständlich eine Vielzahl von Auffassungen existiert, die zwischen diesen Extremen liegen. 5.1.2.1 „Das Monstrum will Großmacht sein“ – Günter Grass Der häufig vorgenommene Vergleich zwischen Grass und Walser lässt sich bis in die sechziger Jahre zurückverfolgen, wie Helmut Peitsch (1993) ebenso ausführlich wie überzeugend darstellt.119 Dabei kann er nachweisen, dass „sich der Stellenwert der ‚deutschen Frage‘ in den Jahrzehnten zwischen Mauerbau und Maueröffnung“ in den publizistischen Schriften beider Autoren „erheblich“ veränderte; „beide haben zugleich wesentlich zur Veränderung des Feldes beigetragen, auf dem über das Verhältnis der BRD zu ihrem ‚real-sozialistischen‘ Nachbarland geredet wurde.“120 Günter Grass, der sich selbst immer wieder als Gegner der staatlichen Einheit bezeichnet, sieht in der Vereinigung nahezu ausschließlich negative Aspekte. Als staatsübergreifende Klammer war für ihn stets das Konzept der ‚Kulturnation‘ leitend. Nach eigener Aussage hatte er den „Begriff der Kulturnation zum erstenmal“ in den Kopfgeburten (1980) „vorformuliert.“121 Darin heißt es: Im Reisegepäck hatte ich ein anderes Thema. Auf vierzehn Seiten Manuskript ausgebreitet, lag es obendrein in englischer Fassung bereit: „Die beiden deutschen Literaturen“ – oder wie der Untertitel hätte heißen können: „Deutschland – ein literarischer Begriff“. Denn meine These, die ich in Peking, Shanghai und andernorts vortragen wollte, sagt: Als etwas Gesamtdeutsches läßt sich in beiden deutschen
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Hans Kügler: Positionen – Schriftsteller zur deutschen Einheit (1989-1990). Über die Verarbeitung negativer politischer Erfahrungen. In: Kultureller Wandel und die Germanistik der Bundesrepublik. Hrsg. von Georg Behütuns und Jürgen Wolff. Stuttgart 1992; S. 194-216, S. 197ff., 202ff., 207ff. Vgl. Helmut Peitsch: ‚Antipoden‘ im ‚Gewissen der Nation‘? Günter Grass’ und Martin Walsers ‚deutsche Fragen‘. In: Dichter und ihre Nation. Hrsg. von Helmut Scheuer. Frankfurt a.M. 1993, S. 459-489. Ebd., S. 460. [Interview mit Bernd Kühnl und Willi Winkler]: Viel Gefühl, wenig Bewußtsein. Der Schriftsteller Günter Graß [sic] über eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands. In: Der Spiegel 43 (1989) 47 v. 20.11.1989; S. 75-80, S. 80.
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Staaten nur noch die Literatur nachweisen; sie hält sich nicht an die Grenze, so hemmend besonders ihr die Grenze gezogen wurde. Die Deutschen wollen oder dürfen das nicht wissen. Da sie politisch, ideologisch, wirtschaftlich und militärisch mehr gegen- als nebeneinander leben, gelingt es ihnen wieder einmal nicht, sich ohne Krampf als Nation zu begreifen: als zwei Staaten einer Nation. Weil sich die beiden Staaten einzig materialistisch hier ausleben, dort definieren, ist ihnen die andere Möglichkeit, Kulturnation zu sein, versperrt.122
Später stellt er im selben Werk fest: Einzig die Literatur (und ihr Unterfutter: Geschichte, Mythen, Schuld und andere Rückstände) überwölbt die beiden sich grämlich abgrenzenden Staaten. Laßt sie gegeneinander bestehen – sie können nicht anders –, doch zwingt ihnen, damit wir nicht weiterhin blöde im Regen stehen, dieses gemeinsame Dach, unsere nicht teilbare Kultur auf.123
So heikel die hier von Grass vorgenommene Reduzierung des Kulturbegriffs auf die Literatur sein mag, in der damaligen Situation dürfte seine Auffassung eine realistische Einschätzung der Verhältnisse gewesen sein. Neben Jürgen Habermas, Christoph Hein, Walter Jens, Friedrich Schorlemmer und anderen war Grass Mitglied des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, das sich gegen einen Einheitsstaat und für eine Konföderation aussprach. Für die Vorzüge eines Konföderationsmodells plädiert er am 18. Dezember 1989 auf dem Berliner Parteitag der SPD und spricht sich für einen „Lastenausgleich“ der Bundesrepublik an die DDR aus.124 Vor einer „Vereinigung als Einverleibung der DDR“ warnt er; diese hätte Verluste zur Folge, die nicht auszugleichen wären: denn nichts bliebe den Bürgern des anderen, nunmehr verreinnahmten Staates von ihrer leidvollen, zum Schluß beispiellos erkämpften Identität; ihre Geschichte unterläge dem dumpfen Einheitsgebot.125
Seine Vorbehalte gegenüber einer Vereinigung von Bundesrepublik und DDR bzw. einem „Einheitsstaat“, der für ihn eine „Spottgeburt“126 wäre, begründet Grass vor allem mit Auschwitz. In der Kurzen Rede eines vaterlandslosen Gesellen führt er im Februar 1990 aus: 122 123 124 125 126
Günter Grass: Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Darmstadt / Neuwied 1980, S. 8. Ebd., S. 154. Ders.: Lastenausgleich: Fällig sofort und ohne Vorbedingungen. Plädoyer für politischen Gestaltungswillen auf dem SPD-Parteitag. In: FR v. 19.12.1989. Ebd. Ders.: Kurze Rede eines vaterlandslosen Gesellen. In: Die Zeit v. 9.2.1990.
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Den deutschen Einheitsstaat hat es in wechselnder Größe nur knappe fünfundsiebzig Jahre lang gegeben: als Deutsches Reich unter preußischer Vorherrschaft; als von Anbeginn vom Scheitern bedrohte Weimarer Republik; schließlich, bis zur bedingungslosen Kapitulation, als Großdeutsches Reich. Uns sollte bewußt sein, unseren Nachbarn ist bewußt, wieviel Leid dieser Einheitsstaat verursacht, welch Ausmaß Unglück er anderen und uns gebracht hat. Das unter dem Begriff Auschwitz summierte und durch nichts zu relativierende Verbrechen Völkermord lastet auf diesem Einheitsstaat.127
Dieser war die früh geschaffene Voraussetzung für Auschwitz. Er wurde latentem, auch anderswo üblichem Antisemitismus zur Machtbasis. Der deutsche Einheitsstaat verhalf der nationalsozialistischen Rassenideologie zu einer entsetzlich tauglichen Grundlage. An dieser Erkenntnis führt nichts vorbei. Wer gegenwärtig über Deutschland nachdenkt und Antworten auf die Deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken. Der Ort des Schreckens, als Beispiel genannt für das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen deutschen Einheitsstaat aus. Sollte er, was zu befürchten bleibt, dennoch ertrotzt werden, wird ihm das Scheitern vorgeschrieben sein.128
In seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung Schreiben nach Auschwitz, die er einige Tage später hält, greift er diesen Gedanken erneut auf: Auschwitz spreche „gegen ein Selbstbestimmungsrecht, das anderen Völkern ungeteilt zusteht […].“129 Später bekennt er: Nicht Preußen, nicht Bayern, selbst Österreich nicht, hätten, einzig aus sich heraus, die Methode und den Willen des organisierten Völkermordes entwickeln und vollstrecken können; das ganze Deutschland mußte es sein. […] Wir kommen an Auschwitz nicht vorbei.130
Im Mai 1990 – die Vereinigung zeichnet sich bereits ab – stellt er fest: „Geld muß die fehlende, übergreifende Idee ersetzen. Harte Währung soll mangelnden Geist wettmachen.“131 Er kritisiert: „Die bisherige Entwicklung im Prozeß deutscher Markterweiterung hat bewiesen, daß meine ärgsten Übertreibungen von der Wirklichkeit überboten worden sind. Ich erlaube 127 128 129
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Ebd. Ebd. Ders.: Schreiben nach Auschwitz. Nachdenken über Deutschland: ein Schriftsteller zieht Bilanz aus 35 Jahren. Die Frankfurter Poetik-Vorlesung [13.2.1990]. In: Die Zeit v. 23.2.1990. Ebd. Ders.: Was rede ich. Wer hört noch zu. Die deutsche Einigung hat sich auf Mark und Pfennig verkürzt, die Revolutionäre von Leipzig, Dresden und Berlin sind die Angeschmierten. In: Die Zeit v. 11.5.1990.
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mir, weiterhin schwarzzusehen.“132 Ende Juni 1990 – Grass erstattet Bericht aus Altdöbern – sieht er Artikel 23 GG als „Ermächtigungsgesetz“133 missbraucht. Würde die Einheit nach Artikel 23 und nicht wenigstens nach Artikel 146134 vollzogen, läge ein „Verfassungbruch“ vor: Denn Verfassungsbruch ist es, wenn der Artikel 146 mißachtet und nicht angewendet wird. Vorbeugend sollte jetzt schon die Verfassungsklage vorbereitet und gegebenenfalls eingereicht werden. Ich jedenfalls will keinem Deutschland meine Stimme geben, das auf Verfassungsbruch beruht.135
In seiner Rede Gegen den Haß, gehalten am 27. August 1990 in Oslo, formuliert er: Denn nicht eine Einigung findet statt, vielmehr erweitert der größere Teil Deutschlands seinen Markt. Der kleinere Teil jedoch, dessen Bewohner soeben noch froh waren, sich endlich frei von staatlicher Bevormundung begreifen zu dürfen, erfährt nun das Diktat profitorientierter Kolonialherren, die hier zugreifen, dort abwarten und erst dann zu investieren bereit sind, wenn ihnen die Konkursmasse DDR zum Schleuderpreis zugefallen sein wird; möglichst frei von Altlasten.136
Damit ist die DDR zum „Schnäppchen“ degradiert worden.137 In seiner Rede Ein Schnäppchen namens DDR, die er am 2. Oktober 1990 im Berliner Reichstag vor den damals gerade noch getrennten Fraktionen der Grünen und Bündnis 90 hält, stellt Grass fest, dass die Einheit sich vor allem als „Prozeß deutscher Markterweiterung“138 vollziehe. Zudem meint er: Häßlich sieht diese Einheit aus. Das ohnehin Ungeschlachte des Kanzlers aller Deutschen hat sich zur Überlebensgröße ausgewachsen und wirft seinen Schatten. Ihm ist es gelungen, der Teilung Deutschlands, wenngleich die Mauer gefallen ist, Bestand zu sichern. Die Einheit nach seinem Maß spaltet. Den ohnehin Verletzten kränkt sie, dem Schwachen zeigt sie Härte. Nicht nur um sich greifende Arbeitslosigkeit, auch die wachsende Erkenntnis, daß später, wenn für Billiglohn Arbeit wieder angeboten sein wird, die Besitzverhältnisse eindeutig zugunsten des westdeutschen Kapitals geregelt sein werden. Diese schon jetzt festgeklopfte Gewißheit
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Ebd. Ders.: Bericht aus Altdöbern. In: FR v. 30.6.1990. Art. 146 GG lautet(e): „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Günter Grass: Bericht aus Altdöbern. In: FR v. 30.6.1990. Ders.: Gegen den Haß. Osloer Rede. In: ndl 38 (1990) 11; S. 5-8, S. 6. Ders.: Ein Schnäppchen namens DDR. Warnung vor Deutschland: Das Monstrum will Großmacht sein. In: Die Zeit v. 5.10.1990. Ebd.
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legt Treibbeete an für sozialen Neid, der sich in der Regel zu Haß auswächst. Den wieder einmal Zukurzgekommenen, den abermals Angeschmierten, den ewigen Underdogs verspricht Haß in emotionalen Schüben immerhin Stärke. Schon haben sich die soeben noch zerstrittenen westdeutschen Rechtsradikalen mit den ostdeutschen vereinigt: Ihnen ist Konjunktur angesagt.139
Das vereinigte Deutschland sieht er als „Monstrum“, das „Großmacht sein“ wolle.140 In seiner Rede vom Verlust spricht er zwei Jahre später vom „nationalen Unglück der verpfuschten Einheit“.141
Exkurs III:
Günter Grass: Ein weites Feld (1995)
Die Auffassungen von Günter Grass zur deutschen Einheit finden auch Niederschlag in seinen fiktionalen Texten aus dieser Zeit: So äußert sich der Held in der langen Erzählung Unkenrufe (1992) beunruhigt angesichts der „Ballung von immerhin achtzig Millionen Menschen seiner strebsamen Staatsangehörigkeit […].“142 Und dem Gedichtzyklus Novemberland (1993) ist ein tiefer Pessimismus eingeschrieben; exemplarisch zitiert sei hier die letzte Strophe des dritten Gedichtes, Späte Sonnenblumen: Geschieden sind wie Mann und Frau nach kurzer Ehe Land und Leute. Karg war die Ernte, reich die Beute. Ach, Treuhand hat uns abgeschöpft. Wer bei Verdacht schon Sonnenblumen köpft, dem werden Zeugen fehlen, den erwischt die Meute.143
Entsprechend ablehnend war die Rezeption dieser Gedichte. Heinrich Detering (1993) etwa kritisierte in der FAZ: „Günter Grass, der auch als Lyriker einmal zu den wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur gehört hat, ist mit seiner öffentlichen Selbstdemontage erstaunlich weit gekommen.“144 Den Höhepunkt ablehnender Kritik stellte jedoch der Roman Ein weites Feld (1995) dar. Das groß angelegte Werk wurde so stark beworben wie kaum ein belletristisches Werk zuvor in Deutschland: 139 140 141 142 143 144
Ebd. Ebd. Ders.: Rede vom Verlust. Über den Niedergang der politischen Kultur im geeinten Deutschland. In: SZ v. 21. / 22.11.1992. Ders.: Unkenrufe. Eine Erzählung. Göttingen 1992, S. 47. Ders.: Novemberland. 13 Sonette. Göttingen 1993, S. 11. Heinrich Detering: Nur der Orkan ist ohne Grenzen. Günter Grass hat dreizehn lyrische Leitartikel verfaßt. In: FAZ v. 30.4.1993.
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[…] Ein weites Feld darf erst nach dem 24.8.1995 […] verkauft und rezensiert werden, ist aber schon vorher, auch durch öffentliche Lesungen des Autors, zum Gegenstand des literarischen Gesprächs und des süffisanten Party Talks im Fernsehen geworden.145
Durch dieses Vorgehen wurde eine ‚Fallhöhe‘ geschaffen, ohne die die folgenden ‚Verrisse‘ kaum eine so große Tragweite hätten erhalten können. Ein weites Feld setzt die deutsche Einheit 1990 mit der von 1871 in Parallele.146 Die Rahmenhandlung beginnt am 30. Dezember 1989, dem 70. Geburtstag des Protagonisten Theo Wuttke, genannt „Fonty“. Dieser kann mit Helmuth Kiesel (1997) gesehen werden als „eine Reflektorfigur, die es erlaubte, die Wiedervereinigung mit der Reichsgründung von 1871 zu parallelisieren und im Licht einer sogar noch früher einsetzenden und kontinuierlich anwachsenden historischen Erfahrung zu sehen.“147 Fontys Gegenspieler ist der Spitzel Hoftaller.148 Nahezu sämtliche Figuren tragen den Charakter des Typenhaften: Der westdeutsche Bauunternehmer Grundmann beispielsweise ist bereits durch seinen Namen hinreichend charakterisiert. Mittels Rückblenden nachgetragen werden die Großkundgebung auf dem Alexanderplatz vom 4. November 1989 und die Öffnung der Mauer am 9. November; immer wieder wird auch die Zeit der DDR heraufbeschworen, insbesondere auf der Hochzeitsfeier von Fontys Tochter Martha mit Grundmann. Im Zentrum des Romans steht jedoch die Treuhandanstalt – der Arbeitstitel von Ein weites Feld war zunächst auch schlicht „Treuhand“.149 Diese wird mit dem Wohlfahrtsausschuss der Französischen Revolution verglichen:
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Helmut Kreuzer: Zur literarischen Kultur im vereinigten Deutschland: Ein Überblick. In: Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Edited by Peter Monteath and Reinhard Alter Amsterdam / Atlanta: Rodopi, 1996 (German Monitor 38); S. 75-92, S. 87; Hervorhebung im Original. Diese Parallelisierung wurde immer wieder kritisiert. So stellt Helmuth Kiesel fest: „Das Vergleichen von Gründerzeit und Wiedervereinigungszeit liegt zweifellos nahe, dürfte aber angesichts einer doch sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Problemlage nur sehr begrenzten diagnostischen und prognostischen Wert haben.“ (Helmuth Kiesel: Drei Ansichten des Wiedervereinigungsprozesses: Heiner Müller, Günter Grass, Volker Braun. In: Gerd Langguth (Hg.): Die Intellektuellen und die nationale Frage. Frankfurt a.M. / New York 1997; S. 210-229, S. 222). Helmuth Kiesel: Drei Ansichten des Wiedervereinigungsprozesses: Heiner Müller, Günter Grass, Volker Braun. In: Gerd Langguth (Hg.): Die Intellektuellen und die nationale Frage. Frankfurt a.M. / New York 1997; S. 210-229, S. 217. Im Anschluss an das Inhaltsverzeichnis findet sich der Hinweis: „Die Gestalt des Tallhover, die in dem vorliegenden Roman als Hoftaller fortlebt, entstammt dem 1986 bei Rowohlt / Reinbek erschienenen Roman ‚Tallhover‘ von Hans Joachim Schädlich.“ (Ebd., S. 784) Vgl. Günter Grass: Fünf Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht. Hrsg. von G. Fritze Margull. Göttingen 2001 (editionWelttag), S. 107.
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Millionen Arbeiter und Angestellte sind einem Enthauptungsprozeß unterworfen, dem zufolge zwar nicht der einzelne um einen Kopf kürzer gemacht wird, doch kappt das Fallbeil seinen Erwerb, seinen bis gestern noch sicheren Arbeitsplatz, ohne den er, jedenfalls hierzulande, wie kopflos ist.150
Bereits zuvor heißt es: Für Milliardenbeträge bürgte die Treuhandanstalt. Ihr Schatten fiel auf vieltausend einst volkseigene Betriebe, Liegenschaften, Parteibesitztümer, reformbelastetes Junkerland in unermeßlicher Hektargröße, auf siebentausend geplante Privatisierungen und zweieinhalb Millionen gefährdete Arbeitsplätze.151
Die Ermordung des Treuhand-Chefs, Detlef Karsten Rohwedder, wird in erster Linie als Folge des Hasses dargestellt152, wobei Rohwedder selbst keineswegs negativ dargestellt wird153; sein Tod ist belastend für Fonty. Immer wieder bezieht Grass sich auch auf den wieder aufkeimenden Antisemitismus in Deutschland154 – eine der schlimmsten Folgen des Einigungsprozesses. Am Ende des Romans heißt es in einer Äußerung von Martha Grundmann – in Anspielung auf den berühmt gewordenen Brandt-Ausspruch –, dass wieder „geschieden“ werde, „was nicht zusammenhält“.155 Fonty stellt für sich fest, dass „für alle Zeit Buchenwald nahe Weimar liegt“156 und dass es Zeit für ihn ist „[d]as Weite [zu] suchen“157, Deutschland also zu verlassen, wie er seine Familie auf einem Zettel wissen lässt. Zuvor wird allerdings neben diesem Fluchtgedanken auch der gewalttätige Widerstand in Betracht gezogen, wenn nicht gar gutgeheißen.158 Lediglich darauf hingewiesen sei, dass sich Grass in seinem Roman auch über andere Autoren äußert, insbesondere über Wolf Biermann, Christa Wolf159 und Heiner Müller.160
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Ders.: Ein weites Feld. Roman. Göttingen 1995, S. 626. Ebd., S. 558. Vgl. Ebd., S. 615. Vgl. Ebd., S. 613, 629f. Vgl. Ebd., S. 365f., 671f. Ebd., S. 651. Ebd., S. 671. Ebd., S. 769. Vgl. v.a. die Äußerungen in Zusammenhang mit dem Brand des Gebäudes, in dem die Treuhandanstalt untergebracht ist: Ebd., S. 757f. Vgl. Ebd., S. 259, 600. Vgl. Ebd., S. 94, 258f. Der späte Müller kommt – im Gegensatz zum frühen Müller – nicht gerade positiv weg, ersterer biete „verwursteten Shakespeare und Grausamkeiten als Dutzendware.“ (Ebd., S. 94) Fonty fragt sich: „Was will man mit Müller groß reden? Außer, daß er seinen Whisky zelebriert und sich via Zigarre über seinen Meister Brecht mokiert, kommt da nicht viel, allenfalls ein paar niedliche Zynismen.“ (Ebd., S. 258f.)
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Schon die in Zusammenhang mit der Treuhandanstalt stehenden Beispiele belegen, dass sich in Ein weites Feld zahlreiche Ansichten wiederfinden, die Grass auch in seinen essayistischen Texten und Reden über die ‚Wende‘ und die Vereinigung, insbesondere deren Form, zum Ausdruck gebracht hat. Die Parallelen gehen jedoch über den Bereich der Treuhand hinaus. So stellt Fonty fest, in der DDR habe man trotz allem in einer „kommoden Diktatur“161 gelebt; seine Tochter Martha äußert, „daß in unserer Republik nicht alles nur schlecht gewesen ist“.162 Die Vereinigung erscheint als „Schummelpackung“163, als Werk eines „Mogelanten“164, und das Ergebnis der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl wird vor allem als Folge von Geld-Transferleistungen dargestellt.165 Grass wurde und wird immer wieder vorgeworfen, dass er in seinem Roman eine einseitig ablehnende Haltung der deutschen Einheit gegenüber einnehme. Es ist richtig, dass die Figuren mit den weitaus größten Redeanteilen, Theo Wuttke und Hoftaller, die Einheit ablehnen und insbesondere die Verfahrensweise ihres Vollzugs scharf kritisieren. Dennoch gibt es eine Gegenfigur zu den beiden: Madeleine Aubron, Fontys uneheliche Tochter. Und bei aller Sympathie für die DDR sieht Grass neben den durch die Einheit bedingten Belastungen auch negative Seiten des anderen deutschen Staates: Am 9. November begeben sich Fonty und Hoftaller nach Schwarze Pumpe, dem einstigen Renommierprojekt, und müssen angesichts der Braunkohlemondlandschaften feststellen, auf welchem Weg die DDR war: „Abgrund war überall.“166 In der Nähe zwischen den Auffassungen des Autors Grass, die einen hohen Verbreitungsgrad genossen, und den im Roman dominierenden Negativauffassungen zur deutschen Einheit mag zugleich die zentrale Problematik der Rezeption des Buches liegen. Die Diskussion entzündete sich vor allem an den tagespolitischen Bezügen und wurde – nach dem wörtlich zu nehmenden Verriss durch Marcel Reich-Ranicki auf der Titelseite einer Spiegel-Ausgabe – außerordentlich breit geführt.167 Wie bereits zuvor bei Christa Wolfs Erzählung Was bleibt wurden dabei Autorinstanz und Erzählinstanz bzw. Realität und Fiktion gleichgesetzt. Auch im engeren
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Ebd., S. 325. Ebd., S. 768. Ebd., S. 279. Ebd., S. 333. Vgl. Ebd., S. 534. Ebd., S. 512. Vgl. Der Spiegel 49 (1995) 34 v. 21.8.1995; zur Diskussion siehe Oskar Negt (Hg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Redaktion: Daniela Hermes. Göttingen 1996.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Sinne literaturwissenschaftliche Untersuchungen des Romans sind nicht frei von dieser Haltung. Hartmut Eggert (1996) fasst zusammen: Als historisches Dokument wird der Grass-Roman ein Archiv der Klischees und Befindlichkeiten der Jahre 1990-1995 für spätere Generationen sein; die werden sich vielleicht weniger dafür interessieren, wieviele Fontane-Zitate der Autor (unter Assistenz eines jungen Berliner Germanisten, der Grass’ Zettelkästen auffüllen half) verarbeitet hat und welche Funktion der epischen Integration ihnen zukommt; sondern sie werden Bewußtseinsinhalte und Sprachformeln der Wendezeit aufsuchen wollen, aber auch Aufschluß darüber, wie Literaten Orientierung suchten und geben wollten.168
Grass dagegen verwahrt sich gegen solch einseitige Interpretationsansätze: Sie kappen eine Dimension dieses Romans, wenn Sie nur auf die Tagespolitik abstellen. Aus meinem Geschichtsverständnis und meiner Geschichtserfahrung in Deutschland gehört das Unterfutter dazu. Das neunzehnte Jahrhundert ist immer präsent: aus meiner Sicht bis zur Revolution von 1848, bis zum Vormärz.169
Und so mag Peter Wapnewski (1995) Recht behalten, der seinen Deutungsansatz weiter fasst und Ein weites Feld liest als „eine ehrgeizige Allegorie auf das utopische Einheitsstreben der deutschen Nation und dessen allemal üblen Folgen – von 1848 über 1871 bis heute.“170 5.1.2.2 „Die sanfte Revolution in der DDR: für mich das liebste Politische, seit ich lebe […].“ – Martin Walser Im Gegensatz zu Günter Grass und vielen anderen gehört Martin Walser zu den wenigen westdeutschen Autoren, die sich nicht mit der Teilung abgefunden haben. 1988 führten seine diesbezüglichen Äußerungen in der am 30. Oktober in den Münchner Kammerspielen in der Reihe Reden über unser Land gehaltenen Rede Über Deutschland reden zum Eklat. Die Wurzeln dieser Auseinandersetzung liegen jedoch weit früher, denn Walser rekurriert in seinem Text auf eine bereits 1977 in Bergen-Enkheim gehaltene Rede: 168 169
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Hartmut Eggert: Mehr als Zitate. Werke literarischer Tradition in der Prosa zur deutschen Vereinigung (1990-1995). In: Triangulum (1996) 3; S. 203-216, S. 215. [Interview mit Jochen Hieber]: Ich will mich nicht auf die Bank der Sieger setzen. Ein Gespräch mit Günter Grass über den Roman „Ein weites Feld“, die Reaktionen der Kritik, die deutsche Einheit und den Blick aufs eigene Leben. In: FAZ v. 7.10.1995. Peter Wapnewski: Ein Wörtersack. Der neue Roman von Günter Grass „Ein weites Feld“: Erwartung und Enttäuschung. In: Focus (1995) 35 v. 28.8.1995; S. 100-104, S. 104.
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Daß es diese zwei Länder gibt, ist das Produkt einer Katastrophe, deren Ursachen man kennen kann. Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte – so schlimm sie zuletzt verlief – in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen … […] Sie können neue Landkarten drucken, aber sie können mein Bewußtsein nicht neu herstellen. Ich weigere mich, an der Liquidierung von Geschichte teilzunehmen. In mir hat ein anderes Deutschland immer noch eine Chance. […] Wir alle haben auf dem Rücken den Vaterlandsleichnam, den schönen, den schmutzigen, den sie zerschnitten haben, daß wir jetzt in zwei Abkürzungen leben sollen. In denen dürfen wir nicht leben wollen. Wir dürften, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten.171
1979 bekräftigt Walser diese Auffassung und erklärt, er „habe ein Bedürfnis nach geschichtlicher Überwindung des Zustands Bundesrepublik.“172 Und 1986 bekennt er in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt über die deutsche Teilung: „Ich werde mich nie an diese deutsche Teilung gewöhnen.“173 Seine Meinung steht damit im Gegensatz zu den Auffassungen vieler westdeutscher Intellektueller, auf die er sich 1988 in seiner Rede bezieht: „In der FAZ (17.12.86) wurde ein Satz von F.X. Kroetz mitgeteilt: ‚Mir ist die DDR so fremd wie die Mongolei.‘ Dazu Marcel Reich-Ranicki […]: ‚Das gefällt mir außerordentlich.‘ […].“174 Für Walser ist die Teilung aber „das Gegenteil von Entwicklung. […] Teilung ist Eingriff, Machtausübung, Strafaktion.“175 Eine „Rückfallgefahr“ in die Verbrechen des Nationalsozialismus hält er für ausgeschlossen: „Also: Wenn die Rückfallgefahr ausgeschlossen ist – und wer das nicht sieht, der verneint schlicht unsere letzten 40 Jahre –, dann gibt es nur noch ein Motiv für die Fortsetzung der Teilung: das Interesse des Auslands.“176 Der Aspekt der „Strafaktion“ steht für Walser also weniger im Vordergrund als ein Verständnis der Teilung als Konsequenz des Kalten Krieges. Eine Strafe sei nie auf ewig zu sehen177, denn „Strafe dient nicht der Sühne, sondern doch wohl der Resozialisierung.“178 Walser trennt insofern die Frage nach Teilung oder Einheit von der nationalsozialistischen Vergangenheit 171 172
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Martin Walser: Über Deutschland reden. In: Die Zeit v. 4.11.1988. Ders.: Händedruck mit Gespenstern. In: Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘. Hrsg. v. Jürgen Habermas. 1. Band: Nation und Republik. Frankfurt a.M. 1979; S. 3950, S. 50. „Ich werde mich nie an diese deutsche Teilung gewöhnen“. Die Welt im Gespräch: Martin Walser. In: Die Welt v. 29. / 30.9.1986. Martin Walser: Über Deutschland reden. In: Die Zeit v. 4.11.1988; Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd.
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Deutschlands. In diesem Zusammenhang greift er auch andere Intellektuelle an: „Viele kommen sich fortschrittlich vor, wenn sie diese letzte Kriegsfrucht für vernünftig halten. Sie ziehen, je nach Fach, einschlägig behäkelte Trostdeckchen über den Trennungsspalt: Geschichtsnation; Kulturnation; Sportnation […].“179 Zur Fundierung seiner Ausführungen kann er sich allerdings lediglich auf ein „Geschichtsgefühl“ berufen: „Man kann am Ende damit nicht viel mehr anfangen, als zu bezeugen, daß es existiere. Aber das kann man. Ein Gefühl ist auch nicht vorschreibbar. Man hat es oder hat es nicht.“180 Grass wirft ihm dementsprechend „zuviel Gefühl und zuwenig Bewußtsein“ vor.181 Obwohl die Perestroika „eines Tages auch die DDR erreichen“182 und dort Veränderungen bewegen werde, schließt Walser pessimistisch: Es gibt also nicht die geringste konkrete Aussicht auf einen Anfang der Überwindung der Teilung. Deutschland bleibt also ein Wort, brauchbar für den Wetterbericht. Ich wundere mich selber darüber, daß diese konkrete Aussichtslosigkeit bei mir nicht umschlägt in Hoffnungslosigkeit. Vielleicht kommt das von diesem Geschichtsgefühl.183
Mit seinem Beitrag löste Walser eine stark polarisierte Diskussion aus. Stein des Anstoßes bildete vor allem sein Versuch der Trennung von objektiven, aber später erlangten Kenntnissen über die Zeit des Nationalsozialismus und subjektiver Erinnerung: „Das erworbene Wissen über die mordende Diktatur ist eins, meine Erinnerung ist ein anderes.“184 Als heftigster Kritiker dieser Auffassung sei Jurek Becker genannt, der Walser in einem Zeit-Artikel antwortete: Tut mir leid, aber von meiner Familie sind an die zwanzig Personen vergast oder erschlagen oder verhungert worden, irgendwie spielt das für mich noch eine Rolle. Ich habe nicht so kuschelige Kindheitserinnerungen wie Walser. Sollte das der Grund sein, warum Deutschland eher seinesgleichen gehört als meinesgleichen?185 179 180 181
182 183 184 185
Ebd. Ebd. [Interview mit Bernd Kühnl und Willi Winkler]: Viel Gefühl, wenig Bewußtsein. Der Schriftsteller Günter Graß [sic] über eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands. In: Der Spiegel 43 (1989) 47 v. 20.11.1989; S. 75-80, S. 80. Martin Walser: Über Deutschland reden. In: Die Zeit v. 4.11.1988. Ebd. Ebd. Jurek Becker: Gedächtnis verloren – Verstand verloren. Jurek Becker antwortet auf Martin Walser. In: Die Zeit v. 18.11.1988; in der DDR in: ndl 37 (1989) 5, S. 164-170. Etwas später Peter Glotz: Ein Deutscher kann man überall sein. Peter Glotz antwortet auf Martin Walser. In: Die Zeit v. 2.12.1988. Zur Debatte insgesamt vgl. Helmut Peitsch: ‚Antipoden‘ im ‚Gewissen‘ der Nation? Günter Grass’ und Martin Walsers ‚deutsche Fragen‘. In: Dichter und ihre Nation. Hrsg. von Helmut Scheuer. Frankfurt a.M. 1993, S. 459-489.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Die ‚Wende‘ begrüßt Walser geradezu euphorisch: „Die sanfte Revolution in der DDR: für mich das liebste Politische, seit ich lebe […].“186 Nach dem 9. November 1989 stellt er fest: „[…] diese sanfte Revolution hat es fertiggebracht: Der Stand der deutschen Dinge ist offenbar geworden.“187 Entsprechend seiner früheren Auffassungen mahnt er, die Gelegenheit zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten jetzt nicht zu versäumen. Unmittelbar vor deren Vollzug hofft er auf eine Rückkehr zur „Normalität“: Vielleicht sollten wir jetzt bald einmal aufhören, dieses Land wie etwas auf einem Prüfstand zu beobachten. Diese Beobachtungshaltung produziert Phänomene. Von Deutschland ist nichts anderes zu erwarten, als von jedem anderen Land.188
Und im Hinblick auf die Gefahr eines Großmachtstrebens des vereinigten Deutschland, wie es von Grass befürchtet und prophezeit wurde, äußert er: „Solche Stärkevorstellungen sind doch ein alter Hut, seit jedes technisch ungewiefte Zehnmillionenvolk, wenn es brav arbeitet, sich eine Atombombe zusammensparen kann.“189 Ähnlich wie Grass verarbeitete Walser seine Auffassungen auch literarisch: vor allem in der 1987 erschienenen Novelle Dorle und Wolf und dem vier Jahre später veröffentlichten Roman Die Verteidigung der Kindheit. In Dorle und Wolf lässt Walser seinen Protagonisten Wolf Zieger feststellen: Die anderen Reisenden auf dem Bahnsteig in ihrer Kompaktheit, Adrettheit, Gepflegtheit, Zielgerichtetheit kamen ihm plötzlich vor wie halbe Menschen. Lauter Halbierte strebten da hin und her. Die anderen Hälften liefen in Leipzig hin und her. 186
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189
Martin Walser: Vormittag eines Schriftstellers. Über Deutschland reden – und die Folgen: Warum einer keine Lust mehr hat, am Streit der Meinungen teilzunehmen. In: Die Zeit v. 14.12.1990. Ders.: Zum Stand der deutschen Dinge. Gesten des Wiedersehens: Vom schwierigen Umgang mit der sanften Revolution und von den Schreckbildern der geschichtlichen Vorstellungskraft. In: FAZ v. 5.12.1989. Martin Walser; zit. nach: Was erwarten Sie von Deutschland, was wünschen Sie dem vereinten Land? „Einen König für die Bayern, einen König für die Sachsen!“ ZEIT-Umfrage unter Schriftstellern deutscher Sprache. In: Die Zeit v. 5.10.1990. Im Zusammenhang mit Diskussionen und Kommentaren zu ‚Wende‘ und Vereinigung konstatiert und kritisiert Klaus Bittermann eine „Walserisierung der Intellektuellen“: Vgl. K.B.: Die Walserisierung der Intellektuellen. In: Gemeinsam sind wir unausstehlich. Die Wiedervereinigung und ihre Folgen. Mit Beiträgen von: Wolfgang Pohrt, Roger Willemsen, Wolfgang Schneider, Klaus Bittermann, Charlotte Wiedemann, Werner Kopp, Stefan Gandler, Robert Kurz. Hrsg. von Klaus Bittermann. Berlin 1990 (Edition TIAMAT, Critica Diabolis 27), S. 61-79. Martin Walser: Vormittag eines Schriftstellers. Über Deutschland reden – und die Folgen: Warum einer keine Lust mehr hat, am Streit der Meinungen teilzunehmen. In: Die Zeit v. 14.12.1990.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Die hier leuchteten, gleißten geradezu in ihrer Entwickeltheit und Fortgerissenheit. Er fühlte sich hingezogen zu allen. Wie richtig machten die alles, was sie machten! Aber wie wenig waren sie bei sich. Alle leuchteten vor Gelungenheit, aber keiner schien zufrieden zu sein. Sie wissen nicht, was ihnen fehlt. Und keiner würde, fragte man ihn, sagen, ihm fehle seine Leipziger Hälfte, sein Dresdener Teil, seine mecklenburgische Erstreckung, seine thüringische Tiefe. Aber sie sind wie verloren in ein Extrem. Und die drüben sind verrannt ins andere Extrem. Das teilt mehr als der böse Strich durch die Geographie. Man sollte es auf einem Bahnsteig laut sagen. Aber er traute sich nicht. Aber er wunderte sich, warum es keiner ausrief: Wir sind Halbierte. Und er am meisten.190
Hinter Ziegers Engagement als Spion für die DDR steht das Konzept eines geeinten ‚Deutschlands‘. Das wird vor allem im letzten Satz der folgenden Passage deutlich: Mitarbeiter des MfS, und das im Westen, eine bessere, schönere Lösung gab’s überhaupt nicht. Erst als er herüben war, suchte er nach Gründen für das, was er tun sollte. Er erlebte, wie die zwei deutschen Teile auseinanderstrebten, immer bösartiger wurden gegeneinander. Immer verständnisloser, empfindungsloser, wahrnehmungsloser. Den einen Teil über den anderen informieren hieß Landesverrat. In beiden Teilen. Welches Land verriet man denn da? Deutschland nicht …191
Die Verteidigung der Kindheit (1991) wurde in der FAZ vorabgedruckt und nach Erscheinen der Buchfassung als der große Deutschlandroman gefeiert.192 Erzählt wird die Geschichte von Alfred Dorn, dessen berufliche Laufbahn ein Abstieg vom Klassenbesten zum eher schwachen Juristen ist. Die ‚Wende‘ erlebt Dorn freilich nicht mehr – für Georg Braungart (1997) durchaus schlüssig: Dieser ‚Held‘ durfte die Wende zur Einheit Deutschlands auf keinen Fall mehr erleben, ganz gleich, wann sein Vorbild in der Wirklichkeit gestorben ist. Die Er190 191
192
Ders.: Dorle und Wolf. Eine Novelle. Frankfurt a.M. 1987, S. 54f. Ebd., S. 44; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Heimo Schwilk: In der Brandung deutscher Seelenstürme. Martin Walsers Agentennovelle: Über das Dilemma einer geteilten Nation. In: Rheinischer Merkur v. 20.3.1987. Vgl. Volker Hage: Walsers Deutsches Requiem. In: Die Zeit v. 9.8.1991; Hajo Steinert: Die Geschichte lässt sich nicht einfrieren. „Die Verteidigung der Kindheit“ von Martin Walser: Ein Glücksfall für die deutsche Literatur. In: Die Weltwoche v. 12.9.1991; Klaus Lüderssen: Juristsein im Nichts. Zu Martin Walsers „Die Verteidigung der Kindheit“. In: Merkur 46 (1992) 516, S. 265-270; Reinold Schmücker: Der Abgesang auf eine große Liebe. Martin Walser und „Die Verteidigung der Kindheit“ – ein Roman über einen Außenseiter, der nicht erwachsen werden will. Eine sensible Chronik, die den deutschen Alltag zwischen 1929 und 1987 ausleuchtet. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt v. 23.8.1991; Ein deutsches Muttersöhnchen. Joseph von Westphalen über Martin Walsers neuen Roman „Die Verteidigung der Kindheit“. In: Der Spiegel 45 (1991) 33 v. 12.8.1991, S. 171-174.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
lösung Alfred Dorns, sein persönlicher Triumph über die sein Leben zerstörenden Machthaber wäre – gemessen an der Poetik des Mangels, die konstitutiv für Walsers Gesamtwerk ist – zugleich das Scheitern des Romans gewesen. Dieser Roman ist gerade deshalb der große Roman der Einheit, weil er – in provozierender Vergeblichkeit – die Wunde namens Deutschland offen hält.193
Walsers Roman stellt also die literarische Ausformung seines Bedürfnisses nach der Unteilbarkeit Deutschlands oder doch zumindest von dessen Kultur dar. Daniel Fulda (1994) kritisiert aber mit Recht: Zwar leidet die Hauptfigur, Alfred Dorn, ein Jurist mit pathologischer Mutterbindung, unter der deutschen Teilung, und die alltäglichen Unannehmlichkeiten, die sie für den einzelnen mit sich bringen konnte, werden eingehend geschildert. Doch ein Kommentar zur Nationalstaatsfrage von politischem Gewicht ist das kaum: Den teilungsbedingten Nöten des Alfred Dorn hätte schon ein unbeschränkter Reiseverkehr abgeholfen. Obwohl Walser Die Verteidigung der Kindheit als „historischen Roman“ bezeichnet, bleibt die eigentlich historische Dimension der deutschen Frage, ihre Verankerung in der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts und in der Weltpolitik seit 1945, außerhalb des Romanhorizontes.194
Axel Schalk äußert 1993 zusammenfassend: „Walser bleibt im Tagespolitisch-Unliterarischen stecken, jenseits der Avantgarde, jenseits einer poetischen Verarbeitung des Themas.“195 Volker Wehdeking (1995) dagegen liest den Roman als „Hohlform der überwundenen Teilung“.196 Und KarlRudolf Korte (1992/1996) sieht ihn als den „Epochenroman zur deutschen Teilung“197, der „wohl für längere Zeit der chronologisch angelegte Überblicksroman zur deutschen Teilung“ bleibt.198 In Walsers Roman werden so bedeutende Ereignisse wie die Bombardierung Dresdens in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945, die Viermächte-Konferenzen, der 17. Juni 193
194
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198
Georg Braungart: „Ich habe nicht das Gefühl, daß ich mich bewegt hätte“. Martin Walsers ‚Wende‘ zwischen Heimatkunde und Geschichtsgefühl. In: Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997; S. 93-114, S. 113; Hervorhebung im Original. Daniel Fulda: Nur „frischerwachtes Grauen vor der Geschichte“? Literarische Kommentare zur deutschen Einheit 1870 und 1990. In: WW 44 (1994) 2; S. 258-270, S. 261; Hervorhebung im Original. Axel Schalk: Coitus germaniae interruptus. Die deutsche Wiedervereinigung im Spiegel von Prosa und Dramatik. In: WB 39 (1993) 4; S. 552-566, S. 555. Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989. Stuttgart / Berlin / Köln 1995, S. 111. Karl-Rudolf Korte: Über Deutschland schreiben. Schriftsteller sehen ihren Staat. München 1992 (Perspektiven und Orientierungen, Schriftenreihe des Bundeskanzleramtes, Band 12), S. 57. Ders.: Berichte zur Lage der Nation. Vom Umgang mit der erzählenden Literatur im vereinten Deutschland. In: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 28 (1996) 4; S. 551-564, S. 558.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
177
1953 und der 13. August 1961 konsequent mit der Biografie Alfred Dorns verknüpft. Insofern mag er tatsächlich als „Epochenroman zur deutschen Teilung“ gelten – als ‚Wenderoman‘ jedoch meines Erachtens nicht. 5.1.2.3 Die Extreme versöhnen – Günter de Bruyn Günter Grass und Martin Walser stehen für die jeweils extremen Pole innerhalb des Meinungsspektrums über ‚Wende‘ und ‚Einheit‘. Gemäßigter äußerte sich etwa Günter de Bruyn (*1926). Er hatte zunächst Vorbehalte gegenüber der staatlichen Einheit: Erstens sprechen […] die alliierten Sieger des letzten Krieges, die Militärblöcke, die europäische Stabilität und die Rücksichtnahme auf die Nachbarn dagegen, zweitens soziale Probleme, die sich des Wohlstandsgefälles wegen nicht übers Knie brechen lassen, und drittens eine deutsche kulturelle Erfahrung, die ich Gewinn durch Vielfalt oder das föderative Prinzip nennen will.199
Ähnlich wie Grass sieht er in der „Kulturnation“ ein „theoretisches Gegengewicht“ zur „Zwei-Nationen- und Zwei-Kulturen-Theorie“.200 Die „Kulturnation“ beginne nicht erst beim „ersten deutschen Nationalstaat, dem Bismarck-Reich“, sondern reiche „viel weiter, vielleicht bis zu Luther, ganz deutlich aber in die Zeiten der Aufklärung zurück“: Als Gottsched in Leipzig seine „Deutsche Gesellschaft“ gründete, Lessing sich in Hamburg um ein Theater bemühte, das der ganzen Nation gehören sollte, […] und Herder erkannte, daß die Kulturen im weitesten Sinne (also Sprachen, Lieder, Dichtungen, Gebräuche) es sind, die die Nationen bilden – war es schon da, dieses doch langlebige Band, das in klassischer Zeit, die eine Zeit politischer Zerrissenheit war, ein nationales Zusamengehörigkeitsgefühl schuf.201
Dabei versteht de Bruyn „Kulturnation“ „nicht als Gegensatz zur Staatsnation, sondern als ihr kritisches Korrektiv; die Kulturnation vermag zu bewahren, was die Staatsnation gefährdet: das europäische Gleichgewicht und die regionale Kulturvielfalt.“202 Versuche, die DDR zu reformieren und damit „als Nationalpark für ein gesellschaftspolitisches Experiment zu erhalten“, erscheinen dem brandenburgischen Schriftsteller später als 199 200 201 202
Günter de Bruyn: So viele Länder, Ströme und Sitten. Geschichte und künftige Möglichkeiten einer deutschen Kulturnation. In: FAZ v. 3.2.1990. Ebd. Ebd. Michael Braun: „Kein Deutschland gekannt zeit meines Lebens“. Grass, Walser, Enzensberger und die nationale Frage. In: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft 50 (1995) 11; S. 1090-1101, S. 1099.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
abwegig.203 Die mit der ‚Wende‘ und erst recht mit der staatlichen Einheit einhergehenden Umstellungen bilden für ihn den Hintergrund, der bei Bewertung dieser Vorgänge keinesfalls außer Acht gelassen werden darf, denn: „‚Ohne daß die Ostdeutschen ihren Wohnort verändert hätten, leben sie plötzlich in einer völlig anderen Welt.‘“204 Auf die in der Zeit gestellte Frage „Was erwarten Sie von Deutschland, was wünschen Sie dem vereinten Land?“ antwortete de Bruyn: Ich wünsche dem vereinten Land, daß es ein guter Nachbar ist und daß es gute Nachbarn hat, daß das Bewußtsein seiner Größe Verantwortungsgefühl, nicht Größenwahn erzeugt und daß Vernunft und Toleranz und Mitgefühl regieren mögen nach innen und nach außen hin.205
Nach dem Vollzug der staatlichen Einheit und ersten Unmutsbezeigungen auf beiden Seiten mahnt er im Herbst 1991 auf der Tagung des westdeutschen P.E.N. zur Besonnenheit: Es gibt Fehlleistungen, Dummheiten, Ungeschicklichkeiten und Borniertheiten; es gibt Zorn, Mißtrauen und Aversionen, aber die können nur Voreilige zu dem Fehlschluß verführen, die Deutschen seien nicht willens, wieder eine Nation zu werden. Bei allen Klagen über die Kosten und die Folgen der Einheit, will wohl kaum einer sie rückgängig machen; aber jeder will, daß er durch sie nichts verliert. Die nationalen Probleme, die uns heute besorgt sein lassen, sind wohl vorwiegend sozial bedingt.206
Im Juni 1993 hebt er in seiner auf dem Münchner Kirchentag gehaltenen Rede noch einmal hervor: Obwohl ich mich davor hüte, das Nationale, das seine Stärke mit der Vereinigung noch einmal unter Beweis stellte, geringzuachten, hat die deutsche Einheit für mich in erster Linie Befreiung bedeutet; und wenn auch der Jubel durch neue Sorgen, politische Fehler, Dummheiten und Borniertheiten gedämpft und erstickt wurde, so wird doch die Erleichterung darüber, mich frei bewegen und zensurlos schreiben und reden zu können, noch lange andauern […].207 203 204
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206 207
Günter de Bruyn: So viele Länder, Ströme und Sitten. Geschichte und künftige Möglichkeiten einer deutschen Kulturnation. In: FAZ v. 3.2.1990. [Interview mit Helmut L. Müller]: Eine Zwischenbilanz. Günter de Bruyn äußert sich im Gespräch mit dem außenpolitischen Redakteur der Salzburger Nachrichten, Helmut L. Müller, zur Seelenlage der DDR-Autoren. In: Die politische Meinung 37 (1992) 276; S. 70-72, S. 72. Ders.; zit. nach: Was erwarten Sie von Deutschland, was wünschen Sie dem vereinten Land? „Einen König für die Bayern, einen König für die Sachsen!“ ZEIT-Umfrage unter Schriftstellern deutscher Sprache. In: Die Zeit v. 5.10.1990. Ders.: Der Riß und die Literatur. Auch eine Antwort an Heiner Müller. In: FAZ v. 23.10.1991. Ders.: Fremd im eignen Land. In: Über Deutschland. Schriftsteller geben Auskunft. Hrsg. von Thomas Rietzschel. Leipzig 1993; S. 154-173, S. 169f.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
179
Der ihm mittlerweile zugeschriebenen Rolle des Optimisten ist er sich durchaus bewusst; so betont er im Januar 1995 in seinem anlässlich der Eröffnung der Katholischen Akademie Berlin gehaltenen Vortrag: Sie sind mir nicht fremd, die deutschen Probleme, aber darüber das deutsche Glück zu vergessen, scheint mir doch sündhaft zu sein. Auch auf die Gefahr hin, langsam komisch zu wirken, möchte ich zur Bewahrung der Einheitsfreude immer wieder ermuntern. Wo ich gehe und stehe springen [sic] mir Gründe dafür in die Augen.208
5.1.3
Nation, Vereinigung und ‚Normalisierung‘ – erste Debatten nach dem Herbst ’89
Die erste, nicht zuletzt im Hinblick auf ein potenziell bald vereinigtes Deutschland geführte Debatte nach den Herbstereignissen von 1989 wird in den ersten Monaten des Jahres 1990 vor allem in den Feuilletons westdeutscher Zeitungen und Zeitschriften ausgetragen. Dabei geht es um die Frage der Nation im weiteren und die Vereinigung beider deutscher Staaten im engeren Sinne. Eröffnet wird die Kontroverse von Karl Heinz Bohrer mit dem am 13. Januar 1990 in der FAZ erschienenen Beitrag Warum wir keine Nation sind. Warum wir eine werden sollten.209 Bohrer versteht seinen Beitrag als „Plädoyer für den Begriff Nation“. Er vertritt ähnliche Argumente wie vor ihm bereits Walser; auch er betont, dass von einem vereinigten Deutschland keine Bedrohung ausgehe. Wie Walser lehnt er den Habermasschen Begriff des „Verfassungspatriotismus“ ab; seines Erachtens handele es sich dabei um „die sublimste Variante einer Tabuisierung der Nation“. Zudem behauptet Bohrer: Mit dem Verlust der für die deutsche Identität zweifellos zentral wichtigen einstigen preußischen Provinzen Ostpreußen und Schlesien – eine Bewandtnis, die nur deshalb nicht angemessen gesehen wird, weil sich das politische Machtzentrum des verbliebenen Rheinstaats um fünfhundert Kilometer nach Westen verschoben und seine führenden Politiker und Parteien an diesen Verlust aus guten Gründen keine Erinnerung mehr knüpfen können – ist eine Schuld de facto beglichen und eine Wiedergutmachung erfolgt, die von der „moralischen“ Argumentation übersehen wird.210
208 209 210
Ders.: Ostdeutsche Irritationen. Ein Vortrag (europäische ideen (1995) (Sonderheft)), S. 4. Karl Heinz Bohrer: Warum wir keine Nation sind. Warum wir eine werden sollten. In: FAZ v. 13.1.1990. Ebd.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Auf Bohrers Aufsatz antworten Peter Glotz, Ulrich Greiner und Friedrich Christian Delius. Glotz legt in seiner Reaktion Warum wir eine Nation sind. Warum wir uns jedoch nicht abermals vom „deutschen Hunde“ beißen lassen sollten211 dar, dass er Bohrers Argumentation, die deutsche Kriegsschuld sei mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze beglichen, für „waghalsig“212 hält. Zudem ist es ihm „unerfindlich“, wie die Fragestellung „sich zu der These verdichten kann, die Deutschen seien keine Nation.“ Zwar seien sie „keine Staatsnation, sie haben es (fast) nie zu einem einheitlichen Nationalstaat gebracht.“ Doch seien sie „selbstverständlich“ eine „Kulturnation“.213 Zu diesem ‚geistesgeschichtlichen Mißverständnis‘ trete ein – als noch schlimmer zu bewertendes – ‚politisches‘, denn angesichts des heutigen Verhältnisses von „Macht und Geld“ sei „[n]icht der souveräne Territorialstaat […] unsere Zukunft, sondern die intelligente Aufteilung der Souveränität.“214 Ulrich Greiner wendet sich ebenfalls gegen Bohrers Auschwitz-Argumentation. In Das Phantom der Nation. Warum wir keine Nation sind und warum wir keine werden müssen215 unterstellt er Bohrer den Irrtum, „die Größe eines staatlichen Territoriums in Beziehung zu seiner geistigen und kulturellen Größe zu setzen.“216 Walsers „Geschichtsgefühl“ habe er nicht, zudem sei Walsers Begriff der Nation – wie auch die Begriffe „Volk“ und „Staat“ – einer der „Tarnbegriffe für kollektive Emotionen.“ Greiner kritisiert, dass sämtliche Befürworter der Einheit „auf scheinbar rationale und vernünftige Weise argumentieren, in Wahrheit aber an den entscheidenden Stellen gänzlich unklar und irrational sind.“217 Friedrich Christian Delius kritisiert in seiner Entgegnung Der Westen wird wilder218 unter anderem, dass „unter der Hand ein neues Kriterium für intellektuelle Glaubwürdigkeit aufgetaucht [sei; F.Th.G.]: das Bekenntnis zur deutschen Einheit.“219 Damit geht es auf übergeordneter Ebene auch um die Positionsbestimmung und Rolle der Intellektuellen in einem vereinten Deutschland. Bohrer verweist in diesem Zusammenhang
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Peter Glotz: Warum wir eine Nation sind. Warum wir uns jedoch nicht abermals vom „deutschen Hunde“ beißen lassen sollten: Eine Antwort auf Karl Heinz Bohrer. In: FAZ v. 9.2.1990. Ebd. Ebd. Ebd. Ulrich Greiner: Das Phantom der Nation. Warum wir keine Nation sind und warum wir keine werden müssen – ein vergeblicher Zwischenruf im Intellektuellen-Streit um die deutsche Einheit. In: Die Zeit v. 16.3.1990. Ebd. Ebd. Friedrich Christian Delius: Der Westen wird wilder. Die Intellektuellen und die deutsche Frage: Die Claims werden abgesteckt. In: Die Zeit v. 2.2.1990. Ebd.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
181
auf „die durchsichtige Interessenlage dieser älteren linken Literaten, denen über Nacht alle Felle wegschwimmen, im Osten sogar mit ernsten sozialen Konsequenzen, im Westen zumindest den Status ihres Prestiges betreffend.“220 Schließlich bedeute die Einheit für sie, „auf dramatische Weise endgültig einen linksutopischen Horizont zu verlieren […].“221 Günter de Bruyn äußert sich in seinem am 1. Februar 1990 an der Evangelischen Akademie in Tutzing gehaltenen Vortrag So viele Länder, Ströme und Sitten. Geschichte und künftige Möglichkeiten einer deutschen Kulturnation zu dieser Fragestellung. Dabei betont er die Bedeutung der deutschen „Kulturnation“. De Bruyn legt dar, dass er ein forciertes Streben nach der staatlichen Einheit ablehne, die Einheit an sich jedoch nicht, „vorausgesetzt, sie gereicht letzten Endes allen sozialen Schichten zum Nutzen und nichts erinnert dabei an unseliges Altes, weder die Jahreszahl 1937 noch Stellung und Stärke des Militärs.“ Für ihn gilt: „Aus der Geschichte zu lernen heißt erst einmal: sie sich gefügig zu machen – was nicht unbedingt verfälschend geschehen muß.“222 Im April 1990 veröffentlicht Dieter E. Zimmer in der Zeit einen Beitrag mit dem Titel Den Völkern Gespött oder Furcht. Die Deutschen und das Nationalgefühl.223 Für ihn steht fest: Fanatischer Nationalismus und fanatischer Anti-Nationalismus […] bedingen einander nicht nur in dem Sinne, daß der eine regelmäßig den anderen provoziert; sie sind darüber hinaus die beiden Seiten ein und derselben Medaille: eines gestörten Selbstwertgefühls.224
Zimmer erklärt: „Supranational zu denken und zu fühlen wird erst einer Bevölkerung möglich, die nicht zwangsweise im Zustand des Infranationalismus gehalten wird.“225 Er schließt seinen Artikel mit der Feststellung: Ein unbesorgtes, ungebrochenes nationales Identitätsgefühl wird Deutschen nie wieder beschieden sein. Die deutsche Geschichte, die jüngere zumal, steht dem für alle Zeit entgegen. Der Vorschlag, auch ihre allerschlimmsten Kapitel irgendwie vielleicht doch in die Zustimmung mit einzubeziehen, wie ihn einige Positionen im „Historikerstreit“ zu suggerieren schienen, ist nur eine neuerliche Einladung zur Unehrlichkeit, zur bequemen Augenwischerei. Es gibt überhaupt nur einen 220 221 222 223 224 225
Karl Heinz Bohrer: Warum wir keine Nation sind. Warum wir eine werden sollten. In: FAZ v. 13.1.1990. Ebd. Günter de Bruyn: So viele Länder, Ströme und Sitten. Geschichte und künftige Möglichkeiten einer deutschen Kulturnation. In: FAZ v. 3.2.1990. Dieter E. Zimmer: Den Völkern Gespött oder Furcht. Die Deutschen und das Nationalgefühl. In: Die Zeit v. 6.4.1990. Ebd. Ebd.
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ehrlichen Weg: nichts ableugnen, nichts wegschieben, fest und unverbrämt im Auge zu behalten, womit Deutschland einmal bewirkt hat, „daß [es] unter den Völkern sitzet / Ein Gespött oder eine Furcht“ (das schrieb Brecht), zu verstehen, wie es dahin kam, und nichts zu verzeihen. Alles andere wäre Lüge, das Lügengebäude bräche eines Tages zusammen, und dieser Kollaps wäre für uns selber nicht weniger gefährlich als für unsere Nachbarn.226
Zwei Jahre später plädiert Hans Magnus Enzensberger für die Verabschiedung der Nation, denn „[d]ie abstrakte Idee der Nation konnte […] nur dort ein selbstverständliches Leben gewinnen, wo der Staat sich organisch aus älteren Zuständen entwickeln durfte. Je artifizieller seine Entstehung, desto prekärer und hysterischer das Nationalgefühl.“227 Weitere Autoren distanzieren sich im Hinblick auf Fragen des Nationalen und der Nation vollkommen von den damit verbundenen Inhalten. Uwe Kolbe etwa bringt in den letzten Zeilen von Daheim II (Kopfstudie aus dem August ’92) eine gewisse Müdigkeit im Hinblick auf Nationales und dessen Diskussion zum Ausdruck: Aus Landschaften kommen und schöntun, das taugt für die nächste Inkarnation. Das deutsche Idiom ist Klinge im Hals, symmetrische Kotze, röchelnder Schlund. Darüber dies Pumpen und Saugen, davor das Schmatzen, das Kondensat, das spülichte Fähnchen, Dunst, der röhrt und reihert, brüllt und sich überschlägt, Salto bestiale im Turnvaterland. Ich bins satt, Landsmann zu sein.228
Doch 1994 wirft Martin Walser erneut die Frage auf, ob man denn bereits politisch als ‚rechts‘ einzuordnen sei, wenn man die Frage nach der nationalen Einheit stelle bzw. ein Nationalgefühl empfinde – und ob es nicht gefährlich sei, diese Themen zu ignorieren. Er „glaube, die Entwicklung rechtsextremer Gruppierungen sei eine Antwort auf die Vernachlässigung des Nationalen durch uns alle.“229 Es folgen mit diesen Fragen verbundene Auseinandersetzungen über die neue Rolle des vereinigten Deutschland. Vor allem in diesem Zusammen226 227
228 229
Ebd. Hans Magnus Enzensberger: Die Große Wanderung. Dreiunddreißig Markierungen. Mit einer Fußnote ‚Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd‘. Frankfurt a.M. 1992, S. 16. Uwe Kolbe: Daheim II (Kopfstudie aus dem August ’92). In: U.K.: Nicht wirklich platonisch. Gedichte. Frankfurt a.M. 1994, S. 14. Martin Walser: Deutsche Sorgen. In: Der Spiegel 47 (1993) 26 v. 28.6.1993; S. 40-47, S. 43.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
183
hang entstanden zahlreiche politische Essays bzw. Essays von Politikern. Hervorzuheben ist Peter Glotz’ (*1939) Die falsche Normalisierung (1994). In diesem Band sind zwischen 1990 und 1994 entstandene publizistische Arbeiten gesammelt. Sein „Buch bemüht sich um die Analyse eines neuen Schlüsselbegriffs der Deutschen, der zuerst im Golfkrieg auftrat: der „Normalisierung“. Warum können wir nicht sein wie Engländer und Franzosen?“230 Glotz befürchtet, dass die „Normalisierungstheorie“ „zum Instrument der „Nationalisierung“ werde.231 Er steht den Versuchen, „das weder besonders erhobene noch besonders aufgestörte deutsche Volk zu ‚normalisieren‘, mit Skepsis“232 gegenüber: Die Wiedervereinigung erzeugt in Deutschland, das ist sozusagen „natürlich“, neue Grundstellungen des Zeitgeists, neue oder neu drapierte Ideologiebildungen. Ein gerade zur Formel erstarrender Gedanke lautet: Deutschland müsse jetzt, nachdem es seine volle Souveränität Schritt für Schritt zurückerhalte, eine Rückkehr zur Normalität der deutschen und europäischen Üblichkeiten vollziehen. Die zweite Hälfte dieser Denkfigur benutzt den Topos des „Sonderwegs“: eine allzu erkennbare Abweichung von der „Norm“ des europäischen Nationalstaats sei eine neue Variante eben jenes verderblichen „Sonderwegs“, den die verspätete Nation der Deutschen im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert gegenüber dem Westen kultiviert hatte. Das Normalisierungs-Paradigma wurde erstmals mit besonderer Wirkung im Golfkrieg verwendet, als Deutschland eine Beteiligung an den militärischen Aktionen der Anti-Saddam-Koalition unter Hinweis auf das Grundgesetz von 1949 verweigerte. Seitdem sickert die Normalisierungs-These scheinbar unaufhaltsam in unsere Sprache ein.233
Glotz warnt jedoch vor einer Fehlinterpretation dieser These: In Wirklichkeit zeigt die Suggestion einer „Rückkehr zur Normalität“, daß in Deutschland der Historismus und der Relativismus des neunzehnten Jahrhunderts in einer neoaristotelischen oder neokonservativen Fassung erneut zur Hegemonie gekommen ist. Üblichkeiten entscheiden von vornherein über den möglichen Sinn moralischer Normen und Prinzipien; alles was darüber hinausgeht, wird zu gefährlichem Utopismus gestempelt. Die Idee einer universalen, intersubjektiven Konsensfähigkeit von Gültigkeitsansprüchen gilt als überspannt, unpraktisch, verführerisch.234 230 231 232 233
234
Peter Glotz: Vorbemerkung. In: P.G.: Die falsche Normalisierung. Die unmerkliche Verwandlung der Deutschen 1989 bis 1994. Essays. Frankfurt a.M. 1994; S. 9f., S. 9. Ebd. Ebd., S. 10. Ders.: Deutscher Sonderweg? Aus dem Wörterbuch des wiedervereinigten Deutschland. In: P.G.: Die falsche Normalisierung. Die unmerkliche Verwandlung der Deutschen 1989 bis 1994. Essays. Frankfurt a.M. 1994; S. 33-41, S. 33 [zuerst unter dem Titel Normalisierung – Sonderweg. Aus dem Wörterbuch des wiedervereinigten Deutschland in: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 38 (1991) 9, S. 823-826]. Ebd., S. 37f.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Für ihn ist die „Normalisierung“ eine Philosophie der Abwiegelung. Der Schock von 1945 soll überwunden werden: durch Rückgriff auf hergebrachte Institutionen und gelebtes Ethos. Die Rechte – gerade die demokratische – kann damit gut leben. Sie kann den ganzen Hokuspokus der Begründungen – ob Heidegger oder Gadamer, Richard Rorty oder J.F. Lyotard – ignorieren; das „gesunde“, „gewachsene“ Vertrauen auf konventionelle, erwartbare Verhaltensweisen genügt ihr. Aber die Linke? Überlebt sie als irgendwie „sozialere“ Fraktion der europäischen Postmoderne? Oder verliert sie ihren Halt, wenn sie in die groben Gesänge einstimmt, die derzeit das Scheitern der Idee einer Universalgeschichte der menschlichen Emanzipation besiegeln sollen?235
Er warnt: Die seit der Wiedervereinigung Deutschlands am häufigsten herumgereichte Weisheit lautet: Deutschland müsse wieder mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Diese Maxime ist richtig, aber gleichzeitig leer, weil in aller Regel undefiniert bleibt, was der schöne und auf eine wunderbar allgemeine Art „ethische“ Begriff „Verantwortung“ eigentlich meint. In der Periode des Kalten Krieges wußten die Deutschen, was ihre Mission war: Als Grenzland am Eisernen Vorhang mußten sie all ihre Kraft dafür einsetzen, nicht zum Schlachtfeld der Supermächte zu werden. Also entwickelten sie die „Entspannungspolitik“. Nach dem Zusammenbruch der amerikanisch-sowjetischen Doppelhegemonie schwankt die politische Klasse des größten europäischen Volkes nervös zwischen zwei unvereinbaren und allzu ehrgeizigen Großzielen – die einen wollen Deutschland zum „normalen Nationalstaat“ und wenn nicht zur Großmacht, so doch zur „großen Macht“ – machen, die anderen träumen von Deutschland als dem Weltgewissen, dem Anwalt der Menschenrechte, der Interventionsmacht gegen Völkermord. Im Streit zwischen diesen (ideal-typisch zugespitzten) Maximalpositionen, kann der gute Ruf, den das von Adenauer oder Brandt repräsentierte Deutschland von den fünfziger bis zu den achtziger Jahren erworben hat, leicht ruiniert werden.236
Eng verbunden mit der Diskussion um die ‚neue‘ Rolle des vereinigten Deutschland ist die verstärkt unternommene Einschätzung des historischen Stellenwertes der DDR nach deren Ende. Einen überzeugenden Versuch dazu hat Peter Bender vorgelegt, einer der Vordenker der westdeutschen Ostpolitik. Ausgehend von Betrachtungen, die um die Frage „Was war die DDR?“237 kreisen, fragt er: „Was bleibt von den vierzig Jahren kommunistisch-deutschen Eigenlebens – an Lasten und vielleicht auch an 235 236
237
Ebd., S. 41. Ders.: Rokokosaalpolitik. Notizen zur deutschen Außenpolitik nach 1989. In: Ebd.; S. 137-148, S. 137 [zuerst unter dem Titel Rokoko-Saal-Politik in: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 40 (1993) 8, S. 604-611]. Peter Bender: Unsere Erbschaft. Was war die DDR – was bleibt von ihr? Hamburg / Zürich 1992 (Luchterhand Essay), S. 13.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
185
Gewinn?“238 Hierzu entwirft er „acht Gesichter der DDR“ („Der Satellit“, „Der sozialistische Traum“, „Die Parteidespotie“, „Der Sozialstaat“, „Die Erziehungsdiktatur“, „Der Großbetrieb“, „Die Notgemeinschaft“, „Ein deutsches Land“)239 und stellt wesentliche Aspekte aus der Geschichte der DDR dar240, um schließlich vor allem Aspekte der zuvor entworfenen „Gesichter“ auf die Frage nach dem „Was bleibt“ hin zu überprüfen.241 Dabei bemängelt er: Die öffentliche Diskussion über die DDR-Vergangenheit beschränkt sich bis jetzt weitgehend auf das „Stasi-System“ und auf peinliche politische Belastung. Doch man wird schon das ganze Phänomen DDR in den Blick nehmen müssen, um Fragen stellen zu können, die für das Verständnis Ostdeutschlands und der Ostdeutschen wichtig erscheinen.242
Deshalb wendet er sich gegen „[d]ie schreckliche Vereinfachung“ nach der ‚Wende‘: Jetzt lernt man einander kennen und spürt, daß der andere auch sehr unangenehm werden kann. Jetzt weiß man zwar immer noch nicht viel voneinander, aber meint, alles zu wissen; und das Halbwissen festigt sich zur Überzeugung, je mehr sich die gängigen Vorurteile zu bestätigen scheinen. Die Westdeutschen haben den Eindruck, daß die Ostdeutschen eben doch von ihrem Kommunismus verdorben worden seien; und den Ostdeutschen scheint es, als hätten die SED-Propagandisten eigentlich nicht so unrecht gehabt, denn die Westdeutschen seien tatsächlich vom Kapitalismus menschlich ruiniert worden.243
Diese „schreckliche Vereinfachung“ betreffe allerdings nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit, denn [f]ast zwanzig Jahre lang erschien die DDR den Westdeutschen als halbe Hölle; seit Mitte der sechziger Jahre begannen nicht nur die Fachleute zu differenzieren, doch im Gefolge der neuen Ostpolitik geriet die DDR manchen Politikern und einigen Beobachtern wieder zu schön; Linksnaive sahen in ihr sogar einen Fortschritt mit kleinen Schönheitsfehlern. Seit der Staat der Kommunisten ruhmlos untergegangen ist, kehrt die westliche Vorstellung von der DDR nun zum Bild der fünfziger Jahre zurück.244
238 239 240 241 242 243 244
Ebd., S. 13. Ders.: Die acht Gesichter der DDR. In: Ebd., S. 15-54. Ders.: Die Geschichte. In: Ebd., S. 55-88. Ders.: Die Hinterlassenschaft – Was bleibt? In: Ebd., S. 89-155. Ebd., S. 12. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Bender prophezeit: Die Ostdeutschen werden für die Zukunft erst offen werden können, wenn sie Klarheit über ihre Vergangenheit gewinnen. Die Westdeutschen werden zur Vereinigung mit ihren Landsleuten erst fähig werden, wenn sie lernen, was deren Leben in der Zeit der Trennung bestimmte. Seit Deutschland wieder ein Staat ist, gehört die DDR zur Vergangenheit aller Deutschen, sie wurde unser aller Erbe.245
Sein Fazit im Hinblick auf den historischen Stellenwert der DDR fällt hart aus: Spätere Zeiten werden die sowjetisch-russische Herrschaft in Mitteleuropa beachten, von der DDR werden sie wenig im Gedächtnis behalten. Was vor allem Aussicht hat zu bleiben, ist die Erinnerung an die einzige gelungene Revolution der neueren deutschen Geschichte; wichtiger als die Existenz der DDR wird wahrscheinlich die Form sein, in der sie unterging. Sonst aber bleibt die kommunistisch-deutsche Republik eine Episode. Sie wird in die lange Reihe der Staaten eingehen, die im Laufe der deutschen Geschichte entstanden, vergingen und vergessen wurden.246
5.1.4 Verlust der Utopie Wir akzeptierten es nicht, das System, das uns umgab, aber wir liebten die Utopie, die es einst auf seine Fahnen geschrieben hatte. Und wir hatten immer noch die Hoffnung, wir könnten irgendwie dahin gelangen. Dafür schrieben wir, waren wir listig, verbündeten uns zeitweilig sogar mit den Gegnern unserer Hoffnung. Das war die Wurzel unserer inneren Zensur. Die Grenze fiel bei jedem anders aus. Den einen war das Soforteinflußnehmen, also gedruckt zu werden, wichtig, die anderen hatten einen längeren Atem. Wir wollten das System erschüttern, um es zu verändern, aber nicht das Land, mit dem sich unsere Utopie verbunden hatte, preisgeben. Je schmerzhafter die Differenz zwischen Traum und Realität wurde, um so stärker wurde die Verpflichtung, sich einzumischen. Gerade dieser Leidensdruck wurde die Quelle für unsere Arbeit. In der die Trauer zunahm. Kaum noch Übermut. Und diesen Kummer teilten wir mit unseren Lesern. Nicht allein die Ersatzfunktion, die Literatur hatte, erklärt ihre Rolle in diesem Land, sondern genau diese Verbundenheit.247 (Helga Königsdorf: Der Schmerz über das eigene Versagen. Was bleibt von der DDR-Literatur?, 1990) 245 246 247
Ebd., S. 13. Ebd., S. 155. Helga Königsdorf: Der Schmerz über das eigene Versagen. Was bleibt von der DDRLiteratur? In: Die Zeit v. 1.6.1990.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
187
Nicht das Verschwinden des sogenannten Sozialismus, sondern der Untergang der Banane ist mein eigentlicher Utopieverlust.248 (Thomas Rosenlöcher: Der Untergang der Banane, 1992)
Die Bandbreite der Äußerungen zum Thema ‚Utopieverlust‘ ist unüberschaubar groß. In Kapitel 5.1.1.4 wurde bereits dargelegt, dass viele Intellektuelle in der DDR ihren Staat von innen heraus reformieren und als sozialistische Alternative etwa zur Bundesrepublik Deutschland aufbauen wollten. Die Vereinigung brachte das Ende dieser Hoffnungen, der sozialistischen Utopie doch noch ein Stück weit näher zu kommen. Der spätestens mit dem 18. März 1990 nicht mehr zu leugnende Verlust der Utopie mag eher Brüche im Schreiben vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller verursacht haben als die Wendeereignisse selbst. So besteht nach Auffassung von Brigitte Burmeister (1994) der „eigentliche Einschnitt für viele Autoren aus der ehemaligen DDR“ im „Wegfall des Sozialismus als geschichtlicher Alternative.“249 Nach der Vereinigung fand das Schlagwort vom ‚Utopieverlust‘ Eingang in die Mottos zahlreicher Veranstaltungen; die wichtigste dürfte das deutsch-deutsche Schriftstellertreffen Ende Oktober 1990 im Weimarer Klub der Intelligenz auf Einladung des Schriftstellerverbandes der DDR und des Verbandes deutscher Schriftseller (VS) gewesen sein. Es stand unter dem Motto „Ende der Utopie“ und war die erste größere offizielle Begegnung von Schriftstellern aus Ost und West nach der ‚Wende‘.250 5.1.4.1 Essays zum Thema Utopieverlust Bereits im Motto des oben erwähnten Schriftstellertreffens drückt sich die – ersatzlose – Verabschiedung der Utopie aus. Im Juni 1991 stellt Helga Königsdorf rückschauend fest: Der Traum von einer gerechteren Gesellschaft, die sozialistische Utopie, ist bei dem Versuch seiner Verwirklichung so sehr diskreditiert worden, daß man ihm heute nur schwer Gerechtigkeit widerfahren lassen kann. Man sollte jedoch nicht
248 249 250
Thomas Rosenlöcher: Der Untergang der Banane. In: ndl 40 (1992) 12; S. 167-170, S. 170. Brigitte Burmeister: Schriftsteller in gewendeten Verhältnissen. In: Sinn und Form 46 (1994) 4; S. 648-654, S. 651. Vgl. dazu Wulf Kirsten: Exkursion im Wiederholungsfalle. Auf den Spuren Friedrich Nietzsches. In: W.K.: Textur. Reden und Aufsätze. Zürich 1998, S. 137-157 [zuerst in: Zwielicht. Nietzsche-Stätten 1990. Weimar 1995]. Eine – kritische – lyrische Betrachtung dieses Treffens aus explizit weiblicher Perspektive findet sich bei Gisela Kraft: Dichterherrentreffen in Weimar. In: G.K.: West-östliche Couch. Zweierlei Leidensweisen der Deutschen. Noten und Abhandlungen. Berlin 1991, S. 106.
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vergessen, daß er historisch auch eine positive Funktion hatte. Denn auch eine Vision, die an sich nicht realisierbar ist, kann unter bestimmten Bedingungen eine Zugkraft in eine erwünschte Richtung haben. Und diese Utopie hatte großen Anteil am Widerstand gegen Faschismus und an der Entwicklung des Frühkapitalismus zu den sozialen Marktwirtschaften. Insbesondere an dem, was mit dem Wort „sozial“ ausgedrückt wird. Seine Überzeugungskraft gewann er unter anderem auch durch die Einfachheit des Vorgestellten. Gerade dies macht ihn aber für die Organisation einer modernen Gesellschaft ungeeignet.251
Das Problem des Utopieverlusts ist letztlich ein gesamtdeutsches, denn es stellt sich gleichermaßen für die ‚linken‘ Schriftsteller in der Bundesrepublik Deutschland. Peter Schneider hält Ende April 1990 fest: „Die politische Gestalt einer Menschheitsutopie […] erwies sich als nicht lebensfähig.“ Denn: „Wenn ein Experiment mit siebzig Jahren Laufzeit immer wieder scheitert, kommt als Fehlerquelle unvermeidlich beides in Betracht: die Durchführung des Experiments und die Ausgangshypothese.“252 Hans Magnus Enzensberger freut sich in Gangarten – Ein Nachtrag zur Utopie (1990), dass „der fliegende Teppich der Utopie“ denjenigen „unter den Füßen weggezogen“ wird, „die sich häuslich auf ihm eingerichtet haben“.253 Er konstatiert damit einen Abschied von der Utopie, der ihm jedoch schwer fällt. Seines Erachtens sei es „den Deutschen nicht um den geistigen Raum der Nation und nicht um die Idee des Sozialismus“ gegangen, „sondern um Arbeit, Wohnung, Rente, Lohn, Umsatz, Steuern, Konsum, Schmutz, Luft, Müll.“ Er vermisse „den aufrechten Gang“. Nun müsse man sich wohl in einem neuen Alltag einrichten, „der ohne Propheten auskommt.“254 Im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen der Intellektuellen über die deutsche Einheit äußerte er: „Was diese Diskussion bemerkenswert macht, ist gerade ihr Mangel an produktiver Substanz, ihr regressiver Zug, ihr ressentimentgeladener Ton, ihr Unvermögen, auf eine neue Situation einzugehen. Brauchbare Vorschläge hat sie nicht zu bieten.“255 Diese Haltung bringt Enzensberger auch in seiner Lyrik zum Ausdruck. In dem Band Zukunftsmusik (1991) ist die Aufbruchsstimmung nicht etwa mit einem politischen Programm verbunden, wie in dem gleichnamigen Gedicht deutlich wird: 251
252 253 254 255
Helga Königsdorf: Identität auf der Waage. In: H.K.: Aus dem Dilemma eine Chance machen. Aufsätze und Reden. Hamburg / Zürich 1991; S. 89-99, S. 97 [Rede in der Berliner Außenstelle der Stanford University, Juli 1991]. Peter Schneider: Man kann sogar ein Erdbeben verpassen. Plädoyer für eine Vergangenheitsbewältigung der Linken. In: Die Zeit v. 27.4.1990. Hans Magnus Enzensberger: Gangarten – Ein Nachtrag zur Utopie. Wenn ein Alltag anbricht, der ohne Propheten auskommt. In: FAZ v. 19.5.1990. Ebd. Ebd.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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[…] Pilgerscharen in der Fußgängerzone auf der Suche nach Identität und Südfrüchten. […]256
Der Dichter sitzt unterdessen „im Keller“: […] Nur im Keller der Dichter dichtet bei fünfzehn Watt nach wie vor vor sich hin, „um der Menschwerdung aufzuhelfen“. […]257
Fritz J. Raddatz beschäftigt sich im September 1990 in der Zeit unter dem Titel Die linke Krücke Hoffnung. Das Ende der Trierer Eschatologie oder: Die Angst der Intellektuellen vorm Utopie-Verlust258 mit dem „– eigenen? – Trotz, mit dem eine Utopie bewahrt werden soll.“ Er stellt fest: „Links war zumeist – eine Haltung; Resultat einer radikalen Analyse war es nicht“, um dann die Frage zu stellen: „Müssen wir diese wie immer benannte Utopieverordnung nicht als eine zum Gaukelbild zerronnene Illusion verabschieden?“ Dies bejaht er letztlich: Zwar „ging es sich besser“ „[m]it der linken Krücke Hoffnung“, doch sie habe sich schließlich als „Blindenstock“ erwiesen. Der nun zu verabschiedende Traum „wächst auf zum Alptraum – der ungebremsten, unkorrigierten Warengesellschaft, die sich selber frißt […].“259 Wie schwierig es war und ist, die durch den weit gehenden Verlust der sozialistischen Utopie entstandene Leerstelle auszufüllen, hat nicht erst die später so genannte „Ruck“-Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog gezeigt. In dem bereits 1992 auf Initiative von Marion Gräfin Dönhoff (1909-2002) entstandenen Manifest. Weil das Land sich ändern muß, stellen die Autoren fest: Nein und abermals nein: So haben wir uns weder die Bundesrepublik nach vier Jahrzehnten noch das befreite, endlich wiedervereinigte Deutschland vorgestellt. Wir hatten gehofft, das Ende der DDR, dieser lange ersehnte, einzigartige Mo-
256 257 258 259
Ders.: Aufbruchsstimmung. In: H.M.E.: Zukunftsmusik. Frankfurt a.M. 1991; S. 42f., S. 42. Ebd., S. 43. Fritz J. Raddatz: Die linke Krücke Hoffnung. Das Ende der Trierer Eschatologie oder: Die Angst der Intellektuellen vorm Utopie-Verlust. In: Die Zeit v. 14.9.1990. Ebd.
190
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ment, werde eine allgemeine Aufbruchstimmung zeitigen. Statt dessen macht sich resignierende Unlust breit. Die Bürger sind frustriert, Regierung wie Opposition ohne Elan und ohne Vision. […] Wir haben es satt, in einer Raffgesellschaft zu leben, in der Korruption nicht mehr die Ausnahme ist und in der sich allzu vieles nur ums Geldverdienen dreht. Es gibt Wichtigeres im Leben des einzelnen wie auch im Leben der Nation.260
Dieser schonungslosen Situationsbeschreibung folgen im Kapitel „Weil das Land sich ändern muß“ Ausführungen zu unterschiedlichen Bereichen und deren wechselseitigen Verbindungen. Hervorzuheben sind dabei Ökologie, Politik, Wirtschaft und deutsches Selbstverständnis – auch im Hinblick auf die Stellung Deutschlands in der Welt. Ein Jahr später erschien, abermals auf Initiative von Marion Gräfin Dönhoff, unter dem Titel Weil das Land Versöhnung braucht ein zweites Manifest, dessen Autoren sich vor allem mit der Frage des Umgangs mit den Akten des ehemaligen MfS auseinander setzen. Mit Hilfe dieser Akten werde primär die ‚Vergangenheitsbewältigung‘ betrieben – ein Vorgang, den die Gräfin Dönhoff in ihrem Vorwort als „Ent-Stasifizierung“261 bezeichnet. Weitere wichtige Essays über den Utopieverlust bzw. das Leben ohne sozialistische Utopie stammen von Peter Glotz (*1939): Der Irrweg des Nationalstaats (1990)262, Klaus Hartung (*1940): Neunzehnhundertneunundachtzig (1990)263, Thomas Schmid (*1945): Staatsbegräbnis (1990)264, Michael Schneider (*1943): Die abgetriebene Revolution (1990)265, Johano Strasser (*1939): Leben ohne Utopie? (1990)266, Joachim Fest (*1926): Der zerstörte Traum (1991)267, Bernd Giesen / Claus Leggewie (*1950): Experi260
261
262 263
264 265 266 267
Marion Dönhoff / Meinhard Miegel / Wilhelm Nölling / Edzard Reuter / Helmut Schmidt / Richard Schröder / Wolfgang Thierse / Ernst Ulrich von Weizsäcker: Ein Manifest. Weil das Land sich ändern muß. Erweiterte Neuausgabe. Reinbek 1992; S. 9-17, S. 9 u. 16f. Marion Gräfin Dönhoff: Vorwort. In: Marion Dönhoff / Peter Bender / Friedrich Dieckmann / Adam Michnik / Friedrich Schorlemmer / Richard Schröder / Uwe Wesel: Ein Manifest II. Weil das Land Versöhnung braucht. Reinbek 1993; S. 7-14, S. 9. Peter Glotz: Der Irrweg des Nationalstaats. Europäische Reden an ein deutsches Publikum. Stuttgart 1990. Klaus Hartung: Neunzehnhundertneunundachtzig. Ortsbesichtigungen nach einer Epochenwende. Frankfurt a.M. 1990 (Luchterhand Essay); vgl. vom selben Autor auch: Der große Radwechsel oder Die Revolution ohne Utopie. In: Nichts wird mehr so sein, wie es war. Zur Zukunft der beiden deutschen Republiken. Hrsg. von Frank Blohm und Wolfgang Herzberg. Leipzig 1990, S. 164-186. Thomas Schmid: Staatsbegräbnis. Von ziviler Gesellschaft. Berlin 1990. Michael Schneider: Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie. Berlin 1990. Johano Strasser: Leben ohne Utopie? Frankfurt a.M. 1990 (Luchterhand Essay). Joachim Fest: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters. Berlin 1991 (Corso bei Siedler).
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
191
ment Vereinigung (1991)268, Brigitte Seebacher-Brandt (*1946): Die Linke und die Einheit (1991)269, Friedrich Schorlemmer (*1944): Versöhnung mit der Wahrheit (1992)270 und Uwe Kolbe (*1957): Renegatentermine (1996).271 Zu nennen ist auch der von Thomas Grimm herausgegebene Sammelband Was von den Träumen blieb (1993)272. Die Mehrheit der Autoren sieht vor allem ein Vakuum, das an die Stelle der Utopie getreten sei. Friedrich Dieckmann (*1937) bildet hier die Ausnahme; in Unser Leben in der Utopie (1993) schreibt er: Zu einem Zeitpunkt, da einige meinungsbildende Feuilletons sich in schöner Einmütigkeit darauf verständigt hatten, daß es mit der Utopie, dieser fahrlässigen Gedankenhelferin zu allen möglichen Bankrotten, nun zu Ende sei, stieg mit aurorischer Verheißung ein neues Utopia aus dem umgepflügten Boden der Geschichte auf; in blühende Landschaft, so die Kundgabe, werde sich das geschundene und deformierte Ost-Land binnen weniger Jahre verwandeln, kraft neuer Ordnung und mit nachhelfender Magie eines Sparstrumpfs, den die Fee der Konjunktur goldprall gefüllt hatte. An dieser konkreten Verheißung zu deuteln, ihr gar zu mißtrauen, bedeutete jene Miesmacherei, die die Sache selbst in Gefahr brachte – eine Zukunft, die zum guten Gelingen nichts so sehr wie den guten Glauben brauchte, jene zuversichtliche Stimmung, die, wie die erstaunten Bewohner eines neuen Erdkreises vernahmen, den Wert des Geldes und die Höhe der Kurse mehr als alle Tatsachen bestimmte. Aus einem Traumreich waren diese Neubürger in ein anderes getreten; ein Utopia hatte dem andern die Klinke in die Hand gegeben. Es machte sich kenntlich dadurch, daß es sich als Nicht-Utopie setzte, als das Schlechthin-Wirkliche und außerdem wissenschaftlich Begründete, und auf die Utopie in dem kritisch insistierenden Sinn, der das Wesen echten utopischen Denkens ausmacht, einen Preis aussetzte, den der Verdächtigung. Nun ist auch diese andere Utopie schon verwelkt wie einst der Glaube an den Anbruch einer neuen Weltordnung, falls nur die Eigentumsverhältnisse geändert würden.273
Weiter heißt es bei ihm: 268 269 270
271
272 273
Bernd Giesen / Claus Leggewie (Hgg.): Experiment Vereinigung. Ein sozialer Großversuch. Berlin 1991. Brigitte Seebacher-Brandt: Die Linke und die Einheit. Berlin 1991 (Corso bei Siedler). Siehe v.a. Friedrich Schorlemmer: V. Auf der Suche nach der Welt von morgen. In: F.S.: Versöhnung mit der Wahrheit. Nachschläge und Vorschläge eines Ostdeutschen. München 1992, S. 279-351. Uwe Kolbe: Renegatentermine. Der individuelle Abschied von der sozialistischen Utopie. In: Das Vergängliche überlisten. Selbstbefragungen deutscher Autoren. Hrsg. von Ingrid Czechowski. Leipzig 1996, S. 13-37. Thomas Grimm: Was von den Träumen blieb. Eine Bilanz der sozialistischen Utopie. Vorwort von Heiner Müller. Berlin 1993. Friedrich Dieckmann: Unser Leben in der Utopie. Von der Niederlage der Projekte zum Prozeß der Vermittlung. In: Politik ohne Projekt? Nachdenken über Deutschland. Hrsg. von Siegfried Unseld. Frankfurt a.M. 1993; S. 175-199, S. 182f.; Hervorhebung im Original.
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Im Schoß des jonasgleich im Schlunde des Walfischs verschwundenen Landes verbirgt sich noch ein drittes Utopicum. Es ist das kühnste und fragilste aller denkbaren Elemente einer verborgenen Zukünftigkeit und untersteht von seiten der affirmativen Utopie denselben Warn- und Verbotstafeln: das Prinzip Volkssouveränität. Alle, die es erlebten, wissen: Die DDR war nie schöner als in ihrem Untergang. Das war nicht der Effekt, der sich dem Durstigen einstellt, wenn er die Quelle endlich erreicht hat, oder dem im Stau gefangenen Autofahrer, wenn die Normalität des Fahrens sich wiederherstellt. Sondern vergehend gelang dem monarchiegewordenen Sozialismus, zu realisieren, was ihm zu Gründerzeiten programmatisch vorgeschwebt war: das Absterben des Staates. Der wie ein eigenwilliges Kunstwerk von allen Wirklichkeitsbezügen abgelöste Staat verflüchtigte sich wie ein seinen Halteseilen entschwebender Luftballon; das erstaunt auf dem Boden der Tatsachen zurückbleibende Volk fand sich, ehe neue Mächte sich der Staatswaise annahmen, auf einem von Gewaltausübung phantastisch befreiten Plan. Nicht dieser chaosfreie Zustand wirklicher Anarchie aktivierte das Gewaltpotential der Asozialität, sondern erst der ihm folgende neuer Machtergreifung.274
5.1.4.2 Christoph Heins Parabel Kein Seeweg nach Indien (1990) Nicht erst aus der Vielzahl der oben erwähnten Essays wird deutlich, dass der Utopieverlust in Ost wie West eines der zentralen Themen der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist. Schon früh wird das Thema auch im Bereich der fiktionalen Literatur aufgegriffen, etwa von Christoph Hein (*1944) in dessen Erzählung Kein Seeweg nach Indien (1990).275 Eine Flotte ist unter der Führung des ‚Großen Kapitäns‘ unterwegs, um einen Seeweg in das als Paradies dargestellte Indien zu finden, doch, so der Anfang des Textes: Das Unternehmen stand von Beginn an unter einem schlechten Stern. Nur der kleinste Teil der Mannschaft war von der Vision des Großen Kapitäns überzeugt und erwartete tatsächlich, einen Weg nach Indien über das Meer zu finden. Dem Rest der Mannschaft blieb nach dem großen Krieg kaum eine andere Wahl: das Land war verwüstet, und wer nicht verhungern wollte, mußte anheuern. Und wer sich trotzdem sträubte, wurde gegen seinen Willen angeheuert. Er wurde überzeugt, wie der Große Kapitän sagte. In den Hafenspelunken sagte man, er wurde gepreßt.276
274 275
276
Ebd., S. 194. Christoph Hein: Kein Seeweg nach Indien. In: Freitag v. 30.11.1990, S. 3. Der Titel bezieht sich auf die Erzählung Der Seeweg nach Indien (1975) von Fritz Rudolf Fries; vgl. F.R.F.: Der Seeweg nach Indien. In: F.R.F.: Der Seeweg nach Indien. Erzählungen. Leipzig 1978, S. 7-19. Christoph Hein: Kein Seeweg nach Indien. In: Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder. Hrsg. von Lothar Baier. Frankfurt a.M. 1990; S. 13-19, S. 13.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
193
Im Lauf der ‚endlosen‘ Fahrt zeigt sich, dass der Kurs offensichtlich falsch ist: „Wut und Hoffnunglosigkeit griff um sich und erfaßte schließlich auch die Geduldigsten. Es kam zu Meutereien, erst auf einem der Schiffe, bald auch auf allen anderen.“277 Der Große Kapitän weigert sich jedoch, Kurskorrekturen vorzunehmen und lässt „die Aufstände rasch und hart beenden.“278 Ein Klima des Misstrauens macht sich breit: Einige Leute verschwanden pltözlich [sic] spurlos. An Bord kreisten die Gerüchte, und bald bestätigte es sich, daß der Kapitän einen Teil der Mannschaft damit beschäftigte, den anderen Teil zu überwachen. Schließlich mißtraute man einander, und mit dem Mißtrauen wuchs die Verzweiflung. Bei Nacht und Nebel flüchtete man von Bord. Der Große Kapiän ließ daraufhin die Schiffswachen verstärken und mit Waffen ausrüsten.279
Eines Morgens erschrickt der Große Kapitän, denn [a]uch er hielt nicht mehr Ausschau nach jenem Festland, das mit allen Schätzen dieser Welt gesegnet sein soll. Auch er, auch der Große Kapitän hatte – ohne es zu bemerken oder sich einzugestehen – es längst aufgegeben, danach zu suchen.280
In der Nacht darauf bricht ein Aufstand los, der erfolgreich ist; es kommt zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse, und die sofortige Rückkehr der Schiffe in den Heimathafen wird eingeleitet. Bei der Ankunft erkennen die reichen Bürger in der alten Heimat, „wie kaputt die Schiffe und wie ärmlich die Heimkehrer“281 sind. Furcht macht sich auf beiden Seiten breit; lediglich die Kaufleute jubelten noch und stiegen an Bord und verkauften dem Schiffsvolk lange entbehrte Waren zu Preisen, die kaum einer bezahlen konnte, und den billigen Tand, den in der Stadt keiner mehr haben wollte.282
Die Unterhändler der Stadt verhandeln mit den Kapitänen über die Bedingen [sic] der Übergabe. Die unerfahrenen Kapitäne verlangten, daß der Kampfruf jener Nacht, in der die Schiffe zur Wende klargemacht wurden, zu dem Artikel Nr. I des Vertrages gemacht wird: Wir sind das Volk. Aber die Unterhändler der Stadt rechneten ihnen vor, daß diese Forderung unbezahlbar sei, und so einigten sie sich schließlich darauf, den Artikel etwas zu verändern. Die Freiheit 277 278 279 280 281 282
Ebd., S. 14. Ebd. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd.
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und die Würde des Menschen, hieß nun der Artikel Nr. I, sind unantastbar, aber wer die Schiffe verläßt, verliert jeden Anspruch auf Suppe.283
Die Losung lautet nun: „Hinter dem Ozean liegt nicht das Paradies, sondern der Tod.“284 Im letzten Teil des Textes wird die Frage nach den ‚Schreibern an Bord‘ erhoben.285 Ihnen kam auf den Schiffen eine besondere Rolle zu; sie wurden „gelobt und geschätzt und auch überschätzt.“286 Neben als eher unbedeutend eingestuften linientreuen Schreibern gab es solche, die genötigt wurden, das Schiff unterwegs zu verlassen. Andere wurden für verrückt erklärt und eingesperrt, und viele bekamen ein Schreibverbot. Aber dennoch schrieben die Schreiber weiter. Sie beschrieben den tatsächlichen Zustand der Schiffe und die wirkliche Stimmung an Bord. […] So hielten sie die Unruhe wach und das Mißtrauen. […] Als die Mannschaft endlich die Schiffe wenden konnte, wurden auch die Schreiber eine ganze Nacht lang gefeiert als die unerschrockenen Chronisten der Narrenschiffe.287
Danach interessiert sich zunächst niemand mehr für die Schreiber. Einige von ihnen glauben fest daran, nur der Kurs der Schiffe sei falsch gewesen und hinter dem Ozean warte noch immer ein reiches Land auf seine Entdeckung. Und sie nannten es weiterhin Indien oder Amerika oder auch Utopia. Andere hielten dagegen, daß man so lange unterwegs war und nichts gefunden habe und daß hinter dem Ozean nichts anderes liege als die verzweifelte Hoffnung.288
Am Ende steht die Frage an die Schreiber, ob die Zeit auf den Schiffen nicht „eine verlorene“ war: […] dann lächelten sie und sagten, wir wurden gebraucht auf den Schiffen, und wir haben eine Erfahrung gemacht. Wir sind also reicher geworden. Denn alles, was man braucht, zum Leben und zum Schreiben, sind Liebe und Erfahrungen.289
Heins Text, den er als Antwort auf eine Umfrage der Time (New York) unter Schriftstellern aus der DDR über deren Rolle schrieb290, enthält 283 284 285 286 287 288 289 290
Ebd., S. 17. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 19. Christoph Hein: No Sea Route to India. In: Time v. 25.6.1990, S. 68; vgl. Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder. Hrsg. von Lothar Baier. Frankfurt a.M. 1990, S. 200.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
195
zahlreiche Parallelen zu den Verhältnissen in der DDR vor, während und nach der ‚Wende‘ und der Vereinigung. Die in diesem Zusammenhang relevanten Textpassagen wurden oben zitiert und bedürfen wohl kaum eines weiteren Kommentars. Der weitaus größere Teil des Textes setzt sich mit dem Verlust der Utopie auseinander und dient dabei zugleich der Hinführung auf die Frage nach der Rolle der „Schreiber“. Ihnen gilt Heins besonderes Augenmerk. Als große Widerstandskämpfer erscheinen sie hier freilich nicht – womit auch die oben erwähnte Umfrage beantwortet wäre.291 Die Schriftsteller sind in erster Linie „Chronisten“; sie erscheinen abgegrenzt von der „Mannschaft“, die den Hauptanteil am Umsturz trägt. Zudem sind vor allem sie es, die der Utopie nachtrauern bzw. diese aufrechterhalten wollen. Auch Wolfgang Hilbig (*1941) beschäftigt sich in zahlreichen Texten mit dem Utopieverlust. In Die elfte These über Feuerbach (1992) reist der Schriftsteller W. zu einer Podiumsdiskussion über das Thema „Utopie“ nach Leipzig. Eine Taxifahrt zum Veranstaltungsort bietet ihm Zeit zum Nachdenken. Dabei entfremdet sich der Protagonist zunehmend der Stadt, die er kaum wiedererkennt. Die Erzählung beginnt mit den Worten: Immer wieder abgelenkt von Umleitungsschildern, die vor den immer dichter sich reihenden Straßenaufrissen aufgestellt waren und auf verwirrende Umwege wiesen… vom Westen her wurde die Stadt von Baustellen förmlich aufgerollt, so schien es […].292
Mit der Entfremdung von der Stadt geht der Verlust der Utopie und damit auch des Diskussionsthemas einher. W. erkennt seine Situation und verlangt sich in der Nacht ab, einen Satz über Utopie zu formulieren. Die Lösung stellt die Marxsche elfte These über Feuerbach dar: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“293 Zu just diesen Veränderungen kommt es nun, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Folglich kann die Utopie nur in der Negation ‚stattfinden‘. W. gelangt deshalb schließlich zu der Erkenntnis, „daß 291
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Erstaunliche Parallelen zu Heins Erzählung weist ein Gedicht von Harald Gerlach (19402001) auf: In Flaschenpost (1984) ist ebenfalls eine Metaphorik des Wassers von zentraler Bedeutung; mindestens ebenso wichtig ist der Aspekt der Irrfahrt. Vgl. Harald Gerlach: Flaschenpost. In: H.G.: Nachricht aus Grimmelshausen. Gedichte. Berlin (DDR) / Weimar 1984, S. 79. Ähnlich auch Joachim Walthers kurzer Text Das Floß der Utopia. In: Nie wieder Ismus! Neue deutsche Satire. Hrsg. von Manfred und Christine Wolter. Berlin 1992, S. 126. Wolfgang Hilbig: Die elfte These über Feuerbach. In: W.H.: Grünes grünes Grab. Erzählungen. Frankfurt a.M. 1993; S. 125-149, S. 125. Karl Marx: [Thesen über Feuerbach]. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Karl Marx / Friedrich Engels: Werke. Band 3. Berlin (DDR) 1962 (MEW, 3); S. 533-535, S. 535; Hervorhebungen im Original.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
die Verneinung die notwendigste Form einer funktionierenden Sprache ist…“294 Letztlich bestimmt er damit indirekt auch die Aufgabe eines Schriftstellers. 5.1.5 Ein Stellvertreterkrieg: der ‚deutsch-deutsche Literaturstreit‘ Das Erscheinen von Christa Wolfs Erzählung Was bleibt löste einen in der Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur nahezu beispiellosen Literaturstreit aus.295 Die Zahl der ‚Beiträge‘ zu dieser Auseinandersetzung ist so hoch, dass im Rahmen dieser Darstellung nur die wichtigsten Grundzüge umrissen werden können. Die zum Teil umfangreichen Originaltexte sind in zwei Dokumentenbänden gut zugänglich; sie wurden herausgegeben von Thomas Anz (1991 / 1995) bzw. von Karl Deiritz und Hannes Krauss (1991).296 Anz bedauert, dass Christa Wolf nicht bereit war, Stellung zu nehmen: „Das Vorhaben, den Streit zu dokumentieren, erschien ihr geradezu als feindlicher Akt. Suspekt war ihr erst recht ein Band, der nicht in ihrem Verlag erscheinen sollte.“297 Auch Karl Deiritz und Hannes Krauss hatten nicht mehr ‚Glück‘. In beiden Bänden fehlt zudem ein Beitrag von Karl Heinz Bohrer, weil dieser darauf bestanden hatte, seinen Aufsatz „in der Exclusivität meiner Zeitschrift“ zu belassen.298 Während Deiritz und Krauss 294 295
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Wolfgang Hilbig: Die elfte These über Feuerbach. In: W.H.: Grünes grünes Grab. Erzählungen. Frankfurt a.M. 1993; S. 125-149, S. 146. Andreas Huyssen sieht den Literaturstreit gar als zweiten ‚Historikerstreit‘; vgl. A.H.: After the Wall: The Failure of German Intellectuals. In: New German Critique (1991) 52 (Special Issue on German Unification); S. 109-143, S. 125. Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M. 1995; Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder „Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge“. Analysen und Materialien. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Hamburg / Zürich 1991; ferner: Thomas Anz: Der Streit um Christa Wolf und die Intellektuellen im vereinten Deutschland. In: Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the Wall. Edited by Peter Monteath and Reinhard Alter. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38), S. 1-17; Werner Biechele: Das alles ist unsere Geschichte. Der deutsch-deutsche Literaturstreit und die Autoren. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40), S. 32-45; Wolfgang Schemme: „Das Großwild steht zum Abschuß frei“. Ein gesamtdeutscher Literaturstreit. In: Deutschunterricht 47 (1994) 5, S. 257-267; die wichtigsten Artikel finden sich auch in der Rubrik „Überblick und Debatte“ in: Deutsche Literatur 1990. Jahresüberblick. Hrsg. von Franz Josef Görtz, Volker Hage und Uwe Wittstock unter Mitarbeit von Katharina Frühe. Stuttgart 1991, S. 228-314. Der Fall Christa Wolf und der Literaturstreit im vereinten Deutschland. In: Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M. 1995; S. 7-28, S. 26. Karl Deiritz / Hannes Krauss: Ein deutsches Familiendrama. In: Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder „Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge“. Analysen und Materialien. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Hamburg / Zürich 1991; S. 7-12, S. 11.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
197
eine stärker wertende Vorgehensweise gewählt haben, steht bei Anz der dokumentarische Aspekt im Vordergrund; der von ihm herausgegebene Band enthält auch eine umfangreiche kommentierte Bibliografie. Mittlerweile liegen mehrere Versuche vor, den ‚Literaturstreit‘ in verschiedene Phasen einzuteilen; diese Ansätze unterscheiden sich allerdings stark voneinander.299 Das vorliegende Kapitel stellt den Versuch einer eigenen Einteilung dar, der den ‚deutsch-deutschen Literaturstreit‘ im engeren Sinne von späteren deutsch-deutschen Auseinandersetzungen, etwa der ‚Stasi-Debatte‘, abgrenzt. Die Wurzeln des ‚deutsch-deutschen Literaturstreits‘ liegen noch vor der ‚Wende‘: Im Juni 1987 greift Hans Noll Christa Wolf mit den Worten an: „Die große Lebenslüge der Christa Wolf besteht darin, daß sie sich einem politischen System zur Verfügung stellte, dessen Amoralität ihr bewußt ist.“300 Einige Monate später hält die Autorin eine Laudatio auf Thomas Brasch, der in jenem Jahr den Kleist-Preis erhält. Der Text wird von Marcel Reich-Ranicki scharf kritisiert, der in der FAZ unter der Überschrift Macht Verfolgung kreativ? vor einer Überschätzung der „DDRStaatsdichterin“ warnt und ihr zudem Unglaubwürdigkeit und Heuchelei vorwirft. Reich-Ranicki behauptet: „Mut und Charakterfestigkeit gehören nicht zu den hervorstechenden Tugenden der geschätzten Autorin Christa Wolf.“301 Eine infolge dieses Artikels begonnene Diskussion findet ihre
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Vgl. z.B. Paul Konrad Kurz: Es geht um mehr als Christa Wolf. In: P.K.K.: Komm ins Offene. Essays zur zeitgenössischen Literatur. Frankfurt a.M 1993, S. 280-289. Kurz unterscheidet vier „Stufen“ des Literaturstreits: „Erste Stufe: Der Streit um Christa Wolf“, „Zweite Stufe: Der Streit über den Wert der ehemaligen DDR-Literatur“, „Dritte Stufe: Das Reizwort: ‚Gesinnungsästhetik‘“, „Vierte Stufe: Kritik an den Intellektuellen“. Wolfgang Emmerich geht dagegen von „drei Etappen“ aus, die völlig anders gesetzt werden; vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 462-477: „Die erste (und wichtigste) Etappe war die Kontroverse um Christa Wolfs Erzählung ‚Was bleibt‘, die im Juni 1990 begann und sich, durch den Titel von Wolfs Text erleichtert, zu einer Debatte um die Frage, was denn von der DDRLiteratur überhaupt bleibe und wodurch sie moralisch legitimiert sei, ausweitete. Den zweiten Schritt markiert die Enthüllung von Sascha Andersons Spitzeldiensten für das Staatssicherheitsministerium durch Wolf Biermann im Oktober 1991 – und der Streit um die moralische Glaubwürdigkeit der Prenzlauer-Berg-Szene […]. Die dritte Etappe, ein reichliches Jahr später, knüpfte an beide voraufgegangenen Kontroversen an, insofern es einerseits um zwei reformsozialistische Autoren der älteren Generation, nämlich Christa Wolf und Heiner Müller, zum andern um die ‚Stasi‘-Problematik ging. Ein weiteres Mal, und diesmal noch pointierter, wurde die Autormoral auf den Prüfstand gestellt.“ (Ebd., S. 464; Hervorhebungen im Original) Hans Noll: Die Dimension der Heuchelei. Ernüchternd und entlarvend: Aufsätze und Reden der „DDR“-Autorin Christa Wolf. In: Die Welt v. 4.7.1987. Marcel Reich-Ranicki: Macht Verfolgung kreativ? Polemische Anmerkungen aus aktuellem Anlaß: Christa Wolf und Thomas Brasch. In: FAZ v. 12.11.1987.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Fortsetzung in der Fernsehsendung Das literarische Quartett vom 30. November 1989.302 Zu einer ersten Phase der Eskalation kommt es auf Grund der Rezensionen von Wolfs Erzählung Was bleibt303 durch Volker Hage und Ulrich Greiner in der Zeit vom 1. Juni 1990 sowie von Frank Schirrmacher in der FAZ vom 2. Juni 1990. Während Volker Hage Wolfs erzählerische Leistung würdigt und den Text als „wunderbare, kunstvolle Prosa“304 bezeichnet, äußert sich Greiner vernichtend: Für ihn ist da nur „dieser angenehme Christa-Wolf-Sound, diese flaue Unverbindlichkeits-Melodie in der apart formulierten Sprache“. Greiners Text ist von Beginn an polemisch: Das ist ja ein Ding: Die Staatsdichterin der DDR soll vom Staatssicherheitsdienst der DDR überwacht worden sein? Christa Wolf, die Nationalpreisträgerin, die prominenteste Autorin ihres Landes, SED-Mitglied bis zum letzten Augenblick, ein Opfer der Stasi?305
Er deutet den Text als Wichtigtuerei Christa Wolfs: Was will die Dichterin uns damit sagen? […] will sie sagen: Seht her, ihr armen, von der Stasi um Ansehen und Zukunft gebrachten Mitbürger und ehemaligen Genossen, auch ich wurde überwacht, auch ich war ein Opfer, ich bin keine Staatsdichterin, ich bin eine von euch?306
Vor allem jedoch wendet Greiner sich gegen den Zeitpunkt der Veröffentlichung: Daß Christa Wolf diesen Text in der Schublade behielt, ist ihr gutes Recht. Daß sie ihn jetzt veröffentlicht, verrät einen Mangel nicht an Mut, denn Gefahren drohen keine mehr, sondern an Aufrichtigkeit gegen sich selbst und die eigene Geschichte, einen Mangel an Feingefühl gegenüber jenen, deren Leben der SEDStaat zerstört hat.307
Vor dem 9. November 1989 „wäre die Publikation dieses Textes eine Sensation gewesen, die sicherlich das Ende der Staatsdichterin Christa Wolf und vermutlich ihre Emigration zur Folge gehabt hätte. Danach
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Vgl. dazu Thomas Anz (Hg.): Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. München 1991, S. 46-51. Der Text war ab dem 5. Juni 1990 im Buchhandel erhältlich. Volker Hage: Kunstvolle Prosa. In: Die Zeit v. 1.6.1990. Ulrich Greiner. Mangel an Feingefühl. In: Die Zeit v. 1.6.1990. Ebd. Ebd.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
199
ist die Veröffentlichung nur noch peinlich.“308 Solche Überlegungen sind jedoch reine Spekulation: Selbst wenn Wolf den Text hätte veröffentlichen wollen – das Druckgenehmigungsverfahren hätte er wohl kaum erfolgreich passiert. Zudem stellt sich die Frage, ob die politische Lesart nicht wesentliche ästhetische Dimensionen des Textes ausklammert, denn weshalb sollte ein Text mit dem Ende der dargestellten Zustände per se bedeutungslos werden? Die zahlreichen Anschuldigungen, mit denen sich die Autorin plötzlich konfrontiert sieht, beziehen sich in den seltensten Fällen auf eine detaillierte Kenntnis des Textes oder legen diesen höchst polemisch aus. Heimo Schwilk (1991) glaubt im Sinne eines Resümees formulieren zu können: „Was bleibt“ ist eine ganz und gar unprätentiöse Konfession, Bekenntnis und Beichte zugleich, Klartext einer Autorin, die ihr eigenes, beredtes Schweigen nicht mehr ertragen kann: „So sprachen wir immer, am wahren Text vorbei.“309
Matthias Altenburg bezeichnet Wolf als „[g]esamtdeutsche Heulsuse“310, Marcel Reich-Ranicki bereits früher abwertend als „heilige Kuh“.311 Frank Schirrmacher zufolge werde „ihr schriftstellerischer Rang weit überschätzt“.312 Er behauptet: Tatsächlich spricht denn auch alles dafür, daß sie unfähig war, die moderne Gesellschaft als kompliziertes System konkurrierender Gruppen zu verstehen. Sie hat die Gesellschaft, in der sie lebte, allem Anschein nach immer nur als größere Variante der kleinbürgerlichen, autoritär aufgebauten Familie verstanden.313
Auch Schirrmacher vertritt die Auffassung, dass der Publikationszeitpunkt des Buches unangemessen sei. Wäre es vor der ‚Wende‘ veröffentlicht worden, hätte es „der Staatssicherheit wohl Schaden zufügen können. Jetzt ist
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Ebd.; Hervorhebung im Original; ähnlich argumentiert auch Hajo Steinert: Vermeintliche Atmosphäre der Bedrohung. „Was bleibt“, die neue Erzählung der DDR-Autorin Christa Wolf: Für diese Prosa ist alles zu spät. In: Die Weltwoche v. 14.6.1990. Heimo Schwilk: Nachdenken über Christa W. Staatsdichterin, Staatssicherheit, Staatsverdruß: Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ ist das schonungslose Protokoll einer späten Einsicht. In: Rheinischer Merkur v. 22.6.1990. Matthias Altenburg: Gesamtdeutsche Heulsuse. In: Stern Nr. 26 v. 21.6.1990. Marcel Reich-Ranicki; zit. nach Hajo Steinert: Vermeintliche Atmosphäre der Bedrohung. „Was bleibt“, die neue Erzählung der DDR-Autorin Christa Wolf: Für diese Prosa ist alles zu spät. In: Die Weltwoche v. 14.6.1990. Frank Schirrmacher: „Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten“. Auch eine Studie über den autoritären Charakter: Christa Wolfs Aufsätze, Reden und ihre jüngste Erzählung Was bleibt. In: FAZ v. 2.6.1990. Ebd.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
es bedeutungslos, anachronistisch und hat Züge des Lächerlichen.“314 Die Antwort auf die Frage, weshalb das Buch der Staatssicherheit eigentlich Schaden hätte zufügen können, bleibt Schirrmacher schuldig. Offenbar waren mit einem Schlag sämtliche Verdienste Christa Wolfs vergessen. Man warf der Autorin erneut vor, sie habe die Unterzeichnung der Biermann-Petition später zurückgezogen, was definitiv falsch ist. Vielmehr geht diese von Marcel Reich-Ranicki bereits 1987 erhobene Anschuldigung auf ein von der Staatssicherheit gestreutes Gerücht zurück, demzufolge Christa Wolf sich „in geheimer Aussprache“ von ihrer Unterschrift distanziert hätte.315 Sowohl Reich-Ranicki als auch Frank Schirrmacher machten sich damit im Nachhinein zu Gehilfen einer von der Staatssicherheit ausgehenden Zersetzungstaktik, zumal Christa Wolf und ihr Mann Gerhard von 1968 bis mindestens zum 11. Oktober 1989 vom Staatssicherheitsdienst überwacht wurden.316 Im Zusammenhang mit den Ausschlüssen aus dem Schriftstellerverband vom 7. Juni 1979317 war Wolf unter den 50 Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich gegen die Ausschlüsse aussprachen: Am 10. Juli hatte sie „einen ernstgemeinten, von schwerer Sorge diktierten Appell“318 verfasst, in dem sie darum bittet, „diese Ausschlüsse nicht zu bestätigen“319, denn: „Ein solcher Ausschluß so vieler Kollegen – ohne Beispiel in der Geschichte des Verbandes – wird verhängnisvolle Folgen haben: nicht nur für die Betroffenen, auch für den Verband, für unser kulturelles Leben, für jeden einzelnen von uns.“320 In ihrem Brief fordert sie den Dialog mit den ausgeschlossenen Kollegen und weist zudem auf Probleme im Bereich der Kulturpolitik hin: In den letzten Jahren hat eine Reihe von Kollegen – auch ich – Briefe oder andere Schriftstücke an verschiedene Redaktionen, Organisationen, Partei- und Staats314 315
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Ebd. Christa Wolf: Eine Auskunft. In: BZ v. 21.1.1993. Schon damals hatte Hans Altenhein, der damalige Leiter des Luchterhand-Verlages, dieser Falschaussage Marcel Reich-Ranickis widersprochen: „Christa Wolf hat zu keiner Zeit ihre Unterschrift unter die Biermann-Petition von 1976 zurückgezogen.“ (zit. nach Wolfram Schütte: Aufgemerkt, also! Prügel für Christa Wolf & Sicherheitsverwahrung für Brasch. In: FR v. 14.11.1987). Vgl. Christa Wolf: Eine Auskunft. In: BZ v. 21.1.1993; vgl. auch Judith M. Sallis: The Search for Permanence in a Disintegrating World: Christa Wolf’s Was bleibt. In: Monteath, Peter / Alter, Reinhard (Hgg.): Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38); S. 109-123, S. 111. Vgl. dazu Joachim Walther / Wolf Biermann / Günter de Bruyn / Jürgen Fuchs / Christoph Hein / Günter Kunert / Erich Loest / Hans-Joachim Schädlich / Christa Wolf (Hgg.): Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979. Reinbek 1991 (rororo aktuell). Christa Wolf: Brief vom 10. Juni 1979; zit. nach Ebd.; S. 116f., S. 117. Ebd., S. 116. Ebd.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
201
stellen gerichtet, um ihre Bedenken über bestimmte Entwicklungstendenzen in der Kulturpolitik zu äußern. Nie wurde auch nur eine Seite eines solchen Schriftstückes – sofern es zur Veröffentlichung bestimmt war – in unserer Presse gedruckt, nie die Richtigstellung oder Verteidigung eines Autors auf öffentliche Angriffe gebracht, nie aus einem dieser Briefe öffentlich zitiert.321
Die negativen Äußerungen, denen Wolf sich ausgesetzt sieht, zeichnen sich vielfach durch einen ausgesprochen verletzenden Stil aus. Häufig liegen auf dieser Ebene auch Ansatzpunkte derjenigen, die sie verteidigen. Stellvertretend seien genannt: Günter Grass322, Walter Janka323, Lew Kopelew324, der damalige Minister für Bildung und Wissenschaft der DDR, Hans Joachim Meyer, Paul Parin325, Wolfram Schütte326 und – mit Blick auf die Künstler in der DDR insgesamt – Walter Jens.327 In seiner Rede zur Verleihung des Titels Officier des Arts et des Lettres an Christa Wolf am 12. September 1990 äußert sich auch der französische Kulturminister Jack Lang zum Thema:
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Ebd. Vgl. Günter Grass: Bericht aus Altdöbern. In: FR v. 30.6.1990; [Interview mit Hellmuth Karasek und Rolf Becker]: Nötige Kritik oder Hinrichtung? SPIEGEL-Gespräch mit Günter Graß [sic] über die Debatte um Christa Wolf und die DDR-Literatur. In: Der Spiegel 44 (1990) 29 v. 16.7.1990, S. 138-143. Walter Janka fragt in einem offenen Brief: „[…] warum verschweigen alle ihre ‚Kritiker‘, daß Frau Wolf schon scharfe Kritik an dem mißbrauchten SED-Staat übte, als noch Herr Kohl dem Herrn Honecker einen aufwendigen Staatsempfang bereitet hat – und die SPD-Führung mit den miserabelsten SED-Politbüro-Mitgliedern über Verständigung und Zusammenarbeit in schöner Harmonie konferierte?“ (Walter Janka über Christa Wolf [Brief an die Red., Kleinmachnow, 24.8.90]. In: europäische ideen (1990) 74, S. 11). Vgl. Für Christa Wolf. Ein Brief von Lew Kopelew an die Zeit, die FAZ und die Welt. In: taz v. 14.6.1990. Vgl. Paul Parin: Die Vernichtung einer Schriftstellerin. Zur Medienkampagne gegen Christa Wolf. In: Wochenzeitung v. 6.7.1990. Vgl. Wolfram Schütte: Reiß:Wolf. Zu einem Eil-Verfahren beim Umgang mit der DDRLiteratur. In: FR v. 8.6.1990. Vgl. Walter Jens: Getrennte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft. Plädoyer gegen die Preisgabe der DDR-Kultur. Fünf Forderungen an die Intellektuellen im geeinten Deutschland. In: SZ v. 16. / 17.6.1990 [Eröffnungsrede zum 3. Bertelsmann-Colloquium in Potsdam am 11.6.1990]. Jens fordert: „Nein, Freunde, nicht diese Töne: Ein wenig mehr Sensibilität statt des Spruchkammer-Denkens […]; ein Anflug von Behutsamkeit […]. Bedachtsamkeit ist angezeigt […].“ Die Angriffe bezeichnet er als „große Treibjagd, das Halali von Kritikern, die auftreten, als seien sie zugleich bewährte Widerstandskämpfer und Moraltheologen!“ Er wendet sich gegen „[d]ie Hatz, vom West-Sessel aus, auf Künstler in der DDR mit ihrem vermeintlichen Opportunismus, ihren Träumen von unverzichtbaren Traditionen im eigenen Land und ihrem Bekenntnis zu einer Geschichte, die nicht nur von Niedertracht, sondern auch von Würde bestimmt sei.“ Die Jagdmetaphorik findet ihren Höhepunkt in der Erkenntnis: „[…] das Großwild steht zum Abschuß frei […].“
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Die Veröffentlichung Ihres letzten Buches, „Was bleibt“, hat in einigen Zeitungen zu einer Polemik geführt, deren Echo bis nach Frankreich gedrungen ist. Ich möchte Ihnen heute abend sagen, daß uns diese Kampagne als ungerechtfertigt erscheint, ungerechtfertigt, weil dieses Buch, ein sehr schönes Werk der Erinnerung, des Schmerzes und der Ironie, nicht wie ein Leitartikel beurteilt werden kann, wie eine Petition oder ein Pamphlet. Ungerechtfertigt auch, weil die Neunmalklugen von heute leichtes Spiel haben, wenn sie die denunzieren, die, obwohl sie das Schlimmste erdulden, ihre Jugendideale nicht aufgeben; aber diese Neunmalklugen, was wissen die von der täglichen Wirklichkeit im realen Sozialismus, was wissen sie von der Schwierigkeit zu schreiben, was wissen sie von der Gefahr, die in den Worten liegt? […] und wir wissen, daß wir auf Sie zählen können, liebe Christa Wolf, wenn wir das Schweigen zurückweisen, das Ihnen gewisse Leute vielleicht auferlegen wollen …328
Um den Text selbst geht es im weiteren Verlauf der Debatte kaum mehr. In erschreckender Konsequenz wird die in der DDR entstandene Literatur für wertlos erklärt, in der Regel bar aller Differenzierungsversuche, denn betroffen waren „fast alle Bücher und Autoren aus der DDR: Exilanten und Antifaschisten der ersten Stunde ebenso wie die Systemreformer der mittleren Jahre, die Ewig-Gestrigen unter den Ausgebürgerten und die grün eingefärbten Alternativen vom Prenzlauer Berg.“329 Hans Noll meint, es sei falsch gewesen, die „Literatur der privilegierten DDR-Schriftsteller […] in der Bundesrepublik für eine glaubhafte, authentische Quelle“ zu halten.330 Und Hellmuth Karasek und Rolf Becker geben in einem Spiegel-Gespräch mit Günter Grass im Juli 1990 zu: Wir alle, das heißt die westdeutsche Kritik, haben jahrelang auf DDR-Bücher einen Bonus angewandt, wir sagten uns, Literatur dort entsteht unter bestimmten schwierigen Voraussetzungen, die Autoren können das meiste nicht direkt sagen, sie müssen Umwege wählen.331
Auf der zweiten Stufe der Auseinandersetzung wird also gefragt: „Ist die DDR-Literatur im Westen vorab mit Blick auf systemkritische Inhalte
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Jack Lang: Rede zur Verleihung des Titels „Officier des Arts et des Lettres“ an Christa Wolf. In: ndl 38 (1990) 12; S. 146-148, S. 147f. Alexander Stephan: Ein deutscher Forschungsbericht 1990 / 91: Zur Debatte um das Ende der DDR-Literatur und den Anfang einer gesamtdeutschen Kultur. In: The Germanic Review LXVII (1992) 3; S. 126-134, S. 129. Hans Noll: Das lächerliche Pathos alter Schwärmer. In den Köpfen der prominenten DDR-Literaten ist die Mauer noch immer nicht gefallen. In: Die Welt v. 12.5.1990. [Interview mit Hellmuth Karasek und Rolf Becker]: Nötige Kritik oder Hinrichtung? SPIEGEL-Gespräch mit Günter Graß [sic] über die Debatte um Christa Wolf und die DDR-Literatur. In: Der Spiegel 44 (1990) 29 v. 16.7.1990; S. 138-143, S. 141.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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gelesen worden, d.h. unter Überbewertung moralischer Kategorien und Unterbewertung ästhetischer Maßstäbe.“332 Waren es in der ersten Phase vor allem moralische Argumente, die auf die vermeintlich mangelnde Integrität Christa Wolfs und anderer abzielten, treten nun zumindest auf den ersten Blick auf ästhetische bzw. stilistische Aspekte zielende Argumente in den Vordergrund. Die dritte Phase des Streits wird von Frank Schirrmacher eingeläutet, der in der FAZ vom 2. Oktober 1990 einen Artikel mit dem Titel Abschied von der Literatur der Bundesrepublik veröffentlicht. Darin heißt es zu Beginn: „Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland wurde dreiundvierzig Jahre alt. Wie jener in der DDR steht auch ihr das Ende bevor. Nicht heute vielleicht, aber morgen.“ Schirrmachers Hauptthese lautet: „Nicht nur die Literatur der DDR sollte eine Gesellschaft legitimieren und ihr neue Traditionen zuweisen; auch die Literatur der Bundesrepublik empfand diesen Auftrag und führte ihn gewissenhaft aus.“333 Gemeint sind damit zunächst vor allem die Autoren der Gruppe 47. Fortgeführt wird die Debatte durch Wolfram Schütte in der Frankfurter Rundschau vom 20. Oktober 1990334, Ulrich Greiner in der Zeit vom 2. November 1990335 sowie Karl Heinz Bohrer im Merkur.336 Wie bereits am Titel von Schirrmachers Artikel deutlich wird, erfolgt nun die Einbeziehung der westdeutschen Literatur; der Streit entwickelt sich zu einer Grundsatzdiskussion über die gesamte deutschsprachige Nachkriegsliteratur. Ulrich Greiner bringt im November den in Analogie zu Max Webers „Gesinnungsethik“ gebildeten Begriff der „Gesinnungsästhetik“ in die Diskussion ein, diese „Gesinnungsästhetik“ soll für beinahe alle westdeutschen Texte der fünfziger bis achtziger Jahre gegolten haben – also gleichermaßen für Alfred Andersch, Heinrich Böll, Erich Fried, Günter Grass, Siegfried Lenz, Martin Walser und andere. Er bezeichnet sie als das gemeinsame Dritte der glücklicherweise zu Ende gegangenen Literatur von BRD und DDR. Glücklicherweise: Denn allzu sehr waren die Schriftsteller in bei-
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Paul Konrad Kurz: Es geht um mehr als Christa Wolf. In: P.K.K.: Komm ins Offene. Essays zur zeitgenössischen Literatur. Frankfurt a.M. 1993; S. 280-289, S. 282. Frank Schirrmacher: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Neue Pässe, neue Identitäten, neue Lebensläufe: Über die Kündigung einiger Mythen des westdeutschen Bewußtseins. In: FAZ v. 2.10.1990. Wolfram Schütte: Auf dem Schrotthaufen der Geschichte. Zu einer denkwürdig-voreiligen Verabschiedung der „bundesdeutschen Literatur“. In: FR v. 20.10.1990. Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik. Noch einmal: Christa Wolf und der deutsche Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz. In: Die Zeit v. 2.11.1990. Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik am Ausgang ihrer Unmündigkeit. In: Merkur 44 (1990) 10 / 11 (Sonderheft 500), S. 851-865; Ders.: Kulturschutzgebiet DDR? In: Ebd., S. 10151018.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
den deutschen Hälften mit außerliterarischen Themen beauftragt, mit dem Kampf gegen Restauration, Faschismus, Klerikalismus, Stalinismus et cetera. Diejenigen, die ihnen diesen Auftrag gaben, hatten verschiedene Namen: das Gewissen, die Partei, die Politik, die Moral, die Vergangenheit.337
Die Gesinnungsästhetik „läßt der Kunst nicht ihr Eigenes, sondern sie verpflichtet sie (wahlweise) auf die bürgerliche Moral, auf den Klassenstandpunkt, auf humanitäre Ziele oder neuerdings auf die ökologische Apokalypse.“338 An Realsatire grenzt in diesem Zusammenhang Jürgen Mantheys Behauptung, Bertolt Brecht sei ein ‚infantiler Staatsdichter‘ gewesen339; ebenfalls in der Zeit unterstellt Klaus Harpprecht Heinrich Mann in einer Rezension von dessen erstmals erschienener Essaysammlung Mut „erzdeutsch-unpolitische Naivität“.340 Sowohl Schirrmacher als auch Greiner berufen sich auf neuere ästhetische Theorieansätze zur Moderne, etwa von Karl Heinz Bohrer341, und postulieren die Notwendigkeit einer ausschließlich ästhetischen Begründung von Literatur: eine Auffassung, die unter anderem Sartres Konzept der ‚littérature engagée‘ und verwandten Formen zuwiderläuft. Konkret auf den ‚Wende‘-Kontext bezogen stellt Bohrer in einer Glosse die titelgebende – rhetorische – Frage nach einem „Kulturschutzgebiet DDR?“342, dessen Einrichtung mit Unterstützung der westdeutschen Intellektuellen er zu befürchten scheint und die er selbstverständlich ablehnt. Den westdeutschen Intellektuellen, allen voran Günter Grass und Walter Jens, wirft er vor, dass bei ihnen künstlerische Kreativität und intellektuell wissenschaftliche Originalität ersetzt wurden durch die politische Rhetorik eines um seinen Einfluß bangenden kulturellen Milieus aus den fünfziger und sechziger Jahren, das außerhalb der ihm
337 338 339
340
341
342
Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik. Noch einmal: Christa Wolf und der deutsche Literaturstreit. Eine Zwischenbilanz. In: Die Zeit v. 2.11.1990. Ebd. Vgl. Jürgen Manthey: Staatsdichter im Kinderland. Über den Infantilismus in Bertolt Brechts Brot- und Suppen-Theater. Aus Lebensangst verschrieb sich Brecht einem System, in dem alles ein für alle Mal festgelegt war. In: Die Zeit v. 6.3.1992. Klaus Harpprecht: Bruder Heinrich. Lange Zeit galt er als der politisch wachere Kopf der Gebrüder Mann – nicht allein die Essaysammlung „Mut“ belegt, daß das ein Irrtum ist: Er überließ sich der Sprache der Agitation. In: Die Zeit v. 21.2.1992. Vgl. v.a. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M. 1981; aber auch die mittlerweile erschienenen Schriften zur Thematik: Ders.: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a.M. 1994; Ders.: Das Ethische am Ästhetischen. In: Merkur 54 (2000) 12, S. 1149-1162. Ders.: Kulturschutzgebiet DDR? In: Merkur 44 (1990) 10 / 11 (Sonderheft 500), S. 10151018.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
205
nahestehenden Institutionen zwischen PEN-Club und einigen Kulturinstitutionen intellektuell langweilt.343
Zudem greift er die gesamte DDR-Intelligenz scharf an: Ich glaube nicht, daß die verlorenen Leben und Karrieren der DDR-Intelligenz zu mehr ausreichen als einer schmerzvollen und notwendigen psychologischen Einzel- oder Gruppenanalyse.344
Bei Christa Wolfs Erzählung handele es sich schlicht um „Gesinnungskitsch“345; „[e]ine aufgeklärte Gesellschaft kennt keine Priester-Schriftsteller.“346 Deshalb werde auch Wolf sich daran gewöhnen müssen, was Literatur in einer säkularisierten Gesellschaft darstellt: keine Droge für Unterdrückte, kein quietistisches Labsal. Vielmehr verschärfter Anspruch an die imaginative Potenz […].347
Hans Joachim Schädlich (1990) fasst zusammen: Die literarische Debatte der jüngsten Zeit scheint sich letzten Endes wieder einmal um das Verhältnis von Politik und Literatur zu drehen. Nicht gerade selten taucht die Frage nach den Aufgaben der Literatur auf. Weniger vorsichtige Fachleute zählen die Aufgaben der Literatur einfach auf. Dabei rangiert die politische Aufgabe der Literatur auf den vorderen Plätzen. Es fragt sich nur – wieder einmal –, ob die Literatur tatsächlich eine politische Aufgabe hat.348
Ziel dieser groß angelegten, im Übrigen nicht nur die Literatur betreffenden349, Rundumschläge war es offenbar, den Weg frei zu machen für eine neue, gesamtdeutsche Literatur, „die wieder mehr Wert auf sich selbst als 343 344 345 346 347 348
349
Ebd., S. 1015. Ebd. Ebd., S. 1016. Ebd. Ebd., S. 1017. Hans Joachim Schädlich: Über Dreck, Politik und Literatur [1990]. In: H.J.S.: Über Dreck, Politik und Literatur. Aufsätze, Reden, Gespräche, Kurzprosa. Berlin 1992; S. 25-29, S. 28. „For example, Siegfried Gohr, director of the Ludwig Museum in Cologne, refused to display any paintings from the GDR because he did not consider them art, and the former East German painter Georg Baselitz replied when asked about East German painters such as Bernhard Heisig or Wolfgang Mattheuer: ‚No artists, no painters. None of them have ever painted a picture.‘“ (Karl-Heinz J. Schoeps: Intellectuals, Unification, and Political Change 1990: The Case of Christa Wolf. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1); S. 251277, S. 274).
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
auf irgendwelche humanistischen oder aufklärerischen Traditionen legt.“350 Um Christa Wolf und Was bleibt ging und geht es also – aus heutiger Perspektive und im Wissen um die Dimension des Streits – letztlich nur am Rande. Es mag zunächst verwundern, dass ausgerechnet sie und nicht etwa in politischer Hinsicht weitaus verdächtigere Autoren als ‚Opfer‘ herhalten mussten.351 Bereits relativ früh wird deutlich, dass es sich beim Literaturstreit nicht zuletzt um eine Art Stellvertreterkrieg handelt, wie Uwe Wittstock (1990) ausführt: Der Literaturbetrieb ist also geradezu prädestiniert dazu, die aufgebrochenen moralischen Konflikte der Allgemeinheit auszufechten. Er dient als Modell, an dem vor aller Augen und bei geringem Risiko durchgespielt werden kann, was an der ganzen Bevölkerung zu exekutieren sich niemand leisten kann und will. Dies vor allem rechtfertigt den deutsch-deutschen Schriftstellerstreit, auch wenn er mitunter lächerliche, peinliche, inquisitorische Züge annimmt […].352
350
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352
Alexander Stephan: Ein deutscher Forschungsbericht 1990 / 91: Zur Debatte um das Ende der DDR-Literatur und den Anfang einer gesamtdeutschen Kultur. In: The Germanic Review LXVII (1992) 3; S. 126-134, S. 130. Vgl. Ernst Keller: Fallen idols – German intellectuals and writers facing the demise of the GDR. In: Monteath, Peter / Alter, Reinhard (Hgg.): Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38); S. 35-50, S. 41; vgl. dazu auch die dargestellte Auffassung Hermann Kants in: Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M. 1995, S. 108f. Günter de Bruyn stellt in diesem Kontext fest: „Daß ausgerechnet Christa Wolf als böses Beispiel herhalten mußte, entbehrt jeder Gerechtigkeit und jeder Logik und ist nur als Folge ihres großen Erfolgs zu begreifen, der zum Denkmalssturz reizt.“ (Günter de Bruyn: Jubelschreie, Trauergesänge. Die Nachwirkungen der Zensur führen zu einer literarischen Klimavergiftung – in beiden Teilen Deutschlands. Verbotene Bücher verlieren den Heiligenschein des Märtyrertums. Denn so war es doch: Wer ein schlechtes verbotenes Buch auch schlecht nannte, wurde zum Komplizen des Zensors; wer ein gutes verbotenes Buch lobte, geriet in den Verdacht, es nur wegen des Verbots zu tun. In: Die Zeit v. 7.9.1990) Und Helga Königsdorf äußerte auf einer Tagung dazu: „Eine Königin köpfen ist effektiver als einen König köpfen“ (Helga Königsdorf auf der Women in German Studies Conference (23.-26.10.1990 in Minneapolis / Minnesota); zit. nach Anna K. Kuhn: ‚Eine Königin köpfen ist effektiver als einen König köpfen‘: The Gender Politics of the Christa Wolf Controversy. In: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Proceedings of a Conference held by Women in German Studies 9-11 September 1993 at the University of Nottingham. Edited by Elizabeth Boa and Janet Wharton. Amsterdam / Atlanta 1994 (German Monitor 31); S. 200-215, S. 205). Uwe Wittstock: Die Dichter und ihre Richter. Literaturstreit im Namen der Moral: Warum die Schriftsteller aus der DDR als Sündenböcke herhalten müssen. In: SZ v. 13. / 14.10.1990 (Feuilleton-Beilage).
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
207
Wittstock schließt mit der Feststellung: „Es geht nicht um die Literatur, sondern um eine exemplarische Abrechnung mit exemplarischen Lebensläufen. Die Dichter sind Stellvertreter.“353 Auch wenn er mit dem Attribut ‚deutsch-deutsch‘ versehen wurde, war der Literaturstreit in erster Linie eine westdeutsche Angelegenheit, die – zumindest in der Anfangsphase – an ostdeutschen Autorinnen und Autoren ausgetragen wurde. Ostdeutsche Zeitungen hielten sich mit eigenen Kommentaren weit gehend zurück. Frauke Meyer-Gosau (1999) sieht die Debatte auch als Versuch der Modernisierung und des Generationswechsels, dem sich in den westdeutschen Feuilletons nicht viel mehr als eine nur mühsam und argumentationsschwach hinhaltende Gegenbewegung der Befürworter eines seit den fünfziger Jahren tradierten Literaturkonzeptes entgegenstellte.354
Damit ist eine weitere Ebene des Stellvertreterdaseins angesprochen. Eine literarische Reaktion auf ihre Behandlung im Zuge des Literaturstreits könnte Christa Wolfs Erzählung Nagelprobe (1991) sein355, die sie für den Katalog zu der Ausstellung Aufbruch (1991 / 92) von Günther Uecker schrieb.356 Der Text beginnt mit einem Traumbild, das unter anderem mittelalterliche Foltermethoden heraufbeschwört: Ich habe in einem Raum gesessen, denke ich, oder erzähle ich jemandem, den ich noch nicht kenne, da sind von beiden Seiten, genau genommen auch von vorn und von hinten, also von allen vier Seiten, Nägel auf mich zugewachsen, ob Sie es glauben oder nicht, es waren Leute da, hundert vielleicht, also ein Auditorium, dem ich etwas vortragen mußte, während ich mich insgeheim fragte, wie weit
353 354
355
356
Ebd.; Hervorhebung im Original. Frauke Meyer-Gosau: Modernisierung, Generationswechsel, Erleichterung. Zehn Jahre Literatur und literarische Debatten seit der Wende. In: Heinrich-Böll-Stiftung / Lothar Probst (Hgg.): Differenz in der Einheit. Über die kulturellen Unterschiede der Deutschen in Ost und West. 20 Essays, Reden und Gespräche. Berlin 1999; S. 197-207, S. 200. Vgl. dazu auch: Karl-Heinz J. Schoeps: Intellectuals, Unification, and Political Change 1990: The Case of Christa Wolf. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1); S. 251-277, S. 268f.; Barbara Sørensen: 3.5. Nagelprobe als Reaktion Christa Wolfs auf den deutsch-deutschen Literaturstreit. In: B.S.: Sprachkrise und Utopie in Christa Wolfs Texten nach der Wende. Die Krise der Intellektuellen im wiedervereinigten Deutschland. Kopenhagen / München 1996 (Publications of the Department of Languages and Intercultural Studies, Aalborg University, Vol. 16 / Text & Kontext, Sonderreihe, Band 38), S. 84-94 sowie Claire Baldwin: „Nagelprobe“: On German Trials. In: Colloquia Germanica 27 (1994) 1, S. 1-11. Christa Wolf: Nagelprobe. In: Günther Uecker: Aufbruch. Werke 1986-1991. St. Gallen [1992], S. 30-36.
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diese Nägel, da sie nun einmal die Lein-Wände durchbrochen hatten, also durch sie hindurchgeschlagen worden waren, sich noch herauswagen würden.357
Die evozierte Atmosphäre ist also die einer außerordentlichen und zugleich unkalkulierbaren Bedrohung, der sich die Ich-Erzählerin ausgesetzt sieht. Zu ihren „frühesten Schreckensvorstellungen“ gehören die Nageltonne, in der die böse Frau den Abhang hinuntergerollt wird, in den Fluß hinein […]; oder etwa jene menschlichen Formen nachgebildete eiserne Mulde, in die das Opfer oder eben der zu Verhörende hineingezwungen wurde, so daß vom Deckel her durch eine sinnreiche Vorrichtung nagelspitze Spieße allmählich auf ihn zubewegt werden konnten […], bis er aussagewillig war und sich schuldig bekannte, oder die Frau, die nun endlich bereit war einzugestehen, daß sie es als Hexe mit dem Bösen getrieben hatte […].358
Es dürfte nicht sonderlich ergiebig sein, die Ich-Erzählerin vordergründig mit Christa Wolf zu identifizieren. Zu berücksichtigen ist auch, dass Ueckers Ausdrucksform Nagelbilder sind und der Text damit einen thematischen Bezug zu Ueckers Kunstwerken aufweist. Dennoch mag die Atmosphäre der Bedrohung literarischer Ausdruck der Gefühlswelt einer Autorin sein, die mit irrationalen Argumenten angegriffen wird. Für diese Lesart sprechen auch die Überlegungen der Erzählerin über Formen von Nägeln und über deren Zugehörigkeit zu bestimmten ‚Köpfen‘: Manche Nägel aber haben keinen Kopf. Oder manche, sicher auch ich, gebe ich zu, haben einen hohen Nagel im Kopf. Nämlich man lernt nie aus über die Formen von Dünkel und Selbstdünkel, sage ich. Ich lerne nie aus. Oder manche treffen den Nagel auf den Kopf. Manche treffen immer jeden Nagel auf den Kopf. Oder sie treffen unfehlbar jeden Kopf. Unfehlbar immer jeden anderen Kopf, denke ich. Manche sind unfehlbar, sage ich.359
Im Mittelpunkt stehen damit auch Attacken, gegen die eine Verteidigung kaum möglich ist, schon gar nicht auf rationaler Ebene. Wesentlich ist dabei weniger die Frage nach der Basis für diese Angriffe als die Frage der stets zurückbleibenden, vor allem psychischen Folgen für die Angegriffene. Der Text schließt mit einem Gedicht, das in geringfügiger Abweichung bereits
357 358 359
Ebd., S. 30. Ebd. Ebd., S. 31.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
209
am 26. Mai 1990 – also vor dem Erscheinen von Was bleibt – niedergeschrieben wurde360 und die mangelnde Ausweglosigkeit den Angriffen gegenüber zum Ausdruck bringt. Der Titel spielt auf die gleichnamige Schrift von Ernst Bloch an: Prinzip Hoffnung Genagelt ans Kreuz Vergangenheit. Jede Bewegung treibt die Nägel ins Fleisch.361
Lediglich verwiesen sei darauf, dass Bildwahl, Stimmung und Veröffentlichungsort – eine 1994 anlässlich des 65. Geburtstages von Christa Wolf erschienene Anthologie – die Vermutung nahe legen, dass Jürgen Rennert sich in seinem Akrostichon auf den oben zitierten Text bezieht: Charismatisch festgenagelt. Hosianna. Steinigt sie. Res integra. Alles hagelt In die Gärten. Vormärzfrüh Singen, Sagen und Soufflieren, Textlos leben, widerstehn Aus dem Wieder. Retardieren, Wachen, schlafen, Menschen sehn, Ortend, wortend, ohne Trauer, Liebe, Hoffnung, Haß und Furcht, Frei und kontrovers auf Dauer …362
Im Hinblick auf Wolf ist mit Ursula Homann (1990) zusammenfassend zu fragen: Woher nehmen Kritiker eigentlich das Recht, über die politischen und persönlichen Entscheidungen eines Menschen in einer schwierigen Zeit zu Gericht zu sitzen und von gesicherten Positionen aus, andere aufzufordern, mutig zu sein, und ihnen
360
361 362
Christa Wolf / Helga Schröder: [ohne Titel]. In: C.W. / H.S.: Was nicht in den Tagebüchern steht. Berlin 1995, ohne Seitenangabe. Hier heißt es: „Angenagelt / ans Kreuz Vergangenheit“; diese Fassung enthält auch keine Satzzeichen. Christa Wolf: Nagelprobe. In: Günther Uecker: Aufbruch. Werke 1986-1991. St. Gallen [1992]; S. 30-36, S. 36. Jürgen Rennert: Akrostichon. In: Ein Text für C.W. Berlin 1994, S. 171; Hervorhebungen im Original.
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Verlogenheit vorzuwerfen, wenn sie es nicht sind? Dem Blick von außen entgeht manches.363
Homann gibt weiterhin zu bedenken: Jedoch auch die Schriftsteller und Intellekktuellen [sic] der Bundesrepublik kommen nicht umhin, ihre eigenen Defizite zu bedenken und sich mit ihren bisherigen Einstellungen, Versäumnissen und Irrtümern zu befassen, vor allem dann, wenn sie mit dem Projekt des Sozialismus geliebäugelt und infolgedessen die DDR nie so gesehen haben, wie sie wirklich war, nämlich als eine Karikatur marxistischer Ideale. Man wird sich also auch bei westdeutschen Autoren erkundigen müssen, wie hoch ihr Anteil bei der Erhaltung und Stabilisierung der DDR gewesen sei. Ganz unschuldig dürften sie ebenfalls nicht sein an der langen Dauer des zweiten deutschen totalitären Sündenfalls.364
Stattgefunden haben diese Selbstbefragungen im Westen jedoch kaum; man hielt sich zurück und schwieg und / oder lenkte von den mit der eigenen Person verbundenen Schwierigkeiten ab. 5.1.6 ‚Geist und Macht‘ – Staatssicherheit und Literatur Das dichterische Wort besaß im offiziellen Verständnis gesellschaftliche Wirkungsmacht – hätte man es sonst überwacht?365 (Brigitte Burmeister: Schriftsteller in gewendeten Verhältnissen, 1994)
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gehört zu den dunkelsten Einrichtungen der DDR – nicht zuletzt, weil es noch weit über deren formales Ende hinaus Wirkungen zeitigt: Jürgen Fuchs zufolge hat die Stasi ein „Auschwitz in den Seelen“ verursacht366; eine ähnliche Auffassung formuliert die Psychologin Ursula Plog: „Am Ende der DDR standen zwar keine Bilder von Massengräbern und Internierungslagern, wohl aber Hunderttausende von zerstörten Seelen.“367
363 364 365 366 367
Ursula Homann: So bitte nicht! Ab- und Aufrechnungen in Ost und West. In: Der Literat 32 (1990) 9; S. 245-248, S. 246. Ebd. Brigitte Burmeister: Schriftsteller in gewendeten Verhältnissen. In: Sinn und Form 46 (1994) 4; S. 648-654, S. 652. Jürgen Fuchs; zit. nach Frank Schirrmacher: Verdacht und Verrat. Die Stasi-Vergangenheit verändert die literarische Szene. In: FAZ v. 5.11.1991. „Immer auf der richtigen Seite stehen“. Psychologin Ursula Plog über die Verhaltensmuster von Stasi-Zuträgern. In: Der Spiegel 49 (1995) 33 v. 14.8.1995 (SPIEGEL-Gespräch); S. 62-64, S. 62.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
211
Dem MfS unterstanden 15 Bezirksverwaltungen; diesen waren wiederum 219 Kreis- und Objektdienststellen untergeordnet. Schwer zu überblicken ist weniger die Zahl der Hauptamtlichen Mitarbeiter, die für 1989 / 90 auf über 90 000 geschätzt wird, sondern die der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM): 1988 soll sie bei rund 173 000 gelegen haben.368 Es ist kaum verwunderlich, dass der Staatssicherheitsdienst schon bald nach der ‚Wende‘ zur am intensivsten erforschten Institution der DDR wurde. Mittlerweile sind mehrere Einzeluntersuchungen, auch von Schriftstellern, erschienen – meist unter besonderer Berücksichtigung spezieller Aspekte dieses Forschungsgebietes.369 Die ausführlichste Darstellung über das Verhältnis und die Verbindungen von Staatssicherheit und Literatur stammt von Joachim Walther und kam 1996 erstmals heraus.370 Walther ist Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung der Gauck- bzw. Birthler-Behörde und dort zuständig für das Gebiet Literatur und Staatssicherheit. Von ihm stammen auch einige literarische Texte zum Thema Staatssicherheit, stellvertretend genannt sei der 1990 geschriebene Text Woyzeck in Amerika.371 Weitere Publikationen zum Thema ‚Staatssicherheit und Literatur‘ von anderen Autoren sind in großer Zahl erschienen372, können hier aber nicht erschöpfend referiert werden. Walther (1997 / 1999) teilt die „Geschichte der Überwachung, Beeinflussung und Unterwanderung der DDR-Literatur“373 durch das MfS in drei Phasen ein: 368
369
370 371 372
373
Vgl. dazu: David Gill / Dieter Sailer: Jeder Nachbar ein Spitzel? Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. In: Informationen für die Truppe 38 (1994) 6; S. 30-37, S. 32. Vgl. Jürgen Fuchs: „… und wann kommt der Hammer?“ Psychologie, Opposition und Staatssicherheit. Berlin 1990; Klaus Behnke / Jürgen Fuchs (Hgg.): Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Mit Beiträgen von: Mitchell G. Ash, Wanda von Baeyer-Katte, Klaus Behnke, Karin Elmer, Jürgen Fuchs, Halldór Hauksson, Edwin Kratschmer, Herbert Loos, Hans-Joachim Maaz, Helmut Müller-Enbergs, RudiKarl Pahnke, Ursula Plog, Christian Pross, Andreas Schmidt, Annette Simon, Sonja Süß, Edith Wolf. Hamburg 1995. Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Durchgesehene Ausgabe. Berlin 1999. Ders.: Woyzeck in Amerika [1990]. In: J.W.: Verlassenes Ufer. Prosa. Leipzig 1994; S. 189-213. Z.B.: Wolfgang Bergsdorf: Literaten und Denunzianten. In: Die politische Meinung 37 (1992) 271, S. 89-95; diplomatisch getreue Auszüge aus den Akten von Christa Wolf (S. 18-22) und Hans Joachim Schädlich (S. 23-26) sind auch veröffentlicht in: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993. Joachim Walther: „Kosmonauten der stillen Erkundung“. Schriftsteller und Staatssicherheit. In: Günther Rüther: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997; S. 283-302, S. 286.
212 – – –
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eine frühe Phase von 1950-1963, eine mittlere Phase von 1963-1976 und eine letzte Phase von 1976-1989.374
In der frühen Phase war noch keine eigene Abteilung oder Diensteinheit für den Kulturbetrieb im Allgemeinen bzw. den Literaturbetrieb im Besonderen zuständig. 1969 änderte sich dies mit der Einrichtung der Hauptabteilung (HA) XX / 7 und der ensprechenden Referate in den Bezirksverwaltungen des MfS; dieser Bereich, in dem 1989 40 Hauptamtliche und 350 Inoffizielle Mitarbeiter arbeiteten375, steht heute im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Frank Schirrmacher (1995) vertritt die Auffassung, „daß sich die Enttarnung und Entlarvung von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern vorwiegend auf den Bereich der Künste konzentriert hat.“376 Mit dieser Angabe dürfte Schirmacher allerdings lediglich im Hinblick auf eine breite Öffentlichkeitswirkung Recht haben; schließlich sind in der Politik Enttarnungen nach wie vor an der Tagesordnung. Die letzte Phase setzte mit den Auswirkungen des Entspannungsprozesses ein und kulminierte nach der Biermann-Ausbürgerung, in deren Folge 1978 bei der HA XX / 7 erstmals ein Referat eingerichtet wurde, das bis 1982 die beiden Schwerpunktaufgaben „Verlagswesen“ und „Zentraler Schriftstellerverband“ der DDR bearbeitete. Im Verlauf der achtziger Jahre nahmen das Referat IV der HA XX / 7 und die Referate 7 bei den Bezirksverwaltungen sowie die Hauptabteilung XX / 9 den Kampf gegen die „politische Untergrundtätigkeit“ (Stasi-Kürzel: PUT) im Literaturbereich auf.377
An Methoden der Staatssicherheit hebt Walther (1997) vor allem hervor: – „[d]as ‚Besetzen von Schlüsselpositionen‘ mit Inoffiziellen Mitarbeitern oder offiziellen Kontaktpersonen“, – das „‚Zurückdrängen des öffentlichkeitswirksamen Einflusses‘“; konkret bedeutete dies Eingriffe in die Kontakte zwischen Produzent und Rezipient, also zwischen Autor und Leser, etwa durch das Verhindern von Publikationen oder Auftritten, aber auch das Steuern oder Verhindern von Rezensionen378, 374
375
376 377
378
Vgl. Ebd., S. 286f.; vgl. dazu detailliert Ders.: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Durchgesehene Ausgabe. Berlin 1999, S. 169-220. Vgl. Ders.: „Kosmonauten der stillen Erkundung“. Schriftsteller und Staatssicherheit. In: Günther Rüther: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997; S. 283-302, S. 287. Frank Schirrmacher: Wir und die Einheit. In: Die politische Meinung 40 (1995) 311, S. 55-63, S. 60. Joachim Walther: „Kosmonauten der stillen Erkundung“. Schriftsteller und Staatssicherheit. In: Günther Rüther: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997; S. 283-302, S. 286f. Ebd., S. 287.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
213
– „[d]ie Methode des Zersetzens“ als „eine der wichtigsten und am häufigsten angewandten MfS-Methoden der siebziger und achtziger Jahre.“379 Die Richtlinie Nr. 1 / 76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (1976) verzeichnet unter Punkt 2.6.2. die „Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung“ im Einzelnen: Bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung sind: – systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben; – systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen; – zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen im Zusammenhang mit bestimmten Idealen, Vorbildern usw. und die Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive; – Erzeugen von Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen durch zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen einzelner Mitglieder.380
Hinzu traten: – die Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, Telegramme, Telefonanrufe usw.; kompromittierende Fotos, z.B. von stattgefundenen oder vorgetäuschten Begegnungen; – die gezielte Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen einer Gruppe, Gruppierung oder Organisation; – gezielte Indiskretionen bzw. das Vortäuschen einer Dekonspiration von Abwehrmaßnahmen des MfS; – die Vorladung von Personen zu staatlichen Dienststellen oder gesellschaftlichen Organisationen mit glaubhafter oder unglaubhafter Begründung.381
Das Spektrum der „Bearbeitungsmöglichkeiten“ eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin reichte dabei von einer Sicherheitsüberprüfung bis zur Anlage eines Operativen Vorgangs (OV), der letzten Stufe vor einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren mit oder ohne Inhaftierung des oder der Betroffenen.382 Eine besondere Rolle spielten die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM)383, 1985 offiziell definiert als Bürger der DDR oder Ausländer, der sich aus positiver gesellschaftlicher Überzeugung oder anderen Beweggründen bereit erklärt hat, konspirativ mit dem MfS zusammenzuarbeiten, um die gesellschaftliche Entwicklung vor allen subversiven Angriffen des Feindes zuverlässig zu schützen, die innere Sicherheit der DDR 379 380 381 382 383
Ebd., S. 288. Richtlinie 1 / 76, S. 47f.; zit. nach Ebd., S. 289. Ebd., S. 48; zit. nach Ebd. Vgl. dazu Ebd., S. 289-293. Der Begriff Inoffizieller Mitarbeiter löste 1968 den Begriff Geheimer Informator (GI) ab.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
allseitig zu gewährleisten und zur weiteren Stärkung der sozialistischen Staatengemeinschaft beizutragen. Die IM sind die Hauptkräfte des MfS im Kampf gegen den Feind.384
Der Stellenwert der IM für das Funktionieren des Apparates lässt sich bereits an dem oben erwähnten Zahlenverhältnis zwischen ihnen und den Hauptamtlichen Mitarbeitern ablesen. Die Motive, als IM tätig zu werden, können nach Walther (1997) vor allem mit folgenden Schlagwörtern umrissen werden: – „Utopismus / Idealismus“ – Walther zufolge „das häufigste Motiv der Selbstverführung“, – „Einsicht in die Notwendigkeit“, – „Streben nach Anerkennung“, – „Spiel, Lust und ‚revolutionäre Ungeduld‘“, – „Macht über Menschen“, – „Karrierestreben“ und – „Angst“.385 Bei aller Widersprüchlichkeit des umfangreichen Aktenmaterials lässt sich erkennen, dass viele Autorinnen und Autoren, Künstler und Intellektuelle als Unsicherheitsfaktoren galten: Sie waren in besonderem Maße von Kontrollmaßnahmen des Staates im weiteren und der Staatssicherheit im engeren Sinne betroffen. Veröffentlicht sind mittlerweile zahlreiche Auszüge aus den Stasi-Akten einzelner Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Basis auch für diese Publikationen ist das am 29. Dezember 1991 in Kraft getretene Stasi-UnterlagenGesetz (StUG)386, das unter anderem die Möglichkeit der Akteneinsicht regelt. Grob zu unterscheiden sind ‚Täter-‘ und ‚Opfer-Akten‘; einige Beispiele werden im Folgenden vorgestellt. 384
385
386
Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit“. Hrsg. von Siegfrid Suckut. 3. Auflage. Berlin 2001 (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik; 5), S. 196. Zu den „Besonderheiten ‚literarischer‘ IM“ vgl. Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Durchgesehene Ausgabe. Berlin 1999, S. 564-659. Joachim Walther: „Kosmonauten der stillen Erkundung“. Schriftsteller und Staatssicherheit. In: Günther Rüther: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997; S. 283-302, S. 295-299; vgl. dazu ausführlicher Ders.: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Durchgesehene Ausgabe. Berlin 1999, S. 608-618. Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Deomokratischen Republik vom 20. Dezember 1991. In: Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1991, Teil I, Nr. 67, S. 2272ff.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Eine der ersten veröffentlichten ‚Opfer‘-Akten war die unter der ArchivNr. 1434 / 77 abgelegte Akte X / 514 / 68 von Reiner Kunze, erschienen 1990 in Auszügen unter dem Titel Deckname „Lyrik“.387 ‚Zuständig‘ für Kunze war die Bezirksverwaltung Gera des Ministeriums für Staatssicherheit, wo eine zwölfbändige Akte mit 3491 Blatt geführt wurde. Angelegt wurde diese am 16. September 1968, beendet am 19. Dezember 1977. Hauptziel der Observationen war es offensichtlich, ‚Beweise‘ zu sammeln, um den Autor wegen „staatsgefährdender Hetze“ (§106 StGB der DDR), „Spionage“ (§97 StGB), „Sammlung von Nachrichten“ (§98 StGB), „staatsfeindlicher Verbindungen“ (§100 StGB) und „Staatsverleumdung“ (§220 StGB) überführen zu können. Die in erster Linie dazu eingeleiteten Maßnahmen waren die des Psychoterrors durch Rufmord, die Ablehnung von Lesungen, das Abhören von Telefongesprächen sowie die Kontrolle der Post.388 Um entsprechend gezielt vorzugehen, beschaffte sich die Stasi sogar Kunzes Krankenunterlagen im Schleizer Kreiskrankenhaus.389 An Kunzes Akte wird auch deutlich, wie die Stasi versuchte, Freunde und Bekannte als Spitzel anzuwerben: Die Ehefrau des GMS [Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit; F.Th.G.] „K.“ [in diesem Fall der Hausvertrauensmann] brachte zum Ausdruck, daß ihr das etwas peinlich sei, einen Menschen, den sie bisher hochgeschätzt habe, zu „bespitzeln“, und daß sie ihm (Kunze) nicht mehr ehrlich in die Augen schauen könnte.390
Der Anwerber äußerte dazu: Mit Unterstützung ihres Ehemannes wurde ihr klargemacht, daß die Maßnahmen, die wir zur Abwehr von Angriffen gegen unsere humanistische Gesellschaftsordnung treffen, doch nichts mit der im Kapitalismus praktizierten Bespitzelung fortschrittlicher Kräfte zu tun habe. K. stelle sich mit seinen antisozialistischen Machwerken gegen unsere sozialistische Gesellschaft und verdiene es nicht, von ihr geschätzt und geachtet zu werden. Ihr Mann sagte: „Mutti, wir dürfen uns an dem, was Kunze tut, nicht mitschuldig machen. Er ist kein Mensch unserer Gesellschaft, bei dem dürfen wir keine Skrupel haben.“ Man merkte, daß die Frau des GMS innerlich mit sich rang … Beide gaben ihre Zustimmung, ihre Wohnung uns zur Verfügung zu stellen und die vorgesehenen Maßnahmen zu unterstützen.391
Einer der Informanten über Kunze war übrigens dessen langjähriger Freund Manfred (heute: Ibrahim M.) Böhme – eine für Kunze verständlicherweise 387
388 389 390 391
Deckname „Lyrik“. Eine Dokumentation von Reiner Kunze. Frankfurt a.M. 1990. Zum ‚Fall‘ Kunze vgl. auch Peter Graves: White poems and black days. The case of Reiner Kunze. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995, S. 274-285. Vgl. Ebd., S. 24, 30-32, 47, 67-69, 91, 94f. Vgl. Ebd., S. 55-58. Ebd., S. 74; Hervorhebung im Original. Ebd.; Hervorhebung im Original.
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schwer zu ertragende Erkenntnis; vielleicht auch deshalb enthält der Band ein gesondertes Dossier über Böhme.392 Einen vergleichbaren Vertrauensbruch erlebte Hans Joachim Schädlich, der erfuhr, dass er von seinem Bruder bespitzelt wurde. Aus Hermann Kants (IM „Martin“) 2254 Blatt in acht Bänden umfassender ‚Täter‘-Akte veröffentlichte 1995 Karl Corino (*1942) einige Auszüge. Corinos Nachforschungen zufolge wurde Kant seit Sommer 1957 als Kontaktperson im Ministerium für Staatssicherheit geführt, seit 1963 als Geheimer Informator (GI).393 Nach 1976 wurde er nicht mehr als IM geführt, da er aufgrund seines Aufstiegs in die Berliner Bezirksleitung der SED, der schon zwei Jahre zuvor erfolgt war, nicht länger inoffizieller Mitarbeiter des MfS sein konnte. Von Genossen, die in der Hierarchie so hoch kletterten, durfte die Truppe des Generals Mielke keine IM-Berichte mehr anfordern, sie durfte sie nicht mehr zu Treffs in konspirative Wohnungen bestellen, die Benutzung von Decknamen war zu unterlassen.394
Seine Akte wurde aber bis mindestens 1984 weiter geführt. Die tendenziöse Darstellung Corinos relativiert sich in der vergleichenden Lektüre mit anderen Texten. So enthält Klaus Schlesingers Essay Die Akte (1993) eine Passage, die im Zusammenhang mit den 1979 erfolgten Ausschlüssen aus dem Schriftstellerverband der DDR (von denen Schlesinger selbst betroffen war) aufschlussreich ist: Eine Notiz, die die umstrittene Rolle Hermann Kants betrifft, möchte ich der Öffentlichkeit allerdings nicht vorenthalten. Da berichtet der IM „Herz“ über Kants Reaktion auf Hermlins Rede, der gegen die Ausschlüsse plädiert und die Versammlung danach verlassen hatte. Zitat: „In der Pause der Versammlung gab es Schwierigkeiten durch Hermann Kant. Er fühlte sich vom Beitrag Hermlins beeindruckt und machte zwei Vorschläge: 1. nicht abstimmen zu lassen, weil das Kräfteverhältnis im Saal angeblich nicht zu ihren Gunsten stünde oder 2. um Mehrheit zu erreichen, wollte er damit Zwang ausüben, daß er sein Amt zur Verfügung stellt.“ Schon damals hatten wir den Eindruck, daß Kant sich in seiner Rolle als Versammlungsleiter nicht gerade wohl fühlte, und das taktische Pausengeplänkel, das hier festgehalten ist, korrespondiert mit unserem damaligen Urteil: daß er zwar die Regie geführt, das Stück aber nicht angesetzt hatte.395 392 393 394
395
Vgl. Ebd., Anhang: „Ich tue meine Arbeit wie bisher“, S. 113-124. Bezeichnung für die späteren Inoffiziellen Mitarbeiter (IM). Karl Corino: Zuverlässig, verschwiegen, einsatzbereit. IM Martin alias Hermann Kant als Mitarbeiter der Stasi. In: K.C. (Hg.): Die Akte Kant. IM „Martin“, die Stasi und die Literatur in Ost und West. Reinbek 1995 (rororo aktuell); S. 9-53, S. 45. Klaus Schlesinger: Die Akte. In: ndl 41 (1993) 8; S. 103-123, S. 122.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
217
Im gleichen Jahr wie Reiner Kunze veröffentlichte Erich Loest in Der Zorn des Schafes396 Teile seiner Akten, im Jahr darauf folgten in Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze397 weitere Auszüge. Loest gelangte auf ungewöhnlichem Weg an die in dem zuletzt genannten Band veröffentlichten Akten: Bei einem Besuch in Leipzig wurden ihm von ehemaligen Mitarbeiterinnen der Stasi rund 300 Seiten Aktenkopien angeboten, die sich als echt erwiesen. Der gesamte Umfang beträgt 31 Heftmappen à 300 Blatt, die zwischen 1975 und 1981 entstandene Aufzeichnungen beinthalten. Zu Beginn von Der Zorn des Schafes stellt Loest seine Heimat und seine Familie vor, dann werden Stasi-Akten einmontiert – ein Vorgehen, das dem Buch dokumentarischen Charakter verleiht: Loests private Geschichte wird zum Dokument. Der Band geht aber weit über den Rahmen einer kommentierten Dokumentation hinaus, denn der Autor reflektiert die Stasi-Recherchen genau und stellt auch Fragen, etwa nach der eigenen Identität: […] was war ich denn nun, ehemaliger Leipziger oder neuer Bundesdeutscher, Deutsch-Deutscher oder Gesamtdeutscher, ging der Riß mitten durch mich hindurch oder hatte in mir die Vereinigung schon stattgefunden?398
So aufschlussreich die in Auszügen veröffentlichten Stasi-Akten sind, so sehr provoziert auch die getroffene Auswahl immer wieder Einspruch. Margarete Hannsmann etwa wendet sich gegen Reiner Kunzes Buch Deckname „Lyrik“; sie gibt – im Zusammenhang mit einem sie selbst betreffenden Beispiel – zu bedenken: Aus 12 Bänden mit insgesamt 3 491 Blatt hat Kunze ein Büchlein mit 144 Seiten gemacht. Mit Bedacht ausgewählt; selektiert: geschont, wen er schonen wollte, „in die Pfanne gehauen“ (Corinosche Diktion), wen er treffen wollte.399
Eine Auswahl birgt immer gewisse Risiken in sich. Das mag einer der Gründe sein, weshalb zahlreiche Autorinnen und Autoren es vorziehen, sich in meist kürzeren essayistischen Einzeltexten mit ihren Spitzeln auseinander zu setzen: Hans Joachim Schädlich tut dies in Literaturwissenschaft und Staatssicherheitsdienst (1992)400, Uwe Kolbe in Willkommen der neuen 396 397 398 399 400
Erich Loest: Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk. Künzelsau / Leipzig 1990. Ders.: Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze. Göttingen / Leipzig 1991. Ders.: Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk. Künzelsau / Leipzig 1990, S. 335f. Margarete Hannsmann: Ein Brief. In: ndl 39 (1991) 11; S. 154-159, S. 158 (ndl-Tagebuch). Hans Joachim Schädlich: Literaturwissenschaft und Staatssicherheitsdienst. In: Die Abwicklung der DDR. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau. Göttingen 1992 (Göttinger Sudelblätter), S. 92-95.
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Vergangenheit und Abschied von einem früheren Freund (1995)401, Volker Ebersbach in Der Schnaps des Spitzels – Eine Danksagung (1999).402 Meist wird in diesen Texten auf groteske Aspekte der eigenen Akten verwiesen, dazu zählt stets auch die ungeheure Flut letztlich nutzloser Informationen. Nicht selten werden bei der Einsicht in die Akten ganze Biografien oder immerhin Teile davon ‚durchgearbeitet‘: So schildert Timothy Garton Ash in Die Akte „Romeo“ (1997)403 die Sichtung seiner Akte und die damit verbundenen Wechselwirkungen sowie seinen Umgang mit den aufsteigenden Erinnerungen. 5.1.6.1 Eine neue Debatte: Heiner Müller und Christa Wolf Anfang der neunziger Jahre kam es zu zahlreichen Enttarnungen, die – in Einzelfällen – geradezu als journalistische Sensationen gefeiert wurden. Aus den Reaktionen um die Enttarnungen insbesondere von IMs entwickelte sich eine Debatte um das Verhältnis von Schriftstellern zur Staatssicherheit, die den ‚deutsch-deutschen Literaturstreit‘ gewissermaßen ablöste. Wieder wurde die Auseinandersetzung beinahe ausschließlich im westdeutschen Feuilleton geführt. Den Auftakt bildete dabei die ‚Enttarnung‘ Heiner Müllers. Der ‚Fall Müller‘ nahm seinen Ausgang Ende 1992, als der Berliner Autor Dieter Schulze einen offenen Brief verbreitete, der Müller als IM belastete. Diesem als Flugblatt bei öffentlichen Anlässen verbreiteten Brief folgte am 5. Januar 1993 eine Pressemitteilung Schulzes.404 In einem Interview in der Spiegel TV-Sendung vom 11. Januar 1993 gab Müller zu, „Kontakte mit der Staatssicherheit“ gehabt zu haben: In seiner Position sei das „unvermeidlich“ gewesen.405 Müller überraschte die Öffentlichkeit
401
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403 404
405
Uwe Kolbe: Willkommen der neuen Vergangenheit und Abschied von einem früheren Freund. In: U.K.: Renegatentermine. 30 Versuche, die eigene Erfahrung zu behaupten. Frankfurt a.M. 1998, S. 159-164 [zuerst unter dem Titel Meine Biographie, geschrieben von fremder Hand in Märkische Allgemeine Zeitung v. 17.3.1995]. Volker Ebersbach: Der Schnaps des Spitzels – Eine Danksagung. In: Landschaft mit Leuchtspuren. Neue Texte aus Sachsen. Hrsg. vom Sächsischen Literaturrat e.V. Leipzig 1999, S. 121-125. Timothy Garton Ash: Die Akte „Romeo“. Persönliche Geschichte. Aus dem Englischen von Udo Rennert. München / Wien 1997. Vgl. Helge Malchow: Einleitung zum Dossier-Teil. In: Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Köln 1994; S. 431-434, S. 431. Spiegel TV, Fax vom 10.1.1993, S. 1. In: Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Köln 1994; S. 435f., S. 435.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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vor allem damit, dass er seine Kontakte nicht leugnete, mehr noch, diese keineswegs als per se verurteilenswert ansah: Und ich habe versucht zu beraten und Einfluß zu nehmen auf Dinge, weil es war ab einem bestimmten Zeitpunkt ab [sic] nicht mehr möglich, mit Parteifunktionären vernünftig zu reden, gerade in den letzten Jahren. Und da war es möglich, mit Stasi-Offizieren vernünftig zu reden, weil der mehr Informationen hatte [sic] und mehr wußte über die wirkliche Lage als ein Parteifunktionär […]. Ich habe da überhaupt nie ein moralisches Problem drin gesehen, sehe ich auch heute nicht. Man wußte, man sprach mit Paranoikern, und das war ganz klar.406
Im Mai 1993 bekräftigte Müller im Gespräch mit Thomas Assheuer auf dessen Einwand hin „Aber man mußte ja nicht mit der Staatssicherheit zusammenarbeiten“407: „Ich mußte gar nicht. […] Ich habe es bewußt getan. Ich dachte, da kann ich etwas erreichen in konkreten Dingen, wenn es um ein Visum geht oder um die Verhinderung einer Verhaftung.“408 Auf die Frage, warum er in seiner Autobiografie nichts von diesen Vorgängen erwähnt habe, beruft er sich auf „ein Menschenrecht auf ‚Feigheit vor dem Feind‘, von dem habe ich Gebrauch gemacht in der Situation, in der Atmosphäre damals. Und daß das Feindbild stimmt, hat ja dann die Journaille bewiesen.“409 Er bekennt: Ich rede mit jedem, wenn ich es für notwendig und für praktisch halte. Ich bin immer davon ausgegangen, daß ich erwachsen genug bin. Man konnte viel mehr Schaden anrichten, wenn man indirekt mit der Staatssicherheit geredet hat. In der Theaterkantine, wo man unkontrolliert über Kollegen redet. Die direkten Gespräche waren kontrollierte Gespräche.410
406
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408 409 410
Spiegel TV, Fax vom 10.1.1993, S. 2. In: Ebd.; S. 435f., S. 436. Vgl. zu diesem Komplex Cornelia Geißler: Nachrichten aus der Gerüchteküche. StasiVorwürfe nun auch gegen Heiner Müller. In: BZ v. 12.1.1993; Thomas Groß: Heiner Müller und die Staatssicherheit. War der Dramatiker aus der DDR Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi? Müller bestätigt Kontakte. „Ich wußte, ich rede nicht mit der Heilsarmee“. Kratzen an einer Kultfigur. In: taz v. 12.1.1993; Elke Schmitter: Ein Mann für gewisse Stunden. Heiner Müllers Stasi-Gespräche: Ein Anarchist paktiert. In: taz v. 12.1.1993 sowie Karl-Wilhelm Schmidt: Literaturdebatten des westlichen Feuilletons um Heiner Müller. Vom ‚IM‘ zum ‚Neuen Rechten‘. In: Monteath, Peter / Alter, Reinhard (Hgg.): Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38), S. 51-73. [Interview mit Thomas Asseuer]: „Es gibt ein Menschenrecht auf Feigheit“. Ein Gespräch mit dem Dramatiker Heiner Müller über seine Kontakte mit der Staatssicherheit. In: FR v. 22.5.1993 (Sonderbeilage zur Leipziger Buchmesse 1993); im Original kursiv. Ebd. Ebd. Ebd.
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In ‚Opferakten‘ finden sich keine von ‚IM Heiner‘ verfassten Berichte; die Beweise sind damit vergleichsweise spärlich.411 Iris Radisch stellt am 22.1.1993 fest: Es gibt wieder eine Debatte. Und keiner weiß, worum sie geht. Heiner Müller vergleicht die ZEIT, die Müllers Stasi-Verwicklungen belegt hat, mit dem Neuen Deutschland. Ein FAZ-Kolumnist sekundiert Müller in einem grandios nichtrecherchierten Kommentar voller Fehler und falscher Behauptungen. Die Leitung des Berliner Ensembles denunziert die Berichterstattung der ZEIT als „widerlich“, der Ostberliner Freitag bezichtigt die Westmedien der „Unfähigkeit, sich auf die Geschichte einzulassen“, und unterstellt ihnen „auflagensteigernde Urteile“. Der Osten mauert. Das Feuilleton kämpft Hahnenkämpfe.412
Beinahe zeitgleich mit Heiner Müller wurde Christa Wolf ‚enttarnt‘, die damit erneut ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Es ergibt zweifellos wenig Sinn, ‚Täter-‘ und ‚Opfer‘-Akten gegeneinander ‚aufzurechnen‘ – im Falle Christa Wolfs seien diese aber zumindest einander gegenübergestellt: Zwischen 1959 und 1962 hatte die Schriftstellerin einige wenige Begegnungen mit der Stasi, zunächst als Geheimer Informator, dann als IM, doch ihre Tätigkeit wurde bald wieder beendet, weil sie offenbar als Informantin wenig geeignet schien: Die Genossin Wolf wurde am 24.3.1959 als GI „Margarete“ […] geworben, jedoch nicht schriftlich verpflichtet. […] Zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit der Genossin Wolf ist einzuschätzen, daß sie die gestellten Aufträge zwar erfüllte, ihre Berichte jedoch nur informatorischen Charakter trugen. An op. Material oder Vorgängen arbeitete sie nicht. Auffallend an der inoffiziellen Zusammenarbeit war ihre überbetonte Vorsicht und größere Zurückhaltung, die auf einer gewissen intellektuellen Ängstlichkeit basieren. Die Genossin Wolf wird zwar als parteiverbunden eingeschätzt, jedoch scheint ihr Verhältnis zur Partei mehr intellektuell-verstandesmäßig und weniger klassenmäßig fundiert zu sein. In Halle lehnte sie den Besuch einer KW [Konspirativen Wohnung; F.Th.G.] „ab. Nach ihrer Übersiedlung in den Bezirk Potsdam wurde die IM-Akte im Archiv abgelegt.413
In einem Schreiben vom 29.11.1962 heißt es: 411
412 413
Vgl. Iris Radisch: Krieg der Köpfe. Heiner Müller und die Stasi: Die Westdeutschen zählen Quittungen, die Ostdeutschen verteidigen ihre Geschichte. Der Dichter liest Kafka, und die Akten schweigen. In: Die Zeit v. 22.1.1993. Ebd.; Hervorhebungen im Original. Auskunftsbericht v. 21.12.1965; gez. Roscher, Oberleutnant, S. 5; zit. nach Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation. Hrsg. von Hermann Vinke. Hamburg 1993; S. 19-25, S. 24.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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Im August dieses Jahres verzog die IM von Halle nach Kleinmachnow (Bezirk Potsdam). Nach Rücksprache mit dem Referatsleiter der Abt. V / 1, Gen [sic] Untat, ist die BV [Bezirksverwaltung; F.Th.G.] Potsdam an einer Übernahme der IM nicht interessiert. Der IM-Vorgang wird abgelegt.414
Das zwei Aktenmappen mit insgesamt 130 Blättern umfassende Material ist eher Ausdruck der gescheiterten Versuche, Christa Wolf als Informelle Mitarbeiterin zu gewinnen, denn Zeugnis einer Spitzeltätigkeit der Schriftstellerin.415 Dagegen wurden sie und ihr Mann Gerhard zwischen 1969 und 1989 nahezu lückenlos überwacht416, auch vor ihrer Anwerbung war sie von 1955 bis 1959 beobachtet worden.417 Am 21. Januar 1993 tritt Christa Wolf im Zuge der ‚Stasi-Debatte‘ von sich aus an die Öffentlichkeit. Unter dem Titel Eine Auskunft gibt sie in der Berliner Zeitung Detailinformationen zu den oben erwähnten Vorgängen: Die Vorgänge um Heiner Müller sind der letzte Anstoß für mich, diesen Artikel zu schreiben, über den ich seit einigen Monaten nachdenke: seit dem Mai vorigen Jahres, als mein Mann und ich unsere Stasi-Akten einsehen konnten. Wir sahen uns mit 42 Bänden konfrontiert, allein für die Zeit zwischen 1968 und 1980 – die Akten über die letzten zehn Jahre scheinen vernichtet zu sein. Wir erfuhren, daß wir seit 1968 als „Operativer Vorgang“ „Doppelzüngler“ minutiös observiert wurden, daß wir von einem Netz von „IM“ umgeben waren, was wir erwartet hatten, darunter enge Freunde, was wir so nicht erwartet hatten; daß natürlich unser Telefon, zeitweilig auch die Wohnung, abgehört, die Post ausnahmslos geöffnet und zum Teil abgelichtet wurde; daß man „Legenden“ für Informelle Mitarbeiter erfand, um sie bei uns einzuschleusen, Skizzen von unserer Wohnung und der Lage unseres Hauses anfertigte, mich zeitweilig für Auslandsreisen „sperrte“ und auch einmal ein Fahndungsblatt über uns ausgab; daß man jedes einzelne meiner Bücher von anscheinend germanistisch gebildeten IM „begutachten“ ließ, die in grotesken „Analysen“ eine ständig wachsende Staatsfeindlichkeit konstatierten.418
414
415 416 417 418
Schreiben v. 29.11.1962; gez. Beck, Major, Richter, Leutnant, [unleserlich], Oberleutnant; zit. nach Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation. Hrsg. von Hermann Vinke. Hamburg 1993, S. 101. Vgl. dazu auch: Wolfgang Paulsen: Akteneinsicht Christa Wolf. Ein Plädoyer aus amerikanischer Sicht. In: WW 44 (1994) 1, S. 147-149. Vgl. den OV ‚Doppelzüngler‘. Vgl. Hermann Vinke: Vorwort. In: Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation. Hrsg. von H.V. Hamburg 1993; S. 9-13, S. 12. Christa Wolf: Eine Auskunft. In: BZ v. 21.1.1993.
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Die oben erwähnte Tätigkeit für die Stasi verschweigt sie nicht, hatte diese aber offenbar verdrängt: Ich fand aber bei meinen Akten, zu einem „Auskunftsbericht“, auch ein dünnes Faszikel, aus dem ich erfuhr, daß die Stasi mich von 59 bis 62 zunächst als „GI“ […], dann als „IM“ geführt hat. Das traf mich völlig unvorbereitet. Ich erinnerte mich nur, 1959, als ich Redakteurin der NDL war, von zwei Herren der „Behörde“ aufgesucht worden zu sein, die über meine Beziehungen zu einem westdeutschen Autor unterrichtet waren, welcher sich gerade scharf gegen die DDR geäußert hatte. Dadurch eingeschüchtert, erklärte ich mich bereit, mich wieder mit ihnen zu treffen. Ich erhielt einen Decknamen, woran ich keine Erinnerung habe, man hat aber, laut Akte, keine schriftliche Verpflichtungserklärung von mir verlangt.419
Nach dem Umzug der Wolfs nach Halle wurde diese Akte weitergeführt. Christa Wolf erhielt mehrfach Besuch von einem hauptamtlichen StasiMitarbeiter, der als „Genosse R.“ geführt wurde. Als die Wolfs drei Jahre später „in den Bezirk Potsdam zogen, hat die dortige Stasi sich ‚nicht daran interessiert‘ gezeigt, mich zu ‚übernehmen‘. Die Akte wurde am 13.10.1962 geschlossen und im Archiv abgelegt.“420 Danach wurde die Schriftstellerin selbst observiert. Wolf erklärt: Es hat seitdem keinen Kontakt mehr mit einer Person gegeben, die sich als Mitarbeiter der Stasi ausgewiesen hätte, man hat nie wieder versucht, Informationen von mir zu bekommen. Deshalb hielt ich es nicht für notwendig, diesen alten, verjährten Vorgang öffentlich zu machen. Ich hatte gar keine Hoffnung – angesichts der Hysterie, die allein durch die zwei magischen Buchstaben „IM“ ausgelöst wird –, daß eine solche Veröffentlichung eine Aufnahme finden könnte, die den wirklichen Relationen dieses Vorgangs in meinem Leben auch nur einigermaßen entsprechen würde. Ich mußte fürchten, auf diese zwei Buchstaben reduziert zu werden. Ich stand noch unter dem Eindruck der Kampagne gegen mich und fühlte mich neuen Angriffen nicht gewachsen. […] Heute sehe ich, daß diese Zurückhaltung falsch war.421
Eine Woche später nimmt sie in einem Interview mit der Wochenpost erneut Stellung zu diesem Thema: Ich mußte, um mir mein Verhalten erklären zu können, mich noch einmal jener Person aussetzen, die ich damals war: ideologiegläubig, eine brave Genossin, von der eigenen Vergangenheit her [Wolf bezieht sich auf ihre Mitgliedschaft im BDM;
419 420 421
Ebd. Ebd. Ebd.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
223
F.Th.G.] mit einem tiefen Minderwertigkeitsgefühl behaftet gegenüber denen, die durch ihre Vergangenheit legitimiert, im historischen Recht zu sein schienen.422
Im selben Interview kritisiert sie nochmals den Umgang mit den Akten: „Da aber in der Öffentlichkeit alles, was mit der Stasi zusammenhängt, dämonisiert worden ist, hat sich der perverse Aktenberg unterderhand zu einer Art negativen Gral gemausert, zu dem man pilgert, um die Wahrheit, um Urteil oder Absolution zu erfahren.“423 Später gibt sie einmal mehr zu bedenken: „Diese Akten enthalten nicht ‚die Wahrheit‘, weder über den, zu dessen Observation sie angelegt wurden, noch über diejenigen, die sie mit ihren Berichten füllten.“424 Ihren Höhepunkt erreicht die ‚Stasi-Debatte‘ mit einem am 29. Januar 1993 in der Zeit erschienenen Artikel von Fritz J. Raddatz. Raddatz gibt dabei stellenweise jegliche Distanz auf, indem er Heiner Müller und Christa Wolf in direkter Anrede nicht mehr siezt, sondern duzt: Ihr habt euch doch zu Aufbau-Helfern eines Verfolgungssystems gemacht – dem die eigenen Kollegen, ob Fuchs oder Loest, zum Opfer fielen; einem Walter Kempowski haben eure Wirte acht Jahre seines Lebens gestohlen. Das berät man bei Kaffee und Kuchen?425
Ulrich Greiner plädiert in der Zeit vom 5. Februar 1993 schließlich für einen „Schluß der Stasi-Debatte“, da diese gescheitert sei: Der Mythos vom Antifaschismus entledigt sich der kompromittierenden Realität, indem er die Reinheit der ursprünglichen Idee gegen alle Erfahrung verteidigt. […] Der Mythos vom Antifaschismus hindert sie [viele ostdeutsche Autoren; F.Th.G.] daran, die Notwendigkeit einer zweiten deutschen Vergangenheitsbewältigung zu akzeptieren. Die Arbeit der Erinnerung würde zu der schmerzlichen Erkenntnis führen, daß die Reinheit der Idee nicht mehr existiert.426
In diesem Zusammenhang verfolgt Greiner drei Leitgedanken: „Was die Debatte hätte nützen können“, „Weshalb die Debatte gescheitert ist“ und „Weshalb die Debatte beendet werden sollte“. Er meint:
422
423 424 425 426
[Interview mit Fritz-Jochen Kopka]: Margarete in Santa Monica. Wie fremd kann die Vergangenheit sein? Fritz-Jochen Kopka sprach in Kalifornien mit Christa Wolf. In: Wochenpost v. 28.1.1993; Hervorhebung im Original. Ebd. Christa Wolf: Berlin, Montag, der 27. September 1993. In: C.W.: Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994. Köln 1994; S. 281-298, S. 294f. Fritz J. Raddatz: Von der Beschädigung der Literatur durch ihre Urheber. Bemerkungen zu Heiner Müller und Christa Wolf. In: Die Zeit v. 29.1.1993. Ulrich Greiner: Plädoyer für Schluß der Stasi-Debatte. In: Die Zeit v. 5.2.1993.
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Das Feuilleton hat Fragen gestellt. Die Befragten sahen darin einen Angriff. Sie parierten ihn mit der Verteidigung des Mythos. Über den Mythos aber läßt sich nicht diskutieren. Man kann ihn nur zur Kenntnis nehmen. Deshalb ist die Debatte über die Vergangenheit der DDR gescheitert. […] Sie [die Debatte; F.Th.G.] könnte nur dann halbwegs gelingen, wenn Übereinkunft herrschte über zwei Voraussetzungen […]: daß erstens der Sozialismus verdientermaßen gescheitert ist und daß zweitens die reale DDR nichts war, dem man ein längeres Leben hätte wünschen dürfen. Dieser Konsens herrscht weder unter den Intellektuellen des Westens noch unter denen des Ostens und schon gar nicht zwischen Ost und West.427
5.1.6.2 Sascha Anderson und der bröckelnde Mythos vom Prenzlauer Berg Noch vor Beginn der eigentlichen ‚Stasi-Debatte‘ lag die Enttarnung des Prenzlauer Berg-Dichters Sascha Anderson als Stasi-Spitzel. In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises am 19. Oktober 1991 bezeichnete Wolf Biermann Anderson als „Sascha Arschloch“ und warf ihm vor, für die Stasi gespitzelt zu haben: Aber alle Oppositionsgruppen waren von Stasimetastasen zerfressen. Rechtsanwalt Schnur, Waisenkind Böhme, Jutta Braband, Heimkind Monika Haeger, der hochbegabte Poet Heinz Kahlau, der sich nun entblößt und beknirscht hat, der unbegabte Schwätzer Sascha Arschloch, ein Stasispitzel, der immer noch cool den Musensohn spielt und hofft, daß seine Akten nie auftauchen.428
Anderson hatte bis dahin offenbar tatsächlich in dem festen Glauben gelebt, dass die ihn belastenden Akten vollständig vernichtet seien.429 Nachdem auch Rainer Schedlinski und andere als Spitzel enttarnt worden waren430,
427 428 429 430
Ebd. Wolf Biermann: Der Lichtblick im gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. In: Die Zeit v. 25.10.1991. Vgl. Paul Gerhard Klussmann: Der Stasi-Komplex in der deutschen Literatur. In: Die politische Meinung 37 (1992) 275; S. 56-67, S. 57. Vgl. dazu die unter dem Titel Landschaften der Lüge im Spiegel erschienene Serie von Jürgen Fuchs: Jürgen Fuchs über Schriftsteller im Stasi-Netz (I): Der „Operative Vorgang“ Fuchs. In: Der Spiegel 45 (1991) 47 v. 18.11.1991, S. 280-291; Jürgen Fuchs über Schriftsteller im Stasi-Netz (II): Pegasus, Spinne, Qualle, Apostel. In: Der Spiegel 45 (1991) 48 v. 25.11.1991, S. 72-91; Jürgen Fuchs über Schriftsteller im Stasi-Netz (III): „Zersetzung“ bis in den Tod. In: Der Spiegel 45 (1991) 49 v. 2.12.1991, S. 94-108; Jürgen Fuchs über Schriftsteller im Stasi-Netz (IV): „Aktion Gegenschlag“ im Namen des Friedens. In: Der Spiegel 45 (1991) 50 v. 9.12.1991, S. 103-121; Jürgen Fuchs über Schriftsteller im Stasi-Netz (V): Gegen die „Konterrevolution“ in Polen. In: Der Spiegel 45 (1991) 51 v. 16.12.1991, S. 118-130.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
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geriet der Mythos vom Prenzlauer Berg erheblich ins Wanken431, zumal Biermann in seiner Mörike-Preis-Rede vom 13. November 1991 seine Angriffe auf die gesamte Prenzlauer Berg-Szene ausdehnte – und damit auf so unterschiedliche Autoren wie Jan Faktor (*1951), Andreas Koziol (*1957), Rainer Schedlinski (*1956), „Matthias“ BAADER Holst (19621990)432 und Johannes Jansen (*1966)433: Nun erfahren wir, daß die bunte Kulturszene am Prenzlauer Berg ein blühender Schrebergarten der Stasi war. Jedes Radieschen numeriert an seinem Platz. Spätdadaistische Gartenzwerge mit Bleistift und Pinsel. Die angestrengt unpolitische Pose am Prenzelberg war eine Flucht vor der Wirklichkeit, sie war eine Stasizüchtung aus den Gewächshäusern der Hauptabteilungen HA-XX / 9 und HA-XX / 7. Die Stasigärtner mendelten dort einen manierierten Stil für demoralisierte Genies und eingeschüchterte junge Leute, die vor sich hinblödelnd dadaistisch entschliefen, als der große Streit mit der Obrigkeit drohte, endlich ernst zu werden.434
Biermann, selbst jahrelang und noch nach seiner unfreiwilligen Rückübersiedlung nach Hamburg von der Stasi oberviert435, gibt zwar in seinem offenen Brief an Lew Kopelew (1992) zu, „daß es dort auch echt anarchisches Unkraut und ein paar ehrliche Kaninchen und talentierte Maulwürfe gab.“436 Doch mit Hajo Steinert ist in diesem Zusammenhang zu fragen: Wenn sie doch nur alle „Gartenzwerge“ waren, warum dann so riesige Worte? Hätte der Liedermacher nur ein Buch von Bert Papenfuß-Gorek, Jan Faktor, Stefan Döring, Andreas Koziol, Detlev [sic] Opitz, Durs Grünbein oder Johannes Jansen gelesen, so hätte ihm auffallen müssen, daß deren Texte keineswegs „angestrengt unpolitisch“ sind, sondern verspielt politisch. […] Biermanns Haß auf Anderson ist eine Sache. Aber warum gleich die ganze Szene in die Pfanne hauen? 431
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Es bestand und besteht die Gefahr, dass die gesamte Literatur des Untergrunds diskreditiert wurde; vgl. dazu auch: Reinhard Heinritz: „Prenzlauer Berg“. Über experimentelle Literatur und Politik. In: Literatur für Leser (1992) 3, S. 181-193. Zum Thema ‚Prenzlauer Berg‘ vgl. auch Helmut Böttiger: Untergrund Kneipengrund. Der Mythos vom Prenzlauer Berg und seine Verwandlungen. In: H.B.: Ostzeit / Westzeit. Aufbrüche einer neuen Kultur. München 1996, S. 85-104. „Matthias“ BAADER Holst: traurig wie hans moser im sperma weinholds. texte. Berlin 1990. johannes jansen: prost neuland. spottklagen und wegzeug. Berlin / Weimar 1990. Wolf Biermann: Laß, o Welt, o laß mich sein! Eduard-Mörike-Preis-Rede am 13. November 1991. In: W.B.: Der Sturz des Dädalus oder Eizes für die Eingeborenen der Fidschi-Inseln über den IM Judas Ischaroit und den Kuddelmuddel in Deutschland seit dem Golfkrieg. Köln 1992; S. 64-79, S. 71. Vgl. Ders. / Klaus Trende: Schmerz der Freiheit. Ein Gespräch. Cottbus 1997 (Einblicke), S. 13f. Wolf Biermann: Ein öffentliches Geschwür. Wolf Biermann antwortet seinen Kritikern in einem offenen Brief an Lew Kopelew. In: Der Spiegel 46 (1992) 3; S. 158-167, S. 159.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
[…] Die Prenzlpoeten machten sich zwar alle irgendwelche sprachexperimentellen, sprachreflektorischen Gedanken. Doch sind ihre Bücher im einzelnen so unterschiedlich, daß man die Autoren kaum über einen Kamm scheren kann.437
Die Zitate belegen, dass die Diskussion zeitweise mit größter Heftigkeit geführt wurde. Karl Wilhelm Schmidt (1996) erklärt die Kontroverse mit der „Diskrepanz zwischen dem sich politisch verstehenden Dissidentenkreis der 70er Jahre, dem Biermann angehörte, und der Generation der jüngeren Kunst- und Literaturszene.“438 Während Biermann seine Argumentation meist nicht auf gesicherte Informationen stützen kann, geben Peter Böthig und Klaus Michael in ihrem Sammelband MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg (1993)439 den ausführlichsten Überblick zur Thematik. Nimmt man die Einzelbeiträge zusammen, so ist mit Peter Geist zu erkennen, dass die These von der umgreifenden Stasisteuerung der literarischen Szene durch die widersprüchliche Korrespondenz vieler Debattenbeiträge ziemlich schlüssig widerlegt [wird]. Die im Sinne der Freund-Feind, Ost-West-, Überbau-Untergrund-Dualektik [sic] apolitische Verweigerungshaltung vieler junger Künstler basierte auf der Lebenseinstellung, sich auf die simplen Machtdiskurse der Ausschließung nicht länger einzulassen und statt dessen eine quertreiberische Kreativität freizusetzen, die sich nicht so leicht einfangen und politisch infantilisieren läßt […].440
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Hajo Steinert: Die Szene und die Stasi. Muß man die literarischen Texte der Dichter vom Prenzlauer Berg jetzt anders lesen? In: Die Zeit v. 29.11.1991; vgl. insgesamt zu den Dichtern des Prenzlauer Berges: Philip Brady: „Wir hausen im Prenzlauer Berg“: On the Very Last Generation of GDR Poetes. In: 1870 / 71 – 1989 / 90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Edited by Walter Pape. Berlin / New York 1993 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Volume 1), S. 278-301; Birgit Dahlke: „Temporäre autonome Zone“. Mythos und Alltag der inoffiziell publizierenden Literaturszene im letzten Jahrzehnt der DDR. In: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997, S. 463-478 sowie – aus persönlicher Sicht – Uwe Kolbe: Die Situation. Göttingen 1994 (Göttinger Sudelblätter). Karl Wilhelm Schmidt: Geschichtsbewältigung. Über Leben und Literatur ehemaliger DDR-Autoren in der wiedervereinten Bundesrepublik. Eine Bestandsaufnahme kulturpolitischer Debatten und fiktionaler, essayistischer sowie autobiographischer Publikationen seit der Vereinigung. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Pluralismus und Postmodernismus. Zur Literatur- und Kulturgeschichte in Deutschland 1980-1995. Vierte, gegenüber der dritten erweiterte und aktualisierte Auflage. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1996 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Band 25); S. 353-395, S. 368. MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg. Hrsg. von Peter Böthig und Klaus Michael. Leipzig 1993. Peter Geist: Nachspiele oder „halten sie mich bitte nicht für schizophren“. „MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg“ herausgegeben von Peter Böthig und Klaus Michael, Reclam Leipzig. In: ndl 41 (1993) 8; S. 145-149, S. 147f.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
227
Mit Recht warnt Geist an anderer Stelle vor einer neuerlichen „Überkonzentration auf das Berliner Geschehen“.441 Gerade Andersons Fall ist differenzierter zu betrachten, als Biermann dies tut. Anderson wurde von mehreren Menschen verteidigt, die unverdächtig sind, mit der Staatssicherheit zu sympathisieren. Günter Kunert (1991) etwa beschreibt die Umstände, die zu Andersons Tätigkeit für die Stasi geführt haben: Zur Sache: Sascha Anderson, ein offenkundig labiler Zeitgenosse, wurde bereits im Alter von zwanzig Jahren von der Staatssicherheit „zur Brust genommen“. Er hat sich dem Machtapparat nicht entziehen können, ein namenloser, in der Provinz lebender Bursche ohne mitmenschliche Stütze, ohne den möglichen Halt durch eine Gruppe. Ihm ist Angst eingejagt worden, physisch und psychisch. Er wurde verprügelt und in Panik versetzt. Er wurde in einen psychopathologischen Zustand getrieben. Das alles war in jenem linksseitig gelobten Land leicht möglich. Denn der Kitt des Systems war die Angst. Und wie diese Angstfülle erzeugt worden ist, zählt zu den Ursachen, welche im Falle Anderson kaum Erwähnung finden. Das kriminelle System nämlich hat jeden seiner Untertanen zu einem potentiellen Mittäter gemacht, indem es ihn in einen potentiellen Kriminellen verwandelte.442
Für ihn ist klar: Wir wollen und müssen differenzieren: Ein Sascha Anderson ist anders zu betrachten als einer, der für Geld oder Karriere „tätig“ wurde. Es gilt zu unterscheiden zwischen den armen Schweinen und den Schweinehunden.443
Elke Erb (1993) plädiert für eine differenzierte und zumindest bedingt getrennte Betrachtung von ‚Autor‘ und ‚Denunziant‘. Sie stellt fest: Klare Denunziationen sind insbesonders seine Berichte über die politische Opposition, über Kreise und Leute also, zu denen er nicht gehörte. Er hat sowohl im Auftrag wie auch selbständig ermittelt, und zwar wie ein Knecht. Das war nicht von Anfang an so. Aus dem Jahr 1982 existiert ein 43-seitiges Strategie-Papier zur Integration der sogenannten Untergrundliteratur in den offiziellen Kulturbetrieb, Erwägungen, welche Autoren bereit wären, sich in den Schrifstellerverband aufnehmen zu lassen, und zwar als „aktive gleichberechtigte Mitglieder“, wie er schreibt. Es ist zu erkennen, daß er die Genossen dazu bringen wollte, die junge Generation anzuerkennen. Er bestätigte ihnen nicht ihre Version,
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Ders.: Lyrik aus der Lychener Straße, Karl-Chemnitz-Stadt und NiemandsLand. Weniger ein Rückblick. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Hrsg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. Berlin 1993; S. 233-254, S. 238. Günter Kunert: Zur Staatssicherheit. Poesie und Verbrechen. In: FAZ v. 6.11.1991. Ebd.
228
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
nach der sich in der DDR niemand von den Genossen unterscheiden konnte, es sei denn, er stehe unter dem Einfluß des Feindes.444
Sie verteidigt Andersons literarisches Werk, denn [a]uch nach der Entdeckung Andersons als Denunziant wurden seine Texte, wenn man wieder in sie hineinsah, nicht zu haltlosen Lügen. Sie scheinen eher an Bedeutung zuzunehmen, der verwerfliche Hintergrund fand sich mannigfach behandelt.445
Auch Volker Braun (1998) spricht sich für eine differenzierte Diskussion fernab jeder Schwarz-weiß-Malerei aus. Mit Blick auf Biermann bemerkt er: Und es gibt, nebenbei gesagt, Scharfmacher unter den Opfern, die blindlings urteilen, von einem hohen aber blinden Roß herab. Nach einem Schema: Weggehen war Widerstand, Hierbleiben Anpassung. […] Sie sollten sich davor bewahren, aus den Opfern von gestern zu den Tätern von heute zu werden.446
Biermanns Verhalten nach der ‚Wende‘ wird im Übrigen von zahlreichen seiner Kolleginnen und Kollegen kritisiert, denn er schreckte auch vor Radikaläußerungen nicht zurück. So meint er 1992 im Hinblick auf das Schicksal der alten Machthaber in der DDR: Falls im Grauen des Morgengrauens, wenn die Diktatur gestürzt ist und das neue demokratischen Recht [sic] noch nicht gilt, der Pöbel schreit: Hängt das Pack auf! – dann gehöre ich zum Pöbel. Und wenn dann die empörten Menschen in ihrem Zorn ein paar besonders verächtliche Menschenquäler töten, will ich ihnen nicht in den Arm fallen. Im Gegenteil, ich würde sie umarmen.447
Aus nahe liegenden Gründen bekennt er, sich spätestens nach 1976 keine Hoffnungen mehr auf eine Reformierbarkeit des Systems gemacht zu haben. 444
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Elke Erb: Dichter und Denunziant. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Stasi, KGB und Literatur. Beiträge und Erfahrungen aus Rußland und Deutschland. Mit Beiträgen von Matthias Braun, György Dalos, Alexander Daniel u.a. Köln 1993; S. 185-195, S. 189. Der zitierte Text ist einer von drei Texten Elke Erbs über Anderson: Vgl. Elke Erb: Na, was dachtest denn du? Drei Texte zu den Themen Anderson und Staatssicherheit. In: E.E.: Der wilde Forst, der tiefe Wald. Auskünfte in Prosa. Göttingen 1995, S. 168-186; Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 193. Volker Braun: Monströse Banalität. In: Die Zeit v. 22.11.1991 [Einleitung einer Diskussion in der LiteraturWERKstatt Berlin am 11. November 1991]. Braun verschiebt dabei allerdings das eigentliche Problem auf eine andere Ebene. „à la lanterne! à la lanterne!“ Wolf Biermann über die Stasi-Debatte, Judas Ischariot und die Feigheit vor dem Verräter. In: Der Spiegel 46 (1992) 39 v. 21.9.1992; S. 81-92, S. 85 / 89.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
229
Für ihn gilt Anfang März 1990: „Sozialismus ist kein Ziel mehr. […] Das großangelegte Tierexperiment an lebendigen Menschen ist beendet.“448 Für viele überraschend stellt er fest: „Sogar der ordinärste Anschluß an die Bundesrepublik ist immer noch besser als alles, was vorher war. Ich hatte freilich andres im Sinn.“449 Denn: „Elftens ärgert mich, daß es in Deutschland anders anders wurde, als ich dachte. Aber erstens bis zehntens freue ich mich, daß die verfluchte Tyrannei zerbröselt ist.“450 Biermanns Ton ist stellenweise extrem populistisch: „[…] ich mag keine stasiversifften Nutten, die nun auf Gretchen machen.“451 Als Kritiker seines Diskurses sei zunächst Peter Rühmkorf (1993) zitiert: Er hat sich als einer der ersten auf seine Stasiakten gestürzt, als ob sich daraus eine höhere Bedeutung erschnüffeln ließe. Er hat sich aus unrechtmäßig angesammelten Geheimdaten ein eigenes Drohwissen angeeignet und ist zynisch genug, seiner Mitwelt die Instrumente zu zeigen: „Alle Namen beteiligter Dritter werden von den Mitarbeitern des zweckentfremdeten Seelenhirten aus christlicher Nächstenliebe vorsorglich eingeschwärzt. Aber das ist Augenwischerei, denn im Original liest man ja alles. Man kann sich die Namen notieren und dann wieder einfügen. So haben wir es gemacht.“ Er hat sich aus der lange nicht jedem zugänglichen Grabbelkiste genug rote Karten herausgefischt, um nach Lust und Gelegenheit seine Stiche anzubringen; denn das wissen wir ja alle zur Genüge: „Die Kartei, die Kartei, die hat immer recht.“ Man muß sich nur wundern, wie ein erkennbarer Krisengewinnler des Einigungsprozesses in das dauerhafte Ansehen eines Opfers gelangen konnte.452
Gegen Biermanns Äußerungen, nicht nur im Zusammenhang mit der Anderson-Enttarnung, wehren sich auch Christoph Dieckmann (1992)453 und Peter Ensikat (1998): Übrigens ist der Anlaß für des Liedermachers Wortausbrüche inzwischen ganz beliebig. Worum immer es gehen mag, er spricht von sich. Wenn er gerade mal in Geberlaune ist, dann gibt er sogar zu, daß ihm ein Heiner Müller einst in der oder
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Ders.: Das wars. Klappe zu. Affe lebt. Ein Nachruf auf die DDR, ein Abschied von der Chausseestraße 131 und ein paar Deutlichkeiten über die Täter, die sich nun als Opfer sehen. In: Die Zeit v. 2.3.1990. Ebd. Ders.: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Der Streit um Christa Wolf, das Ende der DDR, das Elend der Intellektuellen: Das alles ist auch komisch. In: Die Zeit v. 24.8.1990. Wolf Biermann: Auch ich war bei der Stasi. In: Die Zeit v. 4.5.1990. Peter und der Wolf. Der Liedermacher und Autor Wolf Biermann ist der ausgebuffteste Selbstdarsteller auf allen denkbaren Bühnen. Eine Abrechnung von Peter Rühmkorf. In: Die Woche v. 1.4.1993. Vgl. Christoph Dieckmann: Der Pyromane. Wolf Biermanns gewaltiges Schreiben für das Gute und gegen das Böse. In: Die Zeit v. 9.10.1992.
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jener Beziehung durchaus das Wasser reichen konnte. Manche seiner Sätze muß ich mehrmals lesen, weil ich an so viel Selbstüberhebung einfach nicht glauben mag. Wie oft bleibt mir die Spucke weg, wo ihm der Schaum vor den Mund tritt. Doch leider gehöre ich nicht zu denen, die jetzt schon über ihn lachen können oder nur noch gelangweilt mit der Schulter zucken, wenn die Rede auf ihn kommt. Selbst in der dümmsten Polemik – ich wage nicht zu sagen, welche ich am dümmsten fand, aber dumm fand ich die meisten in den letzten Jahren –, also selbst die dümmste seiner Polemiken enthält noch Sätze von einer Kraft, die ich so gern einem lohnenderen Anlaß wünschte als beispielsweise seinem nicht weniger eitlen Spiegelbild im munteren Rundumpolemisieren Reich-Ranicki.454
5.1.6.3 Der Fall „Mitsu“: Monika Maron Auch nach dem in der Zeit ausgerufenen Ende der ‚Stasi-Debatte‘ wurden weitere Schriftstellerinnen und Schriftsteller ‚enttarnt‘: 1995 enthüllte der Spiegel, dass Monika Maron, die 1988 nach Ablauf ihres Dreijahresvisums nicht mehr in die DDR zurückgekehrt war, sondern sich in Hamburg niedergelassen hatte, zwischen 1976 und 1978 unter dem Decknamen „Mitsu“ Berichte für die HVA (Hauptverwaltung Aufklärung) des MfS verfasst hatte.455 Auf die gegen sie erhobenen Vorwürfe reagiert die Autorin zunächst mit einem Artikel, der unter dem Titel Heuchelei und Niedertracht in der FAZ erschien. Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung mit ihren Kritikern, allen voran mit Bärbel Bohley. Maron äußert zunächst schlicht: „Ich habe niemanden bespitzelt, ich habe niemanden verraten, und ich habe über niemanden Berichte verfaßt.“456 Die Hintergründe ihrer Tätigkeit stellt sie einige Jahre später in Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte (1999)457 dar. Sie leitet in die Thematik mit einem Perspektivwechsel ein, auf den sie eigens hinweist: Zwanzig Jahre später wird die Öffentlichkeit über die Person, die ich damals war, ihr Urteil fällen, über mich, meinen Charakter und meine Motive spekulieren, weil ich in dieser Zeit Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit hatte. Also
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Peter Ensikat: Der Liedermacher. In: P.E.: Hat es die DDR überhaupt gegeben? Berlin 1998; S. 64-70, S. 69. Vgl. [Anon.]: Stasi-Deckname „Mitsu“. Auch die streitbare Autorin Monika Maron aus Ost-Berlin, die seit der Wende unermüdlich die feige Duckmäuserei ihrer Landsleute zu DDR-Zeiten anprangert, hatte in den siebziger Jahren eine Affäre mit der Stasi. Fast zwei Jahre lang war sie auf Diplomaten und Journalisten aus dem Westen angesetzt. In: Der Spiegel 49 (1995) 32 v. 7.8.1995, S. 146-149. Vgl. in diesem Zusammenhang: Das Herz der Stasi. Bärbel Bohley über den Fall Monika Maron. In: Der Spiegel 49 (1995) 35 v. 28.8.1995, S. 68-72. Monika Maron: Heuchelei und Niedertracht. In: FAZ v. 14.10.1995. Vgl. Dies.: Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte. Frankfurt a.M. 1999, S. 195-200.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
231
verlasse ich mich lieber nicht auf meine Erinnerung an mich selbst, sondern frage meine Freundinnen, wie sie mich wahrgenommen haben, damals […].458
Durch den Perspektivwechsel erspart Maron sich allerdings auch die Konfrontation mit sich selbst. In wohl bewusst naiv gehaltenem Ton heißt es weiter: So und so ähnlich war ich in den Augen meiner Freunde, als sich eines Tages ein Herr vom Ministerrat telefonisch bei mir ankündigte, was mich nicht verwunderte, weil unser Haus dem Ministerrat gehörte und jeder Klempner, der gerufen wurde, ein Angestellter des Ministerrats war. Dieser Herr aber erwies sich als ein Offizier der Hauptverwaltung Aufklärung beim Ministerium für Staatssicherheit, der das Interesse seiner Behörde an meiner Mitarbeit bekundete. Die Hauptverwaltung Aufklärung war zuständig für das Ausland, und ihren Chef Markus Wolf umgab das Gerücht, er sei intelligent und undogmatisch, vor allem aber ein Gegner von Erich Mielke, dem der gigantische interne Spitzelapparat unterstand. Was immer mich bewog – Neugier, Abenteuerlust, der Traum von einer sinnvollen Tat –, ich sagte nicht nein, sondern erkundigte mich nach einem spanischen Sprachkurs, weil ich an Chile dachte oder Nicaragua oder Kolumbien und den toten Che Guevara. Nichts von allem folgte der Vernunft. […] Ich nahm dem Offizier das Versprechen ab, mich nie nach meinen Freunden und Bekannten zu befragen, woran er sich insofern hielt, als er mein Schweigen auf solche Fragen akzeptierte. Als nach einem halben Jahr von einem Sprachkurs immer noch nicht die Rede war, statt dessen aber von einer Reise an den Mittelrhein, sagte Hella: Wenn du erst einmal einen Kontaktmann kennst, kommst du aus der Sache nicht mehr raus. Hör auf. Ich sagte dem Offizier, meine Mutter hätte gesagt, wenn ich erst einmal einen Kontaktmann kennte, käme ich aus der Sache nicht mehr raus. Das stimmt, sagte er, und ich sagte: Dann hören wir jetzt auf. Eigentlich war nichts passiert. Ich hatte zwei Berichte geschrieben, von denen Hella befürchtete, sie könnten zu meiner Verhaftung führen. Ich hingegen hielt es für unmöglich, daß man mich für die Wahrheit verhaften könnte, wenn man sie ausdrücklich von mir verlangt hatte. Und ich hatte ein zehntägiges Visum für Westberlin bekommen, das mir, als ich es für die Recherche meines Buches beantragt hatte, kurz zuvor abgelehnt worden war. […] Vor den Behelligungen durch die Staatssicherheit schützte mich die Staatssicherheit, vor Erich Mielke Markus Wolf. Als ich nach etwa acht Monaten meine mangelnde Eignung für eine Agentenkarriere eingestand, fragte ich den Offizier, ob er mich nicht weiterhin in seiner Kartei führen könne, um meine gerade gewonnene Freiheit, die ich auf keinen Fall wieder aufgeben wollte, noch eine Weile zu beschützen.459 458 459
Ebd., S. 195. Ebd., S. 196-198.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Über ihre Enttarnung äußert sie verbittert: Als der „Spiegel“ 1995 diese Geschichte […] enthüllte, schuf sich die Öffentlichkeit gerade nachträglich ihr Gedächtnis für die Vergangenheit, für die Schuld, Verdrängung und Lüge der vierzig Jahre DDR. Zum zweiten Mal mußte eine Vergangenheit bewältigt werden. Aber ich hatte die Konsequenz aus meinen Irrtümern schon siebzehn Jahre vorher gezogen, ich hatte nichts mehr zu bewältigen, ich hatte auch nichts vergessen, auch nicht meine Stasi-Affäre, an die ich mich immer als eine kuriose und komische Episode erinnert habe, auf die ich nicht sonderlich stolz war, für die ich mich aber auch nicht schämte, weil sie eben keine Spitzel-Affäre war. Aber das öffentliche Gedächtnis, schien es, brauchte anderes Futter. Es stellte meine Biographie ab 1976 auf den Kopf, damit sie in eine allgemeine Biographie paßte. Die Bedeutung des Vorfalls wurde nicht aus ihm selbst abgeleitet, sondern aus dem Bedürfnis nach Umdeutung. Acht Monate, in denen ich weder etwas anderes gedacht, noch gesagt, noch getan hatte als sonst, deuteten nachträglich sogar meine Bücher um. Ich hatte die Geschichte nie vergessen, trotzdem wurde mir Vergessen suggeriert.460
Die beiden 1976 verfassten Berichte ließ die Autorin in ihrem Sammelband quer über die Gleise (2000)461 abdrucken. Später wurde Maron selbst innerhalb des Operativen Vorgangs „Wildsau“ vom Staatssicherheitsdienst überwacht; bis 1989 waren „acht dicke Bände“ mit Akten über die Schriftstellerin angelegt worden.462 5.1.6.4 Vom Umgang mit Akten: Chancen und Risiken Schon vor der ‚Stasi-Debatte‘ wurden Fragen nach Möglichkeiten und Beschränkungen des Aktenzugangs gestellt. Jürgen Fuchs (1993) sieht eine Chance darin, die Akten den Opfern zugänglich zu machen, ist sich dabei aber durchaus der damit verbundenen Risiken bewusst: Und insofern plädiere ich sehr nachdrücklich für den Respekt gegenüber den Grenzen, gegenüber dem Schutz auch der Person, einschließlich der Täter, aber noch nachdrücklicher möchte ich sagen: Wann bricht schon mal ein Staat zusammen! Wann ist es schon mal so, daß diejenigen, die dort hergenommen wurden, ein wenig hinter die Kulissen sehen können. Und diese – auch historische – Chance, sollten wir nicht verpassen.463 460 461 462 463
Ebd., S. 199. Monika Maron: Zwei Berichte an die Stasi, 1976. In: M.M.: quer über die Gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe. Frankfurt a.M. 2000, S. 24-33. Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 476. Jürgen Fuchs: Bericht eines Benutzers. In: Wann bricht schon mal ein Staat zusammen! Die Debatte über die Stasi-Akten und die DDR-Geschichte auf dem 39. Historikertag 1992. Hrsg. von Klaus-Dietmar Henke. München 1993; S. 76-81, S. 78f.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
233
Rolf Schneider (1992) warnt davor, die Stasi zum Sündenbock zu funktionalisieren: Die inzwischen getroffene Übereinkunft, Mielkes Stasi zur einzigen und ausschließlichen Schuldadresse der alten DDR zu erklären, ist so bequem wie falsch und gefährlich. Sie operiert mit Vermutung und Heimtücke. Sie hat den unterhaltsamen Effekt von Hexenjagd, Schlüssellochenthüllung und Geheimdienstroman. Sie exkulpiert völlig die Spitzbuben aus den anderen Offizialbereichen, die auf solche Weise unangefochten in den höchsten Behörden und Parlamenten wirken dürfen, während ein einst bei der Stasi angestellter Handwerker es nicht einmal zum Straßenkehrer im öffentlichen Dienst bringen kann.464
Ähnlich argumentiert auch Jurek Becker (1992), der 1977 aus der DDR in den Westen gekommen war. Für ihn gilt: Zum Bespitzeln gehören zwei465: Der besondere Eifer, mit dem die Stasi-Schikanen nun angeprangert und verfolgt werden, scheint mir für viele ein Versuch, die eigene Unterwürfigkeit ungeschehen zu machen. […] Das könnte den Opportunisten so gefallen, daß ihre Fügsamkeit über Nacht vergessen ist, daß sie als Opfer dastehen, denen eine unüberwindliche Macht im Nacken gesessen hat. Im Nacken saß ihnen diese Macht wohl, und stark war sie auch, aber unüberwindlich? […] Der real existierende Sozialismus war ein Gemeinschaftswerk der Parteiführung, ihrer Handlanger und der vielen Gehorsamen.466
Klaus Schlesinger (1937-2001), war ab 1974 von der Staatssicherheit im Rahmen der Operativen Vorgänge „Schreiberling“ und „Selbstverlag“ observiert worden. Sein Bericht Die Akte (1993) ist einer der wichtigsten Texte über eine Akteneinsicht und die damit verbundenen Implikationen. Schlesinger hatte sich zunächst einmal vorgenommen, mich zu keiner schriftlichen Äußerung über jenes Ministerium hinreißen zu lassen, das wir die Firma nannten. Noch kurz vor der Drucklegung eines autobiographischen Buches, das vor drei Jahren erschien und die Zeit meines Überganges von Ost nach West beschrieb, habe ich eine Passage entfernt, die über die Umstände der Post- und Telefonüberwachung, der sichtbaren und unsichtbaren Beschattungen berichtete.467
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Rolf Schneider: Statt eines Vorworts. In: R.S.: Volk ohne Trauer. Notizen nach dem Untergang der DDR. Göttingen 1992; S. 7-16, S. 13f. Jurek Becker: Zum Bespitzeln gehören zwei. Über den Umgang mit der DDR-Vergangenheit. In: Die Zeit v. 3.8.1990. Ebd.; Hervorhebung im Original. Klaus Schlesinger: Die Akte. In: ndl 41 (1993) 8; S. 103-123, S. 103; Hervorhebung im Original.
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Seine Meinung änderte er aber, denn seit jenem Montag im letzten Oktober, an dem ich in den Augen einiger Freunde und einer zwar begrenzten, doch einflußreichen Öffentlichkeit vom Objekt der Staatssicherheit zu deren geheimen [sic] Verbündeten, zum Spitzel, gemacht wurde, habe ich die Tage bis zu meiner Akteneinsicht gezählt und, als ich endlich den Termin bekam, auch die Stunden.468
Schlesingers Eindrücke sind äußerst aufschlussreich, geben sie doch Einblicke in die direkten Auswirkungen einer Akteneinsicht: Am Abend des vierten Tages ging ich zu einem Interview mit Hans-Georg Soldat in den RIAS. Er fragte mich nach meinen ersten Eindrücken, und ich gab, schon ganz sicher, zur Antwort, ich fühlte mich wie einer, der einen Roman läse, dessen Hauptfigur er selbst sei. Ich sagte auch noch, daß die Struktur dieses Romans der europäischen Moderne entlehnt sei, in dem die Figuren aus Blicken entstehen, die andere Figuren auf sie werfen.469
Wie viele andere, sieht auch Schlesinger sich mit kuriosen Details aus seinem Leben konfrontiert: Ein paar Seiten weiter, bei einem Bericht der IM „Frau Lucas“, habe ich so ungebührlich laut gelacht, daß die Aufsichtsperson den Kopf von der Zeitung hob. Ob vor Schreck oder aus Mißbilligung, weiß ich nicht. Jedenfalls las ich, daß „Bettina Wegner im Herbst vergangenen Jahres über Prof. Harich sehr verärgert gewesen sei. Prof. Harich hätte Klaus Schlesinger wegen seines älteren Buches über Umweltfragen angerufen und anderthalb Stunden gesprochen, während das Mittagessen auf dem Tisch stand.“ – Mir soll mal einer vormachen, wie er dabei ernst bleiben kann, zumal wenn er weiß, daß diese „Frau Lucas“ eine gestandene Doktorin der Medizin ist.470
Der Schwierigkeiten, mit dem nun gewonnenen Wissen umzugehen, ist sich der Autor durchaus bewusst; Schlesinger zeigt hier ein hohes Maß an Selbstreflexion: Außerdem bin ich mir gegenüber mißtrauisch geworden. Ich habe mich dabei ertappt, daß ich, nachdem ich kreuz und quer telefoniert hatte, um die Identität der IM „André“ und „Adler“ festzustellen, die in meiner Akte eine nicht unwesentliche Rolle spielen, ein Gefühl entwickelte, wie es Jäger auf der Pirsch haben müssen, und als ich wußte, wer der eine war, wurde mir klar, daß ich Macht besaß – wenig, gewiß, aber doch genug, um in das Leben eines Menschen so eingreifen 468 469 470
Ebd., S. 104f. Ebd., S. 106. Ebd., S. 107.
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zu können, wie Menschen, die ich verurteile, in mein Leben eingegriffen haben. Mit einem Mal kam ich von der Frage nicht mehr los: Ist, wer einen Denunzianten anzeigt, ein Denunziant?471
Wesentlich sind seines Erachtens auch die äußeren Umstände, unter denen ein IM spitzelte: Ein Kapitel für sich ist die Psychologie der IM. Sie nehmen meist nur wahr, was sie wahrnehmen wollen. […] „André“ […] stand unter literarischem Anerkennungsdruck. Wenn er es endlich geschafft hatte, an unserem Tisch in der Kneipe Platz zu nehmen, belegten ihm all die nebensächlichen Gespräche, daß wir literarisch und „politisch niveaulos“ und für eine organisierte Opposition „ungeeignet und auch unfähig“ seien. Ich denke, daß jeder Bericht, den so ein IM ins Tonband gesprochen oder selbst geschrieben hat, beinahe mehr über ihn selbst als über sein Objekt erzählt.472
Damit relativiert er in gewisser Hinsicht auch die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Staatssicherheit; Schlesinger gibt zu bedenken: Stimmt, die Staatssicherheit hat viel von uns gewußt. […] Aber sie hinkte mindestens ein halbes – ach, ein Jahr hinterher. Und als es für sie wirklich einmal darauf angekommen wäre, etwas zu verhindern – als wir im Mai 79 durchs Land fuhren, um Unterschriften zu sammeln für einen Protestbrief wegen Heyms Verurteilung, der dann Anlaß wurde für die große Ausschlußaktion aus dem Schriftstellerverband –, hat sie jämmerlich versagt und mußte eine Woche nach dem Eklat, mehr schlecht als recht, rekonstruieren, wer denn nun wann bei wem war. […] Womit die Staatssicherheit nicht gerechnet hatte: daß wir einmal so handeln würden, wie wir vorher nie gehandelt hatten: konspirativ … […] Als wir zu Erich Loest fuhren, parkten wir das Auto ein paar Straßen weiter, und als er uns die Tür öffnete, zogen wir ihn gleich auf den Balkon. So nützte die „eingeleitete Maßnahme – B –“, durch die, wie wir heute wissen, Loests Wohnzimmer mit Abhörgeräten gespickt wurde, der Stasi gar nichts.473
Schlesinger schließt seine Eindrücke mit einem persönlichen Fazit: Ich habe einen Roman gelesen, dessen Hauptfigur ich bin. Warum habe ich mich nicht gefunden? Ich nehme an, es liegt daran, daß seine Autoren – der Oberleutnant Holm, der Hauptmann Pahl, der Oberst Häbler und die vielen anonymen Mitarbeiter – ihr Material, das mein Leben war, mit handwerklich unzureichenden, kolportagehaften Mitteln bearbeitet und dabei den Gegenstand, die lebendige Figur, ebenso grandios verfehlt haben, wie es in jedem Trivialroman geschieht.474 471 472 473 474
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
110. 118. 120f. 123.
236
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Einer der Hauptaspekte nahezu aller Texte, in denen ‚Opfer‘ sich mit ihren Akten auseinander setzen, ist die Frage nach der in den zusammengetragenen Papieren enthaltenen Wahrheit. Peter Ensikat (*1941), der in den achtziger Jahren meistgespielte Theater- und Kabarettautor der DDR, warnt 1993: So wie gewiß nicht alles wahr ist, was die Stasi von uns aufgeschrieben hat, war und ist nicht alles wahr, was wir von der Stasi erzählten und erzählen. Die Wahrheit ausgerechnet bei einem Geheimdienst zu suchen, erscheint mir mehr und mehr fragwürdig. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ausgerechnet die Stasi anders funktioniert haben soll als der Rest dieses Systems. Hier wurden doch Berichte über alles und alle zusammengeschrieben, die mit der Wirklichkeit so wenig zu tun hatten, wie eben Dichtung mit Wahrheit zu tun hat. Auch bei der Stasi machte man doch wohl Karriere, indem man von Leistungen berichtete, die buchstäblich nur auf dem Papier standen. Ich weiß von einem guten Freund, der bei der Stasi ohne sein Wissen als IM geführt wurde. Er hat es mir sofort erzählt, als er davon erfuhr. Denn er war zutiefst erschrocken. Ich war’s auch. Nicht weil ich meinem Freund mißtraue. Dazu kenne ich ihn zu gut. Aber auch der unsinnigste Verdacht reicht heute und hier aus, um wieder Leben zu zerstören.475
Das ‚Gift‘ der Stasi wirke bis in die Gegenwart fort, denn dass
475
Peter Ensikat: Wieso ich meine Stasi-Akte nicht sehen will. In: P.E.: Ab jetzt geb’ ich nichts mehr zu. Nachrichten aus den neuen Ostprovinzen. München 1993; S. 47-50, S. 49f. In der Tat wurden mehrere Autorinnen und Autoren ohne ihr Wissen als IMs geführt. So berichtet Matthias Biskupek (1999): „Leider war ich nie richtig informiert. Erst seit 1991 weiß ich – und habe es interessierten Medien beflissen und schuldbewußt mitgeteilt –, daß die Stasi mich 1980 als IM in ihren Unterlagen führte. Meine Führungsoffiziere waren wohl vor allem Führungsunterlagenführer. Böse macht mich bis heute deren Einschätzung, man habe wegen „Unzuverlässigkeit“ von weiterer Zusammenarbeit abgesehen. Wer mich kennt, weiß, daß ich oberflächlich, großschnäuzig und versöhnlerisch sein mag, keinesfalls aber unzuverlässig. Auch für die Stasi wäre ich als Mitarbeiter zuverlässig gewesen. Ich hörte mir damals die von den Offizieren verkündeten Einschätzungen meiner „unklar ausgedrückten Eulenspiegeleien“ interessiert an. Die Eitelkeit des unverstandenen Poeten. Das Ansinnen, zu berichten, lehnte ich freundlich (meine Schuld, ich weiß, meine Freundlichkeit, doch bin ich in dieser Rede anders?) ab. Aber ich habe gesprochen. Hugh. Mit der Stasi. Hugh. Somit denke ich von mir als einem Täter. Täter paßt in mein Bild von mir. Leider aber erforschte die Stasi, 1974 beginnend, am 4. November 1989 endend, mich umfassend in operativen Vorgängen, operativen Personenkontrollen und operativen Ausgangsmaterialien. Jahrelang wurden Telefon und Post überwacht.“ (Matthias Biskupek: Wie haben wir Dichter gesungen? Eine freie Heraus-Rede. In: M.B.: Die geborene Heimat. Spöttische Lobreden. Rudolstadt / Jena 1999 (Thüringen-Bibliothek, Band 8); S. 78-81, S. 79f.)
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
237
ein Beschuldigter seine Unschuld beweisen muß, wenn die Staatssicherheit im Spiel ist, das gehörte auch schon zu den Methoden der Staatssicherheit. Die Saat ist aufgegangen, wir ernten alle noch mal, was die Stasi gesät hat.476
Ähnlich argumentiert Kurt Drawert (1993): […] nicht die Stasi ist das Problem, sondern ihr Erfolg. Und dieser Erfolg ist zugleich das Lehrstück, das uns der historische Stoff vor die Füße geworfen hat. Die Anhäufung von Material, das Auskunft gibt über den Grad an Machtteilhabe und Verlogenheit einer Intelligenz, ist nur eine äußere Tatsache, die das Krisenzentrum des Denkens allenfalls streift und es zur Episode erklärt. Vielmehr gilt es nun, wo diese Einsichtnahme erfolgt ist, die inneren Kontaktstellen herauszufinden, durch die der deformierende Eingriff passieren konnte. Eines aber kann dabei sehr klar sein: die Akten sagen zwar nicht die Wahrheit über das Wesen des Austauschs zwischen Macht und Mitarbeiter der Macht, aber sie sagen die Wahrheit darüber, daß er stattgefunden hat.477
Drawert wendet sich gegen die „allgegenwärtige Forderung nach einer Differenz zwischen Vergehen und Schuld“, denn diese sei schon der funktionierende Trick, mit dem jene, die ihr Geheimnis in die Zukunft verschleppen, die Tatsachen eskamotieren. Mit den Forderungen nach Differenzierung bekommen sie uns am empfindlichen Nerv zu fassen, dort nämlich, wo wir eine Moral vertreten. Sie argumentieren mit unseren Argumenten und machen sie damit unbrauchbar. In diesen Koordinaten drohen alle Bewertungskriterien sich aufzulösen.478
Auch Jens Reich (1992) unterscheidet zwischen einer Perspektive der Vergangenheit und einer Perspektive der Gegenwart; beide Sichtweisen sollten nicht voneinander getrennt werden: Sieht man dutzendseitenweise Stasimaterial durch, dann fällt vor allem die abgeschmackte Fadheit des Informationsmaterials auf. Wie durch eine schlechte Brille ist alles Lebendige in einen Schmierschleier der Langeweile getaucht. Das war ganz anders, als der Apparat noch in Funktion war. Er hatte die Aura des Allwissenden, Allmächtigen. Man kam sich vor wie ein Kind, das Angst hat vor der übermächtigen Gewalt des Erziehers, des strengen Vaters. Waisenkinder,
476 477
478
Ebd., S. 50. Kurt Drawert: Die Stasi. Eine dauernde Realität. Anmerkungen zu einer Debatte aus Anlaß der Anthologie MachtSpiele, hg. von Peter Böthig und Klaus Michael, Reclam Verlag Leipzig, 1993. In: K.D.: Fraktur. Lyrik, Prosa, Essay. Leipzig 1994; S. 49-53, S. 52; Hervorhebung im Original [zuerst: Radio Bremen, 4.7.1993]. Ebd., S. 52f.
238
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Heimkinder, im wörtlichen Sinne wie auch im weiteren Verständnis, Menschen, die früher und bis in die Gegenwart reichend an Unsicherheit, Ichschwäche litten, waren für die magische Gewalt der Lossprechung von begangenen Sünden besonders empfänglich.479
Der Stellenwert der Stasi-Akten ist also zu relativieren, zumal, wie Ernst Hannemann (1996) schreibt, „der ideologische Waffenstillstand im Innern des DDR-Staates nicht nur durch die Staatssicherheit, sondern ebenfalls durch SED, Gewerkschaft, Polizei, Schule, Jugendverband, Kader- und Personalabteilungen der Betriebe überwacht wurde […].“480 Aus dieser Erkenntnis leitet Hannemann einige Thesen für die Literaturgeschichtsschreibung ab; wesentlich sind dabei folgende Ergebnisse: Die in Frage stehenden Stasi-Akten sammeln Berichte aus der Sicht dritter [sic], deren Motivationen im Dunkeln bleiben, und sind zudem geleitet durch Machtinteressen der Staatssicherheit.“481
und Will man der Gesinnung eines Autors auf die Spur kommen, so sollte dies in erster Linie aus seinen eigenen Äußerungen und Texten geschehen, nicht aus denen eines Geheimdienstes.482
Für diese Einsicht spricht seines Erachtens auch der Stil der Akten, denn [s]ie spiegeln […] durch ihren protokollhaften Stil eine Objektivität vor, die nur ihre eigene Parteilichkeit verschleiert. Aus diesen Gründen sollte der gewiß großen Versuchung widerstanden werden, bei der Rekonstruktion der DDR-Wirklichkeit der Aktenlage der Staatssicherheit zu großes Gewicht einzuräumen.483
Stimmen wie Hannemanns, die sich ausdrücklich für eine Relativierung der Bedeutung von Stasi-Akten aussprechen, vor allem im Hinblick auf eine ‚Vergangenheitsbewältigung‘, wurden und werden meist kaum zur Kenntnis genommen. Bereits Ende 1992 weist Manfred Hättich in seinem 479 480
481 482 483
Jens Reich: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelligenz und die Macht. Berlin 1992, S. 107. Ernst Hannemann: Geschichtsschreibung nach Aktenlage? Bemerkungen anläßlich der Debatte um die Stasikontakte von Christa Wolf und Heiner Müller. In: Kulturstreit – Streitkultur. German Literature since the wall. Edited by Peter Monteath and Reinhard Alter. Amsterdam / Atlanta 1996 (German Monitor 38); S. 19-34, S. 27. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 31.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
239
Vorwort zu Lothar Fritzes Innenansicht eines Ruins (1993) auf eine positive Eigenschaft von dessen Buch hin: „Einen wichtigen Beitrag der Schrift für die ‚Aufarbeitungsdiskussion‘ sehen wir auch darin, daß sie von der modischen STASI-Fixierung frei ist.“484 Nach Auffassung Matthias Wagners (*1950) werden mittels der StasiAkten völlig andere Interessen verhandelt. Der Archivar gehörte zu denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, die im Februar 1990 mit der Sicherstellung der Stasi-Akten begannen. Seines Erachtens machte die Gauck-Behörde einen Wandel vom Archiv zum ‚politischen Herrschaftsinstrument‘ durch. Der Umgang mit den Akten löste ein „Stasi-Syndrom“ aus. Damit meint er [e]ine diffuse Mischung von Vorurteil, Berechnung, Dummheit, Raffinesse, Schuldzuweisung, Entschuldung und Selbstdarstellung, ein jämmerlicher Kampfplatz von Opportunismus und Beschränktheit. Unter der Losung der vorgeblichen Aufdeckung von Strukturen und Mechanismen eines Unterdrückungsapparates ging es allerdings um etwas anderes. Zum einen sollte damit der gesamte Staat, der solches hervorgebracht hatte, und seine Diener kriminalisiert werden. Das erleichterte deren Abwicklung. Zum anderen bekam man mit den Akten ein Herrschaftsinstrument in die Hand: Bei Bedarf ließen sich Biographien offenlegen und die auf diese Weise Bloßgestellten an den Pranger stellen. So bekam Unmut eine konkrete Adresse.485
Abschließend sei darauf verwiesen, dass es auch auf westdeutscher Seite Bedarf gibt, Kontakte zwischen Schriftstellern und der Staatssicherheit aufzuarbeiten. Stellvertretend seien hier die Namen Bernt Engelmann (*1921) und Günter Walraff (*1942) genannt, die sich, so Wolfgang Bergsdorf, „der Hilfsdienste der Stasi bedient“ haben, „um ihre politische Agitationsliteratur zu produzieren.“486 5.1.6.5 Die Stasi in der ‚Wendeliteratur‘ In fiktionalen Texten der Nachwendezeit ist der Staatssicherheitsdienst immer wieder Thema – meist im Zusammenhang mit der Enttarnung von IMs und damit verbundenen Fragen nach ‚Täter‘ und ‚Opfer‘. Peter O. Chotjewitz’ (*1934) lässt in seiner Erzählung Die Rückkkehr des Hausherrn (1991) Monika in einem inneren Monolog Walter gegenüber äußern:
484
485 486
Manfred Hättich: Vorwort. In: Lothar Fritze: Innenansicht eines Ruins. Gedanken zum Untergang der DDR. München 1993 (Akademiebeiträge zur politischen Bildung, Band 25); S. 7, S. 7; Hervorhebung im Original. Matthias Wagner: Vorwort. In: M.W.: Das Stasi-Syndrom. Über den Umgang mit den Akten des MfS in den 90er Jahren. Berlin 2001; S. 7-9, S. 7. Wolfgang Bergsdorf: Literaten und Denunzianten. In: Die politische Meinung 37 (1992) 271; S. 89-95, S. 91.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Die ganzen Stasi-Geschichten, die jetzt hochkommen, das ist alles Augenwischerei. In diesem Land war jeder beim Stasi. Jeder ein kleiner Stasi-Agent, der auf sich selber aufgepaßt hat, daß er immer hübsch auf der Linie blieb, und jetzt will es keiner gewesen sein. Jetzt waren es nur die paar da oben.487
In Wolfgang Hegewalds (*1952) Novelle Der Saalkandidat (1993 / 94) tritt Roland Hector, einer der beiden Protagonisten, in einer Wettshow mit folgender Saalwette auf: Als Saalkandidat werde ich mich in einen Spürhund verwandeln und wenigstens zehn haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeiter der angeblich verendeten Staatssicherheit ausfindig machen, die sich im Moment hier unter den Zuschauern der Stadthalle aufhalten.488
Parallel zu Hectors Geschichte wird die Geschichte von Sigmund Wenz erzählt, der Hector zu DDR-Zeiten bespitzelte und als Gast vor Ort im Publikum sitzt. Der Text endet offen, Hector muss jedoch feststellen, dass zunächst einmal er es ist, der Schwierigkeiten bekommt, denn der Showmaster fragt ihn ungeniert aus und stellt ihn bloß. Hector erlebt deshalb eine Retraumatisierung, denn die entwürdigende Form der Befragung und das Offenlegen teilweise intimer Details aus seinem Leben hatte er bereits in vergleichbarer Form durch die Staatssicherheit erfahren. Ähnlich wie bereits vor ihm Hans Joachim Schädlich (*1935) in Tallhover (1986)489, lässt Hans Christoph Buch (*1944) in Der Burgwart der Wartburg (1994) den ‚ewigen Spitzel‘ durch die Jahrhunderte wandern; die Staatssicherheit spielt dabei eine zentrale Rolle, die in ihrer Bedeutung lediglich durch die Einordnung in größere historische Zusammenhänge der deutschen Geschichte relativiert wird. Buchs Text enthält zahlreiche intertextuelle Anspielungen, zumal der Spitzel häufig Schriftsteller observierte, darunter auch Goethe. Von den Sowjets wird der Erzähler gar zur Frau umoperiert, um ausgerechnet unter dem Decknamen „Christa T.“ Bertolt Brecht zu verführen.490 Im Prolog stellt er sich vor als Burgwart der Wartburg, mein Name ist Hase, und ich weiß von nichts. Ich bin ehemaliger Mitarbeiter der ehemaligen Staatssicherheit der ehemaligen DDR, und 487
488 489 490
Peter O. Chotjewitz: Die Rückkehr des Hausherrn. Monolog einer Fünfzigjährigen. Mit Original-Offsetlithographien von Sabine Koch. Düsseldorf 1991 (Broschur 165), S. 49. Wolfgang Hegewald: Der Saalkandidat. Novelle. In: W.H.: Der Saalkandidat. Leipzig 1995; S. 9-117, S. 111. Hans Joachim Schädlich: Tallhover. Roman. Reinbek 1986. Vgl. Hans Christoph Buch: Der Burgwart der Wartburg. Eine deutsche Geschichte. Frankfurt a.M. 1994, S. 119ff. Der Band ist im Übrigen Schädlich gewidmet. In Buchs Text fällt der Name „Tallhover“ mehrfach: vgl. Ebd., S. 99, 113, 142.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
241
ich habe es im Laufe meiner Karriere vom Tschekisten im Wachbataillon Feliks Dserschinskij [sic] zum Führungsoffizier mit Feindberührung in der Abteilung XX 4 gebracht; zuletzt, im November 1989, war ich als Angestellter der nationalen Forschungs- und Gedenkstätten und Sekretär der Goethe-Gesellschaft in Weimar zuständig für die Abwehr ideologischer Diversion. Nach der Wende wurde ich von einem Bürgerkomitee unter Leitung des Schriftstellers Wulf K., dessen konterrevolutionäre Wühlarbeit ich leider nicht früh genug erkannt und rechtzeitig unterbunden hatte, enttarnt und als Burgwart auf die Wartburg strafversetzt, wo meine Karriere als Staatsschützer 500 Jahre zuvor begonnen hatte. Ähnlich wie die Institution, für die ich arbeite, bin ich unsterblich; Leute wie mich hat es zu allen Zeiten gegeben, denn sie werden und wurden zu allen Zeiten gebraucht. Ich gehöre zu den ältesten Ureinwohnern Deutschlands, und ich habe die hiesige Gegend, in der sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, schon unsicher oder vielmehr sicherer gemacht, bevor der homo sapiens erectus ohne Visum und ohne Einreiseerlaubnis die Grenze von Sachsen nach Thüringen überschritt. Ich bin Grenzwächter von Beruf; vielleicht haben meine langen Ohren oder Löffel, die ich bei Bedarf wie Richtfunkantennen ausfahren und dann wieder wie Taschenmesser zusammenklappen und unter meinem Fell verschwinden lassen kann, mich für dieses Metier prädestiniert.491
Am konsequentesten führt Wolfgang Hilbig das Thema Staatssicherheit in seinen Texten aus. Im Herbst 1989 erschien sein Roman Eine Übertragung492, der in mancherlei Hinsicht die ‚Wende‘ oder doch zumindest die Notwendigkeit zu Veränderungen in der DDR vorwegnimmt.493 Höhepunkt von Hilbigs Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit ist der Roman „Ich“ (1993)494, den Wolfgang Emmerich „ein eindrucksvolles Panorama der untergegangenen DDR im Banne der Dauerobservation“495 nennt. Die Unterschiede zwischen Bewachern und Bewachten, ‚Tätern‘ und ‚Opfern‘, werden dabei stellenweise bis zur Unkenntlichkeit nivelliert. Der Ich-Erzähler erscheint als „C.“, „W.“, „M.W.“, „Cambert“, „‚Ich‘“ oder einfach „ich“. Er hält sich die meiste Zeit in labyrinthartig miteinander verbundenen Kellern unter Berlin auf. Hilbig geht es vor allem „um die strukturelle Nähe dessen, was Schriftsteller und Spitzel auszeichnet, nämlich die beiden gemeinsamen konstitutionellen Eigenschaften Neugier, Wahrnehmungstrieb, Forscherdrang und Aufschreibesucht.“496 Vorstufen
491 492 493
494 495 496
Ebd., S. 9f.; Hervorhebung im Original. Wolfgang Hilbig: Eine Übertragung. Roman. Frankfurt a.M. 1989. Vgl. dazu J.H. Reid: Territories of the Soul. ‚Sujet‘ and ‚Geschichte‘ in Wolfgang Hilbig’s Eine Übertragung. In: Retrospect and Review. Aspects of the Literature of the GDR 1976-1990. Edited by Robert Atkins and Martin Kane. Amsterdam / Atlanta 1997 (German Monitor 40), S. 92-107. Wolfgang Hilbig: „Ich“. Roman. Frankfurt a.M. 1993. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 494. Ebd.
242
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
zu „Ich“ stellen unter anderem die vier Erzählungen des ebenfalls 1993 erschienenen Bandes Grünes grünes Grab dar: Fester Grund (1984), Er, nicht ich (1981, überarbeitet 1991), die Titelgeschichte (1992) und Die elfte These über Feuerbach (1992).497 Die Form, in der die Debatte über die Stasi-Akten geführt wurde, forderte zahlreiche Autoren zu teilweise ausgesprochen makabren satirischen Texten heraus. So sucht Peter Maiwald in Jeder hat eine – bloß ich nicht! (1992) geradezu verzweifelt nach (s)einer Akte: Hast du nicht eine Akte für mich, Bodo? Nein? Mein Gott, jeder hat heute eine Akte über jemanden, von jemanden [sic], durch jemanden, nur ich nicht! Wie soll man da als Schriftsteller groß herauskommen? Nicht mal über mich gibt es eine! Weißt du keine, Bodo? Ich wäre auch schon mit einer klitzekleinen zufrieden. Ohne Akte ist nämlich derzeit in Deutschland nichts mehr zu machen. Nicht einmal Literatur.498
Die Akten erhalten den Status von Aktien, mit denen gehandelt wird: Lutz tauscht vier Sascha-Anderson-Akten gegen eine von Christa Wolf oder Volker Braun. Erich soll ein umgekehrtes Angebot gemacht haben. Franziska soll ihre Hermann-Kant-Akten abgestoßen haben und investiert jetzt stark in Günter-Grassund-die-SED-Papiere.499
Maiwald bezieht auch das Erscheinen der zahlreichen Dokumentationen in seine Satiren mit ein: Uwe hat schon vier Dokumentationsbände über seine Akten herausgegeben, dabei hat er bislang nur einen Lyrikband veröffentlicht (32 Seiten). Holger veröffentlicht im Akten-Werkverhältnis von drei zu eins, Else zwei zu eins.500
Mit Akte gilt man seiner Auffassung nach nichts, ohne erst recht – der Inhalt der Papiere spielt also kaum noch eine Rolle: Mein Gott, Bodo, unsereins wäre doch schon mit einem Irrtum zufrieden, einer kleinen Anschuldigung, einem mittleren Verdächtlein! Wie soll man sich denn sonst einen Namen machen, geschweige denn ins Gespräch bringen?501
Auch die heute zum Teil banal erscheinende Qualität der erhobenen Informationen wird zum Gegenstand von Satiren. So möchte Rolf Liebolds als 497 498
499 500 501
Wolfgang Hilbig: Grünes grünes Grab. Erzählungen. Frankfurt a.M. 1993. Peter Maiwald: Jeder hat eine – bloß ich nicht! Peter Maiwald kann ohne eine Personalakte über ihn nicht groß rauskommen. In: Nie wieder Ismus! Neue deutsche Satire. Hrsg. von Manfred und Christine Wolter. Berlin 1992; S. 196f., S. 196. Ebd. Ebd. Ebd., S. 197.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
243
Typ angelegte Figur „Ossi“ Einsicht in seine Akte nehmen. Die Befragung, auf Grund derer die richtige Akte ermittelt wird, gestaltet sich vollkommen anders als erwartet: Ossi erklärte, daß er seine möglicherweise vorhandene Akte suche. „Wenn Sie kein berühmter Politiker sind, ist Ihre Akte bestimmt noch da“, murmelte der Operator. „Wir werden sie finden. Sie müssen mir nur ein paar Fragen beantworten. Geschlecht?“ – „Adlig bin ich nicht, ich bin der kleine Ossi aus Friedrichshain.“ – „Ich meine: männlich oder weiblich?“ Ossi entgegnete, er habe sich eigentlich immer für einen Mann gehalten. „Sehr gut!“ entgegnete der andere. „Das vermindert die Zahl der in Frage kommenden Akten schon um 56,7 Prozent. Ihr Sternbild?“ – „Jungfrau.“ – „Ihre Lieblingsspeise?“ – „Aprikosenpudding mit Karamelsoße.“ – „Verehren Sie einen bestimmten literarischen Helden?“ – „Dracula.“ „Das ist ja alles prima“, freute sich der Computermensch und gab Ossis Angaben in seinen Kasten ein. Auf dem Bildschirm blitzte und zuckte es, der Drucker ratterte und spucke [sic] einen Papierstreifen aus. „Na also“, meinte der Operator. „Es gibt in unserer Sammlung nur sieben Akten von männlichen Jungfrauen, die gern Aprikosenpudding mit Karamelsoße essen und Dracula verehren. Gleich werden wir fündig!“ Und tatsächlich! Er brachte ein abgegriffenes und offensichtlich häufig gebrauchtes Bündel Papier angeschleppt und forderte Ossi auf, sich hinzusetzen: „Nehmen Sie sich ruhig Zeit beim Durchblättern!“ Die Akte wußte alles! Zum Beispiel, daß Ossi neunmal vor langer, langer Zeit im FDJ-Studienjahr eingeschlafen war. Sie berichtete auch über alle seine sexuellen Auffälligkeiten seit der Jugendweihe. […]502
Die Satire dürfte das ideale Ausdrucksmedium für Inhalte dieser Art sein, wie sich vielleicht am deutlichsten in Thomas Brussigs an dieser Stelle nicht weiter interessierenden Roman Helden wie wir (1996; vgl. 6.4.3)503 zeigt.
Exkurs IV: Vom „Gefühlsstau“ zum „gestürzten Volk“ – Psychologische Erkenntnisse zur ‚Wende‘ auffallend ist nur, daß dieses land ganz eigene, unvergleichliche verhaltensmuster, mentalitäten und eigenschaften inspiriert hat, von denen eine gewisse bitterkeit vielleicht die hervorstechendste ist. psy-
502
503
Rolf Liebold: Ossi sucht seine Akte. Oder: Wie man unverhofft zum inoffiziellen Mitarbeiter werden kann. In: R.L.: Geschichten vom kleinen Ossi. Alte und neue Abenteuer im Ländchen der Wendehälse. Mit 27 Zeichnungen von Heinz Jankofsky. Berlin 1991; S. 147-151, S. 148. Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Berlin 1996.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
chologisierend würde ich vermuten, dieser allgemeine, nicht näher bestimmbare, weil zur gewohnheit gewordene beigeschmack, den man allenthalben wahrnimmt, will in etwa bedeuten: sie wissen doch, wo wir leben. vielleicht eine art latenter sabotage und wohl auch selbstverachtung für verhaltensweisen, mit denen sich niemand identifizieren mag, obgleich er ihnen gerade dann zu verfallen scheint, wenn er sie von sich weist.504 (Rainer Schedlinski: gibt es die ddr überhaupt?, August / September 1989)
Zahlreiche Untersuchungen und Gespräche setzen sich mit den psychischen Implikationen von ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ auseinander; dabei dominiert die Ost-Perspektive, bedingt insbesondere durch die Arbeiten des Hallenser Psychologen und Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz (*1943) und seines Kollegen Michael Haller. Aus westdeutscher Sicht gibt es mit Ausnahme der Besuche bei Brüdern und Schwestern (1992)505 des Psychoanalytikers Tilmann Moser (*1938) kaum relevante Texte. Nahezu gleichberechtigt vertreten sind beide Perspektiven in Margarete Mitscherlischs (*1917) und Brigitte Burmeisters (*1940) Gespräch Wir haben ein Berührungstabu (1991).506 Hans-Joachim Maaz ist seit 1980 Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk in Halle (Saale). In Der Gefühlsstau (1990) entwirft Maaz, so er selbst, ein typisches Bild des durchschnittlichen DDR-Bürgers: Er ist autoritätsgläubig, ängstlich und gefühlsblockiert, vor allem aggressiv gehemmt. Seine Bereitschaft, wirkliche Konflikte offen auszutragen, ist gering; seine Realitätswahrnehmung ist verzerrt und eingeengt. Er zeigt einen deutlichen Mangel an Direktheit und spontaner Lebensfreude – alles ist verhalten, gebremst, abgesichert und kontrolliert. Doch unter dieser Oberfläche, die nur unter großem Druck aufbricht, brodeln heftigste Gefühle: mörderische Wut, ohnmächtige Angst, auch tiefer Schmerz und lähmende Traurigkeit. Das allerdings bleibt meist verdeckt, weil es als bedrohlich und belastend empfunden wird.507
504
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Rainer Schedlinski: gibt es die DDR überhaupt? In: r.s.: die arroganz der ohnmacht. aufsätze und zeitungsbeiträge 1989 und 1990. Berlin / Weimar 1991; S. 27-35, S. 27; Hervorhebung im Original [zuerst gekürzt erschienen in der taz]. Tilmann Moser: Besuche bei Brüdern und Schwestern. Frankfurt a.M. 1992. Margarete Mitscherlich / Brigitte Burmeister: Wir haben ein Berührungstabu. Hamburg 1991. Hans-Joachim Maaz: „Stalinismus als Lebensform“. Der DDR-Psychiater Hans-Joachim Maaz über die Psychologie der Wende. In: Der Spiegel 44 (1990) 8; S. 216-218, S. 216; vgl. auch H.-J.M.: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. Berlin 1990.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
245
Nach der ‚Wende‘ zeichneten sich neue psychische Probleme ab, die man als „Angst vor der Freiheit und Selbstbestimmung“508 bezeichnen könne: Die Mauer fiel, bevor sie zum Ziel des politischen Kampfes werden konnte. Seither beherrscht zunehmend nur noch ein einziges Thema die „Revolution“: Deutschland, einig Vaterland. Damit werden alle tieferen Erkenntnisprozesse und die notwendige Trauerarbeit durch eine Flucht nach vorn vermieden: Der kollektive Mangel, die kollektive Schuld sollen als kollektive Erlösung in der Einheit Deutschlands getilgt werden. Doch die Charakterverformung der Massen bleibt unangetastet und stellt eine Gefahr für die Zukunft dar.509
Maaz beurteilt die „jetzt stattfindende, schnelle Orientierung auf den Westen“ außerordentlich kritisch, denn sie geschieht unter dem Druck der eigenen, inneren Unsicherheit und der Sehnsucht nach neuer kräftiger Führung, die das überkommene Autoritätsbedürfnis befriedigen soll. Nirgendwo wird die Frage nach den menschlichen Grundbedürfnissen diskutiert, die bislang unterdrückt waren.510
Mit Das gestürzte Volk (1991) legte Maaz eine Fortsetzung von Der Gefühlsstau vor – nun mit ausführlichem Bezug auf die seines Erachtens missglückte Einheit. Der Band enthält neben Informationen über die Rezeption von Der Gefühlsstau eine Darstellung der sich aus der ‚unglücklichen Einheit‘ (Untertitel) ergebenden Folgen für die Psyche. Eigene Erfahrungen berücksichtigend erkennt er: Ich stecke mitten in einem Verlust-Syndrom, das ich nicht annehmen wollte, solange ich es als DDR-Verlust-Syndrom diagnostizierte. Da hatte ich meinen Stolz: Das konnte doch nicht wahr sein, daß der Untergang dieses verachteten Systems, wenn ich es auch längst als ambivalent besetztes, gehaßt-geliebtes Objekt angenommen hatte, mich so zu irritieren vermochte. Erst die persönlichere Perspektive, der ich bei meiner Arbeit als Psychotherapeut nicht entgehen konnte, konfrontierte mich mit den Begriffen „Trennung“ und „Orientierungsverlust“. Da liegen sehr viele Affekte drin, die ich erst allmählich zulassen und integrieren kann, und längst bin ich damit noch nicht fertig.511
Im Zentrum des Buches stehen die Analyse dieses ‚Verlust-Syndroms‘, des Stellenwertes der Arbeit für die zuvor nicht mit Arbeitslosigkeit kon508 509 510 511
Ebd., S. 218. Ebd. Ebd. Hans-Joachim Maaz: Vorwort. In: H.-J.M.: Das gestürzte Volk oder die unglückliche Einheit. Berlin 1991; S. 9-24, S. 10; Text im Original kursiv.
246
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frontierte Bevölkerung in den östlichen Ländern und der ungeeigneten Versuche, mit diesen und weiteren Problemen fertig zu werden. Maaz interessieren auch die „dritten Deutschen“, also jene DDR-Bürger, die vor der ‚Wende‘ in den Westen geflohen waren. Ihnen komme eine besondere Rolle zu, denn [e]s war immer wieder eine Menge Zorn und Traurigkeit spürbar und eine dreifache Last: die Bewältigung der Vergangenheit DDR, die Bewältigung der Flucht und schließlich auch die Klärung der neuen West-Identität. Die Vereinigung vereitelt endgültig den Abwehrversuch „Flucht“. Alles was damit zurückgelassen und vergessen werden sollte, ist wieder da. Die unbewältigte Vergangenheit fordert ihren Tribut.512
Als im Osten problematisch gestalte sich auch das bittere Erwachen aus einem schönen Traum. Die bisher verdrängte Kehrseite des schönen Scheins schiebt sich unaufhaltsam in die Lebenswirklichkeit: Der Wohlstand hat seinen Preis! Und im Westen empfinden die Menschen zunehmend eine psychologische, ökonomische und moralische Bedrohung ihrer bisherigen Lebensart als dem zentralen Mittel, sich den inneren Mangel erträglicher zu machen.513
Ein eigenes Kapitel widmet Maaz der „‚Therapie‘ der unglücklichen Einheit“514, wobei Formen des Gesprächs, teilweise in therapeutischem Rahmen, also institutionalisiertem Kontext, im Vordergrund stehen. In seinem „Resümee“ prophezeit Maaz: Solange der Osten nur verwestlicht werden will und soll, werden diese Probleme zunehmen. Demgegenüber will ich eine Humanisierung einklagen, die die Möglichkeiten verbessert, unser Leben wieder an wesentlichen Grundbedürfnissen zu orientieren. Nicht der Leistungsanspruch und wachsender Wohlstand sollten die Maximen unseres Lebens sein, sondern die Verbesserung unserer menschlichen Beziehungen.515
Ausgehend von seinen Analysen und Therapievorschlägen fordert Maaz, die Chancen des Einigungsprozesses auf beiden Seiten zu nutzen. Er plädiert nachdrücklich für einen Paradigmenwechsel innerhalb der Gesellschaft.516 512 513 514 515 516
Ebd., S. 78. Ebd., S. 96f. Ebd., S. 123-149. Ebd., S. 152. Vgl. auch Hans-Joachim Maaz: Für andere Maßstäbe. Eine Flugschrift. Leipzig 1993. Im Vordergrund dieses Textes stehen die Formeln „Fühlen statt kämpfen“, „Beziehung statt Konsum“, „Schwingung statt Leistung“, „Gemeinschaft statt Konkurrenz“ und „Kommunikation statt Krieg“.
5.1 Debatten und Auseinandersetzungen
247
Zu ähnlichen Erkenntnissen wie Maaz gelangt der Psychologe Michael Haller, der zusammenfassend feststellt: Vierzig Jahre Sozialismus haben bei vielen DDR-Bürgern lähmende Beklemmung hinterlassen. Verunsichert erleben sie nun, wie mit dem Staatsvertrag der Westen einrückt. Plötzliche Leere und das Gefühl, immer alles falsch gemacht zu haben, lösen eine neue Fluchtwelle aus – in die Welt des Konsums und in die Arme neuer Autoritäten.517
Die „siegreiche Novemberrevolution“ habe „zunächst wie eine Therapie“ gewirkt518; der Ostberliner Psychologe Michael Froese erklärt: „Das Erlebnis der Kraft eines gemeinsamen Aufstehens und die Überraschung über die Kreativität des Protests“ hätten eine „schwer zu beschreibende heilsame Befreiung“ dargestellt.519 Umso problematischer dürfte der weitere Verlauf der Geschichte sich ausgewirkt haben, denn auch das Tempo, in dem die Einheit auf formaler Ebene vollzogen wurde, habe psychische Deformationen ausgelöst. Maaz zufolge verhindert eben diese Geschwindigkeit die Bearbeitung der „kollektiven Diktaturschäden“. Das wiederum lasse die Wahrnehmung für Stress- und Suchtkrankheiten, Depressionen und weitere Probleme in westlichen Gesellschaften in den Hintergrund treten. Das groß angelegte Gespräch zwischen Brigitte Burmeister und Margarete Mitscherlich (1991) kann hier nicht im Detail referiert werden. Wichtig ist die gleich zu Beginn angesprochene Familienebene, mit der das Ost-West-Verhältnis verglichen wird: Burmeister: Die deutsch-deutschen Verhältnisse wurden immer ganz gerne familiarisiert. Die armen Brüder und Schwestern im Osten, der reiche Onkel im Westen … Und für die Vereinigung gab es das Bild der Ehe, wobei selbstverständlich war … Mitscherlich: … daß die DDR die Frau ist.520
Burmeister wendet sich in dem Gespräch zumindest implizit gegen die oben erwähnten Thesen von Maaz; sie wehrt sich gegen eine Art der Kritik, die schon wieder kritiklos ist, weil sie in Bausch und Bogen alles für schlecht erklärt, was war. Und in diesem Zusammenhang ärgert
517 518 519 520
Michael Haller: Zwei deutsche Seelen im Konflikt. Gerade befreit und schon wieder gedemütigt – DDR-Bürger in der Krise. In: Die Zeit v. 29.6.1990. Ebd. Michael Froese; zit. nach Ebd. Margarete Mitscherlich / Brigitte Burmeister: Wir haben ein Berührungstabu. Hamburg 1991, S. 14; Hervorhebungen im Original.
248
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
mich auch, wenn eine ganze Gesellschaft sozusagen psychiatrisiert wird – allesamt deformiert, alles Insassen einer geschlossenen Anstalt.521
Psychologische Inhalte werden auch über fiktionale Texte transportiert. In diesem Zusammenhang sei vor allem auf die längere Erzählung Unbekannter Verlust (1994)522 der 1953 in Lichtenwalde bei Chemnitz geborenen Journalistin und Schriftstellerin Marion Titze verwiesen: Während der Entstehung eines Films über Novalis kommt es zum Bruch der Ich-Erzählerin mit ihrem Freund, dem jungen Regisseur Daniel, weil dieser sich den westlichen Produktionsbedingungen beugt. Das Verhalten des jungen Mannes ist allerdings vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass er in der DDR Arbeitsverbot hatte. Hauptthema der stark psychologisierenden Erzählung ist die Problematik der Trauerarbeit und des Abschiednehmens auf der Partnerebene, übergeordnet schließlich auch von der DDR. Bereits der Titel verweist auf die hohe Bedeutung dieses Aspekts: „[u]nbekannter Verlust“ ist Freuds knappe Definition von ‚Melancholie‘.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘ Wer sind wir eigentlich? Wir sind nicht die, die wir zu sein glaubten. Wir sind aber auch nicht die, zu denen man uns abstempeln will. Vielleicht aus Gründen, die wir nicht durchschauen. Wer bin ich? Was meint heute noch mein „Wir“? Diese schöne, schreckliche Welt erlaubt kein langes Grübeln. Wir müssen uns ihr stellen, und während wir das tun, begreifen wir zugleich, daß dies der Weg ist, Identität zurückzugewinnen.523 (Helga Königsdorf: Das Recht auf Identität und die Lust zur Intoleranz, 1991) Jetzt, wo die Malerin alles tun konnte, wußte sie nicht mehr, was zu tun ist.524 (Thea Herold: Die Augen der Malerin, 1996)
521 522 523
524
Ebd., S. 49. Marion Titze: Unbekannter Verlust. Berlin 1994. Helga Königsdorf: Das Recht auf Identität und die Lust zur Intoleranz [Rede auf dem Evangelischen Kirchentag 1991 in der Westfalenhalle in Dortmund, Juni 1991]. In: H.K.: Aus dem Dilemma eine Chance machen. Aufsätze und Reden. Hamburg / Zürich 1991; S. 83-88, S. 83. Die Augen der Malerin. Die Mauer fiel der Länge nach um. Die Malerin konnte gerade noch die Zehen wegziehen. Der Tag, an dem dies geschah, stand nicht im Kalender. Eine Erzählung von THEA HEROLD. In: Das Magazin (1996) 11; S. 43-47, S. 44.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
249
Im engeren Sinne persönliche Texte gehören zu den frühesten Zeugnissen der ‚Wendeliteratur‘. Ihr verstärktes Erscheinen wurde von Brigitte Burmeister bereits im November 1989 prophezeit: Zugleich oder vielleicht als erstes werden wir, glaube ich, eine lebendige operative Literatur haben, Dokumentationen, Reportagen, Erlebnisberichte, Erinnerungsbücher. Eine Literatur insgesamt, die sich der durch die Generationen laufenden Frage, nun im Hinblick auf uns selbst und unsere eigene Geschichte, stellen muß: Und was habt ihr getan? Was tut ihr jetzt?525
Mit ihrer Prophezeiung behielt Burmeister Recht: Vor allem in den Jahren zwischen 1990 und 1995 erschienen zahlreiche Tagebücher, persönliche Chroniken, Notizen, Briefe, Reden, Sammlungen mit Texten einzelner Autorinnen und Autoren sowie Reflexionen der jüngsten Ereignisse, ganz zu schweigen von den nach wie vor zahlreich im Erscheinen begriffenen Autobiografien. Wesentlich ist bei allen Texten der Aspekt der Auswahl, denn oft liegt im Ungesagten mehr als in dem, was gesagt wird.526 Es muss dabei nicht eigens betont werden, dass vielfach versucht wird, eine ‚objektive Wahrheit‘ zu etablieren, die es selbstverständlich nicht geben kann. Insbesondere im Zusammenhang mit Rechtfertigungen oder dem Eingestehen von Schuld zeigt sich deutlich die Ich-Gebundenheit der Aussagen. Viele Texte, vor allem aus dem Bereich der Autobiografien, lassen sich wechselseitig als Korrektiv lesen. Es verwundert dabei nicht, dass nach der ‚Wende‘ eine Fülle von ‚Rechtfertigungsliteratur‘ entstand, die kaum mehr zu überschauen und mittlerweile selbst zum Gegenstand von Texten geworden ist. So äußert Lothar Kusche (*1929) in seinem satirisch gefärbten Essay Wenn der Reiter nichts taugt … (1991): Wir werden von diesen Bekenner- und Rechthaber-Büchern dermaßen überschwemmt, daß man kaum noch zum Lesen kommt, weil man ständig gegen das Ertrinken ankämpfen muß. Auch ich muß zugeben, daß ich mich in all dem autobiographischen Zeug nicht mehr so recht auskenne.527
525
526
527
Brigitte Burmeister: Deutschland: kein Wort, das mein Herz schneller schlagen läßt. In: Mein Deutschland findet sich in keinem Atlas. Schriftsteller aus beiden deutschen Staaten über ihr nationales Selbstverständnis. Hrsg. von Françoise Barthélemy und Lutz Winckler. Frankfurt a.M. 1990; S. 56-63, S. 62. Vgl. auch Julian Preece: Damaged lives? (East) German memoirs and autobiographies, 1989-1994. In: The New Germany. Literature and Society after Unification. Edited by Osman Durrani, Colin Good, Kevin Hilliard. Sheffield 1995; S. 349-364, S. 349f. Lothar Kusche: Wenn der Reiter nichts taugt … In: ndl 39 (1991) 11; S. 171-172, S. 171 (Post-Skriptum).
250
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Unabhängig von Qualitätsurteilen jedweder Art ist zu berücksichtigen, dass die selbsttherapeutische Funktion des Schreibens von Tagebüchern und autobiografischen Texten nicht zu unterschätzen ist. Thomas Rosenlöcher zufolge waren große Teile der Biografien in der DDR „verstaatlicht“. Schreiben konnte ein Refugium gegen diese Form der ‚Verstaatlichung‘ bilden, wie er in Abschnitt 33 („Ein-Nicken“) von Der Nickmechanismus. Ein Selbstbefragungsversuch (1996) ausführt: Und doch verdanke ich – denn immer kann der Mensch nicht schlafen – gerade dem tonnenweise auf die Studentenköpfe herabgewälzten Sprachmüll, daß ich mich zu wehren begann; unbewußt eine Gegensprache suchte; Individuation. Las, meist Sachen außerhalb jeder Politik; Mörike, Eichendorff, den Anti-Becher Bobrowski, Rilke natürlich und Hölderlin. Schwänzte wochenlang die Uni, versuchte Gedichte zu schreiben. Setzte damit jenen Teil meiner Biographie fort, der nicht zu verstaatlichen ist, nicht einmal nachträglich und auch nicht durch mich selbst.528
Einmal abgesehen von explizit nicht-fiktionalen Texten wie den oben beschriebenen, fällt auf, dass – über die autobiografischen Texte hinaus – in der ‚Wendeliteratur‘ Ich-Erzähler bzw. lyrisches Ich und Autorin bzw. Autor häufig nahezu deckungsgleich sind oder zumindest zu sein scheinen. Mitunter wird dieses Phänomen auch thematisiert, wie sich am Beginn von Hermann Kants Roman Kormoran (1994) zeigt: Falls Sie wissen möchten, lieber Leser, wer Ihnen dies erzählt: Ich mache das. Ich bin der Autor und Urheber, ein erfinderisches Wesen, das sich zu Zwecken der Unterhaltung und Belehrung etwas ausdenkt. Oder in Abwehr übergroßer Ängste wie übergroßer Freude. Zugegeben, als Einrichtung kam ich ein bißchen aus der Mode. Aber es gibt mich. Nicht nur im Prinzip, sondern mit fester Anschrift. Wenn Sie nicht ahnen, wie ich heiße, müssen Sie an ein Buch ohne Einband und ohne Schmutz- und Haupttitel geraten sein. Da steht nämlich überall mein Name. Besorgen Sie sich ein vollständiges Exemplar, falls Ihnen wichtig ist, von wem diese fabelhafte Geschichte geliefert wird. Und zwar ohne Hinzuziehung irgendwelcher Gehilfen sowie unter Ausschluß von Mittelspersonen oder Konstruktionen, auf die sich Glaubhaftigkeit stützen soll. Ich sehe nicht, warum ich anderen in den Mund schieben muß, was sich aussprechbar in meinem Kopfe findet. So leiste ich leicht Verzicht auf den Freund, welcher stockend vom Freunde berichtet, pfeife auf den Archivar, der aus verschollen geglaubten Folianten liest, verkneife mir alle Umbögen über Psychiatrie, Polizeistation oder frisch geschaufeltes Grab und schaffe die Sache auf kürzestem Wege heran: direkt vom Autor an den Leser. 528
Thomas Rosenlöcher: Der Nickmechanismus. Ein Selbstbefragungsversuch. In: Das Vergängliche überlisten. Selbstbefragungen deutscher Autoren. Hrsg. von Ingrid Czechowski. Leipzig 1996; S. 114-142, S. 132; in erweiterter Fassung auch in: T.R.: Ostgezeter. Beiträge zur Schimpfkultur. Frankfurt a.M. 1997, S. 97-145; hier Abschnitt 37; S. 125f., S. 126.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
251
In einer Weise also, die ebenfalls ein wenig aus der Mode ist. Ohne Furcht vor der Frage: Woher weiß der Verfasser das? Ohne Angst, man könnte ihn Doktor Allwissend heißen. Mit dem Mut zur Erklärung vielmehr: Ich weiß es, denn ich habe es mir ausgedacht. Ich bin die Quelle der Nachricht, wie sollte ich da nicht ihr Überbringer sein?529
Folgerichtig weist die Hauptfigur, Paul-Martin Kormoran, bis hin zu dem operativ behandelten Herzfehler, zahlreiche Übereinstimmungen mit ihrem Verfasser auf. So äußerte Hermann Kant 1991 in einem Interview mit Artur Arndt: Im übrigen ist es aber auch so, um es so undramatisch wie möglich auszudrücken: Ich weiß ziemlich genau, wie abgezählt, nicht nur wie gezählt meine Tage sind. Seit meinem vierundsechzigsten Geburtstag, das war der vierzehnte Juni dieses Jahres, trage ich zwei künstliche Herzklappen im Leib, bin also jemand, der auf das Funktionieren einer Mechanik angewiesen ist und der wissen muß, daß das eine Weile gut gehen, aber auch mit einem letzten Klapp ganz plötzlich aufhören kann.530
Die relativ große Nähe von Ich-Erzähler und Autor mag die häufig vorgenommenen unzulässigen Gleichsetzungen beider Instanzen bzw. Verwechslungen von Fiktion und Realität im Zusammenhang mit der ‚Wendeliteratur‘ erklären. Weder der ‚deutsch-deutsche Literaturstreit‘ noch Karl Corinos unsägliches Buch über Stephan Hermlin (1996)531 wären ohne solche Fehlleistungen denkbar gewesen oder hätten, zumindest im Falle der ersten Phase des Literaturstreits, einen sachlicheren Verlauf genommen. Die beschriebene Nähe dürfte in vielen Fällen mit einem politischen Verständnis von Literatur zusammenzuhängen. So schließt Klaus Huhns (*1928) ironisch betitelte Textsammlung Briefe aus den blühenden Ländern (1997) mit einem Appell: Hier enden die Briefe aus den blühenden Ländern. Vorerst. Sie haben – zum Beispiel bei künftigen Wahlen – ausreichend Gelegenheiten, die Voraussetzungen für endlose Fortsetzungen zu schaffen. Oder auch nicht …532
Zudem machen Autorinnen und Autoren auffallend häufig implizit auf die Realitätsnähe ihrer fiktionalen Texte aufmerksam, insbesondere in Form von der Norm abweichender juristischer Schutzklauseln zu Beginn oder am 529 530 531 532
Hermann Kant: Kormoran. Roman. Berlin / Weimar 1994, S. 5. [Interview mit Artur Arndt]: Artur Arndt: Gespräch mit Hermann Kant. In: Sinn und Form 43 (1991) 5; S. 853-878, S. 870. Karl Corino: „Aussen [sic] Marmor, innen Gips“. Die Legenden des Stephan Hermlin. Düsseldorf 1996. Klaus Huhn: Briefe aus den blühenden Ländern. [Berlin] 1997 (Spotless-Reihe Nr. 74), S. 96.
252
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Ende von Texten. Im Folgenden sei eine Auswahl an Beispielen gegeben. In der Vorbemerkung zu Gottfried Kunkels (*1934) Roman Wendezeiten im Eichsfeld (1993) heißt es eher traditionell: Die Handlung dieses Romans ist nicht frei erfunden. Begebenheiten und Ereignisse haben sich so oder ähnlich zugetragen. Die genannten Namen stimmen jedoch mit den wirklichen nicht überein. Ebenso die Orte, soweit sie nicht heute noch unter dem genannten Namen existieren. Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen sind rein zufällig.533
Ebenfalls vergleichsweise konventionell gehen Mathias Wedel (*1953) und Thomas Wieczorek (*1953) vor, die ihrem Buch Mama, was ist ein Wessi? / Papa, was ist ein Ossi? die Bemerkung voranstellen: Ähnlichkeiten mit Personen, Ereignissen und Stimmungen sind, mögen sie vom Autor beabsichtigt oder ihm unterlaufen sein, unleugbar.534
Hier wird lediglich mit der Erwartenshaltung des Lesers gespielt, zugleich aber auf die durchaus vorhandene Realitätsebene des folgenden Textes explizit aufmerksam gemacht. Aufgabe des Hinweises ist also weniger der Schutz im juristischen Sinne und die damit verbundene Hervorhebung der Fiktion, sondern der Verweis auf den Wahrheitsgehalt des Textes. Brigitte Burmeister dagegen sichert sich in Pollok und die Attentäterin (1999) ausdrücklich auch juristisch ab: Alle Figuren des Romans sind erfunden. Keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person, auch dort nicht, wo sich beschriebene Episoden mit tatsächlichen Vorgängen decken.535
Burmeisters Klausel zählt zu den kürzesten. Im Gegensatz zu ihr weist Helmut Sakowski (*1924) nicht in Form einer knappen Be- oder Anmerkung, sondern ausführlich im Vorwort zu seinem Roman Wendenburg (1995) auf das Verhältnis von Realität und Fiktion hin:
533 534 535
Gottfried Kunkel: Wendezeiten im Eichsfeld. Eichsfeldroman. Duderstadt 1993, S. 5. Mathias Wedel / Thomas Wieczorek: Mama, was ist ein Wessi? / Papa, was ist ein Ossi? Ein Dreh- und Wendebuch. Berlin [o.J.], S. 4 / S. 4. Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 306; im Original kursiv.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
253
Wendenburg liegt in Ostdeutschland, und der Roman handelt in der Gegenwart. Soviel ist gewiß. Wer eine Spürnase hat, mag sogar den Turmstumpf der alten Burg Werle lokalisieren. Daß aber Frauenlob seinerzeit auf dem Hügel gehaust und gesungen hat, ist so wenig verbürgt, wie es die erstaunlichen Begebenheiten sind, die der Leser erfährt. Es ist wahr, daß sich viele Menschen in den neuen Ländern mit den Konflikten der Nachwendezeit herumschlagen müssen und dies oft auf merkwürdige, mitunter groteske Weise tun. Vielleicht gleichen manche Lebensgeschichten des Romans sogar jenen, die der eine oder andere Leser aus der Wirklichkeit kennt, dennoch sind alle Erzählungen märchenhaft und erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Persönlichkeiten muß zufällig sein.536
Ähnlich ausführlich geht Jürgen Petschull in seinem Spionagethriller Der Herbst der Amateure (1991) vor. Die Haupthandlung des Textes spielt an wenigen Tagen zwischen dem 28. September und dem 10. November 1989. Die Passagen über den Fall der Mauer enthalten so gut wie keine Reflexionen, sie besitzen dokumentarischen Charakter; auf diese Tatsache weist der Verfasser am Ende seiner Vorbemerkung explizit hin: Die Handlung dieses Romans ist nicht frei erfunden. Sie ist der Wirklichkeit nachempfunden. Die Hauptpersonen existieren tatsächlich. Sie heißen anders. Ihre Schicksale habe ich zum Teil verändert und aus dramaturgischen Gründen Lebenswege miteinander verbunden, die sich nicht gekreuzt haben. Mit den Männern, die mir als Vorbild für Tasarow, Dillon und Lohmer dienten, habe ich gesprochen, und die Geschichte von Rosenblatt ist in den USA recherchiert – denn der Mann, der Rosenblatt ist, darf wegen Gefährdung nationaler Sicherheitsinteressen noch immer nicht reden. Die historischen Hintergründe und die politischen Ereignisse im Herbst 1989 in Deutschland entsprechen der Realität.537
Abschließend sei kurz auf das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion in dem 1998 erschienenen Roman Peanuts aus Halle538 eingegangen, der den Untertitel „Realsatire zur Vereinigungskriminalität“ trägt. Thema ist der wohl größte Bankenskandal der Nachkriegsgeschichte, kurz nach der Währungsunion ausgelöst von der Stadt- und Saalkreis-Sparkasse Halle (Saale), deren Angestellte rund 700 Millionen DM an westdeutsche Kreditnehmer verliehen. Diese sollten sich jedoch als zahlungsunfähig erweisen; der Schaden betrug rund 434 Millionen DM. Das diesen authentischen Fall aufgreifende Buch ist ein Gemeinschaftswerk des Journalisten und Fern-
536 537 538
Helmut Sakowski: Vorwort. In: H.S.: Wendenburg. Roman. Berlin 1995; S. 5, S. 5. Jürgen Petschull: Der Herbst der Amateure. Roman. München / Zürich 1991, S. 6. Peter F. Müller / Wolfgang Sabath: Peanuts aus Halle. Eine Realsatire zur Vereinigungskriminalität. Berlin 1998.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
sehproduzenten Peter F. Müller (*1954) und des Journalisten und Autors Wolfgang Sabath (*1937), der aus den von Müller zusammengetragenen Dokumenten eine Satire schrieb. Handlungsträger sind neben Erna Bläss, einer „Klofrau im Interhotel Halle / Saale“, auch die Gebrüder Grimm mit einem „Märchen aus unseren Tagen“. Im Anhang ist auszugsweise der „Bericht über eine Sonderprüfung des Sparkassen- und Giroverbandes gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über das Kreditwesen (KW) bei der Stadt- und Saalkreis-Sparkasse Halle“ abgedruckt.539 Am Ende des Prologs heißt es: Die Autoren und der Verlag garantieren, daß beinahe sämtliche Namen sowie dreieinhalb bis vier Figuren in der vorliegenden Geschichte fast völlig frei erfunden sind; die Vorkommnisse, geschäftlichen Transaktionen und Abläufe sowie das Verhalten und etliche Lebensumstände handelnder Personen und die Dokumente im Anhang hingegen nicht. Kurzum: die authentische Kolportage! Dabei hatte sich alles so gut angelassen in Teutschenthal. Von Halle gar nicht zu reden. Doch verzagt wird nicht: Wie einst schon der Genosse Minimalsekretär selig angedroht hatte: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“540
Einerseits wird im Prolog also auf die Authentizität des Falles verwiesen, andererseits schützen sich die Autoren durch den Hinweis auf geänderte Namen. Über die jeweiligen Anteile von Realität und Fiktion wird nichts ausgesagt. Zudem wird vor allem durch den ersten und die beiden letzten Sätze der Wahrheitsgehalt des gesamten Textes in Frage gestellt, denn diese lassen die Glaubwürdigkeit des Prologs insgesamt als fragwürdig erscheinen. Am engsten der Realität verhaftet sind die zahlreich erschienenen autobiografischen Berichte. Therese Fischer schildert in Mit dem Trabi in den Westen (1999) ihre Flucht aus der DDR und den schwierigen Aufbau einer neuen Existenz in der Bundesrepublik. Dem Haupttext ist die Bemerkung vorangestellt: Diese Geschichte ist nicht erfunden, sie beinhaltet einen Abschnitt in meinem Leben. Ich habe ihn aufgeschrieben, weil es für mich wichtig ist, Geschehenes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Namen der Personen sind frei erfunden. Wer sich dennoch mit einer meiner Figuren in dieser Geschichte identifiziert, möchte dies bitte mit seinem Gewissen abmachen.541 539 540 541
Ebd., S. 149-155. Dies.: Prolog zu: Ebd.; S. 9-12, S. 12; Hervorhebung im Original. Therese Fischer: Mit dem Trabi in den Westen. Geschichte eines schweren Neubeginns. Berlin 1999, S. 4.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
255
5.2.1 Protokolle, Porträts, Reportagen und Tagebücher Protokolle, Tagebücher, natürlich auch Briefe, dürften – falls sie nicht allzu stark für den Druck bearbeitet wurden – die authentischsten persönlichen Zeugnisse aus der Zeit der ‚Wende‘ sein. Zum einen halten sie historische Ereignisse fest, die die Verfasserin oder der Verfasser für wichtig erachten, zum anderen werden diese Ereignisse meist spontan und unmittelbar kommentiert. 5.2.1.1 Protokoll-Literatur und Gespräche Die so genannte Protokoll-Literatur dürfte eine der wenigen im weiteren Sinne literarischen Gattungen, wenn nicht die einzige Gattung gewesen sein, die in der DDR entscheidend geprägt wurde, in der Bundesrepublik jedoch vergleichsweise unbedeutend war. Reinhard Andress (1994), der Verfasser der wohl umfangreichsten Monografie zum Thema542, erklärt den Begriff wie folgt: Ausgangspunkt der Protokolliteratur sind Gespräche, die Autoren mit Mitbürgern führen und zunächst auf Tonband festhalten, um sie dann später zu Prosa umzuarbeiten. Indem sich die Schriftsteller als sichtbaren Bestandteil des Textes weitgehend ausschalten, enstehen scheinbare Monologe, die erlebte und erzählte, öffentliche und private und vergangene und gegenwärtige Wirklichkeiten zum Inhalt haben. Biographie, Erinnerung und Kommentar bilden die Formen. Mit dem Anspruch auf Authentizität sind Protokolltexte zwar allgemein der Dokumentarliteratur zuzuordnen, erweitern sie jedoch, indem nicht Faktenmaterial im Vordergrund steht, sondern hauptsächlich aus dem subjektiven Blickwinkel eines Individuums erzählt wird.543
Abzugrenzen ist die Protokoll-Literatur von der Autobiografie und der Biografie sowie vom literarischen Porträt und dem verschrifteten Interview, wobei vor allem im zuletzt genannten Fall die Grenzen fließend sind. Die Nähe zur aus dem anglo-amerikanischen Raum stammenden Oral History, aber auch zur Dokumentarliteratur, liegt auf der Hand. Wesentlich ist dabei, dass im Rahmen der Protokoll-Literatur auch und vor allem nicht-prominente Menschen zu Wort kommen. Gerade deshalb hat sie eine wichtige Funktion im Zuge der viel beschworenen ‚Vergangenheitsbewältigung‘ – vorausgesetzt, sie stößt auf kritische Leser. Denn kaum ein 542
543
Reinhard Andress: Protokolliteratur in der DDR. Der dokumentierte Alltag. New York / Washington, D.C. / Baltimore / Boston /Bern /Frankfurt a.M. /Berlin /Brussels /Vienna / Oxford 2000 (DDR-Studien / East German Studies, Vol. 14). Problematisch an Andress’ Darstellung ist allerdings die immer wieder von ihm vorgenommene Bewertung der Gesprächsbeiträge der interviewten Personen. Ders.: „das Gefühl, mitten in einem riesigen Ozean auf einem kleinen Schiff zu sein“. Zur DDR-Protokolliteratur während und nach der Wende-Zeit. In: Colloquia Germanica 27 (1994) 1; S. 49-62, S. 49.
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anderes Genre dürfte spontan so viel Widerspruch hervorrufen und damit den Rezipienten auffordern, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese argumentativ zu fundieren. In der DDR erreichte die Protokoll-Literatur hohe Auflagen; frühestes Beispiel sind Sarah Kirschs (*1935) „Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder“ Die Pantherfrau (1973)544, wichtigstes Beispiel dürfte der beiderseits der innerdeutschen Grenze zum Klassiker avancierte Band Guten Morgen, du Schöne (1977)545 von Maxie Wander (1933-1977) sein, in dem 19 Frauen aus der DDR zu Wort kommen. Von zentraler Bedeutung waren vor allem Frauenfragen, explizite ‚Männerprotokolle‘ traten erst später hinzu und blieben Einzelfälle.546 Im Westen spielte die Protokoll-Literatur eine untergeordnete Rolle; auf Grund der Veröffentlichungsbedingungen entstand hier der bedeutendste Text aber bereits früher als in der DDR: Erika Runges (*1939) gattungskonstituierende Bottroper Protokolle (1968).547 Die meisten Protokoll-Bände zum Thema ‚Wende‘ sind zwischen 1990 und 1992 entstanden und nach kurzer Bearbeitungszeit erschienen. Bei den späteren Publikationen stellt sich das grundsätzliche Problem der Zuverlässigkeit. Unverfälschte Informationen über die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 sind zunehmend schwer zu erhalten; mit wachsendem historischen Abstand fließen verstärkt Kenntnisse aus der Nachwendezeit mit in die Äußerungen ein und es kommt zu Vermischungen, mitunter auch zur Verklärung der Vorwendezeit. In der Protokoll-Literatur aus der Wendezeit sind sämtliche Alters- und Berufsgruppen vertreten. Die frühesten Texte dürften die von Stefan und Inge Heym am 29. und 30. September 1989 im Aufnahmelager für DDRFlüchtlinge in Gießen geführten Gespräche mit kurz zuvor angekommenen Flüchtlingen sein.548 Die transkribierten und in Ausschnitten unter dem auf Brecht verweisenden Titel Flüchtlingsgespräche herausgegebenen Texte er544
545
546
547 548
Sarah Kirsch: Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassetten-Recorder. Berlin (DDR) / Weimar 1973 (Edition Neue Texte); in der Bundesrepublik erschienen unter dem Titel Die Pantherfrau – Fünf Frauen in der DDR. Reinbek 1978. Maxie Wander: Guten Morgen, du Schöne. Protokolle nach Tonband. Berlin (DDR) 1977; in der Bundesrepublik unter dem Titel Guten Morgen, du Schöne. Frauen in der DDR. Protokolle. Mit einem Vorwort von Christa Wolf. Darmstadt / Neuwied 1978. Vgl. Christine Müller: Männerprotokolle. Berlin (DDR) 1985, in der Bundesrepublik erschienen unter dem Titel James Dean lernt kochen. Männer in der DDR. Frankfurt a.M. 1986; Jürgen Lemke: Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männner. Berlin (DDR) / Weimar 1989; in der Bundesrepublik mit geringfügig abweichendem Titel: Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männner aus der DDR. Frankfurt a.M. 1989. Bottroper Protokolle. Aufgezeichnet von Erika Runge. Vorwort von Martin Walser. Frankfurt a.M. 1968. Stefan und Inge Heym: Flüchtlingsgespräche. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990, S. 52-78.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
257
teilen vor allem Auskunft über die Motivation der Flüchtlinge, die DDR zu verlassen, und die Art und Weise, wie dieser Entschluss umgesetzt wurde. Der erste umfangreichere, Gespräche über die ‚Wende‘ dokumentierende Band ist Jean Villains (*1928) Die Revolution verstösst ihre Väter (1990)549, in dem unter anderem auch Stephan Hermlin und Klaus Höpcke zu Wort kommen. Nur wenige Bände setzen sich mit einem weit gestreuten Personenkreis ohne engere thematische Vorgabe auseinander. Zu nennen sind hier die ebenfalls noch 1989 geführten Gespräche des 1984 aus der DDR weggegangenen Schauspielers und Autors Clement Wroblewsky (*1943), erschienen 1990 unter dem Titel „Da wachste eines Morgens uff und hast ’nen Bundeskanzler“. Wie DDR-Bürger über ihre Zukunft denken550, sowie Gisela Karaus zwischen 1990 und 1993 geführte Interviews mit einem Personenspektrum, das von Schauspielerinnen und Schauspielern aus Ost und West über einen Zoodirektor bis hin zu einem Unternehmensberater reicht – allerdings stets mit Bezug auf Berlin und unter besonderer Berücksichtigung des künstlerischen Bereichs. Entstanden sind ihre unter dem Titel Ach, wissen Se … (1993)551 gesammelt veröffentlichten „Berliner Dialoge“ zunächst fast alle für das Neue Deutschland und die Berliner Zeitung. Wroblewsky dagegen wählte seine Gesprächspartner im persönlichen Umfeld aus: Er sprach mit langjährigen Freunden und Bekannten in der DDR, darunter so prominente wie die Schauspielerin Johanna Schall und der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Kuczynski: Ein Arbeiter, ein privater Handwerker, zwei Angestellte – eine kirchlich, eine staatlich –, eine Schauspielerin, ein Journalist und drei Wissenschaftler eröffnen eine Themenvielfalt, projizieren eine gedankliche Tiefe der gesellschaftlichen Betrachtung, wie sie uns bisher nicht begegnet ist. Ein graues Land ist keine graue Masse. Im Gegenteil.552
Allen von Wroblewsky geführten Gesprächen gemein ist die Distanzierung von der Bundesrepublik und ein daraus resultierendes Rückzugsverhalten in den privaten Bereich. Helga Königsdorfs Band Adieu DDR. Protokolle eines Abschieds (1990) enthält 18 zwischen dem 20. März und dem 30. August 1990 geführte Gespräche. Das Ende der DDR ist bereits besiegelt, aber noch existiert 549 550 551 552
Jean Villain: Die Revolution verstösst ihre Väter. Aussagen und Gespräche zum Untergang der DDR. Bern 1990. Clement Wroblewsky: „Da wachste eines Morgens uff und hast ’nen Bundeskanzler“. Wie DDR-Bürger über ihre Zukunft denken. Hamburg 1990. Gisela Karau: Ach, wissen Se … Berliner Dialoge. Frankfurt a.M. 1993. Clement Wroblewsky: Vorwort. In: C.W. (Hg.): „Da wachste eines Morgens uff und hast ’nen Bundeskanzler“. Wie DDR-Bürger über ihre Zukunft denken. Hamburg 1990; S. 7-9, S. 7.
258
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
der Staat. Königsdorfs Band besitzt damit einen stark bilanzierenden Charakter im Hinblick auf eine ‚Gesamtbeurteilung‘ der DDR; eingangs stellt sie fest: Was bleiben wird, sind wir, die Menschen in diesem Territorium. Ohne den Ort zu verändern, gehen wir in die Fremde. Heimat aufgeben kann eine lebenswichtige Operation sein. Doch immer, wenn das Wetter umschlägt, werden wir einander ansehen, lange noch, und diesen Schmerz empfinden, diese Vertrautheit, die keiner sonst versteht.553
Die Gesprächspartner der Autorin sind überwiegend im politischen Spektrum ‚links‘ einzuordnen, fünf von ihnen sind eher konservativ, ein Schüler eindeutig rechtsradikal.554 1995 setzte Königsdorf sieben der Gespräche aus Adieu DDR fort und erweiterte zugleich den Kreis der Gesprächspartnerinnen und -partner um 13 Personen, diesmal aus Ost und West. Alle Befragten wohnen im Raum Berlin. Die in Unterwegs nach Deutschland ausgewerteten Gespräche wurden zwischen August 1993 und März 1995 geführt. Im Vorwort stellt die Herausgeberin fest: Ein Volk zu sein ist schwieriger, als eins zu werden. Die meisten hatten sich ein Zusammenwachsen leichter vorgestellt. Nicht so bürokratisch, so geschäftlich. „Wir sind schließlich alle Deutsche!“ hatten sie gesagt. Doch war seit der Trennung viel Wasser den Rhein und die Elbe hinuntergeflossen. Man hatte verschiedenen Weltsystemen angehört. War sogar deren Vorposten gewesen. Das hatte stärker geprägt, als man sich eingestehen wollte. Den einen rückten die armen Verwandten plötzlich unerträglich nahe. Die anderen erlebten in kürzester Zeit eine soziale Umordnung und Auffächerung von unvorstellbarem Ausmaß, mit allen damit zusammenhängenden Verunsicherungen und Ängsten.555
Immer wieder wird auf die Arbeitslosigkeit und deren Auswirkungen auf die Psyche verwiesen: Viele alte Bekannte melden sich nicht mehr. Man ist etwas Unangenehmes. Arbeitslose sind nichts Aufheiterndes. Arbeitslose ängstigen, weil sie an soziales Elend erinnern. Arbeitslose sind fast wie Krebskranke. Keiner weiß ein Gegenmittel. Arbeitslosigkeit ist Unglück, und Unglück steckt an. Arbeitslose machen ein schlechtes Gewissen. Vielleicht muß man ihnen etwas zustecken. Man hat Angst 553 554
555
Helga Königsdorf: Vorwort. In: H.K.: Adieu DDR. Protokolle eines Abschieds. Reinbek 1990 (rororo aktuell); S. 9, S. 9. Vgl. auch Reinhard Andress: Protokolliteratur in der DDR. Der dokumentierte Alltag. New York / Washington, D.C. / Baltimore u.a. 2000 (DDR-Studien / East German Studies, Vol. 14), S. 148. Helga Königsdorf: Vorwort. In: H.K.: Unterwegs nach Deutschland. Über die Schwierigkeit, ein Volk zu sein: Protokolle eines Aufbruchs. Reinbek 1995 (rororo aktuell); S. 7-9, S. 7.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
259
vor der Auseinandersetzung, weil man dem anderen keine Antwort geben kann. Wo immer alles machbar erscheint, weiß man mit so etwas nicht umzugehen. Man hat kein Mittel dagegen, und da fragt man auch nicht mehr: Wie geht’s. Ein blödes Grinsen, nach dem Motto: Kopf hoch, ist alles, was bleibt. Da ist totale Hilflosigkeit. Solche, die sehen, daß man Pech hat, und die einem im Rahmen ihrer Möglichkeiten beistehen, sind die totale Ausnahme. Wenn man jemandem begegnet, der sich so verhält, ist es so etwas wie Glück.556
Viele der Interviewpartnerinnen und -partner aus dem Osten können sich mit der gesamtdeutschen Regierung nicht identifizieren. Sie empfinden diese als westdeutsch dominiert und sehen sich in diesem Sinne einer starken Fremdbestimmung ausgesetzt: In den drei Jahren, die wir in der Marktwirtschaft leben, hat man die Erfahrung gemacht, daß Politiker nie das meinen, was sie sagen. […] Da gibt’s schöne Sprüche, die Stimmen bringen, die aber ansonsten Schall und Rauch bleiben. Davon bin ich eigentlich grundsätzlich enttäuscht.557
An anderer Stelle heißt es: „Was die Politiker erzählen, ist nur Makulatur. Es spielt sich alles hinter den Kulissen ab.“558 Doch nicht nur die Politik, der gesamte Westen wird als „Verkleidungsgesellschaft“ gesehen: Jeder verkleidet sich. Jeder versteckt sein Inneres hinter Wunscherscheinungsbildern nach außen. Das geht bei der Schminke los, geht beim Friseur weiter, beim Anzug. Bei den antrainierten Verhaltensweisen. Das geht bei den Autos weiter. Bei den Häusern. Sie verkleiden die alten Häuser. Sie bekommen die Tür neu bezogen. Das Dach wird neu gedeckt, die Hauswände werden neu verkleidet. Nur Verkleidung.559
Der Prozess des ‚Ankommens‘ in der Bundesrepublik gestaltet sich als langwierig und komplex: Ich habe jetzt das Gefühl, daß ich allmählich in diesem Land ankomme, in dem Sinne, daß ich die Spielregeln verstehe. Aber nicht im Sinne einer Identifikation, sondern mit einem Gefühl von Distanz, das mir auch ein Gefühl von Freiheit gibt. Ich sehne mich nach bescheidenen Verhältnissen. Ich brauche diese übervollen Regale nicht. Dieser ganze Konsumterror, das hat überhaupt nichts mit mir zu tun.560
Auch positive Aspekte der ‚Einheit‘ werden zur Sprache gebracht, beispielsweise die Reisefreiheit: „Allein das Gefühl, frei zu sein. Toll. Reisen 556 557 558 559 560
Etwas wie Glück. In: Ebd.; S. 140-146, S. 142f. Ein bißchen treppauf. In: Ebd.; S. 17-22, S. 19. Der Apfel, nach dem alle springen. In: Ebd.; S. 106-114, S. 112f. Ebd., S. 113. Lachen, das aus dem Körper kommt. In: Ebd.; S. 64-70, S. 68.
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zu können, wohin man will.“561 Die Schwierigkeiten und Probleme des Einigungsprozesses stehen allerdings eindeutig im Vordergrund. Ein Gesprächspartner aus dem Westen erkennt im Sinne eines Resümees „zwei Kardinalfehler“, die bei der Vereinigung gemacht wurden: Der erste war, den Leuten in den alten Bundesländern die Sache so darzustellen, als ob sie für die Vereinigung keine Opfer zu bringen brauchten, weil dadurch die Opferbereitschaft, die zunächst durchaus vorhanden war, nicht genutzt wurde. Jetzt müssen die Opfer gebracht werden, und das führt zu Mißmut. Jetzt hat man sich daran gewöhnt, daß Deutschland vereint ist, und man fragt sich: Warum müssen wir eigentlich da noch Geld hinschicken. Der zweite Fehler war, daß man den Menschen in den neuen Bundesländern gesagt hat, in fünf Jahren habt ihr Westniveau. Man hat das getan, weil man befürchet hat, daß eine Völkerwanderung einsetzt. Daran glaube ich persönlich gar nicht. Sieht man davon ab, bin ich der Meinung, die Wiedervereinigung ist gut gelaufen. Es war sogar ein riesiges Glück.“562
Ein gewisser Schwerpunkt der Protokoll-Literatur aus der Nachwendezeit liegt auf Frauenfragen. 1991 gab Anna Mudry den im Titel auf Maxie Wander anspielenden Band Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück563 heraus. Die sich äußernden Frauen betonen fast alle die Vorteile des Frauseins in der DDR, insbesondere die damit verbundene ökonomische Unabhängigkeit. Immer wieder wird die Hoffnung auf einen ‚dritten Weg‘ spürbar, die sich nicht erfüllen sollte. In den von Erica Fischer und Petra Lux geführten Gesprächen Ohne uns ist kein Staat zu machen (1990) ist dagegen eine kritische Distanz zu den vor allem Frauen betreffenden ‚sozialistischen Errungenschaften‘ zu spüren. Das Buch ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen der Journalistin und Übersetzerin Erica Fischer (*1943; West), Mitbegründerin der autonomen Frauenbewegung Österreichs, und der Journalistin Petra Lux (*1956; Ost), im Herbst 1989 Sprecherin des Neuen Forums in Leipzig. Beide führten zwischen Jahresbeginn 1990 und dem 18. März 1990 siebzehn Gespräche mit verschiedenen Frauen aus der DDR quer durch Alters- und Berufsgruppen. Den Texten vorangestellt sind kurze Beschreibungen der Lebenssituation der Gesprächspartnerinnen bzw. der Umstände, unter denen das Gespräch geführt wurde. Im Mittelpunkt stehen dabei die ‚Wende‘-Erlebnisse und deren Verarbeitung aus der spezifisch weiblichen Perspektive in der damals noch existenten DDR. Verbunden
561 562 563
Ein bißchen treppauf. In: Ebd.; S. 17-22, S. 17; vgl. auch: Eher ein bißchen zu peacy. In: Ebd.; S. 49-54, S. 54 sowie Hochzeitsreise nach Amerika. In: Ebd., S. 182-186, 184. Alles im Griff. In: Ebd.; S. 135-139, S. 137. Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück. Hrsg. von Anna Mudry. Frankfurt a.M. 1991.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
261
sind die in den Gesprächen gewonnenen Eindrücke mit den persönlichen Eindrücken der beiden Herausgeberinnen. Viele Frauen reflektierten offenbar ihr Frausein in der DDR zunächst einmal gar nicht; so bekennt die 27-jährige Claudia B.: Ich habe vorher nie einen Blick auf die Frau geworfen. Ich hielt mich für gleichberechtigt, habe auch nicht gespürt, das [sic] es nicht so ist. Fragen wie Quotenregelung wurden ja bei uns nie aufgeworfen. Frauen waren für mich in den Lehrgängen immer gleichberechtigt, wir waren immer halbe halbe. Unser Kollektiv besteht aus zwei Drittel Frauen. Oder Gewalt gegen Frauen, das war für mich kein Thema. Ich bin richtig erschrocken, als ihr darüber gesprochen habt.564
Andere Frauen hinterfragen in diesem Zusammenhang kritisch den Mythos von der angeblich realisierten Gleichberechtigung der Frauen in der DDR; dies tut etwa Silvia E.: Für mich bedeutete die Gleichberechtigung, daß ich das Geld mit rangeschafft habe und nicht wenig, dafür aber auch dementsprechend aussehe. In der BRD haben die Frauen ein ganz anderes Auftreten, viel selbstbewußter. Ich denke immer, man sieht es mir auf zehn Meter an, woher ich komme. […] Die Frauen bei uns sind mehr oder weniger ein Neutrum. Junge Mädchen nicht, aber Frauen ab dreißig. Nur als Arbeitsbiene ist man gefragt. Das eigentliche Glück der Frau sollte darin bestehen, ihren Mann zu stehen. Man konnte nichts Besseres von einer Frau sagen, als daß sie ihren Mann steht.565
Die Herausgeberinnen werfen allerdings nicht ausschließlich Frauen betreffende Fragen auf, sondern beispielsweise auch solche nach der Täter / OpferProblematik unter der SED-Herrschaft. In diesem Zusammenhang bekennt die 75-jährige Journalistin Ilse M.: Ich finde, jeder muß die Schuld mit auf sich nehmen und nicht irgendwelchen zehn Leuten an der Spitze die Schuld geben und sagen: „Ich bin Opfer, ich bin unschuldig.“ Stimmt überhaupt nicht. Wir haben das alles mitgemacht und trotz der ganzen Darstellungen jetzt, daß wir ewig geknechtet waren und es uns furchtbar schlecht ging … Also mir und vielen anderen ging es nicht schlecht. Und es war auch nicht so, daß wir nicht informiert waren.566 564
565 566
Ich bin ein richtiges Wendekind [Claudia B., 27, Kantinenkraft, Leipzig]. In: Erica Fischer / Petra Lux: Ohne uns ist kein Staat zu machen. DDR-Frauen nach der Wende. Köln 1990; S. 17-30, S. 28. Mein Leben ist versaut [Silvia E., 45, Sachbearbeiterin, Berlin]. In: Ebd.; S. 31-41, S. 39f. Ich bin der beste Verdränger, den ich kenne [Ilse M., 75, Journalistin, Berlin]. In: Ebd.; S. 197-230, S. 201.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Ebenfalls mit Frauenthemen setzt sich der von der Sozialwissenschaftlerin Angelika Behnk (*1950) und der Fotografin und Journalistin Ruth Westerwelle (*1951) herausgegebene Band Die Frauen von ORWO (1995) auseinander. Hier kommen 13 Frauen aus der Filmfabrik Wolfen zu Wort und berichten über ihr Leben. Für die Herausgeberinnen gibt es keinen Zweifel: „Längst war klar, daß die Frauen die Verliererinnen der Wiedervereinigung waren.“567 Wie in kaum einem anderen Band werden hier die persönlichen Folgen der ‚Abwicklung‘ eines Kombinats im weiteren und der Filmfabrik im engeren Sinne und die daraus resultierenden Brüche in den Biografien verdeutlicht. Dabei zeigt sich auch, dass die Wolfener Filmfabrik ein Mikrokosmos war, der exemplarisch für das Leben in vergleichbaren Großbetrieben der DDR gesehen werden kann: Ganze Familien arbeiteten für ein Unternehmen, zum Teil über Generationengrenzen hinweg. Das Areal der Fabrik war wie eine kleine Stadt angelegt – mit Kulturhaus, Buchhandlung, Lebensmittelgeschäft, Arztpraxen usw. Ähnlich wie Behnk und Westerwelle geht Annett Gröschner (*1964) in ihrem Text „Wir haben unsere Kittel noch im Schrank hängen lassen“ Die ehemalige Stieleisherstellerin Margot Siedow erzählt (1996)568 vor. Von der Konzeption her eher dem von Fischer und Lux herausgegebenen Werk vergleichbar sind die Bände Schmerzgrenze. 11 Porträts im Gespräch (1991)569, zusammengestellt von Holde-Barbara Ulrich, sowie Der springende Spiegel (1991)570, herausgegeben von Karen Margolis (*1952). Ob die Gespräche – wie bei Margolis – in Ost-Berlin, Leipzig oder Erfurt geführt wurden oder in anderen Städten, in allen Bänden zeigt sich immer wieder, dass der Mythos von der per se und in jeder Hinsicht emanzipierten DDR-Frau nicht aufrechtzuerhalten ist, da die Ost-Frauen durch Beruf und Familie doppelt belastet waren.571 567
568
569
570 571
Angelika Behnk / Ruth Westerwelle: Vorwort / Zwei Westfrauen machen sich auf den Weg, Ostfrauen zu einem Stück Industriegeschichte zu befragen. In: A.B. / R.W.: Die Frauen von ORWO. 13 Lebensbilder. Leipzig 1995; S. 6-13, S. 6. Annett Gröschner: „Wir haben unsere Kittel noch im Schrank hängen lassen“ Die ehemalige Stieleisherstellerin Margot Siedow erzählt. In: A.G.: ÿbbotaprag. heute. geschenke. schupo. schimpfen. hetze. sprüche. demonstrativ. sex. DDRbürg. gthierkatt. ausgewählte essays, fließ- & endnotentexte 1989-98. Berlin / Zepernick 1999, S. 119-130. Der 1996 geschriebene Text dürfte der Magdeburger Jorunalistin und Schrifstellerin als Hintergund für ihren vier Jahre später erschienenen ersten Roman Moskauer Eis gedient haben; vgl. A.G.: Moskauer Eis. Roman. Leipzig 2000. Holde-Barbara Ulrich: Schmerzgrenze. 11 Porträts im Gespräch. Bärbel Bohley, Sabina Hager, Heidrun Hegewald … Berlin 1991 (Zeitthemen / dietz berlin). Die Texte sind allerdings stärker beabeitet als bei Fischer / Lux. Karen Margolis: Der springende Spiegel. Begegnungen mit Frauen zwischen Oder und Elbe. Frankfurt a.M. 1991. Zu diesem Schluss gelangen auch Rita Süßmuth (*1937) und Helga Schubert (*1940) in dem von Michael Haller geleiteten Gespräch zum Thema Bezahlen die Frauen die Wiedervereinigung? (vgl. Rita Süßmuth / Helga Schubert: Bezahlen die Frauen die Wieder-
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
263
Eine weitere Gruppe von Protokollen setzt sich mit den Trägern der Demonstrationen des Herbstes 1989 auseinander. Zu nennen ist hier vor allem der von Bernd Lindner (*1952) und Ralph Grüneberger (*1951) herausgegebene Band Demonteure (1992).572 Häufiger anzutreffen sind dagegen Protokolle von Gesprächen mit ehemaligen Funktionsträgern der DDR. Gisela Karaus (*1932) Grenzerprotokolle573 (1992) enthalten „Gespräche mit ehemaligen DDR-Offizieren“, die an der Staatsgrenze eingesetzt waren. Ein anderer Schwerpunkt liegt auf Gesprächen mit früheren Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit: Unter dem Titel Staat im Staate (1990)574 veröffentlichte Christina Wilkening „Auskünfte ehemaliger Stasi-Mitarbeiter“. Basis des Bandes sind zwölf Tonbandprotokolle, die zwischen dem 20. Januar und dem 5. März 1990 entstanden – also unmittelbar nach der ‚Wende‘ und teilweise nach der beschlossenen Abschaffung des MfS durch den Runden Tisch im Dezember 1989. Wilkenings Gesprächspartner waren alle in höheren Diensträngen: vom Oberfeldwebel bis zum Oberst. Vergleichbar sind die „Gespräche mit ehemaligen MfS-Angehörigen“, die im selben Jahr unter dem Titel Stasi intim (1990)575 von Ariane Riecker, Annett Schwarz und Dirk Schneider herausgegeben wurden; zwei Jahre später erschienen Gisela Karaus Stasiprotokolle.576 Der Anspruch der Herausgeberinnen und Herausgeber ist dabei vor allem dokumentarischer Natur; man möchte einen Beitrag zur ‚Vergangenheitsbewältigung‘ leisten. Christina Wilkening (1990) formuliert über den Anspruch des von ihr herausgegebenen Bandes: Ich wollte wissen, wer diese Stasi-Leute waren, die im Volke so gefürchtet und so verhaßt waren. Was sie dachten und wie sie sich heute fühlen. Allen im Land hat man die Möglichkeit gegeben zu reden, sich zu rechtfertigen – ihnen nicht. Ich möchte es mit diesem Buch nachholen.577
Ariane Riecker, Annett Schwarz und Dirk Schneider (1990) betonen:
572 573 574 575 576 577
vereinigung? Mit einer aktualisierten Einführung von Monika Jaeckel. Hrsg von Michael Haller. München / Zürich 1992 [zuerst Zürich 1990]). Bernd Lindner / Ralph Grüneberger (Hgg.): Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst. Bielefeld 1992. Gisela Karau: Grenzerprotokolle. Gespräche mit ehemaligen DDR-Offizieren. Frankfurt a.M. 1992. Christina Wilkening: Staat im Staate. Auskünfte ehemaliger Stasi-Mitarbeiter. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit). Ariane Riecker / Annett Schwarz / Dirk Schneider: Stasi intim. Gespräche mit ehemaligen MfS-Angehörigen. Leipzig 1990. Gisela Karau: Stasiprotokolle. Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des „Ministeriums für Staatssicherheit“ der DDR. Frankfurt a.M. 1992. Christina Wilkening: Vorwort. In: C.W.: Staat im Staate. Auskünfte ehemaliger StasiMitarbeiter. Berlin / Weimar 1990 (Texte zur Zeit); S. 5f., S. 6.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Dennoch: Es wurde Wahrheit gesprochen. Wahrheit aus der Perspektive ehemaliger MfS-Mitarbeiter. MfS-Betroffene haben andere Wahrheiten. Objektivität, so schwer dieses Wort hier auch fällt, Objektivität setzt sich wohl aus diesen beiden Welten zusammen. Wir leben in der Hoffnung, daß wir den Anspruch auf gepachtete Wahrheiten hinter uns lassen. Um g e m e i n s a m herauszufinden, wie es war.578
Und Gisela Karau (1992) betont in der Einleitung zu ihren Protokollen: Ein Heer von Ausgestoßenen existiert in unserer Mitte. Ihre Biographien sind umso aufregender, je genauer man hinsieht und je weniger man den Warenwert der Stories auf dem Medienmarkt durch abstruse Überspitzungen zu erhöhen trachtet. Altem Unrecht wird dadurch täglich neues Unrecht hinzugefügt. Meine Aufgabe war nicht, zu rechten und zu richten. Ich habe Fragen gestellt und Antworten bekommen, und ich hoffe auf Leser, die an die Stelle von Pauschalurteilen Kenntnisse zu setzen bereit sind. […] Bewältigung findet in Schüben statt. Auf enttäuschte Hoffnungen folgt Trotz oder Depression, auf Depression Selbstbesinnung. Darum sagt Ex-Oberst Kurt Zeiseweis, einer der ersten, die sich der Auseinandersetzung auch in Begegnungen mit der ehemaligen DDR-Opposition stellten: „Die Staatssicherheit muß erlebbar werden. Wir müssen uns zeigen. Wer Vorwürfe hat, muß wissen, an wen er sich halten kann. Ich stehe für meine Mitarbeiter ein, wer etwas von ihnen will, soll zu mir kommen.“579
Ein letzter Komplex der Protokoll-Literatur beschäftigt sich mit der Situation von Kindern und Jugendlichen in der Zeit der ‚Wende‘, der Vereinigung und danach sowie mit den unterschiedlichen Lebensentwürfen der jungen Gesprächspartnerinnen und -partner. In diesem Zusammenhang zu nennen ist einer der wenigen Protokollbände, die auf westdeutsche Initiative zurückgehen: Helga Moerickes Wir sind verschieden (1991). Moericke, zur Zeit der Entstehung des Buches Leiterin eines Deutsch-Leistungskurses des West-Berliner Friedrich-Engels-Gymnasiums, nahm mit ihren Schülerinnen und Schülern Kontakt zu einer Ost-Berliner EOS gleichen Namens auf und führte im Mai / Juni 1990 intensive Gespräche mit je zehn Schülern und einer Lehrerin bzw. einem Lehrer. Gemeinsam war den Ost- und den West-Berliner Schülern, dass sie 1990 ihr Abitur ablegten. Über ihre Vorgehensweise berichtet Moericke: Im folgenden halben Jahr fand ein reger Austausch statt; viele Diskussionen wurden geführt, Klassen besuchten sich im Unterricht, gemeinsam wurden sportliche 578
579
Ariane Riecker / Annett Schwarz / Dirk Schneider: Vorwort. In: A.R. / A.S. / D.S.: Stasi intim. Gespräche mit ehemaligen MfS-Angehörigen. Leipzig 1990; S. 7, S. 7; Hervorhebung im Original. Gisela Karau: Einleitung. In: G.K.: Stasiprotokolle. Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des „Ministeriums für Staatssicherheit“ der DDR. Frankfurt a.M. 1992; S. 7f., S. 8.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
265
Wettkämpfe organisiert, Feten gefeiert. Fasziniert konnte ich miterleben, wie die unterschiedlichen Erfahrungen und Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler aus Ost und West aufeinanderprallten. In mir entstand das Bedürfnis, genauer zu ergründen, warum sie so verschieden waren. Mit den einzelnen habe ich intensive Gespräche geführt und sie auf Kassette aufgenommen. Dabei ging es mir nicht um allgemeinpolitische Statements, sondern darum, herauszufinden, wie von jedem und jeder die Wende erlebt wurde, welchen Einfluß sie auf die persönliche Lebensgestaltung hatte. Es gab keine vorbereiteten Fragen; entsprechend der Persönlichkeit des Schülers oder der Schülerin ergaben sich die Schwerpunkte des Gesprächs.580
Unterwegs nach Deutschland. Kinder im Niemandsland581, herausgegeben 1992 von Annegret Hofmann, umfasst zwischen August 1990 und Dezember 1991 geführte, meist kürzere Gespräche mit 37 Neun- bis Sechzehnjährigen aus Ost und West. Damit wird das erste Nachwendejahr, teilweise auch das erste Jahr der Einheit bilanziert. Hoffmann hatte zunächst nur Gesprächspartner im Osten gesucht, dehnte aber schon bald den Kreis auf die ‚alten‘ Bundesländer aus: 20 Gesprächspartner stammen aus dem Osten, 13 aus dem Westen, vier haben Erfahrungen mit bzw. in beiden Teilen Deutschlands. Das Fazit der Ost-Berliner Journalistin fällt erschreckend aus: Ich mußte bei meinen Gesprächen auch feststellen, was ich schmerzhaft geahnt hatte: Ein Jahr deutsche Einheit hat die Deutschen, auch die jungen, einander nicht nähergebracht. Dieselben Klischees, dieselben Vorurteile im Herbst 1990 wie im Herbst 1991. Manches ist noch mehr verhärtet, so daß man Angst haben muß. Angst, daß die Vorurteile, die Fremdheit auch diese Generation noch überdauern werden.582
Traten bei Moericke vor allem die Unterschiede zwischen Ost und West und die mit der Einheit verbundenen Herausforderungen zu Tage, ist bei Hofmann eine deutlich pessimistischere Sicht der Dinge spürbar. Im Zentrum steht die Orientierungslosigkeit vieler Kinder und Jugendlicher – in Ost wie in West. Ebenfalls thematisch ausgerichtet sind Gisela Karaus und Jens Vetters Gauck-Opfer (1995), Eberhard Panitz’ und Klaus Huhns Protokollband Mein Chef ist ein Wessi (1992)583 sowie Ich, Prinzessin Viola (1995)584 von
580 581 582 583 584
Helga Moericke: Vorbemerkung. In: H.M.: Wir sind verschieden. Lebensentwürfe von Schülern aus Ost und West. Frankfurt a.M. 1991; S. 5f., S. 5f. Annegret Hofmann: Unterwegs nach Deutschland. Kinder im Niemandsland. Protokolle nach Gesprächen. Berlin / Weimar 1992. Dies.: Kinder im Niemandsland. Ein Nachwort. In: Ebd., S. 154. Eberhard Panitz / Klaus Huhn: Mein Chef ist ein Wessi. Gedächtnisprotokolle 1992. Berlin 1992. Claudia von Zglinicki: Ich, Prinzessin Viola. Ein altes Haus und seine Besetzer. Berlin 1995.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Claudia von Zglinicki. Der von Karau und Vetter herausgegebene Band enthält 14 Gesprächsprotokolle mit Menschen, die nach der ‚Enthüllung‘ einer angeblichen Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst in die Isolation gerieten. Die sich in diesem Zusammenhang deutlich manifestierende Kritik an der Arbeit der Gauck-Behörde fällt hart aus: „Sie alle [die Interviewten; F.Th.G.] sind Gauck-Opfer geworden, weil die Behörde des Ex-Pfarrers zum Partyservice verkam – sie liefert auf Bestellung und zwar a [sic] la Karte [sic] … “585 Bei Panitz und Huhn stehen 13 Menschen im Vordergrund, deren Vorgesetzte Westdeutsche sind. In der zwei Jahre später veröffentlichten Protokollsammlung Ossiland ist abgebrannt586 derselben Herausgeber berichten verschiedene Menschen – darunter ein 14-jähriger Gymnasiast, ein Elektromeister und eine Prostituierte – über ihre Erfahrungen nach der ‚Wende‘. Während Panitz die Menschen frei erzählen ließ, arbeitete Huhn mit Fragebögen, deren Ergebnisse er in seinen Beiträgen zusammenfasst. Die Journalistin Claudia von Zglinicki sprach mit acht jungen Hausbesetzern auf dem Prenzlauer Berg über ihren Alltag und ihr Leben jenseits der gesellschaftlichen ‚Normalität‘. 2002 veröffentlichete Rita Kuczynski unter dem Titel Die Rache der Ostdeutschen587 einen Band, in dem PDS-Wähler über ihre Zeit vor der ‚Wende‘, den Mauerfall, ihre Erfahrungen mit der deutschen ‚Einheit‘ und ihre Motivation, sich bei der Berliner Wahl 2001 für die PDS zu entscheiden, Auskunft geben. Am Rande der Protokoll-Literatur angesiedelt sind die Erinnerungen der Politikerinnen und Politiker sowie anderer – mehr oder weniger prominenter – Zeitzeugen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, die in Christiane Landgrebes Buch Der Tag, an dem die Mauer fiel (1999)588 zu Wort kommen: Walter Momper, Lutz Rathenow, Jutta Limbach, Lothar de Maizière, Gisela Oechelhaeuser, Sabine Christiansen und andere erinnern sich aus Anlass des zehnten Jahrestages des Falls der Mauer an den 9. November 1989. Landgrebes Buch enthält aber keine Wortlautinterviews oder Gesprächsprotokolle, sondern freiere Texte, die auf Grundlage von Gesprächen mit den entsprechenden Personen verfasst wurden. Zur Protokoll-Literatur im allerweitesten Sinne sind auch Berichte und Geschichten zu zählen, die in den meisten Fällen – zunächst – überhaupt nicht in schriftlicher Form fixiert und dafür an sich auch nicht vorgesehen waren. 1988 fingen die Volkskundler Andreas Hartmann und Sabine 585 586 587 588
Gisela Karau / Jens Vetter: Gauck-Opfer. Nachwort: Rechtsanwalt Johannes Eisenberg. [Berlin] 1995, Klappentext. Eberhard Panitz / Klaus Huhn: Ossiland ist abgebrannt. Nachwort: Heinrich Heine. Berlin 1994. Rita Kuczynski: Die Rache der Ostdeutschen. Berlin 2002. Christiane Landgrebe: Der Tag, an dem die Mauer fiel. Prominente Zeitzeugen erinnern sich. Berlin 1999.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
267
Künsting an, Berichte über das Leben im westdeutschen Zonenrandgebiet zu sammeln: Wir fragten uns, ob durch die Grenze ein spezifischer Erfahrungsraum hervorgebracht worden sei und ob dieser Erfahrungsraum in Gestalt überlieferter Geschichten sichtbar würde. Diese Frage bewog uns zu Beginn des Jahres 1988 dazu, einen Schreibaufruf zu verfassen, den wir mit der Bitte um Abdruck an die Redaktionen aller Regionalzeitungen versandten, die im grenznahen Raum erscheinen – auf westlicher Seite, versteht sich.589
Später kam es zu weiteren Aufrufen, auch im Rundfunk. Die Sammlung wurde schließlich von der ‚Wende‘ eingeholt, auch Schilderungen der Grenzöffnungen und subjektive Erfahrungsberichte fanden deshalb Aufnahme. Dabei wird deutlich, dass [d]ie meisten Autoren […] ihre eigene Person in den Mittelpunkt der Beschreibung [stellen]. Sie führen in allen Einzelheiten auf, wie sie die weltbewegenden Stunden verbrachten, wie ihre ersten Begegnungen mit den Menschen aus dem anderen Deutschland verliefen und wie sie sich von den Ereignissen so sehr verzaubern ließen, daß „nicht einmal der schönste RTL-Plus-Heimatfilm“ so ergreifend hätte sein können.590
In den nach 1995 erschienenen Protokoll-Bänden werden stärker vergleichende Aspekte mit einbezogen. So dokumentiert der Band Dreizehn deutsche Geschichten (1998)591 „erzähltes Leben“ von Deutschen, zweier Russen und einer gebürtigen Japanerin in Ost- und Westdeutschland. Den Rahmen für die Entstehung des Buches bildete die Dresdner Erzählwerkstatt der Körber-Stiftung zwischen Sommer 1996 und Winter 1997, deren Mitglieder sich einmal im Monat trafen, um einander ihre Biografien zu erzählen: Der Dokumentation geht es nicht um eine Anhäufung scheinbar objektiver historischer Fakten. In der Erzählwerkstatt zusammengetragen wurde mit den individuellen Lebensrekonstruktionen ein Quellenmaterial, das Reflexionen über persönliche sowie gesellschaftliche Brüche und Kontinuitäten transparent macht. Die Texte belegen beispielhaft Wege von der erlebten zur erzählten Geschichte
589 590 591
Grenzgeschichten. Berichte aus dem deutschen Niemandsland. Hrsg. von Andreas Hartmann und Sabine Künsting. Frankfurt a.M. 1990, S. 10. Ebd., S. 361f. Dreizehn deutsche Geschichten. Erzähltes Leben aus Ost und West. Hrsg. von Winfried Ripp und Wendelin Szalai. Hamburg 1998.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
und regen damit Historiker und interessierte Zeitgenossen zum Nachfragen und Nachdenken an.592
Ähnlich aufgebaut, aber nicht auf der Basis wechselseitiger Gespräche in institutionalisierten Zusammenhängen entstanden, ist der von Andreas Maus und Burkhard Peter herausgegebene Band Drüben (1999).593 In sechs Doppelporträts kommen zwölf Menschen aus Ost und West zu Wort, die – weit gehend innerhalb bestimmter Themenkreise (Sport, Kirche, Leben in Neubauvierteln, Landwirtschaft, Theater und Arbeitskämpfe) – aus ihrem Leben erzählen und berichten. Wie in Dreizehn deutsche Geschichten tritt die eigentliche ‚Wende‘-Thematik zu Gunsten unter historischem Blickwinkel weiter gefasster Zusammenhänge zurück. 5.2.1.2
Porträts
Eine Randstellung nehmen die zahlreichen Porträtbände ein – allen voran die mehrfach aufgelegten, auf einer Fernseh-Reihe basierenden, Porträts Zur Person (1991-1993 / 1998 / 1999 / 2001)594 von Günter Gaus sowie der Band Sie waren dabei. Ost-deutsche Profile von Bärbel Bohley zu Lothar de Maizière (1991) des Fernsehjournalisten Ernst Elitz. Elitz porträtiert „Menschen hinter den Schlagzeilen“, darunter Markus Wolf, Bärbel Bohley, Sabine Bergmann-Pohl und Gregor Gysi – in erster Linie also Politiker. Im Vorwort zu seinem Buch bekennt er: Ich war neugierig auf sie alle – die Charakterköpfe und die Charaktermasken – und habe die Helden der ersten Stunde besucht und mich mit den Vorsichtigen und Abwartenden unterhalten. Ich wollte wissen, warum die einen mutig waren, während die anderen sich noch zurückhielten. Mich interessierten das Leben und die Gewissensentscheidung von Menschen, die mir in Zeitungen und abendlichen Fernsehnachrichten begegnen. Es sind Lebensläufe voller Widersprüche. Und bei jedem habe ich mich gefragt: Wie hättest du in ihrer Situation gehandelt? Diese 592
593 594
Von der erlebten zur erzählten Geschichte. Vorwort von Winfried Ripp zu Dreizehn deutsche Geschichten. Erzähltes Leben aus Ost und West. Hrsg. von Winfried Ripp und Wendelin Szalai. Hamburg 1998; S. 7-10, S. 9f. Andreas Maus: Drüben. Alltagsgeschichten aus Ost und West. Mit Fotografien von Burkhard Peter. München 1999. Günter Gaus: Zur Person. Band 1. Gespräche mit Schriftstellern. Jurek Becker, Daniela Dahn, Walter Jens, Hermann Kant, Helga Königsdorf, Christa Wolf. Berlin 1998; Ders.: Zur Person. Band 2. Gespräche mit Ministerpräsidenten. Reinhard Höppner, Oskar Lafontaine, Johannes Rau, Berndt Seite, Heide Simonis, Bernhard Vogel, Wolfgang Clement. Berlin 1998; Ders.: Zur Person. [Band 3]. Gespräche mit bildenden und darstellenden Künstlern. Kurt Böwe, Albert Hetterle, Dieter Hildebrandt, Thomas Langhoff, Kurt Maetzig, Wolfgang Mattheuer, Claus Peymann, Willi Sitte, Katharina Thalbach. Berlin 1999; Ders.: Zur Person. [Band 4]. Gespräche mit Frauen. Katarina Witt, Inge Vieth, Barbara Thalheim, Hildegard Hamm-Brücher, Gisela Oechelhaeuser, Antje Vollmer, Ellen Brombacher. Berlin 1999; Ders.: Zur Person. [Band 5]. Gisela May, Harald Schmidt, Inge Keller, Heinz Berggruen, Johannes Mario Simmel, Egon Bahr, Klaus Schlesinger. Berlin 2001.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
269
Frage muß sich wohl jeder stellen, bevor er verteidigt oder verurteilt. Wichtig ist es erst einmal, die Menschen hinter den Schlagzeilen kennenzulernen.595
Im Hinblick auf den Kreis der porträtierten Personen weitaus breiter angelegt sind die Porträts von Günter Gaus. Während Elitz seine Gespräche in einen Text einbettet, behält Gaus die ursprüngliche Dialogform bei; seine Porträtbände folgen somit einem höheren Authentizitätsanspruch. Eine Sonderstellung zwischen Protokoll-Literatur, Porträt und Reportage nehmen die Bücher Landolf Scherzers (*1941) ein, der mit Der Zweite (1997)596 an sein 1988 erschienenes Buch Der Erste597 anknüpfte, das auch in der Bundesrepublik viel beachtet wurde und eine Gesamtauflage von über 100 000 Exemplaren erreichte. In Der Erste hatte Scherzer vier Wochen lang Hans-Dieter Fritschler begleitet, den Ersten SED-Kreissekretär von Bad Salzungen; dabei scheute er auch nicht die explizite Darstellung von Problemen. Er schrieb damit die wohl erste differenzierte ‚Innenansicht‘ eines Funktionsträgers in der DDR. Nach der ‚Wende‘ brachte der Aufbau-Verlag eine Neuausgabe mit einem Anhang heraus, in dem Scherzer seine Erfahrungen mit dem „Ersten“ Ende 1989 dokumentiert.598 In Der Zweite setzte Scherzer seine ‚Langzeitreportage‘ fort und begleitete nun Stefan Baldus, den neuen Landrat von Bad Salzungen, einen ehemaligen hohen Offizier der Bundeswehr. In diesem Fortsetzungsband stellt Scherzer nicht nur die Probleme in den östlichen Bundesländern – Schließung von Betrieben, Arbeitslosigkeit, Investitionsprojekte, Grundstückspekulationen, Schwierigkeiten bei der Rückgabe von Alteigentum, Landkreisreform – exemplarisch dar, sondern geht auch auf die Probleme eines aus Westdeutschland stammenden Funktionsträgers im Osten und die daraus resultierende Auseinandersetzung mit wechselseitigen Vorurteilen ein. Baldus’ Fazit, das zugleich als Fazit des gesamten Buches gelten kann, lautet: „Die Wiedervereinigung über die Identifikation mit dem BRD-Staat ist nicht gelungen. Es gibt noch kein neues gemeinsames Staatsbewußtsein.“599 2000 erschien mit Der Letzte600 ein dritter Band ähnlicher Machart. Dieser beruht nicht auf der Beobachtung einer einzelnen Person: Im Mittelpunkt stehen mehrere 595
596 597 598
599 600
Ernst Elitz: Vorwort: Menschen hinter den Schlagzeilen. In: E.E.: Sie waren dabei. Ostdeutsche Profile von Bärbel Bohley zu Lothar de Maizière. Stuttgart 1991; S. 7-10, S. 10. Landolf Scherzer: Der Zweite. Berlin 1997. Ders.: Der Erste. Protokoll einer Begegnung. Rudolstadt 1988 bzw. Der Erste. Eine Reportage aus der DDR. Köln 1989. Ders.: Der Erste. Mit einem weiterführenden Bericht „Der letzte Erste“. Berlin 1997. „Der letzte Erste“ findet sich bereits in: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990, S. 345-365. Ders.: Der Zweite. Berlin 1997, S. 85. Ders.: Der Letzte. Berlin 2000.
270
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Abgeordnete des Thüringer Landtages, die Scherzer bei ihrer täglichen Arbeit und im Wahlkampf begleitete. Zu diesem Zweck hatte er sich beim Landtag im Januar 1999 als Berichterstatter akkreditieren lassen. 5.2.1.3
Reportagen
Reportagen erschienen meist in Form von Zeitungskolumnen. Hervorzuheben sind insbesondere die Texte der Ostdeutschen Christoph Dieckmann (*1956)601, Alexander Osang (*1962)602, Jutta Voigt (*1941)603 und Landolf Scherzer (*1941)604 sowie der aus Westdeutschland stammenden Gabriele Goettle (*1946).605 In Christoph Dieckmanns Texten, die mittlerweile nahezu vollständig auch in Form von Sammelbänden vorliegen, stehen meist alltägliche Probleme in den östlichen Bundesländern im Vordergrund; ihm geht es um die Auswirkungen der ‚Einheit‘ auf den Einzelnen. Der zweite große ‚Reporter‘ der ‚Wende‘ und Nachwendezeit neben Dieckmann ist Alexander Osang. Profiliert hat sich der studierte Journalist vor allem mit dem Band Das Jahr Eins. Berichte aus der neuen Welt der Deutschen (1992).606 Seine Themen sind vielfältig: In Karls Enkel berichtet er über die Rückbenennung des brandenburgischen Dorfes Marxwalde in Neuhardenberg607; er interessiert sich auch für die ‚neuen‘ Montagsdemonstrationen in Leipzig608 601
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Vgl. v.a.: Christoph Dieckmann: Oh! Great! Wonderful! Anfänger in Amerika. Berlin 1992; Ders.: Time is on my side. Ein deutsches Heimatbuch. Berlin 1995; Ders.: Das wahre Leben im falschen. Geschichten von ostdeutscher Identität. Berlin 1998; Ders.: Hinter den sieben Bergen. Geschichten aus der deutschen Murkelei. München 2000; Ders.: Die Liebe in den Zeiten des Landfilms. Eigens erlebte Geschichten. Berlin 2002. Alexander Osang: Das Jahr Eins. Berichte aus der neuen Welt der Deutschen. Berlin 1991 (VWV Report); Ders.: Hannelore auf Kaffeefahrt. Reportagen und Porträts. Frankfurt a.M. 1998; Ders.: Ankunft in der neuen Mitte. Reportagen und Porträts. Berlin 1999; Ders.: Schöne neue Welt. 50 Kolumnen aus Berlin und New York. Berlin 2001; Ders.: 89. Heldengeschichten. Berlin 2002. Jutta Voigt: Der Tiger weint. Echte Stories. Berlin 1997; Dies. / Rolf Zöllner: Der Spleen von Berlin. Berlin 1999. Landolf Scherzer: Mitleid ist umsonst, Neid mußt du dir erarbeiten. Reportagen. Mit einem Vorwort von Günter Wallraff. Berlin 1997 (Rote Reihe). Gabriele Goettle: Deutsche Sitten. Erkundungen in Ost und West. Mit Photographien von Elisabeth Kmölniger. Frankfurt a.M. 1991 (Die andere Bibliothek, Band 78); Dies.: Deutsche Bräuche. Ermittlungen in Ost und West. Mit Photographien von Elisabeth Kmölniger. Frankfurt a.M. 1994 (Die andere Bibliothek, Band 111); Dies.: Deutsche Spuren. Erkenntnisse aus Ost und West. Mit Photographien von Elisabeth Kmölniger. Frankfurt a.M. 1997 (Die andere Bibliothek, Band 152). Alexander Osang: Das Jahr Eins. Berichte aus der neuen Welt der Deutschen. Berlin 1992 (VWV Report). Ders.: Karls Enkel. Das Dorf Marxwalde versucht, mit seinem Namen auch seine Probleme loszuwerden. In: Ebd., S. 14-25. Ders.: Die Helden sind müde. Ein Jahr danach gibt es wieder Montagsdemos in Leipzig – doch die Wut der Straßengänger hat kein Ziel mehr. In: Ebd., S. 62-65.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
271
und für die Vereinigung von bundesdeutscher Polizei und Volkspolizei.609 Häufig setzt er sich mit dem Wandel des Lebens im Osten, dem Umgang mit symbolträchtigen Monumenten der DDR oder mit deren Beseitigung auseinander.610 Im Zentrum seiner Texte stehen jedoch nicht ausschließlich die neuen Bundesländer und der Ostteil Berlins, sondern auch der Westen: beispielsweise ist die Feinschmeckeretage des West-Berliner KaDeWe (Kaufhaus des Westens) Gegenstand von Aufzug ins Schlaraffenland.611 Demgegenüber stehen Reportagensammlungen, die aus verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften zusammengestellt wurden, etwa die beiden von den Journalisten Dieter Golombek (Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn) und Dietrich Ratzke (FAZ, Frankfurt a.M.) herausgegebenen Bände mit „Reportagen über eine deutsche Revolution“.612 Dabei formulieren die Herausgeber explizit einen ‚Bewahrungsanspruch‘: Die gesammelten Reportagen sollen auch dazu dienen, daß nicht zu schnell vergessen wird. Denn je rascher es in der DDR aufwärts geht, desto stärker wird der Hang zum Verdrängen der Vergangenheit werden. Die Reportagen als Merkposten also auch für die Generationen, die danach kommen.613
Im Vorwort zum zweiten Band heißt es: „Wir tun gut daran, nicht zu vergessen. Dieser Band soll Vergessen verhindern.“614 Band I umfasst im Wesentlichen die Zeitspanne zwischen Herbst 1989 und den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990, Band II die Zeit vom 18. März 1990 bis zur ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990. Der Reportage verwandte Texte ‚von außen‘, das heißt aus der Feder ausländischer Journalisten, finden sich ebenfalls in großer Zahl: Eines der frühesten Beispiele ist das essayistische Tagebuch des amerikanischen Historikers Robert Darnton (*1939) Der letzte Tanz auf der Mauer
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Ders.: 0 / 1 / 12 / 6. Probleme im gemischten Polizistendoppel. In: Ebd., S. 72-77. Vgl. Ders.: Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Wie das Thüringer Städtchen Bad Frankenhausen mit Tübkes Monumentalgemälde zurechtkommt. In: Ebd., S. 83-91 bzw. A.O.: Sorgfältig, umgehend, schnellstmöglich. Friedrichshain erträgt Lenins Anblick nicht mehr. In: Ebd., S. 150-154. Ders.: Aufzug ins Schlaraffenland. In der Freßetage des KaDeWe kann der feinnervige Völler sein Gewissen beruhigen. In: Ebd., S. 26-33. Dagewesen und aufgeschrieben. Reportagen über eine deutsche Revolution. Hrsg. von Dieter Golombek und Dietrich Ratzke. Frankfurt a.M. 1990; Facetten der Wende. Reportagen über eine deutsche Revolution. Band II. Hrsg. von D.G. und D.R. Frankfurt a.M. 1991. Dieter Golombek / Dietrich Ratzke: Zu diesem Buch. In: Dagewesen und aufgeschrieben. Reportagen über eine deutsche Revolution. Hrsg. von D.G. und D.R. Frankfurt a.M. 1990; S. 11f., S. 12. Dies.: Zu diesem Buch. In: Facetten der Wende. Reportagen über eine deutsche Revolution. Band II. Hrsg. von D.G. und D.R. Frankfurt a.M. 1991; S. 13f., S. 14.
272
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
(1991).615 Darnton war im September 1989 im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes nach Berlin gekommen, um die deutsche Revolutionsgeschichte zu erforschen; in die Entwicklungen des Herbstes ’89 geriet er eher zufällig hinein. Sein Buch stellt mit seinen fünf Teilen bzw. 27 Episoden eine Mischung aus Reportage, Augenzeugenbericht, Essay, historischer Analyse und Protokoll dar. Allerdings darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass der Verfasser zahlreichen Vorurteilen nachhängt und das Buch nicht wenige scheinbar neutrale Informationen enthält, die schlicht falsch sind oder deren Darstellung grob vereinfacht ausfällt.616 Er umreißt sein Anliegen wie folgt: In diesem Buch schildere ich die deutsche Revolution 1989-1990, von den Bürgern der DDR manchmal etwas bescheidener „Wende“ genannt. […] Verdienen es diese Vorgänge überhaupt, revolutionär genannt zu werden? […] Statt eine akademische Analyse zu schreiben, in der ich theoretisch hätte begründen können, was eine Revolution wirklich ist, versuchte ich, die Ereignisse in ihrer Abfolge journalistisch darzustellen.617
Eine ‚Reisereportage‘ aus der – auch in diesem Bereich eher selten anzutreffenden – westdeutschen Perspektive ist Michael Rutschkys (*1943) Unterwegs im Beitrittsgebiet (1994).618 Der Band versammelt Berichte dreier Reisen, von denen die erste im November 1989, die zweite im November 1991 und die dritte im Sommer 1993 stattfand. Rutschky gelingt es so, ein differenziertes Bild der Veränderungen zu zeichnen, zumal in seinen schlicht mit „Eins“, „Zwei“, „Drei“ überschriebenen Reportagen nicht nur eigene Erfahrungen, sondern auch zahlreiche Gespräche verarbeitet wurden. Klaus Pohls (*1952) Das Deutschlandgefühl (1999)619 stellt dagegen eine Mischung aus Reisebericht und Porträtliteratur dar. Der in New York lebende Schauspieler und Schriftsteller unternahm im Sommer 1994 und im Winter 1998 Reisen durch die östlichen Bundesländer, jeweils mit der gleichen Route. Es entstand ein Reisebericht in zwei großen Teilen, die wiederum aus kurzen Kapiteln zusammengesetzt sind. Im Mittelpunkt
615 616
617 618 619
Robert Darnton: Der letzte Tanz auf der Mauer. Berliner Journal 1989-1990. Aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl. München 1991. Vgl. in diesem Zusammenhang etwa seine Ausführungen über den 9. Oktober 1989 in Leipzig und den Mauerfall am 9. November 1989; Vorwort. In: R. D.: Der letzte Tanz auf der Mauer. Berliner Journal 1989-1990. Aus dem Amerikanischen von Hans Günter Holl. München / Wien 1991; S. 9-17, S. 10f. Ebd., S. 9. Michael Rutschky: Unterwegs im Beitrittsgebiet. Göttingen 1994. Klaus Pohl: Das Deutschlandgefühl. Reinbek 1999.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
273
stehen dabei stets die Menschen und ihre Erfahrungen nach der ‚Wende‘. Ihnen hat Pohl sein Buch auch gewidmet. 5.2.1.4
Tagebücher
Tagebücher können mit unterschiedlichem Anspruch geführt werden. Handelt es sich nicht um später für den Druck überarbeitete literarische Tagebücher, wie im Falle von Thomas Rosenlöchers (*1947) Die verkauften Pflastersteine (1990), wohnt ihnen zunächst ein in erster Linie persönliches Interesse inne, häufig verbunden mit einem chronistischen Anspruch. Das Tagebuch ist also „wesentlich ein Mittel zur Kommunikation mit sich selbst.“620 Im Zentrum steht meist der Ort, an dem sein Verfasser zu Hause ist oder sich gerade aufhält. Sonderformen von Tagebüchern621, aber auch tagebuchähnliche Aufzeichnungen wie Notizen, gehören zu den frühesten und authentischsten Formen der schriftlichen, wenn auch nicht unbedingt im engeren Sinne literarischen Auseinandersetzung mit ‚Wende‘ und ‚Einheit‘. Für viele Menschen waren die Ereignisse des Herbstes 1989 Anlass, mit dem Tagebuchschreiben zu beginnen oder das Tagebuchführen wieder aufzunehmen. Prominentestes Beispiel dürfte Günter Grass sein, der in seinem „Werkstattbericht“ Fünf Jahrzehnte (2001) bekennt: Dann aber brachte ein sich überstürzender Prozeß, bündig „Deutsche Einheit“ genannt, die östlichen und westlichen Wirklichkeiten und mit ihnen auch meine Gewißheiten ins Wanken. Was ich seit dem Aufenthalt in Calcutta mangels Dringlichkeit nicht mehr getan hatte, ich schrieb Tagebuch, reiste mit meiner Kladde durch die sich neu gründenden ostdeutschen Länder, erlebte, welche Folgen es hat, wenn der revolutionäre Ruf „Wir sind das Volk!“ in die Behauptung „Wir sind ein Volk“ regelrecht umgemünzt wird und sodann als rechtskräftige Enteignung sogar die Biographien der Neubürger erfaßt.622
Bisweilen ist der dargestellte Zeitraum bzw. der Zeitraum, aus dem Eintragungen veröffentlicht werden, außerordentlich kurz: Die „Bekenntnisse 620 621
622
Rüdiger Görner: Das Tagebuch. Eine Einführung. München / Zürich 1986, S. 11 (Artemis Einführungen, Band 26). So liegen für die Zeit des Herbstes 1990, also der Wochen um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, acht von Frauen geführte Tagebücher vor, die gewissermaßen ‚im Auftrag‘ – nach Aufforderung über einen Zeitungsartikel – geschrieben wurden. Es handelt sich also nicht um Tagebücher im ganz eng gefassten Sinn. Dennoch geben auch diese Aufzeichnungen aufschlussreiche Einblicke in alltägliche Veränderungen und die Brüche von Biografien in der Zeit der ‚Wende‘ bzw. unmittelbar danach – einmal mehr aus weiblicher, nicht aber explizit feministischer Perspektive: Unsere Haut. Tagebücher von Frauen aus dem Herbst 1990. Hrsg. von Irene Dölling, Adelheid Kuhlmey-Oehlert, Gabriela Seibt. Berlin 1992. Günter Grass: Fünf Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht. Hrsg. von G. Fritze Margull. Göttingen 2001 (editionWelttag), S. 104.
274
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
und Einsichten“ des DDR-Spionagechefs Markus Wolf, veröffentlicht 1991 unter dem Titel In eigenem Auftrag623, umfassen das ganze Jahr 1989, Mario Göpferts (*1957) Tagebuchblätter624 dagegen den Zeitraum vom 7. bis zum 10. Oktober 1989: Gegenstand ist die Festnahme des Autors am Rande von Protestkundgebungen in Dresden (die er lediglich beobachtete) und seine anschließende Inhaftierung. Die Aufnahme exakter Uhrzeitangaben legt den Schluss nahe, dass die Blätter für Göpfert eine schriftliche Rekonstruktion der Ereignisse darstellen, die zunächst einmal vor allem für ihn selbst wichtig sind und somit (selbst-)therapeutische Funktion besitzen. Andere Tagebücher besitzen keinen umfassenden Anspruch im Hinblick auf das Festhalten gelebten Lebens und von Gedanken, sondern bezeugen lediglich Teilaspekte davon. Ein Beispiel ist Christina Wilkenings Ich wollte Klarheit (1992)625: Die Autorin dokumentiert darin ihre journalistische Recherche in Sachen Staatssicherheit zwischen dem 9. Februar 1990 und dem 1. Oktober 1991. Das Tagebuch des Philosophen Reiner Tetzner (*1936), erschienen 1990 unter dem Titel Leipziger Ring, gehört zu den frühesten selbstständig erschienenen Publikationen des Genres. Tetzner versteht sich als Zeitzeuge626, der seine Glaubwürdigkeit vor allem darauf stützt, unmittelbar an den Ereignissen beteiligt gewesen zu sein: „Ich bin bei den Leipziger Montagsdemonstrationen mitgegangen und habe aufgeschrieben, was ich gesehen und gehört habe.“627 Folglich konzentriert sich seine Darstellung auf den Leipziger Raum. Tetzner berichtet subjektive Erlebnisse, ordnet diese aber in einen umfassenderen Kontext ein. Die Subjektivität tritt durch diese Vorgehensweise an zahlreichen Stellen zu Gunsten eines Objektivitätsanspruchs zurück, etwa wenn historische Ereignisse nachgetragen werden. Tetzners Aufzeichnungen lassen – nicht zuletzt durch die dominierende Verwendung des historischen Präsens – eine Atmosphäre des Unmittelbaren entstehen; so schreibt er am 2. Oktober 1989:
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Markus Wolf: In eigenem Auftrag. Bekenntnisse und Einsichten. München 1991 (Schneekluth, Zeitzeugen sprechen). Mario Göpfert: Blätter aus dem Dresdner Herbst 89. Ein Stundentagebuch. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990, S. 200-214. Christina Wilkening: Ich wollte Klarheit. Tagebuch einer Recherche. Berlin / Weimar 1992. Vgl. zu diesem Anspruch auch Dr. Reiner Tetzner – Schriftsteller: „Als Schriftsteller möchte ich festhalten, was während der Wende geschehen ist.“ In: Bernd Lindner / Ralph Grüneberger (Hgg.): Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst. Bielefeld 1992, S. 243-250. Reiner Tetzner: Leipziger Ring. Aufzeichnungen eines Montagsdemonstranten Oktober 1989 bis 1. Mai 1990. Mit 42 Fotos. Frankfurt a.M. 1990, S. 5.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
275
Bereitschaftspolizisten sperren die Straßen und schließen einen Ring um die Nikolaikirche. Ich fordere an der Reichsstraße Durchlaß, werde abgewiesen und stehe mit vielen hundert Zuschauern und Neugierigen vor den Grünuniformierten. Polizeihunde bellen gegen die eingekesselten Menschen, in deren Pfiffe und Sprechchöre viele der Sympathisanten vor dem grünen Spalier einstimmen.628
Häufig stellt der Verfasser seine Sicht der Dinge offiziellen Zeitungsmeldungen aus der Leipziger Volkszeitung und dem Neuen Deutschland gegenüber. Das Buch enthält zahlreiche Passagen, in denen die aktuellen Ereignisse reflektiert und in einen größeren historischen Rahmen eingeordnet werden: Am Ring stehen neue oder renovierte Hotels, moderne Wohnbauten, neben Grünanlagen das 1981 eingeweihte Gewandhaus, restaurierte Kirchen. Außerhalb des Rings verfallen ganze Stadtviertel. Zur Messe wird die Innenstadt glänzend aufpoliert; die Berliner SED-Führung präsentiert Leipzig weltstädtisch. Einheimische schmerzt um so mehr der Kontrast zwischen diesem Anspruch und dem Verfall in den alten Außenvierteln und Vororten, den stinkenden Flüssen, der oft vergifteten Luft in der Stadt. […] In Leipzig, der weltoffensten Stadt der DDR nach Berlin, wuchs früh Protest gegen die stalinistischen Strukturen, nicht zuletzt bereits in den fünfziger Jahren an der Universität, durch den Philosophen Ernst Bloch und den Germanisten Hans Mayer. Die Proteste gegen die Sprengung der Universitätskirche gehörten dazu. In den achtziger Jahren war es die Friedensbewegung. Im Schutz der Leipziger Kirchen arbeiten seit Jahren Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensgruppen. Zur Tradition wurden die seit sieben Jahren an jedem Montag abgehaltenen Friedensandachten in der Nikolaikirche – aus ihr zogen schließlich die Demonstranten auf den Ring.629
Tetzners Aufzeichnungen enden am 6. Mai 1990 mit der Wiedergabe eines Gespräches, in dem die Montagsdemonstrationen bereits mit historischem Abstand betrachtet werden: „Haben wir zu Recht demonstriert?“ frage ich Klaus B. „Es wurde Zeit. Drei Jahre länger, und die Katastrophe wäre noch größer gewesen“, erwidert er. „Wenn ich sehe, was in unseren Betrieben los ist, sage ich mir: Es war höchste Zeit! Aus eigener Kraft würden wir aus der Misere nicht rauskommen.“ „Durchziehen“, sagt Christel. Ich telefoniere mit dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange, einem Unterzeichner des Aufrufs der Sechs.
628 629
Ebd., S. 7. Ebd., S. 30-32.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
„Das Wichtigste ist die geistige Freiheit, das Leben ohne Mielke und Mittag“, meint er über unsere Lage. „Wir müssen das Beste draus machen. Nun erlebe ich den Kapitalismus wenigstens in meiner Heimat. Nach den Jahren des Mangels verstehe ich das Bedürfnis der Massen nach Konsum. Die Revolution endet im Kaufhaus.“ „Alles geht ziemlich schnell“, sage ich. „Nicht nur die SED ist Trittbrettfahrer der Revolution. Auch die Leute hinter den Gardinen, die herauskommen, wenn’s nicht mehr gefährlich ist. Aber die Gewinner der Revolution wohnen nicht in Leipzig.“ „Du meinst drüben?“630
Das Fragezeichen am Ende der Aufzeichnungen lässt dem Leser Raum für eigene Überlegungen, das oben zitierte Gespräch erhält dadurch nahezu den Charakter eines ‚Lehrstücks‘. Die unter dem Titel Ade, DDR! (1990) veröffentlichten „Tagebuchblätter“ von Heinz Kallabis (*1930) umfassen praktisch den gleichen historischen Abschnitt wie Reiner Tetzners Aufzeichnungen. Kallabis waren 1969 seine Professur für Soziologie an der Hochschule der Gewerkschaften in Bernau und die Lehrberechtigung an Hoch- und Fachschulen der DDR entzogen worden, weil er angeblich revisionistische Konzeptionen vertreten hatte. Anfang 1990 wurde er politisch und wissenschaftlich rehabilitiert. Zu Beginn des Bandes stellt Kallabis relativ ausführlich seine Gründe dar, überhaupt Tagebuch zu führen: Die Tagebuchblätter entstanden seit Anfang Oktober 1989 aus dem persönlichen Bedürfnis, Ereignisse, Probleme und eigene Erlebnisse, persönliche Meinungen und Befindlichkeiten in dieser bewegten Zeit festzuhalten, in der Absicht, später einmal bei einer gründlicheren Analyse und Wertung des im Oktober vergangenen Jahres begonnenen gesellschaftlichen Wandels Dinge, die sonst in Vergessenheit geraten könnten, zu reflektieren. Sie stellen in gewissem Sinne eine persönliche Materialsammlung dar, um die eigenen Einschätzungen, Haltungen, auch die Irrtümer und möglichen Illusionen auf ihre Gründe befragen zu können. Aus diesem Grunde wurden diese Tagebuchblätter auch immer in der Sicht des Augenblicks geschrieben, ohne dabei vorher Geschriebenes nochmals zu prüfen und zu berücksichtigen. Sie haben daher eigentlich nur eine Bedeutung für mich selbst, meine Selbstauseinandersetzung. Sie sind sehr subjektiv und zeitgebunden, ohne jeden Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. […] Die Veröffentlichung endet mit dem 8. Mai 1990. Ich glaube, daß bis zu diesem Datum wichtige Wandlungen ihren relativen Abschluß gefunden haben. Die „Revolution“ des Oktober ist in die „Restauration“ des Mai übergegangen. Ein neuer Abschnitt beginnt.631 630 631
Ebd., S. 117. Heinz Kallabis: Ade, DDR! Tagebuchblätter 7. Oktober 1989 bis 8. Mai 1990. Berlin (DDR) 1990, S. 6.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
277
Kallabis’ Aufzeichnungen lassen den Impetus des Wissenschaftlers erkennen, der die Fähigkeit und den Willen zu einer gewissen Distanzierung besitzt. Seine am 16. Oktober 1989 festgehaltenen sprachkritischen Bemerkungen belegen diese Haltung: Das neue Schlagwort ist gefunden! Hurra! Wir machen alle in „Dialog“. Überall wird jetzt dialogisiert. Ein Schelm, wer Übles dabei denkt. […] Den „Dialog“ des Echos brauchen wir nicht. Wir brauchen auch keinen einer „Führung“ mit dem Volk, den „Geführten“. Wir brauchen das Gespräch unter Gleichen und Gleichberechtigten, das Gespräch des Volkes mit sich selbst, über seine eigenen Probleme, seine eigenen Interessen, seine eigene Zukunft.632
Drei Tage später, am 19. Oktober, erkennt er die ersten ‚Wendehälse‘: Da sitzen sie wieder, wie gehabt, vor den Kameras des DDR-Fernsehens. Alte Bekannte! Buchstäblich gestern und vorgestern saßen sie auch schon da und verkündeten die unbezweifelbaren Wahrheiten der gestrigen Politik und Ideologie, ganz im Sinne der Lobpreisung der Erfolge und Errungenschaften, wie noch am 6. Oktober gesehen. Das ging ihnen gut über die Lippen! Anschaulich malten sie auch das Bild vom Klassenfeind, dem eigentlichen Übel und Ursache, wenn mal nicht alles so klappte. Auch dafür, daß manche nicht so recht glauben wollten und konnten, daß wir über eine „wissenschaftlich begründete und vom Leben bestätigte Gesellschaftskonzeption“ verfügen, „die weit in das nächste Jahrtausend reicht“, daß „Ideale und Werte des Sozialismus in unserem Lande lebendige Wirklichkeit“ sind, daß „unsere sozialistische Demokratie breit entfaltet und unersetzbar“ ist. Nun präsentieren sich dieselben Leute als Apostel der gerade verkündeten „Wende“! Sind sie wirklich so vermessen zu glauben, daß man ihnen glaubt? Oder betrachten sie das ganze als das alte Spiel, nur in einer etwas abgewandelten Form und dies nur solange, wie man nicht in alter Weise spielen kann? Also etwas zur Ermunterung des bisher gelangweilten Publikums?633
Ab dem 9. November 1989 thematisiert Kallabis zunehmend das Tempo der ‚Wende‘-Ereignisse. Dabei beschränkt er sich im Gegensatz zu den meisten anderen Chronisten nicht auf die Öffnung der Mauer am Abend, sondern geht auch auf weitere Ereignisse des Tages ein: Man kann plötzlich die Ereignisse kaum noch verarbeiten. Was gestern noch mühsam angeregt, gefordert, erstritten werden mußte, ist heute Entscheidung, plötzlich ohne volle Sicht auf die Konsequenzen.
632 633
Ebd., S. 13. Ebd., S. 15.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Früh die Forderung von „Blockparteien“ nach freien Wahlen für alle Volksvertretungen auf der Grundlage eines Wahlgesetzes, das durch Volksentscheid bestätigt werden soll. Mittags die Entscheidung des Zentralkomitees über die Einberufung einer Parteikonferenz noch Mitte Dezember zur Beratung der Lage, zur Neubestimmung der Aufgaben der Partei und zu Veränderungen im Zentralkomitee. Dazu die Proteste von Parteiorganisationen gegen eben erst gewählte Mitglieder und Kandidaten des Politbüros mit der Forderung ihrer Abwahl. Abends schließlich die Öffnung der Grenzen zur BRD und Westberlin. In wenigen Augenblicken der Geschichte mehr Einschnitte in die Entwicklung der Partei, der DDR-Gesellschaft und in die Geschichte Europas und der Weltpolitik als in Jahrzehnten. Hier ist ein Prozeß in Gang gekommen, dessen weitreichende Wirkungen überhaupt nicht zu überschauen sind. Jetzt muß durch die Partei entschlossen ein neuer Anfang gemacht werden. […] Lassen wir uns durch die Ereignisse nicht überrollen, werden wir nicht kopflos, besinnen wir uns auf unsere Möglichkeiten. Nutzen wir die historische Chance!634
Am 12. November bestätigt er seine Auffassung vom Tempo der Ereignisse nochmals: Die hohe Dynamik der politischen Prozesse überholt alle gestern noch als hinreichend und für eine längere Perspektive gedachten Überlegungen und Vorschläge. Die Entwicklung der Ereignisse nach Öffnung der Grenzen bringt eine neue politische Lage.635
Vergleichsweise spät – am 15. November – begibt sich Kallabis erstmals nach West-Berlin. Deutlich ist die Rolle des zumindest innerlich, nicht aber räumlich distanzierten Beobachters zu erkennen; einmal mehr zeigt sich der dokumentarische Anspruch des Bandes. Dieser Anspruch lässt sich nicht zuletzt an der häufigen Verwendung von Begriffen wie „Beobachtungen“ ablesen: Heute konnte ich selbst erste Beobachtungen in Westberlin machen. Die vielen DDR-Bürger sind an verschiedenem erkennbar. Zunächst an vielen Plastik-Einkaufsbeuteln, mit allem möglichen, mit Bananen, Apfelsinen. Dann die Leute, die sich an den Banken und Sparkassen drängen, um ihre 100 D-Mark Begrüßungsgeld zu bekommen. Mitunter sind das Familien mit 2 und mehr Kindern, die sie vorzeigen, um auch für sie das Geld zu bekommen. Verständlich, aber nicht alles hat mit menschlicher Würde zu tun. Da sind auch 634 635
Ebd., S. 34f. Ebd., S. 37.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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die Betrüger am Werke, die sich sowohl auf Personalausweis als auch auf Reisepaß zweimal in den Besitz des Geldes bringen wollen. Manche haben sogar die bereits abgestempelte Seite aus ihrem Personalausweis gerissen, um es ein zweites Mal zu versuchen. Peinlich! Da gibt es Schlangen vor den Billigläden, vor den Sex-Shops – alles DDR-Bürger! Elektronik scheint besonders anziehend zu sein. Das ist angesichts des Mangels auf diesem Gebiet und der weit überhöhten Preise dafür bei uns einzusehen. Überhaupt betreiben die DDR-Bürger eine Art Wirtschaftsstudium.636
Am 11. Dezember erkennt er einen Wandel innerhalb der ‚Wende‘: Der politische und ideologische Schwerpunkt der Leipziger Demonstrationen ist ein anderer geworden. Nicht mehr die demokratische Reform und Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR steht im Zentrum, sondern die Frage, ob Vereinigung der DDR mit der BRD oder Selbständigkeit der DDR. „Deutschland einig Vaterland“, „Wir sind ein Volk“ wird heute von der Mehrheit der Demonstranten gerufen. Und nicht nur das. Immer lauter werden offen nationalistische und rechtsradikale Töne hörbar. […] Die Gefahr der Gewalttätigeit wird immer drohender.637
Im März 1990 – die Einheit zeichnet sich immer klarer ab – macht Kallabis sich Gedanken über den juristischen Weg dorthin; seine Vorbehalte gegenüber dem Verhalten der Bundesregierung treten dabei deutlich zu Tage: Der Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD hat es den Kohls angetan. Sie preisen ihn uns als das am schnellsten und am sichersten wirkende Allheilmittel für all unsere Beschwerden. Beschließt den Beitritt zur BRD nach Artikel 23, und alles ist in Ordnung! Das ist natürlich eine einfache Anschlußstrategie, die früher schon unter der Losung „Heim ins Reich“ praktiziert wurde. Die DDR-Bürger sollen einfach das Bonner Grundgesetz und alle anderen Ordnungsformen der BRD übernehmen und nicht einen Augenblick darüber nachdenken, ob denn die heutige Verfassung und Verfassungswirklichkeit tatsächlich das Nonplusultra aller möglichen Gesellschaftszustände ist; sie sollen keinen Augenblick prüfen, ob es nicht diese oder jene Erfahung ihres eigenen Lebens in 40 Jahren DDR gibt, besonders der letzten Monate des revolutionären demokratischen Umbruchs, die es wert wäre, mit hinübergebracht zu werden in ein neues einheitliches Deutschland. […] Darum kann es nur nach Artikel 146 gehen, d. h., um die Ausarbeitung einer neuen Verfassung für eine deutsche Republik, um das gleichberechtigte Aufeinanderzugehen […].638
Vom Ergebnis der Volkskammerwahl am 18. März zeigt er sich überrascht. Am Tag danach stellt er jedoch fest: 636 637 638
Ebd., S. 43. Ebd., S. 75f.; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 172.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Gesiegt haben wohl mehr die CDU und CSU, also das Kapital, das Geld. Die Leute wollen schnell und ohne Umwege die D-Mark, sie wollen die vollen Schaufenster, und die versprechen sie sich von der CDU, von der Bundesregierung, von Kohl. D-Mark, D-Mark über alles!639
Seine ohnehin stark ausgeprägte Distanz zur Bundesrepublik Deutschland nimmt weiter zu; am 4. April 1990 warnt er vor den „Folgen der Währungs- und Wirtschaftsunion nach Bonner Muster“: Entgegen aller ökonomischen und sozialen Vernunft, entgegen den Ratschlägen vieler Wirtschafts- und Finanzexperten, entgegen den Forderungen der Gewerkschaften in beiden deutschen Staaten hat sich die Bonner Regierung aus machtpolitischen Gründen vorgenommen, nicht eine allmähliche Reform und Anpassung der DDR-Wirtschaft an marktwirtschaftliche Verhältnisse mit einer stufenweisen Regulierung auch der Währungsverhältnisse abzuwarten, sondern der DDR auf einen Schlag die D-Mark und mit ihr die entscheidenden marktwirtschaftlichen Regelungen der BRD überzustülpen. Der Tag X, an dem die D-Mark in der DDR eingeführt werden soll, steht vor der Tür. An diesem Tage ist die Souveränität der DDR und ihrer Regierung weitgehend dahin, die wirtschaftliche, soziale und politische Lage in der Noch-DDR wird sich radikal wandeln. Die plötzliche Währungs- und Wirtschaftsunion wird tiefgreifende, ja katastrophale wirtschaftliche und soziale Folgen haben. Darauf müssen sich alle, vor allem die Gewerkschaften, einstellen. […] Was wird passieren? Unmittelbar nach dem Tag X der Währungsunion wird der Markt von guten und wohlfeilen Waren der BRD-Betriebe und des Weltmarktes überschwemmt werden. Dem können die Produkte vieler DDR-Betriebe nicht nur aus Preisgründen, bedingt durch Produktivitäts- und Effektivitätsrückstände, sondern mehrheitlich auch qualitativ und auf Grund der Käuferpsychologie nicht standhalten. Viele Betriebe werden ihre Produkte nicht mehr los werden. Beispiele dafür gibt es bereits jetzt. Konkurse sind also angesagt. Arbeitslosigkeit ist die Folge.640
Kallabis’ Einschätzungen sollten sich als richtig erweisen. Seine Aufzeichnungen enden mit den Einträgen vom 8. Mai 1990 eher resignativ: Die Agonie des alten Systems ist zu Ende, die Restauration läuft auf vollen Touren. […] Mit dem bevorstehenden Staatsvertrag und den Ergebnissen der ersten 2-plus-4Beratung der Außenminister, die die staatliche Vereinigung der Deutschen in Form und Tempo zur Sache der Deutschen selbst erklärten und von dem Problem der außenpolitischen Einordnung des geeinten Deutschlands abkoppelten, ist der Weg endgültig frei für die volle Restauration der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse 639 640
Ebd., S. 183. Ebd., S. 199-201.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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auf dem Gebiet der bisherigen DDR. Und das wird schneller geschehen als [sic] manche sich das heute noch vorstellen. […] Nach dem April 1985 mußte dieser Isolierungsversuch [der DDR dem Westen gegenüber durch den Mauerbau; F.Th.G.] auch nach Osten hin fortgesetzt werden. Das System des „realen Sozialismus“ zeigte seine Reformunfähigkeit. Im Herbst 1989 war es dann soweit. Die Agonie des Systems begann. Mit dem Staatsstreich vom 9. November wurde die Tür zu einer demokratischen, sozialistischen Alternative endgültig geschlossen. Es zeigte sich, daß die Masse des Volkes keine sozialistische Alternative, keine neuen sozialistischen Experimente mehr wollte. Die „Revolution“ gegen die Machtstrukturen des „realen Sozialismus“ ging in die Restauration der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse über. Jetzt haben sich die Hoffnungen vieler aus der Zeit vom Oktober 1989 endgültig zerschlagen. Der Restaurationsprozeß ist in vollem Gange. Dieser Prozeß ist nicht mehr aufzuhalten. Für ihn gibt es keine reale, praktischmachbare Alternative. Auch keinen dritten Weg. Mag dies bitter sein, aber die Wirklichkeit ist halt so. Wir müssen uns auf diese Wirklichkeit einstellen und ihre Bedingungen als Ausgangspunkt für das Bemühen um eine humanistische, demokratische und sozial gerechte Gesellschaft akzeptieren. Man darf nicht aufgeben, für eine solche Gesellschaft zu kämpfen.641
Die Aufzeichnungen von Kallabis zeigen einmal mehr, wie herb die Hoffungen auf eine Reformierbarkeit der DDR enttäuscht wurden; betrachtet man die veröffentlichten Tagebücher und Tagebuchauszüge der meisten Ostdeutschen, so dominiert ein melancholischer Ton. In den ebenfalls 1990 erschienenen „Tagebuch-Notizen“ der Schauspielerin Steffie Spira-Ruschin (1908-1995) wird dies bereits im Titel deutlich: Der Band Rote Fahne mit Trauerflor (1990) enthält neben den Tagebuchfragmenten von 1954 bis 1971 und aufgezeichneten Gesprächen ein Kapitel (das zugleich dem Buch den Titel gab) mit Spiras Aufzeichnungen aus den Jahren 1988 bis 1990. Spira reflektiert viele Ereignisse erst in der Rückschau. An den Tagen selbst oder einige Tage nach ‚großen Ereignissen‘ finden sich häufig nur knappe Bemerkungen. Am 10. Oktober 1989, drei Tage nach dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung, hält sie fest: „Der 40. Jahrestag ist vergangen. Hoffen wir, daß der 50. besser ausfällt.“642 Die Massenflucht und die offiziellen Verlautbarungen dazu nimmt sie mit Bestürzung zur Kenntnis, denn 35.000 Menschen, groß und klein, haben uns verlassen. Ihre Schuld? Unsere Schuld! auch [sic] wenn Honecker ihnen „keine Träne“ nachweint. 641 642
Ebd., S. 251-253. Steffie Spira: Rote Fahne mit Trauerflor. Tagebuch-Notizen. Freiburg i.B. 1990, S. 103.
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Das habe ich begriffen. Schon am 6. und 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, habe ich aus meinem Küchenfenster, das zur Straße geht, meine rote Fahne mit langem Trauerflor aus dem 7. Stock herausgehangen.643
Am 27. Oktober 1989, einige Tage nach dem Amtsantritt von Egon Krenz, äußert sie sich eher skeptisch: Krenz sprach bei der Antrittsrede von „Wende“. Nachdem er gerade von einer Reise aus Peking zum 40. Jahrestag zurückgekommen war. Dort hatte er das „weise Eingreifen“ der chinesischen Partei gegen die Studenten gelobt. Soll man da an eine wirkliche „Wende“ glauben? Ich bin skeptisch.“644
Folgerichtig zieht sie den Begriff „Aufbruch“645 vor. Rote Fahne mit Trauerflor enthält auch Spiras kurze Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989, in der sie vorschlägt, aus Wandlitz ein Altersheim zu machen.646 Die Schauspielerin bekennt: Ich gebe selber zu, daß ich von dem Ausmaß, mit dem in der DDR die Menschen wirklich in einer gräßlichen Weise an ihrem eigenen Sein gehindert wurden, nicht nur geistig, sondern auch körperlich, ganz real, daß ich davon wenig gewußt habe. Mir ist kein einziger Fall bekannt geworden, außer dem von Walter Janka – später oder noch während –, aber ich habe nicht gewußt, was und wieviel ihm alles angetan wurde […].647
Hier mag die späte Einsicht einer in der DDR Privilegierten liegen. Spiras Bekenntnis ist aber zugleich ein Beleg für die Distanz zwischen dem Volk und eben diesen Privilegierten. Am Kommunismus hält sie jedoch weiterhin fest, denn [n]ur so ungeduldige Menschen wie ich verstehen nicht, wie man auf so brutale Weise die Welt zurückdrehen kann, unsere Welt, unsere kleine Welt zurückdrehen auf die armselige Welt des kapitalistischen Lebens, auf die Seite des Habens.648
Theodor Schübels (*1925) „Journal vom 10. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990“ ist eines der wenigen veröffentlichten Tagebuchzeugnisse aus westdeutscher Perspektive. Seine Aufzeichnungen aus Schwarzenbach an der Saale im Zonenrandgebiet setzen später ein, enden aber auch spä-
643 644 645 646 647 648
Ebd., S. 104. Ebd., S. 106. Ebd. Vgl. Ebd., S. 107. Ebd., S. 133. Ebd., S. 140.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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ter als die von Tetzner und Kallabis. Der anders gewählte Zeitraum führt zwangsläufig zur Verlagerung des Akzents von der ‚Wende‘ zur ‚Einheit‘. Schübel bietet insgesamt weniger detaillierte Reflexionen des Geschehens – seine Perspektive ist die des in mehrerlei Hinsicht distanzierten Beobachters. Dagegen finden sich bei keinem anderen Autor ausführlichere Schilderungen der Grenzöffnung und des Verhaltens der das Zonenrandgebiet geradezu überflutenden DDR-Bürger. Häufig hält der Verfasser Gespräche fest, die er offenbar in großer Zahl geführt hat. So notiert er am 11. November 1989: Besucher aus Jena erzählen, sie hätten für die hundert Kilometer Autobahn bis Hof zehn Stunden gebraucht; wer aus Leipzig kommt, sei noch zwei oder drei Stunden länger unterwegs gewesen. Die Fahrzeuge stauen sich auf der Autobahn bis zu sechzig Kilometer, berichtet eine junge Frau aus Weimar. Ihre beiden Kinder haben vor Übermüdung gerötete Augen. Alle wußten, wie verstopft die Straßen sind, doch sie hielt es nicht zu Hause, sie wollten dabeisein. Wer nicht schon in der Nacht, sondern erst am Morgen losgefahren ist, kam erst am späten Nachmittag über die Grenze. Die Grenzsoldaten am Kontrollpunkt Hirschberg haben vor diesem Ansturm längst kapituliert. Sie sitzen stumm in ihren Kontrollhäusern, wollen keine Pässe sehen, fordern die Fahrzeuge mit einem Wink zum Weiterfahren auf. An manchen Haustüren in Hof hängt ein Zettel: „Liebe Gäste aus der DDR! Läuten Sie bitte, wenn Sie bei uns Kaffee trinken wollen.“ Auf den Straßen werden heißer Tee und Glühwein ausgeschenkt.649
Am selben Tag trifft Schübel eine Krankenschwester aus Dresden, die berichtet, daß in einem Bezirkskrankenhaus vier von sechs chirurgischen Stationen haben geschlossen werden müssen. Ähnliches höre ich aus Leipzig. Dort seien in den Krankenhäusern Ärzte und Schwestern beschworen worden, die Kranken nicht im Stich zu lassen. Bei jedem Schichtwechsel werde ängstlich geprüft, ob jemand fehlt, und immer wieder fehle jemand.650
Am 17. Dezember hält er fest: „Die Züge aus der DDR sind bis zu 300 Prozent überbelegt, sie dürfen teilweise nur mit 40 Stundenkilometer [sic] fahren. Als Ursache des Andrangs gilt ein in der DDR verbreitetes Gerücht, daß ab Freitag kein Begrüßungsgeld mehr gezahlt würde.“651 Ähnlich wie Kallabis analysiert auch Schübel den Ausgang der Volkskammerwahl; am Abend des 18. März 1990 gibt er zu: „Wir richteten uns auf einen langen
649 650 651
Theodor Schübel: Vom Ufer der Saale. Geschichten aus der Zwischenzeit. Ein Journal vom 10. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990. Berlin 1992, S. 7f. Ebd., S. 9. Ebd., S. 44.
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Wahlabend ein, doch schon um sieben Uhr stand der Gewinner fest, um acht war das Rennen gelaufen.“652 Am Tag danach folgt eine ausführlichere Bilanz: Zur Wahl der Volkskammer: Die Entscheidung ist eindeutig. Wer es bislang nicht glauben oder wahrhaben wollte, hat es jetzt schriftlich: Vermutlich wird es schon bald zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten kommen. Vorüber die Zeit, da unsere Politiker wie Gunther in der ‚Götterdämmerung‘ fragen konnten: „Sitz ich selig am Rhein?“ Gestern abend traten im Fernsehen vom Wahlausgang enttäuschte Leute auf, die sich nicht scheuten, die Wähler zu beschimpfen und zu verunglimpfen. Warfen ihnen Gedankenlosigkeit, Unverstand und „materielles Denken“ vor. Ein sonderbares Verständnis von Demokratie: Wenn sich die Mehrheit nicht im gewünschten Sinn entscheidet, so ist das der Beweis, daß das Volk unwissend, also noch nicht reif für die Demokratie ist.653
Hier wird die von Schübel konsequent durchgehaltene Distanz deutlich, denn gerade an den Reaktionen auf den Ausgang der Volkskammerwahl zeigt sich die Enttäuschung vieler Schriftsteller und Intellektueller, die sich gegen das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger im eigenen Land richtet.654 Anlässlich des Inkrafttretens der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 bemerkt Schübel mit subtilem Humor: Von heute an gibt es in Deutschland nur noch eine Währung. Auch die in der DDR stationierten sowjetischen Soldaten erhalten fortan ihren Sold in D-Mark. Das Losungswort der evangelischen Christen für diesen Sonntag: „Der Herr macht arm und macht reich.“655
Auch die 1921 geborene Schauspielerin und Schriftstellerin Margarete Hannsmann schreibt aus westdeutscher Perspektive. Im Tagebuch meines Alterns (1991) veröffentlichte die damals beinahe Siebzigjährige ihre Tagebucheinträge zwischen dem 1. Januar 1989 und dem Neujahrstag 1990. Über ihren Antrieb zum Schreiben erklärt sie: 652 653 654
655
Ebd., S. 131. Ebd. Zahlreiche Spontanreaktionen sind dokumentiert; Jurek Becker etwa schreibt am 19. März 1990 an Manfred Krugs Frau Ottilie: „Unvergleichliche Ottilie, / Chicago ist ein böser kalter Wind, gegen / den Du Dich den ganzen Tag zu den / Sehenswürdigkeiten durchkämpfen / mußt. Die Augen tränen Dir, Du bist / viel zu dünn angezogen, doch Du / hältst durch bis zur Grenze der / Lungenentzündung. Dann kommst / Du halb erfroren ins Hotelzim- / mer, machst den Fernseher an / und hörst die Wahlergebnisse / aus der DDR, und die geben Dir / den Rest. / Dein fix und fertiger Jurek“ (Jurek Becker: USA, 19.3.1990. In: Jurek Beckers Neuigkeiten an Manfred Krug & Otti. München 1999, S. 152 [zuerst Düsseldorf / München 1997]). Ebd., S. 186.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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Es ist keine Lust. Kaum ein Trieb. Eher schon Angst. Ja doch, die Angst vor dem Sumpf des „Nicht-mehr“ treibt mich, aus Wörtern Balken zu machen, an die allein ich mich klammern kann. Tagebuch als Überlebenstraining. Angsttriebe von sterbenden Pflanzen. Schreiben gegen die würgende Einsamkeit, gegen die zunehmende Sinnentleerung, gegen den Tod, der meinen Lebensraum schon fast ganz besetzt hat.656
Auch bei Hannsmann steht damit der selbsttherapeutische Aspekt des Schreibens im Vordergrund. Ihre Distanz ist noch größer als die Schübels; die ‚Wende‘ verfolgt sie ausschließlich im Fernsehen. Dabei wehrt sie sich zunächst gegen die Entwicklungen in der DDR. So notiert sie am 24. Oktober: In Leipzig gehen 300 000 Menschen auf die Straße. Steht in der Zeitung. Für Reformen. Für freie Wahlen. Und daß sie einen Nachfolger für Honecker haben. Egon Krenz. Staatsratsvorsitzender. Ich verbiete mir Fernsehen. Ich laß mich nicht ein. Ich fang nicht mehr an. Nicht noch einmal Deutschland. Nein. Nein!657
Am 11. November schildert sie den Fall der Berliner Mauer: Den Rest der Nacht verbrachte ich vor dem Fernseher: Seid umschlungen, Millionen / So ein Tag, so wunderschön wie heute, Gesichter, Gesichter, junge, alte, Männer, Frauen, vom Lachen ins Weinen umkippende Gesichter, Fernsehen: woran immer es uns teilnehmen ließ, niemals zuvor riß es Millionen so in den Strudel. Menschen sagten ins Mikrofon: Ich bin heute früh in Dresden, in München, in Paris, in Amsterdam weggefahren, um dabeizusein. Leibhaftig. Wörterohnmacht. Vor einem halben Jahr kein Augenblick davon träumbar. Ich möchte jetzt endlich schreien. Keinen gibt es mehr, der mein Glück, Trauer, Angst, Hilflosigkeit teilt, der mir antworten, der mich schütteln könnte: Mädchen, altes, Geschichte, wach auf, schrei ruhig über das, was passiert, nimm es getrost in die Arme heut nacht, Vaterland, Mutterland, das gerühmte, das verhöhnte, mißbrauchte, verdrängte, abgenutzte Wort Volk. Unser Liebeswort. Unser Haßwort. Menschen in Leipzig, Dresden, Ostberlin haben es gereinigt: Wir sind das Volk, und Europa paßt auf, daß alles gut geht dieses Mal.658
In die Freude über und Bewunderung für diese Ereignisse mischen sich sogleich Zweifel: Würden meine Toten so mit mir reden? Oder würden sie sagen: erinnere dich. Du hast nicht „die Gnade der späten Geburt“. Keine Ausrede Deutschland. Erzähltest du nicht von einem 9. Novem656 657 658
Margarete Hannsmann: Tagebuch meines Alterns. München 1991, S. 7. Ebd., S. 264. Ebd., S. 279.
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ber, als du in München am Straßenrand standst, mit erhobenem Arm, eingekeilt in dein Volk, während Hitler und seine Paladine in breiten Reihen vorüberzogen auf ihrem alljährlichen stummen Marsch zur Feldherrenhalle, morgens um elf, den Blutzeugen der Partei zum Gedächtnis? Hast du vergessen: es war jener 9. November 1938? Während du ahnungslos mit dem Fahrrad nach Hause fuhrst, brannten die Synagogen. Wurden deutsche Juden erschlagen und weggeschleppt. Nicht im Verborgenen. Mitten im Volk. In deinem Volk, das diese Nacht erhob zur Reichskristallnacht.659
Am 22. Dezember berichtet sie von der Öffnung des Brandenburger Tors: Das Brandenburger Tor in Berlin wird aufgemacht. Unser Kanzler schreitet hindurch inmitten seiner Deutschen. Der Regierungschef der DDR ist auch dabei. Ja, ich begreife die historische Stunde: Deutschland soll wieder vereinigt werden dürfen. Müssen. Aber nicht so. Doch nicht so.660
Wie die gesamten Wendeereignisse, erlebt Hannsmann auch die Silvesterfeierlichkeiten 1989 via Fernseher: Wir einigten uns, das Fernsehgerät trotz aller Vorbehalte nicht auszuknipsen, um diese Nacht an der Mauer mitzuerleben, die Schaltungen zwischen dem Tingeltangel im Nobelhotel und den unübersehbaren Menschenmassen, die sich da durch die Mauer ergossen und über die Mauer, hinüber, herüber, um Berlins größtes Silvesterfest aller Zeiten zu feiern. Nachtkulisse, Scheinwerfer, Feuerwerk, Millionen sind unterwegs in der Stadt und zwischen der Ostsee, dem Frankenwald, westwärts.661
Noch lange vor der Vereinigung ‚verabschiedet‘ sie das „DDR-Volk“: Adieu, DDR-Volk, das sich selbst befreite von der Diktatur des Proletariats, die von diktierenden Machthabern ausgeübt wurde. Trotzdem mußt du bald wieder regiert werden. Ein halbes Leben lang brauchte ich, einzusehen, daß nichts ohne Gesetze geht. Dann mußte ich auch noch begreifen lernen: jedem Gesetz wohnt von vornherein der Mißbrauch inne. Adieu, meine Freunde, Schriftsteller, Maler, Musiker, Schauspieler, ihr Atheisten, Christen, Juden, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, macht weiter, wie ihr könnt. Wie ihr müßt. Ich muß nicht mehr. Vierzig Jahre Geschichte, mein Leben, werden in dieser Nacht auf den Müll gekippt. Millionen Wegwerfleben. Nichts als eine Schande diese sogenannte Deutsche Demokratische Republik. Schande dem, der sie erhalten will. Der nicht einstimmt: „Einig Vaterland“ … „in Gefahren / deine Söhne sich …“ Aus vieltausend Kehlen klang es zu Hitlers Tribüne empor. Keiner wird dieses Beben vergessen, der ein Teil 659 660 661
Ebd., S. 279f. Ebd., S. 330. Ebd., S. 346.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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davon war, der es entfesselte mit einer Inbrunst ohnegleichen 1939 – keine Sorge, ihr Lieben, wir alle, die sangen, damals, sind in Bälde tot. […] Das verbogene Rückgrat der Ostkinder wird von den Westhebammen seit einer Weile passend zurechtgebogen. Prokrustesbett. Adieu DDR. Machs gut.662
Abschließend sei auf die Tagebuchaufzeichnungen von Rainer B. Jogschies (*1954) hingewiesen. Diese fallen in zeitlicher Hinsicht aus dem Rahmen, denn sie stammen nicht aus der unmittelbaren Wendezeit, sondern reflektieren die Ereignisse Jahre später, in der Zeit vom 17. Juni 1993 bis zum 17. Juni 1994 – dem früheren bundesdeutschen ‚Nationalfeiertag‘. Die Stimmung hat sich deutlich ins Negative verschoben, was bereits zu Beginn des Buches deutlich wird. Am 17. Juni 1993 schreibt Jogschies: Heut war wieder der „Tag der deutschen Einheit“. Es ist allerdings kein Feiertag mehr, seit wir die deutsche „Einheit“ alle Tage haben. Darüber trauern die meisten Deutschen – im Westen jedenfalls – mehr als vorher über die Opfer des „Volksaufstandes“ vom 17. Juni 1953.663
Folgerichtig stellt er am 3. Oktober 1993 fest: Tag der deutschen Einheit. Der zweite in diesem Jahr nach dem 17. Juni. Für den gibt es noch nicht die eingefleischte Gewohnheit, ihn mit Picknicken und Verwandtenbesuchen zu überbrücken. Es ist ja auch erst das dritte Mal. Aber den Festtagsansprachen hört schon keiner mehr zu.664
Am 9. Oktober 1993 erinnert der Verfasser an die Leipziger Montagsdemonstration vier Jahre zuvor. Resigniert muss er erkennen: In Leipzig wird müde an die erste Montagsdemonstration vor vier Jahren erinnert, als erstmals siebzigtausend Menschen auf die Straße gingen und „Wir sind das Volk“ riefen. Aber die längst in „Wir sind ein Volk“ geänderte Parole klingt schwach, nicht nur, weil nur wenige Demonstranten rufen.665
Vor den Zuständen im vereinigten Deutschland fürchtet sich Jogschies. Immer wieder betont er die Gefahr durch Neonazis und fragt sich am Ende seines Tagebuches: Ist das noch mein Land? Ich habe Angst vor einem Deutschland, das sich nicht mehr schämt, für nichts, für niemand, sondern selbstgerecht durch die Welt poltert wie seine gefräßigen und 662 663 664 665
Ebd., S. 347f. Rainer B. Jogschies: Ist das noch mein Land? Ein deutsches Tagebuch. Hamburg 1994, S. 7. Ebd., S. 89. Ebd., S. 95; Hervorhebungen im Original.
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geschwätzigen Führer, all die selbstgerechten Außersichnichtse. […] Allenfalls die Deutschen können sich derzeit übernehmen in ihrem gleichzeitigen Selbstmitleid und der Selbstüberheblichkeit, in ihrem Augenverschließen vor der Wirklichkeit, in der ihnen wieder Vergangenes als Rezept für die Gegenwart angemessen scheint. Es ist der alltäglich gewordene Faschismus, der sich mit „Witzen“, Wörtern, Brandsätzen und einer autistischen Weltsicht inzwischen durch alle Lebensbereiche zieht und selbst in den von Parteien nicht vollends kontrollierten Medien totaler funktioniert als in Orwells Schreckensvisionen. Vor allem mit so nettem Antlitz. Da brüllt nicht der Televisor ins Wohnzimmer, man solle gefälligst den Rumpf ordentlich beugen beim Frühsport, sondern die Sendeanstalten bringen hüpfende Mädchen vor Südseekulisse zu treibender Pop-Musik, Aerobic statt „Ertüchtigung“, dieses wundersame deutsche Wort.666
Auf die Sonderform des politischen Tagebuchs kann hier nur verwiesen werden: Markantestes Beispiel dürfte Horst Teltschiks Band 329 Tage (1991) sein, der die Zeit zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 vor allem aus der Perspektive der Kohl-Regierung dokumentiert, denn Teltschik war zu jener Zeit außenpolitischer Berater des Bundeskanzlers. Der Aspekt der Selbstreflexion tritt dabei nahezu vollständig zurück. Über die Problematik der dargestellten historischen Kontinuität und des immer wieder durchscheinenden politischen Anspruchs soll hier nicht geurteilt werden. Teltschik geht es in erster Linie um die Aufzeichnung der politischen Ereignisse, die zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten führten – unter besonderer Berücksichtigung der Verdienste Helmut Kohls. Den 3. Oktober erlebt er folgerichtig in Berlin: Kurz vor Mitternacht treten Richard von Weizsäcker, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Willy Brandt, Oskar Lafontaine und andere auf die Freitreppe hinaus. Fahnen werden geschwenkt, Helmut-Rufe durchdringen die Nacht. Feierlichkeit liegt über dem Platz. Ein Chor singt, geht aber im Lärm der Menschen unter. Auch die Freiheitsglocke ist kaum mehr zu hören. Die Stimmung steigert sich noch, als um Mitternacht die Bundesflagge aufgezogen wird. Wir singen das Deutschlandlied. Der Jubel der Menschen ist unbeschreiblich. Sie durchbrechen die Absperrungen. Chaos scheint auszubrechen: aber das verhindern gleichermaßen die Polizeikräfte und die Vernunft der Menschen. Der Bundeskanzler schüttelt Hunderten von Menschen die Hand.667
Die vorgestellten Tagebücher belegen, wie unterschiedlich Akzente durch die Auswahl des Zeitraums sowie der festgehaltenen und kommentierten Ereignisse gesetzt werden können; an den Textauszügen zeigt sich zudem deutlich, wie stark die jeweiligen Verfasser – insbesondere hinsichtlich 666 667
Ebd., S. 383f. Horst Teltschik: 329 Tage. Innenansichten der Einigung. Berlin 1991, S. 374.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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ihres politischen Standpunktes – wertend in den Texten präsent sind. Von den historischen Ereignissen unmittelbar Betroffene, in der Regel sind es Ostdeutsche, haben zwangsläufig eine andere Sicht auf die Dinge als Westdeutsche, bei denen die Beobachterrolle dominiert. Zwar handelt es sich bei den Tagebüchern in erster Linie um subjektive Zeugnisse; die Aufzeichnungen der einzelnen Verfasser dürften aber wesentliche Quellen vor allem für Soziologen und Historiker darstellen. 5.2.1.5 Ein literarisches Tagebuch – Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine (1990); weitere Tagebuchnotizen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern Das bedeutendste Tagebuch eines Schriftstellers ist Thomas Rosenlöchers „Dresdener Tagebuch“ Die verkauften Pflastersteine. Auszüge wurden bereits 1989 von der Dresdner Tageszeitung Die Union an Stelle des Fortsetzungsromans gedruckt, später erschienen einige Blätter in Schöne Aussichten (1990)668 und in Die sanfte Revolution (1990).669 Der vollständige Text wurde 1990 bei Suhrkamp veröffentlicht. Das Dresdener Tagebuch umfasst Rosenlöchers persönliche Aufzeichnungen aus der Zeit zwischen dem 8. September 1989 und dem 19. März 1990; im Zentrum stehen damit die Ereignisse zwischen den immer wichtiger werdenden Massenprotesten und der Volkskammerwahl. Der Autor bekundet die Absicht, alles erst aufzuschreiben, „wenn es einigermaßen verbürgt ist.“670 Über das Genre ‚Tagebuch‘ und die damit verbundenen Einschränkungen äußert er: Solche Unbestimmtheiten das Eigentliche des Erlebens, unaussprechbar. Hier eben der Irrtum aller Tagebuchschreiberei. Das Tagebuch reiht Fakten, je nachdem wie das Leben so spielt und behauptet damit, daß das Leben so spiele. Das ist vorsätzliche Täuschung. Alle Schriftstellerei vergröbert auf geradezu kriminelle Weise, aber das Gedicht behauptet wenigstens nicht gleich, das Leben selbst zu sein.671
Für den Dresdner Lyriker war die ‚Wende‘ entscheidender Auslöser für das Führen des Tagebuchs; auf die Frage, wie er dazu gekommen sei, antwortete Rosenlöcher auf einer Lesung in Bochum: „Weil ich ni glei 668
669
670 671
Dresdner Tagebuch – Achter September bis zehnter Oktober. In: Schöne Aussichten. Neue Prosa aus der DDR. Hrsg. von Christian Döring und Hajo Steinert. Frankfurt a.M. 1990, S. 311-325. Thomas Rosenlöcher: Dresdener Tagebuch. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990, S. 183-199. Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch. Frankfurt a.M. 1990, S. 25. Ebd., S. 35.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
wußte, was ich noch schreim sollte, vor Schreck […].“672 Der zunächst ungewöhnlich scheinende Buchtitel bezieht sich auf einen von Rosenlöcher im Dezember 1989 geschriebenen gleichnamigen Artikel, in dem es um den Verkauf der Pflastersteine der Pirnaer Landstraße geht, die zwecks Beschaffung von Devisen nach Westdeutschland exportiert wurden. Der Volksmund reimte daraufhin: „Ach wäre ich ein Pflasterstein, / Ich könnte längst im Westen sein.“673 Auf die Öffnung der Grenzen reagiert Rosenlöcher zunächst mit uneingeschränkter Euphorie; am 10. November notiert er: „Die Grenzen sind offen! Liebes Tagebuch, mir fehlen die Worte. Mir fehlen wirklich die Worte. Mit tränennassen Augen in der Küche auf und ab gehen und keine Zwiebel zur Hand haben, auf die der plötzliche Tränenfluß zu schieben wäre.“674
Immer wieder hält Rosenlöcher inne und reflektiert seine eigene Rolle in der Zeit der ‚Wende‘ und davor. Er bekennt sich durchaus dazu, keineswegs immer systemkritisch gehandelt zu haben.675 Als Grund hierfür nennt er unter anderem seine „verteufelte sächsische Höflichkeit“676, an anderer Stelle betont er sein „Harmoniebedürfnis“.677 Insofern kostet es ihn bisweilen auch einige Überwindung, sich an Demonstrationen zu beteiligen: „Ich rufe gegen die Barrieren in mir an. Meine Ängstlichkeit, mein Duckmäusertum“.678 Schon früh stellt er die Frage nach Schuld und Verantwortung: Alles auf das System oder die Funktionäre zu schieben, entläßt den einzelnen, mich, aus der Schuld, der sich keiner entziehen kann, und schon gar nicht durch das Davonlaufen nach drüben. Immerhin war es doch eine verhältnismäßig geringe Dosis an Zwang, die zu dieser Zwangsgesellschaft geführt hat. Manchmal war es aber auch der pure Irrtum: so hielt ich Idiot die Enteignungen in der Kleinindustrie Anfang der siebziger Jahre für ökonomisch sinnvoll! […] Andere Formen der Mitläuferei: 672 673
674 675
676 677 678
Matthias Biskupek: Familiendichter Rosenlöcher. Warum ein Dichter Tagebücher schreibt. In: Wochenpost v. 26.3.1992. Thomas Rosenlöcher: Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch. Frankfurt a.M. 1990, S. 71f. Eine weitere literarische Verarbeitung dieser Geschichte findet sich in Wolfgang Hegewalds Roman Ein obskures Nest: vgl. W.H.: Ein obskures Nest. Roman. Leipzig 1997, S. 154. Ebd., S. 45. Vgl. etwa die Eintragungen vom 12.9.1989 (Ebd., S. 13) und vom 5.12.1989 (Ebd., S. 69). Am 19.9. beobachtet er seinen Sohn beim Erledigen der Hausaufgaben: „‚Begründe die Notwendigkeit eines immer stärkeren sozialistischen Staates‘ – Moritz macht Schularbeiten. Schreibt seine Lügen rasch hin, ‚nur ehm ma‘, aber so fängt es an und so geht es weiter, und dann bist du vierzig und hast es schon zur Hälfte verpaßt, einmal in deinem Leben geradegestanden zu haben.“ (Ebd., S. 16) Ebd., S. 13. Ebd., S. 33. Ebd., S. 42.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
291
Kritisches Denken, das gerade in der Art des sich kritisch Äußerns gegenüber dem Gesprächspartner Übereinstimmung signalisiert, ein Für-den-Sozialismus-Sein, das sich nicht vollständig vom Stalinismus abzusetzen wußte.679
Als er im November 1989 in den Westen reist, bemerkt er an sich einen „Kaufhausekel“. In diesem Zusammenhang stellt er fest: „Das Hochgefühl, das Westgeld verleiht, übersteigt noch die Anziehungskraft der Dinge.“680 Der westdeutschen Gesellschaft gegenüber verhält er sich skeptisch, im Straßenbild erkennt er [e]in allgemein freimütigeres Dreinschaun und lässigeres Gehn. Vielleicht spielt da auch Kosmetik und Gutangezogensein eine Rolle, ja überhaupt ein gewisser, systembedingter Zug zu positiver Selbstdarstellung. Andererseits aber zwingt die hier viel stärkere Fixierung auf den rasch verbrauchten und immer wieder neu angelieferten Augenblick, wenigstens diesen Augenblick einigermaßen zu leben. Freilich geht damit der hiesige Augenblicksmensch ziemlich nahtlos in sein System ein, das er schon von daher das freiheitliche zu nennen pflegt.681
Die Bundesrepublik und ihre Bewohner sieht Rosenlöcher zunächst vergleichsweise undifferenziert: Er spricht von „Schicki-Micki-Land“682, hinter der Grenze erblickt er „die ersten Sauberkeitsdörfer“.683 Den über die DDR geradezu hereinbrechenden Westen, der sich vor allem durch Geld und eine unbekannte Warenwelt auszeichnet, sieht er äußerst kritisch: „Das bißchen DDR-Selbstwertgefühl: Bankrott gegangen mit den Bankrotteuren und aufgesogen vom Glanz der Kaufhäuser.“684 Manche nun erhältlichen Produkte sind ihm völlig fremd. So notiert er am 6. März: „Am Obststand eiförmige Früchte, sogenannte Kiwis, 1,80 M das Stück.“685 Sehr genau beobachtet Rosenlöcher die Auftritte westdeutscher Politiker im Osten, insbesondere die des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Vor der Volkskammerwahl hält er, die Verhältnisse ironisierend, fest: Der Wahlkampf äußert sich im fortwährenden Ankleben, Überkleben und wieder Abreißen von Plakaten. Plakatsieger bleibt die Allianz. Wer sie wählt, glaubt mit den Roten am ehesten nie etwas zu tun gehabt zu haben. Selbst die umliegenden Ehemalsgenossen lassen sich Allianz-versichern. Die Wahl als Akt kollektiver Selbstreinigung. Das Glanzpapier auf den grauen, bröckelnden Häuserwänden erscheint als vorweggenommene Einlösung aller Versprechen.686 679 680 681 682 683 684 685 686
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S. S. S. S.
16f. 56. 59. 15. 51. 77. 98. 98f.
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Schon bald scheinen die Ideale der friedlichen Revolution nicht mehr gefragt zu sein: Und die kerzentragende Menge? Offenbar kann sich auch eine Masse taktisch verhalten. Angetrieben durch die Ereignisse, waltete in ihr noch einmal die alte Mischung aus Opportunismus und Schläue, indem der Zeitgeist Woche für Woche mehr und doch nur immer gerade das Nächstliegende verlangte. Für die meisten ist diese Revolution ohne Revolutionäre damit gar nicht gescheitert. Sie kommen bei sich selbst an, wenn sie nun wählen werden, was sie eigentlich schon immer wollten, den Westen im Osten, oder, wie ich vor Karlis Bierbude sagen hörte: „Ni mehr minderwertsch sein.“ Nur unsereins […] reibt sich noch immer die Augen und fragt: War das alles?687
Rückblickend stellt er fest: „Schon bald werden wir Mühe haben, uns die DDR selber zu erklären. An die neuen Verhältnisse angepaßt, werden wir uns fragen, wieso wir uns damals derart anpassen konnten.“688 Gerade diese vom Autor als vorschnell betrachtete Anpassung an den Westen und die dort üblichen Verhaltensweisen dürfte einer der Gründe für die Entstehung einer – so noch nicht explizit benannten – ‚Ostalgie‘ sein; die Vergangenheit wird verklärt: Nach außen hin werden wir tun, als ob wir schon immer Westler gewesen wären und nur ein bißchen mehr als nötig zusammenfahren, wenn ein Uniformierter kommt, um unsere Fahrkarten zu kontrollieren. Insgeheim aber werden wir beginnen, das Unerklärliche zu verklären und jede Gelegenheit nutzen, im Kreise der Dabeigewesenen die fachmännischsten Gesichter zu schneiden: „Weißt Du noch, wie wir beim Bäcker anstehn mußten? Fünf Pfennig das Brötchen! Hahahahaha.“ Schon jetzt beginnt die Erinnerung an einen verregneten Sonntag samt Dorfkonsum und immerwährender Losung: „ARBEITE MIT, PLANE MIT, REGIERE MIT“, bei mir ein Gefühl von verlorener Heimat zu erzeugen.689
Noch vor dem Ende des Staates DDR bildet sich also eine ‚Erinnerungsgemeinschaft‘, denn, so Rosenlöcher am 4. März, „[g]erade Mangelerfahrung kann Identität stiften.“690 Neben Rosenlöchers Verkauften Pflastersteinen sind im Bereich der Tagebücher mit literarischem Anspruch die Aufzeichnungen Hanns Cibulkas (*1920) zu nennen. In seinem Tagebuch einer späten Liebe (1998) thematisiert er die ‚Wende‘ selten explizit, ihre Folgen sind jedoch stets präsent: 687 688 689 690
Ebd., S. 100. Ebd., S. 96. Ebd.; Hervorhebung im Original. Ebd.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
293
Das Arbeitsamt hat Hochkonjunktur, die halbe Stadt scheint auf den Füßen zu sein. Am Domplatz steigen nachts die Kirchenglocken vom Turm, torkeln die Domstufen hinab in die nächste Kneipe. An manchen Tagen wird auf dem Domplatz Theater gespielt, kein Hofmannsthal, kein Jedermann, nein, kleines Welttheater, Geschichten aus dem Thüringer Landtag. Der Mut der Bürger scheint vorbei zu sein, da ist keiner mehr, der sein Zeitalter in die Schranken fordert. An der Straßenkreuzung Bahnhofstraße / Gagarinring, wo die Deutsche und die Dresdner Bank sich die Hände reichen, stellt keiner mehr eine brennende Kerze ins Fenster.691
In seinem ebenfalls tagebuchartig angelegten Text Am Brückenwehr (1994) stellt er die Frage: „Ab wann begann die Wende zu changieren?“692 Eine explizite Antwort gibt Cibulka nicht, er kritisiert in diesem Zusammenhang aber eine seines Erachtens bereits früh einsetzende Legendenbildung im Hinblick auf die historische Einmaligkeit der Situation: „‚Nur einen Wimpernschlag lang war die Vereinigung möglich‘ werde ich später einmal lesen. Will man dem deutschen Volk von neuem eine Legende mit auf den Weg geben?“693 Sein Text gerät zur Abrechnung: … nur selten war in der deutschen Geschichte das Menschenbild dem Ebenbild Gottes so nahe gewesen wie in den Tagen der Wende, doch die unscharfen Ränder nahmen zu, die ersten Verknotungen wurden sichtbar, der Augenblick war gekommen, in dem sich die Woge überschlug. Einem Land mit sechzehn Millionen wurde über Nacht die Deutsche Mark übergestülpt, schlagartig brach der gesamte Osthandel in sich zusammen, Millionen gingen in die Arbeitslosigkeit, die Menschen waren wie gelähmt. Das Maß lag nicht mehr in den Dingen selbst, viel zu spät dämmerten die Einsichten, die Auslichtungen. Geschichte ist immer auch ein Indiz dafür, was die Politiker versäumt haben. Millionen Bürger glaubten noch im Sommer 1990 an die „Wiedervereinigung des Getrennten“, an die Möglichkeit, den Weltriß zwischen West und Ost für immer zu schließen, doch die Sieger des kalten Krieges schickten die Besiegten wie eh und je ins Sperrfeuer der Abwicklung, der Verfemung. Was auf die Menschen zukam, war der Übergang in eine andere einseitige Existenz. Nach dem Beitritt gingen in den Kirchen die Lichter aus, der Weihrauch der deutschen Einheit verflog, die Straßen und Plätze in Leipzig, Dresden und Magdeburg wurden wieder leer, eine bedrückende Stille brach über die Menschen herein. Eine jahrelange Konföderation auf Zeit wäre notwendig gewesen, um das langsame Hineinwachsen zu gewährleisten, aber jeder Bürger, der in diesen Tagen für eine Konföderation eintrat, wurde wie ein vaterlandsloser Geselle behandelt. Wie oft hatte der Bundeskanzler vor der Wende noch von den Brüdern und Schwestern im
691 692 693
Hanns Cibulka: Tagebuch einer späten Liebe. Leipzig 1998, S. 80. Ders.: Am Brückenwehr. Zwischen Kindheit und Wende. Leipzig 1994, S. 37. Ebd.
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Osten gesprochen, heute erinnern wir uns, daß auch Kain und Abel Brüder waren. Wahrhaftig, wir leben in einer gnadenlosen Zeit.694
Cibulka ist einer der wenigen Intellektuellen, die auf eine „Ironie der Wende“ aufmerksam machen, denn „die Ostdeutschen haben sich einer Gesellschaft angeschlossen, die selbst einer Wende bedarf.“695 Abschließend sei auf einige Publikationen eingegangen, die keine Tagebücher im engeren Sinne sind, sondern eher Notizen, die ähnliche Funktionen erfüllen, und meist der Selbstvergewisserung dienen. Sarah Kirschs Aufzeichnungen beispielsweise haben zum größten Teil Tagebuchcharakter. Zudem ist die Perspektive der von Ost nach West gegangenen Schriftstellerin besonders interessant, da sie beide Seiten kennt. Über die ‚Wende‘ äußert Kirsch sich selten und meist knapp in Form kommentierender Einwürfe. Längere Abschnitte setzen sich indirekt mit der Thematik auseinander; so schildert die Schriftstellerin in Das simple Leben (1994) ihre Eindrücke bei der Lektüre von Reiner Kunzes Stasi-Dokumenten (vgl. 5.1.6): Gestern noch die Dokumentatione von Kunzes Stasi-Akten gelesen. Er ist an sie durch verrückte Zufälle gelangt. Die Willfährigkeit der Menschen aber zur Denunziation haut einem die Füße glatt weg. Ohne nachzudenken sagen sie nicht nur ja! sondern ja! gerne. Gottverfluchte verwurmte Seelen. Die Hausbewohner bei Kunze waren sehr eifrig. Dort wo ich wohnte auf der Fischerinsel geschah die Verteilung der Wohnungen gleich durch die Stasi da es sich um einen Neubau gehandelt hat. War ne moderne Methode. Die Idee: auf einen Hasen kommen drei Jäger. Meine Wohnung lag der von Hennigers Sekretärin gleich gegenüber und Henniger war Generalsekretär des Schriftstellerverbandes. Vielleicht gibt es meine Akten ja auch noch daß [sic] ich zu tiefer Einsicht gelange. Ibrahim Böhme jedenfalls hat über Kunze fleißig geradezu [sic] fanatisch berichtet. Und sich bis gestern als RegimeGegner verstanden. Es kann einer das Gruseln heut lernen.696
Ein Ausflug in den Ostteil Berlins lässt sie zuvor nicht gekannte Beobachtungen machen: Ostberlin ist besonders anstößig zu der Zeit. Unter den Linden wenn man da geht – aller zweihundert Meter ein zu Schrott gefahrenes Auto aufm Mittelstreifen. Man kann auch getrost darauf warten ein solches entstehen zu sehn. In knapper Zeit kam ich auf vier.697
694 695 696 697
Ebd., S. 52f. Ebd., S. 89. Sarah Kirsch: Das simple Leben. Stuttgart 1994, S. 34f. Später kann Kirsch tatsächlich in ihren eigenen Akten lesen; vgl. Ebd., S. 88-90. Ebd., S. 51.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
295
Ebenfalls aus der Perspektive der Weggegangenen schreibt Helga Lippelt (*1943 in Insterburg), die ursprünglich in Leipzig lebte. Die mit ihrem Weggang verbundenen Umstände und Reflexionen hatte sie in Good bye [sic] Leipzig (1985)698 niedergelegt. Nun erlebt sie im Westen die ‚Wende‘: In Der Geschmack der Freiheit (1991) schildert sie unter anderem die Eindrücke eines Besuchs in Leipzig, nachdem sie wieder in die DDR einreisen darf. In diesem Sinne ist das Buch ergänzend zu Good bye [sic] Leipzig zu lesen. Wie die meisten Autorinnen und Autoren thematisiert auch Lippelt zunächst den Eindruck der Unwirklichkeit der Ereignisse: Die Welt steht kopf in diesem heißen Herbst. Was gestern und die vierzig Jahre davor ehernes Gesetz war, gilt nicht mehr. Man könnte schreien vor Ungläubigkeit, da rennen sie durchs Brandenburger Tor, durch die Mauer hindurch, einfach so in den Westen, ohne Antrag, ohne Stasi, ohne Schüsse. Hat diese Bilder mein Fernseher erfunden – diesen Sony-Japanern ist das zuzutrauen – oder sind sie tatsächlich das Abbild einer Wirklichkeit? Sie demonstrieren, gehen ohne Angst auf die Straße, werden zu Helden, Tausende von Helden, die sich das trauen, was ich mir [sic] nicht traute und was die heutigen Helden sich vor einem Jahr auch nicht trauten.699
Auch sie bezieht sich auf den Ausruf „Wahnsinn!“: Jeden Tag gibt es neue Umwälzungen. Man könnte nur immer am Fernseher sitzen und Wahnsinn, Wahnsinn schreien. Jeden Tag gibt es Ereignisse, die einen zum Heulen bringen. Und ihr tut so, als wär das schon normal, als wären achtundzwanzig Jahre Mauer nicht gewesen.700
Später wagt sie eine Bilanz hinsichtlich ihrer Jahre in der DDR. Dabei kommt sie zu einem zumindest für die eigene Person deprimierenden Ergebnis: Keiner will mehr etwas davon wissen. Dreißig, vierzig Jahre fallen ins Loch der Geschichte, und doch war es unser Leben, das sich hier abspielte, unsere dreißig Jahre, unsere Jugend, die hier mit ins Loch fällt. Wir waren die Lückenbüßer, die Betrogenen, die man für dumm verkaufte, denen man die Welt vorenthielt, denen Weintrinker Wasser predigten. Oh, sie ist noch da, die Wut über die vertane Zeit, das unwiederbringlich versäumte Leben, die nicht wiedergutzumachenden Schmerzen.701
Rolf Schneiders (*1932) in zwei Büchern erschienene Tagebuchnotizen sind aus einer ähnlichen Perspektive verfasst: Nach seinem Ausschluss aus dem 698 699 700 701
Helga Lippelt: Good bye [sic] Leipzig. Roman. Düsseldorf 1985. Dies.: Der Geschmack der Freiheit. Ein Liebesfall. Halle (S.) 1991, S. 182. Ebd., S. 187. Ebd., S. 193.
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Schriftstellerverband der DDR 1979 war Schneider in den Westen gegangen und ist, wie Sarah Kirsch und Helga Lippelt, mit beiden Seiten vertraut. Der Titel des ersten Bandes, Frühling im Herbst. Notizen vom Untergang der DDR (1991), zeugt von der positiven Einstellung des Autors zu den Herbstereignissen. Eine eigenständige – entsprechend reformierte – DDR wäre ihm lieber gewesen als die Vereinigung, er wollte stets „die Korrektur des politischen Systems, nicht dessen Abschaffung.“702 Den Auftakt des die Zeit zwischen Spätsommer 1989 und Spätsommer 1990 umfassenden Bandes bildet eine makabre Geschichte aus dem Sommer 1989: Eines Mittags im Sommer gingen mehrere Schulkinder des Ost-Berliner Stadtbezirks Lichtenberg über die Straße und hielten jedes im Arm einen Totenkopf. Auf Fragen von Erwachsenen, woher ihr Mitbringsel stamme, wiesen die Kinder hin auf eine Baugrube, wo, bei Erdarbeiten für eine neue Linie der Untergrundbahn, sich unvermutet ein Massengrab aufgetan hatte. Hier waren gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Zigeuner getötet und verscharrt worden. Die DDR hatte sich in ihrer antifaschistischen Überzeugung zunächst der von Hitler verfolgten Sozialisten und Kommunisten erinnert, später der verfolgten Juden, Christen, Liberalen, der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944. Daß auch das Volk der Zigeuner hierunter zu rechnen sei, war in der DDR nirgends zu lesen. Da es sich so verhielt, sammelte man die Totenschädel wieder ein, schaufelte das Massengrab wortlos zu und fuhr mit den Bauarbeiten für die neue Untergrundbahn fort.703
Schneider ist damit einer der Ersten, die den in der DDR offiziell nicht existenten Ausländer- und Fremdenhass zur Sprache bringen und damit auch den immer wieder beschworenen Mythos vom konsequenten Antifaschismus in Frage stellen – eine später häufiger formulierte Einsicht. Seine Schilderungen der unmittelbaren Wendeereignisse lesen sich geradezu grotesk: Die Zahl der am 9. Oktober 1989 im Tageblatt Neues Deutschland abgedruckten Bildnisse von Erich Honecker betrug achtundzwanzig. Die Zahl der an diesem Tage aus der DDR über Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland geflüchteten Menschen betrug eintausendachthundertsechsundvierzig.704
Formulierungen dieser Art sind typisch für den Autor; die dargestellten Vorgänge werden meist knapp, häufig überhaupt nicht kommentiert und erhalten bisweilen einen Charakter, der sich im Grenzbereich zum
702 703 704
Rolf Schneider: Frühling im Herbst. Notizen vom Untergang der DDR. Göttingen 1991, S. 10. Ebd., S. 27. Ebd., S. 30.
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Aphorismus bewegt. Neben vielen anderen Institutionen wird auch der Schriftstellerverband zur Zielscheibe von Schneiders Kritik: Für das Verhältnis von Geist und Macht auf deutschem Boden steht die vom Präsidium des DDR-Schriftstellerverbandes einstimmig verabschiedete Resolution, in welcher der DDR dringlich revolutionäre Reformen anempfohlen wurden genau zu jenem Augenblick, da sich diese zu ereignen begannen.705
Auch für Schneider steht fest, dass es sich bei der Vereinigung weit gehend um einen ‚Anschluss‘ handelte: Das westdeutsche System werde den Ostdeutschen im Eiltempo übergestülpt. Mit Volk ohne Trauer (1992), ebenfalls eine Mischung aus Essayband und persönlichen Aufzeichnungen, veröffentlichte er eine Fortsetzung von Frühling im Herbst – die inhaltliche Nähe wird auch hergestellt über den als Parallele formulierten Untertitel: Notizen nach dem Untergang der DDR. Im Zentrum stehen nun die Folgen der ‚Wende‘ und der rasante Umbau in den neuen Ländern. Der Titel spielt auf Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch Die Unfähigkeit zu trauern (1967) an, denn eine solche Unfähigkeit erkennt Schneider erneut nach der ‚Wende‘.706 Der Autor zeigt Kontinuitäten auf, etwa in einem Essay über die Entwicklung seiner Heimatstadt Wernigerode.707 Trotz aller Vorbehalte gilt für ihn, dass „[d]er Herbstaufstand 1989 in der DDR […] die erste wirklich geglückte Emeute dieses Umfangs in der deutschen Geschichte [wurde].“708 Den Tourismus am nun wieder frei zugänglichen Brocken beurteilt er dagegen kritisch: Dergleichen macht dann auch den Brockentourismus zu einer eher gespenstischen Veranstaltung. Daß dieser Berg zu einem förmlichen deutschen Trennungs- und Wiedervereinigungssymbol geworden ist, wie sonst nur noch das Brandenburger Tor in Berlin, läßt sich ohnehin rational nicht erklären. Tag um Tag lockt er die Menschen an, Kraxler, Benutzer von Kremsern, in unaufhörlichem Strome bewegen sie sich teils vom Torfhaus, teils von Oberschierke her und die aufgelassenen DDR-Grenzbefestigungsanlagen entlang. Die Marschsäulen vereinigen sich an der Bahnstation Goetheweg.709
Die westdeutsche Journalistin Marlies Menge (*1934) berichtete ab 1977 dreizehn Jahre lang von Ostberlin aus für Die Zeit über die DDR und 705 706 707 708 709
Ebd., S. 42. Vgl. Rolf Schneider: Volk ohne Trauer. In: R.S.: Volk ohne Trauer. Notizen nach dem Untergang der DDR. Göttingen 1992, S. 195-206. Rolf Schneider: Grenzgebiet. In: Ebd., S. 143-160. Ders.: Statt eines Vorworts. In: Ebd.; S. 7-16, S. 10. Rolf Schneider: Grenzgebiet. In: Ebd., S. 143-160, S. 154f. Der Brocken dürfte einer der symbolträchtigsten Orte der deutsch-deutschen Geschichte sein. Insofern verwundert es, dass er in nur wenigen literarischen Texten aus der Wendezeit eine Rolle spielt. Eine Ausnahme stellt Thomas Rosenlöchers „Harzreise“ Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern (Frankfurt a.M. 1991) dar (vgl. dazu 6.3.4.2).
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publizierte mehrere Bücher über den anderen deutschen Staat.710 In Menges Notizen sind vor allem die dargestellten Alltagserfahrungen interessant: Im Hausbriefkasten steckt neuerdings eine Menge Werbung, die ihn oft über Gebühr vollstopft. Da sind Angebote, wie man schnell und fast ohne Zeitaufwand sehr viel Geld verdienen kann. Wenn man genauer hinsieht oder sich bei der angegebenen Adresse meldet, ist es jedes Mal dasselbe, was gesucht wird: Vertreter, die von Tür zu Tür gehen, um irgend etwas anzubieten, und das viele Geld ist nur zu holen, wenn man sehr viele Leute davon überzeugen kann, daß sie unbedingt diese oder jene Zeitschrift abonnieren oder unbedingt den neuen Staubsauger kaufen müssen.711
Erwin Strittmatter (1912-1994) streift in seinem letzten Werk, den Fragment gebliebenen „Aufzeichnungen“ Vor der Verwandlung (1995), die ‚Wende‘ und ihre Folgen nur knapp. Er bekennt, dass er diese Ereignisse in seinem literarischen Werk absichtlich kaum beschrieben oder kommentiert habe und dies auch heute nicht tun wolle: Mein letztes Buch erschien vor fünf Jahren. Kanns nicht sein, daß jetzt, gerade jetzt, der Punkt erreicht ist, an dem man mich mit meiner Art zu erzählen zum Verstauben in die Ecke stellt? In der Zwischenzeit hat auch ein Umsturz stattgefunden, eine Wende hat man ihn genannt, man habe uns einen heiligen Wunsch erfüllt, wie es heißt, habe uns zu einem einig Volk von Brüdern gemacht, nachdem uns fremde Mächte jahrzehntelang trennten, schützten und auf unser Gutes aus waren. Nichts davon oder nur ganz wenig ist in meinem Roman zu lesen. Ich war stets mißtrauisch, wenn mir abverlangt wurde, die neuesten Regierungsverordnungen möchten, noch ehe man ihre Wirkung in der Praxis erlebt und ausgelotet hatte, positiv aus meinen Büchern herauszulesen sein. Und eben das wird, wie ich den Auslassungen beflissener Tageszeitungs-Kritiker entnehme, unter anderen Vorzeichen wieder verlangt. Aber sich nur nicht verärgern und verbittern lassen von Zuständen und Ereignissen, die noch nicht eingetreten sind. Hast du nicht die Wälder und die Wiesen und das Getier in ihnen, bist du nicht nach hier hinausgezogen, damit sie dich im Gleichgewicht halten helfen?712
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Marlies Menge: Tips für Reisen in die DDR. Von Rostock nach Klingenthal. Berlin 1974; Städte, die keiner mehr kennt. Reportagen aus der DDR. Texte von Marlies Menge und Fotos von Rudi Meisel. Mit einem Vorwort von Günter Kunert. München 1979; Dies.: Die Sachsen – Das Staatsvolk der DDR. 30 Fotos von Rudi Meisel. München / Zürich 1985; Dies.: Mecklenburg. Reisebilder aus der DDR. Köln 1989; Dies.: „Ohne uns läuft nichts mehr“. Die Revolution in der DDR. Mit einem Vorwort von Christa Wolf. Stuttgart 1990. Dies.: Zurück nach Babelsberg. Blick auf ein vereintes Land. Köln 1992, S. 24f. Erwin Strittmatter: Vor der Verwandlung. Aufzeichnungen. Hrsg. von Eva Strittmatter. Mit einem Nachwort von Eva Strittmatter. Berlin 1995, S. 42f.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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Als Einschnitt erlebt er die ‚Wende‘ durchaus, wie sich an anderer Stelle bei der Reflexion über die Auflagenhöhe des dritten Teils seiner Trilogie Der Laden (1983 / 1987 / 1992) zeigt: Ich höre wieder einmal etwas vom dritten Teil des Laden-Romans, dessen Signalexemplar zwar bei uns ist, […] aber draußen ist er noch nicht bekannt, das heißt im Buchhandel. Er wurde noch nicht ausgeliefert, aber vom Verlag wurde mir mitgeteilt, daß die Buchhändler ihre September-Bestellungen vorgezogen hätten und daß sich die Möglichkeit abzeichne, die erste Auflage (zwanzigtausend Exemplare) könnte auf Anhieb verkauft werden. Ich quittierte die Nachricht mit einem leisen Dankeschön. Vielleicht hat man beim Verlag ein heftigeres Danke erwartet, aber früher, das heißt, in einer Zeit, in der fast nichts mehr etwas getaugt haben soll, fingen wir mit sechzigtausend Erstauflage an, kletterten eins, zwei, drei auf hunderttausend. Trotzdem bin ich über die Nachricht vom Verlag erfreut, aber nur ganz hinten irgendwo.713
Vermischungen aus Realität und Fiktion sind auch beim Tagebuch keine Seltenheit: 1991 erscheint mit Grenzspuren714 ein fiktives Tagebuch. Traute Gundlach, die von 1982-1990 Leiterin der Interessengemeinschaft Zirkel schreibender Arbeiter von Apolda war und seit 1983 freie Schriftstellerin ist, orientiert sich dabei lediglich an den historischen Tatsachen. Der Berichtszeitraum beginnt am 30. März 1987 – mehr als zweieinhalb Jahre vor der ‚Wende‘ – und endet mit einer Darstellung der Ereignisse vom 9. November 1989. Zentraler Schauplatz ist ein Dorf im Kreis Erfurt. 5.2.2
Autobiografien Wir hatten Parteitag, den letzten der SED […]. Jeder schrie jeden an, und aus einer Nische schrie Krenz mir zu: „Ja, du, du kannst wenigstens noch ein Buch schreiben, aber ich, was kann ich? Ich bin arbeitslos!“ – Er machte es klingen, als handle es sich um etwas Besonderes, und zu dieser Stunde war es das auch noch. „Kannst du doch genauso“, schrie ich zurück, „du brauchst ja nur über dein glorioses Jahr 89 zu berichten!“, und ich hörte mir zu wie einem, der einen bedeutenden Fehler macht. Prompt begehrte der künftige Kollege zu wissen, wie er das anstellen solle. Da sich in dem Gedränge auch andere für die Antwort interessierten, gab ich einen Rat, mit dem schon viele etwas anzufangen wußten, und verwies auf das einfachste aller Erzählordnungsmittel. „Denke dir, deine Tante
713 714
Ebd., S. 66; Hervorhebung im Original. Traute Gundlach: Grenzspuren. Tagebuch einer deutsch-deutschen Teilung. Berlin 1991.
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Veronika aus Neuseeland hat geschrieben, sie hat dich im Fernsehen erkannt und will nun wissen, wie du in diese Lage geraten bist. Da fängst du an: Liebe Tante, Silvester war noch alles gut, aber dann ging es plötzlich los …“715 (Hermann Kant: Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart, 1991)
Seit der ‚Wende‘ sind in Deutschland unzählige Autobiografien und autobiografische Texte erschienen, die ein gesamtes bisheriges Leben, ausgewählte Lebensabschnitte oder Einzelaspekte der eigenen Biografie zum zentralen Thema erheben. Offenbar war es zahlreichen Menschen ein Bedürfnis, nach der ‚Wende‘ ‚Bilanz‘ zu ziehen.716 Nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller717, Liedermacherinnen718, Schauspielerinnen und Schauspieler719, Regisseure720, Schlagersänger721, Politiker722 und deren Gattinnen bzw. Witwen723,
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723
Hermann Kant: Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart. Berlin / Weimar 1991, S. 512f. Vgl. zum Komplex der Autobiografie nach der ‚Wende‘: Manfred Jäger: Die Autobiographie als Erfindung von Wahrheit. Beispiele literarischer Selbstdarstellung nach dem Ende der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 41 / 92 v. 2.10.1992, S. 25-36. Außer den im Folgenden näher betrachteten Texten z.B.: Lothar Kusche: Aus dem Leben eines Scheintoten. Zerstreute Erinnerungen. Berlin 1997; Joachim Seyppel: Schlesischer Bahnhof. Erinnerungen. München 1998. Barbara Thalheim: Mugge. 25 Jahre on the road. Erinnerungen. Mit einem Vorwort von Konstantin Wecker. Berlin 2000. Angelica Domröse: Ich fang mich selbst ein. Mein Leben. Aufgeschrieben von Kerstin Decker. Bergisch Gladbach 2003; Gisela May: Es wechseln die Zeiten. Erinnerungen. Leipzig 2002; Armin Mueller-Stahl: Unterwegs nach Hause. Erinnerungen. Düsseldorf 1997. Frank Beyer: Wenn der Wind sich dreht. Meine Filme, mein Leben. München 2001. Frank Schöbel: Frank und frei. Die Autobiographie. Berlin 1998. Hermann Axen: Ich war ein Diener der Partei. Autobiographische Gespräche mit Harald Neubert. Berlin 1996; Egon Bahr: Zu meiner Zeit. München 1996; Sabine Bergmann-Pohl: Abschied ohne Tränen. Rückblick auf das Jahr der Einheit. Aufgezeichnet von Dietrich von Thadden. Berlin / Frankfurt a.M. 1991; Gregor Gysi: Das war’s. Noch lange nicht! Aktualisierte Neuausgabe. München 2001; Ders.: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn. Hamburg 2001; Hans Modrow: Aufbruch und Ende. Hamburg 1991; Ders.: Ich wollte ein neues Deutschland. Mit Hans-Dieter Schütt. Berlin 1998; Ders.: Von Schwerin bis Strasbourg. Erinnerungen an ein halbes Jahrhundert Parlamentsarbeit. Berlin 2001; Günter Schabowski: Der Absturz. Berlin 1991; Wolfgang Schäuble: Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte. Hrsg. und mit einem Vorwort von Dirk Koch und Klaus Wirtgen. Stuttgart 1991; Karl Schirdewan: Ein Jahrhundert Leben. Erinnerungen und Visionen. Autobiographie. Berlin 1998. Erich Honecker hatte seine Autobiografie bereits 1980 veröffentlicht: Erich Honecker: Aus meinem Leben. Oxford / Berlin (DDR) 1980 (Leaders of the World, Biographische Reihe). Lotte Ulbricht: Mein Leben. Selbstzeugnisse, Briefe und Dokumente. Mit über 200 meist unveröffentlichten Fotos. Hrsg. von Frank Schumann. Berlin 2003.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
301
Spioninnen und Spione724, Sportlerinnen und Sportler725, Wissenschaftler726 und Juristen727 legten Autobiografien und Erinnerungstexte vor, sondern auch und gerade weniger oder überhaupt nicht prominente Menschen.728 Zudem erschienen einige Autobiografien von Zeitgenossen, die in besonderer Weise mit der ‚Wende‘ und den Veränderungen in den neuen Ländern zu tun hatten: Der „Baulöwe“ Jürgen Schneider (*1934) veröffentlichte nicht nur seine Autobiografie729, sondern überdies einen Bildband, der seine sämtlichen Bauprojekte und damit über weite Strecken auch sein Engagement im Osten dokumentiert.730 Mischformen sind häufig anzutreffen. In literarischer Hinsicht sind die meisten Autobiografien nahezu unbedeutend. Sie enthalten jedoch wertvolle Informationen, die als Schlüssel zum Verständnis von DDR, ‚Wende‘ und deutscher ‚Einheit‘ unentbehrlich sind. Karl Wilhelm Schmidt
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Am prominentesten wohl Markus Wolf: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen. München 1997; Gabriele Gast: Kundschafterin des Friedens. 17 Jahre Topspionin der DDR beim BND. Frankfurt a.M. 1999. Gustav-Adolf Schur: Täve. Die Autobiographie. Gustav-Adolf Schur erzählt sein Leben. Berlin 2001; Katarina Witt: Meine Jahre zwischen Pflicht und Kür. München 1994. Spitzensportler zählten in der DDR zweifellos zu den Privilegierten. Die ‚Wende‘ bewerten sie – wohl auch deshalb – meist nicht unbedingt positiv; der Befreiungsaspekt der Grenzöffnung wird oft schlicht ignoriert. Hier zeigt sich, dass trotz der Idolwirkung und angeblichen Volksnähe der Sportler eine große Distanz zwischen ihnen und der ‚restlichen‘ Bevölkerung herrschte. Wolfgang Jacobeit: Von West nach Ost – und zurück. Autobiographisches eines Grenzgängers zwischen Tradition und Novation. Münster 2000; Fritz Klein: Drinnen und Draußen. Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen. Durchgesehene Ausgabe. Frankfurt a.M. 2001 [zuerst: Frankfurt a.M. 2000]. Darin insbes. das Kapitel „VIII Umbruch (1985-1992)“, S. 315-365; Jürgen Kuczynski: „Ein linientreuer Dissident“. Memoiren 1945-1989. Berlin / Weimar 1992; Ders.: Ein hoffnungsloser Fall von Optimismus? Memoiren 1989-1994. Berlin 1994; Ders.: Ein treuer Rebell. Memoiren 1994-1997. Berlin 1998. Auskunft über die unmittelbare Wendezeit geben auch Kuczynkis Aufzeichnungen Schwierige Jahre – mit einem besseren Ende? Tagebuchblätter 1987 bis 1989. Berlin 1990 sowie seine Kurze Bilanz eines langen Lebens. Berlin 1991. Hier ein Westdeutscher: Heinrich Hannover: Die Republik vor Gericht. Für die Zeit der ‚Wende‘ ist der zweite Band relevant: 1975-1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts. Berlin 1999. Auch hier ist die Bandbreite groß. Sie reicht von Erfahrungen in der politischen Haft in der DDR (Beate Messerschmidt: Hinter doppelten Mauern. Eine deutsche Geschichte. Frankfurt a.M. / Wien 1999) bis zu Zeugnissen ehemaliger Funktionsträger, etwa der Grenztruppen (Hans Fricke: Davor – Dabei – Danach. Ein ehemaliger Kommandeur der Grenztruppen der DDR berichtet. Köln [o.J.]) oder der NVA (Erich Hasemann: Soldat der DDR. Erinnerungen aus über dreißigjähriger Dienstzeit in den bewaffneten Organen der DDR. Berlin 1997). Jürgen Schneider: Bekenntnisse eines Baulöwen. Unter Mitarbeit von Ulf Mailänder und Josef Hrycyk. München 1999. Siehe darin v.a. die für die ‚Wende‘-Thematik aufschlussreichen Kapitel „Auf nach Leipzig“ (S. 141-153), „Berlin“ (S. 154-161) und „Mein Reich“ (S. 162-165) sowie die entsprechenden Passagen aus den „Prozess“-Kapiteln. Ders.: „Alle meine Häuser“. Moderne Denkmale in Deutschland. Bad Homburg / Leipzig 2000.
302
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
(1996) geht sogar davon aus, „daß ‚Geschichtsbewältigung‘ nach 1989 primär in Form von Autobiographien bekannter ehemaliger DDR-Autoren erfolgte.“731 Es bleibt in diesem Zusammenhang allerdings festzuhalten, dass autobiografische Texte nicht unbedingt einen größeren Wahrheitsanspruch besitzen müssen als fiktive.732 Einen eigenen Komplex bilden diejenigen autobiografischen Texte, die über einen längeren Zeitraum entstanden sind, als Form der persönlichen Vergangenheitsbewältigung niedergeschrieben wurden, aber erst jetzt, unter den geänderten politischen Bedingungen, veröffentlicht werden können. Ein Beispiel hierfür ist Uwe Saegers Die Nacht danach und der Morgen (1991). Der Verfasser berichtet darin von seinem Wehrdienst bei der NVA: Am 4. Mai 1972 begann mein eineinhalbjähriger Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee der DDR. Ich wurde zu den Grenztruppen eingezogen. Nach halbjähriger Ausbildung wurde ich zu einem in Berlin-Treptow stationierten Linienregiment versetzt, das die Staatsgrenze der DDR zu Berlin-West vom Brandenburger Tor bis nach Lübars zu sichern hatte. Es war Dienst an der Mauer, Aug in Aug mit dem Klassenfeind, dem sogenannten. Dieses Jahr war ein Bruch in meinem Leben.733
Diesen „Bruch“ und die damit einhergehenden psychischen Belastungen versucht Saeger schreibend zu bewältigen. Kernstück seines Buches ist ein „Filmszenarium“ desselben Titels. Zweifellos ist die Gattung der Autobiografie in erster Linie „eine Zweckform, die nur gelegentlich auch einen literarischen Charakter haben kann“.734 Doch enthalten gerade diese Texte wichtige Inhalte über die subjektive Rezeption der ‚Wende‘. In diesem Sinne stellt Manfred Jäger (1992) fest:
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Karl Wilhelm Schmidt: Geschichtsbewältigung. Über Leben und Literatur ehemaliger DDR-Autoren in der wiedervereinten Bundesrepublik. Eine Bestandsaufnahme kulturpolitischer Debatten und fiktionaler, essayistischer sowie autobiographischer Publikationen seit der Vereinigung. In: Helmut Kreuzer (Hg.): Pluralismus und Postmodernismus. Zur Literatur- und Kulturgeschichte in Deutschland 1980-1995. Vierte, gegenüber der dritten erweiterte und aktualisierte Auflage. Frankfurt a.M. / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1996 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Band 25); S. 353-395, S. 354. Vgl. Leslie A. Adelson: Ränderberichtigung: Ruth Klüger und Botho Strauß. In: Claudia Mayer-Iswandy (Hg.): Zwischen Traum und Trauma – Die Nation. Transatlantische Perspektiven zur Geschichte eines Problems. Tübingen 1994 (Stauffenburg Colloquium, Band 32); S. 85-97, S. 94. Uwe Saeger: Die Nacht danach und der Morgen. München / Zürich 1991, S. 5. Gerhard Sauder: Suchbilder. Literarische Autobiographien der neunziger Jahre. In: Peter Winterhoff-Spurk / Konrad Hilpert (Hgg.): Die Lust am öffentlichen Bekenntnis. Persönliche Probleme in den Medien. St. Ingbert 1999 (Annales Universitatis Saraviensis, Philosophische Fakultät, Band 11); S. 103-128, S. 104.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
303
Vor allem in Phasen des gesellschaftlichen Umbruchs empfinden viele das Bedürfnis, über sich selbst und über die unvorhergesehene neue Lage Klarheit zu gewinnen. Das läßt sich gegenwärtig im Bereich der einstigen DDR gut beobachten. Es ist die Zeit der Rechtfertigungen und Anklagen, der Absagen und Selbstvergewisserungen, der Treuebekundungen und der Umorientierungen.735
Auch und gerade in autobiografischen Texten von Politikerinnen und Politikern ist dies der Fall. Interessant ist dabei naturgemäß weniger die literarische Qualität – die wenigsten Politiker dürften auch einen solchen Anspruch erheben – als die Anlage zahlreicher Werke als Rechtfertigung früheren Verhaltens. So bekennt Günter Schabowski in Der Absturz (1991): Ich will keinen Abstrich davon erfeilschen, daß ich zu lange und exponiert eine falsche Politik vertreten habe. Die Marxschen Ideen der Gesellschaftsentwicklung und Veränderung wurden zu Mittelmaß und Dogma verballhornt. Nicht zu entschuldigen ist, daß wir Unrecht an Menschen begingen, um recht zu behalten. […] Kurzum, ich will mich dem Schuldkonto dieser Politik stellen, weil es das Nützliche ist, das mir bleibt. Sei es nur, um eine glaubwürdige Warnung abzugeben. Wir haben zu lange gebraucht, um uns elementare Fehler einzugestehen. Der Politik, deren Fragwürdigkeit heute so vielen sonnenklar ist, habe ich irrend, wenn auch subjektiv ehrlich, meine Arbeit gegeben.736
Für Schabowski ist die Autobiografie zugleich ein wesentliches Medium der Selbstvergewisserung, nicht zuletzt im Hinblick auf die wenigen in seinem Leben noch verbliebenen Konstanten. So heißt es zu Beginn: Als ich diese Niederschrift begann, war ich 61 Jahre alt. Meine Körperlänge beträgt 184 Zentimeter. Mein Gewicht schwankt zwischen 86 und 88 Kilogramm. Nach Meinung des Arztes ist meine Gesundheit nicht die allerbeste. Ungeachtet medizinischer Unkenrufe wähne ich mich in guter Verfassung. Ein Diplom der KarlMarx-Universität Leipzig aus dem Jahre 1962 bescheinigt mir, daß ich Fertigkeiten erworben habe, die mich zu journalistischer Arbeit befähigen. Zur Zeit gehe ich keiner geregelten Tätigkeit nach. […] Für die Rente bin ich noch nicht alt genug. Dazu müßte ich in unserem Land 65 sein. Doch ich bin wohl nicht mehr jung genug, um mich mit Aussicht auf Erfolg an das Abenteuer einer neuen Profession zu wagen. Die Chancen sind für mich in der DDR ohnehin gleich Null; denn ich war ein roter Bonze.737
Häufig wird die Motivation zum Schreiben von Autobiografien eingangs knapp dargestellt. Alexander Schalck-Golodkowski (*1932), der von 1966 735
736 737
Manfred Jäger: Die Autobiographie als Erfindung von Wahrheit. Beispiele literarischer Selbstdarstellung nach dem Ende der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 41 / 92 v. 2.10.1992; S. 25-36, S. 25. Günter Schabowski: Der Absturz. Berlin 1991, S. 102f. Ebd., S. 12.
304
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
bis 1989 Leiter des beinahe sagenumwobenen Bereichs „Kommerzielle Koordinierung“, kurz „KoKo“, war, in dem Devisen erwirtschaftet wurden, erklärt zu Beginn seiner Deutsch-deutschen Erinnerungen (2000): Ich habe mich dazu entschieden, dieses Buch zu schreiben, um in der Öffentlichkeit meine Sicht der Dinge darzustellen. Mein Lebensweg war in vielerlei Hinsicht typisch für den Werdegang eines Funktionärs in der DDR. Jedoch gelangte ich im Laufe meiner Karriere in eine eigenartige, ja einzigartige Stellung im Staats- und Parteiapparat. Einerseits stand ich ganz hoch oben in der Machthierarchie. Andererseits waren meine Funktionen mit großen Einflussmöglichkeiten und hoher Verantwortung, doch nicht mit politischer Entscheidungsmacht verknüpft.738
Für viele Beiträge von Politikerinnen und Politikern aus der DDR dürfte gelten, was die Lungenfachärztin und letzte Präsidentin der Volkskammer, Sabine Bergmann-Pohl, im Hinblick auf ihr Buch Abschied ohne Tränen (1991)739 formuliert: Es war eine große Zeit. Sie ließ uns persönlich überhaupt keine Möglichkeit eines vertieften Nachdenkens und schon gar nicht der Muße. Erst Monate nach dem 3. Oktober 1990 begann sich die Spannung zu lösen. Dann habe auch ich Zeit gefunden, den Lauf der Dinge zu überschauen und gedanklich zu ordnen. Mit „Abschied ohne Tränen“ wollte ich einige wesentliche Ereignisse und Erlebnisse dieses Jahres 1990, insbesondere das parlamentarische Leben betreffend, aus persönlicher Sicht darstellen und so den offiziellen Dokumenten und Materialien etwas Anschaulichkeit geben. Das Buch ist aus der Erinnerung geschrieben. Natürlich konnte nicht alles, was in der Volkskammer und im Bereich des Amtierenden Staatsoberhauptes tatsächlich geschehen ist, aufgenommen werden. Es sollte aber ein unmittelbarer, sehr persönlicher Beitrag sein, der helfen kann, manche unserer Gedanken und Handlungen besser zu verstehen. Die Historiker werden es sicher dankbar vermerken.740
Es ist hier nicht der Ort, detailliert auf die Geschichte der Gattung ‚Autobiografie‘ einzugehen, mit der spätestens seit Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811-1814 / 1833) ein auch einem breiteren Publikum bekannt gewordenes Modell vorliegt. Für die Thematik interessanter
738
739 740
Alexander Schalck-Golodkowski: Einleitung zu: A.S.-G.: Deutsch-deutsche Erinnerungen. Reinbek 2000; S. 7-14, S. 7; ergänzend vgl. die Dokumentation von Wolfgang Seiffert und Norbert Treutwein: Die Schalck-Papiere. DDR-Mafia zwischen Ost und West. Die Beweise. Rastatt / München / Wien 1991. Sabine Bergmann-Pohl: Abschied ohne Tränen. Rückblick auf das Jahr der Einheit. Aufgezeichnet von Dietrich von Thadden. Berlin / Frankfurt a.M. 1991. Dr. med. Sabine Bergmann-Pohl an Frank Thomas Grub; Brief v. 22.3.2001, S. 2.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
305
dürfte es sein, einen Blick auf Günter de Bruyns Essay Das erzählte Ich (1995)741 zu werfen. Darin greift der Autor unter anderem die seines Erachtens wesentlichen Schwierigkeiten und Probleme beim Schreiben von Autobiografien auf. Die Gattung begreift de Bruyn als „Kunstform“742, bei der sich zunächst das Problem der Auswahl stellt: Aus den Lebenstatsachen absichtsvoll eine Auswahl zu treffen, weil man Teile nicht wahrhaben will, für unwichtig hält oder dem Zweck nicht gemäß erachtet, kann also auch Verschweigen oder Irreführen bedeuten, so daß man den Schluß daraus ziehen könnte, daß bei jeder Auswahl Vorsicht geboten ist. Damit aber zieht man den Wahrheitsgehalt jeder Autobiographie in Zweifel. Denn da das Wissen über das eigne Leben so groß ist, daß Tausende von Seiten damit gefüllt werden könnten, kommt kein autobiographischer Schreiber ohne das Auswählen aus. Er muß, will er sein Leben erzählen, die großen und kleinen Teilchen desselben sondern und wägen, Wichtiges von Unwichtigem trennen, einen Aussonderungsprozeß also vollziehen.743
Für de Bruyn existieren vor allem zwei ‚Motivationsstränge‘: Der erste und dickste der Stränge ist der der Selbstauseinandersetzung, der Selbsterforschung und Selbsterklärung, auch der der Rechenschaftslegung vor einer nur mir bekannten Instanz. Es ist der Versuch, mich über mich selbst aufzuklären, Grundlinien meines Lebens zu finden, mir auf die Frage zu antworten, wer eigentlich ich sei.744
Demgegenüber steht der zweite Motivationsstrang. Dieser ist weniger selbstisch. Er betrifft die Geschichte, und zwar nicht nur die eigne; es ist der Chronist im Schreiber, der sich hier regt. Hier gilt es, das Ich in die historischen Geschehnisse einzuordnen, es aus ihnen erklären, durch sie vielleicht auch bewerten zu können. Das Ich und die Zeitläufte müssen aufeinander bezogen werden, in der Hoffnung, daß beide dadurch Konturen gewinnen und daß aus dem Einzelfall so etwas wie eine Geschichtsschreibung von unten entsteht.745
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742 743 744 745
Günter de Bruyn: Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie. Frankfurt a.M. 1995 (Fischer Bibliothek). Grundlage des Essays sind Vorlesungen, die de Bruyn im Dezember 1993 auf Einladung des Kunstvereins Wien an der Universität Wien hielt. Der Text entstand also zwischen den beiden Teilen seiner Autobiografie Zwischenbilanz (1992) und Vierzig Jahre (1996). Ebd., S. 60. Ebd., S. 12f. Ebd., S. 18f. Ebd., S. 19f.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
De Bruyn betont, dass die Autobiografie „nur teilweise“ zur „Literatur im engeren Sinne“ gehört: Ihre großen Werke wurden nicht nur von Literaten geschrieben […]. Sie erzählt literarisch, aber das Fiktive der Literatur fehlt ihr – oder fehlt ihr angeblich. Sie überschreitet Grenzen, vor allem die zur Geschichtsschreibung, manchmal auch zur Reisebeschreibung oder zu anderen Wissenschaften, zur Theologie zum Beispiel […]. Aber auch ihre innerliterarischen Grenzen sind fließend, sei es, weil der autobiographische Roman es mit dem Romanhaften nicht so genau nimmt, oder weil die Autobiographie auch Fiktives nicht scheut.746
So etwas wie eine ‚objektive Wahrheit‘ kann es nach de Bruyns Auffassung nicht geben, denn „[d]as Schwierige an der Wahrheit ist, daß es viele gibt, weil jeder die seine hat. Jede Selbstdarstellung ist zeitbezogen und voreingenommen.“747 Im Hinblick auf Autobiografien, die sich auf ein zumindest teilweise in der DDR geführtes Leben beziehen, stellt der Schriftsteller fest: Da aber in Diktaturen fast alle Begegnungen mit Menschen auch politische Dimensionen haben, wird die Abwägung in Zweifelsfällen nicht einfach sein. Zwangsläufig wird das Politische dominieren, und die DDR wird auch dann sichtbar werden, wenn es um Freundschaft, Liebe, Beruf oder Lektüre geht. In dieser Hinsicht aber macht sich der Mangel an Distanz besonders deutlich bemerkbar. Noch sind die Erlebnisse zu nah, um die wesentlichen von den unwesentlichen trennen zu können. Die politischen Zustände von gestern sind noch nicht zur Historie geworden; die Flut der Geschehnisse hat sich noch nicht zur Geschichte geklärt und geformt. Man kennt Daten und Fakten, ist sich aber über die Höhe- und Wendepunkte nicht einig. Man weiß, wann die DDR endete, aber nicht wann und wie das Ende begann.748
Nicht zuletzt durch den fehlenden historischen Abstand sind die Grenzen zur bloßen Rechtfertigungsliteratur mitunter fließend; zahlreiche Texte dürften deshalb eher als ‚Momentaufnahmen‘ zu begreifen sein. Für den Schreibenden stellt das Festhalten gelebten Lebens eine wichtige Funktion im Hinblick auf einen Selbstfindungsprozess dar. So schreibt Hans Fricke (*1931), ein ehemaliger Kommandeur der DDR-Grenztruppen, im Vorwort zu seiner 1992 erschienenen Autobiografie Davor – Dabei – Danach: Ich dachte zum ersten Mal daran, für unsere Enkel aufzuschreiben, wie mein Leben bisher verlaufen ist, als ich achtundfünfzig Jahre alt war. Und bei mir gab es 746 747 748
Ebd., S. 21. Ebd., S. 33. Ebd., S. 58f.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
307
einen aktuellen Anlaß, nämlich die gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR im Herbst 1989. Ich wollte unseren Enkeln erzählen, wie ich in den vergangenen sechs Jahrzehnten gelebt, was ich erlebt, gewollt und erhofft habe. […] Ich hatte aber auch selbst das Bedürfnis, mich an Vergangenes zu erinnern. Dabei wollte ich versuchen, die Fragen zu beantworten: Hast du richtig gelebt? Bist du einverstanden damit, wie du gelebt hast? Wie würdest du dich heute in dieser oder jener Situation verhalten? Schwierige Fragen.749
Häufig sind mit autobiografischen Texten auch Versuche der Verständigung bzw. Vermittlung zwischen Ost und West verbunden. So schreibt die ehemalige Lehrerin Gisela Weber 1997 im Vorwort zu ihrer Rückschau auf die DDR mit Schwerpunkt Schule: Die Leser östlich der Elbe werden sich hier und da in diesen Geschichten wiederfinden, werden dieses oder jenes Problem vielleicht ähnlich erlebt haben und, sich erinnernd, mit einem weinenden und einem lachenden Auge zurückblicken. Meine Erzählungen sind aber auch für die Leser westlich der Elbe geschrieben. Viele von ihnen haben die Geschehnisse und das ganz alltägliche Leben in dem anderen deutschen Staat nur von weitem – meist beeinflußt von den Medien – betrachtet. Ihnen möchte ich hiermit Gelegenheit geben, uns „Ossis“ besser zu verstehen. Ich knüpfe damit den Wunsch an, daß wir Deutsche uns näher kommen und unserer Vergangenheit gegenüber mehr Toleranz zeigen.750
Im Folgenden werden die Autobiografien einiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller etwas genauer betrachtet. Dabei geht es ausdrücklich nicht um die Darstellung des gesamten (bisherigen) Lebens, sondern in erster Linie um die der ‚Wende‘ und / oder Vereinigung in den entsprechenden Texten. Hervorzuheben sind: Und außerdem war es mein Leben. Aufzeichnungen einer Schriftstellerin (1994) von Elfriede Brüning (*1910), Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992) und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht (1996) von Günter de Bruyn (*1926), Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart (1991) von Hermann Kant (*1925), Erwachsenenspiele (1997) von Günter Kunert (*1929), Mauerblume (1999) von Rita Kuczynski (*1944) sowie Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992 / 1994) von Heiner Müller (1929-1995). Mit Ausnahme von Elfriede Brüning und Rita Kuczynski gehören die genannten Autoren derselben Generation an, werfen aber höchst unterschiedliche Blicke auf ihr Leben, die DDR 749 750
Hans Fricke: Zuvor. In: H.F.: Davor – Dabei – Danach. Ein ehemaliger Kommandeur der Grenztruppen der DDR berichtet. Köln [o.J.]; S. 8-11, S. 8. Gisela Weber: Vorwort. In: G.W.: Von normal bis verrückt. Rückschau einer DDR-Lehrerin mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Schkeuditz 1997; S. 7f., S. 8.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
und die ‚Wende‘. Meist nimmt letztere nicht viel Raum in den Texten ein – wohl in erster Linie aus Gründen der Proportionalität. Günter Kunerts Erinnerungen Erwachsensenspiele751 enden bereits 1979 mit der Darstellung seines Weggangs aus der DDR. Das Buch erhält seine Relevanz für die Thematik in erster Linie aus der Darstellung der Verhältnisse in der DDR aus der Nachwende-Perspektive. Zudem bezieht Kunert sich immer wieder auf seine Stasi-Akten, die sein Erinnern und die Auswahl des Dargestellten mitbestimmten. 5.2.2.1
Elfriede Brüning: Und außerdem war es mein Leben (1994)
Am Anfang der meisten Autobiografien stehen kurze Erläuterungen, in denen die Motivation, Memoiren zu schreiben, dargelegt wird; zudem wird häufig das Verhältnis von ‚Dichtung‘ und ‚Wahrheit‘ thematisiert. Elfriede Brüning äußert dazu in Und außerdem war es mein Leben: Ich will alles so aufschreiben, wie es in meiner Erinnerung lebt. Vielleicht hat sich nicht jede Begebenheit so abgespielt, wie ich sie in diesem Buch schildern werde. Ich bin Romanautorin, und oft geht meine Phantasie mit mir durch. Aber ich werde mich bemühen, nahe an der Wahrheit zu bleiben. Ich habe vier Staatsformen durchlebt: Als Kind noch das Kaiserreich, als Halbwüchsige die Weimarer Republik, als Erwachsene den Faschismus und danach den versuchten Sozialismus in der DDR. In meiner Jugend träumte ich vom Sozialismus, dessen weltweiten Zusammenbruch ich jetzt im Alter erlebe; und ich finde mich wieder in den Kapitalismus zurückgeworfen. Habe ich meine Träume für immer ausgeträumt?752
Wie viele Kolleginnen und Kollegen blickt auch Brüning selbstkritisch zurück und setzt sich mit der viel diskutierten Frage nach den Privilegien von Schriftstellern auseinander: Waren wir privilegiert? Ja, ich denke in dem Sinne, daß wir, im Gegensatz zu unseren westdeutschen KollegInnen, von den Erträgen unserer Arbeit leben konnten. Unsere Bücher erschienen in relativ hohen Auflagen und wurden immer wieder aufgelegt, obwohl man um jede Auflage kämpfen mußte, denn die Anzahl der gefragten Titel wurde immer größer. Man hatte als Autorin in der DDR das sichere Gefühl, wirklich gebraucht zu werden. Viele LeserInnen holten sich bei ihren SchriftstellerInnen Lebenshilfen. In den Diskussionen, die sich nach Lesungen ergaben, ging es oft gar nicht mehr um die Literatur, sondern um Fragen, die die ZuhörerInnen unmittelbar bedrängten und auf die sie eine Antwort von uns erhofften. – Und wir durften ins Ausland fahren. Ja, das war tatsächlich ein Privileg, das wir, ebenso
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Günter Kunert: Erwachsenenspiele. Erinnerungen. München / Wien 1997. Elfriede Brüning: Zur Einstimmung. In: E.B.: Und außerdem war es mein Leben. Aufzeichnungen einer Schriftstellerin. Berlin 1994; S. 7f., S. 7.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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wie die WissenschaftlerInnen, die zu internationalen Tagungen reisten, genossen und das uns sicherlich von Teilen der Bevölkerung geneidet wurde.753
Der von Beginn an präsente melancholische Grundton setzt sich fort; den formaljuristischen Vollzug der deutschen Einheit erlebt Brüning mit gemischten Gefühlen in ihrem Wochenendhaus bei Bad Saarow. Die resignative Schilderung des letzten Abends der DDR beschließt zugleich das Buch: Wir Älteren ziehen uns zurück, obwohl noch lange nicht Mitternacht ist. Bevor wir in unseren Bungalow gehen, treten wir noch einmal auf den Bootssteg hinaus und blicken auf den See, auf dessen leicht bewegter Oberfläche ein paar Sterne tanzen. Aber es ist kühl, wir frösteln, und wir gehen hinein, um uns schlafen zu legen. Als wir am nächsten Morgen erwachen, ist nichts mehr so, wie es vorher war. Wir gleichen Waisen, die ihre Eltern durch Unfall verloren haben. Und die großspurige Bundesrepublik hat uns zwangsadoptiert. ENDE754
5.2.2.2 Günter de Bruyn: Zwischenbilanz (1992) – Vierzig Jahre (1996) Günter de Bruyn beschäftigt sich nicht nur in dem bereits oben angesprochenen Essay Das erzählte Ich mit Fragen des Erinnerns und Bilanzierens im Hinblick auf die eigene Person, sondern auch in einem „Brief an alle, die es angeht“ (Untertitel), der unter der Überschrift Zur Erinnerung zuerst in der Zeitschrift Sinn und Form erschien. Gleich zu Beginn trägt der Autor sein Anliegen vor: Dieser Brief, sehr geehrte Herren, möchte Sie dazu bringen, die Arbeit des Umwälzens, mit der Sie beschäftigt sind, für einige Minuten ruhen zu lassen und den stetig nach vorn, in die Zukunft, gerichteten Blick kurz zurück oder nach innen zu wenden – sich also zu erinnern, bevor das Vergessen beginnt.755
Dieser Anspruch ist für ihn auch beim Verfassen seiner Autobiografie leitend gewesen. Der vorläufige Bilanzcharakter des ersten Teils drückt sich bereits im Titel aus: Zwischenbilanz. Der Band entstand weit gehend
753 754
755
Dies.: Freundinnen. In: Ebd.; S. 311-325, S. 325. Dies.: Verlust der Illusionen. In: Ebd.; S. 327-345, S. 345; Hervorhebung im Original. Eine Fortsetzung der Aufzeichungen stellen Brünings „Nachwende-Notizen“ Jeder lebt für sich allein dar. Verbittert registriert die Schriftstellerin darin etwa die Lethargie ihrer Landsleute nach der Vereinigung (vgl. insbes.: Sehnsucht nach Utopia. In: E.B.: Jeder lebt für sich allein. Nachwende-Notizen. Berlin 1999 (edition reiher), S. 152-155). Günter de Bruyn: Zur Erinnerung. Brief an alle, die es angeht. In: Sinn und Form 42 (1990) 3; S. 453-458, S. 453.
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noch zu DDR-Zeiten: „Aus dem Schlußkapitel geht hervor, daß ich das Buch fertiggestellt habe, als die DDR gerade zu Ende gegangen ist.“756 Insofern ist der erste Teil für die vorliegende Darstellung weniger interessant. Wesentlich ist aber die darin umrissene Motivation de Bruyns, überhaupt eine Autobiografie zu schreiben. Zu dieser Frage äußert er sich zu Beginn des Textes: Mit achtzig gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen; die Zwischenbilanz, die ich mit sechzig beginne, soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion. Nachdem ich in Romanen und Erzählungen lange um mein Leben herumgeschrieben habe, versuche ich jetzt, es direkt darzustellen, unverschönt, unüberhöht, unmaskiert. Der berufsmäßige Lügner übt, die Wahrheit zu sagen. Er verspricht, was er sagt, ehrlich zu sagen; alles zu sagen, verspricht er nicht.757
Im Zentrum des ersten Teils stehen de Bruyns Kindheit in der untergehenden Weimarer Republik, der Nationalsozialismus und die bitteren Kriegserfahrungen des Autors. Das Buch endet 1950, in der Frühzeit der DDR also. Der zweite Band schließt am 10. November 1989 mit dem Kapitel „Martinstag“ und umfasst die Jahre der DDR. Der Fall der Mauer „erzeugte“ in de Bruyn ein Konglomerat von Gefühlen, in dem allerdings der Jubel vorherrschend war. Zwar ließ ich keine Sektkorken knallen und umarmte auch keine fremden Straßenpassanten, aber ich sah an den gerade geöffneten Grenzübergängen doch mit Freuden zu, wie andere das taten, und auch in mir ertönten Siegesfanfaren, doch wurden sie leise von dunkleren Melodien untermalt. So wie im Glück oft Tränen geweint werden müssen, kam die unerwartete Freude mit einer Trauer zusammen, die ich mir erst mit dem Gedanken erklären wollte: Es ist zu spät für dich, nun bist du zu alt.758
Zu dieser Erklärung tritt hier ein Aspekt kritischer Selbstreflexion, denn
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[Interview mit Helmut L. Müller]: Eine Zwischenbilanz. Günter de Bruyn äußert sich im Gespräch mit dem außenpolitischen Redakteur der Salzburger Nachrichten, Helmut L. Müller, zur Seelenlage der DDR-Autoren. In: Die politische Meinung 37 (1992) 276; S. 70-72, S. 70. Günter de Bruyn: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Frankfurt a.M. 1992, S. 7; bei der Bezeichnung „berufsmäßiger Lügner“ handelt es sich um eine Anspielung auf Nietzsche (vgl. Paul Gerhard Klussmann: Deutsche Lebensläufe. Schriftsteller-Biographien im Licht der Vereinigung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung / Kurt-Schumacher-Akademie (Hgg.): Stichwort Literatur. Beiträge zu den Münstereifeler Literaturgesprächen. Bad Münstereifel 1993; S. 188-205, S. 199). Ders.: Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht. Frankfurt a.M. 1996, S. 255.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
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[w]as sich da störend unter dem Jubel regte, nährte sich auch aus Selbstvorwürfen, mangelnde Aktivität im Befreiungsprozeß betreffend, aus der Sorge, daß mit der Freiheit auch Dummheit und Bosheit freigesetzt würden, und aus einer Art Abschiedsschmerz. Dieser galt nicht etwa dem Staat, der uns eingesperrt und gedemütigt hatte, sondern einem Kreis von Freunden, der sich unter dem Druck von Bedrohung und Einschränkung gebildet hatte und nun zerfiel. Er war einer jener Gemeinschaften, die im Westen den Eindruck von einem menschlicheren und gemütvolleren Zusammenleben im Osten erweckt hatten. Falsch war der Eindruck nicht, aber kurzsichtig. Denn es handelte sich um Notgemeinschaften, die mit dem Ende der Not ihr Ende finden.759
Unter dem Eindruck des Mauerfalls äußert der Autor, der „nicht an die Möglichkeit einer baldigen Wiedervereinigung, wohl aber an die Beständigkeit einer nationalen Kultur“760 geglaubt hatte: Zum zweiten Mal in meinem Leben genoß ich das Glück, den Zusammenbruch einer Macht erleben zu können, die sich selbst weisgemacht hatte, auf Dauer gegründet zu sein. […] Und wenn auch der Zauber des Neubeginns nicht so mächtig war wie mit neunzehn Jahren, so war doch die Neugierde auf das Kommende und auf die Enthüllungen des Vergangenen nicht weniger groß.761
Vierzig Jahre endet mit einer Darstellung des Treibens am Grenzübergang Oberbaumbrücke. Gerade hier wird auch der chronistische Anspruch des Schriftstellers deutlich; sehr genau beobachtet er die Szenerie: Vor den Grenzbaracken konnte man Bockwürste kaufen. In den winkligen Gängen, wo man früher, vor Aufregung schwitzend, Gepäckkontrollen und Leibesvisitationen hatte erdulden müssen, wurde niemand mehr aufgehalten. Die Schalter waren geschlossen worden, die Grenzwächter dahinter aber noch immer vorhanden. Mit Türmen von Bierdosen hatten sie ein Plakat befestigt: Betriebsfeier, bitte nicht stören! war in großen Buchstaben darauf gemalt.762
Seine persönliche Bilanz zieht de Bruyn bereits zu Beginn des Bandes: Insgesamt bliebe für ihn nur ein geringes Klagebedürfnis; es könnte die Lebenszwischenbilanz als zufriedenstellend bezeichnet werden; und da die politische Macht, die dauernd in mein Leben hineinregierte, nach Ablauf der vierzig Jahre das Zeitliche segnete, wäre, könnte man alles so sehen, auch ein Happy-End garantiert.763
759 760 761 762 763
Ebd. Ebd., S. 256. Ebd, S. 260f. Ebd., S. 265. Ebd., S. 8.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Nach der ‚Wende‘ erfuhr Günter de Bruyn eine deutliche Aufwertung insbesondere in Westdeutschland, aber auch im Osten der Republik.764 Seine Rolle als ‚gesamtdeutsche Konsensfigur‘ (Dennis Tate) ist von zahlreichen Literaturwissenschaftlern und Kritikern immer wieder hervorgehoben worden. Es gibt allerdings auch Gegenstimmen, die in diesem Zusammenhang fragen, ob de Bruyn nicht etwa „beneficiary of a concerted media campaign“ geworden sei.765 Diese Auffassung ist im Sinne eines von de Bruyn mitbetriebenen Vorgangs sicher zurückzuweisen. Dass er sich für die Rolle einer ‚Konsensfigur‘ durchaus eignet, mag richtig sein, führt im Übrigen jedoch kaum zu weiteren Erkenntnissen. 5.2.2.3
Hermann Kant: Abspann (1991)
Hermann Kants Autobiografie wurde – ähnlich wie der erste Band von de Bruyns Erinnerungen – gewissermaßen von der ‚Wende‘ ‚eingeholt‘: Die Einleitung wurde am 6. Februar 1989 geschrieben, der Band 1991 zum Teil neu bearbeitet und ergänzt.766 Kant hat auf Grund seines Lebenswegs eine grundsätzlich andere Sicht auf die Verhältnisse als etwa de Bruyn oder Kunert. Der Text ist von eher pessimistischem Ton gekennzeichnet, immer wieder wird eine Atmosphäre des Verlusts heraufbeschworen. Diese Haltung zeigt sich bereits an der Wahl des Titels: Ein ‚Abspann‘ steht am Ende eines Films, zudem bezeichnet das Verb ‚abspannen‘ das Abschirren der Pferde nach getaner Arbeit. Der Untertitel heißt nicht etwa „Erinnerungen“, sondern ironisch „Erinnerung an meine Gegenwart“. Der Haupttext beginnt mit einer Anekdote: Kants Mutter habe über ihn im Fernsehen gesagt, er sei „ihr regierbarstes Kind gewesen.“767 Um die eigene ‚Regierbarkeit‘ geht es immer wieder im Text – zahlreiche Ereignisse, Entscheidungen und Handlungen seines Lebens erklärt Kant aus seiner politischen Überzeugung heraus: Weil ich für eine Arbeiter-und-Bauern-Republik war, muß ich dem Problem, wofür ich hätte streiten sollen, kaum nachhängen. Die Frage ist nur: wie streiten, gegen
764
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766 767
Vgl. dazu auch Michael Braun: Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Günter de Bruyns literarische Auseinandersetzung mit der Diktatur. In: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997, S. 391-403; zur Frage der „Aufwertung“ vgl. insbes. S. 391. Dennis Tate: Günter de Bruyn: The ‚gesamtdeutsche Konsensfigur‘ of post-unification literature? In: German Life and Letters 50 (1997) 2; S. 201-213, S. 201. Zwischenbilanz war ein ausgesprochen erfolgreicher Titel: Zwischen dem Erscheinen des Bandes 1992 und September 1996 wurden allein 220 000 Exemplare verkauft (vgl. Ebd., S. 207). Vgl. Jan Bekasin´ski: Kommt eine neue DDR-Literatur? (Neue Bücher der ehemaligen DDRSchriftsteller). In: Colloquia Germanica Stetinensia 148 (1995) 4; S. 65-80, S. 67. Hermann Kant: Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart. Berlin / Weimar 1991, S. 5.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
313
wen, an wessen Seite, mit welchen Mitteln, bis zu welchem Risiko, mit welcher Regierbarkeit und mit welcher Konsequenz? Ich habe vieles unterlassen, weil ich fürchtete, es werde der anderen Seite dienen – wozu also, fragt sich heute, habe ich es unterlassen? Ich übte Disziplin, weil ich weder Anarchie noch Gelddiktat wollte, und womit habe ich es nunmehr zu tun?768
Im Mittelpunkt des Buches stehen die Schilderung der Kindheit und Jugend des Autors in Hamburg und Parchim, die Zeit des Zweiten Weltkriegs und sein Aufenthalt in einem polnischen Kriegsgefangenenlager, seine Ausbildung an der Greifswalder Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) und seine Rolle innerhalb des Literaturbetriebs der DDR, insbesondere als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes. Immer wieder rechtfertigt sich der Autor, wohlweislich mit besonderem Nachdruck auf die eigene Wahrnehmung verweisend: Ich berichte nicht von einem Leben, das ich hätte führen sollen, führen müssen, sondern von dem einen, das ich führte. Alles soll nach Möglichkeit nur so auf dieses Papier, wie ich es wahrgenommen habe. Gedächtnistäuschung, Ideologie und Erzählerübermut werden ohnehin das Ihre tun. Doch halte ich für gesichert, daß manches Ereignis einfach nicht den Eindruck bei mir hinterließ, den es bei richtiger, gar historisch richtiger Betrachtungsweise hätte machen müssen. Das ist eben etwas, was man meistens erst später haben kann.769
Kants Buch ist nicht zuletzt als Schlüssel zu seinem literarischen Werk zu lesen: Die zentralen Ereignisse in seinem Lebens stellen zugleich die zentralen Themen seiner Bücher dar; zu nennen sind hier insbesondere die Romane Die Aula (1965)770 über die Zeit an der ABF sowie Der Aufenthalt (1977)771 und Okarina (2002)772 über die Zeit in Polen. In diesem Sinne ließe sich anhand von Abspann nachweisen, dass Kants Schreiben möglicherweise stärker autobiografisch motiviert ist als bisher angenommen. Abspann gehört zu den am schärfsten kritisierten Büchern der unmittelbaren Nachwendezeit. Eine der wesentlichen Rezensionen stammt von Günter de Bruyn, der zunächst die Authentizität der Darstellung von Kants Kindheit und Jugend lobt, allerdings kritisiert, dass dem Autor die Fähigkeit zur Selbstkritik völlig abgehe, insbesondere im Hinblick auf die Darstellung der Zeit als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes der
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Ebd., S. 531. Ebd., S. 129. Hermann Kant: Die Aula. Roman. Berlin (DDR) 1965. Ders.: Der Aufenthalt. Roman. Berlin (DDR) 1977. Ders.: Okarina. Roman. Berlin 2002.
314
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
DDR (1978-1990). De Bruyn sieht in Kants Buch eher eines der „schnell verfertigte[n] Rechtfertigungsbücher“773. Paul Gerhard Klussmann (1992) formuliert seine Kritik wesentlich schärfer: „Überall – auf Schritt und Tritt – verrät die Sprache den Lügner Kant.“774 Die Sprache ist für ihn denn auch zentraler Angriffspunkt: Es sei an dieser Stelle nur auf das gescheite und raffinierte Spiel von Hermann Kant hingewiesen, der in seiner so rasch geschriebenen Autobiographie Abspann die harte Wirklichkeit der DDR ganz einfach dadurch zum Verschwinden bringt, daß er alle Funktionsbezeichnungen der Machtorgane und Funktionäre und Institutionen poetisierend, goethisierend und verallgemeinernd verändert. So tritt an die Stelle von Staatsrat, Staatsratsvorsitzendem, Politbüro oder ZK das einfache und schöne deutsche Wort Obrigkeit, nur durch das Possessivpronomen ein wenig präzisiert und auf den Autor bezogen, vielleicht auch verharmlosend intimisiert: also meine Obrigkeit.775
Klussmann fasst zusammen: Kant schreibt als routinierter Erzähler, der auch über moderne Erzähltechniken verfügt, ein zugleich unterhaltsames und ärgerliches Buch, eine Autobiographie mit zu vielen Gedächtnislücken, mit einer auffälligen sprachlichen Verharmlosungstendenz, mit unpräzisen politischen Aussagen ohne jede gedankliche oder zeithistorische Tiefe. Das Ich erweist sich als idealtypisches Untertanensubjekt.776
Monika Maron erklärte noch vor Erscheinen des Bandes 1991 – „in bekennender Ignoranz des Werkes“777 – gleich alle Äußerungen Kants zur Lüge: „Ich vermute, selbst wenn Kant wollte, könnte er die Wahrheit nicht mehr von der Lüge trennen, in die er Jahrzehnte verstrickt war, die seine Lebenslüge ist.“778 An diesem Umgang mit Kants Autobiografie zeigt sich, dass oft weniger der Text als die Person des Autors im Mittelpunkt des Interesses steht. Reaktionen dieser Art mögen im Falle Hermann Kants nachvollziehbar sein, akzeptabel sind sie trotzdem nicht. 773 774
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778
Günter de Bruyn: Scharfmaul und Prahlhans: Der „Abspann“ des Hermann Kant. In: Die Zeit v. 19.9.1991. Paul Gerhard Klussmann: Deutsche Lebensläufe. Schriftsteller-Biographien im Licht der Vereinigung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung / Kurt-Schumacher-Akademie (Hgg.): Stichwort Literatur. Beiträge zu den Münstereifeler Literaturgesprächen. Bad Münstereifel 1993; S. 188-205, S. 202. Ders.: Der Stasi-Komplex in der deutschen Literatur. In: Die politische Meinung 37 (1992) 275; S. 56-67, S. 60; Hervorhebungen im Original. Ders.: Deutsche Lebensläufe. Schriftsteller-Biographien im Licht der Vereinigung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung / Kurt-Schumacher-Akademie (Hgg.): Stichwort Literatur. Beiträge zu den Münstereifeler Literaturgesprächen. Bad Münstereifel 1993; S. 188-205, S. 203. Fettaugen auf der Brühe. Die Schriftstellerin Monika Maron über ehemalige DDR-Größen und ihre Auftritte in den Medien. In: Der Spiegel 45 (1991) 38 v. 16.9.1991; S. 244-246, S. 244. Ebd., S. 244f.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
315
5.2.2.4 Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992) 1992, drei Jahre nach seinem sechzigsten Geburtstag, erscheint Heiner Müllers Autobiografie Krieg ohne Schlacht, die ebenfalls zahlreiche Kritiker auf den Plan rief.779 Das Werk fällt durch seine ungewöhnliche Form aus dem Rahmen: Neben eher traditionellen Kapitelüberschriften wie „Kindheit in Eppendorf und Bräunsdorf, 1929-39“ sind durchgehend Fragen in den Text eingebettet, die im jeweils folgenden Abschnitt beantwortet werden. Diese dialogische Form hängt mit der Entstehungsgeschichte des Textes zusammen, die Müller in dem Kapitel „Erinnerung an einen Staat“ erläutert: Mein Interesse an meiner Person reicht zum Schreiben einer Autobiographie nicht aus. Mein Interesse an mir ist am heftigsten, wenn ich über andre rede. Ich brauche meine Zeit, um über andres zu schreiben als über meine Person. Deshalb der vorliegende disparate Text, der problematisch bleibt. Die Kunst des Erzählens ist verlorengegangen, auch mir seit dem Verschwinden des Erzählers in den Medien, der Erzählung in der Schrift. […] Ich danke Katja Lange-Müller, Helge Malchow, Renate Ziemer und Stephan Suschke für ihre Arbeit. Sie haben mehr als tausend Seiten Gespräch, das über weite Strecken auch Geschwätz war, auf einen Text reduziert, den ich überarbeiten, wenn auch in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu Literatur machen konnte.780
Krieg ohne Schlacht wurde also eher ‚gesprochen‘ denn geschrieben. Deshalb, so Paul Gerhard Klussmann (1993), sei es kaum verwunderlich, daß bei dieser Art der Erinnerungsproduktion manche Fehler entstehen und vieles auch trotz der redaktionellen Nacharbeit stehengeblieben ist, so daß die Kritiker von Müllers Autobiographie ein reiches Feld für das Aufzeigen von Fehlern haben.781
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Vgl. Gregor Edelmann: Gift der Rache tropft aus dem Buch. In: BZ v. 31.7.1992; Fritz J. Raddatz: Ich ist ein anderer. Heiner Müller hat ein Buch gesprochen – voll von ärgerlicher Geschwätzigkeit und anrührenden Werkstattberichten: „Krieg ohne Schlacht“. In: Die Zeit v. 3.7.1992; Frank Schirrmacher: Kommunismus als Rollenspiel. Geschwätzig, unentbehrlich: Heiner Müller erzählt aus seinem Leben. In: FAZ v. 11.7.1992. Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Köln 1994, S. 366f. Paul Gerhard Klussmann: Deutsche Lebensläufe. Schriftsteller-Biographien im Licht der Vereinigung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung / Kurt-Schumacher-Akademie (Hgg.): Stichwort Literatur. Beiträge zu den Münstereifeler Literaturgesprächen. Bad Münstereifel 1993; S. 188-205, S. 194.
316
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Das erste Wort des Haupttextes lautet „Ich“.782 Stets folgt Müller seinem – von Rimbaud abgeleiteten783 – Motto: Soll ich von mir reden Ich wer von wem ist die Rede wenn von mir die Rede geht Ich wer ist das784.
Später äußert er: „Mein Interesse an den mich betreffenden Akten der Staatssicherheit ist gering. Wenn ich über die Person, die sie beschreiben, einen Roman schreiben will, werden sie ein gutes Material sein. Ich ist ein anderer.“785 Trotz der Länge des Textes erfährt der Leser relativ wenig über den ‚Menschen‘ Müller. Zahlreiche Aussagen werden mit einer gewissen Radikalität getroffen: „Die Geschichte der DDR ist auch eine Geschichte der Dummheit, der Inkompetenz von Personen. […] Viele [Funktionäre; F.Th.G.] waren primitiv, dumm, brutal, verkommen, gierig nach bürgerlichem Standard, überfordert alle.786 – Oder, noch knapper ausgedrückt: „Die Intelligenz war bei der Staatssicherheit, die Blindheit bei der Parteiführung.“787 Auf die Frage „Was hast Du für Erinnerungen an die letzten Jahre vor dem Ende der DDR?“ antwortet Müller: 782
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Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Köln 1994, S. 13. Arthur Rimbaud: „Je est un autre.“ [„Ich ist ein anderer.“]. In: Rimbaud à Georges Izambard. Charleville, [13] mai 1871. In: A.R.: Œuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Antoine Adam. Paris 1972 (Bibliothèque de la Pléiade 68); S. 248f., S. 249. Das Diktum erscheint auch in Heiner Müllers Preisrede auf Durs Grünbein Porträt des Künstlers als junger Grenzhund (vgl. Walter Erhart: Gedichte, 1989. Die deutsche Einheit und die Poesie. In: Walter Erhart / Dirk Niefanger (Hgg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen 1997; S. 141-165, S. 158. Ein Bezug auf Brechts Gedicht Der 4. Psalm (1922) ist ebenfalls möglich: „Wer immer es ist, den ihr sucht: ich bin es nicht.“ (In: B.B.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, KlausDetlef Müller. Band 11. Gedichte I. Sammlungen 1918-1938. Bearbeitet von Jan Knopf und Gabriele Knopf. Berlin (DDR) / Weimar / Frankfurt a.M. 1988; S. 32f., S. 33.). Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Köln 1994, S. 9; im Original kursiv. Ebd., S. 218; Hervorhebung von mir; F.Th.G. Ähnliche Formulierungen in Bezug auf die Problematik des „Ich“-Sagens finden sich bei Andreas Lehmann (*1964). Sein Gedicht Drunter und drüber gipfelt mit den Fragen bzw. Feststellungen „[…] Was heißt hier Wir / ICH bin Wer bin ICH Oder was“ (Andreas Lehmann: Drunter und drüber. In: Fluchtfreuden Bierdurst. Letzte Gedichte aus der DDR. Hrsg. von Dorothea Oehme. Mit einer Vorbemerkung von Fritz Rudolf Fries. Berlin 1990; S. 45f., S. 46; Hervorhebungen im Original.) Ebd., S. 213. Ebd., S. 219.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
317
In den letzten Jahren der DDR kam der Widerstand gegen die Politik aus der Partei.788 Allerdings gab es immer ein Beruhigungsargument, das Warten auf „die biologische Lösung“, die Hoffnung, daß Honecker stirbt und ein paar andere auch. […] Ich habe auf den Untergang gewartet, habe ihn aber nicht befördert. Nur die Funktionäre glaubten das von meinen Texten. Man kann mir und andern vorwerfen, daß wir mit „kritischer Solidarität“ – der Akzent verschob sich auf die Kritik, als das Regime zur repressiven Toleranz überging – in unsern Lesern die Illusion genährt haben, daß eine Reform des Systems möglich ist.789
In dem im Anhang der Neuausgabe abgedruckten Gespräch mit dem ZeitRedakteur Thomas Assheuer bestätigt er diese Auffassung und betont, er sei „nicht für das Aufgeben der DDR oder für die Wiedervereinigung“ gewesen.790 Aus seiner Sicht war das Problem dabei „die Alternativlosigkeit der Alternative. […] Die Identität der Deutschen war und ist die Deutschmark. Der Entzug der Deutschmark bedeutete für die DDR-Bevölkerung die Verweigerung der Identität.“791 Über das neue System bemerkt er schlicht: Das neue Netz hat von oben gesehn weitere Maschen, von unten gesehn sind sie enger. Der ökonomische Druck sorgt dafür, daß niemandem schwindlig wird, weil ihm der ideologische Druck fehlt. In der DDR war Geld für die Mehrheit der Bevölkerung kein Problem.792
Die Existenz der DDR rechtfertigt Müller auf zweifellos unerwartete, für ihn aber typische Weise – gefragt nach der Bedeutung von Shakespeare für die DDR, antwortet er: Deutschland war ein gutes Material für Dramatik, bis zur Wiedervereinigung. Es ist zu befürchten, daß mit dem Ende der DDR das Ende der Shakespeare-Rezeption in Deutschland gekommen ist. Ich wüßte nicht, warum man in der Bundesrepublik Shakespeare inszenieren sollte, es sei denn die Komödien.793
Über seine Erfahrungen mit dem Staatssicherheitsdienst berichtet Müller: „Offene „Beschattung“ habe ich erst 1976 kennengelernt, nach der Austreibung Biermanns. Man sollte es damals merken. Am Telefon wußte man, es wird abgehört. […]
788
789 790 791 792 793
Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung darf angezweifelt werden. Es stellt sich in diesem Zusammenhang vielmehr die Frage, inwieweit Müller bewusst provokative Antworten auf die Fragen gab und – in diesem Sinne – seine Autobiografie als Spiel versteht. Ebd., S. 359. Ebd., S. 485. Ebd., S. 359f. Ebd., S. 360f. Ebd., S. 267.
318
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Das Netz wurde mit den Jahren immer dichter und gleichzeitig auch immer poröser. Ich habe von einigen Leuten gehört, die zu Verhören in Stasi-Büros waren, daß da schon früh Gorbatschow-Porträts hingen. Die DDR ist im Grunde mehr von der Staatssicherheit aufgelöst worden, durch Überproduktion von Staatsfeinden, als von den Demonstrationen. Die waren Schaum auf der Welle, ein Fernseh-Ereignis. Ihr politischer Wille wurde sehr schnell zum Marktfaktor deformiert. Seit Gorbatschow muß die Staatssicherheit auf Grund ihres Informationsstandes gewußt haben, daß die Festung DDR militärisch und ökonomisch nicht mehr zu halten ist.794
Seine eigenen Kontakte zur Staatssicherheit verschwieg Müller zunächst bewusst, ein Verhalten, das ihm nach Bekanntwerden dieser Kontakte viel Kritik eintrug (vgl. 5.1.6.1). Die Aufnahme des „Dossier[s] von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR“ in die erweiterte Neuausgabe von Krieg ohne Schlacht (1994) ist insofern auch als Reaktion auf diese Vorgänge zu verstehen. Assheuers Frage, ob die Stasi für ihn „ein legitimer Bestandteil der DDR“ gewesen sei, bejaht Müller795, seine Integrität sehe er „nicht angegriffen durch die Kontakte zur Staatssicherheit“.796 5.2.2.5
Rita Kuczynski: Mauerblume (1999)
Rita Kuczynskis (*1944) Autobiografie Mauerblume (1999) enthält zahlreiche Informationen über den abrupten Wandel im Bereich des Alltags und entsprechende Reaktionen der DDR-Bürgerinnen und -Bürger in der Zeit des Umbruchs. Dies ist im gesamten Text spürbar und soll im Folgenden anhand eines Auszugs verdeutlicht werden. Dem Mauerfall begegnete die zeitweilige Schwiegertochter des Wirtschaftswissenschaftlers und -philosophen Jürgen Kuczynski – trotz aller Schwierigkeiten, die sie in der DDR hatte – äußerst verhalten: Am 9. November saß sie gebannt vor dem Fernseher, irgendwann kam Emanuel [ihr damaliger Ehemann; F.Th.G.] dazu. Aus sehr unterschiedlichen Beweggründen kam nicht gerade Freude über die Nachricht unter uns auf. Emanuel wiederholte mehrmals den Satz: „Solch einen politischen Schwachsinn, die Mauer aufzumachen, kann man sich doch nicht ausdenken!“ Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Fernseher hockte, bevor ich das Testbild vom Ersten Deutschen Fernsehen abschaltete. Irgendwann fing ich an, bitterlich zu weinen. Ich wußte mit seltener Klarheit, ab jetzt waren die Tage der DDR gezählt, denn ohne Mauer wäre die DDR schon vor 28 Jahren kaputtgegangen. Ich begriff, mein Leben in den Gärten der Nomenklatura war zu Ende. Eine unbeschreibliche Wut überkam mich, denn gerade war ich dabei794 795 796
Ebd., S. 217. Differenziertere Äußerungen zu den Wendeereignissen fehlen in Krieg ohne Schlacht nahezu vollständig. Ebd., S. 485f. Ebd., S. 490.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
319
gewesen, mich mit mir selbst in der DDR häuslich einzurichten. Gerade hatte ich aufgehört, mit Gott und der Welt zu hadern. Ich hatte mich nach 28 Jahren DDR endlich schreibend in den Irrsinn hineingefunden und wollte alles tun, um bei mir zu bleiben. Der Gedanke, daß die Mauer mit mir schon wieder Schicksal spielte, erboste mich zutiefst. Ich würde nicht die Energie haben, zum drittenmal mein Leben neu zu beginnen.797
Ihre Begründung für die Ablehnung der Grenzöffnung mag erstaunen, lässt sich aber mit den schweren Traumatisierungen erklären, die Kuczynski in der DDR erlitt. Die Situation zwischen ‚Wende‘ und Vereinigung schildert sie so detailgetreu wie wenige: Es war eine eigenwillige Stimmung im Land. Der Schwarzhandel mit Autos, Farbfernsehern und Videorecordern blühte. Man spürte von Woche zu Woche, wie die DDR aus den Fugen geriet. Die Unsicherheit und Angst vor dem Kommenden trieben groteske und traurige Blüten. […] Es waren Monate der Hamsterkäufe. Auch ich kaufte in jenen Wochen allerhand Zeug, von guten Wollstoffen angefangen, die noch heute in der Truhe liegen, weil ich kein Geld für die Schneiderin habe, über Schuhe, die ich nie trug, weil sie nicht bequem genug und im vereinten Deutschland schon nicht mehr modern waren. […] Mein sommerlicher Superkauf im Jahre 1990 war ein Eimer voller Ohropax aus der Apotheke, in der weisen Voraussicht, daß es in den nächsten Jahren laut werden könnte. […] Aber es war nicht nur die Zeit des Schlußverkaufs der DDR, es war auch schon die Zeit des Einkaufs. Der ostdeutsche Markt wurde von Bananen und Apfelsinen überschwemmt und auch von unbekanntem Obst wie Kiwis und Mangos oder Gemüse wie Auberginen und Zucchini, von dem auch ich nicht recht wußte, wie es zuzubereiten war. Verdauungsstörungen in Sachen Obst und Gemüse wurden eine Übergangskrankheit vieler DDR-Bürger.798
Die Zeit nach der Währungsunion empfindet sie als „Vakuum“; immer wieder werden Überforderungen deutlich: Was dann kam, kam so schnell, ich hatte Mühe zu verstehen. Zwischen Benommenheit und Hilflossein hörte ich, wie die Zeit wegbrach, eine in die andere. Ich hörte, wie sie ihr Maß aufgab, weil ihre Strukturen zerbrachen. Ich war gespannt in einen Rhythmus, der von Bruch zu Bruch sein Tempo beschleunigte. Die Zeit davor und die Zeit danach, in einer Gegenwart, von der ich nicht verstand, daß sie nur im Verschwinden war. Da war ein Vakuum und zugleich ein Überdruck. Ich hing in der Luft. Da schien kein Boden mehr, ich wußte nicht, wie und wo aufzutreten war. Wie sollte ich Balance halten?799
797 798 799
Rita Kuczynski: Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze. München 1999, S. 257f. Ebd., S. 266-268. Ebd., S. 272.
320
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Aus der Sicht des Jahres 1999, also mit weitaus größerem Abstand als Müller und andere, betont Kuczynski, daß zehn Jahre nach dem Niedergang der DDR von einigen ihrer Intellektuellen noch immer nicht konstatiert wird, daß die DDR-Bürger bei ihrer ersten freien Wahl über die „Allianz für Deutschland“ die D-Mark als Zahlungsmittel wählten, eben weil die D-Mark Geld ist, wofür sie auch etwas kaufen konnten. Und eben für Geld, das etwas wert ist, ließen die DDR-Bürger 1989 die Vorschläge zur Weltverbesserung im Regen stehen. Sie ignorierten den zweiten, dritten und den vierten Weg für eine bessere Zukunft und nahmen das historische Tagesangebot wahr, die heißersehnte Deutsche Mark. Natürlich zeigten sich viele Intellektuelle enttäuscht vom Volk. In den großen deutschen Nachrichtenmagazinen bekamen sie Gelegenheit, ihr Mißfallen über das DDR-Volk kundzutun, das sich für Bananen und Gebrauchtwagen entschieden hatte, anstatt den dritten Weg in eine „wahre Zukunft“ suchen zu gehen. Bei aller Entrüstung über die irdischen Bedürfnisse des DDR-Volkes vergaßen zumindest sehr viele Künstler und hervorragende Persönlichkeiten der DDR oft die Kleinigkeit, daß sie zumeist, wenn nicht ein Dauervisum, dann ein zeitlich begrenztes Visum, auf jeden Fall ein Visum hatten und daß sie ihren Westwagen schon lange fuhren, eben weil sie staatstreue Künstler waren, für die anderes galt als für die meisten Bürger der DDR. […] Für diese Arroganz gegenüber den Bedürfnissen breiter Schichten der Bevölkerung haben sie die Quittung bekommen. Das Volk kümmerte sich nicht mehr um ihre Pläne zur Weltverbesserung. Die Kluft zwischen Intellektuellen und Volk, die in den Novembertagen des Jahres 1989 verschwunden zu sein schien, wurde von Jahr zu Jahr größer. Heute ist der überwiegende Teil der DDR-Intellektuellen verschwunden, und kaum einer vermißt sie.800
Wie viele andere, empfindet sie seit der ‚Wende‘ eine extreme Beschleunigung des Lebenstempos (vgl. dazu auch 6.3.4): Die Zeit beschleunigte sich in einer mir bis dahin nicht bekannten Weise. Ich weigerte mich, ihr Tempo anzunehmen. Ich versuchte, ihr ein Maß entgegenzusetzen. Ich versuchte, einen Rhythmus zu finden, damit mich diese Geschwindigkeit, in der alles um mich herum ablief, nicht zerrieb. Ja, nicht zerrieben zu werden, von dem, was ich „Ereignissturz“ nannte, war mein Problem. Mit aller Kraft versuchte ich anzugehen gegen den Sog, in den ich geraten war, da Zeit in Zeit wegbrach.801
Erst einige Jahre später lässt dieser Beschleunigungsdruck nach und macht einer „Normalisierung“ Platz; das Verhältnis zu den früheren Freunden in Westdeutschland kühlt sich jedoch merklich ab:
800 801
Ebd., S. 276f. Ebd., S. 288f.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
321
Auch in den deutsch-deutschen Alltag fand die erste Normalisierung Eingang. Der historische Abbruch hatte an Geschwindigkeit verloren. Drei, vier Jahre deutsche Einheit waren durch das Land gegangen. Nicht nur unter meinen westdeutschen Freunden hatte sich die Idee festgesetzt, sie hätten einen persönlichen Anteil an dem, was da historisch auch über sie gekommen war. Sie hätten irgend etwas zur deutschen Einheit beigetragen. Eine Religionsphilosophin brachte es auf den Punkt, indem sie sagte: „Wir haben den Krieg gewonnen.“ Als ich etwas erstaunt nachfragte, welchen, stellte sich heraus, sie meinte den kalten. Es hatte sich also auch unter den 68er Freunden ein nationales „Wir-Gefühl“ in Sachen Sieg gegenüber den Ostdeutschen herausgebildet. Auch meine 68er Freunde verstanden sich unerwarteterweise als Gewinner in einem historischen Prozeß, der ohne sie abgelaufen war, für den sie nichts, überhaupt nichts getan hatten. Denn sie waren nicht nur höchst verwundert, daß hinter ihrem Rücken das sozialistische Weltsystem zusammengebrochen war. Sie waren bestürzt, daß ihre sozialistischen Ideale jenseits der Mauer wegbrachen […]. Nachdem sie sich von ihrem Schock erholt hatten, daß in der wirklichen Welt wieder etwas geschehen war, das sie nicht vorausgesehen hatten – der reale Niedergang der DDR als fiktiver Ort ihrer sozialistischen Utopien –, nutzten sie die historische Gunst der Stunde. Sie stilisierten sich zu Siegern. […] Die Verständigung wurde schwieriger. Ich erfuhr in den Diskussionen, die bei solch verstiegenen Ideen nicht ausbleiben konnten, daß ich ab jetzt zu den Verlierern gehörte und daher von ihnen zu lernen hätte. Und ich lernte, daß unsere freundschaftlichen Beziehungen ortsgebunden waren. Die Mauer war ihr Fundament gewesen. Sie dort, ich hier, das war der freundschaftliche Zement.802
5.2.2.6
Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus (1993)
Als exemplarisch für die Biografie eines aus Kirchenkreisen hervorgegangenen Politikers kann Rainer Eppelmanns (*1943) autobiografische Rückschau auf die DDR und die ‚Wende‘ gelten, die 1993 unter dem Titel Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland803 erschien. Eppelmann fügt seinem Text häufig Ausschnitte aus Reden und weitere Dokumente bei, die vermutlich bis zu einem gewissen Grad Objektivität suggerieren sollen. Seinem Buch ist deutlich die Perspektive der Nachwendezeit anzumerken, weite Teile des Dargestellten erwecken den Eindruck einer Selbstinszenierung. Interessant im Zusammenhang mit dem Thema ‚Wende‘ sind vor allem die beiden letzten Kapitel, „Die Wende“ und „Die Abwicklung“. Das erste der beiden genannten Kapitel beginnt mit einer zeitlichen Festlegung der Anfänge einer ‚Wende‘ in der DDR:
802 803
Ebd., S. 297-299. Rainer Eppelmann: Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland. Köln 1993.
322
5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Im nachhinein betrachtet, begann für den Friedenskreis in der Samaritergemeinde die Wende im Mai 1987. Der offenkundig gewordene Betrug bei den Kommunalwahlen 24 Monate später sollte der Glaubwürdigkeit der SED-Herren den Rest geben. Der „Probelauf“ für die umfassende Wahlkontrolle von unten begann aber mehr als zwei Jahre zuvor. In der Gruppe „Christen und Sozialismus“ wurde die Idee geboren, die Stimmenauszählung bei den für Mai 1987 angesetzten Volkskammerwahlen zu überprüfen. Wir waren überzeugt davon, daß es bei keiner Wahl in unserer Republik mit rechten Dingen zuging.804
Im letzten Kapitel der Erinnerungen äußert sich Eppelmann auch über seine Rolle als letzter Verteidigungsminister der DDR – die offizielle Amtsbezeichnung lautete Minister für Abrüstung und Verteidigung. Den 3. Oktober 1990 schildert er aus sehr persönlicher Sicht: Den Abend verbrachte ich zu Hause bei meiner Familie – meine Frau und ich hatten nach zwei Jahren Trennung im Juni wieder geheiratet. Zusammen mit Freunden wollten wir das Ende der Deutschen Demokratischen Republik und die Geburt einer neuen Heimat feiern. Aber das Zusammensein empfand ich als enttäuschend. Jedenfalls wollte bei mir die richtige Stimmung nicht entstehen. Für mich war der 3. Oktober nicht der entscheidende Tag, sondern der Schlußpunkt einer Entwicklung, die ihren Höhepunkt bereits am 9. November 1989 gefunden hatte: am Tag, als die Mauer fiel.805
Am Ende des Buches beschreibt Eppelmann das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen im Jahr 1993, um mit einem Appell zur Besonnenheit zu schließen: Die Enttäuschung ist so groß, wie die Illusionen es waren. Heute belasten Mißverständnisse die Beziehungen der Menschen aus Dresden und Düsseldorf, Rostock und Hamburg. Dabei sind die Schwierigkeiten, vor denen wir stehen, die natürliche Folge dieses gewaltigen Projekts „Deutsche Einheit“. Wir verhalten uns nur wie Kinder, die sich zehn Geschenke zu Weihnachten gewünscht haben, aber nur fünf bekommen, und sich über diese nicht freuen können, weil sie die anderen nicht auch erhalten haben. Ich wünsche mir, daß wir unser Gedächtnis nicht nur benutzen, um zu forschen und zu experimentieren, um zu bitten und zu fordern, sondern auch, um uns zu erinnern und zu danken. Wir würden manches an Zufriedenheit und Zuversicht zurückgewinnen.806
804 805 806
Ebd., S. 319. Ebd., S. 415f. Ebd., S. 417.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
5.2.2.7
323
Neuauflagen, Neuausgaben und Fortsetzungen
Die ‚Wende‘ bildete nicht nur den Entstehungshintergrund bzw. -anlass für zahlreiche Autobiografien, sondern auch für Neuauflagen, erweiterte Neuausgaben und Fortsetzungen zuvor erschienener Autobiografien. Ein Beispiel hierfür ist die Autobiografie des Wissenschaftlers Manfred von Ardenne (1907-1997), der in der DDR zweifellos eine exponierte Stellung innehatte. Seine Erinnerungen tragen den Vermerk Neuschrift 1990 (10. Gesamtauflage) der zuletzt 1984 bei der nymphenburger / München und 1988 beim Verlag der Nation / Ostberlin erschienenen Autobiographie „Mein Leben für Fortschritt und Forschung“, bzw. „Sechzig Jahre für Forschung und Fortschritt“.807
Insbesondere im „4. Buch. Dresden (1955-1990)“ nahm der Verfasser Erweiterungen vor und erinnert im 9. Kapitel vor allem an eigene „Reformvorschläge und andere Beiträge zur politischen Wende in der DDR“.808 1997 erschien unter dem Titel Erinnerungen, fortgeschrieben der zweite Band seiner Autobiografie.809 Der Germanist Hans Mayer (1907-2001) schrieb nach der ‚Wende‘, anknüpfend an seine in zwei Bänden erschienene Autobiografie Ein Deutscher auf Widerruf (1982 / 1984)810, Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik (1991).811 Bereits in einem SpiegelArtikel hatte er geäußert: Ich wende mich […] gegen die westliche Sprachregelung ‚Ende schlecht, alles schlecht‘. Das ist eine Lüge. In der DDR, in der frühen DDR zumal, gab es doch eine große Hoffnung. […] wir haben eines nicht gesehen: Daß der Versuch vieler gutwilliger Menschen, auf deutschem Boden eine alternative Gesellschaft zu errichten, deswegen hinfällig wurde, weil die DDR eine Kronkolonie der Sowjetunion war. […] Dennoch war die DDR nicht von Anfang an verloren. […] Tausende junger Menschen in der Partei, in der FDJ, in der Volksarmee wollten aus diesem Staat etwas anderes machen.812
807 808 809 810 811 812
Manfred von Ardenne: Die Erinnerungen. München 1990, ohne Seitenangabe. Ders.: Kapitel 9. Reformvorschläge und andere Beiträge zur politischen Wende in der DDR. Erinnerungen und Episoden. In: Ebd., S. 479-504. Ders.: Erinnerungen, fortgeschrieben. Ein Forscherleben im Jahrhundert des Wandels der Wissenschaften und politischen Systeme. Düsseldorf 1997. Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I. Frankfurt a.M. 1982; Ders.: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen II. Frankfurt a.M. 1984. Ders.: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik. Frankfurt a.M. 1991. Ders.: „Ich bin unbelehrbar“. In: Der Spiegel 47 (1993) 28; S. 166-169, S. 167.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Ausgehend von der oben angedeuteten Frage „Ende schlecht, alles schlecht?“813 beurteilt Mayer in Der Turm von Babel die DDR aus sehr persönlicher Sicht und geht dabei insbesondere auf die Vorgründungs- und Gründungsphase bis in die Mitte der sechziger Jahre und seinen Weggang aus Leipzig ein. Mayer verurteilt die DDR nicht pauschal, sondern nimmt differenziert Stellung. Der Titel ist auf die sich leitmotivisch durch das Buch ziehende Ballade Turm zu Babel von Johannes R. Becher bezogen. Der darin erwähnte Kampf zwischen Kain und Abel kann als Kampf zwischen Stalin und Lenin verstanden werden: Mit Stalins Aufstieg war der Untergang der DDR vorbestimmt. Insofern liest sich Bechers Gedicht aus heutiger Perspektive wie eine negative Prophezeiung. Mayer ist im Übrigen einer der wenigen Autoren, die sich gegen Vergleiche der DDR mit dem Nationalsozialismus bzw. Faschismus verwahren: „Das Volk der DDR hat weder Synagogen angezündet, noch den totalen Krieg gewollt, noch Walter Ulbrich [sic] als Geschenk der Vorsehung verehrt. Es hat sich immer wieder gewehrt und am Ende auch befreit.“814 Andere Texte des Genres ‚Autobiografie‘ wurden lediglich um ein Vor- oder Nachwort erweitert. So erschien Meine Schlösser (1995), die Autobiografie des Chefkommentators beim Fernsehen der DDR, Karl-Eduard von Schnitzler (1918-2001), dessen bekannteste Sendung Der Schwarze Kanal gewesen sein dürfte, sechs Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung erneut. Im Vorwort erläutert von Schnitzler: „Meine Schlösser“ schrieb ich 1988 / 89. Die erste Ausgabe kam im letzten Lebensjahr der Deutschen Demokratischen Republik heraus. Bei der Vorstellung in der Karl Marx-Buchhandlung bildeten viele hundert Berliner eine lange Schlange in der Karl-Marx-Allee. Der Verlag „Neues Leben“ mußte Bücher nachliefern, damit der Wunsch nach Signierung befriedigt werden konnte. Die Autobiographie wurde zur „Bückware“, die erste Auflage war umgehend vergriffen. Die zweite Auflage geriet in die sogenannte „Wende“, in die freiheitlich-demokratische Grundordnung, ins christliche Abendland und folglich in den Reißwolf.815
Der Untergang der zweiten Auflage ist nach Schnitzlers Auffassung jedoch nicht der einzige Grund für eine Neuausgabe:
813 814 815
Vgl. Ders.: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik. Frankfurt a.M. 1991, S. 15ff. Hans Mayer in Antwort auf eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung. In: SZ v. 25.6.1990. Vorwort zur Neuauflage. In: Karl-Eduard von Schnitzler: MEINE SCHLÖSSER oder Wie ich mein Vaterland fand. Hamburg 1995; S. 5f., S. 5.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
325
Eine Neuauflage ist geboten, nicht weil über mich seither ganze Sudeleimer ausgeschüttet worden sind, sondern weil der Geschichtsabschnitt, über den ich zu berichten habe, in die Fälscherwerkstatt derer geraten ist, die das Elend unseres Jahrhunderts verschuldet haben und sich – bis zum Hals in Schuld und Blut watend – als Befreier aus Krieg, Unfreiheit und Unterdrückung aufspielen und ihr „Reich“, ihre Herrschaft in Europa wiedererrichten.816
Das der Neuausgabe beigegebene „Nachwort 1995“ besteht in erster Linie aus episodenartigen Nachträgen zur eigenen Biografie, stellt aber zugleich von Schnitzlers Bilanz über die DDR dar: Die Deutsche Demokratische Republik bietet – bei aller Unvollkommenheit und manchem Fehlerhaften – uns Deutschen ungleich mehr als die BRD. Seit sie nicht mehr besteht, herrschen Begriffe und Fakten, die in der Deutschen Demokratischen Republik überwunden und vergessen waren und nur in der BRD bekannt: Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit, Hunger und Armut, Wohnungslosigkeit und soziale Unsicherheit, Futterneid und verfallende Solidarität, Konsumterror, Kulturzerfall und Kalter Krieg.817
Der gesamte Text zeugt von der Unverbesserlichkeit seines Verfassers, der nach wie vor nicht bereit ist, auch die Schattenseiten der DDR genauer zu betrachten. 5.2.2.8 Fiktionale Autobiografien und die Autobiografie in der fiktionalen Literatur Neben den ‚traditionellen‘ Autobiografien entstanden gänzlich fiktive Autobiografien bzw. Biografien, die exemplarische DDR-Lebensläufe zum Gegenstand haben. Die beiden in diesem Zusammenhang wichtigsten Texte sind die Romane Helden wie wir (1996)818 von Thomas Brussig (*1965; vgl. auch 6.4.3) und Der Quotensachse (ebenfalls 1996)819 von Matthias Biskupek (*1950). Beide Texte wurden häufig miteinander verglichen820, wobei im Falle Biskupeks der Anspruch des Exemplarischen stärker im Vordergrund steht: Der Held seines Romans, Mario Claudius Zwintzscher, wird am 7. Oktober 1949 geboren, dem Gründungstag der DDR, Brussigs Held Klaus Uhltzscht erst 1968.821 Letzterer sieht sich als Schlüsselfigur im Prozess der ‚Wende‘ und behauptet am Ende: „Wer meine Geschichte 816 817 818 819 820 821
Ebd., S. 5. Nachwort 1995. In: Ebd.; S. 213-238, S. 235. Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Berlin 1996. Matthias Biskupek: Der Quotensachse. Vom unaufhaltsamen Aufstieg eines Staatsbürgers sächsischer Nationalität. Roman. Leipzig 1996. Vgl. dazu Jill Twark: Satireschrieben [sic] vor und nach der Wende: Interview mit Matthias Biskupek. In: GDR Bulletin 26 (1999); S. 45-53, S. 46. Vgl. auch Ebd.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
nicht glaubt, wird nicht verstehen, was mit Deutschland los ist! Ohne mich ergibt alles keinen Sinn! Denn ich bin das Missing link der jüngsten deutschen Geschichte!“822 Er gibt sich ausgesprochen unbescheiden, denn, so Uhltzscht am Ende des vorletzen Kapitels: „Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch, dem die Wende nicht die Spur eines Rätsels aufgibt – schließlich habe ich sie gemacht.“823 Autobiografien und ihre Entstehung werden zunehmend auch Gegenstand fiktionaler Texte. So ist die Reflexion über Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken von Autobiografien zentraler Aspekt in Brigitte Burmeisters Roman Pollok und die Attentäterin (1999). Diskutiert werden diese Probleme in einem Gespräch Martin Polloks, der sich als Ghostwriter der Autobiografie des Industriellen Karl Innozenz Weiss betätigt, mit Roswita Sander. Diese wird später ein Attentat auf Weiss verüben: – Klar, sagte Roswita, damit muß Weiss rechnen. Sonst könnte er dir seine Biographie gleich diktieren. Aber er will ja, daß du sie schreibst. – Seine Biographie, nicht meine Erfindung. Und mit sparsamen Verbindungsstrichen. Rekonstruktion, darum geht es. – Und da fügt sich nun alles zusammen? – Im Gegenteil. Die Lücken kommen zum Vorschein, sagte Pollok, und die Ungereimtheiten. Weiss hat mir empfohlen, ihn anzurufen, wenn ich Unklarheiten habe – sie entdeckt habe, wäre der richtige Ausdruck. Anrufen werde ich, aber erst einmal feststellen, wie weit ich mit dem Schreiben komme. Es ist ja eine Art Materialprüfung. Außerdem, ein interessantes Kapitel. Nur der Anfang erinnert an die „Planjahre“, sagte Pollok und erzählte Roswita in großen Zügen von der „Flucht in die Freiheit“. – Und wie willst du prüfen, ob wahr ist, was er dich schreiben läßt? – Dafür, sagte Pollok, bin ich nicht zuständig. Aber verlaß dich drauf, wenn ich den Eindruck habe, irgendwas stimmt nicht, hake ich nach. Mehr kann ich nicht tun: das Material, das er mir gegeben hat, genau nehmen und Unstimmigkeiten klären. – Und dieses Material, beharrte Roswita, hältst du für echt? – Allerdings. Wie sollte Weiss seine Briefe und Tagebücher, Zeitungsausschnitte, Fotos undsoweiter gefälscht haben? Und warum auch? Weil er sich eine Zeitlang hinter falschem Namen versteckt hat? Das war eine Vorsichtsmaßnahme. Vielleicht ist er beschädigt durch das System, dem er diente. Daß er unterschlägt und beschönigt, nehme ich an. Aber Dokumente fälschen, seine Biographie fingieren und einem anderen dieses Machwerk anvertrauen, damit er ein Buch daraus macht? Paßt ganz und gar nicht zu Weiss. Dazu müßte er ein wirklich großer Spieler sein, so perfekt im Lügen, daß man ihm nicht auf die Schliche kommt, jemand, den ich bewundern würde.824 822 823 824
Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Berlin 1996, S. 323; Hervorhebung im Original. Ebd., S. 276. Brigitte Burmeister: Pollok und die Attentäterin. Roman. Stuttgart 1999, S. 225f.
5.2 ‚Ich‘ und die ‚Wende‘
327
Auf eine Sonderfom der (auto-)biografischen Darstellung sei abschließend verwiesen: Porträtbände von Fotografen. Der bedeutendste Band dieser Art ist Bernd Lasdins (*1951) Zeitenwende (1998).825 Mitte der achtziger Jahre fotografierte Lasdin erstmals Menschen aus dem Raum Neubrandenburg in ihrer Wohnung an ihrem jeweiligen Lieblingsplatz.826 Auf diese Weise konnten sich die Porträtierten in begrenztem Maße selbst in Szene setzen. Sie sollten anschließend handschriftlich eine Art ‚Kommentar‘ über sich bzw. ihre Fotografien schreiben, nach Möglichkeit aber keine Bildbeschreibung liefern. Zehn Jahre später wiederholte Lasdin seine Porträtaufnahmen nach demselben Konzept. Die Ergebnisse dokumentieren eindrucksvoll den 825
826
Zeitenwende. Portraits aus Ostdeustchland 1986-1998. Photographien von Bernd Lasdin. Bremen 1998. Vom Konzept her vergleichbar, jedoch kleiner angelegt und ohne Selbstkommentare, ist der zweite Teil des Bandes Bild Begegnung. Fotografien von Werner Lieberknecht, Christine Starke, Günter Starke. Texte von Ernst Jandl, Jens Wonneberger, Alexander Lange. Dresden 1993 (Edition DD – Bild-Begegnung, Heft 1 / 1993): Christine und Günter Starke: Handwerker und Geschäftsleute in Dresden vor und nach 1989; ohne Paginierung. Ein in diesem Zusammenhang ebenfalls wichtiger Fotoband ist das einen viel größeren Zeitrahmen umfassende Buch: Wendezeiten. Deutsche Lebensläufe in fünf politischen Systemen. Hrsg. von Franziska Schlotterer und Isabella Knoesel. Fotografien von Markus Schädel. Berlin 1997. Im Hinblick auf in erster Linie bauliche / architektonische Veränderungen vgl. Leipzig. Den Wandel zeigen. Zur Entwicklung des Stadtbildes von 1990 bis 2000. Text: Niels Gormsen. Mit einem Geleitwort von Hinrich Lehmann-Grube und Beiträgen von Klaus Eberhard, Ines Gillner, Silke Heit, Peter Lang, Jens Müller, Heike Scheller. Fotografien: Armin Kühne u.a. Leipzig 2000. Viele Fotografen dokumentieren die ‚Wende‘- bzw. Umbruchszeit im engeren Sinne, beschränken sich also auf die Jahre 1989 / 90. Die Bilder sind häufig gekoppelt mit literarischen, auch essayistischen Texten: Vgl. Wolfgang Korall: Wende gut, alles gut? Bilder aus Ostdeutschland. Mit Texten von Lutz Rathenow. München 1995; Leipzig im Umbruch. Fotografien von Ralf Schuhmann. Texte von Angela Krauß, Ingo Andreas Wolf. Dresden 1999; Stefan Moses: DDR – ende mit wende. 200 Photographien 1989-1990. Mit Essays der Erinnerung von Rita Kuczynski und Harald Eggebrecht. Ostfildern-Ruit 1999; Rainer Lehmann / Hannes Sieber: DDR. Die Stunde Null. Ausstellung im Foyer des Asamtheater [sic] Freising vom 7. bis 17. Juni 1990. [Freising] 1990. Dass die Annahme einer historischen „Stunde Null“ für die DDR absurd ist, sei lediglich am Rande bemerkt. Einen ähnlichen ‚Stand der Dinge‘ dokumentiert der Band Was bleibt? Die letzten Tage der DDR. Hrsg. von Thomas Schröder. Gestaltet von Hans-Georg Pospischil. München 1990 (Edition Frankfurter Allgemeine Magazin). Die genannten Bücher besitzen weit mehr als einen rein dokumentarischen Wert: Ihnen kommt zugleich eine Funktion des Abschiednehmens von der DDR bzw. des ‚aktiven‘ Verabschiedens der DDR zu, zumal die Bilder häufig als ‚Auslöser‘ für Erinnerungen fungieren. Auf allgemeiner Ebene sind natürlich auch Foto-Bildbände von Interesse, die das Werkschaffen einzelner Fotografen über mehrere Jahrzehnte hinweg dokumentieren. Wenn auch der fotografische Blick sich nicht grundlegend ändert, so ist die ‚Wende‘ meist deutlich in den Bildern präsent: Vgl. Thomas Billhardt: Alexanderplatz in Berlin-Mitte. Fotos aus fünf Jahrzehnten. Berlin 2000; Gerhard Gäbler: Fotografien 1978 bis 1999. Dresden 2000; Harald Hauswald: Seitenwechsel. Fotografien 1979-1999. Berlin 1999. Vgl. „So sind wir – Bilder aus einem Projekt“. In: Fotografie 42 (1988) 10, S. 376-381; Berd Lasdin: „So sind wir“. In: Niemandsland 2 (1988) 7, S. 94-102.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
gegebenenfalls erfolgten Wandel vor allem im Selbstverständnis und in der Selbstwahrnehmung. Lasdins Arbeiten sind meines Erachtens gerade deshalb so wichtig, weil sie auch Menschen einschließen, die sich in rein schriftlicher Form sicher nicht zum Thema ‚Wende‘ geäußert hätten bzw. dies – in Einzelfällen – auch gar nicht gekonnt hätten. Nicht nur für die Fotobände gilt, was Kerstin Hensel im Vorwort zu dem Text-Bild-Band Alles war so. Alles war anders (1999) schreibt: Es geht bei dem vorliegenden Buch also nicht darum, „die DDR wie sie war“ darzustellen. Eine Foto-Auswahl läßt dem Betrachter Raum, zu sehen, auch wo scheinbar nicht viel zu sehen ist, und sich zu erinnern. Die Wahrheit steckt hinter den Fassaden. Letztendlich aber ist sie in den Menschen, und man kann sagen: Es gab so viele Deutsche Demokratische Republiken, wie es Menschen gab, die dort gelebt haben. Wenn Typisches vorzuweisen ist, so kristallisiert es sich über Millionen einzelner Biographien heraus. […] Auch in der DDR ging nicht alles in Staatlichkeit auf. Die Menschen in diesem Land waren keine gleichgeschalteten Protagonisten, die historische Fakten oder Parteiprogramme bedienten. Von jedem wurde die Zeit anders erlebt, und die Sturheit der eigenen Erinnerungen siegt immer über die scheinbar kollektive Wahrnehmung.827
5.3
Epik
Die ersten in Buchform erschienenen und damit bereits auf dem Weg der Kanonisierung befindlichen ‚Wendetexte‘ füllten Anthologien; zuvor erschienen wichtige kürzere Texte in Zeitungen (zu nennen ist hier vor allem der Sonntag) und literarisch orientierten Zeitschriften (insbesondere Sinn und Form sowie ndl), die schneller auf die Ereignisse reagieren konnten als der Buchmarkt. Als früheste ‚Wendeanthologie‘ ist der Band Urkunde. 40 Jahre! zu nennen, der um den 40. Jahrestag der Staatsgründung in 700 hektografierten Exemplaren in der DDR erschienen war, kurz darauf unter dem Titel 40 Jahre DDR … und die Bürger melden sich zu Wort828 auch in der Bundesrepublik. Das Buch nimmt nicht zuletzt deshalb eine Sonderstellung ein, weil es neben essayistischen Texten von Bürgerrechtlerinnen und -rechtlern vor allem Texte von Bürgerinnen und Bürgern enthält, die mehr oder weniger 827 828
Kerstin Hensel: Vorspann: Einstellungen. In: Thomas Billhardt / K.H.: Alles war so. Alles war anders. Bilder aus der DDR. Leipzig 1999; S. 5-7 bzw. 31, S. 5f. 40 Jahre DDR … und die Bürger melden sich zu Wort. Bärbel Bohley, Jürgen Fuchs, Katja Havemann, Rolf Henrich, Ralf Hirsch, Reinhard Weißhuhn u.a. Frankfurt a.M. 1989.
5.3 Epik
329
klar formuliert Bilanz ziehen und vorsichtige Blicke in die Zukunft wagen. Es ging leider kaum beachtet in den Wendewirren unter. 1990 erschien mit der von Stefan Heym und Werner Heiduczek herausgegebenen Anthologie Die sanfte Revolution die nach wie vor bedeutendste Sammlung von Texten aus der unmittelbaren Wendezeit. In ihrem Nachwort betonen die beiden Herausgeber: Die vorliegende Sammlung ist etwas breiter gefächert als manche andere Zusammenstellung und mag daher ein umfassenderes Bild geben über die Ursachen, Erscheinungen und Auswirkungen der Geschehnisse; auf jeden Fall, so glauben wir, ist sie in ihrer Buntheit und Verschiedenartigkeit der Formen auch literarisch interessant und dürfte als Dokument den Späteren einiges an Atmosphäre vermitteln, womöglich ein Aha-Erlebnis: So war das also im Herbst 1989 und in den ersten Monaten des Jahres 1990 in dem DDR genannten Drittel von Deutschland.829
Mit Gute Nacht, du Schöne – der Titel spielt auf Maxie Wanders Protokollband Guten Morgen, du Schöne (1977) an – erschien 1991 ein Band, in dem ausschließlich Autorinnen aus der DDR Rückschau halten, darunter Brigitte Burmeister, Kerstin Hensel, Helga Königsdorf, Angela Krauß und Brigitte Struzyk. Die ‚Wende‘ spielt dabei zwar auch eine Rolle, doch das Hauptanliegen der Herausgeberin ist es, „Unausgelebtes, Verschwiegenes, Verdrängtes, zu Klärendes […] in ungekannter Offenheit öffentlich zu machen.“830 Dabei betont sie ausdrücklich: Spezifisch weiblich-männliche Konflikte in der einstigen DDR spielen in diesen Beiträgen keine wesentliche Rolle. Die Gründe sind darin zu suchen, daß die Autorinnen Leistungen der westlichen Frauenbewegungen teils in ihr Leben integriert haben. Zum anderen haben sie sich in dieser Phase des gesellschaftlichen und biographischen Umbruchs andere Prioritäten gesetzt.831
Die Zeit danach (1991)832 ist die erste Sammlung neuer literarischer Texte nach dem Ende der Zweistaatlichkeit; die Herausgeber nehmen bereits im Titel Bezug auf ‚Wende‘ und ‚Einheit‘: Ihnen geht es darum, das Spektrum der neuen deutschen Literatur nach dem Ende der Teilung, „danach“ also, aufzuzeigen. Die ‚Wende‘ ist damit präsent, auch wenn sie nicht in jedem der versammelten Texte eine zentrale Rolle einnimmt. 829
830 831 832
Stefan Heym / Werner Heiduczek: Nachwort. In: Die sanfte Revolution. Prosa, Lyrik, Protokolle, Erlebnisberichte, Reden. Hrsg. von Stefan Heym und Werner Heiduczek. Mitarbeit: Ingrid Czechowski. Leipzig / Weimar 1990; S. 421-423, S. 421f. Anna Mudry: Vorwort. In: Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück. Hrsg. von Anna Mudry. Frankfurt a.M. 1991; S. 7-13, S. 8. Ebd., S. 13. Die Zeit danach. Neue deutsche Literatur. Hrsg. von Helge Malchow und Hubert Winkels. Köln 1991.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Neben dem Erscheinen von Anthologien mit ‚Wendetexten‘ im engeren Sinne kamen nach der Vereinigung zahlreiche Sammelbände über deutsche Identität und deutsches Selbstverständnis auf den Markt.833 Fasst man das darin vermittelte Bild zusammen, so lassen sich diese Textsammlungen durchweg als Belege dafür lesen, dass es eine einheitliche ‚deutsche Identität‘ nicht gibt, geschweige denn eine gesamtdeutsche. Weit gehend ausgeklammert ist in der vorliegenden Arbeit die Kinder- und Jugendliteratur mit thematischem Bezug zur ‚Wende‘, zumal Carsten Gansel834 (1996) plausibel nachweist, dass nur wenige Texte aus diesem Bereich zu überzeugen vermögen. Er konstatiert eine Dominanz grober Vereinfachungen: Es hängt damit zusammen, daß ost- wie westdeutsche Autoren über die Bildung von Stereotypen schon jetzt vereinfachte Bilder von der DDR liefern, die, gewollt oder ungewollt, an der Neu-Konstitution eines historischen deutschen Bewußtseins mitwirken und sich in ein solches auch widerstandslos werden einpassen lassen.835
Als besonders problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang folgende Beobachtung: 833
834
835
Z.B.: Michel ohne Mütze. Deutschland in Geschichten. Hrsg. von Hinrich Matthiesen und Ulrich Steinmetzger. [Halle (S.) / Leipzig] 1991; Was ist des Deutschen Vaterland. Ein deutsch-deutsches Lesebuch. Hrsg. von Ursula Höntsch und Olav Münzberg. Berlin 1993. Auf eher essayistischer Ebene: Über Deutschland. Schriftsteller geben Auskunft. Hrsg. von Thomas Rietzschel. Leipzig 1993. Gattungsübergreifend: Beiträge aus Deutschland in kleinen Geschichten. Hrsg. von Hartmut von Hentig. München 1995; Die Mauer fiel, die Mauer steht. Ein deutsches Lesebuch 1989-1999. Hrsg. von Hermann Glaser. München 1999. Für die Lyrik: Einigkeit und aus Ruinen. Eine deutsche Anthologie. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Frankfurt a.M. 1999. Carsten Gansel: Zwischen Wirklichkeitserkundung und Stereotypenbildung. Vom Dilemma einer Jugendliteratur zur „Wende“. In: Der Deutschunterricht 48 (1996) 4; S. 32-43; Gansel bezieht sich auf folgende Texte: Elisabeth Ahrendt: Hauptsache zusammen! München 1994; Lutz van Dijk: Von Skinheads keine Spur. Düsseldorf 1995; Herbert Günther: Ein Sommer, ein Anfang. Hamburg 1995; Karin König: Ich fühl mich so fiftyfifty. München 1991 (dtv junior / pocket); Henning Pawel: Wie ich Großvater einschloß, um die deutsche Einheit zu retten. Die Enkel packen aus. Berlin 1991; Gunter Preuß: Vertauschte Bilder. München 1991; Ders.: Stein in meiner Faust. Ravensburg 1993 (Ravensburger junge Reihe); Günter Saalmann: Zu keinem ein Wort. Berlin 1993; Uwe Saeger: Landschaft mit Dornen. Erzählung zum gleichnamigen Film. Halle (S.) 1993; Helmut Sakowski: Katja Henkelpott. Illustrationen von Erhard Dietl. Stuttgart / Wien / Bern 1992; Ders.: Katja Henkelpott und die Schlangenkönigin. Illustrationen von Erhard Dietl. Stuttgart / Wien 1995; Ders.: Prinzessin, wir machen die Fliege. Stuttgart / Wien 1993; Karsten Stollwerck: Du bist also der Meik? Wien / München 1995; Elisabeth Zöller: Alex – belogen. Mit Collagen von Anne Kolloch. Recklinghausen 1991. Weitere Jugendbücher zur ‚Wende‘ sind: Klaus Möckel: Bennys Bluff oder Ein unheimlicher Fall. Reinbek 1991 (rororo rotfuchs); Helmut Sakowski: Katja Henkelpott kommt in die Schule. Illustrationen von Erhard Dietl. Stuttgart / Wien 1998. Carsten Gansel: Zwischen Wirklichkeitserkundung und Stereotypenbildung. Vom Dilemma einer Jugendliteratur zur „Wende“. In: Der Deutschunterricht 48 (1996) 4; S. 32-43, S. 36; Hervorhebung im Original.
5.3 Epik
331
Was schon für einen großen Teil der Jugendliteratur zum ‚Dritten Reich‘ kennzeichnend war, wiederholt sich jugendliterarisch bei der Darstellung der Vor-Wende-Zeit: Die DDR-Bevölkerung wird als Opfer einer kriminellen Führung dargestellt. Der Funktionärskorps gerät durch die betriebene Dämonisierung – wie es schon bei Hitler und seinem Regime der Fall war – zu einem deus ex machina.836
Der Prozess der ‚Vorbereitung‘ einer ‚Wende‘ wird in der Epik schon früh angesprochen – etwa von Angela Krauß (*1950) in Leipzig und Selbst (1991): In meinen Schränken liegen Zettel, abgerissene Zeitungsränder, herausgetrennte und halbierte Heftseiten, auf denen in meiner eigenen, auffallend unterschiedlichen Handschrift etwas geschrieben steht. Es kommt vor, daß mir etwas davon in die Hände fällt, dann lese ich es und lege es wieder dorthin, wo ich es gefunden habe. Es sind Notizen von Beobachtungen. Manchen ist ein Sinn unterstellt, andere sind nur sie selbst. Sie knüpfen scheinbar nirgends an und weisen nirgends hin. Ich kann sie in diesem Augenblick mit nichts in einen Zusammenhang bringen, der irgendetwas erklärt. Sie führen ihre Art Leben, ein Leben neben mir. Sie haben sich in Jahren über Fächer, Schachteln, Bücher verteilt und tun es weiter. Abfallendes Laub, das langsam durch immer tiefer werdendes Wasser segelt und schließlich irgendwo auf dem Grund liegenbleibt. Dort geht es allmählich von einem Zustand in den anderen über und dann in den nächsten, bis es zuletzt von tief unten herauf als Aroma seine Umgebung ganz und gar durchdringt.837
Der Text bringt deutlich den prozesshaften Charakter der Ereignisse zum Ausdruck. Dinge werden registriert, beobachtet, notiert und scheinbar folgenlos ‚abgelegt‘. Das, was „auf dem Grund liegenbleibt“, bleibt jedoch nicht folgenlos, sondern „durchdringt“ die Umgebung schließlich wieder. Damit ist auch klar, dass es so etwas wie eine wenn / dann-Kausalität nicht geben kann: Die ‚Wende‘ wurde weniger durch bestimmte Einzelereignisse ausgelöst als allmählich durch die Summe zahlreicher Ereignisse und Erlebnisse im Leben vieler – wenn auch nicht aller – Bürgerinnen und Bürger der DDR. Im Vordergrund des vorliegenden Kapitels steht die Betrachtung einzelner Texte. Es sind dies: Christa Wolfs Erzählung Was bleibt (1990), Friedrich Christian Delius’ Erzählung Die Birnen von Ribbeck (1991), Monika Marons Roman Stille Zeile sechs (1991), Brigitte Burmeisters Roman Unter dem Namen Norma (1994), Jens Sparschuhs „Heimatroman“ Der Zimmerspringbrunnen (1995), Ingo Schulzes Roman Simple Storys (1998), die Romane Nikolaikirche (1995) von Erich Loest und Rabet (1999) von 836 837
Ebd., S. 38. Angela Krauß: Leipzig und Selbst. In: Supplement Literatur im technischen Zeitalter. LCB DAAD II / 1990. Hrsg. von Walter Höllerer, Norbert Miller, Joachim Sartorius; S. 51-54, S. 54.
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5 Die ‚Wende‘ – literarische Annäherungen an ein allumfassendes Thema
Martin Jankowski sowie – in aller Kürze – Uwe Timms Roman Johannisnacht (1996). Die Auswahl erfolgte sowohl nach ästhetischen Kriterien als auch und vor allem nach einer gewissen Repräsentativität der Werke hinsichtlich verschiedener Aspekte der ‚Wendeliteratur‘. Was bleibt und Stille Zeile sechs wurden ausgesucht als Texte, in denen Zustände dargestellt werden, die zu den Ereignissen des Herbstes 1989 führten. In Nikolaikirche und Rabet werden diese Ereignisse in stellenweise dokumentarischer Form festgehalten und reflektiert; in Die Birnen von Ribbeck sind die Grenzen gerade geöffnet worden, Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion sowie die Vereinigung liegen aber noch in relativ weiter Ferne. Unter dem Namen Norma, Der Zimmerspringbrunnen und Simple Storys sind Romane, in denen die Schwierigkeiten des Alltags nach ‚Wende‘ und ‚Vereinigung‘ in überzeugender Weise dargestellt werden. Johannisnacht wurde schließlich als exemplarischer ‚Nachwenderoman‘ gewählt. Die Analyse der einzelnen Texte erfolgt weit gehend chronologisch nach Erscheinungsdaten; Angaben zu Biografien und bisherigem Werkschaffen wurden lediglich im Falle weniger bekannter Autorinnen und Autoren aufgenommen. 5.3.1
Identitätssuche einer Schriftstellerin – Christa Wolf: Was bleibt (1990)
Christa Wolfs erste nach der ‚Wende‘ erschienene Erzählung, Was bleibt, wurde im „Juni / Juli 1979“ geschrieben und im „November 1989“ überarbeitet.838 Die nicht zuletzt damit zusammenhängende problematische Wirkungsgeschichte des Textes wurde bereits ausführlich dargestellt (vgl. 5.1.5). Es sei nochmals betont, dass eine Ineinssetzung von Autorin und Protagonistin des Textes, wie dies häufig von Seiten der Kritik geschah, unzulässig ist. Im Zentrum des vorliegenden Kapitels sollen der Text selbst und seine Situierung im Werkschaffen Christa Wolfs stehen. Schauplätze bzw. Stationen sind die Wohnung der Ich-Erzählerin, einer Schriftstellerin, in einer Stadt, die unschwer als Ost-Berlin zu erkennen ist, sodann ein Gang durch die Straßen, ein Krankenbesuch bei ihrem Mann und abschließend eine Lesung in einem Kulturhaus. Entscheidend sind weniger diese Schauplätze und der Plot an sich als diejenigen Passagen, in denen die Denkprozesse und Reflexionen der Ich-Erzählerin geschildert werden. Dabei dominieren innere Monologe, in denen die Erzählerin sich mit sich selbst und mit ihrer Situation auseinander setzt. Die ‚Wende‘-Ereignisse werden in Was bleibt nicht thematisiert, wohl aber Entwicklungen und Prozesse, welche die Notwendigkeit von Veränderungen deutlich machen.
838
Christa Wolf: Was bleibt. Berlin (DDR) / Weimar 1990, S. 76.
5.3 Epik
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5.3.1.1 Angst, Entfremdung und Identitätssuche Die Protagonistin befindet sich in einem Zustand der Angst und Verunsicherung. Nahezu täglich sieht sie sich der Observierung durch mehrere junge Männer in einem Auto vor ihrer Wohnung ausgesetzt. Sie begreift, dass die Observierung bewusst nicht heimlich stattfindet, sondern sie die Maßnahmen durchaus mitbekommen soll: […] mindestens ein-, wahrscheinlich aber zweimal hatten im vorigen Sommer jene jungen Herren oder deren Kollegen mit einer Spezialausbildung im Türenöffnen unserere Wohnung in unserer Abwesenheit aufgesucht, ohne allerdings mit dem Sauberkeitsfimmel von Frau C. zu rechnen, die, wenn sie nach getaner Arbeit die Wohnung verläßt, ihre eigenen Fußstapfen mit einem weichen Tuch hinter sich wegwischt, so daß es ihren Verdacht erregen mußte, als sich am nächsten Tag die Profilsohle eines Männerschuhs, Größe 41 / 42, deutlich auf einigen Türschwellen und auf dem dunklen Parkett im Mittelzimmer abgedrückt hatte. […] Außerdem haben im Bad die Scherben des Wandspiegels im Waschbecken gelegen, ohne daß sich für diesen Tatbestand eine natürliche Erklärung hätte finden lassen. Wir mußten also davon ausgehen, daß die jungen Herren ihren Besuch in unserer Wohnung gar nicht verheimlichen wollten.839
Die Erzählerin findet keine adäquate Strategie, mit dieser Situation umzugehen – auch die bewusst von ihr herbeigeführte direkte Begegnung mit den Spitzeln verschafft keine Erleichterung: […] unzufrieden mit mir und ohne billigen zu können, was ich jetzt vorhatte, ging ich über den Parkplatz, steuerte auf das flaschengrüne Auto zu (sie standen noch da, was hatte ich denn gedacht?), es war elf Uhr fünfzehn, ich strich ganz nahe am Auto vorbei und ertappte die drei jungen Herren just beim Frühstück. Der hinterm Lenkrad saß, hatte seine Brotbüchse auf den Knien, der neben ihm biß in einen Apfel, und der hinten im Fond trank hingegeben aus einer Bitterlemon-Flasche. Er verschluckte sich nicht, als mein Gesicht vor ihm erschien, ungerührt trank er weiter, aber alle drei bekamen sie wie auf Kommando diesen gläsernen Blick. Mag sein, sagte ich mir, während ich anstandshalber quer über den Parkplatz zum Briefkasten ging, als hätte ich irgendwelche Postsachen einzuwerfen, und es sogar so weit trieb, die Geste des Einwerfens vorzutäuschen – mag ja sein, sie lernen diesen gläsernen Blick auf ihrer Schule.840
Die ‚praktischen‘ Maßnahmen, die sie gegen die Bespitzelung ergreift, ändern ebenso wenig etwas an ihrer Verunsicherung: Selbstverständlich redeten wir in der Wohnung mit anderen sehr leise, wenn bestimmte Themen aufkamen (und sie kamen immer auf), ich stellte das Radio laut 839 840
Ebd., S. 19f. Ebd., S. 36.
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bei gewissen Gesprächen, und manchmal zogen wir den Telefonstecker aus der Steckdose, wenn Gäste da waren, doch blieb uns bewußt, daß die Maßnahmen der anderen und unsere Reaktionen darauf ineinandergriffen wie die Zähne eines gut funktionierenden Reißverschlusses. Hoffnung ließ sich nicht daraus ableiten.841
Eines der Hauptthemen des Textes ist damit die Darstellung der psychischen Folgen einer Überwachung durch den Staatssicherheitsdienst. Die immer wieder aufgegriffene Angst ist allgegenwärtig und betrifft nicht nur die Erzählerin, sondern auch zahlreiche Figuren in ihrem Umkreis. Entscheidend ist dabei, dass kaum eine der Personen über die Angst sprechen kann, diese jedoch stets latent vorhanden ist. Eine Ausnahme bildet hier Jürgen M., ein Bekannter der Protagonistin. Ihm gelingt es, in einem kurzen Moment zuzugeben: „Ich – habe – Angst.“842 Gleich darauf spielt er wieder den Betrunkenen. Allerdings hat die Protagonistin auch den Verdacht, dass Jürgen M. der für sie Hauptzuständige bei der Staatssicherheit ist: Da war sie wieder, meine fixe Idee, ich erkannte sie sofort, mußte mich aber doch genußvoll in sie hineinbohren: daß es jemanden geben mußte, der außer dem wirklich Wichtigen alles über mich wußte. Auf irgendeinem Schreibtisch, in irgendeinem Kopf mußten schließlich alle Informationen über mich – die der jungen Herren, die der Telefonüberwacher, die der Postkontrolleure – zusammenlaufen. Wie, wenn es der Schädel von Jürgen M. wäre?843
M.s Angstbekenntnis könnte insofern zugleich Ausdruck bzw. Begründung seiner Arbeit für den Staatssicherheitsdienst sein, oder aber, allerdings im zitierten Kontext unwahrscheinlicher, als gezielte Verunsicherungsstrategie gegenüber der Protagonistin gedeutet werden. Angst und Verunsicherung der Ich-Erzählerin sind derart weit reichend, dass sie zu einer Persönlichkeitsaufspaltung führen. So fragt sie sich: Ich selbst. Wer war das. Welches der multiplen Wesen, aus denen „ich selbst“ mich zusammensetzte. Das, das sich kennen wollte? Das, das sich schonen wollte? Oder jenes dritte, das immer noch versucht war, nach derselben Pfeife zu tanzen wie die jungen Herren da draußen vor meiner Tür?844
Diese Aufspaltung ist Teil einer Bewältigungsstrategie, mittels derer sie zudem versucht, ein „nie sich abnutzendes Schuldgefühl“845 zu überwinden. In diesem Zusammenhang erkennt die Erzählerin an sich selbst ein unterwürfiges Verhältnis zur Macht; problematisch ist dabei auch ihr „be841 842 843 844 845
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
20. 34. 31f. 40. 9.
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schämendes Bedürfnis, mich mit allen Arten von Leuten gut zu stellen.“846 Die damit verbundene masochistische, weil der Instanz der Selbstzensur nahezu gleichkommende Komponente, die sie „jenen Dritten“ nennt, will sie bekämpfen; sie hofft, „glauben zu können, daß ich jenen Dritten eines nahen Tages ganz und gar von mir abgelöst und aus mir hinausgestoßen haben würde […].“847 Jürgen M. bezeichnet den Zustand der Erzählerin als „Traumtänzerei“848; er beobachtet an ihr „dieses Gehabe auf dem Seil, ohne abzustürzen.“849 Und so sieht die Protagonistin das Leben in der DDR auch getreu ihrer Feststellung „[…] Artisten wir alle.“850 Der Stadt, in der sie lebt, fühlt sie sich entfremdet. Sie ist zu einer „verlorenen Stadt“ geworden, zu einer unerlösten, erbarmungslosen Stadt, versenkt auf den Grund von Nichtswürdigkeit […]. Aus einem Ort war die Stadt zu einem Nicht-Ort geworden, ohne Geschichte, ohne Vision, ohne Zauber, verdorben durch Gier, Macht und Gewalt.851
An anderer Stelle äußert sie: „Ich war in der Fremde. Viele Wochen lang lief ich durch namenlose Straßen einer namenlosen Stadt.“852 Angesichts der instabilen psychischen Verfassung der Ich-Erzählerin ist Was bleibt vor allem als Text der Identitätssuche zu deuten. Die Erzählerin sucht letztlich nach einer neuen Identität in einer sich verändernden politischen Welt, wobei sie – im Bewustsein ihrer besonderen Rolle als Schriftstellerin – durchaus auch bereit ist mit sich selbst abzurechnen: Eine reine Charakterfrage also, ob er [Galilei; F.Th.G.] gegen die Lüge antrat. Wir, angstvoll doch auch, dazu noch ungläubig, traten immer gegen uns selber an, denn es log und katzbuckelte und geiferte und verleumdete aus uns heraus, und es gierte nach Unterwerfung und nach Genuß. Nur: Die einen wußten es, und die anderen wußten es nicht.853
5.3.1.2 Auf der Suche nach einer neuen Sprache Sprache bzw. die Reflexion über Sprache ist spätestens seit Nachdenken über Christa T. (1968)854 eines der Hauptthemen der Werke von Christa Wolf, 846 847 848 849 850 851 852 853 854
Ebd., S. 14. Ebd., S. 40. Ebd., S. 33. Ebd. Ebd., S. 42. Ebd., S. 24f. Ebd., S. 23. Ebd., S. 22. Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Halle (S.) 1968. In diesem Text wird immer wieder die „Schwierigkeit, ich zu sagen“ dargestellt.
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insofern knüpft sie in Was bleibt auch thematisch an frühere Texte an. Die Protagonistin der Erzählung ist noch nicht fähig, sich so zu äußern, wie sie es gerne täte. Über diesen Zustand ist sie sich völlig im Klaren; sie kann darüber sprechen bzw. schreiben. Ihre oben dargestellte Identitätssuche vollzieht sich demnach auch und vor allem auf der Ebene der Sprache. Insofern ist es logisch, dass gleich zu Beginn des Textes die Elemente ‚Angst‘ und ‚Sprache‘ miteinander verknüpft werden. Die ersten Sätze lauten: Nur keine Angst. In jener anderen Sprache, die ich im Ohr, noch nicht auf der Zunge habe, werde ich eines Tages auch darüber reden. Heute, das wußte ich, wäre es noch zu früh. Aber würde ich spüren, wenn es an der Zeit ist? Würde ich meine Sprache je finden?855
Die Sprache dient somit auch als Mittel zur Bewältigung der Angst; zu Beginn des Textes ist sich die Erzählerin allerdings nicht sicher, ob ihr dieses Mittel je zur Verfügung stehen wird. Die ‚alte‘ Sprache ist jedenfalls untauglich für ihre Zwecke: […] die richtigen Wörter hatte ich immer noch nicht, immer noch waren es Wörter aus dem äußeren Kreis, sie trafen zu, aber sie trafen nicht, sie griffen Tatsachen auf, um das Tatsächliche zu vertuschen […].856
Folglich hofft sie auf eine neue „Sprache, die härter sein würde als die, in der ich immer noch denken mußte.“857 Diese Sprache ist seit unbestimmter Zeit in der Entstehung begriffen: Meine andere Sprache, dachte ich, […] die in mir zu wachsen begonnen hatte, zu ihrer vollen Ausbildung aber noch nicht gekommen war, würde gelassen das Sichtbare dem Unsichtbaren opfern, würde aufhören, die Gegenstände durch ihr Aussehen zu beschreiben […] – und würde, mehr und mehr, das unsichtbare Wesentliche aufscheinen lassen. Zupackend würde diese Sprache sein, soviel glaubte ich immerhin zu ahnen, schonend und liebevoll.858
Andererseits schreckt sie die potenzielle Banalität des Auszudrückenden: Einmal, in meiner neuen freien Sprache, würde ich auch darüber reden können, was aber schwierig werden würde, weil es so banal war: Die Unruhe. Die Schlaflosigkeit. Der Gewichtsverlust. Die Tabletten. Die Träume. Das ließe sich wohl schildern, doch wozu? Es gab ganz andere Ängste auf der Welt.859 855 856 857 858 859
Dies.: Was bleibt. Berlin (DDR) / Weimar 1990, S. 5. Ebd., S. 12. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Ebd., S. 15.
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In diesem Zusammenhang führt sich die Protagonistin einmal mehr ihre besondere Rolle als Schriftstellerin vor Augen. Ihr Leben ist ein privilegiertes – im Gegenzug fühlt sie sich verpflichtet, auch öffentlich Position zu beziehen, selbst wenn sie dadurch möglicherweise Nachteile erfährt: Jeden Tag sagte ich mir, ein bevorzugtes Leben wie das meine ließe sich nur durch den Versuch rechtfertigen, hin und wieder die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten, der Tatsache eingedenk, daß Grenzverletzungen aller Art geahndet werden.860
Voraussetzung für die Entstehung der ‚neuen‘ Sprache ist allerdings die Bewältigung der Angst: Doch, sagte ich mir, während mir bewußt wurde, daß ich seit Minuten schon auf den Fernsehturm starrte, der sich halbrechts in meinem Gesichtsfeld über dem Häusermassiv von Augen- und Frauenklinik erhob, doch der Sprachgrenze würde ich mich erst nähern, wenn ich mir zutraute zu erklären, warum an jenen Tagen, an denen die Autos nicht in Wirklichkeit, nur als Phantombild auf meiner Netzhaut vorhanden waren, die Angst nicht von mir wich, nicht einmal geringer war als an Tagen der offensichtlichen Observation. Dazu, dachte ich, müßte ich mir mal was einfallen lassen, egal in welcher Sprache.861
Während Inhalt und Zweck der ‚neuen‘ Sprache relativ klar bestimmt sind, weiß die Protagonistin kaum etwas über deren Form: Eine Geschichte des schlechten Gewissens, dachte ich, wäre einzubeziehen in das Nachdenken über die Grenzen des Sagbaren; mit welchen Wörtern beschreibt man die Sprachlosigkeit des Gewissenlosen, wie geht […] Sprache mit nicht Vorhandenem um, das keine Eigenschaftswörter, keine Substantive an sich duldet, denn es ist eingenschaftslos [sic], und das Subjekt fehlt ihm durchaus, so wie das gewissenlose Subjekt sich selber fehlt, dachte ich weiter, doch stimmte das überhaupt?862
860 861 862
Ebd., S. 15f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 21f. Das Thema der Suche nach einer ‚neuen‘ Sprache wird zu dieser Zeit selbstverständlich nicht nur von Christa Wolf aufgegriffen. So sucht Gabriele Kachold (*1953) in mein erfurt mein mittel-alter „eine neue sprache für die seelenräume die wir meinen wenn wir ums bleiben kämpfen wollen“ (Gabriele Kachold: mein erfurt mein mittel-alter. In: Schöne Aussichten. Neue Prosa aus der DDR. Hrsg. von Christian Döring und Hajo Steinert. Frankfurt a.M. 1990; S. 273-288, S. 285.) Die Autorin musste 1976 u.a. wegen ihrer Beteiligung an Protestaktionen gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns die Pädagogische Hochschule Erfurt verlassen und wurde inhaftiert. Bei der jungen Schriftstellerin, die in Was bleibt die Ich-Erzählerin besucht, um ihr ihre Texte zu zeigen (vgl. S. 52ff.), könnte es sich um sie handeln (vgl. auch Paul Konrad Kurz: Was war, erinnern die Dichter. Literarische Befunde der DDR-Gesellschaft. In: P.K.K.: Komm ins Offene. Essays zur zeitgenössischen Literatur. Frankfurt a.M. 1993; S. 211-289, S. 228; zu Gabriele
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Ebenso wenig bestimmt ist der zeitliche Rahmen. So sieht die Erzählerin ihre Lebenszeit verrinnen, ohne dass sie mit diesem Leben zufrieden wäre. Sie fragt sich: „Wieviel Zeit wollte ich mir eigentlich noch geben?“863 Ihr eigenes Verhältnis zur Zeit setzt sie in Beziehung zu dem der jungen Männer, die sie observieren: Zeit war eines meiner Stichworte. Eines Tages war mir klar geworden, daß es vielleicht mehr als alles andere ein gründlich anderes Verhältnis zur Zeit war, das mich von jenen jungen Herren da draußen – sie standen noch dort, ja doch! – unterschied. Jenen nämlich war ihre Zeit wertlos, sie vergeudeten sie in einem unsinnigen, gewiß aber kostspieligen Müßiggang, der sie doch auf die Dauer demoralisieren mußte, aber das schien ihnen ja nichts auszumachen oder ihnen, im Gegenteil, die Vermutung kam mir plötzlich, gerade recht zu sein. Mit beiden Händen, lustvoll geradezu, warfen sie ihre Zeit zum Fenster hinaus; oder nannten sie das womöglich Arbeit, was sie taten? Vorstellbar war sogar das.864
Dass die Zeit insbesondere für die Jüngeren drängt, kommt vor allem in der sich an die Lesung im Kulturhaus anschließenden Diskussion zum Ausdruck. Eine junge Frau erhebt sich und brachte das Wort „Zukunft“ ins Spiel – ein Wort, gegen das wir alle wehrlos sind und das imstande ist, die Atmosphäre eines jeden Raumes zu verändern und eine jede Menschenansammlung zu bewegen. Die junge Frau […] hätte sich nie das Herz gefaßt, öffentlich zu sprechen, wenn sie nicht extra gekommen wäre, um die für sie unaufschiebbare Frage zu stellen: auf welche Weise aus dieser Gegenwart für uns und unsere Kinder eine lebbare Zukunft herauswachsen solle.865
Diese und weitere Fragen sieht die Erzählerin als „die wirklichen Fragen […], von denen wir leben und durch deren Entzug wir sterben können.“866 Insofern fungiert die Frage der jungen Frau als Auslöser für einen offenen Dialog; der Verlauf des Abends nimmt damit eine unerwartete Wendung und verlässt die institutionell gelenkten Bahnen: Ein Fieber erfaßte die meisten, als könnten sie es nie wieder gutmachen, wenn sie nicht sofort, bei dieser vielleicht letzten Gelegenheit, ihr Scherflein beisteuerten für jenes merkwürdig nahe, immer wieder sich entziehende Zukunftswesen. Jemand
863 864 865 866
Kachold vgl. auch Gerhard Wolf: IV Gabriele Kachold: zügel los (1988). In: Gerhard Wolf: SPRACHBLÄTTER WORTWECHSEL. Im Dialog mit Dichtern. Leipzig 1992, S. 153-158). Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 67. Ebd.
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sagte leise „Brüderlichkeit“. […] Als stehe man vor einem Fest, wurde die Stimmung im Saal immer lockerer. Buchtitel wurden durch den Raum gerufen, manche notierten sie sich, andere fingen an, mit ihren Nachbarn zu reden, um die junge Frau, die zuerst gesprochen hatte, bildete sich ein Kreis.867
Auch wenn dieser Abend ein „Nachspiel“ hatte868, ist die Protagonistin am Ende der Erzählung ihrem Ziel näher gekommen. Sie betont: „Eines Tages, dachte ich, werde ich sprechen können, ganz leicht und frei.“869 Der zeitliche Rahmen ist damit nicht festgelegt, doch aus der Unsicherheit ist eine Gewissheit der Veränderung geworden. Zudem zeichnet sich ein Generationenwechsel ab: Am Nachmittag vor der Lesung wird die Erzählerin von einer jungen Schriftstellerin besucht, die ihr ihre Texte zeigen möchte. Mit der jungen Frau „trat etwas mir vom Ursprung her Verwandtes und zugleich ganz und gar Fremdes über meine Schwelle.“870 Die Erzählerin gesteht sich ein: „Es ist soweit. Die Jungen schreiben es auf.“871 Teile der jungen (Autoren-)Generation haben also ihre eigene Sprache gefunden und sind auch bereit, um der Wahrheit willen Opfer zu bringen, denn das „Mädchen“ war bereits inhaftiert gewesen. Der nach Meinung der Erzählerin gelungene Text und die Biografie der jungen Frau lösen einen Prozess des Nachdenkens aus: Das Mädchen, dachte ich, ist nicht zu halten. Wir können sie nicht retten, nicht verderben. Sie soll tun, was sie tun muß, und uns unserem Gewissen überlassen. […] Das Mädchen fragte nicht krämerisch: Was bleibt. Es fragte auch nicht danach, woran es sich erinnern würde, wenn es einst alt wäre.872
5.3.1.3 Was bleibt im Kontext des Wolfschen Werkes Es ist nicht bekannt, welche Passagen Christa Wolf u