Weltinnenpolitik und Internationale Polizei: Neues Denken in der Friedens- und Sicherheitspolitik [1 ed.] 9783737015264, 9783847115267

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Weltinnenpolitik und Internationale Polizei: Neues Denken in der Friedens- und Sicherheitspolitik [1 ed.]
 9783737015264, 9783847115267

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Evangelische Hochschulschriften Freiburg

Band 11

Herausgegeben von Wilhelm Schwendemann, Dirk Oesselmann, Jürgen Rausch, Kerstin Lammer und Bernd Harbeck-Pingel

Dirk-M. Harmsen / Stefan Maaß / Horst Scheffler / Theodor Ziegler (Hg.)

Weltinnenpolitik und Internationale Polizei Neues Denken in der Friedens- und Sicherheitspolitik

Mit 11 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Grafiker: Christian Topp, München Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5340 ISBN 978-3-7370-1526-4

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Ralf Becker / Dirk-M. Harmsen / Horst Scheffler / Theodor Ziegler Zielperspektive Internationale Polizei und Realisierungsaspekte . . . . . .

13

Teil A: Ausgangspunkte Ullrich Hahn Einschätzung des Militärs aus humaner und ethischer Sicht . . . . . . . .

31

Thomas Hoppe Vorrang für Gewaltprävention. Zur Bedeutung militärischer Handlungsmöglichkeiten in einem friedensethischen Gesamtkonzept . . .

35

Traugott Schächtele Lyrik: neuanfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Dirk-M. Harmsen Hans-Georg Ehrhart: »Mythos ›Robuste Militärinterventionen können dabei helfen, Konflikte im Globalen Süden zu lösen‹« . . . . . . . . . . .

49

Horst Scheffler Dan Krause: »Stabilisierung im Treibsand? Über Illusionen, Fehler und Erfolgsbedingungen westlicher Stabilisierungsbemühungen« . . . . . . .

53

Traugott Schächtele Lyrik: mehr nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

6

Inhalt

Stefan Maaß Séverine Autesserre: »Frontlines of Peace. An Insider’s guide to changing the world.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Teil B: Weltinnenpolitik und Internationale Polizei Klaus Moegling Auf dem Weg zu einer gesellschaftlichen Pazifizierung. Strategien, Engagement und Ziele müssen von den gleichen Werten getragen sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Traugott Schächtele Lyrik: immer anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Ulrich Bartosch Weltinnenpolitik für den Frieden in der Welt? Überlegungen an einem 11. September . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Teil C: Erfahrungen mit gewaltfreier Konfliktbearbeitung Wolfgang Heinrich Hoch eskalierte Konflikte mit zivilen Mitteln bearbeiten?

. . . . . . . . . 105

Traugott Schächtele Lyrik: hommage an erich f punkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Christine Schweitzer Ziviles Peacekeeping – Kooperation polizeilicher Sicherheits- und gewaltfreier Friedensfachkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Marie-Noëlle Koyara / Hubert Heindl Zivile Krisenprävention und -intervention in der deutschen internationalen Zusammenarbeit. Gelingende Praxis aus der afrikanischen Friedensbewegung am Beispiel des Programms INOVARCA, Regensburg, in der Reform der Sicherheitsorgane der Zentralafrikanischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Traugott Schächtele Lyrik: heute doch nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

7

Inhalt

Teil D: Idee und Perspektive Thomas Nauerth »Internationale Polizei« aus friedensethischer Sicht . . . . . . . . . . . . . 155 Andreas Zumach Ansatzpunkte für eine Internationale Polizei angesichts der internationalen Realitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Traugott Schächtele Lyrik: lebens klugheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Ute Finckh-Krämer Welche konkreten Schritte zu einer Internationalen Polizei sind nötig und möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Wilhelm Schwendemann Polizei als Menschenrechtsprofession? Einige Überlegungen zur polizeilichen Professionsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Traugott Schächtele Lyrik: siebzigmal siebenmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Teil E: Perspektiven zum Weiterdenken in Kirche, Gesellschaft und Politik Jochen Cornelius-Bundschuh Perspektiven einer zivilen Sicherheitspolitik – 7 Thesen für den weiteren Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Matthias Rogg »Sicherheit neu denken« – Weltinnenpolitik und Internationale Polizei. Von militärischer zu ziviler und polizeilicher Sicherheitspolitik . . . . . . 211 Traugott Schächtele Lyrik: Das Fest-Lied vom Frieden

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Karen Hinrichs »Sicherheit neu denken« weiterdenken: Von anderen lernen

. . . . . . . 223

Uta Engelmann Zum Tagungsende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Vorwort

Die Notwendigkeit, über eine Internationale Polizei anstelle des Militärs nachzudenken, ist nach dem Buchbeitrag von Thomas Nauerth kirchengeschichtlich schon ein Jahrhundert alt. Trotzdem lässt sich in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur kaum etwas dazu finden. Die letzten Publikationen liegen bereits über 20 Jahre zurück und waren eher grundsätzlicher Natur.1 Doch auch in den vergangenen Jahren wurde von kirchenleitenden Persönlichkeiten, z. B. von den früheren EKD-Ratsvorsitzenden Margot Käßmann und Heinrich BedfordStrohm, aber auch in der Friedenskonvokation des Ökumenischen Rates der Kirchen im Jahr 2011 in Jamaika der Ruf nach einer Internationalen Polizei bzw. UN-Polizei laut. In der Evangelischen Landeskirche in Baden begann im Jahr 2011 ein friedensethischer Diskussionsprozess, der die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) behauptete Vorrangigkeit der gewaltfreien Option einforderte. Nach einer breiten Diskussion in allen Bezirkssynoden fasste die Landessynode am 24. Oktober 2013 einen beispiellosen friedensethischen Beschluss. So wurde u. a. die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg (FEST) unter Leitung von Frau PD Dr. Jacqueline Werkner mit einem Forschungsauftrag zu Just-Policing betraut. Eine weitere, ökumenisch zusammengesetzte Projektgruppe sollte ein Szenario zum mittelfristigen Ausstieg aus der militärischen Friedenssicherung erstellen, gleich dem gesetzlich beschlossenen Ausstieg aus der nuklearen Energiegewinnung. Dieses Szenario wurde im Rahmen eines Studientags des Evangelischen Oberkirchenrats am 28. April 2018 in Karlsruhe als Buch mit dem Titel »Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik.« der Fachöffentlichkeit präsentiert. Ein Element davon ist der Aufbau einer Internationalen Polizei. 1 Beispiele: Düringer, Hermann/Scheffler, Horst (2002). Internationale Polizei – Eine Alternative zur militärischen Konfliktbearbeitung. Frankfurt am Main: Haag + Herchen Verlag. Wehberg, Hans. Das Problem einer internationalen Polizei. Die Friedens-Warte, vol. 35, no. 3, 1935, pp. 65–81. JSTOR, http://www.jstor.org/stable/23798864. Accessed 7 Aug. 2022.

10

Vorwort

In der Folge entstand im Jahre 2019 die bundesweite, zwischenzeitlich von 50 Friedensorganisationen und kirchlichen Institutionen unterstützte Initiative »Sicherheit neu denken« (SND). Ihr Ziel ist es, die Möglichkeiten einer zivilen Sicherheitspolitik in den sicherheitspolitischen Diskurs einzubringen. Eine vierköpfige Fachgruppe in Kooperation mit dem Friedensbeauftragten der Evangelischen Landeskirche in Baden arbeitete sich in mehreren Gesprächen und Fachklausuren mit Polizeibeamten in die bisherigen Erfahrungen nationaler Polizeien bei internationalen Polizeimissionen (IPM) ein. Ebenso wurden die Berichte von Expert*innen aus der Friedensarbeit und Entwicklungshilfe von Nichtregierungs-organisationen (NGO) in Krisengebieten gehört. Diese konnten dann als Referent*innen für die Akademietagung »Weltinnenpolitik und Internationale Polizei« vom 22. bis 24. September 2021 in Bad Herrenalb gewonnen werden. Das als Diskussionsgrundlage vorgestellte »Zielperspektivenpapier Internationale Polizei« wurde anschließend um die auf der Tagung gewonnenen Erkenntnisse erweitert und bildet in diesem Sammelwerk als erster Artikel den Auftakt. Anschließend folgen, entsprechend der Tagungsstruktur, die Beiträge, die das Thema Internationale Polizei aus den verschiedensten wissenschaftlichen und friedenspraktischen Disziplinen befassen. Der im Inhaltverzeichnis ersichtliche Bogen reicht vom konsequenten Pazifismus bis zur Betrachtung aus militärischer Sicht. Wir danken allen Autor*innen ganz herzlich für die Zurverfügungstellung ihrer Manuskripte und erhoffen uns durch diese Buchpublikation eine weitere Verbreitung dieser anregenden Impulse. Ganz besonderer Dank gilt Herrn Ralf Becker von der Evangelischen Akademie Baden, der als Koordinator der bundesweiten SND-Initiative die Verbindungen zu vielen der Referent*innen hergestellt sowie die Bad Herrenalber Tagung organisiert und geleitet hatte. Ebenso gilt unser herzlicher Dank der Evangelischen Akademie in Baden und ihrer Direktorin Pfarrerin Arngard Uta Engelmann für die Mitgestaltung und finanzielle Unterstützung unserer Tagung. Herrn Prälat Prof. Dr. Traugott Schächtele, Schwetzingen, sind wir für seine lyrische Mitwirkung am kulturellen Abend der Tagung sehr zu Dank verbunden. Seine »POETISCHE(N) ANSTÖSSE ZU NEUEM DENKEN: WORTBEFRIEDUNGEN – MEHR ALS SIEBZIGMAL SIEBENMAL« sind zwischen die wissenschaftlichen Buchbeiträge eingereiht und führen die Lesenden immer wieder in die grundlegende Dimension unserer Themenstellung. Herrn Prof. Dr. habil. Wilhelm Schwendemann danken wir für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe »Evangelische Hochschulschriften Freiburg«.

Vorwort

11

Unser Anliegen einer Internationalen Polizei grafisch auf den Punkt zu bringen, das ist dem Münchner Grafiker und Fotograf Christian Topp bestens gelungen. Dafür danken wir ihm ganz herzlich! Erfreulicherweise vergrößerte sich unsere kleine Fachgruppe nach der Tagung um weitere zehn Fachleute aus Politik, Polizei, Militärseelsorge und Friedensforschung. Ein »Zwischenprodukt« daraus ist ein Eckpunktepapier zum Ausbau und zur Optimierung der bereits vorhandenen IPM-Möglichkeiten nationaler Polizeien. Dieses Papier soll den Verantwortlichen in Parlament und Exekutive konkrete Anregungen vermitteln, zumal anstelle der von Deutschland international zugesagten 900 Kräfte gegenwärtig lediglich 55 Kräfte im Einsatz sind. Die Entscheidung der verwendeten Rechtschreibung und der Genderlösung ist in diesem Buch den jeweiligen Autor*innen überlassen und somit unterschiedlich. Karlsruhe, 1. August 2022 Stefan Maaß Friedensbeauftragter der Evangelischen Landeskirche in Baden

Dr. Theodor Ziegler Leiter der Fachgruppe Internationale Polizei in der Initiative »Sicherheit neu denken«

Ralf Becker / Dirk-M. Harmsen / Horst Scheffler / Theodor Ziegler

Zielperspektive Internationale Polizei und Realisierungsaspekte1

1)

Ausgangspunkte

Das Erfordernis, über eine Internationale Polizei nachzudenken, beruht auf den schrecklichen Erfahrungen mit Kriegen und den sie ermöglichenden Faktoren. Immanuel Kant sah deshalb stehende Heere kritisch, »[d]enn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg, durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, …«2 Im Blick auf die schrecklichen Erfahrungen mit dem Ersten Weltkrieg stellte beispielsweise der Völkerrechtler Hans Wehberg Mitte der 1930er Jahre konkrete Überlegungen für die Strukturierung und Aufgaben einer internationalen Polizei zur Friedenswahrung durch den Völkerbund an.3 Angesichts der seit 1945 vorhandenen atomaren Vernichtungskapazitäten sprach Carl Friedrich von Weizsäcker 1963 von der Notwendigkeit einer »Weltinnenpolitik« und davon, dass die globale Abrüstung »eines Tages in die Übertragung des Polizeimonopols an eine internationale Behörde einmünden muss.«4 Nach der Ausrufung des War-on-Terror durch die USA im Jahre 2001 erklärte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in ihrer Friedensdenkschrift von

1 Dieses am 16. Juni 2022 redaktionell abgeschlossene Kapitel fußt auf dem der Akademietagung »Weltinnenpolitik und Internationale Polizei« vom 22. bis 24. September 2021 in Bad Herrenalb zugrundeliegenden Zielperspektivenpapier, erweitert um viele Anregungen der dort gehaltenen und in diesem Buch dokumentierten Vorträge. Dafür danken wir allen Beteiligten! 2 Vgl. die Kritik Kants an Stehenden Heeren: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Kant-W. Bd. 11, 198: https://homepage.univie.ac.at/benjamin.opratko/ip2010/kant.pdf – Zif. 3 – Zugriff am 14. 11. 2021. 3 Wehberg, Hans (1935): Das Problem einer internationalen Polizei. In Friedenswarte 1935, Heft 4, S. 13ff. 4 In seiner Dankesrede bei der Friedenspreisverleihung des Deutschen Buchhandels 1963 in Frankfurt/Main. https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraegerseit-1950/1960-1969/carl-friedrich-von-weizsaecker – Zugriff am 5. 5. 2022.

14

Ralf Becker / Dirk-M. Harmsen / Horst Scheffler / Theodor Ziegler

20075: »Terrorismusbekämpfung ist kein legitimes Ziel einer über den Selbstverteidigungsfall hinaus anhaltenden Kriegführung, sondern gehört in die Kategorie der internationalen Verbrechensbekämpfung.« Die ehemalige hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann sprach sich für eine internationale, von den Vereinten Nationen bestimmte Polizei aus. Mit Blick auf den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr meinte sie: »Meines Erachtens haben nationale Armeen ihre Zeit gehabt.«6 Und »Ich sehe die Auslandseinsätze der Bundeswehr sehr kritisch. Meine Idee wäre eher die einer von den Vereinten Nationen legitimierten internationalen Polizei, die Menschenrechte durchsetzen kann.«7 Der bayrische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm beklagte, dass den Vereinten Nationen die Möglichkeit fehle, mit einer eigenen Polizei-Truppe Völkermorde oder Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.8 Die großen ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer globalisierten und technisierten Welt erfordern den Wandel von militärisch abgesicherten nationalen Außenpolitiken zu einer gemeinsamen zivilen Weltinnenpolitik. Bewirkte einst die Übertragung des Gewaltmonopols von den Kleinfürstentümern an den Nationalstaat eine interne Befriedung, so bedarf es nunmehr der Weitergabe des nationalen Gewaltmonopols an supranationale Strukturen, die dieses polizeiförmig wahrnehmen. Während die Aufstellung von Armeen an Feindbildern orientiert bzw. von entpersonalisierten Bedrohungsvorstellungen geleitet ist und ihr Kriegseinsatz Zivilbevölkerungen regelmäßig zu Schaden bringt, hat die Polizei in einem Rechtsstaat den Auftrag, die rechtsbrechende/n Person/en festzunehmen und der Gerichtsbarkeit zuzuführen. Dieses innerstaatliche Modell gilt es im Sinne einer Weltinnenpolitik auch auf die internationalen Ebene zu transferieren. Wie wäre beispielsweise die Geschichte verlaufen, wenn George W. Bush nach dem Terroranschlag am 11. September nicht den War-on-Terror ausgerufen, sondern im UN-Sicherheitsrat, der in der Verurteilung dieses Verbrechens keinen Dissens hatte, die ad-hoc-Aufstellung einer Internationalen PolizeiEinheit zur Aufklärung des Anschlags, Ermittlung und Festnahme der Attentäter und ihrer Hintermänner beantragt hätte?

5 Rat der EKD (2007): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Gütersloh, Zif. 106. 6 epd Berlin 16. 2. 2008. 7 Im Interview mit Andreas Steidel zum Titelthema: »Einsatz in Afghanistan«, Württembergisches Gemeindeblatt Nr. 37/2021. 8 epd Bayern 19. 9. 2016.

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Zielperspektive Internationale Polizei und Realisierungsaspekte

2)

Zielvorstellungen

Unsere Überlegungen für eine internationale Polizei bilden einen Baustein ziviler Sicherheitsarchitektur in der dritten Säule des Szenarios »Sicherheit-neu-denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik.«9

Zivile Sicherheitspolitik

I Gerechte Außenbeziehungen (ökologisch, sozial, wirtschaftlich)

II Nachhaltige EU-Nachbarschaft (partnerschaftlich, kooperativ)

III

IV

Internationale Sicherheitsarchitektur (inklusiv, gemeinsame Internationale Polizei)

Resiliente Demokratie (Friedensbildung, gewaltfreie Konfliktbearbeitung und zivile Krisenprävention u.a.)

V Konversion der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie (Internationales THW, Beitritt zu UN-Atomwaffenverbotsvertrag u.a.)

Abb. 1: Säulengrafik Zivile Sicherheitspolitik – Theodor Ziegler

Der hierbei zugrundgelegte zivile Sicherheitsbegriff orientiert sich an der humanen Sicherheit, dem menschlichen Grundbedürfnis, ohne Existenzsorgen und in Würde leben zu können. Im Unterschied zum auf destruktive Kapazitäten und Überlegenheit ausgerichteten militärischen Sicherheitsbegriff lässt sich die zivile Sicherheit nur in vertrauensvoller Kooperation aller Beteiligten und durch Interessensausgleich der Gegenpole erreichen. Bisherige militärische Sicherheitssysteme, von denen die Nato das größte und mächtigste darstellt, sind zwar in dem Sinne kollektiv, dass sie aus mehreren Staaten bestehen, nicht jedoch kollektiv in einem inklusiven Sinn, dass sie alle Staaten eines Kontinentes umfassen oder global alle Staaten einschließend aufgebaut sind. In einem inklusiven Sicherheitssystem werden zwischen den Vereinten Nationen und den beteiligten Nationalstaaten auf weltregionalen Ebenen vorhandene allgemeine Rechtssysteme und Sicherheitsorganisationen ausgebaut bzw., wo nicht vorhanden, aufgebaut. Wichtiger als kontinentale Zuschnitte sind dabei 9 https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/183983.

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Ralf Becker / Dirk-M. Harmsen / Horst Scheffler / Theodor Ziegler

kulturelle und historische Zusammenhänge (z. B. der südlich der Sahara befindliche Teil Afrikas, die arabische Welt in Nordafrika und Westasien, Lateinamerika). Diese weltregionalen politischen Kooperationsstrukturen bzw. Sicherheitsorganisationen bauen für ihren jeweiligen Bereich eine aus allen Mitgliedstaaten rekrutierte und finanzierte gemeinsame Internationale Polizei auf, leiten und kontrollieren diese. In Europa sind beispielsweise der Europarat oder die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) entsprechend ausbaubare Rechts- bzw. Sicherheitssysteme. Darüber hinaus verantwortet die UNO die gemeinsame Entwicklung weltregionaler polizeilicher Aus- und Fortbildungsprogramme, die polizeiliche Sicherung des internationalen See- und Luftverkehrs sowie der interkontinentalen Kommunikationsstrukturen. Ebenso kann diese UNO-Polizei bei Konfliktlagen hinzugezogen werden, bei denen anstelle oder zusätzlich zu der weltregionalen Polizei eine Verstärkung oder Präsenz von UN-Polizeieinheiten gewünscht und wirksam ist. Wenn hier nachfolgend der Begriff »Internationale Polizei« gebraucht wird, umfasst er sowohl die Internationale Polizei auf weltregionaler wie auch die auf UN-Ebene. Spezifizierungen werden erforderlichenfalls gesondert benannt. Mögliche Einsatzfelder einer Internationalen Polizei sind fragile Staaten/Regionen, in denen es zu Menschenrechtsverletzungen und gewalttätigen Konflikten kommt, die dort mit eigenen Sicherheitskräften nicht verhindert bzw. nicht unter Kontrolle gebracht werden können. Ebenso, wenn internationale Gewaltkonflikte wie Terrorismus, Piraterie in Luft- und Seefahrt, Organisierte Kriminalität, Cyber-War, Menschenhandel, Umweltschädigungen, Ausbeutungsstrukturen die vor Ort zuständigen Kräfte überfordern. Bislang bilden Konflikte dieser Art oft den Ausgangspunkt von Kriegen oder – meist nicht zielführenden – ausländischen Militärinterventionen. Drei Grundsätze: – Internationale Polizei führt keine Kriege und interveniert auch nicht in Kriegshandlungen, denn dann wäre sie Militär. – Internationale Polizei wird nur mit Mandat des globalen oder des weltregionalen kollektiven Sicherheitssystems tätig. Bei gegebenen Anlässen hat sie sich ohne Ausnahme vor zuvor vereinbarten Gerichten für ihre Einsätze zu verantworten. – Internationale Polizei soll immer in Abstimmung bzw. Kooperation mit (möglichst lokalen) Friedenskräften agieren.

Zielperspektive Internationale Polizei und Realisierungsaspekte

3)

17

Aufgabenbereiche

Allein schon die sichtbare Präsenz Internationaler Polizei in Konfliktgebieten kann zur Beruhigung beitragen. Darüber hinaus sind zu den Konfliktparteien Kontakte aufzunehmen und – in Kooperation u. a. mit Frauengruppen und einheimischen sowie internationalen Friedensfachkräften – Vermittlungen zu versuchen. Hierbei kommt auch dem Beziehungsaufbau zu Kommunalverantwortlichen und lokalen Influencer*innen und der Kooperation mit ihnen große Bedeutung zu. Für bedrohte Menschen/gruppen sind Zufluchtsorte in Lagern internationaler Organisationen zu sichern. Ebenso bildet der polizeiliche Schutz ziviler Infrastruktur eine wesentliche Aufgabe zur Gewährleistung der humanen Sicherheit. In Nach-Bürgerkriegsländern kann die Internationale Polizei den geordneten Waffenrückkauf (z. B. bei zeitgleicher Schließung des Alkoholverkaufs10) gewährleisten und damit die Entstehung von Waffen-Schwarzmärkten und Ausschreitungen verhindern. In Nachkriegssituationen kann die Internationale Polizei Waffenstillstandsvereinbarungen kontrollieren, vereinbarte Abrüstungsmaßnahmen überwachen und den internationalen Beauftragten für die Wahlbeobachtung Personenschutz geben. Eine ebenfalls wichtige Aufgabe ist, sofern nationale Polizeien damit überfordert sind, die polizeiliche Bekämpfung des Terrorismus, organisierter internationaler Kriminalität sowie die Strafverfolgung in Kooperation mit nationaler Justiz oder Wahrheits- und Versöhnungskommissionen (wenn vorhanden) oder internationalen Gerichtsbarkeiten (z. B. Internationaler Strafgerichtshof) Weitere Aufgabenbereiche bilden die Sicherung des internationalen See- und Luftverkehrs sowie die globale Cybersicherheit.

4)

Rekrutierung und Einsatz Internationaler Polizeikräfte

Für die Akzeptanz einer Internationalen Polizei in ihrer jeweiligen Weltregion ist eine proportionale Personalzusammensetzung und -gewinnung von erfahrenen Polizeikräften aus allen Ethnien, Staaten und Religionsgemeinschaften einer Weltregion entscheidend. Die weltregionale Rekrutierung verringert Sprachbarrieren, gewährleistet mehr Kultursensibilität und erleichtert somit die 10 Beim Waffenrückkauf durch Blauhelme im Rahmen der Beendigung des Bürgerkriegs in Liberia führte der Alkoholausschank zu einer Gewalteskalation. Diese konnte erst durch ein entschiedenes Eingreifen der Friedensfrauen beendet werden. Siehe den Dokumentarfilm: Reticker, Gini und Lukinson, Sara (2011). Zur Hölle mit dem Teufel – Frauen für ein freies Liberia. Stuttgart: EZEF – Evangelisches Zentrum für entwicklungsbezogene Filmarbeit.

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Kommunikationsfähigkeit im Einsatzgebiet. Ein besonderes Gewicht ist auf die Befähigung zur Deeskalation in Bedrohungssituationen und zur Mediation sowie auf die Beachtung des Do-not-harm-Prinzips zu legen.

5)

Bewaffnung

Internationale Polizeikräfte sollen, wie bei Polizeien in Rechtsstaaten üblich, ausschließlich zur persönlichen Notwehr und Nothilfe bewaffnet sein: mit nichtletalen Waffen und mit Handfeuerwaffen.

6)

Merkmale des Berufs als Internationale Polizeikraft

Der internationale Polizeieinsatz ist in berufsethischer Hinsicht als Menschenrechtsprofession zu verstehen mit Bezug auf die UN-Menschenrechtsdeklaration bzw. deren weltregionale Entsprechungen. Der Vertrauensaufbau im Einsatzgebiet erfordert mehrjährige Stehzeiten, die einer familienfreundlichen Gestaltung bedürfen. Neben der qualifizierten Ausbildung und Einsatzvorbereitung bedarf es auch einer psychologischen und seelsorgerlichen Begleitung und erforderlichenfalls der Stabilisierung durch Kriseninterventionsteams. Die mehrjährige Auslandsverwendung darf sich nicht zum Nachteil für die Weiterführung der Karriere im Heimatland erweisen, im Gegenteil: Dieses Auslandsengagement und die dabei gewonnenen Erfahrungen sind nach der Rückkehr in einer regulären Einsatznachbereitung auszuwerten und entsprechend zu würdigen. Ebenso bedarf es einer angemessenen sozialen Absicherung und Vergütung. »Internationale Polizeikräfte sind unserer Vorstellung nach ›Weltstaatsbürger in Uniform‹« Jochen Cornelius-Bundschuh, badischer Landesbischof bei der Akademietagung zur Internationalen Polizei im September 2021 in Bad Herrenalb

7)

Erforderliche Regelungen

Der Aufbau einer Internationalen Polizei bedarf der Schaffung weltregionaler Rechtsgrundlagen inklusive des Aufbaus einer gemeinsamen unabhängigen Gerichtsbarkeit, vor der sich Internationale Polizeikräfte ggfs. bei Machtmissbrauch verantworten müssen. Ebenso sind Vereinbarungen für eine gemeinsame internationale Verbrechensbekämpfung zu treffen. Es ist zu klären, welche In-

Zielperspektive Internationale Polizei und Realisierungsaspekte

19

stanz das Mandat erteilt, wer die Leitungsverantwortung hat und wer die Einsatzentscheidung trifft. Die Anstellung und Finanzierung der Polizeikräfte ist ebenfalls bei dieser internationalen Trägerorganisation vorzusehen. Ebenso sind die erforderlichen Polizeiqualifikationen für den jeweiligen Einsatzbereich zu bestimmen. Es bedarf der Dienst- und Fachaufsicht sowie einer unabhängigen Kontrollinstanz, sowohl für die Leitung wie auch für Polizeikräfte, ebenso müssen Beschwerdestellen vorhanden sein. Im Interesse einer hohen Akzeptanz und Unterstützung der Bevölkerung im Einsatzgebiet sind die Ziele und Vorgehensweisen eines Internationalen Polizeieinsatzes transparent zu machen. Das Verhältnis zu Nichtregierungsorganisationen ist bezüglich Kooperation und Abgrenzung klar zu bestimmen. Den lokalen Polizeikommandos sollten im Sinne eines Comprehensive-Approachs immer auch zivile Konflikt- und Friedensfachkräfte zugeordnet sein. BestPractice-Impulse sind international bekannt zu machen (z. B. durch Bildungsreisen und mediale Vermittlung).

8)

Noch ausstehende Klärungen

– Wie gestaltet sich eine Zusammenarbeit mit Staaten ohne Rechtsstaatlichkeit? – Was könnte die gegenwärtigen atomaren Großmächte zum Verzicht auf ihre Dominanz veranlassen? Würden sie einem Internationalen Polizeieinsatz in ihrem Machtbereich zustimmen und eine internationale Gerichtsbarkeit akzeptieren? – Wie lässt sich die Souveränitäts- und Demokratie-Balance zwischen Nationalstaaten und den neu geschaffenen internationalen Strukturen klären? – Würden die weltregionalen Mitgliedsstaaten eine zuverlässigere personelle und finanzielle Unterstützungsbereitschaft haben, als es derzeit um die Unterstützung der UNO bestellt ist? – Können sich Staaten auf weltregionaler Ebene auf Responsibility-to-protectProzeduren bei schweren Menschenrechtsverletzungen einigen? – Wie soll die Internationale Polizei reagieren, wenn Terrorgruppen und regionale Warlords mit militärischen Waffen agieren? – Wird möglicherweise auch bei Einsätzen Internationaler Polizei der Local Ownership zu geringe Beachtung geschenkt, wie es teilweise auch bei Entwicklungshilfeprojekten aus Industriestaaten der Fall ist?11

11 Vgl. Buchbeitrag von Stefan Maaß zum Buch von Séverine Autesserre: Frontlines of peace https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/252692/frontlines-of-peace-s everine-autesserre.pdf – Zugriff am 14. 11. 2021.

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Ralf Becker / Dirk-M. Harmsen / Horst Scheffler / Theodor Ziegler

– Wie können die unterschiedlichen Ausbildungsqualitäten der Entsendeländer angeglichen werden? – Welcher Polizeityp ist für die Internationale Polizei vorgesehen: Schutz-, Bereitschafts-, Ordnungs- oder Kriminalpolizei, Spezialeinheit oder Gendarmerie? Sowohl der Aufbau einer Internationalen Polizei wie auch ihre Einsätze sind mit vielen offenen Fragen verbunden. Dies sollte jedoch kein Grund sein, das Nachdenken über dieses Element einer Weltinnenpolitik aufzugeben. Denn die noch viel größeren, mit der militärischen Friedensicherung verbundenen Probleme, Kosten und Risiken geben Anlass genug, sich um alternative zivile Sicherheitskonzepte zu bemühen.

9)

Aspekte der Realisierung – weltpolitisch

Die Entwicklung einer Internationalen Polizei ist ein Element auf dem Weg zu einer zivilisierten Weltinnenpolitik bzw. Global Governance. Dabei muss von den gegenwärtigen weltpolitischen Gegebenheiten ausgegangen und die angestrebte Form des Welt- bzw. weltregionalen Regierens in den Blick genommen werden. Diesbezüglich sind folgende von Volker Rittberger12 beschriebene Modelle in Rein- oder Mischform denkbar: WELTSTAAT mit hierarchischer Ordnung Regeln vertikal mit rechtlicher Autorität

HEGEMONIE mit anarchischer Ordnung

Zentrale Sanktionen zur Regeleinhaltung Regeleinhaltung durch Furch vor Strafen oder Wohltatenentzug

Sanktionen zur Regeleinhaltung durch Hegemonen wie bei Weltstaat

Regeln vertikal ohne rechtliche Autorität

HORIZONTALE POLITIKKOORDINATION mit anarchischer Ordnung Regeln horizontal aufgrund gegenseitiger Selbstverpflichtung Regeleinhaltung durch dezentrale Sanktionen Regeleinhaltung durch Sorge vor Nachteilen (Rufschädigung, entgehende Chancen) und durch Einsicht

Tab. 1: Arten der Weltregierung nach Volker Rittberger – Theodor Ziegler

12 Rittberger, Volker: Weltregieren: Was kann es leisten? Was muss es leisten? In: Küng, Hans & Senghaas, Dieter [Hg.] (2003): Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen. München, S. 177ff.

Zielperspektive Internationale Polizei und Realisierungsaspekte WELTSTAAT mit hierarchischer Ordnung

HEGEMONIE mit anarchischer Ordnung

21

Horizontale POLITIKKOORDINATION mit anarchischer Ordnung

Abb. 2: Arten der Weltregierung nach Volker Rittberger – Theodor Ziegler

Daraus ergeben sich für eine Internationale Polizei diese Folgerungen: – Der Weltstaat – gegenwärtig nicht in Sicht – wäre als ein demokratischer vorstellbar; er könnte sich bei mangelnden demokratischen Sicherungsvorkehrungen und mangelnder demokratischer Resilienz aber auch zu einem globalen Polizeistaat Orwellscher Prägung entwickeln. Eine Vision einer demokratisch kontrollierten UN-Polizei beschreibt u. a. Klaus Moegling.13 – Bei der Hegemonie mit anarchischer Ordnung wäre die Polizei des Hegemons offen oder verdeckt mit globaler oder weltregionaler Mission unterwegs. In der gegenwärtig multipolaren Welt konkurrieren vor allem die vier großen Hegemone (USA, China, Russland und EU) um die globale Vorherrschaft. Der Aufbau einer Internationalen Polizei würde von ihnen maximal im Sinne von UN-Blauhelm-Einsätzen im Ausland geduldet werden, ohne Zugriffsmöglichkeit im je eigenen Herrschaftsbereich. – Aus demokratisch-rechtsstaatlicher Sicht wäre die horizontale Politikkoordination mit anarchischer14 Ordnung die anzustrebende Form des Welt- oder weltregionalen Regierens. Der Aufbau einer Internationalen Polizei könnte in gegenseitigem Einvernehmen, eventuell auch schrittweise erfolgen, zunächst innerhalb williger Teile einer Staatengemeinschaft. Angesichts der weltpolitischen Machtstrukturen dürfte eine Internationale Polizei nur auf dem Weg Bottom up eine Realisierungschance haben. Deshalb bedarf es gelingender Beispiele Internationaler Polizeipräsenz und -einsätze, damit 13 Moegling, Klaus (2018, 3. Aufl.): Neuordnung – Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich, Opladen, Berlin, Toronto. 14 Im positiven Wortsinn von »(vor)herrschaftsfrei«.

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Ralf Becker / Dirk-M. Harmsen / Horst Scheffler / Theodor Ziegler

diese Formen ziviler Konfliktregelung an Attraktivität gewinnen und sich verbreiten. Willige Staaten/-bündnisse beginnen in ihrem Bereich mittels konkreter Vereinbarungen über korrespondierende und terminierte sowie gegenseitig transparent kontrollierte Schritte militärischer Abrüstung. Sie integrieren die Internationale Polizei mit guter personeller und finanzieller Ausstattung in ihre nationalen Außenpolitiken. Die durch den Abbau militärischer Großwaffen eingesparten Gelder kommen direkt der Bevölkerung durch Verbesserungen z. B. im Sozial-, Bildungs- und Energiebereich zugute und verstärken somit deren Unterstützung. Der Anfang könnte auch in einem Teil einer Weltregion wie in Mittelamerika bei den Anrainerstaaten des seit über sieben Jahrzehnten entmilitarisierten Costa Ricas gemacht werden oder innerhalb der Europäischen Union15 und sich von da ausweiten. Fürsprecher und Multiplikatoren einer solchen Entwicklung könnten insbesondere die zivilgesellschaftlichen internationalen Organisationen und Religionsgemeinschaften sein, die seit Jahrzehnten für die humane Sicherheit engagiert sind und für die Überwindung von Hunger, Not und Kriegsgewalt arbeiten.

10)

Konkretion an aktuellen Konfliktbeispielen

Unsere im September 2021 angestellten Überlegungen zur Lösung des Ostukrainekonfliktes waren, dass die OSZE internationale exekutive Polizeieinheiten aus ihren Mitgliedsländern bildet, die den Waffenstillstand in einer entmilitarisierten Zone überwachen könnten. Falls auf der politischen Ebene der Klärungswille stärker wird, könnte ebenfalls die Sicherheit bei der Durchführung freier und geheimer Wahlen in den umstrittenen Gebieten gemeinsam mit internationalen Beamt*innen gewährleistet werden. Bis vor Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 war die OSZE lediglich mit Beobachter*innen im Konfliktgebiet. Mit dem russischen Überfall nahm der Ukrainekrieg seinen Ausgang, dessen baldmöglichst erhofftes Ende zum Zeitpunkt der Drucklegung noch nicht absehbar ist. Sollte es zu einem Waffenstillstand kommen, ergibt sich ebenfalls die Frage, durch wen und wie dieser kontrolliert werden kann und wer in bestimmten Gebieten für den Schutz der Zivilbevölkerung sorgen wird. Das klassische Mittel der Wahl wären UN-Blauhelmtruppen aus an diesem Konflikt unbeteiligten Staaten. Für die darauf im Rahmen von Friedensvereinbarungen folgenden Maßnahmen wie Volksabstimmungen und Wahlen in den zwischen Russland und der Ukraine umstrittenen Gebieten, bedarf es der Beobachtung 15 Vgl. Moegling, Klaus, https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/25269 7/neuordnung-und-weltinnenpolitik_moegling.pdf – Zugriff am 14. 11. 2021 ab Folie 22ff.

Zielperspektive Internationale Polizei und Realisierungsaspekte

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seitens internationaler Organisationen (UNO, OSZE, ER, IRK). Der Personenschutz dieser Mitarbeiter*innen wäre eine Aufgabe Internationaler Polizei. Ebenfalls müsste bei der Realisierung von Volkabstimmungsergebnissen die Vertreibung der minorisierten Bevölkerungsgruppen verhindert und von den Betroffenen gewünschte freiwillige Umzüge in geordneter Weise garantiert werden – ebenfalls eine mögliche Aufgabe für eine Internationale Polizei Im nun seit über einem dreiviertel Jahrhundert anhaltenden Israel-PalästinaKonflikt führen nicht einvernehmlich geregelte Streitpunkte (z. B. palästinensische Autonomie, Jerusalem-Status, Gaza-Abriegelung, Benachteiligung israelischer Araber*innen) immer wieder zu Gewalteruptionen. Sobald eine Lösung, z. B. durch eine Zweistaaten-Regelung oder durch einen Staat mit zwei Kantonen und internationaler Status für Jerusalem, vereinbart worden sein wird, könnte eine starke Präsenz internationaler Polizei – in diesem Fall nicht weltregional, sondern von der UNO – die Realisierung überwachen und garantieren. Möglicherweise könnte die Aussicht auf die Absicherung der Vereinbarungen durch eine Internationale Polizei deren Zustandekommen begünstigen. Positive Erfahrungen mit Internationaler Polizei in einem dieser Konfliktgebiete könnten auch in anderen Konfliktsituationen ermutigen, diesen Weg ziviler Konfliktbearbeitung zu beschreiten.

11)

An Vorhandenem anknüpfen

Die bisherigen Erfahrungen nationaler Polizeien bei Internationalen Polizeimissionen (IPM) der UN (überwiegend zur Ausbildung und zum CapacityBuilding nationaler Polizeien) wie auch bei der OSZE, EU, EUROPOL und INTERPOL bieten eine wichtige Grundlage für den Aufbau, die Führung, Ausrüstung und Ausbildung einer Internationalen Polizei.

12)

Internationale Polizei als gesellschaftliches Kooperationsprojekt

Das Projekt einer Internationalen Polizei entspricht zum einen den Interessen pazifistisch eingestellter Menschen, die Militär kategorisch ablehnen. Gleichfalls kommt es kritischen Militär-Befürworter*innen entgegen, die durch internationale Polizeistrukturen den Einsatz von Militär möglichst weit hinausschieben möchten. Somit könnte das Engagement für den Aufbau einer Internationalen Polizei als ein Element einer zivilisierten Welt eine gemeinsame, verbindende Aufgabe werden. Eine Transformation von der militärischen zu einer zivilen

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Ralf Becker / Dirk-M. Harmsen / Horst Scheffler / Theodor Ziegler

Sicherheitspolitik bedarf demokratischer Mehrheiten. Deshalb gilt es, in allen politischen Lagern Unterstützer*innen zu gewinnen. »Es ist nicht die Frage, ob eine Internationale Polizei möglich ist, sondern ob sie gewollt ist. Wenn ja, müssen Wege und Verbündete gesucht werden.« Theodor Ziegler, auf der Akademietagung zur Internationalen Polizei im September 2021 in Bad Herrenalb

13)

Mögliche Widerstände gegen eine Internationale Polizei

Manche Bürger*innen haben negative Erfahrungen mit Polizeieinsätzen gemacht, z. B. im gewaltfreien Widerstand gegen den Bau von Atomkraftwerken, gegen Stuttgart 21 oder gegen Militärprojekte. Aber auch die Rolle der deutschen Polizei im 2. Weltkrieg, aktuelle Pushbacks durch FRONTEX, unverhältnismäßige Polizeigewalt in den USA können Grund für Vorbehalte sein und zu einer prinzipiellen Skepsis gegenüber dem Gedanken einer Internationalen Polizei führen. Regierende könnten die Souveränität ihres Staates und ihre Autorität in Frage gestellt sehen oder es als eine Demütigung empfinden, wenn es des Einsatzes der Internationalen Polizei auf ihrem Hoheitsgebiet bedarf. In der Entwicklungszusammenarbeit engagierte Menschen könnten die Internationale Polizei als eine Form der Fremdbestimmung betrachten, die die Local Ownership bei der Konfliktbearbeitung in Frage stellt. Mit der perspektivischen Ablösung nationaler Armeen durch eine internationale Polizei könnten ebenfalls Widerstände einhergehen: Weil es Armeen seit Jahrtausenden gibt, wird ihre Abschaffung für völlig illusorisch gehalten. Unternehmer*innen und Kapitalanleger*innen im Rüstungsbereich könnten Einnahmeverluste befürchten, beim Militär bzw. in der Rüstungsindustrie Beschäftigte den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Die Vorstellung des Wegfalls militärischen Schutzes kann Bedrohungsgefühle auslösen – wenn diese nicht in Relation zu den vom Militär ausgehenden Bedrohungen gesehen werden. »Der Finanzierungsbedarf für eine Internationale Polizei ist ein starkes Argument für die Notwendigkeit militärischer Abrüstung.« Thomas Nauerth auf der Akademietagung zur Internationalen Polizei im September 2021 in Bad Herrenalb

Zielperspektive Internationale Polizei und Realisierungsaspekte

14)

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Nächste Schritte

– Publikation der Tagungsergebnisse – Bildung einer Fachgruppe Internationale Polizei aus den interessierten Tagungsbeteiligten, ihrer Organisationen und weiteren Interessierten – Aufarbeitung der OSZE-Erfahrungen mit Internationalen Polizeimissionen16 – Gespräche mit Fachwissenschaftler*innen und Fachpolitiker*innen – Forderung an die Politik: Verdoppelung der Ressourcen für internationale zivile und polizeiliche Konfliktbearbeitung – Entwicklung von Szenarien (z. B. bis 2040) – Regierungsauftrag für Machbarkeitsstudien durch verschiedene, auch der Friedensbewegung nahestehende Institute

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Konkrete Anregungen zur Optimierung der OSZE17

– Bessere Finanzierung (so betrug der administrative OSZE-Haushalt im Jahr 2020 gerade 138 Mio. Euro, der der Nato 1,8 Mrd. €) – Stärkung der Feldpräsenz – Auf Einladung auch bewaffnete Vollzugskräfte zur Unterstützung der Beobachter*innen – Bessere Aus- und Fortbildung für OSZE-Einsätze – Anreize an Polizeibeamt*innen für IP-Einsätze – Bewusstseinsbildung für mögliche Risiken – Abbau föderaler Hemmnisse zur Stärkung von Internationaler Polizei in Deutschland – Bildung eines Expert*innenpools – Strukturelle Kooperation mit UNO – Strukturreform im Ständigen Rat der EU, z. B. Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips – Gewichtlegung auf Community-Policing, Prävention und Mediation – Kontrolle durch unabhängige Beschwerdestellen und durch Gerichte – Weltregionale Aufgabenverteilung – Exitstrategie bei Mandatserteilung

16 Die OSZE wurde bei Pariser Konferenz 1990 als künftige gesamteuropäische Kooperationsstruktur betrachtet. 17 Nach Carsten Twelmeier, Leiter der Stabsstelle Internationale Zusammenarbeit der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol).

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16)

Ralf Becker / Dirk-M. Harmsen / Horst Scheffler / Theodor Ziegler

Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik

Die gegenwärtigen Kriege haben meist lange Vorläufe und internationale Interessensgegensätze im Hintergrund. Zu oft sieht die internationale Gemeinschaft deren Entstehung, Entwicklung und Zuspitzung relativ tatenlos zu. Ist dann die Eskalation zum Krieg erfolgt, wird mit enormem finanziellem und materiellem Aufwand militärisch eine Seite unterstützt oder gar selbst eingegriffen – mit der Folge vieler menschlicher Opfer und erheblicher Zerstörungen. Eine zivile Sicherheitspolitik hingegen gewichtet das Engagement um auf die Entstehung von Konflikten und deren frühzeitige Eindämmung: Durch faire und nachhaltige Wirtschaftsbeziehungen und partnerschaftliche Kooperationen auf Augenhöhe soll ein Interessensausgleich erzielt werden. Damit sind u. a. gewiss höhere, weil faire Preise für Rohstoffe verbunden. Dies dürfte jedoch aufs Ganze gesehen weitaus weniger teuer sein, als ungerechte billige Preise mit Aufrüstungskosten und hernach mit Kriegen samt ihren ganzen Begleit- und Folgeerscheinungen bezahlen zu müssen. Für trotzdem nicht auszuschließende kriminelle und terroristische Gewalterscheinungen sind die jeweiligen nationalen Polizeien zuständig, nehmen sie größere oder internationale Ausmaße an, die Internationale Polizei.

17)

Dialogprojekt Internationale Polizei

Die christlichen Volkskirchen haben seit der konstantinischen Wende im vierten Jahrhundert bis in die Gegenwart sämtliche Kriegshandlungen ihrer jeweiligen nationalen Obrigkeiten gebilligt. In Artikel 16 des auch heute noch für Kirchen in lutherischer Tradition grundlegenden Augsburger Bekenntnisses18 werden Kriegsgegner*innen verdammt. Gegenwärtig mehren sich sogar die Stimmen, die eine pazifistische Haltung als unverantwortlich kritisieren. In dieser Situation könnte ein kirchliches Engagement für eine Internationale Polizei die gegensätzlichen friedensethischen Positionen von Pazifist*innen und Militärbefürworter*innen verbinden. Im Sinne ihres biblischen Friedensauftrags und der Verantwortung für die gesamte Schöpfung könnten die Kirchen das Konzept einer Internationalen Polizei wie auch das Gesamtkonzept »Sicherheit neu denken« als einen konkreten Vorschlag für eine friedenslogische Zeitenwende in ihre Gespräche mit internationalen Partnerkirchen sowie mit politischen Verantwortungsträger*innen einbringen. 18 Es ist nach wie vor ohne jeglichen kritischen Kommentar im Anhang des Evangelischen Kirchengesangbuches enthalten und bildet mit die Grundlage der Verpflichtungserklärungen für kirchliche Ämter.

Zielperspektive Internationale Polizei und Realisierungsaspekte

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Die Fachgruppe Internationale Polizei: Ralf Becker, Evang. Akademie Baden, Koordinator der Initiative »Sicherheit neu denken« Pfr. Horst Scheffler, Ltd. Militärdekan a.D. Dr. Dirk M. Harmsen, Forum Friedensethik in der Evangelischen Landeskirche in Baden Dr. Theodor Ziegler, Forum Friedensethik in der Evangelischen Landeskirche in Baden

Teil A: Ausgangspunkte

Ullrich Hahn

Einschätzung des Militärs aus humaner und ethischer Sicht

1) Das Militär, gleich welcher Nationalität und welcher Seite, ist lebensfeindlich. Seit der Antike folgt ihm eine breite Spur von Blut und Zerstörung durch die menschliche Geschichte. Sein Zweck war und ist die Anwendung tödlicher Gewalt. Dafür ist es ausgerichtet und vorbereitet. (»Streitkräfte dienen der Androhung und Anwendung militärischer Gewalt. Wir Soldaten müssen kämpfen und töten können. Das ist der Wesenskern unseres Berufs und sein entscheidendes Merkmal.« Oberstleutnant im Generalstabsdienst der Bundeswehr Marcel Bohnert in »Der Spiegel« Nr. 32/07. 08. 2021).

2) Wegen dieser lebensfeindlichen Ausrichtung bedarf das Militär der Rechtfertigung, anders als Einrichtungen und Institutionen, die dem Leben dienen (Landwirtschaft, Handwerk, Gesundheitswesen, Bildungseinrichtungen etc.). Hier mag es zwar jeweils um die angemessene Bezahlung der Berufsträger gehen oder um umweltschonende Verfahrensweisen. Es käme aber niemand auf die Idee, von politischen Parteien ein Bekenntnis zu diesen zivilen Institutionen zu fordern, wie es für die Bundeswehr und die NATO der Fall ist. Ich habe den Eindruck und zugleich auch die Hoffnung, dass sich das Militär ohne die Stützen seiner Rechtfertigung nicht halten könne. 3) Zu diesen Rechtfertigungen gehört seit jeher die Vorstellung, die eigene Seite vertrete nur gute Ziele und benötige das Militär nur zur Verteidigung, da die andere Seite, der Feind, sonst angreifen werde, da er im Gegensatz zu uns, nur böse Ziele verfolge. Dieser verstellte Blick ist in der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts bis in die gegenwärtige Politik zu beobachten, u. a. in der Frage nach der Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg (»Dolchstoßlegende«) und dem Mythos der sauberen Wehrmacht, der noch Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Welt-

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Ullrich Hahn

kriegs in der bundesdeutschen Gesellschaft lebendig war (trotz oder gerade wegen der zweifellos deutschen Schuld am Ausbruch dieses Krieges). In seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« verweist Immanuel Kant auf den notwendigen Seitenwechsel im Blick auf die eigene Rüstung, wenn er die Abschaffung der »stehenden Heere« fordert, »denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen«. 4) Seit der Antike ist es auch eine zentrale Aufgabe der jeweils staatstragenden Religion, den Einsatz des eigenen Militärs zu rechtfertigen und das Gewissen der Soldaten zu beruhigen. Das gilt nicht nur, aber auch (mit wenigen Ausnahmen) für die christlichen Kirchen bis heute. So gab es für die deutschen protestantischen Landeskirchen seit Luthers Stellungnahme zum Bauernkrieg 1525 keine Form staatlicher Gewalt, die jeweils zu ihrer Zeit nicht von ihnen gerechtfertigt wurde (die Folter im Strafverfahren, die Todesstrafe, die Vertreibung andersdenkender Menschen, Kriege aller Art usw.). Schon lange bevor es von koalitionsfähigen Parteien gefordert wurde, bekannte sich die Evangelische Kirche in Deutschland in allen ihren Friedensschriften zu Bundeswehr und NATO. 5) Auch ohne einen realen oder vermeintlichen Feind an der Grenze werden das Militär und die Rüstungsausgaben seit Auflösung des Warschauer Pakts mit der »Internationalen Verantwortung« gerechtfertigt. Darauf beruhen heute die Auslandseinsätze der Bundeswehr und des Militärs anderer Staaten. Die wirklichen Motive hierfür sind aber zweifelhaft. Wirkliche Verantwortung besteht in erster Linie für die Folgen des eigenen Tuns. Gerade bei ausländischen Militäreinsätzen gilt aber eine völkerrechtliche Verantwortungslosigkeit für die dabei angerichteten Schäden. »Das deutsche Amtshaftungsrecht (§ 839 BGB in Verbindung mit Art.34 GG) findet auch unter der Geltung des Grundgesetzes auf Schäden keine Anwendung, die bei dem bewaffneten Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte ausländischen Bürgern zugefügt werden« (BGH, Beschluss vom 13. 07. 2016, bestätigt durch BVerfG, Beschluss vom 18. 11. 2020). Verantwortlich in diesem Sinne wäre unser Staat und auch viele andere für die zahllosen Opfer wirtschaftlicher Zerstörungen der einheimischen Märkte in Afrika und anderswo durch die ungezügelten und subventionierten Exporte, durch Überfischung ihrer Küstengewässer durch die Fangflotten der Industriestaaten, jeweils unter dem Leitbild des freien Weltmarktes.

Einschätzung des Militärs aus humaner und ethischer Sicht

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Der Gipfel der Verantwortungslosigkeit gegenüber der Menschheit ist die Bereithaltung der Atomwaffen-Arsenale, die als tickende Zeitbomben zur Vernichtung allen Lebens auf unserer Erde in der Lage sind und zu diesem Zweck bereitgehalten werden. Noch einmal Immanuel Kant: »…woraus denn folgt: dass ein Ausrottungskrieg, wo die Vertilgung beide Teile zugleich und mit dieser auch alles Recht treffen kann, den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden lassen würde. Ein solcher Krieg also, mithin auch der Gebrauch der Mittel, die dahin führen, muss schlechterdings unerlaubt sein.«

6) Nur eine neue, moderne Form der Rechtfertigung des Militärs können die angedachten »Internationalen Polizeieinheiten« sein, wenn diese Einheiten wegen der mit ihnen verbundenen Erwartung an Stärke und Durchsetzbarkeit mit Kriegswaffen ausgerüstet werden (zur Abgrenzung von Polizei- u. Kriegswaffen siehe Anlage zum Kriegswaffenkontrollgesetz). Die jeweiligen Waffensysteme in Verbindung mit dem Format der Einheiten prägen die Art des Einsatzes und die damit verbundenen Zerstörungen und Opfer, die denen des Militärs dann nicht nachstehen müssen. Die im Zweiten Weltkrieg hinter der Ostfront eingesetzten deutschen Polizeibataillone haben sich dort in gleicher Weise an den Kriegsverbrechen beteiligt wie die Einheiten der SS. 7) Als Hinderungsgrund für eine Abschaffung des Militärs und damit als Form seiner Rechtfertigung wird häufig auf eine zuvor nötige Alternative hingewiesen. Zum Militär bedarf es aber keiner Alternative. Alternativen werden benötigt, wenn etwas Notwendiges ersetzt werden soll, z. B. eine Energieform durch eine andere, konventionelle durch die biologische Landwirtschaft, Individual- durch öffentlichen Verkehr. Unrecht hingegen bedarf keiner Alternative, sondern soll ersatzlos gelassen, d. h. abgeschafft werden, wie z. B. Folter, Leibeigenschaft und Sklaverei. Auch bei diesen Menschheitsübeln hat es Jahrhunderte gedauert, bis sie überwunden wurden. Auch da ging es jeweils vom ersten Tag an darum, ihre Rechtfertigungen und angebliche Notwendigkeit im Bewusstsein der Menschheit zu überwinden. Beim Militär ist das nicht anders. Ullrich Hahn, Villingen/Schwarzwald, ist Rechtsanwalt und Präsident des deutschen Zweigs des Internationalen Versöhnungsbundes.

Thomas Hoppe

Vorrang für Gewaltprävention. Zur Bedeutung militärischer Handlungsmöglichkeiten in einem friedensethischen Gesamtkonzept

Die für alle Betroffenen erschütternden Umstände, unter denen das AfghanistanEngagement der internationalen Gemeinschaft zu Ende ging, könnten den Eindruck nahelegen, als sei damit widerlegt, dass es überhaupt politisch sinnvolle und rechtfertigungsfähige Einsätze militärischer Mittel geben könne. Die nachfolgenden Überlegungen gehen demgegenüber davon aus, dass eine solche Antwort auf die aufgeworfenen Fragen deutlich unterkomplex und damit letztlich auch ethisch nicht tragfähig wäre.

1)

Gewaltprävention als zentrales friedensethisches Desiderat

Dabei ist zunächst festzuhalten: Nicht nur konfessions-, sondern auch religionsübergreifend herrscht ein weit reichender Konsens in der Überzeugung, dass das Bemühen darum, Konflikte ohne Anwendung gewaltsamer Mittel zu bearbeiten und nach Möglichkeit zu lösen, eine primäre ethische Verpflichtung darstellt. Dies gilt wegen der vielfach irreversiblen schädigenden Wirkungen, die die Anwendung von Gewalt unvermeidlich verursacht, grundsätzlich auf der Ebene von Individuen und Gruppen ebenso wie im Hinblick auf politisches Handeln. In der Friedensethik der christlichen Kirchen wurde diese Überzeugung, in manchen kirchlichen Texten als »vorrangige Option für die Gewaltfreiheit« formuliert, in den letzten Jahrzehnten verstärkt in Erinnerung gebracht. Nach der allmählichen Entspannung und schließlich dem Ende dieser Konfrontation zweier Blöcke in den Jahren ab 1985 war der Blick aufmerksamer für die politischstrukturellen Voraussetzungen internationaler Friedenssicherung geworden – und damit für die Tatsache, dass die meisten hier relevanten politischen und gesellschaftlichen Handlungsfelder außerhalb des militärischen Bereichs liegen. Im ökumenischen Konsens darüber, dass es der zunehmenden Ausarbeitung einer differenzierten »Lehre vom gerechten Frieden« bedürfe und auf ihre Umsetzung auch mit Partnern außerhalb des christlichen Raums zu drängen sei,

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Thomas Hoppe

wurde dies über den Binnenbereich der christlichen Kirchen hinaus sichtbar. Die Ökumenische Versammlung in der DDR bestimmte die friedensethische Kernaufgabe der Gegenwart dahingehend, es müsse »schon jetzt eine Lehre vom gerechten Frieden entwickelt werden, die zugleich theologisch begründet und dialogoffen auf allgemein-menschliche Werte bezogen ist. Dies im Dialog mit Andersglaubenden und Nichtglaubenden zu erarbeiten, ist eine langfristige ökumenische Aufgabe der Kirchen« (Ökumenische Versammlung 1989, Theologische Grundlegung, Ziff. 36).

Sowohl das Friedenswort der deutschen katholischen Bischöfe (2000) wie die Friedensdenkschrift der EKD (2007) griffen diesen Perspektivenwechsel auf und entwickelten zentrale Elemente ihrer friedensethischen Argumentation von ihm her. Sie unterschieden sich daher hauptsächlich in den Akzentsetzungen, die sie in der Erläuterung der inhaltlichen Implikationen und der praktischen Konkretisierungen des Konzepts »Gerechter Friede« vornahmen. In den Erfahrungen aus Interventionen mit und ohne UN-Mandat zeigte sich seit 1990 erneut, dass nur ein friedenspolitisch eingebundenes militärisches Handeln einen Beitrag zur Friedenssicherung leisten konnte, der auch in einer längerfristigen Perspektive erfolgreich war (Hoppe 2014). Gerade in Afghanistan wurde sichtbar, welche prekären Entwicklungen eintraten, wenn diese nichtmilitärischen Aufgabenstellungen nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erhielten und die personellen wie materiellen Ressourcen, die für sie bereitgestellt wurden, unverhältnismäßig hinter denjenigen zurückblieben, die für den militärischen Teil des jeweiligen commitments zur Verfügung gestellt wurden. Ebenso wurden in anderen Kontexten bewaffneten Intervenierens die Vernachlässigung der genuin politischen Aufgaben des Friedenserhalts und deren destruktive Folgen beklagt, nicht zuletzt von militärischer Seite.

2)

Friedensethische Standards und die Praxis politischen Handelns

Im Hinblick auf die Priorität, die gewaltfreien Mitteln zur Sicherung des Friedens zukommt, lässt sich daher kein substanzieller Dissens zwischen denjenigen erkennen, die jede Anwendung von Gewalt ausnahmslos ablehnen, und denen, die sie unter extremen Umständen und bedingt, d. h. unter Einhaltung ethischer Grenzziehungen in Bezug auf das Ausmaß der anzuwendenden Gewalt, bejahen. Alle friedensethischen Debatten innerhalb der Kirchen vollziehen sich seit jeher im Gegenüber dieser beiden grundsätzlichen Positionen. In friedensethischen Stellungnahmen kommt es deswegen besonders darauf an, dass sichtbar wird, wo unterschiedliche Positionen tatsächlich auf prinzipi-

Vorrang für Gewaltprävention

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ellen Dissensen beruhen und wo vielmehr Differenzen in der Beurteilung der Faktenlage vorliegen – einschließlich dessen, was jeweils aufgrund einer bestimmten Einschätzung der gegebenen Situation für die Zukunft erwartet wird. Eine Friedensethik, die mehr anstrebt als die Vergewisserung über prinzipielle Standpunkte, muss sich deswegen auf eine sorgfältige Analyse der empirischen Voraussetzungen dafür einlassen, wie sich friedensfähige(re) Verhältnisse herbeiführen lassen. Dabei ist zudem von entscheidender Bedeutung, welches theoretische Konzept zugrunde gelegt wird, um den Charakter der internationalen Beziehungen und die in ihnen wirkenden Handlungslogiken zu beschreiben. Verschiedene Ansätze innerhalb der Theoriedebatte zu grundlegenden Fragen der internationalen Beziehungen unterscheiden sich unter anderem darin, dass sie mehr oder weniger optimistisch bzw. skeptisch in der Frage sind, wie weit sich die nutzentheoretischen Präferenzen von einzelstaatlichen Akteuren oder nichtstaatlichen Akteursgruppen verändern lassen. Diese Differenz kann sich auf politischer Ebene unmittelbar auswirken, wie am gegenwärtigen Stand der Debatte über Fragen einer Weltordnung sichtbar wird, die sich zunehmend mit den Grenzen multilateraler Institutionen und Instrumente konfrontiert sieht. Die Rückwendung gerade großer und einflussreicher Staaten zu einzelstaatlicher oder bündnispolitisch abgestützter Sicherheitsvorsorge in der Logik einer »great power competition« erweist sich vor diesem Hintergrund als keineswegs zufällig oder arbiträr, auch wenn ihre Auswirkungen problematisch sind. Denn sie können auf eine weitere Schwächung von Institutionen hinauslaufen, in denen sich bislang starke Machtasymmetrien einzelner Staaten bzw. Staatengruppen durch die Modi gemeinsamer Entscheidungsfindung abmildern ließen. In den letzten Jahren war freilich die Leistungsfähigkeit dieser Institutionen im Hinblick auf Vermittlung in Konflikten und Dämpfung von Interessengegensätzen bereits zunehmend im Schwinden begriffen. Zudem hängt das Bemühen um Gewaltprävention bzw. um die Befriedung gewaltträchtiger Zustände nicht nur von äußeren Bedingungen ab, die eigenständig zu gestalten nur bedingt in der Hand derer liegt, die unmittelbar die Überwindung der Gewalt in politischen bzw. sozialen Konflikten anstreben. Die Situation wird dadurch noch komplizierter, dass das Interesse an einer nachhaltigen Beendigung von Gewaltverhältnissen selbst den an ihnen Beteiligten nicht ohne weiteres unterstellt werden kann. Häufig werden Beendigung oder aber Fortführung und womöglich Eskalation des Gewaltgeschehens von den übergreifenden Zielsetzungen einer oder mehrerer Konfliktparteien abhängig gemacht. Wenn weitere Gewaltanwendung mehr politische oder ökonomische Vorteile zu versprechen scheint oder mit der Aussicht einhergeht, partikulare kulturelle und/oder religiöse Vorstellungen durchsetzen zu können, steht zu

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Thomas Hoppe

befürchten, dass sogar ein ausgehandelter Waffenstillstand nicht zustande kommt bzw. durchgesetzt werden kann. Auch dies wurde an der Konfliktentwicklung in Afghanistan sichtbar, als der Abzug der internationalen Truppenkontingente näher rückte, und erst recht werden nun nach seinem Abschluss die Folgen des Scheiterns einer belastbaren Verhandlungslösung täglich sichtbarer. Diese Dynamik war vorhersehbar, und viele Fachleute für die Situation im Land hatten mit zunehmender Dringlichkeit davor gewarnt, sie sich ungehindert entfalten zu lassen. Die gleichwohl zuweilen beanspruchten ethischen bzw. religiösen Rechtfertigungsgründe für die fortgesetzte Anwendung von Gewalt erweisen sich in einem solchen Fall als nur vorgeschoben, stellen mit anderen Worten einen politischen Missbrauch ethischer und/oder theologischer Argumente dar. Vor diesem Missbrauchspotential »politisierter Religion« ist kein religiöses Denksystem prinzipiell gefeit. Die Geschichte der in der antiken Staatsphilosophie entwickelten Lehre vom »gerechten Krieg«, die im Christentum rezipiert und erweitert wurde, zeigt nicht zuletzt, wie sich wichtige ihrer Autoren gegen die vielfältigen Formen missbräuchlicher Inanspruchnahme dieser Lehre zu wehren suchten, indem sie ihre Kriterien zunehmend präzise und gewaltrestriktiv formulierten. Parallel hierzu wird im Rahmen der islamischen Theologie seit Jahrhunderten um ein adäquates Verständnis dessen gerungen, was mit dem Begriff »djihad« gemeint ist. Auch hier geht es darum zu verhindern, dass aus einem ursprünglich gewaltrestriktiv formulierten ethischen Anliegen eine Rechtfertigungsideologie wird, derer sich gewaltbereite Akteure nach Belieben bedienen können.

3)

Die Aporie des Gewaltproblems und ihre ethischen Implikationen

Dabei ist weder die ausnahmslos gewaltfreie Option noch diejenige, die Gewaltanwendung unter restriktiven Bedingungen für zulässig hält, davon frei, grundsätzliche und schwerwiegende Einwände auf sich zu ziehen. Das Gewaltproblem zeigt vielmehr eine aporetische Grundstruktur, sobald man es auf seine ethischen Implikationen und faktischen Entwicklungsdynamiken hin untersucht. In seinem Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt«, der Anfang der 1920er Jahre entstand, schrieb Walter Benjamin: »Ist überhaupt gewaltlose Beilegung von Konflikten möglich? Ohne Zweifel. … Gewaltlose Einigung findet sich überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat. … Ihr tiefgreifendstes Beispiel ist vielleicht die Unterredung als eine Technik ziviler Übereinkunft betrachtet. In ihr ist

Vorrang für Gewaltprävention

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nämlich gewaltlose Einigung nicht allein möglich, sondern die prinzipielle Ausschaltung der Gewalt ist ganz ausdrücklich an einem bedeutenden Verhältnis zu belegen: an der Straflosigkeit der Lüge« (Benjamin 1999, S. 191f.).

Damit hat Benjamin jedoch zugleich einen entscheidenden Einwand formuliert, denn gerade die Möglichkeit des straflosen Lügens zerstört die Grundlagen dessen, was er als »subjektive Voraussetzung« für die Anwendung »reiner«, gewaltloser Mittel betrachtet: »Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen und was sich sonst hier noch nennen ließe« (Benjamin 1999, S. 191).

Von diesen Voraussetzungen her betrachtet, erscheinen viele vermeintlich gewaltlose Strategien als im Kern der Gewaltsamkeit verhaftet, auch wenn diese nicht physische Züge annehmen muss. Der Verzicht auf letztere entstammt vielmehr einem auf das Eigeninteresse der Beteiligten hin orientierten Folgenkalkül: die »Furcht vor gemeinsamen Nachteilen, die aus der gewaltsamen Auseinandersetzung zu entstehen drohen, wie auch immer sie ausfalle« (Benjamin 1999, S. 193).

Dies führt Benjamin schließlich zu der pessimistischen Diagnose, dass »jede Vorstellung einer irgendwie denkbaren Lösung menschlicher Aufgaben, ganz zu schweigen von einer Erlösung aus dem Bannkreis aller bisherigen weltgeschichtlichen Daseinslagen, unter völliger und prinzipieller Ausschaltung jedweder Gewalt unvollziehbar bleibt« (Benjamin 1999, S. 196).

Benjamin unterscheidet daher zwischen »rechtssetzender« und »rechtserhaltender« Gewalt, wobei letztere nur vor dem Hintergrund einer schon errichteten und öffentlich wirksam gewordenen Rechtsordnung, die es durchzusetzen gilt, auftreten kann. Fehlt es an ihr, vollständig oder in wesentlichen Elementen, so bedarf es zunächst der Rechtssetzung, die wiederum möglichst ohne den Griff zu Mitteln physischer Gewaltanwendung erfolgen soll. Insbesondere im Blick auf die Begrenzungen der Reichweite und die inhaltlichen Defizite völkerrechtlicher Regelungen lässt sich deswegen fragen, ob der Begriff der »rechtserhaltenden Gewalt«, wenn man ihn in diesem Kontext verwendet, nicht optimistischer stimmt, als es bei einem kritischen Blick auf die internationalen Beziehungen gerechtfertigt erscheint. Wie auch immer diese Frage beantwortet werden mag, ist eine Konsequenz doch unausweichlich: Wer ausschließlich für Gewalt vermeidende Strategien optiert, dem fehlen zumindest bis auf Weiteres angemessene Antworten auf die Frage, was zu tun sei, wenn schutzlose Menschen von organisierten Gruppen staatlicher, parastaatlicher oder nichtstaatlicher Gewalttäter angegriffen werden, denen es um die Unterjochung oder sogar Vernichtung ihrer Opfer geht. Ge-

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genüber systematisch durchgeführtem Genozid wie in Ruanda 1994 und anderen schweren, in großem Umfang verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit (mass atrocities) ist eine solche Position letztlich wehrlos und läuft auf unterlassene Hilfeleistung für Menschen hinaus, die geschützt bzw. gerettet werden könnten. Die persönliche Entscheidung, auf Gewaltanwendung, die gegen einen selbst gerichtet ist, unter allen Umständen zu verzichten, schließt nicht ein, dass man auch berechtigt wäre, diese Haltung einzunehmen, wenn Leib und Leben Dritter unmittelbar bedroht sind und eine realistische Chance besteht, diese Gefahr abzuwenden. Darin liegt der Grund, warum auch das Friedenswort der Evangelischen Kirche im Rheinland von 2018 bewusst anerkennt, dass es in »eng begrenzten Ausnahmesituationen« (13) einen moralisch legitimen Einsatz von rechtserhaltender Gewalt geben könne. Der hiergegen vorgebrachte Einwand, jegliche Gewalt lasse sich verhindern, wenn man früh genug die Prozesse unterbreche, die letztlich dahin führten, berücksichtigt nicht hinreichend, dass er eine andere Entscheidungssituation vor Augen hat. Das Argument geht zurück auf einen früheren Zustand des Konflikts und diagnostiziert möglicherweise durchaus zutreffend – manchmal jedoch auch kontrafaktisch –, wo Eingriffsmöglichkeiten bestanden hätten. So waren den Verantwortlichen der UNAMIR-II-Mission in Ruanda, die unter der Führung des kanadischen Generals Roméo Dallaire standen, die Vorbereitungen zum Genozid bekannt geworden (Dallaire 2004; Des Forges 1999): Die Beschaffungen großer Mengen von Äxten und Macheten, die Aufstellung von langen Listen mit Namen und Adressen derjenigen Ruandesen, die der ethnischen Gruppe der Tutsi angehörten bzw. ihr zugerechnet wurden, die systematische Erzeugung von Angst vor und Hass gegen die Tutsi von Seiten der Hutu-dominierten Regierung. Dallaire deutete die Gesamtheit der Indizien für einen unmittelbar bevorstehenden Völkermord zutreffend und alarmierte umgehend das UN-Generalsekretariat, um die Vereinten Nationen zu einem noch rechtzeitigen Handeln zu bewegen, bevor das Morden begann. Aus politischen Gründen – nach der letztlich fehlgeschlagenen UN-Mission in Somalia 1992/93 wollte keines der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates in einen erneuten Einsatz in Afrika hineingezogen werden – wurde seinem dringenden Ersuchen jedoch nicht entsprochen, und es kam nicht einmal zu einer personellen Verstärkung des UN-Kontingents. Dabei hätte bereits eine Aufstockung in bescheidenem Umfang die Schutzmöglichkeiten für die vom Genozid bedrohten Menschen wesentlich erweitert. Dallaire blieb nichts anderes übrig, als sich zu weigern, das Land zu verlassen, und zu dokumentieren, was geschah. Die Erfahrung völliger Ohnmacht gegenüber dem wochenlangen Massenmord führte zu schweren Traumata bei ihm selbst und etlichen Angehörigen des UN-Kontingents.

Vorrang für Gewaltprävention

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Eine der späteren Reaktionen auf die Erfahrungen aus Ruanda und auf ähnliche aus Bosnien (vor allem dem Massenmord an etwa 8000 männlichen muslimischen Einwohnern der bosnischen Stadt Srebrenica im Juli 1995) war die Einsetzung einer UN-Kommission unter Leitung des Diplomaten Lakhdar Brahimi. Sie sollte die Frage untersuchen, wie UN-Friedensmissionen befähigt werden konnten, ihre Mandate, die künftig einen besseren Schutz der Zivilbevölkerung einschließen sollten, tatsächlich durchzusetzen. Im so genannten Brahimi-Report (United Nations 2000) wurden daraufhin die Grundsätze dessen entwickelt, was man seither in einer Kurzformel als »robustes Peacekeeping« bezeichnete. Darin zogen die Vereinten Nationen aus der mehrfachen Erfahrung seit 1990, dass das klare Wissen um gewaltpräventive Handlungsmöglichkeiten aus unterschiedlichen Gründen keineswegs in tatsächliches Handeln münden muss, die Konsequenz, dass es ihre politische und moralische Pflicht sei, auch für diesen Fall der scheiternden Prävention noch handlungsfähig zu sein. Das am weitesten auf diese Zielsetzung hin ausgearbeitete Konzept wird als »Schutzverantwortung der Staatengemeinschaft« (Responsibility to Protect – R2P) bezeichnet und wurde von einer internationalen Arbeitsgruppe ziviler und militärischer Experten (ICISS – International Commission on Intervention and State Sovereignty), die im Auftrag der Vereinten Nationen tätig war, im Jahr 2001 vorgelegt. Es folgt dem Gedanken, dass es zuerst gelte, der Gewalt zuvorzukommen (Responsibility to Prevent), erkennt aber eine Responsibility to React – auch militärisch – bei unmittelbarer Lebensgefahr für schutzlose Menschen ausdrücklich an. Ein Einsatz, der nachhaltigen Schutz und Sicherheit im Einsatzland herbeiführen soll, muss zudem von einer entsprechenden Konfliktnachsorge und einem diesem Ziel dienenden Wiederaufbau der zivilen und politischen Strukturen begleitet sein (Responsibility to Rebuild). In ihrer Resolution 60/1 vom Oktober 2005 bekannte sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen zu diesem Konzept (Ziff. 138f.), nahm aber zugleich Abstriche gegenüber weiterreicheren Vorschlägen der ICISS-Kommission vor, was die Frage möglicher Interventionsgründe und die Modalitäten des Entscheidungsverfahrens betraf. In einer Auswertung der Erfahrungen, die insbesondere mit dem Verlauf größerer militärischer Auseinandersetzungen verbunden sind, zeigt sich freilich die andere Seite der Gewaltproblematik: Gerade eine Position, die Gewaltanwendung nur unter restriktiven Bedingungen für ethisch rechtfertigungsfähig hält, steht vor dem Problem, wie die Einhaltung der zu ziehenden Grenzen im konkreten Fall sichergestellt werden kann. Judith Butler beschreibt das Problem folgendermaßen: »Ganz unabhängig von den eifrigsten Bemühungen, Gewalt nur als Mittel und nicht als Zweck einzusetzen, kann der Einsatz von Gewalt als Mittel ungewollt selbst zum Zweck

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Thomas Hoppe

werden und zu neuer Gewalt führen, Gewalt erneut entfachen und weitere Gewalt rechtfertigen. Gewalt erschöpft sich nicht in der Verwirklichung eines gerechten Zwecks, sondern erneuert sich vielmehr in Richtungen jenseits von Intention und instrumenteller Planung« (Butler 2020, S. 34). »Auch der so genannte ›gerechte Krieg‹ geht mit dem Risiko von Zerstörungen einher, die über das ausdrückliche Kriegsziel, seinen wohl erwogenen Zweck hinausreichen« (Butler 2020, S. 193).

Auf den ersten Blick vergleichsweise einfach lösbar erscheint die Aufgabe, die eingesetzte Gewalt zu beherrschen und zu begrenzen, nur in dem seltenen Fall stark asymmetrischer Kräfteverhältnisse, so dass eine Seite den Kampf mit überwältigender Überlegenheit führen und die Phase der Gewaltanwendung nach sehr kurzer Zeit beendet werden kann. Aber selbst hier ist zu fragen: Bedeutet »überwältigende Überlegenheit« nicht oft zugleich ein überwältigendes Ausmaß der zu erwartenden Gewalt, wenn auch in kurzer Frist? Das war das Problem im zweiten Golfkrieg im Januar/Februar 1991. Viel häufiger ist jedoch damit zu rechnen, dass einmal begonnene militärische Auseinandersetzungen sich in die Länge ziehen. Obwohl sie schon dadurch immer höhere Opfer fordern, können sie letztlich politisch von der zahlenmäßig wie waffentechnisch überlegenen Seite verloren werden, auch wenn sich der Konflikt militärisch nicht entscheiden lässt. Wiederum ist Afghanistan ein Beispiel für diese verhängnisvolle Verlaufsrichtung einer bewaffneten Auseinandersetzung, deren Gewaltphase sich nicht in vorhersehbarer Zeit beenden lässt (protracted war). Darüber hinaus wohnt jedem gewaltförmig ausgetragenen Konflikt die Tendenz inne, zu eskalieren: Einerseits durch die Eigendynamiken der Gewaltanwendung selbst, andererseits deswegen, weil die Bereitschaft, die Kampfhandlungen zu beenden, auf allen Seiten umso geringer wird, je höher die bisher zu beklagenden Opfer sind – diese sollen schließlich nicht umsonst erbracht worden sein. Wenn sich der bewaffnete Konflikt in die Länge zieht, sinken daher die Chancen auf eine Beendigung der Gewaltanwendung, bis die immer weiter steigenden Opferzahlen schließlich doch zu einer grundsätzlichen Revision des eigenen Vorgehens nötigen. Veranschaulichen lässt sich dieses Problem am Konflikt zwischen dem US-amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson und seinem Verteidigungsminister Robert S. McNamara im Jahr 1967, in dem es um die Vietnampolitik der USA ging. Unabhängig von der Problematik, das eingesetzte Gewaltniveau gegen die Dynamiken der Eskalation begrenzt zu halten, hatten überdies beide erhebliche Zweifel daran, dass es die politischen Umstände, unter denen es zu einem militärischen Engagement in Vietnam gekommen war, zuließen, ihn als einen »just war« im Sinne der ethischen Kriterien dieses Konzepts zu rechtfertigen. Darin lag

Vorrang für Gewaltprävention

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zugleich der moralische Kern der zunehmenden öffentlichen Proteste gegen den Vietnamkrieg, nicht nur in Westeuropa, sondern gerade auch in den USA selbst. Der Abzug aus Saigon im Jahr 1975 fand jedoch nicht nur unter demütigenden Bedingungen statt, sondern zog jahrelanges Flüchtlingselend für viele Südvietnamesen nach sich, die vor der Rache der Nordvietnamesen und des Vietcong flohen. Wie man einen Krieg beendet, ohne damit von neuem ethisch nicht annehmbare Verhältnisse entstehen zu lassen, erweist sich so als eine der wichtigsten Aufgaben für politische und strategische Planung während der noch laufenden Auseinandersetzungen. Die beschriebenen, vielfach miteinander verflochtenen Zusammenhänge wirken insgesamt dem Bemühen entgegen, in bewaffneten Konflikten dem ethischen Gebot der Gewaltminimierung zu entsprechen, das überdies zugleich ein Gebot politischer Klugheit ist. Für eine ethische Position, die Gewalt unter restriktiven Bedingungen für zulässig hält, bedeutet dies, in vielen Fällen nicht hinreichend plausibel machen zu können, dass ihre Forderungen, die sich ethisch durchaus überzeugend begründen lassen, in der politischen Praxis realisierbar sind. Ohne explizit verbalisiert zu werden, durchzieht die beschriebene aporetische Struktur des Gewaltproblems auch die friedenspolitische Kundgebung der EKDSynode von 2019, und darüber hinaus zahlreiche andere Verlautbarungen der Kirchen zu friedensethischen Fragen, wie ein roter Faden. Umso mehr gilt es das weite Spektrum der Möglichkeiten zu betonen, in der internationalen Politik wie in der eigenen Gesellschaft dazu beizutragen, dass in Konflikten, wenn sie sich schon nicht vermeiden lassen, wenigstens keine Gewalt angewendet wird. Durch die Nutzung der Methoden der Gewaltprävention wird also im günstigen Fall erreicht, dass eine Situation, in der es keine ethisch unproblematischen Handlungsalternativen mehr gibt, gar nicht erst eintritt. Aus Sicht beider friedensethischer Grundpositionen kann dieses Anliegen nur nachdrückliche Unterstützung finden.

4)

Vertrauensbildung in den internationalen Beziehungen – ein Ausweg aus der Aporie der Gewalt?

Allerdings zeigt sich eine folgenreiche Schwäche der Argumentation der EKDKundgebung dort, wo es nach einer eingehenden Sichtung der aktuellen politischen, gesellschaftlichen und rüstungstechnischen Gefahrenpotentiale heißt: »Vertrauen ist die Grundlage jeder Friedenspolitik und der Schlüssel zu nuklearer Abrüstung« (Evangelische Kirche in Deutschland 2019).

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Thomas Hoppe

Das Fehlen dieses Vertrauens stellt jedoch gerade einen der Hauptgründe für die gegenwärtige Krise der multilateralen Friedenssicherung dar. Daher wäre es wichtig, der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen nachzugehen, solches Vertrauen zu begründen, aber eben auch nach den Hindernissen dafür zu fragen. Dort, wo Macht asymmetrisch verteilt ist, also einzelne Staaten im Verhältnis zu anderen Staaten erheblich überlegene Mittel ins Spiel bringen könnten, tritt diese Problematik noch verschärft zutage. Sie wird nicht zuletzt sichtbar an den Belastungsgrenzen, an die klassische politische Bündnisse zwischen einzelnen Staaten und Staatengruppen in schweren Krisensituationen immer wieder stießen und stoßen. Für diese und etliche weitere Implikationen des »Sicherheitsdilemmas« und die daraus folgenden Konsequenzen existiert bis heute keine überzeugende Lösung. Vorschläge zum Umgang mit den damit einhergehenden Gefahren gelten daher der Minderung ihres Risikopotentials, ohne die dadurch definierte internationale Situation grundlegend verändern zu können. Mangelndes oder gänzlich fehlendes Vertrauen ist zugleich eine wesentliche Ursache dafür, dass sich gerade lang andauernde Konflikte so schwer befrieden lassen. So gilt für Mittel- und Osteuropa wie für den Nahen und Mittleren Osten, dass die Einstellungsmuster der einander befehdenden Parteien oft erst verständlich werden, wenn man sie vor dem Hintergrund einer teils Jahrhunderte langen wechselvollen Geschichte zur Kenntnis nimmt. Sie brachte oftmals negative Erfahrungen nicht nur mit Nachbarstaaten oder benachbarten ethnischen und/oder religiösen Gruppierungen, sondern auch mit intervenierenden Mächten von außerhalb der Region mit sich. Dem Ziel des gerechten Friedens näher zu kommen, verlangt daher gerade auch auf diesem Gebiet ein engagiertes Zusammenwirken von Pazifisten und Nichtpazifisten, das nicht an den Grenzen einer verfassten partikularen Kirchengemeinschaft enden darf. Kritisch zu prüfen sind in die Narrative, die in diesem Kontext begegnen und oft bis heute Vereinseitigungen zu Lasten der gegnerischen Gruppierung beinhalten. Im Kontext des Balkankonflikts ab 1991 ließ sich vor allem auf serbischer und auf kroatischer Seite studieren, wie eine selektive Geschichtserzählung als Legitimierungsstrategie aktueller Gewalt und zur Produktion von kollektiven Feindbildern, ohne die solche Gewaltanwendung nicht möglich wird, verwendet werden kann. Denn ungeachtet ihres Wahrheitswertes erzeugen selektive Narrative insofern neue soziale Realität, als Menschen, die sie sich ungeprüft zu eigen machen, aus den damit verbundenen Überzeugungsgewissheiten heraus handeln und erneut Gewaltakte mit ihren irreversiblen Folgen begehen. Was als »Kreislauf der Gewalt« beschrieben wird, ist dann aber eben kein unausweichlicher, nahezu schicksalhafter Geschehensablauf, sondern ein Ereigniszusammenhang, der sich unterbrechen und dessen Richtung sich korrigieren lässt, indem man die Perzeptionen und Einstellungsmuster der Kon-

Vorrang für Gewaltprävention

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fliktbeteiligten selbst zu verändern sucht – vor allem das Bild, das sie im Blick auf die gegnerische soziale Gruppe beherrscht.

5)

Umgang mit Gewaltmitteln aus einem Ethos der Prävention und Minimierung von Gewalt

Die Struktur der moralischen Wirklichkeit weist, wie gezeigt, im Kontext von Gewaltanwendung aporetische Züge auf. In dieser Aporie liegt letztlich begründet, dass zwar auf der einen Seite ein starkes Desiderat darin besteht, die Rolle von Streitkräften zu minimieren – dass aber auf der anderen Seite die Fähigkeit erhalten bleiben muss, den friedensethischen Auftrag, Leben, Menschenwürde und Menschenrechte weltweit schützen zu können, so weit wie möglich zu verwirklichen. Denn dieser Auftrag sieht sich nicht den Partikularinteressen eines Staates verpflichtet, sondern dem Schutz grundlegender Güter für jeden Menschen. Deswegen kommt es darauf an, nicht nur Politikerinnen und Politiker, Soldatinnen und Soldaten, sondern alle Bürgerinnen und Bürger in der von zunehmenden Interdependenzen geprägten Weltsituation der Gegenwart für diese ethischen Dimensionen politischer Friedenssicherung zu sensibilisieren – aber auch, sie zum wachsamen Umgang mit den Fragen und Herausforderungen zu befähigen, die ihnen in der Realisierung dieser Aufgabe begegnen und die – jedenfalls in den meisten Fällen – keine einfachen Antworten ermöglichen. Prof. Dr. Thomas Hoppe lehrt an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg katholische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Sozialwissenschaften und der Sozialethik

Literatur Benjamin, Walter (1999). Zur Kritik der Gewalt. In Gesammelte Schriften II.1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 197–204. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2020). Die Macht der Gewaltlosigkeit. Berlin: Suhrkamp. Dallaire, Roméo (2004). Shake Hands with the Devil – The Failure of Humanity in Rwanda. London: Random House. Des Forges, Alison (1999). »Leave None to Tell the Story«. Genocide in Rwanda. New York: Human Rights Watch. Die deutschen Bischöfe (Hrsg.). (2000). Gerechter Friede. Bonn: Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz.

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Thomas Hoppe

Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.). (2007). Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/2007_ekd_friedensdenksc hrift.pdf. Zugegriffen: 18. Januar 2021. Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.). (2019). Kundgebung der 12. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 6. Tagung »Kirche auf dem Weg der Gerechtigkeit und des Friedens«. https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/KundgebungKirche-auf-dem-Weg-der-Gerechtigkeit-und-des-Friedens.pdf. Zugegriffen: 18. Januar 2021. Evangelische Kirche im Rheinland (Hrsg.). (2018). Friedenswort 2018 »Auf dem Weg zum gerechten Frieden« anlässlich des Endes des Ersten Weltkrieges, https://www.ekir.de /www/downloads/DS28FriedenswortEKiR2018.pdf. Zugegriffen: 18. Januar 2021. Hoppe, Thomas (Hrsg.). (2014). Verantwortung zu schützen. Interventionspolitik seit 1990 – eine friedensethische Bilanz. Berlin: Dr. Köster. International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS). (2001). The Responsibility to Protect. Ottawa: International Development Research Centre. Ökumenische Versammlung in der DDR. (1989). Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Dresden – Magdeburg – Dresden. http://www.ekmd.de/attachment/aa234c 91bdabf36adbf227d333e5305b/1e01a4aaf49f4e41a4a11e0bcbc61b47dbfc6d3c6d3/Text e_Oekumenische_Versammlung_1989.pdf Zugegriffen: 11. 4. 2021. United Nations. (2000). Report of the Panel on United Nations Peace Operations (»Brahimi Report«). New York. http://undocs.org/A/55/305 Zugegriffen: 11. 4. 2021.

Traugott Schächtele

Lyrik: neuanfänge

immer neu geschunden weint die ausgetrocknete erde keine träne mehr einem gierigen ungeheuer gleich frisst sich der aufgeblähte fluss durch unrettbar verlorene heimeligkeit weiße flecken auf der landkarte der gerechtigkeit rettender impfstoff gehortet in gesicherten kühlschränken der wenigen mit sicherheit kein ausweg ohne

48 den gang übers wasser riskierten vertrauens in neuem denken könnte sich die zukunft einen ungeahnten weg bahnen

Traugott Schächtele

Dirk-M. Harmsen

Hans-Georg Ehrhart: »Mythos ›Robuste Militärinterventionen können dabei helfen, Konflikte im Globalen Süden zu lösen‹«

Hans-Georg Ehrhart1 ist der Autor des Papiers »Mythos ›Robuste Militärinterventionen können dabei helfen, Konflikte im Globalen Süden zu lösen‹«.2 Dessen Inhalt möchte ich im Folgenden kurz zusammenfassen. Zunächst jedoch noch einige Worte zum Autor dieses Mythos: Dr. Ehrhart hat an der Universität Bonn Soziologie und Philosophie studiert. Er war seit 1989 Mitarbeiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind europäische Sicherheit und Formenwandel des Krieges. Um die Aussage »Robuste Militärinterventionen können dabei helfen, Konflikte im Globalen Süden zu lösen« als Mythos zu entlarven, beschreibt HansGeorg Ehrhart zunächst die sicherheitspolitische Lage der vergangenen etwa 30 Jahre aus bundesrepublikanischer bzw. europäischer Sicht. »Wir leben in einer globalisierten, vernetzten und interdependenten Welt, die bei allen positiven Errungenschaften auch sehr konfliktreich ist. Darum haben in den letzten drei Jahrzehnten insbesondere die Staaten des Globalen Nordens verstärkt militärisch interveniert, d. h. sie haben militärische Mittel zur Erreichung politischer Ziele in einem anderen Land eingesetzt. Mal überwog das Allgemeininteresse, dann wurde mit UNMandat interveniert, mal das Eigeninteresse, dann ohne UN-Mandat. Die Interventionen finden (…) statt mit dem deklarierten Ziel, globalen Sicherheitsrisiken wie beispielsweise Terrorismus oder Staatszerfall zu begegnen. Dabei wird die Welt oftmals in einem binären Schema imaginiert: Auf der einen Seite die bedrohte Zone des Friedens, die die demokratischen Staaten des Globalen Nordens umfasst, auf der anderen

1 Dr. Hans-Georg Ehrhart ist Mitglied der Studiengruppe »Europäische Sicherheit und Frieden« der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), die sich seit 2017 als eine ihrer ersten Aufgaben der Untersuchung wichtiger Mythen im Bereich deutscher Außen- und Sicherheitspolitik widmete. Mythen bezeichnen hier zu Gewissheiten geronnene Glaubenssätze. Sie fördern politische Entscheidungen, die von problematisierungs-bedürftigen Voraussetzungen ausgehen. 2 https://vdw-ev.de/wp-content/uploads/2019/07/Mythos-Robuste-Milit%C3%A4rintervention en-Hans-Georg-Ehrhart.pdf.

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Dirk-M. Harmsen

Seite die bedrohliche Zone des Konflikts, die die nicht-demokratischen Staaten des Globalen Südens einschließt.«

Ehrhardt erinnert an die mehrere Jahrhunderte andauernde Kolonisierung des Globalen Südens durch die Staaten des Globalen Nordens: »Die Phase des Kolonialismus kennzeichnet die Inbesitznahme auswärtiger Territorien und die Unterwerfung, Vertreibung oder Ermordung der ansässigen Bevölkerung. Es ging u. a. um wirtschaftlichen Gewinn, Sicherung von Rohstoffen, Machtrivalität und Prestige. Die Kolonialzeit endete formal mit der Gründung der Vereinten Nationen als Konzept gleichwertiger Nationen, dauerte faktisch aber deutlich länger. Der Ost-West-Konflikt führte zum Kalten Krieg und zum Gleichgewicht des Schreckens und im Süden zu einer Überlagerung lokaler Konflikte durch den machtpolitischen und ideologischen Großkonflikt. (…) In der Phase nach dem Ende des Kalten Krieges und bis in die 2000er Jahre hinein, also auf dem Höhepunkt der unipolaren Weltordnung mit der unbestrittenen Führungsmacht USA, verstärkte sich die Interventionstätigkeit. Die Art der Interventionen veränderte sich zunächst im Rahmen der Vereinten Nationen von traditionellem Peacekeeping zu robusten, also den Einsatz militärischer Zwangsmittel erlaubende »Friedensoperationen«. Demokratisierung und wirtschaftliche Liberalisierung sollten zu einer Ausdehnung der Zone des Friedens führen. Später intervenierten die Großmächte vermehrt eigenmächtig. Das weitgehende Scheitern der Demokratisierungsversuche (…) führte zu mehr machtpolitischer Rivalität. Nationenbildung durch Demokratisierung ist seitdem dem bescheideneren Ziel der Stabilisierung im Sinne von Stärkung und Unterstützung der Regierung, wie etwa in Afghanistan, Mali oder in Syrien gewichen. Die Staaten des Globalen Nordens passen ihre Interventionspraktiken an, indem sie verstärkt aus der Distanz (z. B. Luftschläge), indirekt (z. B. Ausbildung und Ausrüstung) und verdeckt (z. B. Spezialkräfte) operieren, während die Staaten des Globalen Südens für »boots on the ground« zuständig sind. Haben die verschiedenen Interventionspraktiken seit Ende der 1980er Jahre zur Lösung von Konflikten im Globalen Süden beigetragen? Angesichts der dürftigen Bilanz lässt sich sagen: Es kommt darauf an. Es gab zwar vereinzelte Erfolge, wie etwa die UNIntervention in Mosambik zur Unterstützung der Umsetzung des Friedensabkommens 1992–1994. Diese erfolgte nach dem klassischen Peacekeeping-Ansatz, der auf der Unparteilichkeit der intervenierenden Partei und dem Einverständnis der Konfliktparteien beruht. Davon zu unterscheiden sind robuste Einsätze zur Erzwingung des politischen Ziels. Diese sind mittlerweile üblich, ob mit oder ohne UN-Mandat. Die Tatsache, dass sich die Zahl der Interventionen in interne Konflikte seit 9/11 mehr als verdoppelt hat, belegt zunächst, dass insbesondere die Staaten des Globalen Nordens interventionsfreudiger geworden sind. Die dabei erlittenen eigenen Verluste waren zwar gering, doch die strategisch-politischen Ziele wurden oftmals nicht oder nur partiell erreicht.«

Dieser Befund wird von Ehrhardt durch eine sechsteilige Reihe von Argumenten untermauert, die ich hier stichwortartig benenne: – Historische Argumente (zur Bildung demokratischer Staaten) – Völkerrechtliche Argumente

Hans-Georg Ehrhart: »Mythos«

– – – –

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Sicherheitspolitische Argumente Entwicklungspolitische Argumente Demokratietheoretische Argumente sowie Ethische Argumente.

Zusammenfassend stellt Ehrhardt fest, »dass robuste militärische Interventionen in der Regel nicht dazu beitragen, Konflikte im Globalen Süden zu lösen. Sie verstärken und verlängern eher die Probleme. Daraus folgt aber nicht, dass die internationale Gemeinschaft nichts tun sollte. Sie kann und sollte notfalls auch militärisch intervenieren, wenn die völkerrechtlichen, politischen und ethischen Voraussetzungen erfüllt sind. Traditionelles Peacekeeping sollte (…) gegenüber der robusten Friedenserzwingung den Vorrang haben. Viel wichtiger wäre es aber, den friedlichen Wandel von Gesellschaften zu unterstützen. Die entsprechenden Friedensstrategien sind alle bekannt, z. B. Frieden durch Recht, durch Demokratie, durch Interdependenz, Frieden durch internationale Institutionen, durch Verteilungsgerechtigkeit, durch Mediation, Frieden durch Diplomatie, durch Konfliktprävention (…) oder Frieden durch Entwicklung. Eine durchdachte und abgestimmte Kombination dieser Friedensstrategien könnte eher dabei helfen, Konflikte im Globalen Süden (und nicht nur dort) zu lösen.«

Ende meiner kurzen Zusammenfassung. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Dr. Dirk-M. Harmsen, Karlsruhe, ist Kernphysiker, Geschäftsführer des Forum Friedensethik in der Evangelischen Landeskirche in Baden (FFE) und Mitglied der Projektgruppe des Szenarios Sicherheit-neu-denken.

Horst Scheffler

Dan Krause: »Stabilisierung im Treibsand? Über Illusionen, Fehler und Erfolgsbedingungen westlicher Stabilisierungsbemühungen«

»Die Guerilla gewinnt. wenn sie nicht verliert. Die konventionelle Armee verliert, wenn sie nicht gewinnt.« (Henry A. Kissinger) »Kein Mensch hat bisher glaubhaft machen können, dass Bodentruppen, egal welcher Größe, imstande sind, einen Guerillakrieg zu gewinnen« (Clark Clifford)

Die Statements zweier US-amerikanischer Minister, Außenminister Kissinger und Verteidigungsminister Clifford, bezogen sich auf den Krieg in Vietnam. Inzwischen wurden sie im »Krieg gegen den Terror« in Afghanistan bestätigt. Die Gründe, warum hochgerüstete und überlegene Armeen die Kriege gegen Guerrilla-, Terror- oder Partisanengruppen nicht gewinnen, hat Dan Krause, Oberstleutnant d. R. und wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg, untersucht. Ich referiere seinen Aufsatz »Stabilisierung im Treibsand? Von Illusionen, Fehlern und Erfolgsbedingungen westlicher Stabilisierungsbemühungen«.1

1)

Primat der Innenpolitik und ungenügende Kenntnisse der Konflikte

Am Beispiel Malis zeigt Krause zunächst, dass dort bereits seit zwanzig Jahren westliche Staaten präsent sind, ohne dass es gelungen wäre trotz immenser Anstrengungen, die Sicherheitslage zu stabilisieren und die Fähigkeiten der malischen Armee zu erhöhen. Zugleich verweist er auf Parallelen in Vietnam und in Afghanistan. Er stellt fest: »Ein Vergleich der Stabilisierungsbemühungen in Vietnam, Afghanistan und Mali zeigt, dass das eigene Handeln vorrangig innenpolitischem Druck entspringt, einem innenpolitischen Primat unterliegt und 1 IF Zeitschrift für Innere Führung, Heft 3/2020, S. 15–22. https://www.bundeswehr.de/resource /blob/272208/bac1b28cafc61e816aab5dae46c29fa4/if-zeitschrift-fuer-innere-fuehrung-03-202 0-data.pdf.

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Horst Scheffler

vor dem Hintergrund und den Reaktionen der heimischen Wähler bewertet wird.« Die für eine erfolgreiche Mission eigentlich unabdingbare Akzeptanz der lokalen Bevölkerung und der Hauptakteure im Einsatzland, die dem Grundsatz der Selbstbestimmung entspreche, bleibt hinter den eigenen Interessen weit zurück. Diese stimmen oftmals mit den Interessen der lokalen Akteure nicht überein oder stehen gar im Widerspruch zu einer möglichen Konfliktlösung. Hierzu beobachtet Krause ungenügende Kenntnisse über die Konfliktlage bei den Intervenierenden. »Eine wirkliche Kenntnis und ein tieferes Verständnis der Länder der Region, der Kulturen sowie der kriegerischen Konflikte, ihrer Ursachen und in- und externen Akteure fehlt den Interventen zumeist.«

2)

Überhöhte Erwartungen, keine Exitstrategie

Ebenfalls gemeinsam sei den Einsätzen, dass diese ohne klare Vorstellungen und Strategie hinsichtlich des angestrebten Endzustandes oder gemeinsam vereinbarter Exit-Kriterien begonnen wurden. Stattdessen würden die Missionen im Laufe der Zeit mit immer komplexeren und völlig unrealistischen Erwartungen und Aufgaben überfrachtet. Nach militärischen Anfangserfolgen verschlechtere sich trotz erheblicher Interventionen die Sicherheitslage. In der Folge werde die Priorität noch stärker auf die sicherheitspolitische Dimension zulasten entwicklungspolitischer Ziele und politischer Reformen gelegt.

3)

Schwache Partner und die falschen Verbündeten

Dass trotz der Steigerung des Einsatzes mit mehr Soldaten und mehr Geld sich kein Erfolg einstellt, liegt an den lokalen Partnern, die in vielen Fällen schwach, gering legitimiert und korrupt sind. Ihre schlechte Regierungsführung werde durch die Anwesenheit potenter westlicher Geldgeber und die massenhafte Lieferung von Ausrüstung und stetige Finanzströme noch verstärkt. Das Interesse der lokalen Partner gelte zudem oft nicht der Beendigung, sondern dem kontrollierten Erhalt des Konflikts, »weil die ausländischen Truppen Sicherheit und einen stetigen Zufluss an Geld und Ausrüstung, also Machtressourcen garantieren.«

Dan Krause: »Stabilisierung im Treibsand?«

4)

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Prävention und Mediation

Abschließend rückt Krause Prävention und Mediation in den Fokus. Eindeutig sollte die Prävention in den Mittelpunkt gestellt werden. »Sind Konflikte erst einmal ausgebrochen, sind erfolgreiche Stabilisierungsmaßnahmen angesichts der oben aufgezeigten Schwierigkeiten extrem schwierig zu erreichen und verdammt teuer; um ein Vielfaches teurer als intensive, jahrzehntelange Prävention«. Für den Fall einer begrenzten militärischen Intervention rät Krause zur Demut und zu realistischen Zielen unter Einbeziehung aller am Konflikt beteiligten, ausdrücklich einschließlich der problematischen Akteure. Zwingend für den Erfolg von Stabilisierungseinsätzen sei die Existenz einer umfassenden Strategie mit politischen Prozessen zur Konfliktlösung unter Berücksichtigung aller Instrumente auswärtigen Handelns und der konsequenten Anwendung der vorhandenen Konzepte zur Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedenssicherung. Pfr. Horst Scheffler, Zornheim, ist Theologe und Pädagoge, Leitender Militärdekan a.D. und ehemaliger Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF).

Traugott Schächtele

Lyrik: mehr nicht

ein bisschen frieden für dreißig silberlinge verschleudert nicht unterwegs in das land wo milch und honig fließen keine visionen vom brautgeschmückt herabsteigenden neuen jerusalem barmherzigkeit als zu kostspielig verfemt wäre da nicht die hüterin des dennoch ich an dir dazwischen gefahren garaus wäre es

58 mit meinem hochmut ein wunder der liebe dass ich lebe

Traugott Schächtele

Stefan Maaß

Séverine Autesserre: »Frontlines of Peace. An Insider’s guide to changing the world.«

Seit Jahrzehnten gibt es UN-Friedensmissionen mit dem Ziel, den Frieden in Konfliktgebieten herzustellen. Die franko-amerikanische Politikwissenschaftlerin Séverine Autesserre zeigt in ihrem neuen Buch »Frontlines of Peace«, weshalb viele dieser Einsätze nicht erfolgreich sind und teilweise sogar das Gegenteil bewirken. Im Folgenden werde ich die Kritik Autesserres an den gängigen Friedensmissionen und ihre Alternative skizzieren.1 Séverine Autesserre ist Professorin am Barnard-College der Columbia-University in New York mit den Schwerpunkten Bürgerkriege, Peacebuilding und Peacekeeping. Für ihre wissenschaftliche Untersuchungen der Friedensmissionen begleitete sie die Einsätze vor Ort. Sie forschte in zwölf Konfliktzonen, unter anderem in Afghanistan, in der Demokratischen Republik Kongo, in Israel, Kolumbien, Nicaragua und Somaliland. Sie hat auch eigene Erfahrungen mit humanitären Einsätzen (Ärzte ohne Grenzen) und konnte dabei bestimmte Muster feststellen, die eine effektive Hilfe erschweren oder sogar verhindern. Zu Beginn zwei Beispiele, die die Möglichkeiten von Friedensherstellung verdeutlichen. Im ersten Beispiel wird gezeigt, wie die Bewohner*innen einer Insel den Krieg fernhalten, der um sie herum geschieht. Im zweiten Beispiel wird aufgezeigt, wie eine wirksame Hilfe von außen funktioniert.

1)

Idjwi – Die Friedensinsel

In der Demokratischen Republik Kongo fand über viele Jahre ein fürchterlicher Bürgerkrieg statt. Dieser konnte jedoch nicht auf die 285 qkm große kongolesische Insel Idjwi im Kiwu-See übergreifen. Als Autesserre in den Jahren 2016 und 2019 die Insel besuchte, stellte sie fest, dass die Bewohner*innen nicht über die letzten Massaker oder Kämpfe sprachen, wie in den anderen Teilen des östlichen Kongo. Sie sprachen über ihren Alltag, ganz ohne die Angst, die in den 1 Die Seitenzahlen im Buch sind hier in Klammern angegeben.

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Stefan Maaß

nur wenige Meilen entfernten Orten vorherrschte (S. 23f). Wie ist dies zu erklären? Idjwi liegt im Epizentrum kriegerischer Gewalt. In den Jahren 1994 bis 1996 gab es dort ein Militärlager. Die Insel war auch ein Umschlagplatz für Schmuggler und Waffenhändler. Es gibt dort den seltenen und deshalb begehrten Rohstoff Coltan (S. 29). Und so stellt sich die Frage, weshalb der Krieg dort nicht stattfand. Séverine Autesserre reiste seit dem Jahr 2001 oft in die Demokratische Republik Kongo und stellte fest, dass auch die Menschen im restlichen Kongo keine Erklärung dafür hatten, weshalb dort der Bürgerkrieg nicht stattfand, obwohl ähnlich ungünstige Bedingungen herrschten, wie im restlichen Kongo (S. 28). Manche vermuteten, dass es keine ethnischen Spannungen auf der Insel gibt. Doch auch dies traf nicht zu. Zwischen den beiden ansässigen Völkern der Hawu (90 % der Bevölkerung) und der zweitgrößten Gruppe der Pygmäen (5 % der Bevölkerung) herrschten massive Spannungen. Dennoch waren im Jahr 2012 »nur« sechs Tote zu beklagen (S. 34). Die Insel ist unterteilt in zwei »Königreiche«, die sich verbal bekämpfen, ohne dass es bisher zum Krieg kam. Die Bevölkerung der Insel bekam keine internationale Hilfe, was die Bewohner wegen ihrer großen Armut ärgerte. Manchmal fragten sie sich, ob sie erst einen Krieg führen müssten, um Hilfe zu bekommen (S. 35). Die Faktoren dafür, dass Idjwi zu einer Friedensinsel wurde, waren das ausgeprägte Unabhängigkeitsbewusstsein und die Identität als ein friedliches Volk. Angesichts des staatlichen Machtmissbrauchs entschloss man sich, nicht zu den Waffen zu greifen, sondern gewaltfreien Widerstand zu leisten. So wurde ein seine Macht missbrauchender Regierungsbeamter boykottiert (S. 36). Entsprechend der dortigen Tradition treten Ältere als Konflikthelfer auf und können im Rahmen eines Netzwerkes bei Streitigkeiten gerufen werden. Blutsbünde und magische Vorstellungen sowie der gemeinsame katholische Glaube tragen ebenfalls zur Verhinderung von Gewalt bei. Im Jahr 2015 versuchte ein Milizenführer auf der Insel einen militärischen Stützpunkt zu errichten. Als er durch die Bevölkerung wenig Unterstützung erfuhr, ließ er zu Einschüchterung drei lokale Chefs hinrichten. Doch diese Aktion hatte die gegenteilige Wirkung: Die gesamte Bevölkerung schloss sich gegen ihn zusammen und er musste die Insel verlassen. So schafften es die dortigen Menschen, dass die Insel zu einem Friedensraum wurde, mitten in einem Bürgerkrieg mit rund 5 Millionen Opfern (S. 23). Das zweite Beispiel handelt ebenfalls in der Demokratischen Republik Kongo. Es ist der Fall des Ruzizi Plain, ein Beispiel für eine gelingende Hilfe von außen. Der Konflikt ereignete sich zwischen zwei ethnischen Gruppen. Die beteiligten Farmer wurden von der kongolesischen Regierung unterstützt und ihre Kontrahenten, die Hirten, vom Nachbarland Ruanda. Lokale Friedensorganisationen wandten sich im Jahr 2007 an das schwedische Life & Peace Institut (LPI) und baten um Hilfe. Nach einer intensiven Problemanalyse, gemeinsam mit den

Séverine Autesserre: »Frontlines of Peace. An Insider’s guide to changing the world.«

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Menschen in der Gegend Ruzizi Plain, und vielen Mediationsgesprächen konnte drei Jahre später eine Einigung gefunden werden. Der Konflikt stellte sich folgendermaßen dar: Die Hirten mussten jahreszeitbedingt ihre Rinderherden von den Bergen in die Täler führen. Unterwegs fraßen diese die von den Farmern angebauten Felder ab. Es kam zur Gewalt und Racheakten und die jeweilige ethnische Gruppe holte sich Unterstützung von der Regierung bzw. von den von Ruanda unterstützten Rebellen. Im März 2010 verabschiedete ein 60-köpfiges Gremium aus Vertretern der lokalen ethnischen Gruppen einen Lösungsvorschlag: Für die Hirten mit ihren Herden wurden spezielle Wege für die Passage durch das Ackerland eingerichtet. Dafür bezahlten sie einen Wegezoll an die Farmer. Für Streitfälle etablierte man eine Mediationsgruppe (S. 58). In der Folge dieses Prozesses verloren die jeweiligen Milizen ihre Bedeutung. In ihrem Buch stellt Séverine Autesserre zwei unterschiedliche Formen der Hilfe von außen vor: Die eine Form, der Top-Down-Prozess, wendet sich an die Regierung und geht davon aus, dass diese in die Lage versetzt wird Frieden zu stiften und dafür die Unterstützung, z. B. durch UN-Friedensmissionen, braucht. Die andere Form, der Bottom-up-Prozess, wendet sich direkt an die betroffene lokale Bevölkerung und unterstützt diese sowohl in der Konfliktanalyse als auch in der Konfliktbearbeitung (z. B. LPI).

2)

Der Top-Down-Prozess

Offizielle staatliche Friedensmissionen sind in der Regel sogenannte Top-DownProzesse. Sie gehen davon aus, dass der Konflikt zwischen den Politiker*innen und Eliten des Landes entstanden ist und sich dann ausgeweitet hat. Deshalb wird angenommen, dass nur die Politiker*innen, die Eliten sowie die Rebellenführer für Frieden sorgen könnten. Auf dem Hintergrund dieses Verständnisses versuchen die externen Friedensakteure zwischen verfeindeten Eliten Frieden zu stiften und arbeiten deshalb ausschließlich mit ihnen und nicht mit der Bevölkerung (S. 94). Das Ziel des Top-Down-Prozesses ist es, einen nachhaltigen Frieden durch Demokratisierung (Wahlen), Erziehung bzw. Bildungsmaßnahmen und Maßnahmen des State Building (Aufbau eines funktionierenden Rechtsstaats) herzustellen. Damit der Staat seine Aufgaben wahrnehmen kann, erhält er Hilfen zum Staatsaufbau (Polizei, Behörden, Militär). Die externen Geldgeber erwarten in der Regel schnelle Erfolge. Dies führt zu einem enormen Zeit- und Erfolgsdruck für die Friedensmissionen. Es werden schnelle Ergebnisse gebraucht, um weitere finanzielle Hilfen zu erhalten. Positive Ergebnisse müssen innerhalb eines halben oder ganzen Jahres nachweisbar sein. Hierfür eignen sich am besten konkrete Zahlen. Der Erfolg wird deshalb quantitativ nach der Anzahl von Workshops und Teilnehmer*innen gemessen und ob sie wie geplant

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Stefan Maaß

durchgeführt wurden (S. 100). Es wird nicht untersucht, welche Auswirkungen die Maßnahmen für das gesellschaftlicher Zusammenleben hatten und ob diese als qualitativer Erfolg zu werten sind. Dies wäre viel aufwendiger und schon gar nicht kurzfristig nachzuweisen Das Stattfinden einer demokratischen Wahl wird als Erfolg für die Demokratisierung gewertet. Séverine Autesserre spricht in diesem Zusammenhang von einem Wahl-Fetisch (S. 101). Diese Form der Demokratisierung hat in vielen Ländern die Gewalt verstärkt, bis hin zum Genozid, anstatt sie zu reduzieren. Die Wissenschaftlerin kritisiert nicht die Idee der Demokratisierung, »sondern die Art, in der die Eingreifenden den Prozess forcieren. Zuerst und vor allem fokussieren sie sich auf die Organisation schneller Wahlen und übersehen die notwendigen Bedingungen, die ein solches Unternehmen sicher und sinnvoll machen.« (Übersetzung S.M., S. 102) Es fehlen jedoch in Ländern ohne demokratische Traditionen die für einen Massenwettbewerb von Kandidierenden und Wählergruppen die zur Wahldurchführung erforderlichen Institutionen. So habe die Machthaber einen Vorteil. Sie nutzen die Polizei, um Opponenten zu unterdrücken, und die Medien für ihre eigenen Wahlkampagnen. Häufig versuchen Bewerber um das Präsidentenamt ihre Anhänger entlang ethnischer Zugehörigkeiten zu mobilisieren, was die Wahrscheinlichkeit für das Ausbrechen von Gewalt erhöht. Entgegen der allgemeinen Vorstellung ist Demokratisierung kein Gegenmittel gegen Gewalt, sondern eher das Gegenteil: Es verdoppelt das Risiko eines Neuentflammens eines Bürgerkriegs. In Nachkriegsländern steigt die Wahrscheinlichkeit von erneuter Gewalt von 21 Prozent (ohne Demokratisierung) auf 39 Prozent (mit Demokratisierung). Interessanterweise hilft hier die Zeit. Die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Kriegs sinkt auf 31 Prozent, wenn das Land fünf Jahre gewartet hat, bevor eine Wahl durchgeführt wurde. In den letzten Jahren konnte jedoch ein Trend zu immer schnelleren Wahlen festgestellt werden: Die Durchschnittsdauer bis zu einer Wahl liegt jetzt bei 2,7 Jahren. Vor dem Jahr 1989 dauerte es doppelt so lange (S. 102f). Ähnlich sieht es mit dem Bildungssektor und bei Maßnahmen des State Buildings aus. Auch wenn diese prinzipiell Frieden fördern können, haben sie teilweise auch die Gewaltvermehrung zur Folge wie z. B. in Afghanistan oder auch Ruanda (S 103). Grundsätzlich kritisiert die Wissenschaftlerin zwei problematische Ansichten bei Interventionen: 1. Die Idee, dass lokale Spannungen nationale und internationale Spannungen widerspiegeln. 2. Den Glauben, dass Friede auf der nationalen oder internationalen Ebene quasi auf die lokale Ebene herunterrieselt.

Séverine Autesserre: »Frontlines of Peace. An Insider’s guide to changing the world.«

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Sie zitiert das Ergebnis einer Langzeitstudie von 21 Bürgerkriegen, bei denen in keinem Fall die Verhandlungen der Politiker und Eliten wirklich zum Frieden beigetragen haben (S. 105).

3)

Peace Inc. und Peaceland

Séverine Autesserre spricht bei den Friedensmissionen von »Peace Inc.« (»Friedensindustrie«). Sie stellt aufgrund eigener Erfahrung, als auch aufgrund ihrer wissenschaftlichen Begleitung von verschiedenen Friedensmissionen, folgende Gemeinsamkeiten der »Friedensindustrie« fest: – Sie tauchen nicht ein in komplizierte lokale Themen. – Sie entwickeln keine vertiefenden Kenntnisse über die Geschichte, Politik und Kultur der Länder. – Sie pflegen vorwiegend den Umgang mit den politischen und militärischen Führern. – Sie verlassen sich bei Konfliktanalysen auf externe Expertisen und Quellen. – Sie wenden in jedem Land die gleichen Lösungsansätze an. Die Einsatzstrukturen, insbesondere die kurzen Einsatzzeiten, erschweren die Effizienz. Bei NGOs sind es sechs Monate bis drei Jahre, bei PeacekeepingKräften sechs Monate bis zu einem Jahr und bei UN-Zivilangestellten sechs Monate mit Verlängerungsmöglichkeit (S. 76). Diese Kurzfristigkeit verhindert das bereits als notwendig erwähnte tiefere Eintauchen in lokale Konflikte. Autesserre bezeichnet die Friedensmission vor Ort als »Peaceland«, da die Einsatzkräfte wie in einem eigenen Land leben. Sie sind unter sich, abgeschottet von der Bevölkerung. Man trifft andere Friedenkräfte, die man schon aus vorherigen Einsätzen kennt, und man arbeitet genauso wie man es auch zuvor getan hat. Dass der Einsatz nun in einem anderen Land stattfindet, spielt eine untergeordnete Rolle (S. 86). Der Mangel an Kenntnis über die spezifischen lokalen Begebenheiten führt dann zu Problemen. So erhielten z. B. bei einer Entwaffnungsaktion in der Demokratischen Republik Kongo die Menschen 100 Dollar für jede Waffe, die sie abgaben. Sie konnten sich dann dafür auf dem Schwarzmarkt zwei Waffen zu je 40 Dollar und Bier kaufen (S. 88). Ein weiteres Beispiel zeigt das Verteilen von Handys im Kongo, damit man in einer Gefahrensituation Hilfe holen könnte, obwohl in dem Gebiet noch kein Handy-Netz existierte. Wie ähnlich die Strategien sind, verdeutlicht ein Fall vor Jahren, als ein Mitarbeiter seinen Bericht über den Kosovo abgab. Man stellte fest, dass es genau der gleiche Bericht war, den die UN schon aus Liberia bekommen hatte. Nachforschungen ergaben, dass der Mitarbeiter zuvor in Liberia gewesen war. Da die gleichen Strategien ange-

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wendet wurden, dachte er wohl, er könne sich die Arbeit sparen und schickten den gleichen Bericht und änderte lediglich den Namen des Landes (S. 88). Die Haltung, externen Friedenskräfte wissen, was es zum Frieden braucht, verstärkt oder fördert Vorurteile in Bezug auf die Bevölkerung im Einsatzland. So sehen viele Einsatzkräfte, die Bevölkerung als nicht vertrauenswürdig, ungebildet, faul, selbstbezogen und als unfähig zur Konfliktregelung an (S. 88). Inzwischen hat sich die Sprache der Intervenierenden verändert. Sie sprechen von Local Ownership, Mobilisierung, Sensibilisierung – Begriffe, die ein anderes Verständnis nahelegen. In der Praxis hat sich allerdings wenig verändert. So bedeutet Local Ownership oft, dass ein Mensch aus dem Einsatzland lediglich das vorgefertigte Konzept umsetzt, Sensibilisieren bedeutet, die lokale Bevölkerung zu überzeugen, dass der Plan gut ist und Mobilisieren heißt, die Menschen aus der Bevölkerung unterstützen den Plan. Dies ist jedoch ein völlig anderes Verständnis von Hilfe wie es beispielsweise das Life & Peace Institut in Schweden hat und praktiziert.

4)

Der Bottom-Up-Prozess

Das Life & Peace Institut (LPI) vertritt den Bottom-up-Ansatz. Dieser unterscheidet sich vom Top-Down-Ansatz darin, dass er davon ausgeht, dass sich Frieden von unten nach oben entwickelt. Deshalb arbeitet LPI mit der lokalen Bevölkerung, wie oben kurz beim Ruzizi Plain geschildert. Dieser Ansatz kennzeichnet sich durch folgende Merkmale: – Die lokale Bevölkerung sitzt auf dem Fahrersitz und hat das Sagen. – Die Hilfsorganisationen sitzen begleitend auf dem Rücksitz. – Weil hier der Aufbau persönlicher Beziehungen, die Kenntnis von Sprache und Kontext und die Kooperation auf Augenhöhe von entscheidender Bedeutung sind, ist die Einsatzdauer der Akteur*innen über mehrere Jahre angelegt. Wie bereits beschrieben, wird die Konfliktanalyse mit der Bevölkerung durchgeführt und darauf der Schwerpunkt gelegt. Die Bevölkerung kann am besten ihre Konflikte analysieren und dann auch für sie geeignete Lösungen finden. Dabei können Externe sie unterstützen. Séverinne Autesserre schildert in dem Buch viele Beispiele, ob Somaliland, Kolumbien, Neve Shalom in Israel, um zu verdeutlichen, dass diese Fälle keine Ausnahmen sind. Entscheidend ist für sie die Haltung des Eingreifens. Dafür hat sie ein Bild einer Modell-Einsatzkraft skizziert (S. 88). Das Bild (Übersetzung der Textblasen: S.M.) verdeutlicht die völlig andere Haltung des Bottom-up-Ansatzes im Vergleich zum Top-Down-Prozess.

Séverine Autesserre: »Frontlines of Peace. An Insider’s guide to changing the world.«

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Abb. 1: Die ideale Friedensfachkraft – Theodor Ziegler nach Séverine Autesserre

Für die zukünftige Friedenarbeit sollten die drei Einsichten Séverine Autesserres leitend sein (S. 148): 1. Die lokale Bevölkerung hat Fähigkeiten und Wissen, die zur Förderung von Frieden notwendig sind und sie hat die Mechanismen, die Strukturen und die Netzwerke, die helfen, den Frieden aufrecht zu halten. 2. Prozesse »von unten« können mindestens genauso effektiv sein – möglicherweise effektiver als Ansätze »von oben«. 3. Die »Friedensindustrie« (Peace Inc.) sollte nicht ganz aufgegeben werden, sondern es sollten sich die Beziehungen zwischen den Außenstehenden und den Insidern verändern. Kontraproduktive Annahmen sollten ebenso eliminiert werden wie verletzende Gewohnheiten. Die Friedenskräfte sollten mehr in die lokalen Friedensanstrengungen eintauchen.

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Fazit Séverine Autesserre hat Friedensmissionen gründlich untersucht und einige Schwächen aufgedeckt. Die Bottom-Up-Prozesse müssen künftig stärker gefördert werden. Sie sollten langzeitiger und nicht auf schnell vorzeigbare positive Ergebnisse angelegt werden. Es braucht auch die Verhandlungen auf der politischen Ebene, da ansonsten die politischen Führer leicht Konflikte in der Bevölkerung für ihre Interessen missbrauchen. Für das Anliegen einer Internationalen Polizei schlage ich vor, Séverine Autesseres Kritik sehr ernst zu nehmen. Bei der Konzeptionierung einer Internationalen Polizei sollten die Fehler der Peace Inc. vermieden werden. Stefan Maaß, Karlsruhe, ist Sozialarbeiter und Religionspädagoge, Friedensbeauftragter der Evang. Landeskirche in Baden und Koordinator des landeskirchlichen Prozesses »Kirche des gerechten Friedens werden«. Er war Leiter der Projektgruppe zur Erstellung des Szenarios Sicherheit-neu-denken.

Literatur Séverine Autesserre (2021): Frontlines of Peace. An Insider’s guide to changing the world. Oxford University Press.

Teil B: Weltinnenpolitik und Internationale Polizei

Klaus Moegling

Auf dem Weg zu einer gesellschaftlichen Pazifizierung. Strategien, Engagement und Ziele müssen von den gleichen Werten getragen sein1

Unter gesellschaftlicher Pazifizierung soll hier sowohl der Frieden in der sozialen Welt als auch der Frieden mit der Biosphäre gemeint sein. Hierbei ist im Sinne von Johan Galtung (1998) unter Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg (negativer Frieden), sondern ein umfassender Frieden, ein positiver Frieden, gemeint. Positiver Frieden bezieht sich auf die Fähigkeit von Menschen, Gruppen, Institutionen und Gesellschaften, Konflikte ohne den Einsatz von physischer, kultureller oder struktureller Gewalt empathisch und kreativ lösen zu können. Gesellschaftliche Pazifizierung im Sinne eines positiven Friedens bezieht sich auf Gerechtigkeit und die Einhaltung von Menschenrechten in einer Gesellschaft sowie zwischen Gesellschaften. Hier soll des Weiteren unter positivem Frieden auch ein schonender und am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierter Umgang mit der Natur gemeint sein. Die Zerstörung von Umwelten oder die Beschädigung der gesamten Biosphäre entziehen dem Leben auf diesem Planeten seine existenzielle Grundlage und führen zu Verdrängungskonflikten, Ressourcenkonkurrenz und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Gesellschaftliche Pazifizierung lebt vom zivilgesellschaftlichen Engagement in einer Qualität, die ohne Gewalt gegen Menschen, Natur und Sachen auskommt. Das Anstoßen einschneidender gesellschaftlicher Reformen und die zivilgesellschaftliche Begleitung kann nur unter Ausnutzung aller kreativen und druckvollen Formen gesellschaftlichen Widerstands, Protests, Organisation, über ein verändertes Wählerverhalten und über veränderte Formen des Arbeitens und Zusammenlebens gelingen. Der Druck auf Parteien, Regierungen, Institutionen und Entscheidungsgremien muss über einen Zusammenschluss von maßgeblichen Teilen der Bevölkerung in Verbindung mit Wissenschaftlern, Bildungsarbeitern, Politikern, Ökonomen und Verwaltungsspezialisten gelingen, die friedliche Formen von Engagement, Widerstand und konstruktives Konfliktverhalten 1 Der vorliegende Beitrag enthält bearbeitete Passagen aus dem Buch Moegling, Klaus (2020) aus den Kapiteln 5.6 und 6. Open access (komplettes Manuskript in englischer Sprache Moegling, Klaus (2021) unter https://www.klaus-moegling.de/international-edition/).

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Klaus Moegling

nutzen, um den Einstieg in eine sozialökologische und friedensbringende Transformation auf allen Ebenen vorzunehmen. Hierzu gehören Massenkundgebungen, Experten-Hearings, medienwirksame Tribunale, Blockaden, Sitzstreiks, Menschenketten, öffentliche Theaterarbeit, Protestkonzerte, Crowdfunding, Publikationstätigkeit und Medienarbeit, Gremien- und Parlamentsarbeit auf allen Ebenen, Parteiarbeit und Engagement in NGOs, aufklärende und emanzipierende Bildungsarbeit, Meditation und Selbstarbeit, Warenboykotts, Rituale und Therapien der Versöhnung, Schul- und Universitätsstreiks bis hin – im äußersten Fall – zu Generalstreiks im Schulterschluss mit dem überwiegenden Teil der Gewerkschaften, der veränderungsbereit ist. Generalstreiks sind das mächtigste Mittel im Einsatz für eine globale Neuordnung. Ebenfalls das Engagement in sozialökologisch und friedenspolitisch ausgerichteten Parteien und der Druck über die Wählerstimme sollten hinsichtlich ihres Spielraums genutzt werden. Auch der Beginn eines alternativen (= solidarisch ausgerichteten) Lebens und Arbeitens sowie die individuelle Umstellung des eigenen Konsumstils entfalten sofort und fortwährend eine Wirkung. Alle diese vielfältigen Formen des Engagements sollten in ihren Verhaltensmustern von den Werten einer neuen Ordnung geprägt sein, damit sie auch das angestrebte gesellschaftliche Ziel erreichen können und nicht in einen Widerspruch dazu geraten – es sind die Werte, die sich um folgende Begriffe zentrieren: Friedfertigkeit, Demokratie und Mündigkeit, Um(Mit)weltbewusstsein, Freiheit in Verantwortung, Gerechtigkeit und Solidarität. Mit Gewalttätigkeit und undemokratischen Mitteln ist keine Neuordnung im angestrebten Sinne zu erreichen. Hier würden die während eines Transformationsprozesses wirkenden gewalttätigen Kräfte auch in veränderten gesellschaftlichen Konstellationen wieder zum Träger von Gewalt werden und für eine Gewalt ausübende gesellschaftliche Ordnung, d. h. für autoritäre und undemokratische Strukturen, sorgen. Nun ist ein positiver Frieden im Sinne einer umfassenden gesellschaftlichen Pazifizierung nicht sofort erhältlich, sondern muss in verschiedenen Übergangsphasen erreicht werden. Daher kommt ein in diese Richtung begonnener Zivilisierungsprozess nicht ohne Regeln, Ordnungsstrukturen, Kontrollmechanismen und Sanktionsmöglichkeiten aus, die mit einem defensiv und am unteren Rand der Möglichkeiten ausgelegten Gewaltmonopol staatlicher bzw. transnationaler Strukturen auszukommen hat. Ausgenommen vom unbedingten Gewaltverzicht sind daher explizit die demokratisch gewählten Organe einer sich anbahnenden neuen Ordnung im globalen Kontext vor allem im Sinne weltpolizeilichen Einsatzes, wenn es um die Bekämpfung von Kriminalität, massiver Umweltzerstörung, kriegerischer Aggression oder von Verstößen gegen die Menschenrechte geht. Es ist also zwischen einer Ausgangssituation zu unterscheiden, in der zivilgesellschaftlicher Druck

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mit friedlichen, aber druckvollen Mitteln ausgeübt wird und einer fortgeschrittenen Entwicklungsphase mit den Notwendigkeiten eines Gewaltmonopols einer neuen sozialökologischen Gesellschaftsordnung internationaler Demokratie, um diese Ordnung im Sinne einer ›wehrhaften globalen Demokratie‹ aufrechterhalten zu können. Eine globale Neuordnung ist hierbei auf die grundlegende Reform der Vereinten Nationen im Sinne einer Stärkung und Demokratisierung angewiesen. Nur innerhalb eines solchen Prozesses können Schritte zu einem Gewaltmonopol der UN bei gleichzeitiger Abrüstung der Nationalstaaten und transnationalen Blöcke gerechtfertigt werden. Die weiteren Überlegungen sind vor diesem internationalen Kontext einer zukünftig anzustrebenden internationalen Entwicklung multilateraler Verständigungsstrukturen zu verstehen – so wie sie bei Moegling (2020, 2021) umfassender und detaillierter angelegt sind.

Aufbau einer demokratisch kontrollierten Weltpolizei und eines Gewaltmonopols der UN Natürlich steht die zivile Konfliktlösung im Sinne von Diplomatie, Mediation und Austragung rechtsförmiger Prozesse im Vordergrund der Friedenssicherung und des Versuchs, den Weg zu einem positiven Frieden zu beschreiten. Bei der zivilen Konfliktprävention ist hierbei das Konzept des ›Zivilen Peacekeeping‹ in Zusammenarbeit von UN-Mediatoren mit einheimischen Friedenskräften umzusetzen. Im erfolgreichen Vermittlungsfall bedeutet dies, dass der Weg für die Nachbearbeitung einer internationalen Konfliktsituation frei wird, im Rahmen dessen auch Verfahren der Bewältigung und Aussöhnung eingesetzt werden können. Die z. T. durchaus erfolgreichen südafrikanischen Versöhnungskomitees können hier als Beispiel gelten, aus denen es zu lernen gilt. Dennoch muss im Falle des Versagens zivilgesellschaftlicher Prozesse, wenn nicht einmal ein negativer Frieden, d. h. ein Waffenstillstand, erreichbar ist, weltpolizeilich interveniert werden. Die Voraussetzung für einen positiven Frieden ist selbstverständlich das Schweigen der Waffen. In einem kämpfenden Zustand kann ein Land oder eine Region keine sinnvolle Friedensarbeit im Sinne von Schmerzbewältigung und Versöhnungsarbeit vornehmen. Das zukünftig anzustrebende demokratisch zu kontrollierende Gewaltmonopol der Vereinten Nationen setzt hierüber hinaus die schrittweise Entwaffnung der Nationalstaaten voraus bzw. die partielle Eingliederung derer militärischer Ressourcen in die weltpolizeilichen und auch militärischen Institutionen der UN. So muss im Zuge der Entwaffnung von militanten Personengruppen, wie bereits angesprochen, das Gewaltmonopol der UN nach einer Erfolgslosigkeit diplo-

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Klaus Moegling

matischer und anderer zivilgesellschaftlicher Vermittlungsversuche z. B. mit Hilfe weltpolizeilicher Mittel durchgesetzt werden. Gerade in dem Prozess der zukünftig notwendigen und durch die UN kontrollierten Entwaffnung von Nationalstaaten, Regionen, kriminellen Organisationen sowie Privatpersonen kann nicht vom Einverständnis aller Beteiligten ausgegangen werden. Polizeiliche Exekutivrechte, wie z. B. das Tragen von Waffen, sollten zukünftig – im Rahmen des hier vorliegenden Entwurfs einer internationalen Neuordnung – nur in der Befugnis weltpolizeilich legitimierter Sicherheitsorgane liegen. Die einzigen Organe, denen dann ein Waffenbesitz erlaubt sein würde, wären die durch die UN kontrollierten Polizeikräfte auf unterschiedlichen regionalen Ebenen sowie die militärischen Einsatzkräfte der UN, die durch die Beschlüsse der Vereinten Nationen legitimiert würden. Welche Rolle würde nun militärischen Einheiten unter dem Schirm der Vereinten Nationen zukommen? Haben sie zukünftig noch eine gesellschaftliche Bedeutung oder sind sie grundsätzlich entbehrlich, wenn die bereits im Rahmen der UN vorhandenen weltpolizeilichen Strukturen weiterentwickelt sind? Der Einsatz militärischer Mittel ist weiterhin umstritten. Wie könne ein positiver Frieden mit weltpolizeilichen oder sogar militärischen Mitteln erreicht werden, der ja auf der Pazifizierung von Gesellschaft beruhen müsse und bellizistische Mittel abzulehnen habe? Winfried Nachtwei betont die Notwendigkeit zivilgesellschaftlicher und weltpolizeilicher Vermittlungsversuche, aber spricht ebenfalls in Extremsituationen die Notwendigkeit von UN-Militäreinsätzen in Verantwortung für die von militärischer Vernichtung bedrohten Menschen an: »Die Konfrontation mit Kriegs- und Massakerwirklichkeit auf dem Balkan stellte uns spätestens im Oktober 1996 am Hang über Sarajevo vor die Schlüsselfrage: Was tun, wenn Zivilbevölkerung belagert, beschossen wird, wenn es für Krisenprävention zu spät ist, wenn enthemmte Massengewalt politisch nicht mehr beeinflusst werden kann, wenn akute Großgefahrenabwehr zum Schutz von Zivilbevölkerung gefragt ist?«2

Natürlich ist in einem solchen Fall der Weg zu einem positiven Frieden noch unendlich weit entfernt. Doch ein zukünftiges Srebrenica ist zu verhindern, selbst wenn hierfür robustes Militär von Seiten einer reformierten UN einzusetzen ist. Hierbei muss deutlich zwischen den prioritär zivil ausgerichteten Polizeikräften und dem UN-Militär unterschieden werden, das erst eingesetzt wird, wenn alle zivilen Mittel erfolglos geblieben sind (vgl. Tabelle 1):

2 Nachtwei, Winfried (2021).

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Weltpolizeilicher Einsatz UN-Militäreinsatz – An UN-Charta, Regeln für den weltpo- – an kodifiziertes Völkerrecht für Militäreinsätze gebunden, z. B. UN-Charta, lizeilichen Einsatz und transnationale Genfer Konventionen; Gesetze gebunden; – Einsatz von Gewalt und Waffen gegen – Prioritär: Vermittlung von Frieden im Sinne des ›just policing‹ – gerechte poeinen Staat oder gegen eine separatistilizeiliche Betreuung) mit dem Ziel einer sche Bewegung im Falle einer massiven Verletzung der Menschenrechte und des Kompromissfindung im Sinne einer Völkerrechts sowie massiver Umwelt›win-win-Situation‹; schädigung im Auftrag der UN, wenn – Zusammenarbeit mit zivilen UN-Konzivile und weltpolizeiliche Mittel nicht fliktregulatoren sowie einheimischen mehr erfolgreich sein können (R2P); Gruppen und gemeinsames Engagement gegen kriminelle gesellschaftliche – Militäreinsätze nach erfolglosem Ultimatum auch als durch die UN- beaufKräfte, wenn die rein zivile Konflikttragte militärische Eingriffe mit konvermittlung nicht mehr hilft; ventionellen Waffen, wie z. B. Schützen– Weltpolizeiliche Tätigkeit mit rechtsstaatlichen Möglichkeiten der Polizeipanzer und Kampflugzeuge, auch gegen arbeit in Zusammenarbeit und auf den Willen betroffener Staaten; Wunsch betroffener Staaten: z. B. Haft- – Auch Einsatz während eines akuten militärischen Konflikts, z. B. zwischenbefehl, nur im Notfall Einsatz von staatlicher Angriffskrieg (FriedenserDienstwaffen, keine militärische Auszwingung). rüstung; – Kein Einsatz während akuter militärischer Auseinandersetzungen (keine Friedenserzwingung). Tab. 1: Zur Unterscheidung von Polizei- und Militäreinsätzen – Klaus Moegling

Die Polizeikräfte werden überregional, regional und lokal organisiert und kontrollieren in Zusammenarbeit mit den Gerichten die Einhaltung der von einem zukünftig einzurichtenden UN-Weltparlament auf der Grundlage der UN-Charta verabschiedeten Gesetze, dürfen ermitteln, entwaffnen, festnehmen und dem Haftrichter zuführen.

Konkrete Schritte im Aufbau globaler Sicherheitsstrukturen Es muss im Rahmen des hier zugrunde liegenden Zukunftsentwurfs entsprechend der Aufgabenstellungen zwischen verschiedenen weltpolizeilichen Einrichtungen unterschieden werden: Zwischen den im UN-Auftrag international agierenden UN-Polizeieinheiten, Interpol und den subnationalen bzw. örtlichen Polizeikräften mit jeweils veränderten Zielsetzungen und Möglichkeiten. Die bisherige Praxis für Peacekeeping-Einsätze weltpolizeiliche Kräfte auf freiwilliger Basis von den Nationalstaaten abordnen zulassen, ist zugunsten fester Polizeikontingente unter dem Dach der UN abzulösen. Diese Polizeieinheiten sind in den transnationalen Regionen zu stationieren.

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Klaus Moegling

Die überregional organisierten und international kontrollierten Polizeikräfte von Interpol (International Criminal Police Organization) müssten vor allem dann eingreifen können, insbesondere wenn auf internationaler Ebene organisierte Kriminalität festgestellt wird. Auch ist die Struktur und Zuständigkeit von Interpol zu verändern. Interpol verfügt bisher über keine eigenen polizeilichen Ermittler und Fahnder, sondern koordiniert die nationalen polizeilichen Ermittlungen und Datensammlungen. Interpol ist bisher in Form eines internationalen Vereins mit dem Status einer international tätigen NGO bei den Vereinten Nationen anerkannt und erhielt seit 1997 einen Kooperationsvertrag mit den UN, der Interpol einen Beobachterstatus bei den UN zusichert. Hinter Interpol stehen 190 Staaten. Allerdings unterliegt die internationale Polizei-Organisation derzeit nur einer internen Kommissions-Kontrolle. Im vorliegenden weltpolizeilichen Modell müsste allerdings eine externe und unabhängige Kontrolle in Zusammenarbeit und mit Rechenschaftslegungspflicht gegenüber einem zu reformierenden UN-Parlament3 vorliegen, um Abhängigkeiten, polizeilicher Willkür, Intransparenz und Korruption vorzubeugen. Am Beispiel von Interpol wird die Problematik deutlich, wenn die weltpolizeiliche Dachorganisation auch Spenden von multinationalen Konzernen sowie von einzelnen autokratischen Staaten, wie z. B. Katar oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, annimmt. So wird Interpol auch hinsichtlich seiner Kooperation mit Pharmaunternehmen, z. B. Sanofi, kritisiert. Interpol vertrete hierbei Interessen von Pharmaunternehmen, z. B. über Ermittlungen gegen die Verbreitung von preiswerten und bezahlbaren Generika, und erhalte im Gegenzug Millionen-Spenden4 für den Interpol-Etat. Im Unterschied zur bisherigen Interpol geht es im vorliegenden Entwurf einer Neuordnung globaler Strukturen um eine demokratisch kontrollierte, weltpolizeiliche Dachorganisation mit transnationalen, regionalen und dezentralen Einrichtungen, die sowohl transparent und effektiv einer externen und internen Kontrolle unterliegt, die allerdings erweiterte Exekutivrechte im Vergleich zur bisherigen internationalen Polizeiorganisation besitzt. Interpol ist von den Vereinten Nationen ausreichend zu finanzieren, um unabhängig von Sponsoren agieren zu können.

3 Die gegenwärtige UN-Generalversammlung ist nicht demokratisch legitimiert und ist Schritt für Schritt in Richtung eines demokratischen Weltparlaments zu verändern. Hierbei ist auch die Funktion und die Struktur des UN-Sicherheitsrats grundlegend zu verändern (vgl. Moegling, Klaus (2020), S. 283ff.). 4 Vgl. z. B. die Zeit-Veröffentlichung von Schmidt, Robert/Martiniere, Mathieu (2013) sowie den auf Arte gesendeten Film »Interpol – Wer kontrolliert die Weltpolizei?« (2015).

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Geheimdienste unterschiedlichster Art spielen in der hier entwickelten Vorstellung einer Neuordnung der internationalen Beziehungen keine Rolle mehr. Sie sind durchgehend auf allen Seiten und in allen Regionen abzuschaffen. Alle weltpolizeilichen Maßnahmen sind – manchmal auch erst im Nachhinein – transparent offenzulegen, um eine demokratische Kontrolle der UN-Exekutive von Seiten der Legislativen und der Bürger zu ermöglichen. Militärische Kräfte der UN sind hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und ihrer Funktion weiter zu entwickeln, während gleichzeitig umfassende Abrüstungsverhandlungen und Konversionsbemühungen der Nationalstaaten zum Erfolg führen müssten. Hierbei müssen die UN-Blauhelme militärisch gestärkt und das durch die UN kontrollierte Recht auf robuste Aktionen bekommen, um bei Völkermord, massiver Umweltzerstörung oder kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Regionen oder Bevölkerungsgruppen einschreiten zu können, wenn andere Mittel versagen. Dies bedeutet, dass die Funktion der UN-Blauhelme deutlich über Peacekeeping zugunsten eines wirkungsvollen Peacebuildungs hinausgehen muss. Um im Extremfall auch eine Friedenserzwingung leisten zu können, ist eine gut ausgerüstete und ständige Blauhelm-Eingreiftruppe notwendig, die nach § 43 der UN-Charta über ein Abkommen der UN-Staaten beschlossen werden kann. Diese militärischen Eingreiftruppen der UN sind in den verschiedenen transnationalen Regionen zu stationieren, um ein schnelleres Eingreifen im Notfall ermöglichen zu können. Der zukünftige Blauhelmeinsatz ist im Extremfall nicht mehr an das Einverständnis der beteiligten Staaten bzw. Gruppierungen gebunden, sondern die Blauhelme agieren aufgrund eines Beschlusses der UN-Vollversammlung (z. B. Drei-Viertel-Mehrheit) auf Antrag des UN-Sicherheitsrats. Das Friedensgutachten 2007, vorgelegt von fünf Friedensinstituten, wies den Weg in die für militärische UN-Einsätze einzuschlagende Richtung: »Wir schlagen vor, an Militäreinsätze mindestens die folgenden Kriterien anzulegen: 1. Rechtmäßigkeit: Sie müssen mit der UN-Charta und dem Grundgesetz übereinstimmen; 2. Unterscheidung von friedenspolitischen und funktionalen Gründen: macht-, einfluss- und bündnispolitische Ziele dürfen nicht den Ausschlag geben; 3. Vorrang ziviler Alternativen: Sind alle nichtmilitärischen Alternativen ausgeschöpft oder erkennbar aussichtslos? 4. Politisches Gesamtkonzept, einschließlich einer Klärung der Erfolgsbedingungen im Zielland;

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5. Evaluierung: Kein Auslandseinsatz ohne begleitende Evaluierung und nachträgliche Bilanzierung seiner Kosten und Nutzen; 6. Exit-Strategie: Wann und wie ist ein Einsatz zu beenden?«5

Fazit Die vorliegenden Überlegungen sind vor dem Hintergrund einer grundlegenden Neuordnung des multilateralen Systems und insbesondere der Vereinten Nationen zu verstehen. Man könnte nun argumentieren, dass wir angesichts der Tendenzen zur Renationalisierung und Entdemokratisierung sowie dem Ausbruch zahlreicher geostrategischer und militärisch ausgetragener Konfliktherde hiervon weit entfernt seien. Dies ist sicherlich richtig. Dennoch darf eine derart negative Einschätzung nicht verhindern, darüber systematisch nachzudenken, wie im Rahmen einer zukünftig sinnvollen Entwicklung eine sozialökologische und friedfertige Gesellschaftsentwicklung im globalen Kontext vorgenommen werden müsste. Die gegenwärtige Eskalation militärischer Konflikte, wie z. B. in der Ostukraine, dem Jemen oder in Syrien, erfordern geradezu eine Verbindung diplomatischer Maßnahmen und weltpolizeilicher Interventionen unter der Kontrolle der Vereinten Nationen. Gesellschaftliche Pazifizierung erfordert eine geistige Reife aller Beteiligten, die – trotz aller Bildungs- und Aufklärungsbemühungen – noch nicht vorausgesetzt werden kann. Um diese Lücke zu schließen sind zivilgesellschaftliche Pazifizierungsmaßnahmen durch effektivere weltpolizeiliche Interventionen als bisher zu ergänzen, insbesondere wenn gegnerische Gruppen nicht legitimierte Waffengewalt einsetzen. Militärische Mittel unter der Aufsicht der UN sollten nur im äußersten Notfall eingesetzt werden, wenn die Verbindung aus zivilgesellschaftlichen und weltpolizeilichen Maßnahmen versagen bzw. die beteiligten weltpolizeilichen Friedensakteure durch militärische Gewalt bedroht sind. Das Spektrum weltpolizeilicher Einsatzmöglichkeiten ist des Weiteren um ökologische Verbrechen, die Belange der gesamten Menschheit berühren, zu erweitern. Ökologische Verbrechen, wie z. B. das Abbrennen und Abholzen des Regenwaldes, oder die staatlich betriebene Steigerung der CO-2-Emissionen sind zukünftig nicht mehr hinnehmbar, berühren sie doch die Existenzbedingungen der nächsten Generationen und grundsätzlich menschlicher Zivilisation auf diesem Planeten. Die im Rahmen der Friedensinitiative ›Sicherheit neu Denken‹ initiierte (auch internationale) Diskussion über das Zusammenwirken der verschiedenen Maß5 In: http://www.ag-friedensforschung.de/science/gutachten07.html, 14. 6. 2007, 30. 8. 2018.

Auf dem Weg zu einer gesellschaftlichen Pazifizierung

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nahmen – unter Einbezug weltpolizeilicher Maßnahmen – ist sehr zu begrüßen. Es ist ihr eine wirkungsvolle Fortsetzung zu wünschen, bei der auch weiterhin weltpolizeiliche Akteure_innen und mitentscheidende Politiker_innen in den Diskurs einbezogen werden sollten. Derartige Initiativen sollten nicht zu gering eingeschätzt werden. Nicht nur das globale Klima, sondern auch die globale Gesellschaft weist Kipppunkte auf. Die Vielzahl der sich engagierenden Menschen, Organisationen und Initiativen kann unter bestimmten Voraussetzungen zu einem Synergieeffekt mit systemverändernder Qualität führen – eine Wirkung, die einmal ausgelöst, immer schneller und dynamischer zu einer gesellschaftlichen Neuordnung, auch in friedenspolitischer Hinsicht, führen kann. Apl. Prof. Dr. habil. Klaus Moegling lehrte bis 2021 Politikdidaktik im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel und arbeitete u. a. mit im Bundesausschuss Friedensratschlag, bei Democracy without Borders, bei Scientists for Future (S4F) und in Bildungsinitiativen.

Literatur Galtung, Johan (1998). Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen: Leske & Budrich. Moegling, Klaus (2020). Neuordnung eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. Moegling, Klaus (2021). Realignment. A peaceful and sustainably world is (still) possible. 1st international edition, Kassel: https://www.klaus-moegling.de/international-edition/. 11. 1. 2022. Nachtwei, Winfried (2021). Mein Brief an Gregor Gysi zu UN-Friedensmissionen und der Verweigerungshaltung der LINKEN gegenüber Grundpflichten von UN-Mitgliedern. In: http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1679&theme =print), 26. 2. 2021. Schmidt, Robert/Martiniere, Mathieu (2013). Interpol: Wer hilft hier wem? Die befremdliche Nähe der internationalen Polizeiorganisation Interpol zur Pharmaindustrie. In: http:// www.zeit.de/2013/42/internationale-polizeiorganisation-interpol-transition pharmain dustrie/komplettansicht, 20. 3. 2018.

Traugott Schächtele

Lyrik: immer anders

anders gemeint nicht das kurzzeitige schweigen der waffen mit einem gerechten frieden verwechselt anders betrachtet statt des feindes ein gleichwertiges gegenüber auf augenhöhe entdeckt anders gesagt einmal ernstlich geschwiegen und nicht auf das letzte Wort aus anders versucht einfach die waffen aus dem spiel gelassen anders gemacht einen vorschuss an vertrauen gewagt anders erwartet dem das hat ja doch keinen sinn den abschied gegeben anders gedacht nicht raketen sondern glückliche gesichter gezählt

Ulrich Bartosch

Weltinnenpolitik für den Frieden in der Welt? Überlegungen an einem 11. September

Aktuelle Vorbemerkung am 11. September 2022 Der nachfolgende Text hat nun eine eigene Geschichte erhalten. Er wurde als Beitrag zur hier dokumentierten Tagung zugesandt und war in einer Redefassung für einen 11. September zum Vortrag vorgesehen. Bis zum 24. Februar 2022 konnte der 11. September 2001 als Markstein einer Zeitenwende betrachtet werden. Mit dem Anschlag auf das World Trade Center war eine weltumspannende sicherheitspolitische Gefahrenwahrnehmung verbunden. Der Krieg gegen den Terror schien als einigendes Band über die nationalen Interessen hinweg als gemeinsamer Konsens tauglich. Die direkte militärische Konfrontation zwischen den großen atomaren Mächten unserer Welt dagegen verursachte keine besondere Sorge mehr. Zugleich drängte die Klimakatastrophe als offensichtlich weltumspannendes Problem nach vorne und der Vorrang der gemeinsamen politischen Vernunft zur Gefahrenabwehr bedurfte fast keiner besonderen Begründung mehr. Unter diesen Vorzeichen war die Beschäftigung mit Weltinnenpolitik geradezu anachronistisch. Warum? Weil Weltinnenpolitik als politische Idee ihren realistischen Gehalt zwingend aus der Existenz permanenter atomarer Vernichtungsgefahr seit 1945 bezieht. Weltinnenpolitik zielt auf die Schaffung eines politisch gesicherten Weltfriedens als unvermeidbarer, realistischer politischer Zielsetzung. Dieser politisch gesicherte Weltfrieden ist mit der radikalen Änderung des Bewusstseins der Menschen gekoppelt, dass eine Führung von kriegerischem Konfliktaustrag nicht mehr möglich ist. In einer Zeit, die der atomaren Gefahr wenig Aufmerksamkeit schenkte, schienen diese Gedanken fremd. Hatte man doch vielfach den Eindruck, dass die reale atomare Kriegsgefahr mit dem Ende des Ost-West-Konflikts aufgelöst worden sei. Unter diesen zeitgenössischen Vorzeichen wurde der nachfolgende Text in die Tagung eingebracht. Er übernimmt umfassend die Argumentation zuvor veröffentlichter Texte, die hier weitgehend wörtlich wiedergegeben wird. (Bartosch 2017 und 2019)

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Ulrich Bartosch

Mit dem zweiten russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 wurde eine neue Zeitenwende markiert. Die Einschätzung, dass militärische Macht nicht mehr direkt und unverblümt zur Durchsetzung von nationalen Interessen und zur Eroberung fremden Territoriums eingesetzt würde, erwies sich als frommer Wunsch. Und urplötzlich erschien das Gespenst des Atomkriegs als reale Gefahr wieder am Horizont der Politik. War es tatsächlich verschwunden gewesen, oder hat man einfach davor die Augen geschlossen? Tatsächlich war die Annexion der Krim und von Teilen der östlichen Ukraine nicht unter diesen Vorzeichen interpretiert worden. Die Kaschierung der Aggression durch vermeintlich »begründete« nationale russische Interessen hatte ihre Wirkung – zumal in Deutschland – nicht verfehlt. Ansonsten hätte die Reaktion in einer massiven Aufrüstung der konventionellen Streitmacht bestehen müssen, die einen Konflikt unterhalb des atomaren Waffeneinsatzes militärisch führbar macht. Die Ukraine selbst hatte mit US-Hilfe offensichtlich solche Maßnahmen eingeleitet. Sie hatte unmittelbar erkennen müssen, dass sie nun den bitteren Preis für die Abschaffung der Atomwaffen unter ihrer Kontrolle zu zahlen hatte. Dieses im Atomzeitalter offensichtlich einzig wirksame Pfand war ohne die Gegenleistung einer verbindlich durchsetzungsfähigen Friedenssicherung aufgegeben worden. Es schien so passend und konsequent angesichts des »wind of change«, der den Ost-West-Konflikt zur Vergangenheit wandelte und mit ihm – scheinbar – die atomare Bedrohung aufhob. Hier liegt die fundamentale Fehleinschätzung begründet. Tatsache ist: Der Ost-West-Konflikt ist (und bleibt) Vergangenheit. Faktum aber ist ebenfalls: Die atomare Bedrohung ist seit dem August 1945 unaufhebbare Gegenwart. Mit Hiroshima und Nagasaki war die nukleare Zeitenwende unumkehrbar eingeläutet. Was dann folgt, waren und sind Episoden unterhalb dieser permanenten Bedingung. Dieser Einsicht folgt die Idee der Weltinnenpolitik, die von Carl Friedrich von Weizsäcker 1963 eingebracht wurde, und die den Rahmen für die weiteren Überlegungen des Textes bilden. Weizsäcker hat 1963 – noch unter dem Eindruck der Kuba-Krise – die notwendige Weltinnenpolitik angemahnt. An dieser Stelle sind wir erneut angelangt. Wir müssen versuchen, zur aktiven Weltinnenpolitik zurückzukehren. Dies bedeutet: Verhütung eines atomaren Krieges zu gewährleisten und Schritte zu einer politisch und rechtlich gesicherten Friedensordnung möglich zu machen. Eine gegenwärtige (atomare) Kriegsverhütung dürfen wir dabei nur als »Atempause« verstehen, um die politisch gesicherte Friedensordnung als Bedingung der Möglichkeit einer dauerhaften Bewahrung unserer Lebensbedingungen zu erreichen. Dabei werden wir das atomare Zeitalter nie mehr verlassen können. Deshalb müssen wir es zukunftsfähig gestalten. Eine unrealistische Politikwahrnehmung seit 1989 war geprägt von der Gewissheit, dass sich die schreckliche atomare Kriegsgefahr mit der vermeintlichen

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Entwicklung einer »One World« in Luft aufgelöst hätte. Dann wäre der Überfall der Ukraine tatsächlich nicht in dieser Form möglich gewesen und der Beistand hätte anders gestaltet werden können. Es war und ist eben anders. Die Formen des Beistandes werden von der Begrenzung atomarer Eskalation bestimmt. Realistische Politikwahrnehmung wird die Gegenwart der atomaren Kriegsgefahr neu anerkennen müssen. Weiterhin die Bedingungen des atomaren Zeitalters zu übersehen, müsste auf die Dauer tödlich enden.

1)

Weltinnenpolitik – Frieden um jeden Preis?

Im Grunde ist die Vorstellung einer Welt, die, analog zur innerstaatlichen Politik, global umspannend innenpolitisch regiert wird, in sich unlogisch. Wie man es auch dreht und wendet, der Begriff Innenpolitik verweist unvermeidbar auf eine Außenpolitik. Beide Ausprägungen der Politik unterscheiden sich definitionsgemäß als Antinomien. Innen ist nicht außen und außen ist das, was nicht innen ist. Es ist eine dualistische Konstruktion, die ein Drittes, das gemeinsame Niemandsland – also ein Innenaußen oder Außeninnen nicht zulässt. Die Verwendung des Begriffes Weltinnenpolitik unterstellt aber unmittelbar, dass der gesamten Welt eine Regierungsform gegeben ist oder gegeben sein könnte, die über das nötige Gewaltmonopol verfügte, den Erdkreis mittels polizeilicher Exekution und ggf. durch rechtliche Regelung zu befrieden. Gemäß der Schutzfunktion des Staates legitimiert sich dann diese Staatsmacht durch die Herstellung der Sicherheit für die ihm zugehörigen und territorial verorteten Personen. Eng mit dieser Idee ist daher die Vorstellung einer Weltregierung verbunden. Sie könnte die internationalen Beziehungen, die einer Außenpolitik bedürfen würden, verschwinden lassen. Der Weltstaat wäre die umfassendste Ausprägung eines politischen Konzepts, das dem Modell der nationalstaatlichen Form folgen würde. Folgt man dieser Logik, bleibt man aber die Auflösung für die zwingende Weiterentwicklung des Pendants der Innenpolitik – der Außenpolitik – schuldig. Wenn Innenpolitik an Außenpolitik im Sinne der definitorischen Abgrenzung gebunden ist, muss diese definitorische Schuld aber eingelöst werden. Oder wäre Weltinnenpolitik gar nicht als bloße Extrapolation der staatlichen Innenpolitik zu denken, sondern verwiese auf eine andere Qualität einer Politik, die Weltfrieden ermöglichen und sichern würde? Vielleicht ließe sich dann auch die unlogische Begrifflichkeit »Weltaußenpolitik« sinnhaft bestimmen? Jene Verwendungen des Begriffs Weltinnenpolitik, die eine Übertragung von innerstaatlichem Politikmodus auf die ganze Welt meinen, propagieren vermutlich die Idee des Weltstaates – sei dies absichtsvoll oder implizit vorgenommen. Da Innenpolitik in keiner Weise an rechtsstaatliche oder gar demo-

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kratische Prinzipien gebunden sein muss, sind auch schlimmste totalitäre Weltstaatsformen denkbar. Sie würden dann aber vielleicht zur Durchsetzung der friedlichen Welt als geradezu zwingend, alternativlos eingeschätzt werden. Wenn man dies vermeiden will, müsste die Verwendung des Begriffes ggf. im Sinne von rechtsstaatlicher und demokratischer Weltinnenpolitik präzisiert werden. Dazu folgen gleich ein paar Argumente. Zuvor möchte ich einige weltinnenpolitische Reflexionen zum 11. September anstellen.

2)

Weltinnenpolitische Reflexionen am 11. September

Heute ist der 11. September – wieder einmal. Es ist ein Tag der vermutlich dauerhaft eine Wendemarkierung in der Weltgeschichte bedeuten wird. In schauriger Weise wurden damals von den Attentätern die Anschläge als weltweites Medienereignis inszeniert, das zur global verteilten Solidarität führte und tatsächlich zeitweise die Dimensionen des gemeinsamen Innen gegen ein feindliches Außen aufscheinen ließ. In der Folge führte dies zu einer amerikanischen Sicherheitspolitik, die wahrlich weltinnenpolitisch angelegt war und geblieben ist. Die nationalen Sicherheitsinteressen der USA wurden förmlich entgrenzt und jeder geographische Punkt auf dem Globus rückte als potentielles Vernichtungsziel (durch konventionelle und dann auch taktische A-Waffen) in den Fokus. Wenn heute America first popagiert wird, so geschieht dies auf der bereits geltenden Devise America everywhere. Besonders deutlich wird dies am Prompt Global Strike Programm und natürlich am Nuclear Posture Review von 2002. Ich verkürze das an dieser Stelle stark: Die Sicht amerikanischer Sicherheitspolitik ist weltinnenpolitisch. Sie gestaltet z. B. die Liquidation von identifizierten Terroristen in weit entlegenen Weltregionen als eine militärisch-polizeiliche Aktion via Joystick. Es ist bemerkenswert, dass Carl Friedrich von Weizsäcker bereits bei der Einführung des Begriffs Weltinnenpolitik im Jahre 1963 diese Dimension mitgedacht und angesprochen hat. Die Tatsache, dass die Welt eine Einheit ist und immer mehr als solche auch erkannt wird, bedeutet nicht, dass eine weltbürgerliche friedliche Entwicklung sich vernunftgemäß einstellen müsste. (Kant) »Falsche« Weltinnenpolitik – im friedenspolitischen Sinne – ist genauso möglich. Der politische Idealismus scheitert hier an der Realität, dass die Vernunftentwicklung nicht zwingend aus ihrer Möglichkeit abgeleitet werden kann. Ein weiteres Beispiel, das heute am 11. September 2020 augenfällig ist. Da hält uns weltweit ein Virus in Atem, das buchstäblich die ganze (Menschen)Welt als Aktionsfeld nutzt. Jegliche politische, nationale Abgrenzung ist aus der »Sicht« der COVID 19 Population ja wohl nichtig. Wir sehen uns einem gemeinsamen, globalen Problem gegenübergestellt, das uns auf Gedeih und Verderb unsere

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gegenseitige Abhängigkeit vor Augen führt. Wie umfassend national die Reaktionen auf diese weltinnenpolitische Herausforderung ausgefallen ist, können wir alle beobachten. Offene und verdeckte Interessengegensätze werden ausgetragen. Und innerhalb der nationalen Grenzen agiert. Die Weltgesundheitsorganisation gerät dabei – wie verrückt eigentlich? – unter die Räder der USamerikanischen Gesundheitspolitik. Zugleich ist aber unabwendbar, dass diese Herausforderung gemeinsam gemeistert werden muss. Insbesondere die konzertierte Aktion der weltweiten wissenschaftlichen Community spielt eine große Rolle. Aber auch die Pharmaindustrie, die sich hier ebenfalls einer globalen Verantwortung zu stellen hat. Erledigt man die Aufgabe nur national, wird das Virus ohne große Formalitäten jede Grenzkontrolle immer wieder neu überwinden. Offensichtlich muss dies politisch verstanden und gewollt werden. Eine realistische Sicht auf die Anforderungen der Zeit muss gewonnen werden: Wenn hier nicht gemeinsam gehandelt wird, bleibt die Gefahr permanent. Diese Konsequenz ist ebenfalls bereits in den Gedanken von Weizsäcker zur Weltinnenpolitik aufgehoben. Er entwickelt sie an der atomaren Bedrohung der Welt. Hier findet er eine fundamentale Bedrohungslage vor, die nur bewältigt werden kann, wenn die idealistische Vision vom Weltfrieden in eine realistische Politikoption überführt würde. Dafür ist nun – nach Weizsäcker – eine »richtige« Weltinnenpolitik nötig, die qualitativ auf einen »politisch gesicherten Weltfrieden« hinwirken kann. Sie muss ermöglichen, was eigentlich in realistischer Politiksicht ein Wunschtraum bleiben muss: den Bewusstseinswandel der Menschen. Da die fundamentale Gefährdung auf lange Sicht unbedingt zu einer Selbstvernichtung der Menschheit führt, ist die vormals idealistische Position zur einzig realistischen geworden. Dafür hat die Atombombe als realitätsveränderndes Faktum gesorgt. Die Welt ist mit deren »Auftreten« eine andere geworden. Heute am 11. 09. 2020 ist die atomare Bedrohung scheinbar überwunden. Wer sorgt sich noch vor einem nuklearen Winter? Wen interessiert die Dislozierung von Mittelstreckenwaffen auf dem Gebiet Russlands? Wen beängstigt die Beendigung der Arms-Control-Regime? Es ist erstaunlich, wie weit unsere Fähigkeit reicht, unmittelbare Lebensgefährdung zu verdrängen. Allerdings führt die Klimakatastrophe zu einer sehr präsenten Gefahrenwahrnehmung. Dass hier weltinnenpolitische Aufgaben existieren, ist für uns alle offensichtlich. Und ebenfalls offensichtlich ist für uns, dass sie sehr unterschiedlich »weltinnenpolitisch« verstanden und behandelt werden. An dieser Stelle können die Unterschiede von Nuklear- und Klima-Katastrophe nicht erörtert werden. Es genügt, wenn die Notwendigkeit des Bewusstseinswandels als gemeinsames Merkmal hervorgehoben wird. Der wird auch in der Klimagefährdung allenthalben gefordert. Klimapolitik als Weltinnenpolitik muss demnach auch diesen Bewusstseinswandel ermöglichen und

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verstärken, der zu einer gänzlich anderen politisch gesicherten Weltfriedensordnung führen kann und muss. Der Frieden unter den Menschen muss auch als Frieden mit der Natur politisch organisiert und gesichert werden. An einem 11. September wird mir besonders bewusst, wie weit die Welt von den friedensfördernden weltinnenpolitischen Wegen abgewichen ist. Man stelle sich vor: Nach dem 11. September hätte die Welt sich zusammengefunden und in der gemeinsamen Trauer, im gemeinsamen Entsetzen hätte sich der Gedanke einer gemeinsamen, aktiven Überwindung der Wurzeln des Hasses entwickelt… Es kam völlig anders und eigentlich ist der Gedanke einer guten Weltinnenpolitik längst gestorben. Oder? Es scheint der Augenblick für einen Nachruf gekommen.

3)

Nachruf auf Weltinnenpolitik

In seinem Essay »Zur Verfassung Europas« schrieb Jürgen Habermas (2011): »Die anhaltende politische Fragmentierung in der Welt und in Europa steht im Widerspruch zum systemischen Zusammenwachsen einer multikulturellen Weltgesellschaft und blockiert Fortschritte in der verfassungsrechtlichen Zivilisierung der staatlichen und gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse.« (S. 44)

Er skizzierte eine Weltordnung, in der genügend zentrale Gewalt zur Friedenssicherung vorhanden wäre und in der zugleich die demokratische Gestaltung von Weltpolitik realisiert würde. Darin müssten sich die Nationalstaaten »…zunehmend, und zwar im eigenen Interesse, als Mitglieder der internationalen Gemeinschaft verstehen.« (Ebd., S. 106) Ein anderes staatliches Verhalten wäre nicht mehr zeitgemäß: »Was wir bis gestern ›Politik‹ nannten, ändert täglich seinen Aggregatszustand.« (Ebd. 106f.) Habermas setzte auf die Trennung von »sicherheitsrelevanten Aufgaben der Weltorganisation« und »verteilungsrelevanten Fragen der Weltinnenpolitik«. (Ebd., S. 93). Die Europäische Union mit ihren Möglichkeiten einer abgestimmten Wirtschafts- und Außenpolitik erschien ihm als Blaupause für eine supranationale Politikgestaltung, die auf den Weltmaßstab übertragbar wäre. Da der »…europäische Einigungsprozess, der immer schon über die Köpfe der Bevölkerung hinweg entschieden worden ist, … heute in der Sackgasse…« stecken würde, schrieb Habermas 2011, müsste für eine Stärkung der gemeinsamen europäischen Politik »…vom bisher üblichen administrativen Modus auf eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung umgestellt…« werden. (Ebd., S. 123f.) Heute, im Jahr 2019 scheinen solche Hoffnungen erledigt. »Die Wiederentdeckung des deutschen Nationalstaats«, die Habermas bereits thematisierte, deutet nicht mehr auf eine national beschränkte Entwicklung. Es ist viel schlimmer noch: Nationalismus ist ein internationales

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Phänomen geworden, das die Politik in Europa und in der Welt prägt. Weltinnenpolitik ist kein Thema mehr. Ein Nachruf ist angebracht.

4)

Vergangene Zukunft

Rückblickend kann man feststellen, dass der Begriff Weltinnenpolitik von unterschiedlichen Akteuren im politischen und politikwissenschaftlichen Diskurs verwendet wurde. Häufig war er mit einer Idee zukünftiger ziviler Weltpolitik verbunden, die den interdependenten Gegebenheiten im Zeitalter der Globalisierung gerecht werden sollte. Obwohl bereits in den sechziger Jahren von Weltinnenpolitik gesprochen wird, erfuhr der Begriff erst mit dem Ende des OstWest-Konflikts seine große Konjunktur. (Siehe Bartosch 1995; S. 29–61) Nun erschien eine neue Beweglichkeit für Politik möglich, die zur neuen »Erfindung des Politischen« (Ulrich Beck) herausforderte: »Der Ost-West-Gegensatz war eine einzige Zementierung des Politischen: Die Rollen lagen fest, die Gegensätze regierten in alles hinein. Im kleinen, Alltäglichen wie im Großen, Weltpolitischen waren Normalität und Abweichung, ›Führung‹, ›Partnerschaft‹ und ›Neutralität‹ abgesteckt und bis in die Einzelheiten der Industrieproduktion, der Kommunalpolitik, der Familienpolitik und der Technologiepolitik, der Entwicklungshilfepolitik usw. festgelegt. Es war die Ordnung des Großgegensatzes und dessen Verewigung, die dreierlei bewirkte: Spannung, klare Orientierungsmöglichkeiten und eine Weltordnung der Politik, die sich den Anschein des Unpolitischen geben konnte.« (Beck 1993, S. 205) In der neuen Phase militärischer Entspannung und der Annäherung der großen politischen Kontrahenten USA und UdSSR erschien es möglich, die UNO als echte Weltregierung zu erneuern und ausschließlich friedliche Formen der Konfliktlösung zu verfolgen. Die Erfolge einer klugen Rüstungskontrollpolitik und die Entschärfung der atomaren Konfrontation taten ein Übriges, um die Vorstellung einer freien Straße zur friedlichen Entwicklung in Europa und der Welt zu bekräftigen. Dass sich durch die Auflösung des sowjetischen Imperiums jene Konflikte neu entfachen würden, die unter dem Deckel der Block-Disziplin offensichtlich weiter schwelten, brachte eine unerwartete Ernüchterung. Vom Balkan bis zum Nahen Osten brachen Kriege aus oder verschärften sich alte Konfrontationen – mit fürchterlichen Folgen für die Bevölkerung. Weltinnenpolitik wurde nun auch mit polizeilich interpretierten humanitären militärischen Interventionen verknüpft. Und auch die rechtlichen Ahndungen von Kriegsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag oder das UN-Kriegsverbrecher-Tribunal sind als Anzeichen eines gemeinsamen rechtlichen Verständnisses auch jenseits der Nationalstaaten gesehen worden.

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Ulrich Beck sah den Augenblick für eine reflexive Modernisierung gekommen, die einer Entkernung des Politischen gleicht. (Ebd., S. 212) Die alten Fassaden des Politischen müssen neu gefüllt werden. Politik muss die Möglichkeiten der Zeit ergreifen und nicht abwehren: »Reflexive Modernisierung hebt Grenzen – von Klassen, Branchen, Nationen, Kontinenten, Familien, Geschlechterrollen – auf. Gegenmodernisierung behauptet, zieht, schafft, befestigt alte Grenzen neu. Wir leben längst in einer real existierenden ›Weltinnenpolitik‹ (Karl Friedrich von Weizsäcker) (sic!) – deswegen werden die Zäune renoviert und neue Flaggen aufgezogen, erstrahlt für viele die Zaunhaftigkeit des Denkens und Handelns in verführerischem Glanz.« (Ebd., S. 100) Vor diesem Befund musste die nationale Perspektive reflektiert werden. »Europa steht vor dem Aufbruch oder dem Zusammenbuch« und alle großen Probleme könnten, wie das Ozonloch, nur »durch eine konzertierte Aktion im Weltmaßstab gestopft, geflickt werden«. (Ebd., S. 270) aus heutiger Sicht – nach Monaten eines unwürdigen Brexit-Gerangels – erscheinen die Hoffnungen auf eine Zukunft der Weltpolitik, die weltinnenpolitische Züge – gerade durch die vorbildhafte Gemeinschaftspolitik eines reflexiven Europas – durchsetzt, als überholt. Zukunft dieser Art war wohl nur in der Vergangenheit möglich.

5)

Nachrichten von einer Weltinnenpolitik

Man muss also zurückblicken, wenn man Nachrichten von einer Weltinnenpolitik empfangen will. Beispielhaft wird dies durch eine kurze Befassung mit den Texten von Ulrich Beck, Johan Galtung und schließlich Jürgen Habermas vorgenommen, der eingangs bereits eingeführt wurde. Sie haben alle drei die Begrifflichkeit eingesetzt, um eine dringliche umfassende Politikänderung angesichts der drängenden Probleme der Zeit zu begründen.

a)

Ulrich Beck

In seinem Vorwort zum Buch »Nachrichten aus der Weltinnenpolitik« zitiert Ulrich Beck (2010) eine Frage, die Zygmunt Baumann an ihn richtet: »Dear Ulrich, (…) wonderful (…). But how can one get to Weltinnenpolitik?« (S. 9) dann stellt er fest, darauf sehr wohl eine Antwort zu kennen, deren Folgefrage, aber unbeantwortet bleibt. Seine Überlegungen umreißen den prinzipiellen Horizont des Themas: »Meine Antwort lautet: Globale Risiken (Klimawandel, Finanzkrise usw.) heben Grenzen und Kategorien auf und erzeugen eine ganz alltägliche ›Weltinnenpolitik‹ wider Willen, in der der globale Andere de facto in unserer Mitte ist. Um dies überhaupt erkennbar zu machen, ist es notwendig, den

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Begriff ›Weltinnenpolitik‹ umzubauen – vom philosophischen Kopf auf die sozialwissenschaftlichen Füße zu stellen. In diesem Buch ist von ›Weltinnenpolitik‹ also nicht – das ist entscheidend – im Sinne der vorherrschenden, normativen Bedeutung eines anzustrebenden Ideals die Rede, an dem bemessen die Wirklichkeit absehbar scheitern muss. Es gilt vielmehr diesen Begriff zu einem diagnostischem Schlüssel umzuschmieden, um die Tore zur wirklich existierenden, ›unreinen‹ Weltinnenpolitik aufzuschließen.« (Ebd.) Für Ulrich Beck ist der diagnostische Wert des Begriffes also entscheidend. Mit ihm kann er die politische Entwicklung einer Zeit zur Erscheinung bringen, die sich selbst als »unpolitisch« einschätzt. So verändert sich die Welt längst und vielfach, ohne dass diese Prozesse aktiv gestaltet würden. Immerhin hätte die Befassung mit Weltinnenpolitik eine aufklärende Wirkung. Sie womöglich eine naive Sicht auf den politischen Lauf der Dinge. Bezüglich der normativen Zielsetzung einer wünschbaren Weltinnenpolitik kann (und muss) Ulrich Beck keine Lösung formulieren: »Darauf habe ich keine Antwort. So viel ist klar: Die Kluft zwischen der real existierenden und der normativen Weltinnenpolitik überbrückt, überfliegt kein hegelscher Zeitgeist.« (Ebd.) Ulrich Beck sucht nach einer realistischen Beschreibung der globalisierten Welt. Die nationalstaatlichen oder regionalen Politiklösungen haben kein empirisches Fundament mehr: »Denn das ist eine Pointe der Nachrichten aus der Weltinnenpolitik: Das Außen, das der Begriff der ›Auslagerung‹ vorgaukelt, gibt es nicht mehr.« (Ebd., S. 14) Damit hat sich die Grundlage aller Politik verändert. Auch wenn die faktische Politik weiterhin in nationalen oder internationalen Strukturen denkt und handelt, ist sie längst in einem neuen Modus angekommen. Politik handelt gewissermaßen blind. Vermeintlich unpolitische Prozesse sind in ihrem politischen Charakter und der nötigen Steuerungsnotwendigkeit unerkannt. Sie verweisen aber auf das jetzt Zeitgemäße: »Die faktische Weltinnenpolitik wirft allerdings Fragen der normativen Weltinnenpolitik auf: Wie kann die ›Auslagerung‹ transnationaler Schäden aufgedeckt und auf die weltinnenpolitische Agenda gesetzt werden?« (Ebd., S. 15)

Die normativen Fragen, die auch von Beck als ungelöst, ja vielleicht als unlösbar eingeschätzt werden, lassen sich nicht wegzaubern. Auch wenn wir die Augen davor schließen, spannen sie den Rahmen unserer Lebensbedingungen auf: »Weltinnenpolitik heißt: Egal, wie sympathisch oder fremd uns die Menschen anderer Hautfarbe, Nationalität und Religion erscheinen, wir müssen, um zu überleben, mir diesen ›fremden Anderen‹ in dieser Welt der Korruption, des Leidens und der Ausbeutung zusammenleben und zusammenarbeiten. Begrabe alle Werte ›politischer Reinheit‹, die dir vorgaukeln, dass du nicht dazugehörst, dass du außerhalb stehst!, lautet die Schlussfolgerung.« (Ebd., S. 44)

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Alle Ansätze einer übergreifenden weltgemeinschaftlichen Politik ziehen die richtige Konsequenz und bewegen sich – wenn auch teilweise unreflektiert – in die richtige Richtung: »Das Ringen um die Klima- und die Finanzpolitik ist damit letztlich ein Ringen um eine Neuerfindung und -begründung des Politischen, das die nationalstaatliche Souveränitätsordnung, wie sie im Westen vorgedacht und festgeschrieben wurde, durch eine weltinnenpolitische, weltbürgerliche Rechtsordnung korrigiert, die die Nationalstaaten zugleich bindet und von ihnen gemeinsam gegen Widerstände durchgesetzt wird. Niemand weiß, ob das gelingen kann.« (Ebd., S. 52)

Die Anzeichen für eine richtige, aktive Weltinnenpolitik müssen kritisch gesehen und gewertet werden. Sie können auch Resultat eines nationalen, hegemonialen Konzepts sein, das sich der neuen Realität anpasst, ohne die neuen Grundsätze einer Weltinnenpolitik zu reflektieren. Der Krieg gegen den Terror gerät so zum Konzept einer nationalen Sicherheit, die globale Kontrolle beansprucht: »Aus den Trümmern des World Trade Centers wurde die Botschaft des weltinnenpolitischen Imperativs herausgelesen, dass niemals wieder ein Land zum Hort des global agierenden Terrorismus werden dürfe. Aber dieser Krieg muss als ›gefühlter Frieden‹ organisiert werden.« (Ebd., S. 58)

Die Sicherheitspolitik bleibt spezifisch militärisch gedacht und organisiert. Sie richtet sich gegen einen Feind, der von außen eindringen würde/könnte, tut dies aber so, als sei dies im Modus der inneren Sicherheit zu realisieren. Die ganze Welt ist »innen«, in dieser Sichtweise. Die Vollstreckung von Todesurteilen erfolgt auf eigenem Territorium oder, auch per Joy-Stick, irgendwo auf dem Globus. Ulrich Beck benennt also die politiktheoretische Lücke zwischen der traditionellen Politik und einer noch nicht »erfundenen« neuen Politik, die den Anforderungen der Gegenwart und der Zukunft gerecht werden könnte. Nicht zuletzt Bildung und Wissenschaft sieht er aufgerufen, den Raum für neues Denken zu bieten. Eine Bildungsreform in den Maßstäben eines Wilhelm von Humboldt wäre an der Zeit. Besonders die Universität müsste in einen neuen Modus versetzt werden. Mit scharfer Kritik an den ökonomisierenden Reformschritten der Bologna-Phase fordert er »Humboldt II«: »… das unterscheidet Humboldt II von Humboldt I: An die Stelle der Schule der Nation, tritt die Schule der Weltbürgerlichkeit. … Denn die weltinnenpolitische Agenda wagt es, die Universität zum Labor einer zweiten, postnationalen Aufklärung zu machen.« (Ebd., S. 72)

Das Projekt der zweiten Aufklärung steht dafür, die Bedingungen künftiger Weltinnenpolitik zu bestimmen. Es ist also nicht zuletzt eine Aufgabe für die

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Wissenschaft erkennbar, der sie sich stellen muss, weil es keine selbstentstehenden Lösungen ohne kritische Denkarbeit geben wird: »Die real existierende Weltinnenpolitik hat also keine Antwort auf die ethische Mammutfrage: Sind – oder genauer: unter welchen Bedingungen sind – humanitäre Interventionen gerechtfertigt, verwerflich oder geboten? Aber sie beantwortet die Frage, warum die Frage nach der Rechtfertigung humanitärer Interventionen weltweit auf der Agenda steht und warum sie weniger einen Lernprozess in Gang setzt als vielmehr mannigfaltige Konflikte hervorruft.« (Ebd., S. 132)

b)

Johan Galtung1

»We need a political system…«, schreibt Johan Galtung im Jahr 2008, »…so sensitive that it can catch small signals from people in every corner of the global system and convert them into concrete ideas to be put on the agenda, and into practice. ›Global democracy‹ covers that. But how about ›every corner‹.« (Galtung und Scott 2008, S. 66)

Anders als Beck geht Johan Galtung direkt auf die Umsetzung eines weltinnenpolitischen Politikkonzepts zu. Seine Vorstellung von ›Globaler Demokratie als einer Friedensarchitektur‹ (siehe ebd.) korrespondiert implizit sehr stark mit Weltinnenpolitik: »…Weltinnenpolitik–…–global domestic policy, needs concretization to move from policy to politics. … And yet some kind of globalization is inevitable, built into new global modes created by means of transportation and communication. The basic key to global domestic politics is conflict resolution. Which means respecting legitimate interests of all parties. And they are essentially two: humans, us, and the nature on which we depend. States, nations, classes, races are constructions.« (Galtung 2010)

Und es ist nur eine Frage der Zeit, wann eine globale Demokratie aufgebaut sein wird. Das Weltparlament sei eine unausweichliche Konsequenz der Globalisierung. Zwar gäbe es Anzeichen einer Demokratisierung der Welt, (»…there is already e world court (ICJ), a world constitution in the form of human rights… and a rudimentary world executive in the UN, Galtung/Scott 2008, S. 44) aber kein gewähltes Parlament: »A major democracy deficit.« (Ebd.) Aber die weitere Entwicklung sei absehbar: »World elections for a world parliament constituted as a UN People’s Assembly, using each Member State as a constituency, with, say, one representative per million or part of million, is today within reach.« (Ebd.) 1 Der folgende Unterabschnitt übernimmt Gedanken aus Bartosch (2012).

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Besonders in der Schrift, »The Fall of the US Empire – And Then What?« aktualisiert und operationalisiert seine »Weltinnenpolitik«. Sie wird als Außenpolitik im Wandlungsprozess zur Weltinnenpolitik gedeutet. (Vgl. Schmidt 2012, S. 31) Galtungs Analyse vom Verfall des amerikanischen Imperiums arbeitet konsequent auf die Skizze einer globalisierten Außenpolitik hin, die sich dann als Weltinnenpolitik zu konstituieren hat. Mit kritischem Blick auf das außenpolitische Modell des Westfälischen Friedens aus dem Jahre 1648 stellt er fest, dass heute weit mehr Akteure die Weltpolitik beeinflussen können bzw. können sollten als die klassischen Staaten mit ihren Lenkern. Er kennzeichnet acht Ebenen, die wesentlich auch durch den Grad ihrer territorialen Bindung zu unterscheiden sind. Diese Akteurs-Ebenen sind: 1. Das universale UN-System multilateraler zwischenstaatliche Beziehungen für innere Weltangelegenheiten – also eine bestehende Weltinnenpolitik. 2. Super-Staaten bzw. regionale Systeme multilateraler zwischenstaatliche Beziehungen für innere regionale Angelegenheiten. 3. Die Staaten für bilaterale zwischenstaatliche Beziehungen innerhalb des Staatensystems. 4. Die Sub-Staaten, womit Nationen als nichtstaatliche Einheiten bezeichnet sind. 5. Die lokalen Gemeinschaften, wie z. B. Städte oder Gemeinden, deren Netzwerke global, regional und bilateral sein können. 6. Die wirtschaftlichen Unternehmungen, die als transnationale Organisations-einheiten sowohl universal, regional oder bilateral agieren. 7. Die Nichtregierungsorganisationen mit vergleichbarer Aktionsvielfalt. 8. Die einzelnen Menschen, mit universalen, regionalen oder bilateralen Netzwerken, die durch die Internettechnologie außerordentliche Macht gewonnen haben. (Siehe Galtung 2009, S. 120)

Ohne diese Liste nun im Detail zu besprechen, ist zu vermerken, dass diese Akteurs-Ebenen eine große Vielfalt der Weltpolitik erzeugen können, die innenpolitische Strukturen im globalen Maßstab schaffen ließen. Besonders für die »sub-states«, also die Nationen ohne Staat, sieht Johan Galtung vielfache Chancen der Aufwertung innerhalb eines reformierten UN-Systems, das ihnen Stimme und Geltung verschaffen müsste. Dann könnte von ihnen und von den anderen Ebenen unterhalb der staatlichen Ebene eine friedensstiftende Wirkung ausgehen, da sie nicht mit dem Recht zur Kriegserklärung verbunden waren: »To the contrary, the sub-states could operate much better in the world when liberated from military ambitions. … The sub-states could bring in a New Beginning, and more easily so the less they are born and steeped in tradition of violence.« (Ebd., S. 126)

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Etwas später spricht Galtung von ›Staaten für alle Aufgaben/Zwecke außer dem, Kriege zu führen‹. Sein Beispiel sind der Vatikan und in besonderer Weise Einheiten wie ›Hongkong (Komma) China‹. Mit dieser Bezüglichkeit (Komma China) seien Zugehörigkeit und Selbständigkeit gleichermaßen ausgedrückt. (Ebd. S. 127) Galtung erkennt hier die Vorbildfunktion nicht-staatlicher politischer Akteure in der internationalen Politik, die das Recht, Kriege zu führen, nicht in Anspruch nehmen können und auf eine zivile Konfliktlösung angewiesen sind. Für Hajo Schmidt zeigt sich im strukturellen Entwurf von Galtung, der schließlich die Politics-Dimension von Weltinnenpolitik beschreibt eine »… entschiedene Absage an konkurrente Versuche, Weltinnenpolitik als originäre Leistung eines (Welt-)Einheitsstaates zu begreifen«. Er fasst zusammen: »Weltinnenpolitik beruht nicht auf einem in seiner Maß- und Grenzenlosigkeit furchterregenden global-punktuellen Gewaltmonopol, sondern bleibt, durch Machtdezentralisierung und –diffundierung durchgehend demokratisch rückgekoppelt und durchgestaltet.« (Schmidt 2012, S. 34)

Für Galtung ist das bislang überzeugendste Modell für eine demokratisch angelegte, global organisierte und sozial gerechte Weltpolitik – und damit Weltinnenpolitik – die Europäische Union: »The world state system model is most likely to be the EU, with its shortcomings and achievements. A major achievement is peace among its members so far. To major shortcomings are the threat of collision with outsiders, particularly with unions of states like itself, and the famous democracy deficit.« (Galtung/Scott 2008, S. 77)

Damit lässt sich die Brücke zum dritten Weltinnenpolitiker schlagen, der hier vorgestellt werden soll.

c)

Jürgen Habermas

Jürgen Habermas »ist im Laufe der neunziger Jahre klar geworden, dass die politischen Handlungskapazitäten den Märkten auf supranationaler Ebene nachwachsen müssen«. (2011, S. 104) Nun sei aber der wirtschaftlichen Globalisierung keine entsprechende rechtliche politische Struktur für die internationalen Beziehungen gefolgt. Es sei jedoch notwendig Markt und Politik immer neu auszubalancieren, um das »Netz solidarischer Beziehungen« intakt zu halten. Weil »Markt und Politik auf gegensätzlichen Prinzipien beruhen« bräuchte es eine angemessene »Erweiterung von politischen Verfahren der Interessensverallgemeinerung«. (Ebd., S. 104f.) Habermas sieht eine Fortentwicklung der Vereinten Nationen »…als eine politisch verfasste Gemeinschaft von Staaten und Bürgern…« als erstrebenswert, die sich »…gleichzeitig auf die Kernfunktionen der Friedenssicherung und der globalen Durchsetzung der Menschenrechte

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beschränkt…«. (Ebd., S. 85) Die VN müssten durch Ergänzung eines »in die Weltgemeinschaft normativ eingebundenen Verhandlungssystems« zu einer »politisch verfassten Weltgesellschaft« (ebd.) ausgebaut werden. Habermas orientiert sich am »beispiellosen Gebilde der EU« in seiner Skizze einer welt(innen)politischen Ordnung: »Ja, diese politische Weltordnung ließe sich ihrerseits als eine Fortsetzung der demokratischen Verrechtlichung des substantiellen Kerns staatlicher Gewalt begreifen. Denn auf der globalen Stufe würde sich die Konstellation der drei Grundbausteine von demokratischen Gemeinwesen noch einmal ändern.« (Ebd., S. 85f.)

Habermas schwebt eine Weltbürgergemeinschaft vor, die nicht als Weltrepublik gedacht werden sollte. Er spricht von einer »überstaatlichen Assoziation von Bürgern und Staatsvölkern« in der die Staaten das Gewaltmonopol behalten. Nationalstaaten und Weltbürger agieren gleichermaßen als verfassunggebende Subjekte der Weltgemeinschaft. Im Weltparlament würden so Staatsbürger und Weltbürger gleichermaßen verhandeln. Bestehende Unterschiede der innenpolitischen Standards würden so akzeptiert: »Die Konkurrenz dieser beiden Perspektiven bezieht ihre Berechtigung aus einem historischem Entwicklungsgefälle, von dem die Weltinnenpolitik, auch wenn es sukzessive überwunden werden soll, nicht einfach abstrahieren darf.« (Ebd., S. 87)

Im Grunde wäre dem Weltparlament die Entwicklung der normativen Standards für transnationale Politik auferlegt und die globale Durchsetzung des Gewaltverbots und der Menschenrechte zuerkannt. Das humanitäre Völkerrecht ist zu einem »an militärische Notwendigkeiten angepassten Polizeirecht« fortzuentwickeln. (Ebd.) Es würde auf der Basis »präsumtiv geteilter moralischer Grundsätze und Normen« demokratisch tätig werden können. (Ebd., S. 92) Die verteilungsrelevanten Fragen der Weltinnenpolitik wären schwieriger demokratisch zu legitimieren. Die transnational auszuhandelnde Weltinnenpolitik würde von den global players vollzogen. Eine direkte Beteiligung der Weltbürger ist nicht vorgesehen, aber auch die Fortschreibung internationaler Politik auf der Basis traditionellen Völkerrechts würde beendet: »Denn der Witz des vorgeschlagenen Designs besteht ja darin, dass sich der politische Prozess jenseits der Staaten und der Staatenunionen auf zwei verschiedene Politikfelder verteilen und in entsprechende Legitimationszüge verzweigen soll. Demnach fallen die Aufgaben der globalen Sicherheits- und Menschenrechtspolitik in die Kompetenz einer Weltorganisation… . Aus diesem hierarchisch aufgebauten Kompetenzgefüge fallen die verteilungsrelevanten Aufgaben der Weltinnenpolitik heraus; sie werden in ein transnationales Verhandlungssystem abgezweigt, … damit aber keineswegs ausschließlich dem Spiel der internationalen Machtdynamik überlassen…«. (Ebd., S. 94)

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Es bleiben Lücken der Legitimation, die sich einstweilen aber nicht schließen ließen lassen, da die Existenz globaler »einheitlicher Lebensverhältnisse« aktuell nicht vorausgesetzt werden könne. Hier müsse die Weltinnenpolitik auf das politische Ziel solcher, weltweiter sozialer Gerechtigkeit ausgerichtet werden und in diesem Charakter ihrer Verzeitlichung auf künftige Weltinnenpolitik verpflichtet sein. (Ebd. S. 95f.) Für Habermas ist sein Verfassungsentwurf für Europa sowohl Schritt auf dem Weg als auch der Beleg für die Möglichkeit einer Weltinnenpolitik. Was für die europäische Fortentwicklung als Möglichkeit ansteht, ist damit zugleich von hoher Verpflichtung, um die historische Verantwortung zur friedlichen Weltpolitik beizutragen und Weltinnenpolitik voranzubringen nicht zu versäumen. Es geht um die Legitimation einer demokratischen, rechtstaatlich verfassten Politik, die auf der Basis von kommunikativer deliberativer Prozesse das transnationale Gemeinwohl und die nationale kulturelle Interessensdifferenz in einen praktikablen Einklang bringt: »Auf europäischer Ebene soll der Bürger gleichzeitig und gleichgewichtig sowohl als Unionsbürger wie auch als Angehöriger eines Staatsvolkes sein Urteil bilden und politische entscheiden können. Jede Bürgerin nimmt an den europäischen Meinungs- und Willensbildungsprozessen sowohl als die einzelne autonom ›ja‹ und ›nein‹ sagende Europäerin wie als Angehörige einer bestimmten Nation teil.« (Ebd., S. 69)

6)

Policy, Politics und Polity einer Weltinnenpolitik

Ulrich Beck, Johan Galtung und Jürgen Habermas: drei ausgewählte Vertreter für weltinnenpolitische Entwürfe ermöglichen uns, verschiedene Aspekte der semantischen Spannweite des Begriffes auszuweisen, der ja zunächst nur ein »Wort« ist, wie Sabine Jaberg feststellt. Sein Erfinder »umreißt ›Weltinnenpolitik‹ eher grob, als dass er sie systematisch entfaltet«. (Jaberg, 2012, S. 116). Es ist aber doch erstaunlich, dass Weltinnenpolitik die vorgestellten Gedanken sowohl begrifflich entfalten hilft, als auch geeignet ist, sie inhaltlich zu verbinden. Während Ulrich Beck auf die realen politischen Aufgaben und nötige Problemlösungen verweist und somit die Policy-Dimension eines zeitgemäßen Politikbegriffs erörtert, wendet sich Johan Galtung im Schwerpunkt der Prozessgestaltung und Konfliktregelung zu. Er drückt auch explizit aus, dass es um Politics gehen müsse, die einer Weltinnenpolitik gerecht werden können. Jürgen Habermas schließlich konzentriert sich stark auf den verfassungsmäßigen Rahmen einer verrechtlichten globalen politischen Ordnung, die Weltinnenpolitik betreiben kann und somit auf Polity. Allen ist eine friedenspolitische Verpflichtung ihrer politischen Entwürfe/Reflexionen selbstverständlich. Alle drei sehen in der europäischen Ordnung einen wichtigen Grundstein und Hoffnungsanlass für eine globale gerechte und friedliche Weltordnung.

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Gerade wurde behauptet, dass die aktuellen Entwicklungen in Europa diese Hoffnungen nicht mehr rechtfertigen würden. Dann wäre wohl tatsächlich ein Nachruf auf Weltinnenpolitik nötig, denn alternative Hoffnungsträger sind nicht Sicht – oder doch? Es ist eben eine Stärke des Begriffs Weltinnenpolitik, dass er die Dimensionen des Politikbegriffs mit einer analytischen und mit einer normativen Blickrichtung einzufangen vermag. Unter friedenstheoretischen Vorzeichen ist das bedeutsam. Er verweist auf eine realistische Sicht auf die Welt wie sie ist und entwickelt aus der Analyse der realen Gefährdungen die normative Ausrichtung auf eine Gefahrenabwehr. Dass diese nicht zwingend undemokratisch und im Sinne von Weltstaat gedacht werden muss, können die vorgestellten Überlegungen klarstellen. Es lohnt sich, weiterhin über Weltinnenpolitik nachzudenken, wenn es um den Frieden in der Welt gehen soll. Vielleicht stellt sich dieser Frieden dann doch immer wieder als weltinnenpolitisches Projekt heraus. In der Dimension der Policy von Weltinnenpolitik bewegen sich in jüngster Zeit der »Neue Bericht des Club of Rome: ›Come on‹« (E. U. von Weizsäcker et. al. 2017) und die Enzyklika ›Laudato si‹ von Papst Franziskus (2015)2. Sie entfalten die analytische und normative Perspektive auf die eine Welt. Durch die Interdependenz aller Prozesse, die von menschlichem Handeln ausgelöst werden, ist die schleichende Katastrophe des Zusammenbruchs der menschlichen Lebensbedingungen vorprogrammiert. Eine Gegensteuerung ist zwingend erforderlich. »Wir brauchen eine neue Aufklärung«, postuliert der Club of Rome: »Die neue Aufklärung, die Aufklärung 2.0«, wird nicht europazentriert sein. Sie muss sich auch an den großartigen Traditionen anderer Zivilisationen orientieren.« (E. U. v. Weizsäcker et. al. 2017, S. 181) Der Club of Rome öffnet damit den wissenschaftlichen Diskurs für einen Austausch z. B. mit spiritueller Weisheit. Vice versa sieht Papst Franziskus die Religionen zum Dialog mit der Wissenschaft aufgerufen und zum Gespräch untereinander: »Der größte Teil der Bewohner des Planeten bezeichnet sich als Glaubende, und das müsste die Religionen veranlassen, einen Dialog miteinander aufzunehmen, der auf die Schonung der Natur, die Verteidigung der Armen und den Aufbau eines Netzes der gegenseitigen Achtung und der Geschwisterlichkeit ausgerichtet ist.« (LS 201)

Die Prozessgestaltung wird auch thematisiert, bleibt vor allem in der Enzyklika etwas vager in der Ausführung. (LS 163–201) Der Club of Rome widmet einen Abschnitt der Diskussion »weltweiter Regeln«. (E. U. v. Weizsäcker et. al. 2017, S. 348–358)

2 Die nachfolgende Zitierweise nennt in der für Enzykliken üblichen Form die über alle Ausgaben identischen Abschnittsnummern mit dem Sigl LS.

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Hingegen ist das Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) »Welt im Wandel« explizit ein Dokument der Politics-Dimension von Weltinnenpolitik. In detaillierter Analyse werden Konzepte der Governance erarbeitet, die als Gegenmaßnahme zur Klimazerstörung wirksam werden können/müssen: »Die Transformation ist machbar. Die Transformation zur klimaverträglichen Weltgesellschaft gleicht im Ausmaß einer neuen industriellen Revolution im Zeitraffer und stellt insbesondere auch deswegen eine in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesene Herausforderung dar, weil sie forschungs- und wissensbasiert gestaltet werden und unter hohem Zeitdruck ablaufen muss.« (WBGU 2011, S. 30)

Der WBGU dekliniert die nötigen politischen Maßnahmen in die unterschiedlichen Politikbereiche hinein. Er reklamiert eine neue Staatlichkeit im Mehrebenensystem unter dem »Leitbild des gestaltenden Staates mit erweiterter Partizipation« (Ebd., S. 215–219). Für die internationale Ebene werden drei vordringliche Transformationsfelder ausgemacht: »Für die Transformation in den betrachteten Transformationsfeldern Energie, Urbanisierung und Landnutzung ist eine Gestaltung des Prozesses im Mehrebenensystem notwendig. Bisher erfolgt die politische Gestaltung bestenfalls auf der nationalen und lokalen Ebene. Was fehlt, ist die notwendige politische Aufmerksamkeit auf internationaler Ebene. … Für alle drei Transformationsfelder ist erkennbar, dass sowohl die notwendigen Technologien und Techniken als auch die politischen Instrumente bekannt sind, es aber für die identifizierten drei grundlegenden Infrastrukturen der klimaverträglichen Weltwirtschaft eines internationalen Abstimmungsprozesses bedarf.« (Ebd., S. 242).

Ein »leidenschaftliches Plädoyer« (Leinen/Bummel 2017, S. 2) für ein demokratisches Weltparlament haben Jo Leinen und Andreas Bummel vorgelegt. Sie entwickeln ein zukunftsfähiges Design zur »Verwirklichung einer Weltdemokratie«. (Leinen/Bummel 2017, S. 367–384) Ihre Polity-Dimension wird umfassend und wohlbegründet ausgearbeitet. Sie entwerfen eine Weltlegislative mit zwei Kammern sowie ein Weltverfassungsgericht, das auf der Grundlage von Weltrecht wirksam wird. Ein Kapitel des umfangreichen Buches widmet sich der »Bedrohung durch Nuklearwaffen« (ebd., S. 195–209), deren Aktualität nicht bestritten wird. Allerdings bleiben die Vorschläge zur nuklearen und konventionellen Abrüstung eher affirmativ. Sie identifizieren »vier Säulen einer Weltfriedensordnung: Weltweite Rüstungskontrolle, demokratische globale Institutionen, die einen gerechten Interessenausgleich ermöglichen und verbindliches Recht setzen können, obligatorische internationale Gerichte zur friedlichen Konfliktlösung und supranationale Gewalt über polizeiliche und militärische Durchsetzungsmittel.« (Ebd., S. 208)

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Ein kosmopolitisches Parlament würde diese Säulen entwickeln und stärken helfen. Bei genauer Betrachtung aller genannten Ansätze wird schnell deutlich, dass sie jeweils für sich alle drei Politikdimensionen berühren, wenngleich sie dies mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung tun. Und alle drei aktuellen Ausführungen zu den Dimensionen einer Weltinnenpolitik stützen sich auf eine ausreichend verbreitete Veränderung der Weltwahrnehmung in der Weltbevölkerung. Diese sei bereits im Gange, wie z. B. Leinen und Bummel konstatieren: »Die neue globale Aufklärung muss nicht proklamiert werden. Mit der voranschreitenden kognitiven und moralischen Entwicklung des Menschen und mit der zunehmenden Verbreitung eines planetarischen Bewusstseins findet sie bereits statt. Ein großer Anteil der Bevölkerung hat begriffen, dass die Menschheit für die Handlungen des Menschen als Spezies Verantwortung übernehmen muss, damit das Leben auf der Erde und die Menschheit selbst eine Zukunft hat.« (Ebd., S. 366)

Abschließend soll die Forderung nach einem Bewusstseinswandel kurz thematisiert werden.

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Bewusstseinswandel und Weltaußenpolitik

Was begründet eigentlich die Hoffnung, dass die Veränderung von den großen Prozessen der Weltpolitik bis hin zum kleinen Handlungsspielraum der einzelnen Menschen rechtzeitig realisiert wird? Wie gelingt der Schwenk von einem politischen Katastrophenkurs hin zu einer im normativen Sinne gewünschten und richtigen Weltinnenpolitik? Es ist bemerkenswert, dass alle älteren und neuen Ansätze mit der vernünftigen Einsicht der Menschen operieren. Dazu kommt noch das schlagende Argument der Alternativlosigkeit: Ohne Umkehr keine Rettung! Dies ist eine fast theologisch anmutende Forderung, die ein existentielles Fundament für politische Entscheidungen in Anschlag bringt. Es wurde ja eingangs darauf hingewiesen, dass Weltinnenpolitik eine nahezu automatische Verknüpfung mit dieser existentiellen Bedeutung des politischen Handelns aufweist. Es geht ums Ganze und deshalb wird auch eine ganzheitlich formierte Änderung möglich sein. Der abschließende Satz von Leinen und Bummel drückt diese nahezu kantianische, transzendentalphilosophische Schlussfolgerung markant aus: »Endlich wird die Menschheit ihre Kreativität und Energie voll entfalten können und zwar auf produktive Weise zum Wohle aller und des Lebens auf der Erde. Dieser Traum kann Wirklichkeit werden. Er muss Wirklichkeit werden, wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll.« (Ebd. S. 400)

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Sehr ähnlich hatte auch Carl Friedrich von Weizsäcker argumentiert, der das Wort Weltinnenpolitik in die politische Debatte eingebracht hat und damit vielleicht doch mehr als nur eine pfiffige Wortschöpfung vollzogen hat. Sein Motiv wurde aus der fundamentalen nuklearen Gefährdung geschöpft. Die Abschaffung des Krieges, jene altehrwürdige ›Utopie‹, die doch völlig irreal beurteilt wurde im Laufe der Jahrhunderte, wurde mit der Option des Atomkriegs als einzig mögliche, realistische Option identifiziert. Es ergab sich ein echtes Dilemma. Eine friedliche Welt, so wünschbar sie auch ist, hat es nie gegeben und sie wird es wohl auch nicht geben. Aber eine unfriedliche Welt wird es auch nicht geben, da sie schließlich in einem letzten Vernichtungskrieg untergehen müsste. Deshalb wird das bisher Unmögliche als das zukünftig Tatsächliche hergestellt werden müssen. Das Überleben der Menschheit ist vom friedlichen Zusammenleben abhängig. Die gestellte Aufgabe ist eigentlich nicht zu bewältigen. Alle Überlegungen verdichten sich dann 1963 in der Formel »Welt-Innenpolitik«. Sie deutet auf eine realistische Sicht der realen Welt und auch die notwendigen Forderungen für eine realistische Zukunft, die stets als »Wege in der Gefahr« gedacht werden mussten. Weizsäcker hatte sich von jeglicher Idee eines »Ewigen Friedens« verabschiedet und beschränkte sich auf die für ihn einzige realistische Option: eine andauernde atomare Gefährdung der Welt, die permanent durch politisches und auch durch vernünftiges militärisches Bemühen ausbalanciert werden muss. Mit einem Bewusstseinswandel der Menschheit, die sich von der Option des Krieges verabschiedet, würde ein dauerhafter, politisch gesicherter Weltfriede machbar. Also: Eine Auflösung des Problems ist nicht denkbar, wohl aber ist eine Form adäquaten Managements des Problems machbar. Nötig ist demnach eine dauerhafte Entwicklung der friedlichen Welt. In seiner Friedenspreisrede formuliert Carl Friedrich von Weizsäcker: »Der Weltfriede ist notwendig, denn die Welt der vorhersehbaren Zukunft ist eine wissenschaftlich-technische Welt. Der Weltfriede ist nicht das goldene Zeitalter, sondern sein Herannahen drückt sich in der allmählichen Verwandlung der bisherigen Außenpolitik in Welt-Innenpolitik aus. Der Weltfriede verlangt von uns eine außerordentliche moralische Anstrengung, denn wir müssen überhaupt eine Ethik des Lebens in der technischen Welt entwickeln.« (1963, S. 8)

In diesen Sätzen, die in der Rede mehrfach erweitert und vertiefend erläutert werden, wird deutlich, dass von einem Management dauerhafter Gefahr und einer moralischen Weiterentwicklung gesprochen wird. Bei genauerer Analyse ergibt sich ein Geflecht von gedachten gegenseitigen Abhängigkeiten (den »Bedingungen des Friedens«) zukünftiger politischer Entwicklung, die stets prekär bleibt und auch rückschrittlich sein kann. In späteren Texten spricht Weizsäcker von »unvollständiger«, »aktiver« und »vollständiger« Weltinnenpolitik, wodurch der prozessuale Charakter differenzierter zur Geltung kommt. In eigener

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Rückschau beschreibt er, was ihn »damals zu dieser Wortprägung veranlasst hat«: »Weltinnenpolitik ist nicht das goldene Zeitalter. Die Konflikte zwischen den Menschengruppen dauern fort. Aber Innenpolitik ist eine andere Form, die Konflikte auszutragen; zu ihren anerkannten Institutionen gehört nicht mehr der Krieg der Konfliktträger gegeneinander. Und was mir sehr wichtig war: Ich glaubte eine Entwicklung des Menschheitsbewusstseins in dieser Richtung schon zu spüren … .« (1995, S. 441–448)

Carl Friedrich von Weizsäcker setzte seine Hoffnungen einerseits auf die Möglichkeit des Bewusstseinswandels durch umfassende Vernunft und andererseits auf den Faktor Zeit, die mit dem Verstand gewonnen wird. Eine kluge Politik der Kriegsverhütung muss die Gnadenfrist erwirken, in der die politische Friedenssicherung aufgebaut werden könnte. Die empathische Fähigkeit der Menschen, fremdes Leid zu spüren, müsste der Schlüssel für den nötigen Bewusstseinswandel sein. Es sollte eben auch möglich sein, das Leid der Zukünftigen jetzt mitzufühlen, um die Verhinderung künftigen Leidens auch jetzt zu wollen und damit politisch zu verfolgen. Die nahezu vollständige und plötzliche Vernichtung der lebenswerten Welt durch einen jederzeit möglichen Atomkrieg müsste als Signal stark genug sein, um diese Einsicht zu erwirken. Es ist deshalb bedenkenswert, dass die atomare Gefährdung heute keine Rolle mehr im öffentlichen Bewusstsein hat. Sowohl der wissenschaftlichen Community als auch der allgemeinen Öffentlichkeit ist eine ängstliche Wahrnehmung des drohenden atomaren Holocaust fremd geworden. Der Klimawandel und andere grundsätzliche Gefährdungen z. B. durch Diversity-Verlust sind im Fokus. Dabei ist die atomare Bedrohung in keiner Weise abgewendet. Es ist aber mit Blick auf den notwendigen Bewusstseinswandel zu fragen, ob die schleichende Katastrophe der Klimazerstörung schließlich rechtzeitig als gemeinsamer Untergang wahrgenommen wird. Es bleibt schließlich eine Entwicklung mit vermeintlichen Gewinnern und Verlierern. Allerdings, und dies führt zurück zum eingangs angesprochenen Innen vs. Außen-Problem, verbindet alle Gefahrenszenarien, dass sie irreversible Folgen für die Zukunft anzeigen, die schon heute in der Gegenwart verursacht werden. Weltinnenpolitik ist gewissermaßen definitorisch mit diesen Problemstellungen der Zukünftigen befasst. Wenn – wie in den aufgezeigten Ansätzen – kein Außen mehr für jetzt zu bestimmen ist, dann bleibt doch die Tatsache, dass die Zukünftigen jetzt nicht innen dazugehören. Es könnte daher ein wichtiges Pendant zu unserer Vorstellung von Weltinnenpolitik bedeuten, den Zukünftigen die Souveränität für ihr staatliches und kosmopolitisches Handeln zuzugestehen. Weltaußenpolitik würde dann den Ausgleich der Interessensgegensätze zwischen den gegenwärtigen und den zukünftigen Generationen besorgen müssen.

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Das kann freilich nur in einer repräsentativen Versammlung geschehen, deren advokatorischer Auftrag durch die Verantwortung und Sorge für die Nachkommen legitimiert ist. In den vorgestellten Ansätzen ist dieser Gedanke nur in Laudato si angespielt worden. Eine pragmatische und beispielhafte Operationalisierung stellt aber der World Future Council dar, der sich z. B. mit dem Konzept »Verbrechen gegen zukünftige Generationen« befasst. (www.worldfu turecouncil.org) Naturgemäß stellt sich für die Auseinandersetzung mit den ungeborenen Generationen der Zukunft die Frage des Gewaltmonopols nicht. Diese Interessenskonflikte müssen mit friedlicher Weltaußenpolitik gelöst werden. Aber es ist schon ein Gedankenspiel mit schauerlichem Charme, eine Zukunftsvertretung mit Waffengewalt auszustatten, um die sichtliche Existenzbedrohung der Nachkommenden gegen die Gegenwärtigen abwenden zu können. Atomwaffen kämen wohl kaum zum Einsatz, aber es ginge wohl in jedem Fall um Leben und Tod. Prof. Dr. phil. Ulrich Bartosch ist Politikwissenschaftler, Pädagoge und Präsident der Universität Passau.

Literatur Bartosch, Ulrich (1995). Weltinnenpolitik. Zur Theorie des Friedens von Carl Friedrich von Weizsäcker. Berlin: Duncker & Humboldt. Bartosch, Ulrich (2012). »Der bedrohte Frieden heute« – Weltinnenpolitik als Brückenschlag zwischen Carl Friedrich von Weizsäcker und Johan Galtung. In: Friedensforschung und Weltinnenpolitik im 21. Jahrhundert. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, hrsg. Uwe Trittmann, S. 11–28. Schwerte-Villigst: Institut für Kirche und Gesellschaft. Beck, Ulrich (1993). Die Erfindung des Politischen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Beck, Ulrich (2010). Nachrichten aus der Weltinnenpolitik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Galtung, Johan V. und Scott, Paul D. (2008). Democracy, Peace, Development, o. O.: Kolofon Press. Galtung, Johan V. (2009). The Fall of the US Empire – and then what? Successors, Regionalization or Globalization? US Fascism or US Blossoming? o. O.: Kolofon Press. Galtung, Johan V. (2010). Global Domestic Policy – And WikiLeaks, Transcend Media Service, 6. Dec. https://www.transcend.org/tms/2010/12/global-domestic-policy-andwikileaks/. Abruf: 17. April 2019. Habermas, Jürgen (2011). Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Berlin: Suhrkamp Verlag. Jaberg, Sabine (2012). Weltinnenpolitik im Lichte von Johan Galtungs Friedenstheorie. In Friedensforschung und Weltinnenpolitik im 21. Jahrhundert. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, hrsg. Uwe Trittmann, S. 115–131. Schwerte-Villigst: Institut für Kirche und Gesellschaft.

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Leinen, Jo und Bummel, Andreas (2017). Das demokratische Weltparlament. Eine kosmopolitische Vision. Bonn: Verlag H.J.W. Dietz Nachf. Papst Franziskus (2015). ›Laudato si‹. Über die Sorge für das gemeinsame Haus. Die Umwelt-Enzyklika mit Einführung und Themenschlüssel. Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk. Schmidt, Hajo (2012). Weltinnenpolitik – Gedanken zu Politik und Wissenschaft, Ökonomie und Menschenrecht im Werk Johan Galtungs. In Friedensforschung und Weltinnenpolitik im 21. Jahrhundert. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, hrsg. Uwe Trittmann, S. 29–45. Schwerte-Villigst: Institut für Kirche und Gesellschaft. Weizsäcker, Carl Friedrich (1963). Bedingungen des Friedens. Mit der Laudation von Georg Picht. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Weizsäcker, Carl Friedrich (1995). »Genau im jetzigen Augenblick aber finde ich die Sache ein bißchen prärevolutionär…«. In: Bartosch (1995), S. 441–448. Weizsäcker, Ernst Ulrich und Anders Wijkman et. al. (2017). Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2011). Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Hauptgutachten. Berlin: WBGU.

Teil C: Erfahrungen mit gewaltfreier Konfliktbearbeitung

Wolfgang Heinrich

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2021 »Bei dieser Entscheidung über Afghanistan geht es nicht nur um Afghanistan. Es geht darum, eine Ära großer Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden.« Präsident Joe Biden, 31. August 2021 2001 »Viele sagen, der 11. September (2001) habe die Welt verändert. Ich widerspreche. Der 11. September hat die Welt der Amerikaner verändert. Und das wird die Welt verändern.« Mohamad A. Aden, Politikwissenschaftler und Literat aus Somalia auf einer Tagung des Auswärtigen Amtes im Dezember 2001

In seiner Erklärung zu der Entscheidung, die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen, sagte Joe Biden auch: »Wir haben gesehen, wie sich eine Mission zur Terrorismusbekämpfung in Afghanistan – die Terroristen zu fassen und Anschläge zu stoppen – in eine Aufstandsbekämpfung und den Aufbau einer Nation verwandelt hat – mit dem Ziel, ein demokratisches, zusammenhängendes und geeintes Afghanistan zu schaffen … Aber lassen Sie mich eins deutlich sagen: Wir werden das afghanische Volk weiterhin durch Diplomatie, internationalen Einfluss und humanitäre Hilfe unterstützen. Wir werden uns weiterhin für regionale Diplomatie und Engagement einsetzen, um Gewalt und Instabilität zu verhindern. Wir werden uns weiterhin für die Grundrechte des afghanischen Volkes …. einsetzen. … Aber der Weg dahin führt nicht über endlose Militäreinsätze, sondern über Diplomatie, wirtschaftliche Instrumente und die Unterstützung der übrigen Welt.« Präsident Joe Biden, 31. August 20211

»Es geht darum, eine Ära großer Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden.« Noch vor wenigen Wochen wäre eine solche Aussage einem 1 Anmerkungen von Präsident Biden zum Ende des Krieges in Afghanistan, 31. August 2021 https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/08/31/remarks-by-presi dent-biden-on-the-end-of-the-war-in-afghanistan/.

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Politiker oder einer Politikerin der Linken oder jenen Zeitgenossinnen2 zugeschrieben worden, die ein bekannter deutscher Politiker einst als die mit dem »Gebetsteppich« bezeichnete. Rückblickend müssen wir uns eingestehen, dass große militärische Operationen zur Umgestaltung oder zur erneuten Schaffung von Staaten überwiegend oder ganz gescheitert sind. Heute, nach der Einsicht Joe Bidens stellt sich erneut, aber anders die Frage, wie aus hoch eskalierten Konflikten der Weg zu belastbar gewaltfreien Gesellschaften und Staaten gefunden werden kann. Dieser Frage möchte ich mit dem Blick aus der Praxis nachgehen. Ich hatte die Gelegenheit, im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in den vergangenen drei Jahrzehnten in Ländern, die über lange Jahre von unterschiedlichen Formen gewaltsamer Auseinandersetzungen geprägt waren, mit lokalen Aktivistinnen, Aktivisten und Organisationen zusammen arbeiten zu können. Über diese Erfahrungen und das, was ich daraus gelernt habe, möchte ich mit Ihnen sprechen. Lange Zeit haben Politikerinnen und Politiker mit Nachdruck die These vertreten, dass erst ein gewisses Maß an Sicherheit gegeben sein muss, bevor zivile Formen der Konfliktbearbeitung greifen können. Jedoch zeigt die empirische Evidenz, dass in vielen Ländern sich Menschen gewaltfrei gegen Gewalt engagieren in einem Kontext, in welchem sie rechtloser Gewalt durch sowohl die Organe des Staates als auch seitens privater Gewaltakteure ausgeliefert sind. Mit unserem vorherrschenden Staatsverständnis ist es schwer in Einklang zu bringen, dass Menschen durch rechtlose Gewalt seitens der Sicherheitsorgane des Staates bedroht sind. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Organe des Staates sich weitestgehend rechts- und regelkonform verhalten. Und wir haben uns angewöhnt, dies als die geltende Norm weltweit anzunehmen. Wir müssen uns aber immer wieder klar machen, dass in vielen Staaten für die dortigen Bürgerinnen und Bürger die Organe des Staates, insbesondere die sogenannten Sicherheitsorgane, die größte Sicherheitsbedrohung, der größte Unsicherheitsfaktor sind. Und dieses bereits seit vielen Generationen. Das ist aber nicht nur eine Erfahrung aus der Vergangenheit. Gerade jetzt, seit dem 4. November 2020, führt die äthiopische Regierung Krieg gegen die Bevölkerung der Region Tigray unter Missachtung sämtlicher Konventionen und Regelwerke. Die äthiopische Armee und ihre Verbündeten setzen Massaker an der Zivilbevölkerung, gezielte Angriffe auf Krankenhäuser, Schulen, Kirchen, Moscheen und Marktplätze und systematische Vergewaltigung übelster Art als Waffe ein. Die Regierung des mit dem Friedens-Nobelpreis behängten Premier Abiy Ahmed Ali scheut sich seit 10 Monaten auch nicht, Hunger als Waffe einzusetzen und humanitäre Hilfe nach Kräften zu behindern.

2 Für die bessere Lesbarkeit verwende ich im Text das generische Femininum.

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Wenn wir uns also vergegenwärtigen, welche Erfahren viele Menschen mit den real existierenden Organen des »Staates« oft über Generationen gemacht haben, dann verstehen wir auch, wie es um das Vertrauen der Menschen in die handelnden Akteure in den staatlichen Organen und damit den »Staat an sich« bestellt ist. Staatsaufbau ist darum zuerst und ganz entscheidend Vertrauensaufbau. Im Folgenden werde ich auf ein allgemein wenig bekanntes Beispiel eingehen. Es ist die Geschichte von einem erfolgreichen Neuaufbau eines Staates. Ich vermeide bewusst die häufig verwendeten Begriffe wie »Wiederaufbau« oder »postwar reconstruction«, weil es eben darum nicht gehen kann. Es geht um den Aufbau von etwas Neuem. Zum Abschluss möchte ich einige Punkte nennen, die ich aus dieser Erfahrung – und vielen anderen – für mich gelernt habe. Vorab noch eine Klärung. Wenn ich im Folgenden den Begriff »zivile Konfliktbearbeitung« verwende, meine ich damit gewaltlose Aktivitäten zivil-gesellschaftlicher Akteure zur konstruktiven Bearbeitung und Transformation von gesellschaftlichen Konflikten.

Somaliland: mit gewaltfreien Mitteln bauen Menschen im Krieg einen neuen Staat Somaliland ist ein ehemaliges britisches Kolonialgebiet am Horn von Afrika. Im Norden liegt der Golf von Aden, im Nordwesten grenzt es an Djibouti, im Westen an Äthiopien und im Osten an die Region Puntland von Somalia. Somaliland wurde 1960 unabhängig. Wenig später, als das italienische Kolonialgebiet Somalia unabhängig wurde, beschlossen beide Parlamente, eine Republik Somalia als »Bundesstaat« zu bilden. Der gewählte Ministerpräsident Somalilands, Mohammed Haji Ibrahim Egal, übernahm in der neuen Bundesregierung ein Ministeramt. 1967 wurde er zum Präsidenten des Bundesstaates Somalia gewählt. Somaliland ist überwiegend trockene Halbwüste. Die ökonomische Grundlage für 60 % der auf 3,5 Mio. geschätzten Einwohnerinnen (UNPO, 2013) ist Viehhaltung (Kamele, Schafe, Ziegen). Der Lebendexport nach Äthiopien, SaudiArabien und Jemen trägt 60 %–65 % zur Wirtschaftsleistung bei (UNDP, 2003). 3 % der Landesfläche kann für Ackerbau genutzt werden. Die Gewinnung und der Export von Weihrauch, in Ansätzen Fischerei und Kleinproduktion von Konserven, sowie der regionale Handel von der arabischen Halbinsel bis nach Äthiopien und in den Sudan bilden weitere Teile der ökonomischen Grundlage. Das Budget der Regierung ist mit 400 Mio. US-$ (2020) sehr begrenzt.

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Abb. 1: Karte von Somaliland

In Somalia gab es 1961 und 1967 demokratische Wahlen, 1967 gefolgt von der gewaltfreien Übergabe an die neue gewählte Regierung. Doch 1969 putschte das Militär unter General Siad Barré. Das war das Ende des demokratischen Bundesstaates. Es folgt eine zentralistische Militärdiktatur unter »sozialistischen« Vorzeichen. Knapp 10 Jahre danach, 1978, begann der Bürgerkrieg in Somalia, der 1991 mit dem Sturz Siad Barrés in den Zusammenbruch des Staates mündete.3 Von 1978 bis 1988 führte das Regime Siad Barrés den Krieg gegen das somalische Volk vor allem auf dem Gebiet von Somaliland. Dort überlagerte und verschränkte sich der Krieg mit alten, immer wieder gewaltsam ausgetragenen Konflikten zwischen den Klans in Somaliland.4 1988 ließ Siad Barré die Stadt

3 Formal ist Somalia noch als Staat von den VN anerkannt. Internationale Bemühungen, wieder einen funktionierenden Staat in Somalia aufzubauen, sind bis heute weitgehend erfolglos. Zwar gibt es seit 2000 wechselnde Regierungen, doch reicht deren Einfluss kaum über die Stadtgrenzen Mogadishus hinaus. 4 Der größte Klan in Somaliland sind die Isaaq (ca 80 % der Bevölkerung) gefolgt von Dir und Harti-Darod. Einige Zehntausend Einwohner Somalilands gehören den als Gaboye zusammengefassten Minderheitengruppen (Yibir, Madhibaan, Tumaal u. a.) an, die traditionell auf

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Hargeysa bombardieren und fast vollständig vernichten. Die »Somali National Movement« (SNM), die größte bewaffnete Gruppierung in Somaliland, entschied, die Front nach Süden auf Mogadishu voranzutreiben. 1991 wurde Mogadishu von mehreren Milizen erobert, Siad Barré floh, sein Regime stürzte und es folgte der vollkommene Zusammenbruch des Staates. Die SNM entschied sich, am Kampf um Mogadishu nicht teilzunehmen, sondern sich als dominierende Kraft in Somaliland zu etablieren.

»Wurzeln der Versöhnung« In den entlegeneren Gebieten Somalilands begannen bereits 1986 Frauen zwischen Klans zu vermitteln, die einander um Weiderechte, Wasser und andere Überlebensressourcen bekämpften. Die besondere Stellung der Frau in der somalischen Gesellschaft erlaubte ihnen diese Rolle (Farah, 1994). Erste Erfolge bei der Einhegung von Gewalt und dem Aushandeln von Lösungen führten dazu, dass Klangemeinschaften ihre traditionellen Führungsstrukturen revitalisierten, die während des Regimes Siad Barrés zwangsaufgelöst worden waren. Aber die traditionellen »Ältestenräte« wurden zugleich »modernisiert« und erweitert durch Frauen und einflussreiche Persönlichkeiten (Akademikerinnen, Ärztinnen, Geschäftsleute) (Farah, 1994). Ihre Hauptaufgabe war es, bei Konflikten zwischen Klan-Gruppen einzugreifen und Verhandlungslösungen zu vermitteln. Dafür wurde das traditionelle somalische (vorislamische) Vertragsrecht ›Xeer‹ zu Grunde gelegt. Frauen bildeten Klan-Grenzen überschreitende Produktionsgenossenschaften, v. a. um lokale Gemüseproduktion zur Selbstversorgung und lokalen Kleinhandel wieder auf die Beine zu stellen. Die neuen Ältestenräte nahmen zusammen mit Vertreterinnen der Fraueninitiativen Gespräche mit Politikern und Milizen auf, um Gewalt aus den Siedlungen, Märkten und öffentlichen Plätzen herauszuhalten und so einen für Zivilisten geschützten Raum herzustellen. Ab 1990 begann schließlich eine Serie von systematischen, oft wochenlangen Verhandlungen zwischen den inzwischen untereinander vernetzten Klan-Räten, den politischen Parteien und bewaffneten Milizen. Über den Inhalt der Verhandlungen wurde durch die Delegierten und Beobachterinnen Transparenz hergestellt. Regelmäßig wurden in Siedlungs- und Nachbarschaftsversammlungen die Gemeinschaften über den Stand der Verhandlungen informiert und ihre Meinung dazu eingeholt (Farah, 1994). bestimmte Berufe beschränkt sind und innerhalb des Klansystems einen gesonderten Status haben. (Amnesty International, 2005)

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Der Prozess kulminierte 1993 in der Konferenz von Boraama: Im Lauf von fünf Monaten verhandelten über 3.000 Delegierte die »Transitional National Charter«. Diese bildet fortan die Grundlage für die weiterlaufenden Gespräche mit politischen Parteien und bewaffneten Gruppen.

Was wurde erreicht? Es dauerte weitere drei Jahre bis die »Transitional National Charter« von Boraama 1996 formell von der größten bewaffneten Gruppierung, dem bewaffneten Flügel der SNM, den anderen bewaffneten Gruppen und den politischen Parteien als neue Verfassung anerkannt wurde5. In ihr ist das bis heute bestehende politische System Somalilands beschrieben. Dieses sieht eine Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative und Exekutive vor, deren Einhaltung von der nationalen Versammlung der Ältesten, der »national guurti«, als Schiedsinstanz überwacht wird. Innerhalb Somalilands sind die Unabhängigkeit und das politische System von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert (Bradburry, 2008). Die Innenpolitik ist stark geprägt von dem Bemühen, die politische Stabilität zu wahren. Allen politischen Parteien steht die Instabilität in Somalia als abschreckendes Szenario vor Augen. Zugleich ist die Stabilität Somalilands ein zentrales Argument für die Erschließung neuer wirtschaftlicher Grundlagen (Transithandel) und für das Bemühen um internationale Anerkennung. Das politische System vereint gewohnheitsrechtlich-traditionelle und moderne Elemente. Somaliland ist eine Präsidialrepublik mit einem Zwei-KammerParlament. Die Mitglieder des Repräsentantenhauses werden gewählt, die Mitglieder des an die traditionellen Klan-Ältestenräte angelehnten »Rat der Ältesten« werden von den Klans ernannt. Dieser Rat hat jedoch eine Rolle, die in Deutschland am ehesten mit dem Bundesverfassungsgericht vergleichbar ist. Er überwacht das Handeln der Exekutive und der Legislative, jede Bürgerin, jeder Bürger kann sich an ihn wenden. Mechanismen der Gewaltkontrolle und -einhegung funktionieren. Das Gewaltmonopol des »Staates« wird weitestgehend anerkannt. Obwohl es kein Entwaffnungsprogramm in Somaliland gab, tut die Polizei nur leicht bewaffnet 5 Die Entstehung des Staates Somaliland kann auch ausschließlich als Geschichte bewaffneter Auseinandersetzungen erzählt werden. Ein Beispiel dafür, wie Somaliland so auch als Bestätigung für die These »Kriege führen zu Staaten, Staaten führen Kriege« (Tilly, 1992:67) genutzt werden kann, ist Balthasar, Dominik: The Wars in the North and the Creation of Somaliland. World Peace Foundation, 2013. Dabei blendet er die vorwiegend von somalischen Autorinnen dokumentierte Rolle der zivilen Akteure aus und fokussiert, europäischer Tradition folgend, auf politische und militärische Machtakteure.

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– vielfach nur Bambusstöcke – Dienst. Polizei und Armee handeln weitestgehend rechtskonform. Gewählt werden jeweils für eine fünfjährige Amtszeit das Parlament zusammen mit den Kommunal- und Kreisversammlungen, sowie in direkter Wahl der Präsident. Mehrfach wurden Wahlen verschoben, teils wegen politischer Konflikte zwischen den Parteien, teils wegen äußerer Einflüsse. Die dahinter liegenden politischen Konflikte wurden immer gewaltfrei ausgetragen und die anschließenden Wahlen von lokalen und internationalen Beobachterinnen als »frei und fair« bezeichnet. Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte 2005: »Während große Teile von Somalia in Bürgerkrieg und Anarchie versanken, verstand es Somaliland, nicht nur den inneren Frieden zu wahren, sondern auch eine einigermaßen stabile Demokratie einzurichten – eine beachtliche Leistung im regionalen Kontext.« (NZZ, 17. 10. 2005).

Was kann ich daraus lernen? – Gewaltfreie Aktion von zivilgesellschaftlichen Akteuren ist erfolgreich auch unter Situationen extremer Repression und Rechtlosigkeit. Oft wird argumentiert, die Gewaltlage sei zu extrem, um mit dem »Gebetsteppich« etwas erreichen zu können. Dieses Argument mag für von außen entsandte Friedensfachkräfte gelten, doch die Geschichte Somalilands zeigt, dass es in der lokalen Gesellschaft Menschen gibt, die wissen, wie sie Gewalt deeskalieren und Schutz für Zivilbevölkerung schaffen können – und sich auch aktiv engagieren! 25 Jahre stark militärisch geprägte Intervention in Somalia haben nicht erreicht, was lokal verantwortete und gestaltete Friedensarbeit in Somaliland schaffte. – Friedensarbeit setzt an konkreten Problemlösungen an. Lokal verantwortete Prozesse setzen an konkreten Problemen an. »Wir können Frieden nicht essen«, sagte eine Friedensaktivistin dazu. Über die gemeinsame und erfolgreiche Lösung konkreter Überlebensprobleme – in Somaliland etwa der Zugang zu Wasser oder Märkten – entsteht Vertrauen. – Frauen und Männer tragen je eigene Anteile bei, wobei gegenseitiger Respekt und Achtung entscheidend sind. In vielen Fällen sind es Frauen, die entscheidende Impulse geben. »Wir Frauen gefährden nicht das Ego des Polizisten oder Soldaten, wenn wir ihn auffordern, seine Waffe nicht einzusetzen«, brachte es eine Friedensaktivistin einmal auf den Punkt. Den Aktivistinnen und Aktivisten war aber bewusst, dass sie alleine keinen dauerhaften Erfolg haben können. Sie suchten aktiv die Zu-

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Wolfgang Heinrich

sammenarbeit mit anderen: den Ältestenräten, Geschäftsleuten, Akademikerinnen, Jugendlichen und vielen mehr. – Zivilgesellschaftlich engagierte Bürgerinnen gehen »fair« mit Menschen in (Macht)-Strukturen um. Friedensaktivistinnen haben einen differenzierenden Blick. Auch wenn sie schlechte Erfahrungen mit der Verwaltung und den Sicherheitsorganen eines Staates gemacht haben, sehen sie, dass die Menschen in den Strukturen des Staates durchaus unterschiedlich sind. In Somaliland war den Aktivistinnen klar, dass es ohne die SNM und die anderen bewaffneten Akteure keinen Frieden geben kann. Klar war aber auch, dass man denen die Definitionsmacht nicht überlassen durfte. Nur so konnte es belastbare Verhandlungsergebnisse geben, die vom weit überwiegenden Teil der Bevölkerung angenommen und bis heute mitgetragen werden. – Niemand wird ausgegrenzt. Es wurden besondere Bemühungen unternommen, möglichst viele in den Prozess mit einzubeziehen. Nach jeder Verhandlungsrunde wurden die Menschen in Dorf- und Nachbarschaftsversammlungen von unabhängigen Beobachterinnen und den Entsandten der lokalen Gemeinschaften über die Ergebnisse informiert. Aber nicht nur Information, sondern Mitsprache war gefordert. Einsprüche mussten in der nächsten Runde verhandelt werden. – Nicht nur das, WAS getan wird, sondern auch WIE es getan wird, ist bedeutsam. Ein entscheidender Unterschied zu formellen Friedensverhandlungen, die oft nur mit einigen Konfliktparteien und hinter verschlossenen Türen geführt werden, liegt darin, dass der Prozess in Somaliland geprägt war von dem Bewusstsein, dass kein Ergebnis inklusiv sein kann, wenn der Prozess dahin nicht auch inklusiv ist. Das heißt nicht, dass alle »am Tisch sitzen« müssen. In Somaliland hat das regelmäßige Berichten über Zwischenergebnisse und die Möglichkeit Einspruch zu erheben, gekoppelt mit der Erfahrung, dass Einwände auch beraten wurden, auf lokaler Ebene im Zuge des Prozesses das Gefühl erzeugt, dass dieser transparent und man »fair« daran beteiligt ist. So entstand Vertrauen. Die Menschen in Somaliland haben gezeigt, dass es möglich ist, ohne Waffen Gewalt einzuhegen und ein Gemeinwesen und einen Staat zu schaffen, in dem Konflikte überwiegend konstruktiv und gewaltfrei bearbeitet werden. Ich lerne daraus – und aus zahlreichen anderen Erfolgsgeschichten dieser Art –, dass wir uns vor allem von der Interventionslogik lösen müssen. »Frieden muss von innen wachsen« lautete der Titel eines Hefts, in dem die kirchlichen Hilfswerke 1999 die

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Erfahrungen ihrer Partnerorganisationen zusammengetragen hatten.6 Unterstützung von außen wird gebraucht und ist willkommen. Aber nicht als Intervention, sondern als sensible Begleitung und Unterstützung. Dr. Wolfgang Heinrich ist Ethnologe und Historiker. Durch seine langjährigen Tätigkeiten in der Entwicklungszusammenarbeit ist er Experte für das Horn von Afrika.

Literatur Ahmed Yussuf Farah (1994). The Roots of Reconcilitation. Peacemaking Endeavours of Contemporary Lineage Leaders: A Survey of Grassroots Peace Conferences in Somaliland. Action Aid. Arbeitsgemeinschaft kirchlicher Entwicklungsdient (AG KED) (1999). Frieden muss von innen wachsen. Zivile Konfliktbearbeitung in der Entwicklungszusammenarbeit. Ein Werkstattbericht der kirchlichen Hilfswerke. Stuttgart, Bonn. Diana Chigas und Peter Woodrow (2018). Adding up to Peace: The Cumulative Impacts of Peace Initiatives. Cambridge, MA, CDA (https://www.cdacollaborative.org/publication /confronting-war-critical-lessons-for-peace-practitioners/). Ioan M. Lewis, A Pastoral Democracy (1961). A Study of Pastoralism and Politics Among the Northern Somali of the Horn of Africa. London. Ioan M. Lewis (2008). Understanding Somalia and Somaliland. Culture, History and Society. Hurst, London. John Paul Lederach (1995). Preparing for Peace. Conflict Transformation Across Cultures. New York. John Paul Lederach 2005). The Moral Imagination. The Art and Soul of Building Peace. Oxford. Judith Gardner and Judy El Bushra (2004). Somalia -The Untold Story: The War Through the Eyes of Somali Women. London, Sterling. Manfred Kulessa und Wolfgang Heinrich (2004). Dekonstruktion von Staaten für neue Staatlichkeit? Das Beispiel Somalia und Somaliland. In: Hippler, Jochen (Hrsg.): Ethnizität und Nation Building. Bonn. Mark Bradbury (2008). Becoming Somaliland. Oxford. Markus V. Hoehne (2010). People and Politics along and across the Somaliland-Puntland Border. In: Dereje Feyissa and Markus Hoehne (eds.). Borders and Borderlands as Resources in the Horn of Africa. London: James Currey, pp. 97–121. Mary B. Anderson und Lara Olson (2003). Confronting War: Critical Lessons For Peace Practitioners. Cambridge: MA CDA. (https://www.cdacollaborative.org/publication/co nfronting-war-critical-lessons-for-peace-practitioners/). Mary B. Anderson und Marshall Wallace (2013). Opting Out of War. Strategies to Prevent Violent Conflict. Boulder: Lynne Rienner Publishers. 6 Frieden muss von innen wachsen. Zivile Konfliktbearbeitung in der Entwicklungszusammenarbeit. Ein Werkstattbericht der kirchlichen Hilfswerke. Stuttgart, Bonn 1999.

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Wolfgang Heinrich

Wolfgang Heinrich (2002). Building Structures for Self-Determination And Inter-Community Co-operation in Times of Violent Conflict. In: Quehl, Hartmut (ed.): Living in War Times – Living in Post-War Times, Proceedings of an International Workshop on the Horn of Africa. Felsberg.

Traugott Schächtele

Lyrik: hommage an erich f punkt

ich habe ohnedies alles im griff sagt der selbstsichere ich habe da meine erfahrungen sagt die ängstliche ich habe das alles schon oft genug ausprobiert sagt der resignierte ich habe ja immer gesagt es geht nicht sagt die zweiflerin ich habe im moment kein zeitfenster

116 sagt der pragmatiker ich habe mit experimenten noch nie gute erfahrungen gemacht sagt die zaudernde ich habe einfach so getan als sei mir alles möglich und ich sah dass es längst schon wirklich ist

Traugott Schächtele

Christine Schweitzer

Ziviles Peacekeeping – Kooperation polizeilicher Sicherheitsund gewaltfreier Friedensfachkräfte

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Einleitung

In diesem Beitrag geht es darum, wie unbewaffnete Zivilist*innen vor Gewalt geschützt werden können. Der Begriff des »Peacekeepings«, der von den Vereinten Nationen (VN) entwickelt wurde, sollte dabei erweitert werden auf den zivilen, gewaltfreien Ansatz des Zivilen Peacekeepings. Weltweit sind Menschen von Gewalt bedroht. Zwei Milliarden Menschen leben in fragilen und von Konflikten betroffenen Gegenden der Erde (UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, 2019). Seit dem 11. September 2001 bis Ende 2019 sind geschätzt 800.000 Menschen in Kriegen gestorben (McCarthy, 2020), mehr als 80 Millionen Geflüchtete und Vertriebene zählte das UN-Flüchtlingshilfswerk für 2020 (https://www.unhcr.org/refugee-statistics), 35 Prozent aller Frauen fallen in ihrem Leben wenigstens einmal sexualisierter Gewalt zum Opfer (https://www.unwomen.org/en/what-we-do/ending-violence-against-women/fact s-and-figures), mindestens 330 Menschenrechtsverteidiger*innen wurden allein in 2020 ermordet.1 Solche Statistiken belegen, wie wichtig das Ziel ist, menschliche Sicherheit zu gewährleisten. Menschliche Sicherheit ist ein Begriff, der seit dem Human Development Report des United Nations Development Programme (UNDP) von 1994 eine wichtige Rolle als erweiterter Sicherheitsbegriff oder neues Entwicklungsparadigma spielt. Bei ihr geht es um Freiheit von Angst (fear) und von Mangel (want). Später wurde als dritte Dimension die »Freiheit, in Würde zu leben« hinzugefügt (United Nations Fund for Human Security). Zur menschlichen Sicherheit gehören wirtschaftliche Sicherheit, Nahrungsmittelsicherheit, Gesundheitssicherheit, Umweltsicherheit, persönliche Sicherheit, Sicherheit der Gemeinschaft und politische Sicherheit (UNDP, 1994, S. 24–25). Einige dieser Punkte haben auf den ersten Blick wenig mit direkter Gewalt zu tun, sondern beziehen sich eher auf das, 1 https://www.theguardian.com/global-development/2021/feb/11/human-rights-defenders-mu rder-2020-report [Letzter Zugriff 14. 2. 2022].

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was Johan Galtung (1975) als strukturelle Gewalt definierte. Aber andere Punkte haben mit der Bedrohung durch direkte Gewalt zu tun, wie sie oben in Zahlen ausgedrückt wurde. Ob die oft zu lesende Zahl stimmt, dass in modernen Kriegen 90 Prozent der Opfer Zivilbevölkerung sind, mag dahingestellt sein. Wahrscheinlich lässt sich diese Zahl so pauschal nicht halten, die Zahl getöteter Kombattant*innen dürfte in der Regel höher als 10 Prozent sein (Human Security Center, 2005, S. 64; Rudolf, 2019), wobei auch berücksichtigt werden muss, dass die Zahl getöteter Kombattanten oft unklar bleibt (wenn es sich nicht um ›westliche‹ Soldat*innen handelt) und manchmal auch Kombattant*innen nur schwer von Zivilbevölkerung abgrenzbar sind. Aber Fakt bleibt, dass Unbeteiligte in großer Zahl Opfer von Kriegen werden und oftmals den Angriffen von Soldaten und anderen Kämpfern, marodierenden Banden und Angriffen aus der Luft durch Flugzeuge, Raketen und Drohnen schutzlos ausgeliefert sind. Im modernen Staat gilt es als die Aufgabe von Polizei und Militär, Menschen vor Gewalt zu schützen. Aber in Kriegsgebieten oder in fragilen Staaten, aber auch in konsolidierten Demokratien passiert das nicht immer. Manchmal gehören Polizei und Militär zu denen, die Menschenrechte verletzen, oder sie sind sogar diejenigen, von denen Menschenrechtsverletzungen in erster Linie ausgehen – man denke an Belarus, an die gewaltsame Niederschlagung von Aufständen in aller Welt und an die Tötung von Schwarzen in den USA. In Bürgerkriegen gibt es oft eine Vielzahl bewaffneter Gruppen mit unterschiedlichen Agenden und wechselnden Bündnissen. Manchmal lassen sich politisch motivierte Angriffe auch nicht von denen, die lediglich auf eigene Bereicherung ausgerichtet sind, unterscheiden. Aus diesen Gründen braucht es in vielen Situationen andere Mechanismen der Kontrolle von Gewalt. Das ist auch von den Vereinten Nationen vor Jahrzehnten erkannt worden. Sie schufen mit dem militärischen Peacekeeping, den sog. Blauhelmen, ein Instrument, das inzwischen auch von anderen internationalen Organisationen und einzelnen Staaten angewendet wird, breit anerkannt ist, allerdings auch immer wieder an seine Grenzen stößt. Aber der Einsatz von Militär ist nicht die einzige Option, auch wenn weltweit die Überzeugung tief sitzt, dass Zivilist*innen nichts ausrichten können, sobald Krieg herrscht. In der Politik wird zumeist vertreten, dass man Soldat*innen brauche, um die zivilen Expert*innen für Peacebuilding und Wiederaufbau in den internationalen Missionen und Nichtregierungsorganisationen zu schützen, wie z. B. in den Leitlinien der Bundesregierung zur Krisenprävention (2017) oder in ihrem verteidigungspolitischen Weißbuch (2016) nachzulesen ist. Doch die Praxis zeigt, dass das so pauschal nicht aufrecht zu erhalten ist. Es gibt Kontexte, in denen unbewaffnete Zivilist*innen sich selbst und andere effektiv schützen können. In den letzten dreißig Jahren ist eine wachsende Zahl von Initiativen

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entstanden, deren Arbeit als Ziviles Peacekeeping bezeichnet werden kann, auch wenn sie selbst diesen Begriff vielleicht nicht benutzen.

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Der Begriff des Peacekeepings wurde übertragen auf einen rein zivilen Ansatz, der alternativ heute auch als »Unbewaffneter Ziviler Schutz« bezeichnet wird: Ziviles Peacekeeping ist die Arbeit ausgebildeter unbewaffneter Zivilist*innen, die gewaltfreie Methoden einsetzen, um andere Zivilist*innen vor Gewalt zu schützen und lokale Anstrengungen zu unterstützen, Frieden zu schaffen (Furnari, Julian und Schweitzer, 2016). Die Zivilen Peacekeeper*innen sind vor Ort präsent und wenden vielfältige Instrumente an, Gewalt zu verhindern, Menschen zu schützen und vor allem auch, die Fähigkeiten der Betroffenen zu stärken, sich selbst zu schützen (Nonviolent Peaceforce, 2021, S. 18). Zielgruppe kann die Zivilbevölkerung generell sein, Menschen in bestimmten prekären Situationen (z. B. Geflüchtete) oder politische Aktivist*innen. Es geht darum, Gewalt zu verhindern, Gewalt zu stoppen und die Auswirkungen von erlittener Gewalt nachträglich zu lindern (Nonviolent Peaceforce 2021, S. 87). Die ersten beiden Zielgruppen teilt das Zivile Peacekeeping mit den oben beschriebenen militärischen Friedensoperationen; die dritte ist eine Sonderheit von Peacekeeping, das durch Nichtregierungsorganisationen (NROs) angewendet wird. Drei Beispiele sollen hier eingangs genannt werden, um deutlicher zu machen, worum es in diesem Aufsatz gehen wird: Die 1981 gegründete internationale Organisation Peace Brigades International (pbi) legt ihren Schwerpunkt darauf, Menschenrechtsverteidiger*innen, die aufgrund ihrer Arbeit bedroht werden, dadurch zu schützen, dass Freiwillige von pbi sie als »unbewaffnete Bodyguards«, wie Mahony und Eguren (1991) es genannt haben, zu begleiten; im Falle z. B. von Friedensgemeinden wie in Kolumbien in ihren Dörfern ständig präsent zu sein und diese Arbeit durch ein »weltweites Alarmnetzwerk mit Kontakten zur Politik, Diplomatie und Zivilgesellschaft«2 abzusichern. Die 2002 gegründete internationale NGO Nonviolent Peaceforce (NP, www.nonviolentpeaceforce.org) fokussiert sich auf Kriegs- und Krisengebiete wie z. B. Südsudan und Nordirak, wo sie durch schützende Präsenz durch (angestellte) Friedensfachkräfte, den Aufbau von Frühwarnsystemen und die Unterstützung der Betroffenen bei der Entwicklung von Strategien zum Selbstschutz die Zivilbevölkerung, oftmals Binnenvertriebene, schützt. Die Community Peacemaker Teams (bis vor kurzem Christian Peacemaker Teams), eine ursprünglich in den USA entstandene Freiwilligenorganisation, beschreibt ihre Arbeit 2 https://pbideutschland.de/informieren [Letzter Zugriff 14. 2. 2022].

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als »Unterstützung und Verstärkung der Stimmen lokaler Friedensmacher*innen, die Verwundung und Tod riskieren, weil sie gewaltfreie direkte Aktion anwenden, um Systeme der Gewalt und Unterdrückung zu bekämpfen«.3

Es soll hier vorgeschlagen werden, dass es drei Kernelemente gibt, die das Zivile Peacekeeping von anderen Aufgaben und Aktivitäten abgrenzt: 1. die permanente Präsenz vor Ort derjenigen, die es praktizieren, 2. das Ziel, Menschen vor Gewalt zu schützen und 3. Beschränkung auf gewaltfreie Methoden. Viele andere Faktoren variieren, wie bei einem Prozess zur Erhebung guter Praxis in dem Feld deutlich wurde, der von der NGO Nonviolent Peaceforce zwischen 2016 und 2022 initiiert wurde, (vgl. Furnari, 2016; Schweitzer 2017, 2018, 2019, 2020a, 2020b, 2021): – Es gibt eine große Bandbreite an Gruppen und Organisationen, die Ziviles Peacekeeping praktizieren. Sie reicht von kleinen informellen Bürgerinitiativen über Peace-Team-Organisationen und professionelle4 NROs bis hin zu internationalen staatlichen Akteuren wie z. B. Beobachtermissionen der Vereinten Nationen oder regionaler Organisationen.5 – Ziviles Peacekeeping kann von internationalen und einheimischen Friedensfachkräften oder Freiwilligen wahrgenommen werden. Wer die Freiwilligen bzw. die Fachkräfte sind, die diese Arbeit machen, ist je nach Organisation unterschiedlich. Viele Gruppen arbeiten mit Freiwilligen, die zwischen wenigen Wochen und ein bis zwei Jahren in die Projekte gehen. Andere, wie Nonviolent Peaceforce, setzen bezahlte Kräfte ein, die teilweise mehrere Jahre in einem Land tätig sind. – Es sind auch bei weitem nicht nur Menschen aus dem globalen Norden, die als Peacekeeper*innen tätig werden. Bei immer mehr der einschlägigen Organisationen arbeiten auch Menschen aus dem globalen Süden. – Oftmals sind es Bürger*innen aus dem betroffenen Land selbst, die ihre Mitbürger*innen gewaltfrei schützen. – Die Methoden sind vielfältig und variieren je nach Akteur*in und Situation. – Die meisten Organisationen bekennen sich zu Gewaltfreiheit als Prinzip. – Es gibt eine große Bandbreite der Positionierung zu den Konfliktakteur*innen und Themen, von absoluter Neutralität über verschiedene Abstufungen der

3 https://www.cpt.org/about Übersetzung CS, [Letzter Zugriff 14. 2. 2022]. 4 Der Begriff »professionell« bezieht sich dabei auf den Status »Angestellte« versus »Freiwillige« und soll keine Einschätzung der Qualität der Arbeit implizieren. 5 Dieser letzte Punkt ist in der Community umstritten. Einige argumentieren, dass das Konzept auf Akteure aus der Zivilgesellschaft beschränkt bleiben solle.

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Un- und Allparteilichkeit bis hin zu Solidarität mit einem sozialen Kampf und seinen Aktivist*innen. – Und auch die Begrifflichkeit, mit der die eigene Arbeit beschrieben wird, variiert. In der wissenschaftlichen Literatur finden sich in erster Linie drei Begrifflichkeiten: Ziviles Peacekeeping (Schirch, 1995; Venturi, 2014; Julian und Schweitzer, 2015; Julian, 2020), Unbewaffneter Ziviler Schutz, ein Begriff, den die NRO Nonviolent Peaceforce eingeführt hat und vor allem von Wissenschaftler*innen benutzt wird, die in ihrem Umfeld anzusiedeln sind (u. a. Furnari 2016); und Schutzbegleitung, die Bezeichnung, die vor allem von Peace Brigades International genutzt wird (Mahony und Eguren, 1997). Dazu kommen weitere Begriffe wie proaktive Präsenz (Mahony, 2006) oder der umfassende Begriff der gewaltfreien Intervention (Müller und Büttner, 1996; Moser-Puangsuwan und Weber, 2000; Wallace, 2010), der alle Formen des gewaltfreien Eingreifens, also auch Maßnahmen des Peacebuildings, mit umfasst. Im französischen Sprachraum hat sich der Begriff »intervention civile de paix« als synonym für Ziviles Peacekeeping eingebürgert (Schweitzer, 2021).

3)

Geschichte und Gegenwart des Zivilen Peacekeepings

Was in diesem Aufsatz als Ziviles Peacekeeping bezeichnet wird, ist eine Ausprägung dessen, was als gewaltfreie Intervention in Konflikten schon eine längere Geschichte hat. Eine umfassende Geschichte gewaltfreier Konfliktinterventionen, die mehr als nur Projekte der Friedenssicherung umfasst, muss erst noch geschrieben werden. Eine wichtige Wurzel und starke Traditionslinie hat sich um eine friedenspolitische Vision herum gebildet, nämlich, Kriege durch gewaltfreie Aktion zu verhindern und militärische Interventionen im Kontext dessen, was seit der Jahrtausendwende als Schutzverantwortung bezeichnet wird, durch zivile, gewaltfreie zu ersetzen. Moser-Puangsuwan und Weber (2000) haben dies zu Recht als eine »wiederkehrende Vision« bezeichnet. Zwischen dem Ersten Weltkrieg und heute hat es mindestens ein Dutzend Vorschläge dieser Art gegeben hat, die ihren Weg in die Literatur zur gewaltfreien Intervention gefunden haben. Die bekannteren Vorschläge haben – mit jeweils wenigen Ausnahmen – zwei Dinge gemeinsam: Sie betonen die Rolle der Friedenssicherung und/oder sogar der Friedenserzwingung dadurch, dass Unbewaffnete sich zwischen die Konfliktparteien stellen; und sie versuchen, das neue Instrument unter die Schirmherrschaft der Vereinten Nationen oder einer anderen internationalen Organisation anzusiedeln. Die Vorschläge fanden allerdings bei den Gremien, an die sie gerichtet waren, nie viel oder gar keine Beachtung (Weber, 2000).

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Nicht alle dieser Vorschläge blieben auf einer abstrakten Ebene. Von Gandhi schon als »Friedensarmee« vor dem Zweiten Weltkrieg erdacht, wenn auch nicht in die Praxis umgesetzt, sind seit den 1960er Jahren eine große Anzahl von Gruppen und Projekten entstanden, die in diesen Kontext gehören. Es gibt einige Übersichten, die über solche Projekte zusammengestellt wurden (u. a. Weber, 2000; Schweitzer et. al, 2001). Viele der Organisationen nennen sich »Friedensteams« (Meta Peace Teams, Balkan Peace Team), andere tragen Namen, die die Assoziation als Alternative zu Militär noch erahnen lassen: »Shanti Sena« (Friedensarmee), »World Peace Brigades« und die oben schon erwähnten »Peace Brigades International« und »Nonviolent Peaceforce«. Daneben gibt es Projekte, bei denen es schwierig ist zu entscheiden, ob die Aktivist*innen als Außenstehende intervenieren oder ihren eigenen Kampf führen. Das Problem stellt sich vor allem dann, wenn Friedensteams bei sich zuhause aktiv werden und z. B. versuchen, in rassistischen oder ethnischen Konflikten, die im eigenen Land stattfinden, zu vermitteln oder bedrohte Menschen zu begleiten. Solche Aktivitäten gab es z. B. Anfang der 1990er Jahre, als in Deutschland rechte Mobs Geflüchtetenheime angriffen und Bürgerinitiativen Alarmketten aufbauten und bereit waren, sich schützend vor die Unterkünfte zu stellen (Schweitzer, 2021). Die Gesamtzahl der Organisationen, die derzeit Ziviles Peacekeeping praktizieren, ist deshalb schwer in absoluten Zahlen anzugeben; die Arbeit von mindestens 50 wurde im Rahmen eines »Gute PraxisProzesses« von Nonviolent Peaceforce erfasst (Schweitzer 2017 und folgende Jahre). Die tatsächliche Zahl dürfte aber weit höher liegen. Der Schutz von Zivilbevölkerung und die Verhinderung von Gewalt sind auch in der Praxis bestimmter ziviler internationaler staatlicher Beobachtungsmissionen auszumachen. In den 1990er Jahren gab es die ersten größeren zivilen Missionen mit Schutzmandaten, die von Regierungen oder internationalen Organisationen eingesetzt wurden: Die Überwachungsmission der Europäischen Gemeinschaft (später der Europäischen Union) (ECMM) im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren und heute in Georgien, die Kosovo-Verifizierungsmission (KVM) der OSZE im ehemaligen Jugoslawien, einige wenig dokumentierte UN-Beobachtungsmissionen sowie die Truce / Peace Monitoring Group in Bougainville gehören dazu (s. unten). Insgesamt gibt es weltweit mehr als 50 Organisationen, vor allem aus der Zivilgesellschaft, die in über 30 Ländern, darunter auch den USA, Kanada und verschiedenen europäischen Ländern, also nicht nur im Globalen Süden, tätig sind.6

6 https://selkirk.ca/unarmed-civilian-peacekeeping-database; Zählung aus dem Good-PracticeProjekt von Nonviolent Peaceforce.

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Aufgabenbereiche und Methoden Wie aus den Beispielen deutlich wurde, variieren die Aufgabenfelder je nach Organisation und Projekt. Nonviolent Peaceforce (2021) hat in ihrem neuen Trainingshandbuch die verschiedenen Methoden, die sie zu »unbewaffnetem Zivilen Schutz« zählen, in fünf Kategorien geordnet: – Proactive engagement: protective presence, protective accompaniment, and interpositioning – Monitoring: ceasefire monitoring, rumour control and early warning early response – Relationship building: confidence enhancement and multi-track dialogue – Capacity enhancement: Enhancing self-protection capacities and strengthening local protection infrastructures – Advocacy: Educating and organizing (Nonviolent Peaceforce 2021, S. 145) 7 Die Orte, an denen solche Aktivitäten ausgeübt werden, sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von einem städtischen Milieu, in dem viele Menschenrechtsverteidiger*innen aktiv sind, über Geflüchtetencamps und ihre Umgebung bis zu Dörfern, die von Angriffen bedroht sind. Oft geht es auch um Präsenz und Patrouillieren an gefährdeten Orten, seien es Schulwege und Schulen, Krankenhäuser, Brunnen oder Märkte. Als Beispiel soll hier die Arbeit verschiedener Gruppen in Mindanao, der südlichen großen, zur Republik der Philippinen gehörigen, Insel genannt werden (Bund für Soziale Verteidigung, 2021). Die Bevölkerung Mindanaos ist teilweise muslimisch und fordert seit langem mehr Unabhängigkeit von Manila. Seit Jahrzehnten kommt es immer wieder zu neuen Wellen von Kämpfen zwischen dem philippinischen Militär mit wechselnden Akteuren von Seiten bewaffneter Aufständischer. Mindestens drei Organisationen können zum Aktivitätsfeld des Zivilen Peacekeepings gezählt werden. Die erste ist eine einheimische philippinische Initiative mit Namen Bantay Ceasefire. Angesichts anhaltender Verstöße gegen das Waffenstillstandsabkommen zwischen der philippinischen Regierung und der Rebellengruppe Moro Islamic Liberation Front (MILF) gründeten im Januar 2003 zivilgesellschaftliche Gruppen aus den Philippinen die Initiative Bantay Ceasefire. Ihr Ziel ist die unabhängige Überwachung des Waffenstillstands und des Friedensprozesses. Bantay Ceasefire ist ein Projekt verschiedener philippinischer Organisationen, die im Feld der Friedensbildung und des Pe7 Proaktives Handeln: schützende Präsenz, Schutzbegleitung und Dazwischenstellen; Monitoring: Waffenstillstandsüberwachung, Kontrolle von Gerüchten und frühe Warnung-frühe Reaktion; Aufbau von Beziehungen: Vertrauen stärken und Multi-track-Dialog; Stärkung von Fähigkeiten: Förderung der Fähigkeiten des Selbstschutzes und die Stärkung von Infrastrukturen lokalen Schutzes; Advocacy: Bildung und Organisieren.

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acebuilding tätig sind. Es hat die verschiedenen Waffenstillstände, die vor dem endgültigen Friedensschluss bestanden, beobachtet und griff ein, wo deren Verletzung drohte. Ihre Rolle als Überwacherin wurde von den Konfliktparteien mehr oder weniger respektiert. Wenn die Freiwilligen von Bantay Ceasefire z. B. von einem drohenden Angriff der einen oder anderen Seite auf ein Dorf erfuhren, dann versuchten sie, über ihre Kontakte zu beiden Kriegsparteien zu erreichen, dass zumindest die Waffen so lange schwiegen, bis die Zivilbevölkerung in Sicherheit gebracht worden war. Die schon erwähnte Nonviolent Peaceforce ist eine internationale NRO, die seit 2007 in Mindanao tätig ist und einen offiziellen Status im Rahmen des staatlichen Friedensprozesses und dem von Malaysia geleiteten International Monitoring Team innehat und dort mit (u. a.) Bantay Ceasefire für den Schutz der Zivilbevölkerung zuständig ist. Vor dem Friedensprozess, der seit ca. 2014 läuft, aber inzwischen ins Stocken geraten ist, hat NP in ähnlicher Weise wie Bantay Ceasefire durch den Aufbau von Frühwarnsystemen versucht, die Zivilbevölkerung vor den kriegerischen Auseinandersetzungen zu bewahren. Heute geht es mehr um den Aufbau von Friedens-Kapazitäten und um die Ermöglichung der Rückkehr in ehemals umkämpfte Orte. Die dritte Organisation ist das International Peace Observers Network (IPON), ein internationales Netzwerk, das Beobachter*innen u. a. zu Wahlen entsendet. Auch wenn Wahlbeobachtung per se – solange es darum geht, ob die Wahlen frei und fair abliefen – nicht zu Zivilem Peacekeeping gezählt wird, hat sie doch oftmals auch einen Aspekt des Schutzes, denn internationale Beobachter*innen verhindern durch ihre Präsenz oftmals Übergriffe.

Die Zivilen Peacekeeper*innen Wie eingangs schon angesprochen, gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Organisationen und Projekten, was die Menschen angeht, die Ziviles Peacekeeping praktizieren. Es können Menschen sein, die dort, wo sie leben, ehrenamtlich oder von einem Träger bezahlt, in bestimmten Projekten tätig sind. Es können Freiwillige sein, die zwischen wenigen Wochen und mehreren Jahren international in Projekte gehen. Und es gibt einige NROs, die ebenso wie die angesprochenen zivilen staatlichen Missionen ihre Mitarbeiter*innen bezahlen. Die Frage »lokal« oder »international« bedeutet in vielen Fällen keine Dichotomie. Es handelt sich eher um ein fließendes Spektrum. Zum Beispiel gibt es viele Fälle, in denen nationale Peacekeeper*innen im eigenen Land, aber nicht unbedingt in der eigenen Community tätig sind. Die Workshops von Nonviolent Peaceforce zu Guter Praxis (Schweitzer, 2017) ergaben, dass die Beziehungen zwischen lokalen und internationalen Akteuren

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komplex sind. Sie variieren in Bezug auf den Zugang zu Konfliktparteien, Abschreckungsmacht, Wissen über Hintergründe und Kontexte und unterschiedliche Herangehensweisen an Konflikte. Es gab keine klare Verbindung zwischen der Art der Aktivität und der der Identität als Nationale oder Internationale. Zum Beispiel gibt es auch Schutzbegleitung, die Einheimische für andere Einheimische oder Einheimische für Internationale durchführen. Das aus früheren Jahrzehnten geprägte Bild, dass es die weißhäutigen Nordamerikaner*innen und Europäer*innen sind, die als einzige effektiven Schutz bieten, wird zunehmend durch die Praxis in Frage gestellt und viele Organisationen versuchen es im Kontext der Entwicklung einer rassismuskritischen und postkolonialen Praxis dort zu überwinden, wo es noch vorkommt. In vielen Fällen gibt es darüber hinaus eine wechselseitige Begleitungsbeziehung – Internationale begleiten Einheimische und umgekehrt. »Schutz« fließt nicht nur in eine Richtung – oft sind Einheimische mit ihren lokalen Kenntnissen und ihrem Ansehen in ihren Gemeinden ebenso Schutz für Internationale wie Internationale mit ihrem Status als Ausländer*innen den Einheimischen Schutz geben können. Man schützt sich gegenseitig. Die überwiegende Mehrzahl der Organisationen und Projekte bereitet ihre Freiwilligen/Fachkräfte in sog. Trainings vor, die sehr unterschiedliche Länge haben (Bund für Soziale Verteidigung, 2020). Die Bandbreite reicht von einer Vorbereitung von wenigen Stunden bis zu mehrwöchigen Kursen. Gelegentlich ist Ziviles Peacekeeping auch als Unterrichtsstoff an Hochschulen zu finden: Die Leeds Beckett University in England, die Katholische Hochschule in Paris und das Selkirk College in Kanada bieten entsprechende Kurse oder Kursmodule an.

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Staatliches Ziviles Peacekeeping

Es hat einige (wenige) von internationalen Organisationen oder einzelnen Staaten (-bündnissen) entsandte Missionen gegeben, die in das Feld des Peacekeepings eingeordnet werden können. Es waren Missionen, deren Personal unbewaffnet war und deren Aufgabe am meisten dem ähnelt, was oben für Missionen des »klassischen« Peacekeeping beschrieben wurde: die Überwachung von Waffenstillständen und Friedensabkommen und Hilfe bei deren Umsetzung. Im Folgenden einige Beispiele8.

8 Hier ausgespart werden die zahlreichen Wahlbeobachtungen, die von den VN, Regionalorganisationen wie der OSZE, dem Europarat und auch zahlreichen NROs durchgeführt werden. In der Regel geht es bei ihnen um die Feststellung, ob die Wahlen entsprechend demokratischer Kriterien abgelaufen sind, nicht um die Verhinderung von Übergriffen.

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In Bougainville (Südpazifik) nahm die Truce Monitoring Group/Peace Monitoring Group (TMG/PMG) Ende 1997 ihre Arbeit auf, um die Friedensabkommen zwischen Papua-Neuguinea und den Kriegsparteien in Bougainville zu überwachen. Die TMG/PMG werden von den Militärs der vier Nachbarländer organisiert, die Teams trugen jedoch keine Waffen und umfassten zusätzlich Zivilist*innen aus den entsendenden Ländern (Böge, 1999; Ramsbotham und Woodhouse, 1999; Schweitzer et al., 2001). Im Kosovo wurde die Kosovo-Verifizierungsmission (KVM) der OSZE 1998– 99 eingesetzt, um ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Jugoslawien und der aufständischen Kosovo Liberation Army zu verifizieren. Die KVM war mit einer Mischung aus internationalen Mitarbeitern aus allen OSZE-Mitgliedsstaaten besetzt und umfasste auch einheimisches Personal, hauptsächlich als Dolmetscher*innen, Fahrer*innen und Assistent*innen. Die Mission fand unter schwierigen Rahmenbedingungen statt und wurde abgezogen, als die NATO 1999 ihren Angriff auf die Republik Jugoslawien beschloss; Berichte der Mission zeigen aber, dass sie, solange sie im Lande war, deeskalierend wirken konnte (Schweitzer et al., 2001, Schweitzer 2021). Eingeschränkt als zweites Beispiel aus der OSZE könnte die Mission genannt werden, die seit 2014 in der Ukraine tätig ist. Sie ist mit über 700 Beobachter*innen zahlenmäßig mit der KVM vergleichbar, aber vom Mandat her allein auf die Überwachung des Minsker Abkommens beschränkt und registriert in erster Linie die vielfältigen Verletzungen des Waffenstillstands zwischen den Separationsgebieten und der Ukraine (Schweitzer, 2021). Die UN-Missionen in El Salvador und Osttimor waren sowohl mit der Vorbereitung von Wahlen/einem Referendum als auch mit der Überwachung der Gewalt beauftragt. Sie waren mit Zivilist*innen, Polizei und (unbewaffneten) Militärbeobachter*innen besetzt, die von den Vereinten Nationen gestellt wurden (Ramsbotham und Woodhouse, 1999; Schweitzer et al., 2001). Die European Monitoring Missions (EUMM) im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren und in Georgien seit 2008 sind Beispiele für Missionen, die zwar den Schutz von Zivilbevölkerung nicht als explizites Mandat hatten, aber doch Aktivitäten aufweisen, die damit in Verbindung gebracht werden können. Als Beispiel soll hier die EUMM in Georgien zitiert werden. Sie beschreibt ihr Mandat wie folgt: »First and foremost, the Mission is working to prevent the renewal of an armed conflict, as well as to help make the areas adjacent to the Administrative Boundary Lines of the breakaway regions of Abkhazia and South Ossetia safe and secure for the local residents. The Mission wants to contribute to create conditions whereby civilians can cross the Administrative Boundary Lines of Abkhazia and South Ossetia in both directions without fear and obstacles, thus reducing the detrimental effects of dividing lines. …

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The monitors in each Field Office are split into three teams covering: – Confidence Building in the areas adjacent to the Abkhazian and South Ossetian Administrative Boundary Lines. – Compliance with the Memoranda of Understanding signed between the Mission and the Georgian Ministries of Defence and Internal Affairs. – Human security aspects of conflict management« (https://eumm.eu/en/about_eumm).9

Zwischen Zivilem Peacekeeping, wie es von NROs betrieben wird, militärischem Peacekeeping und unbewaffneten staatlichen Missionen gibt es verschiedene Unterschiede (Schweitzer, 2021): – Staatliche zivile Missionen werden im Rahmen eines Abkommens zwischen Regierungen entsandt – den entsendenden Regierungen oder einer internationalen Organisation (UN, OSZE, EU) auf der einen Seite und der gastgebenden Regierung auf der anderen Seite. Es gibt keine solchen zivilen Missionen, die gegen den Willen des Einsatzlandes entsandt werden – anders als bewaffnete militärische Interventionen, die von den Vereinten Nationen nach Kapitel VII der UN-Charta entsandt werden. – Ihr Personal ist stark von Beamten und Militärs dominiert, obwohl auch Personen mit nichtstaatlichem Hintergrund beteiligt sein können. – Die Infrastruktur, die hinter dem Personal dieser Missionen steht, ist viel größer und in der Lage, alle Bedürfnisse abzudecken, als dies normalerweise bei NROs der Fall ist. – Ihre Operationsregeln schränken das, was sie tun, in der Regel viel stärker ein als bei NROs, da jede Änderung durch eine oft recht komplexe bürokratische Struktur genehmigt werden muss. – Sie bekennen sich zum Prinzip der Unparteilichkeit, aber nicht zu denen aktiver Gewaltfreiheit oder Unabhängigkeit. – Der direkte Schutz der Zivilbevölkerung war nie der Kern des Mandats. In einigen Fällen war er eher ein Ergebnis anderer Aktivitäten wie der Überwachung und Bewertung von Verstößen gegen Waffenstillstände. 9 »In erster Linie arbeitet die Mission daran, das Wiederaufflammen eines bewaffneten Konflikts zu verhindern und dazu beizutragen, dass die an die administrativen Grenzlinien der abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien angrenzenden Gebiete für die dortige Bevölkerung sicher und geschützt sind. Die Mission will dazu beitragen, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Zivilbevölkerung die administrativen Grenzlinien Abchasiens und Südossetiens in beiden Richtungen ohne Angst und Hindernisse überqueren kann, wodurch die schädlichen Auswirkungen der Trennlinien verringert werden. Die Beobachter*innen in jeder Außenstelle sind in drei Teams aufgeteilt, die Folgendes abdecken: – Vertrauensbildung in den Gebieten, die an die abchasischen und südossetischen administrativen Grenzlinien angrenzen. ‒ Einhaltung der zwischen der Mission und den georgischen Ministerien für Verteidigung und innere Angelegenheiten unterzeichneten Memoranda of Understanding ‒ Aspekte der menschlichen Sicherheit bei der Konfliktbewältigung.« (Übersetzung: CS)

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Trotzdem: Es gibt keinen Grund, warum dieses Instrument der internationalen Organisationen nicht auch in anderen Situationen erweitert und repliziert werden könnte. Bisher scheint dieses Instrument nur dann eingesetzt worden zu sein, wenn der Einsatz militärischer Kräfte aus dem einen oder anderen Grund ausgeschlossen war, aber selten als erste Option.

5)

Wirkungsweisen Zivilen Peacekeepings

Ziviles Peacekeeping oder Unbewaffneter Ziviler Schutz ist im Vergleich zu anderen Bereichen im Feld der Konfliktbewältigung wenig wissenschaftlich untersucht und kaum mit Theorien unterlegt. Es gibt eine wachsende Zahl an Fallstudien – manche in Form von Dissertationen, deren Autor*innen selbst als Zivile Peacekeeper*innen tätig waren; zudem Studien wie das oben erwähnte mehrjährige Projekt zur Erfassung von »guter Praxis«; und es gibt Projektevaluationen, die zum Teil auch auf den Websites der verschiedenen Organisationen öffentlich zugänglich sind.10 Die Aufgabe einer Theorie des Zivilen Peacekeepings wäre es, die wesentlichen Wirkmechanismen zu erarbeiten und zu erklären, warum dieser Ansatz in manchen Fällen erfolgreich war, in anderen aber nicht. Zu den Erfolgen gibt es genügend unbestreitbare Schilderungen und Evaluationen. Die einzelnen Organisationen haben ihre eigenen impliziten oder expliziten Theorien, wenn es z. B. um die Entscheidung geht, ein Projekt zu beginnen (oder auch zu beenden). Vorannahmen über Wirkungsweisen spielen dabei eine wichtige Rolle, neben ermöglichenden Faktoren wie Zugang zum Land (Registrierung und Arbeitserlaubnis oder zumindest Tolerierung durch die Regierung; Visa, sofern mit Internationalen gearbeitet wird), Finanzierung11, genügende Kapazitäten der Organisation und Finden geeigneter Freiwilliger bzw. geeigneten professionellen Personals. Die erste Theorie, die versucht, die Wirkungsweise von Zivilem Peacekeeping zu erklären, wurde 1997 von Mahony und Eguren vor allem auf der Basis der Praxis von Peace Brigades International in Lateinamerika formuliert, mit der beide Autoren verbunden waren. Es handelt sich um eine Theorie der Abschreckung oder Abhaltung, die auf die Drohung mit direkter Gewalt verzichtet, aber eine Drohkulisse durch ein internationales Schutznetzwerk aufbaut. Die 10 An der Leeds Beckett University in England ist eine Volltext-Datenbank mit Artikeln im Aufbau, die im Laufe des Jahres 2021 für interessierte Wissenschaftler*innen zugänglich gemacht werden wird. 11 Viele der kleineren Peace-Teams finanzieren sich allein durch Spenden ihrer Mitglieder und Unterstützer*innen. Größere, professionelle Organisationen bemühen sich um Finanzierung durch die Vereinten Nationen, die EU und bestimmte einzelne Regierungen.

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Autoren argumentieren, dass »Begleitung ohne internationale Unterstützung eine Fassade ohne echten schützenden Wert« (S. 85, Übers. CS) sei und skizzieren ein Bild, bei dem es darum geht, den Raum, den Aktivist*innen haben, durch die Schutzbegleitung auszuweiten. Dabei muss zwischen »echten« und »wahrgenommenen« Grenzen dieses Raums unterschieden werden. Die folgende Grafik beschreibt den Effekt:

Abb. 1: Activist’s Political Space: reality and perception

Aktivist*innen (wie auch ihre Gegner, die »Aggressoren«) unterscheiden zwischen akzeptablen und nicht akzeptablen Kosten. Die Gefahr wird jedoch anders wahrgenommen (»Perceived border«) als sie real ist (»real border«). Die Schutzbegleitung hebt beide Grenzen an, weil sie die Aggressoren durch die Drohung mit internationalen Konsequenzen bis zu einem bestimmten Punkt davon abhält, gegen die Aktivist*innen vorzugehen. Dennoch gibt es Unwägbarkeiten. Im Feld B2 wird z. B. die wahrgenommene Grenze angehoben, obwohl es nie eine echte Gefahr gegeben hatte. Hier wirkt Schutzbegleitung lediglich als Ermutigung für die Aktivist*innen. Aktionen in A3 sind jetzt sicherer, aber da das Risiko von den Aktivist*innen schon immer als akzeptabel eingestuft worden war, wirkt Schutzbegleitung hier als purer Schutz, nicht als Ermutigung. B3 ist das Feld von Aktionen, die objektiv jetzt sicher(er) sein mögen, aber immer noch als zu gefährlich wahrgenommen werden. A2 ist der Bereich, in dem Aktivist*innen eine Gefahr falsch einschätzen, weil sie sich durch die Begleitung subjektiv sicher fühlen, es aber nicht sind. (Mahony und Eguren, 1997, S. 93ff)

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Diese abhaltende Wirkung muss allerdings nicht unbedingt auf einer so durchgeplanten Strategie beruhen, wie sie Mahony und Eguren in Bezug auf den Aufbau eines internationalen »Drohrahmens« skizzieren. Es gibt auch andere Formen negativer Konsequenzen. Sie reichen von dem Verlust von Ansehen im privaten Umfeld (Schweitzer, 2021) über die Beschädigung der lokalen Basis, die ihre Unterstützung entzieht, bis zu Verfolgung durch nationale oder internationale Gerichte und Sanktionen durch ausländische Regierungen (Nonviolent Peaceforce, 2021). Ein Element von Abschreckung dürfte bei allen Projekten eine gewisse Rolle spielen, wie im Rahmen der Workshops von Nonviolent Peaceforce zu »guter Praxis« (2021) immer wieder hervorgehoben wurde. Aber die Praxis vieler Organisationen zeigt, dass die Assoziation von »Die Welt schaut zu« potenzielle Gewalttäter(*innen) von einem Übergriff abhält, selbst, falls diese nicht ein internationales Unterstützungsnetz zur Verfügung haben. Die Literatur ist voll von entsprechenden Erzählungen. So stoppten z. B. in Ruanda während des Völkermords Nonnen des Mutter-Theresa-Ordens marodierende Hutu, die in ihre Kirche eindringen wollten, um mehrere Hundert Kinder zu ermorden, mit den schlichten Worten: »Ihr könnt hier nicht reinkommen. Das ist ein heiliges Haus Gottes.« (Nonviolent Peaceforce, 2021, S. 91) Ähnliche Episoden sind vielfach und aus ganz unterschiedlichen Weltregionen und Kontexten belegt. Jüngere Studien, die sich vor allem mit der Arbeit von Nonviolent Peaceforce befassen (Furnari, 2016, die Gute-Praxis-Berichte von Schweitzer, 2017ff; Nonviolent Peaceforce, 2021), betonen aber, dass »Abschreckung« nicht der einzige Wirkungsfaktor ist. Ebenso wichtig oder noch entscheidender kann sein, dass die Zivilen Peacekeeper*innen positive Beziehungen zu möglichst allen Akteuren aufbauen. Gelingt ein solcher Vertrauensaufbau, dann sind nicht nur sie selbst geschützt, sondern er führt dazu, dass ihr Eingreifen Gewaltbereite stoppen und potenzielle Konfliktsituationen durch Dialog bearbeitet werden können. Dieser Ansatz wird in der Literatur gerne als »Ermutigung« bezeichnet (Furnari, 2016, Nonviolent Peaceforce, 2021). Er umfasst – neben dem Aufbau von Beziehungen das Vorleben alternativer Formen des Umgangs miteinander und mit Dritten (z. B. durch nach Geschlecht und sexueller Orientierung gemischte, multi-ethnische und multireligiöse Teams; der Verzicht auf Waffen zum Selbstschutz); – die Ermutigung von Akteuren durch die schlichte Präsenz der Peacekeeper*innen, die die Dynamik innerhalb einer Gemeinschaft verändert und gerade in politisch repressiven Kontexten Aktivist*innen stärken kann;

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– informelle oder im Rahmen von Workshops vermittelte Alternativen zu den etablierten gewaltgestützten Verhaltensformen;12 – positive Verhaltensweisen bestärkende Gespräche mit Vertreter*innen der Sicherheitsorgane, so dass diese ihren Verpflichtungen zur Respektierung der Menschenrechte und dem Schutz von Zivilbevölkerung besser nachkommen. Der Aufbau von Vertrauen und Beziehungen zu allen Seiten ermöglicht Kommunikation mit den Konfliktparteien, was nicht nur bei der Kontrolle von Gerüchten wichtig ist, sondern auch dazu dienen kann, mäßigend auf sie einzuwirken, und sei es nur, um zu erreichen, dass die Zivilbevölkerung eine umkämpfte Zone sicher verlassen kann. Darüber hinaus sind sie die Grundlage für Angebote der Vermittlung und »guter Dienste« (z. B. Shuttle Mediation), mit denen zur Zivilen Konfliktbearbeitung beigetragen werden kann. Ziviles Peacekeeping ist erfolgreich. Das zeigen die zahlreichen Evaluationen und die Studien, die zu diesem Feld erstellt wurden (z. B. Furnari, ed., 2015, Gute Praxis-Berichte ob.cit). Zu diesen Erfolgen gehören vor allem: – Leben werden gerettet. – Frauen, Kinder und Männer werden vor Missbrauch geschützt. – Gemeinschaften können zu Hause bleiben; oder wenn sie fliehen müssen, sind sie gut vorbereitet. – Ziviles Peacekeeping schafft oder erweitert den Raum für Friedens- und Menschenrechtsarbeit lokaler Akteur*innen. – Beziehungen in geteilten oder zwischen verfeindeten Gemeinschaften werden wiederhergestellt. – Konflikte werden verhindert oder beigelegt. – Mechanismen der Frühwarnung und der frühen Reaktion werden geschaffen. – Das Verhalten von bewaffneten Akteuren wird beeinflusst. – Die gewaltfreie Bearbeitung von Konflikten hat eine starke symbolische Wirkung im Sinne des Do-no-harm-Konzepts (Anderson 1999). Ziviles Peacekeeping steht für die Nachricht, dass Gewalt nicht der einzige Weg ist, seine Interessen durchzusetzen und auch nicht der einzige Weg, sich zu schützen.

6)

Grenzen Zivilen Peacekeepings

Ziviles Peacekeeping ist ein Instrument, das während bewaffneter Konflikte eingesetzt werden kann; dennoch gibt es Grenzen. In der Praxis würden alle Organisationen und deren Mitarbeiter*innen bejahen, dass es Kontexte gibt, in 12 Ein Beispiel wäre Anrufung von Versöhnungsverfahren an Stelle von Blutrache, wie es die italienische Organisation Operazione Colomba in Albanien erreicht hat. (Schweitzer, 2021).

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denen das Instrument des Zivilen Peacekeepings kaum oder gar nicht erfolgreich eingesetzt werden kann (Venturi, 2014; Julian und Furnari, 2014). Ein erster wichtiger Punkt ist, dass Einsätze des Zivilen Peacekeepings eine beträchtliche Anlaufzeit brauchen, in der die Präsenz der Peacekeeper*innen etabliert und die erforderlichen Beziehungen geknüpft sind. Es gibt kein Funktionieren direkt nach der Ankunft im Konfliktgebiet. Das kann ein Problem sein, wenn es um Interventionen in Situationen geht, die schnell eskalieren und die Zeit für einen solchen Prozess schlicht nicht vorhanden ist. Venturi (2014) fand in einer vergleichenden Studie nur eine schwache Korrelation zu der Intensität des Konflikts und dem Ausmaß an Gewalt gegen Zivile Peacekeeper*innen in einem Land. Doch was diese Studie nicht berücksichtigt hat, sind Projektvorschläge, die in einzelnen Organisationen als undurchführbar bewertet wurden, bevor ein Projekt eingesetzt wurde. Die Autorin weiß aus ihrer eigenen Erfahrung als frühere Mitarbeiterin von zwei Projekten, dem BalkanPeace-Team (Müller 2004) und Nonviolent Peaceforce, dass dies durchaus ein Kriterium für die Entscheidung für oder gegen einen Einsatzort ist. Evaluationen und Berichte verschiedener Projekte belegen darüber hinaus, dass in Zeiten extremer Gewalt Projektmitarbeiter*innen aufgrund der Gefahrenlage und weil sie in dem Moment nichts mehr bewirken können, evakuiert werden. Es kann vermutet werden, dass in Bezug auf das Maß an Gewalt weniger ihr absolutes Ausmaß – gemessen etwa an Zahlen von Opfern oder eingesetzten Waffen – als die Frage der Erreichbarkeit derjenigen, die die Gewalt anwenden, ausschlaggebend sein dürfte. Bereits oben angesprochen wurden die Sensibilität von möglichen Gewalttätern gegenüber Druck (Abschreckung) und Ansprechbarkeit im Kontext des Vertrauensaufbaus. Falls beides nicht gegeben ist – etwa weil die Gewalttäter sich so von ihrem Umfeld abgeschottet haben, dass sie von niemandem mehr erreicht werden können, die/der nicht zu ihnen gehört –, dann dürfte Ziviles Peacekeeping kein erfolgversprechender Ansatz sein. Ziviles Peacekeeping hat keine unmittelbare Erzwingungsgewalt. Wenn jemand bereit ist, sich über die beschriebenen Hemmschwellen hinwegzusetzen, dann können die Zivilen Peacekeeperi*innen den Schutz der Zivilbevölkerung nicht mit Gewalt durchsetzen, was soldatische Peacekeeper*innen heute zumeist dürfen. Ein weiteres Problem ist der legale Status im Einsatzland. Die UN oder OSZE sind in der Regel auf Einladung der Regierung im Land und besitzen einen Sonderstatus. Sie haben bestimmte Rechte, was z. B. das Anstellen von lokalem Personal angeht. NROs müssen sich an die lokalen Gesetze anpassen, und je nachdem, wie wohl sie gelitten sind, ob sie einfach nur geduldet sind oder ob die Regierung sie z. B. eingeladen hat, ist es dann einfacher oder schwieriger, im Land eine Präsenz aufzubauen und beizubehalten.

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Kooperation mit internationaler Polizei?

Würde eine Kooperation zwischen internationaler Polizei und Zivilen Peacekeeper*innen möglich sein und wäre sie wünschenswert? Es gibt dazu nach Kenntnis der Autorin keine wissenschaftlichen Studien, aber Erkenntnisse lassen sich aus der erwähnten Serie von regionalen Workshops und einer Tagung zu »guter Praxis« im Zivilen Peacekeeping gewinnen, die von Nonviolent Peaceforce zwischen 2017 und 2021 durchgeführt wurden: Schweitzer 2017, 2018, 2019, 2020 a, 2020 b, 2021 (mit C. Dubernet), 2022 (im Erscheinen). Dort ging es stets auch um die Frage des Beziehungsaufbaus zu anderen Akteuren, u. a. (nationaler) Polizei und internationalen militärischen Peacekeeper*innen. Internationale Polizei per se war nie Thema, aber einige Thesen lassen sich trotzdem ableiten. Die grundlegenden Prinzipien, an denen sich die Aktivist*innen und Friedensfachkräfte des Zivilen Peacekeepings orientieren, sind praktisch durchgängig Gewaltfreiheit, Unabhängigkeit und Primat der lokalen Akteure; daneben in vielen Fällen (nicht allen) Unparteilichkeit. Unabhängigkeit wird meist recht umfassend definiert als Unabhängigkeit von staatlichen Interessen wie von den Interessen von Geldgebern oder anderen externen Akteuren – hier trifft sich dieses Prinzip mit dem Prinzip des Primats der lokalen Akteure. Manche Organisationen bezweifeln, dass staatliche Akteure überhaupt Ziviles Peacekeeping praktizieren können, weil sie nicht unabhängig, sondern interessensgeleitet agieren und weil sie oftmals Erzwingungsgewalt im Hintergrund haben, selbst, falls die Beobachter*innen selbst unbewaffnet sind. Praktisch alle zivilgesellschaftlichen Organisationen im Praxisfeld des Zivilen Peacekeepings haben Gewaltfreiheit als Handlungsprinzip für sich festgelegt. Für einige bedeutet das, dass sie Kontakt mit Militär und Polizei als auf Gewalt basierende Organisationen so weit als möglich vermeiden. Cure Violence in den USA z. B. arbeitet in Brennpunkten und greift ein, sobald es dort zu Gewalt (Schießereien) kommt, aber informiert die Polizei grundsätzlich nie über ihre Erkenntnisse, was mögliche Täter*innen oder andere Delikte, die parallel begangen werden. Das gleiche gilt für die Demonstrationsbeobachtung von Meta Peace Teams oder DC Peace Teams. In Frankreich beobachten verschiedene Organisationen die Polizei bei ihren Einsätzen gegen Geflüchtete, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und anzuklagen. In Lateinamerika sind in vielen Ländern staatliche Sicherheitskräfte in Verdacht, mit Paramilitärs und Todesschwadronen zu kooperieren. Die Aufgabe der Schutzbegleiter*innen dort ist, Menschen vor diesen Sicherheitskräften zu schützen. Andere, wie z. B. Nonviolent Peaceforce, bemühen sich um den Aufbau von Beziehungen mit allen, auch gewaltgestützten Akteuren, sprechen sich auch gelegentlich ab, aber bewahren ihre Unabhängigkeit. Nonviolent Peaceforce im Südsudan z. B. unterhält gute Kontakte zu den UN-Peacekeepern UNMISS, hat

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die Erlaubnis, in den UNMISS-geführten Geflüchtetenlagern zu arbeiten und begleitet Zivilist*innen dort, wo die UN-Soldat*innen aufgrund ihrer restriktiven Mandate keinen Zugang haben. (Zum Beispiel dürfen die Blauhelme nur in gepanzerten Fahrzeugen und nur auf befestigten Straßen fahren, während Zivilist*innen oftmals abseits der Straßen unterwegs sind.) Für alle gilt: Identifizierung mit internationalen Einsatzkräften würde die Zivilen Peacekeeper*innen als nicht unabhängig etikettieren, sie dadurch gefährden und ihre Arbeit beschädigen, denn diese internationalen Truppen werden in aller Regel von den Konfliktparteien (oder Teilen von ihnen) nicht als unparteilich wahrgenommen. Gewaltfreiheit und Einsatz von Gewalt sind zwei sich ausschließende Handlungsorientierungen. Solange Gewalt als letztes Mittel vorgehalten wird, steht die Androhung von Zwang im Raum. Eine Transformation eines Konfliktes hingegen beruht auf dem Aufbau positiver Beziehungen zwischen den Konfliktparteien. Auch das Do-No-Harm-Konzept (Anderson, 1999) warnt eindringlich davor, die message des »nur Gewalt hilft« zu perpetuieren oder von uniformierten (meist) Männern Traumatisierte weiter schwer Bewaffneten auszusetzen. Aus all diesen Gründen ist eine Kooperation zwischen Zivilen Peacekeeper*innen und internationaler Polizei kaum vorstellbar. Auch wenn sie in demselben Land tätig wären und selbst, wenn die Angehörigen der internationalen Polizei nicht in Verdacht stünden, bei sich zu Hause an Menschenrechtsverbrechen beteiligt gewesen zu sein – was sie heute in manchen Fällen sind –, würden die zivilen Organisationen darauf achten müssen, Abstand zur Polizei zu halten, um ihre Unabhängigkeit und ihre auf Gewaltfreiheit beruhenden Wirkungsmechanismen nicht zu gefährden.

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Fazit

Nur in ungefähr der Hälfte aller größeren bewaffneten Konflikte zwischen 1947 und 2013 wurden militärische Friedensoperationen entsandt (Bellamy und Williams, 2015); insgesamt beträgt deren Zahl rund 200 (Williams mit Bellamy, 2021). Ob und wo sie eingesetzt werden, hängt vom Interesse der Mitglieder des Weltsicherheitsrates oder bestimmter einzelner Staaten ab. Und auch, wenn ihr Mandat heute meist den Schutz von Zivilpersonen mit umfasst, so ist dem in der Praxis oftmals Grenzen gesetzt, was auch mit den rigiden Operationsregeln bewaffneter Kräfte, die ihnen i. d. R. verbieten, sich überall dort aufzuhalten, wo Zivilist*innen Schutz bräuchten, zu tun hat. Die Beziehung von internationalen Soldat*innen zur Zivilbevölkerung ist stets höchst problematisch (Autesserre, 2014).

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Missionen Zivilen Peacekeepings, auch wenn sie bislang in deutlich weniger Konflikten als militärische Missionen eingesetzt wurden, sind zumeist flexibler, was solche Regeln angeht und haben z. B. im Südsudan die Bemühungen der UNPeacekeeper*innen ergänzt, indem sie dort tätig wurden, wo es den UN-Truppen nicht erlaubt war (etwa abseits der großen Straßen). Gleichzeitig sind sie bislang von der Größe her nicht mit militärischen Missionen zu vergleichen – während militärische Missionen zumeist mehrere Tausend Soldat*innen umfassen, gelten im Zivilen Peacekeeping, soweit es von Nichtregierungsorganisationen ausgeführt wird, schon Projekte mit über 100 Mitarbeiter*innen als »groß«. Anders ist es mit den erwähnten zivilen Missionen staatlicherseits bestellt – sie sind zahlenmäßig oft eher mit den militärischen Friedensoperationen vergleichbar, allerdings auch inflexibler in ihren Mandaten und abhängig von Regierungen und deren politischen Agenda. Die Frage für die Zukunft wird lauten, ob es gelingen kann, Ziviles Peacekeeping so auszubauen, dass es eine Alternative zu militärischem Peacekeeping werden kann. Erforderlich hierfür sind vor allem der politische Wille, Probleme im Sine der UN-Charta gewaltfrei zu lösen, dafür Ressourcen zur Verfügung zu stellen und die Bereitschaft, sich endlich von der Vorstellung zu lösen, dass Sicherheit aus den Gewehrläufen kommt. Um das zu erreichen, ist bürgerschaftliches Engagement äußerst wichtig. Dr. Christine Schweitzer ist Ethnologin und als Friedensforscherin und Friedensarbeiterin im internationalen Kontext tätig sowie Geschäftsführerin des Bundes für Soziale Verteidigung (BSV) und Redakteurin der Zeitschrift »Friedensforum«.

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Die Beschreibung des Zivilen Peacekeepings ist ein Auszug aus einem Beitrag zu Peacekeeping. In: C. Cohrs, N. Knab & G. Sommer (Hrsg.). Handbuch Friedenspsychologie (im Erscheinen begriffen). Das Handbuch wird online als Open Source erscheinen.

Marie-Noëlle Koyara / Hubert Heindl

Zivile Krisenprävention und -intervention in der deutschen internationalen Zusammenarbeit. Gelingende Praxis aus der afrikanischen Friedensbewegung am Beispiel des Programms INOVARCA, Regensburg, in der Reform der Sicherheitsorgane der Zentralafrikanischen Republik

Abb. 1: Nationale Gendarmerie als Akteur für Frieden, Demokratie und sozialen Zusammenhalt – Foto: Hubert Heindl

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Marie-Noëlle Koyara / Hubert Heindl

Abb. 2: Begegnungsräume eröffnen: Generalsekretär der Bischofskonferenz, Präsidium Nationaler Islamischer Rat – Foto: Hubert Heindl

1)

Chancen eines Paradigmenwechsels in der internationalen Zusammenarbeit deutscher Ministerien

Die »neue Verantwortung Deutschlands in der Welt« ist auf dem Hintergrund der Normalisierung der transatlantischen Verbindung zur neuen US-Regierung wieder in aller politischer Munde. Befreit von der Last des harschen Gepolters Präsident Trumps verstärkt der »politisch-militärische Komplex« sein Narrativ der scheinbar alternativlosen Wahrnehmung dieser Verantwortung durch militärische Drohung, gewaltbereite Abschreckung und ressourcenintensive Aufrüstung. Die drohmächtige Aufstockung der Kriegskasse auf 2 % des BIP ist wieder hoffähig. Doch was ist »neu« an den Denkmustern und Konzepten einer internationalen Sicherheitspolitik, die sich Verantwortung nur mit Waffenarsenalen, Drohkulissen, Definition von Gegnerschaft und Ausgrenzung vorstellen kann? Dazu scheint der Blick auf die Friedensbewegung(en) des Globalen Südens zu lohnen: Die leidvolle Erfahrung von Völkermord, Putsch, Partisanenkrieg, Vertreibung und Flucht lehrt die Menschen dort, dass die Idee aus überkommen Zeiten »Wenn du den Frieden willst, rüste zum Krieg« keinesfalls zum Ziel führt. Generationen erleben in Afrika das systematische Versagen des Staates und der öffentlichen Ordnung, ethnische Ausgrenzung, systematische Missachtung von Menschenrechten, die Willkür der Ordnungsorgane, politische Manipulation. Und sie erleben internationale, militärische »Friedens«-Truppen, die sich durch ihr gewaltbereites Einsatzszenario eher als Teil des Teufelskreises von Gewalt und

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Gegengewalt erweisen, denn als Katalysator nachhaltiger Konfliktlösungen und Sicherheit. Die Zivilgesellschaft reagiert darauf mit beharrlichem »Frieden leben«: Sie setzt in Dörfern, Genossenschaften, Vereinen und in den Glaubensgemeinschaften der waffenstrotzenden Gewalt von Krieg, Rebellion und Ausgrenzung eine Realität der Versöhnung, des sozialen Ausgleichs, der gesellschaftlichen Teilhabe entgegen. Ihre Projekte bieten psychosoziale Betreuung für die Überwindung von Trauer und Trauma der Opfer an, begleiten Täter-Opfer-Ausgleich als Basis nachhaltiger Versöhnung. Sie richten Spar- und Kreditfonds ein, die von ehemals verfeindeten Gruppen gemeinsam verwaltet und genutzt werden. Sie organisieren politische Prozesse der Bürgerbeteiligung und der guten Regierungsführung. Sie erproben auf der Basis traditionellen Kulturgutes eine »Justiz der Wiedergutmachung« als Alternative zur simplen Strafjustiz. Mit 2 % des BIP für solche internationale Arbeit würde die Verantwortung Deutschlands somit ein ganz anderes Signal geben: nämlich eine Praxis ausbauen, die lokal verankert, politisch relevant ist und auf die Herstellung sozial dynamischer, inklusiver Sicherheit setzt, statt mechanisch und gewaltbereit Drohgebärden und ausgrenzende Blockbildung zu denken und zu bezahlen.

2)

INOVAR, das Programm der Gewaltfreien direkten Konfliktintervention afrikanischer Friedensfachkräfte

Ist es nicht irrsinnig, sich immer wieder gleich zu verhalten und immer wieder das Gleiche zu tun, aber ein anderes Ergebnis zu erwarten? (Albert Einstein) Aus dem seit 20 Jahren stetig ausgebauten panafrikanischen Netzwerk von Friedensfachkräften entsteht im Jahr 2010 unter Pilotfinanzierung der Fachstelle Zivile Konfliktbearbeitung (ZIVIK) des Auswärtigen Amtes das Aktionsprogramm INOVAR – Intervention Non-Violente Active et Rapide (Aktive und Schnelle Gewaltfreie Konfliktintervention), getragen und moderiert durch die deutsche Entwicklungsagentur APTE, Regensburg (Agentur für Projektberatung, Training und Evaluierung). Friedensfachkräfte Afrikas sind eingeladen, sich auf Bitte von lokalen Gemeinschaften, die sich in Gewalt- oder (Post)Konfliktsituationen befinden, mit ihrer Kompetenz und Erfahrung vor Ort einzubringen. INOVAR stellt sie den Bürgermeister*innen, Gemeindevorsteher*innen, Verbandsleitungen (Frauen, Unternehmer*innen, Landwirt*innen) vor und kümmert sich um die organisatorische Abwicklung. Die Friedensfachkräfte verhandeln mit ihrem Arbeitgeber, ihren Familien und stellen sich in afrikanischer Solidarität für einige Monate den lokalen Friedensakteuren im Gastland zur Seite. Als internationale afrikanische Friedensfachkräfte arbeiten

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Marie-Noëlle Koyara / Hubert Heindl

sie vor Ort an konkreten Vorhaben der Deeskalation, der Mediation, der »Sozialen Therapie« und der Wiederherstellung sozialen Zusammenhalts durch Aussöhnung. Sie bilden Konfliktverständnis aus, die Kompetenz zu aktiver Gewaltfreiheit, fördern die Resilienz lokaler Gemeinschaften gegen Manipulation, Hassreden und ethnischer (historischer) Vorurteile. Mit afrikanischer, interkultureller Sensibilität und Authentizität können sie mit hoher Akzeptanz arbeiten, erreichen viel konfliktsensitive Eindringtiefe, aktivieren die lokalen, traditionellen kulturellen Quellen von Aussöhnung und »Gerichtsbarkeit« (Gerechtigkeit). Für all das haben die kurzgedachten, i. d. R. »kolonial« interessensgeleiteten Militäreinsatze gar nicht das Instrumentarium.

(1) Unterbrechung

(4) Befähigung

(2) Einladung

(3) Berührung

Abb. 3: Der Wirkkreis gewaltfreier Intervention – Grafik: Hubert Heindl

3)

Frieden schaffen – ohne Waffen: »Si vis pacem para pacem!« (Wenn du Frieden willst, bereite den Frieden vor!)

Die »neutrale« internationale Intervention der INOVAR-Friedensfachkräfte provoziert zunächst UNTERBRECHUNG von Gewalt und deren fatalistische Akzeptanz bei Opfern wie Tätern; erlaubt das Aufbrechen von Stereotypen, Vorurteilen und von Reflexen blinder Rache. Sie formuliert eine EINLADUNG, diese »Störung durch Unterbrechung« als Raum und Atmosphäre zu nutzen für (neue) Begegnung, (wertschätzender) Kommunikation, Wiederaufnahme sozialer (versöhnender) Interaktion zwischen den Kontrahenten. Mit ihrer solidarischen Empathie BERÜHREN die Friedensfachkräfte die Menschen im betroffenen Gemeinwesens, die Verantwortlichen und Meinungsführer, die Opfer

Zivile Krisenprävention und -intervention

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Abb. 4: Soziale Gemeinschaft wiederherstellen – Foto: Hubert Heindl

und gewaltbereiten Täter. Und schließlich entwickeln sie durch aktive Friedensbildung die BEFÄHIGUNG der Akteure, den sozialen Ausgleich und die Verständigung über unterschiedliche, gar diametral entgegengesetzte Interessen hinweg, ohne Gewalt zu gestalten, die (manipulative) Gewaltvergangenheit in eine konstruktive Richtung zu transformieren, ein dynamisches gewaltfreies Handeln für nachhaltigen Frieden zu wagen.

4)

Dem (strukturellen) Versagen der gewaltbereiten (internationalen) Friedensmissionen mit einer neuen deeskalierenden Sicherheitsarchitektur begegnen

Die Zentralafrikanische Republik gilt seit mehr als drei Jahrzehnten als »Failed State«: Regierungen kommen regelmäßig nur durch Putsch und militärische Staatsstreiche an die Macht. Zwischen 2012 und 2014 tobt in Reaktion auf den Versuch, die Scharia als Staatsraison und Staatsverfassung einzuführen, ein erbitterter Kampf gegen die radikalen Muslime, der als »Religionskrieg« stigmatisiert wird und der als Konflikt zwischen Ethnien, Regionen, Religionen und Gemeinschaften geschürt wird. Das Morden, Brandschatzen, Plündern und Vergewaltigen trägt sogar das Risiko in sich, bis zum Völkermord an allen muslimischen Bewohner*innen des Landes zu eskalieren. Bei nur fünf Millionen Gesamtbevölkerung entstehen in nur wenigen Wochen 650.000 interne Flüchtlinge und Flüchtlingslager in den Grenzregionen der Nachbarländer von

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Marie-Noëlle Koyara / Hubert Heindl

ca. 300.000 Flüchtlingen. Alle seit 2002 initiierten internationalen »Friedensmissionen« verhindern dabei nicht, dass das Land unregierbar bleibt. Die Interventionen in den Jahren 2002 (FOMUC: multinationale Eingreiftruppe der CEMAC, Wirtschaftsgemeinschaft der Staaten Zentralafrikas) und 2011 (das BONUCA, Büro der Vereinten Nationen für die Konsolidierung des Friedens in der ZAR) lieferten sogar die Impulse zum Militärputsch 2003 und zum Staatsstreich 2012. Die durch die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zur Zentralafrikanischen Republik aufgelöste nationale Armee und das Waffenembargo zwingt die im Jahr 2016 aus der Übergangsregierung (2014–2016) hervorgegangene und durch allgemeine und freie Wahlen legitimierte Regierung mit einer grundsätzlichen Reform des Sicherheitssektors zu reagieren. Unterstützt durch die Ausbildungsmission der EUFOR-EUTM der Europäischen Union (European Union Training Mission) entwickelt das Verteidigungsministerium eine Neuausrichtung der Sicherheitsorgane, genannt »Aufbau einer Republikanischen Armee und Polizei«. Eine wesentliche Säule dieses Konzeptes ist der gezielte Dialog zwischen den Polizei- und Militär-Einheiten und der lokalen Bevölkerung. Zur Ausbildung der dafür notwendigen Kompetenzen und Instrumente wird das deutsche Programm INOVARCA1 eingeladen, mit seinen afrikanischen Friedensfachkräften – einheimische und internationale – diesen Aufbau zu begleiten. Inhalte der zivilen, gewaltfreien Trainings von INOVARCA – »Verständnis zur psycho-sozialen Wirkkraft interaktiver Kommunikation«: Förderung der Akzeptanz der Sicherheitsaufgaben von Polizei und Streitkräften innerhalb der Sicherheitsorgane und in der »gastgebenden« Zivilgesellschaft der Region/Provinz, Stressbewältigung, emotionales Gleichgewicht, »Selbst-Bewusst-Sein«. Lehrmodule: Gewaltfreie Kommunikation, Empathie für sich und andere, Konfliktanalyse – »Authentisches Auftreten der handelnden Personen (Gendarmen, Soldat*innen)«: Lehrmodule: »Zivile Hoheit« der »gastgebenden« Bevölkerung, »Gütekraft«, Haltungen und Instrumente der Mediation. – »Erfahrungsraum biographischer Selbstreflexion«: Benennung von Gewalterfahrung, Trauma-bewältigung, Verantwortung eigener (Mit-) Täterschaft. Transformation zu stabiler Persönlichkeit.

1 INOVARCA: Active Non-Violent Intervention of African Peace Builders in support of local Actions for Deescalation, Violence Prevention and Reconciliation in the Central African Republic. http://m.pcrc-rca.org/InovarCA~T-341–0–1.

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Abb. 5: Neue Räume schaffen: Methodik INOVARCA – Foto: Hubert Heindl

Abb. 6: Partizipatives Arbeiten an Deeskalationsstandards – Foto: Hubert Heindl

5)

Aktivieren lokaler Kultur und lokalen Wissens für eine gemeinwesenorientierte Konfliktkompetenz und lokale, gewaltfreie, zivil-militärische Mechanismen von Sicherheit und Entwicklung

Die Vision hinter den Aktivitäten des Verteidigungsministeriums in den Jahren 2018 bis 2021 ist, den Einsatz von Waffengewalt zu reduzieren, um dadurch insgesamt den Bestand an Waffen im Land zu verringern. Dabei profiliert sich Staatspräsident Touadera in der Afrikanischen Union (verbal) als Vorreiter der

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Marie-Noëlle Koyara / Hubert Heindl

Kampagne »Afrika ohne Waffen ab 2020«. Neben den formalen Programmen der »Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration« von Milizen sollen in die Ausbildung der Sicherheitsorgane insbesondere die Aspekte der Konfliktkompetenz und der Konfliktdeeskalation eingeführt werden. Dabei zeigt sich gerade auch an der aktuellen politischen Geschichte der Zentralafrikanischen Republik, dass eine militärische Intervention von außen in bestimmten Extremsituationen sinnvoll sein kann. Sie kann aber auch konfliktverstärkend wirken, wenn sie nicht zeitlich klar begrenzt ist und von Anfang an mit einer Exit-Strategie verknüpft wird. Problematisch wird es insbesondere, wenn ausländische Akteure kulturelle Mechanismen im Konfliktgebiet nicht kennen, wozu auch die Religionen gehören. Diese bieten ein großes Potenzial zur Konfliktdeeskalation und Versöhnung von Volksgruppen, Ethnien durch Täter-Opfer- Prozesse und Riten. Voraussetzung ist jedoch, dass sich die Religionsgemeinschaften nicht von partikularen politischen Interessen vereinnahmen lassen, was durch den mutigen Einsatz der Religionsführer im Land und durch deren Gründung einer Interreligiösen Plattform vermieden werden konnte. Nachhaltige Konfliktlösungen kommen nie von außen; vielmehr muss die Sicherheitslage langfristig aus dem Innern der Gesellschaft heraus über jede einzelne Gemeinschaft und ihre inklusive und ausgleichende Konfliktkompetenz geklärt und aufrechterhalten werden.

a)

Inhalte der zivil-militärische Reformen

– »Revision des gesetzlichen und reglementarischen Rahmens« der Sicherheitsorgane: Reform der Truppenstärke, Leitrahmen für Einsätze, Nationaler Verteidigungsplan, Nationaler Plan für die Entwicklung des Zivilschutzes, Vertiefung der Wirkkraft des Generalinspekteurs – »Qualifizierung der Basis-Ausbildung« weit über Waffenkunde hinaus: Leitbild Innere Führung, Menschenrechte, Management von Gesundheit, zivile Infrastruktur durch Pioniereinheiten, Kommunikation – »Erstellung einer transparenten und durchsetzungsfähigen militärischen Rechtsordnung«: Militärtribunal (TMP), Gesetzgebungsverfahren (2016– 2018) mit Betreuung durch Verfahren und Urteile

Zivile Krisenprävention und -intervention

b)

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Herausbildung einer »kritischen Masse« von Akteuren der Sicherheitsorgane auf allen hierarchischen Ebenen, die Konfliktkompetenz anwenden und Deeskalation leben

– »Wechsel des Paradigmas«: Das Gemeinwesen wird mit seinen psycho-sozialen Bedingungen als Ko-Akteur für die Herstellung von Sicherheitsarbeit behandelt und einbezogen, statt als »Gegner«, »Feind« und »Verursacher« von Unsicherheit. – »Interagieren statt Imponieren«: den Sozialraum des Gemeinwesens im Einsatzgebiet erfassen und aktivieren (können) – »Kommunikation gestalten, statt befehligen«: Empathie, Geduld, Bedürfnisse formulieren – »Ergänzung der klassischen Ausbildung«: Psycho-soziale und biographische Gegebenheiten der Polizist*innen werden in den Blick genommen, insbesondere deren Gewalt- und Opfererfahrung (biographisches Lernen). – »Trainerpersönlichkeiten einsetzen«: Sie kommen aus der Zivilgesellschaft mit ihrer »unabhängigen« ethisch-spirituellen Authentizität.

c)

Perspektiven der Vertiefung und für Kooperation und Finanzierung aus Deutschland

– »Verstetigung der Ausbildungskurse im Jahresverlauf«: Pilotereignisse nutzen, um dezentral auch in den Landesprovinzen die Ausbildungseinheiten anzubieten – »Aktives Coaching vor Ort« in den Provinz-Einsatzkräften (Gendarmerie, Truppenkontingente) zu ihrer psycho-sozialen Kompetenz und Wirkkraft und dafür … – »Integration ziviler Friedensfachkräfte in die Kommandostrukturen« von Polizei und Militär – »Angebote/Einbeziehung der lokalen Zivilgesellschaft in Training und Coaching ziviler Konfliktbearbeitung«: Alle Akteure (traditionelle, religiöse Meinungsführer, Jugend, Frauen) werden auf eine proaktive Kommunikation mit Sicherheitskräften vorbereitet. Die Ziele dabei sind Konflikt- und Gewaltprävention, Deeskalation, Mediation. – »Ausbau der Piloterfahrung von INOVARCA« zur Nutzung in anderen Beispielländern, z. B. Niger und Mali: Eingliederung von Friedensfachkräften in die lokale Polizei und damit der Ausbau der UN- und EU-Polizei-Einheiten. Organisation und Moderation eines ständigen Kontakts und Dialogs der Polizeiführung mit allen Akteuren der lokalen Zivilgesellschaft (Jugend, Frauen, Gewerbe, militante Gruppen). Nacharbeiten von Polizeiaktionen:

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Marie-Noëlle Koyara / Hubert Heindl

psycho-soziales Follow-Up. Moderation einer »ständigen, multipolaren Kommission« für Frühwarn- und Krisenreaktion

6)

»Sicherheit neu denken«2 als konzeptionelle Leitlinie für die Reform des Sicherheitssektors in der Zentralafrikanischen Republik und als Pilotprozess eines afrikaweiten »Rethinking African Security«

Wir stellen fest, dass die Sicherheitsrisiken und -bedrohungen für die Weltgesellschaft ihre Natur verändert haben und immer komplexer werden. Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie, aber vor allem auch die internationale organisierte Kriminalität, Atomwaffen, Cyberkriminalität, Klimawandel, Wirtschaftskrise und Abkehr von einer regelbasierten Weltordnung (Menschenrechte, Kriegsrecht, Völkerrecht) sind Auslöser und perpetuierende Faktoren von Krisen und Gewaltereignissen. Kriege und Konflikte sind globalisiert, weil sie die Ressourcen der Globalisierung nutzen, sowohl auf kultureller, sozialer, wirtschaftlicher als auch politischer Ebene. Mit eindimensionalen Gewaltszenarien einer Sicherheitspolitik werden Mechanismen und Prozesse dieser Krisenauslöser lediglich kopiert und verstärkt. »Wer den Frieden will, bereitet den Frieden vor«. Es ist also höchste Zeit und ausdrücklich rational, die Strategien für Friedensprozesse zu überdenken und neu zu denken, in und mit der lokalen Bevölkerung zu wirken und deren Friedenskompetenz und Resilienz durch eine Logik der zivilen Sicherheit herauszubilden und zu unterstützen. Das Engagement Deutschlands in der internationalen Zusammenarbeit erfährt in Afrika eine positive Bewertung. Insbesondere ohne große Kolonialgeschichte und geopolitischen Interessen ist Deutschlands Kooperation nicht historisch oder (militär)strategisch belastet. Die in den letzten 15 Jahren aktiv entwickelten Konzepte und Instrumente der zivilen Krisenbewältigung aus der Regierung (Ziviler Friedensdienst, Strategien ziviler Krisenbewältigung) und aus der Zivilgesellschaft (Forum Ziviler Friedensdient, Aktive Gewaltfreiheit, Bund für Soziale Verteidigung) stellen zudem ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Zusammenarbeit dar, das in Afrika wertschätzend und als sehr hilfreich wahrgenommen wird. Die Kampagnen um das Szenario »Sicherheit neu denken«, die Praxisinterventionen von INOVAR, die Projekte einzelner FriedensNGOs (Eirene, pax christi international) sind ein konkreter operativer Beitrag zu dieser Wertschätzung und alternativen Hilfestellung. Für die Zentralafrikanische Republik und die dortige Arbeit der Regierung und Zivilgesellschaft für Aus2 www.sicherheitneudenken.de.

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söhnung und sozialen Zusammenhalt, Demokratisierung, nachhaltige Strukturen und Mechanismen von Sicherheit und Entwicklung kann Deutschland sein Ansehen und die Praxis von INOVARCA nutzen und als kompetenter Partner einer gelingenden alternativen Praxis seine »neue internationale Verantwortung« profilieren. Marie-Noëlle Koyara (Jg. 1955), Ing. agr., war von 2015 bis Juli 2021 Verteidigungsministerin der Zentralafrikanischen Republik. Von 2013 bis 2015 war sie Ministerin für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, anschließend Staatsministerin für Arbeit und Sozialwesen, womit sie als erste Frau ein Staatsministerium in dem afrikanischen Land leitete. Mit einer interreligiösen Plattform baute sie beispielhafte Projekte auf für eine neue gewaltdeeskalierende Sicherheitsarchitektur, in der nationale und regionale Gendarmerie-Kräfte gemeinsam mit zivilen Friedensfachkräften wirken. Hubert Heindl (Jg. 1956), Pädagoge und Soziologe M.A., ist als Erwachsenenpädagoge, Sozialpsychologe und Organisationsentwickler Leiter der Entwicklungsagentur APTE in Regensburg (seit 1992), einer der Gründungsdirektoren der »Friedensuniversität Afrika« (seit 2002, www.universityofpeaceinafrica.org) und Direktor des afrikanischen Programms INOVAR (Bangui, Kigali, Regensburg, seit 2010).

Traugott Schächtele

Lyrik: heute doch nicht

einmal angenommen ich würde was ich bete auch glauben und es wäre mir ernst wenn ich der zweiten bitte traute und dein reich käme es käme mir ganz sicher dazwischen weil ich zuvor noch zeit bräuchte für all meine pläne und nächte für viele träume und raum für die gerechtere welt

152 an der ich baue da schweige ich doch besser wenn ich bete und hoffe gott ließe aus meinem schweigen sein reich dennoch wachsen

Traugott Schächtele

Teil D: Idee und Perspektive

Thomas Nauerth

»Internationale Polizei« aus friedensethischer Sicht

»Internationale Polizei« oder »Just Policing« sind relativ neue Begriffe in der jahrhundertealten friedensethischen Debatte in Bezug auf die Themen Krieg und Frieden. Zwar betont die Politologin Ines-Jacqueline Werkner, dass »dieses Konzept […] gar nicht mehr so neu« sei, es existiere »schon seit über 10 Jahren«1. Aber auch sie konstatiert, es sei in der friedensethischen Debatte nie »zentral gewesen oder auch eingehender diskutiert worden.«2 In der Literatur wird generell auf den Theologen Gerald Schlabach als den »Architekten dieses Konzeptes«3 verwiesen, »a former Mennonite who is now Catholic«4, der in den Gesprächen des katholisch mennonitischen Dialoges die Idee eines »Just Policing« in die Debatte brachte, um die »christlichen Positionen von gerechtem Krieg und reinem Pazifismus so annähern« zu können, »dass sich ein neuer Horizont eröffnet.«5 Mit der Bezeichnung »Just Policing« lehnt sich Schlabach eng an die alte friedensethische Lehrtradition des »Just War« (= Gerechter Krieg) an. Schla-bach kann sogar formulieren: »Würden die besten Intentionen der Theoretiker des gerechten Krieges in die Praxis umgesetzt, dann würden sie nur ein gerechtes polizeiliches Handeln legitimieren, auf keinen Fall jedoch Krieg.«6

Allein dieses Zitat lässt ahnen, dass die Debatte über »Internationale Polizei« oder »Just Policing« eine längere Tradition aufweist als generell gesehen.

1 Werkner, Ines-Jacqueline (2015). Just Policing – Idee, Konzept, Hintergründe; https://www.e vangelische-friedensarbeit.de/artikel/2015/just-policing-idee, Konzept, Hintergründe. 2 Werkner, Ines-Jacqueline, ebd. 3 Werkner, Ines-Jacqueline, ebd. 4 Vgl. http://bakerpublishinggroup.com/books/unlearning-protestantism/231451. 5 Schlabach, Gerald W. »Just Policing« – Die Frage nach (De-)Legitimierung des Krieges muss nicht kirchentrennend bleiben. Lernerfahrungen aus dem mennonitisch-katholischen Dialog. In: ÖR 60 (1/2011) S. 66–79. 66. 6 Schlabach, Gerald W., ebd. S. 67.

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1)

Thomas Nauerth

Ein Blick zurück

Man könnte – zumindest als biblischer Theologe – sagen, die Debatte beginnt spätestens mit dem ersten Buch der Bibel, genauer mit Gen/1 Mose 14. Das Buch Genesis insgesamt kann als ein narrativ geführter Diskurs über das Sein und Sollen unserer Welt gelesen werden, die Frage nach der Legitimität tötender Gewalt und nach Möglichkeiten gewaltfreier Lösungen und Versöhnungen durchzieht dabei das Buch wie ein roter Faden.7 Man muss bedenken, dass in alter Zeit, also quasi bis zur Neuzeit, die Erfahrungen und Weisheiten der Alten in einer Gesellschaft normativ waren; man hat seine Lebensperspektiven, seine Werte, sein Verhalten zu orientieren an dem Verhalten der Vorfahren. Nur wenn man dies beachtet, wird verständlich, warum Erzählungen über einen Urvater wie Abraham eine so hohe Relevanz zukommt. Diese Erzählungen sind politisch, wie friedensethisch teilweise geradezu provokativ – und bis heute lehrreich. Zum Beispiel findet sich in Gen 13 ein klassisches, bis heute aktuelles, Konfliktszenario. Zu wenig Land und Wasser für zu viel Vieh. Volk ohne Raum, es kommt zum Konflikt zwischen Abraham und Lot. Abraham hat eigentlich alle Argumente auf seiner Seite, zumindest alle theologischen Argumente. Denn in 12,7 hat er von Gott selbst dieses Land zugewiesen bekommen: »Deinen Nachkommen will ich dieses Land geben«. Als nun aber ein Konflikt um dieses Land ausbricht, hat Abraham nicht diese Verheißung im Blick, er denkt nicht an seinen Anspruch und auch nicht an seine Nachkommen. Abraham denkt an Frieden und Ausgleich: »Lass doch nicht Zank, Streit sein zwischen mir und dir«. Man kann Konflikte auch ganz ohne Polizei und Rechtsanspruch lösen. Abraham erscheint hier als ungemein großzügiger Mensch. »Land gegen Frieden«, so könnte man aktualisierend das Prinzip nennen, mit dem Abraham in Gen 13 den Konflikt löst, bekanntlich in ebenjenem Land Abrahams bis heute ein heiß umstrittenes Prinzip, um es zurückhaltend zu formulieren. Abraham aber lässt Lot wählen, welchen Teil des Landes er besiedeln will und nimmt selbst dann mit dem Rest vorlieb. Diese friedliche Konfliktlösung in Gen 13 muss man als Leser/Leserin erinnern, wenn in 1 Mo/Gen 14 erneut ein Konflikt geschildert wird. Diesmal gar ein klassisch kriegerischer Konflikt. Es ist öfter aufgefallen und diskutiert worden, warum eigentlich im Genesisbuch so wenig von kriegerischen Handlungen die Rede ist. Man hat das in der Regel irgendwie historisch zu erklären gesucht, dabei seltsame Vorstellungen von genereller Friedfertigkeit von Kleinviehnomaden im 7 Vgl. dazu Nauerth, Thomas. »Die Erde aber war vor Gott verdorben, die Erde war voller Gewalttat« (Gen 6,11) Gewalt und Gewaltlosigkeit als biblisches Schlüsselthema. In: imprimatur (2/2020) 73–78. 75ff. und Ders. (o. D.) Abrahamfigur, Abrahamerzählungen und das Genesisbuch. Thesen; https://www.bibelunddidaktik.uni-osnabrueck.de/category/materialien /zu-biblischen-buechern/.

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17. bis 13. Jahrhundert vor Chr. in die wissenschaftlichen Kommentare geschrieben. Übersehen hat man bei dieser Debatte, dass das Genesisbuch kein Bericht ist und nie einer sein wollte, sondern theologisch-politische Literatur; übersehen hat man weithin auch, dass ausgerechnet von Abraham eine militärische Aktion berichtet wird. Es gibt Krieg im Lande Kanaan, so erzählt es Gen 14, viele Könige kämpfen gegen viele andere Könige und am Ende wird Sodom, der Ort Lots, des Neffen Abrahams geplündert und Lot wird samt Anhang verschleppt. Und dann heißt es 14,14: »Als Abram hörte, sein Bruder sei gefangen […] nahm er die Verfolgung auf bis nach Dan.« 318 Mann habe er dabeigehabt und in einer Nacht alle Könige überfallen, bis links von Damaskus verjagt und Lot, seine Familie und alles Eigentum gerettet. Am Ende des Kapitels steht eine feierliche Segenszeremonie: »Melchisedek, der König von Salem, brachte Brot und Wein heraus. Er war Priester des Höchsten Gottes. Er segnete Abram und sagte: Gesegnet sei Abram vom Höchsten Gott, / dem Schöpfer des Himmels und der Erde, und gepriesen sei der Höchste Gott, / der deine Feinde an dich ausgeliefert hat. Darauf gab ihm Abram den Zehnten von allem.«

Bemerkenswert ist dann, wie Abraham es ablehnt, irgendetwas zu behalten, von dem, was er den Königen abgenommen habe: »Keinen Faden und keinen Schuhriemen, nichts von allem, was dir gehört, will ich behalten. Du sollst nicht behaupten können: Ich habe Abram reich gemacht.«

Man könnte bei 1Mo/Gen 14 geradezu von einem Paradigma sprechen in Bezug auf die aktuelle Debatte bezüglich humanitärer Intervention: Rettung von Menschenleben und Vertreiben von Königen bis links von Damaskus ist in Ordnung, aber nur, wenn eindeutig keine Bereicherungsabsichten vorliegen. Und nur mit 318 Mann, das sieht sehr nach einer Polizeiaktion aus, nicht nach einem Feldzug. Das Nachdenken über andere Formen der Kriegsführung, über gerechtere, gewaltärmere und insofern polizeilichere Feldzüge scheint also, wenn man 1Mo/ Gen 14 so lesen darf, geradezu menschheitsalt. Sicher aber kann man belegen, dass es ein alter Traum gerade katholischer Friedensethik ist, die Streitigkeiten dieser Welt nicht mit Militär, sondern mit Polizei zu lösen. 1924 verfasste ein Dominikaner vor dem Hintergrund des 1. Weltkriegs und der vielfältigen pazifistischen Bewegungen, die dieser Krieg ausgelöst hatte, die wohl erste grundlegende Zusammenstellung aus katholischer Sicht: »Weltkirche

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Thomas Nauerth

und Weltfriede. Katholische Gedanken zum Kriegs- und Friedensproblem«.8 Darin heißt es: »Der Pazifismus leugnet nicht, daß bis zum Ende der menschlichen Geschichte eine Macht da sein müsse, die die Funktion einer internationalen Ordnungstruppe auszuüben habe. Das Vorgehen dieser Polizeimacht gegen aufrührerische Elemente ist aber von der Methode heutiger nationaler Kriege wesensverschieden.« (S. 369)

Interessant an diesem Zitat ist zunächst die Formulierung »Funktion einer internationalen Ordnungstruppe«. Sie macht deutlich, was auch heute im Hintergrund der ganzen Debatte um »Internationale Polizei« bzw. »Just Policing« steht, nämlich die Überzeugung, dass es Funktionen des Militärs gibt, die nicht einfach wegfallen können, sondern die substituiert werden müssen. Ohne eine Grundüberzeugung, wonach das Militär auch als »internationale Ordnungstruppe« fungieren kann, wäre die Debatte sinnlos. Hieran wird auch deutlich, warum gewaltfrei orientierte Pazifisten bzw. besonders militärkritische Pazifisten ihre Zweifel haben, ob »Just Policing« ein sinnvolles Konzept ist: für sie nämlich gibt es keine sinnvollen Funktionen des Militärs, für sie ist schlicht nichts zu substituieren. Damit ist auch friedensethisch ein interessanter Punkt erreicht: Wer über Konzepte eines »Just Policing« nachdenkt, hat bereits vorgängig für sich entschieden, dass es sinnvolle Funktionen des Militärs gibt, die zu ersetzen sind, bevor Militär abgeschafft werden kann bzw. damit später man einmal das Militär abschaffen kann. Wer sich auf diese Grundüberzeugung nicht einlassen will oder kann, für den ist die friedensethische Debatte um »Just Policing« früh beendet. Krieg wird im klassischen Pazifismus, von dem sich Stratmann inspirieren ließ, definiert als »mit Waffengewalt nach bestimmten militärischen Regeln« eingeübter und organisierter »Kampf zweier oder mehrerer durch kein Rechtsband miteinander verbundener Staaten.« (S. 115) Die Folgerung aus dieser Definition für Stratmann: »Wenn den sich bekämpfenden Gruppen keine ausgebildeten und ausgerüsteten Heere mehr zur Verfügung stehen, ist das, was wir Krieg nennen, unter ihnen unmöglich.« (S. 115)

Krieg also ist ein Sonderfall des Kampfes, ermöglicht durch Ausbildung und Ausrüstung, also durch Waffen. Krieg ist damit etwas Künstliches, durchaus 8 Stratmann, Franziskus Maria O.P. (2021). Weltkirche und Weltfriede. Katholische Gedanken zum Kriegs- und Friedensproblem. Neu herausgegeben und eingeleitet von Thomas Nauerth (Kirche & Weltkrieg – Band 5) Norderstedt. Zitate im Folgenden mit Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe. Vgl. ansonsten auch Ders., Das Problem einer überstaatlichen Polizei. In: Der Friedenskämpfer 8 (4/1932) S. 61–65; wiederabgedruckt in: Höhn, Laurentius/Nauerth, Thomas/Spiegel, Egon (Hg.), Frieden als katholische Aufgabe. Leben und Werk von Franziskus M. Stratmann OP (Dominikanische Quellen und Zeugnisse 26), Freiburg 2022, 219–225.

»Internationale Polizei« aus friedensethischer Sicht

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keine natürliche Erscheinung, zumindest wie dieser Dominikaner als Theologe »Natur« versteht. Stratmann schreibt: »Wenn an Stelle der Waffen Kulturwerkzeuge hergestellt würden, an Stelle der militärischen Übungen sportliche träten, wenn die Menschen die Erlernung des Kriegshandwerkes verweigerten, indem sie etwa fänden, daß sie dadurch sehr viel Zeit und sehr viel Geld sparten, wenn sie die dadurch freiwerdende Intelligenz und Energie mit aller Macht darauf verwendeten, die bisher fehlende zwischenstaatliche Rechtsgrundlage zu schaffen, auf der sie ihre Streitigkeiten austragen könnten, d. h. an die Stelle der Gewalt das Recht, an Stelle des Gemetzels den Prozeß setzten – […] so würde zwar nicht der Kampf, aber der Krieg aus der Welt geschafft. Das kann noch Jahrhunderte dauern, aber es gibt kein Gesetz der Natur oder Gottes, das es unmöglich machte.« (S. 115f.)

Am Schluss dieser drei »Wenn«-Bedingungen aber hat Stratmann noch eine Parenthese eingeschoben: »wobei allerdings immer eine internationale Polizeimacht notwendig wäre«

Krieg also hält Stratmann für »aus der Welt schaffbar«, der Kampf aber wird bleiben und deswegen auch eine internationale Polizeimacht. Meint Stratmann hier doch Militär in sozusagen polizeilicher Funktion? Er kann durchaus so denken, denn sein friedensethisches Grundgerüst bezieht er als katholischer Theologe aus der Bellum-Justum-Tradition. So schreibt er an einer Stelle: »Das Fehlen einer überstaatlichen Rechtsinstanz ruft bei Völkerstreitigkeiten Krieg hervor an Stelle des Rechts. Das Völkertribunal mobilisiert die Völkerbundsarmee aber nur im Dienste des Rechts. Ihr Vorgehen ist nichts anderes als ein Kampf gegen innere Revolten, eine streng gerichtliche Polizeiaktion.« (S. 220f.)

Doch er ist offen auch für andere Konzepte, und, heute so gut wie vergessen, damals, in der 20er-Jahren scheint es eine recht lebhafte Debatte gegeben zu haben, angestoßen nicht zuletzt durch die neue politische Erfindung eines »Völkerbundes«. Die Frage war, ob ein Völkerbund auch eine Völkerbundarmee braucht oder ob es Alternativen gibt. Stratmann referiert diesbezüglich eine heute noch spannende Debatte: »Ein deutscher Politiker, Hellmuth von Gerlach und vier Militärs, der französische General Sarrail, der deutsche Major F.C. Endres und die Generäle von Schönaich und von Daimling erörtern die Frage der ›Völkerbundsarmee‹, wobei sie dem Gedanken nicht nur grundsätzlich zustimmen, sondern sogar schon ins Einzelne gehende militärtechnische Vorschläge machen und ihre Durchführung schon im Rahmen des gegenwärtigen, noch so unvollkommenen Völkerbundes erwägen. Die beiden Generale v. Schönaich und v. Daimling glauben allerdings, daß man nicht ein nur dem Völkerbund als solchem verpflichtetes internationales Heer zu fordern brauche, sondern daß es genüge, wenn man die nationalen Polizeitruppen, die jedes Land für die Aufrechter-

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Thomas Nauerth

haltung der Ordnung in seinem eigenen Innern behalten müsse, für eine gemeinsame Völker-bundsaktion unter dem Oberbefehl des Völkerbundes zusammenstelle.«9 (S. 220)

Vielleicht war dies das erste Mal in der Geschichte, dass zwei Generäle sich für Polizeitruppen statt für eine internationale Armee ausgesprochen haben, man sieht daran, wie stark die Veränderung der politischen Weltlage durch einen »Völkerbund« damals empfunden werden konnte.

2)

Die Waffenfrage als Schlüsselfrage

Wenn nationale Polizei die Aufrechterhaltung einer Ordnung auch im zwischenstaatlichen Bereich leisten soll, muss wohl über Bewaffnung nachgedacht werden. »Bewaffnung im Sinne rechtsstaatlicher Polizeien (vorrangig nichtletale Waffen) zur Nothilfe und zum Selbstschutz, eine Kriegsführung ist somit nicht möglich«, so heißt es im aktuellen Konzeptpapier, das dieser Tagung zu Grunde liegt.10. Diese für nationale Polizeien sinnvolle Beschränkung bereitet einer internationalen Polizei erhebliche Probleme. Es könnte sein, dass ganz prosaisch die Frage der Waffen darüber entscheidet, ob ein Konzept von »Just Policing« gelingen kann. Solange Konfliktparteien relativ einfachen Zugang zu Kriegswaffen haben, und diese auch einzusetzen gedenken, wird man solchen Konfliktparteien möglicherweise gewaltfrei entgegentreten können, aber keineswegs mit polizeiüblich beschränkter Waffenwahl. Wer über »Just Policing« ernsthaft nachdenkt, sollte daher zunächst einmal über Kriegswaffen, Kriegswaffenkontrollmöglichkeiten usw. nachdenken. Davon ist in der Literatur erstaunlich wenig zu lesen. Der mennonitische Theologe Fernando Enns hat einmal gefragt, »unter welchen politischen Voraussetzungen und flankierenden Maßnahmen würde Just Policing denn als eine Alternative (!) zu militärischen Interventionen ›funktionieren‹ können?«11 Die Restriktion der Verfügbarkeit von Kriegswaffengroßgerät wäre wohl eine solche Mindesterfordernis in Bezug auf »politische Voraussetzungen und flankierende Maßnahmen«. Denn es ist zudem zu beachten, dass internationale Polizeitruppen, auch wenn sie, wie im Konzept gefordert, »aus allen Ethnien und Religionsgemeinschaften einer Weltregion« rekrutiert werden und zudem über »Qualifizierung 9 Stratmann bezieht sich hier auf eine Diskussion im Jahrgang 1923 der Zeitschrift »Friedenswarte«. 10 Zielperspektive Internationale Polizei (IP) und Realisierungsaspekte. Fachgruppe Internationale Polizei. Stand 03. 09. 2021. 11 Enns, Fernando. Friedenstheologie und Ethik. In: Engelmann, A. Uta/Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.) (2018). Just Policing. Eine Alternative zu militärischer Intervention? (Herrenalber Protokolle 128) Karlsruhe. S. 181–189. 183.

»Internationale Polizei« aus friedensethischer Sicht

161

für Kultur- und Konfliktsensibilität, Rechtsstaatlichkeit sowie Gewaltdeeskalation« verfügen sollten, immer als eine fremde Gruppe in den von Konflikt betroffenen Ländern agieren werden. Nun gilt aber, worauf der Theologe Schlabach selbst verwiesen hat, die Regel, dass je »enger eine Gemeinschaft und ihre Polizei miteinander verbunden sind, umso gewaltfreier kann das polizeiliche Handeln werden.«12 Wenn dies zutrifft, hat es unmittelbare Auswirkungen in Bezug auf Möglichkeiten internationaler Polizeikräfte, die ja immer von außen in eine fremde Gemeinschaft hinein kommen – und es hat Auswirkungen in Bezug auf ihre Bewaffnung! Leider hängt in der Realität alles mit allem zusammen, der Waffenhandel hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass in einer kapitalistischen Marktwirtschaft die Rüstungskonzerne ein genuines Interesse daran haben, Geld zu verdienen und die Maschinen auszulasten. Man wird beim Thema Waffenexport angesichts solcher Sachlogiken mit friedensethischen Appellen nicht weiterkommen (wie alle bisherigen Kampagnen schön zeigen), sondern strukturelle Überlegungen anstellen müssen, z. B. Verstaatlichung. Das klingt zunächst radikal, vielleicht auch naiv, aber es drängt sich gerade unter einer ethischen Perspektive zwingend auf. Denn Grundlage jeder Ethik ist der Satz, sollen setzt können voraus. Wer nicht kann, kann es auch nicht, wenn er soll. Kann nun ein Unternehmen seine Absatz- und Gewinnchancen an engen gesellschaftlich bzw. staatlich vorgegebenen friedensethischen Erwägungen binden, also notfalls eher in Konkurs gehen, als diesen oder jenen Auftrag durchzuführen? Kann man das erwarten? Fordern? Oder müsste man nicht umgekehrt argumentieren, weil es in der Wirtschaftsform, die wir haben, für Private nicht machbar ist, auf diese Weise ethisch zu handeln, muss der die Sache übernehmen, der die ethischen Kriterien aufstellt, also Vergesellschaftung?

3)

Internationale Polizei und gewaltfreie Außenpolitik

Die Mindesterfordernis einer effektiven Rüstungskontrolle macht deutlich, wie weit die Idee, mit einem Konzept »Just Policing« eine Alternative zu militärischen Interventionen zu haben, noch von irgendeiner Form von Realisierung entfernt ist. Es scheint mir in der aktuellen Debatte, soweit ich sie überblickt habe, kein Zufall, dass es ein Theologe war, der die Idee, um eines theologiegeschichtlichen bzw. konzeptionellen Dilemmas willen, in die Debatte einbrachte (Schlabach), dass es ein Theologe ist, der dafür plädiert »weiter prüfen« zu lassen (Enns) und dass es eine Politikwissenschaftlerin war, die mit ihrer Studie eine eher skeptische Bilanz gezogen hat (Werkner). In dieser Studie gibt Werkner am Ende drei 12 Schlabach, Gerald W. Just Policing. S. 72.

162

Thomas Nauerth

»Empfehlungen«. Zunächst betont sie, dass in »Annäherung an das Ideal einer Weltinnenpolitik« internationale Einsätze »eines Mandats des UN-Sicherheitsrates«13 bedürfen, darüber hinaus sollte bei »Mandaten des UN-Sicherheitsrates […] die Durchsetzung polizeirechtlicher Maßstäbe eine stärkere Beachtung finden«14 und schließlich sollte »Just Policing« nicht reaktiv, sondern präventiv gedacht und konzipiert werden: »Letztlich muss es das Ziel sein, den Reaktionsmodus in der Konfliktbearbeitung zu überwinden. Gewaltminimierung lässt sich nur erreichen, wenn es gelingt, die Schwelle der militärischen ultima ratio zu verschieben. Ein präventiv gedachtes Just Policing hätte dazu das Potential.«15

Besonders interessant ist die Formulierung »lässt sich nur erreichen«. Man hat manchmal das Gefühl, gerade bei theologischen, bzw. kirchlichen Stimmen, dass hinter der Forderung nach »Just Policing« eine Hoffnung steckt, hier endlich ein Instrument zu haben, dass in ultima-ratio-Situationen alles in friedensethisch guter Weise schon lösen wird und aus dem ethischen Dilemma befreit, zwischen Nichts-Tun und Militär entscheiden zu müssen. Stattdessen bleibt aber wohl nur der mühselige Weg, den üblichen, zu spät einsetzenden Reaktionsmodus in der Konfliktbearbeitung zu überwinden, also den Weg der Prävention zu gehen. Und sich der Tatsache zu stellen, dass es Situationen gibt, in denen nichts mehr getan werden kann, weder polizeilich noch gar militärisch. Vielleicht ist die hintergründigste unausgesprochene Überzeugung hinter der Forderung nach »Just Policing« manchmal doch nichts anderes als eine Form nicht überwundener Fixierung auf den Mythos erlösender Gewalt16, diesmal in Form polizeilicher Gewaltmittel. Dies wiederum auf dem Hintergrund eines negativen Welt- und Menschenbildes, aus dem heraus gefordert wird, anzuerkennen, dass »es für irgendjemanden irgendwo notwendig sein könnte, gegebenenfalls potentiell tödliche Gewalt anzuwenden, um in einer gefallenen Welt die Ordnung aufrechtzuerhalten«, so ausgerechnet der Theologe Schlabach.17 13 Werkner, Ines-Jacqueline. Just Policing – eine Alternative zur militärischen Intervention? In: Engelmann, A. Uta/Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.) (2018). Just Policing. Eine Alternative zu militärischer Intervention? (Herrenalber Protokolle 129). Karlsruhe. S. 8ff. 135. 14 Werkner, Ines-Jacqueline. ebd., S. 136. 15 Werkner, Ines-Jacqueline. ebd., S. 137. 16 Vgl. dazu grundlegend Wink, Walter (2014; 2. Auflage 2018). Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit. Regensburg. S. 50f. 17 Schlabach, Gerald W. Just Policing. S. 68. Weithin wird übersehen, wie sehr alle Konzeptionen in Bezug auf Militär und Polizei abhängig sind vom jeweilig vertretenen Menschenbild, wenn der Mensch dem Menschen ein Wolf ist (Luther, Hobbes), muss ganz anders agiert werden als bei einem Menschen(bild), wonach »wir von Natur aus kooperieren« vgl. Bauer, Joachim (2008). Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg. Sehr schön deutlich wird dies an der Formulierung, die Polizei sei dazu da, damit ›Frieden erhalten bleibt‹. Rekurrierend auf Bauer und anderen modernen Humanwissenschaftlern wäre eher

»Internationale Polizei« aus friedensethischer Sicht

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Diese gefallene Welt aber, so die theologische Botschaft des Christentums, hat Erlösung erfahren. Erlösung aber, das ist der eindrückliche Lernprozess, den uns die biblische Überlieferung zeigt, war gerade nicht über Gewalt zu erreichen. Der biblische Bogen der Erkenntnis läuft sozusagen von den 318 Mann des Abraham in Gen 14 über die Gottesknechtslieder des Jesaja bis hin zur Bergpredigt und zum Weg ans Kreuz. Vielleicht wäre es Aufgabe gerade christlicher Friedensethik auch der Gesellschaft und dem Staat immer wieder diese theologische Erkenntnis deutlich zu machen: dass Erlösung aus allen Schwierigkeiten nicht durch Gewalt zu erreichen ist, dass der lange Weg der Prävention und der friedlichen Konfliktbearbeitung nicht so einfach abgekürzt werden kann, nicht durch Militär und auch nicht durch Polizei. »Internationale Polizei« ist aus friedensethischer Sicht daher höchstens ein Mittel unter vielen, mit sehr begrenzten Möglichkeiten, einsetzbar im Rahmen kluger Prävention, in heiß gelaufenen Konflikten aber keine Alternative. Vor allem aber muss jedes Konzept internationaler Polizei aufpassen, die einzige wirkliche Alternative in heiß gelaufenen Konflikten nicht zu unterlaufen bzw. zu stören. Der Dominikaner Stratmann formulierte, dass das Vorgehen »einer internationalen Ordnungstruppe« »von der Methode heutiger nationaler Kriege wesensverschieden« (S. 369) sein muss. Möglicherweise hat Stratmann noch nicht klar erkennen können, wie wesensverschieden ein Vorgehen in heißen Konflikten sein muss, damit es überhaupt eine Chance hat. Denn wer mit Gewalt gegen Gewalt agiert, braucht nicht das Recht auf seiner Seite, sondern eben die Gewalt und er wird nicht siegen, wenn er Recht hat, sondern wenn er die stärkeren Gewaltmittel hat. Sobald man mit Gewalt gegen Gewalt agiert, begibt man sich auf die Ebene dieser Logik der Gewalt. Nur wer wirklich wagt, auf einer wesensverschiedenen Ebene der Gewalt entgegenzutreten, kann theoretisch eine Chance haben. Wesensverschieden von der Gewalt ist aber nur die Gewaltfreiheit. Gandhis Erfahrungen, die Erfahrungen verschiedener NGOs wie »Nonviolent Peaceforce«, »Peace Brigades International«, »Christian Peace Maker Teams« und auch verschiedene ZFD-Projekte zeigen, dass die Kunst, den »Wolf von Gubbio« zu befrieden, nicht nur einem waffenlosen Franziskus vorbehalten sein muss.18 zu formulieren, damit der Friede, der da ist und von den Menschen gelebt wird, nicht gestört werden kann. 18 Vgl. dazu auch https://www.soziale-verteidigung.de/bereich/ziviles-peacekeeping. Neben den NGOs im Bereich Ziviles Peacekeeping darf vor allem der Beitrag der Religionen und Kirchen für eine gewaltarme Welt nicht übersehen werden (vgl. nur die Bewegung »Religions for Peace« und aus jüngster Zeit vor allem das Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt (https://www.vaticannews.va/de /papst/news/2019-02/papst-franziskus-abu-dhabi-gemeinsame-erklaerung-grossimam.html).

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Thomas Nauerth

Hier liegt friedensethisch wie friedenstheologisch die wirkliche Herausforderung. Die Frage, wie solche NGOs und halbstaatliche Organisationen wie das ZFD wirksam gefördert und in den Rahmen einer gewaltfreien Außenpolitik einbezogen werden können, scheint bislang kaum ausführlicher bedacht. Erst in einem solch umfassenden Konzept einer gewaltfreien Außenpolitik könnte dann auch Sinn und Notwendigkeit des Einsatzes von Polizeikräften genauer bestimmt werden. Apl. Prof. Dr. Thomas Nauerth, Bielefeld, ist katholischer Theologe, lehrt an der Universität Osnabrück Religionspädagogik und ist Mitbegründer des Ökumenischen Instituts für Friedenstheologie.

Auch hier steht eine konzeptionelle Klärung noch aus, wie kann staatliche Politik solche friedensfördernde Politik der Religionen unterstützen und verstärken, wie kann sie dafür Freiräume schaffen und Ressourcen bereitstellen. Immerhin, im deutschen Außenministerium scheint immerhin diese Frage inzwischen auch gesehen worden zu sein: https://www.aus waertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/kulturdialog/friedensverantwortung-religionen/ 2108880.

Andreas Zumach1

Ansatzpunkte für eine Internationale Polizei angesichts der internationalen Realitäten

1)

Unser gemeinsames Dilemma

Bei der Diskussion gestern Abend nach der Präsentation von »Sicherheit neu denken« (SND) durch Ralf Becker und Theodor Ziegler hat ein Polizeikollege, der im Kosovo stationiert gewesen war, sinngemäß gesagt: Wir konnten als internationale Polizeikräfte im Kosovo unsere Arbeit nur (erfolgreich) machen auf Basis der Rahmenbedingungen, die die dort stationierten internationalen Militärverbände (KFOR) zuvor geschaffen hatten. Damit sind wir bei dem gemeinsamen Dilemma, das wir alle haben, die wir zum Teil schon seit 20, 30, 40 Jahren über dieses Thema diskutieren: Sämtliche konkrete Beispiele, an denen die (Miß)Erfolge und Handlungs(un)möglichkeiten internationaler Polizeikräfte diskutiert werden, sind solche, bei denen entweder bereits vor dem Einsatz dieser Polizeikräfte ein inner- oder zwischenstaatlicher Konflikt auf die Gewalt-/Kriegsebene eskaliert war oder/und zusätzlich noch eine ausländische Militärintervention stattgefunden hatte oder aber die zeitlich parallel zu dem Einsatz von internationaler Polizei bestehenden Rahmenbedingungen diesen Einsatz scheitern ließen. Nehmen wir den Fall Kosovo: Was wäre gewesen, wenn die von Ibrahim Rugova geführte gewaltfreie Bewegung der Kosovo-Albaner gegen ihre Diskriminierung und Unterdrückung durch Serbien in den 1980er- und 1990er-Jahren in Bonn und anderen Hauptstädten auf Gehör, Interesse und gar auf Unterstützung gestoßen wäre? Welche zivilen Instrumente zur Vermittlung in dem Konflikt und zu seiner Überwindung wären dann sinnvoll gewesen? In diesem Stadium des Konflikts dann eventuell auch die Entsendung einer internationalen Polizei (IP)? Selbst nach Entstehen der auch gewaltsam handelnden UCK (und ihrer Stärkung durch Waffenlieferungen u. a. aus den USA) ab Mitte der 1990er-Jahre wäre noch eine vergleichsweise bessere Konfliktbearbeitung möglich gewesen als 1 Der Beitrag wurde nach freier Rede nachträglich aus dem Gedächtnis aufgeschrieben.

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Andreas Zumach

der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der NATO-Luftstreitkräfte im Jahr 1999 mit all seinen bis heute anhaltenden verheerenden Folgen. Zum Beispiel unterbreitete der damalige Botschafter der USA im Brüsseler NATO-Hauptquartier, Alexander Verschbow, noch im Herbst 1998 seiner Regierung in Washington (Präsident Clinton und Außenministerin Albright) den Vorschlag, im Kosovo eine mit dem Mandat des UN-Sicherheitsrates ausgestattete gemeinsame USamerikanisch-russische Blauhelmtruppe zu stationieren, um den Gewaltkonflikt zwischen der UCK und den serbischen »Sicherheitskräften« zu beenden und damit eine Voraussetzung für Verhandlungen zu einer politischen Lösung zu schaffen. Doch dieser Vorschlag wanderte in Washington in den Papierkorb. In Afghanistan war der ursprüngliche Einsatz der Bundeswehr ab Ende des Jahres 2001 darauf beschränkt, Wiederaufbauarbeiten ziviler Organisationen im damals noch ruhigen Norden Afghanistans abzusichern. Eine solche Aufgabe hätte auch eine IP übernehmen können. Doch zeitlich parallel führten die Streitkräfte der USA, Großbritanniens, Kanadas, der Niederlande und anderer NATO-Partner in anderen Landesteilen Afghanistans einen heißen Krieg. Diese beiden Realitäten konnten auf Dauer nicht unberührt voneinander existieren. Spätestens als die Taliban im Mai 2006 auf einer Pressekonferenz in Kabul ganz offen eine Strategieänderung ankündigten (weg von der offenen Feldschlacht mit den NATO-Truppen in einigen Landesteilen hin zu einer »landesweiten Kampagne Hinterhalt« mit Sprengstoffanschlägen, Selbstmordattentaten etc. in ganz Afghanistan) war absehbar, daß dadurch auch die Bundeswehrsoldaten im bis dato ruhigen Norden betroffen sein würden. So geschah es dann auch. Und in der Reaktion auf diese Bedrohung wurde der ursprüngliche Auftrag der Bundeswehr in Afghanistan vom Bundestag in den nachfolgenden Jahren zunehmend zu einem Kriegsführungsmandat eskaliert.

2)

Es gibt bereits internationale Polizeikräfte

Was bislang auf der Tagung noch nicht erwähnt wurde: Es gibt bereits eine IP, und zwar in Form von UNO-Polizeiverbänden. Sie kamen erstmals im KongoKonflikt in den 1960er-Jahren zum Einsatz. Dann wurden im Jahr 1988 35 UNO-Polizisten auf Zypern stationiert. Im Jahr 1998 waren bereits rund 3.000 UNO-Polizisten in insgesamt sechs Missionen im Einsatz. Im Jahr 1998 waren es über 12.000 UNO-Polizisten aus 90 verschiedenen Entsendestaaten in insgesamt acht Missionen, die Mehrheit davon auf dem afrikanischen Kontinent. Für alle diese Polizeieinsätze gilt das oben beschriebene Dilemma: Sie erfolgten erst nach der gewaltsamen/militärischen Eskalation eines Konfliktes und gelten daher nicht als Erfolgsgeschichten. Zudem: In den ersten knapp 40 Jahren

Ansatzpunkte für eine Internationale Polizei angesichts der internationalen Realitäten 167

waren die Aufgabe der Polizeimissionen auf die Beobachtung von Konfliktsituationen beschränkt. Erst Anfang des Jahrtausends setzte sich die Erkenntnis durch, daß erfolgreiche Stabilisierung fragiler/konfliktreicher Verhältnisse in dem jeweiligen Einsatzland die aktive Unterstützung von Reformprozessen innerhalb der örtlichen Polizei- und sonstigen Sicherheitskräfte erfordert – und für eine Übergangszeit auch die ersatzweise Übernahme von Polizeiaufgaben durch die IP. Zudem wuchs in den letzten 20 ahren bei den für die Polizeimissionen der UNO Verantwortlichen die Einsicht, daß tiefgreifende Veränderungen nicht in wenigen Jahren zu erwarten sind, und daß die Reform von Polizei- und anderen Sicherheitskräften eines Landes eine Generationenaufgabe ist. Hinzu kommt, daß in fast allen Fällen, wo Polizeikräfte oder auch unbewaffnete UNO-Beobachter erforderlich waren/sind, die Mitgliedsstaaten der UNO (oder in Europa der OSZE) nicht willens und/oder nicht in der Lage sind, eine ausreichende Zahl von Polizisten/Beobachtern sowie erforderliche Ausrüstung und Logistik (vor allem für Transport innerhalb eines Konfliktlandes/ gebiets) zur Verfügung zu stellen. Beispiele für diesen Mangel sind die Missionen in Afghanistan, im Kosovo sowie die OSZE-Mission in der Ukraine.

3)

Nicht »top down«, sondern nur »bottom up«, nicht global, sondern regional/kontinental

In den bisherigen Vorträgen dieser Tagung wurde mit Blick auf die Entwicklung einer IP mehrfach die Frage aufgeworfen, ob dies »top down« oder »bottom up« erfolgen könne/solle, ob auf globaler Ebene oder zunächst einmal regional. Ich will meine Antwort auf diese Fragen geben und begründen: Klaus Moegling hat in seinem gestrigen Vortrag konkrete Vorschläge für ein Gewaltmonopol der UNO durch Reformen der Weltorganisation (Generalversammlung, Sicherheitsrat, Generalsekretariat etc.) gemacht, nach denen dann auch die Aufstellung einer global zuständigen IP, Entscheidungen über eine künftige IP-Missionen sowie deren demokratische Kontrolle vorstellbar wären. Ich sehe die Notwendigkeit eines Gewaltmonopols der UNO genauso wie Moegling und teile seine Reformvorschläge vollständig. Doch ich glaube, es ist realpolitisch nicht vorstellbar, dass all diese Reformen zuerst erfolgen werden, bevor dann eine IP-Realität werden kann. Ich denke, realistischerweise kann es – wenn überhaupt – nur umgekehrt laufen: Funktionierende und erfolgreiche Beispiele von IP-Missionen auf regionaler/kontinentaler Ebene könnten ein wichtiger Baustein werden für die vorgeschlagenen Reformen der globalen UNO. In diesem Zusammenhang wird immer wieder gesagt, Europa könne Schrittmacher einer solchen Entwicklung werden und dabei auf die EU verwie-

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Andreas Zumach

sen. Ich plädiere hingegen aus einer Reihe von Gründen dafür, für die Aufstellung von ersten Verbänden einer IP nicht die EU, sondern die gesamteuropäische OSZE zu nehmen.

4)

Offene Fragen – ein paar Antworten

Klaus Moegling hat zum Abschluss seiner gestrigen Präsentation eine Reihe offener Fragen formuliert. Auf einige dieser Fragen will ich meine Antwort geben. a) Unter welchen Voraussetzungen werden die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates ihre teilweise Entmachtung akzeptieren? Was geschieht, wenn Nationalstaaten ihrer Entmilitarisierung und dem UNO-Gewaltmonopol nicht zustimmen? Diese beiden Fragen lassen sich abstrakt nicht beantworten. Und als Einwand gegen die die unterbreiteten Vorschläge für ein Gewaltmonopol der UNO und ihre Reformen sollten sie keineswegs akzeptiert werden. Die historischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass Entwicklungen möglich werden, wenn einzelne Mitgliedsstaaten der UNO die Initiative ergreifen und mutig vorangehen. Nur so wurden (seit 1990 vor allem durch Druck internationaler Bündnisse von Nichtregierungsorganisationen) die wesentlichen Fortschritte auf der Ebene der internationalen Beziehungen erreicht. Das gilt zum Beispiel für die Abkommen zum Verbot von Chemiewaffen (1993), Antipersonenminen (1997), Splitterbomben (2007), Atomwaffen (2017) sowie für die Durchsetzung des Internationalen Strafgerichtshofes (1998). In ausnahmslos allen genannten Fällen waren einer, mehrere oder gar alle fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates anfangs gegen diese Abkommen. Einigen Abkommen sind einige der fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieder bis heute nicht beigetreten. Allerdings steigt der politisch- moralische Druck auf die noch abseitsstehenden Staaten ständig. b) Sollte es kontinentale Sicherheitsräte geben? Ja c) Werden die VertreterInnen kontinentaler Sicherheitsräte demokratisch gewählt? Das muss so sein, sonst werden dies Räte nicht die für ihr Handeln notwendige Legitimität auf den jeweiligen Kontinenten haben.

Ansatzpunkte für eine Internationale Polizei angesichts der internationalen Realitäten 169

d) Sollte im gefährlichsten Fall auf eine Unterstützung weltpolizeilicher Kräfte durch militärisch ausgerüstete Blauhelmsoldaten verzichtet oder sollten diese angefordert werden? Für eine Übergangszeit bis zur Entmilitarisierung aller Nationalstaaten durch Abschaffung ihrer nationalen Streitkräfte sowie bis zu einem effektiv durchgesetzten Verbot von Waffenhandel werden Blauhelmsoldaten erforderlich sein, um in wenigen klar definierten Fällen wie nachweislich drohendem oder bereits begonnenem Völkermord wie im Frühjahr 1994 diesen zu verhindern/beenden. e) Sollte in das R2P-Konzept2 auch die Gefährdung der Biosphäre einbezogen sein? Ja, allerdings in erster Linie »P« verstanden als »prevent« und nicht »protect« mit militärischen Mitteln. Konkret: die Abholzung des brasilianischen Regenwaldes, dessen Existenz lebenswichtig ist für die globale Biosphäre/das Klima sollte ein Fall sein, in dem der UNO-Sicherheitsrat künftig handlungsberechtigt ist, notfalls auch mit Sanktionen. Andreas Zumach, Berlin, freier Journalist und Publizist, von 1988 bis 2020 UN-Korrespondent der taz in Genf.

2 Responsibility to protect, im Dt. »Schutzverantwortung«.

Traugott Schächtele

Lyrik: lebens klugheit

einmal zu scheitern gehört zum leben dazu einmal mehr zu scheitern ertrage ich wenn mein langer atem stärker ist als alle macht der ewig gestrigen einmal nicht zu scheitern ist der anfang der geschichte mutigen ausbrechens aus allen verkrustungen bornierten denkens am ende erfolgreichen

172 widerstehens bleibt das scheitern derer die gemeinsame sache machen mit der machtgier der menschen die vergangene welten vergeblich hüten den neuen anfang erhoffen im scheitern es wäre doch allemal der versuch wert

Traugott Schächtele

Ute Finckh-Krämer

Welche konkreten Schritte zu einer Internationalen Polizei sind nötig und möglich?

Ich möchte zunächst eine Erfahrung aus dem Auswärtigen Ausschuss und dem Unterausschuss Zivile Krisenprävention teilen: es gab ein mühsames Gesetzesvorhaben, für das der Auswärtige Ausschuss in der 18. Wahlperiode federführend war, das so genannte Sekundierungsgesetz für zivile Fachkräfte, die zu internationalen Organisationen bzw. von ihnen geführten Missionen entsandt werden, aber keine Beamten oder Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes sind. Der Prozess hatte sich vorher mehrere Jahre hingezogen. Schließlich wurde in dem Gesetz geregelt, dass die entsprechenden Fachkräfte für die Zeit ihrer Entsendung beim Zentrum für Internationale Friedenseinsätze angestellt und versichert werden. Es ging um Kosten in der Größenordnung von 10 Millionen €. Noch mühsamer war es, eine Lösung für das eben von Herrn Twelmeier geschilderte Problem durchzusetzen, dass die Polizist*innen, die sich für internationale Einsätze melden, in ihren Einsatzstellen fehlen. Genauer gesagt: es gab bereits in der Wahlperiode, in der ich im Bundestag war, einen Lösungsvorschlag, er war aber nicht durchsetzbar. Die Idee, die maßgeblich von der damaligen Vizepräsidentin des Bundestags, Edelgard Bulmahn, mit entwickelt worden war, lautete: Der Bund finanziert den Ländern eine bestimmte Anzahl von Stellen unterschiedlicher Laufbahngruppen und Qualifikationen. Die Länder entsenden im Gegenzug die gleiche Anzahl von Polizist*innen, die bereit sind, an Auslandseinsätzen teilzunehmen, in einen Pool, aus dem schnell Polizist*innen in Auslandseinsätze entsandt werden können. Zwischen den Einsätzen könnten die Polizist*innen aus dem Pool vergangene Einsätze auswerten, sich auf zukünftige Einsätze vorbereiten, sich mit Polizist*innen anderer Länder, die sich an internationalen Polizeimissionen beteiligen, austauschen oder an öffentlichen Veranstaltungen zum Thema Polizeimissionen teilnehmen. Auch hier wäre es um einen zweistelligen Millionenbetrag pro Jahr gegangen, also um überschaubare Summen. Damit ließe sich das von Andreas Zumach angesprochene Problem der nicht vorhandenen Ressourcen für zivile Beobachtungsmissionen bzw. Polizeimissionen zumindest durch einen adäquaten deutschen Beitrag abmildern. Es hat übrigens durchaus Wirkung, wenn das größte EU-Land Deutschland in be-

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Ute Finckh-Krämer

stimmten Bereichen mit gutem Beispiel voran geht, sodass damit andere Länder motiviert werden könnten, auch mehr geeignet qualifizierte Polizist*innen in entsprechende Einsätze zu entsenden. Das Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr macht Rüstungskontroll-Lehrgänge mit Teilnehmer*innen aus diversen OSZE-Staaten, auch aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion wie Belarus oder den zentralasiatischen Staaten. Analog wären gemeinsame Trainings von für Polizeimissionen vorgesehenen Polizist*innen aus OSZE-Ländern auf freiwilliger Basis als Vorstufe für eine echte VN-Polizei realistisch. Bei der Diskussion über die tatsächlichen oder realen Grenzen polizeilichen Handelns dürfen wir nicht vergessen, dass völlig unbestritten immer wieder Militär in Auslandseinsätzen für Aufgaben eingesetzt wurde und wird, die im globalen Norden ganz oder überwiegend polizeiliche Aufgaben sind. Dazu gehören der Umgang mit potenziellen Terroristen und mit Drogenhandel, der Schutz ziviler Infrastrukturen, der Schutz von Kommunen oder ethnischen Gruppen vor bewaffneten Überfällen – von dem Versuch einiger Armeen, Aufgaben im Bereich Humanitäre Hilfe oder Entwicklungszusammenarbeit an sich zu reißen ganz zu schweigen. Der Genozid in Ruanda wurde überwiegend mit Macheten durchgeführt, nicht mit Kriegswaffen – um ihn zu verhindern, wären Polizist*innen vermutlich kompetenter gewesen als Soldaten. Massiver Drogenhandel kann, wie sich immer wieder gezeigt hat, nicht mit militärischen Mitteln bekämpft werden. Auch Polizei kann ihn dort, wo er für einen erheblichen Teil der Bevölkerung die Existenzgrundlage bildet, nicht mit Aussicht auf Erfolg bekämpfen. Hier muss über völlig andere Maßnahmen bis hin zur Legalisierung zumindest des Konsums »weicher« Drogen in den Konsumentenländern nachgedacht werden. Ein gutes Beispiel für einen Militäreinsatz, der genauso gut oder besser als Polizeimission hätte durchgeführt werden können, wenn denn die entsprechende Zahl von Polizist*innen verfügbar gewesen wäre, war der NATO-Einsatz in Mazedonien 2001 bis 2003. Er war präventiv – es ging um lokale Spannungen zwischen den albanischen und den mazedonischsprachigen Volksgruppen, die zu eskalieren drohten, und um Waffen und Munition, die eingesammelt werden sollten (und zumindest teilweise auch wurden). Lokale Spannungen zu erkennen und zu deeskalieren, die als Funke im Pulverfass wirken und massive Gewalt zur Folge haben können, ist ein typische Polizeiaufgabe, keine Aufgabe für Militäreinheiten. Bereits jetzt sinnvoll und umsetzbar ist eine Auswertung der bisherigen Polizeieinsätze der EU und der Vereinten Nationen: In welcher Situation erfolgte der Einsatz? Was war die Situation im Einsatzland (eskalierender Konflikt, Nachkriegssituation, Auswirkungen von Konflikten im Nachbarland wie z. B. hohe Zahl von Geflüchteten, Prävention z. B. bei Wahlen/Wahlbeobachtung)?

Welche konkreten Schritte zu einer Internationalen Polizei sind nötig und möglich?

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Wie waren Zusammensetzung, Mandat, Finanzierung des Einsatzes? Was wurde erreicht, was ist schiefgelaufen? War das Mandat überhaupt realistisch, wie wurde die örtliche Bevölkerung einbezogen, wie nachhaltig war der Erfolg, wie funktionierte die Zusammenarbeit bei multinationalen Kräften? Als Abgeordnete konnte ich einen unbewaffneten Einsatz kennen lernen, an dem – gemeinsam mit Kräften aus gut 20 anderen EU-Ländern – sowohl deutsche Polizist*innen als auch ehemalige Soldaten oder Diplomaten beteiligt waren: die EU Monitoring Mission in Georgien, die die Kontaktlinie zwischen Südossetien und dem unter Regierungskontrolle stehenden Staatsgebiet von Georgien überwacht. Hier gab und gibt es keine Probleme, bei denen Waffen eingesetzt werden müssen, stattdessen z. B. Probleme mit Festnahmen nach beabsichtigtem oder unbeabsichtigtem Überschreiten der nicht überall klar gekennzeichneten Kontaktlinie oder mit über die Grenze entlaufenen Tieren. Da, wo bereits ein Grenzzaun errichtet ist, wurde uns ein Tor mitten im Grünen gezeigt: es dient zweimal im Jahr für die Passage von Rindern und Schafe zu den Almen in Südossetien. Alte Weiderechte haben manchmal Vorrang vor neuen Grenzen! Wichtig wäre – da wir ja auch über den Reformbedarf der Vereinten Nationen diskutiert haben – ein Vorstoß auf VN-Ebene, dass politische Missionen, die meistens präventiv eingesetzt werden und bei denen manchmal auch polizeiliche Expertise oder Unterstützung gebraucht wird, genauso verlässlich finanziert werden, wie Blauhelmeinsätze – was allerdings nicht dazu führen darf, dass diese im Sicherheitsrat durch ein Veto blockiert werden können. Wichtig ist schließlich, das, was wir in Konfliktregionen leisten wollen, auch im eigenen Land möglichst gut umzusetzen. Die Jahrestagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung Anfang März 2020 zu Konflikten im kommunalen Zusammenhang hat gezeigt, wie wichtig auch in Deutschland eine Polizei ist, die über hohe Konfliktkompetenz verfügt. Es braucht unterschiedliche Konzepte für unterschiedliche Einsätze: Community Policing ist etwas anderes als eine Ausbildungsmission im Rahmen einer Sicherheitssektorreform oder gar die Unterstützung beim Aufbau von Spezialkräften für den Umgang mit Terrorismus oder Geiselnahmen. Der Grundsatz des »Do no harm«, der im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit entstanden ist, bedeutet unter anderem, dass bestehende oder traditionelle Strukturen, die zur konstruktiven Konfliktbearbeitung oder zur Ahndung bzw. Verhinderung von Gewalttaten genutzt wurden oder werden, nicht durch ein übergestülptes neues System marginalisiert werden dürfen. Es muss immer Teil des Unterstützungsprozesses sein, mit der Zivilgesellschaft des Landes zu prüfen, ob eine Transformation oder Anpassung dieser Strukturen möglich, hilfreich, erfolgversprechend ist. Wolfgang Heinrich hat das am Beispiel Somaliland eindrucksvoll aufgezeigt.

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Ute Finckh-Krämer

Dr. Ute Finckh-Krämer, Berlin, ist Mathematikerin, war von 2013 bis 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages und engagiert sich im Bund für Soziale Verteidigung und in der Plattform für Zivile Konfliktbearbeitung.

Wilhelm Schwendemann

Polizei als Menschenrechtsprofession? Einige Überlegungen zur polizeilichen Professionsethik1

1.

Polizei als Menschenrechtsprofession: Was könnte das sein?

These: Die Polizei ist keine Menschenrechtsprofession, aber hat einen Menschenund Grundrechtsbezug. Der Begriff der sog. Menschenrechtsprofession ist von der Sozialwissenschaftlerin Silvia Staub-Bernasconi für die Soziale Arbeit geprägt worden;2 interessanterweise taucht der Begriff nun auch in jüngeren Veröffentlichungen über die Polizeiarbeit auf.3 Im Polizeigesetz Baden-Württemberg vom 6. 10. 2020 heißt es: »Die Polizei hat die Aufgabe, von dem Einzelnen und dem Gemeinwesen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird, und Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu beseitigen, soweit es im öffentlichen Interesse geboten ist. Sie hat insbesondere die verfassungsmäßige Ordnung und die ungehinderte Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte zu gewährleisten.«4 Grundrechte aus dem Grundgesetz dürfen nur unter bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden, was aber juristisch nachzuweisen ist und auch angemessen sein muss. Auch polizeiliche Verordnungen müssen aufgrund von Rechtsbestimmungen nachweisbar und dürfen keineswegs willkürlich sein.5 Polizeiliche Arbeit steht also stets in einem ethischen Dilemma: Auf der einen 1 Thematischer Input für die Tagung »Weltinnenpolitik und Internationale Polizei« vom 22. bis 24. September 2021 in der Evangelischen Akademie Baden in Bad Herrenalb. 2 https://www.uni-siegen.de/zpe/projekte/menschenrechte/staubbethiklexikonutb.pdf. 3 https://www.mbt-berlin.de/mbt/publikationen/Berichte-und-Dokumentationen/2-Bericht-M enschenrechtsbildung-Polizei.pdf. 4 https://www.landesrecht-bw.de/jportal/?quelle=jlink&query=PolG+BW&psml=bsbawuepro d.psml&max=true&aiz=true#jlr-PolGBW2021pG1. 5 Im §24 des PolG heißt es zudem: »Verstößt eine Polizeiverordnung gegen Anordnungen übergeordneter Behörden, beeinträchtigt sie das Wohl des Gemeinwesens oder verletzt sie die Rechte Einzelner, so ist sie aufzuheben …«. (https://www.landesrecht-bw.de/jportal/?quelle =jlink&query=PolG+BW&psml=bsbawueprod.psml&max=true&aiz=true#jlr-PolGBW2021 pG1).

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Wilhelm Schwendemann

Seite sind das Recht und auch die verfassungsmäßige Ordnung in der demokratischen Zivilgesellschaft zu schützen und auch mit Gewaltmitteln durchzusetzen aufgrund des Gewaltmonopols des Staates und auf der anderen Seite stehen grundgesetzliche, rechtliche und verfassungsmäßige Begrenzungen, die den Rechtsrahmen für polizeiliches Handeln definieren und dem Schutz der Bürger*innen dienen. These: Um als Menschenrechtsprofession charakterisiert zu werden, bedarf es außer einem Bezug zu Grund- und Menschenrechten einer menschenrechtspädagogisch qualifizierten Aus-, Fort-, und Weiterbildung und der Selbstbefähigung, in menschenrechtlichen Maßstäben zu reflektieren. Die Einhaltung der Grundrechte, der Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung, die Ausbildung der Polizisten und Polizistinnen und auch die individualethische Sensibilisierung für das Recht gehören in einen menschenrechtlichen Reflexionshorizont der Polizeiarbeit. Diese Dimension ist in ethischer Hinsicht entscheidend, polizeiliches Handeln ethisch zu bewerten (Kugelmann 2019, S. 8). Die Persönlichkeit der Polizeibeamt*innen ist hierbei der entscheidende Faktor, polizeiliche Arbeit mit ethischer Reflexion und Haltung zu verbinden. Themen dieser Verbindung sind zum Beispiel der Umgang mit Gewalt in der Weise erlittener Gewalt oder legitim/illegitim ausgeübter Gewalt oder die Verbindung der Berufsrolle mit der Identität als Polizist*in und in der polizeilichen Organisation oder auch mit dem Verhältnis von Scham und Schuld in der polizeilichen Arbeit. Ein wichtiges Themenfeld polizeilicher Arbeit ist der Umgang mit Vielfalt in einer pluralistischen-heterogenen Gesellschaft, beispielhaft wäre hier der Umgang mit Geflüchteten und ihren jeweiligen interkulturellen und interreligiösen Kontexten zu nennen. Ethische Problemzonen sind z. B. das sog. Racial Profiling (Behr 2018, S. 105ff.) oder die Bekämpfung von Antisemitismus, Extremismus von rechts oder links bis hin zur Terrorabwehr oder Terrorbekämpfung oder neuerdings auch Kinderpornografie, Menschenhandel usw. (Amborst 2017; Baier 2019; Brandstetter 2008; Dollinger 2018, S. 187ff.; Feltes 1995; Gansewig 2018, S. 465ff.; Gruber et al. 2017, S. 18ff.; Logvinov 2018; Logvinov 2019; Riedel 2003). Polizeibeamte und -beamtinnen haben gesellschaftlich noch einen guten Ruf (84 % der Befragten vertrauen der Polizei, Schultz 2019, S. 11), aber dieses Vertrauen wird immer brüchiger, wenn Vorfälle wie zuletzt bei der hessischen Polizei (20216) bekannt werden, wo sich in Polizeikreisen rechtsextreme-neonazistische Chat-Gruppen gebildet haben, sodass sich für Bürger*innen neue Bedrohungspotenziale (Görgen & Hunold 2020), dieses Mal aus der Polizei heraus, gebildet haben oder im Entstehen begriffen sind. Für den Zusammenhalt in einer demokratischen Zivilgesellschaft ist es Gift, 6 https://www.zdf.de/nachrichten/heute-19-uhr/sek-rechtsextremismus-polizei-video-100.html.

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wenn das Vertrauen zur Polizei schwindet (Schultz 2019, S. 12; Fabel-Lamla 2012).7 Risse in dieser Vertrauensarbeit und -bildung wurden zum Beispiel in der Verfolgung der NSU-Verbrechen sichtbar (Abdul-Rahman; Espin Grau & Klaus 2020a; Abdul-Rahman; Espin Grau; Singelnstein 2020; Schultz 2018, S. 183ff.; Ramelsberger; Ramm & Schultz 2018; Linssen & Pfeiffer 2009). Die Wahrnehmung der Menschenrechte ist zentrales Feld polizeilicher Arbeit (Alleweldt 2019, S. 26): »Menschenrechte werden gewahrt, wenn die Polizei ihre Aufgaben im rechten Maße wahrnimmt.« In der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950; 1953)8 sind konkrete Vorgaben für die polizeiliche Arbeit gegeben (Verbot von Folter, Verbot erniedrigender Behandlung, Verbot körperlicher Misshandlung, Demütigung usw., Alleweldt 2019, S. 30). In gleicher Weise gelten die Menschenrechte aber auch für Polizeibeamt*innen selbst (Alleweldt 2019, S. 37): »Auch Polizeibeamte haben ein Recht, angemessen und menschenwürdig behandelt zu werden – sowohl durch den Bürger als auch innerhalb der Organisation.« (Alleweldt 2019, S. 38). These: Menschenrechte müssen in der polizeilichen Ausbildung nicht nur gelernt, sondern kontinuierlich angewandt und in Praxissituationen eingeübt und reflektiert werden. Menschenrechte (Trappe 2019, S. 44) verstehen sich nicht von selbst und sie müssen zuerst gelernt werden; das Würdekonzept der Menschenrechte heißt: Einsatz für die eigenen Rechte und gleiches Recht für jeden und jede (sense of dignity) – Empowerment und Solidarität (Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechtsbildung und -training).9 Menschenrechtsbildung ist vor allem für die Polizei wichtig, weil sie zuerst die Aufgabe hat, die Menschenrechte zu schützen (Trappe 2019, S. 45; Macht 2015, S. 79; Fritzsche 2013, S. 7ff., hier S. 7; Schicht 2007, S. 9; Trappe 2016, S. 2ff.; Behr & Schulte 2009).10 Für die Polizeiarbeit bringt es Tobias Trappe auf den Punkt: Die Achtung der Würde eines jedes Menschen und die Verpflichtung zur Gleichbehandlung sind als zentrale Eckpfeiler in Theorie, Training und Praxis der Polizei anzusehen; die Menschenrechte und ihr Schutz sind für die Gesellschaft und die Polizei relevant. In der Ausbildung zum Polizeiberuf müssen die grundlegenden Texte, Normen, Institutionen der Menschenrechte bekannt sein; Polizeibeamt*innen müssen befähigt werden, Alltagssituationen polizeilichen Handelns menschenrechtlich erfassen zu können und sie müssen selbst daran erinnert werden, dass sie in der Gefahr stehen, Grenzen der Menschenrechte zu übertreten (Trappe 2019, S. 46; S. 59; 7 https://www.pressesprecher.com/nachrichten/pressestelle-der-polizei-muenchen-erhaelt-b dp-sonderpreis-1491975877. 8 https://www.menschenrechtskonvention.eu/. 9 https://www.ohchr.org/en/issues/education/training/pages/programme.aspx. 10 https://www.ohchr.org/en/issues/education/training/pages/programme.aspx.

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Behr 2020, 195ff.). Auf die Paradoxien in der alltäglichen Polizeiarbeit bezüglich der Menschenrechte verweisen Autoren wie Tobias Trappe, Rafael Behr und andere (Behr 2008; Behr 2013, S. 81ff.).11 These: Menschenrechtsbildung ist Teil der Persönlichkeitsbildung von Polizisten und Polizistinnen und hat mit dem eigenen Würdeverständnis zu tun. Kern der Menschenrechte ist die Bestimmung menschlicher Würde, die der Schweizer Philosoph Peter Bieri als moralische Würde beschreibt (2013, S. 269), wenn wir die Würde anderer verletzen, greifen wir unsere eigene Würde an (Bieri 2013, S. 269). Menschenwürde (zum Folgenden siehe Schwendemann et al. 2019, S. 4f.) habe nach Peter Bieri immer mit selbstbestimmtem Leben in einer Gemeinschaft zu tun, das durch rechtliche und moralische Regeln, über die wir mitbestimmen können, bestimmt sei (Bieri 2015, S. 8). In dieser Grundauffassung menschenwürdigen Lebens gehe es immer auch um die aktive Gestaltung des eigenen Lebens: »Selbstbestimmt ist unser Leben, wenn es uns gelingt, es innen und außen in Einklang mit unserem Selbstbild zu leben – wenn es uns gelingt, im Handeln, im Denken, Fühlen und Wollen der zu sein, der wir sein möchten.« (Bieri 2015, S. 13) Bieri geht es in seinem reflexiven menschenrechtlichen Ansatz um das Erarbeiten einer persönlichen Identität und Selbstbestimmung, welche über sprachliche Auseinandersetzung gehen muss (Bieri 2015, S. 25) und sich nicht von der Angst vor dem Fremden leiten lassen darf (Bieri 2015, S. 28). Im Blick der Anderen komme auch unser eigenes Bedürfnis nach Anerkennung (Bieri 2015, S. 30) zum Ausdruck: »Sich selbstbestimmt zu entwickeln, kann nur heißen, dem Blick der Anderen zu begegnen und ihm standzuhalten.« (Bieri 2015, S. 31) Selbstbestimmung und selbstbestimmtes Leben gingen nur, wenn die Fremdheit der Anderen zugelassen und ausgehalten werde (Bieri 2015, S. 31). Sich selbst – auch in den eigenen spezifischen Abgründigkeiten – wahrnehmen und erkennen zu können, ist eine Form der Selbstbestimmung (Bieri 2015, S. 42), die eng mit Selbsterkenntnis verbunden bleibt. Bieri behauptet nun, dass diese Form der Selbsterkenntnis dazu verhelfe, aus dem Erkennen auch Maßstäbe fürs Handeln und für Veränderungsprozesse gewinnen zu können (Bieri 2015, S. 43). Bildung bestehe nach Bieris Überzeugung auch darin, Fremdes als Fremdes zu erkennen und auch anzuerkennen, ohne es auf Fremdheit festlegen zu wollen und bei der eigenen Vernunft zu bleiben (Bieri 2015, S. 70). Ein Umschlagen, d. h. den Anderen auf seine Andersheit festzulegen und mit stereotypischen Markierungen zu belegen, wäre rassistisch (Schwendemann 2021). Das Gegensteuern gegen rassistische Wahrnehmungen und das Offenhalten anderer Perspektiven stellt für Peter Bieri Bildung dar: »Bildung als die aktive, reflektierende Be11 Siehe Wehr 2019, S. 112ff.

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schäftigung mit Kultur wird sich immer auch mit Vorstellungen davon beschäftigen müssen, was als eine würdige und würdelose Einstellung zu Anderen und zu sich selbst gilt.« (Bieri 2015, S. 73) Der Verlust an Würde habe, so Bieri, auch mit einem Verlust an Selbstbestimmung zu tun (Bieri 2015, S. 73). Kulturelle Identität bedeute, auch eine moralische Identität einzunehmen – wenn man etwas für indiskutabel hält, dann sei das für das betreffende Individuum auch absolut so (Bieri 2015, S. 76). In Bezug auf die polizeiliche Arbeit bedeutet das, dass Polizisten und Polizistinnen auch gegenüber eigenen vorschnellen Urteilen sensibilisiert werden müssen; diese Sensibilisierung und Selbstreflexion müssen gelernt und eingeübt werden wie jedes andere polizeiliche Handeln auch. These: Werte zu bilden und eine Wertehaltung zu entwickeln ist eine aktive Konstruktionsleistung des Individuums und kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Auch polizeiliche Arbeit lebt nicht auf einem fremden Stern, sondern muss sich auch reflexiv mit dem sogenannten Wertewandel in einer pluralistischen Gesellschaft auseinandersetzen. Seit Ingleharts These vom sog. Wertewandel in den westlichen Industriegesellschaften (1973) hat sich eine gesellschaftliche Wertediskussion entzündet, die sich vor allem auf die Organisationskultur von Unternehmen und auch Institutionen ausgewirkt hat (Weibler 2008, S. 18; Weibler 2004, 294ff.; Neubauer 2003). Denn Wertehaltungen und Wertebezug wirken sich unter anderem auf den unternehmerischen, organisatorischen oder institutionellen Erfolg aus (Baetge; Schewe; Schulz & Solmecke 2007, 183ff.; ferner z. B. Leitl & Sackmann 2010, 36ff.; Cameron; Quinn; De Graff & Thakor 2006, S. 111ff.). Verbunden ist die Wertediskussion seither mit der Thematisierung ethisch-moralischer Fragestellungen (Hood 2003 und Jackson 2001, S. 1267ff.; daneben konzeptionell in Deutschland: Weibler 2001, 2005, S. 9ff.; Kuhn & Weibler 2003; S. 375ff.; Thielemann & Weibler 2007, S. 179ff.). Werte zu definieren ist jedoch eine aktive Konstruktions- oder C-Konstruktionsleistung, die sich auf verschiedene Lebensbereiche bezieht (Wildfeuer 2002, S. 684f.). Werte und Normen bilden sich in den unterschiedlichsten Kontexten und entstehen historisch, kulturell und/oder religiös bedingt (Tesch-Römer & Albert 2018, S. 139ff.; Adomeit & Hähnchen 2018, S. 13ff.). Das bedeutet, dass der Bezug zu Werten eine kognitive Leistung des Individuums ist (Weibler 2008; S. 19). Sogenannte Grundwerte (Rokeach 1973) sind Präferenzen gegenüber Alternativen und sind entweder auf die je eigene Person fokussiert oder beziehen sich auf die Gemeinschaft. Moralische Werte wiederum sind solche, die bei Verletzung Unbehagen oder Schuld provozieren (Weibler 2008, S. 19f.) oder solchen, die bei Verletzung Scham oder Enttäuschung hervorrufen. Gemeinsam ergeben sie das Ethos von Gemeinschaften, in denen Werte hierarchisch angeordnet sind (Wildfeuer 2002, S. 684f.; Posner & Schmidt 1992,

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S. 80ff.). Die kognitive Leistung des Individuums besteht dann u. a. in der Wahrnehmung solcher Relevanzordnungen (Weibler 2008, S. 20), in der kognitive, affektive und konative (Relevanz für das mittelbare Verhalten) Aspekte zusammengeschlossen sind (Jaspers 1971, S. 220ff.). Werte werden in weiterführende Normen überführt (Meglino & Ravlin 1998, S. 356; Hechenberger; Reber & Böhnisch 2007, S. 146) und werden durch Bildungs- und Sozialisationsprozesse internalisiert. Auf der Ebene der polizeilichen Organisation der deutschen Länderpolizeien und der Bundespolizei werden erwünschte Werte und Wertebeziehungen in der Regel durch juristische Normen abgesichert, die aber gleichsam um eine sog. ethische Kompetenz erweitert werden und einen Kompetenzerwerb im Individuum fokussieren müssen (Weibler 2001). Professionelle Werthaltungen lassen sich durch gezielte Bildungsangebote innerhalb eines berufsspezifischen Polizeiethikcurriculums entwickeln. Entscheidend dabei ist, mit welchen Maßstäben sich das spezifische Bildungsgeschehen »ethische Kompetenzentwicklung« messen lässt. These: Die Übernahme der Corporate Identity der jeweiligen Polizei steht in einem Zusammenhang mit Fragen der menschenrechtlichen Ethik und der Reflexion menschlichen Seins. Im Zentrum dieser Überlegungen steht dann, inwieweit zwischen der Übernahme der Corporate Identity bei der jeweiligen Polizei und Fragen der Ethik und dem Sinn menschlichen Seins ein enger Zusammenhang besteht (vgl. dazu Weber 1999, S. 77; Lederer). Eine an Wert- und Sinnstrukturen gebundene Persönlichkeit und eine selbstverantwortete Identität sind gerade im Interesse der polizeilichen Organisation nicht abgeschlossen, sondern Teil eines beruflichen und letztlich auch lebenslangen Lernprozesses und bezieht sich nicht auf Güter, sondern auf Werte (Weber 1999, S. 79). Hartmut von Hentig hat allgemein für jeden Bildungsprozess folgende Makroziele definiert: die Abscheu und die Abwehr von Unmenschlichkeit; die Empfindsamkeit für Glück; Verständigungsbereitschaft und -willen; das Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit; Sensibilität für philosophische Letztfragen; die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und zum gesellschaftlichen Engagement (von Hentig 1996, S. 75; 2009; 2011). Auf solch nachgerade existenziellen Fragen sollte Bildung Antworten oder besser Antwortmöglichkeiten liefern. Zu betonen in polizeilichen Bildungsprozessen ist die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und zur Verantwortungsübernahme in der res publica (von Hentig 1996, S. 98f.; vgl. auch Hierdeis 2003, 80f., dito 2007).

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2.

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Ethische Kompetenz

These: Polizeiliche Ethik befähigt den einzelnen Polizisten und die einzelne Polizistin, ethische Aspekte im alltäglichen beruflichen Handeln zu erkennen und zu reflektieren. Die Beschäftigung mit der Berufsethik gehört zu den primären Bildungszielen in ethischer Hinsicht innerhalb der beruflichen Alltagspraxis der Polizei (Wagener & Schiewek 2015, S. 5). Polizeiliche Berufsethik zielt darauf ab, erstens ethische Aspekte im polizeilichen Handeln erkennen und beschreiben zu können, zweitens die Handlungsmöglichkeiten in derartigen Situationen analysieren zu können, drittens systematisch zu einer Entscheidungsfindung zu gelangen und viertens den eigenen moralischen Standpunkt einer Reflexion zu unterziehen (Wagener & Schiewek 2015, S. 5). Entlang berufsrelevanter Themen wird die auszubildende ethische Kompetenz anhand persönlicher Perspektiven, Fallbeispielen und Arbeitsaufgaben und einer theoretischen Fundierung erschlossen. Die Sinnhaftigkeit ethischer Reflexion im Polizeiberuf betrifft jeden Polizeibeamten/jede Polizeibeamtin auf allen Hierarchiestufen in der Polizei. Begründet liegt diese Art der Reflexion des eigenen Handelns im polizeilichen Berufsbild selbst. Wenn der Polizeiberuf dazu dienen soll, das Wohl der Menschen zu maximieren, dann muss das polizeiliche Handeln im Kontext menschenrechtlicher Diskurse ethisch reflektiert werden, wie es auch in vergleichbaren Disziplinen der Fall ist. Die Spannung, die sich hierbei aus dem Gewaltmonopol des Staates ergibt, liegt zwischen Eingreifbefugnis und Achtung der Menschenwürde (Wagener & Schiewek, 2015 S. 172). Im sog. »Schwenninger Signal« heißt es treffend: »Die Aufgabenerfüllung der Polizei im demokratischen Rechtsstaat erfordert nicht nur die genaue Kenntnis des Rechts, sondern auch ein Ethos der Rechtsbefolgung auf Seiten der einzelnen Polizistinnen und Polizisten. Dieses beruht auf der Einsicht in die Werteordnung des Grundgesetzes und deren Sinnhaftigkeit. Für die polizeiliche Arbeit als Eingriffsverwaltung ist es deswegen von größter Bedeutung, dass die Polizistinnen und Polizisten vor allem aus eigener ethisch-moralischer Motivation richtig handeln und nicht lediglich aus dem Wunsch, Sanktionen zu vermeiden. Um Handlungssicherheit in den sozial wie menschlich anspruchsvollen polizeilichen Eingriffssituationen zu gewährleisten, ist ein persönlich angeeignetes Berufsethos und ein kritisches Urteilsvermögen unverzichtbar.« (Bundesfachkonferenz Ethik 2006) Weiter ist neben der professionellen Berufsethik auch die subjektive persönliche berufsethische Kompetenz von Polizeibeamten und -beamtinnen (Wagener & Schiewek 2015, S. 173) wichtig.

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These: Nicht nur der Wertebezug des Einzelnen ist hier relevant, sondern auch, ob die Polizei insgesamt als Organisation und Institution über eine Organisationsethik in ihren Prozessen und Abläufen verfügt, die menschenrechtlich angelegt sind. Der Wertebezug des einzelnen Polizisten, der einzelnen Polizistin muss jedoch in ein umfassendes Wertekonzept der Polizei in menschenrechtlicher Hinsicht eingeordnet werden. Um diesen Zusammenhang zu erschließen, bedarf es empirischer Arbeit mit den entsprechenden Standards von Empirie (Lüders 2003, S. 80ff.; Flick 2020, S. 247ff.): Validität, Reliabilität, Objektivität, Reichweite. Wichtig dabei ist der sogenannte Fremdblick auf vorliegende Studien, das ist der bildungswissenschaftliche Blick, organisationsunabhängig von polizeilichen Institutionen, auf vorhandene Studien, um objektive Distanz halten zu können. Im Freiburger Forschungsprojekt »Unterwegs in den Wirklichkeiten der Polizei« in Zusammenarbeit mit dem Institut für Ausbildung/Standort Lahr der Hochschule der Polizei in Villingen-Schwenningen und dem Freiburger Polizeipräsidium der baden-württembergischen Landespolizei und in Zusammenarbeit mit bundespolizeilichen Dienststellen in Südbaden wurden in Bezug auf Wertebildung/Polizeiethik bereits qualitative Instrumente der Befragung von Polizeianwärtern und -anwärterinnen entwickelt. These: Ethische Urteilsfähigkeit stellt eine zu erwerbende Kompetenz dar und muss zielgerichtet aufgebaut werden! Polizisten und Polizistinnen müssen befähigt werden, eigenes Gewalterleiden zu reflektieren und den Umschlagpunkt im eigenen Verhalten wahrnehmen lernen, wo Gewalterleiden in illegitime Gewaltanwendung mündet. In der neueren Ethikdiskussion gilt die Ausbildung ethischer Urteilsfähigkeit jedoch als zu erwerbende Kompetenz; ethische Kompetenz ist zunächst ein unscharfer Begriff; bei der Ausbildung einer Internationalen Polizei geht es jedoch um eine potenzielle Fähigkeit, geplantes Verhalten zu bewerten (Andersen 2005, S.1; Anzenbacher 1992, S. 11f.; Kurland 1995, S. 297ff.). Dabei muss die jeweils konkrete moralische Verpflichtung mitgedacht werden (Richter; Henkens & Ritt 2011, S. 413ff.; Fishbein & Ajzen 1975). Die Ausbildung ethischer Kompetenz (Spichal-Mößner 2007, S. 166ff.) umfasst also die Reflexion eigener verhaltensspezifischer Faktoren, kontextbezogene und kontextunabhängige Basisnormen sowie subjektive Einstellungen und eine wahrgenommene Verhaltenskontrolle in moralisch ausgewiesenen Situationen, die sich im polizeilichen Alltag durchaus auch als Dilemma Situationen darstellen können (Ahlf 2000, S. 95ff.). Insgesamt gehört damit die ethische Kompetenz in den Bereich der Persönlichkeitsbildung als subjektive reflexive und selbstreflexive Kompetenz. Die Faktoren verhaltensspezifische Einstellung, kontextbezogene subjektive Norm und wahrgenommene Verhaltenskontrolle werden als maßgeblich für das Verhalten in

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moralisch relevanten Situationen bestimmt (Anzenbacher 1992, S. 12; Acklin Zimmermann & Schmitz 2007). Im polizeilichen Alltag verläuft diese Grenze zwischen zugemuteter Gewalt gegen Polizeibeamte und -beamtinnen und dem polizeilichen Auftrag legitimer Gewaltausübung und dem Umschlagen in illegitime Gewaltausübung. Rafael Behr benennt diesen Umschlagspunkt: »Ob eine Interaktion als ›unmittelbarer Zwang‹, als ›Polizeigewalt‹ oder als ›Körperverletzung im Amt‹ gesehen wird, ist offenbar nicht nur juristisch zu definieren, sondern abhängig vom subjektiven Standpunkt der Wahrnehmung und von der normativen Deutung des Geschehens.« (Behr 2020, S. 186; siehe auch Behr 2019, S. 155ff.; Behr 2008). Die innerpolizeiliche Differenzierung des Phänomens Gewalt müsste jedoch in eine breite Ethikdiskussion auf der Ebene der zu entwickelnden Organisationsethik Polizeien eingebettet sein (Nedelmann 1997, S. 59ff). Und es gilt: Je differenzierter die Ausprägung der persönlichen ethischen Kompetenz ist, desto besser kann die polizeiliche Führungskraft ethische Sachverhalte in Konfliktsituationen reflektieren und zum Beispiel im Führungsstil auf kooperatives Verhalten setzen, was wiederum Auswirkungen auf das seelische Gleichgewicht der Person hat (Richter; Henkens & Ritt 2011, S. 413ff.; Stippler et al. 2014).

3.

Professionelle Reflexion contra Bauchgefühl

These: Die Mechanismen, einen Anderen auf seine Andersheit rassistisch festzulegen, müssen wahrgenommen, analysiert und dekonstruiert werden. In menschenrechtlicher Perspektive ist ein polizeilicher Alltagsrassismus als Möglichkeit des Einzelnen und für das ganze System abzulehnen. Ein Bauchgefühl darf nicht der Ersatz für ethische und professionelle Reflexion sein. Rafael Behr sieht in seiner organisationstrukturellen Perspektive die Diskriminierungsvorwürfe an die Adresse der Polizei durchaus als berechtigt an (Behr 2017, S. 255ff.) und verweist auf den Umstand, dass es der Polizei schwerfalle, mit Fremdheit und Vielfalt positiv umzugehen; abzuwehren sei jedoch eine reine individuelle Pathologie beim Polizeibeamten/bei der Polizeibeamtin, aber auch der Polizei-organisation eine institutionelle Konstante zu unterstellen: »Vielmehr gründen Diskriminierungs-dispositive auf einer kollektiven Angst vor ›gefährlicher Fremdheit‹, und diese Kategorie verkörpern bestimmte Personen stärker als andere.« (Behr 2017, S. 255) Im Abschlussbericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses zum NSU Komplex werden auch Vorwürfe über das selektive Kontrollverhalten der Schutzpolizei geäußert (Deutscher Bundestag 2017). Interpersonale und intrapersonelle Ordnungsstrukturen begünstigen eine Denk- und Verhaltensweise, das Nichtzugehörige zu definieren und gleichzeitig als etwas Bedrohliches darzustellen, d. h., es geht um eine Adressierung und

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Etikettierung, also nicht um eine tatsächliche Eigenschaft. Aber aus der Kombination Situation – Person – Verhalten entsteht ein Verdachtsmoment, das dann immer wieder (scheinbar) bestätigt wird (Behr 2017, S. 262). In einem derartigen zirkulären Denken entsteht ein »Betriebsklima«, in dem Übergriffe entdramatisiert, verharmlost und relativiert werden (Behr 2017, S. 267). Letztlich bedeutet eine solche Strategie aber ein Eingeständnis eines defizitären Umgangs mit gesellschaftlichen Entwicklungen (Behr 2017, S. 267). Zum Racial Profiling (= Verdacht aufgrund einer bestimmten Ethnie) gesellt sich ein Social Profiling (= Verdacht aufgrund eines spezifischen Sozialstatus (Sozialhilfeempfänger*innen, Drogenabhängige etc.) hinzu. Racial und Social Profiling als verdachtsunabhängige Kontrollen nehmen Fahrt auf und Menschen werden aufgrund äußerer Merkmale kategorisiert und bestimmte Charaktereigenschaften unterstellt (Seckelmann 2019, S. 357). Die problematische Begrifflichkeit »Racial Profiling« verweist auf die »Rasseideologie« im Nationalsozialismus und ist als Begriff letztlich nicht tauglich (Seckelmann 2019, S. 358; Behr 2017, S. 267). Alle diese Begriffe weisen auf einen Arbeitssprachgebrauch hin, der in sich zweifelhaft ist, aber letztlich kein empirisches Indiz weder für einen strukturellen Rassismus der Polizeien insgesamt noch für einen kollektiven Sprachgebrauch darstellt, aber möglicherweise Indiz für eine bestimmte Anfälligkeit für Rassismus in bestimmten Kontexten und unter spezifischen Bedingungen ist. Möglicherweise zeichnet sich im Polizeirecht ein problematisches Verschwimmen zwischen polizeirechtlicher Prävention und Repression ab (Seckelmann 2019, S. 365). Wichtig ist der ethische Umschlagpunkt, wann Polizeibeamt*innen beginnen, aus einem Bauchgefühl heraus zu handeln (Behr 2016a, S. 131ff.). Etwa 12 Millionen Menschen haben in Deutschland derzeit eine Migrationsgeschichte. Migration und Sicherheit werden nicht erst in den vergangenen sechs Jahren öffentlich stark kontrovers diskutiert. Allerdings stellten die verstärkte Einreise seit dem Jahr 2015 und die damit einhergehenden Flucht- und Migrationsprozesse die nationale und internationale Politik vor migrationspolitische Herausforderungen, welche es in diesem Ausmaß zuletzt im Zuge des Zweiten Weltkrieges zu bewältigen galt (Luft 2016, S. 9). Im Sicherheitsdiskurs werden insbesondere für die Institution Polizei nicht nur sicherheitsrelevante Forderungen hinsichtlich Einreise und Integration, sondern auch hinsichtlich terroristischer Gewalt bedeutsam (Luft 2016, S. 9), so dass eine explizite Auseinandersetzung mit Interkulturalität und Interreligiosität unabdingbar ist. Angesichts dieser komplex gewordenen Aufgabenstellung in einer demokratischen Zivilgesellschaft wird in der Polizei zusätzlich eine Problemlösungskompetenz gefordert. Letztere lässt sich in der oben angesprochenen Persönlichkeitsbildung und damit zur professionellen Rolle von Polizeibeamtinnen und -beamten verorten, die den Umgang mit Vielfalt und Mehrdeutigkeit oder sogar Uneindeutigkeit lernen muss (Abou-Taam 2009). Interkulturelle und auch interreligiöse

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Kompetenz gehören damit zur notwendigen professionellen Qualifikation (Geistmann 2002; 2003). Abou-Taam fasst interkulturelle Kompetenz wie folgt zusammen: »Damit wird die Fähigkeit beschrieben, über einen um fremdkulturelle Aspekte erweiterten Verhaltensspielraum, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Kulturen anzuerkennen und für die erfolgreiche Interaktion in interkulturellen Überschneidungssituationen im Sinne der übergreifenden interkulturellen Handlungskompetenz umzusetzen. Charakteristisch ist somit die hohe Verhaltensorientierung im Zusammenhang mit der Realisierung der Sachaufgabe.« (Abou-Taam 2009) Polizeiliches Handeln muss sowohl in kognitiver als auch affektiver Hinsicht sensibilisiert werden, was sich für die Polizeiarbeit als strategisch wichtig erweisen wird.

4.

Umgang mit Gewalterfahrungen

These: Hierarchische Strukturen und hierarchisches Denken verhindern ethische und menschenrechtliche Reflexion; andere als die hierarchischen Führungsmodelle sind zu erproben. Der Annahme folgend, dass Gewalt als eine Form von Machtausübung verstanden wird, erfordert die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalterfahrung zunächst einen Bezug zu bestehenden Machtdiskursen. Macht als Begriff weist multiple Bedeutungen, Dimensionen und Ebenen auf. In der historischen Betrachtung wird deutlich, dass Machttheorien und -analysen von verschiedenen Disziplinen aufgestellt und entsprechend different definiert wurden und werden. Auffallend ist, dass die Ausführungen von Max Weber (1972/2019) in vielen Professionen als Basis für den machttheoretischen Diskurs verwendet werden. Gerade in Soziologie und Politik taucht folgende Definition bei der Auseinandersetzung mit dieser Thematik regelhaft auf: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen den Widerstand anderer durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chancen beruhen« (Weber 1972, S. 28). In Bezug auf die Polizei wird deutlich, dass Letztere allein aufgrund ihres gesellschaftlichen und politischen Auftrags dazu gezwungen wird, Macht auszuüben. Dementsprechend müssten die Reflexion und Auseinandersetzung mit dieser Thematik auch Bestandteil der Ausbildung sowie der alltäglichen Arbeit von Polizist*innen sein. Dies gilt insbesondere, wenn Macht als legitimierte Anwendung von Gewalt ausgeübt wird. Bei der Polizei wird neben der rechtlichen Legalität und Legitimation auch eine sozial-moralische Legitimation vorausgesetzt. Eine der großen Herausforderungen für die Institution Polizei besteht dem folgend darin, den normativen Bereich zu markieren, in dem das Vorgehen der Polizist*innen funktional tauglich und gleichzeitig ethisch legitimierbar ist. Dies wird insbesondere dadurch erschwert, da Gewalt, Gewalter-

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fahrungen und Umgang mit den verschiedenen Formen von Gewalt als hochkontroverses gesellschaftliches Thema angesehen wird und sowohl bei der Polizei als auch gesellschaftlich mindestens ambivalent, wenn nicht multivalent diskutiert wird. Hinzu kommt, dass polizeiliche Alltagsarbeit, wie bereits angeklungen, durch das innerstaatliche Gewaltmonopol definiert wird (Behr 2016, S. 557ff.). Diese Orientierung an einem strafrechtlich-phänomenologischen Komplex resultiert darin, dass Polizist*innen lernen müssen, Gewalt auszuüben und andererseits Gewalt, auch gegenüber der eigenen Person, auszuhalten. Der polizeiliche Auftrag beinhaltet somit obligatorisch die Schädigung anderer Menschen. Gleichzeitig ist es Aufgabe der Polizei, die Menschenwürde und die Menschenrechte und die grundgesetzliche Ordnung der demokratischen Zivilgesellschaft zu schützen, was dazu führen muss, dass Polizeibeamt*innen gewaltfähig werden müssen, aber keineswegs gewaltaffin, was aber unabhängig von der subjektiven Disposition gelingen muss (Behr 2015). Der Umgang mit illegitimer Gewaltausübung durch die Polizei selbst ist komplex (Behr 2017b, S. 301ff.). Auf der einen Seite stehen die Erwartungen und Bilder von der Institution, welche innerhalb der Gesellschaft kursieren. Daneben findet sich die Praxis innerhalb der Organisation, bei der Behr darauf hinweist, dass das praktische Handeln nach der Ausbildung sehr stark vom Kolleg*innenkreis mitbeeinflusst wird. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Anwendung von physischer Gewalt, sondern auch hinsichtlich Themen wie Rassismus und Diskriminierung. Diese dürfen, so Behr (2017b), weder als rein individuelle noch als rein institutionelle Herausforderung verstanden werden (S. 306). Insbesondere aufgrund der innerinstitutionellen Organisation und Arbeitsweisen könne diskriminierendes Verhalten in die nachfolgenden Generationen übertragen und gleichzeitig mit Rückbezug auf den Erfolg dieses Verhaltens auch verteidigt werden. Dabei weist Behr (2017b) darauf hin, dass sich eine Verdachtsschöpfung nicht an einer Person, sondern an einer Situation festmachen sollte (S. 308). Zwar könne man polizeiliche Übergriffe immer als diskriminierend verstehen, beachtet werden müsse dabei allerdings, dass nicht jeder dieser Übergriffe auf politische oder ethnische Fremdheit gerichtet sei (Behr 2017b, S. 309). Oftmals jedoch könne eine Xenophobie festgestellt werden, welche dann zur Diskriminierung jener Personen führe und damit die Nicht-Zugehörigkeit der Person fokussiere. Gleichzeitig würde von den Polizist*innen eine Unterteilung innerhalb dieser Gruppe der »Fremden« vorgenommen. So gäbe es einerseits »unbedenkliche Fremde« und andererseits »gefährliche Fremde« (Behr 2017b, S. 311). Dieses Verhalten wird zweifach zum Problem. Zum einen wird es vom persönlichen Privatleben abgespalten, indem sich subjektiv begründete, aber empirisch nicht haltbare Vorstellungen in polizeiliches Verhalten einschleichen und zum anderen verwehrt dieser sogenannte »böse Blick« auf andere Personen auch die Wahrnehmung von Unverdächtigen (Behr 2017b, S. 311). Dieses Vorgehen werde

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zwar nicht in der Ausbildung gelehrt, allerdings schütze die Ausbildung auch nicht genügend vor einem derartigen Verhalten. Vielmehr fordert Behr Konzepte für eine handlungsbezogene Aus- und Fortbildung (Behr 2017b, S. 314).

5.

Internationale Polizeiarbeit

These: Polizei muss sich als lernende Organisation begreifen, was didaktisch mit dem Erschließen neuer Lernräume zu tun haben wird. Beispiel für neues Denken könnte die Methode des fraktalen Lernraumes sein, wie es im Freiburger Projekt »Unterwegs in den Wirklichkeiten der Polizei« entwickelt wurde. Auf dieser Ebene wird deutlich, dass ethische Handlungen ihren Ursprung nicht allein vom Individuum hernehmen, sondern auch die Institution einen entscheidenden Beitrag dazu leistet. Es zählen die Werte, die die Organisation bzw. Institution pflegt; hierzu gehört auch eine internationale Polizeiorganisation bzw. Polizeiinstitution, die bei den Vereinten Nationen angesiedelt ist. ErnstHeinrich Ahlf bezeichnet Institutionen als »moralische Akteure«, die »[…] über kollektive Werte und damit auch über das ethische Verhalten einzelner Mitglieder der Organisation […]« (Ahlf 1997; 2000, S. 42) entscheiden. Die Mesoebene führt demnach über die Individualethik hinaus. Die Makroebene wirkt auf die Mikro- und Mesoebene ein, denn auf der Makroebene werden ethische Urteile verortet, die kollektive Strukturen tangieren. Es geht um systemübergreifende Werte wie zum Beispiel die der Grundrechte und der Nachhaltigkeit. Seit 2012 werden durch das badische Polizeiprojekt »Unterwegs in den Wirklichkeiten der Polizei« (Schwendemann 2015; 2017) Erfahrungen gesammelt, wie ein Berufsethikkonzept der Polizei zeitgemäß entsprechend den geltenden kompetenzorientierten bildungswissenschaftlichen Standards entwickelt und vermittelt werden kann. Allgemeine Unterrichtserfahrung ist jedoch, dass der Aufbau werteorientierter, ethisch-moralischer Einstellungen einer langen Hinführung bedarf. Auch in den nationalen Ausbildungsstätten der Polizei setzt sich die Erkenntnis durch, dass bewegtes und lebendiges Lernen andere als nur traditionelle Vermittlungsformen benötigt. Aus Skandinavien stammt das Lernraumkonzept des »Fraktalen Lernraums«. Im Zentrum für ethische Bildung und Seelsorge in der Polizei NordrheinWestfalen am LAFP-Bildungszentrum in Selm/Bork (Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei Nordrhein-Westfalen12) wurden u. a. ganz neue Formate und entsprechend ausgerichtete Lernräume für Polizist*innen entwickelt: Dort gibt es den ›Grenzgang‹, in dem die Themenfelder Umgang mit Randgruppen in der Gesellschaft, Polizei und Gewalt, Polizei 12 https://lafp.polizei.nrw/.

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in Extremsituationen und Umgang mit Sterben und Tod behandelt werden. Die 2012 eröffnete Ausstellung hat inzwischen eine hohe Anerkennung weit über die Grenzen Nordrhein-Westfalens hinaus gewonnen und kann nach Terminabsprache von interessierten Gruppen besucht werden (Schwendemann et al. 2017, S. 14). In Anlehnung an dieses Raumkonzept und dem Inhalt des Projektes »Grenzgang« kann die Gestaltung einer ethischen Qualifizierung von Polizisten und Polizistinnen einer Internationalen Polizei, zum Beispiel bei der UNO selbst, angesiedelt und durchgeführt werden. Hinter dem Begriff des fraktalen Lernraums verbirgt sich ein auf Bedürfnisse und Herausforderungen orientiertes und zugeschnittenes Lernkonzept. Dieses soll dazu beitragen, dass ein multifunktionales Lernen mit gut dargestellten Inhalten sowie wie geeigneten Sozialformen, Methoden und Medien realisiert wird. Durch die besondere Gestaltung sollen sich die Lernenden auf eine wahrhaftigere/lebendigere/echte/greifbarere Erschließung der Inhalte einlassen, welche der traditionelle Lernraum oftmals nicht ermöglicht (Schwendemann 2017, S. 14). Um eine Definition des fraktalen Lernraums zu erstellen, wird dieser zunächst in die Wortteile Fraktal, Lernen und Raum unterteilt (Schwendemann 2017, S. 23). »Fraktal« ist ein mathematischer Ausdruck, der »vielfaltig gebrochen, stark gegliedert« bedeutet (Schwendemann 2017, S. 23). Dies aber bedeutet wiederum, dass bei Vergrößerung eines Ausschnitts eines Fraktals stets immer feinere Strukturen erkennbar sind, egal wie stark der Vergrößerungsfaktor ist. Man sagt dazu auch, das Fraktal habe »Details auf allen Stufen« (Schwendemann 2017, S. 23). Diese feineren Strukturen ähneln oder gleichen einander, oftmals in unterschiedlicher Größe oder mit leichten Veränderungen. Benoît Mandelbrot ist der Urheber des Begriffs »fraktal«, wobei der Begriff nahe an der Chaostheorie liegt (Mandelbrot 2014; Frame & Mandelbrot 2002; Mandelbrot & Evertsz 2004; Mandelbrot; Schwarz & Jersey 2012). Die Chaostheorie beschreibt die Nichtlinearität von Zusammenhängen und die damit verbundene Unvorhersehbarkeit von Ereignissen (Schwendemann et al. 2017, S. 24). Die weitere mathematische Herleitung ist jedoch zu komplex, sodass der Fokus eher auf den pädagogischen Implikationen liegt. Hier sind Fraktale selbstständige, kooperierende Einheiten mit konkret definierten Zielen und selbst überprüfbaren Leistungen in einer Institution bzw. Organisation (Senge; Klostermann & Freundl 2011; Schwendemann et al. 2017, S. 24). Dazu muss (1) jeder persönlich den Ansporn haben, sich selbst zu verbessern und entwickeln zu wollen. Ohne die Motivation eines jeden Einzelnen kann eine Organisation als Gesamtes nicht weiterkommen (Senge et al. 2011, S. 153ff.; Schwendemann et al. 2017, S. 25). (2) Die mentalen Modelle beschreiben grundlegende und tiefgehende Denkund Verständnismuster, welche unsere Wahrnehmung und unser Denken und

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Verständnis im Umkehrschluss maßgeblich beeinflussen. Daher kann nur der gut lernen, der sich selbst reflektiert und diese Muster hinterfragt (Senge et al. 2011, S. 193ff.; Schwendemann et al. 2017, S. 25). (3) Alle Mitglieder einer Organisation müssen eine gemeinsame Vision vor Augen haben, damit die eingesetzten Kräfte ihr bestmögliches Potenzial entwickeln können. Wenn die individuellen Ziele zu weit auseinandergehen, wird die Entwicklung verzögert und die Gemeinschaft geschwächt (Senge et al. 2011, S. 153ff.; Schwendemann 2017, S. 25). (4) Teamentscheidungen und das Lernen im Team werden unter dem Aspekt der Einbeziehung mehrerer Gruppenmitglieder immer wichtiger, da oftmals Aufgaben von Teams bearbeitet werden und daher die Teamdynamik wichtig ist (Senge et al. 2011, S. 254ff.; Schwendemann et al. 2017, S. 25f.). Teams sind zum Lernen wichtig, da sie ein größeres Lernpotenzial im Gegensatz zu Einzelpersonen bieten und sich durch Arbeitsteilung komplexere Aufgaben meistern lassen. (5) Durch systemisches Denken werden Wirkmechanismen sichtbar, und es lassen sich komplexe Zusammenhänge verstehen. Werden diese realen Konstrukte zunehmend verstanden, können die folgenden Handlungen daraufhin abgestimmt werden. Professionelles und wirksames Handeln im Sinne der gemeinsamen Vision sind die Folge (Senge et al. 2011, S. 73ff.; Schwendemann et al. 2017, S. 26). Die lernenden (wirtschaftlichen) Organisationen haben den Vorteil, dass sie sich entwickeln – und entwickeln müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und den Marktansprüchen zu entsprechen. Nur lernende Organisationen sind in der Lage, auf diese und weitere Herausforderungen schnell zu reagieren. Eine Internationale Polizei muss also als lernende Organisation aufgebaut werden (Senge et al. 2011, S. 257; Schwendemann et al. 2017, S. 26). Auch die Notwendigkeit von Teams steigt zunehmend, wie die Zunahme von Projektteams, Arbeitsteams, Führungsteams oder abteilungsübergreifenden Teams bestätigen (Schwendemann et al. 2017, S. 26). Verantwortungsübernahme, Selbstständigkeit und Eigenorganisation werden hierbei mit dieser Methode eingeübt. Wenn die fünf Disziplinen nach Senge (2011) in den Gruppen eingeübt und praktisch durchgeführt werden, steigert sich der Lerngewinn in mehreren Kompetenzen zugleich. Die Verantwortungsübernahme (entwicklungspsychologisch, Montada 2008, S. 593ff.) und die Selbstorganisation durch das Erlernen von methodischen Kompetenzen sind tendenziell bei Erwachsenen stärker ausgeprägt. Komplexe Inhalte können auch eigenständig angeeignet und mit anderen verglichen und geteilt werden, ohne dass eine lehrende Person diesen Prozess maßgeblich steuern muss (Schwendemann et al. 2017, S. 26). Dies soll jedoch keine Vereinzelung mit sich bringen, sondern lediglich eine Veränderung des Rollenver-

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ständnisses von Lehrenden und Lernenden (Buddensiek 2001, S. 206, Schwendemann et al. 2017, S. 27). Außerdem lässt sich auch die jeweilige Bildungseinrichtung (hier Internationale Polizei) als lernende Organisation beschreiben. Dabei sind die vernetzten Felder (= selbstständige, aber kooperierende Fraktale), Organisation, Personal, Lehrplan, Unterricht und Erziehung differenziert stetig weiterzuentwickeln und an die jeweils veränderten Bedingungen anzupassen (Schwendemann et al. 2017, S. 28; Kron; Jürgens & Standop 2013, S. 66ff.). Prof. Dr. phil. Dr. habil. theol. Wilhelm Schwendemann, Freiburg, lehrt an der Evangelischen Hochschule Freiburg und forscht u. a. zur polizeilichen Berufsethik.

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Polizei als Menschenrechtsprofession?

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Traugott Schächtele

Lyrik: siebzigmal siebenmal

vergeblich vergeben alles beim alten überraschend vergeben mir nicht gewahr des balkens in meinem auge gegen alle vernunft vergeben welch große verschwendung meiner begrenztheit zu lieben ungezählt vergeben in der ökumene des neu beginnens siebzigmal siebenmal im

202 neu denken das alte aus den angeln gehoben für immer

Traugott Schächtele

Teil E: Perspektiven zum Weiterdenken in Kirche, Gesellschaft und Politik

Jochen Cornelius-Bundschuh

Perspektiven einer zivilen Sicherheitspolitik – 7 Thesen für den weiteren Dialog

1. Das Leitbild des gerechten Friedens gründet theologisch in der Teilhabe an der Friedensbewegung Gottes und ermutigt das kirchliche Friedensengagement zu einem mutigen, wegweisenden und realistischen Handeln. a. Theologisch verweist das Leitbild auf eine grundlegende Differenz zwischen dem, was wir tun (können), und dem, was Gott für uns tut. Die ethische Orientierung ereignet sich im Horizont dieser doxologischen und eschatologischen Differenz. Gerechter Frieden (»Wenn Lamm und Wolf zusammenliegen, Gerechtigkeit und Frieden sich küssen«) ist Verheißung, die uns Bindungen bewusst macht und in ihnen zu einem mutigen und gesellschaftlich wegweisenden Handeln befreit. Sie ist zugleich Perspektive für ein kritisches und realistisches politisches Handeln, das die Akteure in Konflikten zur Selbstzurücknahme um der (Menschen-)Rechtsdurch-setzung und der Minimierung von Gewalt willen ermutigt. b. Diese theologische Grundlegung wehrt einerseits jedem vermeintlichen Sachzwang, jeder Stillstellung von Konflikten und eröffnet Perspektiven, um Frieden zu stiften. Zugleich relativiert sie vermeintlich eindeutige politische Optionen und nötigt zur Anerkenntnis ihrer Vorläufigkeit. Militärische Gewalt hat sich in den letzten Jahrzehnten nur in sehr wenigen Konstellationen als nachhaltig friedensfördernd (und gerecht!) erwiesen; aber auch polizeiliche Gewalt hat ihre Voraussetzungen und Grenzen. c. Die Verankerung der Friedensarbeit im Vertrauen auf Christi Liebe ermöglicht es, Spannungen und Ambivalenzen auszuhalten. Sie hilft die eigene Beschränktheit und Verstrickung wahrzunehmen, im Diskurs zur Sprache zu bringen und in die Urteilsbildung und Orientierung aufzunehmen. Sie öffnet den Blick über die Fixierung auf die spezifische Konfliktkonstellation hinaus auf das Gesamtsystem: auf sozio-ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen und Folgen.

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Jochen Cornelius-Bundschuh

d. Der Glaube gibt die Kraft und die Freiheit, beides zusammen zu halten: i. Die Erkenntnis, dass wir in vielen komplexen politischen Entscheidungen, die wir in Konflikten zu treffen haben, nur begrenzt handlungsfähig sind und zugleich in diesen Handlungen in der Gefahr, schuldig zu werden; ii. Und den Mut, auf dem Weg der Versöhnung voranzuschreiten und sich von Christ Liebe auch politisch und praktisch zur Feindesliebe drängen (im Sinne von 2. Korinther 5) zu lassen. Eine zivile Sicherheitspolitik entwickelt Dynamik, je größer das Vertrauen zwischen den in die Konflikte verstrickten Personen, Gruppen, Interessen usw. ist. Dieses Vertrauen findet seinen strukturellen, institutionalisierten Niederschlag in gesetztem Recht. Wer zivile Konfliktlösungen stärken will, muss zuallererst den Aufbau von Vertrauen und Recht fördern. Als Kirchen tragen wir dazu wesentlich durch unsere Versöhnungsarbeit bei. Wo Furcht die Türen verschließt und Misstrauen sät, öffnen wir Räume der Begegnung: Hass und Ungerechtigkeit, das, was zum Himmel schreit, wird offengelegt, kritisiert. Denn: Die Macht des Todes hat nicht das letzte Wort. Der Stein ist vom Grab gewälzt, die Soldaten stürzen zur Seite, der Friede Christi lässt sich nicht aufhalten. Wie wird das politisch konkret? In der Zivilisierung des Austragens von Konflikten: regelbasiert, multilateral, den Menschenrechten verpflichtet, in besonderer Verantwortung für diejenigen, die nicht für sich selbst sorgen können. Was heißt das für das Thema dieser Tagung: Militärische oder polizeiliche Sicherheitspolitik? Eine eindeutige Zuordnung und Bewertung militärischer und polizeilicher Formen des in beiden Fällen gewaltförmigen Umgangs mit Konflikten scheint mir schwierig. Wir leben in unsicheren Zeiten. Deshalb gehört Sicherheit auch zu den sustainable developement goals (Nr. 16: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen) und hat dabei sowohl das individuelle bzw. gesellschaftliche Interesse nach Rechtssicherheit als auch die Forderungen um den Begriff des »good governance« im Blick. Im Blick auf Militär und Polizei nehme ich derzeit eine Bewegung aufeinander zu wahr, die sich vielleicht als Konstabulisierung des Militärs und Gendarmerisierung der Polizei beschreiben lässt. Die vermeintlich umfassenderen Gewaltpotentiale des Militärs werden in vielen Konflikten von der Politik eingehegt (z. B. die unterschiedlichen Regeln der einzelnen nationalen Truppen in Afghanistan); zugleich wächst im Rahmen der Bekämpfung von »Terrorismus« und organisierter Kriminalität der Druck, die Polizei »aufzurüsten«. Militärische Aktionen wie im Jemen sind in der Weltöffentlichkeit immer weniger zu kommunizieren, selbst für autori-

Perspektiven einer zivilen Sicherheitspolitik – 7 Thesen für den weiteren Dialog

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täre Regime. Der Einsatz militärischer Mittel in Interventionen ist immer weniger durch die militärische Logik bestimmt, sondern immer mehr durch die kurzfristigen politischen Interessen im Inneren der intervenierenden Länder. (Dimitriu) Umgekehrt scheint mir das positive Bild des »just« policing stark von Erfahrungen mit deutscher/europäischer Polizei geprägt. Kritische Phänomene wie racial profiling, Korruption und die schwierigen Erfahrungen mit Frontex kommen demgegenüber kaum in den Blick. Zwei weitere Trends stehen quer zu einer klaren Unterscheidung militärischen und polizeilichen Handelns im Umgang mit gewaltförmigen Konflikten: Wir erleben aus unterschiedlichen Gründen ein zunehmendes Outsourcing der Intervention in gewaltförmigen Konflikten an private »Anbieter« wie Blackwater und Wagner. Auch die Entwicklung der Technik und der »digitalen« Kriegsführung (z. B. Drohnen und Cyberkrieg (4. Teilstreitkraft) erschweren eine klare Unterscheidung zwischen militärischem und polizeilichem Handeln. 6. Was können wir konkret tun, um das Konzept des gerechten Friedens weiter zu stärken und zu präzisieren? a. Wir sollten uns nicht im innerdeutschen und innersicherheitspolitischen Diskurs fangen lassen, sondern auf andere Akteure aus der Zivilgesellschaft und insbesondere unsere Partnerkirchen hören, vor allem auch bei der frühzeitigen Identifikation von Konflikten und in der von allen Seiten geforderten Konzentration auf Prävention. i. Um eine politisch starke Position zu entwickeln, brauchen wir das Gespräch mit unseren europäischen Partnern. Ein wichtiger Schritt wäre für mich etwa der Austausch mit Frankreich mit seinem deutlich anderen Verhältnis zur militärischen Tradition, zum Thema atomare Bewaffnung usw. ii. Wir haben im Diskurs noch zu wenig die »postkoloniale« Situation im Blick. Wir haben in Baden auf dem Weg zu »Sicherheit neu denken« viel von unserer nigerianischen Partnerkirche gelernt. Wie können wir hier weitergehen? Im Blick auf Afghanistan muss man sagen, dass über einen sehr langen Zeitraum durch externe gewaltförmige Interventionen soziale Strukturen zerstört wurden, die aber eine wesentliche Grundlage von »Sicherheit« sind. Die Intervenierenden haben immer wieder signalisiert, die Lösung zu kennen. Da bin ich zunehmend skeptisch. Vielleicht können wir an dieser Stelle von den jahrelangen Erfahrungen von »Brot für die Welt« lernen, wie wir angemessen miteinander in einer globalisierten Welt mit Konflikten umgehen können.

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b. Wir haben eine besondere Verantwortung nach dem Beitrag der Religionen für eine zivile Bearbeitung von Konflikten zu fragen, im Gespräch mit dem Judentum, mit dem Islam, mit anderen Religionen. Wir werden dabei entdecken, wie unterschiedlich auch in den anderen Religionen über Zivilität, Sicherheit und den Umgang mit Konflikten gedacht wird, wie verschieden der Frieden gelebt und vorangetrieben wird. Ich glaube, die Religionen spielen eine zentrale Rolle, vor allem vor Ort, in den konkreten Begegnungen. c. Ich halte es für wichtig, auf Soldatinnen und Polizisten zu hören und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Als evangelischer Kirche ist es uns besonders wichtig, alle Akteure auf ihre spezifische, persönliche Verantwortung anzusprechen. Beide verstehen sich nach meinen Erfahrungen aus Begegnungen im Sinne von Wolf Graf von Baudissin als »(Welt-) Bürger/innen in Uniform«. Zugleich ist es wichtig, die unterschiedlichen Perspektiven, Aufgaben und z. B. auch Ausbildungen klar im Blick zu behalten. Eine Polizistin z. B. handelt in Begegnung und durch das Wort, aber in einer spezifischen, durch das Recht gesetzten Distanz. Ein Soldat hält in der durch die Bedrohungslage notwendigen Distanz ein spezifisches Gewaltszenario aufrecht und ist in der Lage, auch Formen vernichtender Gewalt zu gestalten und einzuhegen. Auch gegenüber allen Versuchen, polizeiliche oder militärische Formen des Umgangs mit Konflikten zu eng mit Maßnahmen der Zivilgesellschaft im Bereich Entwicklungshilfe, Versöhnungs- oder Friedensarbeit zu verknüpfen, bin ich eher skeptisch. d. Als Kirchen stehen wir für ein klares »Prä« des Zivilen im Umgang mit Konflikten ein, die gewaltförmig zu werden drohen oder – und das ist ja glücklicherweise nur ein kleiner Teil! – es sind. Eine internationale Polizei kann wesentlich dazu beitragen, Räume für eine zivile Konfliktbearbeitung zu stabilisieren oder wieder zu öffnen; auch hier zeigt sich noch einmal: Wir brauchen mehr multilaterale, »regionale« Strukturen und Ressourcen für Prävention. Das Beispiel der Durchsetzung von Flugverbotszonen gegen drohende Kriegsverbrechen beteiligter Akteure zeigt für mich allerdings, dass es auch Konstellationen geben kann, in denen sehr begrenzt, sehr spezifisch und sehr gut international kommuniziert (gerade mit unseren Partnern und den »Gegnern«), auch militärisches Handeln wichtig sein kann, um Schrecken zu verhindern. 7. Die Situation im Jemen, in Syrien, in Libyen und in Afghanistan und demnächst wohl auch in Mali zeigen, dass militärische Interventionen kaum gelingen. Es fehlen politische Konzeptionen, die langfristig politisch (partizipativ!) und ökonomisch nachhaltig und an Gerechtigkeit orientiert abge-

Perspektiven einer zivilen Sicherheitspolitik – 7 Thesen für den weiteren Dialog

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stützt sind. Zudem befördert die Multipolarität der politischen Mächte die Konfliktdynamik an den »Rändern«. Menschen, die an der Friedensbewegung Gottes teilhaben wollen, belastet diese Aussichtslosigkeit, diese Erfahrungen von Ohnmacht, von Unfähigkeit in Konflikten angemessen zu handeln. Das führt mich zurück zum Anfang meiner Überlegungen, zu den Grenzen unseres Handelns und dem Vertrauen in Gottes Gerechtigkeit und Frieden schaffendes Handeln. Die radikale Gewaltlosigkeit, die konsequente Selbstzurücknahme, die Annahme der eigenen Verletzlichkeit und auch der anderer Menschen, das Loslassen und »Stillesein« (u. a. Psalm 37, Jesaja 30, Lukas 22) im Gottvertrauen, bleibt ein Stachel in aller Sicherheitspolitik. Hier haben wir als Kirchen eine besondere, geistliche Verantwortung: die Beteiligten zum Innezuhalten zu rufen, mit den Opfern zu klagen, mit ihnen zu leiden – und trotz allem, Schritte der Versöhnung zu gehen auf dem Weg zum gerechten Frieden. Prof. Dr. theol. Jochen Cornelius-Bundschuh, Karlsruhe, war bis zum April 2022 Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Baden.

Matthias Rogg

»Sicherheit neu denken« – Weltinnenpolitik und Internationale Polizei. Von militärischer zu ziviler und polizeilicher Sicherheitspolitik

Nicht »entweder oder«, sondern »sowohl als auch« – Anregungen zu einem weiterführenden Dialog Die Tagungsveranstalter haben mich gebeten, im Rahmen der Diskussion eine Leitfrage in den Mittelpunkt meiner Argumentation zu stellen: Auf welchen Wegen (Institutionen, Persönlichkeiten) und mit welchen Argumenten könnte das Konzept einer Internationalen Polizei weiterentwickelt und zielführend in den deutschen und den europäischen (EU/ OSZE) sicherheitspolitischen Diskurs eingebracht werden? Mein Statement gliedert sich in drei Abschnitte. Erstens werde ich einige kritische Anmerkungen zum vorliegenden Konzept »Zielperspektive Internationale Polizei und Realisierungskonzept« machen. Zweitens bringe ich Argumente vor für die aus meiner Sicht immer noch bestehende Notwendigkeit militärischer Kräfte. Drittens werde ich schließlich Möglichkeiten aufzeigen, Polizeikräfte und hier vor allem Internationale Polizeikräfte zu ertüchtigen, die damit einen qualitativen Beitrag zur Stärkung ziviler Sicherheitssektoren leisten könnten.

Erstens Meine kritischen Anmerkungen zum vorliegenden Konzept dürften aus dem Mund eines Soldaten vielleicht nicht überraschen. Wenn im Punkt 1.1. davon die Rede ist, die Vorhaltung von Militär »verführe immer wieder dazu, diese in Konfliktsituationen einzusetzen«, dann stelle ich das, zumindest für die Bundesrepublik in Frage. Gerade vor dem Hintergrund unserer Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der beiden Weltkriege und der zwei Diktaturerfahrungen im NS- und im SED-Staat, machen wir es uns hierzulande ganz und gar nicht leicht, Soldaten einzusetzen. Ich kenne keine Verfassung, die hier die Hürden so hoch ansetzt.

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Der so genannte »Parlamentsvorbehalt«1, der den Einsatz bewaffneter Streitkräfte an die Zustimmung des Bundestages bindet, wird im Gegenteil immer wieder kritisch hinterfragt, weil er Deutschlands Anschlussfähigkeit in den Bündnissen, aber auch die Reaktionsfähigkeit in Krisen und Konflikten deutlich bestimmt2. Nicht nur unsere Verfassung, auch die Parlamentspraxis und vielleicht mehr noch unsere oft von außen belächelte »Kultur der Zurückhaltung« steht einem leichtfertigen Einsatz unserer Soldaten entgegen – »Verführung« ist da kein guter Terminus. Kritisch sehe ich auch die Einschätzung in Punkt 1.2: »Während Aufstellung und Bereithaltung von Armeen von Feindbildern geleitet ist, hat die Polizei den Auftrag, Rechtsbrechende festzunehmen und der Gerichtsbarkeit zuzuführen.« Die Bundeswehr hatte selbst im Kalten Krieg nie ein Feindbild. Es gab sicher Einzelne, vielleicht sogar eine signifikante Größe in der Bundeswehr, die das anders sahen, anders ausbildeten und handelten. Aber strukturell und institutionell gab es kein Feindbild: nicht in westdeutschen Streitkräften. Diese Feststellung wird umso deutlicher, wenn man die Bundeswehr mit der Nationalen Volksarmee der DDR vergleicht. Dort gab ein offiziell dezidiert so benanntes »Feindbild«, das in der widerlichen Forderung der »Erziehung zum Hass« gipfelte3. Ob Streitkräfte Feindbilder entwickeln und pflegen, hat vor allem mit ihrer gesellschaftlichen und verfassungsmäßigen Verankerung zu tun: und das gilt nicht nur in historischer Perspektive. Wo nationalistische oder chauvinistische Selbst- und Fremdbilder die Oberhand haben, wo Feindbilder gepflegt werden, muss man dagegen vorgehen: Die Bundeswehr hatte so etwas nicht und sie hat es auch heute nicht. Umgekehrt kann man nicht automatisch der Polizei einen rechtsstaatlichen Rahmen zubilligen. Auch dies hängt entscheidend vom gesellschaftspolitischen Kontext und der rechtlichen Kontrolle ab. Zwei Beispiele dazu. Im Zweiten Weltkrieg waren es neben der SS zu einem großen Teil Polizeieinheiten, die unmittelbar hinter der Front durch Massenerschießungen den rasseideologischen Vernichtungskampf erbarmungslos administrierten4. In der DDR waren die Polizeikräfte eng in das System der Sozialistischen Landesverteidigung ein1 https://www.bundestag.de/resource/blob/423418/b447f 7b2c7bfd05ce9fdd1e05c031af4/WD-3 -037-07-pdf-data.pdf (letzter Zugriff 13.10.21). 2 Beispielhaft der Vorschlag im Parlament einen »Entsendeausschusses« einzurichten, Timo Noetzel, Benjamin Schreer, Vernetzte Kontrolle. Zur Zukunft des Parlamentsvorbehalts. https://www.swp-berlin.org/publications/products/arbeitspapiere/2007_S27_ntz_srr_S35_42 _ks.pdf (letzter Zugriff 13.10.21). 3 Zur Militarisierung der DDR vgl. Matthias Rogg, Armee des Volkes? (2009, 2. Aufl.) Militär und Gesellschaft in der DDR. Berlin. S. 55–58. 4 Christopher R. Browning (1999). Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Berlin.

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gebunden und hatten hier zum Teil auch einen paramilitärischen Verteidigungsauftrag5. Die Bereitschaftspolizei der DDR war zum Beispiel mit Schützenpanzern und sogar mit Artillerie ausgerüstet – warum, das liegt auf der Hand. Schauen wir uns aktuell Sonderpolizeieinheiten in autoritären Staaten oder Diktaturen, zum Beispiel in Belarus6, an, dann zeigt das: Der Charakter von Polizeikräften hängt entscheidend von ihrem verfassungsmäßigen Auftrag, den rechtsetzenden Normen und ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz ab. Das gilt auch für Krisen und Konflikte in Afrika, beispielhaft in Mali, wo sich die Bundeswehr im Rahmen mehrerer Missionen engagiert. Das Vertrauen der Zivilbevölkerung in die örtliche Polizei ist dort grundlegend erschüttert. Im Rahmen einer mikrosoziologisch angelegten Masterarbeit des Hamburger Studiengangs »Militärische Führung und Internationale Sicherheit« (MFIS), die sich mit der Frage befasst hat, ob das Etablieren eines Mittelstands in Mali zu mehr Sicherheit führen kann, ist unter anderem deutlich geworden: Gerade, weil die Polizei in Mali als korrupt gilt und wenig effektiv ist, weil die Strafverfolgung nicht funktioniert, ist das Vertrauen in die uniformierte Exekutivgewalt generell erschüttert7. In seiner im Jahr 2015 veröffentlichten Studie »Die Bundeswehr in Afghanistan. Militärische Handlungslogik in internationalen Interventionen.« hat der Potsdamer Politologe Philipp Münch sehr deutlich herausgearbeitet, dass Gewaltprobleme, eskalierende oder deeskalierende Praktiken nicht davon abhängen, ob sie von Streitkräften oder anderen Sicherheitsakteuren verantwortet werden. Vielmehr ist die Gewaltpraxis von der politischen und rechtlichen Rückbindung ihrer Akteure abhängig8. Schließlich wird in der Zielperspektive in Punkt 1.3. von einem Wandel »Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik« gesprochen. Dabei soll das Militär transformiert werden in »internationale Katastrophenschutzdienste, Rotes Kreuz, internationale zivile und polizeiliche Friedens- und Sicherheitsdienst usw.« Ich plädiere nicht dafür, das nationale Militär schrittweise in eine internationale Polizei zu überführen, sondern vielmehr dafür, Streitkräfte noch 5 Beispielhaft: Thomas Lindenberger (2003). Deutsche Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952 bis 1968. Köln u. a. Steike, Jörn. Von den »Inneren Truppen« zur Bereitschaftspolizei (1953–1990). in: Torsten Diedrich, Hans Ehlert, Rüdiger Wenzke (1998). Handbuch der bewaffneten Organe der DDR. Berlin, S. 69–95. 6 Beispielhaft: Belarus – die Farben der Polizeigewalt. https://www.boell.de/de/2020/12/11/bela rus-die-farben-der-polizeigewalt. 7 Fuchs, Ralf-Konrad (2020) Der Mittelstand in Afrika als potentieller Stabilitätsanker? Implikationen zur Verschränkung von Sicherheit und Entwicklung am Beispiel Malis. Unveröffentlichte Master-Thesis im Rahmen des Studiengangs Militärische Führung und Internationale Sicherheit (MFIS), Hamburg. 8 Philipp Münch (2015). Die Bundeswehr in Afghanistan. Militärische Handlungslogik in Internationalen Interventionen. Freiburg.

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stärker international zu vernetzen und zu integrieren und zusätzlich international ertüchtigte und den zivilen Sektor verstärkende Polizeikräfte aufzubauen und für Einsätze vorzuhalten.

Zweitens Um diesen Zugang zu erklären, bedarf es einer kurzen Begründung, warum ich den gänzlichen Verzicht von Militär für falsch halte. Ähnlich wie das Positivszenario »Sicherheit neu denken – von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik«9 von 2018 berücksichtigt das Konzept »Zielperspektive Internationale Polizei« meines Erachtens zu wenig den grundlegenden, ich würde sogar sagen radikalen Wandel im Bereich internationaler Sicherheit. Krisen, Konflikte und gewalttätige Auseinandersetzungen machen in einer von Globalisierung, Digitalisierung und demographischem Wandel bestimmten Welt schon lange nicht mehr vor der eigenen Haustür halt. Vielmehr verwischen die Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit. Die zu »hybriden Kriegen«10 mutierten Konflikte unserer Zeit zeichnen sich durch einen verdeckten Charakter, eine Auflösung der Grenzen, eine oft nicht mehr klare Zuschreibung der Akteure und den gezielten Einsatz von Desinformation aus. Das alles passiert vor dem Hintergrund paralleler, vorgeschalteter, nachlaufender oder auch nur angedrohter militärischer Operationen. Wie fragil die kritische Infrastruktur unseres Landes ist, beispielhaft die digitalen Netze, haben die Cyberangriffe durch mutmaßlich russische Hacker auf den Deutschen Bundestag, das Regierungsnetzwerk IVBB sowie diverse Militäreinrichtungen seit 2015 gezeigt. Insgesamt sind die Bedrohungen unserer kritischen Infrastruktur existentieller, als es viele Menschen wahrhaben wollen11.

9 Maaß, Stefan/Schneider-Harpprecht, Christioph (Hg.) (2018). Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik – Ein Szenario bis zum Jahr 2040 (Kurzfassung). Karlsruhe. S. 16–17. 10 Hartmann, Uwe (2015). Hybride Kriege als neue Bedrohung von Freiheit und Frieden: Zur Relevanz der Inneren Führung in Politik, Gesellschaft und Streitkräften. Berlin. Hartmann, Uwe. Innere Führung und Hybride Kriegführung. In: Hartmamm, Uwe/Rosen, Claus von (2016). Jahrbuch Innere Führung. Berlin. S. 137ff.; Vgl. auch Schreiber, Wolfgang (2016). Der neue unsichtbare Krieg? Zum Begriff der »hybriden« Kriegführung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitschrift »Das Parlament«. Jg. 2016. S. 35–36. 11 Birkmann u. a. (2010). State of the Art der Forschung zur Verwundbarkeit Kritische Infrastrukturen am Beispiel Stromausfall/ Strom. Berlin 2010 (= Schriftenreihe Sicherheit Nr. 2); wirksame Strategien der Cybersecurity, im Sinne einer nationalen Sicherheitsaufgabe, gibt es bislang vor allem in Israel und den USA. Forschung, Ausbildung und Anwendungen werden dort als nationale Sicherheitsaufgabe gesehen und durch bzw. mit den Streitkräften koordiniert. Mit dem 2017 begonnenen Aufbau der Zentralen Stelle für Informationstechnik im

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Hinzu kommen technologische Entwicklungen, die sich mehr und mehr zum Game Changer entwickeln können: Hypersonic Weapons, automatisierte und autonome Waffensysteme, Human Performance Enhancement und der völlig unterbelichtete und dramatisch wachsende Sektor Bio-Security. Das Unkalkulierbare und damit Gefährliche dieser Bedrohung liegt im schwer einzuschätzenden Mix der Mittel und Akteure, dem Nebeneinander von konventionellen und verdeckten Kräften und das Ganze gepaart mit einer erschreckend unterentwickelten Sicherheitsvorsorge. Gerade mit Blick auf das hier geschilderte Szenario ist die Idee zum Ausbau Internationaler Polizeikräfte absolut zu begrüßen. Sie darf aber nicht zu der Annahme führen, internationale Polizeikräfte könnten in Zukunft allein die Aufgabe von Streitkräften übernehmen. Gerade die Erfahrungen nach dem Ende des Kalten Krieges haben gezeigt, dass sich in failed states fast immer eine schillernde Gemengelage von Gewaltakteuren etabliert, deren Gewaltskala nach oben offen ist. Um es auf den Punkt zu bringen: Schwer bewaffneten Warlords und professionellen Söldnerarmeen ist mit Polizeikräften allein nicht zu begegnen, es sei denn, man würde diese militarisieren12. Und wenn man eine internationale Polizeitruppe aufrüstete, stellte sich die Frage, warum man dann vorher das Militär abgerüstet hat. Hier gilt es einen »Etikettenschwindel« zu vermeiden, bei dem die Aufgabe des Militärs einfach nur auf die Polizei transferiert werden würde. Im Kern geht es doch um die Frage, wie organisierter bewaffneter Massengewalt begegnet werden kann und wie Gewaltverläufe begrenzt, minimiert und beendet werden können. In diesem Punkt sind die meisten, die sich an Debatten um eine Internationale Polizeiordnung beteiligen, einig – davon bin ich fest überzeugt – und das ist auch der grundlegende Wandel im Vergleich zu früheren Diskussionen. Das zeigt sich auch in einem Wandel sicherheitspolitischen Denkens hierzulande. Gerade die beiden letzten Weißbücher zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr von 2006 und 2016 haben sich vom Paradigma rein nationaler und verengter Sicherheit – aus meiner Sicht – überzeugend verabschiedet. Im Zentrum unserer nationalen sicherheitsstrategischen Überlegungen steht heute der »comprehensive approach«, der vernetzte Ansatz von Sicherheit13. Neben dem ressortgemeinsamen Denken und Handeln ist die internationale Vernetzung zu einem Mantra dieses sicherheitspolitischen Denkens geworden. Die expliziten Hinweise auf die Bedeutung der Vereinten NaSicherheitsbereich (ZITIS) in München beginnt man nun auch in Deutschland, die überfälligen Schritte nachzuholen. 12 Kateri, Carmola (2010). Private Security Contractors and New Wars. New York. 13 »Der vernetzte Ansatz ist zentrale Richtschnur unseres Regierungshandelns«, Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2016, S. 58. Zu den internationalen Gestaltungsfeldern siehe ebd. S. 62–82.

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tionen, der NATO, der EU, der OSZE, die Instrumente des Frame Nation Concept, der Streitkräfteintegration und -verflechtung, sowie die individuellen Partnerschaftsprogramme machen das mehr als deutlich. Dazu gehören auch die dringend angemahnten Schritte im Bereich einer »Sicherheitssektorreform«14. Im Segment der staatlichen Institutionen und Sicherheitsakteure sind Polizei, Militär, Gendarmerie, Nationalgarden und die Nachrichtendienste verortet. Diese Institutionen müssen sich an demokratischen und rechtsstaatlichen Normen orientieren – und dieser Prozess ist eine primär politische Aufgabe: von der Gesetzgebung bis zur parlamentarischen Kontrolle. Dass Polizeikräfte vor diesem Hintergrund eine zentrale Rolle zukommt, ist evident – aber auch, dass die rechtliche Einbindung und Kontrolle aller Institutionen die conditio sine qua non ist.

Drittens Die Frage, ob eine internationale Polizeiordnung realistisch ist, hängt entscheidend davon ab, mit welcher Brille man internationale Politik betrachtet. Aus Sicht des politischen Realismus/ Neorealismus (= Staaten nutzen ihre Macht, um ihre Sicherheit und Souveränität durchzusetzen) führt dieser Schritt sicher nicht zum Erfolg. Durchzusetzen wäre ein »Just Policing« nur durch eine hegemoniale Macht, und das würde den Gedanken einer internationalen, partizipativen Rechtsordnung, die ja die Grundlage einer Internationalen Polizeiordnung wäre, ad absurdum führen. Ein alternativer Zugang, so wird immer wieder argumentiert, könnte über einen liberalen Institutionalismus gelingen. Ungelöst bleibt dabei aber die Frage, wie mit aggressiven, hegemonial auftretenden Staaten umzugehen ist, die weiterhin über militärische Gewaltmittel verfügen – denken wir nur an Russland oder China; oder denken wir an Staaten, die kulturell und aufgrund ihrer historischen Erfahrungen tiefe Gräben trennen, zum Beispiel Indien und Pakistan. Hier fehlt mir die Fantasie, wie man beispielsweise diese Staaten dazu bringen sollte, sich unter dem Dach einer internationalen Staatengemeinschaft an den verbindlichen Regeln für eine internationale Polizei zu beteiligen.

14 komprimiert: Heinemann-Grüder, Andreas (2020). Sicherheitssektorreform. https://www. bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54736/reformen-im-sicherheitss ektor; vgl. auch das Positionspapier des Auswärtigen Amtes von 2019: Ressortgemeinsame Strategie zur Unterstützung der Sicherheitssektorreform (SSR) im Kontext von Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung. https://www.auswaertiges-amt.de/bl ob/2247420/222c695ee476e6ec1eaa350989c08 f 41/190917-sicherheitssektorreform-data. pdf.

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Erfolgversprechender wäre da schon ein konstruktivistischer Weg, bei dem Staaten nicht primär vorgegebenen Interessen folgen, sondern durch gemeinsame Ideen, Werte und Normen geprägt sind. Grundsätzlich gilt das für die Mitglieder der westlichen Staatengemeinschaft, die – cum grano salis – große Schnittmengen bei gemeinsamen Werten aufweisen und dies durch unilaterale Verträge kodifizieren. Wichtig ist bei einem solchen Modell jedoch der Blick auf die äußere Realität – womit wir wieder bei den Peer Opponents sind. Eine Internationale Polizei könnte in einer solchen, regelbasierten Ordnung immerhin als Social Peacekeeper präventiv und deeskalierend bei der Konfliktbearbeitung helfen. Meine eigene Analyse und die daraus abgeleiteten Empfehlungen folgen einer Mischung aus realpolitischem und konstruktivistischem Zugriff, die sich in wenigen Punkten zusammenfassen lässt: – Staaten verfolgen primär Interessen und werden auch auf absehbare Zeit Macht nutzen, um sich durchzusetzen – das ist nicht schön und orientiert sich nicht an meinem christlichen Weltbild, aber es ist eine Faktizität, der wir ins Auge schauen müssen. – Dazu gehört unter anderem, dass die Existenz von Militär in fast allen Staaten nicht verhandelbar ist, weil Streitkräfte zum Selbstbild, dem vielleicht letzten Element nationaler Stärke, Ansehen und Souveränität gehören. Selbst bei unseren engsten Verbündeten sind sie Wesensmerkmal gesellschaftspolitischer Identität. Wenn man weiß, welche Rolle das Militär für das Selbstbild der USA, Großbritanniens, Frankreichs oder Polens spielt, dann lässt allein dies wenig Hoffnung zu, deren Existenz auch nur ansatzweise in Frage zu stellen. Nach meiner Meinung wird man bei unseren engsten Bündnispartnern, mit dem Wunsch einer Transformation des Militärs zur Polizei nur auf Unverständnis stoßen. Dies würde nicht zu einem Mehr an Stabilität und Sicherheit führen, sondern zu einem hohen Maß an Verunsicherung und Instabilität. – Ohne die Möglichkeit der Eskalation der Gewaltmittel wäre eine allein auf sich gestellte Internationale Polizeitruppe schnell von jedem Gegner auszurechnen. In einem offenen, hochintensiven Konflikt brauchen Polizisten mehr als ein verlässliches Backup – und das können auf absehbare Zeit nur robust ausgerüstete Streitkräfte sein, die über ein breites Spektrum an Fähigkeiten verfügen: vom Eigenschutz über Aufklärung, elektronischen Abwehr- und Kampfelementen, bis zu weitreichenden Abstandswaffen mit letaler Wirkung und dies mit der Befähigung im Rahmen von Multi Domain Operations15. – Hinzu kommt der Zustand der Vereinten Nationen (VN). Starke VN wären die conditio sine qua non, um den Weg für andere Sicherheitsmodelle freizuma15 Das Multi Domain Operation Concept umfasst die Dimensionen Land, Luft, Wasser, Cyberund Weltraum.

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chen. Ich kenne allerdings niemand in der sicherheitspolitischen Community, und vor allem niemand, der bei den VN gearbeitet hat, der ernsthaft glaubt, die VN seien reformierbar. So lange allein der Sicherheitsrat in der jetzigen Struktur und mit den Vetomöglichkeiten zweier autoritär verfasster Systeme, nämlich Russland und China, existiert, sind verlässliche Sicherheitsmodelle unter dem Dach der VN nur mit viel Fantasie und noch mehr Optimismus vorstellbar. – Konflikte werden immer komplexer, sie lassen sich angesichts der vielfältigen globalen Vernetzungen kaum noch regional begrenzen und sie werden immer stärker von einer rasant sich entwickelnden Technik bestimmt. Mit einer scharfen Trennung von »innen« und »außen«, »zivil« und »militärisch« wird man keine Antwort in den anzunehmenden Krisen und Konflikten geben können. Wir brauchen deshalb einen multidimensionalen Sicherheitsbegriff. Staaten oder Staatengemeinschaften, die in diesem Umfeld sicherheitspolitisch agieren, können dies nur über vernetzte Ansätze: mit einer kohärenten Strategie und einem vollen »Instrumentenkasten«, der ihnen vielfältige Handlungsoptionen zur Prävention und in Krisen und Konflikten ermöglicht. Das Militär darf in diesem Instrumentenkasten nicht den größten Platz beanspruchen, der sollte – nein der muss! – den zivilen Komponenten gehören: der Diplomatie, der Wirtschaft und den Finanzen, Social Engeneering, Culture and Health, der Entwicklung von Good Governance und Rechtsinstitutionen. Unser Instrumentenkasten ist jedoch in vielfacher Hinsicht defizitär. Die militärischen Instrumente des Westens sind, mit Ausnahme derer der USAmerikaner, zu einem erheblichen Teil veraltet oder stumpf – das ist einer der Gründe, warum wir uns über den tatsächlichen Wert von Abschreckung ernsthaft Gedanken machen sollten. Außerdem sind die zivilen Fächer in diesem Kasten zwar benannt, aber noch viel weniger überzeugend gefüllt. Hier klaffen teilweise unübersehbare Lücken. Und in einem Fach sehe ich gähnende Leere: bei starken, international agierenden Polizeikräften. Genau an dieser Stelle finde ich die Überlegungen zu einer Internationalen Polizeiordnung sehr hilfreich. Wir müssen die Schnittstelle zwischen Militär und Polizei besetzten, und zwar glaubwürdig. Dazu brauchen wir Polizeikräfte, die für internationale Einsätze ausgerüstet und ertüchtigt werden und die vor allem verfügbar sind. Eine zu enge Bindung an die Bundesländer macht hier aufgrund des hohen Abstimmungsbedarfs wenig Sinn. Ich bin ein großer Anhänger des Föderalismus, aber hier wäre er ein gewaltiger Hemmschuh. Vielleicht müsste man über eine Art Gendarmerie nachdenken: robuster ausgerüstet als Länderund Bundespolizeien, flexibler einsetzbar, verlegefähig und zu selbständigem Handeln befähigt, wie es bislang nur das Militär ist. Fremdsprachliche Fähigkeiten und die Schärfung interkultureller Kompetenz kämen hinzu.

»Sicherheit neu denken«

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Verfolgungen von Straftaten auch im Ausland müssen nach dem »Weltrechtsprinzip« möglich sein, also einer Strafverfolgung ohne Grenzen. Nach diesem Prinzip bestehen Verfolgungs-, Anklage- und Bestrafungspflichten der deutschen Justizbehörden und ihrer Hilfsorgane grundsätzlich auch dann, wenn ein Völkerrechtsverbrechen im Ausland begangen worden ist. Die völkerrechtlich legitimierte, aber noch lange nicht hinreichend institutionalisierte universelle Zuständigkeit, zum Beispiel bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen, Genozid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit braucht einen starken Arm, den internationale Polizeikräfte bilden könnten. Zur besseren Bündelung all dieser Kräfte brauchen wir eine Kohäsion der Sicherheitsagenturen. Die aktuellen Diskussionen über einen Nationalen Sicherheitsrat reichen nicht aus. Wir brauchen auch eine Bündelung der Nachrichtendienste, zum Beispiel durch den Aufbau eines Gemeinsamen Spionageabwehrzentrums16: mithin eine Reform aus einem Guss! Schließlich lautet mein Plädoyer nicht, Soldaten durch Polizisten zu ersetzen (das wäre wie gesagt ein Etikettenschwindel), sondern vielmehr zusätzlich für den internationalen Einsatz befähigte Polizeieinheiten aufzustellen. Eine Polizei, die häufig besser als Soldaten in der Lage wäre, in einem gewaltbereiten, kriminellen und in weiten Teilen verdeckt operierenden Umfeld zu agieren. Wir könnten uns dabei von der unsäglichen »2 Prozent Debatte« frei machen, wenn wir nicht in rein militärischen, sondern in multiperspektivischen Sicherheitsstrukturen denken. So umgemünzt ließen sich international einsetzbare Polizeikräfte dort einrechnen. Wer hier investiert, würde einen Wechsel auf die Zukunft einlösen. Eine so gedachte Internationale Polizei könnte man sich in den Einsatzszenarien vorstellen, die im Positionspapier unter Nummer 5.3. genannt sind: Präsenz in Konfliktgebieten, Einsatz zum Schutz vor Menschenrechtsverbrechen, Aufbau und Sicherung von Schutzzonen, Patrouillen, aber nicht nur Kontrollbesuche zum Schutz vor Menschenhandel und Umweltvergehen, sondern auch die Befähigung, dagegen vorzugehen. Vielleicht sollte man über eine »European Gendarmerie Force« nachdenken – die Überlegungen dazu sind zwar nicht neu17, aber es könnte ein pragmatischer Ansatz sein, der auch in der sicherheitspolitischen Community, der Bundeswehr und der Polizei vermutlich auf offenen Ohren stoßen würde. 16 Innovativ abgeleitet und schlüssig begründet wird die Idee eines »Gemeinsamen Spionageabwehrzentrums« in der 2021 im Studiengang »Militärische Führung und Internationale Sicherheit« vorgelegten Master-Thesis von Oliver Schmäl und Peter Wiegel, Die Spionageabwehr der Bundeswehr – Potentiale und Chancen. 17 Bigo, Didier. When Two Become One. Internal and External Securitisation in Europe. In: Kelstrup, Morten/Williams, Michael (Hg.) (2000). International Relations Theory and the Politics of European Integration. Power, Security and Community. London. S. 171–204. Wegner, Michiel de (2009). The Potential of the European Gendarmerie Force. Clingendael 2009.

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Zusammenfassung Die Überlegungen zum Etablieren einer Internationalen Polizei sind grundsätzlich zu begrüßen. Sie versucht die Idee der Gewaltminimierung mit dem Auftrag der Schutzverantwortung in internationaler Perspektive zu verknüpfen. Sie orientiert sich nicht an nationalstaatlichen Interessen, sondern an einem Interessenausgleich, man könnte auch sagen, an »Win-Win-Konzepten« und an einer auf dem internationalen Völkerrecht basierenden Legitimation. Die Umsetzung dieser Idee würde – davon bin ich fest überzeugt – im Instrumentenkasten einer international vernetzten Außen- und Sicherheitspolitik ein großes Plus bedeuten. Oberst i.G. Prof. phil. Dr. Matthias Rogg, Hamburg, ist Historiker mit dem Schwerpunkt Militärgeschichte und lehrt an der Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg.

Traugott Schächtele

Lyrik: Das Fest-Lied vom Frieden (auf die Melodie »In dir ist Freude«)

Es klingt auf Erden: Friede muss werden, Waffen retten nicht die Welt! Zu andrem Denken will Gott mich lenken. Hoffnung neu ins Leben fällt. Gott will ich trauen und danach schauen, worin im Leben, das mir gegeben, neu Halt und Glauben sich finden lässt. Ich will es wagen und mutig sagen, wie ich die Schritte lenk’ hin zur Mitte, zu Korn und Trauben. Gott lädt zum Fest. Es klingt auf Erden: Mehr Recht muss werden, Willkür schadet dieser Welt! Arm sind die einen, statt Lachen Weinen. Reichtum andre oben hält. Üb’ neu das Teilen, versuch zu heilen, was Seelen kränket. Würde neu schenket, wer Menschen zuspricht:

222 Gott macht dich groß! Im großen Reigen, will Gott mir zeigen, lässt sich dem Leben, neu Richtung geben. Der Tanz des Lebens geht längst schon los. Es klingt auf Erden: Freiheit muss werden! Den Despoten dieser Welt mangelt der Segen. Auf ihren Wegen Böses noch die Macht behält. Gott schenkt uns Träume lässt Handlungsräume ganz neu entstehen, und ich kann sehen, der bess’ren Zukunft leuchtendes Band. Als Schwester, Bruder, reiß ich das Ruder in neue Weite, Gott an der Seite! Froh will ich singen im Hoffnungsland!

Traugott Schächtele

Karen Hinrichs

»Sicherheit neu denken« weiterdenken: Von anderen lernen

Unter der Überschrift »Anregungen für weiterführende Dialoge« haben wir schon drei wichtige Statements gehört und werden ein weiteres hören. Mein Beitrag soll möglichst nichts wiederholen oder vorwegnehmen – und doch wird sich eine gewisse Schnittmenge zu der großen Fülle von Impulsen ergeben, die an diesen zwei dichten Tagungstagen eingebracht wurden. Ich werde darum im Folgenden nicht auf das spezielle Thema Internationale Polizei eingehen, sondern konzentriere mich auf drei Gedanken unter der Überschrift: Von anderen lernen und »Sicherheit neu denken« weiterdenken. Ich formuliere diese Anregungen aus meinen eigenen beruflichen Perspektiven als Theologin und Pädagogin sowie als Leiterin des Friedensinstituts der Evangelischen Hochschule Freiburg. Da ich von vielen Seiten gefragt werde, will ich einige Schlaglichter zu dessen Arbeit einfließen lassen.

1)

Aus der Sicht der Theologin: »Sicherheit neu denken« weiterdenken – von anderen lernen

Ich rege an, in den Kirchen sowie in der christlichen Theologie zuerst und immer neu von Jesus aus Nazareth zu lernen – und von unseren anderen Brüdern und Schwestern aus dem Globalen Süden. Für die Weiterentwicklung einer Friedenstheologie und Friedensethik, die nicht eine Theologie von weißen und vielfältig privilegierten Leuten für weiße und privilegierte Leute sein will, ist es sehr hilfreich, an die Quellen zurückzugehen. Und dort eine lange Zeit zu bleiben und nachzudenken. Jesus von Nazareth war – schon so mancher scheint diesen Namen missverstanden zu haben – kein Adeliger, sondern ein Gotteskind, ein Handwerkersohn aus einem kleinen Dorf am Rande der Welt. Er war vermutlich dunkelhäutig und ganz sicher tief verwurzelt im jüdischen Glauben an einen barmherzigen und menschenfreundlichen Gott. Dieser Jesus aus Nazareth war ein Mann aus dem

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Karen Hinrichs

damaligen globalen Süden. Er war umgeben von Menschen in Armut und Not, die unter einer militärischen Besatzungsmacht standen und wenig Hoffnung hatten. Zu diesen kleinen Leuten sagte Jesus: Fürchtet euch nicht! Kehrt um und vertraut auf Gott! Glaubt nicht an den Mammon oder den Kaiser oder andere Götzen. Sondern glaubt an Gottes Liebe und das wachsende Gottesreich. Gottes Geist hat schon begonnen, die Welt zu verändern. Diese Botschaft Jesu ist es, die bis heute heilend, befreiend und friedensstiftend wirkt. Wenn wir heute von unseren Glaubensgeschwistern lernen, die wie Jesu Jüngerschaft nicht zu den weißen privilegierten Leuten gehören, wenn wir die Bibel mit den Augen der anderen lesen, dann verändert sich unser theologisches Denken und unsere Spiritualität. Dann schlagen die Seligpreisungen tiefere Wurzeln in unseren Herzen und Hirnen. Dann wird die Bergpredigt plötzlich eine aktuelle Anrede für Menschen, die in Armut, Angst und Unterdrückung leben und zu gewaltfreiem Widerstand aufgerufen werden. Und das Vaterunser wird zur ungeduldigen Bitte ums tägliche Brot und um Gottes Kommen in diese kaputte Welt. Ich will keine falschen Gegensätze aufbauen und ganz sicher verdankt die Welt den christlichen Kirchen und ihrer missionarischen Arbeit, die meist Bildungsarbeit und soziale Arbeit war, eine ganze Menge Gutes. Aber wir können die Augen nicht davor verschließen, dass die Vertreter des Christentums viel zu oft durch eine entsprechende Lehre bestehende gewaltförmige Machtstrukturen legitimiert haben. Auch durch eine einseitige Interpretation der Bibel wurde ein kolonialistisches, sexistisches, rassistisches, nationalistisches Denken und Handeln befördert. Zeitweise wurde nur an den Rändern der Kirchen auch eine andere Theologie durchgetragen von denen, die hungerten und dürsteten nach Gerechtigkeit. In vielen Kirchen und theologischen Fakultäten, auch in Europa, hat aber, Gott sei Dank, ein neues Nachdenken begonnen. Eine Suche nach einer Theologie und Ethik, die sich der eigenen, sehr zwiespältigen Wirkungsgeschichte stellt und die Mitschuld am Zustand unserer Welt wahrnimmt. Keine rechthaberische Theologie aus den akademischen Elfenbeintürmen des globalen Nordens wird uns helfen. Sondern vielmehr das Hören auf die Glaubensgeschwister, die Theologinnen und Theologen aus dem globalen Süden und von den sogenannten Rändern der Kirchen. Von denen, die am meisten unter den lokalen, regionalen oder globalen Gefährdungen des Lebens und des Friedens zu leiden haben, können wir hier in Europa am besten lernen, was menschliche Sicherheit, ein gutes Leben oder gerechter Frieden aus der jeweiligen Perspektive bedeutet. Und welche unterschiedlichen und gemeinsamen Vorstellungen es gibt, wie wir als Christinnen und Christen heute im Geiste Jesu verantwortungsvoll handeln sollten.

»Sicherheit neu denken« weiterdenken: Von anderen lernen

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Die Befreiungstheologien aus Südamerika, Asien oder Afrika geben wichtige Impulse, die friedenskirchlich geprägte Theologie sowie die feministischen, die queeren, die ökologischen und nicht zuletzt die postkolonialen Theologien. Wer sich dafür interessiert, wird fündig in einer sehr lesenswerten Einführung in die Postkolonialen Theologien vom katholischen Kollegen Prof. Stefan Silber, der in Paderborn lehrt.1 Sein neues Buch hat mir endgültig klargemacht, wie viele Anstöße für eine nicht-kolonialistische, rassismuskritische, feministische und ökologische Weiterentwicklung unserer europäischen Theologie und Verkündigung wir etwa von indigenen Theologien gewinnen könnten.

2)

Aus der Sicht der Friedenspädagogik »Sicherheit neu denken« weiterdenken: von anderen lernen und miteinander lernen

Von den fünf Säulen des Szenarios, dieser Vision für eine andere Sicherheitspolitik, sehe ich das Thema »Resiliente Demokratie stärken« als eine wichtige Herausforderung für die schulische wie außerschulische Bildungsarbeit an. Die Aussagen in »Sicherheit neu denken« dazu sind noch ausbaufähig. Aber das gilt für die gesamte Disziplin der Friedenspädagogik und Friedensbildung, denn sie ist ein vergleichsweise junges Gebiet und versteht sich selbst als ein anwendungsbezogenes Teilgebiet der Friedens- und Konfliktforschung. Friedenspädagogik und Friedensbildung haben viel mit politischer Bildung zu tun, mit Demokratie- und Menschenrechtsbildung, globalem Lernen, differenzsensibler Pädagogik sowie mit der Kompetenzentwicklung in den Bereichen gewaltfreier oder ziviler Konfliktbearbeitung. Das sind – in meiner Perspektive – Bereiche, die allesamt von hoher Bedeutung sind und der Stärkung einer resilienten Demokratie dienen. Die genannten Begriffe sind zwar konzeptionell voneinander zu unterscheiden, aber nicht scharf voneinander zu trennen. So gehen die Begriffe auch in SND munter durcheinander. Das muss uns nicht stören. Denn wichtiger als trennscharfe Begriffsdefinitionen ist, wahrzunehmen, was schon da ist. Und danach zu suchen, wo sich Anknüpfungspunkte ergeben, wo im Bereich der Friedensarbeit und der Friedensbildung Menschen sind, die mit vergleichbaren Anliegen unterwegs sind und miteinander kooperieren. Beispielhaft nenne ich unsere Evangelische Landeskirche in Baden (EKiBa). Hier wird seit Jahrzehnten durch die Arbeitsstelle Frieden in Karlsruhe ein wichtiger Beitrag zur Friedensbildung und Friedensarbeit geleistet. Zwei der Köpfe, die schon lange dabei ist, sind unter uns: Stefan Maaß und sein Vor-

1 Silber, Stefan (2021). Postkoloniale Theologien. Eine Einführung. Tübingen: Narr Francke Attempto.

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Karen Hinrichs

Vorgänger Theodor Ziegler. Ohne euch beide wäre die kirchliche Friedensarbeit in Baden nicht so weit, wie sie heute ist. Die EKiBa unterstützt – über die eigene Friedensbildungsarbeit hinaus – seit zehn Jahren die Servicestelle Friedensbildung bei der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg. Ein weiterer Schritt zur Ergänzung der Aktivitäten und ein Beitrag zur nachhaltigen Verankerung der Friedensbildung war die Einrichtung des Friedensinstituts der Evangelischen Hochschule (EH) Freiburg Anfang 2020, das ich seither gemeinsam mit Prof. Bernd Harbeck-Pingel leite. Die EH ist eine Hochschule für Angewandte Wissenschaften und da passen wir mit unserem Friedensinstitut bestens dazu. Als staatlich anerkannte Hochschule in kirchlicher Trägerschaft steht die EH Menschen aus allen Religionen und Konfessionen offen – auch das können wir nicht oft genug betonen. Ab dem nächsten Sommersemester werden wir an der EH einen bundesweit bisher einzigartigen neuen Masterstudiengang Friedenspädagogik/Peace Education starten, für den ich gern Werbung mache. Näheres unter dem Link2 in der Fußnote! Willkommen sind in diesem dreisemestrigen Master Menschen, die, wann auch immer, in einem verwandten Fach bereits einen Bachelorabschluss gemacht haben. Studieninhalte sind zum Beispiel Friedens- und Menschenrechtspädagogik im 21. Jahrhundert, interkulturelle, interreligiöse, intersektionale und internationale Dimensionen von Friedensbildung und Friedensförderung, Grundlagen und Konzepte ziviler Konfliktbearbeitung und ein Grundkurs in Mediation. Als mögliche Arbeitgeber*innen für die Absolvent*innen des Masterstudiengangs sehen wir Institutionen der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit sowie der entwicklungsbezogenen Zusammenarbeit, zivilgesellschaftliche Initiativen, internationale NGOs, Religionsgemeinschaften, Stiftungen und die öffentliche Verwaltung, die solche gut ausgebildeten Friedensreferent*innen und Konfliktberater*innen brauchen können. Ich bitte Sie und euch, für diesen Masterstudiengang zu werben. Er wird ein Baustein werden, um junge Menschen in einem Bereich zu qualifizieren, für die gesellschaftliche Transformation von großer Bedeutung ist. Auch das jüngste Projekt von »Sicherheit neu denken«, Peace for Future, plant in diese Richtung. Eine Gruppe junger Leute, darunter zwei in Innsbruck ausgebildete Friedensforscherinnen, planen deutschlandweit sogenannte Friedensmentorinnen und Friedensmentoren auszubilden. Gern biete ich an, dass Peace for Future mit dem Friedensinstitut Freiburg kooperiert. Wir können gemeinsam überlegen, wie wir uns gegenseitig unterstützen können, z. B. bei der fachdidaktischen Begleitung und im gegenseitigen Austausch unter Praktiker*innen. 2 www.eh-freiburg.de/friedenspaedagogik.

»Sicherheit neu denken« weiterdenken: Von anderen lernen

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»Sicherheit neu denken« weiterdenken, heißt ja, miteinander und voneinander zu lernen, generationenübergreifend und interdisziplinär. Ich freue mich, dass so ein hohes Interesse der jungen Generation an den großen Zukunftsthemen zu erkennen ist, also an den Themen Frieden, Gerechtigkeit, Klimakrise und gesellschaftliche Transformation. Auch bei den Studierenden aus den seit Jahrzehnten an der EH Freiburg bestehenden Studiengängen der Sozialen Arbeit, der Pädagogik und Diakonie gibt es eine sehr erfreuliche Resonanz auf die Lehrangebote des neuen Friedensinstituts. Wie ein roter Faden ziehen sich die Fragen hindurch: In welcher Welt wollen wir künftig leben? Was hinterlassen wir den nachfolgenden Generationen? Wie lassen sich die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung, die Agenda 2030 umsetzen? Und wie beenden wir den Krieg gegen den Planeten, von dem der UN-Generalsekretär Antonio Guterres gerade sprach? Die Ernsthaftigkeit der Studierenden und die große Bandbreite der Themen, die sie im Selbststudium vertiefen und in Referaten und Hausarbeiten präsentieren, beeindruckt mich sehr. Sie suchen nach neuen Wegen – im Denken und in Theorie und Praxis der sozialen und pädagogischen Professionen. Ein guter Teil der Arbeiten befasst sich mit Beispielen von Friedensarbeit und Friedensbildung außerhalb von Deutschland: z. B. mit Friedensschulen in Mexiko oder Kolumbien, mit Menschenrechts- und Friedensorganisationen in Konfliktregionen oder sogenannten Post-Conflict-Gebieten, mit der humanitären Hilfe aus Europa und deren ambivalenter Wirkung. Die Studierenden recherchieren zu der Arbeit von lokalen Friedensgruppen, von regionalen und internationalen Friedensdiensten und haben zum Teil durch Praktika und Freiwilligendienste im Ausland ganz verschiedenen Friedensakteure vor Ort kennengelernt, von denen hierzulande oft wenig bekannt ist. Meist ist das Fazit der Studierenden: Wir können von diesen Friedensakteuren im Globalen Süden enorm viel lernen für die soziale und pädagogische Arbeit hierzulande, gerade auch für die Stärkung von Konfliktkompetenzen, den Ausbau einer zivilen Konfliktkultur und für die Überwindung von Gewalt, Hass und Rassismus in unserer eigenen Gesellschaft. Manchmal staune ich über die Einsichten, die die Studierenden ihren Kommiliton*innen vermitteln. So schrieb beispielsweise eine Studentin der Sozialen Arbeit aus dem 2. Semester in ihrem Referat – ich fasse zusammen: Es wird höchste Zeit, das Konstrukt Entwicklungsarbeit oder gar »Entwicklungshilfe« zu hinterfragen, die Einteilung der Welt in vermeintlich entwickelte und unterentwickelte Länder aufzugeben und sich damit zu befassen, wer für die extrem ungleiche Verteilung von Ressourcen, für die Ausbeutung und Zerstörung von Lebensräumen, für extrem ungerechte Lebensverhältnisse und instabile politische und gesellschaftliche Lebensbedingungen verantwortlich ist und welche Rolle der Globale Norden dabei jeweils einnimmt.

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Meine Anregung für die Weiterentwicklung von »Sicherheit neu denken« liegt nahe, denn auch das Szenario ist teilweise – und aus durchaus verständlichen Gründen – zu sehr von einem eurozentrischen Blick bestimmt und nutzt einen ungeklärten Begriff von »Entwicklung«. Jedenfalls halte ich eine selbstkritische Überarbeitung des Kapitels »Nachhaltige Entwicklung der EU-Anrainerstaaten« für nötig. Der Leiter der Abteilung Politik von Brot-für-die-Welt, Klaus Seitz, hat unter der Überschrift »Außen und Innen verschränken. Warum Entwicklungspolitik nur als Weltinnenpolitik funktionieren kann.« einen Beitrag in der Zeitschrift »Südlink« geschrieben, zu dessen ausführlicher Lektüre ich anregen möchte3. Ich zitiere nur ein paar Sätze: »Mit der Entwicklungspolitik von gestern werden sich die globalen Herausforderungen von morgen nicht mehr bewältigen lassen. (…) Es führt kein Weg daran vorbei, alle Politikbereiche konsequent an den langfristigen Zielen für eine global nachhaltigen Entwicklung auszurichten. (…) Die Erfahrungen mit CoVid 19 und der Klimakrise mahnen, dass politisches Handeln nicht nur an einem neuen Entwicklungsleitbild ausgerichtet werden, sondern auch einen fundamentalen Perspektivwechsel vollziehen muss. (…) in einer globalisierten Welt muss es heute zudem darum gehen, auch innenpolitische Fragen im weltpolitischen Horizont zu betrachten, weil letztlich alles Handeln in globalen Vernetzungszusammenhängen steht. Alle Politik ist auch Weltinnenpolitik und muss als solche agieren. (…) Weltinnenpolitik im 21. Jahrhundert braucht keine Hilfe als Almosen und Entschuldigung, kein Nachholen falscher Pfadabhängigkeiten. Eine Politik der global nachhaltigen Entwicklung braucht neue Leitbilder für menschliche Entwicklung und transformative Konzepte kosmopolitischer Kooperation auf Augenhöhe«.

3)

Aus der Perspektive eines Friedensinstituts

Die dritte und kürzeste Anregung formuliere ich aus der Perspektive unseres kleinen Instituts mit dem Schwerpunkt Friedens- und Menschenrechtsbildung, das nur eine Stimme ist im Konzert der sonstigen Akteure der Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland, die meist den politikwissenschaftlichen Fakultäten von Universtäten und Hochschulen verbunden sind. In der Vorbereitung für das Akkreditierungsverfahren für unseren künftigen Masterstudiengang haben wir die Landschaft der Studienangebote im Bereich der Friedensund Konfliktforschung in Deutschland näher erkundet. Zwei der acht bisher bestehenden Masterstudiengänge werden von Einrichtungen der Bundeswehr 3 Klaus Seitz, Innen und Außen verschränken. Warum Entwicklungspolitik nur als Weltinnenpolitik funktionieren kann. In: südlink. Das Nord-Süd-Magazin von INKOTA, Nr. 196, Juni 2021, S. 20–21.

»Sicherheit neu denken« weiterdenken: Von anderen lernen

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getragen. Wie schon andere vor mir, möchte ich anregen, die dort und an den anderen universitären und außeruniversitären Einrichtungen der Friedens- und Konfliktforschung vorhandene Expertise zusammen zu bringen, um die Auslandseinsätze der Bundeswehr umfassend zu evaluieren. Das katastrophale Ergebnis des Afghanistan-Einsatzes und das absehbare Scheitern in Mali verlangen nach einer interdisziplinären wissenschaftlichen Auswertung, bei der möglichst diverse Perspektiven – militärische, politische, sozialwissenschaftliche, rechtliche, medien- und kommunikationswissenschaftliche und andere Aspekte – Berücksichtigung finden sollten. Idealerweise sollte eine solche wissenschaftliche Evaluation gemeinsam mit den Friedens- und Konfliktforschungsinstituten der USA, Großbritanniens und der anderen hauptsächlich am »War Against Terrorism« beteiligten Länder geschehen – ob das realisierbar ist, weiß ich nicht. Wenn sich aber wenigstens die deutschen Friedensforschungseinrichtungen hier gemeinsam einbringen würden und sich in ihren je eigenen Perspektive gegenseitig ergänzen würden, wäre das ein großer Gewinn, etwa für weiterführende Diskurse in der interessierten Öffentlichkeit. Es gäbe noch vieles anzumerken, doch wir wollen ja miteinander ins Gespräch kommen. Ich bin begeistert, was sich in der Initiative »Sicherheit neu denken« alles schon entwickelt hat und unterstütze sie gern weiterhin nach Kräften. Danke für die Aufmerksamkeit. Pfarrerin Karen Hinrichs, ist die geschäftsführende Direktorin des Friedensinstituts an der Evangelischen Hochschule Freiburg, zuvor war sie als Oberkirchenrätin Mitglied der badischen Kirchenleitung.

Uta Engelmann

Zum Tagungsende

Sehr geehrte Damen und Herren, drei Tage standen nun die Analyse, die Überlegungen und das Ringen darum im Raum, wie Frieden anders, besser auf dieser Welt umsetzbar ist: mit zivilen Mitteln, ohne militärische Maßnahmen. Wie das ein aussichtsreicher Weg sein kann und welche Beispiele schon für die Umsetzbarkeit und den Erfolg existieren, die übertragbar sein können, das wurde hier erörtert und Chancen, Herausforderungen, Hoffnungen, Arbeitsfelder benannt und herausgeschält. Die Initiative »Sicherheit neu denken« wird diese Impulse weiterbearbeiten, und ein Ziel ist, sie auch den Verantwortlichen in der Regierung in Deutschland noch stärker zugänglich machen, auch den bald neu in Verantwortung Stehenden. Es steht dabei auch auf der Agenda, mit politischen Akteuren ernsthaft und vertieft ins Gespräch darüber zu kommen und die internationalen Verbindungen, die es dafür braucht, weiter zu pflegen. Das hier Erarbeitete wird aber auch in die kirchlichen Kanäle und Gespräche weitergetragen und – nicht nur auf unterschiedlichen landeskirchlichen Ebenen, da auch, aber insbesondere auch auf EKD-Ebene, bald mit einem neuen Friedensbeauftragten, und bei unseren Schwesterkirchen und ökumenischen Partnern. Nächstes Jahr1 ist der Ökumenische Rat der Kirchen zu Gast in Karlsruhe. Die weltweite Pilgerschaft der Gerechtigkeit und des Friedens, die in Busan ausgerufen wurde, wird auch bei den Begegnungen 2022 und der internationalen Arbeit eine zentrale Rolle spielen. Das Motto der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen lautet: Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint.

1 Vom 31. August bis 8. September 2022.

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Uta Engelmann

Unser hier in diesen Tagen diskutierter Weg für den Frieden mit zivilen Mitteln ist ein Baustein im Streben und weltweiten Bemühen: Friede soll um Gottes willen sein! Sehr geehrte Damen und Herren, es ist nun am Ende der Tagung der Zeitpunkt, all jenen Dank zu sagen, die in den letzten Tagen diesen intensiven Austausch über den Frieden unter dem besonderen Blick der Rolle internationaler Polizeiarbeit vorbereitet und ermöglicht haben: Das sind allen voran die Vertreter der Initiative »Sicherheit neu denken« mit der vorbereitenden Fachgruppe, aber auch dem ganzen landeskirchlichen Fachbereich Nachhaltigkeit und Frieden in der Landeskirche an der Evangelischen Akademie. Der Dank gilt insbesondere auch allen, die diese Gespräche mit ihren Impulsen und ihrer Expertise ermöglicht und bereichert haben: als Referentinnen und Referenten, als Gesprächspartnerinnen und –partner, als Beobachterinnen und Beobachtern. Und schließlich sei Ihnen allen Dank gesagt, die Sie dieses Thema hier intensiviert und weitergebracht haben und es mit in Ihre Verantwortungsbereiche mitnehmen und dort voranbringen! Der Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Haus, die Corona-Bedingungen sind besonders auch für das Tagungshaus eine Herausforderung. Sehr geehrte Damen und Herren, am Anfang der Tagung haben wir für den Verlauf der Tagung den Segen Gottes erbeten. Nun am Ende soll auch der Segen stehen, unter den wir all unseren Einsatz und Tun für den Frieden stellen, von dessen Kraft wir uns stärken, von dessen Zusage beflügeln lassen können, um selbst zum Segen zu werden, um zum gerechten Frieden in dieser Welt beizutragen. Der aaronitische Segen, den wir auch in den Gottesdiensten hören, ist vertraut und stark wie kaum ein anderer. Segen und Frieden sind hier aufs Engste verbunden. Gehen wir, gehen Sie die nächsten Schritte in unserem Alltag mit Gottes Segen, gehen wir in seinem Frieden:

Zum Tagungsende

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Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht auf Dich und schenke Dir Frieden! Pfarrerin Arngard Uta Engelmann, Karlsruhe, ist Direktorin der Evangelischen Akademie in Baden.