Die in diesem Band zusammengefassten Aufsätze nehmen wichtige Weichenstellungen der evangelischen Kirche im 19. und 20.
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German Pages 262 [260] Year 2017
Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Jesus Christus und die Kirche
Die Jesberger Konferenz im Jahr 1849
Wilhelminischer Protestantismus
Geistliche Leitung und Einheit der Kirche
Hermann Schafft in den Jahren 1918 bis 1938
Das Jahr 1933 in der Evangelischen Landeskirche in Hessen‐Kassel
Hans von Soden und die „Judenfrage“
Bernhard Heppe (1897–1945)
„Die Stunde der Entscheidung ist da“
„Großdeutschland ruft zum Dienst!“
Auf der Suche nach neuer Ordnung
Was heißt: „… in der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation zu einer Kirche zusammengewachsen“?
Kirchengeschichte im Religionsunterricht
Backmatter
Martin Hein Weichenstellungen der evangelischen Kirche im 19. und 20. Jahrhundert
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Arbeiten zur Kirchengeschichte Begründet von
Karl Holl † und Hans Lietzmann † herausgegeben von
Christian Albrecht und Christoph Markschies Band 109
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Martin Hein
Weichenstellungen der evangelischen Kirche im 19. und 20. Jahrhundert Beiträge zur Kirchengeschichte und Kirchenordnung
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1861-5996 ISBN 978-3-11-020530-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Laufen
Vorwort Der vorliegende Band spiegelt eine nunmehr bald zwei Jahrzehnte andauernde Beschäftigung mit kirchenhistorischen Fragestellungen des 19. und 20. Jahrhunderts wider. Die einzelnen Beiträge verdanken sich unterschiedlichen Anlässen. Gleichwohl mag sich für geneigte Leserin‐ nen und Leser ein innerer Zusammenhang erschließen: Es ist mein Anliegen, von der aktuellen Gegenwart aus zurückzufragen und ge‐ schichtlich bedingte Entwicklungen nachzuzeichnen. Dabei bin ich des Öfteren auf „Weichenstellungen“ gestoßen, deren Folgewirkungen den damaligen Akteuren in ihrer ganzen Tragweite kaum bewusst sein konnten, die aber das Erscheinungsbild der evangelischen Kirche nach‐ haltig geprägt haben. Das betrifft etwa die Überlegungen zum Verhält‐ nis von Staat und Kirche, zur angemessenen Gestalt der evangelischen Kirche nach den Zäsuren der beiden Weltkriege des letzten Jahrhun‐ derts oder die Frage nach den bestimmenden politischen und kulturel‐ len Einflüssen, gegenüber denen sich die Kirche zu verhalten hat. Auch wenn sich manche der hier nochmals publizierten Aufsätze mit der kirchlichen Institutionengeschichte, also mit der Verfassung und Ordnung der evangelischen Kirche, befassen, reicht für mich „Kir‐ chengeschichte“ darüber hinaus: Sie ist Geschichte des Christentums in seiner spezifisch evangelischen Konfessionalität und – was die Aus‐ wahl meiner Beiträge angeht – innerhalb eines bestimmten, nämlich des deutschen Kontextes. Mit anderen Worten: Die evangelische Kir‐ che, wie sie sich bei uns entwickelt hat, ist eingebunden in das Bezie‐ hungssystem der Öffentlichkeit. Sie wird nicht nur davon beeinflusst, sondern sucht dies auch mitzuprägen. Es lassen sich in diesem Band unschwer Begrenzungen entdecken: Sie betreffen zum einen die inhaltliche Schwerpunktsetzung, die vor allem auf der Zeit von 1933 bis 1945 liegt. Hier sind in der Tat entschei‐ dende Weichenstellungen erfolgt, die bis heute nachwirken. Zum ande‐ ren richtet sich der Fokus oft auf ein bestimmtes Kirchengebiet in Deutschland, nämlich den Bereich der heutigen Evangelischen Kirche von Kurhessen‐Waldeck. Das mag in dieser Beschränkung zunächst provinziell anmuten. Ich bin allerdings der Überzeugung, dass gerade die regionale Kirchengeschichtsschreibung allgemeine Entwicklungen exemplarisch aufweisen und anschaulich machen kann und darin eine besondere Bedeutung besitzt.
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Vorwort
Zwei Aufsätze scheinen nicht unmittelbar in die Konzeption dieses Buches zu passen: der erste und der letzte. In „Jesus Christus und die Kirche“ suche ich im Sinn einer Vorverständigung eine reflektierte Grundlage des evangelischen Kirchenbegriffs zu gewinnen, in „Kir‐ chengeschichte im Religionsunterricht“ geht es um die Frage der bil‐ dungstheoretischen Relevanz kirchenhistorischen Wissens. Darüber Rechenschaft abzulegen, wurde für mich zu einer beständigen Heraus‐ forderung, als ich im Sommersemester 1996 an der Universität Kassel im Rahmen der Ausbildung angehender Lehrerinnen und Lehrer einen Lehrauftrag für Kirchengeschichte erhielt, den ich seither regelmäßig wahrzunehmen versuche. Wichtige Anstöße beim Zugang zur historischen Forschung ver‐ danke ich bis heute meinem kirchengeschichtlichen Lehrer in Erlangen, Herrn Landesbischof i. R. Prof. Dr. Gerhard Müller DD. Dazu gehören vor allem Eigenständigkeit im Urteil, Genauigkeit in der Methodik und eine gewisse Zügigkeit in der Erarbeitung. Nicht unerwähnt sei dar‐ über hinaus die Förderung, die ich im „Institut für Evangelische Theo‐ logie“ der Universität Kassel durch seinen damaligen Direktor, Herrn Prof. Dr. Horst Heinemann, erfuhr, der die Anregung zu meiner Habi‐ litation im Jahr 2000 gab und diese maßgeblich auf den Weg brachte. Ohne Mithilfe anderer wäre es nicht möglich gewesen, diesen Band druckfertig zu machen: So danke ich meinem Persönlichen Referenten, Herrn Pfarrer Dr. Frank Hofmann, und meiner Sekretärin, Frau Susan‐ ne Hensel, für ihre große Geduld und Präzision. Herr Dr. Hofmann hat sich auch den Mühen der Registerarbeit unterzogen! Den Herausgebern der „Arbeiten zur Kirchengeschichte“, Herrn Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph Markschies (Berlin) und Herrn Prof. Dr. Christian Albrecht (Erfurt), gilt mein Dank für ihre Bereit‐ schaft, meine gesammelten Beiträge in diese renommierte Reihe aufzu‐ nehmen. Und schließlich sei der Evangelischen Kirche von Kurhessen‐ Waldeck für den Druckkostenzuschuss herzlich gedankt! Kassel, am Epiphaniastag 2009 Martin Hein
Inhaltsverzeichnis
Vorverständigung Jesus Christus und die Kirche [2001] …………………………………………………………………….. 3
Entfaltungen Die Jesberger Konferenz im Jahr 1849. Ein Beitrag zum Verhältnis von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert [2000] …………..…………………………………………………..…… 17 Wilhelminischer Protestantismus. Der Zusammenhang von Politik, Kirche und Theologie an der Wende zum 20. Jahrhundert [2000] .………..……………………………………………………..…... 35
Geistliche Leitung und Einheit der Kirche. Zur Vorgeschichte und Einführung des Bischofsamtes in der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck [1991] …………………………………………………………………… 53
Hermann Schafft in den Jahren 1918 bis 1938 [1997] …………………………………………………………………… 81 Das Jahr 1933 in der Evangelischen Landeskirche in Hessen‐Kassel [1993] ………………………………………………………………....… 95 Hans von Soden und die „Judenfrage“ [1992] ………………………………………………………………..… 111 Bernhard Heppe (1897–1945) [1997] …………………………………………………………..……… 135
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Inhaltsverzeichnis
„Die Stunde der Entscheidung ist da“ – Bekennende Kirche und Schule im Nationalsozialismus [2007] …………………………………………………………..……… „Großdeutschland ruft zum Dienst!“ Die evangelische Kirche und der 2. Weltkrieg [1999] ………………………………………………………………….. Auf der Suche nach neuer Ordnung. Der Weg der evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck in den Jahren 1945–1947 [1990] …………………………………………………………..……… Was heißt: „… in der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation zu einer Kirche zusammengewachsen“? [1990] ………………………………………………………..…………
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Umsetzung Kirchengeschichte im Religionsunterricht [2001] ……………………………………………………..…………… Orte der Erstveröffentlichung ……………………..…..…………… Personenregister …………………………………….…..…………… Ortsregister ………..………………………………...…..……………
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Vorverständigung
Jesus Christus und die Kirche I. Der eigene Ort „Ihrem Ursprung nach verdankt sich die Kirche nicht dem Entschluß der Menschen, die ihr angehören, sondern dem Evangelium von Jesus Christus, das durch die Wortverkündigung und die Feier der Sakra‐ mente bezeugt wird und – durch das Wirken des Heiligen Geistes – Menschen beruft, erleuchtet und versammelt.“1 Mit dieser Grundaus‐ sage beantwortet Wilfried Härle aus dogmatischer Perspektive die Frage nach der Herkunft der Kirche. Es scheint ebenso eine Selbstverständlichkeit wie Notwendigkeit zu sein, dass, wer von der Kirche redet, auch stets in einer bestimmten Weise von Jesus Christus reden muss – und umgekehrt. Denn wo „das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“, ist nach Auskunft von CA 7 die Kirche. Beides, Jesus Christus und Kirche, gehört nach kirchlicher Selbstbe‐ kundung offenbar fraglos zusammen und ist aufs engste miteinander verwoben. Der Konnex von „Jesus Christus und Kirche“ ist fundamen‐ tal! In Frage steht jedoch, ob die dogmatisch als maßgeblich vorausge‐ setzte Beziehung von Jesus Christus und Kirche gleichwohl Freiheit lässt, sie kritisch zu überprüfen. Davon allerdings ist evangelische Theologie überzeugt. Um es pointiert zu sagen: Der christliche Glaube, der sich auf das Evangelium von Jesus Christus zurückführt und in der Kirche Gestalt gewinnt, kann und muss sich Theologie als kritische Selbstreflexion leisten! Vielleicht macht die „Theologiefähigkeit“ gera‐ dezu das Spezifische des Christentums im Unterschied zu anderen Religionen aus! Insofern sollen die folgenden Überlegungen keine bloße Reproduk‐ tion dessen sein, was die Kirche über Jesus Christus und sich selbst lehrt, sondern sie problematisieren bewusst jene eingangs angespro‐ chene Selbstverständlichkeit. Am einfachsten kommt dies dadurch zum Ausdruck, wenn an das Ende der Überschrift ein schlichtes Fragezei‐ chen gesetzt wird: „Jesus Christus und die Kirche?“ Das Verhältnis beider Größen zueinander erscheint dann nicht mehr so bruchlos, wie 1
WILFRIED HÄRLE, Dogmatik, Berlin/New York 1995, 570.
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Jesus Christus und die Kirche
es gemeinhin vorausgesetzt wird. In welchem Sinn ist die Konjunktion „und“ zu deuten?
II. Historische Verunsicherung: Der hermeneutische Zirkel Nicht erst heute stellt sich die Frage, ob zwischen Jesus und der Kirche wirklich jene fast symbiotische Beziehung bestehe, die beide bisweilen nahezu identifiziert. Mehr als einmal ist im Lauf der Christentumsge‐ schichte der Rekurs auf Jesus erfolgt, um – über die Erinnerung an die Anfänge – die jeweils geschichtlich vorfindliche Sozialgestalt der Kir‐ che skeptisch in den Blick zu nehmen. Die mittelalterliche Armutsbewegung, die ihr Ideal an dem besitz‐ losen Wanderprediger Jesus ausrichtete und rigoros die Geld‐ und Machtgier der damaligen Kirche anprangerte, ist nur ein Beispiel unter vielen. Ebenso könnte der Pietismus im 17. und 18. Jahrhundert ge‐ nannt werden, der entschlossen die persönliche Glaubensbeziehung zu Jesus in den Mittelpunkt rückte und sich gegen eine angeblich anämi‐ sche und sklerotische Kirchlichkeit wandte. Und war nicht – wenig mehr als drei Jahrzehnte ist es her! – Jesus selbst der größte Kritiker der Kirche, wenn mit Berufung auf ihn behauptet wurde, diese Institution habe sich den herrschenden Verhältnissen (und damit den Verhältnis‐ sen der Herrschenden) angepasst, statt wie er für Befreiung aus der Unterdrückung oder zumindest aus den Konventionen einzutreten? Es könnte höchst interessant und aufschlussreich sein, eine Darstel‐ lung der Kirchengeschichte unter der Perspektive zu entwerfen, welche Funktion jeweils der Rekurs auf Jesus zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Gruppen oder Bewegungen hatte. Doch immerhin: Bei allen genannten Beispielen stand das Faktum außer Frage, dass es eine Beziehung zwischen Jesus und der Kirche gebe. Der wie auch im‐ mer gedeutete Jesus sollte das Kriterium kirchlichen Lebens und Han‐ delns sein! Noch radikaler ist die Auffassung, zwischen Jesus und der Kirche bestehe überhaupt keine Verbindung; die Konjunktion „und“ sei gera‐ dezu adversativ zu deuten. In diesem Sinn ist oftmals das Diktum des Reformkatholiken Alfred Loisy (allerdings völlig gegen seine ur‐ sprüngliche Intention) gedeutet worden: „Jesus hatte das Reich ange‐ kündigt, und dafür ist die Kirche gekommen.“2 Handelt es sich also bei 2
ALFRED LOISY, Evangelium und Kirche, München 1904, 112f (pointierter in der fran‐ zösischen Originalfassung: ʺJésus annonçait le royaume, et cʹest Église, qui est ve‐ nueʺ; Lʹévangile et lʹéglise, Paris 21903, 155).
II. Historische Verunsicherung: Der hermeneutische Zirkel
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der Kirche um ein grandioses Missverständnis? So würden es heute manche verstehen wollen: Sie können der Gestalt Jesu durchaus etwas abgewinnen, halten aber die Institution Kirche für eine Fehlentwick‐ lung, für überflüssig oder gar schädlich. Wie dem auch sei – all diesen grob skizzierten Positionen haftet ein grundlegendes Problem an, über das man sich nicht einfach hinwegset‐ zen kann: Sie gehen davon aus, es gebe ein Jesusbild, das sich unmittel‐ bar und voraussetzungslos aus den Quellen und unberührt von kirchli‐ cher Vereinnahmung erheben lasse. Das aber ist ein Irrtum! Es ist, hart gesagt, der Irrtum des Fundamentalismus. Die Evangelien wollen be‐ kanntlich keine Jesusbiographie schreiben, und alle Versuche, einen angeblich historischen Jesus vom verkündigten (und verfälschten) Christus der Kirche trennen zu wollen, verkennen die Tatsache, dass wir Jesus nur im Medium der biblischen Tradition, und das heißt: der Überlieferung der Kirche begegnen. Wir „haben“ ihn nicht unabhängig davon! Diese Einsicht bedeutet keineswegs, dass Jesus erst das „Pro‐ dukt“ der Kirche wäre. Es lassen sich mit einiger Sicherheit historisch gesicherte Aspekte seines Lebens und Wirkens ausmachen. Doch die Evangelien, die von Jesus berichten, sind mit einer bestimmten (man könnte sagen: kirchlich‐dogmatischen) Intention verfasst worden. Der Verfasser des Johannesevangeliums legt sie gegen Ende seines Buches offen (Joh 20,30f): „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jün‐ gern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind ge‐ schrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Got‐ tes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“3 Um den Glauben an Jesus Christus geht es also: Wie die Zeug‐ nisse über Jesus Glaubenszeugnisse sind, so wollen sie ihrerseits Glau‐ ben wecken. Sie setzen die Existenz der Kirche voraus, recht pauschal gesprochen: Sie verdanken sich ihr. Aus diesem hermeneutischen Zir‐ kel gibt es ehrlicherweise keinen Ausweg. Deshalb geht es tatsächlich nicht an, den „irdischen Jesus“ unbe‐ fragt zum Kriterium für Botschaft und Handeln der Kirche zu nehmen. Wir begegnen Jesus nur „vermittelt“. Dies muss freilich nicht bedeuten, auf die Rückfrage nach Jesus und die damit verbundene kirchliche Selbstkritik verzichten zu sollen. Im Gegenteil! Doch ist, um vor fundamentalistischen Reduktionen gefeit zu sein, die geschilderte erkenntnistheoretische Schwierigkeit ernst zu nehmen. Geschieht dies, kann in einer sehr wohl überzeugenden Weise der Jesus des christlichen Glaubens als orientierendes „Regulativ“ ge‐ 3
Vgl. die von ähnlicher Intention bestimmte methodische Rechenschaftslegung zu Beginn des Lukasevangeliums (Lk 1,1‐4).
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Jesus Christus und die Kirche
genüber allen geschichtlichen Ausprägungen der Kirche geltend ge‐ macht werden. Damit wird kein Abschied von einer christozentrischen Ausrichtung eingeläutet, wie sie etwa die 1. These der Barmer Theolo‐ gischen Erklärung vorgibt: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Es ist nur gesagt, dass dies zu erheben unter dem Gesichtspunkt intel‐ lektueller Wahrhaftigkeit sich nicht so einfach darstellt, wie es klingt! Mit einer gewissen Ironie wird man konstatieren müssen: Die his‐ torisch begründete Einsicht, dass die Botschaft von Jesus kirchlich ver‐ mittelt ist, wirkt ihrerseits kirchlich irritierend.
III. Theologische Vergewisserung: Kirche als Gemeinschaft Jesu Christi Bei diesen Verlegenheiten muss man allerdings nicht verharren. Auf die Destruktion eines allzu flächigen Bibelverständnisses und daraus abgeleiteter Jesusvorstellungen kann die Konstruktion einer differen‐ zierten Beziehung zwischen Jesus und der Kirche folgen. Vor diese Herausforderung sahen sich letztlich die neutestamentlichen Schriften selbst gestellt. Außer Frage steht, dass Jesus die Kirche weder gegründet noch zielstrebig vorbereitet hat4. Er war kein neuer Religionsstifter! Die Evangelien, die allesamt in einer Zeit entstanden sind, in der es längst eigenständige christliche Gemeinden gab, legen keinerlei Wert darauf, Jesus dieses Etikett anzuheften. Vielmehr stellen sie ihn mit dem Be‐ kenntnis, er sei der Christus, also der verheißene Messias, hinein in die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Und selbst Paulus, den man bisweilen als den eigentlichen Begründer des Christentums ansehen wollte, hebt diesen Zusammenhang nie auf: Der Gott Israels ist der Vater Jesu Christi, lautet das frühchristliche Bekenntnis. Trotzdem hat sich die Kirche als eine eigenständige Bewegung aus dem Judentum heraus entwickelt und schließlich davon emanzipiert. Historisch gese‐ hen (das ist eine fast banale Aussage) ist die Kirche – auf welche Weise auch immer! – Folge des Auftretens und der Verkündigung Jesu. Auf ihn beruft sie sich, seine Worte und Taten überliefert sie. Noch einmal wird der Zirkel deutlich: War anfänglich zu betonen, dass sich die Botschaft von Jesus der Kirche verdankt, so gilt umge‐ 4
Vgl. auch WILFRIED HÄRLE, Art. Kirche VII. Dogmatisch, in: Theologische Realenzy‐ klopädie 18 (1989), 277‐317, hier 281.
Kirche als Gemeinschaft Jesu Christi
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kehrt: Die Kirche verdankt sich der Botschaft von Jesus. Das hat sich – rein geschichtlich betrachtet – so ergeben. Die Frage ist, ob mit innerer Notwendigkeit und zu Recht! Gewiss ist die Aussage, die Kirche verdanke sich der Botschaft von Jesus, eine sehr verkürzende Redeweise. Genauer müsste es heißen, um dem Überlieferungsprozess gerecht zu werden: Sie verdankt sich der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus. Ohne die Predigt, die Jesus Christus als entscheidendes Heilsereignis Gottes bezeugt, gäbe es keine Kirche. Denn die Kirche ist die Gemeinschaft aller, die dieser Predigt Glauben schenken und für die sie darum Evangelium ist. Dadurch wird sie Gemeinschaft Jesu Christi. Entscheidend ist dabei, dass das Evangelium als Heilsbotschaft konstituiert wird durch den Rückbezug auf eine geschichtliche Person. Wäre es anders, hätten die Evangelien nicht geschrieben werden müs‐ sen. Sie erfinden nicht nachträglich – von einem überzeitlichen Chris‐ tusmythos aus – den Menschen Jesus. Die damit verbundenen Schwie‐ rigkeiten hätten sie sich ersparen können! Sondern sie verbinden die Erfahrung des gegenwärtig wirkenden Herrn der Kirche mit konkreter geschichtlicher Erinnerung. Darin liegt der Sinn der sogenannten „Ge‐ meindebildungen“ innerhalb der Evangelienberichte: Verhältnisse, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine spätere Epoche widerspiegeln, wer‐ den bewusst in die Zeit Jesu zurückverlegt, um die Kontinuität sicher‐ zustellen. Der Bezug auf das irdische Wirken Jesu erhält für die frühe Christenheit legitimatorischen Charakter! Mit dem in der historischen Forschung oftmals angewandten Kriterium „echt“ oder „unecht“ kommt man nicht weiter, wo die Übergänge bewusst fließend gehalten sind. Die Ostererfahrung der Jüngerinnen und Jünger bildet dafür die Voraussetzung: Sie glauben an den Auferstandenen. Der aber ist kein anderer als der Irdische – nur eben in einer veränderten Seinsweise. Die Evangelien suchen dem in der ihnen eigenen Vorstellungsweise Rech‐ nung zu tragen: sei es bei der Begegnung mit den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24,13–35), mit Maria von Magdala (Joh 20,11–18), mit Thomas (Joh 20,24–31) oder am See Tiberias (Joh 21,1–14) – immer geht es um die Wahrung der Identität des auferstandenen mit dem irdischen Jesus. Die Jüngerinnen und Jünger erkennen ihn jeweils in dem Augenblick, da er sie an sein Leben erinnert: Er nimmt in Em‐ maus das Brot, dankt, bricht es und reicht es ihnen, er spricht Maria an, zeigt Thomas die Wundmale, lädt am See die Jünger zum Mahl ein. Allerdings gilt andererseits genauso: Der christliche Auferste‐ hungsglaube geht davon aus, dass Jesus nun geschichtlich entgrenzt ist. Er wird den Bedingungen menschlicher Existenz (und das heißt vor
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Jesus Christus und die Kirche
allem: dem Tod) entnommen. „Jenseits“ der Konstitutiva von Zeit und Raum ist seine Gegenwart nun gleichzeitig und überall erfahrbar. In dieser Glaubenserkenntnis liegt wohl der Grund, dass manche neu‐ testamentlichen Schriften nicht nachösterliche Erfahrungen in die Le‐ benszeit Jesu zurückverlegen, sondern sich statt dessen nur selten auf sein irdisches Leben zurückbeziehen. Am augenfälligsten ist dies bei Paulus der Fall: Abgesehen von wenigen Reminiszenzen (v. a. die Abendmahlsparadosis 1 Kor 11,23–25) scheint der geschichtliche Jesus bei ihm kaum eine Rolle zu spielen. Und Rudolf Bultmann glaubte dies in einer eigenwilligen Interpretation von 2 Kor 5,16 („und auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch [kata sarka], so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr“) zum paulinischen Prinzip erheben zu müssen5. Aber auch Paulus negiert den Zusammenhang keineswegs, sodass ihm sein Christus zur reinen Christusillusion geriete. An einem historischen Datum ist er geradezu wie kaum ein anderer interessiert: an Kreuzigung und Tod Jesu (besonders deutlich in der Ergänzung des vorpaulinischen Hymnus Phil 2,8). Dies bildet für ihn den Dreh‐ und Angelpunkt seiner Predigt von Versöhnung und Erlösung durch Chris‐ tus. Anders gesagt: Ohne die Anbindung an dieses Ereignis stünde sein Evangelium vom universalen Heil in Jesus Christus in der Gefahr, zu einer Schimäre zu werden. Was tragen diese Überlegungen für die angestrebte Vergewisse‐ rung aus? Sie zeigen, dass der Bezug der kirchlichen Verkündigung (und damit der Kirche!) auf Jesus Christus nicht nur in einem umfas‐ senden Sinn fundamental ist, sondern dass in diesen Bezug der Rekurs auf das irdische Leben Jesu elementar und unaufgebbar hineingehört. Wie aber schlägt sich diese Einsicht im Verständnis der Kirche als „Ge‐ meinschaft Jesu Christi“ nieder? Drei Gesichtspunkte sollen die Ausrichtung der Kirche auf Jesus Christus, die schon in seinem irdischen Wirken angelegt ist, aber dar‐ über hinausführt, verdeutlichen und ausführen. Orientierend ist dabei ein Verständnis der Kirche als Glaubensgemeinschaft, Lebensgemein‐ schaft und eschatologischer Gemeinschaft. 1. Glaubensgemeinschaft: Jesus beruft während seiner Wirksamkeit in Galiläa Jüngerinnen und Jüngern. Welches ist das verbindende Kenn‐ zeichen dieser Gemeinschaft? Es kommt m. E. am deutlichsten in der Erzählung vom Bekenntnis des Petrus zum Ausdruck (Mt 16,13–17): Auf die Frage, was die Leute über Jesus denken und wie sich dazu die Auffassung der Jünger verhalte, antwortet Petrus: „Du bist Christus, 5
Vgl. RUDOLF BULTMANN, Der zweite Brief an die Korinther, hg . v. ERICH DINKLER, Göttingen 1976, 155‐158 (KEK Sonderbd.).
Kirche als Gemeinschaft Jesu Christi
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des lebendigen Gottes Sohn!“ Präzise genommen handelt es sich bei der Jüngergemeinschaft um eine messianische Gruppierung im dama‐ ligen Judentum, die in Jesus die Verheißung des kommenden Messias erfüllt sieht. Das macht ihren Glauben aus, und deshalb lautet das Be‐ kenntnis folgerichtig: Du bist Christus! Dieses Bekenntnis wird durch die Ostererfahrung trotz aller einsetzenden Universalisierung nicht aufgegeben. Es wird vielmehr zum Charakteristikum der sich entwi‐ ckelnden Kirche als Glaubensgemeinschaft an Jesus Christus. Act 11,26 bewahrt als Gedächtnis, dass in Antiochia die Jünger zum ersten Mal „Christen“ genannt wurden. Diese Bezeichnung setzte sich durch und wurde schließlich zur Religionsbezeichnung insgesamt. Oft wird über‐ sehen, dass schon der Name „Jesus Christus“ ein Bekenntnisakt ist, der die Christen nicht nur grundlegend mit Jesus, sondern zugleich mit dem Gott Israels und den prophetischen Verheißungen verbindet, de‐ nen sich Jesus zutiefst verpflichtet wusste. Der nachösterliche Glaube an das Heil der Welt in Jesus Christus löst sich also nicht von der Ge‐ schichtlichkeit, sondern gründet darin! Das Medium, durch das sich dieser Glaube vermittelt, wird die Verkündigung. 2. Lebensgemeinschaft: Der Ruf Jesu in die Nachfolge verändert die Existenzweise der Jüngerinnen und Jünger vollkommen. Sie begeben sich aus weitgehend gesicherten Verhältnissen auf ein Wanderleben mit Jesus. Wieder ist es nach der Überlieferung der Evangelien Petrus, der die Folgen dieser Lebensentscheidung auf den Punkt bringt: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt“ (Mk 10,28)6. Jesus antwortet darauf, dass dem Verlassen der hundertfache Gewinn – und das ewige Leben obendrein – entspreche. Die Lebensgemeinschaft mit ihm stiftet eine neue Identität jenseits der hergebrachten Beziehungen zu „Haus oder Brüder(n) oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker(n)“ (Mk 10,29). Der nachösterliche Glaube knüpft grundlegend an diese Einsicht an: Die Kirche wird zur Lebensgemein‐ schaft mit dem auferstandenen Christus. Die zu ihr gehören, erhalten eine neue Identität. Sie sind, wie es Paulus ausdrückt, „neue Kreatur“ (2 Kor 5,17). Und die Folge davon ist (in seinen Worten): „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Daher ist es nur naheliegend, dass die Gemeinschaft derer, die aus Jesus Christus leben, der „Leib Christi“ (1 Kor 12,12–26) genannt wird, womit eine der wirkmächtigsten Bestimmungen der Kirche überhaupt zum Ausdruck kommt. Der Akt, unter dem sich dieser Identitätswandel in die neue Gemeinschaft hinein vollzieht, ist die Taufe. 6
Zur Problematisierung des Begriffs „Nachfolge“ im Kontext gegenwärtiger Lebens‐ wirklichkeit vgl. MARTIN HEIN, ‚Was bedeutet für mich Nachfolge?’, in: Quatember 64 (2000), 204.
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Jesus Christus und die Kirche
3. Eschatologische Gemeinschaft: Inhalt des Wirkens Jesu ist die Ver‐ kündigung der Gottesherrschaft – nicht nur in Worten, sondern auch durch machtvolle Zeichen. Der engere Zwölferkreis bildet das neue Israel der Heilszeit ab. So gewiss Jesus davon ausgeht, dass in ihm selbst das „Reich Gottes“ schon gegenwärtig sei (Lk 17,21), steht der vollkommene Anbruch der Gottesherrschaft noch aus. Die eschatologi‐ sche Spannung von „schon jetzt“ und „noch nicht“ bestimmt bereits die Nachfolgegemeinschaft des irdischen Jesus. Die Erfahrung von Ostern hebt diese Spannung keineswegs auf. Im Gegenteil, sie verstärkt sie insofern, als der entstehenden christlichen Kirche der direkte Um‐ gang mit Jesus nun verwehrt bleibt. Sie „hat“ – unter dem Gesichts‐ punkt der Unmittelbarkeit betrachtet – viel weniger, als die Jüngerin‐ nen und Jünger vor Ostern hatten. Wie sich unter diesen nach‐ österlichen Bedingungen Resignation breit machen konnte, schildert die Geschichte der Emmausjünger anschaulich. Umso wichtiger war es, sich des Ursprungs zu versichern und die Hoffnung auf die Vollen‐ dung – und das heißt jetzt: auf die Parusie Christi – lebendig zu halten. Nirgendwo aber wird diese Spannung symbolisch stärker vermittelt als in der sich stets wiederholenden Feier des Abendmahls (I Kor 11,23–26): Das Abendmahl bindet die Kirche nicht nur an den irdischen Jesus („zu meinem Gedächtnis“) zurück, sondern richtet die Erwartung auf seine universale Wiederkunft („bis er kommt“). Nicht ganz zufällig führt diese dreifache Bestimmung der Kirche als „Gemeinschaft Jesu Christi“ zu den Grundäußerungen kirchlichen Lebens: zu Verkündigung, Taufe und Abendmahl. Der Ort, wo sich Christen der Gemeinschaft mit Jesus Christus und damit zugleich als Gemeinschaft Jesu Christi vergewissern, ist der Gottesdienst. Hier wer‐ den wir der Beziehung zu Christus inne. Jeder Gottesdienst ist darum vom inneren Ansatz tatsächlich das Ereignis, das beide, „Jesus Christus und die Kirche“, aufs engste miteinander verbindet. Hier bewährt sich und lässt sich unmittelbar erleben, was auf der Meta–Ebene nur müh‐ sam entfaltet werden kann. Aber Theologie will solche Erfahrung ja nicht ersetzen, sondern im Gesamtzusammenhang des christlichen Glaubens bedenken.
IV. Praktische Konsequenzen: Orientierung an Jesus Ist die christliche Kirche als „Gemeinschaft Jesu Christi“ in der geschil‐ derten Weise inhaltlich bestimmt, bedeutet dies hinsichtlich der ge‐ schichtlich realisierten Gestaltungs‐ und Sozialformen eine große Plura‐ lität. Je nach situativem Kontext kann sich die Kirche sehr unterschied‐
IV. Praktische Konsequenzen: Orientierung an Jesus
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lich darstellen. Davon war auch die Reformation überzeugt. CA 7 geht davon aus, es sei „nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zere‐ monien eingehalten werden.“ Und was für die liturgischen Ausprä‐ gungen gilt, trifft prinzipiell auch auf die strukturellen zu. Was ist damit gesagt? Dass es ein fundamentalistisches Missver‐ ständnis darstellt, wollte man etwa die Gestalt der beiden in Deutsch‐ land bestehenden großen Volkskirchen unmittelbar zur Wanderge‐ meinschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu vor zwei Jahrtausenden in Beziehung setzen und von da aus die gegenwärtigen Verhältnisse kriti‐ sieren. Sowohl historisch wie theologisch gesehen wäre dies unsach‐ gemäß! Gleichwohl ist mit dem Hinweis auf die Pluralität nicht alles sank‐ tioniert und der Beliebigkeit anheimgestellt, nur weil es sich faktisch entwickelt hat. Jede Kirche, gleich welcher Sozialgestalt (ob Volkskir‐ che, Nationalkirche, Freikirche oder wie auch immer), wird nicht nur gut daran tun, sich zu vergewissern, dass in ihr „Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt“, und „mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung (!)“ zu bezeu‐ gen, „dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möch‐ te“ (3. These der Barmer Theologischen Erklärung). Sie wird auch zu ihrem eigenen Nutzen den Rekurs auf den uns im Medium der bibli‐ schen Überlieferung begegnenden Jesus vollziehen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll dies an vier Gesichtspunk‐ ten verdeutlicht werden, bei denen aus meiner Sicht die Orientierung an Jesus unverzichtbar ist und wir als Christen und als Kirche von ihm zu lernen haben: 1. Jesus lebte ein unbedingtes Vertrauen zu Gott. Insofern ist er nicht nur Grund, sondern auch Vorbild unseres Glaubens. In einer Zeit, in der die Kirchen in Deutschland ihre materielle Subsistenz schwinden sehen (obwohl sie immer noch zu den reichsten der Welt zählen!), kann dies daran erinnern, dass sich die Kirche nicht aus sich selbst begrün‐ det, sondern in allem von Gott abhängt. Menschlich gesehen werden alle Bemühungen um den Erhalt der Kirche vergeblich sein, sofern dieses bedingungslose Vertrauen auf Gott fehlt. Es könnte auch so aus‐ gedrückt werden: Eine Kirche, der der Glaube abhanden kommt, gibt sich auf, mag sie noch so viele äußere Stützen besitzen. Umgekehrt aber gilt, dass eine Kirche, in der das Vertrauen auf Gott lebendig ist, Gelas‐ senheit gewinnt und Freiheit erfährt. 2. Jesus wusste sich in die Verheißungsgeschichte Israels gestellt. Er erinnert die Kirche an ihre Wurzeln. Im Lauf der Christentumsge‐
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Jesus Christus und die Kirche
schichte ist die Erinnerung allzu oft verschüttet, ja bewusst ausgelöscht worden – mit bitteren Folgen für Gottes auserwähltes Volk, aber auch zum Schaden des christlichen Glaubens selbst. Erst in den letzten Jahr‐ zehnten versuchen Christen neu, das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus in Beziehung zu setzen zum jüdischen Glauben. Der Dialog mit jüdischen Gesprächspartnerinnen und ‐partnern ist, nicht zuletzt aufgrund unserer deutschen Geschichte, alles andere als unbelastet. Und er ist, will er ehrlich sein, mühsam – um des gebotenen Respekts gegenüber den Unterschieden willen. Aber er ist notwendig und könn‐ te in diesem Jahrhundert zum Testfall dafür werden, wie die Kirche Identität und Toleranz im Umgang mit anderen Glaubensweisen gel‐ tend macht. 3. Jesus behielt sein Leben nicht für sich selbst. Nach dem Zeugnis aller Evangelien war für ihn radikale Hingabe bestimmend: dienen, nicht herrschen (Mt 20,25–28); verlieren, um zu gewinnen (Mt 10,39). Diese Umwertung herkömmlicher Maßstäbe hat die Kirche mehr als einmal vergessen, mochte sie noch so sehr von „Dienst“ reden. In der Nähe von Macht und Herrschaft ließ es sich gut einrichten. Die Kirche droht dann zum Selbstzweck zu werden. Immer wieder wird darum von dem Stichwort der „Hingabe“ eine heilsame Beunruhigung ausge‐ hen, dass die Kirche nicht selbstgenügsam und selbstbezogen bleibt, sondern aus sich herausgeht und eindeutig Stellung bezieht: für den Schutz der Schwachen, für Menschlichkeit, für Nächstenliebe – und das ohne Furcht, sich zu verlieren. In diesem Sinn ist Bonhoeffers Skizze aus dem Jahr 1944 zu deuten, in der er das später vielbeachtete Diktum formuliert, die Kirche sei „nur Kirche, wenn sie für andere da ist“7. Im Grunde, mögen manche denken, wird damit eine Platitüde ausgesagt. Aber dass dieses Wort in den Jahren nach 1945 häufig kolportiert wur‐ de, zeigt doch nur, wie wenig selbstverständlich diese eigentliche Selbstverständlichkeit war! 4. Jesus predigte das Reich Gottes. Noch einmal Alfred Loisy! Dass die Kirche kam, war keine Fehlentwicklung oder ein Missverständnis, obgleich man aus rein historisch‐wissenschaftlicher Perspektive auch nicht von Stringenz sprechen sollte. Dies verbietet die Unverrechenbar‐ keit des Osterglaubens. Aber Loisys Satz behält darin seine Wahrheit, dass die Kirche nicht das Reich Gottes ist. Es wird unter den Bedingun‐ gen unserer Welt nur fragmentarisch Wirklichkeit. Die letzte Erfüllung der Hoffnung Jesu auf das Kommen der Gottesherrschaft steht weiter aus. Damit wird deutlich, dass sich die Kirche nicht zu wichtig nehmen 7
DIETRICH BONHOEFFER, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. EBERHARD BETHGE, München / Hamburg 21965, 193; vgl. dazu die präzisierenden Bemerkungen bei WILFRIED HÄRLE, Dogmatik, 577f mit Anm. 101.
IV. Praktische Konsequenzen: Orientierung an Jesus
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sollte. Sie ist nur temporär, und seien inzwischen zwei Jahrtausende vergangen. Die Botschaft von der Gottesherrschaft, die in der Kirche wach gehalten wird, bedeutet darum stets implizit oder explizit die Selbstrelativierung der Kirche. In der vollendeten Gottesherrschaft erübrigt sie sich. Dann wird sich Christus zeigen, wie es Paulus sagt: unvermittelt und vollkommen erkennbar (1 Kor 13,12). Solange dies aber noch nicht eingetreten ist, bleibt das Thema „Je‐ sus Christus und die Kirche“ prinzipiell unabgeschlossen und nach vorne hin offen.
Entfaltungen
Die Jesberger Konferenz im Jahr 1849 Ein Beitrag zum Verhältnis von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert I. Das Ereignis Vor 150 Jahren, am 14. Februar 1849, trat in Jesberg die „Allgemeine Konferenz von Mitgliedern und Freunden der hessischen Kirche“ zu‐ sammen. Der Aufruf dazu erschien anderthalb Wochen zuvor im „Hes‐ sischen Volksfreund“ und richtete sich an „alle diejenigen, welche auf dem Grund des Bekenntnisses der evangelischen Kirche stehen“1. Es war nicht die erste Zusammenkunft dieser Art und mit dieser Zielset‐ zung. Der Kreis derer, die durch die Einladung angesprochen wurden, hatte sich zuvor schon einmal am 19. Oktober 1848 in Kassel getroffen, um eingehend über den Bekenntnisstand und die Verfassung der kur‐ hessischen Kirche zu beraten. Vier Monate später schien es dringlich, die Erörterungen fortzusetzen und auf den entscheidenden Punkt hin zu konzentrieren. Wie es in der Ausschreibung zum 14. Februar hieß, sollte sich die Versammlung mit einem einzigen Verhandlungsgegenstand beschäfti‐ gen, nämlich mit der „Beratung über das künftige Verhältnis der evan‐ gelischen Kirche in Kurhessen zum kurhessischen Staate“2. So hatte es der damalige Marburger Gymnasialdirektor, spätere Ministerialrefe‐ rent und Universitätsprofessor August Vilmar vorgeschlagen, der einer der maßgeblichen Initiatoren der Konferenz und zugleich einer der einflussreichsten Theologen seiner Zeit war. Um eine Grundsatzfrage sollte es gehen, die für das Verständnis der damaligen evangelischen Kirche von wesentlicher Bedeutung war und bis heute nichts an Aktua‐ lität eingebüßt hat. Ursprünglich hatte man beabsichtigt, die Zusammenkunft in Hom‐ berg/Efze stattfinden zu lassen, entschied sich dann aber für eine Ver‐ 1 2
Zit. nach: WILHELM HOPF, August Vilmar. Ein Lebens‐ und Zeitbild, 2 Bde., Marburg 1913, hier Bd. 2, 63. Ebd., 62.
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Die Jesberger Konferenz im Jahr 1849
legung nach Jesberg. Grund dafür war die verkehrsgünstige Lage des Ortes an der Poststraße zwischen Kassel und Marburg. Aus beiden Städten erwartete man etliche Teilnehmer. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass Jesberg zumindest in die hessische Kirchengeschichte eingegangen ist und sich mit seinem Namen ein nicht unbedeutender Meilenstein auf dem Weg zu einer sachgemäßen Klärung und Bestim‐ mung des Verhältnisses von Kirche und Staat verbindet. Das Echo auf die Einberufung der Konferenz war überraschend groß. 87 Geistliche reisten an, darunter allein 60 Pfarrer aus Kurhessen. Außerdem nahmen 50 bis 60 Nicht‐Geistliche teil. Um 9 Uhr begannen die Beratungen „im Saale des Herrn Knieling“, wie es in der Einladung stand3. Sie nahmen den ganzen Tag in Anspruch und endeten in der Verabschiedung einer ursprünglich vier Punkte umfassenden Resoluti‐ on4, die mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Gleichzei‐ tig erging der Auftrag, ein kleinerer Ausschuss solle umgehend eine Denkschrift erarbeiten, die das Ergebnis der Jesberger Konferenz zu‐ sammenfasse und es rechtskundig untermauere. Sofort wurde dieser Beschluss in die Tat umgesetzt: Noch im glei‐ chen Monat konnte die Denkschrift fertig gestellt und den unmittelba‐ ren Adressaten ausgehändigt werden. Bereits im März erfolgte der Versand als Druck an sämtliche kurhessischen Pfarrer und Presbyte‐ rien. Der Titel dieser Schrift, die immerhin zwanzig Seiten umfasste, lautete in der Sprache der Zeit: „Allerunterthänigstes Memorandum, die künftige Ausübung der Kirchengewalt in der evangelischen Kirche Kurhessens betreffend. Namens und im Auftrage der am 14. Februar 1849 zu Jesberg versammelten 2ten allgemeinen Conferenz von Mit‐ gliedern und Freunden der Hessischen Kirche dem allerdurchlauch‐ tigsten Landesherrn, dem Kurfürstlichen Ministerium des Innern und der hohen Ständeversammlung überreicht. Cassel, 1849.“5 Unterschrie‐ ben war das Memorandum von sieben Personen des kirchlichen Le‐ bens, unter denen jene August Vilmars die ebenso bemerkenswerteste wie prägendste war. 3
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Die Angabe „vermutlich in der Kirche“ bei BERND D. W. BÖTTNER, Kirche im Wandel der Zeit. 750 Jahre Jesberg – 750 Jahre Kirche in Jesberg, 1991, 28, ist entsprechend zu ändern. Abgedr. bei HOPF, Vilmar 2, 71 (s. Anm. 1). Der Wortlaut des Memorandums ist vollständig wiedergegeben bei WILHELM WIB‐ BELING, Um die Freiheit des geistlichen Kirchenregiments. Die Bedeutung der Jes‐ berger Konferenz und des Alleruntertänigsten Memorandums von 1849, in: Aus Theologie und Kirche. Beiträge kurhessischer Pfarrer als Festgabe zum 60. Ge‐ burtstag von Professor D. Hans Freiherr von Soden, München 1941, 107‐148, hier 107‐126 (Beiträge zur Evangelischen Theologie 6).
II. Die Revolution 1848/49
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Dem Inhalt nach gipfelten die Jesberger Konferenz und die nach‐ folgende Denkschrift in der Forderung, das landesherrliche Kirchenre‐ giment, das in den evangelischen Territorien seit dreihundert Jahren die enge Verknüpfung zwischen Staat und Kirche zum Ausdruck ge‐ bracht hatte, ersatzlos aus der kurhessischen Verfassung zu streichen und die Leitung der Kirche an diese selbst zurückzugeben. Solch ein Ansinnen musste zwangsläufig das Ende des bisherigen Staatskirchen‐ tums bedeuten. Wie kam es zu dieser damals überaus revolutionär klingenden For‐ derung, die sich seither mit dem Namen Jesberg verbindet? Diese Frage lenkt den Blick auf die Vorgeschichte zurück, die das Ereignis der Jes‐ berger Konferenz vor 150 Jahren verstehen lehrt.
II. Die Revolution 1848/49 Die bürgerliche Revolution des Jahres 1848 stellt in der deutschen Ge‐ schichte einen markanten Einschnitt dar, auch wenn ihre unmittelbaren Auswirkungen begrenzt waren und die politische Restauration seit 1850 wieder die Oberhand gewann. Es ist hier nicht der Ort, im Einzel‐ nen auf die Entwicklungen einzugehen, die zur 48er‐Revolution führ‐ ten. Sie reichen zum Teil weiter zurück und erklären sich aus einem Bündel politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ursachen. Zusammen‐ fassend lässt sich sagen: Ermutigt durch den republikanischen Sieg der Februarrevolution 1848 in Paris formierte sich auch in den deutschen Staaten der Widerstand gegen das bisherige Herrschaftssystem und kam im März in vielen Städten zum Ausbruch. So unterschiedlich sich die Revolution in den einzelnen Territorien abspielen mochte, überein‐ stimmend waren die Hauptforderungen „nach Pressefreiheit, Schwur‐ gerichten, Verfassungen in den einzelnen deutschen Staaten und Bil‐ dung eines überregionalen deutschen Parlaments“6. Die revolutionäre Bewegung 1848 kennzeichnet also ein doppeltes Anliegen: das liberal‐ demokratische, das sich auf die Verwirklichung bürgerlicher Grund‐ rechte richtete, und das nationale, das die Einheit Deutschlands zu fördern suchte. Beidem sollte die erste gesamtdeutsche Nationalver‐ sammlung gerecht werden, die vom 18. Mai 1848 an mit 330 Abgeord‐ neten in der Frankfurter Paulskirche tagte und sich an die Ausarbei‐ tung einer Reichsverfassung machte. 6
Historisches Lesebuch Bd. 1: 1815‐1871, hg. und eingel. v. WERNER PÖLS, Frank‐ furt/Main 1966, 25.
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Den hochgespannten Erwartungen weiter Kreise der Bevölkerung auf spürbare Veränderungen konnten die zähflüssigen Debatten des Frankfurter Parlaments um eine Fülle verfassungsrechtlicher Detailfra‐ gen kaum genügen. Es tritt darin ein Wesenszug der 48er‐Revolution zutage, der sich auch im kirchlichen Bereich auswirkte: Hier war kein wirklich revolutionärer Umsturz vonstatten gegangen, der ohne Rück‐ sicht auf Bestehendes eine neue Ordnung etabliert hätte, sondern die politischen und sozialen Veränderungen wurden als Veränderungen des Rechtsstatus verstanden und in entsprechend langwierigen Ver‐ handlungen umgesetzt. So erklärt sich das durchgehende Interesse, Verfassungen und entsprechende Gesetze zu erarbeiten und dadurch den Wandel abzusichern. Man wird freilich sagen müssen, dass 1848 ausgerechnet in Kurhes‐ sen nicht die Frage einer neuen Verfassung im Vordergrund stand. Bereits seit dem 5. Januar 1831 war die „Kurhessische Verfassungsur‐ kunde“ in Kraft, die unter dem Druck sozialer Unruhen im Herbst 1830 konzipiert worden war. Diese kurhessische Verfassung galt damals als die freiheitlichste in Deutschland7. Ihre Gesamttendenz entsprach dem, was nach liberaler Vorstellung eine „konstitutionelle Monarchie“ be‐ deutete: Der Landtag, beschränkt auf eine Kammer, hatte volles Ge‐ setzgebungsrecht; es gab eine umfassende Gewaltenteilung und einen „Grundrechtskatalog, der optimalen Schutz verhieß“8. In den folgenden Jahren kam es durch entsprechende Reformgeset‐ ze durchaus zum Beginn einer bürgerlich orientierten Gesellschaft in Kurhessen, auch wenn das feudale System mit dem Kurfürsten an sei‐ ner Spitze als Gegenüber zum Parlament weiterhin autoritär ausgerich‐ tet und mit weitreichenden Machtbefugnissen ausgestattet blieb. Nicht die liberale Verfassung selbst musste 1848 in Kurhessen also erkämpft werden, wohl aber ihre freiheitliche Ausgestaltung im Sinne der bür‐ gerlichen Revolution. Diese Gestaltungsfragen, die erhebliche Auswir‐ kungen haben konnten, betrafen fast zwangsläufig auch die evangeli‐ sche Kirche als Teil des kurhessischen Staates. Darauf soll näher eingegangen werden.
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Vgl. ERNST RUDOLF HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, Stutt‐ gart/Berlin/Köln/Mainz 31988, 68. HELLMUT SEIER, Modernisierung und Integration in Kurhessen 1803‐1866, in: Das Werden Hessens, hg. v. WALTER HEINEMEYER, Marburg 1986, 453 (Veröffentlichun‐ gen der Historischen Kommission für Hessen 50).
III. Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche
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III. Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche Um die Voraussetzungen zu klären, ist zunächst ein Umweg über das 16. Jahrhundert notwendig9: Die Reformation hatte sich als Erneue‐ rungsbewegung der einen Kirche verstanden. Von den Anhängern der evangelischen Lehre war keineswegs beabsichtigt worden, eine neue Kirche neben der bisherigen zu gründen. Als sich freilich die altgläubi‐ gen Bischöfe nicht wie erhofft der Reformation anschlossen und auch nicht auf ihre weltliche Gewalt als Fürsten verzichteten, lag der Fort‐ gang der Reformation in den Händen derjenigen Territorien und Städ‐ te, die evangelisch gesinnt waren. Da zwischen Kirche und Staat nach damaligem Bewusstsein kein Gegensatz bestand, sondern vielmehr alle kirchlichen Fragen von staatlichem Belang waren, beanspruchten die jeweiligen Obrigkeiten schon seit 1526 in ihrem Gebiet das Recht, eine Kirchenreform im evangelischen Sinn durchführen zu können. In der Folgezeit waren sie es, die die kirchlichen Verhältnisse auf neuer Grundlage regelten: Sie ließen – beraten durch die Reformatoren – Visi‐ tationen durchführen, setzen Superintendenten ein und errichteten Konsistorien als staatliche Behörden, die für das Kirchenwesen zustän‐ dig waren. Luther verstand das alles als eine „Notlösung“, die sich notgedrungen aus dem faktischen Verlauf der Reformation und zu ihrem Schutz ergeben hatte. Für unaufgebbar hielt er sie nicht. Die Landesherren waren für ihn allenfalls „Notbischöfe“. Mit dem so genannten Augsburger Religionsfrieden10 gingen im Jahr 1555 alle geistlichen Rechte auf den evangelischen Landesherrn über. Reichsrechtlich abgesichert wurde er damit faktisch auch Bischof seines Fürstentums. Weltliche und geistliche Macht lagen fortan in einer Hand, so dass man vom „landesherrlichen Kirchenregiment“ spricht11. In Deutschland begann die lange Zeit der evangelischen Ver‐ bindung von Thron und Altar. 9
Vgl. dazu MARTIN HEIN/HANS‐GERNOT JUNG, Art. Bischof, Bischofsamt, in: Evange‐ lisches Kirchenlexikon3 1 (1986), 520. 10 Vgl. MARTIN HECKEL, Autonomia und Pacis Compositio. Der Augsburger Religions‐ friede in der Deutung der Gegenreformation, in: DERS., Gesammelte Schriften – Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. 1, hg. v. KLAUS SCHLAICH, Tübingen 1989, 1‐82 (Jus Ecclesiasticum 38). 11 Zur Entstehung des landesherrlichen Kirchenregiments vgl. immer noch KARL HOLL, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment (1911), in: DERS., Gesammel‐ te Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 61932, 326‐380; zu seiner weiteren Geschichte insgesamt HANS‐WALTER KRUMWIEDE, Art. Kirchenregiment, Landesherrliches, in: Theologische Realenzyklopädie 19 (1990), 59‐68. Die Situation am Beginn des 19. Jh. beschreibt ERNST RUDOLF HUBER, Verfassungsgeschichte 1, 21975, 392‐400 (s. Anm. 7).
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Diese enge Verknüpfung wurde in Kurhessen12 auch nicht in der erwähnten liberalen Verfassungsurkunde von 183113 angetastet, wo es in § 134 ausdrücklich hieß: „Die unmittelbare und mittelbare Aus‐ übung der Kirchengewalt über die evangelischen Glaubensparteien verbleibt, wie bisher, dem Landesherrn.“14 Damit war der Status quo, der sich aus der Reformation ergeben hatte, festgeschrieben. Staat und Kirche blieben unter einem Oberhaupt miteinander verbunden. Zwar gab es zur gleichen Zeit innerkirchliche Versuche, die Verantwortung der evangelischen Kirche für ihre eigenen Belange zu betonen: Dies sollte durch den Ausbau von Synoden und Presbyterien geschehen15. Doch war solchen Überlegungen damals noch wenig Erfolg beschie‐ den. Im Blick auf die Kirche blieben – anders als im Blick auf den Staat – die bürgerlichen Mitwirkungsrechte begrenzt. Davon sollte sich die Situation im Jahr 1848 erheblich unterschei‐ den! Seit Ausbruch der März‐Revolution gab es auch in Kurhessen lebhafte Debatten darüber, wie unter den Bedingungen eines liberalen Staates das Verhältnis zur Religion seiner Bürger und damit zur Kirche definiert werden könne. Das entsprechende Gesetz vom 29. Oktober 1848, „die Religionsfreiheit und die Einführung der bürgerlichen Ehe betreffend“, war radikal und konsequent. § 1 lautete: „Einem jeden stehet vollkommene Freiheit des Gewissens und der Religionsaus‐ übung zu ... Niemand ist verpflichtet, sich irgend einer religiösen Ge‐ nossenschaft anzuschließen, und niemand soll zu einer kirchlichen Handlung gezwungen werden.“ Und in § 2 hieß es weiter: „Die Aus‐ übung aller bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte, insbesondere die Bekleidung von Staats‐ und Gemeinde‐Ämtern, ist von dem Glau‐ bensbekenntnisse unabhängig.“16 Solche Sätze mögen heute wie selbstverständlich klingen. Damals waren sie es nicht. Denn faktisch besiegelten sie das Ende der bisheri‐ gen Verbindung von Staat und Kirche und wohlgemerkt auch das Ende aller kirchlichen Bevorzugung. Der Staat verstand sich nicht mehr aus‐ drücklich als christlich, sondern verhielt sich gegenüber der Religion der Einzelnen neutral. Noch deutlicher kam dies in den am 27. Dezem‐ ber 1848 als Reichsgesetz verkündeten „Grundrechten des deutschen 12 Vgl. dazu HUBER, Verfassungsgeschichte 2, 62‐76 (s. Anm. 7). 13 Die staatskirchenrechtlichen Artikel der kurhessischen Verfassung sind abgedr. bei ERNST RUDOLF HUBER/WOLFGANG HUBER, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhun‐ dert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 1, Berlin 1973, 148‐150. 14 Ebd., 149. 15 Vgl. HOPF, Vilmar 1, 203‐205 (s. Anm. 1). 16 Zit. nach: HOPF, Vilmar 2, 54 (s. Anm. 1).
III. Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche
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Volkes“17 zum Ausdruck, die in Kurhessen am 3. Januar 1849 als Lan‐ desrecht übernommen wurden. § 17 dieses Grundrechtskatalogs18 brachte es auf den Punkt: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und ver‐ waltet ihre Angelegenheiten selbständig, bleibt aber den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen. Keine Religionsgesellschaft genießt vor anderen Vorrechte durch den Staat; es besteht fernerhin keine Staats‐ kirche. Neue Religionsgesellschaften dürfen sich bilden; einer Aner‐ kennung ihres Bekenntnisses durch den Staat bedarf es nicht.“ Damit war die Lage klar: Die Trennung von Staat und Kirche war politisch gewollt und rechtlich in die Wege geleitet!19 Auch innerkirchlich gab es eine starke Tendenz, mit dieser Tren‐ nung ernst zu machen und die Kirche auf eigene Füße zu stellen! Eine eigens eingesetzte Kirchenkommission20 schlug nach Beratungen, die sich bis in den Oktober 1848 hineinzogen, die Bildung einer „konstitu‐ ierenden Synode“ vor. Diese sollte an die Stelle des Landesherrn als des bisherigen Trägers der Kirchengewalt treten und eine völlig neue, den veränderten Verhältnissen angepasste Kirchenordnung ausarbeiten. Es war vorgesehen, in dieser Synode Geistliche und Laien paritätisch ver‐ treten sein zu lassen. Gegen solch eine mögliche Entwicklung liefen die Gesinnungs‐ freunde um August Vilmar Sturm. Nicht dass sie die bisherige Verbin‐ dung von Thron und Altar aufrecht erhalten wollten. Das Gegenteil war der Fall! Hinsichtlich der Einschätzung, das landesherrliche Kir‐ chenregiment sei unter den neuen gesetzlichen Bedingungen an sein Ende gelangt, war man sich mit vielen anderen einig. In Frage stand aber, was an die Stelle der bisherigen Kirchenleitung, also des Landes‐ herrn und der staatlichen Konsistorialbehörde, zu treten habe. Und hier war Vilmars Urteil eindeutig: Eine staatlicherseits eingesetzte kirchliche Synode könne es jedenfalls nicht sein. Die deklarierte Trennung von Staat und Kirche, das Ende des Staatskirchentums verbiete es, dass der Staat fortan überhaupt noch etwas für die Kirche regele. Schon die Ent‐ 17 Vgl. ERNST RUDOLF HUBER/WOLFGANG HUBER, Staat und Kirche im 19. Jahrhundert, Bd. 2, 1976, 32‐34 (s. Anm. 13). 18 Entspricht § 147 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849. Zu Inten‐ tion und Gehalt der Frankfurter Grundrechte vgl. ERNST RUDOLF HUBER, Verfas‐ sungsgeschichte 2, 774‐783 (s. Anm. 7). 19 Vgl. dazu insgesamt MARTIN HECKEL, Die Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert, in: DERS., Gesammelte Schriften – Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. 3, hg. v. KLAUS SCHLAICH, Tübingen 1997, 441‐470 (Jus Eccle‐ siasticum 58). 20 Zu ihrer Zusammensetzung und Aufgabenstellung vgl. HOPF, Vilmar 2, 55 (s. Anm. 1).
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stehungsbedingungen solch einer verfassungsgebenden Synode dürfe und könne er nicht mehr bestimmen. Am 31. Oktober 1848 schrieb August Vilmar in einem Brief folgen‐ de Sätze, von denen vor allem der Einschub ebenso berühmt wie be‐ rüchtigt geworden ist: „Wir ... haben kein Mandat, weder zur ‚Synode’ (es ist, als wenn jedes Mal der Teufel bei mir vorüberflöge, wenn ich das Wort höre oder schreibe) zu wählen noch da zu ordnen – eine Syn‐ ode, vom jetzigen Landesherrn durch seine jetzigen Behörden oder durch sonst willkürlich gesetzte berufen, kann nur zerstören.“21 Was aber dann? Was sollte nach Vilmars Auffassung an die Stelle des überholten landesherrlichen Kirchenregiments in Kurhessen tre‐ ten? Es musste, will man Vilmars Gedankengang folgen, etwas originär Kirchliches sein, das nicht vom Staat dekretiert wurde. Vilmar fand es in der Lehre vom geistlichen, d. h. ordinierten Amt.
IV. Vilmars Rekurs auf das geistliche Amt Geradezu beschwörend klingt es in dem bereits zitierten Brief: „Ich muß Euch Geistlichen zurufen: Habt nur Vertrauen zu Eurem eigenen geistlichen Amte! Das ist das Einzige, was in der jetzigen argen Zeit der Not und Zerstörung noch göttliches, ewiges Mandat hat.“22 Diese we‐ nigen Sätze haben es in sich. In ihnen verbirgt sich, was Vilmar in un‐ terschiedlichen Abhandlungen immer wieder als seine theologische Amtslehre entwickeln sollte. Seiner Meinung nach ist das geistliche Amt allein auf die Einset‐ zung durch Gott zurückzuführen. Es ist weder vom Staat noch auch von der Gemeinde abhängig; vielmehr steht es beiden souverän und ungebunden gegenüber. Noch einmal Vilmar: „Das geistliche Amt, dem allein Wort und Sakrament und Zucht und die Kräfte dieser erlö‐ senden und heiligenden Mittel überwiesen sind, das geistliche Amt allein hat noch göttliches Mandat in vollkommenem Maße und reicher Fülle, die Gemeinde zu sammeln und zu gestalten. Sonst niemand; nicht die Welt, nicht die gläubigen Individuen in der Gemeinde, und wäre sie auch eine Gemeinde der Heiligen. Sie wäre selbst dies nicht ohne das geistliche Amt ...“23. Durch das geistliche Amt, so Vilmar, 21 Zit. nach: Ebd., 66f. 22 Ebd., 66. 23 Ebd., 74. Vilmars Amtslehre entfalten BARBARA SCHLUNK, Amt und Gemeinde im theologischen Denken Vilmars, München 1947 (Beiträge zur Evangelischen Theolo‐ gie 9); GERHARD MÜLLER, Die Bedeutung August Vilmars für Theologie und Kirche, München 1969 (Theologische Existenz heute 158), und JÖRG DIERKEN, Kirche: Heilige
IV. Vilmars Rekurs auf das geistliche Amt
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gründe sich Gott seine Gemeinde, und allein dadurch leite er sie auch. Kirchenleitung unter Mitbeteiligung gewählter Laien, ja auch die Wahl von Pfarrern durch Presbyterien waren ihm unvorstellbar, berührten und beeinträchtigten sie doch die Unabhängigkeit des geistlichen Am‐ tes und seiner Träger. Zwischen Gemeinde und Amt bestand ein deut‐ licher Graben, und damit auch zwischen Kirche und Staat. Solange sich der Landesherr innerhalb eines „christlich“ gedeuteten Staates als geist‐ liches Oberhaupt einer evangelischen Landeskirche wusste, hatte Vil‐ mar an diesem Zustand nichts grundsätzlich einzuwenden24. Von dem Augenblick an aber, da sich der Staat religiös‐konfessionell neutral verstand und prinzipiell auch Atheisten oder Angehörige anderer Reli‐ gionen Zugang zu staatlichen Ämtern (und damit auch zum kirchli‐ chen Konsistorium als einer staatlichen Behörde!) haben konnten, musste seiner Ansicht nach die Kirchenleitung an die Kirche selbst zurückfallen. Nach Vilmars Meinung hatte die Kirche aber gar nicht darüber zu befinden, wie ihre Leitung neu zu ordnen sei, denn sie be‐ saß eine solche längst im geistlichen Amt. Konkret bedeutete das für ihn eine vierfache Konsequenz: 1. Ausschließlich die Pfarrer sollten eine Synode bilden. Damit nahm er bewusst Gedanken der hessischen Kirchenordnung von 156625 auf, der das Modell einer kirchenleitenden Synode, die sich aus allen Geist‐ lichen zusammensetzt, zugrunde lag26. Eine dergestalt sich zusammen‐ setzende Synode lehnte Vilmar also nicht ab, weshalb bei jenem starken Satz, der oben zitiert wurde27, immer darauf geachtet werden muss, in welchem Kontext Vilmar von „Synode“ spricht. 2. Die Pfarrersynode habe ihrerseits einen Bischof als obersten Geist‐ lichen und Träger der kirchlichen „Gewalt“ zu wählen. Mit dieser Vor‐ stellung knüpfte Vilmar zugleich an Art. 28 des Augsburger Bekennt‐
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communio oder Institut Christi? Aspekte der Ekklesiologie A.F.C. Vilmars und A. Ritschls, Heidelberg 1989 (Texte und Materialien der Forschungsstätte der Evangeli‐ schen Studiengemeinschaft Reihe B, Nr. 12). Zur Auseinandersetzung im lutheri‐ schen Konfessionalismus um die Frage der angemessenen Kirchenverfassung vgl. CHRISTOPH LINK, Die Grundlagen der Kirchenverfassung im lutherischen Konfessi‐ onalismus des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei Theodosius Harnack, München 1966 (Jus Ecclesiasticum 3); zu Vilmars Position ebd., 98‐104. Vgl. MÜLLER, Bedeutung, 36f (s. Anm. 23). Abgedr. in: Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, hg. v. EMIL SEHLING, 8. Bd: Hessen, 1. Hälfte: Die gemeinsamen Ordnungen, Tübingen 1965, 178‐337. Vgl. ebd., 189‐192. Anm. 21.
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nisses an, das 1530 ausdrücklich die Notwendigkeit des Bischofsamtes „nach göttlichen Rechten“28 betont hatte. 3. Das Konsistorium sei als rein innerkirchliche Behörde zu verste‐ hen und setze sich aus Mitgliedern zusammen, die teils vom Bischof berufen, teils von der Synode gewählt werden sollen. 4. Presbyterien schließlich können nach diesem (hermetisch ge‐ schlossenen) Konzept der Selbstreproduktion des Amtes keine unab‐ hängigen Entscheidungsbefugnisse haben, sondern seien streng an den jeweiligen Pfarrer gebunden. Alles müsse sich auf das Amt und damit auf die Pfarrer ausrichten. Nur so sei die Leitung der Kirche durch sich selbst und damit ihre völlige Eigenständigkeit gegenüber dem Staat gewährleistet. Solche Vorstellungen, die im Blick auf die Forderung nach Freiheit der Kirche höchst zeitgemäß, aber hinsichtlich der Forderungen nach verstärkten Mitwirkungsrechten der Gemeindeglieder in der Kirche ausgesprochen restriktiv und damit unzeitgemäß waren, hatten in Kurhessen durchaus Nachhall gefunden. Aus dem Kreis derer, die Vilmars Gedankengänge zum geistlichen Amt prinzipiell teilten, ent‐ stammten die meisten, die sich am 14. Februar 1849 nach Jesberg auf‐ machten. Sie verstanden sich, wie eingangs erwähnt, als „auf dem Grund des Bekenntnisses der evangelischen Kirche“ stehend und wa‐ ren willens, die vom Staat separierte Kirche in die beschriebenen Bah‐ nen zurückzulenken.
V. Die unmittelbaren Folgen der Jesberger Konferenz Das Ergebnis der Jesberger Zusammenkunft ist dem Grundsatz nach bereits erwähnt: Es war – in negativer Wendung – die Forderung nach dem Ende des Staatskirchentums; ihr entsprach als positiver Gehalt die Forderung nach der Freiheit und Selbständigkeit der Kirche. Im Ein‐ zelnen wurde dies in fünf Anträgen an Kurfürst, Innenministerium und Ständeversammlung zum Ausdruck gebracht, die sich in ihrer Abfolge eng an Vilmars Gedankengänge anlehnten. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen29: 1. Die Bestimmungen in der Hessischen Verfassungsurkunde von 1831 über das landesherrliche Kirchenregiment sind „als weggefallen
28 Bekenntnisschriften der evangelisch‐lutherischen Kirche. Hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 81979, 123,22f. 29 Memorandum (s. Anm. 5), 125f.
V. Die unmittelbaren Folgen der Jesberger Konferenz
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zu betrachten“ – und damit das landesherrliche Kirchenregiment selbst. 2. Die „Ausübung der Kirchengewalt über die evangelischen Glau‐ bensparteien geht einstweilen auf die gegenwärtigen in Kurhessen im Amte stehenden evangelischen Superintendenten und Inspectoren“, also die Geistlichen über. 3. In den einzelnen „Diözesen“ (wie damals die Kirchenkreise hie‐ ßen) sind durch die Superintendenten Synoden aus Trägern des geistli‐ chen Amtes zur „Vorberathung“ sowie „zur Wahl von Abgeordneten auf die Landes‐Synode“ zu berufen. Anschließend ist die Landessyno‐ de mit dem Ziel der Ordnung der Kirchenleitung einzuberufen. 4. Bis die Übergabe erfolgt ist, enthält sich der Staat „jedes wichti‐ geren Actes der Kirchenregierung“, vor allem der Neubesetzung von Stellen im Konsistorium. 5. Der Auftrag der staatlichen Konsistorien erlischt „mit der Zu‐ rückgabe der Ausübung der Kirchengewalt an die Superintendenten und Inspectoren“. Damit war ein kirchenpolitisches Programm aufgestellt, das sich sowohl von den Idealen der 48er‐Revolution als auch vom reinen Fest‐ halten am hergebrachten staatskirchlichen System unterschied. Moch‐ ten die Liberalen mit der ersten Forderung nach dem Ende des landes‐ herrlichen Kirchenregiments noch übereinstimmen, mussten sie den weiteren Punkten ihre Zustimmung versagen. Denn hier wurden alle Bestrebungen, presbyteriale und synodale Elemente als Stärkung der Gemeindebeteiligung zu berücksichtigen, vehement abgelehnt. Der Ausweg aus der Situation, die die staatlichen Religionsbestimmungen Ende 1848 / Anfang 1849 geschaffen hatten, lautete für die Jesberger Konferenz demgegenüber ebenso eindeutig wie einseitig: Stärkung des geistlichen Amtes! Das alles wurde in der Denkschrift rechtlich detail‐ liert und mit besonderem Bezug auf die hessische Kirchentradition ausgeführt und begründet. Im Blick auf den Staat aber hieß dies umgekehrt: „Der Staat als sol‐ cher hat aufgehört, ein christlicher Staat zu sein.“30 Der Forderung, der Kirche ihre Eigenständigkeit zu gewähren, entsprach auf der anderen Seite die unumwundene und konsequente Feststellung der religiös‐ weltanschaulichen Neutralität des Staates. Mit dieser Einsicht machten die wahrlich ansonsten keineswegs revolutionären Teilnehmer der Jesberger Konferenz ganzen Ernst. Auch der Staat war für sie in die Selbständigkeit entlassen. 30 Ebd., 113.
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Die kühnen Forderungen der Denkschrift lösten in Kurhessen ein lebhaftes Echo und heftige Diskussionen aus, und dies nicht nur in kirchlichen, sondern auch in politischen Kreisen. Offiziell aber erfolgte weder seitens des Ministeriums noch gar seitens des Kurfürsten eine Antwort auf das eingereichte Memorandum. Unmittelbare Folge war allerdings, dass die Staatsregierung ihre Pläne zu einer verfassungsge‐ benden Kirchensynode (aus Geistlichen und Laien) stornierte. Gegen mögliche Beschlüsse dieser Synode hatten die Unterzeichner der Jes‐ berger Denkschrift schon im Voraus aus den genannten grundsätzli‐ chen Erwägungen heraus Protest eingelegt. So blieb trotz der veränder‐ ten Religionsbestimmungen die bisherige kurhessische Verfassungs‐ urkunde von 1831 formell in Kraft – und damit auch das landes‐ herrliche Kirchenregiment über die evangelische Kirche in einem Staat, der gleichzeitig allen Religionsgesellschaften die selbständige Ordnung und Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten zubilligte. Beides stand unausgeglichen nebeneinander und in Spannung zueinander. Für Vilmar selbst sollte die Mitwirkung an der Abfassung des Me‐ morandums freilich unerwartete Folgen haben: Im März 1848 hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm I. unter dem Eindruck der revolutionären Verhältnisse den gemäßigten Reformer Bernhard Eberhard zum Chef‐ minister berufen. Das Ministerium Eberhard bewilligte seinerzeit um‐ gehend die politischen Forderungen wie etwa Versammlungs‐ und Pressefreiheit, verkämpfte sich jedoch zunehmend „im Doppelkonflikt einerseits mit dem Kurfürsten, andererseits mit der republikanischen Linken“31. Daher mag nachvollziehbar sein, dass der Kurfürst nach dem Abebben der allgemeinen Euphorie darauf sann, das Ministerium Eberhard durch ein ihm genehmeres zu ersetzen. In diesem Zusam‐ menhang entstand der Gedanke, Vilmar, der sich 1848 lautstark als Unterstützer der Monarchie zu erkennen gegeben hatte, mit dem In‐ nenministerium zu betrauen. Immerhin war dieser 1831/32 als Abge‐ ordneter der Stadt Hersfeld Mitglied der Ständekammer gewesen und hatte seither vor allem im schulischen Bereich erhebliches Organisati‐ onsgeschick an den Tag gelegt. Und an politischem Konservativismus war der einst liberalen Ideen zuneigende Vilmar inzwischen nur schwer zu übertreffen! Am 14. Oktober 1849 kam es in Kassel zur Audienz beim Kurfürs‐ ten. Dieses Datum ist insofern für unsere Fragestellung bemerkenswert, als Vilmar sich und seinen in Jesberg dargelegten Grundsätzen treu blieb und die Kirchenfrage entschlossen in den Mittelpunkt des ein‐ stündigen Gesprächs rückte. Um ihn selbst zu Wort kommen zu lassen: 31 SEIER, Modernisierung, 458 (s. Anm. 8).
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„Eine Stunde lange dauerte das sehr ernsthafte Parlamentieren. Mög‐ lich, daß alles an der Kirchenfrage scheitert, die ich für meine Person, aber auch für den mir zugedachten Wirkungskreis, vor allen Dingen betonen mußte, und worin ich die schärfsten Ecken absichtlich heraus‐ kehrte. ‚Geben Sie die Kirche frei!’ das Wort schlug unerwartet und heftig ein. Meine projektierten Genossen sind von dieser Sache weniger be‐ rührt – ich konnte nicht anders.“32 Das zeugt von Mut und Kompro‐ misslosigkeit um der Sache willen und hat bis in die Worte hinein et‐ was vom Pathos, mit dem das 19. Jahrhundert Luther vor dem Wormser Reichstag sah. Zwar gingen in den folgenden Tagen die Verhandlungen über die Kabinettsneubildung weiter, doch sollte Vilmar Recht behalten: Der Kurfürst sah von einer Berufung des Marburger Gymnasialdirektors als Innenminister ab. Zu sehr schreckte ihn dessen kirchenpolitisches Programm, das unumwunden auf den Verzicht auf das landesherrliche Kirchenregiment hinauslief. Dazu aber war der Kurfürst unter keinen Umständen bereit. Im Gegenteil! Mit dem Beginn der Restauration, die das Ministerium Ludwig Hassenpflug seit 1850 rigoros einleitete33, wurde für die herrschenden Kreise wieder die Leitidee vom „christli‐ chen Staat“34 und dem ihm entsprechenden System des Staatskirchen‐ tums bestimmend. Die höchst umstrittene Verfassungsurkunde vom 13. April 1852 erneuerte die alten Zustände: Die Ausübung staatsbür‐ gerlicher Rechte war wieder abhängig von der Voraussetzung, einem christlichen Glaubensbekenntnis angehören zu müssen. Damit waren nicht nur wichtige Errungenschaften der 48er‐Revolution zurück‐ geschraubt, sondern musste auch der „Geist von Jesberg“ einstweilen weichen. War also die Jesberger Konferenz doch nur eine historische Episode und Vilmars Auftritt vor dem Kurfürsten mit der markigen Forderung „Geben Sie die Kirche frei!“ lediglich eine nette Anekdote? Dies wird man verneinen dürfen. Jesberg hatte unterschwellige Fernwirkungen. Sie sollen abschließend angesprochen werden.
VI. Weitere Entwicklungen 1. 1866 annektierte Preußen das Kurfürstentum Hessen. Die drei hier bestehenden Kirchengemeinschaften (lutherisch, reformiert und uniert) 32 HOPF, Vilmar 2, 90 (s. Anm. 1). 33 Zu den Beziehungen zwischen Hassenpflug und Vilmar vgl. HUBER, Verfassungsge‐ schichte 3, 31988, 217‐220 (s. Anm. 7). 34 WIBBELING, Freiheit, 138 (s. Anm. 5).
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wurden allerdings nicht der unierten preußischen Kirche zugeschlagen, sondern unmittelbar dem Kultusministerium in Berlin unterstellt. Auf diese Weise sollte der Eindruck einer kirchlichen Zwangsunion ver‐ mieden werden. Allerdings gab sich die preußische Administration schon bald daran, die drei unabhängig in Kassel, Marburg und Hanau bestehenden Konsistorien zu einem Gesamtkonsistorium zusammenle‐ gen zu wollen35. Mit heutigen Worten gesagt, sollte dies auch der Ver‐ waltungsvereinfachung dienen. Aber es war ein von staatlicher Seite aus erfolgender Eingriff in gewachsene kirchliche und konfessionelle Verhältnisse. Nicht von ungefähr erhob sich der Protest gegen die be‐ absichtigte Maßnahme des Staates ausgerechnet bei jenen, die den Ge‐ danken August Vilmars und seines jüngeren Bruders Wilhelm Vilmar nahe standen. Die bewegten Streitigkeiten können hier nicht im Einzel‐ nen nachvollzogen werden36. Als schließlich 1873, nach Ende des deutsch‐französischen Krieges und im Zuge der preußischen Eini‐ gungsbestrebungen, das Gesamtkonsistorium nach Kassel verlegt wur‐ de, legten im Juli des gleichen Jahres 45 niederhessische Pfarrer schrift‐ lich gegen diesen Schritt Verwahrung ein. Für sie stand das staatliche Vorgehen in eklatantem Widerspruch nicht nur zum geschichtlichen Recht der unterschiedlichen Konfessionen in Hessen, sondern stellte zugleich einen durch nichts zu begründenden, willkürlichen Eingriff des Staates in die inneren Belange der Kirche dar. Es entspann sich daraus eine Auseinandersetzung, die zur Suspendierung von über 40 Pfarrern, zu Verhaftungen und Hausdurchsuchungen und schließlich zur Bildung eigener „renitenter Gemeinden“ führte und für die die Kennzeichnung „Kirchenkampf“ durchaus berechtigt erscheint. Denn es war im Letzten ein Kampf um die Freiheit der Kirche gegenüber dem Staat. Die Renitenten konnten sich dafür mit Fug und Recht auf das Jesberger Memorandum berufen. Dieses Anliegen hat man erst sehr viel später kirchlich zu würdigen gewusst37. 35 Vgl. dazu VOLKER KNÖPPEL/BETTINA WISCHHÖFER, 125 Jahre Gesamtkonsistorium Kassel, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 103 (1998), 215‐230. 36 Vgl. KARL WICKE, Die hessische Renitenz, ihre Geschichte und ihr Sinn, Kassel 1930; DERS., Um die Freiheit der Kirche. Ein Bericht aus der Geschichte der hessischen Re‐ nitenz, Sonderdruck aus dem Gemeindeblatt für die evangelisch‐reformierte Ge‐ meinde der Stadt‐ und Universitätskirche Marburg, 1931, und RENATE SÄLTER, Die Vilmarianer. Von der fürstentreuen kirchlichen Restaurationspartei zur hessischen Renitenz, Darmstadt/Marburg 1985 (Quellen und Forschungen zur hessischen Ge‐ schichte 59). 37 Vgl. die Vereinbarung zwischen der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐ Waldeck und den Gemeinden Schemmern und Morschen der Renitenten Kirche UAC (Ungeänderter Augsburgischer Confession) vom 21. Januar 1952 und 12. Mai
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2. Der verlorene Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchie in Deutschland bedeuteten 1918/19 auch einen Schlussstrich unter die Jahrhunderte alte evangelische Verknüpfung von Thron und Altar. Was man im Geist der 48er‐Revolution, aber auch in Jesberg 1849 ver‐ geblich gefordert hatte, wurde nun Wirklichkeit – von vielen der dama‐ ligen Protestanten keineswegs freudig begrüßt. Sie trauerten eher ei‐ nem Staatskirchentum nach, von dem beide Seiten durchaus gegen‐ seitig profitiert hatten. Die evangelischen Landeskirchen sahen sich nun genötigt, unabhängig ebenso von staatlicher Bevormundung wie von staatlicher Unterstützung „ihre Angelegenheiten selbständig in‐ nerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ zu ordnen und zu verwalten, wie es in Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung laute‐ te38. Dieser Artikel wurde eingeleitet mit der ebenso lapidaren wie weitreichenden Feststellung: „Es besteht keine Staatskirche.“ Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Kirche und Staat durch manche vertraglichen Regelungen weiterhin eng verbunden blieben. Viele der entstehenden Kirchenordnungen übernahmen – nach der bisherigen Tradition überraschend – Grundgedanken des neu entstandenen de‐ mokratischen Gemeinwesens: Der Aufbau der Verfassungen erfolgte ausgehend von den Gemeinden, das presbyterial‐synodale Prinzip und damit die Mitwirkungs‐ und Entscheidungsrechte der Kirchenmitglie‐ der wurden erheblich gestärkt. Den Kirchenordnungen aus der Weima‐ rer Zeit wird man daher alles andere als eine antidemokratische Ten‐ denz nachsagen dürfen. Das bedeutet aber auch, dass der Weg, den die Jesberger Konferenz siebzig Jahre zuvor im Gefolge August Vilmars gehen wollte, in jener Radikalität nicht beschritten wurde. Mag auch in einigen lutherischen Kirchenverfassungen dem geistlichen Amt eine hervorgehobenere Bedeutung zukommen als etwa in der Verfassung der Evangelischen Landeskirche von Hessen‐Cassel (1923/24)39, so war doch inzwischen die Entwicklung so vorangeschritten, dass eine insti‐ tutionelle Neuordnung der Kirche ausschließlich auf der Basis des geistlichen Amtes im schroffen Gegenüber zur Gemeinde nicht mehr durchführbar war. Die Teilnehmer der Jesberger Konferenz jedenfalls hätten wahrscheinlich in gleichem Maß die Selbständigkeit der Lan‐ 1952, in: PAUL RIEMANN/RUDOLF SCHLUNK, Das Ende der renitenten Kirche, Kassel 1973, 59f (Monographia Hassiae 2). 38 Zum „Weimarer System“ vgl. AXEL V. CAMPENHAUSEN, Staatskirchenrecht, Mün‐ chen 31996, 38‐43. 39 Veröff. in: Kirchliches Amtsblatt. Gesetz‐ und Verordnungsblatt für den Amtsbezirk des Evangelischen Konsistoriums zu Cassel 39 (1924), 59‐78; vgl. dazu MARTIN HEIN, Geistliche Leitung und Einheit der Kirche. Zur Vorgeschichte und Einführung des Bischofsamtes in der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck, u. 53‐79, hier 56‐61.
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deskirchen begrüßt, wie sie die Verfassungen nach 1918 auf einer Linie mit den Bemühungen des kirchlichen Liberalismus der Jahre 1848/49 um eine völlige Neuordnung der Kirche gesehen und damit verurteilt hätten. 3. Seit 1933 kam es infolge der Eingriffe des nationalsozialistischen Staates in die evangelischen Kirchen zum sogenannten „Kirchen‐ kampf“. Im Selbstverständnis derer, die sich in den Anfangsjahren der Diktatur und ihren kirchenpolitischen Maßnahmen widersetzten, be‐ deutete dieser Kirchenkampf keinesfalls prinzipiellen Widerstand ge‐ gen das neue Regime. Dass freilich in der Beharrlichkeit, dem auf Tota‐ lität ausgerichteten Staat einen wichtigen gesellschaftlichen Bereich zu entziehen und vor der Gleichschaltung bewahren zu wollen, ein wider‐ ständiges Potential steckte, sollte nicht bestritten werden. Aber der „Kirchenkampf“ war zu allererst ein Kampf um das Recht in der Kir‐ che, um ihre Selbständigkeit gegenüber dem Staat und um die Freiheit der Verkündigung. Das Jesberger Memorandum hatte freilich in die‐ sem Zusammenhang Gesichtspunkte angesprochen, die wieder höchst zeitgemäß klingen mussten. So kommt es nicht von ungefähr, dass die wohl umfangreichste Darstellung der Ergebnisse der Jesberger Konfe‐ renz aus dem Jahr 1941 stammt und in einem Band abgedruckt wurde, der dem langjährigen Vorsitzenden der Bekennenden Kirche Kurhes‐ sen‐Waldeck, Professor Hans von Soden (Marburg), gewidmet ist. Au‐ tor dieser Darstellung war der Langendiebacher Pfarrer und spätere Hanauer Propst Wilhelm Wibbeling. Ausgerechnet er – religiöser So‐ zialist, Reformierter, engagiert im Kirchenkampf! – bezog sich unum‐ wunden auf Vilmars Amtslehre, die der Jesberger Denkschrift zugrun‐ de liegt. So schrieb er: „Die evangelische Kirche in Kurhessen wie in ganz Deutschland ist andere Wege gegangen, als sie in Jesberg und in dem Memorandum gewiesen wurden ... Daß die Entwicklung eine unheilvolle war, ist uns allen in den Ereignissen seither klar geworden. Es ist nur schmerzlich, zu sehen, daß auch diese Ereignisse nicht Veran‐ lassung gewesen sind, auf die Erkenntnisse Vilmars und der Männer von Jesberg zurückzugreifen.“40 Und man glaubt, einen versteckten Hinweis auf die Fragwürdigkeit der Kirchenausschüsse lesen zu kön‐ nen, die 1935 von staatlicher (!) Seite aus unter Reichsminister Hanns Kerrl zur Befriedung der Lage eingesetzt worden waren41, wenn Wib‐ beling gegen Ende seiner Untersuchung urteilt: „Die Begründung des an die Stelle des staatlichen Kirchenregimentes zu setzenden geistlichen Kirchen‐ regimentes verdient wahrlich auch für unsere Zeit ernste Prüfung und Beach‐ 40 WIBBELING, Freiheit, 147 (s. Anm. 5). 41 Vgl. KURT MEIER, Der evangelische Kirchenkampf, Bd. 2, Göttingen 21984, 66‐101.
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tung.“42 In beiden Anliegen, dem Beharren auf kirchlicher Freiheit ge‐ genüber dem Staat wie auf dem Erfordernis kirchlicher Selbstgestal‐ tung, konnte sich der Kirchenkampf durchaus auf die Jesberger Konfe‐ renz berufen und sie für sich fruchtbar zu machen suchen. 4. Das Bonner Grundgesetz hat bekanntlich die einschlägigen Be‐ stimmungen der Weimarer Reichsverfassung zum Verhältnis von Staat und Kirche als eigenen Bestandteil übernommen. Dies besagt: Seit 1949 gilt erneut, was schon 1919 verfassungsmäßig festgelegt worden war. Um die Hauptgesichtspunkte zu wiederholen: Es existiert keine Staats‐ kirche43. Das Recht zur Bildung von „Religionsgesellschaften“ unter‐ liegt keinen staatlichen Beschränkungen. „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ (Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 WRV). Das klingt bis in den Wortlaut hinein ganz ähnlich wie die Bestimmungen, die schon in den „Grundrechten des deutschen Volkes“ vom Dezember 1848 aufgenommen waren. Was vor 150 Jahren noch Forderung blieb und 1919 erstmals in die politische Wirklichkeit umge‐ setzt wurde, bewährt sich seit einem halben Jahrhundert unter den Bedingungen unseres Grundgesetzes: Die Teilnehmer der Jesberger Konferenz könnten, so ist zu mutmaßen, in der Konsequenz ihres eige‐ nen Ansatzes dieser Entwicklung und den Klärungen, die damit ver‐ bunden sind, zustimmen. Denn für sie musste sich ein Staat, der sich nicht mehr als christlich, sondern als weltanschaulich neutral verstand, aus den Regelungen innerkirchlicher Belange heraushalten. Dass auf der Grundlage der Bestimmungen über die Trennung von Staat und Kirche gleichwohl eine inhaltliche Ausgestaltung ihrer beider Bezie‐ hungen zueinander notwendig ist, steht außer Frage. Dies wird gerade dadurch möglich, dass zuvor beider Selbständigkeit anerkannt ist. Mit anderen Worten: Erst unter der Voraussetzung einer prinzipiellen Trennung von Staat und Kirche kann von gegenseitiger Partnerschaft gesprochen und nach entsprechenden Gestaltungsformen gesucht werden! Das Interesse der Jesberger Konferenz und ihres Memorandums bezog sich aber nicht nur auf die Frage nach der Klärung des Verhält‐ nisses der Kirche zum Staat. Zugleich war damit ein innerkirchliches Programm verbunden. Auch nach dem Ende des letzten Krieges und aufgrund der Erfahrungen des Kirchenkampfs hat es durchaus verein‐ zelte Versuche gegeben, das Gewicht – stärker als in der Weimarer Zeit geschehen – auf das geistliche Amt zu verlagern. Allerdings ging dies 42 WIBBELING, Freiheit, 147 (s. Anm. 5). 43 Zu den Implikationen dieser Bestimmung vgl. V. CAMPENHAUSEN, Staatskirchen‐ recht, 94‐105 (s. Anm. 38).
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denn doch nicht so weit, dass etwa eine Kirchenordnung nach 1945 den – auf den absoluten Vorrang des geistlichen Amtes ausgerichteten – Vorschlägen von Jesberg gefolgt wäre, denen Wilhelm Wibbeling in seiner Reminiszenz an jene Konferenz immerhin einiges abzugewinnen vermochte. Als kirchenpolitische und kirchenrechtliche Aufgabe stellte sich vielmehr das Erfordernis, das geistliche Amt einerseits und die Gemeinde andererseits in ihrer Eigenbedeutung, ihren Gemeinsamkei‐ ten und ihren Spannungen wahrzunehmen und einander sachgemäß zuzuordnen, ohne dass das eine völlig hinter dem anderen verschwin‐ det44. In der Evangelischen Kirche von Kurhessen‐Waldeck etwa hat sich für diese Verhältnisbestimmung die Formel vom „Miteinander und Gegenüber“ (Art. 89,1 Grundordnung) durchgesetzt45: Das geistli‐ che Amt in der Kirche hat ohne Zweifel seine Bedeutsamkeit und seine besonderen Funktionen. Es ist nicht identisch mit der Gemeinde, auch wenn es sich aus ihr herleitet. Aber dieses Gegenüber bedeutet nun keineswegs, dass dadurch die Beteiligung der Gemeindeglieder an und in der Leitung der Kirche ausgeschlossen wäre. Das Gegenteil ist der Fall! Schon Kirchenvorstände haben – recht verstanden! – ein kirchen‐ leitendes Amt. Erst im Miteinander, das um die Unterschiede weiß, entsteht selbständige, verantwortliche und verlässliche Leitung der Kirche. Hier ist inzwischen weit über das hinaus, was sich die Teil‐ nehmer der Jesberger Konferenz vorstellen konnten, hinzugelernt wor‐ den. Aber dieser Lernfortschritt nimmt dem Ereignis der Jesberger Kon‐ ferenz nichts von seiner herausragenden Stellung: Das Nachdenken über die ihrem Auftrag gemäße Gestalt evangelischer Kirche hat da‐ mals einen wichtigen Impuls bekommen, an den sich nach 150 Jahren zu erinnern immer noch lohnt.
44 Vgl. dazu den Überblick bei SIEGFRIED GRUNDMANN, Verfassungsrecht in der Kirche des Evangeliums, in: DERS., Abhandlungen zum Kirchenrecht, hg. v. REINHOLD ZIP‐ PELIUS u. a., Köln/Wien 1969, 68‐126. 45 Vgl. MARTIN HEIN, „Miteinander und Gegenüber“: Eine historische Analyse des Konstruktionsprinzips der „Grundordnung der Evangelischen Kirche von Kurhes‐ sen‐Waldeck“ von 1967, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 39 (1994), 1‐19.
Wilhelminischer Protestantismus Der Zusammenhang von Politik, Kirche und Theologie an der Wende zum 20. Jahrhundert
1. Vorverständigung „Das Kaiserreich kommt näher.“1 Mit diesem ebenso lapidaren wie grundlegenden Satz leiten Jochen‐Christoph Kaiser und Wilfried Loth ihren 1997 erschienenen Sammelband „Soziale Reform im Kaiserreich“ ein. Darin kommt eine eigentümliche Paradoxie zum Ausdruck: Wäh‐ rend sich zeitlich gesehen die Distanz zu jener Epoche vergrößert, wächst zugleich das historische Interesse an ihr. Als jüngstes Indiz für diese Diagnose kann die Auseinandersetzung gelten, die sich in der Frankfurter Allgemeinen um Adolf Harnacks Einschätzung des Juden‐ tums entfachte2. Lange konzentrierte sich die Beschäftigung mit der wilhelmini‐ schen Zeit auf die „Fragen nach ,Schuld’ und ,Versagen’ des Kaiser‐ reichs, nach seinen inneren Verhärtungen und Unterdrückungsmecha‐ nismen, die zur Erklärung des Kriegsausbruchs, der Revolution von 1918/19, der gescheiterten Republik bis hin zum Aufstieg des National‐ sozialismus herangezogen wurden“3. Es entstand weitgehend ein Bild der Zeit als Panoptikum voller Säbelrasseln und nationaler Großmanns‐ sucht, politischer Unterwürfigkeit und Hörigkeit, wie es seine geradezu klassische Ausprägung in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ be‐ 1
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JOCHEN‐CHRISTOPH KAISER/WILFRIED LOTH, Einleitung, in: DIES., Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, 9 (Konfession und Gesellschaft 11). Vgl. FAZ, 23.02.2000 (FRIEDRICH NIEWÖHNER, Das Halbe und das Ganze. Adolf von Harnack über das Wesen des Judentums); 15.03.2000 (JOHANN HINRICH CLAUSSEN, Sprung und Wagnis. Adolf von Harnack, Kulturprotestantismus und Judentum); 20.03.2000 (Leserbrief DIETRICH KORSCH, Adolf von Harnack kein völkisch‐deutscher Antisemit). E.I. KOURI, Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage 1870‐1919. Zur Sozi‐ alpolitik im Bildungsbürgertum, Berlin/New York 1984, V (Arbeiten zur Kirchenge‐ schichte 55).
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Wilhelminischer Protestantismus
kommen hat. In dieser Perspektive kam auch die evangelische Kirche in die Kritik. Thomas Nipperdey hat dies folgendermaßen charakterisiert: „Die Erinnerung an das Bündnis von Thron und Altar, an den ,Sündenfall’ des Nationalismus, an das bürgerliche Versagen vor der sozialen Frage bestimmen das gängige Bild – die Kirche der wilhelminischen Zeit sitzt auf der Anklagebank.“ Um dann freilich sogleich anzufügen: „Sehen wir zu.“4 Während der beiden letzten Jahrzehnte weiteten sich die Ausgangs‐ fragen aus: Vor allem verstärkte sich „das Interesse an den vorwärts‐ weisenden, ,modernen’ Elementen dieses kaiserlichen Deutschlands, das den Sprung von einer weitgehend mittelständisch‐agrarischen zu einer hochindustrialisierten und reich differenzierten Industriegesellschaft vollzog“5. Wenn man so will, kommt inzwischen stärker als zuvor in den Blick, was Deutschland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert trotz aller Lähmung durch das herrschende obrigkeitsstaatliche System zu einer ansatzweise modernen Gesellschaft werden ließ. Um allerdings gleich Missverständnissen vorzubeugen: Der Begriff der „Modernität“ ist in sich umstritten und vielschichtig. Ich deute ihn im gegebenen Zu‐ sammenhang als eine Haltung weitgehend zweckrationaler Welt‐ und Lebensorientierung, die sich auffällig von traditionellen Einstellungsmus‐ tern abhob. Dazu im weiteren Verlauf meiner Überlegungen mehr! Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Leitperspektive, die meine weiteren Ausführungen bestimmen soll: Das wilhelminische Zeitalter war von einer starken Ambivalenz geprägt: Der gesellschaftliche Wandel provozierte nicht nur die Erfahrung von Diastase und Heterogenität, sondern auch die Suche nach Integration. Hier hatte der„wilhelminische Protestantismusʺ seinen spezifischen Ort.
2. Eingrenzungen Wenn ich von „wilhelminischem Protestantismus“ spreche, sind darin Implikationen enthalten, die ich zumindest andeutungsweise entfalten muss. 1. Als 1888, im sogenannten „Drei‐Kaiser‐Jahr“, der gerade 29 Jahre alte Wilhelm II. nach dem Tod seines Vaters Friedrich III. König von Preu‐ ßen und zugleich deutscher Kaiser wurde, verband sich mit seinem 4
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THOMAS NIPPERDEY, Religion im Umbruch. Deutschland 1870‐1918, München 1988, 92 (Beckʹsche Reihe 363), vgl. auch GANGOLF HÜBINGER, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus in Deutschland, Tü‐ bingen 1994, 12. E.I. KOURI, Protestantismus, V (s. Anm. 3).
2. Eingrenzungen
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Regierungsantritt mehr als ein bloßer Thronwechsel. Bisher war die Poli‐ tik Preußens und des Kaiserreichs wesentlich durch Bismarck bestimmt worden. Doch schon 1890 entließ Wilhelm den Kanzler. Fortan regierte der Kaiser viel eigenmächtiger als sein Großvater in die Politik hinein. Wilhelm II. suchte politischen Einfluss zu nehmen, sodass auch dieje‐ nigen Entwicklungen, die nur mittelbar mit ihm zu tun hatten, sich mit seinem Namen verbanden. Dafür hat sich die Bezeichnung „wilhelmi‐ nisches Zeitalter“ eingebürgert. Die Jahrhundertwende markiert seine umfassende Gestaltwerdung und Entfaltung. Ob die Übertragung die‐ ser Kennzeichnung auf Erscheinungsformen des damaligen Protestan‐ tismus sachgemäß ist, wird sich herausstellen. 2. Die Rede vom „wilhelminischen Protestantismus“ scheint das zeitgenössische evangelische Deutschland ausschließlich aus preußi‐ schem Blickwinkel zu erfassen. Das hat schon damals manche geärgert, die sich im deutschen Kaiserreich nicht nur staatlich, sondern auch kirchlich‐konfessionell durch Preußen dominiert fühlten. Wird also, so könnte man mit Recht einwenden, der Protestantismus an der Wende zum 20. Jahrhundert „preußisch“ vereinnahmt? Aber man muss zugleich zugestehen, dass die Vormachtstellung Preußens im Kaiser‐ reich nicht zu leugnen ist: Immerhin waren zwei Drittel des gesamten Reichsgebietes (von Aachen bis Königsberg) preußisch! Was sich in Berlin oder von Berlin aus ereignete, hatte prägende Bedeutung für ganz Deutschland – und damit für den Protestantismus in der Vielzahl seiner unterschiedlichen Landeskirchen. Deshalb wird, wohl oder übel, viel von Preußen die Rede sein. 3. Schließlich bleibt schlicht festzuhalten, dass der Begriff „wilhel‐ minischer Protestantismus“ eine bestimmte Ausprägung des Staates mit einer bestimmten Ausprägung von „Kirche“ verknüpft: nämlich das wilhelminische Kaiserreich mit der evangelischen Kirche in der Spielart der altpreußischen Union – also jenem von Friedrich Wilhelm III. 1817 initiierten Versuch, die Trennung der lutherischen und reformierten Konfessionen zu überwinden. Preußen war protestantisch bestimmt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es im preußischen Staat – etwa im Rheinland, in Westfalen oder in Schlesien – große Gebiete mit katholischer Bevölkerung gab. Diese machte allerdings nur ein Drittel der Gesamtbewohner aus; der Rest war evangelisch. Stets hatten sich die preußischen Könige als oberste Bischöfe ihrer evangelischen Kirche verstanden und bisweilen unmittelbar – aus durchaus geistlichen Mo‐ tiven! – in die Kirchenpolitik eingegriffen. Die enge Beziehung von „Thron und Altar“ – Kurzformel für das landesherrliche evangelische Kirchenregiment – war in Preußen geradezu identifikatorisch auf die Spitze getrieben: ,Protestantisch’ bedeutete ‚preußisch’, ‚preußisch’
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Wilhelminischer Protestantismus
bedeutete ‚protestantisch’ – und dies in einer Weise, die zur Ausprä‐ gung einer bestimmten, unverwechselbaren Mentalität führte. Seit 1871 musste solch eine Haltung zwangsläufig das geeinte Deutschland bestimmen. Auch hier gab es immerhin knapp zwei Drittel Evangeli‐ sche! Nicht im strengen konfessionellen Sinn, wohl aber von seiner leitenden Mentalität her war das Kaiserreich preußisch protestantisch: nüchterne Frömmigkeit, Ausbildung einer sittlichen Persönlichkeit, Pflichtbewusstsein und Staatsloyalität waren die bestimmenden Kenn‐ zeichen dieser Mentalität.
3. Der gesellschaftlich‐politische Wandel Dass sich in Deutschland seit der Reichsgründung in vielfacher Hin‐ sicht ein rasanter struktureller Wandel vollzog, der tief in die bisherige Lebenswelt hinreichte, ist allgemein bekannt6. Mit drei Schlaglichtern will ich den Umwälzungsprozess wenigstens skizzieren. Er bildet die Bedingungen ab, die evangelische Kirche und Theologie herausgefor‐ derten, ihren spezifischen Ort in der Gesellschaft zu bestimmen.
3.1. Bevölkerungsentwicklung und Industrialisierung Zunächst ist das erhebliche Bevölkerungswachstum zu nennen: 1871 wohnten in Deutschland 41 Millionen Menschen, 1910 bereits rund 64 Millionen. Das entspricht innerhalb von 39 Jahren einem Zuwachs von 58,2 %7. Diese enorme Vermehrung der Bevölkerung – und damit auch der Erwerbstätigkeit – konnte nicht ohne Auswirkungen auf die be‐ rufsständische Schichtung bleiben. Hier kam es zu markanten Ver‐ schiebungen: 1895 hatte die Zahl der Berufstätigen in Industrie, Handel und Verkehr die Zahl der Erwerbstätigen in Land‐ und Forstwirtschaft endgültig überflügelt8. Arbeitsplätze gingen auf dem Land (auch durch den Einsatz moderner Bearbeitungstechniken) verloren, wogegen die Industrialisierung in den Städten eine Vielzahl von Arbeitskräften er‐ forderte. Das hatte eine erhebliche Binnenwanderung in Ost‐West‐ Richtung zur Folge und ließ bestimmte Gegenden in Deutschland zu Ballungsgebieten werden: Vor allem das ehedem ländliche Ruhrgebiet, 6 7 8
Vgl. umfassend HANS‐ULRICH WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, 1250‐1295. Zahlen nach ebd., 494. Vgl. Historisches Lesebuch, Bd. 2: 1871‐1914, hg. und eingel. v. GERHARD A. RITTER, Frankfurt 1967, 27‐31.
3. Der gesellschaftlich‐politische Wandel
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aber auch die Hauptstadt Berlin wuchsen innerhalb weniger Jahre in einer atemberaubenden Geschwindigkeit zu urbanen Agglomeratio‐ nen9. Nicht von ungefähr verbindet sich damit der Begriff der „Grün‐ derzeit“. Seit 1895 setzte, nach einer vorausgegangenen Depression, eine Phase fulminanter ökonomischer Prosperität ein, die „eine bis 1913 anhaltende Hochkonjunkturperiode eröffnete“10. Jährliche Wachstums‐ raten des Nettoinlandprodukts bis 1900 von durchschnittlich über 4 % sind dafür nur ein Indiz.
3.2. Wissenschaft und Bildung Der Industrialisierungsschub in Deutschland war nicht denkbar ohne den gleichzeitigen wissenschaftlich‐technologischen Fortschritt, den man sich auf allen Gebieten zunutze zu machen suchte. Elektrizität und Chemie traten ihren Siegeszug an. Wesentliche Neuerungen, die die industriellen Produktionsmöglichkeiten förderten, wurden in diesen Jahren entwickelt. Verbunden damit ist geradezu eine Bildungseupho‐ rie festzustellen. Der Originalton eines prominenten Zeitzeugen, des Berliner Theologen Reinhold Seeberg, lässt das verbreitete Bewusstsein nachempfinden: „Wir haben im Lauf des Jahrhunderts eine gewaltige Ausbreitung der Bildung erlebt. Der Analphabet gehört der Vergan‐ genheit an. Es wird in unserem Zeitalter mehr gelesen als jemals früher in der Geschichte. Die Ereignisse des Tages, die politischen Bewegungen lernt jeder durch die Zeitung kennen. Ein Strom von Interessen wird durch sie dem Volke zugeführt. Die Fortschritte der Methodik in der Volksschule, das politische Leben, die Militärzeit, die neuen Erfindun‐ gen und ihr Einfluß auf die Praxis wirken zusammen zur Ausbreitung geistiger Interessen und des Verständnisses der Welt.“11 Wem dies allzu euphorisch klingt, mag sich an das Urteil von Hans‐Ulrich Wehler halten, der gewiss nicht im Verdacht einer übertriebenen Affinität zum Kaiserreich steht: „In einer Langzeitperspektive ist die Entwicklung des Bildungssystems im Kaiserreich eine Aufstiegsgeschichte, die zu Erfol‐ gen geführt hat, von denen dieses System zum guten Teil bis in die 1960er Jahre zehren konnte.“12 Rationalismus und nüchterner Realis‐ 9
Zur Verstädterung im 19. Jahrhundert vgl. CLEMENS ZIMMERMANN, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt/Main 1996, 13‐38. 10 WEHLER, Gesellschaftsgeschichte 3, 595 (s. Anm. 6). 11 REINHOLD SEEBERG, Die Kirche Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert. Eine Einführung in die religiösen, theologischen und kirchlichen Fragen der Gegenwart, Leipzig 21904, 185. 12 WEHLER, Gesellschaftsgeschichte 3, 1191 (s. Anm. 6).
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Wilhelminischer Protestantismus
mus entwickelten sich zur weithin vorherrschenden Denkart, die sich von der zuvor bestimmenden idealistischen Geisteshaltung absetzte. Das „Verständnis der Welt“ war nun empirisch begründet. Deutsch‐ land wurde vom Kopf auf die Füße gestellt.
3.3. Nationalismus und imperialistische Expansionspolitik Das Deutsche Reich war – verfassungsmäßig gesehen – ein Bundes‐ staat. Diese formale konstitutionelle Sicht wurde jedoch überwölbt durch den Gedanken der Vollendung der deutschen Einheit, der 1871 in der Proklamation Wilhelms I. zum deutschen Kaiser seinen Aus‐ druck fand. Unter dieser Voraussetzung lässt sich politisch gesehen in den Folgejahren eine zunehmende Nationalisierung der Gesellschaft beobachten, in der die Reichsidee gleichsam überhöhte Züge gewann und das Stigma, „Reichsfeinde“ zu sein, die Versuche gesellschaftlicher Ausgrenzung begründete: Davon betroffen waren bekanntlich vor allem das katholische und das sozialdemokratische Milieu, teilweise auch das Judentum13. Gegenüber deren „Internationalismus“, aber auch gegen‐ über der anachronistisch gewordenen kleinteiligen Territorialprägung verhieß der reichsdeutsche Nationalismus die Ausbildung einer neuen gemeinsamen Identität – freilich mit der Kehrseite eines starken gesell‐ schaftlichen Konformitätsdrucks, der sich allmählich in einen Chauvi‐ nismus wandelte. Außenpolitisches Komplement dieses Nationalismus war in den 90er Jahren der deutsche Imperialismus. Als „verspätete Nation“ such‐ te das Kaiserreich seinen Ort im Gefüge der Großmächte und bean‐ spruchte den von Wilhelm II. geforderten „Platz an der Sonne“. Das Interesse an überseeischen Kolonien entstand nicht nur aus dem Bedarf an preiswerten Rohstoffen, sondern sollte auch den neugewonnenen Status Deutschlands dokumentieren: Insofern besaß es neben unmittel‐ bar imperialistischen auch symbolhafte Züge. Seit 1884 hatte der Kolo‐ nialerwerb eingesetzt. Von Südwestafrika bis nach Samoa und Kiaut‐ schou gab es nun deutsche „Schutzgebiete“, wie es in amtlicher Verbrämung hieß. 1897 entwickelte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt und spätere Reichskanzler, Bernhard von Bülow, in einer Reichstagsrede den Anspruch des deutschen Reiches, bei Fragen der Weltpolitik mitreden zu wollen, in folgenden bezeichnenden Worten: „Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservier‐ 13 Ebd., 953f.
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te, wo die reine Doktrin thront [Hier verzeichnet das Protokoll Heiter‐ keit und Bravorufe!] – diese Zeiten sind vorüber. Wir betrachten es als eine unserer vornehmsten Aufgaben, gerade in Ostasien die Interessen unserer Schiffahrt, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen.“14 Dass diesem erklärten Ziel eine entsprechende mili‐ tärische Aufrüstung – und damit einhergehend eine Militarisierung der Gesellschaft – folgen würde, liegt auf der Hand und hat die gesell‐ schaftliche Entwicklung im Kaiserreich seit der Jahrhundertwende fortschreitend bestimmt.
4. Erfahrung der Diastase 4.1 Politisch Bei alledem war das Alte keineswegs vergangen. Noch trugen die Stüt‐ zen des bisherigen Systems den expandierenden deutschen Staat: Adel, Militär, Beamtentum, evangelische Kirche. Aber sie standen weithin für das beharrende, konservative Element im wilhelminischen Kaiserreich. Die bisherige Gesellschaftsordnung musste flexibler und offener werden, um die Veränderungen aufnehmen zu können und die eigene Zukunft nicht zu verspielen. Das sahen selbst die Vertreter jener „staats‐ tragenden“ Gruppierungen. Sie bekamen es handfest mit, wie der poli‐ tische Einfluss der Industriellen, beispielsweise der sogenannten „Stahlbarone“, wuchs, mochte man sie hinter vorgehaltener Hand noch so sehr als Parvenüs bezeichnen. Verglichen mit Reichtum und realer Macht der rheinisch‐westfälischen oder saarländischen Industriellen nahm sich der Adel in Brandenburg und Pommern geradezu kümmer‐ lich aus! Irritationen im Gesellschaftsgefüge blieben nicht aus. Denn die al‐ ten Stützen der Gesellschaft erlebten es, wie der bürgerliche Liberalis‐ mus mit der bisherigen Ständeordnung wenig im Sinn hatte. Das betraf unmittelbar auch die Stellung der evangelischen Kirche. Die Verbin‐ dung von Thron und Altar etwa war stärker umstritten, als wir heute meinen möchten, und führte bereits in dieser Zeit zu einer „Entflech‐ tung von kirchlichen und staatlichen Strukturenʺ15. Die liberale Presse bot dazu die Begleitmusik und prangerte die katholische ebenso wie 14 Historisches Lesebuch 2, 301 (s. Anm. 8). 15 KURT NOWAK, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, 185.
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die evangelische Kirche als „versteinerte Relikte aus einer längst über‐ wundenen dunklen Vergangenheit“ an; sie seien „bösartige und ge‐ meingefährliche Monstren, die die Freiheit vernichteten und den Fort‐ schritt hinderten“16. So gesehen stellte sich das politische Tableau um die Jahrhundertwende als äußerst inhomogen dar. Die pluralistischen Tendenzen waren bedeutender, als man auf den ersten Blick meinen wollte.
4.2. Sozial Diese Einschätzung wird noch verstärkt, wendet man sich einem weite‐ ren gesellschaftlichen Bereich zu: Der Modernisierungsschub des wil‐ helminischen Deutschlands hatte seine Kehrseite. Das kam vor allem in den ungelösten sozialen Spannungen zum Ausdruck, die sich auf dem Land ebenso wie in den Städten ergaben. Die Situation der Industriear‐ beiter und ihrer Familien mochte sich aufgrund der Sozialgesetzgebung verbessert haben, die in den 80er Jahren eingeführt worden war: Es gab nun Kranken‐, Invaliditäts‐ und Altersversicherung. Aber wer erreichte schon damals als Industriearbeiter das 65. Lebensjahr und damit die sehr niedrig bemessene Altersrente!? Insgesamt gesehen blieb diese Bevölkerungsgruppe, die 1895 – Familienangehörige eingeschlossen – immerhin rund 40 % der Deutschen ausmachte, weiterhin politisch, rechtlich und sozial massiv behindert. Dies musste die Entwicklung der politischen Organisationen der Arbeiterschaft nur fördern: Von 1890 an begann der Aufstieg der Sozi‐ aldemokratie und der Gewerkschaften zur Massenbewegung. Bei‐ spielsweise wuchs bei den Reichstagswahlen der Stimmenanteil für die Sozialdemokraten unaufhörlich: Hatte er 1871 bei der 1. Reichstagswahl nach 3,2 % betragen, machte er 1903 bei der 11. Reichstagswahl bereits 31,7 % aus17. Natürlich blieb auch die Arbeiterschaft nicht vollends von der nationalistischen Suggestion verschont, die andere gesellschaftliche Gruppen wie Adel, Bauern‐ und Bürgertum erfasst hatte. Doch insge‐ samt misslang der Ausgleich zwischen Arbeiterschaft und monarchi‐ schem Obrigkeitsstaat. Hier blieb ein dauerhaftes Konfliktpotential bestehen.
16 MARTIN GRESCHAT, Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das Christentum vor der Moderne, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1980, 210 (Christentum und Gesellschaft 11). 17 Historisches Lesebuch 2, 366f (s. Anm. 8).
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4.3. Kulturell Auch unter kulturellem Gesichtspunkt herrschte der Aufbruchs‐ und Fortschrittsgeist der wilhelminischen Zeit nicht ausschließlich und un‐ angefochten. Die gesellschaftlichen Entwicklungen wurden von man‐ chen als so dramatisch empfunden, dass sie sie nur noch als eine tiefgrei‐ fende Sinnkrise deuten konnten. Vielleicht wird die Ambivalenz des wilhelminischen Zeitalters um die Jahrhundertwende hier sogar be‐ sonders signifikant. Nicht nur der Optimismus, auch der Kulturpessi‐ mismus hatte Hochkonjunktur. Der junge Theologieprofessor Ernst Troeltsch hatte schon 1896 bei einer Konferenz liberaler Theologen das aufziehende Krisengefühl, das sich mit den diastatischen Veränderungen im gesellschaftlichen, kultu‐ rellen und religiösen Gefüge verband, auf den Punkt gebracht, indem er seinen Redebeitrag mit den berühmt gewordenen Worten begann: „Meine Herren, es wackelt alles“18! Innerhalb des bürgerlichen Milieus machten sich Beklommenheit und Unsicherheit breit. Friedrich Nietz‐ sche war gerade bei den Intellektuellen in seiner Radikalität salonfähig. Dem Säkularisierungsschub korrespondierte im protestantisch domi‐ nierten Bürgertum eine gleichzeitig spürbare Sehnsucht nach Sakralität, deren Befriedigung freilich außerhalb des herkömmlichen institutionel‐ len Rahmens der Kirchen gesucht wurde. Modern gesprochen: Eine frei floatende Religiosität begann sich auszubilden, ebenso kultur‐ wie tech‐ nikkritisch und meist von pantheistischen Gedanken beseelt19. Am sinnfälligsten wird die Ambivalenz von vorwärtsstrebenden und restaurativen Tendenzen und deren Unentschiedenheit vielleicht im Baustil der Gründerzeit: Äußerlich betrachtet bediente man sich der architektonischen Formensprache der Vergangenheit, und zwar nicht in einem einheitlichen Stil, sondern in willkürlicher Stilvermischung. Was einem gerade gefiel, wurde – wie ein Zitat – zur Dekoration ver‐ wendet. Pompös‐repräsentativ war das Ganze ausgerichtet, und was die Stilistik anging, am besten alles auf einmal! Andererseits erleichterte diese „wahlweise Anwendung, Abwandlung und Kombination der jeweils geeigneten Elemente verschiedener historischer Stile ... die An‐ passung an neue Bauaufgaben und neue Konstruktionen“20. Man konn‐ te – von der Funktionalität eines Gebäudes her gesehen – sehr modern 18 Vgl. HANS‐GEORG DRESCHER, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, 148f. 19 Vgl. dazu NIPPERDEY, Religion, 143‐153 (s. Anm. 4); NOWAK, Geschichte, 181‐185 (s. Anm. 15). 20 WERNER MÜLLER/GUNTHER VOGEL, dtv‐Atlas zur Baukunst. Tafeln und Texte, Bd. 2: Baugeschichte von der Romanik bis zur Gegenwart, München 41985, 497.
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bauen; man konnte Eisen und Stahl als neue Baumaterialien verwenden und damit die bisherigen Grenzen der Baustatik kühn überwinden. Insofern sind die Wohn‐ und Industriebauten der Gründerzeit deutlicher als manches andere ein Indiz für das von mir beschriebene Doppelgesicht der wilhelminischen Zeit.
5. Versuche der Integration Wo hatten in dieser uneindeutigen Gemengelage evangelische Kirche und Theologie ihren Ort und ihre Bedeutung? Zu den Kennzeichen des „wilhelminischen Protestantismus“ gehört, dass beide Bereiche, institu‐ tionelle Kirche und universitäre Theologie, nicht mehr unbedingt de‐ ckungsgleich sind. Auch hier tritt, schon durch das gesamte 19. Jahr‐ hundert hin angelegt, die Diastase klar zum Vorschein. Gleichwohl suchten beide, evangelische Kirche und evangelische Theologie, auf ihre Weise innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Gefüges eine spezifi‐ sche integrative Funktion zu erfüllen. Sie lässt sich anhand der drei von mir geschilderten Spannungsfelder verdeutlichen.
5.1. Kirche im Dienst der nationalen Identitätsgewinnung Die seit Jahrhunderten bestehende Verbindung von Thron und Altar war in der Sicht der Kreise, die das traditionelle evangelische Staatskir‐ chentum stützten, 1871 zu ihrem Höhepunkt gelangt. Manche sahen in der Reichsgründung nichts weniger als die Vollendung der Reformati‐ on! Von daher verband sich die auf den Staat ausgerichtete Kirche sehr schnell mit den Implikationen des Nationalgedankens: „Der reichs‐ deutsche Nationalprotestantismus stieg binnen kurzem zur stärksten geistigen Macht in der Amtskirche und in den Gemeinden auf, er hat die Sozialmentalität mehrerer politischer Generationen von Protestan‐ ten nachhaltig beeinflußt – mit verhängnisvollen Auswirkungen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein.“21 Der Gedanke der Nation erhielt durch diese protestantische Adaption durchaus den Charakter einer „politischen Wertidee“22, die sich durch die kirchlichen Institutionen hindurch als allgemeines Bewusstsein vermittelte. Zugleich verbanden sich damit starke anti‐katholische Affekte. „Im Grunde war man von der Identität nationaldeutscher und protestantischer Gesinnung über‐ 21 WEHLER, Gesellschaftsgeschichte 3, 1171 (s. Anm. 6). 22 HÜBINGER, Kulturprotestantismus, 235 (s. Anm. 4).
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zeugt.“23 Auch wenn es zum Erscheinungsbild der wilhelminischen Ära hinzugehört, konstatieren zu müssen, dass der größte Teil der evan‐ gelischen Bevölkerung inzwischen weitgehend der traditionellen Kir‐ che entfremdet war und fortan entfremdet blieb, wird man den soziali‐ sierenden Beitrag der evangelischen Kirche zur Formung einer nationalen Identität und zur Stabilisierung der Monarchie nicht unter‐ schätzen dürfen. Thron und Altar profitierten wechselseitig voneinan‐ der. Die evangelische Kirche kam der ihr zugeschriebenen Funktion als religiöse Legitimations‐ und Integrationsinstanz des Deutschen Reiches überwiegend nach. Von außen betrachtet mochte sich die evangelische Kirche immer noch glanzvoll darstellen. Noch einmal sei ein Blick auf Stadtplanung und Architektur gestattet, an denen sich meines Erachtens Ort und Funktion der Kirche innerhalb des gesellschaftlichen Systems am an‐ schaulichsten erkennen lassen: Das wilhelminische Zeitalter brachte vor allem für Berlin, aber auch andernorts einen regelrechten „Kirchenbau‐ Boom“24 . Für die unaufhaltsam wachsenden Parochien in Berlin muss‐ ten entsprechende Kirchen errichtet werden. Zwischen 1890 und 1914 wurden allein in der Reichshauptstadt 75 evangelische Kirchen gebaut. Anders gewendet heißt das: Alle vier Monate wurde in Berlin eine Kir‐ che eingeweiht! Ähnlich war es im Ruhrgebiet25. Die Namen dieser neu errichteten evangelischen Kirchen glichen sich weithin: Allerorten gab es jetzt – in typisch protestantischer Diktion – „Christuskirchen“, „Lu‐ therkirchen“, „Friedenskirchen“, „Kreuzkirchen“ oder „Erlöserkir‐ chen“ (1898 auch in Jerusalem!), um nur die geläufigsten Namenge‐ bungen zu nennen. Das Kaiserhaus schaltete sich unmittelbar in diese Kirchbau‐Bewegung ein. Kaiserin Auguste Viktoria übernahm das Protektorat über den 1890 gegründeten Kirchbauverein. Das Engagement des Kaiserhauses hatte – unabhängig von der Fra‐ ge nach dessen persönlicher Frömmigkeit – doch recht weltliche Grün‐ de. Es ging namentlich Wilhelm II., „wie vielfach bezeugt ist, in alle‐ 23 NIPPERDEY, Religion, 81 (s. Anm. 4). 24 HANNS CHRISTOF BRENNECKE, Protestantischer Kirchenbau an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: Geschichte des protestantischen Kirchenbaues. FS für Peter Po‐ scharsky zum 60. Geburtstag, hg. v. KLAUS RASCHZOK und REINER SÖRRIES, Erlangen 1994, S. 119 (überarbeitete Fassung veröff. u.d.T. „Zwischen Tradition und Moderne. Protestantischer Kirchenbau an der Wende zum 20. Jahrhundert“, in: Der deutsche Protestantismus um 1900, hg. v. FRIEDRICH WILHELM GRAF und HANS MARTIN MÜL‐ LER, Gütersloh 1996, S. 173‐203 [Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesell‐ schaft für Theologie 9]). 25 Vgl. dazu WERNER FRANZEN, Evangelischer Kirchenbau und Industrialisierung im westlichen Ruhrgebiet 1870‐1914, in: Geschichte des protestantischen Kirchenbaus, 101‐113 (s. Anm. 24).
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rerster Linie nicht um die Schaffung seelsorgerlich verantwortlicher Größen der Gemeinden und eine vernünftige pfarramtliche Versor‐ gung in den ungeheuer schnell wachsenden Großstädten und beson‐ ders ihren von sozialer Not gekennzeichneten Arbeiterquartieren, son‐ dern um die Eindämmung der Sozialdemokratie. Der Bau von Kirchen sollte, so die irrige Hoffnung, die nach Berlin und in andere Großstädte einströmenden, sozial entfremdeten und der Kirche inzwischen meist fernstehenden Industriearbeiter ... der Kirche zurückgewinnen und gegen sozialdemokratische Einflüsse immun machen. Daß dies nicht gelang, sondern eher das Gegenteil eintrat, ist hinlänglich bekannt.“26 Die Prachtkirchen etwa im Berliner Stadtteil Kreuzberg waren impo‐ nierend, und imponierten doch nicht. Umgekehrt heißt dies auch: Die nationale Integrationskraft der evangelischen Kirche blieb – allen Zu‐ schreibungen und eigenen Anstrengungen zum Trotz – auf bestimmte gesellschaftliche Milieus beschränkt. Seinen zu Stein gewordenen Ausdruck fand der wilhelminischen Protestantismus in Wittenberg: Die Schlosskirche wurde durch die Umbaumaßnahmen im Jahr 1892 zu einer Weihestätte preußisch‐ protestantischer Nationalkultur. Auf den Umbau nahm das kaiserliche Haus direkten Einfluss: Der Bogen von Luther zu den Hohenzollern war geschlagen, und als sichtbares Zeichen erhielt der Turm der Schlosskirche – ganz nach dem Geschmack der kaiserlichen Familie – seine unverwechselbare Pickelhaube. Enger konnten, baulich gesehen, Wilhelminismus und Protestantismus nicht verbunden werden!
5.2. Kirche und soziale Frage Indes lässt sich der gesellschaftliche Ort des Protestantismus nicht nur von den Kirchenbauten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts her bestimmen. Vielen evangelischen Christen war die soziale Not weiter Teile der Bevölkerung und die damit gegebenen Spannungen sehr bewusst. Spätestens seit den diakonischen Aktivi‐ täten des ebenso bekannten wie umstrittenen Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker setzte in den beiden letzten Jahrzehnten „auch in breite‐ ren evangelischen Kreisen die Bewußtseinsbildung ein für die grund‐ sätzliche Herausforderung, die das Phänomen der Hochindustrialisie‐ rung für die evangelischen Landeskirchen und für den Protestantismus insgesamt bedeutete“27. Für Stoecker war nicht die Sozialdemokratie 26 BRENNECKE, Kirchenbau, 120 (s. Anm. 24). 27 GRESCHAT, Zeitalter, 211 (s. Anm. 16).
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der eigentliche Gegner, gegen den es sich kirchlich zu stellen gelte, sondern er bekämpfte einen ungehemmten Liberalismus als die Wurzel des sozialen Übels. Seine Kritik am Wirtschaftsliberalismus hätte schär‐ fer nicht ausfallen können. Sie galt einer „Haltung, die lauthals von Freiheit sprach – und dabei die Freiheit zu verhungern gelassen mit einschloß“28. Die Berührungsängste, die in vielen protestantischen Kreisen gegenüber dem Anliegen der Arbeiterbewegung herrschten, konnten so zwar nicht beseitigt, aber doch durchbrochen werden. Frei‐ lich war der Preis, den Stoecker bewusst in Kauf nahm, hoch genug: Denn den von ihm attackierten Liberalismus sah er vornehmlich durch das Judentum bestimmt, was ihn zu einem exzessiven Antisemitismus verleitete. Diese Identifikation bleibt bei der Analyse seines sozialpoli‐ tischen Ansatzes stets zu beachten! Insgesamt lassen sich im Blick auf den Umgang mit der sozialen Frage im zeitgenössischen Protestantismus zwei Tendenzen feststellen: Auf der einen Seite bemühte sich etwa die auf Stoeckers Initiative ge‐ gründete Berliner Stadtmission als ein „freies Werk“ um eine Linde‐ rung der unmittelbar vor Augen stehenden sozialen Notstände29. Das zog die Gründung von Stadtmissionen in anderen Städten nach sich, wie sich überhaupt eine Vielzahl diakonischer Aktivitäten in entspre‐ chenden Vereinen und Verbänden30 abspielte, die jenseits des traditio‐ nellen und an dieser Stelle als immobil empfundenen evangelischen Kirchentums ihren Ort hatten. Auf der anderen Seite suchte der Protestantismus sich auch ge‐ danklich den Herausforderungen der modernen industriellen Welt zu öffnen. Zu diesem Zweck war 1890 der Evangelisch‐Soziale Kongress ins Leben gerufen worden, der – ebenfalls auf Stoeckers Anregung zurückgehend – fortan regelmäßig tagte und über soziale Fragen beriet. Nach dem Urteil von Martin Greschat empfanden es die Zeitgenossen „als kleine Sensation, daß hier Vertreter der unterschiedlichen theologi‐ schen und kirchenpolitischen Richtungen, die sich sonst nur erbittert befehdeten, zusammentreten konnten“31. Im Arbeitsprogramm des 28 Ebd., 212. 29 Vgl. MARTIN GRESCHAT, Die Berliner Stadtmission, in: DERS., Protestanten in der Zeit. Kirche und Gesellschaft in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, hg. v. JOCHEN‐CHRISTOPH KAISER, Stuttgart/Berlin/Köln 1994, 18‐35. 30 Vgl. dazu JOCHEN‐CHRISTOPH KAISER, Die Formierung des protestantischen Milieus. Konfessionelle Vergesellschaftung im 19. Jahrhundert, in: Religion im Kaiserreich. Milieus ‐ Mentalitäten ‐ Krisen, hg. v. OLAF BLASCHKE und FRANK‐MICHAEL KUH‐ LEMANN, Gütersloh 1996, 257‐289 (Religiöse Kulturen der Moderne 2); DERS., Protes‐ tantismus und Sozialpolitik. Der Ertrag der 1890er Jahre, in: DERS. /LOTH, Soziale Re‐ form, 94‐113 (s. Anm. 1). 31 GRESCHAT, Zeitalter, 218 (s. Anm. 16).
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Kongresses hieß es, wünschenswert sei, „daß in Zukunft auf jedem Kongreß womöglich je ein sozial‐kirchliches, ein sozialethisches und ein sozialpolitisches, namentlich auch sich auf die sozialdemokratische Bewegung beziehendes Referat gehalten wird“32. Die Reaktion auf die brennenden sozialen Probleme entwickelte also zunächst nach innen wie nach außen eine einende Kraft. Dem verbreiteten Pauschalurteil, die Kirche habe die soziale Not der Zeit aus den Augen verloren, wird man mindestens für den Beginn der 90er Jahre entgegenhalten müssen, dass es damals geradezu „eine sozialreformerische Aufbruchsstimmung in der Kirche“ gab, die Nip‐ perdey sogar „von einer Art ,Pastorensozialismus’“33 sprechen lässt. Der Evangelische Oberkircherat in Berlin als oberste Kirchenbehörde in Preußen forderte in einer „Ansprache“ vom 17. April 1890 alle Geistli‐ chen – wenn auch in deutlich antisozialistischer Frontstellung – dazu auf, sich sozialaktiv zu betätigen34. Als sich Wilhelm II. jedoch 1895 unter dem Einfluss der Großindustrie von seiner ursprünglich durch‐ aus arbeiterfreundlichen Einstellung abwandte, suchte auch der Evan‐ gelische Oberkirchenrat diesen Aktivitäten von Pfarrern und Theolo‐ gen ein Ende zu setzen. Ein Zitat aus dem Zirkularerlass vom 16. Dezember 1895: ,,Den hervorgetretenen irrigen Anschauungen gegen‐ über kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß alle Versu‐ che, die evangelische Kirche zum maßgebend mitwirkenden Faktor in den politischen und sozialen Tagesstreitigkeiten zu machen, die Kirche selbst von dem ihr von dem Herrn der Kirche gestellten Ziele: Schaf‐ fung der Seelen Seligkeit ablenken müsse.“ Es sei Aufgabe der evange‐ lischen Kirche, dazu beizutragen, dass „die Normen des christlichen Sittengesetzes in Fleisch und Blut des Volkes übergehen und damit die christlichen Tugenden erzeugt werden, welche die Grundlagen unseres Gemeinwesens bilden: Gottesfurcht, Königstreue, Nächstenliebe“35. Klarer kann das offizielle staatskirchliche Programm der Kaiserzeit gegen Ende des Jahrhunderts kaum Ausdruck gewinnen. Natürlich bewegte die soziale Frage die Gemüter innerhalb des Protestantismus weiter und leisteten diakonische Einrichtungen im vorpolitischen Be‐ reich Beachtliches. Doch einer wirkungsvollen Verbindung von kir‐ chenamtlichem und freiem Engagement war die Stoßkraft genommen. Das Integrationspotential des wilhelminischen Protestantismus blieb 32 Zit. nach: Neuzeit. 2. Teil: 1870‐1975, hg. v. HANS‐WALTER KRUMWIEDE/MARTIN GRESCHAT/MANFRED JACOBS/ANDREAS LINDT, Neukirchen 31989, 26 (Kirchen‐ und Theologiegeschichte in Quellen IV/2). 33 NIPPERDEY, Religion, 111 (s. Anm. 4). 34 Abgedr. in: Neuzeit 2, 23‐26 (s. Anm. 31). 35 Zit. nach: ebd., 34.
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hier aufgrund seiner Konstitutionsbedingungen letztlich begrenzt. Um die Jahrhundertwende war er – hier stimme ich Greschats Einschät‐ zung zu – „offenkundig nicht in der Lage, die nach seinem Selbstver‐ ständnis zentrale Aufgabe der gesellschaftlichen Integration auf der Ebene der ,sozialen Frage’ zu bewältigen“. Umso stärker habe er dieses Anliegen, wie bereits ausgeführt, durch „Partizipation an einem innen‐ politisch und gesamtgesellschaftlich massiv favorisierten und geförder‐ ten imperialen Nationalismus“36 zu erreichen versucht.
5.3. Modernitätsanspruch der Theologie Im „Kampf um die Leitkultur“37 der wilhelminischen Gesellschaft kam der universitären Theologie eine hervorgehobene Stellung zu. Wissen‐ schaftlich auf hohem Niveau stehend, bestimmte der Gegensatz zwi‐ schen den sogenannten „Positiven“ und den „Liberalen“ die Zeit. Mit beiden Richtungen verbanden sich die Namen angesehener Theologen, die nicht von ungefähr in Berlin ihre eigentliche Wirkungsstätte fan‐ den: Auf der einen Seite der bereits erwähnte Reinhold Seeberg, fast so etwas wie der Theologe der wilhelminischen Kirchlichkeit, auf der anderen, der liberalen Seite Adolf Harnack, theologischer, aber darüber hinaus auch akademischer Repräsentant der wilhelminischen Fort‐ schrittlichkeit. Beide Galionsfiguren verstanden sich trotz unterschiedlicher Milieu‐ bindung als politisch national gesinnt: Hierin herrschte zwischen Kon‐ servativen und Kulturprotestanten Übereinstimmung. Und beide ver‐ standen sich als ,modern’. Auch dies ist zunächst in aller Deutlichkeit festzuhalten: ,Modernität’ stand für die Lager, die sie vertraten, außer Frage. Die Vermittlung mit den geistigen Tendenzen der Zeit war unab‐ weisbar an der Tagesordnung. Es wäre also völlig verfehlt, den sogenann‐ ten „positiven“ Theologen des Kaiserreichs einen rückwärtsgewandten, restaurativen Grundansatz unterstellen zu wollen! Freilich wurde „Modernität“ unterschiedlich gewichtet: Seeberg suchte den Anspruch der Zeitgemäßheit des theologischen Denkens mit dem Anspruch kirchlich überlieferter Wahrheit der Offenbarung zu ver‐ 36 MARTIN GRESCHAT, Christentumsgeschichte II. Von der Reformation bis zur Ge‐ genwart, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, 200 (Grundkurs Theologie 4); zum „Scheitern des Integrationskursesʺ des Evangelisch‐Sozialen Kongresses vgl. auch KURT NO‐ WAK, Sozialpolitik als Kulturauftrag. Adolf von Harnack und der Evangelisch‐ Soziale Kongreß, in: KAISER/LOTH, Soziale Reform, 79‐93, hier 83 (s. Anm. 1). 37 Unter diesen Begriff stellt NOWAK, Geschichte, 149‐209 (s. Anm. 15), seine Darstel‐ lung der Kirche im Kaiserreich.
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binden. Man mag dies als ein eher „apologetisches Werben um die Mo‐ derne“38 charakterisieren. Kritische Zeitgenossen im liberalen Bil‐ dungsbürgertum mochte dieser Versuch einer Synthese denn auch nicht zu überzeugen. Aber er war kirchlich gesehen breitenwirksam, weil er die Diastase von Tradition und Gegenwart aus der Gegenwart heraus zu überwinden suchte und zugleich der Tradition gerecht zu werden schien. Harnack verstand demgegenüber seine theologische Aufgabe sehr viel freier und ungebundener. Die Wahrheit des christlichen Glaubens sollte sich vor dem Forum bürgerlicher Intellektualität bewähren. Er war sich sicher, dass dies nicht nur gelingen müsse, sondern auch könne. Paradigmatisch für den hohen Anspruch, dem sich der Kulturpro‐ testantismus aussetzte, sind die Vorlesungen, die Harnack zum Jahr‐ hundertwechsel im Wintersemester 1899/1900 unter dem Titel „Über das Wesen des Christentums“ vor sechshundert Studierenden hielt. Im Mai 1900 als Buch publiziert, erlebten sie innerhalb weniger Jahre eine rasante Verbreitung und bekamen „den Rang eines Klassikers der protestanti‐ schen Theologie am Beginn des 20. Jahrhunderts“39. Von seinem wissenschaftlich‐kritischen Ethos her ging es Harnack darum, innerhalb des historisch nachweisbaren Wandels der Gestalt des kirchlichen Dogmas den bleibend gültigen Kern herauszuarbeiten und zugleich zeitgemäß zu verantworten40. Gerade er, der sich wie kaum ein anderer – Seeberg vielleicht ausgenommen! – durch eine souveräne Be‐ herrschung der gesamten dogmengeschichtlichen Überlieferung aus‐ zeichnete, plädierte für einen ausgesprochen reduktionistischen An‐ satz: Es gelte, meinte Harnack, den „Maßstab für das Wesentliche und wahrhaft Wertvolle“ zu entwickeln, um „Prinzipielles und bloß Histo‐ risches ... unterscheiden“ zu können. Zu diesem Kanon der Unterschei‐ dung erklärte er das „Evangelium im Evangelium“41. Das mag zu‐ nächst recht formal klingen, erhielt aber seine inhaltliche Bestimmtheit durch den Bezug auf die Verkündigung Jesu. Der Kern der Botschaft Jesu drückte sich für ihn in dem ebenso einfachen wie einprägsamen Gefüge aus: „Erkenntnis und Anerkennung Gottes als des Vaters, die Gewißheit der Erlösung, die Demut und Freude in Gott, die Thatkraft und die Bruderliebe.“42 Hierum gehe es im Evangelium – um nicht 38 NIPPERDEY, Religion, 76 (s. Anm. 4). 39 TRUTZ RENDTORFF, „Immer Gültiges in geschichtlich wechselnden Formen“. Einlei‐ tung zu Harnacks „Wesen des Christentums“, in: ADOLF VON HARNACK, Das Wesen des Christentums, hg. und komm. v. TRUTZ RENDTORFF, Gütersloh 1999, 7. 40 Vgl. HARNACK, Wesen, 61 (s. Anm. 39). 41 Ebd., 61f. 42 Ebd., 260.
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weniger, aber auch um nicht mehr. Harnack wurde nicht müde, dies immer wieder zu betonen: Der Wandel der äußeren Erscheinungsfor‐ men des Christentums tangiere nicht sein Wesen. Von der Selbstdurch‐ setzungsfähigkeit des Christentums war er durch den Blick auf die Vergangenheit auch für die Gegenwart überzeugt. Die emphatische Wahrnehmung historischer Kritik führte für ihn also nicht zur Destruk‐ tion des Christentums, sondern ließ ihn voller Optimismus in fast kon‐ fessorischem Ton erklären: Dieses Evangelium „hat den Wandel der Weltanschauungen überdauert; es hat Gedanken und Formen, die einst heilig waren, abgestreift wie ein Gewand; es hat an dem gesamten Fortschritt der Kultur teilgenommen; es hat sich vergeistigt und im Laufe der Geschichte seine sittlichen Grundsätze sicherer anzuwenden gelernt.“ Mit anderen Worten: Das Christentum sei die der modernen Welt gemäße Religion. Bis ins Einzelne scheint dieser Modernitätsanspruch durch Har‐ nacks Ausführungen hindurch: Wenn er etwa „die wichtigsten Bezie‐ hungen der Verkündigung Jesu“ darzustellen suchte und dabei die „Frage der Askese“, „die soziale Frage“, „die Frage nach den irdischen Ordnungen“ und die „Frage der Kultur“, aber auch nach Christologie und Bekenntnis in den Mittelpunkt rückte43, wird deutlich, dass er im Grunde zeitgenössische Probleme aufgriff und im Rückbezug auf die Verkündigung Jesu zu beantworten suchte. So gesehen blieb er als His‐ toriker immer zugleich Theologe. Ob dieser Versuch einer groß angelegten Versöhnung von Chris‐ tentum und moderner Lebenswelt erfolgreich oder nicht schon damals angesichts der pluralisierenden Tendenzen letztlich aussichtslos war, ist umstritten. Die hohe Zahl der Auflagen spricht dafür, dass Harnacks Ausführungen zumindest im protestantischen Bildungsbürgertum auf starke Resonanz stießen, weil sie in diesen Kreisen das Christentum vom Odium des Erledigten und Überholten befreien konnten. Religion schien, folgte man Harnack, im doppelten Sinn des Wortes ,gesellschaftsfähig’ zu sein. Auf der anderen Seite zeigte jedoch die Flut erbitterter Gegenschriften aus dem konservativen Lager, dass Harnacks integrierendes Programm eben doch nur einen kirchlich‐gesellschaft‐ lichen Partialbereich befriedigte. Auch hier zeigten sich die Grenzen.
43 Vgl. ebd., 107.
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Fazit Ist es nach alledem gerechtfertigt, von einem spezifischen „wilhelmini‐ schen Protestantismus“ zu sprechen? Nach meiner Einschätzung lautet die Antwort: Ja. Die Bedeutung der etablierten christlichen Religion in Gestalt der Kirchen hatte sich gegenüber der Wende zum Jahr 1800 grundlegend verändert. Das Erscheinungsbild war vielfältiger gewor‐ den, weil die gesellschaftlichen Bedingungen und Herausforderungen vielfältiger geworden waren. Dies bedingte gegen Ende des 19. Jahr‐ hunderts das Zurücktreten der innerevangelischen konfessionellen Gegensätze unter Beibehaltung eines katholischen Feindbildes. Der Protestantismus der Kaiserzeit partizipierte an der gesellschaftlichen Spannung von Beharrung und Aufbruch. Seine Aufgabe sah er darin, sie durch Integration auszugleichen. Genau darin ist er als Ausdruck seiner Zeit zu verstehen. Er kam zwangsläufig an sein Ende, als seine Voraussetzung, die Symbiose von Thron und Altar, mit dem Jahr 1918 endgültig auseinanderbrach. Insofern war der „wilhelminische Protes‐ tantismus“ keine bloße Übergangserscheinung, sondern das Phänomen eines vergehenden Zeitalters. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Monarchie mussten evangelische Kirche und Theologie (über‐ wiegend mühsam!) lernen, sich auf die neuen gesellschaftlichen Bedin‐ gungen einzustellen und Neuland zu betreten. Aber die Fragen aus der Zeit um 1900 sind im Grundsatz keines‐ wegs überholt, sondern aktuell geblieben und stellen sich – trotz mehr‐ facher Brechung im 20. Jahrhundert – heute neu. An den drei von mir hervorgehobenen Gesichtspunkten lässt sich dies leicht veranschauli‐ chen: − Politisch: Welchen integrierenden Beitrag kann die evangeli‐ sche Kirche im Spannungsfeld von Nation und europäischer Einigung leisten? − Sozial: Wie nimmt sie die soziale Frage unter den Bedingungen fortschreitender Globalisierung wahr? − Kulturell: Wie steht es um das „Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert“44? Die Antworten darauf müssen größtenteils neu gegeben werden. Doch die Erinnerung an die Versuche vor hundert Jahren lohnt sich – und sei es, um die damaligen Konstellationen kritisch in den Blick zu nehmen und aus den Fehlentwicklungen zu lernen. 44 So lautet nicht von ungefähr der Untertitel der Denkschrift „Gestaltung und Kritik“, mit der die Evangelische Kirche in Deutschland und die Vereinigung Evangelischer Freikirchen 1999 „einen Konsultationsprozeß über das Verhältnis von Protestantis‐ mus und Kultur“ (EKD‐Texte Nr. 64, 5) einleiteten.
Geistliche Leitung und Einheit der Kirche Zur Vorgeschichte und Einführung des Bischofsamtes in der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck I. Bischofsamt und kirchliche Einheit In gleichem Maß, wie sich während der letzten Jahre die Debatte inner‐ halb der Ökumene auf die Frage nach dem kirchlichen Amt zuspitzte, rückte als ein wesentlicher Aspekt auch das Bischofsamt notwendig in den Mittelpunkt des Interesses1. Ein Blick in Dokumente, die Stationen des ökumenischen Gesprächs über die Amtsfrage in der jüngsten Ver‐ gangenheit markieren, mag dies verdeutlichen: 1981 veröffentlichte die Gemeinsame Römisch‐Katholische/Evangelisch‐Lutherische Kommis‐ sion den Ertrag ihrer diesbezüglichen Konsultationen unter dem Titel „Das geistliche Amt in der Kirche“2, um hier auch auf die besondere Bedeutung des Bischofsamtes zu sprechen zu kommen: Diese drückt sich nach übereinstimmender Auffassung beider Dialogpartner vor allem in der „Funktion pastoraler Aufsicht und des Dienstes der Ein‐ heit in einem größeren Bereich“3 aus. Damit ist eine zugleich strukturel‐ le wie inhaltliche Bestimmung getroffen, die es ermöglicht, unter sie die konfessionell divergierenden Anschauungen vom Bischofsamt zu sub‐ sumieren: Die episkopé bezieht sich auf den die Ortsgemeinden über‐ greifenden Rahmen der Gesamtkirche – dies aber in der charakteristi‐ schen Unterscheidung, dass sie nicht nur als Repräsentant und Garant der jeweiligen innerkirchlichen Einheit verstanden wird, sondern zugleich auch der „universalen Einheit der Kirche“4 dienen soll. Mit anderen Worten: Dem Bischofsamt kommt nach Einschätzung der Ge‐ meinsamen Kommission an wesentlicher Stelle eine ökumenische Di‐ mension zu! 1
2 3 4
Vgl. dazu HARALD SCHULTZE „Das Amt der Einheit“. Praktisch‐theologische Refle‐ xionen zum leitenden geistlichen Dienst, in: Theologische Literaturzeitung 113 (1988), 81‐96. Paderborn/Frankfurt 31982. Ebd., 37. Ebd., 46.
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Die gleiche Tendenz verfolgen auch die Lima‐Erklärungen zu „Taufe, Eucharistie und Amt“5, die erstmals 1982 publiziert wurden: Schon der historische Rückblick zeige, wie früh sich in den einzelnen christlichen Gemeinden das dreigegliederte Amt von Bischof, Presbyter und Diakon durchgesetzt und hier „das Amt des Bischofs ein Zentrum der Einheit innerhalb der gesamten Gemeinschaft“6 dargestellt habe. Mochte sich im Laufe der weiteren kirchlichen Entwicklung, was die territoriale und funktionale Bestimmtheit des Bischofsamtes angeht, vieles ändern – diese Grundfunktion, der Einheit der Kirche zu dienen, hat es nach Auffassung des Lima‐Textes nie verloren. Deshalb wird es gleichsam zu einer conditio sine qua non für das Kirchesein der Kirche: In der Vielfalt verschiedenster Gaben oder Dienste ist „ein Dienst der ‚episkopé’ notwendig, um die Einheit des Leibes zum Ausdruck zu bringen und zu bewahren. Jede Kirche braucht diesen Dienst der Ein‐ heit in irgendeiner Form, um Kirche Gottes zu sein, der eine Leib Chris‐ ti, ein Zeichen der Einheit aller im Gottesreich“7. Was die Einheit der Kirche nach innen wahrt, dient also nicht der konfessionellen Abgren‐ zung, sondern dem Gegenteil: der Darstellung der umfassenden und in Christus schon gegebenen Einheit! So heißt es denn auch – entspre‐ chend dieser Intention des Textes – über die Bischöfe: Sie – und nur sie! – „bringen die christliche Gemeinschaft in ihrem Gebiet in Verbindung mit dem weiteren Bereich der Kirche und die universale Kirche mit ihrer Gemeinschaft“8. Wenn schließlich noch die 1986 herausgegebene Stellungnahme „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“9 zu Wort kommen soll, zeigt sich hier ebenfalls ein ähnliches Bild: Trotz vielfältiger fortbestehender 5
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Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Frankfurt/Paderborn 1982. Ebd., 37, Nr. 20. Ebd., 38, Nr. 23. Vgl. demgegenüber die zurückhaltende Beurteilung dieser Wert‐ schätzung, die der Vorbereitungsausschuss der EKD‐Synode 1983 zum Ausdruck brachte, in: Gesichtspunkte für Stellungnahmen zu den Konvergenzerklärungen „Taufe, Eucharistie und Amt“ der ÖRK‐Kommission für Glauben und Kirchenver‐ fassung, hg. v. Kirchenamt der EKD, Hannover 1983, 15 (EKD‐Texte 7). Taufe, Eucharistie und Amt, 40, Nr. 29 (s. Anm. 5). Zu der darin implizierten Konse‐ quenz, dass eine gegenseitige Anerkennung der kirchlichen Ämter, besonders des Bischofsamtes, Voraussetzung der Kirchengemeinschaft ist, vgl. MARTIN HEIN/ HANS‐GERNOT JUNG, Art. Bischof, Bischofsamt, in: Evangelisches Kirchenlexikon3 1 (1986), 522, und SCHULTZE, 83 (s. Anm. 1). Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Lehrverurtei‐ lungen – kirchentrennend? I. Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, hg. v. KARL LEHMANN und WOLFHART PANNENBERG, Frei‐ burg/Göttingen 1986 (Dialog der Kirchen 4).
I. Bischofsamt und kirchliche Einheit
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Divergenzen, deren Klärung noch ausstehe, werden die Impulse aus den beiden zuvor erwähnten Texten ausdrücklich aufgenommen – und zwar unter dem Blickwinkel der Einheit in einer sehr weit gehenden Weise, insofern an „die Möglichkeit einer Wiederherstellung der Ver‐ bindung mit der historischen Sukzession des Bischofsamtes als Zeichen der Einheit des Glaubens“10 erinnert wird und zugleich das Papstamt „als ein Dienst an der im Evangelium begründeten Einheit der Kir‐ che“11 eine positive Würdigung findet. Insgesamt gesehen lässt sich daher wohl das Fazit ziehen, dass ein ertragreicher Fortgang der öku‐ menischen Bemühungen in der Amtsfrage dann am ehesten zu erwar‐ ten ist, wenn das Bischofsamt als spezifisches „Amt der Einheit“, also der Wahrung, Darstellung und Förderung innerkirchlicher wie öku‐ menischer Verbundenheit und Verbindlichkeit begriffen und ausgestal‐ tet wird12. Wie dies im Einzelnen für die Zukunft auszusehen habe, bleibt wei‐ teren Gesprächen vorbehalten und kann nicht Gegenstand dieser Un‐ tersuchung sein. Ihr Anliegen nimmt sich demgegenüber bescheidener aus: Sie will anhand der geschichtlichen Entwicklung einer bestimmten Landeskirche erläutern, wie sich die zunehmende Konzentration theo‐ logischer wie kirchenpolitischer Erwägungen auf das Bischofsamt für das Zusammenwachsen dieser Kirche und ihre innere Einheit ausge‐ wirkt hat, mithin die aktuelle Vorstellung von der kircheneinenden Funktion dieses Amtes historisch verifizieren. Dabei kommt es nicht von ungefähr, zu diesem Zweck die Geschichte der Evangelischen Kir‐ che von Kurhessen‐Waldeck heranzuziehen: Wie bei kaum einer ande‐ ren Landeskirche in Deutschland ist ihre Historie ein Spiegel für den mühevollen Weg, aus der konfessionellen – und damit verbundenen politisch‐territorialen – Mannigfaltigkeit zu einer Kirche zu werden13. 10 Ebd., 165. 11 Ebd., 169. Zur Kritik vgl. z. B. HANS GRASS, Lehrverurteilungen – kirchentrennend?, in: DERS., Aus Theologie und Kirche, Marburg 1988, 183‐185 (Marburger Theologi‐ sche Studien 23), und HANS MARTIN MÜLLER, Kirchliches Amt und Kirchengemein‐ schaft, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 38 (1987), 67‐71. 12 Auf die Schwierigkeiten, die sich aus diesem Ansatz im gesamtevangelischen Raum ergeben, weist SCHULTZE, 83f (s. Anm. 1), zurecht hin. 13 Vgl. die Präambel zur Grundordnung der Evangelischen Kirche von Kurhessen‐ Waldeck vom 22. Mai 1967, derzufolge die Landeskirche „in der Vielfalt der überlie‐ ferten Bekenntnisse der Reformation zu einer Kirche zusammengewachsen“ ist. – Zu den historischen Verwicklungen seit der Reformationszeit vgl. WILHELM MAURER, Bekenntnisstand und Bekenntnisentwicklung in Hessen, Gütersloh 1955; DERS., Ende des Landeskirchentums?, in: DERS., Die Kirche und ihr Recht. Ges. Aufs. zum evan‐ gelischen Kirchenrecht, hg. v. GERHARD MÜLLER und GOTTFRIED SEEBASS, Tübingen 1976, 449‐473 (Jus Ecclesiasticum 23), sowie WERNER DETTMAR, Auf dem Weg zu der
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Für den geradezu dialektischen Prozess, dass Fortschritte auf die Ein‐ heit der Landeskirche hin stets auch den Keim ihrer möglichen Gefähr‐ dung enthielten, ist besonders die Zeitspanne von 1918 bis 1945 signifi‐ kant, an deren Ende im September 1945 die Notsynode in Treysa ein neues Leitungsgesetz verabschiedet und mit ihm auch nominell das Bischofsamt in Kurhessen‐Waldeck einführt. Ohne Übertreibung kann diese Entwicklung durchaus paradigmatisch genannt werden.
II. Das leitende geistliche Amt in der Verfassung von 1923/24 „Die Einheit der hessischen Gesamtkirche war bisher geschaffen, erhal‐ ten und verbürgt durch den Staat bzw. durch den Summepiskopat des Landesherrn. Sie war im eigentlichen Sinne Landes‐, Territorial‐ und Provinzkirche. Ihr offizieller Name lautete ,Bezirk des Evangelischen Konsistoriums zu Kassel’“ – mit dieser Formulierung umschreibt ein Gutachten der Theologischen Fakultät der Universität Marburg vom 22. September 192214 den kirchlichen Status, der sich seit 1866, dem Jahr der Annexion Kurhessens durch Preußen, herausgebildet hatte. Wie ist dieses Urteil zu interpretieren? Entgegen anderslautenden Befürchtun‐ gen vermied es der preußische Staat mit Bedacht, die eingegliederten Neuprovinzen kirchlich dem Oberkirchenrat der altpreußischen Kirche unterzuordnen; sie wurden vielmehr direkt dem Kultusministerium unterstellt und damit in ihrer geschichtlich bedingten Eigenart respek‐ tiert. Allerdings kam es im ehemaligen Kurhessen aus dem administra‐ tiven Bestreben heraus, den Umfang des kirchlichen Gebietes den Grenzen des politischen Regierungsbezirks anzugleichen, nach lang‐ wierigen, sich über Jahre hinziehenden Verhandlungen15 1873 zur Zu‐ sammenlegung der drei bisherigen bekenntnismäßig unterschiedenen Konsistorien in Kassel, Marburg und Hanau zu einem Gesamtkonsisto‐ rium in Kassel. Diese Veränderung der kirchlichen Situation, die die Umwandlung der Landeskirche Hessen‐Kassel zum Konsistorialbezirk Kassel unter preußischer Hoheit mit sich brachte, suchte 1884 eine au‐ einen Kirche. Eine Kirchenkunde für die Evangelische Kirche von Kurhessen‐ Waldeck, Kassel 1980, und MARTIN HEIN, Was heißt: „... in der Vielfalt der überlie‐ ferten Bekenntnisse der Reformation zu einer Kirche zusammengewachsen“?, u. 209‐ 228. 14 Abgedr. als Drucksache 41 in: Verhandlungen der 2. und 3. Tagung der Verfas‐ sungsgebenden Kirchenversammlung für den Bezirk des evangelischen Konsistori‐ ums zu Kassel in den Jahren 1922 und 1923 im Evangelischen Vereinshaus zu Kassel. Nach den Protokollen, Kassel 1926, 50‐55, Zitat 50. 15 Vgl. dazu RUDOLF FRANCKE, Die kirchlichen Verfassungsstreitigkeiten in Kurhessen und die Renitenz, Kassel 1914 (Verein für kurhessische Kirchengeschichte, H. 1).
II. Das leitende geistliche Amt in der Verfassung von 1923/24
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ßerordentliche Synode aufzunehmen, indem sie eine Presbyterial‐ und Synodalordnung ausarbeitete16, die nach königlicher Genehmigung 1886 in Kraft trat. Deutlich hatte in dieser Kirchenverfassung das Be‐ mühen um einheitlichen Aufbau und gemeinsame Verwaltung Vor‐ rang vor der Frage nach der inneren Einheit der drei im Konsistorialbe‐ zirk weiterhin – freilich ohne korporative Rechte – bestehenden Kirchengemeinschaften. Fast zwangsläufig musste diese Frage offen bleiben, solange die Bekenntnisproblematik insgesamt ungelöst war. Daher fungierte für jede Kirchengemeinschaft an der Spitze ein Gene‐ ralsuperintendent, um deren Eigenart in, aber auch gegenüber dem gemeinsamen Konsistorium zu wahren. Ebenso wies die 1896 einge‐ führte Agende in ihren drei Ausgaben für lutherische, reformierte und unierte Gemeinden eine solche Vielzahl konfessionstypischer Eigenhei‐ ten auf, dass von einer über die Administration hinausgehenden kirchli‐ chen Einheit keine Rede sein konnte17. Nach dem Fortfall des landesherrlichen Summepiskopats wurde auch für die kurhessische Kirche das Erfordernis dringlich, sich selbst in eigener Freiheit zu konstituieren. Dabei galt es nicht nur, das Kirche‐ sein der neuen Landeskirche über das bisherige Verständnis einer Kon‐ föderation verschiedener, staatlich verbundener Kirchengemeinschaf‐ ten hinaus zu explizieren, sondern auch die eigenständige Leitung dieser Kirche zu ordnen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde in den Verhandlungen der Verfassungsgebenden Kirchenversammlung 1922/23 versucht, die strittige und dem Anliegen der Kircheneinheit hinderlich erscheinende Problematik einer gemeinsamen Bekenntnisgrundlage der Landeskirche dadurch zu umgehen, dass man sie pragmatisch und zugleich zeitgemäß auf die Ebene der einzelnen Kirchengemeinden verlagerte und ihnen die Entscheidungshoheit zubilligte, ob und in welchem Sinn sie sich konfessionell verstehen wollten18. Guten Gewis‐ sens konnte auf den Vorspruch zur Verfassung verwiesen werden, wonach die „Bekenntnisse ... in ihrer fortdauernden Geltung aner‐ 16 Presbyterial‐ und Synodal‐Ordnung für die evangelischen Kirchengemeinschaften (die reformirte, die lutherische und die unirte) im Bezirke des Konsistoriums zu Cas‐ sel, Cassel 1886. 17 Vgl. dazu nochmals das Gutachten der Marburger Theologischen Fakultät, 50 (s. Anm. 14): „Der bisherige Zustand ist also der, daß wir in Kurhessen weder an den drei ,Kirchengemeinschaften’ (die des Charakters öffentlicher Körperschaften er‐ mangeln), noch an dem ,Bezirk des Evangelischen Konsistoriums zu Kassel’ (dem jeder innere Zusammenschluß, ja sogar der Name Kirche fehlt), ,Kirchen’ haben.“ 18 Verfassung der evangelischen Landeskirche in Hessen‐Kassel, 134f, § 2‐3 (s. Anm. 14). Erwähnt sei die Kritik an diesem Ergebnis bei MAURER, Bekenntnisstand, 68f (s. Anm. 13).
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Geistliche Leitung und Einheit der Kirche
kannt“19 wurden. Um der unterschiedlichen Bekenntnisbindung der Gemeinden auch in der Kirchenleitung eine angemessene Repräsentanz zu verschaffen, wurden bei der Einrichtung und Besetzung der Kir‐ chenregierung weiterhin konfessionelle Gesichtspunkte berücksich‐ tigt20, ohne dadurch jetzt noch den Gedanken der innerkirchlichen Ein‐ heit beeinträchtigt zu sehen. Das aber legt – positiv gewendet – die Frage nahe, worin denn für die Verfassungsgebende Versammlung die Einheit der Landeskirche ihren institutionellen Ausdruck gewann. Die Antwort darauf führt unmittelbar zu der Konzeption des neuen Amtes eines Landesoberpfarrers. Im Zuge der Überlegungen zur Organisationsstruktur hatte sich die Verfassungsgebende Versammlung entschlossen, entsprechend der alten kurhessischen Gliederung in drei Konsistorien eine gleiche An‐ zahl von Kirchensprengeln einzurichten, denen jeweils ein „Landes‐ pfarrer“ vorstand21. Nahtlos konnte so das staatliche Amt der General‐ superintendenten in den kirchlichen Zusammenhang überführt werden. „Landesoberpfarrer“ und damit leitender Geistlicher sollte aber nach der neuen Verfassung nur werden, wer zugleich Landespfar‐ rer war22 – eine Regelung, deren Hintersinn sich bei der Betrachtung des Wirkungskreises dieses Amtes näher entfaltet. Indem der Landes‐ oberpfarrer auf Lebenszeit durch den Landeskirchentag gewählt wur‐ de23, kam in der Verfassung das synodale Element zum Tragen, das für das Verständnis des leitenden geistlichen Amtes seit 1918 allgemein kennzeichnend ist24. Allerdings konzipierte die Verfassung das Amt des Landesoberpfarrers weniger im verantwortlichen Gegenüber zum 19 Verfassung der evangelischen Landeskirche in Hessen‐Kassel, 134 (s. Anm. 14). 20 Vgl. ebd., 151 § 99 (2): „Gehört weder der Landesoberpfarrer noch einer der beiden anderen Landespfarrer dem reformierten oder dem lutherischen Bekenntnis an, so muß sich die Kirchenregierung durch Hinzuziehung eines Kreispfarrers des Be‐ kenntnisses ergänzen.“ 21 Vgl. ebd., 145f, § 62‐63. Allerdings wurde die konfessionelle Bestimmtheit dieser drei Sprengel aufgehoben; vgl. dazu ebd., 116. 22 Vgl. ebd., 150, § 93 (3). 23 Vgl. ebd., 150, § 93 (2). 24 Vgl. ebd., 148, § 83: „Der Landeskirchentag ist der Träger der Kirchengewalt“; dazu allgemein WILHELM MAURER, Das synodale evangelische Bischofsamt seit 1918, in: DERS., Die Kirche und ihr Recht, 388‐448 (s. Anm. 13); KURT SCHMIDT‐CLAUSEN, Geistliches Amt und Kirchenleitung im deutschen Luthertum seit dem Fortfall des landesherrlichen Kirchenregimentes, in: Kirchenpräsident oder Bischof? Untersu‐ chungen zur Entwicklung und Definition des kirchenleitenden Amtes in der lutheri‐ schen Kirche, hg. v. IVAR ASHEIM und VICTOR R. GOLD, Göttingen 1968, 75‐113, so‐ wie GERHARD TRÖGER, Art. Bischof III./IV., in: Theologische Realenzyklopädie 6 (1980), 690‐697.
II. Das leitende geistliche Amt in der Verfassung von 1923/24
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Landeskirchentag, dem alle drei Landespfarrer nicht angehörten25, son‐ dern band es umso stärker konsistorial in die vom Kollegialitätsprinzip bestimmte Kirchenregierung ein, deren Vorsitz der Landesoberpfarrer innehatte26. Sein eigenständiger Aufgabenbereich war dadurch erheblich eingegrenzt und konzentrierte sich vornehmlich auf den Aspekt der Repräsentation – dies aber in einem spezifischen Sinn: „In der Person des Landesoberpfarrers findet die Einheit der Landeskirche ihren sichtbaren Ausdruck“27. Wo es sich als undurchführbar erwiesen hatte, die kirchliche Einheit mittels einer gemeinsamen Bekenntnisgrundlage zu umschreiben, wurde die Einheit im Amt des Landesoberpfarrers gleichsam gesetzt. Dies galt für den außerkirchlich‐öffentlichen Bereich („Er führt im Namen der Landeskirche das Wort“ – mit der bezeich‐ nenden Klausel –, „sofern ihm dies Recht nicht gesetzlich beschränkt ist“)28 ebenso wie für den innerkirchlichen Raum („Er soll das christli‐ che Leben in der Landeskirche durch persönliche Einwirkung pflegen und fördern“)29. Abgesehen von dem strukturell notwendigen Gedanken, dass in die‐ sem Amt die Einheit der Landeskirche dargestellt sei, nahmen sich die wenigen inhaltlichen Bestimmungen recht blass aus. Bezeichnenderwei‐ se blieben ihm zwei Grundfunktionen des reformatorischen Bi‐ schofsamtes, Visitation und Ordination30, bewusst versagt. Hatte die ursprüngliche Formulierung noch gelautet, die „persönliche Einwir‐ kung“ auf das Leben der Landeskirche konkretisiere sich „vor allem durch Abhaltung von Visitationen“, so wurde dieser Passus in der drit‐ ten Lesung des Verfassungsentwurfs aufgrund eines Konsistorialan‐ trags mit der Begründung gestrichen, „daß der Landesoberpfarrer nur primus inter pares ist“31, was nichts anderes bedeutete als: dass die eigenen Sprengelgrenzen auch die bischöflichen Funktionen des Lan‐ desoberpfarrers begrenzten. Alle drei Landespfarrer nahmen jeweils 25 Vgl. Verfassung der evangelischen Landeskirche in Hessen‐Kassel, 147, § 68 (s. Anm. 14). 26 Vgl. ebd., 151, § 101 (1). – Der Auffassung von MAURER, Das synodale evangelische Bischofsamt, 407 (s. Anm. 24), die Kirchenregierung in Hessen‐Kassel stelle ein syn‐ odales Organ dar, weil sie „von der Synode gewählt und von ihr abhängig“ sei, kann allerdings nicht zugestimmt werden. Der Landeskirchentag entsendet seiner‐ seits vielmehr nur die Hälfte der Mitglieder der Kirchenregierung, die insgesamt aus zehn Personen besteht; vgl. Verfassung, 151, § 99. Im Übrigen sind die Befugnisse der Kirchenregierung gegenüber dem Landeskirchentag außerordentlich weit ge‐ fasst; vgl. ebd., 152f., § 104‐108. 27 Ebd., 150, § 96 (1). 28 Ebd., 150, § 96 (2). 29 Ebd., 151, § 96 (3). 30 Vgl. TRÖGER, Art. Bischof III., 691 (s. Anm. 24). 31 Verhandlungen der 2. und 3. Tagung, 119 (s. Anm. 14).
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Visitationen und – in Zusammenarbeit mit Kirchenregierung und Lan‐ deskirchenamt – Ordinationen vor32. Damit war das Amt des Landes‐ oberpfarrers für den Bereich der gesamten Landeskirche tatsächlich nur repräsentatives ,Amt der Einheit’. Der Vorschlag zweier Abgeordneter in der Verfassungsgebenden Versammlung, als Amtsbezeichnung – in Anlehnung an den Sprachgebrauch anderer Landeskirchen seit 1918 – den Titel „Landesbischof“ einzuführen, wurde mehrheitlich abgelehnt. Allerdings lag der Grund dafür weniger in der Erkenntnis einer mögli‐ chen Diastase zwischen Titel und zugeordneten Funktionen, sondern in einer seltsamen konfessionellen Allianz: Während der lutherische Ge‐ neralsuperintendent Otto Dettmering die Ansicht vertrat, „daß ein Bischof nur einer in sich konfessionell fest geschlossenen Kirche vor‐ stehen kann“, protestierte auf der anderen Seite Pfarrer Friedrich Ide „als Reformierter entschieden gegen die Einführung des Bischofti‐ tels“33. Erst nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung am 1. Juli 1924 und den anschließenden Wahlen zum Landeskirchentag war es mög‐ lich, anlässlich dessen 1. Tagung am 1. Oktober 1924 das geistliche Lei‐ tungsamt der Landeskirche zu besetzen: Einstimmig wurde der bishe‐ rige Kasseler Generalsuperintendent Heinrich Möller zum Landes‐ oberpfarrer gewählt und am 5. Oktober in sein Amt eingeführt34. Doch was niemand voraussehen konnte: Nicht einmal ein Dezennium sollte diese erste, in einem langwierigen Prozess formulierte Antwort der Landeskirche auf die Frage nach geistlicher Leitung und kirchlicher Einheit Bestand haben. Rückblickend hat Hans von Soden an ihr in seiner „Denkschrift“ 194535 scharfe Kritik geübt und dabei vor allem die Einbindung des Amtes des Landesoberpfarrers in die übrigen Leitungsgremien sowie die faktische Präponderanz des Landeskirchenamtes im Auge gehabt: 32 Vgl. ebd., 146, § 65. Es ist zu vermuten, dass hinter dieser Abgrenzung des Wir‐ kungskreises die fortdauernden konfessionellen Unterschiede in den drei Sprengeln standen. 33 Ebd., 120. 34 Vgl. Verhandlungen der 1.‐3. Tagung des Ersten Landeskirchentages der Evangeli‐ schen Landeskirche in Hessen‐Kassel 1924‐1926. Aufgrund der Protokolle, Kassel 1926, 4f und 45‐53 (Anlage 6). 35 HANS VON SODEN, Der „Entwurf eines Kirchengesetzes betreffend die Leitung und Verwaltung der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck“ 1945 und die Verfassung der Landeskirche von 1923, in: Auszüge aus den Verhandlungen der Notsynode und der 1. Tagung der Landessynode der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck vom 25. September bis 28. September 1945 und vom 1. De‐ zember bis 5. Dezember 1947 ..., Kassel 1966, 103‐111 (Anlage II) (zuvor abgedr. in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 6, 1957/58, 183‐191).
III. Auf der Suche nach ‚geistlicher Führung’ 1933–1935
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„Es ist deutlich, daß nach diesen Bestimmungen der Geistliche, der eigentlich zur Führung der Landeskirche bestellt ist, der Landesober‐ pfarrer, eine wirkliche Führung gar nicht ausüben kann, selbst wenn er persönlich dazu die Fähigkeit und den Willen hat, und daß ein sach‐ kundiger, fleißiger und energischer Präsident des Landeskirchenamts tatsächlich die Führung der Kirche hat ... Somit kann von geistlicher Leitung der Kirche nach diesen Bestimmungen der Verfassung gar nicht die Rede sein“36. Fraglich ist jedoch, ob solche ‚geistliche Führung’ 1923/24 überhaupt schon intendiert war. Damals stand, so scheint es, noch der Gedanke der landeskirchlichen Einigung im Vordergrund. Ihr wollte das Amt des Landesoberpfarrers darstellend genügen37. Sein Un‐ genügen offenbarte sich, als dieser Aspekt infolge der Zeitbedingungen zunehmend durch die Frage nach geistlicher Leitung bzw. Führung der Landeskirche ergänzt wurde.
III. Auf der Suche nach ‚geistlicher Führung’ 1933–1935 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten traten recht schnell die Züge ihrer Kirchenpolitik zutage38 : Entsprechend der erzwungenen Gleichschaltung aller Organe des staatlich‐politischen Lebens stand ihnen als Ziel die Schaffung einer evangelischen Nationalkirche und damit die Überwindung des landeskirchlichen Territorialismus unter einheitlicher Führung vor Augen – eine Vorstellung, die in ihren Grundzügen durchaus weiten Kreisen des Protestantismus entsprach. ‚Einheit’ wurde so zu einem Zauberwort, nun aber in viel größeren Dimensionen und einer sehr viel stärkeren Dynamik, als sie in der Ver‐ gangenheit bei der Suche nach Auswegen aus den bestimmenden kon‐ fessionellen Gegensätzen spürbar wurden. Was die kurhessischen Ver‐ hältnisse anbelangt, so drängt sich – mutatis mutandis – insofern durchaus eine Parallele zu den Ereignissen in der Folge des Jahres 1866 auf, als auch damals versucht wurde, staatlicherseits die Vereinheitli‐ chung der Landeskirche voranzutreiben. Was jedoch nur unter zum 36 Ebd., 105f. 37 Wenn der damalige Präsident des Landeskirchenamtes, WILHELM LÜTKEMANN, ebenfalls 1945 erklärte, durch die Geschichte der Landeskirche habe sich während der vergangenen Jahrzehnte „wie ein roter Faden die Frage nach der geistlichen Lei‐ tung unserer Landeskirche, man kann auch sagen: der Schrei nach der geistlichen Leitung“ (ebd., 1) gezogen, dann ist dies Urteil aus den Ereignissen nach 1933 heraus verständlich. Ob allerdings bereits die Verfassung 1923/24, wie er meinte, diesem As‐ pekt Rechnung getragen habe, kann bezweifelt werden. 38 Vgl. dazu JOHN S. CONWAY, Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1933‐1945. Ihre Ziele, Widersprüche und Fehlschläge, München 1969.
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Teil erbittertem Widerstand – etwa der Hessischen Renitenz – vollzo‐ gen werden konnte und trotz aller Bemühungen und aller vorhande‐ nen nationalen Begeisterung keine innere Einigung erbrachte, wurde nun (und hier liegt der Gegensatz!) bereitwillig aufgenommen: „aus der Zerrissenheit zur Einheit“39 lautete jetzt auch die kirchliche Parole, die die konfessionellen Grenzen überschritt. Dass dazu allerdings die bisherigen kirchlichen Entscheidungsinstanzen nicht hinreichten, wuss‐ te der Staat, der auf sie keinen gesteigerten Wert legte, aber ahnte man ebenso innerhalb der Kirche. Geradezu hilflos nahmen sich in Kurhes‐ sen die Versuche aus, diesen in der Verfassung 1923/24 bewusst nicht angesprochenen Gedanken kirchlicher Führung nun doch mit dem Amt des Landesoberpfarrers zu verbinden, wenn es in einer Notver‐ ordnung der Kirchenregierung vom 15. Juni 1933 hieß: „Der Landes‐ oberpfarrer wird zu allen Verhandlungen, Erklärungen und Maßnah‐ men für die evangelische Landeskirche in Hessen‐Kassel bevoll‐ mächtigt, die aus der Neuordnung des deutschen Kirchenwesens sich als notwendig ergeben.“40 Solch eine Entscheidung war nur noch Reak‐ tion auf den zunehmenden staatlichen Druck zur Strukturveränderung der Kirche, der sich dann sichtbar in der unmittelbar darauffolgenden Ernennung staatlicher Bevollmächtigter für die einzelnen preußischen Landeskirchen widerspiegelte41. Schon am 11. Juli 1933 – wohl schneller als erwartet! – wurde durch die Vertreter der einzelnen Landeskirchen die „Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche“42 unterzeichnet. Mit ihr sollte die Vorstellung einer einheitlichen Reichskirche unter Führung eines (lutherischen) Reichsbischofs Wirklichkeit werden, dem erhebliche Befugnisse eingeräumt wurden: Er hatte nicht nur die Deut‐ sche Evangelische Kirche zu vertreten, auch nicht nur „die Gemein‐ schaft des kirchlichen Lebens in den Landeskirchen zum Ausdruck“ zu bringen, sondern – hier verschmelzen die Begriffe ‚Einheit’ und ‚geistli‐
39 So Landesoberpfarrer MÖLLER am 3. April 1933 in seinem Wort an die Gemeinden der Landeskirche: Kirchliches Amtsblatt. Gesetz‐ und Verordnungsblatt der evange‐ lischen Landeskirche in Hessen‐Kassel 48 (1933), 31 (KABl.); vgl. auch HANS SLENCZKA, Die evangelische Kirche von Kurhessen‐Waldeck in den Jahren 1933 bis 1945, Göttingen 1977, 21‐31. 40 KABl. 48 (1933), 77. 41 Vgl. KABl. 48 (1933), 77‐80. Für Kurhessen wurde durch den Bevollmächtigten Dr. Paulmann umgehend die Neubildung der Kirchenvorstände angeordnet, deren Zu‐ sammensetzung nun „der bei den letzten Reichstagswahlen zum Ausdruck gekom‐ menen Tatsache der nationalen Erhebung Rechnung tragen“ sollte (ebd., 78). 42 Vgl. ebd., 87‐95.
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che Führung’ – für die Arbeit der Reichskirche „eine einheitliche Füh‐ rung zu gewährleisten“43. Um eine Veränderung der Verhältnisse auch auf der Ebene der Landeskirche zu erreichen, sah das „Gesetz über die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche“ für den 23. Juli 1933 Kirchenwahlen vor44, die in Kurhessen, wo mittels einer Einheitsliste gewählt wurde, zu einer mehrheitlichen Repräsentanz der ‚Deutschen Christen’ in den kirchlichen Gremien führten45. Den neuen Landeskirchentag berief zu seiner 1. Sitzung am 12. September 1933 noch Landesoberpfarrer Möl‐ ler ein, um dann aber noch vor dieser Zusammenkunft gemeinsam mit den beiden anderen Landespfarrern Otto Dettmering und Karl Fuchs sowie dem Präsidenten des Landeskirchenamtes, Karl Bähr, zurückzu‐ treten. „Damit war praktisch auch die Kirchenregierung aufgelöst. Un‐ sere Kirche stand somit bei Zusammentritt des Landeskirchentages ohne Leitung da.“46 Sowohl in struktureller wie in personeller Hinsicht waren hierdurch allerdings die Voraussetzungen zur Veränderung eröffnet. Der Landeskirchentag wählte denn auch keinen neuen Lan‐ desoberpfarrer, sondern setzte – um auf die „endgültige Neuordnung der Kirche durch Einführung der Bischofsverfassung“47 in Verbindung mit einem entsprechenden Personalvorschlag hinarbeiten zu können – nur eine sechsköpfige ‚Einstweilige Kirchenleitung’ ein, die zur Hälfte aus weltlichen Mitgliedern bestand und an deren Spitze der Vorsitzen‐ de des Vorstandes des Landeskirchentags, Metropolitan a. D. Theodor Dithmar, trat. Was aber bedeutete dies im Blick auf die Frage nach ,geistlicher Führung’ der Landeskirche? Das neugebildete Leitungsgremium vereinigte auf sich eine Fülle konstitutionell bisher getrennter Kompetenzen, wenn es in dem Lan‐ deskirchentagsbeschluss hieß: „Der Landeskirchentag überträgt auf diese Kirchenleitung sämtliche Befugnisse des Landeskirchentages und seines Vorstandes, der Kirchenregierung, des Landeskirchenamtes und 43 Verfassung der DEK, Art. 6 (1) ; ebd. 89. Zur Reichskirchenverfassung insgesamt vgl. KLAUS SCHOLDER, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, Frankfurt/Berlin/Wien 1977, 453‐481. 44 Vgl. KABl. 48 (1933), 87, Art. 5. 45 Zu den Kirchenwahlen und der Interpretation ihres Ergebnisses vgl. SLENCZKA, 35f (s. Anm. 39), sowie ULRICH SCHNEIDER, Bekennende Kirche zwischen „freudigem Ja“ und antifaschistischem Widerstand. Eine Untersuchung des christlich motivierten Widerstandes gegen den Faschismus unter besonderer Berücksichtigung der Beken‐ nenden Kirche in Kurhessen‐Waldeck und Marburg, Kassel 1986, 155‐164. 46 FERDINAND FRICKE, Memorandum (Okt. 1947), 1 (Masch. Ms. im Landeskirchlichen Archiv Kassel, Handakte „Erläuterungen zur Geschäftsordnung der Landessynode ...“). 47 Ebd., 2.
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aller Ausschüsse, soweit vom Landeskirchentag nichts anderes be‐ schlossen ist.“48 Da zudem auch die Aufgaben des Landesoberpfarrers und der beiden Landespfarrer auf die geistlichen Mitglieder der Einst‐ weiligen Kirchenleitung übergehen sollten, führte dies nicht nur zu einer sehr weitreichenden freiwilligen Selbstbeschränkung des Landes‐ kirchentages als „Träger der Kirchengewalt“49, sondern kam durch die Konzentration der synodalen, konsistorialen und episkopalen Gewich‐ te in einem einzigen Gremium der faktischen, wenn auch nicht nomi‐ nellen Aufhebung der Verfassungsbestimmungen zu Leitung und Verwaltung der Landeskirche gleich. Es fehlte allein noch, diesen Schritt über die bisherige Verfassung hinaus im Bischofsamt für die kurhessische Kirche zu institutionalisie‐ ren. In dieser Absicht wusste sich die Einstweilige Kirchenleitung von der Zustimmung innerhalb der Pfarrerschaft getragen und legitimiert. Von Beginn der entsprechenden Überlegungen und Planungen an scheint aber zugleich mitbedacht worden zu sein, wer Träger dieses neugeschaffenen Amtes werden könnte. Schnell stellte sich in großer Einhelligkeit, die verschiedenen kirchenpolitischen Polarisierungen übergreifend, der ehemalige Predigerseminardirektor und jetzige Ober‐ landeskirchenrat Gerhard Merzyn, der seit 1924 als Personaldezernent „geistliches Mitglied des Landeskirchenamtes“ war und in dieser Ei‐ genschaft der Einstweiligen Kirchenleitung angehörte, als ein probabler Kandidat heraus. Nachdem in Sondierungsgesprächen seitens der Ver‐ treter staatlicher Stellen keine Einwände gegen die Wahl Merzyns laut geworden waren und die Voten aus der Pfarrerschaft, ob nun DC‐ orientiert oder dem Pfarrernotbund angehörend, sich für ihn ausspra‐ chen, wurde – den Bestimmungen des Preußischen Staatsvertrages von 1931 gemäß – am 30. April 1934 durch die Einstweilige Kirchenleitung bei der preußischen Regierung um das Plazet nachgesucht50. Der Weg zu einer bischöflichen Verfassung der Kirche mit einem Landesbischof Merzyn als ihrem leitenden Geistlichen schien geebnet. Allen Vorverhandlungen zum Trotz erfolgte allerdings am 14. Mai durch das Kultusministerium der Einspruch gegen eine mögliche Bi‐ schofskandidatur und ‐wahl Merzyns – gestützt auf eine Begründung des Kasseler Oberpräsidenten, der „Vorgeschlagene gäbe nicht die Gewähr dafür, daß er den Neuaufbau der Evangelischen Landeskirche 48 KABl. 48 (1933), 117. 49 S. Anm. 24. 50 Vgl. dazu die Darstellungen bei SLENCZKA, 42‐47 (s. Anm. 39), und SCHNEIDER, 229f (s. Anm. 45) sowie die Ausführungen DITHMARS aus dem Jahr 1944 (abgedr. bei SLENCZKA, 246‐251, Dok. 8c).
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im Sinne des Führers leiten könne“51. Das Junktim von Sach‐ und Per‐ sonalentscheidung war damit auseinandergebrochen! Daher bemühte sich die Einstweilige Kirchenleitung, Zeit zu gewinnen, um eine Klä‐ rung der Bedenken gegen Merzyn zu erreichen und so unter Umstän‐ den doch noch seine Wahl zu ermöglichen. Die Durchführung der für den 5. Juni vorgesehenen Sitzung des Landeskirchentages, auf der die Verfassungsänderung zum Bischofsamt hin vollzogen werden sollte, erschien unter diesen Bedingungen nicht mehr sinnvoll. Jedoch trat der in der Frage geistlicher Leitung mühsam überdeckte kirchenpolitische Zwiespalt offen zutage, als nun 19 – den DC zuzurechnende – Mitglie‐ der des Landeskirchentages verfassungsgemäß52 eine Sitzung des Lan‐ deskirchentages beantragten, für die – trotz der geschilderten Irritatio‐ nen – Tagesordnungspunkte mit höchst einschneidenden Folgewir‐ kungen durchgesetzt wurden: Nicht nur sollten das ‚Bischofsgesetz’ verabschiedet und der Landesbischof gewählt werden (der nun aller‐ dings nicht mehr Merzyn heißen konnte), sondern ebenso die Vereini‐ gung von Waldeck mit der evangelischen Landeskirche in Hessen‐ Kassel sowie die „Übertragung von Befugnissen der Organe der Evan‐ gelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck auf die deutsche Evangelische Kirche“53 verabschiedet werden. Bereits am 12. Juni trat der Landeskirchentag in Kassel zusammen: Während der kirchliche Zusammenschluss von Kurhessen und Waldeck in Angleichung an die Grenzen des Regierungsbezirkes Kas‐ sel – bei bestehenden verfahrensrechtlichen Bedenken – „allseits be‐ grüßt“54 wurde, kam es bei der Abstimmung über das Bischofsgesetz zum Eklat: Eine Minderheit von 23 Abgeordneten widersetzte sich dem massiven Druck der Landeskirchentagsmehrheit und der anwesenden Öffentlichkeit, indem sie gegen die Verfassungsänderung stimmte. Da hierfür allerdings eine Zweidrittelmehrheit und nicht nur die Anzahl von 30 abgegebenen Ja‐Stimmen erforderlich gewesen wäre55, war sie abgelehnt und damit auch die Frage der Wahl eines Landesbischofs hinfällig. Unter dem Eindruck, dass nun auch die Eingliederung der kurhessischen Kirche in die Reichskirche nicht durchzusetzen sei, „ver‐ 51 Zit. bei SCHNEIDER, 229 (s. Anm. 45). 52 Vgl. Verfassung der evangelischen Landeskirche in Hessen‐Kassel, 147, § 74 (2) (s. Anm. 14). 53 GOTTFRIED SCHMIDMANN, Zur kirchlichen Lage in Kurhessen, Marburg [1934], 1 (Separat‐Abdr. aus „Evangelisch‐lutherischer Gemeindebote für die Pfarr‐ und Eli‐ sabethkirchen in Marburgʺ 7/1934), worauf SLENCZKA, 48‐50 (s. Anm. 39), und SCHNEIDER, 230‐234 (s. Anm. 45) Bezug nehmen. 54 SCHMIDMANN, 2 (s. Anm. 53). 55 Vgl. Verfassung der evangelischen Landeskirche in Hessen‐Kassel, 148, § 76 (3) (s. Anm. 14).
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ließ die Mehrzahl unter großem Tumult und mit einem Siegheil auf den Führer den Landeskirchentag, der damit beschlußunfähig war und vom Präsidenten geschlossen werden mußte“56. Wie ist dieses Abstimmungsverhalten der Minderheit, die ja in dem Bestreben nach Neuordnung der Landeskirche mit den übrigen Mit‐ gliedern des Landeskirchentages völlig konform ging, einzuschätzen? Es kann wohl nicht anders gewertet werden als ein Protest gegen das Insistieren der DC auf einer Trennung von Sach‐ und Personalent‐ scheidung: Es sollte „die Wahl eines ungeeigneten Bischofs“ vermieden werden. „Das ließ sich aber nur durch die Ablehnung des Bischofsge‐ setzes erreichen, weil nach erfolgter Annahme dieses Gesetzes die Wahl des Bischofs mit einfacher Mehrheit hätte erfolgen können.“57 Unter dem Gesichtspunkt der Suche nach ,geistlicher Kirchenfüh‐ rung’ überstürzten sich in der Folgezeit in Kurhessen die Ereignisse: Der offenkundige Misserfolg der DC konnte ihre Vertreter verständli‐ cherweise nicht befriedigen. Deshalb stellte ein Drittel der Landeskir‐ chentagsabgeordneten den Antrag, schon für den 29. Juni erneut dieses Gremium einzuberufen, um über die anstehenden Verhandlungspunk‐ te zu beschließen. Demgegenüber war es nun erklärtes Ziel der Gegen‐ partei, den Landeskirchentag durch Fernbleiben beschlussunfähig zu machen. Als sich am 29. Juni herausstellte, dass tatsächlich nur 25 stimmberechtigte Synodale anwesend waren, schloss der stellvertre‐ tende Vorsitzende des Landeskirchentages die Zusammenkunft vor Eintritt in die Tagesordnung mit dem Hinweis auf die fehlende Be‐ schlussfähigkeit, woraufhin die Einstweilige Kirchenleitung die Sitzung verließ. Die verbleibenden Abgeordneten nahmen von dieser Entschei‐ dung jedoch keine Kenntnis und setzten als Rumpfparlament die Ta‐ gung fort mit dem erklärten Willen: „der Führer habe durch den Mund Görings eine einige Reichskirche gefordert, und die solle noch heute geschaffen werden“58. Anschließend wurde beschlossen, die Einstwei‐ lige Kirchenleitung abzusetzen und das Mandat der abwesenden Syn‐ odalen aufzuheben, um dann zur Neubesetzung des Landeskirchen‐ tagspräsidiums und der Kirchenleitung überzugehen. Das Bischofs‐ gesetz wurde ohne Debatte angenommen und der Kasseler Pfarrer Karl Theys zum Landesbischof gewählt. Auch der Eingliederung der Lan‐ deskirche in die Reichskirche stand nun nichts mehr im Wege. Natürlich entbehrten all diese Beschlüsse der später so genannten ‚Räubersynode’ der Rechtsgrundlage, um die man sich – im Anschluss an die Sitzung – nun nachträglich, wenn auch vergeblich in Gesprächen 56 SCHMIDMANN. 4 (s. Anm. 53). 57 FRICKE, 2 (s. Anm. 46). 58 SCHMIDMANN, 5 (s. Anm. 53).
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mit der bisherigen Einstweiligen Kirchenleitung bemühte. Deshalb kam es am 3. Juli durch den ‚Rechtswalter der Evangelischen Kirche’, Au‐ gust Jäger, im Auftrag des Reichsbischofs zur Ernennung des Vizeprä‐ sidenten Dr. Johannes Richter aus Hannover als Bevollmächtigten für die kurhessische Landeskirche59. Dieser führte sich unter der Parole, „die Einheit der Landeskirche und der Reichskirche, ja die Einheit des Volkes“60 stehe auf dem Spiel, prätentiös am 7. Juli in Kurhessen ein und erklärte nach der Weigerung der Einstweiligen Kirchenleitung, in irgendeiner Weise mit ihm zusammenzuarbeiten, drei Tage später, er habe deren Befugnisse übernommen61. Um dem Ausdruck zu geben, ließ er am gleichen Tag unter Androhung von Polizeigewalt den Amts‐ sitz der Einstweiligen Kirchenleitung in Kassel räumen. Weitere drei Tage später dekretierte er in einer „Verordnung zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Landeskirchentages“ nicht nur, dass dieser „ohne Rücksicht auf die Zahl der anwesenden Mitglieder beschlußfä‐ hig“ sei, sondern auch, dass seine Beschlüsse „in allen Fällen, auch wenn sie die Verfassung ändern, in einfacher Lesung und mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefaßt“ würden62. Für den 16. Juli berief er schließlich nochmals den Landeskirchentag ein: Die leidigen Fragen im Blick auf die Leitung der Kirche sollten schnellstmöglich zum Abschluss gebracht werden. An der Sitzung selbst nahmen insge‐ samt nur 33 von 55 Abgeordneten teil: Die Abstimmungen des 29. Juni konnten nun aber – unter dem Schein der Rechtmäßigkeit – wiederholt werden. Noch am selben Tag wurde das verabschiedete „Kirchengesetz über die Leitung und Verwaltung der evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck“ im Amtsblatt veröffentlicht; im Zusammenhang damit wurde auch die Besetzung der ,kommissarischen Kirchenregierung’ sowie die Absetzung der ,Einstweiligen Kirchenleitung’ bekanntgege‐ ben63, die sich allerdings ihrerseits als weiterhin amtierend verstand. Bis auf Weiteres standen also als Ergebnis der Einigungsbestrebungen Richters zwei Kirchenleitungen nebeneinander – die eine hatte „zwar das Recht auf ihrer Seite, nicht aber auch die Macht“, während die an‐ dere „zwar nicht das Recht, dafür aber die staatliche Macht auf ihrer Seite hatte“64. 59 60 61 62 63 64
Vgl. KABl. 49 (1934), 67. Ebd., 68. Vgl. ebd., 68. Ebd., 71. Ebd., 77f. FRICKE, 3 (s. Anm. 46). Zur Bedeutung, die diese Vorgänge für die Herausbildung der Bekennenden Kirche auf kurhessischer Ebene hatten, vgl. SCHNEIDER, 240‐243 (s. Anm. 45).
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Was aber machte die besonderen Züge des Leitungsgesetzes im Gegenüber zur Verfassung von 1923/24 aus? Verschiedene Charakteris‐ tika lassen sich festhalten: Die Vereinigung der unterschiedlichen Kompetenzen, die kollegial schon für die ,Einstweilige Kirchenleitung’ kennzeichnend war, wurde auf den Landesbischof übertragen. Er sollte ausdrücklich an „der Spitze der Kirche“65 stehen – nun aber nicht mehr nur im Sinne der Repräsentation kirchlicher Einheit, sondern um die Landeskirche zu führen. Zwar hieß es auch von ihm, er sei berufen, „die Gemeinschaft des kirchlichen Lebens in der Landeskirche sichtbar zum Ausdruck zu bringen“, aber daran schloss sich sogleich die – für den Aspekt der ‚Einheit’ bezeichnende – Aufgabenumschreibung an, er habe „die Einheit der Kirchenleitung herbeizuführen und zu gewähr‐ leisten, die Kirche zu vertreten und die zur Sicherung der Verfassung erforderlichen Maßnahmen zu treffen“66. Zudem wurde ihm in umfas‐ sender Weise das Amt der episkopé, d. h. der Verantwortung für das Leben der Kirche durch Aufsicht, Visitation und Ordination, zugeord‐ net67. Das Dilemma fehlender geistlicher Leitung der Kirche schien damit zumindest vom Anspruch des Gesetzes her aufgehoben. Doch haftete ihm nicht nur der Makel unrechtmäßiger Verabschiedung an, sondern es wurde zugleich nivelliert durch den Kontext, in dem es stand: Ein nicht minder wesentlicher Beschluss des Landeskirchentags war die Übertragung der Kirchenhoheit der Landeskirche auf die Reichskirche. Dies bedeutete zum einen, dass die Befugnisse der Kir‐ chenregierung und des Landeskirchentages auf die Deutsche Evangeli‐ sche Kirche mit der Ermächtigung übergehen sollten, „auch verfas‐ sungsändernde Kirchengesetze zu erlassen“68, zum anderen war die episkopale Führung, um die es ursprünglich in den kurhessischen Überlegungen zum Bischofsamt ging, konterkariert durch die Wei‐ sungsabhängigkeit des Landesbischofs vom Reichsbischof. Innerhalb dieses Strukturgefälles konnte ein mit großer landeskirchlicher Kompe‐ tenzfülle ausgestattetes Bischofsamt nur der zügigeren Durchsetzung reichskirchlicher oder auch staatlicher Maßnahmen dienen. Sein Träger konnte nicht Führer, sondern nur Erfüllungsgehilfe sein! 65 KABl. 49 (1934), 77, § 62. 66 Ebd., 77, § 63. Die Kirchenregierung, deren Mitglieder vom Landesbischof ernannt werden, leitet – unter der Führung des Bischofs – die Geschicke der Landeskirche; der Landeskirchentag hat nur noch ein Mitwirkungsrecht bei der kirchlichen Ge‐ setzgebung. 67 Vgl. ebd., 77, § 63. Begrenzt ist seine Befugnis nur dort, wo es sich im liturgischen Bereich „um die Wahrung und Pflege eines anderen als seines Bekenntnisses“ han‐ delt. Hier muss gegebenenfalls ein anderes Mitglied der Kirchenregierung oder ein Kreispfarrer an seine Stelle treten. 68 Ebd., 81.
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Diesen Vorwurf äußerten denn auch über hundert Pfarrer der Lan‐ deskirche wenig mehr als zwei Wochen später in einer Eingabe gegen‐ über Karl Theys, der sich zum Landesbischof hatte wählen lassen: „Sie werden als ein durch politische Stellen und Weisungen des Reichsbi‐ schofs Gebundener uns gegenübertreten, was von vornherein Ihrem Amt die innere Freiheit und den Charakter eines Seelsorgeamtes nimmt.“69 Daran schloss sich die Bitte an, umgehend vom Bischofsamt zurückzutreten. Angesichts dieses deutlichen Widerstandes und der Bereitschaft vieler kurhessischer Pfarrer, weiterhin mit der Einstweili‐ gen Kirchenleitung zusammenzuarbeiten, konnte die Amtszeit des Landesbischofs nicht von langer Dauer sein und die Verwirklichung einer episkopalen Ordnung nur Episode bleiben. Als daher am 17. No‐ vember Reichsbischof Müller selbst rechtliche Bedenken gegenüber den Beschlüssen und Maßnahmen zur Neuordnung der kurhessischen Kir‐ che äußerte70, war Theys einer wesentlichen Stütze beraubt, worauf er am 20. Dezember sein Amt niederlegte71. Die Parallelität zwischen Einstweiliger Kirchenleitung und kom‐ missarischer Kirchenregierung blieb jedoch auch das Jahr 1935 über bestehen72. Erst eine grundlegende Revision der staatlichen Kirchenpo‐ litik, die unter anderem in der Einrichtung des Reichskirchenausschus‐ ses zum Ausdruck kam und auch in Kurhessen‐Waldeck zu einem Landeskirchenausschuss führte, aber ebenso die Auseinandersetzun‐ gen um diese Ausschusspolitik innerhalb der Bekennenden Kirche brachten Veränderungen, die im Blick auf das Problem geistlicher Kir‐ chenleitung von Bedeutung waren. Den behandelten Zeitraum ab‐ schließend bleibt als Resümee der Eindruck, dass die ekklesiologischen Constituenda ‚geistlicher Führung’ nicht ausreichend geklärt wurden und dass daher die Begrifflichkeit in dieser Zeit einer Adaption des politischen Sprachgebrauchs glich. Mit anderen Worten: ‚Einheit’ und ‚Führung’ gehörten zur Nomenklatur einer weitgehenden Anpassung.
69 Abgedr. bei SLENCZKA, 56 (s. Anm. 39); vgl. auch ebd., 68, den Lagebericht des Ge‐ schäftsführers der BK, Pfarrer BERNHARD HEPPE. 70 Vgl. ebd., 69, sowie zu den rechtlichen Aspekten insgesamt auch das Räumungsur‐ teil des Landgerichts Kassel vom 2. Februar 1935 gegen die kommissarische Kir‐ chenregierung ebd., 172‐186, Dok. 1. 71 Vgl. den offenen Brief THEYSʹ, abgedr. ebd., 74f, sowie das Rundschreiben der kom‐ missarischen Kirchenregierung (K. R. Nr. 1036/34) vom 29. Dezember 1934 (Landes‐ kirchliches Archiv Kassel, Handakten Happich, Landeskirche Kurhessen‐Waldeck – Verschiedenes –). 72 Vgl. dazu SLENCZKA, 78‐86 (s. Anm. 39).
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IV. Geistliche Kirchenleitung während der Zeit des Landeskirchenausschusses 1935–1945 Nachdem im Spätherbst 1935 unter dem Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten, Hanns Kerrl, ein Reichskirchenausschuss gebildet worden war, dessen Aufgabe vor allem darin bestehen sollte, die Deut‐ sche Evangelische Kirche zu leiten und zu vertreten, kam es am 29. November zur Einrichtung eines Landeskirchenausschusses auch in Kurhessen‐Waldeck. Grundlage dafür war die „Vierte Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung der Deutschen Evangeli‐ schen Kirche“73. Sie bestimmte, dass der Reichsminister „aus Männern der Kirche“ den Landeskirchenausschuss zusammenstelle, der „seinen Sitz im Dienstgebäude der Landeskirche“74 habe. Zweierlei war damit ausgesagt: Der Landeskirchenausschuss stellte ein Gremium dar, das ausschließlich durch die Beauftragung vonseiten des Reichsministers sanktioniert war und daher auch in der Frage seiner Besetzung keine Eigenständigkeit besaß. Seine Installierung im Dienstgebäude bedeute‐ te gleichzeitig das Ende der kommissarischen Kirchenregierung75. Aus‐ drücklich wurde er deshalb auch als Organ der Leitung und Vertretung der Landeskirche umschrieben. Zu seinem Wirkungskreis sollten be‐ sonders die Aufgaben und Befugnisse gehören, die nach der Verfas‐ sung 1923/24 die Kirchenregierung hatte76. An die Vorordnung und Herausstellung eines Einzelnen war – nach den negativen Erfahrungen auf Reichs‐ und Landesebene – nicht gedacht. Der Landeskirchenaus‐ schuss wurde zwar durch einen Vorsitzenden geführt, doch blieb die‐ ser eingebunden in die Kollegialität der Ausschussmitglieder, die so weit ging, dass – wie es die Geschäftsordnung vom 11. Dezember 1935 ausdrückte – „in allen Angelegenheiten eine einmütige Stellungnah‐ me“77 angestrebt werden sollte. Von der Struktur, wenn auch nicht von der Legitimation her konnte also der Landeskirchenausschuss als eine Fortsetzung der Einstweiligen Kirchenleitung verstanden werden. Dennoch verwundert es nicht, dass dieser staatliche Versuch einer kirchlichen Befriedungspolitik innerhalb der Kirche umstritten sein 73 Vgl. KABl. 50 (1935), 191f. 74 Ebd., 101, § 2 (1) und (2). 75 Anders verhielt es sich mit der Einstweiligen Kirchenleitung, die ja ihre kirchliche Legitimation aus dem Beschluss des Landeskirchentages vom 12. September 1933 herleitete. Sie betrachtete, als sich der Landeskirchenausschuss etablierte und sich damit eine einheitliche Lösung des Kirchenleitungsproblems abzeichnete, vorläufig ,ihre Aufgabe als ruhend’ (SLENCZKA, 110 [s. Anm. 39]). 76 Vgl. KABl. 50 (1935), 101, § 3 (3). 77 Vgl. KABl. 51 (1936), 7, § 5.
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musste. Unter dem Aspekt von Freiheit und Unabhängigkeit der Kir‐ che konnte er als erneuter Eingriff in deren Selbstverfasstheit und Selbstbestimmung interpretiert werden. Namentlich die Bekennende Kirche tat sich schwer mit den aufgenötigten Leitungsorganen und schwankte zwischen einer – von der Mehrheit des Reichsbruderrats befürworteten – schroffen Ablehnung und der Bereitschaft zu beding‐ ter Zusammenarbeit, für die sich neben anderen auch Hans von Soden aussprach78. Seine Haltung, die für die Bekennende Kirche in Kurhes‐ sen‐Waldeck prägend war, mochte darin begründet sein, dass es in den entscheidenden Verhandlungen Ende November 1935 gelang, eine Zusammensetzung des Landeskirchenausschusses zu erreichen, die – unter Vermeidung extremer Positionen – eine weitgehende Repräsen‐ tanz der kirchlichen und kirchenpolitischen Gruppierungen erwarten ließ79. Dementsprechend hieß es im „Neujahrswort“ der kurhessischen Bekennenden Kirche, die Bildung eines Landeskirchenausschusses sei allein als „Hilfeleistung“ des Staates zur Neubildung einer eigenstän‐ digen evangelischen Kirche zu interpretieren, weshalb sein Charakter transistorisch sei und er „kein vollgültiges Kirchenregiment“ darstelle. Dennoch stehe der Bruderrat „bis zu Stunde bewußt hinter unserem LKA“80. Die Konzentration des Landeskirchenausschusses auf die Aufgaben der Kirchenregierung hatte zur Folge, dass die geistlichen Funktionen des Landesoberpfarrers und der Landespfarrer, und dies hieß wohl in erster Linie: die Ordinationen, einstweilen von Oberlandeskirchenrat Merzyn wahrgenommen wurden81. Diese Aufgabenteilung wurde ver‐ ständlicherweise als Provisorium empfunden, wie ja überhaupt die Amtszeit des Landeskirchenausschusses am 30. September 1937 enden sollte. Um aber nicht unvorbereitet erneut vor dem Problem zu stehen, 78 Vgl. dazu SCHNEIDER, 321‐351 (s. Anm. 45). 79 Die Namen der sechs Mitglieder des Landeskirchenausschusses nennt KABl. 50 (1935), 102; zu ihrer Zuordnung vgl. SLENCZKA, 100 (s. Anm. 39), und SCHNEIDER, 332 Anm. 28 (s. Anm. 45). Den Vorsitz führte Pfarrer Friedrich Happich, Hephata‐ Treysa. 80 Abgedr. bei SLENCZKA, 108f (s. Anm. 39). Vgl. zu dieser Haltung auch: FRIEDRICH HAPPICH an Hans von Soden (Kassel, 25. März 1940), in: Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens. Briefe und Dokumente aus der Zeit des Kirchenkampfes 1933‐1945, hg. v. ERICH DINKLER und ERIKA DINKLER‐VON SCHUBERT, bearb. v. MI‐ CHAEL WOLTER, Göttingen 1984, 309‐311 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte A/2). 81 Vgl. dazu GERHARD MERZYN, Erwiderung ... (27. September 1944), abgedr. bei SLENCZKA, 257‐264, bes. 259 (s. Anm. 39), sowie FRIEDRICH HAPPICH, Vertrauliche Denkschrift über Vorgänge in der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐ Waldeck, 9 (masch. Ms. im Landeskirchlichen Archiv Kassel, Handakten Happich, Landeskirche Kurhessen‐Waldeck – Verschiedenes –).
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wie nun die Leitung der Landeskirche insgesamt zu ordnen sei, wurde im Frühjahr 1937 ein Verfassungsausschuss eingesetzt mit dem Auf‐ trag, entsprechende Regelungen auszuarbeiten. Maßgeblich beteiligt war an diesen Beratungen Hans von Soden, aus dessen Feder der Ent‐ wurf für eine „Verordnung des Landeskirchenausschusses betreffend die Leitung und Verwaltung der Evangelischen Landeskirche von Kur‐ hessen‐Waldeck“82 wesentlich stammte. Charakteristisch für diesen Entwurf war das Bestreben, die Leitung der Landeskirche trotz der Erfahrungen aus dem Jahr 1934 bischöflich zu strukturieren – nun aber nicht, um die geistliche Leitung der Kirche dem staatlichen Führerprin‐ zip anzupassen, sondern um gerade ein starkes Gegengewicht gegen‐ über dem Staat zu gewinnen und damit die Eigenständigkeit der Kirche herauszustellen83. Noch aber kam es nicht zur Umsetzung dieses Ent‐ wurfs in die Wirklichkeit, da sich das Mandat des Landeskirchenaus‐ schusses – über das Bestehen des Reichskirchenausschusses hinaus – verlängerte und damit eine grundlegende Umgestaltung der Landes‐ kirche, die die Mitwirkung synodaler Instanzen erfordert hätte, weiter‐ hin aufgeschoben blieb. Der Entwurf verschwand in der Schublade84, um dann nach 1945 umso mehr Bedeutung zu bekommen. Dennoch blieb die Frage nach einem leitenden geistlichen Amt für die kurhessische Kirche in der Folgezeit virulent. Sie verband sich jetzt jedoch, anders als 1923/24, weniger mit dem Aspekt der Einheit bzw. der Führung, sondern eher mit der Überlegung, wie Kirchenleitung geistlich zum Ausdruck gebracht werden könne. Äußerer Anlass dazu war die Berufung von Wilhelm Lütkemann auf die seit 1933 vakante Stelle des Präsidenten des Landeskirchenamtes zum 1. Januar 1942. Bei den Vorgesprächen zu dieser Berufung im Kirchenministerium, aber auch in der Kirchenführerkonferenz wurde zu bedenken gegeben, dass sich durch diese Besetzung das Gewicht des Landeskirchenamtes ver‐ größere und deshalb eine stärkere Hervorhebung des geistlichen Lei‐ tungsamtes notwendig sei85. Friedrich Happich als Vorsitzender des Landeskirchenausschusses und kurhessischer Vertreter in der Kirchen‐ führerkonferenz hielt sich trotz wachsender Zustimmung zu diesen
82 Abgedr. bei SLENCZKA (s. Anm. 39), 233‐237. Zu von Sodens kirchenrechtlicher Arbeit insgesamt vgl. ARMIN FÜLLKRUG, Hans von Sodens kirchenrechtliches Werk, in: Reformatio und Confessio. FS Wilhelm Maurer, hg. v. FRIEDRICH WILHELM KANTZENBACH und GERHARD MÜLLER, Berlin/Hamburg 1965, 325‐345. 83 Vgl. dazu VON SODENS Ausführungen in der Denkschrift 1945, 107 (s. Anm. 35). 84 Vgl. Auszüge aus den Verhandlungen der Notsynode, 7 (s. Anm. 35). 85 Vgl. die Darstellung bei HAPPICH, 1‐6 (s. Anm. 81).
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Gedankengängen bedeckt, „da jedes Handeln von mir als ein Handeln pro domo erscheinen“86 musste. Unter den gegebenen provisorischen Bedingungen erschien es nur sinnvoll, an die Wiederbesetzung des Amtes eines Landesoberpfarrers zu denken. Fraglich war allerdings, ob der Landeskirchenausschuss anstelle des nicht mehr vorhandenen Landeskirchentages überhaupt befugt sei, diese Stelle von sich aus zu besetzen, und wie die Einbin‐ dung eines Landesoberpfarrers in das staatliche berufene Gremium des Landeskirchenausschusses möglich werde. Denn ein Landesoberpfar‐ rer ohne jegliche kirchenleitende Kompetenz wäre ein Rückschritt noch hinter die Konzeption von 1923/24 gewesen! Energisch machte sich Präsident Lütkemann die Klärung dieser Anliegen zur Aufgabe. In einer am 12. Juni 1942 erfolgten Besprechung im Berliner Ministerium wurde die Befugnis des Landeskirchenausschusses betont, – nach dem staatlichen Plazet – einen Landesoberpfarrer zu ernennen. Falls es nicht zu einer Besetzung komme, bestünde immerhin die Möglichkeit, den Vorsitzenden „etwa Präses“ zu nennen und so sein leitendes geistliches Amt zu betonen, nichts jedoch „Landesbischof oder Landesoberpfar‐ rer“87. Die Versuche, Happich zum Landesoberpfarrer zu ernennen, scheiterten dann aber an grundsätzlichen Einwänden sowie an Beden‐ ken, die gegen die Person Happichs geäußert wurden88. Lütkemann ließ jedoch nicht locker. Er richtete an den Landeskirchenausschuss „die Bitte um offizielle Klärung, wem auftragsweise die geistliche Lei‐ tung der Landeskirche zukomme“89. Die gemeinsam mit dem Landes‐ kirchenamt am 7./8. April 1943 ausgearbeitete Antwort war vom Grundsatz der Dualität geprägt: Oberlandeskirchenrat Merzyn solle wie bisher die geistlichen Funktionen des Landesoberpfarrers und der Landespfarrer ausüben, soweit dies nicht Aufgaben betreffe, die dem Landesoberpfarrer als Vorsitzendem der Kirchenregierung zugekom‐ men seien. Diese blieben Pfarrer Happich vorbehalten90. Sollte unter diesen Voraussetzungen eine Intensivierung des geistli‐ chen Leitungsaspekts erreicht werden, dann konnte dies nur im Blick 86 Ebd., 5. 87 Aktenvermerk DR. LÜTKEMANN, „Besprechung am 12. Juni 1942 im Ministerium mit Landgerichtsrat Haugg“ (Landeskirchliches Archiv Kassel, Handakten Happich, Landeskirche Kurhessen‐Waldeck – Verschiedenes –); vgl. auch HAPPICH, 10f (s. Anm. 81). 88 Vgl. LÜTKEMANN, Denkschrift über die geistliche Leitung der Landeskirche, abgedr. bei SLENCZKA, 237‐245, bes. 241 (s. Anm. 39). 89 Vgl. Auszüge aus den Verhandlungen der Notsynode, 3 (s. Anm. 35). 90 Vgl. ebd., 3f. Merzyn wurde zugebilligt, im Dienst mit „Der Landesoberpfarrer i. V.“ zu zeichnen, er hat dieses Amt jedoch nie bekleidet [gegen SCHNEIDER, 541 und 543 (s. Anm. 45)].
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auf Amt und Funktion Merzyns geschehen. Als am 29. August 1944 ein vom Landeskirchenausschuss eingesetztes Gremium – angesichts der anstehenden Pensionierung Merzyns – nur beschloss, dass nun die Wahrnehmung des leitenden geistlichen Amtes ebenfalls Happich übertragen werden sollte und damit keine eigengewichtige geistliche Leitung in Aussicht war, legte Lütkemann am 10. September eine um‐ fangreiche Denkschrift vor, die dieses dringende Desiderat durch eine scharfe Abrechnung mit Merzyns Tätigkeit verdeutlichen wollte. Seine Kernthese lautete, „daß der Dienst der geistlichen Leitung in unserer Landeskirche schon seit Jahren nicht mehr in Erscheinung getreten ist und daß dadurch wesentliche Stücke unserer kirchlichen Substanz verloren zu gehen drohen“91. Die Reaktion auf diese Vorwürfe war erheblich und muss hier im Einzelnen nicht dargestellt werden. Jedoch kristallisierte sich dabei ein Gesichtspunkt heraus, der in den vorausgegangenen Überlegungen zum leitenden geistlichen Amt zu kurz gekommen war: dass nämlich die Funktion geistlicher Leitung nicht eo ipso auf eine einzige Person beschränkt sein muss. Bereits in der Verfassung 1923/24 verteilten sich die ‚bischöflichen Funktionen’ auf drei Amtsträger sowie – in abgestuf‐ ter Weise – auch auf die Kreispfarrer. ,Geistliche Leitung’, so der Tenor der Erwiderungen von Kreispfarrer Johannes Steinweg und von Mer‐ zyn, verstanden als Führung, Beratung und Seelsorge in geistlichen Dingen, habe sich seit 1933 durchaus auf verschiedenen Ebenen der Landeskirche gezeigt – was allerdings nicht dagegen spreche, in Zu‐ kunft verstärkt „die Wieder‐Selbständigmachung des leitenden geistli‐ chen Amtes als der entscheidenden und führenden Stelle in der Lan‐ deskirche, und zwar in einer Einzelperson“92, zu bedenken. Zunehmende Kriegswirren, aber wohl auch die Immobilität der vorgegebenen Strukturen verhinderten die weitere Suche nach ange‐ messenen Lösungen. Es blieb der Treysaer Notsynode nach Kriegsende vorbehalten, die entscheidenden Schritte zu tun.
V. Die Neuordnung der geistlichen Kirchenleitung 1945 Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft stand die kur‐ hessische Landeskirche von neuem – darin den Ereignissen nach 1918 91 LÜTKEMANN, Denkschrift, 238 (s. Anm. 88). Er nennt als Beispiele fehlende Kirchen‐ visitationen, seltene Besuche auf Pfarrkonferenzen und ‐konventen und mangelnde geistlich‐seelsorgliche Verantwortlichkeit. 92 MERZYN, Erwiderung ..., 264 (s. Anm. 81) vgl. ebenso STEINWEG an Dr. Lütkemann (Kassel, 20. September 1944), abgedr. bei SLENCZKA, 251‐257, hier 256 (s. Anm. 39).
V. Die Neuordnung der geistlichen Kirchenleitung 1945
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nicht unähnlich – vor der Notwendigkeit, wenn schon nicht sich selbst neu zu verfassen, so doch zumindest ihre Leitung und Verwaltung in Unabhängigkeit von staatlicher Einflussnahme zu gestalten. Angesichts der Tatsache, dass eine kirchlich legitimierte Kirchenleitung seit 1935 fehlte und auch der Landeskirchentag nicht mehr existierte, anderer‐ seits aber Neuwahlen zum Landeskirchentag kurzfristig nicht möglich waren, wählte der Landeskirchenausschuss einen ungewöhnlichen Weg: Er erklärte „den kirchlichen Notstand“ und erließ eine „Notver‐ ordnung“, aufgrund deren eine „Notsynode“ unter dem Vorsitz des Präses des Landeskirchenausschusses gebildet wurde. Als ihre Aufga‐ ben wurden vor allem genannt: „die Bildung einer einheitlichen Kir‐ chenleitung, die Wahl eines Landesbischofs sowie die Vorbereitung einer künftigen ordentlichen Landessynode“93. Vorbereitende Gesprä‐ che im Landeskirchenausschuss und in einem eigens für diese Fragen berufenen Beirat hatten die Tendenz der Verhandlungen bereits inso‐ fern abgeklärt, als hierbei auf den inzwischen überarbeiteten Entwurf von Sodens aus dem Jahr 1937 zurückgegriffen wurde. Damit aber war deutlich, dass nicht einfach die alten Verfassungsbestimmungen über Leitung und Verwaltung der Kirche wieder aufleben sollten, sondern dass an deren grundlegende Neuordnung gedacht war – stets unter dem Vorbehalt, dass die getroffenen Entscheidungen nur vorläufig waren und der Sanktion durch eine gewählte Landessynode bedurften. Unter diesen Vorgaben verhandelte die Notsynode vom 25.‐27. September 1945 über den Gesetzentwurf94, den Präsident Lütkemann zwar einbrachte, dessen ganze Intention und Bedeutung aber vor allem durch die Verlesung der Denkschrift95 zum Ausdruck kam, die von Soden selbst erarbeitet hatte, nun aber krankheitsbedingt nicht vortra‐ gen konnte. Sie war gewissermaßen authentische Interpretation des vorgeschlagenen Gesetzestextes. Hauptanliegen von Sodens war die Einführung eines Bischofsam‐ tes, das in sich eine Fülle von Kompetenzen vereinigte. In seiner Denk‐ schrift klingt dies geradezu programmatisch: „In bewußtem Gegensatz zur Verfassung von 1923 schafft der Entwurf im Amt des Landesbischofs ein wirkliches Landesoberpfarramt. Er weist dem Landesbischof alle Zuständigkeiten der Leitung zu und beschränkt ihn weder durch Bü‐ rokratie noch durch Kollegialismus. Er macht ihn wirklich zur sichtba‐ ren Darstellung der Einheit, Eigenart und Lebendigkeit der Kirche. Alle 93 KABl. 60 (1945), Sonderausgabe (o. S.). Zur rechtlichen Beurteilung dieses Vorgehens vgl. auch FRICKE, 7f (s. Anm. 46). 94 Abgedr. in: Auszüge aus den Verhandlungen der Notsynode, 95‐102 (Anlage 1) (s. Anm. 35). 95 Ebd., 103‐111 (Anlage II).
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anderen an der Leitung der Kirche beteiligten Männer – Geistliche, Juristen, Laien – sind seine Mitarbeiter. Als solche können sie im Ein‐ vernehmen mit ihm durchaus eine selbständige und kraftvolle Wirk‐ samkeit ausüben, sie können ihn in fruchtbarster und wertvollster Wei‐ se unterstützen und ergänzen, seine Kraft gleichsam vervielfachen: aber sie können ihn nicht beschränken, seine Gaben nicht hindern, sei‐ nen Willen nicht brechen, sein Gewissen nicht fesseln.“96 Starke Worte mit starkem Anspruch – trotz oder gerade wegen der Erfahrungen aus kaum zurückliegender Vergangenheit! Dass für ein so beschriebenes Amt als Titulatur nur die Bezeichnung ,Landesbischof’ sinnvoll war, stand für von Soden außer Frage. Er sah sich in seiner Entscheidung bestärkt durch die Entwicklung, die seit 1918 in verschiedenen Landes‐ kirchen zur Einrichtung des Bischofsamtes geführt hatte97. Die Notsy‐ node schloss sich dieser Gewichtung des geistlichen Leitungsamtes, die auch im Titel zum Ausdruck kommen sollte, weitgehend an, änderte jedoch die Amtsbezeichnung ,Landesbischof’ in ‚Bischof’, um dadurch den „ökumenischen Charakter“ dieses Amtes deutlich werden zu lassen: Der ,Bischof’ sei derjenige, „der ein bestimmtes Gebiet der Kirche im Auftrag der Gesamtkirche geistlich leitet“98. Mochten also die Überlegungen hinsichtlich der angemessenen Amtsbezeichnung mehr sein als bloße Rabulistik, so war doch wesent‐ licher, wie die Notsynode inhaltlich das Bischofsamt umschrieb. Die drei Momente, deren Relevanz sich seit den Beratungen zur Verfassung 1923/24 mit zunehmender Klarheit für die Frage nach dem leitenden Amt in der kurhessischen Kirche herausstellte – die Aspekte von ‚Ein‐ heit’ und ,Führung’ sowie der ,geistliche’ Aspekt –, wurden aufge‐ nommen und zugleich verbunden in dem Gedanken eines bischöfli‐ 96 Ebd., 106. Zur Kritik dieses Grundsatzes vgl. schon die Ausführungen von Pfarrer Karl Scheig auf der Notsynode ebd., 16‐18, in der Literatur aber auch bei FÜLLKRUG, 338‐340 (s. Anm. 82) und – als Verdikt – bei SCHNEIDER, 556f (s. Anm. 45). 97 Vgl. Auszüge aus den Verhandlungen der Notsynode, 108 (s. Anm. 35); dazu auch HANS LIERMANN, Das evangelische Bischofsamt in Deutschland seit 1933, in: Zeit‐ schrift für evangelisches Kirchenrecht 3 (1953/54), 1‐29, der insgesamt gesehen von einer „Rezeption des Bischofsamtes“ (ebd., 17) spricht. 98 So Pfarrer Karl‐Bernhard Ritter, in: Auszüge aus den Verhandlungen der Notsyno‐ de, 50 (Hervorhebung von mir) (s. Anm. 35). Vgl. dazu auch FRIEDRICH HAPPICH an Landesbischof Theophil Wurm (2. Oktober 1945), Bl. 1v (vorh. im Landeskirchlichen Archiv Kassel, Handakten Happich, Präses der Synode 1945‐1947): „Das Kirchenge‐ setz wurde von der Synode gegen die Stimmen von 2 Brüdern [Karl Scheig und Wilhelm Wibbeling] angenommen. Die beiden Brüder, die dem Gesetz nicht zu‐ stimmten, haben positiv mitgearbeitet; sie waren Vertreter verhältnismäßig weniger calvinistisch gefärbter reformierter Gemeinden im Gebiet der Hanauer Union. Von daher mußten sie grundsätzlich gegen das Amt des Bischofs bei der letzten Abstim‐ mung stimmen.“
V. Die Neuordnung der geistlichen Kirchenleitung 1945
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chen Wächteramtes. So sollte im Bischofsamt nicht mehr nur die Einheit der Landeskirche ihren Ausdruck finden, sondern die Wahrung der kirchlichen Einheit war nun eine seiner wesentlichen Aufgaben99. Die Zeit des Kirchenkampfes hatte gelehrt, dass solche Einheit stets gefähr‐ det war und nicht einfach institutionalisiert werden konnte. Offenkun‐ dig lehnte sich von Soden deshalb an CA 7 an, um die Grundvoraus‐ setzung kirchlicher Einheit erfassen zu können, wenn er zuvor ausführte: „Der Bischof wacht darüber, daß das Evangelium in der Kirche dem Bekenntnis der Reformation gemäß lauter und rein ver‐ kündet und die Sakramente recht verwaltet werden; er sorgt dafür, daß der Auftrag, den die Kirche von ihrem Herrn erhalten hat, überall und jederzeit wirksam ausgerichtet wird.“100 ,Einheit’ war damit, viel mehr als 1923/24, in ihrer geistlichen Dimension erfasst; Wahrung der Einheit deshalb eine essentiell geistliche Funktion! Was ihre Konkretion betraf, so wurde dem Bischof das Kanzelrecht für Gottesdienste in allen Ge‐ meinden eingeräumt – aus konfessioneller Rücksichtnahme nicht aber, wie von Soden es vorgeschlagen hatte, auch das Recht, überall Amts‐ handlungen vorzunehmen – sowie der Gedanke bischöflicher Visitati‐ on und Inspektion hervorgehoben101. War es 1937 noch von Sodens Interesse, auch die Ordinationen ausschließlich an das Bischofsamt zu binden und ihm dadurch die alleinige geistliche Leitung zuzuordnen, entschloss man sich in den Vorverhandlungen wegen der konfessionel‐ len Unterschiede innerhalb der Landeskirche, doch das Amt der Lan‐ dessuperintendenten bzw. Pröpste – das von Soden aufgrund seiner Einschätzung der Verfassung 1923/24 nicht vorsah – einzuführen und ihnen das Recht zur Ordination zu erteilen102. Gerade im Blick auf den ,geistlichen’ Aspekt von Kirchenleitung konnte nicht mehr von einem Monepiskopat des Bischofs die Rede sein103. Zum hervorgehobenen ,Wächteramt’ gehörte für von Soden aller‐ dings auch das hinzu, was man in den dreißiger Jahren mit kirchlicher Führung bezeichnet hatte. Um ihr Gestalt zu geben, entschloss sich die Notsynode, dem Bischof den Vorsitz sowohl des Rates der Landeskir‐ che als auch des Landeskirchenamtes zu übertragen. Der Anspruch, 99 Vgl. KABl. 60 (1945), 13, § 2(3). 100 Ebd., 13, § 2 (2); so schon 1937, vgl. SLENCZKA, 223 (s. Anm. 39). Zur Formulierung dieses Einheitsgedankens vgl. Die Bekenntnisschriften der evangelisch‐lutherischen Kirche, Göttingen 81979, 61,1‐17, aber auch die kritischen Überlegungen bei MAURER, 444 (s. Anm. 24). 101 Vgl. KABl. 60 (1945), 13, § 3 (1) und (2). 102 Vgl. ebd., 14, § 9. 103 Vgl. dazu insgesamt auch KURT MÜLLER‐OSTEN, Rechtsordnung und geistliche Leitung der Kirche. Erwägungen über Ursprung und Gestalt des kurhessischen Propstamtes, in: Reformatio und Confessio, 346‐363 (s. Anm. 82).
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den von Soden mit dem Bischofsamt verband, zeigte sich hier am deut‐ lichsten, denn der Rat der Landeskirche sollte „nicht Kirchenregierung, sondern Organ der Beratung, Anregung, Unterstützung, Überwachung und, soweit erforderlich, der Gesetzgebung“ sein, das Landeskirchen‐ amt „nicht eine oberste leitende Behörde“, sondern „das Ministerium oder die Kanzlei des Landesbischofs“104 darstellen. Dies bedeutete nun freilich wirklich gegenüber dem Amt des Landesoberpfarrers eine er‐ hebliche Ausweitung der Befugnisse und eine mögliche bischöfliche Alleinherrschaft. Um so wesentlicher war es, dass von Soden 1937 und 1945 das komplementäre Gewicht der Landessynode herausstellte: Sie „ist der oberste Träger der landeskirchlichen Gewalt und hat in allen kirchlichen Fragen die letzte Entscheidung“ – ein Passus, dem auch die Notsynode zustimmte105 und der jenen entgegengehalten wurde, die in der Einführung des Bischofsamtes die Wiederauflage des Führerprin‐ zips sahen. Es war prinzipiell auf die Synode hingeordnet, die nicht nur den Bischof wählte, sondern ihn unter Umständen106 auch zum Nieder‐ legen seines Amtes zwingen konnte. In dieser Relation, die sich nach von Soden nicht hemmend auf das Bischofsamt auswirken musste, sah er einen ausreichenden Schutz der Landeskirche „vor einer etwa jemals drohenden Bischofstyrannei“107. Die überwiegende Mehrheit der Not‐ synode schloss sich dieser Einschätzung an, so dass das Leitungsgesetz am 27. September 1945 verabschiedet wurde. Noch am selben Tag fand die einstimmige Wahl von Pfarrer Adolf Wüstemann zum Bischof der Landeskirche statt108. Der Weg zur Konstituierung geistlicher Kirchen‐ leitung in Gestalt des Bischofsamtes war damit abgeschlossen. Überblickt man ihn resümierend, dann ist kaum zu bestreiten, in welch eminenter Weise hier der Gedanke kirchlicher Einheit bestim‐ mend war. Hans von Soden hatte nicht ohne Grund als Ziel seines Entwurfs genannt, er sei „von dem Willen geleitet, die Einheit der Lan‐ deskirche zu bewahren und in der Verfassung zu sichern sowie ihr in 104 Auszüge aus den Verhandlungen der Notsynode, 108f (s. Anm. 35). Vgl. die ent‐ sprechenden Bestimmungen, die hinsichtlich des Landeskirchenamtes von „unter‐ stützenʺ – KABl. 60 (1945), 13, § 5 (1) –, hinsichtlich des Rates der Landeskirche von „beratenʺ und „mitwirkenʺ sprechen, ebd. 14, § 16 (1). 105 Ebd., 15, § 18 (1). Vgl. dazu MAURER, 437 (s. Anm. 24): „Die Grundstruktur des synodalen Bischofsamtes kommt in dieser Gegenüberstellung zur klassischen Aus‐ prägung.“ 106 Vgl. KABl. 60 (1945), 15, § 18 (5). 107 Auszüge aus den Verhandlungen der Notsynode, 107 (s. Anm. 35). 108 Während der vorangehenden Beratungen waren als weitere Kandidaten auch Pro‐ fessor Hans Wilhelm Hertzberg, seit 1936 Direktor des Predigerseminars in Hof‐ geismar, sowie vor allem Hans Asmussen, damals Präsident der Kirchenkanzlei der EKD, im Gespräch; vgl. HAPPICH an Wurm, Bl. 2rv (s. Anm. 98).
V. Die Neuordnung der geistlichen Kirchenleitung 1945
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dieser Einheit eine aktionsfähige Leitung von geistlichem Charakter zu geben“109. Wenn 1967 die Grundordnung in perfektischem Sinn vom Zusammenwachsen der Landeskirche zu einer Kirche sprach, lag dies zu einem großen Teil auch an der episkopal geprägten Leitungsstruk‐ tur, die in den Jahren seit 1945 die erreichte Einheit nicht nur konsoli‐ dieren, sondern ausbauen konnte und damit ihre kircheneinende Funk‐ tion unterstrich.
109 Auszüge aus den Verhandlungen der Notsynode, 111 (s. Anm. 35).
Hermann Schafft in den Jahren 1918 bis 1938 Wer sich näher mit Hermann Schafft befasst, begegnet einem Lebens‐ werk1. „Er war − ein Kriegsfreiwilliger im ersten Weltkrieg, aber ein kriegsfreiwilli‐ ger Krankenträger, − ein Wandervogel, der sich um Arbeiterjungen kümmerte, − ein Jugendpfleger in der Kasseler Altstadt zwischen den Weltkrie‐ gen, der theologische Streitschriften verfaßte, − ein evangelischer Pfarrer, der die Kirche von der Idee des Sozia‐ lismus belebt wissen wollte, − ein Pädagogikprofessor, der seine hungernden Studenten mit Speck von den Bauern seiner Pfarrgemeinde versorgte, − ein rastloser Geistesarbeiter und Organisator, der im Pensionsalter eine Kriegswitwe mit sechs Kindern heiratete (drei kamen dann noch hinzu), − ein hoher Verwaltungsbeamter, der mit seinen Untergebenen mu‐ sizierte, − ein Theologe, Ehrendoktor der Marburger theologischen Fakultät, der Notleidende auf der Straße auflas, mit nach Hause nahm, ih‐ nen Arbeit verschaffte. Vor allem kümmerte er sich um diejenigen, die selbst keine starken Interessengruppen bilden konnten. Seit 1907 war er Taubstummenseel‐ sorger. Er wirkte entscheidend mit beim Wiederaufbau und bei der Weiterentwicklung des hessischen Jugendherbergswerkes. Seiner Initi‐ ative ist 1955 die Gründung eines Gymnasiums für Jungen und Mäd‐ chen im Osten Kassels mit zu verdanken, aber auch die Gründung der Heimvolkshochschule Fürsteneck, in der sich seine Vorstellung von einer bestimmten Jugend‐ und Erwachsenenbildung verwirklichen ließ.“2 1 2
Vgl. die Bibliographie in: Hermann Schafft. Ein Lebenswerk, hg. in Verbindung mit einem Freundeskreis v. WERNER KINDT, Kassel 1960, 271‐277. KARL‐HARTMUT GARFF, Die Sozialisten sollen die Bibel, die Christen Karl Marx lesen! Hermann Schafft (1883‐1959), in: Bildung hat Zukunft, Volkshochschule in Kassel. Ein Lese‐ und Bilderbuch, hg. von der Gesamtvolkshochschule Kassel, Kassel 1987, 32f.
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Gleichwohl sind Eingrenzungen notwendig, und diese müssen sachgemäß markiert werden. Inhaltlich gesehen wird es um die Frage gehen, inwiefern sich ein wechselseitiger Zusammenhang von Biogra‐ phie und Theologie auf Schaffts Haltung gegenüber dem Nationalsozi‐ alismus insgesamt und zum „Kirchenkampf“ im Besonderen ausge‐ wirkt hat. Unter zeitlichem Gesichtspunkt ist mit dem Jahr 1938 eine Zäsur gesetzt, nachdem sich Schafft aus seiner damaligen Berliner Tä‐ tigkeit – um ihn selbst zu Wort kommen zu lassen – „auf eine Land‐ pfarrei in Friedewald bei Hersfeld zurückgezogen“3 hatte. Die Zeit nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur bleibt notgedrun‐ gen außer Acht – und damit jene Epoche des Lebenswerks, in der Schafft seine über lange Jahre hin gewonnenen Erkenntnisse gestalte‐ risch in den Neubau eines demokratischen Gemeinwesens einbringen konnte und die politischen Geschicke als Regierungsdirektor und Lei‐ ter der Abteilung für Erziehung und Unterricht im Regierungspräsidi‐ um Kassel mitbestimmte. Aber auch der Rahmen bis 1938 ist weit genug! Immerhin wurde Schafft schon 1883 geboren, vollendete also im Jahr der nationalsozia‐ listischen „Machtergreifung“ bereits sein 50. Lebensjahr. Dies weist darauf zurück, dass wesentliche Prägungen seiner Lebensgeschichte, die dann Ausprägung in seinem Lebenswerk fanden, längst früher stattgefunden hatten. Und zugleich ist zu beobachten, dass sich Schaffts Biographie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs – äußerlich betrachtet – ausgesprochen unauffällig ausnimmt. In Langenstein bei Halberstadt geboren, aus einem Pfarrhaus stammend, in Hersfeld aufgewachsen, seit 1903 Studium der Theologie in Halle, Berlin, Tübingen und erneut Halle, 1907 Vikar in Hersfeld beim Vater, der dort inzwischen Superin‐ tendent war, verschiedene wechselnde pfarramtliche Tätigkeiten in und außerhalb Kurhessens – das alles deutet noch nicht auf das Außer‐ gewöhnliche hin, das sich mit Hermann Schafft verbindet. Ein Leben im wilhelminischen Kaiserreich, das ihn fast selbstverständlich und fraglos in den Ersten Weltkrieg führte, an dem er von September 1914 bis Weihnachten 1918 teilnahm – wohlgemerkt freiwillig, „zuerst als freiwilliger Krankenträger, dann als freiwilliger Feldpfarrer“4.
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Lebensbericht, von ihm selbst verfasst, in: Hermann Schafft. Ein Lebenswerk, 149 (s. Anm. 1). Ebd., 147.
Prägungen
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Prägungen Aus meiner Sicht lassen sich in Schaffts Biographie vier ihn bestim‐ mende Prägungen ausmachen, die unterschwellig miteinander verwo‐ ben sein mögen, aber zugleich deutlich voneinander abgesetzt sind. Da ist zunächst die theologische Prägung. Schafft nahm sein Theolo‐ giestudium in Halle auf und schloss es dort auch ab. Das ist mehr als nur eine reine Ortsangabe. Denn in Halle war es vor allem der biblische Realismus der Theologie Martin Kählers, der ihn zeitlebens bestimmen sollte. Paul Tillich, mit dem Schafft seit den Berliner Studientagen eng befreundet war und es 55 Jahre lang bis zu seinem Lebensende blieb, fasste den theologischen Einfluss Kählers auf Schafft und auf ihn selbst recht anschaulich zusammen. Martin Kählers Vorlesungen „entschie‐ den unser beider theologisches Fundament: Das protestantische Prinzip der ‚sola gratia, sola fide’, das Kähler gegen alle Versuche verteidigte, den Glauben auf Moral oder historische Wissenschaft zu gründen. Aus dieser Haltung leiteten wir die Übertragung des Prinzips der Rechtfer‐ tigung auf das Denken ab und sprachen von der ‚Rechtfertigung des Zweiflers’.“5 Und wie viel Tillich hierbei wiederum dem Einfluss Schaffts verdankte, verdeutlich die folgende Würdigung: „Er [= Schafft] vermittelte mir den Geist Martin Kählers vielleicht mehr, als dessen Vorlesungen es taten. Und in diesem Geist, der entscheidend wurde für unsere Theologie, kämpften wir den für uns damals großen und wich‐ tigen Kampf für die Prinzipien einer christlichen Studentenverbindung. Was wir dort lernten, wurde die Grundlage unseres späteren kirchen‐ politischen Denkens. Trotz aller Wandlungen und Differenzen haben wir diesen Standpunkt nie verlassen. Er ermöglichte es uns, den Weg zu gehen, der uns von einer die Wahrhaftigkeit zerstörenden Alt‐ und Neuorthodoxie ebenso fernhält, wie von einem das Objektive im Glau‐ ben auflösenden Liberalismus.“6 Eine zweite Prägung erfuhr Schafft durch die Jugendbewegung. Seit etwa der Jahrhundertwende hatte sie in ihrer Kritik an der herrschen‐ den Kultur die fortschrittlich gesinnten Kreise der Jugend erfasst. Ziel war die selbstverantwortete Lebensgestaltung in Gemeinschaft mit anderen. Leitmotivisch kam dies in der sogenannten „Meißnerformel“ vom Oktober 1913 zum Ausdruck: „Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaf‐ 5 6
PAUL TILLICH, Hermann Schafft, in: Ebd., 12. PAUL TILLICH – Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch‐Auszüge, Berichte, hg. v. RENATE ALBRECHT und MARGOT HAHL, Stuttgart 1980, 28 (Ergänzungs‐ und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. 5).
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tigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.“7 Was dieses Anliegen für Schafft bedeute‐ te, lässt sich erneut am Besten der Charakteristik Tillichs entnehmen: „Es war nie ohne tiefste Ergriffenheit, daß Hermann Schafft von dem Hohen Meißner‐Erlebnis sprach. Da ich selbst nicht an diesen Dingen teilgenommen habe, kann ich nur sagen, daß es nach meinem Gefühl die Einheit von Geist und Vitalität war, die Hermann Schafft in der Jugendbewegung mehr als in den alten Korporationen fand und die ihn zu ihr geführt hat. Jedenfalls war die Teilnahme in ihr zugleich die Grundlegung seiner Aktivitäten als Jugendführer und Jugenderzieher. Seine eigene Geistigkeit war immer in Einheit mit seiner unbesiegbaren Vitalität.“8 Die dritte Prägung, die Schafft fortan bestimmen sollte, war mehr noch als die beiden erstgenannten eine zutiefst existentielle: die Erfah‐ rung des Weltkriegs. Schaffts eigener, kurzgefasster Lebensbericht nimmt darauf keinen ausdrücklichen Bezug. Umso deutlicher tritt die‐ se Prägung in den Veröffentlichungen der zwanziger Jahre zutage. Der Erste Weltkrieg war für viele in der Generation Schaffts, die die ersten Lebensjahrzehnte im Kaiserreich verbracht hatten, ein zugleich äußerer wie innerer Zusammenbruch. Es ist bekannt, wie weit das Wort von der tiefgreifenden „Krise“ Gefühl und Bewusstsein bestimmte. Die Auflösung des Hergebrachten war allenthalben spürbar, und Schafft scheute sich nicht, dieses schwer definierbare Erleben mit dem Begriff „Zeitenwende“ zu belegen: „Es ist nicht möglich“, führte er 1925 aus, „in solchem Geschehen Daten und Jahre festzusetzen, höchstens kann man von besonderen symbolischen Vorgängen sprechen, die uns zum Gleichnis werden können, und in diesem Sinn hat etwa der Weltkrieg entscheidende Bedeutung.“9 Für Schafft konnte es dahinter kein Zu‐ rück mehr geben in den früheren Zustand: „Wir wissen wieder um die Gebrechlichkeit unserer Welt und das Elend unseres gesamten Lebens, um die Barbarei unserer Bildung, um die Unwahrheit unseres politi‐ schen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Alles das ist für uns in Frage gestellt, und vielen unter uns ist das nicht in der Form irgendwelcher Buchlektüre und Kollegerkenntnisse zum Bewußtsein gekommen, sondern in irgendeiner Stunde mitten im Krieg, in dem uns
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Zit. nach Art. Meißnerformel, in: Brockhaus Enzyklopädie 12 (1971), 359. PAUL TILLICH, Hermann Schafft, in: Hermann Schafft. Ein Lebenswerk, 13 (s. Anm. 1). HERMANN SCHAFFT, Vom Kampf gegen die Kirche für die Kirche, Habertshof bei Schlüchtern 1925, 9.
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die letzte Frage nach dem Leben, angesichts des Unheimlichen, was unsere Augen sahen, neu aufbrach.“10 Und schließlich eine letzte Prägung: die politische. Sie hängt eng mit der Übernahme des Pfarramtes an der Kasseler Hofgemeinde (Garni‐ sonkirche), die nach Kriegsende erfolgte, und dem 1927 erfolgten Wechsel an die Altstädter Gemeinde (Brüderkirche) in Kassel zusam‐ men. Beide Kirchen lagen im Bereich der verwinkelten, nur von engen Gassen durchzogenen Kasseler Innenstadt, in der die Verelendung der Wohnbevölkerung mit Händen zu greifen war und die Radikalisierung der Arbeiterschaft deren fast zwangsläufige Folge darstellte. Von Haus aus stand Schafft dieser Lebenswelt eher fern, doch konnte und wollte er sich ihr in seiner pfarramtlichen Arbeit nicht entziehen, sondern begab sich mitten in sie hinein – nicht nur rhetorisch, sondern in der Konsequenz der ganzen Person. Zunehmend wurde ihm dabei be‐ wusst, dass es bei der sozialen Arbeit der Kirche um mehr gehen müsse als um bloße Almosen. Für ihn geriet die Prägung durch das konkrete gemeindliche Umfeld zu einer grundsätzlichen Anfrage an die Kirche, die ihn nicht mehr loslassen sollte: „Wir müssen in der Gemeinde end‐ lich damit aufhören, uns über den Atheismus, der uns aus den Kreisen des Proletariats entgegenkommt, zu entrüsten … Das Proletariat wartet auf uns, auch wenn wir wenig vielleicht unmittelbar davon merken und auf hochmütige Ablehnung stoßen.“11 Das Ensemble dieser vier Prägungen ermöglichte die Eigenheit und Selbständigkeit von Schaffts Denken und vermittelte ihm eine nicht zu unterschätzende Dynamik. „Erneuerung“ wurde für ihn nach 1918 zum entscheidenden Stichwort.
Ausprägungen Die Zwanziger Jahre stellten eine der beiden fruchtbarsten Lebensepo‐ chen Schaffts dar. Die mit dem Zusammenbruch der Monarchie und dem Ende des landesherrlichen Kirchentums verbundenen Herausfor‐ derungen drängten zu neuen Wegen. Und Schafft wusste sich von dem Neuen, das kommen sollte, in Dienst genommen. Gleiches wiederholte sich übrigens – mutatis mutandis – nach dem Ende des Zweiten Welt‐ kriegs und der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur. So hat es fast den berechtigten Anschein, als sei die Krisenzeit dasjenige 10 Ebd., 14. 11 Ebd., 101.
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Fluidum, das Schafft am meisten entsprach und ihn am meisten an‐ spornte. Aber er verstand sich nicht als einsamer Rufer in der Wüste. Im Rückblick auf die geistesgeschichtliche Entwicklung während der ver‐ gangenen Jahrhunderte konnte er geradezu von einem „Fluch der Ver‐ einzelung“12 sprechen, um demgegenüber in aller Eindringlichkeit zu betonen, „daß das Grundgesetz des Lebens das Gesetz der Gemein‐ schaft ist“13. Entsprechend folgerichtig war, dass Schafft einen Kreis Gleichgesinnter suchte und fand. Er selbst gehörte nicht zu den Grün‐ dern des 1920 ins Leben gerufenen Neuwerk‐Kreises, einer christlich sozialistischen Jugendbewegung, schloss sich ihr bald, im nicht mehr unbedingt jugendlichen Alter von knapp vierzig Jahren, an und war seither einer ihrer führenden Köpfe – gemeinsam mit Emil Blum, Gün‐ ther Dehn, Heinrich Frick, Alfred Dedo Müller, Alfons Paquet, Otto Piper, Wilhelm Thomas, Paul Tillich und Wilhelm Wibbeling14. Auf dem Habertshof bei Schlüchtern hatte dieser Kreis sein Zuhause. Hier gab es den Austausch bei den großen Jugendtreffen zu Pfingsten, aber auch die regelmäßigen Vorträge und Gespräche in kleiner Runde. Und als Gesprächsforum und gewissermaßen Fortsetzung der mündlichen Diskussion diente die Zeitschrift „Neuwerk“ mit dem bezeichnenden Untertitel „Ein Dienst am Werdenden“, an der Schafft seit 1923 als Mit‐ herausgeber mitarbeitete und die er von 1931 bis 1935 allein herausgab. Dass das alte System unwiderruflich an sein Ende gelangt sei und es keine Restauration geben könne, stand für Schafft fest. Politisch be‐ jahte er den Weimarer Staat – ganz im Gegensatz zu der Vielzahl seiner evangelischen Amtsbrüder, die den bisherigen staatskirchlichen Ver‐ hältnissen nachtrauerten und sich mit dem demokratischen Gemeinwe‐ sen – wenn überhaupt – nur schwer anfreunden konnten. Als ein Be‐ kenntnis nicht nur zu den berechtigten Anliegen der Arbeiterschaft, sondern auch zur Weimarer Republik ist durchaus seine Mitgliedschaft in der SPD zu werten. Aber die Parteimitgliedschaft verengte ihm nicht den Blick für die Andersdenkenden. Im Gegenteil. Wo sich der An‐ spruch einer Partei verabsolutierte oder gar zur Weltanschauung zu werden drohte, hatte er mit dem vehementen Widerspruch Schaffts zu rechnen: „Es wäre schön“, schrieb er 1929, „wenn es in Deutschland einmal dazu käme, daß die Parteien sich selber demaskieren und ihre Struktur als Interessengemeinschaften ganz offen und unverhüllt ein‐ 12 DERS., Die Jugendbewegung im Spiegel der Zeit (1925), in: Hermann Schafft. Ein Lebenswerk, 185 (s. Anm. 1), vgl. ebenso DERS., Vom Kampf, 13f und 55 (s. Anm. 9). 13 DERS., Der Kampf um die Sonderung (1925), in: Hermann Schafft. Ein Lebenswerk, 239 (s. Anm. 1). 14 Vgl. WILHELM WIBBELING, Die Neuwerk‐Bewegung, in: Ebd., 55‐60.
Ausprägungen
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gestehen. Es wäre schön, wenn es dadurch dann möglich würde, über die kulturpolitischen und weltanschaulichen Fragen einmal von der Sache her zu sprechen.“15 Nicht also Partei an sich und um jeden Preis, nicht erneute Aufsplitterung der Gesellschaft, sondern Schaffts politi‐ sche Vision einer erneuerten Gesellschaft mit sozialem Angesicht rühr‐ te her aus dem Bewusstsein einer „Solidarität der Schuld“, in der sich das deutsche Volk nach Kriegsende wiederfinde. Ludwig Metzger, Religiöser Sozialist, Mitglied des Neuwerk‐Kreises, später hessischer Staatsminister, hat mit Recht darauf hingewiesen, „wie oft man bei Hermann Schafft auf das Wort von der ‚Solidarität der Schuld’“ trifft. „Ich glaube“, fährt Metzger fort, „daß hier der Schlüssel zum Ver‐ ständnis der Haltung liegt, die er in vieler Beziehung, insbesondere aber auf dem Gebiet der Politik, eingenommen hat. Wenn wir Politik als das verantwortliche Ordnen des Zusammenlebens der Menschen verstehen, so hat Hermann Schafft jederzeit seine politische Verantwor‐ tung als Christ bejaht und die entsprechende Verantwortung der Kir‐ che gefordert. Es ging ihm darum, daß Liebe und Gerechtigkeit das Zusammenleben der Menschen bestimmen.“16 Eine sich aus dem Bewusstsein der „Solidarität der Schuld“ erneu‐ ernde Gesellschaft forderte aber zugleich die Erneuerung der Kirche – und zwar in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft wie auch in ihren eige‐ nen Strukturen. Allzu lange hatte sich die evangelische Kirche in Schaffts Augen an den jeweiligen Staat angelehnt und damit ihre äuße‐ re wie innere Freiheit aufgegeben. „Mit der Bindung an den Staat war nicht nur im Zeitalter der feudalen Wirtschaftsform, sondern auch im Zeitalter sonderlich des Frühkapitalismus die enge Verbindung der Kirche mit den führenden Gesellschaftsschichten gegeben, und diese Tatsache hemmte die Kirche, an den durch die Entwicklung gestellten gesellschaftlichen Aufgaben hilfreich und vorwärtsführend mitzuwir‐ ken. Hier liegt die tragische Schuld der Kirche. Sie ist in der frühkapita‐ listischen Zeit, als die proletarische Schicht entstand und wehr‐ und rechtlos ihr schwerstes Schicksal erlitt, nicht Vorkämpferin der sozialen Erneuerung geworden.“17 Noch aber war es aus Schaffts Sicht nicht zu spät, dass die Kirche den ihr angemessenen Ort in der Gesellschaft einnehme. Dazu gehörte der „Kampf um Befreiung der Kirche von 15 HERMANN SCHAFFT, Evangelische Kirche und Politik, Kassel 1929, 11. 16 LUDWIG METZGER, Politik als Aufgabe, in: Hermann Schafft. Ein Lebenswerk, 84 (s. Anm. 1). Zur Rede von der „Solidarität der Schuld“ vgl. etwa HERMANN SCHAFFT, Religion, Jugendbewegung und soziale Arbeit (1927), in: Ebd., 197; DERS., Evangeli‐ sche Kirche, 4 und 16 (s. Anm. 15). Gleicher Begrifflichkeit bedient sich im Oktober 1945 die „Stuttgarter Schulderklärung“ des Rates der EKD. 17 HERMANN SCHAFFT, Evangelische Kirche, 9 (s. Anm. 15).
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allen Abhängigkeiten, vom Staat und auch von bestimmten politischen Parteien“18, der es seinerseits aber der Kirche ermögliche, das für die Gesellschaft zu sein, was sie auftragsgemäß zu sein habe, nämlich „im Sinne innerer Vollmacht Mitte der Gesellschaft zu werden“19. Wie dies zu verstehen ist? „Unsere Arbeit“, erläutert Schafft, „sollte dem Abbau falscher alter Ideologien dienen, sollte zu der Haltung erziehen, die um die Solidarität von Schicksal, Schuld, Glaube und Liebe weiß und sollte vom Inhalt christlicher Verkündigung her für eine letzte Sinngebung und Erneuerung aller Lebensbereiche Richtung geben und Wege wei‐ sen. Sie kann das nicht tun im Sinne einzelner politischer Vorschläge, sondern sie kann es in ihrer zentralen Aufgabe nur tun durch Gewis‐ senserziehung, die es unmöglich macht, mit dem Namen des Christen‐ tums ein Verhalten im öffentlichen Leben zu verbinden, das seinem Geiste ins Gesicht schlägt.“20 Dass dies eben gerade keine Klerikalisie‐ rung von Politik und Gesellschaft bedeute, dürfte offensichtlich sein. Vielmehr könnte, wer Schaffts Rede von der Kirche als der „Mitte der Gesellschaft“ scheut, doch immerhin von der Kirche als dem Ferment der Gesellschaft sprechen. Aufbruch aus den mitgeschleppten Verkrustungen und Hinwen‐ dungen zur Welt bestimmten aber auch Schaffts Überlegungen zur inneren Gestalt der Kirche. Früh hatte er sich mit Paul Tillich der Ber‐ neuchener Bewegung zur Erneuerung von Liturgie und Gottesdienst angeschlossen und in den fünf Jahren des Bestehens des Berneuchener Kreises seit 1923 an den Zusammenkünften teilgenommen. Schafft und Tillich bildeten gewissermaßen die „Linke“ dieser Bewegung21. Und auf landeskirchlicher Ebene traf Schafft mit Karl Bernhard Ritter, der als Berliner Pfarrer immerhin von 1920 bis 1924 Abgeordneter der DNVP im Preußischen Landtag war, und anderen Gesinnungsfreunden im sogenannten „Loshäuser Kreis“ zusammen, um hier – jenseits aller parteipolitischen Grenzen – über die Zukunft der vorfindlichen Kirche nachzudenken. In diese Zeit fallen auch jene fünf Kasseler Vorträge, die Schafft unter dem paradoxen Titel „Vom Kampf gegen die Kirche für die Kirche“22 veröffentlichte und die ihn auf der Suche nach Wegen der Neugestaltung zeigen.
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Ebd., 11. Ebd., 16. Ebd., 16. Vgl. PAUL TILLICH, Hermann Schafft, in: Hermann Schafft. Ein Lebenswerk, 16 (s. Anm. 1). 22 Die erste Auflage erschien 1925, eine zweite 1929.
Abgrenzungen
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Als Ideal von Gemeinde schwebte ihm eine streitbare „Bruder‐ schaft“23 vor: „Die Gemeinde ist da, wo im Geist Jesu, d. h. im Geist der Wahrheit und zugleich umfassender erneuernder Liebe, Menschen sich zur Welt wenden, wie sie ist und von der letzten Wirklichkeit, die ihren Sinn bedeutet, um eine Erneuerung des Angesichtes der Erde kämp‐ fen.“24 Diese Perspektive einer geistgewirkten Gemeinschaft ließ ihn freilich nicht schwärmerisch die vorfindliche, sichtbare Kirche verach‐ ten, sondern erforderte gerade deren Vorhandensein: Denn sie sei das notwendige Refugium, „der Innenraum, in dem man sich sammelt und eint für den täglichen Kampf“25. Verwirklichung wahrer Gemeinschaft könne daher nicht abgesehen von der sichtbaren Kirche erfolgen. Aber die Zurüstung der Gemeinde als „Bruderschaft“ brauche neue Formen des gemeindlichen Lebens – und hier wurde der Gemeindepfarrer Schafft sehr konkret: Er forderte die „Gliederung der Gemeinde in klei‐ ne Kreise“, um sich hier gemeinsam über Fragen des Glaubens und der Zeit auszutauschen, „Konfirmandenstunden für Erwachsene“26, aber ebenso die Neugestaltung „unserer Sakramentsfeier“27 (ohne vorherige Absolution) sowie eine Neuordnung der Konfirmation28 (ohne Gelüb‐ de). Damit war mehr als ein bloßes kirchenreformerisches oder erwach‐ senenbildnerisches Programm intendiert. Für Schafft ging es in seinen Forderungen um nichts Geringeres als um das Kirchesein der Kirche unter den Bedingungen der veränderten Lebenswelt.
Abgrenzungen Eindeutigkeit des Wollens bei gleichzeitiger Differenziertheit des Ur‐ teils kennzeichneten Schaffts Haltung. Daran änderte sich nichts, als er 1930 einen Ruf als Professor an der neugegründeten Kasseler Pädago‐ gischen Akademie annahm und – nach deren Aufhebung aus finanziel‐ len Gründen – diese Tätigkeit seit 1932 in Dortmund fortsetzte. Die Zeitschrift „Neuwerk“ bot ihm weiterhin Gelegenheit, in die kirchen‐ politischen Debatten der Zeit einzugreifen und Kontroversen nicht aus dem Weg zu gehen. Zwei Vorgänge sind dafür signifikant. 23 24 25 26 27 28
HERMANN SCHAFFT, Vom Kampf, 23 (s. Anm. 9). Ebd., 22. Ebd., 62, ebenso 85 und 89. Ebd., 74. Ebd., 75. Ebd., 79‐85; vgl. 79f: „Die Feier in ihrer heutigen Gestalt bedeutet den ununterbro‐ chenen Selbstmord der evangelischen Kirche, denn sie leugnet in ihrer Art das We‐ sen und Wirken der frohen Botschaft.“
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1931 hatte die badische Kirchenleitung das parteipolitische Enga‐ gement des Mannheimer SPD‐Pfarrers Erwin Eckert gemaßregelt und ihn vorläufig des Amtes enthoben. In einer Stellungnahme wagte es Schafft (wohlgemerkt als politisch Linksstehender!) nicht nur, wenn schon, dann auch für Pfarrer in Rechtsparteien die Freiheit politischer Betätigung zu fordern, sondern darüber hinausgehend die schlichte Frage zu stellen, „ob ein Pfarrer um seines Amtes willen nicht auf den ‚leidenschaftlichen Einsatz im politischen Kampf’ überhaupt verzichten müsse“29. Christentum und Parteipolitik drohten sich für ihn zu vermi‐ schen. Diese Einschätzung lag vom Ansatz her ganz auf der Linie, die er bereits während der zwanziger Jahre entworfen hatte, mochte aber gleichwohl überraschen. Sie trug ihm den heftigen Widerspruch von Georg Wünsch, damals noch Religiöser Sozialist, ein, der sich vor allem an Schaffts qualitativer Gleichsetzung eines Eintretens für religiös‐ sozialistische bzw. für national‐sozialistische Ziele stieß und seinerseits eine besondere Vereinbarkeit von Christentum und Sozialismus be‐ hauptete. Erschien Schafft in der Eckert‐Debatte als der – gegenüber dem lin‐ ken politischen Spektrum – um die Freiheit der Kirche und ihrer Ver‐ kündigung Besorgte, so scheute er sich andererseits nicht, auch gegen‐ über den zunehmenden Rechtstendenzen diese Freizeit zu betonen. Anlass dazu gab ihm zur gleichen Zeit, als der „Fall Eckert“ Wellen schlug, ein anderer kirchenpolitischer Konfliktherd: der sogenannte „Fall Günther Dehn“30, dessen Berufung zum Theologieprofessor in Heidelberg und in Halle an dem vehementen Einspruch nationalisti‐ scher Gruppierungen scheiterte. In mehreren Aufsätzen stellte sich Schafft eindeutig auf die Seite seines Mitstreiters aus dem Neuwerk‐ Kreis und setzte sich für die Freiheit der christlichen Verkündigung und die Lehrfreiheit an den Hochschulen ein.31 Dieses Eintreten für Dehn vergaßen ihm die Nationalsozialisten nicht. Es sollte 1933 unmit‐ telbare Folgen haben. Wenige Wochen nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialis‐ ten ging es für Schafft Schlag auf Schlag: Zunächst kam es zu seiner Versetzung von Dortmund nach Halle an die Hochschule für Lehrer‐ bildung: „Ich galt als der eigentliche Hemmschuh für eine stärkere nationalsozialistische Bewegung innerhalb der Akademie“, lautete seine eigene Einschätzung zu dieser Maßnahme32. An Pfingsten 1933 29 KLAUS SCHOLDER, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, Frankfurt/Berlin/Wien 1977, 215f; zum „Fall Eckert“ vgl. ebd. 215‐217. 30 Vgl. ebd., 217‐224. 31 Vgl. die Bibliographie in: Hermann Schafft. Ein Lebenswerk, 274f (s. Anm. 1). 32 Lebensbericht, von ihm selbst verfasst, in: Ebd., 148.
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erfolgte bereits seine Beurlaubung wegen seiner literarischen Partei‐ nahme für Günther Dehn; zu Beginn des Jahres 1934 schließlich wurde er – gerade fünfzigjährig – aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstel‐ lung des Berufsbeamtentums“ in den Ruhestand versetzt. Die Frontstellung zum nationalsozialistischen Staat war damit im Grunde offensichtlich. Hätte es also nicht nahe gelegen, Schafft in den ersten Jahren des Kirchenkampfes auf Seiten der Bekennenden Kirche wiederzufinden? Dies ist bekanntermaßen nicht der Fall gewesen. Schafft trat ihr auch später nicht bei. Über die Gründe gibt mehr als alles andere der Briefwechsel zwi‐ schen Schafft und dem inzwischen in die USA emigrierten Paul Tillich aus den Jahren 1934 bis 1936 Aufschluss. Was Schafft in und hinter der Bekennenden Kirche witterte, waren – in Tillichs kurzen Worten – „Barthianismus und Orthodoxie“33. In dieser grundsätzlichen Einschätzung waren sich beide einig. Dennoch versuchte Tillich seinen Freund davon zu überzeugen, dass trotz aller Bedenken dessen Platz in der Bekennenden Kirche sei: „… niemand hat heute das Recht, sich wegen berechtigter Kritik an Koch und Niemöller zwischen Müller und Niemöller zu stellen … Und daß heute die Kirche nicht völlig in der Hand der ‚Räuber‐Synodalen und ‐Bischöfe’ ist, ver‐ dankt sie allein jenen weithin uns unsympathischen Orthodoxen. Daß die Kirche wieder Heimat sein kann, in der es sich lohnt, es besser zu machen als jene, verdanken wir jenen. Darum finde ich: Nur unter ei‐ ner Bedingung könntest Du Dich fern halten: Wenn du selbst eine – nennen wir sie lebendige – Kirche schaffen würdest, die Hand in Hand mit der Bekenntniskirche um die christliche Substanz kämpfen würde, um dann in lebendigerer Weise, als es die Bekenntniskirche tut, zum Menschen der Gegenwart zu reden. Wenn Du das nicht kannst – und ich zweifle, daß es zurzeit möglich ist – gehörst Du in die Bekenntnis‐ kirche als a) Mitkämpfer b) Kritiker.“34 Schafft äußerte sich gegenüber diesem Drängen eher zurückhal‐ tend. Zum einen glaubte er, aus der direkten Anschauung und dem unmittelbaren Erleben heraus – anders als sein Freund im Exil – eine differenziertere Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus einneh‐ men zu müssen. Deshalb stellte er an Tillich die bezeichnende Rückfra‐ ge: „Wenn wir aber in dieser Haltung, der es um Wahrheit und Gerech‐ tigkeit unter allen Umständen, um christliche Gestaltung geht, die 33 TILLICH an Schafft, 14.09.1934, in: PAUL TILLICH, Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, hg. v. RENATE ALBRECHT und RENÉ TAUTMANN, Frankfurt 1983, 227 (Ergänzungs‐ und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. 6). 34 TILLICH an Schafft, 1935, in: Ebd., 232.
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Situation, in die wir gestellt sind, anschauen, kann da unser Verhältnis zu dem, was zur Zeit in Deutschland geschieht, ja auch zu seiner Füh‐ rung und allem, was hier unwahr ist, einfach negativer Art sein?“ Na‐ türlich nicht, musste die Antwort lauten. Und wenig später im gleichen Brief in jugendbewegtem Überschwang, alle Vorbehalte beiseite schie‐ bend: „Sähest Du etwa den Arbeitsdienst und das Jungvolk marschie‐ ren – den im ganzen Leben des Volkes aufbrechenden starken Lebens‐ impuls –, Du könntest nicht einfach durch negative Beurteilung – etwa als Antisemitismus und Militarismus – das, was hier geschieht und sonderlich von der jungen Generation getragen wird – in seinem Ernst erfassen.“35 Zum anderen sah er innerhalb des Rahmens der Bekennenden Kir‐ che nicht die Möglichkeit gegeben, das Evangelium in dem von ihm intendierten Sinne zeitgemäß und jenseits aller Formelhaftigkeit neu auszurichten. Schafft stellte sich zur Vergewisserung durchaus die Fragen: „Ist diese Aufgabe von der Bekenntnisfront aus möglich? Ist sie, sowohl im Blick auf den existentiellen Protest wie auf die sozialisti‐ sche Verantwortung wie auf den Dienst einer neuen, vernehmbaren Verkündigung der mögliche Ausgangspunkt? Darf man um des Ge‐ wissens willen sich einer Kirche anschließen, in der man eigentlich beim Anschluß sofort die ausdrücklich feierlich (Augsburg) neu ausge‐ sprochenen Grundlagen bestreiten und angreifen muß?“36 Alle drei Fragen glaubte Schafft negativ beantworten zu müssen, so dass für ihn trotz mancher Überlegungen, sich unter Umständen vielleicht doch der Bekennenden Kirche anzuschließen, letztlich der Eindruck feststand, dass hier nicht der für ihn gegebene Ort sei: „Ich kann natürlich nicht mit den Leuten reden, für die ich halb Schwärmer, halb Liberaler bin. Aber wie man überhaupt fruchtbar mitarbeiten soll, wo das ‚Existen‐ tielle’ so unter dem ‚Wuppertalischen’ verborgen ist und jeder echte Ansatz kirchlicher Selbstkritik nicht spürbar ist.“37 35 SCHAFFT an Tillich, 18.08.1935, in: ebd., 236‐238; vgl. auch im selben Brief 238: „Tru‐ de Mennicke und ich trafen uns in Eisenach und gingen (einer dem anderen Mut machend) in den Film des 2. Parteitages ‚Triumph des Willens’ und waren beide – wahrhaftig nicht leicht suggestiv beeinflußbar – von der Kraft und Größe, die aus der Jugendkundgebung und der des Arbeitsdienstes sprach, auf das Stärkste be‐ rührt. Da ist nichts mehr für uns von dämonisch‐demagogischer Verführung, son‐ dern viel von echtem, harmlosem, gesundem Leben zu spüren gewesen.“ Vgl. ähn‐ lich auch 253 (25.08.1936). 36 Ebd. 241f. 37 SCHAFFT an Tillich, 25.08.1935, in: ebd., 247; vgl. ebd. 242 (18.08.1935): „Ich fürchte, daß die Bekenntniskirche, deren echtes Aufbrechen ich keineswegs leugne, sich all‐ mählich zu einer Winkelkirche, etwa im Stil des Alt‐Luthertums aus dem 19. Jahr‐ hundert, entwickeln wird. Ich fürchte, daß die Forderung, das Evangelium neu und
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Die Reserve gegenüber der vermuteten Orthodoxie der Bekennen‐ den Kirche, ihrer Geringschätzung des ersten und dritten Glaubensar‐ tikels und ihrer Distanz zu dem, was die Menschen wirklich und vital bewege, ließ Schafft zumindest gedanklich sogar die recht aberwitzig anmutende Überlegung anstellen, ob er sich nicht den Deutschen Christen nähern solle – freilich um auch diesen Gedanken sogleich wieder zu verwerfen38. Aber die von ihm eher beiläufig eingestreute Bemerkung verdeutlicht nur seinen integralistischen Denkansatz: Um der Wahrnehmung der aktuellen Lebenswirklichkeit und der sie be‐ stimmenden Motive willen, also um der Solidarität zu dem, was er in Deutschland an Neuaufbruch verspürte, glaubte er sich eher von jenen abgrenzen zu müssen, die zwar ein klares „Nein“ sagen mochten, de‐ nen es aber aus seiner Sicht an der konstruktiven, zeit‐ und gesell‐ schaftsbezogenen Formulierung einer positiven kirchlichen Perspektive mangelte. Dass solch eine Haltung von vielen, nicht nur von Tillich, nicht verstanden und nicht geteilt wurde, nahm er dabei bewusst in Kauf39. Die ihm eigentümliche Tendenz, Widerspruch mit Anknüpfung zu verbinden, zeigte sich auch in der Fortsetzung seiner beruflichen Tätig‐ keit: Der vom nationalsozialistischen Staat zwangspensionierte Profes‐ sor ging nicht ins Pfarramt zurück, sondern arbeitete fast zwei Jahre lang in Berlin. Im Büro der 1936 gegründeten Volkskirchlichen Arbeits‐ gemeinschaft der Deutschen Evangelischen Kirche bei Theodor Ellwein war er an der Ausarbeitung von Lehrplänen für den evangelischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen mitbeteiligt. Das Büro Ell‐ wein aber sah sein Ziel – ganz im Sinne der Kirchenausschusspolitik des Reichsministers Hanns Kerrl – darin, als Einrichtung zur Befrie‐ dung und Einigung der kirchenpolitischen Gegensätze zu dienen40. Was Schafft damals bewog, sich diesem Anliegen anzuschließen, um‐ schrieb er später mit Worten, die heute ebenso selbstbewusst wie selt‐ vernehmlich für Kirchenfremde zu sagen, innerhalb dieser Reihen auf völlig taube Ohren stößt, und daß ich mich für den Rest meines Lebens als ebenso räudiges, vom rechten Wege abgeirrtes Schaf werde ansehen müssen als bisher.“ 38 SCHAFFT an Tillich, 18.08.1935, in: ebd., 244. Vgl. ebd., 242, Schaffts Äußerung, es hätten „die gereinigten DC‐Leute … angefangen, ihre Verantwortung gegenüber dem Heidentum einzusehen und die Notwendigkeit einer neuen Verkündigung des Evangeliums, bei der das Ärgernis wieder an den richtigen Ort kommt, zu erken‐ nen.“ 39 Vgl. auch TILLICHS Tagebuchaufzeichnung vom 29.07.1936: „Frl. Bader ist in Mar‐ burg am Krankenhaus und von Soden sehr begeistert. Sie wirft Hermann [Schafft] vor, daß er nicht hineingegangen ist und Soden gestärkt hat“, in: Ein Lebensbild, 262 (s. Anm. 6). 40 Vgl. KURT MEIER, Der evangelische Kirchenkampf, Bd. 2, Göttingen ²1984, 127‐129.
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Hermann Schafft in den Jahren 1918 bis 1938
sam naiv klingen: „Wir haben damals Versuche gemacht, wenn mög‐ lich, den kulturpolitischen Kurs des Dritten Reiches noch umzuwerfen, außerdem auch das Auseinanderbrechen der evangelischen Kirche aufzuhalten.“41 Dem letztgenannten Zweck sollte kirchenpolitisch auch die Grün‐ dung des sogenannten „Wittenberger Bundes“ dienen, die im Juni 1937 vollzogen wurde – unter maßgeblicher Beteiligung von Schafft, der seinerseits zum Geschäftsführer des Bundes bestimmt wurde. Der „Wittenberger Bund“ verstand sich als „Sammlungsbewegung der beträchtlichen Mittelkräfte, die sich zu der Bekennenden Kirche nicht hingezogen fühlten, weil dort eine dogmatische Verhärtung und kirch‐ liche Verengung Platz zu greifen schien, aber auch die Deutschen Christen keineswegs als kirchlich legitime zukunftsträchtige Bewegung anerkennen konnten“42. Trotz einiger Anfangserfolge blieb die Anzie‐ hungskraft des Bundes aufs Ganze gesehen geringer, als Schafft es er‐ wartet haben mochte. Die Erfahrung, dass der bewusst gewählte Mit‐ telweg nicht im gewünschten Maß als ‚Königsweg’ verstanden wurde, wird ihn – neben persönlichen Gründen – bewogen haben, im Herbst 1938 denn doch wieder als Pfarrer in den Schoß seiner kurhessischen Heimatkirche zurückzukehren. Der Ausflug in die große Kirchenpoli‐ tik und der Versuch ihrer aktiven Mitgestaltung endeten eher klanglos. Ob Tillich Recht behielt, wenn er Schaffts ganze Haltung – im Vergleich zu seiner eigenen – als „geistiger“, „spiritualistischer“ und darum ge‐ rade „schwärmerischer“43 gekennzeichnet hatte? Der Blick in Schaffts Biographie während der Jahre 1933 bis 1938 könnte dieses Urteil bestä‐ tigt haben. Hermann Schafft hat die Ausgrenzung, die der nationalsozialisti‐ sche Staat an ihm vollzog, lange Zeit nicht für sich wahrhaben wollen und mit Bemühungen um die Vermittlung des letztlich nicht Vermit‐ telbaren geantwortet. Das war, auf den Zusammenhang der Prägungen seiner Biographie und der Ausprägung seiner Theologie vor 1933 gese‐ hen, nur konsequent, obwohl es letztlich eine Fehleinschätzung der eigenen Möglichkeiten bedeutete. Unter den Bedingungen des Totalita‐ rismus ließ sich ungleich schwerer verwirklichen, was er sich als Ma‐ xime seines Denkens und Handels gewünscht haben mag: über den Grenzen zu stehen. 41 Lebensbericht, von ihm selbst verfasst, in: Hermann Schafft. Ein Lebenswerk, 149 (s. Anm. 1). 42 MEIER, Kirchenkampf II. 376 (s. Anm. 40); zum „Wittenberger Bund“ insgesamt ebd., 371‐378. 43 TILLICH an Schafft, 1935, in: TILLICH, Briefwechsel, 231 (s. Anm. 33).
Das Jahr 1933 in der Evangelischen Landeskirche in Hessen‐Kassel* I. Prolog „Habent sua fata ...“ – diese zum Sprichwort geronnene Erfahrung gilt nicht nur von Büchern, sondern auch von bestimmten Tagen im Jahres‐ lauf. Für die Chronographie der deutschen Geschichte dieses Jahrhun‐ derts ist der an sich völlig beliebige 9. November solch ein Tag von eigentümlicher, höchst divergenter und doch weit reichender Bedeu‐ tung. Daran brauche ich im Einzelnen nicht zu erinnern. Mit dem 18. Februar scheint es ähnlich zu sein: Ein zufälliges Datum im Kalender, aber geschichtlich denn doch unverwechselbar. Zwei Zitate, 1943 – also auf den Tag genau vor fünfzig Jahren – an diesem 18. Februar gesagt bzw. veröffentlicht, bilden den Referenzrahmen für das, was ich im Blick auf die kirchlichen Ereignisse des Jahres 1933 in Hessen‐Kassel ausführen möchte. Das erste Zitat soll am Anfang, das zweite dann am Ende meines Vortrags stehen. 18. Februar 1943, Berliner Sportpalast, aus der Rede von Joseph Goebbels, wenig mehr als zwei Wochen nach der Niederlage der 6. Armee bei Stalingrad: „Ich frage euch: Ist euer Vertrauen zum Führer heute größer, gläubiger und unerschütterlicher denn je? Ist eure Bereit‐ schaft, ihm auf allen seinen Wegen zu folgen und alles zu tun, was nötig ist, um den Krieg zum siegreichen Ende zu führen, eine absolute und uneingeschränkte?“ Das Protokoll vermerkt: „Die Menge erhebt sich wie ein Mann, Sprechchöre: ʹFührer, befiehl, wir folgen!ʹ“1 Nur zehn Jahre waren vergangen, seit die Nationalsozialisten – wie sie sag‐ ten – die Macht ‚ergriffen’ hatten. Nun spitzte sich zu und kehrte sich dramatisch um, was 1933 und in den Jahren zuvor nur die Hellsichti‐ gen und Hellhörigen ahnen wollten. * 1
Als Vortrag am 18.02.1993 gehalten. Zit. nach: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933‐1945, hg., eingel. und darge‐ stellt v. WALTHER HOFER, Frankfurt am Main/Hamburg 191971, 251.
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Das Jahr 1933
Der 18. Februar 1933 nahm sich demgegenüber erheblich beschei‐ dener aus: Der kirchliche Kalender notiert für heute vor sechzig Jahren die 4. Sitzung der so genannten „Marburger Konferenz“, jener gemein‐ samen Kommission also, die seit 1930 ergebnislos über die Vereinigung der vier im Gebiet der preußischen Provinz Hessen‐Nassau und des Volksstaats Hessen gelegenen Landeskirchen zu einer ‚großhessischen’ Kirche verhandelte2. Ein Datum unter vielen – routinemäßig wahrge‐ nommen. Noch war wenig spürbar von den Umwälzungen, die nicht nur den Staat, sondern auch die Kirche betrafen. Aber dies sollte sich bald ändern, auch in der Landeskirche in Hessen‐Kassel. Das Vorrecht des Blickwinkels historischer Forschung ist es, Linien auszumachen, die die Jahre 1933 und 1943 aufeinander beziehen und verbinden: Es gibt, im Nachhinein betrachtet, eine unheimliche Konsequenz von den ersten staatlichen Eingriffen hin zur Apotheose des Totalitarismus, wie sie sich in der Sportpalast‐Rede ausdrückt. Mit anderen Worten: Wir nähern uns nicht unbefangen dem Geschehen des Jahres 1933, sondern von seiner Wirkungsgeschichte her. Die Erinnerung an den 18. Februar ist also mehr als eine historische Reminiszenz; sie hat auch methodi‐ sche Bedeutung. Was die folgende Darstellung angeht, wird es unumgänglich sein, Schwerpunkte zu setzen. Jede Schwerpunktsetzung aber ist notge‐ drungen Begrenzung: Die Komplexität der Vorgänge im Jahr 1933 – nach hinten wie nach vorne hin eingebunden in Entwicklungen – zwingt zu einer perspektivischen Betrachtungsweise, von der aus sich ein Bild erschließt, das dann möglicherweise auch andere, von mir nicht berührte Aspekte zu integrieren vermag. Ich beschränke mich im Blick auf die Landeskirche in Hessen‐Kassel auf drei ‚Stränge’, die sich zum Teil überlagern und die zugleich – über das gesamte Jahr 1933 betrachtet – aneinander anknüpfen: (a) die Haltung der ‚alten’ Kirchen‐ regierung bis zur Einsetzung der Einstweiligen Kirchenleitung im Sep‐ tember 1933, (b) die Kirchenpolitik des Staates und der Deutschen Christen in Hessen‐Kassel sowie (c) die Gegenreaktion in der Pfarrer‐ schaft, die schließlich am 9. November zur Konstituierung des „Bru‐ derbundes Kurhessischer Pfarrer“ führte. Der Vorteil dieses diachroni‐ schen Vorgehens liegt in der größeren Profilierung der einzelnen Schwerpunkte. Außer Acht lasse ich die Darstellung der kirchlichen Entwicklungen auf der Ebene der Kirchengemeinden, wo Anpassung und Auseinandersetzung in ihrer Alltäglichkeit anschaulich werden. 2
Vgl. WILHELM LUEKEN, Kampf, Behauptung und Gestalt der Evangelischen Landes‐ kirche Nassau‐Hessen, Göttingen 1963, 16f (Arbeiten zur Geschichte des Kirchen‐ kampfes 12).
II. Etappen der „Machtergreifung“
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Hier sind erheblich mehr Detailforschungen notwendig, als gegenwär‐ tig vorliegen, um zu einer ebenso umfassenden wie differenzierten Einschätzung zu gelangen. Ich mahne dies aber als Desiderat an.
II. Etappen der „Machtergreifung“ Klaus Scholder hat mit Recht darauf hingewiesen, dass das, was die Nationalsozialisten mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar als ‚Tag der Machtergreifung’ etikettierten, „in Wahrheit ein Prozeß [war], dessen erster Abschnitt sich über acht Wochen hinzog und erst mit der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz seinen Abschluß fand“3. Ich will diesen Prozess und seine Konsequenzen mit einigen wenigen Strichen skizzieren. Um ihn zielstrebig und rücksichtslos an sein Ziel bringen zu kön‐ nen, bediente sich die NSDAP zweier parallel verlaufender Methoden: zum einen „der ständigen Mobilisierung der positiv oder noch unent‐ schieden zum neuen Staate Eingestellten durch Propaganda und zum andern ... der brutalen Terrorisierung der tatsächlich oder vermeintlich Andersdenkenden, gar Widerstrebenden“4. Auch für die Provinz Hes‐ sen‐Nassau, innerhalb deren Territorium die Evangelische Landeskir‐ che Hessen‐Kassel lag, lässt sich dies nachweisen: Nach der Wahl am 5. März – in deren Vorfeld der Reichstagsbrand arrangiert worden war – und der mit ihrem Ausgang verbundenen scheinbaren demokratischen Legitimierung Hitlers kam es nun in großem Umfang zu Festnahmen missliebiger Politiker, zur Auswechslung des gesamten Beamtenappa‐ rats auf den Ebenen der Provinz, des Regierungsbezirks Kassel und der Gemeinden, zur Gleichschaltung des Pressewesens, zur Entmachtung der Gewerkschaften und schließlich im Sommer zum Verbot aller poli‐ tischer Parteien5. Zugleich aber wurden jene umworben, die man in den neuen Staat einzufügen gedachte – und dazu gehörten insbesonde‐ re die kirchlichen Kreise, deren Verdrossenheit über den Weimarer Parlamentarismus kaum zu übersehen war. Wenn etwa die überregio‐ nale Zeitung „Das Evangelische Deutschland“ in einem Kurzkommen‐ tar zum Ausgang der März‐Reichstagswahl schrieb, es sei zu begrüßen, „daß die Epoche immer neuer Wahlkämpfe nunmehr abgeschlossen ist 3 4
5
KLAUS SCHOLDER, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918‐1934, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1977, 277. THOMAS KLEIN, Provinz Hessen‐Nassau und Fürstentum/Freistaat Waldeck‐ Pyrmont 1866‐1945, in: Das Werden Hessens, hg. v. Walter Heinemeyer, Marburg 1986, 661f (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 50). Vgl. ebd., 662.
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Das Jahr 1933
und nach menschlichem Ermessen auf längere Sicht hinaus sachlich und nach einheitlichem Plan gearbeitet werden kann“6, dann spiegelte sich darin durchaus die allgemeine Einschätzung des deutschen Protes‐ tantismus wieder. Vollends bestärkt sah man sich hier durch die Insze‐ nierung des ‚Tages von Potsdam’ am 21. März, an dem mit einem Staatsakt in der Garnisonkirche der neu gewählte Reichstag eröffnet wurde. Dem Händedruck zwischen dem Generalfeldmarschall von Hindenburg und dem Gefreiten Hitler wurde geradezu symbolische Bedeutung beigemessen. Zwei Tage später wurde das ‚Ermächtigungs‐ gesetz’ mehrheitlich angenommen, die Gesetze zur ‚Gleichschaltung der Länder mit dem Reich’ folgten unmittelbar. Wie sicher man sich auf Seiten der Nationalsozialisten im Blick auf die Stimmung in der Bevöl‐ kerung war, zeigte der am 1. April durchgeführte Boykott jüdischer Geschäfte. Erst zwei Monate waren seit jenem 30. Januar vergangen. Aber die‐ se acht Wochen hatten eine tief greifende Veränderung des politischen Lebens gebracht. Wie sollte sich die Kirche, in unserem Fall: die Evan‐ gelische Landeskirche in Hessen‐Kassel, hierzu und den damit verbun‐ denen Ansprüchen staatlicherseits verhalten?
III. Die Haltung der ‚alten’ Kirchenregierung In den Verhandlungen der Jahre 1922/23, die nach dem Ende des lan‐ desherrlichen Kirchenregiments zu einer neuen Verfassung für die kurhessische Kirche führten, war im Blick auf die Frage der Leitungs‐ ämter eine vergleichsweise pragmatische Entscheidung gefüllt wor‐ den7. Den drei bisher innerhalb des Konsistorialbezirks Kassel getrennt bestehenden konfessionellen Kirchengemeinschaften (reformiert, luthe‐ risch und uniert) entsprechend wurden drei Sprengel (Nord‐, West‐ und Südsprengel) eingerichtet, deren leitender Geistlicher jeweils ‚Lan‐ despfarrer’ hieß. Aus dem Kreis dieser drei Landespfarrer wählte der Landeskirchentag als synodales Gremium den ‚Landesoberpfarrer’. Dieser hatte zwar den Vorsitz in der Kirchenregierung, ansonsten aber waren seine Befugnisse eng umgrenzt. Pragmatisch war die Entscheidung der Verfassungsgebenden Ver‐ sammlung nicht nur in struktureller, sondern auch in personeller Hin‐ 6 7
Zit. nach: GÜNTHER VAN NORDEN, Der deutsche Protestantismus im Jahr der natio‐ nalsozialistischen Machtergreifung, Gütersloh 1979, 47. Zum Folgenden vgl. MARTIN HEIN, Geistliche Leitung und Einheit der Kirche. Zur Vorgeschichte und Einführung des Bischofsamtes in der Evangelischen Landeskir‐ che von Kurhessen‐Waldeck, o. 53‐79.
III. Die Haltung der ‚alten’ Kirchenregierung
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sicht: Die drei bisherigen Generalsuperintendenten Heinrich Möller (Kassel), Otto Dettmering (Marburg) und Karl Fuchs (Hanau) wurden jeweils zu Landespfarrern ihres Sprengels gewählt. Das Amt des Lan‐ desoberpfarrers übernahm Heinrich Möller. Mochte auch die Amtsbe‐ zeichnung der drei Geistlichen ‚demokratisiert’ worden sein8, so blie‐ ben sie doch weithin von ihrer Prägung und ihrem Denken her Vertreter der alten Zeit, der sie auch generationsmäßig angehörten: Möller war 1864, Dettmering und Fuchs waren 1867 geboren worden. Wozu diese Hinweise? Ich versuche damit die Situation zu er‐ schließen, wie sie sich in den ersten Monaten des Jahres 1933 in Hes‐ sen‐Kassel darstellte. Dabei kann ich mich des Eindrucks nicht erweh‐ ren, dass zumindest die drei genannten Landespfarrer den politischen Veränderungen völlig hilflos gegenüberstanden. Das „Wort des Lan‐ desoberpfarrers an die Gemeinden der evangelischen Landeskirche in Hessen‐Kassel“ – erste offizielle Kundgabe zu dem Zeitgeschehen und am 6. April im Kirchlichen Amtsblatt veröffentlicht – ist dafür ein be‐ redter Beleg: „Was ist geschehen?“, fragte Möller einleitend und suchte die besondere geschichtliche Stunde zu kennzeichnen: „Nach Jahren der Not und der Trauer erhebt sich unser Volk zur Befreiung aus den Banden eines knechtischen, selbstsüchtigen, zwieträchtigen Gottlosen‐ geistes zum entschlossenen Aufbau eines neuen Deutschlands, in dem Gerechtigkeit, Freiheit und Eintracht wohnen sollen.“ Daraus folgte für ihn: „Wenn sich nun eine neue Ordnung der Dinge anbahnt, die unser Volk aus der Zerrissenheit zur Einheit, aus der Ohnmacht zur Kraft, aus der Verarmung an inneren und äußeren Gütern zum vollen Genü‐ ge führen möchte, dann wollen wir als Glieder der Kirche pflichttreu die Hand an den Pflug legen, damit auch durch unseren Dienst der nationale christliche Staat und in dem Staat das Reich Gottes gebaut werde.“9 Es würde lohnend sein, dieses „Wort“ eingehender zu analy‐ sieren, was ich mir an dieser Stelle versage: Indes mag schon aus den wenigen Zitaten deutlich geworden sein, dass Möller den Prozess der ‚Machtergreifung’ nicht anders als in einem religiösen Deutehorizont zu verstehen imstande war. Dies aber musste zwangsläufig anfällig machen für viele einzelne Schritte der unbefragten Anpassung. Dazu einige Beispiele. Am 11. April etwa ordnete Möller an, dass im Gottesdienst am zweiten Ostertag auch der neue Reichskanzler angesichts seines bevor‐ stehenden Geburtstags in das Fürbittengebet aufzunehmen sei und 8 9
Als Kontrast dazu: Möller etwa war bis 1918 zugleich auch Oberhofprediger und Wirklicher Geheimer Konsistorialrat! Kirchliches Amtsblatt. Gesetz‐ und Verordnungsblatt der evangelischen Landeskir‐ che in Hessen‐Kassel 48 (1933), 31.
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Das Jahr 1933
„am 20. April auf sämtlichen Kirchen und kirchlichen Gebäuden die Kirchenfahne zu hissen ist“10. Einen Tag später wurde eine Verfügung des Landeskirchenamts vom November 1932 wieder aufgehoben, die das Mitbringen von Fahnen in die Kirche verboten hatte11. Anlässlich des „Feiertages der nationalen Arbeit“ sollten entweder am Vortag, einem Sonntag, besondere Gottesdienste oder am 1. Mai kirchliche Feiern gehalten werden. Ebenso wurde die Beflaggung der Kirchen angeordnet und ein Kirchengeläut vormittags zwischen acht und neun Uhr empfohlen12. Möller, Dettmering und weitere Mitglieder der Kir‐ chenregierung und des Landeskirchenamts nahmen als Abordnung am großen Umzug zum 1. Mai in Kassel teil. Wie gesagt: All dies mögen, je für sich genommen, Kleinigkeiten gewesen sein, überhaupt nicht aus einem besonderen Impetus für den Nationalsozialismus heraus gebo‐ ren, sondern weil man nie anders als national gedacht hatte und in der nationalsozialistischen ‚Machtergreifung’ dieses Denken wiederbelebt, vielleicht sogar zur Erfüllung kommen sah. Unter diesen Vorausset‐ zungen aber waren diese ‚Kleinigkeiten’ eben keineswegs politisch indifferent! Es ist bekannt, dass die Versuche zur Einflussnahme seitens der neuen Machthaber nicht vor den Toren der Kirche halt machten. In dem Willen zur Bildung einer einheitlichen evangelischen Reichskirche freilich konvergierten sie mit weiten Teilen des Protestantismus: ‚Neu‐ ordnung des deutschen Kirchenwesens’ lautete die Formel, unter der sich auch Heinrich Möller am 15. Juni durch die Kasseler Kirchenregie‐ rung weit reichende Vollmachten übertragen ließ, die die Eingliede‐ rung der kurhessischen Kirche in die Reichskirche möglich machen sollten13. Die alleinige Führung der Landeskirche lag für kurze Zeit in den Händen des 69jährigen, der sich darin durch einen von ihm beru‐ fenen „Arbeitskreis aus Vertretern der hessischen Pfarrerschaft“ bera‐ ten ließ. Lang währte diese Machtfülle allerdings nicht. Der am 24. Juni von Kultusminister Bernhard Rust als Staatskommissar für die evange‐ lischen Landeskirchen in Preußen eingesetzte Wiesbadener Landge‐ richtsrat August Jäger ernannte seinerseits Wilhelm Paulmann, Stadtrat in Kassel, zum „Bevollmächtigten für die Evangelischen Landeskirchen in Hessen‐Kassel und von Waldeck und Pyrmont“. Auf die Kirchen‐ politik Paulmanns werde ich im folgenden Kapitel zu sprechen kom‐ men. An dieser Stelle und im gegebenen Zusammenhang ist die Reak‐ tion von Interesse, mit der der vierzehn Tage zuvor bevollmächtigte 10 11 12 13
Ebd., 39. Vgl. ebd., 40. Vgl. ebd., 57. Vgl. ebd., 77.
III. Die Haltung der ‚alten’ Kirchenregierung
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Landesoberpfarrer Möller auf die Bevollmächtigung Paulmanns in einem „Wort an die Pfarrer der Landeskirche“ reagierte: „Nachdem“, schrieb er, „auch für unsere Landeskirche ... ein Bevollmächtigter er‐ nannt worden ist, ... richte ich nunmehr die herzliche Bitte an meine Herren Amtsbrüder, daß sie in einer Zeit schwerer Erschütterung, die unsere Kirche jetzt erlebt, und von der die Pfarrerschaft aufs stärkste mitergriffen wird, ihren Dienst in der Gemeinde unbeirrt und verant‐ wortungsbewußt weiter verrichten. – Die freie Verkündigung des Evangeliums in seinem richtenden Ernst und in seiner rettenden Kraft ist jetzt ebenso wie die entschlossene Hingabe zu ernster Aufbauarbeit unsere höchste Pflicht.“14 Nichts mehr war hier vom Tenor jenes Schreibens zu spüren, das am 6. April an die Gemeinden herausgegan‐ gen war. Die weiteren Ereignisse überrollten den Landesoberpfarrer und seine Kirchenregierung gleichsam. Die am 11. Juli verabschiedete Ver‐ fassung der Deutschen Evangelischen Kirche trug zwar noch für die kurhessische Kirche Möllers Unterschrift, doch konnte er auf den wei‐ teren Fortgang der kirchlichen Auseinandersetzungen in Hessen‐Kassel keinerlei Einfluss mehr nehmen. Er berief den aufgrund der Kirchen‐ wahl vom 23. Juli neu konstituierten Landeskirchentag noch selbst ein, um dann freilich vor dessen Tagungsbeginn im September gemeinsam mit Dettmering und Fuchs sowie dem Präsidenten des Landeskirchen‐ amts, Karl Bähr, zum Jahresende den Rücktritt zu erklären und den Weg für eine neue Kirchenleitung zu öffnen. In dem Abschiedsschrei‐ ben der drei Landespfarrer, das Weihnachten 1933 an alle Pfarrer Kurhessens versandt wurde, mischte sich Bitterkeit mit dem Gefühl, von der Zeitgeschichte überholt worden zu sein: „Um der Wahrheit willen muß es an dieser Stelle ausgesprochen werden, daß wir nicht mit freiem Willen aus dem Amt scheiden, obwohl wir drei Landespfar‐ rer am 9. September d. Js. gemeinsam unsere Versetzung in den Ruhe‐ stand, vom 1. Januar 1934 ab, durch Antrag an die Kirchenregierung veranlaßt haben. – Wir haben diesen Antrag in der Erwägung gestellt, daß die allgemeine kirchliche Lage uns nötigen würde, vorzeitig unser Amt niederzulegen. Diese Voraussetzung ist durch die Tatsache bestä‐ tigt worden, daß uns durch den Landeskirchentag für die drei letzten Monate unserer Amtsdauer nicht einmal die nach Recht und Verfas‐ sung uns zustehenden amtlichen Funktionen belassen worden sind.“15 Der klanglose Abgang der drei Landespfarrer Ende 1933 hatte gerade‐ zu sinnbildliche Bedeutung: Mit ihm endete weitgehend die Ära der 14 Ebd., 79. 15 „Abschiedschreiben an die Herren Pfarrer der Hessischen Landeskirche“ (Weih‐ nachten 1933), als Rundbrief gedruckt.
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Das Jahr 1933
noch im landesherrlichen Kirchenregiment und konsistorialen Denken wurzelnden Geistlichen.
IV. Die Kirchenpolitik des Staates und der Deutschen Christen in Hessen‐Kassel Es lag auf der Hand, dass nach der nationalsozialistischen ‚Machter‐ greifung’ auch in Hessen‐Kassel die Deutschen Christen Auftrieb er‐ hielten. Als Herold für diese Bewegung tat sich im Raum der Landes‐ kirche besonders der Jurist Karl Bähr hervor. Er war nicht irgendwer, sondern seit 1927 immerhin Präsident des Kasseler Landeskirchenam‐ tes. Signifikant für seine Haltung und Argumentation sind verschiede‐ ne Zeitungsartikel, die er in der „Kasseler Post“ veröffentlichte. Aus einem dieser Artikel – er trägt die Überschrift „Deutsche Christen“ – seien einige Passagen herangezogen: Bähr leitete seine Ausführungen mit dem hinlänglich bekannten Rekurs auf das Bekenntnis des Natio‐ nalsozialismus zum „positiven Christentum“ ein: „Wie auf allen Gebie‐ ten des staatlichen und kulturellen Lebens ist es der nationalen Regie‐ rung auch mit der Verwirklichung dieses Grundsatzes heiliger Ernst.“ Hitlers lang erstrebtes Ziel sei „aber nicht nur der bereits geschaffene, wie durch ein Wunder entstandene deutsche Einheitsstaat, sondern auch das christliche neue deutsche Reich.“ Zur Verwirklichung dieses Ziels, so Bähr, wollten auch die Deutschen Christen ihren Beitrag leis‐ ten. Wie könne man angesichts dieser machtvollen Bewegung in Staat und Kirche noch abseits stehen, lautete die Frage, auf die Bähr sogleich folgende Antwort gab: „Wer jetzt nicht einsieht, daß in diesen Tagen, dem 30. Januar, 5. und 21. März 1933 zumal, Gott sichtbar in die deut‐ sche Geschichte, das deutsche Schicksal eingegriffen hat, wer jetzt nicht einsieht, daß er in Adolf Hitler dem deutschen Volke den Retter aus tiefster Not, aus der unmittelbaren Gefahr, in den bolschewistischen Abgrund zu stürzen, gesandt hat, dem ist nicht zu helfen.“16 Bähr ließ keinen Zweifel daran, dass es für ihn einen Unterschied zwischen Christ und Deutschem Christ nicht geben könne. Christsein war für ihn gleichbedeutend mit Deutscher Christ sein. Man hätte dies als Rhetorik abtun können, wäre da nicht auch in diesem Artikel der Hinweis auf die staatliche Macht gewesen, die hin‐ ter der ‚Glaubensbewegung Deutsche Christen’ stehe. In Hessen‐Kassel konkretisierte sich dies am 26. Juni in der bereits angesprochenen Er‐ nennung von Wilhelm Paulmann zum Bevollmächtigten der Landes‐ 16 Kasseler Post vom 25.04.1933.
IV. Die Kirchenpolitik des Staates und der Deutschen Christen in Hessen‐Kassel
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kirche. Zweierlei war an diesem Vorgang bedeutsam: Zum einen stellte er einen klaren Eingriff des Staates – vermittelt durch den Staatskom‐ missar Jäger – in die innerkirchlichen Angelegenheiten dar, zum ande‐ ren war Paulmann zugleich Gauleiter der DC in Hessen‐Kassel. In einer Verlautbarung an die Pfarrer der Landeskirche vom 29. Juni bestritt zwar der kommissarische Kasseler Regierungspräsident von Mombart „einen Eingriff des Staates in das religiöse Leben“, um gleichzeitig un‐ verblümt auszuführen: „Da der Staat im Interesse seiner selbst, des Volkes und der Kirche Widerstände irgendwelcher Art nicht dulden kann, den Versuch solcher Widerstände vielmehr als Volks‐ und Staats‐ verrat betrachten müßte, so sieht sich der Herr Staatskommissar veran‐ laßt, warnend darauf aufmerksam zu machen, daß seine Anordnungen und die seiner öffentlich bekannt gemachten Bevollmächtigten nicht sabotiert werden dürfen. Der Staat müßte in einem solchen Versuch Revolte und Auflehnung gegen die Staatsautorität sehen, die er unter‐ drücken würde.“17 Eine deutliche Warnung! Diese Verquickung von staatlichem und deutschchristlichem Inte‐ resse hielt den Sommer über an und ermöglichte Paulmann ein konse‐ quentes Vergehen: Er löste umgehend die Kirchenvorstände auf und ersetzte sie – bis zu deren Neubildung – einstweilen durch den bisheri‐ gen Kirchenvorstandsvorsitzenden sowie zwei Vertrauensleute, die den Deutschen Christen angehören mussten. Dieses Gremium sollte einen Wahlvorschlag für die nächste Kirchenwahl erarbeiten, wobei ausdrücklich als Bedingung genannt wurde, dass die Zusammenset‐ zung der neuen Kirchenvorstände „der bei den letzten Reichstagswah‐ len zum Ausdruck gekommenen Tatsache der nationalen Erhebung Rechnung tragen“18 solle. Die Forderung, zwei DC‐Vertrauensleute einzusetzen, stieß indes in vielen Gemeinden auf Schwierigkeiten. Der Caldener DC‐Pfarrer Meyenschein richtete deshalb am 30. Juni an alle Kreispfarrer einen Rundbrief, in dem er einerseits den mangelnden organisatorischen Ausbau der ‚Glaubensbewegung Deutsche Christen’ zugestand, um so mehr aber für den Eintritt warb und gleich jeweils zwei Anmeldeformulare beifügte: „Die Bedingung, dass mindestens die beiden vom Pfarrer in freier Entscheidung zu wählenden Vertrau‐ ensleute der GDC angehören sollen, bedeutet eine Garantie für die Tatsache des synodalen Neuaufbaues im Sinne des kirchlichen Erneue‐ rungswillens, wie er in der GDC zum Ausdruck gekommen ist.“19 17
Kirchliches Amtsblatt 48 (1933), 80. 18 Ebd., 78. 19 Hektographiertes Rundschreiben (Calden, 30.06.1933). Vgl. auch das Rundschreiben des kurhessischen Pfarrervereins vom 04.07.1933, das auf das gleiche Problem hin‐ weist (abgedr. bei HANS SLENCZKA, Die evangelische Kirche von Kurhessen‐
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Das Jahr 1933
Im Blick auf die in allen Landeskirchen kurzfristig für den 23. Juli angesetzten Kirchenwahlen (in Hessen‐Kassel also zum Landeskirchen‐ tag) kam es zu einer Verabredung zwischen Paulmann und Karl Bern‐ hard Ritter als Sprecher der damaligen „Arbeitsgemeinschaft Kurhessi‐ scher Pfarrer“ mit dem Inhalt, eine Einheitsliste für alle Kirchenkreise – unter Aufnahme der eingereichten Listen für die Kirchenvorstände – aufzustellen und so einen Wahlkampf zu umgehen. Ritter selbst hatte den Vorschlag unterbreitet. Dieses Agreement geschah freilich um den Preis der Konzession, nach der 75 % der Mitglieder des neuen Landes‐ kirchentags den DC angehören mussten20. Die Erleichterung, keinen Wahlkampf führen zu müssen, war auch bei den Kritikern der DC deutlich zu spüren21. Da in allen Wahlkreisen nur der abgesprochene Wahlvorschlag eingereicht worden war, unterblieb die Wahlhandlung. Der am 12. September zusammengetretene Landeskirchentag setzte denn auch unverzüglich eine neue Kirchenregierung ein, deren interi‐ mistischer Charakter schon durch die Kennzeichnung „Einstweilige Kirchenleitung“ deutlich wurde. Dem verbreiteten Interesses an einer Neuordnung der Landeskirche sollte das neue Leitungsgremium nicht im Weg stehen. Von den sechs Mitgliedern22 gehörten drei sowohl der NSDAP als auch den DC an (Paulmann, Schade und Köhler). Den Vor‐ sitz übernahm noch einmal ein Vertreter der Generation des Kaiser‐ Waldeck in den Jahren von 1933 bis 1945, Göttingen 1977, 34), sowie die Notiz „Kur‐ hessen“ in der Jungen Kirche 1 (1933), 42 vom 12.07.1933: „Pastor Eichhöfer, Rei‐ chenbach [statt: Reichensachsen] (Kurhessen), wurde beurlaubt, weil in seiner Ge‐ meinde keine Deutschen Christen vorhanden sind und niemand bereit war, dieser Organisation beizutreten, und weil so keine Möglichkeit bestand, einen Gemeinde‐ kommissar einzusetzen, der dieser Bewegung zugehört.“ 20 Vgl. RITTERS vertraulichen „Bericht über Kurhessen“ an Martin Niemöller (vorh. im Zentralarchiv der Ev. Kirche in Hessen und Nassau 62/1030), 1: „Bei der Kürze der Zeit wäre ein Wahlkampf nicht mehr durchführbar gewesen. Unser Kirchengebiet ist vorwiegend ländlich und verkehrstechnisch sehr schwer zu bearbeiten. Infolge‐ dessen musste der Unterzeichnete als Sprecher der Pfarrerschaft in direkten Ver‐ handlungen mit Paulmann eine Einheitsliste aufstellen, bei der immerhin der Ein‐ satz von überwiegend kirchlichen Persönlichkeiten gelang, wenn auch der 75 %‐ Status unter weitgehender Zuhilfenahme von Pg.s nicht zu vermeiden war.“ 21 Vgl. etwa die Kommentare im Marburger „Evangelisch‐lutherischen Gemeinde‐ boten“ 8/1933, abgedr. bei FRIEDRICH DICKMANN, Der Kirchenkampf 1933/34 in der Evangelischen Presse Marburgs. Ein Beitrag zur Geschichte örtlicher Publizistik, in: FRIEDRICH DICKMANN/HANNO SCHMITT, Kirche und Schule im nationalsozialisti‐ schen Marburg, Marburg 1985, 67‐69 (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 18). 22 Metropolitan a. D. Dithmar (Homberg), Beigeordneter Paulmann (Kassel), Amtsge‐ richtsrat Schade (Gudensberg), Pfarrer Köhler (Bad Sooden‐Allendorf), Kirchenrat Merzyn (Kassel), Kirchenrat Gerlach (Kassel); vgl. Kirchliches Amtsblatt 48 (1933), 118.
IV. Die Kirchenpolitik des Staates und der Deutschen Christen in Hessen‐Kassel
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reichs, der 1863 geborene ehemalige Homberger Metropolitan Theodor Dithmar, dessen Nähe zu den DC etwa von Ritter sehr kritisch kom‐ mentiert wurde23. Die Deutschen Christen hätten sich am Ziel wähnen können, wären nicht im Lauf des Herbstes Stimmungsänderungen zu verzeichnen gewesen, die auf ein Abrücken der NSDAP von den DC hindeuteten24. Zudem – das ist allgemein bekannt – führte die Generalversammlung der Mitglieder des DC‐Gaues Groß‐Berlin am 11. November im Berli‐ ner Sportpalast mit dem berüchtigten Referat Reinhold Krauses über „Die völkische Sendung Luthers“25 zu einer Austrittswelle aus der ‚Glaubensbewegung’, die auch in Kurhessen zu spüren war. Es kam daher nicht von ungefähr, dass sich die DC in Hessen‐Kassel nun – durch Vermittlung des Pfarrervereins – an die Leitung des inzwischen gegründeten „Bruderbundes Kurhessischer Pfarrer“ wandten, um die Bildung einer „Einheitsfront“ der Pfarrerschaft vorzuschlagen. Ritters Antwort, die er am 12. Dezember an Paulmann schickte, war kühl und selbstbewusst zugleich: „Verhandlungen zur Herstellung einer Ein‐ heitsfront erscheinen uns ... nur dann sinnvoll, wenn Sicherheit besteht, dass auch auf Seiten der Amtsbrüder der G.D.C. der ernsthafte Wille vorhanden ist zu einer ernsthaften Revision der Verhältnisse, die durch eine dem Wesen der Kirche widerstreitende Machtpolitik entstanden sind. Wir vermögen den auf diesem Wege geschaffenen Zustand als innerlich berechtigt und wahrhaftig nicht anzuerkennen, obgleich wir uns mitschuldig fühlen, weil wir seinerzeit nicht auf jede Gefahr hin protestiert haben.“26 Zwar gab es 1934/35 in Hessen‐Kassel bzw. Kurhessen‐Waldeck heftige Auseinandersetzungen. Doch schon Ende 1933 war ein deutli‐ cher Rückgang an Einflussmöglichkeiten der Deutschen Christen auf die Landeskirche zu verzeichnen. Dies leitet über zu dem letzten Kapi‐ tel.
23
Vgl. „Bericht über Kurhessen“, 2 (Anm. 20): „Für diese Kirchenleitung ist charakte‐ ristisch, dass an ihrer Spitze der alte Führer des lieberalen [!] Pfarrervereins steht, der es verstanden hat, sich durch seine langjährige Erfahrung als Vorsitzender unse‐ res Kirchenparlaments unentbehrlich zu machen und so zum Vertrauensmann der D.C. aufzurücken.“ 24 Vgl. den sog. „Heß‐Erlaß“ vom 13.10.1933, abgedr. in: Chronik der Kirchenwirren I, hg. v. JOACHIM GAUGER, Elberfeld 1934, 106 (Gotthardbriefe 138‐145). 25 Auszugsweise abgdr. ebd., 109f. 26 RITTER an Paulmann (Marburg, 12.12.1933); als Hektographie den Mitgliedern des Bruderbundes zur Kenntnis gegeben.
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V. Die Gegenreaktion Wie sah 1933 innerhalb der Landeskirche die Gegenbewegung gegen den Machtanspruch der DC und die staatlichen Eingriffe aus? Allge‐ mein lässt sich sagen, dass die sich allmählich formierenden Wider‐ stände ihr Zentrum im Raum Marburg hatten und sich im universitä‐ ren Bereich besonders mit Hans von Soden, im kirchlichen Bereich mit Karl Bernhard Ritter, Hans Schimmelpfeng und Bernhard Heppe ver‐ banden – letztere Vertreter einer jüngeren Generation, die entschlossen war, angesichts der Orientierungslosigkeit der Kirchenregierung die Geschicke der Landeskirche selbst in die Hand zu nehmen. Scharfsichtig hatte Ritter schon vor der eigentlichen nationalsozia‐ listischen ‚Machtergreifung’ die Kriterien einer ihm sachgemäß er‐ scheinenden Kirchenpolitik benannt. In einem Kommentar zu dem „Wort und Bekenntnis Altonaer Pastoren in der Not und Verwirrung des öffentlichen Lebens“27 vom 11. Januar führte er aus: „Es gilt um die Selbständigkeit, um das Eigenleben der Kirche zu kämpfen. Das kann nur von innen nach außen geschehen. Nur eine Kirche, die in ihren eigenen Lebensformen wirklich Kirche ist, die ein Amt hat, das sich auch in seiner rechtlichen Stellung und Gliederung und seinem Zu‐ sammenschluß allein auf den Auftrag des Herrn der Kirche, Jesus Christus, gründet und eine Mitarbeit der Gemeinden vorsieht, nicht aber die Vertreter von Gruppen und Parteien in der Kirche regieren läßt, kann auch erfolgreich gegenüber den politischen und wirtschaftli‐ chen Mächten ihren Auftrag an unserem Volk erfüllen. Wir hoffen, daß diese Gedanken sich in unserer Landeskirche auswirken werden.“28 Die folgenden Monate boten reichlich Gelegenheit zur Erprobung. Im April kam es zu einer ersten, frei einberufenen Pfarrerkonferenz in Treysa‐Hephata, die über die kirchenpolitischen Entwicklungen beriet. Am 27. April versandte Schimmelpfeng im Auftrag des Fortset‐ zungsausschusses der Hephata‐Konferenz an alle Teilnehmer „12 Sätze zur kirchlichen Lage“29, die das Anliegen der DC etwa im Blick auf eine bischöfliche Leitung der Kirche positiv aufzunehmen bestrebt waren, sich aber gegen jede Einflussnahme von außen in die Belange der kirch‐ lichen Reform verwahrten. Bemerkenswert in ihrer Deutlichkeit war 27
Abgedr. bei VAN NORDEN. 28‐34 (s. Anm. 6). „Gemeindeblatt der evangelisch‐reformierten Gemeinde“ 2/1933, abgedr. bei DICK‐ MANN, 38 (s. Anm. 21). In diesem Artikel spricht Ritter im Blick auf die Vorgeschich‐ te des ‚Altonaer Bekenntnisses’ davon, hier sei „ein Stück bekennender Kirche im echten Sinne des Wortes“ (37) entstanden – ein Beleg für den frühen Gebrauch des später geläufigen Ausdrucks „Bekennende Kirche“. 29 Abgedr. bei SLENCZKA. 29f (s. Anm. 19). 28
V. Die Gegenreaktion
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die Verhältnisbestimmung zu den Größen, die die nationalsozialisti‐ sche Ideologie bestimmten – Volkstum, Rasse, Nation: „Alle irdischen Größen, auch Volkstum und Nation, stehen unter der Herrschaft Got‐ tes, der sie erwählen, gebrauchen und verwerfen kann. Sie werden verworfen, wenn sie sich selbst die Herrschaft über die Gewissen an‐ maßen.“ Ebenso klar war die Grenzziehung zwischen Staat und Kirche – ganz auf der von Ritter im Januar gezeichneten Linie und gewisser‐ maßen die Parole des ‚Kirchenkampfes’: „Der notwendige Umbau der Kirche muss in völliger Freiheit von allen staatspolitischen Einwirkun‐ gen aus dem eigenen Wesen und Leben der Kirche heraus geschehen.“ Man wird mit Recht bereits in dieser informellen Konferenz eine Vor‐ läuferin für den sich im Herbst bildenden „Bruderbund Kurhessischer Pfarrer“ sehen können. Auf weitere Entwicklungen im Marburger Gebiet – etwa der ‚Jung‐ reformatorischen Bewegung’ seit Mai oder innerhalb der Marburger Fakultät – gehe ich hier nicht ein30. Wesentlich für die Formulierung einer gemeinsamen Haltung der Pfarrerschaft wurde die Hephata‐ Konferenz am 8. Juni, an der 176 Pfarrer der Landeskirche teilnahmen, von denen sich 161 ausdrücklich hinter Reichsbischof von Bo‐ delschwingh stellten und in einem Telegramm an Wehrkreispfarrer Müller eine Einigung anmahnten31. Einstweilen aber fehlte ein engerer organisatorischer Zusammenhalt gegenüber der geschlossen auftreten‐ den ‚Glaubensbewegung Deutsche Christen’. Die „Arbeitsgemeinschaft Kurhessischer Pfarrer“ blieb eine lose, in sich divergente Vereinigung. Ritter beklagte dies gegenüber Martin Niemöller mit den Worten: „Bei der alten Tradition unserer Kurhessischen Pfarrerschaft, keinerlei Frak‐ tionen und Parteien zu bilden, hält es sehr schwer, die Amtsbrüder von der Notwendigkeit einer organisierten kirchlichen Gruppe zu überzeu‐ gen, da man immer noch hofft, die D.C. in einer amtsbrüderlichen Ge‐ meinschaft binden zu können.“32 Eindeutig befand man sich in der Defensive, aus der heraus wohl auch die geschilderten Absprachen mit den DC zur Kirchenwahl resultierten. Im Lauf des Herbstes jedoch wurde diesem Mangel abgeholfen. Während sich auf Reichsebene am 20. Oktober der „Pfarrernotbund“ konstituierte – für wenige Tage gehörte auch Ritter dem Leitungsgre‐ mium des Bruderrates an! – und hier die mannigfachen Eingriffe des 30
Vgl. dazu ULRICH SCHNEIDER, Bekennende Kirche zwischen „freudigem Ja“ und antifaschistischem Widerstand. Eine Untersuchung des christlich motivierten Wi‐ derstandes gegen den Faschismus unter besonderer Berücksichtigung der Beken‐ nenden Kirche in Kurhessen‐Waldeck und Marburg, Kassel 1986, 122‐141. 31 Vgl. dazu SLENCZKA, 31 (s. Anm. 19). 32 „Bericht aus Kurhessen“, 3 (s. Anm. 20).
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Staates in die Landeskirchen der altpreußischen Union im Vorder‐ grund standen (die es so in Hessen‐Kassel seit der Einrichtung der „Einstweiligen Kirchenleitung“ nicht gab), bildete sich in Kassel am 9. November auf Initiative von Ritter und Heppe ein „Bruderbund Kur‐ hessischer Pfarrer“. Er stand strukturell in enger Anlehnung an den Pfarrernotbund, verstand sich aber gleichwohl als eigenständig. Die Satzung, die wohl das Ergebnis der Beratungen des 1. Konvents des Bruderbundes am 11./12. Dezember darstellte33, wiederholte noch ein‐ mal programmatisch die leitende Maxime der Gegenreaktion: Freiheit der Kirche von staatlicher Bevormundung und Einflussnahme, ent‐ schlossene „Abwehr aller Formen und Mittel des kirchenpolitischen Kampfes, die dem Wesen der Kirche widersprechen“. Unter diesem Dach konnten sich bis Ende 1933 etwa 40 % der kurhessischen Pfarrer wiederfinden – eine durchaus beachtliche Mitgliederzahl. Die eigentli‐ chen Bewährungsproben standen freilich noch aus. Dessen war man sich auch in der Leitung des Bruderbundes bewusst. Das Jahr 1934 sollte, wie es Heppe in seinem Weihnachtsrundbrief an alle kurhessi‐ schen Pfarrer ausführte34, die Klärung der anstehenden Fragen bringen: Er meinte die Neuordnung der Landeskirche mit einer episkopalen Struktur und die Integration dieser Kirche in eine Reichskirche. Unter diesen Gesichtspunkten blieb der Kirchenkampf in Hessen‐Kassel im Wesentlichen ein Kampf um die rechte Gestalt der Kirche.
VI. Epilog Drei Entwicklungsstränge, zum Teil miteinander verknüpft, habe ich auszubreiten versucht. Der ausschließliche Blick auf das Jahr 1933 bil‐ det eine willkürliche Zäsur. Im Grunde ist von einem offenen Ende zu sprechen. 1934 sollte zum eigentlichen Jahr der Auseinandersetzungen in Hessen‐Kassel werden. Aber die Streitpunkte und Entscheidungs‐ notwendigkeiten waren schon vorher angelegt. Sie sich vor Augen führen zu können, war der Sinn einer zeitlichen Begrenzung. Manchen mag das, was damals als Gegenreaktion auf die ‚Macht‐ ergreifung’ des Nationalsozialismus und seine Politik gesagt wurde, zu ‚binnenkirchlich’ erscheinen, wie es auch manche gibt, die dieser Ge‐ genreaktion überhaupt die Kennzeichnung ‚Widerstand’ vorenthalten wollen. Darüber wird zu streiten sein. Das Jahr 1933 allein gibt aus 33
Satzung „Bruderbund Kurhessischer Pfarrer“, seit Januar 1934 hektographiert publi‐ ziert. 34 Hektographierter Rundbrief BERNHARD HEPPES (Marburg, 23.12.1933).
VI. Epilog
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meiner Sicht für eine solche Beurteilung noch zu wenige Anhaltspunk‐ te. Die Geschichte des Widerstandes profilierte sich in Lauf der Jahre – auch in den Kirchen. Damit bin ich freilich am Schluss und bei dem angekündigten zwei‐ ten Zitat – diesmal Worten jenseits aller Fraglichkeit und Uneindeutig‐ keit: 18. Februar 1943, Lichthof der Münchner Universität, aus dem letzten Flugblatt der „Weißen Rose“: „Freiheit und Ehre! Zehn lange Jahre haben Hitler und seine Genossen die beiden herrlichen deutschen Worte bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht, wie es nur Dilettanten vermögen, die die höchsten Werte einer Nation vor die Säue werfen. Was ihnen Freiheit und Ehre gilt, haben sie in zehn Jahren der Zerstörung aller materiellen und geistigen Freiheit, aller sittlichen Substanzen im deutschen Volk genügsam gezeigt. Auch dem dümms‐ ten Deutschen hat das furchtbare Blutbad die Augen geöffnet, das sie im Namen von Freiheit und Ehre der deutschen Nation in ganz Europa angerichtet haben und täglich neu anrichten. Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich auf‐ steht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet.“35
35
Zit. nach: Der Nationalsozialismus, 329f (s. Anm. 1).
Hans von Soden und die „Judenfrage“ 1. Vorüberlegungen In dem 1988 erschienenen Sammelband „Der Holocaust und die Protes‐ tanten“ setzt sich Friedrich Wilhelm Graf mit der Haltung liberaler Theologen zur „Judenfrage“ nach 1933 auseinander und mahnt ange‐ sichts der von ihm herausgearbeiteten gegensätzlichen Einstellungen, die innerhalb des liberal‐theologischen Spektrums gegenüber Juden und ihrer Verfolgung möglich waren, weitere präzisierende „Einzel‐ studien über einzelne liberale Theologen und ihre Verankerung in loka‐ len politischen Milieus“1 an. Nur so gelinge es, die Frage aufzuschlüs‐ seln, weshalb es bei einer weit gehenden theologischen Konvergenz im Blick auf die Einschätzung der „Judenfrage“ zu erheblichen Divergen‐ zen kommen konnte. Auch wenn unter den Theologen, die Graf einer genaueren Erforschung empfiehlt, der Name Hans von Soden fehlt, scheint es aus verschiedenen Gründen geboten und ebenso vielverspre‐ chend zu sein, sich näher mit dem Verhältnis des Marburger Theolo‐ gieprofessors zum Judentum während der Zeit des Nationalsozialis‐ mus zu beschäftigen. Eine Darstellung der Position von Sodens mag nicht nur Aspekte zu einer Morphologie des theologischen Liberalis‐ mus unter den Bedingungen totalitärer Herrschaft sowie Mosaiksteine für eine noch ausstehende Gesamtbiographie beibringen, sondern zugleich erhellend sein für die Haltung des überwiegenden Teils der Bekennenden Kirche in Kurhessen‐Waldeck, deren Leitung seit August 1934 in von Sodens Händen lag. Dass sich – all dies umgreifend – eine solche historische Untersuchung in den Horizont der theologisch viru‐ lenten Frage nach einem möglichen christlichen Antijudaismus einord‐ net2, ist offensichtlich und bedingt umso mehr ihre Notwendigkeit. 1
2
F. W. GRAF, „Wir konnten dem Rad nicht in die Speichen fallen“. Liberaler Protes‐ tantismus und „Judenfrage“ nach 1933, in: Der Holocaust und die Protestanten. Analysen einer Verstrickung, hg. v. J.‐C. KAISER/M. GRESCHAT, Frankfurt/M. 1988, 177 (Konfession und Gesellschaft 1). Vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung mit von Sodens Marburger Kollegen und Freund Rudolf Bultmann bei W. STEGEMANN, Das Verhältnis Rudolf Bultmanns zum Judentum. Ein Beitrag zur Pathologie des strukturellen theologischen Antijuda‐ ismus, KuI 5 (1990) 26‐44, bes. 27‐40. – Die Darstellungen, die von Sodens Wirken während des Dritten Reiches insgesamt würdigen, gehen auf seine Haltung zur „Ju‐
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Hans von Soden und die „Judenfrage“
Freilich sind die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens nicht zu leugnen. Da ist auf der einen Seite die Komplexität des Begriffs „Judenfrage“. Hilfreich zu seiner Bestimmung kann die innere Differenzierung sein, die Leonore Siegele‐Wenschkewitz im Zusammenhang ihrer Untersu‐ chungen zu dem Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel vorgeschla‐ gen hat. Sie unterscheidet „drei Dimensionen“: zunächst das „politische Problem“, aus dem sich „die Frage nach dem Verhältnis von Deutschen und Juden“ ergebe, sodann das „kontroverstheologische Problem“, das sich in der „Frage nach dem Verhältnis von Christen und Juden“ ausdrü‐ cke, und schließlich das „ekklesiologische Problem“, sofern es hier um „die Frage nach dem Verhältnis von (Heiden‐)Christen und Judenchristen in der Kirche“3 gehe. In dieser Auffächerung indiziert der Begriff „Juden‐ frage“ recht angemessen Problembereiche, die auch für von Soden namhaft gemacht werden können und im weiteren Fortgang dieser Ausführungen – wenngleich in veränderter Reihenfolge – zur Darstel‐ lung kommen. Auf der anderen Seite sind einige Bemerkungen zur Quellenlage er‐ forderlich. Explizit und umfassend ist die „Judenfrage“ durch von So‐ den vor allem 1933 im Kontext des Problems einer kirchlichen Adapti‐ on des Arierparagraphen thematisiert worden, allerdings in der spezifischen Engführung der Frage nach der Stellung getaufter Juden in der Kirche und somit unter vorwiegend ekklesiologischen Gesichts‐ punkten. Anders etwa als Gerhard Kittel4 hat von Soden den darüber hinausgehenden politischen und kontroverstheologischen Aspekten keine eigene Schrift gewidmet; vielmehr ist seine Haltung zu diesen Bereichen einer Fülle von Veröffentlichungen beziehungsweise inter‐ nen Stellungnahmen zu entnehmen, die eher als Gelegenheitsäußerun‐ gen zu charakterisieren sind. Dies erschwert naturgemäß ihre Systema‐
3
4
denfrage“ nur am Rande ein; vgl. E. DINKLER, Hans Freiherr von Soden (1881‐1945), in: Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens. Briefe und Dokumente aus der Zeit des Kirchenkampfes 1933‐1945, hg. v. E. DINKLER / E. DINKLER‐VON SCHU‐ BERT, bearb. v. M. WOLTER, Göttingen 21988, 15‐35 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitge‐ schichte A/2), und A. LINDEMANN, Neutestamentler in der Zeit des Nationalsozia‐ lismus. Hans von Soden und Rudolf Bultmann in Marburg, WuD NF 20 (1989) 25‐52. L. SIEGELE‐WENSCHKEWITZ, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel deutscher Geschichte, München 1980, 10f (TEH 208). Vgl. G. KITTEL, Die Judenfrage, Stuttgart 1933/31934; dazu L. SIEGELE‐WENSCHKE‐ WITZ, Die Evangelisch‐theologische Fakultät Tübingen in den Anfangsjahren des Dritten Reichs. II. Gerhard Kittel und die Judenfrage, Tübingen 1978, 53‐80 (ZThK. B 4) und E. RÖHM/J. THIERFELDER, Juden – Christen – Deutsche 1933–1945, Bd. 1: 1933 bis 1935, Stuttgart 1990, 167‐173 (ctb 8), aber auch G. FRIEDRICH/J. FRIEDRICH, Art. Kittel, Gerhard, Theologische Realenzyklopädie 19 (1990) 221‐225 (Lit.).
2. Prägungen: Die Zeit vor 1933
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tisierung zu einem Gesamtbild, vor allem auch dann, wenn man zu‐ sätzlich in Betracht zieht, dass manches, was von Sodens Einstellung in konkreten Situationen anbelangt, keinen Niederschlag in schriftlichen Dokumenten gefunden haben muss. Ein letzter Hinweis betrifft die historische Verortung. Die „Judenfra‐ ge“ in ihrer aufgezeigten Komplexität trat nicht erst 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in das öffentliche Bewusst‐ sein, sondern bestimmte – in unterschiedlicher Akzentuierung – bereits das politisch‐kulturelle Leben im Kaiserreich und in der Weimarer Republik5. Unter der Voraussetzung, dass sich gewonnene Haltungen inmitten geschichtlichen Wandels als relativ persistent erweisen, ist auch im Hinblick auf die Einstellung zur „Judenfrage“ ein Rekurs in die Zeit vor 1933 notwendig. Erst so werden – dies betrifft von Soden wie alle anderen – die Positionen in sich verstehbar, die 1933 und in den folgenden Jahren zum Ausdruck kamen. Allerdings ist für den vorausgehenden Zeitraum und unter der genannten Fragestellung der Bestand an Quellen, die von Sodens Haltung widerspiegeln, spärlich. Dennoch soll versucht werden, daraus eine Charakteristik des poli‐ tisch‐kulturellen Milieus zu gewinnen, das für von Soden bestimmend war.
2. Prägungen: Die Zeit vor 1933 Als hermeneutischer Schlüssel zur Erhebung dieses Milieus bietet sich die autobiographische Skizze an, die von Soden 1945 wenige Monate vor seinem Tod im Zusammenhang mit der Befragung der Hochschul‐ beamten durch die amerikanischen Besatzungsbehörden verfasste6. Unter dem Leitwort einer angestrebten „Synthese von Humanis‐ mus und Christentum“7 entfaltete von Soden seinen Werdegang, der in gewissen Hinsichten paradigmatisch für das liberale, kulturprotestanti‐ sche Bürgertum war: „Die Bildung durch fremde Sprachen und ihre Literatur, der klassischen Antike wie der lebenden Kulturvölker, wehr‐ te dem Chauvinismus und schuf ein, wie mir scheint, im Ganzen sehr glückliches und kulturell fruchtbares Gleichgewicht zwischen Volks‐ bürgertum und Weltbürgertum, dem Gedanken der Nation und dem 5
6 7
Vgl. dazu die umfassende Analyse bei M. SMID, Deutscher Protestantismus und Judentum 1932/33, München 1990, 1‐202 (Heidelberger Untersuchungen zu Wider‐ stand, Judenverfolgung und Kirchenkampf im Dritten Reich 2). Abgedruckt in: Theologie und Kirche, 376‐381, Anh. VIII (s. Anm. 2). A.a.O., 378; vgl. auch 376: „Humanismus und Christentum sind für meine Weltan‐ schauung bestimmend geworden und stets geblieben.“
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Hans von Soden und die „Judenfrage“
der Menschheit.“8 Dass unter diesen bildungsspezifischen Vorausset‐ zungen, die ihm im Elternhaus wie auch bei seinem theologischen Leh‐ rer Adolf von Harnack vermittelt wurden9, weder der „rassisch moti‐ vierte Antisemitismus“ noch auch die „gesellschaftlich‐kulturelle Judenfeindschaft“10 einen Nährboden finden konnten, liegt auf der Hand. „Christliche Welt“ und „Frankfurter Zeitung“, die nach eigenem Bekunden während der Weimarer Republik in erster Linie von Sodens Zeitungslektüre darstellten, entsprachen in ihrer Tendenz dieser libera‐ len, allem Extremismus abholden Grundhaltung11, die zwar um die Krise des Kulturprotestantismus wusste, aber auf seine Regenerations‐ fähigkeit baute. Gesellschaftliche Berührungsängste, erst recht aber rassisch begründete Überlegenheitsgefühle gegenüber Juden blieben ihm daher fremd, und die Wertschätzung, die er innerhalb der Mar‐ burger Universität auch seitens jüdischer Kollegen genoss, spiegelt eine Solidaritätsadresse wider, die ihm 1934 nach seiner Zwangsversetzung in den Ruhestand der inzwischen emigrierte jüdische Philosophiedo‐ zent Karl Löwith zukommen ließ: „Einige Dutzend aufrechte Charakte‐ re von Ihrer Art wirken auch noch im Ruhestand mehr als tausend Mitläufer.“12 Der Verweis auf das liberale Bildungsbürgermilieu allein reicht je‐ doch nicht hin, um die Wurzeln der Haltung von Sodens gegenüber den verschiedenen Dimensionen der „Judenfrage“ angemessen be‐ schreiben zu können. Stärker als manche anderen Theologen seiner Zeit war er ein politisch denkender Mensch und beschränkte seine Tätigkeit deshalb nicht auf den Raum akademischer Lehre. Ausdruck seiner staatspolitischen Verantwortung und der Unterstützung des Weimarer 8 9 10 11
A.a.O., 377. Vgl. A. VON ZAHN‐HARNACK, Adolf von Harnack, Berlin 1936, 178f und 238. SMID, Protestantismus, 205 (s. Anm. 5). Bereits seit 1907 war von Soden Mitarbeiter der „Christlichen Welt“; vgl. E. DINKLER, Bibliographie Hans Freiherr von Soden, ThR NF 46 (1981) 206. Die Stel‐ lung der „Christlichen Welt“ zur nationalsozialistischen Machtergreifung und ihr Eintreten gegen jeden Antisemitismus beschreiben F. W. KANTZENBACH, Kirchlich‐ theologischer Liberalismus und Kirchenkampf. Erwägungen zu einer Forschungs‐ aufgabe, ZKG 87 (1976) 298‐320, hier 306‐310, und GRAF, „Wir konnten ...“, 155‐ 164 (s. Anm. 1). Auch die „Frankfurter Zeitung“, die sich vor 1933 „durch Weltof‐ fenheit und Unvoreingenommenheit“ auszeichnete – so E.G. LOWENTHAL, Die Juden im öffentlichen Leben, in: Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik. Ein Sammelbd. hg. v. W. E. MOSSE unter Mitwirkung v. A. PAUCKER, Tübingen 1965, 62 (SWALBI 13) –, suchte nach 1933 einstweilen trotz staat‐ licher Presseaufsicht noch liberale Tradition zu wahren. 12 KARL LÖWITH (Rapallo‐Pozzetto, 14.08.1934) an Hans von Soden; Original vorhan‐ den im Nachlass von Soden, Fasc. 18.1: Theologische Fakultät (Marburg), Evangeli‐ sche Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte, München.
2. Prägungen: Die Zeit vor 1933
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Parlamentarismus sollte für ihn der Eintritt in eine politische Partei sein13. Bezeichnenderweise wurde er aber nicht – wie andere Vertreter des theologischen Liberalismus14 – Mitglied der Deutschen Demokrati‐ schen Partei (DDP), sondern der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP). Die Begründung für diese Wahl ist durchaus erhellend: „Was mich zur deutschen Volkspartei führte, war die Verteidigung bürgerli‐ cher Kultur und bürgerlicher Freiheit gegenüber drohender Vermas‐ sung und die kräftige Betonung des Volksgedankens in seiner Ganzheit gegenüber Stammes‐, Standes‐ und Klasseninteressen sowie die positi‐ ve Außenpolitik der Verständigung, um die sich Männer wie Luther und Stresemann bemühten.“15 Erneut also und sehr bewusst interpre‐ tiert von Soden seinen Liberalismus in nationaler Färbung (unabhängig von der Unterstützung der Stresemannschen Außenpolitik, die ja ohne Zweifel Rückwirkungen auf ein erneuertes National‐ und Selbstbe‐ wusstsein hatte), und die von ihm positiv hervorgehobene Vorstellung des „Volksgedankens“ liegt genau auf dieser Linie, darf also nicht in einem rassisch‐völkischen Sinn missdeutet werden. Mit seiner Entscheidung für die DVP stand von Soden im gesamt‐ protestantischen Spektrum insgesamt keineswegs singulär da. Neben der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) war sie die Partei der evan‐ gelischen Pfarrer‐ und Theologenschaft16. Was sie unter anderem von 13 Vgl. H. VON SODEN, Was ist Wahrheit? (1927), in: DERS., Urchristentum und Ge‐ schichte. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Bd. 1: Grundsätzliches und Neu‐ testamentliches, hg. v. H. VON CAMPENHAUSEN, Tübingen 1951, 22: „Deshalb soll man auch Partei nehmen, um nicht bei sich selbst zu beharren, sondern Gemein‐ schaft zu bilden. Aber die Wahrheit ist nicht bei der einen oder anderen Partei, weil sie bei keiner Partei als solcher sein kann.“ Diese Relativität der Parteien betonte er später adversativ gegenüber der NSDAP: „Auch eine Partei, die an Stelle einer Mehrheit von Parteien tritt, bleibt eben doch eine Partei.“ H. VON SODEN, Der Dienst des Staates und der Kirche an der Volksgemeinschaft (1937), in: ders., Urchristentum und Geschichte. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Bd. 2: Kirchengeschichte und Gegenwart, hg. v. H. VON CAMPENHAUSEN, Tübingen 1956, 236. 14 Vgl. K. NOWAK, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Göttingen 21988, 98‐100. 15 Theologie und Kirche, 379 (s. Anm. 2). Vgl. auch H. VON SODEN, Die Kirche Christi und die weltliche Obrigkeit (1935), in: Urchristentum und Geschichte 2, 262 (s. Anm. 13): „Persönlich bekenne ich mich zu diesem Gedanken (sc. Nationalstaat) aus ganzem Herzen. Er hat auch mich von meiner Jugend her erfüllt und mein politi‐ sches Denken und Handeln stets geleitet ... Ich sehe in der Nation eine Schöpfungs‐ ordnung Gottes ...“. 16 Vgl. J. R. C. WRIGHT, „Über den Parteien“. Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918‐1933, Göttingen 1977, 77 und 87 (Arbeiten zur kirchlichen Zeit‐ geschichte B/2), sowie NOWAK, Evangelische Kirche, 103 (s. Anm. 14). Untypisch für die in der DVP versammelten kirchlichen Kreise ist von Sodens Mitgliedschaft inso‐ fern, als seine Nationalliberalität deutlich kontrastiert bzw. ergänzt wird durch sein
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Hans von Soden und die „Judenfrage“
der DNVP unterschied, war ihre eigentümliche Haltung in der „Juden‐ frage“. Während bei den Deutschnationalen von Anfang an rassisch motivierte antisemitische Aversionen erkennbar waren und „der völki‐ sche Rassenantisemitismus im Zuge der Radikalisierung der DNVP seit dem Herbst 1929 widerspruchslos die Wahlpropaganda der Partei bestimmen konnte“17, überwog während der Stresemannära bis 1929 in der DVP von den beiden sie bestimmenden Momenten das liberale, das eine Gleichberechtigung jüdischer Mitbürger zumindest akzeptieren konnte. Die Spätphase der Partei bis zur Auflösung 1933 war demge‐ genüber weitaus stärker vom nationalen Moment geprägt, so dass nun die zuvor zurückgedrängten „allgemein bürgerlichen antijüdischen Ressentiments“18 wieder hervorbrechen konnten, ohne sich jedoch ex‐ plizit in der Programmatik der Partei niederzuschlagen. Bezeichnend für die DVP war im Blick auf die „Judenfrage“ ihre „Programmlosig‐ keit“19, die sich darin konkretisierte, „die Juden in ihrer Propaganda nicht ausdrücklich zu erwähnen, ja sogar noch rigoroser, jeden Hinweis auf das Vorhandensein antisemitischer Kampagnen zu vermeiden“20. Mit anderen Worten: Bagatellisierung der „Judenfrage“ und Heraus‐ streichen der Nationalstaatsideologie sowie des deutschen Volkstums bedingten sich gegenseitig und gingen eine zumindest problematische Allianz ein. Sicher wäre es völlig unangemessen, die Haltung, die die DVP ge‐ genüber den Juden einnahm, und ihren Wandel nach dem Tod Strese‐ manns unbesehen auf die Einstellung von Sodens übertragen zu wol‐ len, wie es umgekehrt verfehlt wäre, seine eigenen Hinweise auf seine Zugehörigkeit zur DVP nur als biographische Nebensächlichkeit be‐ trachten zu wollen. In der Wahl eben dieser Partei und der Überein‐ stimmung mit ihren Grundintentionen tat sich, ohne dass von Soden dies möglicherweise bewusst war, ein Dilemma auf, das während der Weimarer Republik noch ausgehalten werden konnte, unter den völlig veränderten ideologischen Bedingungen des nationalsozialistischen Regimes aber umso schwieriger zu überbrücken war und als solches auch von Sodens Einstellung begleitete. Das liberale Persönlichkeitspa‐ thos, das die Unaustauschbarkeit und den Wert des Individuums ge‐
17 18 19 20
ausgeprägtes Interesse an der sozialen Frage und sein Engagement beim Evange‐ lisch‐sozialen Kongreß; vgl. Theologie und Kirche, 379 (s. Anm. 2). Zum Profil des ESK während der Weimarer Republik vgl. K. E. POLLMANN, Art. Evangelisch‐ sozialer Kongreß, Theologische Realenzyklopädie 10 (1982) 648f. SMID, Protestantismus, 145 (s. Anm. 5). P. B. WIENER, Die Parteien der Mitte, in: Entscheidungsjahr, 314 (s. Anm. 11). SMID, Protestantismus, 158 (s. Anm. 5). WIENER, Parteien, 315 (s. Anm. 18).
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gen jede totalitäre „Vermassung“ postulierte, stand in Spannung zur Auffassung vom starken nationalen Staat, der sich als Hüter von Volk und Kultur erweisen sollte. Dadurch aber sollte fast zwangsläufig nach 1933 die potentielle Widerständigkeit gegen den antisemitischen Ras‐ senwahn, die sich aus einer liberalen Grundhaltung speisen konnte, „erheblich abgeschwächt“21 werden, ohne freilich verlorenzugehen. Diese Beobachtung gilt es im Folgenden mit Blick auf von Soden zu exemplifizieren.
3. Das Profil der Stellungnahmen im Jahr 1933 Die Vorlesungen des Sommersemesters 1933 eröffnete von Soden – ähnlich wie zuvor schon sein Marburger Kollege Rudolf Bultmann22 – am 4. Mai mit einer persönlichen „Erklärung“23. Die Folgen der natio‐ nalsozialistischen Machtübernahme waren inzwischen auch in Mar‐ burg allenthalben spürbar, besonders unter der jüdischen Bevölkerung. Am 1. April erfolgte der Boykott gegen jüdische Geschäfte24, erste Rele‐ gationen begannen, und am 27. April löste die Nachricht vom Freitod des zwangsbeurlaubten jüdischen Marburger Indogermanisten Her‐ mann Jacobsohn in den akademischen Kreisen der Stadt tiefe Betrof‐ fenheit aus25. Von Sodens erste öffentliche Stellungnahme zu dem herr‐ schenden Nationalsozialismus fiel, dies verwundert kaum, keineswegs euphorisch aus, im Gegenteil. Der damals heftig erhobenen Forderung nach einer „Politisierung der Hochschule“26 im neuen Geist wurde von 21 GRAF, „Wir konnten ...“, 177 (s. Anm. 1). 22 Vgl. R. BULTMANN, Die Aufgabe der Theologie in der gegenwärtigen Situation, ThBl 12 (1933) 161‐166; vgl. auch B. JASPERT, Sachkritik und Widerstand. Das Beispiel Rudolf Bultmanns, ThLZ 115 (1990) 161‐182. 23 Vgl. Theologie und Kirche, 37‐43, Dok. 1 (s. Anm. 2). 24 Zur Marburger Situation vgl. G. REHME/K. HAASE, ... mit Rumpf und Stumpf ausrot‐ ten ... Zur Geschichte der Juden in Marburg und Umgebung nach 1933, Marburg 1982, 12f (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur 6), sowie K. LÖWITH, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Mit einem Vorwort v. R. KOSELLECK und einer Nachbemerkung v. A. LÖWITH, Stuttgart 1986, 74‐80. 25 Vgl. MARTIN RADES Nachruf vom 06.05.1933, ChW 47 (1933) 432, und die Trau‐ eransprache des evangelischen Pfarrers HERMANN UBBELOHDE, a.a.O., 446‐448. Auch Georg Wünsch nimmt in einer Tagebucheintragung vom 28.04.1933 ausführ‐ lich zum Tod Jacobsohns Stellung (Für die Möglichkeit, Wünschs noch unveröffent‐ lichtes Tagebuch einsehen zu können, danke ich Herrn Dr. Herbert Kemler, Kassel). Zur Biographie Jacobsohns vgl. B. SCHLERATH, Hermann Jacobsohn, in: Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg. v. I. SCHNACK, Marburg 1977, 219‐227 (VHKH 35,1). 26 Theologie und Kirche, 40 (s. Anm. 2).
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ihm ebenso vehement widersprochen, wobei sein liberales Wissen‐ schaftsethos deutlich zum Vorschein kam: „Vernünftiger und sittlicher Weise kann man unter Freiheit der Wissenschaft nichts anderes verste‐ hen, als daß jede, schlechthin jede Behauptung sich die wissenschaftli‐ che Prüfung ihres Wahrheitsanspruches gefallen lassen muß, und unter Voraussetzungslosigkeit nichts anderes, als daß sich die Wissenschaft keine Voraussetzungen von außerhalb ihrer selbst diktieren läßt, so wenig im Namen der Konfession wie in dem der Nation wie in dem heute besonders oft beschworenen der Generation…“27. Solche Abge‐ klärtheit bildete für ihn die Bedingung allen Redens und Urteilens. Er suchte sie in der „Erklärung“ auch bei jenen Passagen zu bewahren, die sich auf die verbreitete Rede von „Erneuerung völkischer Gesinnung und Bewußtheit, nationaler Einheit, Reinheit und Kraft“28 bezogen. Isoliert betrachtet mochte seine Entgegnung verfänglich klingen, man könne „vom Nationalen sagen, daß es nicht in Worten steht, vor allem nicht in Schlagworten, sondern in Kraft, daß Deutsch nicht eine Parole, sondern ein Charakter ist“. Allein – dieser Satz stand unter der Prämis‐ se, „daß eine Glaubenserneuerung Seele und Gewissen politischer und nationaler Reformation werden muß, wenn es dabei nicht zu einem bloßen Wechsel ..., sondern zu einer wirklichen Wendung kommen soll“29. Dies aber vermisste er als Nationalliberaler an der sogenannten „deutschen Revolution“. Sie schien ihm, dessen Herz durchaus der „Nationwerdung“ Deutschlands zugetan war, ihren Selbstanspruch nicht in die Wirklichkeit umzusetzen. Im Zusammenhang dieser Überlegungen zu Nation und Deutsch‐ tum kam er explizit auf die „Judenfrage“ – und zwar im politischen Sinn – zu sprechen. So mutig, offen und warnend hier seine Worte klangen, ist doch das oben angedeutete Dilemma unverkennbar: Der Protest gegen die Behandlung jüdischer Mitbürger wurde insofern tatsächlich abgeschwächt oder sogar neutralisiert, als von Soden sei‐ nen Bedenken jeweils Einschränkungen beifügte, die aus seiner Nati‐ onalstaatsideologie herrührten und nun wie eine captatio benevolen‐ tiae anmuteten. Mit Bezug auf den Prozess der „Nationwerdung“ Deutschlands führte er aus: „Ein ernstes Problem dabei ist auch das in unserem Volk lebende Judentum, ein Problem, das freilich auch die anderen Nationen der Welt kennen, das aber bei uns seine besonde‐ 27 A.a.O., 41; vgl. schon ders., Was ist Wahrheit? (1927), in: Urchristentum und Ge‐ schichte 1, 21 (s. Anm. 13): „... es kommen hoffentlich nicht Zeiten, in denen die schwärmerische Verachtung von Vernunft und Wissenschaft für das Zeichen von Wahrheit gilt.“ 28 Theologie und Kirche, 38 (s. Anm. 2). 29 Ebd.
3. Das Profil der Stellungnahmen im Jahr 1933
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ren Schwierigkeiten hat, die man im Ausland nicht so kennt oder nicht kennen will, und die sich in der Entwicklung der letzten Jahre zum Teil empfindlich zugespitzt haben. Man soll hier nicht nur klar sehen, sondern in Gefahr auch entschlossen handeln.“ Mit anderen Worten: Von Soden zeigte den herrschenden Parolen gegenüber zu‐ nächst Verständnis und Entgegenkommen, um sich darauf von den eingeschlagenen „Lösungswegen“ der Nationalsozialisten zu distan‐ zieren und durch den Appell an das „wirklich Deutsche“ zu Beson‐ nenheit und abgewogenem Vorgehen zu mahnen: „Aber mit Gewalt ist das Problem nicht zu lösen, und durch Unrecht wird es nur unend‐ lich verschärft. Das kern‐ und wurzelhaft Deutsche soll sich auswir‐ ken aus eigener Wesenskraft, durch die Treue gegen sich selbst und die eigene Art – auch bei der Verwaltung unseres Staates, nicht durch Kränkung von Menschen anderer rassischer Herkunft und anderen – tragischen – Schicksals, die ihre Geschichte zu Bürgern unseres Staa‐ tes und Genossen unserer Kultur gemacht hat, nicht durch Verfol‐ gung von Menschen dafür, was sie sind, ohne Unterschied dessen, was sie tun.“ Und in gleicher Argumentationsstruktur unmittelbar anschließend: „Gewiß, es mag unvermeidliche Härten geben; sind aber alle Härten, die wir sehen, unvermeidlich?“ Im Blick auf die „Judenfrage“ konstatierte von Soden also nicht nur einen Regelungsbedarf, sondern konzedierte auch ein staatliches Regelungsrecht, das freilich seine Grenzen haben musste. Deshalb fügte er unmittelbar hinzu: „Gibt es nicht auch unveräußerliche Ge‐ bote – wenigstens für Christen?“30 Man wird diesen Satz mit seiner auffallenden Eingrenzung nicht überinterpretieren dürfen. Dennoch scheint sich in ihm – eher ungewollt – die duldende Hinnahme staat‐ licher Willkür anzudeuten. Denn was entstand anderes, wenn die bei von Soden noch vorausgesetzte Verbindung von Deutschtum und christlichem Ethos von jenen aufgekündigt oder negiert wurde, die allein das Deutschtum auf ihre Fahnen geschrieben hatten? Die Folge daraus musste dann ähnlich lauten, wie er sie im gleichen Jahr in anderem Zusammenhang formulierte: „... hat der Staat den Scharfrich‐
30 A.a.O., 38f. Wie für von Soden moralisches Handeln von Christen in Unrechtssitua‐ tionen aussah, zeigt das Beispiel, das er in einer Predigt am 28.05.1933 anführte: „Da geschieht in der Härte dieser Tage großer politischer Umbrüche einem Men‐ schen Unrecht. Ihm widerfährt Lieblosigkeit. Du beklagst es wohl, verurteilst es viel‐ leicht, kannst es aber nicht verhindern, nicht aufheben und bescheidest dich, nicht verantwortlich zu sein. Gehe hin zu diesem Menschen, bezeuge ihm dein Mitgefühl und deine Achtung, schäme dich und entschuldige dich vor ihm für Andere“; Neu‐ werk 15 (1933) 65.
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ter, so hat die Kirche den Märtyrer“31. Darin konnte eine Grenze christlich motivierter Resistenz – auch in der „Judenfrage“ – bezeich‐ net sein. Trifft diese Deutung zu, dann läge die Programmatik der „Er‐ klärung“ nicht nur auf der Ebene der konkreten Auseinandersetzung um die staatlichen Maßnahmen gegen Juden, sondern auch – dahinter verborgen – auf der Ebene politisch‐ethischer Fundamentalia. Äußerte sich von Soden in seiner „Erklärung“ zur „Judenfrage“ in ihrem umfassend politischen Sinn, war der Blickwinkel im Marburger Gutachten zum „Arierparagraphen“ von vornherein begrenzter. Dies entsprach der Anfrage, die oberhessische Pfarrer und Kirchentagsab‐ geordnete an die Theologischen Fakultäten in Marburg und Erlangen gerichtet hatten. Ausdrücklich ging es um das präzis formulierte Problem, ob die – in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union am 6. September 1933 bereits beschlossene – Übernahme des Reichsbeamtenrechts (und hier unter anderem des „Arierpara‐ graphen“) mit Schrift und Bekenntnis, aber auch mit der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche vereinbar sei. Am 20. September antwortete darauf die Marburger Theologische Fakultät mit ihrem berühmten Gutachten32, das – nach eigenem Zeugnis33 – durch von Soden verfasst war. Ohne hier auf den Argumentationszusammen‐ hang in seinen Einzelheiten einzugehen, sollen doch folgende Grund‐ aussagen hervorgehoben werden, um zu einer Einschätzung des Gut‐ achtens hinsichtlich der Behandlung der „Judenfrage“ zu gelangen: Zwei unterschiedlich gewichtete Abschnitte bestimmen den Text. Relativ kurz konnte von Soden die Frage abhandeln, wie die Geset‐ zesbestimmung zu werten sei, dass als Geistlicher oder Kirchenbeam‐ ter nur berufen werden könne, wer „rückhaltlos für den nationalen Staat und die Deutsche Evangelische Kirche“ 34 eintrete. Wiewohl von Soden nationales Bewusstsein keineswegs in Abrede stellen wollte, ja davon durchaus selbst beseelt war, erblickte er in dieser Bestimmung einen unverantwortbaren Eingriff des Staates in die Unabhängigkeit kirchlichen Handelns, das allein im Wort Gottes sein Richtmaß besit‐ ze. In dieser Orientierung sei „unveräußerlich“ der Vorbehalt begrün‐ det, „daß der Auftrag der Kirche nicht politisch ist und daß er gegebe‐ 31 H. VON SODEN, Luthers Gottesbotschaft an das deutsche Volk (1933), in: Urchristen‐ tum und Geschichte 2, 175 (s. Anm. 13). 32 Theologie und Kirche, 352‐358, Anh. 1 (s. Anm. 2). 33 Vgl. VON SODEN an Georg Gerullis (Marburg, 23.09.1933), in: Theologie und Kirche, 54, Dok. 4 a. Die Vorlage von Sodens war am 19.09. auf einer Fakultätssitzung ein‐ stimmig als Ausdruck der Ablehnung des „Antisemitismus für den Bereich der Kir‐ che“ verabschiedet worden (Tagebucheintrag Georg Wünsch, 20.09.1933). 34 So § 1, Abs. 1 und § 3, Abs. 1 des „Kirchengesetzes betreffend die Rechtsverhältnisse der Geistlichen und Kirchenbeamten“.
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nen Falles auch zu kritischen Stellungnahmen gegenüber Vorgängen im staatlichen und kirchlichen Leben in angemessenem Ausdruck verpflichten kann“35. Ausführlicher ging von Soden auf die weitere Bestimmung ein, wonach nicht Geistlicher oder Kirchenbeamter werden dürfe, wer „nichtarischer Abstammung oder mit einer Person nichtarischer Ab‐ stammung verheiratet“36 sei. Dieser Wortlaut, der die „Kirchenglieder nichtarischer Herkunft zu Kirchengliedern minderen Rechtes und minderer Würde“37 machte, forderte eine theologisch‐ekklesiolo‐ gische Grundbesinnung heraus, die von Soden nicht schuldig blieb. Mit Bezug auf die Taufe begründete er die Gleichheit aller Christen untereinander. Eine Gliederung der Kirche gebe es allein „nach inner‐ christlichen Konfessionen einerseits und nach Ländern und Völkern andererseits“38. Dementsprechend seien alle Kirchenbildungen „mit rassischer Beschränkung der Kirchengliedschaft“ – von Soden führt Kirchen in Asien, Afrika und Amerika an – „als rückständige oder rückfällige Bildungen zu beurteilen, in denen die christliche Botschaft und ihre Forderung gebrochen sind“39. Überdies kenne die Kirche „den Begriff des Juden nicht im Sinn der Rasse, sondern ausschließ‐ lich in dem der Konfession, also als den des Juden, der in Jesus nicht den Christus Gottes erkennt“. Daraus folgt für von Soden eindeutig: „Der Jude, der im Gesetz und den Propheten seines Volkes die Weis‐ sagung auf Christus erkennt, sich bekehrt und taufen läßt, ist für die Kirche nicht mehr Jude, und von seiten der Kirche sind auch staatsbür‐ gerrechtliche Beschränkungen für den getauften Juden niemals ver‐ treten worden.“40 Kirche als „Gemeinschaft der an Christus Glauben‐ den und auf seinen Namen Getauften ... würde aufhören, dies im vollen Sinn zu sein, wenn sie irgend ein anderes Merkmal in ihrer Ge‐ meinschaft Unterscheidungen begründen ließe“41. Es ist wohl nicht zuviel gesagt, dass für von Soden durch die et‐ waige Übernahme des „Arierparagraphen“ das Kirchesein der Kirche auf dem Spiel stand, weil dessen Bestimmungen die ekklesiologische Basis, das heißt die Taufe, in Frage stellten. Dafür deutliche und un‐ missverständliche Worte gefunden zu haben, war das besondere Ver‐ dienst des Gutachtens. 35 36 37 38 39 40 41
Theologie und Kirche, 354 (s. Anm. 2). So § 1, Abs. 2 und § 3, Abs. 2 des Kirchengesetzes (s. Anm. 34). Theologie und Kirche, 355 (s. Anm. 2), im Text gesperrt. Ebd. A.a.O., 357. A.a.O., 355. A.a.O., 356.
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Indes – darauf ist in der Literatur wiederholt kritisch hingewiesen worden – bezogen sich die Ausführungen des Gutachtens im Wesent‐ lichen auf den binnenkirchlichen Raum42. Dem Anlass des Gutachtens entsprechend mochte dies sachgemäß sein. Zwar konnte aus der expli‐ ziten Kritik am Rassenbegriff, die die drei Tage später veröffentlichte, von Bultmann verfasste und durch von Soden und andere Theologen mit unterzeichnete Erklärung „Neues Testament und Rassenfrage“43 noch verstärkte, durchaus auch eine implizite Kritik an seiner staatli‐ chen Funktionalisierung gefolgert werden. Doch wurde die politische Dimension der „Judenfrage“ dadurch abgeblendet, dass von Soden erneut – wie schon in seiner „Erklärung“ – dem Staat „in einer Schät‐ zung der rassischen Faktoren, die früheren Zeiten fern lag, aus natio‐ nalpolitischen Erwägungen“44 einen möglichen Regelungsbedarf und ein eigenes Regelungsrecht zugestand. Dem Ruf nach Freiheit der Kir‐ che von jeder von außen kommenden Bevormundung und Einmi‐ schung korrespondierte die Auffassung, dass umgekehrt für staatliches Handeln eigene Maßstäbe gelten könnten. Ob damit dem nationalso‐ zialistischen Staat nicht zu schnell die Türen der Willkür geöffnet wur‐ den? Ferner sei hinsichtlich der innerkirchlichen Umsetzung des Gutach‐ tens noch auf die Interpretation verwiesen, die von Soden gegenüber dem Erlanger Neutestamentler Hermann Strathmann machte und die die prinzipielle Gleichheit aller Christen hinsichtlich der Besetzung kirchlicher Ämter relativierte. Von Soden plädierte nicht – wie Strathmann – für eine weitgehende Zurückhaltung der Judenchristen von kirchlichen Ämtern, war aber doch der Meinung, sie passten „nicht an jede Stelle“45 und sprach sich deshalb für jeweilige Einzelfallprüfun‐ gen aus. Die Gefahr eines taktisch motivierten Umgangs mit juden‐ christlichen Pfarrern oder Beamten unterhalb des Prinzips war hier‐ durch zumindest nicht ausgeschlossen. 42
Vgl. etwa SIEGELE‐WENSCHKEWITZ, Judenfrage, 19 (s. Anm. 3); STEGEMANN, Verhält‐ nis, 29 (s. Anm. 2), und U. SCHNEIDER, Bekennende Kirche zwischen „freudigem Ja“ und antifaschistischem Widerstand. Eine Untersuchung des christlich motivierten Widerstandes gegen den Faschismus unter besonderer Berücksichtigung der Beken‐ nenden Kirche in Kurhessen‐Waldeck und Marburg, Kassel 1986, 177. 43 Abgedruckt in: Theologie und Kirche, 359‐362, Anh. II (s. Anm. 2). 44 A.a.O., 355. 45 VON SODEN an Hermann Strathmann (Marburg, 30.10.1933), in: A.a.O., 59, Dok. 4 c. Die Erklärung „Neues Testament und Rassenfrage“ äußerte sich an diesem Punkt restriktiver: „Nach dem Neuen Testament sind zu kirchlichen Amtsträgern Juden und Heiden in grundsätzlich gleicher Weise geeignet. Sie werden zu einem kirchli‐ chen Amt allein nach dem Maßstab ihres Glaubens, ihres Wandels und ihrer persön‐ lichen Eignung von der Kirche und nur von ihr berufen“; a.a.O., 361, Anh. II.
4. Die theologische Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Christentum 123
Den Überblick über von Sodens Stellungnahmen im Jahr 1933 re‐ sümierend, lassen sich folgende Tendenzen festhalten: Die ekklesiolo‐ gische Fragestellung nach dem Verhältnis von (Heiden‐)Christen und Judenchristen in der Kirche war für ihn mit dem Rekurs auf die Taufe eindeutig beantwortet. Sie brauchte fortan in seiner Auseinanderset‐ zung mit der „Judenfrage“ keine Rolle mehr zu spielen. Anders ver‐ hielt es sich mit dem Problem einer Zuordnung von Glaubensjuden und Deutschen unter den Oberbegriffen „Volk“, „Rasse“ und „Staat“. Hier war von Sodens Haltung zwar deutlich, aber doch zugleich lavie‐ rend, weshalb er sich genötigt sah, sie in den Folgejahren unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Judenpolitik erneut zu entfalten. Erst in diesem Zusammenhang rückte auch die schon im „Gutachten“ angelegte theologische Frage nach dem Verhältnis von jüdischer und christlicher Religion zunehmend in sein Blickfeld.
4. Die theologische Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Christentum Die Relevanz dieser Fragestellung lag gewiss nicht erst seit 1933 auf der Hand, gewann nun aber – provoziert durch die nationalsozialistische antijüdische Agitation – eine unabweisbare Aktualität. Ihre Klärung musste eine theologische Besinnung des Christentums auf sich selbst umschließen. Mit anderen Worten: Aussagen über das Judentum waren – ob man nun einen Konnex, eine Differenz oder eine Diastase hervor‐ hob – stets auch Aussagen über das Verständnis von Christentum und Kirche. Unter dieser Voraussetzung hatte die gebotene Klärung gerade im Elementaren zu beginnen – bei den Themen „Bibel“, „Volk Gottes“ und „Jesus“. Von seiner liberalprotestantischen Prägung her hätte es nahe liegen können, dass auch von Soden in den Chor derer einstimmte, die die Bedeutung des Alten Testaments für Kirche und Theologie in Zweifel zogen. Hatte nicht beispielsweise sein Lehrer Adolf von Harnack 1921 dafür plädiert, dass es heutige Aufgabe der Christenheit sei, sich vom Alten Testament zu trennen, und dass seine kanonische Beibehaltung als „Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung“46 verstanden werden müsse? Dergleichen wurde nun wiederholt – aus theologisch 46 A. VON HARNACK, Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Leipzig 1921, 249, im Text gesperrt; vgl. auch 253‐255.
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berufenem wie weniger berufenem Mund47. Die innere und äußere Distanzierung vom Judentum schien dadurch möglich zu sein, dass man sich vom Alten Testament glaubte distanzieren zu können. Und wo dies nicht in aller Radikalität geschah, blieb immer noch die Mög‐ lichkeit einer dialektischen Interpretation, wonach das Alte Testament seinen bleibenden Dienst darin erweise, dass es die dunkle Folie dar‐ stelle, von der sich das Neue Testament umso leuchtender abheben könne. Von Sodens Auffassung war dies nicht; geradezu vehement trat er für die Beibehaltung und Beachtung des Alten Testaments ein: „Ganz mit Recht hat die Kirche jeden Angriff auf ihr Altes Testament, der immer wieder einmal in ihrer Geschichte sich erhob, abgewiesen und jede Last des Alten Testaments getragen in der Überzeugung, dass mit dem Alten das Neue Testament steht und fällt, mit der Gottesof‐ fenbarung in Gesetz und Propheten die Christusoffenbarung in Kreuz und Auferstehung.“48 Und nicht nur dies! Das Alte Testament habe schon in sich den Sinn, ein „Volksbuch“ zu sein, „das Buch der Ge‐ schichte eines Volkes, das sich dabei gleichzeitig als Gemeinde seines Gottes und seine Geschichte als die Schule seines Gottes zu verstehen gelernt hat“49. Freiheit vom Alten Testament könne daher im Sinne Jesu nur als Freiheit „für das Alte Testament“50, als Freiheit „des Verstehens und nicht ... des Verwerfens“51 gedeutet werden. Man wird in Sätzen wie diesen mehr sehen müssen als die bloße „Sorge um den Schutz des Alten Testamentes“52. In ihnen drückte sich das Wissen um die enge Verknüpfung von Israel und Kirche aus, die nicht nur historisch, sondern auch theologisch erfasst sein wollte53. Sie schlechterdings zu leugnen oder auf die Historizität zu reduzieren, wäre für von Soden zu billig gewesen. Dies zeigt sich auch darin, dass er sich nicht scheute, weiterhin von dem besonderen geschichtlichen 47 Vgl. E. BUSCH, Juden und Christen im Schatten des Dritten Reiches. Ansätze zu einer Kritik des Antisemitismus in der Zeit der Bekennenden Kirche, München 1979, 48f (TEH 205). 48 H. VON SODEN, Die christliche Verkündigung und das Alte Testament (Predigt über Luk 16,19‐31; 1936), in: DERS., Wahrheit in Christus. Zwölf Predigten. Aus dem Nachlass hg. v. H. VON CAMPENHAUSEN, München 1947, 42; vgl. 39: Kritik am Alten Testament sei „in erster Linie Selbstkritik im Spiegel des Alten Testaments“. 49 H. VON SODEN, Hat Ludendorff recht? (1936), in: Urchristentum und Geschichte 1, 146; vgl. 148 (s. Anm. 13). 50 H. VON SODEN, Die christliche Verkündigung und das Alte Testament, 42 (s. Anm. 48). 51 H. VON SODEN, Jesus der Galiläer und das Judentum (1942); in: Urchristentum und Geschichte 1, 155 (s. Anm. 13). 52 So W. GERLACH, Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden. Mit einem Vorwort v. E. BETHGE, Berlin 1987, 122 (SKI 10). 53 Vgl. zu dieser Einschätzung BUSCH, Juden, 48 (s. Anm. 47).
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Auftrag Israels zu sprechen: „Gott hat ... Israel erwählt, und zwar als Volk erwählt, und hat gefordert, daß Israel ihm Treue halte und Gehor‐ sam leiste und als ein Gottesvolk unter den Völkern lebe; er hat Israel einen weltgeschichtlichen Beruf zugeteilt, nämlich Zeuge und Träger seiner Offenbarung zu sein.“54 Mochte Israel schon zu Zeiten der Pro‐ pheten immer wieder an seiner Erwählung schuldig werden, so war sie doch dadurch für von Soden nicht aufgehoben. Natürlich machte eine antijudaistische Kritik der biblischen Über‐ lieferung nicht bei der Frage nach der Bedeutung des Alten Testaments und der Erwählung Israels halt. Wem es um theologische Distanzie‐ rung vom Judentum ging, um so das Christentum als der nationalso‐ zialistischen Ideologie angemessen zu erweisen, musste auch die neu‐ testamentliche Überlieferung einer entsprechenden Kritik unterziehen. Wesentlich erschien dabei vor allem, den Gegensatz Jesu zum Juden‐ tum seiner Zeit herauszustreichen. Derlei Bemühungen gipfelten im Mai 1939 in der Gründung eines „Instituts zur Erforschung und Besei‐ tigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben des deutschen Volkes“ mit Sitz in Eisenach, für die sich die „Nationalkirchliche Ei‐ nung Deutsche Christen“ und Vertreter kirchlicher Mittelgruppierun‐ gen in der sogenannten „Godesberger Erklärung“ ausgesprochen hat‐ ten und die mit Unterstützung von elf Landeskirchenführern in die Tat umgesetzt wurde55. Nicht nur die „Godesberger Erklärung“ selbst56, sondern auch die Veröffentlichungen des – von Ernst Wolf prägnant als „Institutum antijudaicum“57 charakterisierten – Instituts und sei‐ nes wissenschaftlichen Leiters Walter Grundmann stießen auf hefti‐ gen Einspruch von Sodens58. Hämisch und hellsichtig zugleich hatten schon die deutschgläubigen Vereinigungen auf die Intention des Eise‐ nacher Instituts reagiert: „Wenn ihr das Christentum entjuden wollt, 54 H. VON SODEN, Advent im Alten Testament (Predigt über Jer 31,31‐34; 1936), in: Wahrheit in Christus, 26 (s. Anm. 48); vgl. auch DERS., Glaube, Predigt und Wort Got‐ tes (Predigt über Röm 10,17 und II Kor 3,6; 1934), in: Ebd., 60. 55 Zu den Vorgängen im Frühjahr 1939 und zur Arbeit des Instituts vgl. K. MEIER, Kirche und Judentum. Die Haltung der evangelischen Kirche zur Judenpolitik des Dritten Reiches, Göttingen 1968, 35f; B. SCHALLER, Der Reichspogrom 1938 und un‐ sere Kirchen, KuI 4 (1989) 133f, 147, Anm. 57‐61. 56 Vgl. Die Godesberger Erklärung. Eine theologische Antwort von Prof. D. Hans Freiherr von Soden, Marburg, in: H. SLENCZKA, Die evangelische Kirche von Kur‐ hessen‐Waldeck in den Jahren von 1933 bis 1945, Göttingen 1977, 211‐221, Dok. 5. 57 ERNST WOLF an Hans von Soden (Halle, 18.05.1941), in: Theologie und Kirche, 331, Dok. 32 d (s. Anm. 2). 58 H. VON SODEN, Die synoptische Frage und der geschichtliche Jesus (1941), in: Ur‐ christentum und Geschichte 1, 159‐213 (s. Anm. 13); DERS., Jesus der Galiäer und das Judentum (1942), in: Ebd., 150‐158.
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bleibt vom Christentum überhaupt nichts, aber auch gar nichts üb‐ rig!“59 Von Soden erblickte in dem Versuch, ein von jüdischem Einfluss und jüdischen Reminiszenzen gereinigtes „Volkstestament“ einführen und die nicht‐jüdische Herkunft Jesu als Galiläer nachweisen zu wol‐ len, nichts anderes als Tendenz, und – so hatte er es 1934 mit liberalem Pathos formuliert – „Tendenz ist die Todsünde gegen den Geist der Wissenschaft“60. In akribischer Kleinarbeit wies er bei dem „Volkstes‐ tament“ die unzähligen Textmanipulationen nach, die allein auf Will‐ kür beruhten und von der Quellenbasis her durch nichts zu rechtferti‐ gen seien. So werde etwa „bei den Juden das Jüdische unterstrichen und zuweilen geradezu vergröbert, bei Jesus dagegen alles Jüdische nach Möglichkeit getilgt, auch wo es nur Form seiner Zeit und Hei‐ mat ist“61. Für von Soden stand es als gesichert fest und außer Frage, dass Jesus jüdischer Abstammung gewesen sei62. Grundmanns Versu‐ chen gegenüber kam er zu dem Schluss, es sei „theologisch gleichbe‐ deutend, ob man Jesus ablehnt, weil er wahrscheinlich jüdischen Blu‐ tes ist, oder an ihn nur glauben zu können meint, wenn er dies wahrscheinlich nicht ist“63; im Entscheidenden werde Jesu Anspruch dadurch verfehlt. Die Deutschgläubigen hatten Recht: Ein Christen‐ tum ohne Akzeptanz seiner Wurzeln gab sich selbst auf. Was von 59 Zitiert nach JK 7 (1939) 536. 60 H. VON SODEN, Die Christianisierung der Germanen (1934), in: Urchristentum und Geschichte 2, 115 (s. Anm. 13). 61 H. VON SODEN, Die synoptische Frage und der geschichtliche Jesus, 182 (s. Anm. 58). 62 Vgl. H. VON SODEN, Ein erdichtetes Markusevangelium (1939), in: Urchristentum und Geschichte 1, 221, Anm. 4 (s. Anm. 13). 63 H. VON SODEN, Jesus der Galiläer und das Judentum, 152 (s. Anm. 58); ebenso schon DERS., Die Godesberger Erklärung, in: SLENCZKA, Kurhessen‐Waldeck, 215, Dok. 5 (s. Anm. 56). – Vgl. zur Auseinandersetzung mit Grundmann: HANS LIETZMANN an Hans von Soden (16.06.1941), in: Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892‐1942). Mit einer einführenden Darstellung hg. v. K. ALAND, Berlin/New York 1979, 1024, Nr. 1184: „Eben bekam ich Ihre ausführliche Auseinandersetzung mit dem Volkstestament ... Es ist mir daran nun noch viel deutlicher geworden, wie stark die ganze Arbeit von Grundmann in all seinen Publikationen von der Tendenz beherrscht wird, alles Jüdische von Jesus zu entfernen. Das ist ja auch in Hirschs Jo‐ hannesevangelium Triebfeder, aber es wird doch da mit ganz anderer Vorsicht ge‐ handhabt. Bei Grundmann kommt es mit einer – man möchte fast sagen – fröhlichen Naivität heraus, und die historische Kritik springt wedelnd wie ein Pudel um ihn herum und apportiert alle gewünschten Resultate und notwendigen Schwierigkei‐ ten.“ – Aufschlussreich ist auch der Briefwechsel zwischen von Soden und Grund‐ mann, der sich aus Anlass der Kritik von Sodens entspann; vorhanden im Nachlass von Soden, Fasc. 5.4: Volkstestament; Evangelische Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte, München.
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Soden gegen all diese geradezu krampfhaften Umdeutungen bibli‐ scher Überlieferung resistent gemacht hatte, war – so könnte man sagen – seine „Ehrfurcht“ vor dem Text, zu der ihn sein liberalprotes‐ tantisches Verständnis von theologischer Wissenschaft nötigte. Freilich war dies nur die eine, wenn auch beachtenswerte Seite des Problems Judentum – Christentum; von Soden argumentierte ja stets auch als Christ. Was besagte dies für seine Haltung hinsichtlich der Einschätzung von Kirche im Gegenüber zum Judentum? In der „Godesberger Erklärung“ hatte es summarisch geheißen: „Der christ‐ liche Glaube ist der unüberbrückbare religiöse Gegensatz zum Juden‐ tum.“64 Diesen Satz in seiner Pauschalität konnte von Soden nicht unwidersprochen stehenlassen, denn er negierte die historischen und – im engeren Sinn – theologischen Beziehungen. Wohl aber arbeitete von Soden seinerseits in zweifacher Hinsicht einen signifikanten Ge‐ gensatz heraus: Für ihn war Kirche eine durch das Evangelium von Christus entgrenzte, volksübergreifende, universale Gemeinschaft65, die den „jüdischen Gedanken von einem natürlich‐geschichtlichen Volk und seinem Staat als Gottesvolk und Gottesstaat, als Theokratie“66 überbo‐ ten habe. Die Geschichte Israels in seiner Identität von Volk und Religi‐ on erschien ihm daher als die Geschichte eines grundlegenden Miss‐ verständnisses. Hinzu kam als zweites Abgrenzungskriterium der Hinweis auf die „Behauptung gesetzlicher Selbstgerechtigkeit“67, die nach von Soden das Judentum kennzeichne, aber in der Verkündigung Jesu und der Predigt des Paulus ihr Ende gefunden habe. Das Christen‐ tum war für ihn durchaus eine andere Religion, und das Alte Testament las er als Buch der Kirche. Unter der Voraussetzung des ausschließlich religiösen Gegensatzes charakterisierte er die Einstellung, die Partikula‐ rismus und Nomismus in sich vereine und doch durch Christus über‐ wunden sei, als „Judaismus“, um daraus die Folgerung zu ziehen, es bleibe „in der Tat der Judaismus immer wieder die Bedrohung des christlichen Glaubens mit einer seinem Wesen widersprechenden Hal‐ 64 Zitiert bei H. VON SODEN, Die Godesberger Erklärung, in: SLENCZKA, Kurhessen‐ Waldeck, 212, Dok. 5 (s. Anm. 56). 65 Vgl. etwa H. VON SODEN, Das Volk der Christen (Predigt über I Petr 2,9; 1938), in: Wahrheit in Christus, 68 (s. Anm. 48). 66 A.a.O., 64; vgl. auch DERS., Die Godesberger Erklärung, a.a.O., 216, Dok. 5. ‐ Dass sich diese Einschätzung ebenso gegen alle deutschchristlichen beziehungsweise deutschgläubigen Bestrebungen einer Vermengung von Volk und Religion richteten, sei bereits hier am Rand, aber ausdrücklich vermerkt; vgl. DERS., Vom Ruhm der Schwachheit (Predigt über II Kor 12,1‐10; 1934), in: Wahrheit in Christus, 114 (s. Anm. 48), und DERS., Unsere Freiheit in Christus (Predigt über Gal 5,1‐14.16‐18; 1939), in: Ebd., 83. 67 H. VON SODEN, Die Godesberger Erklärung, a.a.O., 216 (s. Anm. 56).
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tung, aber diese Gefährdung geht nicht mehr nur vom jüdischen Volks‐ tum aus; vielmehr ist jedes Volkstum von Natur geneigt, sich in ähn‐ licher Weise wie das jüdische religiös falsch zu verstehen und vom Evangelium abzufallen“68. Abgesehen von der Frage, ob und inwieweit von Soden hier ein – allerdings verbreitetes – Zerrbild jüdischer Religion zeichnet69, stellt sich das Problem der angemessenen beziehungsweise unangemessenen Begrifflichkeit: „Judaismus“ sollte nach von Soden eine spezifische, das geschichtliche Judentum einschließende, es zugleich aber transzendie‐ rende Haltung sein. Mit der Wahl des Terminus „Judaismus“ aber musste das Judentum zwangsläufig zum Prototyp solcher Haltung werden und semantisch darauf festgelegt bleiben. Einer begrifflichen Vermischung mit völkisch‐rassischen Argumentationsmustern wurde dadurch gerade nicht gewehrt, obwohl dies von Sodens Anliegen war. Das, was er an Juden wie Christen glaubte kritisieren zu müssen, hätte wohl einer eigenen, nicht‐entlehnten Begrifflichkeit bedurft. Will man versuchen, von Sodens Position in der Frage des Verhält‐ nisses von Judentum und Christentum, von Israel und Kirche zusam‐ menzufassen, so reicht nach allem Gesagten die Antwort nicht hin, beide stünden in völliger Diastase oder doch Antithese zueinander. Eher wäre hier in einem synthetischen Sinn von „Anknüpfung und (qualitativer) Differenz“ zu sprechen. Schon aus diesem Grund er‐ scheint es als unangemessen, den Vorwurf eines „theologischen Anti‐ judaismus“ pauschal gegenüber von Soden erheben zu wollen.
5. Juden und Deutsche: Identität oder Differenz? Mit der Ablehnung jeder religiösen Überhöhung eines Volkes bezie‐ hungsweise der Ethnisierung der Religion hatte sich von Soden auch gegen die nationalsozialistische Volkstumsideologie gewandt. Entspre‐ chend der von ihm mitunterzeichneten Barmer Theologischen Erklärung und ihrer ersten These lehnte er den Offenbarungscharakter anderer „Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten“ außer Christus ab – so etwa die Berufung auf die „nationale Erhebung“, auf Blut und Boden, den Führer oder den Volksnomos70. Gleichzeitig war von ihm 68 Ebd.; vgl. auch 217. 69 So der Vorwurf Stegemanns gegenüber Bultmanns teilweise parallelen Gedanken‐ gängen; vgl. STEGEMANN, Verhältnis, 30‐33 (s. Anm. 2). 70 Vgl. H. VON SODEN, Artikel I der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche vom Juli 1933 und die Barmer Theologische Erklärung (1937), in: Urchristentum und
5. Juden und Deutsche: Identität oder Differenz?
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die Ökumenizität der Kirche hervorgehoben worden, die über die ein‐ zelnen Völker hinausgehe und alle in dem einen Christus verbinde71. Damit aber stellte sich für von Soden das Erfordernis zu klären, ob und wie innerhalb dieses Referenzrahmens sachgemäß die beherrschende Rede von „Volk“ oder „Volksgemeinschaft“ einzuordnen sei, die er ja keineswegs grundsätzlich kritisierte, sondern die seiner kulturell wie politisch nationalliberalen Prägung und somit auch dem Tenor seiner Äußerungen von 1933 entsprach. Es lag nahe, den Begriff des Volkes als einer eigenen Größe in der Mitte der beiden Pole anzusiedeln: Weder sollte er in die Nähe weltan‐ schaulich‐religiöser Interpretation gerückt werden, noch erübrigte er sich für Christen (und erst recht für Nicht‐Christen) durch den bloßen Verweis auf die Kirche als universale Gemeinschaft des Volkes Gottes. Auch Christen lebten stets zugleich in einem bestimmten Volk; nach von Soden war dies Schöpfungsordnung. Dass damit im ethischen Bereich Konflikte auftreten konnten, wusste er sehr wohl: „Es ist gewiß eines der schwersten Geheimnisse Gottes, daß er uns dieses In‐zwei‐ Völkern‐Stehen und in jedem von ihnen mit dem ganzen Herzen, dem ganzen Menschen stehen auferlegt hat ...“72. Vor allem in dem 1937 auf der Tagung des Evangelisch‐Sozialen Kongresses in Frankfurt am Main gehaltenen Vortrag „Der Dienst des Staates und der Kirche an der Volksgemeinschaft“ gab er sich hinsicht‐ lich dieser Problematik ausführlicher Rechenschaft und kam in diesem Zusammenhang erneut auf die „Judenfrage“ in ihrer politischen Di‐ mension zu sprechen. Inzwischen wurden die Auswirkungen der nati‐ onalsozialistischen Judenpolitik – besonders unter dem Vorzeichen der Nürnberger Rassengesetze – immer offensichtlicher73. Sie bildeten den realen Hintergrund, auf dem von Soden in gedrängter Form eine Ethik des Politischen entwarf. Unter diesen Voraussetzungen war es beachtlich, wie reserviert er sich gegenüber einer Verwendung des Rassegedankens als Konstituen‐ dum für den Volksbegriff aussprach. Einerseits erschien er von Soden ungenügend, um dem komplexen Vorgang der Entstehung einzelner Völker gerecht zu werden, denn: „Wir wissen alle, wenn wir uns ernst‐ lich um diese Dinge bemühen und uns nicht mit Phrasen und Schwär‐ Geschichte 2, 277 (s. Anm. 13); ebenso DERS., Die Kirche Christi und die weltliche Obrigkeit (1935), in: a.a.O., 267. 71 Vgl. auch DERS., Das Volk der Christen (Predigt über I Petr 2,9; 1938), in: Wahrheit in Christus, 68 (s. Anm. 48); DERS., Die Godesberger Erklärung, in: SLENCZKA, Kurhes‐ sen‐Waldeck, 214, Dok. 5 (s. Anm. 56). 72 H. VON SODEN, Das Volk der Christen, 70 (s. Anm. 71). 73 Vgl. MEIER, Kirche, 12 (s. Anm. 55).
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mereien begnügen, die die Rassenfrage entweder verabsolutieren oder neutralisieren, daß Völker weitgehend durch Assimilation verschiede‐ ner Stammesgruppen entstehen, ja daß das Maß von assimilierender Kraft geradezu ein Zeichen und Maßstab für die volksbildende Kraft ist.“74 Völker einer einzigen Rasse, gar reiner Rasse, könne es deshalb nicht geben, was indes nicht ausschließe, dass Volksgemeinschaft „an gewisse natürliche Bedingungen der Einheit“75 – etwa gemeinsame Sprache – gebunden bleibe. Andererseits hatte er am Rassegedanken auszusetzen, dass in ihm weithin die „Überzeugung des verschiedenen Wertes“76 der Rassen mitschwinge. In die Versuche, die Volksgemein‐ schaft über die „Erhaltung und Pflege hochwertiger Rassen“ und Aus‐ grenzung vorgeblich minderwertiger zu fördern, komme „unzweifel‐ haft ein sehr subjektives Moment“77. Solche Einsichten, die seiner Ablehnung jedes „Chauvinismus“78 entsprachen, hinderten ihn jedoch nicht, darauf hinzuweisen, dass es „Grenzen der Assimilation gibt, deren Verkennung oder Verleugnung zur Zersetzung und Entartung des Volkstums führt“, wobei er sogleich anschloss, es sei „ungemein schwierig“, diese Grenzen zu bestimmen, „um so mehr als sie keines‐ wegs für jedes Volk und jede Zeit dieselben zu sein scheinen“79. Hier durch Eingriffe tätig zu werden, war nach von Soden Aufgabe des Staa‐ tes. Differenzierend fragte er: „Bezieht sich die negativ und positiv re‐ gulierende Tätigkeit des Staates im Sinne der Erhaltung und Förderung der Volksgemeinschaft nur .auf das Tun und Lassen der Personen oder auch auf die Personen selbst?“, um daraus zu folgern: „Bejaht man das letztere, so bedeutet Dienst an der Volksgemeinschaft Dienst an der Volksnation, welche von der Bevölkerung zu unterscheiden und aus ihr ständig aufzubauen wäre.“ Fast als schrecke ihn die darin ausge‐ sagte Konsequenz – die Ausscheidung bestimmter Bevölkerungs‐ gruppen –, fügte er an, es sei allerdings „völlig ausgeschlossen, daß wir jemals Volks‐ und Staatsgrenzen zur Deckung bringen könnten“80. Die Konkretionen dieser bei von Soden in recht abstrakter Diktion entfalteten Überlegungen führten ihn zur „Judenfrage“. Dass in Nati‐ onalstaaten Angehörige fremder Völker lebten, verdeutlichte er am Beispiel der Juden, eines Volkes, das – wie er sich ausdrückte – „außer 74 H. VON SODEN, Der Dienst des Staates und der Kirche an der Volksgemeinschaft (1937), in: Urchristentum und Geschichte 2, 223 (s. Anm. 13). 75 Ebd. 76 A.a.O., 224. 77 Ebd. 78 H. VON SODEN, Autobiographische Skizze (1945), in: Theologie und Kirche, 377, Anh. VIII (s. Anm. 2). 79 H. VON SODEN, Der Dienst des Staates ..., 223 (s. Anm. 74). 80 A.a.O., 231.
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der Analogie der Völker steht und nur aus seiner besonderen Ge‐ schichte zu verstehen ist“81, aber als solches trotz aller – bis in die Sprache reichenden – Assimilation eben ein fremdes Volk bleibe. Unter diesen Prämissen wollte von Soden die eventuelle Notwendigkeit und Legitimität einer staatlich‐dirigistischen Nationalitätenpolitik nicht ausschließen. Übertragen auf die in Deutschland lebenden Ju‐ den, die sich selbst oft weniger als Juden denn als Deutsche, zumin‐ dest aber als deutsche Juden verstanden82, musste diese Konzession bittere Folgen haben. In eigentümlicher Deutlichkeit führte von Soden aus: „Wenn die nationale Aktion eines Staates die Reaktion der Be‐ troffenen auch immer in Rücksicht ziehen müssen wird, so kann sie sich von ihr dennoch nicht leiten lassen; sie hat vielmehr die Kämpfe und Opfer auf sich zu nehmen, die die Erhaltung und Entwicklung der eigenen Volksgemeinschaft fordert. Nationale Gegensätze besei‐ tigt man ohnehin nicht durch Rücksichten.“83 Gab es da überhaupt noch Grenzen staatlicher Willkür? Von So‐ den suchte sie durch den Rekurs auf den Schöpfungsglauben und Gottes Gebot zu bestimmen. Für Christen sei Schöpfung „auch der Volksfremde und der Volksfeind“, auch ihnen gegenüber würden Gottes Gebote gelten. In der fraglichen Situation bedeute dies, die Kir‐ che verleihe „keinem die Volkszugehörigkeit, die er nicht hat, und die staatsbürgerlichen Rechte, die ihm der Staat versagt; aber in der Kirche bestimmt das Bekenntnis die Gemeinschaft“84. Abgesehen davon, dass diese Reservation nur auf Judenchristen, nicht aber auf Glau‐ bensjuden zu beziehen war, bestätigte sich hier erneut, was von So‐ den schon in seiner „Erklärung“ 1933 angelegt hatte: das weitgehende 81 Ebd. 82 Vgl. dazu LOWENTHAL, Die Juden im öffentlichen Leben, in: Entscheidungsjahr, 52 (s. Anm. 11). 83 H. VON SODEN, Der Dienst des Staates ..., 232 (s. Anm. 74). In Umkehrung seiner Ausführungen in der „Erklärungʺ von 1933 – Theologie und Kirche, 39 (s. Anm. 2), Dok. 1 – nahm er nun bewusst in Kauf, dass sich Maßnahmen gegen Menschen rich‐ ten könnten, „nicht weil sie etwas getan oder unterlassen haben, sondern weil sie durch Natur und Geschichte etwas sind oder nicht sindʺ; Der Dienst des Staates ..., 233. Vgl. schon ders., Die Kirche Christi und die weltliche Obrigkeit, 265f (s. Anm. 70): „Die Obrigkeit kann alles tun, wozu sie Macht hat, und sie muß tun, was sie für den Staat als notwendig erachtet.“ Und mit Bezug auf die staatliche Rassengesetzge‐ bung: Überzeuge sich die „Regierung eines Volksstaates“ von der Notwendigkeit einer Beschränkung oder eines Verbots gemischt‐rassischer Ehen, „so kann ihr das Recht nicht abgesprochen werden, entsprechende Gesetze zu erlassen“; Artikel 1 der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche vom Juli 1933 und die Barmer Theologische Erklärung, 282 (s. Anm. 70). 84 H. VON SODEN, Der Dienst des Staates ..., a.a.O., 244; vgl. dazu BUSCH, Juden, 26f (s. Anm. 47).
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Eigenrecht des Staates in seinen Maßnahmen gegen die Juden und die dem korrespondierende weitgehende Urteilsenthaltung der Kirche. Zu einer völligen Trennung wollte es von Soden nicht kommen lassen. Er räumte die Möglichkeit des Gewissensprotestes gegenüber staatli‐ chen Maßnahmen, die Gottes Gebot verletzten, bewusst ein. Aber er setzte hiervor eine hohe Schranke: Jeder Christ werde „aufs peinlichste und strengste zu wägen haben, ob er nicht in der konkreten Situation dabei Unrecht tut. Es kann in einer solchen Situation durchaus Gewis‐ senspflicht sein, einmal auch zu Unrecht zu schweigen und sein Volk zu decken; das gehört zum Unrechtleiden, das dem Christen aufgege‐ ben ist, aber es darf dabei eben nur eine Pflicht erfüllt, nicht eine Pflicht versäumt werden.“85 Die Geschichte der Bekennenden Kirche zeigt, dass denn auch nur wenige diese Hürde zu überwinden vermochten und die Mehrheit in solcher Argumentation ihr Schweigen legitimiert sehen konnte86.
6. Ambivalenzen Nach allem Gesagten stellte sich von Sodens Haltung zur „Judenfrage“ als differenziert und konstant zugleich dar: Differenziert war sie im Blick auf die verschiedenen Dimensionen der „Judenfrage“, konstant hinsichtlich ihrer inhaltlichen Entfaltung über den Zeitraum der natio‐ nalsozialistischen Herrschaft hin. Nachhaltig bleibt darüber hinaus der Eindruck der geschilderten Ambivalenzen, des häufigen Einerseits – Andererseits, haften. Von Soden hat sich selbst dazu in den Jahren nach Kriegsende und Zusammenbruch des NS‐Staates nicht mehr äußern können. Er starb am 2. Oktober 1945. Dennoch scheint eine Deutung dieser Ambivalenzen möglich zu sein: Bestimmend war für von Soden 85 H. VON SODEN, Der Dienst des Staates ..., a.a.O., 246. – Laut freundlicher Mitteilung von Frau Dr. Erika Dinkler‐von Schubert, Heidelberg, nahm von Soden am 10.11.1938 in einer Vorlesung ausdrücklich zur Reichspogromnacht, in deren Verlauf in Marburg die Synagoge in Brand gesetzt worden war, Stellung und verurteilte „aufs Schärfste die Geschehnisse und sprach von der Kulturschande und den un‐ heilvollen Folgen, die aus der Zerstörung von Heiligtümern andersgläubiger Mit‐ menschen erwachsen“. 86 Vgl. dazu umfassend GERLACH, Zeugen (s. Anm. 52). Dies gilt bezeichnenderweise gerade nicht für eine Schülerin von Sodens, die Breslauer Stadtvikarin Katharina Staritz (1928 bei von Soden promoviert). In einem Rundschreiben trat sie 1941 öf‐ fentlich für die Verbundenheit mit den evangelischen „Sternträgern“ ein, musste daraufhin Breslau verlassen und fand Schutz bei von Soden in Marburg. Dort wurde sie am 04.03.1942 verhaftet und – für ein Jahr – in das KZ Ravensbrück deportiert; vgl. a.a.O., 284‐292.
6. Ambivalenzen
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die Auffassung einer strikten Trennung von Kirche und Staat (wie in anderer Hinsicht die Trennung von Wissenschaft und Staat); darin konvergierten sein theologischer und sein politischer Liberalismus87. Nichts war ihm deshalb so problematisch wie die Politisierung der Kirche durch staatliche beziehungsweise die Klerikalisierung des Staa‐ tes durch kirchliche Einflussnahme88. Kirche und Staat sollten sich in gegenseitiger Achtung und Freiheit gegenüberstehen. Wo der Staat diese Abgrenzung überschritt und sich in die inneren Belange der Kir‐ che einmischte, hatte er stets mit dem unüberhörbaren Protest von So‐ dens zu rechnen. Weniger einfach verhielt es sich mit der Umkehrung: Von Sodens nicht nur liberale, sondern gerade nationalliberale Prägung ließ ihn den deutschen Staat als Größe besonderen Wertes verstehen. In dieser Überhöhung des Staates lag das mehrfach erwähnte Dilemma. Sie band von Sodens Freiheit gegenüber dem Staat ein und suggerierte in den Fällen, in denen er mit staatlichem Handeln im politischen Be‐ reich nicht glaubte übereinstimmen zu können, sogleich eine Wertekolli‐ sion. Dieser Kollision suchte er jeweils durch Ausgleich gerecht zu werden – selbst auf die Gefahr hin, dadurch an Unmissverständlichkeit des Zeugnisses zu verlieren. Auch seine Stellungnahmen zur staatli‐ chen Judenpolitik waren davon beeinflusst und gelangten hier an ihre Grenzen; „eindeutige theologische Urteilskategorien für die Einsicht in die unaufgebbare Solidarität von Christen und Juden“89 innerhalb des gemeinsamen Staates konnten sie nicht bereitstellen – ein Manko, das ebenfalls die Haltung anderer liberalprotestantischer Theologen kenn‐ zeichnete90. Diese Selbstparalyse ist umso mehr zu bedauern, als von Soden schon 1934 ein mögliches ethisches Kriterium genannt hatte: 87 Hier das „traditionelle lutherische Obrigkeitsverständnis“ als Begründung heranzu‐ ziehen, so SCHNEIDER, Bekennende Kirche, 441 (s. Anm. 42), ist kurzschlüssig, weil von Sodens Position damit in ihm fernliegende Zusammenhänge gerückt wird. 88 Vgl. H. VON SODEN, Das Volk der Christen (Predigt über I Petr 2,9; 1938), in: Wahr‐ heit in Christus, 70 (s. Anm. 48); DERS., Die Godesberger Erklärung (1939), in: SLENCZKA, Kurhessen‐Waldeck, 218, Dok. 5 (s. Anm. 56). 89 SMID, Protestantismus, 319 (s. Anm. 5). 90 Vgl. GRAF, „Wir konnten ...“, 176 (s. Anm. 1): „Kennzeichnend sind primär die Ver‐ bindung von Teilopposition und kritischer Distanz gegenüber dem rassenideologi‐ schen Zentrum der nationalsozialistischen Weltanschauung mit partieller Bejahung des neuen Staates.“
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„Die Verachtung des anderen und Gottesglaube schließen sich aus; denn Gott ist auch Gott der anderen, wenn er Gott ist, und er verpflich‐ tet mich ebenso auf die Verantwortung für mein Leben und mein Volk wie auf die Achtung vor dem anderen Menschen und dem anderen Volk.“91
91 H. VON SODEN, Die Christianisierung der Germanen (1934), in: Urchristentum und Geschichte 2, 138 (s. Anm. 13).
Bernhard Heppe (1897–1945) Am 2. Dezember 1897 wurde Bernhard Heppe in Kassel geboren, und schon mehr als fünfzig Jahre ist es her, dass er in jugoslawischer Ge‐ fangenschaft starb. Nur 47 Jahre wurde er alt. Die Nachkriegszeit in Deutschland, die Neuordnung von Staat und Kirche und den Wieder‐ aufbau hat er nicht mehr miterleben können. Inzwischen mag die Erin‐ nerung verblasst sein an den ersten Cölber Pfarrer, der seine gesamte Dienstzeit nichts anderes war als Pfarrer in Cölbe bei Marburg. Doch die Erinnerung lohnt: Denn es war Bernhard Heppe, der sich wie kaum ein zweiter in der Bekennenden Kirche und für die Beken‐ nende Kirche seiner Heimatkirche engagierte. Die meisten der Rund‐ briefe1, die in den Jahren seit 1933 zum Zusammenhalt des Bruderbun‐ des Kurhessischer Pfarrer und der Bekennenden Kirche in Kurhessen‐ Waldeck beitrugen, waren von ihm verfasst worden – meist mit dem Vermerk „Nur für Mitglieder. Streng vertraulich!“ und immer mit dem eigenen Namen unterzeichnet, mit dem er unter Umständen auch für die Folgen einstehen musste.
I. Der Werdegang Bernhard Heppe stammte aus einer recht wohlhabenden Kasseler Fa‐ milie. Der Vater war Arzt, genauer: Sanitätsrat. Das Elternhaus atmete preußisch‐wilhelminischen Geist und war ganz fraglos patriotisch aus‐ gerichtet. Es wundert nicht, dass sich Bernhard Heppe schon 1915 un‐ mittelbar nach dem Abitur als Kriegsfreiwilliger meldete. Die allge‐ meine Begeisterung, für Deutschland zu kämpfen und zu sterben, hatte den knapp Achtzehnjährigen wie viele andere seines Alters erfasst. Militärischem Geist stand er keineswegs ablehnend gegenüber. Er wur‐ de in Russland und Frankreich eingesetzt und brachte es bis 1918 zum Offizier. Unverwundet konnte er nach Kassel zurückkehren. 1
Vgl. Kirche im Widerspruch. Die Rundbriefe des Bruderbundes Kurhessischer Pfar‐ rer und der Bekennenden Kirche Kurhessen‐Waldeck 1933‐1935, hg. v. MARTIN HEIN, Darmstadt 1996 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte Bd. 2).
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Bernhard Heppe (1897–1945)
Es mag der Wunsch seines Elternhauses gewesen sein, dass auch er Arzt werden solle. Doch schon während des 1. Weltkriegs reifte in ihm der Entschluss heran, Theologie zu studieren und sich für den Pfarrbe‐ ruf zu entscheiden. Ob es die unmittelbaren Erfahrungen von Tod und Gottverlassenheit gewesen sind, die ihn zu diesem Entschluss brachten, oder welches sonst seine Motive waren, lässt sich nicht ausmachen. Eine soldatische Einstellung wenigstens verhehlte Heppe auch nach dem Weltkrieg nicht. Später nahm er regelmäßig an Reserveübungen der Reichswehr teil. Zunächst deutete nichts darauf hin, dass sich die Biographie dieses jungen Mannes unterscheiden würde vom Lebens‐ lauf anderer Zeitgenossen. Zum Theologiestudium ging er nach Marburg, dann nach Tübin‐ gen. Dort schloss er sich der christlichen Studentenverbindung „Win‐ golf“ an, wo er Freunde fand, die später in der Bekennenden Kirche Mitstreiter wurden. Es ist ohnehin auffällig, wie viele spätere kurhessi‐ sche BK‐Pfarrer dieser recht konservativen Studentenverbindung ent‐ stammten! Freilich: Das Jahr 1918, in dem Heppe sein Studium begann, war bekanntermaßen ein Jahr größter Umbrüche. An die Stelle der Monar‐ chie trat nun, von erheblichen Kämpfen begleitet, die Demokratie. Auch für die evangelische Kirche ging eine lange Epoche zu Ende: Die alte Verknüpfung von Thron und Altar wurde gelöst, der Landesherr war nicht mehr oberster Bischof der Landeskirche, und das Konsistori‐ um wandelte sich von einer Staats‐ zu einer reinen Kirchenbehörde. Die evangelische Kirche konnte – oder musste! – nun ihre Ange‐ legenheiten in Freiheit und Unabhängigkeit vom Staat regeln. Viele evangelische Pfarrer trauerten eher den alten Verhältnissen nach, die weitgehende Sicherheit gewährleistet hatten, manche aber auch begrif‐ fen die Situation der neuen Zeit als Herausforderung. Zu dieser zwei‐ ten Gruppe zählte Bernhard Heppe. Nachdem er in Marburg das erste Examen abgelegt und jeweils ein Jahr im Kandidatenkonvikt in Bethel und als Hilfspfarrer in Hephata gelebt hatte, wurde er am 1. Juni 1924 als Pfarrer in Cölbe eingeführt. Es folgten Jahre des Aufbaus und der Neuorientierung – in der Kir‐ chengemeinde ebenso wie im Blick auf die Kirche insgesamt. Bis 1924 war Cölbe eine Filialgemeinde von Schönstadt. Es gab eine Kirche, aber alles weitere fehlte noch. Das Pfarrhaus musste gebaut werden, dann kam das Gemeindehaus mit der Schwesternstation hinzu – keine leich‐ ten Aufgaben in einer Zeit, in der sich die Kirche nicht mehr auf staatli‐ che Hilfe stützen konnte. Aber mit der Zielstrebigkeit, die ihn aus‐ zeichnete, gelang es, beide Häuser zu errichten und Cölbe nun auch nach außen hin zur kirchlichen Eigenständigkeit zu verhelfen.
II. Entscheidungsjahre
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Das jedoch beschäftigte Heppe nicht ausschließlich. Es war die Fra‐ ge nach der weiteren Zukunft der Kirche, die ihn umtrieb. Bald gehörte er zu einem Gesprächskreis, der sich regelmäßig in Loshausen in der Schwalm traf. Dieser „Loshäuser Kreis“ vereinigte recht unterschiedli‐ che Theologen: auf der einen Seite etwa Karl Bernhard Ritter, Pfarrer an der Marburger Universitätskirche, Mitbegründer der Michaelsbruder‐ schaft, Erneuerer der Liturgie, aber auch von 1920 bis 1924 Abgeordne‐ ter im preußischen Landtag als Mitglied der „Deutsch‐Nationalen Volkspartei“, auf der anderen Seite Hermann Schafft, den Religiösen Sozialisten nahestehend2. Trotz aller Unterschiede war diesem Kreis die Einsicht gemeinsam, dass der Weg der Kirche in der Vergangenheit in Sackgassen geführt habe: „Kirche muß erst wieder Kirche werden“, so etwa lautete die Parole, und das erforderte die Verständigung darüber, was die Kirche sei und welchen Auftrag sie habe. Viele Teilnehmer dieses „Loshäuser Kreises“ haben später den „Bruderbund Kurhessi‐ scher Pfarrer“ und die „Bekennende Kirche“ in Kurhessen‐Waldeck entscheidend mitbestimmt. Als der nationalsozialistische Staat sich der Kirche bemächtigen wollte, mussten nicht erst mühsam Antworten auf diese Herausforderung gefunden werden: Die Gedanken von der Er‐ neuerung und Freiheit der Kirche, die allein ihrem Herrn und seinem Auftrag verpflichtet sei, hatten sich schon zuvor herausgebildet. Nun galt es, sie in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen zu bewäh‐ ren.
II. Entscheidungsjahre Es ist nicht so, als habe die sogenannte nationalsozialistische ‚Machter‐ greifung’ überall im Bereich der evangelischen Kirche Entsetzen her‐ vorgerufen. Im Gegenteil! Der überwiegende Teil der evangelischen Pfarrerschaft hatte der Weimarer Republik eher skeptisch bis ableh‐ nend gegenübergestanden und war wie viele andere der Meinung, der demokratische Parteienstaat habe gründlich abgewirtschaftet. Und stand nicht im Programm der NSDAP, dass die Partei sich einem „posi‐ tiven Christentum“ verpflichtet fühle? Die Stimmung änderte sich 1933 erst, als die staatlichen Machtha‐ ber versuchten, mit Hilfe der „Deutschen Christen“ auf die Kirche Ein‐ fluss zu nehmen3. Von einer eigentümlichen Vermengung christlichen 2 3
Vgl. MARTIN HEIN, Hermann Schafft in den Jahren 1918 bis 1938, o. 81‐94. Vgl. DERS., Das Jahr 1933 in der Evangelischen Landeskirche in Hessen‐Kassel. o. 95‐ 109.
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Glaubens mit völkischer Ideologie bestimmt, hatten die DC es sich zum Ziel gesetzt, die einzelnen Landeskirchen in eine große evangelische „Reichskirche“ einzugliedern. Das „Einheitswerk“ Adolf Hitlers sollte auch auf dem Boden der Kirche verwirklicht werden. Zunächst waren sie damit erfolgreich. Die Kirchenvorstandswahlen im Sommer 1933 ließen sie 75 % der Stimmen gewinnen. Aber die Versuche, die gerade gewonnene Verantwortung der Kirche für sich selbst zu untergraben, stießen auch auf Widerspruch – und zwar bei denen, die sich die Frei‐ heit der Kirche auf die Fahne geschrieben hatten. „Kirche muß Kirche bleiben“, hieß jetzt die Losung, die sich gegen eine Politisierung der Kirche wandte. Angesichts der Gefährdungen, die mit solch einer Hal‐ tung auf Dauer verbunden sein konnten, wurde es notwendig, sich enger zusammenzuschließen, um sich Rückhalt zu verschaffen. Am 20. Oktober 1933 wurde deshalb in Berlin der „Pfarrernot‐ bund“ unter der Leitung von Martin Niemöller gegründet, dem sehr schnell 2.500 Pfarrer beitraten. Wenige Tage später kam es auch in Kurhessen zur Gründung einer solchen Pfarrerbruderschaft, die sich zwar nicht dem „Pfarrernotbund“ anschloss, aber eng mit ihm zusam‐ menarbeitete. Ihr Name lautete „Bruderbund Kurhessischer Pfarrer“. In der Satzung vom Jahresende 1933 hieß es unter anderem: „Unser Bund will dem Aufbau und Leben der Kirche Christi dienen und stellt sich darum selbst unter die Lebensgesetze der Kirche. Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selbst Kirche sind.“ Unter an anderer Stel‐ le: Der Bruderbund „setzt sich ein für die volle Freiheit der Kirche in allen Fragen ihrer Verkündigung, ihrer Verfassung und inneren Le‐ bensgestaltung ... Der Bruderbund ist entschlossen zur Abwehr aller Formen und Mittel des kirchenpolitischen Kampfes, die dem Wesen der Kirche widersprechen.“4 Das waren deutliche Worte – wenn auch die Frontstellung zunächst nach innen gerichtet blieb zur Abwehr der „Deutschen Christen“. Es dauerte nicht lange, bis sich in allen kurhessischen Kirchenkreisen ent‐ sprechende Gruppierungen bildeten. „Landesführer“ des Bruderbun‐ des wurde Karl Bernhard Ritter aus Marburg, sein Stellvertreter der Marburger Theologieprofessor Hans von Soden. Als Schriftführer be‐ stimmte man Bernhard Heppe. Diese drei bildeten den „engsten Bru‐ derrat“.
4
In: Kirche im Widerspruch, 43f (s. Anm. 1).
III. Die Arbeit an den Rundbriefen
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III. Die Arbeit an den Rundbriefen Gleich von Beginn an hat sich Bernhard Heppe also an vorderster Stelle betätigt. Was sich mit dem Amt des „Schriftführers“ – einer eher harm‐ los klingenden Bezeichnung – verband, mag in jenen Tagen noch nicht abzusehen gewesen sein. Im Lauf der kommenden Jahre wuchs diese Arbeit zu einer Beschäftigung aus, die weit über ein Ehrenamt hinaus‐ ging. Die Mitglieder des Bruderbundes mussten mit den notwendigen und aktuellen Informationen versorgt werden, denn laufend änderte sich die Situation und traten neue Bedrohungen hinzu – in Kurhessen oder anderen Reichsgebieten. Deshalb wurde es erforderlich, Rundbrie‐ fe zu verfassen, in denen das Wichtigste nachzulesen war. Meist be‐ gannen diese Briefe mit einer Rubrik, die überschrieben war: „Zur La‐ ge“. Solche Rundbriefe gab es in allen Pfarrerbruderschaften. Sie über‐ zogen das Reichsgebiet mit einem Netz von Informationen. Heppe erhielt die Rundbriefe aus anderen Gebieten, so dass er das Wesent‐ lichste daraus zur Information der kurhessischen Pfarrer übernehmen konnte, wie denn auch andere Rundbriefe auf die Nachrichten Heppes aus Hessen zurückgriffen. Der Wert eines solchen Rundbriefnetzes ist nicht zu unterschätzen: Zeitungen waren zensiert, der Hörfunk stand dem Reichspropagandaminister zu Gebote. Um so höheres Gewicht besaßen diese unzensierten Briefe. Als sich 1934 im August in Kurhessen‐Waldeck die „Bekennende Kirche“ bildete, die nicht nur Pfarrer, sondern auch Gemeindeglieder aufnahm, wurden die Rundbriefe beibehalten. Sie berichteten von staatlichen Willkürmaßnahmen, besonders auch von Verhaftungen oder Amtsenthebungen in Kurhessen sowie im ganzen Reichsgebiet. Woche für Woche stellte Bernhard Heppe diese Briefe zusammen. 1934 war er auch noch Geschäftsführer der „Bekennenden Kirche Kurhes‐ sen‐Waldeck“ geworden. Natürlich ließen sich all diese organisatorischen Tätigkeiten nicht allein vom Pfarrhaus in Cölbe aus erledigen. Es brauchte eine zentrale Anlaufstelle, die bald im Marburger „Philippshaus“ gefunden wurde. Hier wurden die Rundbriefe geschrieben, von hier aus versandt, hier fand man sich auch zu den notwendigen Besprechungen und Zusam‐ menkünften ein. Da ohnehin die Leitung des Bruderbundes und der Bekennenden Kirche in Marburg oder in der Nähe von Marburg wohn‐ te, erwies sich diese Regelung als höchst zweckmäßig. Marburg wurde zum Zentrum des Widerstands gegen jegliche staatliche Einflussnahme auf die Kirche. Das verdeutlichen auch die Namen derer, die sich neben Ritter, von Soden und Heppe besonders hervortaten: Kreispfarrer Gott‐
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fried Schmidmann, Pfarrer Wilhelm Maurer in Michelbach, Pfarrer Hans Schimmelpfeng an der Elisabethkirche. Pfarrer Hellmut Eisen‐ berg in Betziesdorf, ein Schwager Heppes, war Kassenwart des Bru‐ derbundes; die Kasse der Bekennenden Kirche führte Pfarrer Hermann Stauber in Cappel. Natürlich wurde die Last für Heppe mehr als einmal schwer. Im‐ mer war er ja der unmittelbare Ansprechpartner. „Wir bitten, wo Zwi‐ schenfälle sich ereignen, sie sofort an Amtsbruder Heppe zu melden“, heißt es beispielsweise in einem Rundschreiben vom 30. Juni 1934 auf der Höhe der Auseinandersetzungen um die Kirchenleitung in Kassel5. Deshalb kann es nicht überraschen, wenn Bernhard Heppe zwei Mona‐ te später schrieb: „Ich bitte um Euer aller Geduld, was meine persönli‐ che Kraft anlangt, da ich neben meinen beiden Vorortgemeinden noch das Kirchspiel Schönstadt mit drei Gemeinden als Spezialvikar versor‐ gen muss und Leiter des Evangelischen Jugendwerkes bin. Die Fülle der Briefe und Eure lebendige Mitarbeit ist mir eine ganz große Freude, nur werde ich nicht alle einzeln beantworten können, es sei denn solche mit wichtigen Anfragen. Eure Anregungen werden aber alle sorgfältig erwogen und verarbeitet, des seid gewiß und laßt immer enger um uns schlagen das Band der Fürbitte für einander.“6 Dass inzwischen auch seine Familie immer größer wurde, sei nicht nur am Rande erwähnt. Ein solches Pensum zu erledigen, ging wohl nur mit starker Disziplin und dem Gefühl, von anderen getragen zu sein. Der Versand der Rundbriefe war keineswegs unbedenklich. Leicht konnte die Sendung im Postamt abgefangen werden. An seinen Freund, den Kasseler Rechtsanwalt Paul Blesse, schrieb Heppe im Ja‐ nuar 1935: „Du glaubst nicht, mit welcher Mühe und immer neuer Sorgfalt wir alle Mittel und Wege versucht haben, der Kontrolle zu entgehen. Du hättest nur einmal dabeisein sollen, wie hier gearbeitet wird, bis wir abends durch die verschiedenen Austräger die Post an verschiedenen Stellen abwerfen lassen ... Es bleibt die Schwierigkeit, daß sämtliche Postämter allerschärfste Kontrolle üben und von jeder Drucksache ..., die in mehr als 20 Exemplaren eingeworfen wird, ein Belegexemplar zurückbehalten. Eine Maßnahme, gegen die eine Be‐ schwerde fruchtlos ist.“7 Redaktion und Distribution dieser Nachrich‐ ten brauchten also durchaus subversives Geschick.
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Ebd., 82. Ebd., 127. Ebd., 216.
IV. Theologische Motive
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Dennoch wusste der Staat von ihnen. Ende 1935 kam es zu einem offiziellen Verbot der Rundbriefe durch die Reichspressekammer, ge‐ gen das zwar protestiert wurde – aber erfolglos8. Heppe ließ sich dadurch nicht entmutigen. War ihm auch die Mög‐ lichkeit genommen, in recht regelmäßiger Folge die Informationen für die Bekennende Kirche zu versenden, so ergriff er in den Folgejahren immer wieder die Gelegenheit, Rundschreiben an die Pfarrer der Be‐ kennenden Kirche in Kurhessen‐Waldeck zu verfassen, die über die aktuellen Entwicklungen unterrichteten. Allerdings änderte das nichts daran: Das staatliche Verbot hatte der umfassenden und planvollen Unterrichtung der kurhessischen BK‐Pfarrer einen wirksamen Riegel vorgeschoben.
IV. Theologische Motive Die bisherigen Ausführungen zeigen Bernhard Heppe in erster Linie als einen Organisator der Bekennenden Kirche. Das war er gewiss. Aber er war nicht nur dies! Niemals wollte er – wie viele andere BK‐ Mitglieder auch – seinen Widerstand gegen die staatliche Kirchenpoli‐ tik und gegen Reichsbischof Müller als prinzipiellen Widerstand gegen den nationalsozialistischen Staat gedeutet wissen. Unter diesem Blick‐ winkel war die Bekennende Kirche keine politische Widerstandsbewe‐ gung. Ihr ging es auch jetzt – und jetzt erst recht – um die Selbständig‐ keit und das Eigenrecht der Kirche. Wenn man so will, war der „Kirchenkampf“ vor allem in seinen Anfangsjahren eine nach innen gerichtete Auseinandersetzung um das angemessene Verständnis der Kirche und die Freiheit der Verkündigung des Evangeliums. Im ersten Heft der Schriftenreihe des Bekennenden Kirche in Hes‐ sen, das 1935 erschien, nahm Bernhard Heppe die Gelegenheit, seine Gedanken zur Situation der Kirche darzulegen. Sie standen unter der Überschrift: „Die große Stunde der Kirche“. Zwei Zitate daraus machen deutlich, wie für Heppe der Kampf um die Kirche aussah: „Der Anti‐ christ“, schreibt er einleitend, „stand und steht zu allen Zeiten mitten im Raum der Kirche. Ihn zu entlarven war die Aufgabe der wahren Zeugen Christi. Und das alles kehrt heute wieder. Gewiß mit anderen Fronten, in anderen Formen, aber mit der gleichen Hintergründigkeit: hier Wort und Glaube, dort Irrlehre und Aberglaube. Wo aber in der Kirche die letzten Fronten sich gegeneinander immer deutlicher ver‐ schieben, wo in der Kirche um Christus und die reine Lehre gekämpft 8
Vgl. ebd., 547‐554.
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wird mit Einsatz von Leib und Leben, Gut und Ehre, da ist die große Stunde für die Kirche Jesu Christi gekommen, denn da ist Gottes Stun‐ de mit ihr angebrochen.“9 Am Schluss seiner Ausführungen fasst er in aller Deutlichkeit den Ernst der Lage der Kirche in folgenden Worten zusammen: „Es ist eine große Stunde für unsere liebe evangelische Kirche angebrochen, wenn sie nur recht erkennt, wozu Gott sie jetzt aufruft. Sie muß sich zunächst neu über ihr eigenes Wesen und ihre diesem Wesen entsprechende Gestalt klar werden, sodann ihrem Herrn gehorchen und ihrer Zeit das ungekürzte Evangelium bringen und vorleben. Sie ist nicht Kirche in der Verborgenheit, sondern Kirche im offenen Kampf.“10 Ob allerdings die Kirchengemeinden in der Lage seien, diese Situa‐ tion zu erkennen und sich dementsprechend um die Verkündigung des reinen Evangeliums zu scharen, darüber war sich Heppe im Zweifel. Natürlich hatte sich in den Gemeinden und ihren Gliedern längst ein Gedankengut breitgemacht, das vom Nationalsozialismus bestimmt war. Manchmal kam es, wie Heppe in den Rundbriefen zu berichten wusste, zu Solidarisierungen der Gemeinden mit gemaßregelten Pfar‐ rern, manchmal aber standen sich BK‐Pfarrer und Kirchenvorstände unversöhnlich gegenüber. Deswegen trat Heppe vehement für die Neugestaltung der „Kirchenzucht“ ein. Eine „klare Lehrzucht“ diene dazu, die Gemeinden „vor Verwirrung zu bewahren“11 – ein Gedanke, den er übrigens 1941 in einer längeren geschichtlichen Abhandlung er‐ neut zu Papier brachte. „Einer Kirche“, schrieb er dort, „die ihr Zucht‐ amt nicht wahrnimmt, fehlt es am Erweis des Geistes und der Kraft, was wiederum zusammenhängt mit dem schwindenden Bewußtsein der lebendigen Gegenwart Christi in ihrer Mitte ... Wo die Kirche nicht mehr wagt, im Namen ihres Herrn das Gerichtswort zu sprechen über öffentliche Verstöße gegen Gottes Gebot, ist auch ihr Trost im Namen des gleichen Herrn schwach und kraftlos geworden.“12 Ob Heppe da auch bereits das vielfache Versagen der Kirche angesichts des national‐ sozialistischen Unrechts vor Augen hatte? Ich vermag es nicht zu beur‐ teilen.
9
BERNHARD HEPPE, Die große Stunde der Kirche, Kassel 1935, 7f (Schriftenreihe der Bekennenden Kirche in Hessen, H. 1). 10 Ebd., 23f. 11 Ebd., 20. 12 BERNHARD HEPPE, Kirchenzucht, in: Aus Theologie und Kirche. Beiträge kurhessi‐ scher Pfarrer als Festgabe zum 60. Geburtstag von Professor D. Hans Freiherr von Soden, München 1941, 20‐72, hier 51.
V. Das Ende des Lebensweges
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V. Das Ende des Lebensweges Mit Ausbruch des 2. Weltkrieges wurde Heppe erneut zum Kriegs‐ dienst eingezogen – zunächst als Fürsorgeoffizier, dann als Truppenof‐ fizier. Sein 20jähriges Dienstjubiläum als Pfarrer von Cölbe beginn er fernab im Schützengraben. Aber er nahm diesen Tag, den 1. Juni 1944, zum Anlass, einen Brief an den Kirchenvorstand zu schreiben: „Meine verehrten, lieben Herren vom Kirchenvorstand! Ihr Männer, lieben Brüder in Christo Jesu, unserem Herrn! Am 1. Juni 1924 wurde ich durch den damaligen Generalsuperintendenten D. Dettmering aus Kassel in unserem lieben kleinen alten Cölber Gotteshaus eingeführt und mir Eure Gemeinde als Eurem Hirten an das Herz und auf das Gewissen gelegt ... Ohne daß mir der damalige Kirchenvorstand so treu und einsatzbereit zur Seite stand, auch entgegen starken Strömungen in der Gemeinde, die der Kirche entgegenstanden, wäre der äußere und innere Aufbau unserer Gemeinde nicht so weit gekommen.“ Und dann gegen Ende: „Gern möchte ich diese Zeilen Ihnen allen vom alten und neuen Kirchenvorstand zukommen lassen. Meine Frau, die sich Ihnen allen und Ihren lieben Familien in gleicher Weise tief verbunden weiß, wird dies Schreiben in Umlauf setzen, so daß es am 1. Juni, so Gott will, von Ihnen als ein herzlicher Gruß von mir gelesen werden kann ... Mö‐ ge er [sc. Gott] auch meine Schritte in nicht allzu ferner Zeit wieder zu Euch und in die Mitte meiner geliebten Gemeinde zurücklenken.“13 Dieser Wunsch sollte sich nicht erfüllen. Nach dem Zusammen‐ bruch geriet Heppe zunächst in englische, dann in jugoslawische Ge‐ fangenschaft. Während dieser Zeit führte er ein kleines Tagebuch14, das erst kurz vor seinem Tod abbricht und das ihn hin‐ und hergerissen zeigt in seinem Hoffen und Bangen angesichts eines Weges, der immer tiefer nach Jugoslawien hineinführt. Anrührend und von schonungslo‐ ser Ehrlichkeit ist die Eintragung in dieses Oktavheft am 3. Juni 1945, nur wenige Monate vor seinem Tod. Da schrieb er: „Aber wir haben als Kirche nicht unsere Pflicht getan – nicht in der Judenfrage – nicht in der Euthanasie – nicht in der Rechtsbarkeit und anderen Kapitalfragen. Alles endete in Vergötzung des Volkes, gedankenlos als Maske, dahin‐ ter eine satanisch planvolle konsequente partei‐egoistische Terro‐ ri[si]erung des Einzelmenschen. – Herr, laß mich doch noch einmal am Aufbau Deiner Kirche mitarbeiten mit geläuterter Seele.“
13 Abgedr. bei HANS SLENCZKA, Bernhard Heppe, in: Lebensbilder aus der Bekennen‐ den Kirche, hg. v. WILHELM NIEMÖLLER, Bielefeld 1949, 37‐44, hier 38‐40. 14 In Familienbesitz.
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Bernhard Heppe (1897–1945)
Am 20. September 1945 starb Bernhard Heppe, von einer quälen‐ den Diphtherie heimgesucht, im Kriegsgefangenenlager Vršac in Jugo‐ slawien. Was bleibt? Es ist die Begegnung mit einem Pfarrer, dem es in al‐ lem, was er tat und dachte, um die Kirche Jesu Christi ging, der es wag‐ te, mutig die Dinge beim Namen zu nennen, und Belastungen nicht auswich, der aber auch kritisch gegenüber sich selbst blieb. Ein Zeuge des Evangeliums in dunkler Zeit war er. Er sollte nicht in Vergessenheit geraten!
„Die Stunde der Entscheidung ist da“ Bekennende Kirche und Schule im Nationalsozialismus1 I. „Zustände wie in der Nazi‐Zeit“ So lautete der Titel eines Artikels, der am 6. April 2005 in der „Süd‐ deutschen Zeitung“ erschien. Er befasste sich mit dem Plan des Berliner SPD/PDS‐Senats, ein für alle Schüler verbindliches Pflichtfach „Werte‐ kunde“ einzuführen. Die Überschrift, die die Redaktion gewählt hatte, zitierte eine Äußerung des Berliner Kardinals Georg Sterzinsky – starke Worte in einer höchst konfliktträchtigen Situation! Wolfgang Huber, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin‐Brandenburg‐schlesische Oberlausitz, hieb in die gleiche Kerbe. Am 22. März 2005 äußerte er in einem Begleitschreiben zu einem Aufruf der Evangelischen Kirche, des Erzbistums und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin die Befürchtung, der Religionsunterricht solle „ein für alle mal aus der Schule verbannt werden“. Mit einem staatlichen Werteunterricht, der keinen Platz für Alternativen lasse, werde die „Religionsfreiheit in der Schule, die sich in der Wahlfreiheit von Lehrangeboten widerspiegelt, […] abgeschafft. Der Staat selbst“, so Huber, „etabliert sich als Wertevermittler.“ Das aber sei – und auf diesen Begründungszusammenhang kommt es mir an – „mit Blick auf die deutsche Vergangenheit ein gefährliches und verantwortungsloses Vorgehen.“ Die im Berliner Schulstreit von katholischer und evangelischer Seite geäußerten historischen Vergleiche haben mich zu der schlichten Frage veranlasst: Wie waren eigentlich in schulpolitischer Hinsicht die Zu‐ stände in der „Nazi‐Zeit“? Und in welcher Weise hat die Bekennende Kirche darauf reagiert? Mich jedenfalls hat die Überschrift in der „Süd‐ deutschen Zeitung“ auf die Spur einer kritischen Rekonstruktion ge‐ setzt. Was die Forschungslage angeht, fristet die Fragestellung, wie sich die Konfrontation zwischen der Religionspolitik, genauer: der darin 1
Antrittsvorlesung als Honorarprofessor am Fachbereich Erziehungswissenschaft / Humanwissenschaften der Universität Kassel, 1. Februar 2006.
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implizierten Schulpolitik des totalitären NS‐Staates und dem von der Kirche vertretenen religiösen Erziehungsanspruch gestaltete, in der Kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung eher noch ein Schattendasein2. Obgleich die Jahre 1933 bis 1945 von staatlichen Erziehungsidealen bestimmt waren, bei denen man meinen müsste, sie stünden in deutli‐ chem Widerspruch zum christlichen Glauben, geriet allerdings auch damals die Schule erst allmählich als Konfliktfeld in den Blick. Sie war nicht der primäre Ort der Auseinandersetzung, in die sich Teile der evangelischen Kirche nach der nationalsozialistischen „Machtergrei‐ fung“ gestellt sahen. Aber sie entwickelte sich zunehmend dazu! Das lohnt eine gründlichere Analyse.
II. Die rechtliche Ausgangslage in der Weimarer Republik Man könnte mutmaßen, die Nationalsozialisten hätten 1933 nach ihrer Machtübernahme alle Bereiche des öffentlichen Lebens unverzüglich nach ihren eigenen ideologischen Vorstellungen umgestaltet und Relik‐ te aus der republikanischen Ära von Weimar möglichst umgehend außer Kraft gesetzt. Im Blick auf die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung zur Schule war dies eigentümlicherweise nicht der Fall. Sie behielten einstweilen ihre Gültigkeit. Hans‐Ulrich Wehler cha‐ rakterisiert dies lapidar so: „Der Nationalsozialismus trat ohne ein kla‐ res Schulkonzept in seine Regimephase ein. Daher war er, wie sich sogleich herausstellte, jahrelang weder willens noch praktisch in der Lage, das Schulsystem nach seinen Plänen auf neue Ziele hin umzu‐ bauen.“3 Dies nötigt zu einer kurzen Rückschau in die Jahre 1918/19, in de‐ nen die maßgeblichen Weichenstellungen in der Schulfrage vorge‐ nommen worden waren. Stand bei den Beratungen zur neuen Verfassung die Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht weitgehend außer Frage (Art. 144 WRV), so mussten die Überlegungen hinsichtlich des bestimmenden Schultypus 2
3
Vgl. insgesamt aber J. S. CONWAY, Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1933‐ 1945. Ihre Ziele, Widersprüche und Fehlschläge, 1969, 194‐211, sowie F. KRAFT, Reli‐ gionsdidaktik zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Versuche zur Bestimmung von Aufgaben, Zielen und Inhalten des evangelischen Religionsunterrichts, dargestellt an den Richtlinienentwürfen zwischen 1933 und 1939, 1996 (Arbeiten zur Prakti‐ schen Theologie 8). H.‐U. WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914‐1949, 22003, 818.
II. Die rechtliche Ausgangslage in der Weimarer Republik
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unweigerlich auf einen Kompromiss hinauslaufen4: Zu gegensätzlich waren die Vorstellungen etwa der Sozialdemokratie und des Zentrums! Während Letzteres sich im Volksschulbereich für die Beibehaltung der öffentlichen Bekenntnisschulen aussprach, die in der überwiegenden Anzahl der deutschen Länder den Regelfall darstellten5, plädierte die SPD für die so genannte „weltliche“, d. h. bekenntnisfreie Schule ohne konfessionellen Religionsunterricht. Man einigte sich 1919 schließlich auf die abgestufte Formulierung des Art. 146 WRV, wonach einerseits das „mittlere und höhere Schulwesen“ auf einer „für alle gemeinsamen Grundschule“ aufbaue und „für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule […] seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaft‐ liche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis maß‐ gebend“ seien. Andererseits aber seien „innerhalb der Gemeinden […] auf Antrag von Erziehungsberechtigten Volksschulen ihres Bekenntnis‐ ses oder ihrer Weltanschauung einzurichten“. Das Nähere bestimme „die Landesgesetzgebung nach den Grundsätzen eines Reichsgeset‐ zes“. Bis dahin bleibe es „bei der bestehenden Rechtslage“ (Art. 174 WRV). Das in Aussicht genommene Reichsschulgesetz kam jedoch trotz vielfältiger Bemühungen angesichts der unterschiedlichen politischen Konstellationen6 während der Weimarer Zeit nie zustande. Das hatte zur Folge: Faktisch wurde die Situation, wie sie am Ende des Kaiser‐ reichs bestand, zementiert. Auch in der Weimarer Republik beherrsch‐ ten in hohem Maß die schon bestehenden Konfessionsschulen das Feld: Von den 1931 existierenden 53.022 Volksschulen waren nur 8.292 Ge‐ meinschaftsschulen (= 15,64 %), dagegen gab es 29.150 evangelische und 15.580 katholische Schulen7. Im Primarschulbereich setzte sich also die konfessionelle Spaltung im Bildungsgeschehen fort. Ähnlich verhielt es sich mit dem Religionsunterricht: Trotz der in Art. 137 I WRV erklärten Trennung von Staat und Kirche und späterer Versuche in mehreren Ländern, den Religionsunterricht abzuschaffen8, 4
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Vgl. dazu J. THIERFELDER, Religionspolitik in der Weimarer Republik, in: Religions‐ politik in Deutschland. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Martin Greschat zum 65. Geburtstag, hg. von A. DOERING‐MANTEUFFEL / K. NOWAK, 1999, 195‐213. Sogenannte Simultan‐ oder Gemeinschaftsschulen bestanden im Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen im Volksstaat Hessen sowie in Nassau und den Stadtgebieten von Frankfurt und Hanau; vgl. S. MÜLLER‐ROLLI, Evangelische Schulpolitik in Deutschland 1918‐1958. Dokumente und Darstellung, unter Mitarb. v. R. ANSELM und einem Nachw. v. K. E. NIPKOW, 1999, 61. Vgl. THIERFELDER, 207‐209 (s. Anm. 4). Vgl. MÜLLER‐ROLLI, 110 (s. Anm. 4); weiteres Datenmaterial bei WEHLER, 454 (s. Anm. 3). Vgl. THIERFELDER, 210 (s. Anm. 4).
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blieb er aufgrund von Art. 149 WRV „ordentliches Lehrfach der Schu‐ len mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen“9 und war „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religi‐ onsgesellschaft“ zu erteilen. In dieser Gestalt überdauerte er die Wei‐ marer Zeit.
III. Zur nationalsozialistischen Kirchen‐ und Schulpolitik nach der so genannten „Machtergreifung“ Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wurde in weiten Kreisen der evangelischen Kirche freudig begrüßt. Mit der Weimarer Republik hatten sie trotz der komfortablen Lage, die die Verfassung den Kirchen zubilligte, nie ihren Frieden geschlossen. Aber es war nicht nur die Ermüdung über das ‚Parteiengezänk’, die den Nationalsozialismus in den evangelisch geprägten Gebieten willkom‐ men sein ließ: Eine nationalkonservative Grundfärbung, verbunden mit der theologischen Überhöhung gegebener Ordnungen wie Nation, Volk oder Rasse bildete das Einfallstor für die nationalsozialistische Ideologie und verhinderte eine nennenswerte Opposition. Viele ließen sich blenden von der notorisch gewordenen Aussage in § 24 des Par‐ teiprogramms der NSDAP aus dem Jahr 1920: „Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums“. Entsprechend war Hitlers konkrete Religionspolitik vor 1933 „im allgemeinen durch den Primat der Konfliktvermeidung gekennzeichnet“10. Diese Einstellung behielt er auch nach der Machtübernahme zu‐ nächst bei: Warum sich unnötig Gegner schaffen, wenn es genügend Claqueure gab, die sich freiwillig und ohne Zögern – wie etwa die „Deutschen Christen“ – in die innere Abhängigkeit von den neuen Machthabern begaben. In seiner Regierungserklärung vom 23. März versicherte der neue Reichskanzler den Kirchen: „Die nationale Regie‐ rung sieht in den beiden christlichen Konfessionen wichtige Faktoren der Erhaltung unseres Volkstums […]. Sie erwartet aber und hofft, daß die Arbeit an der nationalen und sittlichen Erhebung unseres Volkes, die sich die Regierung zur Aufgabe gestellt hat, umgekehrt die gleiche Würdigung erfährt […]. Die nationale Regierung wird in Schule und Erziehung den christlichen Konfessionen den ihnen zukommenden 9
Im Bonner Grundgesetz wurde diese Bestimmung bekanntlich als Art. 7 III GG in den Grundrechte‐Katalog aufgenommen. 10 WEHLER, 796 (s. Anm. 3).
III. Zur nationalsozialistischen Kirchen‐ und Schulpolitik
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Einfluß einräumen und sicherstellen.“11 Mit diesem Sedativum moch‐ ten sich die Kirchen zufriedengeben. Jedoch entpuppte sich schon in der Anfangszeit der Totalitätsanspruch des neuen Regimes. Die einset‐ zende „Gleichschaltung“ des öffentlichen Lebens und seiner Institutio‐ nen konnte auf Dauer nicht vor den Kirchen haltmachen – und ebenso wenig vor den Schulen. Freilich vollzog sich hier der Umsturz nicht durch radikale schul‐ organisatorische Veränderungen. Im Gegenteil! Es blieb „in allen Schul‐ formen noch fast bis zum Kriegsbeginn bei den überkommenen Fä‐ chern und Lehrplänen; auch die Lehrbücher aus der Zeit vor 1933 blieben erhalten“12. Die nationalsozialistische Beeinflussung des Erziehungssystems er‐ folgte vielmehr in unterschiedlichen Schritten. Sie setzte massiv bei der Lehrerschaft an: Im Zusammenhang des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 wurden mehrere tausend politisch missliebige Lehrer entlassen; bis zum Jahresende gehörten bereits 95 % der Lehrer dem Nationalso‐ zialistischen Lehrerbund an, dessen Aufgabe es war, die nationalsozia‐ listische Gesinnung in der Lehrerschaft und – über sie – in den einzel‐ nen Unterrichtsfächern zu implantieren13. Sodann erfolgte die „Gleichschaltung“ der Schulen in administrati‐ ver Hinsicht durch die Schaffung einer zentralen Schulbehörde für das gesamte Reichsgebiet, indem das Preußische Kultusministerium am 1. Mai 1934 in das „Reichs‐ und preußische Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ umgewandelt wurde. Daneben gewannen die außerunterrichtlichen Ordnungsformen des Schulalltags Bedeutung: Die rituelle Inszenierung von Feiern, Fahnen‐ appellen oder Gedenktagen diente der Indoktrination im nationalsozia‐ listischen Sinn über einen affektiv‐emotionalen Zugang. Schließlich dürfen in diesem Zusammenhang die außerschulischen Orte wie etwa HJ oder BDM nicht unterschätzt werden. In ihnen ließen sich die Erziehungsziele des Nationalsozialismus – oftmals auch in Konkurrenz zur Schule – sehr viel unmittelbarer umsetzen.
11 Zit. nach: Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Bd. I: Das Jahr 1933, bearb. v. C. NICOLAISEN, hg. v. G. KRETSCHMAR, 1971, 24 (Dokumente zur Kirchenpo‐ litik des Dritten Reiches I). Vgl. D. STOODT, Arbeitsbuch zur Geschichte des evange‐ lischen Religionsunterrichts in Deutschland, 1985, 111, D 34. 12 WEHLER, 818 (s. Anm. 3). 13 Vgl. H. W. SCHALLER, Der Nationalsozialistische Lehrerbund. Geschichte, nationale und internationale Zielsetzungen (Archiv für Geschichte von Oberfranken 82, 2002, 329‐362).
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Und diese Ziele lauteten – um es nicht aus einer Parteikundgebung, sondern aus dem Protokoll der ersten Reichstagung der „Deutschen Christen“ vom 3. April 1933 zu zitieren: „Der völkische Staat wird ein einheitliches, für alle Schularten maßgebendes, scharf umrissenes Er‐ ziehungsziel aufstellen. Die im deutschen Erbgut schlummernden Cha‐ raktereigenschaften, als das sind: Ehre, Treue, Wahrhaftigkeit, Fröm‐ migkeit, Rechts‐, Pflicht‐ und Verantwortungsbewußtsein müssen geweckt und zur Entfaltung gebracht werden. So wird die Schule im völkischen Staat vor allen Dingen eine Charakterbildungsstätte sein.“14 Angesichts dieses Bündels divergenter Einflussnahmen zu Beginn der NS‐Herrschaft konnte es von zweitrangiger Bedeutung sein, dass die schulischen Rahmenbedingungen nahtlos aus der Weimarer Repu‐ blik ins Dritte Reich überführt und die Lehrpläne inhaltlich erst sehr viel später im Geist des Regimes revidiert wurden. Obwohl die einzel‐ nen Maßnahmen inhaltlich nicht aufeinander abgestimmt waren, lässt sich gleichwohl eine deutliche Stringenz beobachten. Die „Gleichschal‐ tung“ der Schule gelang auch ohne Konzept.
IV. Wachsende Aufmerksamkeit für die Erziehungs‐ und Schulfrage in der Bekennenden Kirche Die nationalsozialistische Vereinnahmung suchte sich in gleicher Weise auf die Kirchen zu erstrecken. Deshalb war es das Ziel der von der NSDAP unterstützten Gruppierung der „Deutschen Christen“, den territorial zersplitterten Protestantismus zu einer einheitlichen Reichs‐ kirche mit einem Reichsbischof – im Sinne des Führerprinzips – an der Spitze zusammenzufassen. In der Einsicht, es handele sich hierbei um einen unzulässigen Eingriff des nationalsozialistischen Staates in die inneren Belange und damit die Freiheit und Unabhängigkeit der Kir‐ che, formierte sich seit 1934 die „Bekennende Kirche“. So entspann sich innerhalb der evangelischen Kirche selbst ein „Kirchenkampf“. Dieser bedeutete weniger einen prinzipiellen Widerstand gegen das nationalsozia‐ listische Regime, sondern im „Selbstverständnis seiner Beteiligten war der Kirchenkampf – vor allem in seinen Anfangsjahren – primär eine ekklesiologische und damit eher nach innen gerichtete Auseinanderset‐ 14 Zit. nach MÜLLER‐ROLLI, 93 (s. Anm. 5). Für die DC basierte dieses Bildungsgesche‐ hen auf vier Voraussetzungen: „1. Volksgemeinschaftsgedanke; 2. der Begriff Rasse‐ gedanke; 3. Deutschbewußtsein, Nationalstolz oder kurz Vaterland; 4. Charakterstärke in religiöser Hinsicht, also Religion“ (ebd.).
IV. Wachsende Aufmerksamkeit
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zung um das angemessene Verständnis von Kirche“15. Der offene Wi‐ derstand gegen den Versuch, eine einheitliche, gegenüber dem Staat willfährige Reichskirche zu installieren, blieb nicht erfolglos. Spätestens zu Beginn des Jahres 1935 trat das Scheitern der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik im Blick auf die Deutsche Evangelische Kirche zutage. Unter den Bedingungen dieser Auseinandersetzung um die evan‐ geliumsgemäße Gestalt der Kirche ist es nachvollziehbar, dass sich der Fokus der Bekennenden Kirche erst allmählich auf diejenigen Felder des öffentlichen Lebens hin weitete, wo es Schnittmengen zwischen Staat und Kirche gab – also besonders auf Schule und Religionsunter‐ richt. Anlass dazu bot seit 1935 die zeitweilige Förderung „völkisch‐ religiöser“ Strömungen durch das NS‐Regime. Im zeitgenössischen evangelischen Sprachgebrauch firmierten diese sämtlich unter dem Begriff „Neuheidentum“. Natürlich war damit Alfred Rosenbergs „My‐ thus des 20. Jahrhunderts“ gemeint, aber auch die „Deutsche Glau‐ bensbewegung“ des Indologieprofessors (und ehemaligen Missionars) Jakob Wilhelm Hauer: Mit der Betonung der engen Beziehung von Rasse und Glauben sollte die deutschgläubige Bewegung als „kollekti‐ ver religiöser Rahmen“16 anstelle des Christentums dienen. In dem entschlossenen Einspruch gegen diese Tendenzen wussten sich die Bekennende Kirche und die von ihr mitgetragene „Vorläufige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche“ einig. Schon die erste Verlautbarung dieser „Vorläufigen Leitung“, die am 21. Februar 1935 erschien, hielt nicht nur die neuheidnischen Bewe‐ gungen für unvereinbar mit dem Christentum, sondern appellierte in bezeichnender Weise an den Staat: „In Abwehr dieser neuen Religion wenden wir uns an unsere Obrigkeit. Sie hat sich feierlich verpflichtet, die bestehenden Bekenntnisse zu schützen. Sie hat die überwiegende Zahl unserer Schulen als christliche Bekenntnisschulen in Verwaltung genommen.“17 Signifikant ist das schulische Leitbild, das die Stellungnahmen der Bekennenden Kirche auch in späterer Zeit eindeutig bestimmt: Es ist
15 M. HEIN: Einleitung, 16 (in: Kirche im Widerspruch. Die Rundbriefe des Bruderbun‐ des Kurhessischer Pfarrer und der Bekennenden Kirche Kurhessen‐Waldeck 1933‐ 1935, hg. v. M. HEIN, 1996 [Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte 2]). 16 S. BAUMANN, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (1881‐1962), 2005, 14 (Religionswissenschaftliche Reihe 22). 17 Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1933‐1944, hg. v. J. BECKMANN, 1948, 85.
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die Konfessionsschule18 – und nicht die Gemeinschaftsschule. Sie zu garantieren, sei Aufgabe des Staates, der er nachkommen müsse. Das war ein gewagter Appell nach den Erfahrungen der beiden zurücklie‐ genden Jahre. Schärfer noch wurde wenig später das „Wort der Bekenntnissyno‐ de der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union an die Gemein‐ den“ vom 4./5. März 1935. Einleitend hieß es hier: „Wir sehen unser Volk von einer tödlichen Gefahr bedroht. Die Gefahr besteht in einer neuen Religion.“ Im Anschluss daran wurden die Grundaussagen der „völkischen“ Religion verurteilt und im Blick auf die Aufgabe der Kir‐ che ausgeführt: „Der Auftrag Jesu Christi verpflichtet die Kirche in der Verantwortung für das gegenwärtige und zukünftige Geschlecht, für eine schriftgemäße Unterweisung und Erziehung der Jugend Sorge zu tragen. Sie muß ihre auf den Namen des dreieinigen Gottes getauften Glieder vor einem Weltanschauungs‐ und Religionsunterricht bewah‐ ren, der unter Verstümmelung und Beiseiteschiebung der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes zum Glauben an den neuen My‐ thus erzieht.“19 Dreierlei ist für diese Verlautbarung charakteristisch: die Wahrnehmung der Öffentlichkeit als Adressat, die Begründung christlicher Erziehung als Ausdruck der Taufverantwortung und das Insistieren auf der ungeteilten Bibel. Mochte sich diese Argumentation vordergründig nur gegen das „Neuheidentum“ wenden, so war doch offensichtlich, dass zugleich die nationalsozialistische Ideologie und ihr Totalitätsanspruch in den Blick genommen wurden. Die Verlesung dieser Kundgebung von den Kanzeln suchte die staatliche Seite daher schonungslos – auch durch unzählige Verhaftungen von Pfarrern – zu unterbinden20. Die Situation spitzte sich zu, weil auf Länderebene Staat und Partei nun eine Politik betrieben, die von ihnen explizit als „Entkonfessionali‐ sierung“ der Schule umschrieben wurde. Das Regime legte seine ursprüngliche Zurückhaltung in der Frage der Schulformen ab und begann, im Volksschulbereich eindeutig das Modell der Gemein‐ 18 Darin unterschied sich im Übrigen die BK nicht von dem – im Zuge der neuerlichen nationalsozialistischen Kirchenpolitik berufenen – Reichskirchenausschuss, der in seiner am 18. Oktober 1935 veröffentlichten „Denkschrift zur Frage der evangeli‐ schen Schulpolitik“ ebenfalls für die Bekenntnisschule als „Idealform der Schule für die evangelische Kirche“ plädierte; MÜLLER‐ROLLI, 123‐139, hier: 123, Dok. 11 (s. Anm. 5). 19 Kirchliches Jahrbuch 1933‐1944, 86 (s. Anm. 17). 20 Vgl. dazu W. NIESEL, Kirche unter dem Wort. Der Kampf der Bekennenden Kirche der altpreußischen Union 1933‐1945, 1978, 61‐64 (Arbeiten zur Geschichte des Kir‐ chenkampfes – Ergänzungsreihe 11).
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schaftsschule zu propagieren und bestehende Bekenntnisschulen in „Deutsche Volksschulen“ umzuwandeln21. Rein formal gesehen bewegten sich die Nationalsozialisten mit die‐ sem Vorhaben auf der in Art. 146 WRV vorgegebenen Linie. Allerdings hielten sie sich nicht mehr an die in der Weimarer Reichsverfassung aufgeführten Klauseln, die ein ordnungsgemäßes gesetzgeberisches Verfahren vorsahen. Es wurde schlichtweg ins Werk zu setzen ver‐ sucht, was aus ideologischen Gründen an der Reihe zu sein schien: Ein Staat mit totalitären Anspruch konnte sich auf Dauer nicht damit zu‐ frieden geben, dass ausgerechnet auf dem Feld der schulischen Erzie‐ hung die Trennung in Konfessionen anstelle der Einigung im Sinn der so genannten „Volksgemeinschaft“ offensichtlich blieb. Von den hefti‐ gen Auseinandersetzungen um die „Entkonfessionalisierung“ war besonders das Jahr 1936 bestimmt – und damit von dem Erfordernis der Bekennenden Kirche, ein klares schulisches Leitbild zu entwerfen.
V. Entscheidungen „Trägerinnen der bekenntniskirchlichen Schulpolitik“22 waren die Syn‐ oden der Bekennenden Kirche. Das zeigte sich am deutlichsten bei der letzten reichsweiten, der 4. Bekenntnissynode der Deutschen Evangeli‐ schen Kirche in Bad Oeynhausen vom 18. bis 22. Februar 193623. Im Mittelpunkt der dortigen Beratungen stand freilich der Versuch, ge‐ genüber der staatlichen Kirchenausschuss‐Politik unter Reichskir‐ chenminister Hanns Kerrl zu einer einheitlichen Haltung und damit zur Klärung der Leitungsfrage innerhalb der Deutschen Evangelischen Kirche zu gelangen. Unter diesem Aspekt gilt „Oeynhausen“ weithin als Symbol des Scheiterns. Es kam trotz intensiver Bemühungen keine einhellige Position zustande: Manche aus der Bekennenden Kirche glaubten, um der Sache willen in den staatlich verordneten Kirchen‐ ausschüssen auf Reichs‐ oder Landeskirchenebene mitarbeiten zu sol‐ len, andere verweigerten sich diesem Ansinnen strikt und pochten weiterhin auf ein eigenständiges kirchliches Notrecht, wie es die 2. Bekenntnissynode im Oktober 1934 in Berlin‐Dahlem verabschiedet hatte. 21 Zu den diesbezüglichen Bestrebungen in Bayern und Württemberg vgl. MÜLLER‐ ROLLI, 109‐115 (s. Anm. 5). 22 A.a.O., 101. 23 Vgl. Die vierte Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Bad Oeynhausen. Texte – Dokumente – Berichte, hg. v. W. NIEMÖLLER, 1960 (Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes 7); vgl. dazu auch KRAFT, 143‐152 (s. Anm. 2).
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Angesichts dieses prinzipiellen Dilemmas hat bereits damals die Tatsache viel zu wenig Aufmerksamkeit erfahren, dass in Bad Oeyn‐ hausen eine umfangreiche Resolution zur Schulfrage einstimmig ver‐ abschiedet werden konnte24. Bei der Einbringung der Vorlage, die von der Schulkammer der „Vorläufigen Leitung“ erarbeitet worden war, betonte der damalige Professor für Religionswissenschaft in Dresden, Friedrich Delekat, die Kirche müsse sich gerade gegenüber der Lehrerschaft um Klärung be‐ mühen, „in welcher Weise in der Arbeit der Schule die Erfordernisse der politischen Erziehung der Jugend für den nationalsozialistischen Staat mit den unaufgebbaren Grundsätzen einer durch den christlichen Glauben bestimmten Erziehung vereinigt werden sollen“25. Man dürfe Lehrer in ihrer aktuellen Gewissensnot nicht allein lassen! Delekat nannte die Dinge beim Namen, um die es ging – deutlicher noch, als es die Synodalvorlage selbst tun konnte. Er sah in der Schule „zwei ver‐ schiedene, einander gänzlich entgegengesetzte Glaubenshaltungen um sie ringen“ – auf der einen Seite die Orientierung an dem, „was die höchsten politischen Instanzen als Ziel und Aufgabe ihres politischen Han‐ delns hinstellen“, auf der anderen die Ausrichtung an der „Wahrheit, die in Jesus Christus offenbart ist“. Und Delekat beschrieb an einem kon‐ kreten (und, wie ich finde, bemerkenswerten) Beispiel die Konsequen‐ zen, die aus diesem diametralen Gegensatz folgen mussten: „Niemals wird die Kirche von ihren Grundsätzen aus etwas dagegen einzuwen‐ den haben, wenn in der Schule ein Unterricht über die Verschiedenheit der menschlichen Rassen gegeben wird. Aber niemals kann die Kirche schweigend zugeben, daß in der Schule vom Erzieher ein Antisemitis‐ mus gepredigt wird, der in den Zöglingen Haß erweckt. Das wider‐ spricht den Grundlagen, die durch Jesus Christus in die Erziehung hineingelegt sind […].“26 24 Der Bericht über die Synode etwa, den der bayerische Landesbischof Hans Meiser am 29. Februar 1936 über die Bad Oeynhauser Synode an alle Pfarrer seiner Landes‐ kirche versandte, erwähnt die Erklärung zur Schulfrage eher beiläufig; vgl. Doku‐ mente des Kirchenkampfes II. Die Zeit des Reichskirchenausschusses 1935‐1937, T. 1, hg. v. K. D. SCHMIDT, 1964, 430‐435, hier 433 (Arbeiten zur Geschichte des Kirchen‐ kampfes 13). – Auch K. MEIER, der Historiograph des Kirchenkampfs, ist in seinem dreibändigen Werk (Der evangelische Kirchenkampf, Bd. 1‐3, 21984) im Zusammen‐ hang seiner Darstellung der Bad Oeynhauser Synode ausschließlich an der Leitungs‐ frage bzw. dem „Leitungsschisma“ der evangelischen Kirche interessiert (a.a.O., Bd. 2, 101. 108) und widmet dem Beschluss über die Schulfrage gerade einmal fünf Zei‐ len (a.a.O., 105). 25 NIEMÖLLER, 240 (s. Anm. 23). 26 A.a.O., 243f.
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Im Blick auf den staatlich garantierten Religionsunterricht und die Art und Weise, wie er gegenwärtig erteilt werde, könne durchaus die Frage aufkommen, ob nicht „die Kirche fortan diesen Unterricht selber übernehmen müsse“. Dem allerdings hielt Delekat entgegen, dass sie, wenn sie schon solch einen Schritt vollziehe, ihn auch in aller Konse‐ quenz gehen müsse: „Sie könnte sich dann nicht damit begnügen, daß sie lediglich für einen Ersatz des Religionsunterrichtes sorgt, sondern müßte dazu übergehen, eigene evangelische Schulen einzurichten. Dies wäre ohne einen schweren Kulturkampf mit dem Staat nicht möglich. Wir brauchen ihn nicht zu fürchten, aber wir dürfen ihn als Kirche auch nicht vom Zaun brechen.“ Einstweilen sei es angemessener, „diese Entscheidung so lan‐ ge hinauszuschieben, bis mit völliger Eindeutigkeit feststeht, daß nichts anderes übrig bleibt, dann aber diesen Schritt auch mit dem gesamten Einsatz aller kirchlichen Kräfte zu tun“27. Damit waren die Parameter des beabsichtigten Synodalbeschlusses gesetzt, der dann einstimmig verabschiedet wurde28. Es musste der Bekennenden Kirche nicht nur – mit Hinweis auf die weiterhin beste‐ hende Rechtslage – um den bloßen Erhalt der bisherigen Konfessions‐ schulen, sondern auch um deren innere Ausgestaltung im Geist des Evangeliums gehen. Dementsprechend lauteten die Forderungen gegenüber dem Staat: Erstens müsse er seinerseits „klare Richtlinien“ erlassen, „aus denen hervorgeht, in welcher Weise die politische Erziehung der Jugend für den nationalsozialistischen Staat vereinigt werden soll mit christlicher Erziehung und Unterweisung der Jugend.“ Zweitens sollten „Lehrer, die überzeugungsgemäß keine Christen sind“, angehalten werden, „um der Wahrhaftigkeit willen den Unterricht in der christlichen Reli‐ gion niederzulegen.“ Und drittens habe der Staat nachdrücklich der „Beseitigung der christlichen Schulandacht und des Schulgebets auf dem Wege der Umwandlung in weltanschauliche Feierstunden“ zu wehren. An der Erfüllung bzw. Nicht‐Erfüllung dieser Erwartungen werde sich zeigen, „ob das Bekenntnis zu Christus oder das Bekenntnis gegen Christus die deutsche Schule beherrschen soll“. Die Gemeinden wiederum wurden – ganz im Sinn Delekats – an‐ gehalten, „für das der Kirche gesetzlich gewährleistete Gut einer be‐ kenntnisgebunden christlichen Schule mit allem Nachdruck zu kämp‐ 27 A.a.O., 242. 28 A.a.O., 115‐121; ebenfalls abgedr. in: Kirchliches Jahrbuch 1933‐1944, 119‐123 (s. Anm. 17); Religionspädagogik. Texte zur evangelischen Erziehungs‐ und Bildungs‐ verantwortung seit der Reformation, Bd. 2/2: 20. Jahrhundert, hg. und eingeführt v. K. E. NIPKOW und F. SCHWEITZER, 1994, 115‐119 (Theologische Bücherei 89), und MÜLLER‐ROLLI, 146‐151 (s. Anm. 5).
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fen“. Wenn sich dann herausstelle, dass diese Bemühungen vergeblich seien, dürften Eltern „um des Gewissens willen“ die Konsequenzen nicht scheuen: Sie sollten „ihre Kinder einem solchen Religionsunter‐ richt entziehen und einer eigenen kirchlichen Unterweisung zufüh‐ ren“29. Indem sie noch einmal als Leitbild betonte, es gehe „um eine wahr‐ haft evangelische Schule unter dem Wort Gottes“, mündete die Syn‐ odalerklärung in den Satz: „Die Stunde der Entscheidung ist da.“30 Der solenne Tonfall des Beschlusses von Bad Oeynhausen täuscht rückblickend nicht darüber hinweg, dass sich die Bekennende Kirche in der Defensive befand und den zunehmenden staatlichen Übergriffen kaum Ernsthaftes entgegenzusetzen hatte. Im Grunde ging es längst nicht mehr um die Bekämpfung des „Neuheidentums“, sondern um einen tief greifenden Dissens mit dem NS‐Regime. Aber trotz des of‐ fensichtlich radikal‐ideologischen Charakters der nationalsozialisti‐ schen Herrschaft wurde man in Bad Oeynhausen nicht müde, an den Staat selbst zu appellieren, von dessen Verankerung im Christentum man ausging, und von ihm die Wiederherstellung der Konfessions‐ schulen zu fordern – und das, obwohl doch Friedrich Delekat in seinem Einbringungsvortrag auf die Erfahrungen des Kirchenkampfes ange‐ spielt und gemutmaßt hatte: „Was nicht auf dem Wege über die Vergewal‐ tigung der Kirche erreicht werden kann, das soll um so sicherer auf dem Wege über die Entchristlichung der Schule erreicht werden.“31 Bei aller Klarsicht war man auch in der Bekennenden Kirche bereit, sich über das wahre Gesicht des Nationalsozialismus täuschen zu lassen, um zu bedingten Fortschritten in der Schulfrage zu gelangen32. Das konnte auf Dauer so nicht weitergehen und änderte sich deut‐ lich im Zuge der Verschärfung der staatlichen Schulpolitik seit 1937, die nun zielstrebig auf die Einführung der Gemeinschaftsschule drang33, ohne freilich den Religionsunterricht als solchen anzutasten. Immer vernehmlicher wurden in der Bekennenden Kirche die Stim‐ men, die die ausschließliche Verantwortung von Kirche und Gemein‐ 29 30 31 32
NIEMÖLLER, 118f (s. Anm. 21). A.a.O., 120f. A.a.O., 246. Noch im Dezember 1936 betonte die Bekennende Kirche der altpreußischen Union auf ihrer 4. Synode in Breslau in einer so genannten „Weisung“ an die Gemeinden, alle Eltern müssten wissen, „daß die christliche Erziehung ihrer Kinder durch die Schule und ihren Religionsunterricht nicht gewährleistet ist“, um sie zugleich zum Kampf „für die Erneuerung der evangelischen Schule“ aufzurufen; Kirchliches Jahrbuch 1933‐1944, 156 (s. Anm. 17). 33 Vgl. CONWAY, 196‐207 (s. Anm. 2).
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den für die christliche Erziehung hervorhoben. Die ultima ratio, die Delekat angesprochen hatte, kam zunehmend in den Blick. Um nur einige Beispiele anzuführen: 1938 versuchten Martin Al‐ bertz und Bernhard Heinrich Forck in ihrem Buch „Evangelische Chris‐ tenlehre“ diesen Anspruch curricular für den Altersbereich der Acht‐ bis Zwölfjährigen zu entfalten34. Ende des gleichen Jahres rief der „deutsche Kirchentag“ der Bekennenden Kirche in Berlin alle Gemein‐ deglieder auf, „neue Wege einzuschlagen, damit überall die evangeli‐ sche Unterweisung auch da sichergestellt wird, wo sich die Lehrer‐ schaft versagt“35. In einer Erklärung der 8. Rheinischen Bekenntnis‐ synode im Sommer 1939 hieß es: „Unter den neuen Pflichten ist in unserer Lage vor allem die Neuordnung der kirchlichen Unterweisung der Jugend zu nennen. Die evangelische Schule, die durch Jahrhunder‐ te diesen Dienst mit der Kirche und weithin für die Kirche getan hat, ist nicht mehr. Der evangelische Religionsunterricht der Schule wird im‐ mer dürftiger und unzulänglicher, die weltanschauliche Auseinander‐ setzung immer schärfer.“36 Und die 9. Bekenntnissynode im Rheinland erklärte im Sommer 1940 auf dem Höhepunkt der militärischen Erfolge Hitlers: „Der Religionsunterricht der Kinder durch die Schule ist weit‐ hin beschränkt und entleert. Die Gemeinde wird mehr und mehr die christliche Unterweisung selbst übernehmen müssen.“37 An diese Fest‐ stellung schlossen sich entsprechende Gestaltungsvorschläge eines Gemeindekatechumenats an. Die Leitziele lauteten nun eindeutig „kirchliche Unterweisung“ oder „Christenlehre“. Gleichwohl gab die Bekennende Kirche die Vorstellung einer christlichen Erziehung im Kontext der staatlichen Schule nicht voll‐ ständig auf. Im Gegenteil! Ende April 1943 verabschiedeten einige ihrer Vertreter ein Memorandum mit dem Titel „Kirche und Schule. Forde‐ rungen der Kirche für die Gestaltung der christlichen Schule“38. Auch wenn diese Überlegungen keine unmittelbaren Folgewirkungen mehr für die Auseinandersetzungen während der Zeit des Nationalsozialis‐ mus hatten – sie konnten erst im Oktober 1945 in der Schweiz publi‐ ziert werden –, zeigen sie dennoch, wie sich die Bekennende Kirche perspektivisch eine Lösung der Schulfrage vorstellte: Der Text unter‐ 34 Evangelische Christenlehre. Ein Altersstufen‐Lehrplan, dargeboten v. M. ALBERTZ und B. H. FORCK, o.J. [1938]; vgl. R. HOENEN, Vom Religionsunterricht zur kirchli‐ chen Unterweisung. Otto Güldenberg und die Anfänge der ostdeutschen Katechetik, 2003, 80f, aber auch die kritischen Bemerkungen bei STOODT, 158f (s. Anm. 11). 35 Kirchliches Jahrbuch 1933‐1944, 274 (s. Anm. 17). 36 A.a.O., 340. 37 A.a.O., 371. 38 Zit. nach MÜLLER‐ROLLI, 288‐294 (s. Anm. 5).
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schied zwischen der „allgemeinen christlichen Staatsschule“ als Regel‐ schule (je nach den örtlichen Gegebenheiten konfessionell einheitlich oder konfessionell gemischt) und der „Schule mit der Bibel“ – verstan‐ den als „christliche Schule im strengen Sinne des Wortes, also eine Schule, die danach strebt, daß wirklich Christus herrscht in ihrem gan‐ zen Geist und Leben.“ Dass hier die 2. These der Barmer Theologischen Erklärung im Hintergrund steht, ist offensichtlich. Träger solcher Schu‐ len sollten „Kirchen und Kirchengemeinden, kirchliche Verbände, El‐ ternvereinigungen und Private“39 sein. Am besten seien sie als Inter‐ natsschulen zu organisieren. Beides kam durch diese Zweigliederung zur Geltung: einerseits der weiterhin erhobene Anspruch auf die Bekenntnisschule, zumindest aber auf die Gemeinschaftsschule auf christlicher Grundlage, anderer‐ seits die Realisierung jener Vorstellungen, die spätestens seit 1936 eine eigenständige kirchliche Unterweisung – bis hin zur eigenständigen Schule – ins Auge gefasst hatten. Die Unterschiede beider Schultypen traten auch in der Stellung des Religionsunterrichts zutage, der nun durchgängig „Christenlehre“ hieß: In der „allgemeinen christlichen Staatsschule“ sollte sie ordentliches Lehrfach sein und konfessionell getrennt für alle Schüler unterrichtet werden, die sich nicht ausdrück‐ lich davon abmeldeten. In der „Schule mit der Bibel“ habe demgegen‐ über die Christenlehre verpflichtendes „Kernfach und beseelender Mittelpunkt des gesamten Unterrichtes“ zu sein, von dem her und auf den hin die übrigen Unterrichtsfächer strukturiert würden. Als nach Kriegsende die Bruderräte der Bekennenden Kirche vom 21.‐24. August 1945 in Frankfurt zusammenkamen, um die eine Woche später in Treysa stattfindende „Kirchenversammlung“ (die den Beginn der späteren Evangelischen Kirche in Deutschland markiert) vorzube‐ reiten, formulierten sie – entsprechend der Denkschrift von 1943 – eine Priorität für die „evangelische Schule auf Grund von Bibel und Be‐ kenntnis, getragen von einem im Glauben an Christus geeinten Lehr‐ körper“. Sollten die Umstände dies nicht zulassen, sei „als allgemeine Schulform die christliche Simultanschule mit einem Religionsunterricht zu fordern, der gemäß dem Bekenntnis der Kirche und in deren Auf‐ trag erteilt wird“40. Dieser Option folgte die Konferenz in Treysa nicht. Die bruderrätli‐ che Präferenz für evangelische Schulen in gemeindlicher oder kirchli‐ cher Trägerschaft wurde gestrichen und das öffentliche Schulsystem als Rahmenbedingung bejaht. In der Beschlussvorlage zur „Schulfrage“, 39 A.a.O., 290. 40 A.a.O., 411.
VI. „Zustände wie in der Nazi‐Zeit“?
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die allerdings nicht verabschiedet wurde, hieß es nun: „Für die Neu‐ ordnung des Schulwesens fordern wir die christliche Volkschule. Es mag nach den jeweiligen Verhältnissen entschieden werden, ob die christliche Gemeinschaftsschule oder die Bekenntnisschule eingerichtet werden soll.“ Zugleich glaubte man als Konsens erklären zu können, „daß der Evangelische Religionsunterricht (besser sollte statt dessen gesagt werden: Christliche Unterweisung) auch innerhalb der Schule Sache der Kirche ist, die in der Verantwortung für ihre getauften Glie‐ der handelt.“41 An diesem Punkt sollten in der Folgezeit die Wege im Westen und Osten Deutschlands auseinander gehen: In Westdeutschland blieb schulorganisatorisch der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach und verstand sich während der 50er Jahre konzeptionell als „Evangelische Unterweisung“42, d. h. als Dienst der Kirche in der Schule. Demgegen‐ über zeigte sich in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR, wo es zur Einrichtung explizit „weltlicher“ Schulen und zur Entfernung des Religionsunterrichts aus dem Lehrplan kam, dass die Überlegun‐ gen der Bekennenden Kirche zu einer Christenlehre, die eigenständig in den Gemeinden zu gestalten sei, unter den Bedingungen einer er‐ neut totalitären Herrschaft sehr wohl umgesetzt werden konnten43. Insofern blieben die schulpolitischen Positionen, zu denen sich die Bekennende Kirche während der NS‐Zeit durchrang, nicht bloße Epi‐ sode, sondern prägten für Jahrzehnte das Verständnis kirchlicher Er‐ ziehung und Bildungsverantwortung im anderen deutschen Staat.
VI. „Zustände wie in der Nazi‐Zeit“? Es dürfte deutlich geworden sein: Der Blick in die Geschichte der Be‐ kennenden Kirche und die besondere Situation, in der sie auch in der Schulfrage im Gegensatz zur NS‐Diktatur stand, verbietet es trotz ge‐ wisser struktureller Analogien, vorschnell Vergleiche von den gegen‐ wärtigen Auseinandersetzungen her zur Vergangenheit zu ziehen – oder umgekehrt. Dazu waren und sind die politischen Verhältnisse zu unterschiedlich. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass es heute schulpo‐ litische Entscheidungssituationen gibt, angesichts derer die Kirche wie damals aus gutem Grund auf den geltenden und für alle verbindlichen Rechtsnormen insistiert. Wenn sie weiterhin für die Bedeutung des 41 A.a.O., 412. 42 Zum Begriff vgl. I. BALDERMANN, Art. Evangelische Unterweisung, in: Religion in Geschichte und Gegenwart4 II, 1727f. 43 Vgl. HOENEN, 66‐68 (s. Anm. 34).
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konfessionell gebundenen Religionsunterrichts innerhalb des öffentli‐ chen Schulsystems eintritt, tut sie dies nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Nutzen unserer Gesellschaft, der an der authentischen Begegnung mit der jeweiligen Religion und zugleich der methodischen Reflexion darüber gelegen sein muss. Statt zu versuchen, aus vorder‐ gründigen ideologischen Erwägungen den Religionsunterricht aus der Schule hinauszudrängen, sollte er vielmehr schulorganisatorisch ge‐ stärkt und gefördert werden. Denn Religion ist keine Privatsache, sondern eine eminent öffentli‐ che Angelegenheit! Aber das wäre ein neues Thema – und ein weites Feld.
„Großdeutschland ruft zum Dienst!“ Die evangelische Kirche und der 2. Weltkrieg1 „Großdeutschland ruft zum Dienst!“ Mit diesen Worten eröffnete Kir‐ chenrat Fritz Klingler, Reichsbundesführer der deutschen evangeli‐ schen Pfarrervereine, am 8. September – eine Woche nach Kriegsbeginn – seinen Aufruf an die deutsche Pfarrerschaft. „Es ruft jedermann“, fuhr er fort, „alt und jung, Mann und Weib – es ruft auch uns. Die ei‐ nen zum Dienst draußen im Feld, die anderen daheim als Diener des‐ sen, der gesagt hat: ‚Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und be‐ laden seid; ich will euch erquicken.‘ Laßt uns, liebe Brüder, wo wir auch stehen, diesen Dienst tun in heiliger Verantwortung als treue Haushalter über den Reichtum des göttlichen Lichts, das mit seinem getrosten Schein die müden Seelen erquickt. – Es ist Kampf. Im Kampf verstummt jeder Mißklang im eigenen Lager. Jetzt stehen wir alle in einer Reihe und tragen alle dieselbe Rüstung: ‚Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?‘ – Gott segne uns in dieser Verbundenheit des Glau‐ bens zu Dienst und Kampf für unser deutsches Volk und Vaterland!“2 Die entscheidenden Stichworte sind damit gegeben: Dienst, Kampf und Deutschland. Es war derselbe Fritz Klingler, der sieben Jahre spä‐ ter unter dem Titel „Dokumente zum Abwehrkampf der deutschen evangelischen Pfarrerschaft gegen Verfolgung und Bedrückung 1933‐ 1945“ der Öffentlichkeit „eine Art Weißbuch“ vorlegte, das den Kampf belegen sollte, „den die evangelische Pfarrerschaft, weithin stellvertre‐ tend für die evangelische Kirche, ja für das deutsche Christentum schlechthin, in den letzten 12 Jahren zu bestehen hatte“3. Manche Bele‐ ge für die fortschreitende Ausschaltung evangelischer Pfarrer aus dem öffentlichen Leben, besonders seit Kriegsbeginn, sind hier zusammen‐ getragen. Zugleich aber findet sich in dem gesamten Band keine einzi‐
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Vortrag am 24.03.1998 im Evangelischen Forum Kassel. DtPfrBl 39 (1939), 745. Dokumente zum Abwehrkampf der deutschen evangelischen Pfarrerschaft gegen Verfolgung und Bedrückung 1933‐1945. Für den Verband der deutschen evangeli‐ schen Pfarrervereine verantwortlich hg. v. seinem Vorsitzenden Kirchenrat FRITZ KLINGLER, Nürnberg 1946, 5.
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ge selbstkritische Reminiszenz, die sich auf die offiziell bekundete Hal‐ tung zum inzwischen verlorenen Weltkrieg bezöge. Die Äußerungen von 1939 scheinen schnell vergessen: Man wech‐ selt aus der Schar der Mitbeteiligten in die Reihe der Opfer. Dort hat die evangelische Kirche, nicht zuletzt gefördert durch die Politik der alliierten Besatzungsmächte, in der Folgezeit ihren Ort gehabt. Sie galt lange Zeit als Widerstandsbewegung schlechthin. Erst allmählich hat sich der Schleier gelüftet und den Blick freigegeben zu einer differen‐ zierten Wahrnehmung der Haltung der evangelischen Kirche – auch hinsichtlich des deutschen Angriffskrieges 1939.
I. Die Situation gegen Ende der dreißiger Jahre Ich kann es Ihnen und mir freilich nicht ersparen, vor der eigentlichen Entfaltung unseres Themas einige wenige Überlegungen anzustellen, die sich auf die Frage der angemessenen Zugangs‐ und Darstellungs‐ weise beziehen. Mir geht es um Differenzierung. Diese betrifft schon die Unterschiedlichkeit der Quellen, die zur Verfügung stehen: Neben Predigten und Gottesdienstformularen werde ich mich einerseits auf amtliche Verlautbarungen, andererseits auch auf eher persönliche Stel‐ lungnahmen beziehen. Die Wertigkeit dieser Texte ist also keineswegs gleichrangig, und inhaltlich gesehen liegen sie nicht auf einer Linie. Wer also eine klare Schwarz‐Weiß‐Zuordnung erwartet, wird sich ent‐ täuscht sehen. Der einleitende Bezug auf Fritz Klingler in den Jahren 1939 und 1946 sollte das verdeutlichen: auf der einen Seite das Ein‐ stimmen in wohlfeile Parolen, auf der anderen Seite das Gefühl, im gesellschaftlichen Zusammenhang des nationalsozialistischen Staates zunehmend zu den Außenseitern zu gehören. Ohne dem Ergebnis meiner Ausführungen vorzugreifen, wird man vorurteilsfrei sagen müssen: Weder zeigte sich die evangelische Kirche gegenüber der nati‐ onalsozialistischen Kriegspropaganda als auffällig resistent, noch stellte sie ein ausgesprochen kriegslüsternes Potential dar. Beide Alternativen werden der Wirklichkeit nicht gerecht. Die Voraussetzungen dafür will ich an drei Gesichtspunkten verdeutlichen: 1. Die Lage der evangelischen Kirche war 1938/39 gegenüber 1933/34 erheblich verändert. Dies hing in erster Linie damit zusammen, dass das nationalsozialistische Regime seine Macht konsolidiert hatte und nicht mehr auf Steigbügelhalter etwa aus dem kirchlichen Bereich angewiesen war. Die Zeiten, in denen man sich mit dem Bezug auf die Rede vom „positiven Christentum“ im Parteiprogramm der NSDAP zu legitimieren und eine Anhängerschaft in kirchlich geprägten Kreisen zu
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gewinnen suchte, waren vorbei. Von bestimmten Richtungen der Par‐ tei‐ und Staatsorgane konnte eine offen antikirchliche Stimmung mit dem Ziel forciert werden, die Kirche zu marginalisieren und das Chris‐ tentum zu desavouieren. Besonders tat sich hier das „Schwarze Korps“, die Zeitschrift der SS‐Verbände, hervor, auf das ich bisweilen zu spre‐ chen kommen werde. In einem seiner Artikel, in denen es sich mit ei‐ nem seiner Lieblingsgegner, der Bekennenden Kirche, auseinandersetz‐ te, forderte es 1937 beispielsweise unverblümt: „Sind wir gezwungen, eine Vereinigung von Landesverrätern, Staatsfeinden, entlarvten Kon‐ junkturrittern, Idioten, sittlichen Verkommenen und Huren als ‚religiö‐ se Richtung‘ anzuerkennen? Dürfen wir eine ‚kirchliche Obrigkeit‘ gewähren lassen, deren Beauftragte sich offen zu einem solchen An‐ hang bekennen? Zahlen wir Kirchensteuern, damit Verbrecher und Huren einen organisatorischen Unterschlupf finden?“4 Mit Kriegsbeginn nahm diese Polemik noch zu. Der christliche Glaube schien geradezu diametral einer Haltung entgegenzustehen, die das „Schwarze Korps“ im November 1939 folgendermaßen kennzeich‐ nete: „Im Angesicht des Todes verblassen alle Phrasen, ein Ausweichen gibt es hier nicht, sondern nur ein Bekennen, und dieses Bekenntnis kennt angesichts seiner letzten Bedeutung keine Heuchelei. Deshalb ist der Krieg auch die große Probe auf die Echtheit der Gefühle. Was wir Weltanschauung nennen, woran wir glauben, das muß sich jetzt im tiefsten auch bewähren ... Wir gehen dieses Mal mit anderen Voraus‐ setzungen in den Krieg, die große Einheit des Fühlens und Denkens ist durch Adolf Hitler beglückende Wirklichkeit geworden. Hunderte und Tausende von kleinen Beispielen lassen sich täglich zum Beweis anfüh‐ ren. Die Weltanschauung des Nationalsozialismus wurde zum Kraft‐ quell der deutschen Nation, sie wird sich deshalb erst recht im Kriege bewähren.“5 In diesen Zusammenhang gehört auch das geheime Rundschreiben des Reichsleiters der NSDAP, Martin Bormann, aus dem Jahr 1942 an die Gauleitungen, das sich mit dem „Verhältnis von Nationalsozialis‐ mus und Christentum“ befasst. Es beginnt mit der lapidaren Feststel‐ lung: „Nationalsozialismus und christliche Auffassungen sind unver‐ einbar“, und fasst gegen Ende ohne Hehl zusammen: „Ebenso wie die schädlichen Einflüsse der Astrologen, Wahrsager und sonstigen Schwindler ausgeschaltet und durch den Staat unterdrückt werden, muß auch die Einflußmöglichkeit der Kirche restlos beseitigt werden. 4
5
Zit. nach: Kirche im Krieg. Der deutsche Protestantismus am Beginn des II. Welt‐ kriegs, hg. v. GÜNTER BRAKELMANN, München 1979, 161 (Studienbücher zur kirchli‐ chen Zeitgeschichte 1/2). Ebd., 161f.
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Erst wenn dieses geschehen ist, hat die Staatsführung den vollen Ein‐ fluß auf die einzelnen Volksgenossen. Erst dann sind Volk und Reich für alle Zukunft in ihrem Bestande gesichert.“6 2. Die massiven Repressionen gegen die eigene Bevölkerung hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Festnahmen politisch Unliebsamer, Aus‐ grenzung und Ächtung jüdischer Mitmenschen, Einschüchterung An‐ dersdenkender gehörten seit 1933 zum Tagesgeschäft. Der ‚Kirchen‐ kampf‘, der sich als ein Abwehrkampf gegen alle Versuche staatlicher Einflussnahme in der evangelischen Kirche verstanden und organisiert hatte, drohte in der zweiten Hälfte der 30er Jahre unter dem fortdau‐ ernden Druck von Staat und Partei zu ermüden. Zahlreiche Gemeinden und Pfarrer wählten den Weg der inneren Emigration, um unter den gegebenen Verhältnissen überleben zu können. Dieser Weg sollte nicht vorschnell als ‚Anpassung‘ kritisiert werden. Er wurde oftmals aus dem Gefühl von innerer Distanz und Ohnmacht zugleich beschritten. Und wer sich die Reihe der Maßnahmen vergegenwärtigt, mit denen man – im Stil einer Nadelstich‐Politik – gegen Kirche, Gemeinden und Pfarrerschaft zu Felde zog7, wird ahnen, wie schwer es war, dem äuße‐ ren und inneren Druck standzuhalten. 3. Dem System gesetzloser Übergriffe korrespondierte das System totaler Überwachung. Kirchliches Schriftenwesen, das nicht nur für den internen Dienstgebrauch bestimmt war, unterlag den Bestimmungen der Reichsschrifttumskammer und damit der Zensur. Deshalb ist es nicht zu erwarten, in der offiziell genehmigten Literatur im Umfeld des Kriegsbeginns besonders kritische Töne zu vernehmen. Eine Durch‐ sicht der Quellen muss unter den genannten Bedingungen sogar eher enttäuschen. Es gab eben keine freie, sondern nur die gelenkte Presse! 1941 erfolgte schließlich das Verbot des evangelischen Schrifttums. Joachim Beckmann hat dies rückblickend nicht nur als Schaden für die evangelische Kirche beurteilt: „Indem sie hier zum Schweigen verur‐ teilt wurde, blieben ihr viele Worte erspart, deren sie sich vielleicht sonst schämen müßte.“8 Auch im Blick auf die Predigten, die ja ein eigenes Publikationsme‐ dium der Kirche darstellen, herrschte Zensur – sei es, dass der Prediger um der Vermeidung von Konflikten willen sich selbst bereits bestimm‐ te Äußerungen auf der Kanzel verbot, sei es, dass Predigten durch An‐ gehörige der Sicherheitsdienste mitgeschrieben und weitergeleitet wurden. Unter dieser Vorgabe wollen die Texte gehört werden, die ich 6 7 8
Zit. nach: Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1933‐ 1944, hg. v. JOACHIM BECKMANN, Gütersloh 1948, 470f. Beispiele bei KLINGLER, Dokumente, 21‐23 (s. Anm. 3). Kirchliches Jahrbuch 1933‐1944, 351 (s. Anm. 6).
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Ihnen vorstelle. Ich möchte möglichst oft und in längeren Abschnitten den ‚Originalton‘ zu Wort kommen lassen, ohne die Passagen deshalb bei ihrem Wortlaut allein – unter Absehung ihrer Entstehungsbedin‐ gungen – behaften zu können. Aus diesem methodischen Dilemma zeigt sich mir kein Ausweg.
II. Der Kriegsausbruch im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen Der 2. Weltkrieg begann nicht erst am 1. September 1939. Er hatte seine politische, militärische und ideologische Vorgeschichte. Darauf kann ich im Einzelnen nicht eingehen. Ein Datum freilich ist auch hinsicht‐ lich der Bestimmung des Verhältnisses der evangelischen Kirche zu einem möglichen Krieg bedeutsam und deshalb erwähnenswert: 1938 begann im April der außenpolitische Konflikt zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakei um die sudetendeutschen Gebiete, die 1919 dem neugebildeten tschechoslowakischen Staat zugeteilt worden waren. Hitlers Interesse zielte von Anfang an auf die Einverleibung des Sudetenlands – eine Forderung, der sich die CSR widersetzte. Die Ge‐ fahr eines Krieges zog drohend auf. Am 29. September 1938 kam es bekanntlich zur Ratifizierung des Münchner Abkommens, das eine Eingliederung der Sudeten ins Deutsche Reich, zugleich aber auch eine Garantieerklärung der beiden Großmächte Frankreich und Großbritan‐ nien für die Tschechoslowakei vorsah. Der Friede schien dadurch einstweilen gesichert zu sein. Unter dem Eindruck eines möglicherweise unmittelbar bevorste‐ henden Krieges entschloss sich die Vorläufige Leitung der Bekennen‐ den Kirche, für den 30. September 1938 in ihren Gemeinden einen Ge‐ betsgottesdienst anzuordnen. Da allerdings tags zuvor das Münchner Abkommen geschlossen wurde, wurden entsprechende Gottesdienste im Reich nicht durchgeführt. Gleichwohl ist ein Blick auf das vorge‐ schlagene Formular des Gottesdienstes mehr als aufschlussreich. Das Eingangsgebet, als Sündenbekenntnis gehalten, lautet: „Lasset uns Gott unsere Sünde bekennen und im Glauben an unseren Herrn Jesum Christum um Vergebung bitten: Herr, unser Gott, wir armen Sünder bekennen vor Dir die Sünde unserer Kirche, ihrer Leitung, ihrer Gemeinden und ihrer Hirten. Durch Lieblosigkeit haben wir den Lauf deines Wortes oft gehindert, durch Menschenfurcht Dein Wort oft un‐ glaubwürdig gemacht. Wir haben ein falsches Evangelium nur zu sehr geduldet. Wir haben nicht so gelebt, daß die Leute unsere guten Werke sehen und Dich preisen konnten. Wir bekennen vor Dir die Sünden
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unseres Volkes. Dein Name ist in ihm verlästert, Dein Wort bekämpft, Deine Wahrheit unterdrückt worden. Öffentlich und im Geheimen ist viel Unrecht geschehen. Eltern und Herren wurden verachtet, das Le‐ ben verletzt und zerstört, die Ehe gebrochen, das Eigentum geraubt und die Ehre des Nächsten angetastet. Herr, unser Gott, wir klagen vor Dir diese unsere Sünden und unseres Volkes Sünden. Vergib uns und verschone uns mit Deinen Strafen. Amen.“9 Kein Wort der nationalen Töne ist dieses Gebet, sondern zuerst und zuletzt Selbstanklage! In einer Zeit, da es angeblich um Deutschlands Größe geht, richtet es den Blick auf Gottes Größe und bittet um sein Erbarmen. Die weiteren Texte des Gottesdienstformulars scheuen sich nicht, Gott als den Herrn „über Krieg und Frieden“ anzurufen und den Krieg als Strafe zu deuten. Offen werden die Folgen eines möglichen Krieges für Soldaten, für deren Familien, für Deutschland benannt – und es werden auch jene nicht vergessen, gegen die sich dieser Krieg richtet: „Wir gedenken der Menschen, deren Land der Krieg bedroht und beten für sie alle zu Gott.“10 Wie gesagt: Dieser Gebetsgottesdienst wurde in den Bekenntnis‐ gemeinden nicht durchgeführt. Aber kaum, dass das „Schwarze Korps“ den vorgeschlagenen Wortlaut in Händen hatte, folgte eine scharfe Attacke gegen die Bekennende Kirche, der man offenkundige Staatsfeindlichkeit unterstellte. Doch auch innerhalb der evangelischen Kirche kam es zu sehr kritischen Gegenstimmen, weshalb sich die Vor‐ läufige Leitung der BK zu einer Klarstellung veranlasst sah: „Deutsch‐ land war vom Kriege bedroht. In allen Reden der für unser Vaterland verantwortlichen Männer trat uns eine so ernste Beurteilung der Lage entgegen, dass es kaum noch möglich schien, dass nicht der 1. Oktober 1938 kriegerische Verwicklungen für uns und die Welt bringen müßte. Es war unsere Pflicht, vor dem entscheidenden Tag die Gemeinden zur inneren Sammlung im Gebet aufzurufen ... Wir können nicht ver‐ schweigen, wie sehr es uns bedrückt, dass so viele Pfarrer in jenen kri‐ tischen Tagen es unterlassen haben, die Gemeinde zum öffentlichen Gebet zu rufen ... Wir dürfen nicht ablassen, auch fernerhin um die Gabe des irdischen Friedens zu bitten, und dass er [= Gott] Recht und Gerechtigkeit unter den Völkern walten lasse.“11 Ein vergleichbares Gottesdienstformular gab es am 1. September 1939 oder für die folgenden Tage nicht! Die erste offizielle Verlautba‐ rung, im „Gesetzblatt der Deutschen Evangelischen Kirche“ veröffent‐ licht, datierte vom 2. September und war unterzeichnet vom Leiter der 9 Zit. nach: Ebd., 263. 10 Ebd., 264. 11 Ebd., 266 (28.10.1938).
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Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei sowie von den Mitgliedern des zwei Tage zuvor gebildeten „Geistlichen Vertrauensrats der Deut‐ schen Evangelischen Kirche“. Sie hatte folgenden Wortlaut: „Aufruf der Deutschen Evangeli‐ schen Kirche. Seit dem gestrigen Tage steht unser deutsches Volk im Kampf für das Land seiner Väter, damit deutsches Blut zu deutschem Blute heimkehren darf. Die deutsche evangelische Kirche stand immer in treuer Verbundenheit zum Schicksal des deutschen Volkes. Zu den Waffen aus Stahl hat sie unüberwindliche Kräfte aus dem Worte Gottes gereicht: die Zuversicht des Glaubens, dass unser Volk und jeder ein‐ zelne in Gottes Hand steht, und die Kraft des Gebetes, die uns in guten und bösen Tagen stark macht. So vereinigen wir uns auch in dieser Stunde mit unserem Volk in der Fürbitte für Führer und Reich, für die gesamte Wehrmacht und alle, die in der Heimat ihren Dienst für das Vaterland tun. Gott helfe uns, dass wir treu erfunden werden, und schenke uns einen Frieden der Gerechtigkeit.“12 Diesem Aufruf schloss sich ein Wort „An die Gemeinden der Deut‐ schen Evangelischen Kirche“ sowie der Text eines Fürbittengebets an, aus dessen Schlussteil einige Sätze zitiert werden sollen: „Herr, Du willst, dass die Völker in Gerechtigkeit und Freiheit leben nach den ewigen Gesetzen, in die Du alles menschliche Leben eingefügt hast. Segne Du unseren Kampf für die Ehre, für die Freiheit, für den Lebens‐ raum des deutschen Volkes und sein Brot. – Segne Du unsere Wehr‐ macht auf dem Lande, zu Wasser und in der Luft. Segne allen Einsatz und alle Arbeit im deutschen Land, segne und schütze Du unseren Führer, wie Du ihn bisher bewahrt und gesegnet hast, und laß es ihm gelingen, dass er uns einen wahrhaftigen und gerechten Frieden ge‐ winne, uns und den Völkern Europas zum Segen und Dir zur Ehre.“13 Das klingt anders als jenes Sündenbekenntnis, das die Bekennende Kirche ein Jahr zuvor zum Ausdruck gebracht hatte: Kein Wort von Schuld und Versagen, ebenso nicht von den zu erwartenden bitteren Folgen eines Krieges für beide Seiten, sondern die Darstellung einer unerschütterlichen Selbstgewissheit, auch als Kirche im Dienst einer gerechten Sache zu stehen. Der Staat hatte um diese religiöse Legitima‐ tion des Krieges keineswegs gebeten. Er bekam sie unaufgefordert und gratis. Der 1. September 1939 war ein Freitag. Es konnte nicht ausbleiben, dass am darauf folgenden Sonntag zum Kriegsbeginn und damit auch zur Frage des Krieges allgemein gepredigt wurde. Soweit uns die Texte 12 Gesetzblatt der DEK 1939, 99. 13 Ebd., 101.
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dieser Predigten überliefert sind, wird man sagen können, dass die Gottesdienste „in der Regel keine religiös‐patriotischen Feierstunden gewesen“ sind, „in denen das kämpfende Volk sich des Segens des geschichts‐ und schlachtenlenkenden Gottes vergewissert hätte“14. Als Beispiel aus dem allernächsten Umfeld möchte ich die Predigt von Pfarrer Erich Stange heranziehen, die dieser in der Kasseler Garnison‐ kirche über das Bibelwort „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“15 hielt. Zu Beginn seiner Auslegung suchte sich Stange darüber Rechen‐ schaft zu geben, welches die Aufgabe der Predigt in dieser besonderen geschichtlichen Situation sei. „Es kann sich nicht darum handeln“, führte er aus, „hier unter der Maske der Religion politische Erörterun‐ gen anzustellen. Die Predigt ist etwas ganz anderes als der Leitartikel einer Tageszeitung. Aber hier kann ebensowenig gepredigt werden, als ob nichts ringsum geschähe, oder als ginge die Gemeinde des Herrn die Not des Vaterlandes nichts an.“ Was aber dann? Man könnte die Aufgabe des Gottesdienstes und der Predigt, „wenn man in der Spra‐ che dieser Stunde reden will, eine Art Mobilmachung der Gemeinde nennen“ (S. 261). Dies aber nun nicht missverstanden im Sinn einer – die militärischen Aktionen begleitenden – inneren Mobilmachung durch die Kirche, sondern gedeutet als „Mobilisierung unseres christli‐ chen Glaubens“ (S. 262). Der Aufruf „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ bedinge dreierlei: zunächst „eine befreiende Klarheit“ (S. 262), worum es letztlich geht; sodann „eine scharfe Prüfung“ (S. 263), ob die christliche Gemeinde solch einen Glauben habe, der sich in allem auf Gott allein verlässt, woraus schließlich als drittes ein „wundervoller kost‐ barer Trost“ (S. 264) erwachse: „Glaubt ihr, so bleibt ihr.“ Stange sprach sich dafür aus, diese Verheißung mitten in die be‐ sondere Situation hinein zu übertragen: „Etwas von der Hoffnung, dass Gott auch die äußere Existenz eines Volkes, in dessen Mitte geglaubt und gebetet wird, wunderbar schirmen könne, soll man uns Christen nicht verwehren. Ja, wir sollten in solchem kindlichen Gebet mit ganzer Treue unseren Dienst am Vaterlande tun. Nur, dass wir darüber die Gedanken und Pläne Gottes nicht verkürzen! Wo er unserem Glauben seine Verheißungen schenkt, da geht es nicht nach dem Maß unserer Wünsche.“ Also keine vorschnelle Vermischung oder gar Identifikation von nationalen Machtinteresse und Willen Gottes. Hier war Stange nicht nur zurückhaltend, sondern überaus kritisch. Entscheidend sei die ehrliche Frage nach dem Glauben. Und nur der Glaube habe die Zusage, dass er bleibt. „Was ist das also“, fragte Stange stellvertretend 14 Kirche im Krieg, 245 (s. Anm. 4). 15 Zit. nach: Ebd., 261‐265.
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für seine Gemeinde, „was uns hier gesagt wird und was wir mitneh‐ men wollen als entscheidenden Trost aus diesem ersten Kriegsgottes‐ dienst? Indem ich es noch einmal zusammenzufassen versuche, schlie‐ ße ich das Schicksal des Einzelnen wie das Schicksal unseres Volkes wie das der Kirche Christi in eines zusammen: Da gibt es allerdings ein Letztes, das bleibet und in das die Barmherzigkeit Gottes unser Leben und unsere Geschichte mit hineinzieht: Das ist die Liebe Gottes, die der Glaube ergreift. Das ist die Hand, die uns nicht losläßt, wenn wir sie nicht zurückstoßen. Das ist das unzerstörbare Reich Gottes, das mitten durch alle Geschichte der Menschen hindurchgeht.“ (S. 264) Eine Predigt ist das nur von vielen, die am 3. September 1939 gehal‐ ten wurden. Gewiss. Aber in ihrer Konzentration auf den Glauben und damit auf Gott zeigt sie sich – für die damaligen Hörerinnen und Hörer vielleicht unerwartet – nachdenklich. Sie erliegt nicht der nahen Versu‐ chung, den Beginn des Krieges zu überhöhen und in einen vorgebli‐ chen Geschichtszusammenhang einzuzeichnen, an dessen Ende das siegreiche Deutschland stehe. 1939 waren die ersten evangelischen Kriegspredigten – soweit sie schriftlich überliefert sind und gemessen an der nationalistisch‐völkischen Propaganda – in ihrem Selbstan‐ spruch bescheiden und ernst zugleich! Freilich blieb die Versuchung groß, und es gibt stets auch Zeugnis‐ se dafür, in welch erschreckender Weise man ihr erlag. Dafür mag nach dem Ende des Polenfeldzugs die „Kanzelabkündigung zum Erntedank‐ fest 1939“ stehen, die erneut vom Leiter der Kirchenkanzlei und vom Geistlichen Vertrauensrat der DEK unterzeichnet war. Es heißt darin nach einem kurzen Blick auf den eigentlichen Anlass, das Erntedank‐ fest: „Aber der Gott, der die Geschicke der Völker lenkt, hat unser deutsches Volk in diesem Jahr noch mit einer anderen, nicht weniger reichen Ernte gesegnet. Der Kampf auf den polnischen Schlachtfeldern ist, wie unsere Heeresberichte in diesen Tagen mit Stolz feststellen konnten, beendet; unsere deutschen Brüder und Schwestern in Polen sind von allen Schrecken und Bedrängnissen Leibes und der Seele er‐ löst, die sie lange Jahre hindurch und besonders in den letzten Monaten ertragen mußten. Wie könnten wir Gott dafür genugsam danken! ... Und mit dem Dank gegen Gott verbinden wir den Dank gegen alle, die in wenigen Wochen eine solche gewaltige Wende herausgeführt haben: gegen den Führer und seine Generale, gegen unsere tapferen Soldaten auf dem Lande, zu Wasser und in der Luft, die freudig ihr Leben für das Vaterland eingesetzt haben. – Wir loben Dich droben, Du Lenker der Schlachten, und flehen, mögst stehen uns fernerhin bei.“16 16 Gesetzblatt der DEK 1939, 109.
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Mit zunehmender Dauer des Krieges nahmen die offiziellen Kund‐ gebungen seitens der evangelischen Kirche ab. Umso stärker traten die unmittelbar spürbaren Kriegsfolgen und deren Regelungen in den Vordergrund. 1940 beschäftigten sich die Kirchenbehörden etwa mit der Durchführung erster kriegsbedingter Sparmaßnahmen17 ebenso wie mit der Erfassung und angeordneten Ablieferung aller Bronzeglo‐ cken im Rahmen des Vierjahresplanes18 oder dem Erlass der NSDAP (!) für den Luftschutz in Kirchen19. Erste Anzeigen von gefallenen Pfar‐ rern, Theologiestudenten oder Pfarrerssöhnen finden sich auf den Ti‐ telseiten der kirchlichen Amtsblätter, eingeleitet durch die Überschrift: „Für Führer, Volk und Vaterland starben den Soldatentod.“ Die ‚All‐ täglichkeit‘ des Krieges hatte zwangsläufig Auswirkungen auf das ge‐ samte kirchliche Leben. Joachim Beckmann urteilt zurückschauend über die Veränderungen, die sich seit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs für die evangelische Kirche ergaben: „Mit dem Beginn des Krieges war ein Abflauen der akuten Verfolgung der Bekennenden Kirche festzu‐ stellen. Die Inanspruchnahme von Staat und Partei durch die Erforder‐ nisse des Krieges machten sich bemerkbar. Es war natürlich, dass sich auch so etwas wie ein innerdeutscher Burgfriede auswirkte. Aber ge‐ wichtiger als dies war die Tatsache, dass in steigendem Maße der Krieg ein Übergewicht über alle anderen Gebiete und Verhältnisse gewann, schon ehe er als totaler Krieg verkündigt wurde. Dies zeigte sich in der Evangelischen Kirche auch darin, dass immer mehr Pastoren zur deut‐ schen Wehrmacht einberufen wurden, vor allem natürlich die jüngere Generation, in welcher sich das Gros der Bekenntnispastoren befand. Damit kam zwangsläufig die bisherige Form des Kirchenkampfes mehr und mehr zum Erliegen.“20 Als 1941 der Russlandfeldzug begann, spiegelt sich in den Predig‐ ten eine spürbare Reserve und Nachdenklichkeit. Von einer Verzwe‐ ckung im Sinn der herrschenden Ideologie kann nicht die Rede sein. Auch hier soll nur ein Beispiel für viele herangezogen werden: eine Predigt, die der bekannte Marburger Professor für Neues Testament, Rudolf Bultmann, am 22. Juni, dem Tag des Einmarsches nach Russ‐ land, in der Elisabethkirche hielt. Er leitete sie mit den Worten ein: „Wir alle sind tief ergriffen und erregt von der Nachricht, die wir heute morgen hörten. Die Ereignisse haben nun eine neue Wendung genom‐ men, und wir stehen auch im Krieg mit Rußland! Mit gespaltenem 17 Vgl. Kirchliches Amtsblatt der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck (KABl.) 55 (1940), 10f. 18 Vgl. ebd., 31; Kirchliches Jahrbuch 1933‐1944, 477f (s. Anm. 6). 19 Vgl. KABl. 55 (1940), 68f. 20 Kirchliches Jahrbuch 1933‐1944, 350 (s. Anm. 6).
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Herzen werden wir das Eingangslied gesungen haben: ‚Halleluja, schöner Morgen, schöner als man denken mag! Heute fühl‘ ich keine Sorgen ...‘ Denn wenn wir uns auch Mühe geben, unsere weltlichen Sorgen hier im Gotteshause zu vergessen oder sie Gott preiszugeben, – können wir die große Sorge, die heute auf uns allen liegt, vergessen?“21 Unter dieser Voraussetzung bemühte sich Bultmann, den Bibeltext – es war das Gleichnis von der Einladung zum großen Abendmahl (Lk 14,16‐24) – aus sich selbst heraus in seinem Anspruch verständlich zu machen. Also keine Auslegung der besonderen Situation auf den Pre‐ digttext hin, sondern allein Auslegung des Predigttextes, so dass die Situation gar nicht eigens entfaltet werden muss! Strenge Textgemäß‐ heit sollte die Predigt davor bewahren, zur bloßen ‚Zeitpredigt‘ zu verkommen. Bultmann konnte denn auch mit den Worten schließen: „Wir haben nicht ausdrücklich von dem Schicksal gesprochen, in dem wir in dieser Zeit stehen, und dessen unheimliche Größe uns gerade heute wieder erschreckend zum Bewußtsein kommt. Ist es notwendig, davon jetzt noch ausdrücklich zu reden? Wer verstanden hat, was die Forderung der Bereitschaft bedeutet, zu der uns unser Gleichnis mahnt, der wird auch wissen, was diese Forderung gerade heute bedeutet. Wohl wer‐ den wir alle auch ohne unser Gleichnis wissen, dass wir für das Kom‐ mende bereit sein müssen durch Tat und Opfer, in Ruhe und Tapfer‐ keit. Unser Gleichnis mahnt uns darüber hinaus, bereit zu sein für das, was Gott uns durch das Kommende sagen will. Es lehrt uns, den festen Boden zu suchen, auf dem wir allein echte Ruhe und Tapferkeit finden können; auf dem wir die innere Freiheit gewinnen von allem, was uns die irdische Zukunft bringen kann: Gutes und Böses, Siege und Opfer, – die innere Freiheit, die wir gewinnen, wenn wir bereit sind für Gottes Zukunft und Ihm stille halten.“22
III. Evangelische Kriegstheologie? Nach allem Bisherigen kann man sagen: Eine explizite evangelische Kriegstheologie stellte in den Jahren seit 1939 eher die Ausnahme dar und beschränkte sich auf die dem deutsch‐christlichen Gedankengut nahe stehenden Kreise. Dies unterschied die Situation grundlegend von der des Kriegsbeginns 1914. Damals hatte die evangelische Kirche in Deutschland fast unisono in die nationale Euphorie eingestimmt und 21 RUDOLF BULTMANN, Marburger Predigten, Tübingen 21968, 126f. 22 Ebd., 136.
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die religiöse Begleitmusik dazu geliefert. Jetzt war dies erwiesenerma‐ ßen anders. Freilich stand bei allem zögernden Abwägen und aller Ernsthaftig‐ keit im Bemühen um das angemessene Eingehen auf die gegebene Si‐ tuation die Möglichkeit, Konflikte mit den Mitteln eines Krieges auszu‐ tragen, außer Frage. Es waren nur wenige, die sich grundsätzlich ablehnend zum Krieg äußerten. Der weitaus überwiegende Teil der evangelischen Pfarrerschaft wusste den Krieg in das eigene theologi‐ sche System zu integrieren. Dies geschah meist mit Hilfe der Tradition der Zwei‐Reiche‐Lehre, nach der Gott die Welt auf zweifache Weise regiert: durch das geistliche Reich Christi und das weltliche Reich des Staates. Beides dürfe nicht voneinander getrennt, aber auch nicht mit‐ einander vermischt werden. Eindrücklich und paradigmatisch zugleich für die beherrschende Denkweise führte diese Unterscheidung eine anonym veröffentlichte Stellungnahme der BK durch, die kurz nach Kriegsbeginn unter dem Titel „Theologisch‐ethische Besinnung“ er‐ schien23. Die Zwei‐Reiche‐Lehre ermöglichte es dem Autor, den Staat in sei‐ nem relativen Eigenrecht wahrzunehmen: Seine Aufgabe sei es nicht, den Menschen zu erlösen (dies komme allein dem Reich Christi zu!), sondern die Sünde im Verhältnis der Menschen untereinander einzu‐ dämmen. Dazu bediene sich der Staat der „Androhung und Ausübung von Gewalt“: „Rechter Gebrauch solcher Gewalt liegt dann vor, wenn ihre Anwendung das Zusammenleben der ihr unterworfenen Men‐ schen ermöglicht und erhält. Dieser rechte Gebrauch schließt als ultima ratio die Tötung lebendiger Menschen ein. Staatsgewalt ist Schwertge‐ walt.“ (S. 352) Freilich seien die Inhaber der Staatsgewalt nie von der Frage nach dem rechten Gebrauch der Gewalt entbunden. Was in die‐ sem Sinne allgemein gelte, lasse sich auch auf den Krieg übertragen: „So wie die Staatsgewalt im Interesse der Erhaltung des Lebens ihrer Untertanen zur ultima ratio der Hinrichtung greifen kann, so kann sie auch im gleichen Interesse zur ultima ratio eines Krieges greifen. Der Krieg ist die Exekution, die eine Staatsgewalt zur Erhaltung und Siche‐ rung des Lebens ihrer Untertanen einer anderen Macht gegenüber vor‐ nimmt, von der die Bedrohung der Existenz des eigenen Volkes aus‐ geht.“ (S. 354) Sofern also eine reale Bedrohung des eigenen Volkes durch ein anderes bestehe, sei der Krieg legitim. Dann aber stelle sich folgerichtig die Frage, wann eine entspre‐ chende Bedrohung vorliege. „Ließe sich“, führte der Text aus, „eindeu‐ tig erkennen, dass ein Krieg nicht zur Sicherung und Erhaltung des 23 Zit. nach: Kirchliches Jahrbuch 1933‐1944, 351‐356 (s. Anm. 6).
III. Evangelische Kriegstheologie?
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Lebens der Nation gegenüber einer tatsächlichen Bedrohung dieses Lebens geführt wird, dann wäre dieser Krieg kein gerechter Krieg und kein rechter Gebrauch der dem Staate verliehenen Schwertgewalt. Praktisch dürfte eine solche Feststellung in unserem Weltzeitalter kaum möglich sein.“ (S. 355) Denn natürlich berufe sich jede Nation aus Selbstinteresse auf die Notwendigkeit, das Leben des eigenen Volkes zu erhalten. Wo liegen dann aber die besondere Aufgabe und Verantwortung der Kirche? Darin, „dass sie in den Zeiten des Krieges tut, was sie kann, um den gesunden Lebenswillen und den gesunden Machtwillen der Völker in solche Bahnen zu lenken, dass jedes Volk seinen ihm zu‐ kommenden Platz an der Sonne finden kann“ (S. 355f). Das klingt über‐ raschend, meint aber nichts anderes, als dass alle Beteiligten in den Stand versetzt werden, sich über das eigene Handeln ethisch Rechen‐ schaft zu geben und damit einem exzessiven, unbefragten Chauvinis‐ mus zu wehren. Für den einzelnen Soldaten bedeutet das: Nicht er ist es, der Krieg führt, sondern der Staat. Der Staat jedoch bedient sich seiner Bürger. „Geht dieser Befehl an mich, dadurch dass ich zu den Waffen gerufen werde, so habe ich diesem Befehl zu gehorchen, vorausgesetzt, dass nicht der unter modernen Verhältnissen kaum denkbare Ausnahmefall gegeben ist, dass ich mein abweichendes privates Urteil über die Be‐ rechtigung des Krieges vollkräftig unter Einschluß aller Konsequenzen dem Urteil der Staatsgewalt entgegensetzen muß.“ (S. 356) Kriegs‐ dienstverweigerung ist also nicht prinzipiell ausgeschlossen, auch wenn sie faktisch als eine unmögliche Möglichkeit betrachtet wird. Die Ausführungen münden in das Fazit ein: „Die letzte Verantwortung für jeden Schuß, den ich als Soldat im Kriege abgebe, trägt der Inhaber der Staatsgewalt, der den Befehl zur Kriegsführung gegeben hat.“ (S. 356) Mit diesen Ausführungen war gesagt, was unter damaligen Bedin‐ gungen und mit einem Höchstmaß an ethischer Reflexion zu sagen war. Doch gleichzeitig – so eine Beurteilung aus jüngerer Zeit – wird gerade an dieser Schrift „deutlich wie selten, dass das verwendete theo‐ logische Instrumentarium die politisch‐moralische Wirklichkeit des nationalsozialistischen Staates und die Programmatik seiner Weltan‐ schauung nicht mehr treffen konnte. Der Krieg, der hier begonnen worden war, war ... der bewußt und zielstrebig vorbereitete Vernich‐ tungskrieg gegen andere Rassen und Völker. Geführt wurde dieser Staat schon lange nicht mehr von Verantwortungseliten älterer Prä‐ gung, sondern von Parteisoldaten im Auftrag selbstgewählter Ziele. Diese ‚neue Wirklichkeit‘ hat der Verfasser nicht konsequent gesehen – geahnt scheint er sie zu haben – und reflektieren können. Verfehlung
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der politischen Wirklichkeit aber macht die beste theologische Ethik wirkungslos und stumpf. Ob wir von Irrtum oder Tragik reden sollen – wir lassen es offen.“24
IV. Kirchliche Praxis im Krieg Verlautbarungen der Kirche sind immer auch Ausdruck ihres Han‐ delns. Aber das Handeln reicht weiter. Drei Gesichtspunkte sollen dies noch konkretisieren: 1. Die evangelische Kirche war im Kriegsgeschehen unmittelbar präsent durch ihre Feldgeistlichen. Die nationalsozialistischen Macht‐ haber hatten sich trotz aller Aversionen gegen die Kirche nicht ent‐ schließen können, die Militärseelsorge aufzuheben. Hermann Göring, seit 1935 Oberbefehlshaber der Luftwaffe, gehörte lange Zeit zu den Förderern der Militärseelsorge. Wie er war auch ein großer Teil der Wehrmachtsoffiziere davon überzeugt, „dass die christliche Religion ein notwendiges Mittel zur Erziehung der Soldaten und zur Stärkung der Kampfkraft war“25. Entsprechend hieß es etwa in einem Befehl des Generaloberst von Rundstedt vom 3. September 1939: „Pflicht jeden Truppenkommandeurs und höheren Truppenführers ist es, den Dienst der Feldseelsorge als Mittel zur Aufrechterhaltung und Steigerung der inneren Kampfkraft der Truppe zu fördern und die Feldseelsorge ... zu unterstützen.“26 Ähnlich äußerte sich der Flotten‐Kommodore Fried‐ rich Bonte 1940 vor der Schlacht um Narvik gegenüber dem Marine‐ Dekan: „Ich möchte gern, dass Sie auch den Männern meiner Zerstörer etwas geben, das sie mitnehmen können auf unsere weiten Fahrten. Wir brauchen alle Kräfte zum Sieg für uns und die kommende Zeit ... Eins können Sie mir glauben, ohne Kraft aus Gott kommen wir nicht zum Ziel. Die brauchen wir.“27 Für die evangelische Militärseelsorge ergab sich damit eine gewagte Gradwanderung: einerseits den Erwar‐ tungen zu entsprechen, die oft unverhohlen auf eine Instrumentalisie‐ rung der christlichen Verkündigung zum Zweck der Wehrertüchtigung und Kampfbereitschaft abzielten, andererseits unter den Bedingungen 24 Kirche im Krieg, 322 (s. Anm. 4). 25 JENS MÜLLER‐KENT, Militärseelsorge im Spannungsfeld zwischen kirchlichem Auf‐ trag und militärischer Einbindung. Analyse und Bewertung von Strukturen und Ak‐ tivitäten der evangelischen Militärseelsorge unter Berücksichtigung sich wandelnder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, Hamburg 1990, 21 (Hamburger Theologi‐ sche Studien 1). 26 Zit. nach: Ebd., 23. 27 Zit. nach: Ebd., 23.
IV. Kirchliche Praxis im Krieg
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von Krieg, Leid und innerer Anfechtung unmittelbare Seelsorge zu leisten. Der Gefahr, sich – eingebunden in die Struktur von Befehl und Gehorsam – soldatischen Wertvorstellungen anzupassen und die Kriegsführung unbesehen zu bejahen, erlagen nicht wenige Feldgeistli‐ che. Gleichwohl ist angesichts „des zur Verfügung stehenden Materials ... kein pauschales Urteil über die Tätigkeit evangelischer Militärpfarrer vor Ort möglich“28. 2. Die Gemeinden und Pfarrer zuhause waren bestrebt, mit den eingezogenen Soldaten an der Front, soweit es irgend ging, Kontakt zu halten. Gleich zu Beginn des Krieges veröffentlichte die Kirchenleitung in Kurhessen‐Waldeck eine Übersicht „Vom Schriftentisch in der Kriegszeit“29, in der Gebetbücher, Büchlein mit Bibelworten oder sons‐ tige Schriften verzeichnet waren, die sich mit der Frage des Krieges beschäftigten. Die Titel mochten teilweise recht martialisch klingen: „Ein gute Wehr und Waffen“, „Mit Gott“, „Waffen des Wortes“, „Drum gehet tapfer dran“, „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt“ oder „Helm ab zum Gebet“. Dass gleichwohl der Ver‐ sand aus staatlicher Sicht nicht unumstritten war, belegt ein Verbot, das bereits am 18. Oktober 1939 durch den Reichsverteidigungskommissar für die Wehrkreise VI und XIII herausging: „Aus Gründen der Reichs‐ verteidigung – Spionageabwehr, Ueberbeanspruchung der Feldpost, Verhütung von Mißbräuchen – verbiete ich die karteimäßige Erfassung von Feldpostanschriften sowie Anschriften von Flüchtlingen durch Geistliche, die organisierte Versorgung mit Druckschriften aller Art durch Geistliche beider Konfessionen und andere Personen. Bei den in Frage stehenden Geistlichen und kirchlichen Stellen sind strenge Kon‐ trollen durchzuführen und sämtliche bisher angefallenen Unterlagen vorbezeichneter Art zu beschlagnahmen.“30 Es mag sich bei diesem Verbot um eine Ausnahme gehandelt haben. Doch auch das „Schwarze Korps“ kommt bereits im November 1939 auf den Versand dieses geist‐ lichen Schrifttums zu sprechen und beschreibt in höhnischer Weise die Aufnahme eines der genannten Hefte auf einem Minensuchboot31: „Unter den aufgerufenen Matrosen, die liebe Worte und Gaben aus der Heimat bekommen, ist auch einer, der nur ein kleines, dünnes Büchlein in Händen hält: ‚Drum gehet tapfer dran!‘ heißt es ... Auf die Innenseite aber hat der Absender eine Widmung geschrieben. ‚Sieh‘ an!‘ sagt der Matrose, das hätte er nicht erwartet, denn ein fleißiger Kirchgänger ist er nicht gerade gewesen. Dann aber blättert er in dem Büchlein; Kame‐ 28 29 30 31
Ebd., 33. KABl. 54 (1939), 95 (07.10.1939). Zit nach.: Dokumente zum Abwehrkampf, 36 (s. Anm. 3). Zit. nach: Kirche im Krieg, 162‐164 (s. Anm. 4).
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raden, die seinen erstaunten Ausruf gehört haben, blicken ihm über die Schulter, und die Augen gehen ihnen über, denn das Büchlein enthält manch seltsame Botschaft unter vielerlei Sprüchen und Zitaten.“ Und dann werden einzelne Textabschnitte durchgemustert – etwa wie folgt: „Die ‚Privilegierte Württembergische Bibelanstalt‘, die das Büchlein eigens ‚für Soldaten‘ herstellt, scheint eine sehr finstere Meinung von den Eigenschaften des deutschen Soldaten zu haben, denn unter der Überschrift ‚15. Wie steht’s nun bei uns?‘ heißt es: ‚Aus dem Herzen kommen arge Gedanken: Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsch Zeugnis, Lästerung (Matthäus 15,19).“ (S. 162) Dies habe die Matrosen veranlasst, an den Absender des Büchleins einen Brief zu verfassen, den das „Schwarze Korps“ geradezu genüsslich wiedergibt: „Im Auf‐ trage meiner Kameraden vom Matrosendeck des Minensuchbootes ‚M.‘, besonders desjenigen, an den beiliegende, mehr als seltsame Trostsendung gerichtet war, bitte ich Sie, Ihren Entschluß dahingehend geltend zu machen, dass wir in Zukunft von solchen ‚Glücksunter‐ pfänden‘ verschont bleiben.“ Und dann schließt sich so etwas wie ein Bekenntnis an: „Wir wissen, gegen wen unsere Fahrten gehen, wir wis‐ sen, wofür wir kämpfen. Wir wissen aber auch, daß wir ausgerechnet für Juda und Konsorten nicht einen Finger krümmen werden. Umge‐ kehrt wird es allerdings wohl recht gründlich geschehen ... Wenn wir einen Trost überhaupt brauchen, dann finden wir ihn in der Feldpost aus der Heimat und in unseren eigenen Herzen. Wir an der Front ha‐ ben jedenfalls keine Lust, uns ‚Ideale‘ unterschieben zu lassen, die uns zutiefst beleidigen und die nur den lächerlichen und aussichtslosen Zweck verfolgen, unsere Kampfziele zu verbiegen.“ (S. 163) Auch dies ist ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte geistlicher Worte! 3. Fritz Klingler hatte vom Dienst der Kirche im Feld und in der Heimat gesprochen. Schnell war dafür der Begriff „Heimatfront“ ge‐ funden. Je länger der Krieg dauerte, umso mehr bedeutete dies für die Pfarrer, die nicht rekrutiert worden waren, eine ungeheure Zunahme sowohl der Arbeitsbelastung als auch der inneren Bedrängnisse ange‐ sichts der offensichtlichen Aussichtslosigkeit des Krieges. „Geistliche Worte“ mussten sich zunehmend auf die Situation im Reich selbst be‐ ziehen – etwa im Jahr 1943 angesichts der Zerstörung deutscher Städte durch alliierte Fliegerangriffe. Durchhalte‐Parolen waren diesen Kund‐ gebungen völlig fremd. Im Vordergrund stand nun eindeutig der Ge‐ danke des Gerichtes Gottes und die Hoffnung auf einen neuen Anfang. Mit solchen „Geistlichen Worten“ war staatlicherseits nichts mehr an‐ zufangen. Im März 1945 hieß es schließlich in einem Wort „An unsere
V. Nachbemerkung
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Gemeinden und Geistlichen“32: „Schwer lastet Gottes Hand heute auf uns. Aber damit wird doch zugleich schon der Weg zur Rettung und Not‐Wende beschritten, wenn wir in den Nöten und Anfechtungen dieser Tage Gottes Heimsuchung erkennen ... Erst wo wir uns unter die gewaltige Hand Gottes demütigen, kehren wir zu den wahren Quellen unserer Kraft heim. Hatten wir in den Tagen des Glückes nicht allzu‐ sehr Gottes vergessen? Aber noch ist es nicht zu spät, um umzukehren und Buße zu tun.“ Und am Schluss: „So laßt uns in diesen Stunden der Not gemeinsam unsere Augen zu den Bergen aufheben, von welchen uns Hilfe kommt (Ps 121,1). Was uns die Zukunft auch bringen mag, wir wollen es demütig und tapfer aus Gottes Hand entgegennehmen.“ Die Agende „Gebete der Kirche im Kriege“33, die in 1. Auflage ei‐ nen Monat vor Kriegsbeginn erschienen war und schnell eine 2. Aufla‐ ge erlebte, hatte den Kriegsausgang, wie er 1945 Wirklichkeit wurde, nicht vorausdenken können. Unter der Rubrik „Bei Kriegsende und Friedensschluß“ findet sich unter anderem der folgende Gebetsvor‐ schlag, der so nie gebetet werden sollte: „Allmächtiger, ewiger Gott. In tiefer Demut beten wir dich an und preisen deinen heiligen Namen. Herrliche Taten hast du vor unseren Augen getan. Du hast dich als der lebendige Gott erwiesen, und dein Segen ist dahergeflossen wie ein Strom. – Du König aller Könige und Herr aller Herren. Laß dir in Gna‐ den befohlen sein den Führer und Kanzler unseres Volkes. Verleihe ihm auch ferner eine gesegnete Regierung, dass fortan Friede bleibe und wir unser seinem Schutz und Schirm dir dienen dürfen.“34 Dies war, wenn man so will, verallgemeinerter Glaube vieler evangelischer Christen.
V. Nachbemerkung Von christlich motiviertem Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime und seinen Eroberungskrieg war in meinem Vortrag wenig die Rede. Ich denke: Mit Recht. Natürlich ist es leicht, als Kronzeugen für eine andere Haltung etwa Dietrich Bonhoeffer heranzuziehen oder auch Hermann Stöhr, den Sekretär des deutschen Zweiges des Interna‐ tionalen Versöhnungsbundes, der als Matrose aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigerte und schließlich am 21. Juni 1940 hinge‐ 32 Gesetzblatt der DEK 1945 (Ausgabe B: Altpreußen), o. S. (10.03.1945). 33 Gebete der Kirche im Kriege. Im Auftrag des Evang.‐Luth. Landeskirchenrates bearb. und hg. v. OTTO DIETZ, 2., neubearb. und erg. Aufl., München 1940. 34 Ebd., 100f (Nr. 209).
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richtet wurde35. Aber sie waren die Ausnahme und können nicht für das Ganze stehen. Im Blick auf die Haltung der evangelischen Kirche zum 2. Welt‐ krieg gilt wohl das Urteil, mit dem der Sammelband „Kirche im Krieg“ schließt: „Wagt man gerade im Wissen um die Kompliziertheit und Differenziertheit der Wirklichkeit eine umfassende Einschätzung, so bleibt ein Tatbestand trotz allem zurück: die Ohnmacht der Kirche und ihrer Verkündigung vor der Allmacht des Staates und seiner Weltan‐ schauung! Die Kirche hat den entfesselten Dämonien eines aggressiven Nationalismus, eines militanten Rassismus, einer intoleranten Pädago‐ gik und einer naturalistisch‐biologistischen Ethik aus der Verantwor‐ tung des Glaubens und seiner Ethik heraus nur hinhaltenden Wider‐ stand entgegensetzen können. Da bleibt ihre tiefe Schuld. Erklärbar, aber nicht entschuldbar.“36
35 Vgl. Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Bilder und Texte einer Ausstellung, zusammengestellt und kommentiert v. EBERHARD RÖHM und JÖRG THIERFELDER, Stuttgart 31983, 116‐118. 36 Kirche im Krieg, 326 (s. Anm. 4).
Auf der Suche nach neuer Ordnung Der Weg der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck in den Jahren 1945–1947 Während der letzten Jahre ist zunehmend die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und – damit verbunden – des nationalsozialisti‐ schen Regimes auch in den kirchenhistorischen Fragehorizont gekom‐ men. Was vor nur wenigen Jahrzehnten noch erlebte Gegenwart war und als ‚jüngste Vergangenheit’ weitervermittelt wurde, gerät nun – bei größer werdender Distanz – zur ‚Geschichte’1. Neben der verbreiteten und facettierten Erforschung des Zeitraums von 1933 bis 1945, die das Erscheinungsbild kirchlicher Zeitgeschichtsschreibung bestimmte, kommt – in Verbindung wie Eigenständigkeit dazu – als Thema die so genannte ‚Nachkriegszeit’ zu stehen. Äußerer Anlass für diese Auswei‐ tung mögen die Jahrestage bestimmter Einschnitte und Ereignisse sein; gewichtiger aber sind die stärker werdende Erfahrung und Einsicht, in welch eminenter Weise die Gegenwart durch Entscheidungen oder Konstellationen jener Jahre bestimmt ist. Dies gilt für das politische Leben in seinen verschiedenen Aspekten, lässt sich aber ebenfalls un‐ gebrochen auf den kirchlichen Bereich übertragen: Für die einzelnen Landeskirchen wie für die Evangelische Kirche in Deutschland wurden die wesentlichen und folgeträchtigen Weichenstellungen in den ersten Jahren nach dem Krieg gestellt – oft sehr bewusst, manchmal aber auch mehr der äußeren Not gehorchend. Die Analyse kirchlicher Gegenwart kommt daher um die historische Rückfrage nicht umhin, und soweit es sich um das Verständnis von heutiger Kirche als öffentlicher – und damit auch verfasster – Institution handelt, wird man unweigerlich in die beginnende Nachkriegszeit verwiesen. Um allerdings vergröbernden Pauschalierungen zu entgehen, ist Beschränkung notwendig. Sie geschieht hier durch den Bezug auf die 1
Zu der damit angedeuteten Inkongruenz von ‚Vergangenheit’ und ‚Geschichte’ vgl. das Vorwort zur Zeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte“ 1 (1988), 3‐6, sowie die Über‐ legungen bei REINHART KOSELLECK, Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zur ‚Zeit‐ geschichte’, in: Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte. Referate der internationalen Tagung in Hünigen/Bern (Schweiz) 1985. Mit einer Bibliographie ANDREAS LINDT, hg. v. VICTOR CONZEMIUS, MARTIN GRESCHAT und HERMANN KO‐ CHER, Göttingen 1988, 17‐31.
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Evangelische Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck, für die die Jahre 1945 bis 1947 prägende Bedeutung hatten. Die Wirkungen dieses ver‐ hältnismäßig kurzen Zeitraumes sind, was die Gestalt dieser Landes‐ kirche angeht, kaum zu unterschätzen. Doch nicht nur das! Im Nach‐ zeichnen der keineswegs einlinigen, sondern durchaus divergierenden Bestrebungen, die Landeskirche zu formieren, lässt sich die innere (und äußere) Bewegtheit der Nachkriegszeit erahnen. Auch die zweite Hälfte der Vierziger Jahre stellt sich als ungemein spannungsreiche Epoche der jüngeren Kirchengeschichte dar.
I. Nach dem Zusammenbruch „Wir wollen nicht vergessen, daß zur Zeit meiner Reise erst 5 bis 9 Wo‐ chen seit der Kapitulation vergangen waren, daß ein Großteil der deut‐ schen Bevölkerung sich noch auf der Wanderung befindet, daß die Alliierte Militärverwaltung noch im ersten Stadium der Entwicklung war, kurz, daß wir es mit einer Situation zu tun haben, die alle Kenn‐ zeichen des Überganges aufweist“2 – mit diesen Vorbemerkungen leite‐ te Adolf Freudenberg den Bericht über seine vierwöchige Deutschland‐ reise ein, die er im Juni/Juli 1945 als Beauftragter der Wiederaufbau‐ Abteilung des Ökumenischen Rates der Kirchen unternahm und die ihn auch in den Bereich von Kurhessen‐Waldeck, nach Kassel und Marburg, führte. Aus den wenigen zitierten Sätzen tritt ein Stichwort hervor, das die damalige Zeit signifikant umschreibt: Übergang. Die Besetzung Deutschlands durch die Alliierten, das damit verbundene Ende aller bislang herrschenden nationalsozialistischen Machtstruktu‐ ren, die weit reichende Zerstörung der Städte, die Bewegungen un‐ übersehbarer Flüchtlingsströme – all dies und vieles andere mehr zeig‐ te einen umfassenden Zusammenbruch an. Deutlich charakterisiert ihn ein Artikel in der Zürcher „Weltwoche“ am 31. August: „Es ist heute schwer, über Deutschland etwas auszusagen, weil es ein deutsches Reich, ja auch deutsche Bande im überkommenen Sinne gar nicht mehr gibt. Seit der Kapitulation der Schattenregierung Dönitz ist Deutsch‐ land im vollsten Sinne des Wortes in Stücke zerfallen. … Wenn man heute die Schweizer Grenze überschreitet, um dorthin zu fahren, wo einst Deutschland war, hat man den Eindruck, das feste Land zu ver‐ lassen und in See hinauszustechen, wo man von hundert Zufälligkeiten 2
Die evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch. Berichte ausländischer Beob‐ achter aus dem Jahre 1945, bearb. v. CLEMENS VOLLNHALS, Göttingen 1988, 9, Dok. 2 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte A/3).
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anhängig ist.“3 Es verwundert daher nicht, dass sich auch in Freuden‐ bergs Bericht an verschiedenen Stellen die Rede vom „Aufbau“ findet – bezogen einerseits auf die Wiederherstellung einer allgemeinen Infra‐ struktur, andererseits aber ebenso auf die Neu‐ bzw. Reorganisation des staatlich‐politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens4. Doch schien ihm das Provisorische, Transitorische dieser Situation wie der Bemühungen, sie zu überwinden, im Sommer 1945 evident. Noch war nicht auszumachen und nicht ausgemacht, welche Richtung die weiteren Entwicklungen in Deutschland nehmen würden. „In mancher Hinsicht war unsere Reise verfrüht, weil sich noch keine neuen deut‐ schen Lebensformen zeigten; denn es fehlt noch an Magneten, die die Kraftfelder ordnen.“5 Einige wenige Schlaglichter auf die Lage in Hessen – und hier be‐ sonders in Kurhessen‐Waldeck – nach Kriegsende verdeutlichen die von Freudenberg allgemein apostrophierte Übergangssituation: War Kassel bereits am 22. Oktober 1943 zu 78 % bei einem Luftangriff zer‐ stört worden, was unter anderem für die Zeit bis zur Kapitulation die Verlegung des Landeskirchenamtes nach Bad Sooden‐Allendorf erfor‐ derlich machte, ging am 19. März 1945 – zehn Tage vor der Besetzung durch die Amerikaner – auch die Innenstadt von Hanau, der zweit‐ größten Stadt im Raum der kurhessischen Landeskirche, in Flammen auf. 86,5 % der Bausubstanz wurde vernichtet6, darunter auch die Kir‐ chen, kirchlichen Gebäude und diakonischen Einrichtungen. Eine im April 1946 vom Landeskirchenamt veröffentlichte Aufstellung ver‐ zeichnet für Kurhessen‐Waldeck 30 völlig zerstörte Kirchen (17 davon allein in Kassel) und 11 ebenfalls nicht mehr nutzbare Krankenhäuser und Heime (ausschließlich in Kassel und Hanau)7. Dass ‚Wiederaufbau’ hier zuallererst und elementar die Beseitigung der größten baulichen Notstände bedeuten musste, lag nahe8. Doch zugleich stand der Auf‐ bau eines politisch neugeordneten Gemeinwesens unter Aufsicht der 3 4 5 6 7 8
Abgedr. in: HARRY NOORMANN, Protestantismus und politisches Mandat 1945‐1949, Bd. 2: Dokumente und Kommentare, Gütersloh 1985, 27. Vgl. Die evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch, 11‐13 (s. Anm. 2). Ebd., 13. Vgl. dazu Marienkirche Hanau, Festschrift 1984, hg. v. HEN DONATH, Hanau 1984, 94‐99. Vgl. Kirchliches Amtsblatt. Gesetz‐ und Verordnungsblatt der Evangelischen Lan‐ deskirche von Kurhessen‐Waldeck (= KABl.) 61 (1946), 23f. Vgl. dazu erneut FREUDENBERG: „Doch unter welchen Schwierigkeiten vollzieht sich der neue Aufbau in Deutschland! Es ist bewundernswert, daß die Bewohner von zerstörten Städten wie Kassel, Frankfurt am Main und Mannheim überhaupt die seelische Kraft aufbringen zu ordnen, zu planen und aufzubauen“ (Die evangelische Kirche nach dem Zusammenburg, 12 [s. Anm. 2]).
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amerikanischen Besatzungsmacht an. Diese legte „durch einen autori‐ tären Akt“9 die bisher getrennten hessischen Verwaltungsgebiete – das Land Hessen und die preußische Provinz Hessen‐Nassau (mit den Re‐ gierungsbezirken Kassel und Wiesbaden) – zusammen und prokla‐ mierte am 19. September 1945 die Gründung des Staates „Groß‐ Hessen“10. Ab November 1945 ließ sie auch die Neugründung und Betätigung politischer Parteien auf Landesebene zu, um dann bereits für Januar 1946 – also zu einem sehr frühen Termin! – Kommunalwalen in den Gemeinden unter 20.000 Einwohnern anzusetzen. Während die amerikanische Militärregierung die Organisation des politischen Lebens direktiv bestimmte und beaufsichtigte, hielt sie sich im Blick auf die beginnenden Neuordnungen im kirchlichen Bereich stark zurück11. In ihren Augen gehörten die Kirchen zu den wenigen gesellschaftlichen Institutionen, die nicht durch eine vorangegangene Partizipation am Nationalsozialismus kompromittiert waren. Über‐ nahme öffentlicher Verantwortung seitens der Kirchen wurde daher nicht nur geduldet, sondern geradezu gewünscht und gefordert12. Al‐ lerdings ging die Wahrnehmung solcher Aufgaben einher mit den Be‐ mühungen um eine innere Neugestaltung evangelischer Kirche unter den Bedingungen der Freiheit von staatlicher Einflussnahme. Wie sehr die Zeit seit Kriegsende als Chance empfunden wurde, mögen die Aus‐ führungen Joachim Beckmanns belegen, die – obwohl 1949 verfasst – immer noch etwas von der Übergangs‐, ja Aufbruchseuphorie ahnen lassen. „Damit war für die Evangelische Kirche in Deutschland eine Lage entstanden, wie sie seit der Reformation noch nie bestanden hatte. Sie konnte sich jetzt in einer solchen Freiheit entfalten, wie sie ihr bis‐ her stets vorenthalten war. Sie konnte sich eine Gestalt ihres Lebens und ihrer Ordnung geben, wie sie allein ihrem Selbstverständnis ent‐ 9
WOLF‐ARNO KROPAT, Hessen in der Stunde Null 1945/47. Politik, Wirtschaft und Bildungswesen in Dokumenten, Wiesbaden 1979, 19 (Veröffentlichungen der Histo‐ rischen Kommission für Nassau 26). 10 Vgl. ebd., 25, Dok.15. 11 Vgl. ARMIN BOYENS, Die Kirchenpolitik der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland von 1944 bis 1946, in: Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier zeitgeschicht‐ liche Beiträge von ARMIN BOYENS, MARTIN GRESCHAT, RUDOLF VON THADDEN, PAO‐ LO POMBENI, Göttingen 1979, 7‐99 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte B/8), so‐ wie CLEMENS VOLLNHALS, Alliierte Kirchenpolitik und ökumenische Kontakte 1945, in: Die evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch, XIII‐XLIII, hier bes. XVII (s. Anm. 2): „Zeichnete sich die amerikanische Kirchenpolitik auf gesellschaftspoliti‐ scher Ebene durch den Grundsatz wohlwollender Neutralität aus, so vertrat sie, was innerkirchliche Angelegenheiten anbetraf, das Prinzip strikter Nichteinmischung.“ 12 Vgl. MARTIN GRESCHAT, Kirche und Öffentlichkeit in der deutschen Nachkriegszeit (1945‐1949), in: Kirchen in der Nachkriegszeit, 100‐124, hier: 106f (s. Anm. 11).
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sprach.“13 Doch hatte sich der Zusammenbruch nicht nur auf die bishe‐ rige Deutsche Evangelische Kirche ausgewirkt, sondern betraf in glei‐ cher Weise die einzelnen Landeskirchen – und hier die sogenannten „intakten“ nicht minder als die „zerschlagenen“. Im Blick auf die Frage, ob und inwiefern die bisherigen Ordnungen in Kraft bleiben sollten oder doch eine grundlegende Neuordnung anzustreben sei, mochten die Landeskirchen unterschiedliche Antworten geben. Allen gemein‐ sam blieb allerdings das unaufschiebbare Erfordernis, möglichst bald die synodalen Körperschaften neu zu bilden, „um damit wieder eine legitime und ‚legale’ kirchliche Leitung in den Landeskirchen herzu‐ stellen“14. Wie stellte sich angesichts dieser innerkirchlichen Herausforderun‐ gen in den Übergangsmonaten des Sommers 1945 die Evangelische Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck dar15? Diese Frage lässt sich ohne einen knappen historischen Rückblick nicht angemessen beant‐ worten: Nach den heftigen Auseinandersetzungen um Struktur und Leitung der Landeskirche seit 1933 war Ende 1935 insofern eine Konso‐ lidierung eingetreten, als auch für Kurhessen‐Waldeck in Landeskir‐ chenausschuss gebildet wurde, der die Geschicke der Landeskirche kollegial unter der Führung von Pfarrer D. Friedrich Happich, dem Leiter der Anstalten „Hephata“ in Treysa, bestimmen sollte. Die Tatsa‐ che, dass der Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten die Mit‐ glieder dieses Landeskirchenausschusses berief und ihm damit eine kirchliche Legitimation fehlte, musste vor allem bei der Bekennenden Kirche als erneuter staatlicher Zugriff auf die innere Freiheit der Kirche gedeutet werden. Aufgrund der personellen Zusammensetzung dieses Gremium fand sich der kurhessische Bruderrat der Bekennenden Kir‐ che unter dem Vorsitz des Marburger Theologieprofessors Hans von Soden jedoch zu einer bedingten Kooperation bereit, die erst 1939 ende‐ te16. Ging das Mandat des Landeskirchenausschusses ursprünglich nur 13 Kirchliches Jahrbuch 72‐75 (1945‐1948), Gütersloh 1950, 2. – Zur Vorgeschichte der EKD insgesamt vgl. ANNEMARIE SMITH‐VON OSTEN, Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948. Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 1980 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte B/9); auch KARL HERBERT, Kirche zwischen Aufbruch und Tradition. Entscheidungsjahre nach 1945, Stuttgart 1989, 33‐60; 107‐148. 14 Kirchliches Jahrbuch 72‐75, 110 (s. Anm. 13). 15 Vgl. zum folgenden MARTIN HEIN, Geistliche Leitung und Einheit der Kirche. Zur Vorgeschichte und Einführung des Bischofsamtes in der Evangelischen Landeskir‐ che von Kurhessen‐Waldeck, o. 53‐79. 16 Zu den Gründen vgl. den Briefwechsel zwischen Hans von Soden und Friedrich Happich 1939/40, in: Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens. Briefe und Dokumente aus der Zeit des Kirchenkampfes 1933‐1945, hg. v. ERICH DINKLER und
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bis zum 30. September 1937, so verlängerte es sich stillschweigend über dieses Datum hinaus. Der Ausschuss amtierte als Kirchenleitung bis 1945. Nach der Kapitulation jedoch war es unabdingbar, diesen zwar weithin akzeptierten, rechtlich aber durch den nationalsozialistischen Staat sanktionierten Zustand eines Interims zu beenden und nach den Möglichkeiten einer Neuordnung der Landeskirche zu fragen, zumal sich nun auch von außerhalb Vorbehalte gegen Happichs Haltung während der NS‐Zeit zu Wort meldeten17. Die Beratungen darüber füllten in Kurhessen‐Waldeck die Sommermonate aus.
II. Erste Reaktionen auf die neue Herausforderung Am 22. Mai 1945 versandte das Landeskirchenamt, das zur gleichen Zeit wieder nach Kassel in ein dem Kurhessischen Diakonissenhaus gehörendes Gebäude im Stadtteil Wilhelmshöhe übersiedelte, ein Rundschreiben an alle Superintendenten mit der Bitte, die darin ge‐ nannten Richtlinien in den Pfarrkonferenzen ausführlich zu bespre‐ chen18. Dieses Schreiben, von Landeskirchenrat Lic. Dr. Ernst Neubauer unterzeichnet, ging in drei Abschnitten auf „A. Die Lange der Kirche“, „B. Die Aufgabe der Kirche“ sowie „C. Das Wort der Kirche“ ein. Sein grundsätzlicher Charakter nötigt zum Herausarbeiten der wesentlichen Gesichtspunkte. Was die „Lage der Kirche“ angeht, bekundet das Schreiben zu‐ nächst die Solidarität der Kirche mit dem deutschen Volk „in seiner Verantwortung und Schuld vor Gott und in seinem Ringen um neue Lebensgrundlagen“. Die Kirche wisse sich „in den Dienst der inneren Erneuerung unseres Volkes“ gestellt; ihr „als der wohl einzig intakt gebliebenen Trägerin geistig‐sittlicher Autorität“ komme nun eine wichtige Aufgabe zu. Allerdings schränkt das Schreiben sogleich ein: Weil sie dies nur in der Ausrichtung auf die christliche Botschaft tun könne, habe sie „alles zu vermeiden, was Anstoß und Ärgernis in der Gemeinde und nach außen hin hervorrufen könnte, insbesondere sich ERIKA DINKLER‐VON SCHUBERT, bearb. v. MICHAEL WOLTER, Göttingen 1984, 297‐317, Dok. 30 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte A/2). 17 Vgl. FREUDENBERGS „Bemerkungen zur kirchlichen Lage in Deutschland Juli 1945“: „Aber wenn auch alles noch in Fluß ist, so kommt es doch entscheidend darauf an, daß untragbare Kirchenleiter, z. B. Marahrens, Bischof in Hannover, Pfarrer Hap‐ pich, Präsident der Kirche in Kurhessen, oder gar der überall abgelehnte, aber noch immer vorhandene Bischof Heckel vom früheren Kirchlichen Außenamt verschwin‐ den“ (Die evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch, 15, Dok. 3 [s. Anm. 2]). 18 Schreiben des Landeskirchenamtes Nr. C 01005/45 (vorh. im Landeskirchenamt Kassel, Sammlung der Rundverfügungen).
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vor dem Abgleiten von der Linie christlicher Heilsverkündigung auf die politische Ebene zu hüten“ – eine Forderung, die angesichts der vorausgegangenen Vereinnahmung von Kirche und Christentum durch den Nationalsozialismus zunächst im Sinne einer klaren Tren‐ nung von Kirche und Staat einleuchtend klingen mag. Doch zeigen die sich anschließenden Sätze, dass wohl andere Motive für diese Zurück‐ haltung maßgebend waren: „Sie (sc. die Kirche) muß mit Ernst darauf bedacht sein, die nationale Würde zu wahren, und darf das heute so verletzliche vaterländische Empfinden nicht antasten; andererseits muß sie alle Konflikte mit den Besatzungsbehörden vermeiden, deren lei‐ tender Grundsatz es ist, keinerlei ‚nazistische’ Beeinflussung des Vol‐ kes zuzulassen.“ Unter dieser Vorgabe politischer Vorsicht und Urteilsenthaltung werden im Folgenden die dringendsten Aufgaben der Landeskirche genannt: Die sechs Unterpunkte befassen sich überblicksartig mit dem „neuen Aufbau des Gemeindelebens“, der „Jugendunterweisung, die in erweitertem Umfang in allen Gemeinden durchzuführen der Ausfall der Schule einzigartige Gelegenheit bietet“, der Neueinrichtung des Religionsunterrichts, den Kindergärten, dem „Aufbau der christlichen Liebestätigkeit“ sowie mit der „Wiederaufnahme der kirchlichen Pres‐ searbeit“. An diese programmatische Aufzählung schließen sich die Ausfüh‐ rungen zum „Wort der Kirche“ an. Geradezu vehement wird die Bot‐ schaft des Evangeliums in den Mittelpunkt gestellt: „Trümmer und Totenklage, nicht nur der Geruch psychischer, sondern moralischer Verwesung und seelischer Verödung werden uns bis zum Ekel und zur Verzweiflung zusetzen; da würde es der Verkündigung der frohen Botschaft zuwiderlaufen, wollte die Kirche auch noch jetzt – gesetzlich und dem Geist der Propheten und Jesu zuwider – Tod und nicht Ver‐ heißung des Lebens verkündigen.“ Aber ganz ohne Umkehr kann es auch nach dieser Verlautbarung nicht abgehen: Die Verkündigung jedoch – erneut wird dies hervorgehoben – solle „sich streng auf der christlich‐religiösen Linie halten und vor dem Abgleiten ins Politische hüten“; auch dürfe der Gerichtsgedanke „nur ganz biblisch‐christlich verwandt werden“, damit auf diese Weise Menschen für den Aufbau der Gemeinden gewonnen werden könnten. Ein allgemeiner „Ge‐ richtston sollte nicht vorherrschen“. Überblickt man diese knapp skizzierten Hauptaussagen des Textes, dann fällt in erster Linie auf, wie bruchlos und rasch der Übergang in die Nachkriegszeit vollzogen wird, mit anderen Worten: welch ein geringes Gewicht der gerade erst beendeten NS‐Herrschaft mit ihren Auswirkungen beigemessen wird. Das Rundschreiben scheut sich,
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noch allzu lange zurückzublicken – die Rede von „Schuld“ ist daher nur peripher –; umso stärker tritt der Gedanke des Neuaufbaus in den Vordergrund. Doch inwiefern kann überhaupt von Neubeginn gespro‐ chen werden? Das Interesse an Wiedergewinnung bzw. Sicherung der kirchlichen Handlungsfähigkeit rückt in einer Weise in den Vorder‐ grund, dass grundlegende Fragen nach dem bisherigen, aber auch dem weiteren Weg der Landeskirche zurückgedrängt werden. Dadurch aber wird die im Schreiben selbst reklamierte „‚Stunde der Kirche’ im be‐ sonderen Sinn“ konturlos: Sie verliert den Charakter einer wirklichen Zäsur. Der Tenor des Schreibens bestätigt wohl Adolf Freudenbergs Einschätzung, der von der verbreiteten „Illusion“ in der Bevölkerung sprach, „daß nun der Krieg zu Ende und unter den neuen Herren ein neuer friedlicher Beginn unverzüglich möglich sei“19. Dass es in der Landeskirche zur gleichen Zeit auch anders klingen konnte, zeigt ein Blick auf den Schreibtisch des Langendiebacher Pfar‐ rers Wilhelm Wibbeling20. Aus der reformierten Tradition Westfalens stammend und der Neuwerk‐Bewegung nahe stehend, gehörte er be‐ reits Ende 1933 zum Bruderrat des „Bruderbundes kurhessischer Pfar‐ rer“ und blieb seither an führender Stelle in der kurhessischen Beken‐ nenden Kirche tätig21. Ab April 1945, also nur wenige Tage nach der Besetzung des Hanauer Landes durch die Amerikaner, begann er mit der Ausarbeitung verschiedener Stellungnahmen und Denkschriften zur anstehenden Neuordnung auf gesamtkirchlicher, aber ebenso kur‐ hessischer Ebene. Die ihn dabei leitenden Gedanken hatte er bereits 1941 in einem Beitrag zu einer Festgabe für Hans von Soden vorweg‐ genommen22: Wenn er sich dort den von August Vilmar und seinen 19 Die evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch, 11, Dok. 2 (s. Anm. 2); vgl. auch ebd., 17, Dok. 3: „Die kirchlichen Verhältnisse in Hannover und Kurhessen hatten sich bis Mitte Juli leider äußerlich noch nicht geändert; es ist aber zu hoffen, daß auch hier eine Klärung erfolgt und Ballast abgeworfen wird.“ 20 Zur Person vgl. die Angaben in: Pfarrergeschichte des Sprengels Hanau („Hanauer Union“) bis 1968. Nach LORENZ KOHLENBUSCH bearb. v. MAX ASCHKEWITZ, T. 1, Marburg 1984, 220, Nr. 7 (Kurhessisch‐Waldeckisches Pfarrerbuch 2 = Veröffentli‐ chungen der Historischen Kommission für Hessen 33). 21 Über die Auswirkungen des Kirchenkampfes in seiner Gemeinde berichtete WIL‐ HELM WIBBELING ausführlich in der „Chronik der Evangelischen Kirchengemeinde Langendiebach“ (1932‐1936), jetzt veröffentlicht in: Was geschah …? Ausstellung in der Bußtagswoche „Zur Geschichte der Juden und über die Vorgänge von 1933 bis 1945 in Langendiebach“, hg. v. Evangelische Kirchengemeinde Langendiebach 1988, 69‐77. 22 Vgl. WILHELM WIBBELING, Um die Freiheit des geistlichen Kirchenregiments. Die Bedeutung der Jesberger Konferenz und des Alleruntertänigsten Memorandums von 1849, in: Aus Theologie und Kirche. Beiträge kurhessischer Pfarrer als Festgabe zum 60. Geburtstag von Professor D. Hans Freiherr von Soden, München 1941, 107‐ 148 (BevTh 6).
II. Erste Reaktionen auf die neue Herausforderung
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Anhängern erhobenen Ruf nach einer evangelischen Kirche, die „in jeder Beziehung wirklich Kirche und nichts als Kirche ist“23, zueigen machte, konnte dies unter den Bedingungen der eigenen Zeit nur be‐ deuten, für eine von staatlicher Einflussnahme freie Kirche einzutreten, die ihr gesamtes Leben eigenständig ordnet und in der Synode „die entscheidende Instanz des geforderten geistlichen Kirchenregiments“24 hat. Damit suchte er nun konsequent ernst zu machen, wobei an dieser Stelle und im Zusammenhang der zu erörternden Fragestellung weni‐ ger das „Kirchliche Sofortprogramm“ für die Evangelische Kirche in Deutschland25, sondern das „Kirchliche Sofortprogramm für Kurhes‐ sen“26 von Interesse ist. Für Wibbeling war die mit dem Zusammen‐ bruch eingetretene Zäsur radikal, weshalb sich für ihn eine institutio‐ nelle wie personelle Kontinuität in der Leitung der Landeskirche verbot27. An die Stelle des bisherigen Landeskirchenausschusses sollte ein neues kirchenleitendes Gremium treten, zu dessen Konzeption er auf die „Verfassung der evangelischen Landeskirche in Hessen‐Kassel“ von 1923/24 zurückgriff: Diese hatte für die Leitung der drei Sprengel der Landeskirche, die historisch gesehen durch eine unterschiedliche Bekenntnisentwicklung geprägt waren28 jeweils einen „Landespfarrer“ vorgesehen, von denen einer zugleich „Landesoberpfarrer“ und damit leitender Geistlicher der Landeskirche war29. Wibbeling schwebte vor, dieses seit 1933 verwaiste Amt der Landespfarrer neu zu beleben und ihnen kollegial „die geistliche und damit die Gesamtleitung der Kir‐ che“30 zuzordnen. Um solche Leitung ausschließlich kirchlich zu legi‐ timieren, schlug er die Berufung – nicht, wie noch 1923/24 bestimmt, die Direktwahl! – einer Synode „nach den bewährten kirchlichen Grundsätzen des synodalen Aufbaus“31, also von den Gemeinden aus‐ gehend, vor. Auf diesem Weg schien ihm in der gebotenen Kürze der 23 24 25 26 27
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Ebd., 148. Ebd., 137 (im Text gesperrt gedruckt). Vgl. Anh., Dok. 1 (Ostern 1945). Vgl. Anh., Dok. 2 (Ende April 1945). Vgl. seine Stellungnahme zur Forderung der Reinigung der Kirche vom Nationalso‐ zialismus, wie sie eine Verfügung des Kasseler Landeskirchenamts am 1. Juni 1945 erhoben hatte (Anh., Dok. 4). Vgl. dazu MARTIN HEIN, Was heißt: „… in der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation zu einer Kirche zusammengewachsen“?, u. 218‐224. Vgl. MARTIN HEIN, Geistliche Leitung, o. 57‐60 (s. Anm. 15). Anh., Dok. 2, Zif. 6. Von der Wiedereinrichtung des Amtes eines Landesoberpfarrers ist in diesem Programm nicht die Rede. Ebd., Zif 4. – Zu Wibbelings Reserviertheit gegenüber der Direktwahl eines Landes‐ kirchentages vgl. schon seine Bemerkungen in: Um die Freiheit der Kirche, 136f (s. Anm. 22).
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Zeit die Neuorientierung hin zu einer „kommenden staatsfreien Kir‐ che“32 möglich. Natürlich konnte das Sofortprogramm nicht alle aktuel‐ len Probleme aufnehmen und darstellen, aber was diesen Text von den drei Wochen später versendeten Richtlinien des Landeskirchenamts im Grundsatz unterscheidet, ist offensichtlich: Es ist der Wille, den mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus gegebenen Einschnitt innerlich nachzuvollziehen und auch auf die Kirche zu beziehen. Für Wibbeling standen im Frühjahr 1945 nicht die Handlungsfelder der Kirche, sondern stand diese selbst in Frage! Den Mitgliedern des Landeskirchenausschusses war durchaus be‐ wusst, dass mit der wiedergewonnenen Selbstbestimmung der Kirche sich die Zeit ihrer kirchenleitenden Tätigkeit dem Ende zuneigte. Auf einer Sitzung des Ausschusses am 27. Juni 1945 in Treysa‐Hephata wurde jedoch beschlossen, dass er – noch einmal interimistisch – „bis zur Bildung einer neuen, rechtmäßigen Kirchenregierung seine Funkti‐ on weiter ausübt und die zur Bildung der neuen Kirchenregierung notwendigen Maßnahmen umgehend in die Wege leitet“33. Allerdings ergänzte sich der Landeskirchenausschuss – hier scheinen Wibbelings Gedanken durch – einstweilen durch einen Beirat, der in seiner Zu‐ sammensetzung weit gehend jener „Versammlung kirchlicher Amts‐ träger“ entsprach, die der Langendiebacher Pfarrer in seinem Sofort‐ programm für Kurhessen gefordert hatte. Fortan sollte der Landes‐ kirchenausschuss Beschlüsse „nur noch in Übereinstimmung mit dem Beirat“ fassen. Die wesentlichste Entscheidung dieser Sitzung am 27. Juni war allerdings, zielstrebig auf die Durchführung einer „Notsyno‐ de“ hinzuarbeiten und auch bereits deren einzelne Mitglieder zu be‐ nennen. Auch das Stichwort ‚Synode’ – in bewusster Absetzung zum ‚Lan‐ deskirchentag’ der Verfassung 1923/24 – fand sich schon in Wibbelings kurhessischem Sofortprogramm. War also hinsichtlich der Einschät‐ zung, das Modell des Landeskirchentages kurz nach Kriegsende nicht reaktivieren zu können, eine Übereinstimmung zu konstatieren, wurde der Dissens zwischen beiden Konzeptionen bei der Frage, wie die Not‐ synode zu bilden sei, offensichtlich: Wibbeling hatte sich für eine Syn‐ ode ausgesprochen, die in ihrer Zusammensetzung der Bedeutung der Gemeinden stärker Rechnung tragen sollte. Indem der Landeskirchen‐ 32 Anh., Dok. 2, Zif. 7. 33 Protokoll der Sitzung des Landeskirchenausschusses der Evangelischen Landeskir‐ che von Kurhessen‐Waldeck und seines Beirats am Mittwoch, den 27. Juni 1945, in den Anstalten Hephata in Treysa (vorh. im Archiv des Kirchenkreises Hanau‐Land, Langenselbold, „Akte der Hanauer Union. Akten zur Neuordnung der Evangeli‐ schen Landeskirche Kurhessen‐Waldeck“).
III. Die Treysaer Notsynode
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ausschuss gemeinsam mit dem Beirat die Mitglieder der Notsynode bestimmte, musste sofort das Problem virulent werden, welche Instanz den Landeskirchenausschuss dazu autorisiere und welche rechtliche Verbindlichkeit etwaige Beschlüsse der so konstituierten Notsynode hätten. Unter diesen Voraussetzungen blieb das vom Landes‐ kirchenausschuss intendierte Verfahren eine ‚Not’‐Lösung: Die „Not‐ verordnung über die Bildung einer Notsynode“34 vom 16. August 1945 machte denn auch das Dilemma schon im Titel deutlich. Ungeachtet – oder besser: gerade angesichts – dieser rechtlichen Schwierigkeiten waren die Aufgaben der Notsynode von außerordentlicher Tragweite: Es sollte vor allem eine einheitliche Kirchenleitung mit dem Bi‐ schofsamt an ihrer Spitze gebildet werden, was auch die Wahl eines Landesbischofs notwendig machen würde. Dass gegen diese Entscheidungen von Landeskirchenausschuss und Beirat Vorbehalte laut wurden, überrascht nicht. Besonders im Bereich der ‚Hanauer Union’ war dies der Fall. So bedauerte der Vor‐ stand der ‚Gelnhäuser Konferenz’, des Zusammenschlusses der Pfarrer im Südsprengel, am 29. August nicht nur, „dass zu den Vorarbeiten für die Notsynode kein Vertreter der Hanauer Union zugezogen worden ist“, sondern – der Einfluss Wibbelings ist spürbar – stellte zugleich fest, „dass die Notsynode tatsächlich nur ein Provisorium sein und schaffen kann“35. Doch war der Zug längst nicht mehr aufzuhalten. Vom 25. bis 28. September trat die Notsynode unter dem Vorsitz von Friedrich Happich in Treysa‐Hephata zu ihren Beratungen zusammen – am gleichen Ort, wo einen Monat zuvor die Kirchenversammlung tagte, die als ein wesentliches Ergebnis die Bildung des Rates der EKD beschlossen hatte. Die Auseinandersetzung um die Neuordnung der kurhessischen Landeskirche musste nun auf diesem Forum geführt werden.
III. Die Treysaer Notsynode Es ist hinlänglich bekannt, wie stark die Notsynode in ihrem Bestreben, die Leitung der Landeskirche neu zu ordnen, von dem Gedanken der Einführung des Bischofsamtes bestimmt war. Die diesbezüglichen Überlegungen, die die Landeskirche seit 1933 bewegten und 1937 zu 34 KABl. 60 (1945), Sonderausgabe (o. S.). 35 Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Vorstandes der Gelnhäuser Konferenz vom 29.08.1945 (mit handschriftlicher Randbemerkung Wibbelings) (vorh. im Archiv des Kirchenkreises Hanau‐Land, Langenselbold, „Akte der Hanau‐ er Union …“).
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einem vornehmlich von Hans von Soden verantworteten Entwurf einer „Verordnung des Landeskirchenausschusses betreffend die Leitung und Verwaltung der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐ Waldeck“36 geführt hatten, sollten nun unter der Prämisse kirchlicher Eigenverantwortung abgeschlossen werden37. Eigens für die Verhand‐ lungen der Synode hatte von Soden eine Denkschrift ausgearbeitet, die den inzwischen überarbeiteten Entwurf von 1937 und die darin impli‐ zierten Entscheidungen, vor allem auch im Blick auf das Amt eines Landesbischofs, begründete38. Angesichts der wissenschaftlichen Repu‐ tation und kirchlichen Autorität von Sodens, aber auch der Erfahrun‐ gen aus den zurückliegenden Jahren, drängte eine spürbare Mehrheit auf Klärung im Sinne einer einheitlichen Leitungsstruktur der Landes‐ kirche. Der Hanauer Synodale und Pfarrer Karl Scheig hatte wohl nicht unrecht, wenn er während der Verhandlungen bemerkte: „Die Notsy‐ node macht es uns auf der einen Seite recht schwer, unser Votum gegen die Wahl eines Bischofs abzugeben. Die gesamte Atmosphäre ist ge‐ genüber unseren Gedankengängen nicht geneigt, sie zu hören oder sie in die Praxis umzusetzen. Wir finden, es ist deutlich, daß man das Amt des Bischofs innerhalb unserer Landeskirche will.“39 Allerdings zeigt dieses Votum auch, dass es durchaus Widerstände gab. Sie fanden ih‐ ren deutlichen Ausdruck in dem Gegenentwurf zum so genannten ‚Leitungsgesetz’ von Sodens, den Wibbeling erarbeitet hatte und auf der Synode als Antrag am 25. September verlas40. Den Text seiner Gesetzesvorlage einleitend, nahm Wibbeling noch einmal Stellung zum Charakter der Notsynode und betonte erneut dezidiert, dass sie „nichts anderes schaffen kann als ein Provisorium“41. Unter dieser Voraussetzung wollte er auch die Beratungen über die Einführung des Bischofsamtes verstanden wissen. Inhaltlich bemängel‐ te er am Entwurf von Sodens zweierlei: zum einen die von ihm vermu‐ tete Tendenz, „die das Bischofsamt für das entscheidende Amt in der Kirche hält und dem Bischofsamt eine besondere Weihe gegenüber den 36 Abgedr. bei HANS SLENCZKA, Die Evangelische Kirche von Kurhessen‐Waldeck in den Jahren von 1933 bis 1945, Göttingen 1977, 233‐237, Dok. 8. 37 Vgl. dazu MARTIN HEIN, Geistliche Leitung, o. 74‐78 (s. Anm. 15). 38 Abgedr. in: ZEvKR 6 (1957/58), 183‐191, dann in: Auszüge aus den Verhandlungen der Notsynode und der 1. Tagung der Landessynode der Evangelischen Landeskir‐ che von Kurhessen‐Waldeck vom 25. September – 28. September 1945 und vom 1. Dezember – 5. Dezember 1947 … Kassel 1966, 103‐111, Anlage II. 39 Auszüge aus den Verhandlungen, 16 (s. Anm. 38). 40 Anh., Dok. 6, In „Auszüge aus den Verhandlungen“ ist dieser Text nicht abgedruckt (s. Anm. 38). 41 Auszüge aus den Verhandlungen, 8 (s. Anm. 38).
III. Die Treysaer Notsynode
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kirchlichen Ämtern gibt“, zum anderen die „Zweispurigkeit“42, weil unausgewogene Verhältnisbestimmung von Landesbischof und Lan‐ dessynode: Wenn es im ersten Abschnitt heiße, der Landesbischof sei „berufen, die Evangelische Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck zu leiten und zu vertreten“43, dann aber im fünften Abschnitt die Landes‐ synode als „der oberste Träger der landeskirchlichen Gewalt“44 be‐ zeichnet werde, würde dies der Synode und ihrer grundsätzlichen Prä‐ rogative nicht gerecht. Im Übrigen sei die Landeskirche keine unierte Kirche, sondern bestehe „aus verschiedenen Bekenntnisgemeinschaf‐ ten“45, denen keine gemeinsame geistliche Leitung durch das Amt eines Landesbischofs vorgeordnet werden könne. Die Tatsache der konfessi‐ onell divergierenden Kirchengemeinschaften mache eine Verlagerung der Funktion geistlicher Leitung in die einzelnen Sprengel notwendig. In dem von Wibbeling ausdrücklich so genannten „Notgesetz“ tre‐ ten diese Intentionen deutlich zum Vorschein: Die entscheidende Kompetenz kommt – „bis zur Berufung einer ordentlichen Synode“ – der Notsynode zu, deren Aufgabe es nun ist, die „Organe der Kirchen‐ leitung“ zu restituieren. Für die innere Differenzierung der Kirchenlei‐ tung greift Wibbeling explizit auf die Bestimmungen der Verfassung von 1923/24 zurück, was zunächst bedeutet, dass in seinem Gesetzent‐ wurf die Begriffe „Kirchenregierung“, „Landespfarrer“ und „Landes‐ oberpfarrer“ wieder aufgenommen werden und für ein Bischofsamt kein Ort ist. Doch ist mit dieser Anknüpfung keine Restauration der Zeit vor 1933 gemeint, denn die Funktion „Landespfarrer“ wird ent‐ scheidend aufgewertet: Sollten diese ursprünglich „den Geistlichen und Kandidaten Führer, Berater und Seelsorger sein“ und „das christli‐ che Leben in den Gemeinden durch persönliche Einwirkung … pflegen und fördern“ sowie Ordinationen und Amtseinführungen vorneh‐ men46, ordnet ihnen Wibbeling jetzt expressis verbis „die geistliche Leitung in den Sprengeln“ zu. Ihrem Bedeutungszuwachs entspre‐ chend sollten sie unmittelbar durch die Pfarrer eines Sprengels gewählt werden. Der Landesoberpfarrer, der nun nicht mehr vom Landeskir‐ chentag bzw. einer Synode, sondern vom Kollegium der Landespfarrer zu wählen ist, führt – wie schon 1923/24 – den Vorsitz in der Kirchen‐ 42 43 44 45
Ebd., 9. Ebd., 95, Anlage I. Ebd., 100, Anlage I. Ebd. 10. Wibbeling rückte damit deutlich vom Verständnis der Verfassung 1923/24 ab, wonach die bekenntnismäßigen Kirchengemeinschaften innerhalb der Landes‐ kirche keine konstitutive, sondern nur mehr eine historische Bedeutung haben soll‐ ten; vgl. dazu MARTIN HEIN, Was heißt …, u. 222‐225 (s. Anm. 28). 46 KABl. 39 (1924), 67, § 65.
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regierung, soll nach Wibbelings Vorstellung, die sich hier mit von So‐ den deckt47, aber auch Vorsitzender des Landeskirchenamtes werden. Diese erweiterte Machtfülle des Landesoberpfarrers wird dadurch je‐ doch relativiert, dass seine Aufgabe, Kirche geistlich zu leiten, an den Grenzen des Sprengels endet, in dem er Landespfarrer ist. Mit dem Gegenentwurf Wibbelings waren die Ausgangspositionen für den weiteren Gang der Synodalverhandlungen abgesteckt: Wer – aufgrund der Erfahrungen während der NS‐Zeit – die Neuordnung der Landeskirche hin zu einer einheitlichen und umfassenden Leitung wünschte, musste sich für von Sodens Vorlage und dementsprechend auch für die Einführung des Bischofsamtes aussprechen, wer dies als Zentralismus fürchtete und demgegenüber stärker das traditionelle Eigengewicht der verschiedenen Sprengel – verbunden mit einer deut‐ lich presbyterial‐synodalen Komponente – gewahrt wissen wollte, ten‐ dierte ehe zu Wibbelings Vorschlag (und dies waren vor allem die Ver‐ treter der ‚Hanauer Union’). Beide Entwürfe vereinten in sich Bewährtes und Neues, stellen keine bloße Repristination der Vergan‐ genheit dar, bedeuteten aber auch keinen umstürzenden Neuanfang. ‚Zeitgemäßer’ war im Herbst 1945 von Sodens Ausarbeitung, die eine klarere Strukturierung nach innen und eine ostentativere Vertretung kirchlicher Interessen nach außen hin – auch gegenüber der amerikani‐ schen Militärregierung – zu verheißen schien. Der Entwurf des ‚Lei‐ tungsgesetzes’ wurde in den Lesungen der Notsynode im Wesentlichen nicht mehr verändert. Am 27. September erfolgte die Schlussabstim‐ mung. Eine deutliche Mehrheit sprach sich für seine Annahme aus. Die beiden einzigen Gegenstimmen stammten von Wibbeling und Scheig48. Nach längeren Beratungen konnte noch am gleichen Tag die Wahl des Bischofs erfolgen, die – vorausgegangen war eine geheime Probeab‐ stimmung – nun per Akklamation durchgeführt wurde. Einstimmig wählten die Synodalen den bisherigen Mitarbeiter im Landeskirchen‐ amt, Pfarrer Adolf Wüstemann. Damit endete das Provisorium kirchli‐ cher Leitung durch den Landeskirchenausschuss49; ein neues Proviso‐ rium begann, ohne dass es von den meisten Beteiligten noch als solches
47 Vgl. Auszüge aus den Verhandlungen, 108, Anlage II (s. Anm. 38). 48 Das „Kirchengesetz betr. die Leitung und Verwaltung der Evangelischen Landeskir‐ che von Kurhessen‐Waldeck“ ist abgedr. in: KABl. 60 (1945), 13‐16. 49 Vgl. das Abschiedsschreiben Happichs an die Mitglieder des ehemaligen Landeskir‐ chenausschusses vom 26. Oktober 1945, abgedr. in: SLENCZKA, Die evangelische Kir‐ che, 271f, Dok. 10. (s. Anm. 36).
IV. Erprobung und Konsolidierung
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verstanden wurde. Was nun anstand, war der innere und äußere Wie‐ deraufbau des kirchlichen Lebens50.
IV. Erprobung und Konsolidierung Es dauerte noch bis zum 20./21. Mai 1946, bis der im ‚Leitungsgesetz’ vorgesehene „Rat der Landeskirche“ zu seiner ersten Tagung zusam‐ mentrat. In von Sodens Konzeption führte er nicht die Aufgaben der alten Kirchenregierung fort, sondern stellte in erster Linie ein Bera‐ tungs‐ und Aufsichtsgremium mit begrenzten Befugnissen dar51. Dies erklärt wohl den relativ späten Termin seiner ersten Einberufung und machte zugleich sichtbar, dass die Leitung der Landeskirche de facto in den Händen des Bischofs lag. Im Vordergrund der Beratungen standen die Frage der Pfarrstellenbesetzung, die durch den Zustrom von Pfar‐ rern aus den deutschen Ostgebieten akut geworden war, sowie die so genannte „Selbstreinigung der Kirche“52, auf die Wibbeling schon früh gedrängt hatte und die nun – im Zuge der alliierten Entnazifizierungs‐ politik53 – unumgänglich wurde. All dies aber trug nicht mehr jene spannungsreichen Züge wie noch ein Jahr zuvor, sondern wirkte trotz der Brisanz der Themen ungleich moderater. Die Landeskirche befand sich wieder, so wurde es deutlich empfunden, in geordneten Bahnen. Noch aber stand die endgültige Bestätigung der Beschlüsse der Notsynode durch eine ordentliche Landessynode aus. Dies bedeutete, neben der Bewältigung der unterschiedlichsten Aufgaben, die sich aus den Kalamitäten der Nachkriegsjahre ergaben, langfristig auch an die Vorbereitung solch einer Synode denken zu müssen. Nachdem am 1. Dezember 1946 die Volksabstimmung über die neue Hessische Verfas‐ sung und zugleich die ersten Wahlen zum Landtag stattgefunden hat‐ ten54, konkretisierten sich die Überlegungen innerhalb der Landeskir‐ che – und ließen überraschenderweise noch einmal das Dilemma der Notsynode 1945 aufleuchten: Nach welchem Wahlverfahren sollte die Landessynode überhaupt gebildet werden? 1945 hatte man sich für 50 Vgl. dazu Bischof WÜSTEMANNS „Wort an die Gemeinden der Evangelischen Lan‐ deskirche vom Kurhessen‐Waldeck“ vom 3. Oktober 1945 (KABl. 60 [1945]), 16f), das in seinem Grundklang dem Rundschreiben des Landeskirchenamtes vom 22. Mai 1945 (s. Anm. 18) nicht unähnlich ist. 51 Vgl. „Kirchengesetz betr. die Leitung und Verwaltung …“ (KABl. 60 [1945], 14f, §§ 16 und 17). 52 KABl. 61 (1946), 21; vgl. dazu das „Kirchengesetz über die Ausübung der kirchlichen Zucht und Dienstaufsicht“ vom 21. August 1946, ebd. 36f. 53 Vgl. dazu BOYENS, Kirchenpolitik, 46‐57 (s. Anm. 11). 54 Vgl. KROPAT, Hessen in der Stunde Null, 121f und 154 (s. Anm. 9).
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einen differenzierten Modus entschieden: In jedem der 25 Kirchenkrei‐ se sollte ein „weltliches Mitglied“ gewählt werden, hinzu kamen zehn Mitglieder, die die Pfarrerschaft aus ihren Reihen wählte, acht Synoda‐ le „von Amts wegen“ sowie zehn weitere Mitglieder, die der Bischof zu berufen hatte und „von den mindestens die Hälfte Laien sein“ muss‐ ten55 – was bei insgesamt 53 Synodalen ein Verhältnis von 31 „weltli‐ chen“ und 22 „geistlichen“ Mitgliedern ergab. In zweifacher Hinsicht unterschied sich dieses Verfahren von den Bestimmungen der Verfas‐ sung 1923/24: Zum einen wurden hier von 55 Mitgliedern immerhin 48 (davon zwei Drittel „Laien“) durch unmittelbare Wahl bestimmt, zum anderen ergab sich dadurch eine zahlenmäßig stärkere Repräsentanz der „weltlichen“ Mitglieder im Landeskirchentag56, als sie 1945 intendiert war. Beide Gesichtspunkte griff nun der Präsident des Landeskirchen‐ amtes, Dr. Wilhelm Lütkemann, auf und sprach von einer „Verminde‐ rung der verfassungsmäßigen Rechte der Gemeinden und ihrer Glie‐ der“, die „nicht ohne die Anhörung der Gemeinden“ geschehen dürfe57. Er verband mit diesem Einwand gegen die Entscheidung der Notsynode 1945 und seinem Plädoyer für das Wahlsystem von 1923/24 noch einmal seine Kritik am Zustandekommen jener Synode: „irgend‐ eine Mitwirkung der Kirchengemeinden fand nicht statt, lediglich nach Gutdünken des Landeskirchenausschusses und seines Beirats wurden die Synodalen ernannt“58. Die Intervention Lütkemanns löste erhebli‐ che Unruhe und Verärgerung aus59, ohne allerdings zum Erfolg zu führen. Am 20. Juli 1947 fanden zunächst die Kirchenvorstandswahlen statt, bis zum 7. September erfolgte in den einzelnen Gemeinden die 55 Vgl. KABl. 60 (1945), 15, § 18. 56 Vgl. KABl. 39 (1924), 67, §§ 66 und 67. 57 Schreiben von Präsident Dr. LÜTKEMANN an Prof. Dr. Stock (Marburg) vom 3. Feb‐ ruar 1947, 2 (vorh. im Landeskirchlichen Archiv Kassel, Handakten Happich, Präses der Synode 1945‐1947). 58 Ebd., 1. 59 Vgl. das Schreiben von Prof. D. Dr. HEINRICH FRICK (Marburg) an Kirchenrat D. Happich (Treysa) vom 27. Februar 1947, 2 (vorh. im Landeskirchlichen Archiv Kas‐ sel, Handakten Happich, Präses der Synode 1945‐1947): „Selbstverständlich kann er, wie jeder andere, das nun vorgeschlagene Wahlverfahren für die Landessynode kri‐ tisch prüfen und Besserungsvorschläge machen. Er kann die Überzeugung haben und sie auch vertreten, dass dies und jenes an diesem Wahlverfahren unbefriedi‐ gend sei, und sich von anderen Entscheidungen mehr versprechen. Aber dazu, dies geltend zu machen, ist ja lange genug Gelegenheit gewesen, und nachdem nun die doch wirklich sehr sorgsam und geduldig geleisteten Vorarbeiten abgeschlossen sind, hat nach meiner Ansicht nun jeder von uns, der verantwortlich an der Kirchen‐ leitung beteiligt ist, einfach die dienstliche Pflicht, das erarbeitete und rechtskräftig gewordene Ergebnis zum Ausgangspunkt weiterer positiver Mitarbeit zu machen. Soll‐ te einer von uns meinen, er könne das gewissensmäßig nicht vertreten, so hat er zu schweigen oder auszuscheiden.“
IV. Erprobung und Konsolidierung
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Neuwahl der Mitglieder der Kirchenkreistage, die ihrerseits die ent‐ sprechenden Wahlen zur Landessynode durchführten. Nachdem auch die vorgesehenen Berufungen ausgesprochen waren, berief am 10. No‐ vember Bischof Wüstemann die Synode zu einer ersten Tagung vom 1. bis 5. Dezember nach Treysa‐Hephata ein. In seinem „Wort an die Ge‐ meinden“ hob Wüstemann nicht nur die allgemeine Bedeutung der Synode hervor, sondern formulierte zugleich als wesentliche Aufga‐ benstellung dieser ersten Zusammenkunft: „Besonders wird diese Ta‐ gung der Landesynode darüber bestimmen, ob die seit 1945 in unserer Landeskirche erfolgte Neuordnung ihre Anerkennung findet.“60 Die ‚normative Kraft des Faktischen’ ließ für die Verhandlungen der Landessynode keine grundlegende Negation oder Veränderung der 1945 geschaffenen kirchlichen Institutionen – einschließlich des kurhessischen Bischofsamtes – erwarten. Längst hatte sich das ‚Provi‐ sorium’ etabliert. Dennoch kam es auch nicht zu einer bloßen Bestäti‐ gung und Übernahme der Entscheidungen der Notsynode. Maßgebli‐ chen Anteil an den Veränderungen hatte – zusammen mit Kirchenrat Karl Scheig – erneut Wilhelm Wibbeling, inzwischen Propst des Spren‐ gels Südhessen. In der Aussprache über das Kirchenleitungsgesetz trug er einen von allen Hanauer Synodalen unterzeichneten Antrag vor, wonach das ‚Leitungsgesetz’ von 1945 nicht in die entsprechenden Abschnitte der Verfassung von 1923/24 eingefügt, sondern insgesamt eine neue Kir‐ chenordnung ausgearbeitet werden solle, die auch den „Bekenntnis‐ stand der Evangelischen Kirche in Kurhessen‐Waldeck in seiner Einheit und in seiner Mannigfaltigkeit klarzustellen“61 habe. Kam darin schon Wibbelings Interesse am Eigengewicht der ‚Hanauer Union’ zum Aus‐ druck, hielt er auch nicht zurück, was er und andere Hanauer Synodale grundsätzlich – und also weiterhin! – an der Konzeption von 1945 kriti‐ sierten: Man habe es hier „mit einem Übergewicht des Bischofs und einem Untergewicht der Synode zu tun“62. Für die Landessynode musste die Annahme dieses Antrags die Verschiebung der anstehen‐ den Bestätigung des Kirchenleitungsgesetzes und den Beginn umfang‐ reicher Verfassungsverhandlungen bedeuten. Die Diskussion entspann sich folglich an der Frage des Für und Wider eines Aufschubs, bis der Hanauer Bürgermeister Dr. Hermann Krause im Auftrag der Hanauer Synodalen einen Kompromissvorschlag vortrug, der einerseits dem Anliegen Wibbelings und Scheigs gerecht werden, andererseits aber auch die Annahme des Kirchenleitungsgesetzes in geänderter Form 60 KABl. 62 (1947), 43. 61 Auszüge aus den Verhandlungen, 67 (s. Anm. 38). 62 Ebd., 67.
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Auf der Suche nach neuer Ordnung
ermöglichen sollte. Im Wesentlichen ging dieser Vorschlag dahin, dass „bei der Aufzählung der Organe der Leitung und Verwaltung der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck die Landessyno‐ de an die erste Stelle und der Rat der Landeskirche zwischen Bischof und Landeskirchenamt an die dritte Stelle“ komme; ebenso sei bereits bei der Nennung der Landessynode am Anfang der Passus aus § 18 des Leitungsgesetzes aufzunehmen, „daß die Landessynode der oberste Träger der landeskirchlichen Gewalt“63 ist. Die beabsichtigte Stärkung des synodalen Elements sollte auch darin sichtbar werden, dass nach dem Willen der Hanauer dem Vorsitzenden der Landessynode zugleich der Vorsitz im Rat der Landeskirche übertragen wurde. Angesichts der Möglichkeit, noch während der Synodaltagung zu einem für alle befriedigenden Ergebnis zu kommen, wurde eigens ein Ausschuss von zehn Synodalen berufen, dem auch vier Vertreter der ‚Hanauer Union’ angehörten. Dabei ließ sich im Blick auf die von Ha‐ nauer Seite gewünschte Herausstellung der gleichgewichtigen Polarität von Landessynode und Bischofsamt insofern eine Einigung erzielen, als nun alle Ausschussmitglieder dem Vorschlag von Krause zustimmten, die Landessynode explizit zu Beginn als Trägerin der ‚Kirchengewalt’ zu bezeichnen. Auch sollte der Vorsitzende der Landessynode – mit seinen beiden Stellvertretern – dem Rat angehören, der Vorsitz hier aber in den Händen des Bischofs bleiben. Von einer Umstellung in der Folge der Nennung der einzelnen Leitungs‐ und Verwaltungsorgane wurde abgesehen, da es sich nicht um eine „Wertordnung“64 handele. Die Synode selbst nahm das Resultat der Ausschussberatungen mit sichtlicher Erleichterung auf, und auch Wibbeling urteilte: „Ich bin dankbar, daß unser sachliches Anliegen von den Brüdern der Synode aufgenommen und uns so ein Stück echter Gemeinschaftsarbeit ge‐ schenkt wurde. Ich bin froh, daß wir damit mit der Frage der Ordnung unserer Kirche zum Abschluss kommen …“65. Die abschließende Le‐ sung des revidierten Kirchenleitungsgesetzes brachte keine weiteren Änderungen mehr. In der Abschlussabstimmung am 4. Dezember, bei der sich Bischof Wüstemann der Stimme enthalten musste, votierten von 50 anwesenden Synodalen 48 für das Leitungsgesetz (bei zwei Enthaltungen)66. Die Suche nach einer Neuordnung der Landeskirche war abgeschlossen. Bis zur Verabschiedung der Grundordnung der Evangelischen Kirche von Kurhessen‐Waldeck im Jahr 1967 blieb das ‚Leitungsgesetz’ als Bestandteil der Verfassung von 1923/24 in Kraft. 63 64 65 66
Ebd., 79. Ebd., 85. Ebd. 88f. Abgedr. in: KABl. 63 (1948), 16‐18.
V. Neubeginn?
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V. Neubeginn? Das Bewusstsein des Zusammenbruchs und das Erfordernis des Wie‐ deraufbaus in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens haben dazu geführt, von der Zeit ab Mai 1945 als der ‚Stunde Null’ zu sprechen. Mit zunehmender Distanz wird dieser Redeweise auch hinsichtlich der kirchlichen Neuordnung widersprochen. Bisherige Strukturgefüge innerhalb der Kirche behielten nach Kriegsende ihre Perseveranz, so dass zum Teil bewusst an sie angeknüpft wurde67. Seidels allgemeines Urteil trifft durchaus auf Kurhessen‐Waldeck zu: „Die Aufgaben in der Kirche waren nach dem Zusammenbruch so groß, daß keine Zeit übrigblieb, neue Strukturen auszuprobieren bzw. auszudenken. Die Sorge um die sofortige Einsatzbereitschaft der Kirche für das gesamte Volk förderte die Beharrung auf den gewohnten und den für manchen damaligen Zeitgenossen bewährten Lebensordnungen.“68 Dennoch wäre es verfehlt, von einer bloßen Restauration zu sprechen. Was die Verfassungswirklichkeit der kurhessischen Kirche anging, wurde tat‐ sächlich etwas Neues und zugleich Spezifisches geschaffen: Keine Überordnung des episkopalen Prinzips über das synodale oder umge‐ kehrt, sondern deren komplementäre Zuordnung. Welche Bedeutung dieser Neuordnung für den gesamtkirchlichen Bereich beigemessen wurde, belegt das „Memorandum“ des Juristen Dr. Ferdinand Fricke eindrücklich: „Unsere Kirche geht daher mit ihrer Neuordnung bewußt ihren eigenen Weg innerhalb unserer gesamten Evangelischen Kirche. Dieser Weg ist aus der Geschichte unserer Kirche begründet und trägt den besonderen Verhältnissen, wie sie in unserer Kirche gegeben sind, Rechnung … Unsere Kirche kann das Bindeglied der lutherischen und reformierten Auffassung werden.“69 Will man daher versuchen, den Weg dieser Landeskirche zwischen 1945 und 1947 schlagwortartig zu charakterisieren, dabei aber die Ex‐ treme ‚Neubeginn’ und ‚Restauration’ in ihrer Exklusivität vermeiden, trifft wohl am ehesten deren dialektische Verknüpfung den histori‐ 67 Vgl. FRICKS Schreiben an Happich, 1 (s. Anm. 59): „Ich warnte damals immer wieder vor dem verführerischen Gedanken, die Situation des Zusammenbruchs in der Rich‐ tung zu missbrauchen, dass man ohne Rücksicht auf die hinter uns liegende Zeit, gleichsam vom Nullpunkt aus, eine neue Verfassung macht, als wenn man keine verbindliche Tradition habe.“ 68 J. JÜRGEN SEIDEL, „Neubeginn“ in der Kirche? Die evangelischen Landes‐ und Pro‐ vinzialkirchen in der SBZ/DDR im gesellschaftlichen Kontext der Nachkriegszeit (1945‐1953), Göttingen 1989, 102. 69 DR. FERDINAND FRICKE, Memorandum (Oktober 1947), 17 (Masch. Ms. im Landes‐ kirchlichen Archiv Kassel, Handakte „Erläuterungen zur Geschäftsordnung der Landessynode …“).
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schen Sachverhalt: „Kontinuität und Bruch“70 – dies umschreibt ange‐ messen die Situation der Nachkriegsjahre auch in Kurhessen‐Waldeck.
Anhang71 Dokument 1 Ein kirchliches Sofortprogramm 1. Das Ende der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland nötigt zu radikaler Reinigung der Evangelischen Kirche. 2. Es kann keinerlei Rückkehr zu irgend einem früheren Zustand ge‐ ben, sondern es gilt, unter voller Auswertung der im Kirchenkampf gemachten Erfahrungen und gewonnenen Erkenntnisse die Deut‐ sche Evangelische Kirche als einen Bund bekenntnisbestimmter Kirchen zu erhalten, die aber sachgemäß Evangelische Kirche in Deutschland zu nennen ist. Als Bekenntnisse gelten die ökumeni‐ schen Symbole, die reformatorischen Bekenntnisse und die Barmer Sätze. 3. Die Verfassung der DEK von 1933 muß von einer zu berufenden Synode überprüft werden; das gleiche gilt von allen seitdem erlas‐ senen Kirchengesetzen. 4. Die von der Synode zu bestellende geistliche Leitung ist der Kir‐ chenkanzlei und allen kirchlichen Verwaltungsbehörden überge‐ ordnet. 5. Die Synode ist zu berufen von einer kirchlichen Stelle; als solche kommt allein in Frage Landesbischof D. Wurm, der Vorkämpfer der Einigung all derer, die wirklich Kirche Jesu Christi wollen. 6. Er wird gebeten, zur Vorbereitung einen Beirat zu bestimmen, zu dem Männer wie Martin Niemöller, Fr. von Bodelschwing, Prof. D. von Soden, Asmussen, Iwand, Niesel, Feldmarschall von Macken‐ sen, August Winnig, R. von Thadden‐Trieglaff namhaft gemacht werden. 7. Alle seit 1933 in leitende Ämter, vom Superintendenten aufwärts, und in kirchliche Behörden erfolgten Berufungen werden einer 70 HARRY NOORMANN, Protestantismus, Bd. 1, 282 (s. Anm. 3). 71 Die nachfolgend abgedruckten Dokumente sind sämtlich (als Durchschlag) vorh. im Archiv des Kirchenkreises Hanau‐Land, Langenselbold, „Akte der Hanauer Union. Akten zur Neuordnung der Evangelischen Landeskirche Kurhessen‐Waldeck.“ – Für freundliche Unterstützung danke ich Herrn Dekan Peter Gbiorczyk, Langenselbold.
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sorgsamen Nachprüfung unterzogen; Berufungen aus politischen Gesichtspunkten sind null und nichtig. Alle ehemaligen Angehörigen der NSDAP verlieren auf Lebenszeit die Fähigkeit zur Bekleidung leitender Ämter in der Kirche wegen bewiesenen Mangels an christlicher Urteilskraft. Um jeden Mißbrauch der Kirche zu politischen Zwecken nach Möglichkeit auszuschalten, wird durch Kirchengesetz jede Zugehö‐ rigkeit von Männern im geistlichen Amt zu politischen Parteien verboten. Auch wird jede Beflaggung von Kirchen verboten; die Kirchenfahne wird abgeschafft. Völlige Trennung von Kirche und Staat ist mit aller Energie anzu‐ streben, einschließlich einer restlosen Ablösung aller finanziellen Verpflichtungen von Staat und Gemeinden. Die Frage des placet für die leitenden Stellen ist sorgsam zu prüfen. Die Kirche hat die volle Selbständigkeit auch in finanzieller Bezie‐ hung, unter alleiniger Anerkennung des allgemeinen staatlichen Aufsichtsrechts, zu beanspruchen und zu wagen. Allen Zentralisierungstendenzen geistlicher wie finanzieller Art ist Widerstand zu leisten; die Selbständigkeit der Einzelgemeinden wie der Landeskirchen ist gerade nach den letzten Erfahrungen zu stärken. Die ökumenischen Beziehungen sind sofort tatkräftig wiederaufzu‐ nehmen. (Zum Grundsätzlichen vgl. den Beitrag der Festschrift für Prof. v. Soden „Um die Freiheit des geistlichen Kirchenregiments“ des Verf.)72 Wilhelm Wibbeling Langendiebach, Ostern April 194573 V.D.M.74 Dokument 2 Ein kirchliches Sofortprogramm für Kurhessen
1. Das Sofortprogramm für die Evangelische Kirche in Deutschland gilt sinngemäß auch für Kurhessen. 2. Der Auftrag des Landeskirchenausschusses ist erloschen. Die an ihm beteiligten Männer kommen für die zukünftige Leitung der Kirche nicht in Betracht. 72 Vgl. WIBBELING, Um die Freiheit (s. Anm. 22). 73 1./2. April. 74 Verbi Dei Minister (Diener des Wortes Gottes).
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3. Die Verfassung von 1924 tritt im allgemeinen wieder in Kraft unter Aufhebung aller entgegenstehender seit 1933 erlassenen Gesetze und Verordnungen. Die spätere Überprüfung wird vorgesehen. 4. Eine von dem Präsidenten des letzten Landeskirchentages75 einzu‐ berufende Versammlung kirchlicher Amtsträger möge baldigst die Frage prüfen, ob nicht anstelle der in der Verfassung vorgesehenen Wahl eines Landeskirchentags nach der Zeitmode der Nachkriegs‐ zeit die Berufung einer Synode nach den bewährten kirchlichen Grundsätzen des synodalen Aufbaus zu treten habe, die durch Notverordnung geregelt wird. Vorgeschlagen wird für diese Ver‐ sammlung die Teilnahme des Bruderrats der Bekennenden Kirche, des Vorstands des Pfarrervereins, der Mitglieder des Landeskir‐ chenamtes und des Ausschusses der Kreispfarrerkonferenz. 5. Bis zur Neuregelung der Leitung der Kirche erledigt das Landes‐ kirchenamt die laufenden Verwaltungsgeschäfte. Die Stellenbeset‐ zung ruht; in Notfällen erfolgt auftragsweise Versehung. 6. Bei der Neuregelung ist mit besonderer Sorgfalt das Amt der Lan‐ despfarrer wiederherzustellen und zu besetzen; in ihrer Hand liegt die geistliche und damit die Gesamtleitung der Kirche. 7. Wir bedauern, daß das Anliegen der Renitenz, die von aller staatli‐ chen Einmischung freie geistliche Leitung der Kirche, bisher gerade in unserer Landeskirche so wenig verstanden wurde, und laden die renitente Kirche ein, mit uns in der kommenden staatsfreien Kirche zusammenzuarbeiten76. 8. Die Bereinigung der rechtlichen und finanziellen Beziehungen zwi‐ schen staatlichen, kommunalen und kirchlichen Stellen ist in unse‐ rer Landeskirche besonders dringlich. Saubere Trennung ist mit äußerster Entschiedenheit anzustreben. Zu nennen ist die Ablösung aller Baulasten kirchenfremder Stellen, aller kommunalen Ver‐ pflichtungen zur Besoldung z. B. von Glöcknern, sowie die Klärung des Friedhofsrechtes. 9. Die Aufrechterhaltung der finanziellen Selbständigkeit der Ge‐ meinden ist nach den Erfahrungen dieser augenblicklichen Notzeit eine absolute Notwendigkeit, unbeschadet des Ausgleichs zwi‐ 75 Metropolitan a. D. D. Theodor Dithmar. 76 Am 24. September veröffentlichte das „Kirchenregiment der Renitenten Kirche Ungeänd. Ausgb. Konf.“ seinerseits als Flugblatt eine „Erneute brüderliche Bitte“, in der es die Landeskirche, „in dem Augenblick, da diese sich eine neue Ordnung ge‐ ben will“, aufforderte, ihr Verhältnis zur Renitenz durch Klärung des eigenen Be‐ kenntnisstandes zu regeln. – Erst 1952 kam es zu Vereinbarungen zwischen einzel‐ nen renitenten Gemeinden und der Landeskirche, die zur Wiedervereinigung führten; vgl. dazu PAUL RIEMANN / RUDOLF SCHLUNK, Das Ende der renitenten Kir‐ che, Kassel 1973, 40‐61, Dok. 6‐13 (Monographia Hassiae 2).
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schen leistungstärkeren und leistungschwächeren Gemeinden und der Hilfe für zerstörte Kirchen und Gemeinden. Langendiebach, Ende April 1945 Wilhelm Wibbeling V.D.M. Dokument 3 Zur Finanzlage der Ev. Landeskirche Kurhessen‐Waldeck 1. Die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen und das damit gegebene Nicht‐mehr‐vorhanden‐sein auch der preußischen Regie‐ rung nötigt die auf ehemals preußischem Boden bestehenden Lan‐ deskirchen und also auch die von Kurhessen, sofort die seit langem erwünschte, aber leider sehr wenig vorbereitete Verselbständigung der kirchlichen Finanzen sofort [sic Ditt.!] herbeizuführen. 2. Männer der bisherigen Finanzverwaltung sind wegen ihrer staats‐ kirchlichen Herkunft und ihres staatskirchlichen Denkens kaum geeignet für die Durchführung. 3. Die Kirche muß sich darauf einrichten, grundsätzlich nur von eige‐ nen Einnahmen zu leben und auf staatliche Zuschüsse zu verzich‐ ten, soweit nicht im einzelnen besondere Rechtsverhältnisse vorlie‐ gen. 4. Die Finanzverwaltung hat weiterhin zu scheiden zwischen der Pfarrbesoldung (Pfarreikassen und zugehörige Zentralbesoldungs‐ kasse) und dem übrigen kirchlichen Geldwesen (Kirchenkassen und Stiftungen). 5. Eine Herabsetzung der Pfarrergehälter, namentlich in den höheren Altersstufen, ist unvermeidlich. Sie allein gibt das Recht zu sparsa‐ mer Festsetzung aller anderen Besoldungen in der Kirche. 6. Die Besoldung des Pfarrers ist grundsätzlich Sache der Gemeinde. Dazu ist erforderlich [die] sorgfältige Ausnutzung des beweglichen und unbeweglichen Vermögens. Dieses wird aber in den seltensten Fällen ausreichen. Zur Deckung des Fehlbetrages ist die Kirchen‐ kasse verpflichtet, und erst, wenn deren Leistungsfähigkeit er‐ schöpft ist, ist ein landeskirchlicher Zuschuß zu gewähren. Für den Ausgleich ist eine Regelung ähnlich der früheren preußischen Al‐ terszulagenklasse anzustreben. 7. Der Pflichtbeitrag der Kirchenkasse zur Pfarrbesoldung (Leistung neueren Rechts) ist allgemein zu erhöhen. Überschüsse daraus in größeren Gemeinden ergeben die Möglichkeit zur Hilfe für leis‐ tungsschwache Gemeinden.
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8. Die allgemeine Erhöhung der Kirchensteuer ist unumgänglich, aber auch tragbar. Es wird kaum möglich sein, die Einnahmen aus Op‐ fern auf die Dauer wesentlich zu erhöhen, so wünschenswert das ist. 9. Es ist zu prüfen, ob nicht anstelle der bisherigen Veranlagung der Kirchensteuer nach dem Maßstab der Einkommensteuer und Grundvermögenssteuer eine ganz selbständige kirchliche Veranla‐ gung einzuführen ist mit deutlicher Absetzung von der staatlichen Steuerverwaltung, etwa mit einer Selbsteinschätzung und Berichti‐ gung durch die Kirchenvorstände, unter Verwertung der Erfahrun‐ gen mit Kirchgeld und Kirchbeitrag. 10. Die Wiederherstellung der Steuerfreiheit für das kirchliche Grund‐ vermögen und für kirchliche Gebäude ist anzustreben. Dafür könn‐ te der Verzicht auf die überalterte, der staatsfreien Kirche nicht mehr würdige Baulast staatlicher und kommunaler Stellen ausge‐ sprochen werden. 11. Durch die vielfach angestrebte und in der Durchführung begriffene Einrichtung gemeinsamer Verwaltung der kirchlichen Kassen meh‐ rerer Gemeinden oder ganzer Kirchenkreise darf die finanzielle Selbständigkeit der einzelnen Gemeinde nicht angetastet werden. 12. Aufgaben der Inneren Mission sind grundsätzlich nicht durch Mit‐ tel der Kirchenkassen, insbesondere nicht aus Kirchensteuern, son‐ dern durch freiwillige Gaben zu finanzieren. Neue Aufgaben dür‐ fen nur nach sorgfältiger Prüfung der Finanzierungsmöglichkeiten in Angriff genommen werden. 13. Nach dem Wegfall der staatlichen Zuschüsse ist die Landeskir‐ chenkasse allein durch landeskirchliche Umlagen zu finanzieren, um die Ausgaben für die Leitung und Verwaltung der Landeskir‐ che sowie den Ausgleich zwischen leistungsstärkeren und ‐schwä‐ cheren Gemeinden leisten zu können. Langendiebach, 21. Juni 1945 Wilhelm Wibbeling V.D.M. Dokument 4 „Hier sei nur gesagt, dass unter allen Umständen nationalsozialistische Rückstände auszumerzen sind.“ Verf. Landeskirchenamt Kassel Pr. Nr. 62/45 v. 1.6.1945 1. Die an sich absolut berechtigte Forderung der Ausmerzung ns. Rückstände in der Kirche klingt verwunderlich in der Verfügung
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einer Behöre wie unseres Landeskirchenamtes und in Verbindung mit dem Hinweis auf ein zu erwartendes Wort des derzeitigen, vom Landeskirchenausschuß eingesetzten geistlichen Leiters unse‐ rer Landeskirche; m. w. sind sowohl der unterzeichnende Präsident des LKA77 wie D. Happich Mitglieder der NSDAP gewesen78, und unsere Landeskirche hat unter nichts in den vergangenen Jahren mehr gelitten als unter dem Mangel an Widerstandswillen und ‐kraft gegenüber ns. Forderungen an die Kirche. Widerstandswille und ‐kraft waren nur bei einem Teil der Pfarrerschaft und der Ge‐ meinden zu finden. Die Behörden legten größeren Wert auf gute Beziehungen zur Partei und zum Staat als auf das Vertrauen von Pfarrern und Gemeinden. 2. Diese Vergangenheit macht die Forderung, vom Landeskirchenamt erhoben, unglaubwürdig, solange nicht vorausgeht eine öffentliche Lossagung von Geist und Taten der Vergangenheit. Um das an‐ scheinend schadhafte Gedächtnis aufzufrischen, sei nur an zwei schmähliche Ereignisse erinnert: a. an die Entscheidung in Fragen der sog. Godesberger Erklärung kurz vor Ausbruch des Krieges, bei der LKAusschuß und LKAamt und Kreispfarrerkonferenz sich trotz aller Warnungen der BK und besonders Prof. D. von Sodens sich [Ditt.] durch Landesbischof Marahrens blindlings verführen ließen, um des Wohlwollens des Ministers Kerrl willen das Bekenntnis der Kirche zu ver‐ – als Fortsetzung des Wortes sei freigestellt – ‐raten oder ‐leugnen.79 b. an die Vorgänge um die wahrlich milden 13 Sätze der Eini‐ gungsaktion D. Wurms80, bei denen dieselben Gremien sich von der persönlichen Unterschrift D. Happichs distanzierten und sie damit völlig entwerteten. Wer damals diese Entscheidungen mitzuverantworten hat, gehört zu den ns. Rückständen, die jetzt auszumerzen sind. 3. Die Forderung der Ausmerzung ist so radikal, d. h. von der Wurzel her, an Haupt und Gliedern durchzuführen, an den leitenden Gre‐ 77 Dr. Wilhelm Lütkemann. 78 Laut schriftlicher Auskunft des Berlin Document Centers, das die NSDAP‐ Mitgliedskartei aufbewahrt, liegen dort allerdings keine Unterlagen über eine NSDAP‐Zugehörigkeit von Lütkemann und Happich vor. 79 Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen von Soden und Happich 1939/40, in: Theolo‐ gie und Kirche im Wirken Hans von Sodens ,297‐317, Dok. 30 (s. Anm. 16), sowie SLENCZKA, Die evangelische Kirche, 211‐221, Dok. 5 (s. Anm. 36). 80 Vgl. JÖRG THIERFELDER, Das Kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm, Göttingen 1975, 94‐121 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte B/1).
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mien mit mindestens der gleichen Sorgfalt wie in den Gemeinden, die allein die Verf. nennt. Ihre Durchführung kann nicht in den Händen von Männern liegen, die selbst der NSDAP zu irgend einem Zeitpunkt angehört haben oder von ihr oder mit Rücksicht auf sie in bestimmte Ämter ge‐ bracht worden sind oder an der Durchführung von ns. Forderun‐ gen gegenüber der Kirche beteiligt gewesen sind. Es scheiden also aus LKAusschuß und Finanzabteilung als typische ns. Einrichtun‐ gen mit allen ihren Mitgliedern. Die Durchführung ist einem besondern Ausschuß anzuvertrauen, der von dem im Sofortprogramm Satz 4 genannten Gremium zu bilden ist für die Landeskirche mit 7 und für jeden Kirchenkreis mit 5 Mitgliedern. In den Kreisen sind zu berufen etwa der Kreispfar‐ rer, der Vertrauensmann der BK, der Obmann des Pfarrervereins und zwei Kirchenälteste, in der Landeskirche zwei Männer der BK, zwei des Pfarrervereins und drei Laien, von denen einer Jurist sein sollte, alle entspr. Satz 4 ausgewählt. Der landeskirchliche Aus‐ schuß ist Berufungsinstanz für die Kreissausschüsse; seine Ent‐ scheidung ist endgiltig [!]. Für die Arbeit der Ausschüsse gilt als Richtlinie: a. alle ehemaligen Mitglieder der NSDAP oder der DC, überhaupt alle, auf die Satz 4 zutrifft, sind aus leitenden Stellen (vom Kreispfarrer aufwärts) und Behörden zu entfernen. b. bei allen Pfarrern, die der NSDAP oder ihren Gliederungen einschl. DC angehört haben, ist zu prüfen, ob ihre Zugehörig‐ keit und ihre amtliche und außeramtliche Betätigung ihr Verbleiben in der Gemeinde und im Amt überhaupt tragbar oder untragbar gemacht hat. c. alle Kirchenvorstände sind entspr. b. zu überprüfen. Die finanziellen Fragen dabei sind entsprechend dem Verfahren staatlicher Stellen zu regeln. Die Ausmerzung der ns. Rückstände ist mit größter Beschleuni‐ gung durchzuführen als rein kirchliche Aufgabe, ehe von irgend einer außenstehenden Stelle dazu genötigt wird. Die Freiheit der Kirche hat sich auch hier zu bewähren. Langendiebach, 7.7.1945 Wilhelm Wibbeling V.D.M.
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Dokument 5 Vorschläge für das evang. Hanau 1945 1. Die völlige Zerstörung der Innenstadt nötigt zu außerordentlichen Notmaßnahmen auch für die Ordnung der kirchlichen Verhältnis‐ se. 2. Die erste grundlegende Maßnahme muß sein die planmäßige Zu‐ sammenfassung aller Hanauer Kirchengemeinden zu einer Notge‐ meinschaft, die außer dem bisherigen Gesamtverband die Kirchen‐ gemeinde Kesselstadt einschließen muß81. 3. Die infolge der Pensionierung freie Pfarrstelle Kesselstadt muß mit einem erfahrenen Pfarrer mittleren Alters besetzt werden, der zugleich Kreispfarrer von Hanau‐Stadt und verantwortlicher Leiter der Notgemeinschaft werden muß. Für die Gemeindearbeit ist ihm ein ständiger Hilfspfarrer beizugeben, wenn nicht eine zweite Pfarrstelle gegründet werden kann. 4. Das übrige Stadtgebiet ist unter möglichster Beibehaltung der alten Gemeindegrenzen neu zu gliedern. Bei der Frage der Besetzung der Pfarrstellen ist nicht in erster Linie auf Sparsamkeit zu achten, son‐ dern auf die Sicherstellung der vollen geistlichen Versorgung ein‐ schließlich der übergemeindlichen Arbeit. 5. Die Ausmerzung der Nat. Soz. Rückstände ist mit besonderer Sorg‐ falt durchzuführen. 6. Die dringlichste bauliche Aufgabe ist die Rettung des Chores der Marienkirche und seine Ausgestaltung als gottesdienstlicher Raum. 7. Die Verwaltung der Kirchenkasse ist – gemeinsam oder getrennt von denen der Landgemeinden – sachlich und persönlich zu reor‐ ganisieren. 8. Das Verhältnis zur niederländisch‐wallonischen Gemeinde muß bereinigt werden mit dem Ziel freundnachbarlicher Eingliederung der Gemeinde in die gesamtkirchliche Arbeit unter Berücksichti‐ gung ihrer Sonderstellung82. 9. Vorbedingung für eine sachgemäße Regelung der eigentlichen Per‐ sonalfragen ist die sachliche Klarstellung, zu der diese Vorschläge dienen sollen. Langendiebach, im August 1945
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81 Im Gegensatz zur Hanauer Innenstadt blieb der Stadtteil Kesselstadt vom amerika‐ nischen Luftangriff am 19. März 1945 weitgehend verschont. 82 Die Wallonisch‐Niederländische Gemeinde, seit 1579 von eingewanderten refor‐ mierten Flamen und Wallonen gebildet, besaß eine eigene Konsistorialverfassung. Zu der von Wibbeling vorgeschlagenen Eingliederung kam es nicht.
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Dokument 6 Notgesetz Nachdem die rechtmäßigen Organe der Kirchenleitung in der Evange‐ lischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck durch die Gewaltherr‐ schaft des Nationalsozialismus zerstört worden sind, nachdem aber auch diese Gewaltherrschaft zusammengebrochen ist und damit der Weg frei für eine der heiligen Schrift und den Bekenntnissen der Kirche gemäße Ordnung, erlässt die in Treysa versammelte Notsynode in vol‐ lem Bewusstsein der Fragwürdigkeit ihrer Berufung folgendes Notge‐ setz über die Leitung und Verwaltung der Ev. Landeskirche von Kur‐ hessen‐Waldeck: § 1. Die Notsynode tritt bis zur Berufung einer ordentlichen Synode an die Stelle des Landeskirchentages und ist Träger der Kirchengewalt. § 2. Bis zur endgültigen Regelung durch die ordentliche Synode wird die Leitung und Verwaltung der Landeskirche geregelt nach den Bestim‐ mungen der Abschnitte IV und VI der Verfassung von 1924, soweit nicht durch dieses Gesetz andere Bestimmungen getroffen werden. § 3. Soweit die vorgesehenen Organe der Kirchenleitung nicht mehr vor‐ handen sind, werden sie durch die Notsynode wiederhergestellt, insbe‐ sondere die Kirchenregierung und das Amt der Landespfarrer und des Landesoberpfarrers. § 4. Bis zur Einsetzung der Landespfarrer entsendet die Notsynode vier Pfarrer, aus jedem Sprengel einen, in die Kirchenregierung. § 5. Den Landespfarrern obliegt die geistliche Leitung in den Sprengeln. Die Sprengel werden gemäß dem Bekenntnisstand neu eingeteilt, so daß das niederhessisch‐reformierte Gebiet zwei, das oberhessisch‐ lutherische Gebiet (einschl. Waldeck83 und Schmalkalden) und in die Hanauer Union je einen Sprengel bilden. Die Landespfarrer werden von den Pfarrern ihres Sprengels ge‐ wählt und von der Kirchenregierung bestätigt. Sie müssen ein Pfarramt in ihrem Sprengel bekleiden. 83 Diese Zuordnung mag überraschen, denn 1821 war in Waldeck‐Pyrmont die Union eingeführt worden. Der weitaus überwiegende Teil der Waldecker Gemeinden hatte jedoch eine lutherische Prägung; vgl. dazu DIETER WASSMANN, Waldeck. Geschichte einer Landeskirche, Kassel 1984, 115‐118 (Monographia Hassiae 10).
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§ 6. Die Landespfarrer wählen aus ihrer Mitte den Landesoberpfarrer. § 7. Das Landeskirchenamt führt die laufende Verwaltung nach den Wei‐ sungen der Kirchenregierung. Der Landesoberpfarrer ist Vorsitzender des Landeskirchenamtes. Die geistlichen und weltlichen Räte sind einander gleichgestellt. Der Landesoberpfarrer kann sich im Vorsitz des Landeskirchenamtes durch einen der Räte vertreten lassen. § 8. Die Kirchenregierung hat durch nähere Anordnung die Bildung der ordentlichen Synode so vorzubereiten, daß zunächst die Kirchenvor‐ stände neu gewählt werden, von den Kirchenvorständen die Kreiskir‐ chentage, und von diesen die Abgeordneten zur Synode, je ein Pfarrer und ein Kirchenvorsteher oder ‐Ältester aus jedem Kirchenkreis. Mit‐ glieder der Synode sind außerdem die Landespfarrer und sechs von der Kirchenregierung zu berufende Personen, sowie der Vertreter der Theol. Fakultät Marburg. § 9. Mit der Berufung der Kirchenregierung erlischt der Auftrag des Lan‐ deskirchenausschusses.
Was heißt: „… in der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation zu einer Kirche zusammengewachsen“? 1. Die Präambel der Grundordnung der Evangelischen Kirche von Kurhessen‐Waldeck Am 22. Mai 1967 verabschiedete die Landessynode der „Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck“ – wie damals noch ihre Be‐ zeichnung lautete – mit großer Mehrheit eine neue Grundordnung. Die seit 1962 intensiv bedachten Fragen nach der rechtlichen Verfasstheit der kurhessischen Kirche fanden darin ihren sichtbaren und bindenden Ausdruck. Eine solche Antwort war umso wichtiger, als sich angesichts der gewandelten Zeitverhältnisse und der Fülle inzwischen hinzugetre‐ tener Rechtsregelungen der Rekurs auf die seit 1924 geltende „Verfas‐ sung der evangelischen Landeskirche in Hessen‐Cassel“ und das 1945/47 approbierte „Leitungsgesetz“ als nicht mehr hinreichend er‐ wies. Der offenkundige Charakter eines Provisoriums, von dem die ersten Synoden nach dem Krieg ausgingen, konnte nur durch eine grundlegende Neuordnung mit dem Ziel einer einheitlichen und die bisherigen Entwicklungen aufnehmenden Strukturierung der Landes‐ kirche überwunden werden. Bei der Komplexität dieses Erfordernisses verwundert es nicht, dass die Entstehung der neuen Verfassung ihre Zeit brauchte und fast jeder der 148 Artikel – wie ein Blick in die Ver‐ handlungsprotokolle zeigt – erst nach kritischem Abwägen seinen ab‐ schließenden Wortlaut bekam. Ein besonderes Gewicht legten die Synode und die sie vorbereiten‐ den Gremien auf die Formulierung einer Präambel, die den eigentlichen Verfassungsbestimmungen vorangestellt wurde. Waren die einleiten‐ den Sätze der Verfassung von 1923/24 noch eher als ‚Vorspruch’ gehal‐ ten1, so deutete nun bereits deren ausdrückliche terminologische Kenn‐ zeichnung als ‚Präambel’ die höhere Wertigkeit an, die ihnen beige‐ messen werden sollte. Wohl nicht zu Unrecht ist darum gerade dieser 1
Vgl. Verhandlungen der 2. und 3. Tagung der Verfassungsgebenden Kirchenver‐ sammlung für den Bezirk des Evangel. Konsistoriums zu Kassel in den Jahren 1922 und 1923 im Evangelischen Vereinshaus zu Kassel. Nach den Protokollen, Kassel, 1926, 134.
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In der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation
Passus „als das entscheidende Kernstück der Grundordnung“2 be‐ zeichnet worden, ging es doch darum, in knapper und zugleich solen‐ ner Form Aussagen nicht nur zum Auftrag, sondern auch zur Gestalt der konkreten Kirche zu machen. Diesen letzten Gesichtspunkt hob denn auch der Verfassungsrechtler Dietrich Pirson während der Syn‐ odalberatungen besonders hervor: „Es ist in erster Linie die Funktion der Präambel, den geschichtlichen Standort der hier verfaßten Kirche in einem größeren Zusammenhang deutlich zu machen.“3 Solche Beto‐ nung einer spezifischen historischen Verortung der kurhessischen Kir‐ che ging weit über das hinaus, was 1923/24 die Verfassung umschrieb. Diese hatte sich mit dem Satz begnügt, die Landeskirche stehe „auf dem in der Heiligen Schrift gegebenen, in den Bekenntnissen der Re‐ formation bezeugten Evangelium von Jesus Christus, unserem Herrn“, und im Übrigen den gegenwärtigen Status quo zu definieren versucht. Damit war zwar etwas über die Grundlage, nicht aber über den Wer‐ deprozess dieser Kirche ausgesagt. Erst vierzig Jahre später machte man sich daran, der geschichtlichen Entwicklung selbst das ihr zu‐ kommende Gewicht beizumessen und damit nun auch die Eigenstän‐ digkeit und Unverwechselbarkeit des Weges der kurhessischen Lan‐ deskirche positiv in den Blick zu bekommen. Zu dieser veränderten Sichtweise trug nicht unerheblich die Erfahrung bei, dass sich aus der historisch bedingten konfessionellen Pluriformität in Kurhessen‐ Waldeck eine einheitliche Gestalt von Kirche entwickelt habe, die ihr verschiedenes Erbe nicht verleugnen müsse, ohne deshalb sogleich als in sich indifferent zu gelten. Mit anderen Worten: Wo bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein die Bekenntnisse der Reforma‐ tionszeit entweder in ihrer gegenseitigen Abgrenzung betont oder un‐ historisch schlichtweg umgangen wurden, konnte man sich nun be‐ wusst dieser Geschichte als einer Geschichte der Rezeption unterschied‐ licher reformatorischer Traditionen stellen4, weil die Einheit dieser Kirche selbst nicht mehr in Frage stand. Ja, mehr noch: Das gewachsene ökumenische Bewusstsein ließ die spezifische geschichtliche Entwick‐ lung der kurhessischen Kirche – bei allen zu konzedierenden Irrewegen – als ein Musterbeispiel für die Bemühungen erscheinen, aus dem Ge‐ 2
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HERMANN FÜRER, in: Verhandlungen der 1. außerordentlichen Tagung der 4. Lan‐ dessynode der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck, Kassel 1967, 178. Ebd. 180; vgl. auch HANS‐GERNOT JUNG ebd., 183: „In der Präambel sollte mit weni‐ gen klaren Worten der geschichtliche Ort unserer Kirche angedeutet werden.“ Vgl. dazu schon HANS‐GERNOT JUNG, Bekenntnis in der Ökumene, Kassel 1964, 16‐ 28, sowie DIETRICH PIRSON, in: Verhandlungen der 1. ordentlichen Tagung der 4. Landesynode der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck, Kassel 1966, 51.
II. Vorausgegangene Forschungsansätze
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gensatz konfessioneller Ausschließlichkeit zu einer vielgestaltigen Ge‐ meinsamkeit zu kommen. Um dies auch angemessen in der Präambel auszurücken, wurde im Entwurf der Grundordnung ein Passus vorge‐ schlagen, der in den weiteren Verhandlungen der Synode bis zur Ver‐ abschiedung der neuen Grundordnung unverändert blieb: Danach ist die Evangelische Kirche von Kurhessen‐Waldeck „vor allem durch das Augsburgische Bekenntnis und die von ihm aufgenommenen altkirch‐ lichen Symbole geprägt und in der Vielfalt der überlieferten Bekennt‐ nisse der Reformationszeit zu einer Kirche zusammengewachsen“5. Natürlich konnte solch eine Ortsbestimmung der Landeskirche an dieser Stelle nur abbreviatorischen Charakter haben. In wenigen Wor‐ ten nimmt sie ein recht komplexes Geschehen auf. Wie lässt sie sich so entschlüsseln, dass auf ihrem Hintergrund die wichtigsten Knoten‐ punkte im Prozess des Zusammenwachsens transparent werden und sie selbst dadurch wiederum als legitime Umschreibung und Deutung kurhessischer Kirchengeschichte erscheint? Auf diese Frage soll im Folgenden in der Form eines ‚historischen Kommentars’ eine Antwort gesucht werden. Den Einsatzpunkt markiert dabei jenes Stichwort, das im Zentrum des dritten Absatzes der Präambel steht: die Rede von „der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse“.
II. Vorausgegangene Forschungsansätze Die Eigenart des Weges der hessischen Kirche seit der Reformation hat es mit sich gebracht, dass die Frage nach ihrem Bekenntnis ein ständi‐ ger Begleiter war. „Es gibt wohl kaum eine andere (sc. Landeskirche) in Deutschland, in der die Bekenntnisfrage so verworren und vieldeutig wäre“ – so hat es Wilhelm Maurer ausgedrückt6. Wandlungen, aber auch Kontinuitäten aufzuzeigen, wurde daher zu einem lohnenden Feld kirchengeschichtlicher Forschung. Die Rückfrage in die Geschichte unter dem Blickwinkel der Präambel ist methodisch gesehen zunächst kein Neuansatz. Sie kann aber auch keine Wiederholung etwa der Strei‐ tigkeiten sein, die im 19. Jahrhundert Heinrich Heppe und August Vil‐ mar um den Bekenntnistand der hessischen Kirche führten7 und die 5 6 7
Kirchliches Amtsblatt der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck (KABl.) 82/1967, 19, Präambel der Grundordnung, Abs. 3. WILHELM MAURER, Bekenntnisstand und Bekenntnisentwicklung in Hessen, Güters‐ loh 1955, 8. Vgl. dazu DERS., Das Bild der Reformationsgeschichte bei August Vilmar und Hein‐ rich Heppe, in: DERS., Kirche und Geschichte, Ges. Aufs., Bd 2, hg. v. ERNST‐ WILHELM KOHLS und GERHARD MÜLLER, Göttingen 1970, 78‐102.
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In der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation
Ausdruck eines bestimmten historisch bedingten konfessionalistischen Denkens waren. Eines allerdings hat der Streit deutlich gemacht: Das leitende Interesse bestimmt gerade bei dieser Thematik in besonderer Weise die historische Bewertung! Das kommt auch in den beiden Dar‐ stellungen zum Ausdruck, die seit 1945, nach der Konstituierung der Evangelischen Kirche in Deutschland, auf die Bekenntnisfrage im Be‐ reich der Evangelischen Kirche von Kurhessen‐Waldeck stärker einge‐ gangen sind. Im Jahr 1955, also nach seiner Berufung auf einen kirchengeschicht‐ lichen Lehrstuhl in Erlangen, legte Wilhelm Maurer seine detaillierte Untersuchung zu „Bekenntnisstand und Bekenntnisentwicklung in Hessen“ vor, in der er die enge Bindung der hessischen Kirche an das Augsburger Bekenntnis nachzuweisen suchte und sie insgesamt nahe an die lutherisch geprägten Landeskirchen herangerückt wissen wollte. Sein Fazit lautete, es gelte die Confessio Augustana „zu aktualisieren, wenn die Landeskirche zu ihrer inneren Einheit gelangen und ihren Platz in der evangelischen Christenheit einnehmen will“8. Maurer blieb damit seinem Ansatz treu, der schon zuvor in verschiedenen Veröffent‐ lichungen zum Ausdruck gekommen war – besonders auch in seinem Vortrag, den er 1946 unter dem Titel „Ende des Landeskirchentums?“ vor einer Pröpste‐ und Dekanekonferenz in Kurhessen‐Waldeck gehal‐ ten hatte9. Hier forderte er unter dem Eindruck der Bemühungen um die Neugestaltung der Evangelischen Kirche in Deutschland: „Die Fülle konfessioneller Spielarten, die uns der Territorialismus des 16. Jahr‐ hunderts hinterlassen hat, muß auf einige wenige große Grundtypen zurückgeführt werden. Das bedeutet Rückgliederung bzw. Neube‐ stimmung der bisherigen Unionskirchen. Im Blick auf das Luthertum erweisen sich dabei Confessio Augustana und Kleiner Katechismus Luthers als die entscheidenden, das kirchliche Leben tragenden Grundbekenntnisse … Evangelische Kirche Augsburger Konfession – unter dieser Überschrift würden mehr als neun Zehntel des deutschen Protestantismus sich einheitlich zusammenschließen können, zu einer großen lutherischen Kirche in Deutschland“10 – in der, so wäre zu er‐ gänzen, auch die kurhessische Kirche trotz ihrer eigenständigen Ge‐ schichte ihren Platz hätte. Vom historischen Ausgangspunkt, aber ebenso von den verbindlichen Entscheidungen der entstehenden hessi‐ schen Kirche im 16. Jahrhundert her war für Maurer deren konfessio‐ 8 9
DERS., Bekenntnisstand, 70 (s. Anm. 6). Abgedr. in: DERS., Die Kirche und ihr Recht. Ges. Aufs. zum evangelischen Kirchen‐ recht, hg. von GERHARD MÜLLER und GOTTFRIED SEEBASS, Tübingen 1976, 449‐473 (Jus Ecclesiasticum 23). 10 Ebd., 472.
II. Vorausgegangene Forschungsansätze
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neller Charakter als einer lutherischen klar bestimmt und durch die Verwicklungen in den späteren Jahrhunderten nicht überholt – eben weil jene Grundentscheide in ihrer Rechtsgeltung nie aufgehoben wur‐ den. Maurers Vorschlag einer Reduktion auf Kirchentypen setzte sich be‐ kanntlich nicht durch, und es ist die Frage, ob durch diesen Weg einer Rückkehr die bestehenden Differenzen und Pluriformitäten zwischen den einzelnen Landeskirchen, aber ebenso innerhalb der kurhessischen Landeskirche hätten aufgehoben werden können. Denn auch den Ent‐ wicklungen, die auf das Reformationszeitalter folgten, kann nicht grundsätzlich ein geschichtliches Recht abgesprochen werden. Unter dem Eindruck, dass sich die Einheit dieser Landeskirche und auch der evangelischen Christenheit statt dessen in einer Progression nach vorne hin ergeben habe, steht darum auch Werner Dettmars kirchenkundli‐ cher Überblick, dessen Titel zugleich Programm ist: „Auf dem Weg zu der einen Kirche“11. Dettmar zeichnet, übrigens in häufiger Anlehnung an die Arbeiten Maurers, den eigenwilligen Verlauf der hessischen Kir‐ chengeschichte im Kontext einer allgemeinen Christentumsgeschichte nach, um dann in seiner Beurteilung unter dem Stichwort „Offenheit“12 diesen Weg als Beispiel für die Überwindung der konfessionellen Spal‐ tung zu bezeichnen. Die Evangelische Kirche von Kurhessen‐Waldeck, so wie sie geworden ist, hat für ihn das Spezifikum, dass sie „durch ihre bekenntnismäßige Offenheit und durch ihr waches Interesse, über die Grenzen hinauszuschauen, bereit zu jedweder Zusammenarbeit ist, um evangelische Kirche in dieser Welt angemessen darzustellen“13. Während für Maurer die Konfessionsbezeichnung ‚evangelisch’ wohl eher ein Verlegenheitsausdruck war, dem die bekenntnismäßige Be‐ stimmtheit fehlte, ist sie für Dettmar gewissermaßen ein Ehrennahme, der solange seine Bedeutung hat, wie die „eine heilige christliche Kir‐ che“14 noch nicht verwirklicht ist. Dettmar hebt denn auch besonders hervor, dass sich die hessische Kirche „nur auf ein reformatorisches Bekenntnis ausdrücklich festgelegt“ hat15, so dass einer Annäherung innerhalb der Ökumene weniger Hindernisse im Weg stünden16. Aller‐ dings könnte sich hier auch ein kritischer Punkt befinden: Sind die 11 WERNER DETTMAR, Auf dem Weg zu der einen Kirche. Kleine Kirchenkunde für die Evangelische Kirche von Kurhessen‐Waldeck, Kassel 1980. 12 Ebd., 97 u. ö. 13 Ebd., 99. 14 Ebd., 105. 15 Ebd., 100. 16 Vgl. auch DERS., Pfarrertag bei einer EKD‐treuen Kirche, in: Deutsches Pfarrerblatt 88/1988, 347f.
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Bekenntnisse der Reformationszeit letztlich nur eine Erblast, die eine reformatorische Kirche mehr oder minder freiwillig mit sich herum‐ schleppt und derer sie sich vielleicht auch, wenn aktuelle Nötigungen dies nahe legen, entledigen kann? Eine Klärung der Frage, in welcher Weise begründet und damit angemessen vom Bekenntnis einer Kirche zu sprechen ist, wird man in diesem Zusammenhang nicht umgehen können.
III. Kirche und Bekenntnis Wilhelm Maurer hatte versucht, im „Zusammenhang einer Bekenntnis‐ entwicklung nach dem Bekenntnisstand (zu) fragen“17. Natürlich legt der letztgenannte Ausdruck Anklänge an ein statisches Verständnis nahe: Vorausgesetzt wird, dass es innerhalb einer geschichtlichen Fort‐ bewegung etwas Verbindliches gebe, das dem historischen Wechsel nicht unterliegt, sondern sich als Kontinuum hindurchzieht. Was aber verbindlich ist, auf das kann man sich berufen. Nicht von ungefähr ist darum der Ausdruck selbst, wenn auch vom Inhalt her älter, im 19. Jahrhundert aufgekommen18, als vor allem lutherische Theologen dem Bekenntnis einen kirchengründenden Charakter beilegten und darum in der formal nie aufgehobenen rechtlichen Gültigkeit der lutherischen Bekenntnisse innerhalb ihrer Kirchen die Möglichkeit sahen, sich gegen die zeitgenössischen Unionsversuche zur Wehr zu setzen. ‚Union’ war für sie nichts anderes als Verletzung des früher fixierten Bekenntnis‐ standes einer Kirche, womit dieser Begriff von vornherein einen ab‐ grenzenden Charakter erhielt, denn er diente zur Wahrung und Siche‐ rung des gefährdeten Rechtsbestandes der Kirche19. In diesem Verständnis wurde er ebenfalls in den Auseinandersetzungen des Kir‐ chenkampfes reklamiert, um den Widerstand gegen die Konzeption einer einheitlichen Reichskirche zu ermöglichen20. Der Bezug auf den Bekenntnisstand der Kirche hatte also jeweils einen geschichtlichen Ort! 17 Bekenntnisstand , 6 (s. Anm. 6). 18 Vgl. HENNING SCHRÖER, Art. Glaubensbekenntnis(se) X., in: Theologische Realenzy‐ klopädie 13, 1984, 443. 19 Vgl. dazu MARTIN HEIN, Lutherisches Bekenntnis und Erlanger Theologie im 19. Jahrhundert, Gütersloh 1984, 189‐191 (Die Lutherische Kirche. Geschichte und Ge‐ stalten, Bd. 7); vgl. aber auch die Kritik eines solchen Verständnisses bei HANS‐ GERNOT JUNG, Bekenntnis, 9‐12 (s. Anm. 4). 20 Vgl. dazu HANS‐JÖRG REESE, Bekenntnis und Bekennen. Vom 19. Jahrhundert zum Kirchenkampf der nationalsozialistischen Zeit, Göttingen 1974, 314 (AGK 28).
III. Kirche und Bekenntnis
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Nicht allein der Sache nach, sondern auch wegen dieses implizit mitschwingenden Gedankens der Abwehr und Bestreitung scheint es sinnvoller zu sein, heute statt von ‚Bekenntnisstand’ von ‚Bekenntnis‐ grundlage’ der Kirche zu reden. Dies ist in einem notwendigen Zwei‐ schritt zu entfalten: Was heißt im gegebenen Kontext ‚Bekenntnis’? Und: In welcher Zuordnung stehen Bekenntnis und Kirche? Was die erste Frage angeht, so mag ein einfacher Blick ins Neue Testament er‐ hellend sein: Mt 10,32 beschreibt in nuce das, was mit ὁµολογεῖν21 ge‐ meint ist: „Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater.“ Vier wesentliche Aspekte sind in diesem kurzen Satz ausgesagt: 1. Bekennen ist stets ein öffentlicher Akt („vor den Menschen“). 2. Bekennen bringt einen zentralen Glaubensinhalt zum Ausdruck („mich“, d. h. Christus als Heilgeschehen); mit anderen Worten und negativ gewendet: im Bekennen geht es nicht um Peripheres. 3. Bekennen wird damit zum „Anerkennen“, und zwar in doppelter Hinsicht: Vorgegeben ist das Christusgeschehen selbst; im Beken‐ nen wird dieses Vorgegebene, das im Glauben angenommen ist, in seiner Bedeutung anerkannt, zugleich tritt im „Anerkennen“ aber auch ein adversativer Charakter zutage: Es geht um diesen Christus – gegenüber allen sonstigen Heilsangeboten. 4. Bekennen bekommt eine eschatologische Dimension („den will ich auch …“): Damit wird sein hoher Verbindlichkeitsgrad deutlich. Mt 10,32 bezieht sich sicherlich auf den unmittelbaren Akt des Be‐ kennens. Das Neue Testament zeigt jedoch, dass es bei diesen verein‐ zelten Bekenntnisakten nicht geblieben ist, sondern dass sich schon sehr früh – vor allem im Gottesdienst – Bekenntnisformeln entwickel‐ ten, gewissermaßen Vorstufen kirchlicher Bekenntnisse: Substantiell, d. h. ihrem Aussagegehalt nach, gingen diese Formeln nicht über das Bekennen, wie es Mt 10,32 versteht, hinaus: Alle vier Aspekte sind auch hier gegeben. Im formulierten Bekenntnis treten allerdings zwei weite‐ re Funktionen hinzu: Es wird einerseits mitteilbar und tradierfähig, setzt also einen gewissen Grad begrifflicher Bestimmtheit voraus, ande‐ rerseits aber schließt es alle, die in dieses Bekenntnis einstimmen, zu einer Gemeinschaft zusammen, deren Erkennbarkeit nach innen wie nach außen hin durch das gemeinsame Bekenntnis gewährleistet ist (nota communionis). In diesem erweiterten Sinn kann auch der Termi‐ nus ‚Symbol’ wechselweise verwendet werden. Aus der Vielzahl alt‐ 21 Zum neutestamentlichen Sprachgebrauch insgesamt vgl. OTTO MICHEL, Art. ὁµολογεῖν, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 5, 1954, 199‐220.
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In der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation
kirchlicher Symbole haben einige später eine reichsrechtliche Bedeu‐ tung erlangt – ein Aspekt, der dem Symbol seiner Entstehung nach fremd ist, der jedoch fortschreitend an Gewicht gewann, seit dem 4. Jahrhundert von einer Reichskirche zu sprechen ist: Das Anerkennen im Bekenntnis war auch ein rechtlich‐politischer Akt22. Erst die Reformationszeit brachte das neue Genus ‚Bekenntnisschrift’ hervor. Die Entstehungsgeschichte der Confessio Augustana zeigt, dass dies aufgrund äußerer Nötigungen geschah: Ursprünglich war nur eine Apologie des evangelischen Glaubens geplant, die Entwicklung auf dem Reichstag selbst führte aber dazu, dass Melanchthon eine umfas‐ sende Darlegung der evangelischen Lehre entwarf. Schon darin unter‐ scheidet sich die Bekenntnisschrift vom reinen Glaubensbekenntnis, ohne allerdings den Anspruch zu erheben, eine Gesamtaussage über die Lehre machen zu wollen – was Aufgabe der Dogmatik und nicht des Bekenntnisses ist. Wesentlich ist aber, dass die Bekenntnisschrift all jene Aspekte in sich umfasst, die für den Bekenntnisakt und für das kirchliche Symbol kennzeichnend waren: Es geht in ihr um die öffentli‐ che Darstellung und Explikation zentraler Glaubensinhalte, die für die Glaubensgemeinschaft ‚verbindlich’ im Sinne von ‚verbindend’ und ‚verpflichtend’ sind23. Dass aus der Confessio Augustana – ganz gegen ihre eigene gesamtkirchliche Intention24 ‐ ein Partikularbekenntnis der evangelischen Seite wurde und dass sie durch ihre reichsrechtliche Anerkennung 1555 und 1648 zu einem Rechtstitel wurde, lag an der politischen Voraussetzung, die Glaubensangelegenheiten als Reichsan‐ gelegenheiten betrachten musste. Wenn man so will, ist dies die Ver‐ längerung des öffentlichen Aspekts des Bekenntnisses in eine veränder‐ te Zeitlage hinein. Religion war noch nicht Privatsache! Spricht man also von ‚Bekenntnis’, dann werden die Unterschei‐ dungen (was seine historischen Erscheinungsformen als Akt, Formel und Urkunde angeht), aber ebenso deren innerer Zusammenhang im Blick sein müssen. Bleibt aber noch die zweite Frage, ob und – wenn ja – in welcher Weise das Bekenntnis Grundlage der Kirche sei. Ist die Rede von einer ‚Bekenntnisgrundlage’ nicht zumindest irreführend, wenn Christus selbst Grund der Kirche ist? Genügt es nicht, sich als 22 Vgl. ADOLF MARTIN RITTER, Art. Glaubensbekenntnis(se) V., in: Theologische Real‐ enzyklopädie 13, 1984, 411. 23 Zur genaueren Kennzeichnung dieses Sachverhalts und zur Abgrenzung vom neu‐ testamentlichen Grundverständnis schlägt JUNG, Bekenntnis, 20 (s. Anm. 4), den Terminus „theologische Lehrerklärung“ der Kirche vor. 24 Vgl. dazu DERS., Das Augsburgische Bekenntnis – Grundaussage des Protestantis‐ mus, in: ALBRECHT SCHÖNHERR/HANS‐GERNOT JUNG/HELMUT HILD, Bekenntnisse der Kirche als Ruf in die Zeit. Ein Beitrag zum 450‐jährigen Jubiläum des Augsbur‐ ger Bekenntnisses, Göttingen 1980, 32‐48, hier 34‐36 (BensH 55).
III. Kirche und Bekenntnis
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Kirche Christi zu wissen? Braucht es in der Kirche überhaupt Bekennt‐ nisse, wo man doch die Heilige Schrift hat als „einige Regel und Richt‐ schnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen“25? Einwände dieser Art gehen von der Annahme aus, dass das Be‐ kenntnis, eben weil es erst auf die Verkündigung des Christusgesche‐ hens folge, nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich sekundär und da‐ mit zu vernachlässigen sei. Jedoch gehört es notwendig zum Glauben und zur Gemeinschaft des Glaubens hinzu, und zwar als Antwort, in der zum Ausdruck kommt, wie das Evangelium von Christus aufge‐ nommen wird26. Das Bekenntnis wiederholt hier nicht einfach, sondern sagt dies in eigenen Worten. So richtig es also ist, dass das Bekenntnis nicht der Grund der christlichen Gemeinschaft sein kann, ist es doch die Voraussetzung für deren Kirchwerdung – mit anderen Worten: es ist die Voraussetzung für die empirische Kirche. Dies ist ein sehr folgen‐ reicher Satz, denn er besagt: Jede Kirche ist insofern immer auch konfes‐ sionell, als sie ihre Glieder an ein gemeinsames Verständnis des – in der Heiligen Schrift – gegebenen Evangeliums rückbindet und sie so zu einer sichtbaren und erkennbaren Gemeinschaft zusammenschließt27. Wenn also die Präambel der Grundordnung einerseits von ‚Prä‐ gung’ durch das Augsburgische Bekenntnis, andererseits aber auch vom ‚Zusammenwachsen’ in der „Vielfalt der überlieferten Bekennt‐ nisse“ spricht, genügt es nicht, die historische Beziehung zur Confessio Augustana nachzuweisen, sondern es ist vielmehr zu fragen, in wel‐ cher Weise jene ‚konfessionelle’ Grundentscheidung innerhalb der Ge‐ schichte der kurhessischen Landeskirche problematisiert bzw. aktualisiert wurde. Als Quellen zur Beschreibung eines solchen Prozesses treten notwendigerweise neben die reformatorischen Dokumente jene Texte hinzu, die das Evangeliums‐ und Selbstverständnis dieser Kirche in bestimmten historischen Situationen zu umschreiben suchten – und dies sind vor allem die Kirchenordnungen und sonstigen Lehrerklä‐ rungen.
25 FC, Epit., Von dem summarischen Begriff; BSLK, 767, 15‐17. 26 Vgl. dazu MARTIN HEIN, Lutherisches Bekenntnis, 106‐109 (s. Anm. 19). 27 Selbst in Kirchen wie den evangelikalen Freikirchen, die nur sehr indirekt im Gefol‐ ge der Reformation stehen und dementsprechend keinen Bezug zu deren Bekennt‐ nisschriften sehen oder die sich unter Umständen nur noch als ‚christliche Gemein‐ den’ verstehen, findet man das lehrbekenntnismäßig fixiert, was diese bestimmten Kirchen als solche charakterisiert.
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In der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation
IV. Einheit und Diastase Was die Beziehung der hessischen Kirche zur reformatorischen Ent‐ wicklung im Allgemeinen und zur evangelischen Bekenntnisbildung angeht, ist diese von Wilhelm Maurer umfassend dargelegt worden28. Der bisweilen recht verwickelte Gang braucht hier nicht in seinen ein‐ zelnen Ereignissen wiederholt zu werden. Umso deutlicher können die Grundtendenzen hervortreten. Seit der Hinwendung des Landgrafen Philipp zum Anliegen der Reformation ist für seine Religionspolitik ein Mittelweg kennzeichnend, den er wohl weniger aus theologischen als vielmehr aus Gründen poli‐ tischer Überlegung ging. Wie bei kaum einem anderen evangelisch gesinnten Landesherren seiner Zeit stand bei ihm der Gedanke der Einheit der evangelischen Seite im Vordergrund29. Um die theologi‐ schen Fragen, die sie noch hinderten, aus dem Weg zu räumen, hatte er 1529 zum Religionsgespräch nach Marburg eingeladen, während frei‐ lich der gewünschte Erfolg, die Einigung in der Abendmahlslehre, nicht zustande kam30. Dieser Mittelweg kommt auch in dem Bemühen zum Ausdruck, sich beim Ausbau der hessischen Landeskirche nicht nur nach Kursachsen hin zu orientieren, sondern ebenso den Kontakt nach Oberdeutschland zu suchen, was ja in der späteren Berufung Mar‐ tin Bucers nach Hessen auch deutlich wird31. Philipps Unterschrift un‐ ter die Confessio Augustana als Lehrgrundlage der evangelischen Lan‐ deskirchen war angesichts seiner weitreichenden politischen Eini‐ gungsbemühungen nach dem Urteil Maurers „zunächst nur eine Epi‐ sode“32, gewann aber dadurch an Bedeutung, dass die Confessio Augustana Ende 1530 die Grundlage für den Zusammenschluss im Schmalkaldischen Bund wurde – allerdings ohne Oberdeutsche und Schweizer. Dieser bundesrechtliche Aspekt der Confessio Augustana als politischer Urkunde stand also zunächst im Vordergrund, doch schon 1532 erhält sie auch territorialrechtlich in Hessen ihre Bedeutung da‐ durch, dass die Homberger Kirchenordnung erklärt, bei der Abend‐ mahlsfrage sei im Sinne der Confessio Augustana zu lehren, und dieses 28 S. Anm. 6 29 Vgl. dazu HANS VON SCHUBERT, Bekenntnisbildung und Religionspolitik 1529/30 (1524‐1534). Untersuchungen und Texte, Gotha 1910. 30 Vgl. den Abdruck der Berichte sowie der Marburger Artikel in: Das Marburger Religionsgespräch 1529, hg. v. GERHARD MAY, Gütersloh 1970 (TKThG 13). 31 Vgl. WILHELM MAURER, Ökumenizität und Partikularismus in der Protestantischen Bekenntnisentwicklung, in: DERS., Kirche und Geschichte. Ges. Aufs., Bd. 1, hg. v. ERNST‐WILHELM KOHLS und GERHARD MÜLLER, Göttingen 1970, 207‐212. 32 DERS., Bekenntnisstand, 17 (s. Anm. 6).
IV. Einheit und Diastase
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Bekenntnis somit offiziell einführt33. Dennoch konnte sich Philipp mit dem erreichten Stand evangelischer Einheit nicht zufrieden geben, weshalb er zu den wesentlichen Förderern einer Abendmahlskonkor‐ die zwischen Wittenbergern und Oberdeutschen wurde, die 1536 ihren Abschluss fand34. War nun der Konsens breiter, dann mussten auch die Darlegungen der Confessio Augustana zum Abendmahl von der Wit‐ tenberger Konkordie her interpretiert worden – was bekanntlich Me‐ lanchthon 1540 zur Erarbeitung der Confessio Augustana Variata ver‐ anlasste, ohne dass dadurch der Text von 1530 überholt gewesen wäre35. So aber wurde eine Verlängerung und zugleich Erweiterung des Schmalkaldischen Bundes möglich. Auf dem Bundestag 1537 nah‐ men die Bundesmitglieder auch den „Tractatus“36 Melanchthons an; „als Ergänzung der CA, durch die die Verwerfung des Papsttums aus‐ gesprochen wurde, gewann der Traktat auch in Hessen offiziell Gültig‐ keit“37. Anders war es mit den Schmalkaldischen Artikel und Luthers Katechismen, zu denen sich erst – nach Philipps Tod – 1571 die 3. hessi‐ sche Generalsynode ausdrücklich bekannte38. Maurers Urteil über die Rezeption ist pointiert: „Man mag über die bindende Kraft solcher Ent‐ schließungen denken, wie man will; immerhin bezeugen sie bis über das 16. Jahrhundert hinaus das Streben der hessischen Kirche, ihren Anschluß an die gesamtlutherische Bekenntnisbewegung nicht zu ver‐ lieren.“39 Wesentlicher aber noch als jene deklaratorischen Akte scheint zu sein, dass in den hessischen Kirchenordnungen seit dem Ende der dreißiger Jahre ein steter inhaltlicher Bezug auf die Confessio Augusta‐ na stattfindet und durch ihn das kirchliche Leben geprägt und aus‐ gestaltet wird. Gefördert durch die reichsrechtliche Anerkennung im Augsburger Religionsfrieden 1555, bildet sie in der wichtigen Kirchen‐ ordnung von 1566 neben den drei altkirchlichen Symbolen, die den Zusammenhang mit der einen Kirche belegen sollen, den Bezugsrah‐ men für kirchliches Lehren und Handeln40. Auch Philipps Testament nennt darum als Bekenntnisgrundlage der hessischen Landeskirche die
33 Vgl. EKO 8,1 (Hessen: Die gemeinsamen Ordnungen), Tübingen 1965, 76. 34 Vgl. ERNST BIZER, Studien zur Geschichte des Abendmahlsstreits im 16. Jahrhundert, Darmstadt 31972, 11‐130. 35 Vgl. WILHELM MAURER, Confessio Augustana Variata, in: DERS., Kirche und Ge‐ schichte, 213‐266, bes. 258‐266 (s. Anm. 31). 36 Vgl. BSLK, 471‐498. 37 WILHELM MAURER, Bekenntnisstand, 21 (s. Anm. 6). 38 Vgl. EKO 8,1, 355 (s. Anm. 33). 39 WILHELM MAURER, Bekenntnisstand, 22 (s. Anm. 6). 40 Vgl. EKO 8,1, 214f (s. Anm. 33).
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Confessio Augustana, um sich in der Abendmahlsfrage ausdrücklich auf die Wittenberger Konkordie zu beziehen41. Allerdings tritt nach Philipps Tod eine Entwicklung ein, die für Hessen dauerhafte Folgen haben sollte: Die Vierteilung seines Landes erfolgte zu einem Zeitpunkt, als auch die mühsam aufrechterhaltene Einheit im deutschen Protestantismus zerbricht und der Weg in das Zeitalter des Konfessionalismus beginnt, der dann 1648 im Frieden von Münster und Osnabrück sanktioniert wird. So wurden unter dem Druck der sich verhärtenden Fronten zwischen Gnesiolutheranern und Philippisten die hessischen Landesteile aufgrund ihrer unterschiedli‐ chen Stellungnahme zu diesen Fragen voneinander entfremdet – auch wenn einstweilen noch die äußere Einheit der hessischen Kirche erhal‐ ten blieb. In der Haltung zum Torgauischen Buch, der Vorstufe zur Konkordienformel, unterschieden sich ober‐ und niederhessische Theo‐ logen erheblich, und als eine offizielle Unterschrift aller vier hessischen Landesfürsten aus Sachsen und Brandenburg erbeten wurde, musste die Entscheidung wegen der vorhandenen Uneinigkeit verschoben werden. 1581 erklärte ein Synodalabschied nochmals die formale Be‐ kenntnisgrundlage der hessischen Kirche, indem er die drei altkirchli‐ chen Symbole, das Lehrschreiben des Papstes Leo an Flavian, die Con‐ fessio Augustana und die Apologie sowie die Schmalkaldischen Artikel aufführt, bewusst jedoch nicht die Konkordienformel42. War man sich also hinsichtlich der formalen Bestimmung der Bekenntnisgrundlage innerhalb der hessischen Landeskirche einig, so waren die Differenzen unübersehbar, wenn es um das inhaltliche Verständnis dieser Bekennt‐ nisse ging: Wie sollten sie ausgelegt werden – restriktiv gegenüber den Anhängern des Calvinismus oder so, dass auch diese noch einen Platz unter dem Dach der genannten Bekenntnisse haben konnten? Was noch Gegensatz in der Interpretation war, konnte leicht zum Gegensatz im Bekenntnis selbst werden. Entscheidend für diesen Übergang war die Religionspolitik des Landgrafen Moritz, die beson‐ ders in der Einführung seiner bekannten „Verbesserungspunkte“ von 1605 deutlich wird43. Die Bezeichnung dieses Reformwerkes zeigt, dass sich Moritz peinlich bemühte, die überlieferten Bekenntnisgrundlagen formal nicht zu verändern. Inhaltlich aber war dies der Fall, denn „Bil‐ derzerstörung und Brotbrechen waren ja längst keine bekenntnismäßig 41 Vgl. AUGUST F. C. VILMAR, Geschichte des Confessionsstandes der evangelischen Kirche in Hessen, besonders in Hessen‐Kassel, Frankfurt 21868, 127. 42 Vgl. EKO 8,1, 390 (s. Anm. 33). 43 Vgl. dazu THEODOR GRIEWANK, Das „christliche Verbesserungswerk“ des Landgra‐ fen Moritz und seine Bedeutung für die Bekenntnisentwicklung der kurhessischen Kirche, in: JHKGV 4/1953, 38‐73.
IV. Einheit und Diastase
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neutrale Handlung mehr“44. Die ursprüngliche Bindung der Kirche an ihre Bekenntnisse als Lehrnorm erwies sich für Moritz als überholt. So hat vom Ergebnis her gesehen seine Religionspolitik die Relativierung des kirchlichen Bekenntnisses zur Folge gehabt. Zugleich aber war er genötigt, sich im konfessionell bestimmten Zeitalter einer bestimmten Konfession anzuschließen: Da er mit der lutherischen gebrochen hatte, blieb nur eine Annäherung an die reformierte möglich. Ausdruck dafür war die Teilnahme niederhessischer Gesandter an der Dordrechter Synode 161945 – und dies, obwohl sich formal nichts an der hessischen Bekenntnisgrundlage geändert hatte und ändern sollte. Die später übli‐ che Benennung „niederhessisch‐reformiert“ ist ein Verlegenheitsaus‐ druck, der die eingetretene konfessionelle Isolation verdeckt: nicht mehr lutherisch wie viele andere Gebiete, die sich ebenfalls nicht der Konkordienformel angeschlossen hatten, aber auch nicht reformiert, weil weder die Prädestinationslehre Calvins noch der Heidelberger Katechismus Eingang fanden. Als 1648 auch die reformierte Konfession als dritte in den Reichsfrieden aufgenommen wurde, war die Konfessi‐ onsspaltung in der Landgrafschaft Hessen‐Kassel fixiert: Für die nach Kassel zurückgekehrte Marburger Erbschaft blieb der lutherische Cha‐ rakter gesichert, während Niederhessen der reformierten Seite zuge‐ ordnet wurde. Fortan war die Einheit der Landeskirche – bezeichnen‐ derweise bei formal unveränderter Bekenntnisgrundlage – „dauernd gestört“46. Für das beginnende aufgeklärte Denken, aber auch aus der Sicht einer einheitlichen Verwaltung erwies sich solch ein Zustand innerhalb eines kleinen Territoriums eigentlich als untragbar. Dies hat dazu bei‐ getragen, dass die Bekenntnisfrage, also die kirchliche Bedeutung der Bekenntnisse und der konfessionellen Unterscheidungslehren, im Staatskirchentum des 18. Jahrhunderts weitgehend nivelliert wurde. Die Union im Gebiet der ehemaligen, inzwischen zu Kurhessen gehö‐ renden Grafschaft Hanau‐Münzenberg, die dann 1818 durchgeführt wurde und die später als „Buchbinderunion“ in die Kirchengeschichts‐ schreibung eingegangen ist47, erreichte allerdings – wie übrigens auch die anderen Unionen in Deutschland – nicht die Wiedervereinigung bzw. Aufhebung der lutherischen und reformierten Konfession, son‐ dern etablierte neben ihnen eine dritte! Die drei Konsistorien in Kassel, 44 WILHELM MAURER, Bekenntnisstand, 51 (s. Anm. 6). 45 Zu dieser Synode vgl. JOHANNES PIETER VAN DOOREN, Art. Dordrechter Synode, in: Theologische Realenzyklopädie 9, 1982, 140‐147, bes. 143 (Liste der Abgeordneten). 46 WILHELM MAURER, Bekenntnisstand, 60 (s. Anm. 6). 47 Vgl. HEINRICH HEPPE, Kirchengeschichte beider Hessen, Bd. 2, Marburg 1876, 374‐ 385, sowie CARL HENSS, Die Hanauer Union, Hanau 1918.
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In der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation
Marburg und Hanau trugen dieser bekenntnismäßigen Spaltung auch nach außen hin Rechnung.
V. Auf der Suche nach dem Gemeinsamen Die skizzierte geschichtliche Entwicklung lässt zumindest eines erken‐ nen: Zur Beschreibung der Konfessionalität der kurhessischen Landes‐ kirche ist der bloße Rückzug auf die rechtliche Gültigkeit der lutherisch orientierten Bekenntnisse aus der Reformationszeit längst nicht mehr hinreichend. Die letzten hundert Jahre in der Geschichte der Landes‐ kirche sind daher von den Bemühungen geprägt, der historischen Ent‐ wicklung Rechnung zu tragen, dennoch aber die Frage nach dem Ge‐ meinsamen nicht nur kirchen‐ und verwaltungsrechtlich, sondern auch theologisch zu beantworten. An vier geschichtlichen Orientierungs‐ punkten sollen die Schwierigkeiten, aber auch Forschritte in diesen Bemühungen verdeutlicht werden. 1. Preußen hatte es wohlweislich unterlassen, die 1866 annektierten Gebiete – damit auch das ehemalige Kurhessen – kirchenorganisato‐ risch und bekenntnismäßig der altpreußischen Kirche einzugliedern. Indem man sie unmittelbar dem Kultusminister unterstellte, blieben ihre unterschiedlichen, geschichtlich bedingten Besonderheiten weitge‐ hend gewahrt. Jedoch wurden, was die neuformierte preußische Pro‐ vinz Hessen‐Nassau anging, die drei genannten kurhessischen Konsis‐ torien zu einem unierten Gesamtkonsistorium in Kassel zusammen‐ gelegt, für das eine ‚itio in partes’ bei Fragen, die das Bekenntnis betrafen, vorgesehen war. Dass diese staatliche Maßnahme der Anlass für das Entstehen der „Hessischen Renitenz“ war, ist bekannt und braucht hier, obwohl auch die Bekenntnisthematik tangierend, nicht weiter ausgeführt zu werden48. Der neuen kirchlichen Situation (Um‐ wandlung der Landeskirche Hessen‐Kassel zum Konsistorialbezirk Kassel unter preußischer Hoheit) suchte 1884 eine außerordentliche Synode gerecht zu werden: Ihr Ergebnis war die „Presbyterial‐ und Synodal‐Ordnung für die evangelischen Kirchengemeinschaften (die reformirte, die lutherische und die unirte) im Bezirke des Konsistori‐ ums zu Cassel“, die 1886 in Kraft trat. Schon die Verschachtelung im Titel zeigt an, dass die Frage nach der Einheit der drei Kirchengemein‐ 48 Vgl. dazu aber KARL WICKE, Die hessische Renitenz, ihre Geschichte und ihr Sinn, Kassel 1930, sowie RENATE SÄLTER, Die Vilmarianer. Von der fürstentreuen kirchli‐ chen Restaurationspartei zur hessischen Renitenz, Darmstadt/Marburg 1985, 240‐319 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 59).
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schaften in ihrer Bekenntnisgrundlage gegenüber der Frage ihrer Einheit im gemeinsamen Aufbau und in gemeinsamer Verwaltung noch zu‐ rückgestellt wurde. Bewusst erklärt darum auch der königliche Erlass, der diese Ordnung genehmigte: „Der Bekenntnißstand in den genann‐ ten Kirchengemeinschaften und in den dazu gehörenden Gemeinden wird durch die Ordnung, wie Ich ausdrücklich erkläre, nicht berührt und eine Änderung dieses Bekenntnißstandes damit in keiner Weise bezweckt.“49 Im Konsistorialbezirk wird es fortan für jede Kirchenge‐ meinschaft einen eigenen Generalsuperintendenten geben! Freilich kamen die bestehenden Bekenntnisunterschiede „nicht mehr in die Lehre, sondern nur noch im kultischen Zeremoniell zum Ausdruck“50. Die 1896 eingeführte Agende enthielt denn auch in ihren drei Ausga‐ ben für die jeweilige Kirchengemeinschaft eine solche Vielzahl konfes‐ sioneller Eigenheiten, dass sich mit dem Begriff ‚Bekenntnis’ immer noch eher der Gedanke an ‚Trennendes’ als an ‚Verbindendes’ assoziie‐ ren ließ. Allein im Blick auf das Ordinationsformular hatte man ver‐ sucht, die konfessionellen Unterschiede abzumildern und einen ein‐ heitlichen Text zu finden51. 2. Als 1918 das landesherrliche Kirchenregiment fortfiel, stellte sich die Aufgabe einer eigenständigen und unabhängigen landeskirchlichen Neuordnung. Der Gang der Verhandlungen auf den Tagungen der „Verfassungsgebenden Kirchenversammlung“ bis 1923 zeigt nach dem Ausweis der Protokolle, welche Mühe es kostete, in der neuen Kir‐ chenverfassung „das Verhältnis einer evangelischen Kirche Kurhessens zu den bisher in Kurhessen bestehenden Kirchengemeinschaften“ zu bestimmen, wie es das Gutachten der Theologischen Fakultät Marburg 1922 zum Verfassungsentwurf ausdrückte52. Kein staatlich zusammen‐ gehaltenes Konglomerat verschiedener Kirchengemeinschaften, son‐ dern eine Kirche zu sein – dies zu umschreiben, ohne doch die bisheri‐ gen Kirchengemeinschaften mit ihrer konfessionellen Prägung zu leugnen, war das eigentliche Problem des verfassungsgebenden Gre‐ miums. Das Ergebnis hatte daher einen gewissen Kompromisscharak‐ 49 Presbyterial‐ und Synodalordnung, Cassel 1886, 5. 50 WILHELM MAURER, Bekenntnisstand, 68 (s. Anm. 6). 51 Alle drei Agenden zählen hier übereinstimmend – neben den drei altkirchlichen Symbolen – die Confessio Augustana zum Grundbestand der hessischen Bekennt‐ nistradition; vgl. Agende für die evangelisch‐lutherische Kirchengemeinschaft im Konsistorialbezirk Cassel, Cassel 1896, 310f; Agende für die evangelisch‐reformierte Kirchengemeinschaft im Konsistorialbezirk Cassel, ebd. 1896, 238, und Agende für die evangelisch‐unierte Kirchengemeinschaft im Konsistorialbezirk Cassel, ebd. 1896, 260. 52 Verhandlungen der 2. und 3. Tagung der Verfassungsgebenden Kirchenversamm‐ lung, 50 (Drucksache 41) (s. Anm. 1).
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In der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation
ter. Im bereits erwähnten ‚Vorspruch’ wurde als Selbstdefinition allein festgestellt, die Evangelische Landeskirche in Hessen‐Kassel stehe „auf dem in der Heiligen Schrift gegebenen, in den Bekenntnissen der Re‐ formation bezeugten Evangelium von Jesus Christus, unserem Herrn. Dieses Evangelium ist für die Arbeit der Gemeinschaft der Kirche un‐ antastbare Grundlage.“53 Was hier als Überschreiten der bisherigen bekenntnismäßigen Unterschiede verstanden wurde, war allerdings zumindest missverständlich, denn das einende Evangelium drohte so leicht in die Nähe eines Lehrgesetzes zu rücken. Zugleich aber betonte der Vorspruch ausdrücklich, die Bekenntnisse würden „in ihrer fort‐ dauernden Geltung anerkannt“54. Der Verzicht auf die ausdrückliche Beschreibung der Bekenntnisgrundlage der Landeskirche oder doch zumindest des sie prägenden geschichtlichen Prozesses hatte somit zur Folge, dass die Bekenntnisfrage auf die Ebene der Kirchengemeinden verlagert wurde: Da sie „in ihren bisherigen Grenzen bestehen“ blie‐ ben55, entschied sich hier die bekenntnismäßige Zuordnung im Sinne von „lutherisch“, „reformiert“ und „uniert“. Dementsprechend räumte die Verfassung den Kirchengemeinden verschiedener Bekenntnisse die Möglichkeit ein, sich an einem Ort zu einer Gemeinde zusammenzu‐ schließen oder auch die bisherige Konfessionsbezeichnung umzuwan‐ deln in die allgemeine Bezeichnung „evangelisch“56. Wilhelm Maurer hat an diesem Ergebnis deutliche Kritik geübt, weil es „auf den eigen‐ tümlichen Bekenntnisstand der Landeskirche“57 nicht eingegangen sei. Unter seinem Fragehorizont, der Beschreibung des kirchlichen Be‐ kenntnisstandes, mag dies zutreffen. Andererseits ist zu beachten, dass die Verfassungsgebende Versammlung mit dem Ernst zu machen such‐ te, was auch auf dem politischen Sektor die Bemühungen bestimmte: die Berücksichtigung nicht nur des übergeordneten Zusammenhangs – sei es Kirche oder Staat –, sondern auch der Träger dieses Zusammen‐ hangs, hier also der einzelnen Gemeinden. Wo es aber um die eine Lan‐ deskirche und ihre Kirchengemeinden ging, konnte der Begriff der „Kirchengemeinschaft“ keine fundamentale Bedeutung mehr besitzen. Auch dies ist ein Ergebnis der Entwicklung seit 1919 in der kurhessi‐ schen Kirche. 3. Die rein pragmatische Lösung der Bekenntnisfrage in der Kirchen‐ verfassung von 1923/24 konnte für eine gewisse Zeit befriedigen und erleichterte sicher auch 1934 den Anschluss des größeren Teiles der 53 54 55 56 57
Ebd., 134. Ebd., 134. Ebd., 134, § 2(1). Ebd., 135, § 3(2). WILHELM MAURER, Bekenntnisstand, 68 (s. Anm. 6).
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Waldeckischen Landeskirche – eines weiteren Gebietes also, in dem im 19. Jahrhundert eine Union durchgeführt worden war58. Das „Lei‐ tungsgesetz“ 1945 blieb insofern auf dieser Linie, als es im Blick auf das neugeschaffene Amt eines Bischofs bestimmte, dieser wache darüber, „daß das Evangelium in der Kirche dem Bekenntnis der Reformation gemäß lauter und rein verkündet und die Sakramente recht verwaltet werden“59. Ein konkreter Bezug zur Bekenntnisbildung der hessischen Kirche seit dem 16. Jahrhundert war damit nicht ausgesagt, und die ausdrückliche Rezeption dieser Bekenntnisentwicklung für die Landes‐ kirche selbst blieb weiterhin ein Desiderat, das erst in den eingangs an‐ gesprochenen Synodalverhandlungen zur neuen Grundordnung wäh‐ rend der Sechziger Jahre bearbeitet wurde. In diesem Zusammenhang ist das Votum der Theologischen Kammer von Bedeutung, „welche Bekenntnisse zur Zeit in unserer Landeskirche gültig sind“60, das 1964 der Landessynode vorgelegt wurde. Als beachtenswerte Gesichtspunk‐ te erscheinen darin, dass zum einen bewusst der historische Abstand zwischen Reformationszeit und Gegenwart betont wurde: „Die diffe‐ renzierte Lehrgestalt heutiger Kirchen kann nicht zureichend ausge‐ drückt werden durch Bekenntnisse, deren jüngste 400 Jahre alt sind.“61 Zum anderen war man sich darüber im Klaren, dass die Vielzahl ver‐ schiedener Bekenntnisse, die im Gebiet der heutigen Landeskirche re‐ zipiert wurden, sich gegenseitig auch relativiere. Die allgemeine Rede vom „Bekenntnis der Reformation“ sei keine Notlösung, sondern theo‐ logisch legitim – „nicht um Wesentliches preiszugeben, sondern um zum Wesentlichen durchzustoßen“62. Dennoch wollte die Theologische Kammer die besondere Bedeutung der Confessio Augustana für die hessische Kirche nicht leugnen, weshalb sie deren ausdrückliche Nen‐ nung im Ordinationsprotokoll vorschlug und auf die notwendige Übereinstimmung im Wortlaut zwischen Ordinationsprotokoll und Präambel der Grundordnung hinwies. Im entsprechenden Tenor sind denn auch die Ausführungen gehal‐ ten, die 1966 zur Begründung des überarbeiteten Entwurfs der neuen Grundordnung gemacht wurden: „Es wurde … bewußt davon abgese‐ hen, das Barmer Bekenntnis in der Präambel zu erwähnen. Auch wur‐ 58 Vgl. zur bekenntnismäßigen Situation Waldecks sowie zu dessen Vereinigung mit Hessen‐Kassel DIETER WASSMANN, Waldeck. Geschichte einer Landeskirche, Kassel 1984, 115‐118 und 194‐198 (Monographia Hassiae 10). 59 KABl 60/1945, 13, § 2(2). Die Anleihen bei CA 7 (BSLK, 61, 3‐6) sind nicht zu überse‐ hen. 60 Verhandlungen der 5. außerordentlichen Tagung der 3. Landessynode der Evangeli‐ schen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck, Kassel 1965, 50. 61 Ebd., 50. 62 Ebd., 51.
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In der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation
de in der Präambel bewußt auf eine genauere Festlegung dessen ver‐ zichtet, was ‚Bekenntnis der Reformation’ im einzelnen bedeutet. Wei‐ terhin wurde es als bedenklich angesehen, in Absatz 3 die verschiede‐ nen evangelischen Sonderbekenntnisse ausdrücklich zu erwähnen, weil sich die Einheit unserer Landeskirche gerade aus dem Zusammen‐ wachsen der überlieferten Bekenntnisse der Reformation ergibt. Auch die altkirchlichen Bekenntnisse sind nur in der Interpretation durch die Bekenntnisse der Reformation aufgenommen worden.“63 Ursprung und Entwicklung der kurhessischen Kirche mussten also miteinander ver‐ knüpft werden. Dies ergab für die Präambel die „durchdachte Formu‐ lierung“64, die Landeskirche sei „vor allem durch das Augsburgische Bekenntnis und die von ihm aufgenommenen altkirchlichen Symbole geprägt und in der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reforma‐ tion zu einer Kirche zusammengewachsen“. Auf dem Hintergrund des dargelegten Entwicklungsganges in Kurhessen erhellt, dass darin zwei Gesichtspunkte ausgesagt und mit‐ einander verbunden sind: Zum einen ist diese Formel eine Seins‐ Umschreibung, die der historischen Faktizität Rechnung trägt, dass die in den kodifizierten reformatorischen Bekenntnissen implizierte Ab‐ grenzungsfunktion ekklesiologisch unter sich wandelnden Zeitbedin‐ gungen zunehmend an Bedeutung verlor und das Hauptgewicht der Bemühungen stärker auf der Herausstellung des Verbindenden lag. Zum anderen aber kann dieser Satz zugleich intentional aufgefasst werden. Die geschichtliche Entwicklung hat sich nicht nur in der ge‐ schilderten Weise vollzogen, sondern sie wird auch als eine in sich sinnvolle begriffen; die Seins‐Umschreibung drückt mithin einen Sol‐ lenszustand aus, hinter den nicht mehr zurückgegangen werden kann, der vielmehr nach vorne hin auszubauen ist. Es ist wohl nicht zuviel gesagt, hierin – die Einschätzung Dettmars aufnehmend65 – in der Tat ein Modell innerevangelischer Ökumene zu sehen, bei dem die histori‐ 63 Verhandlungen der 1. außerordentlichen Tagung der 4. Landessynode der Evangeli‐ schen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck, Anhang. Kassel 1967, 73f. Der Grund für die Nicht‐Erwähnung der Barmer Theologischen Erklärung ist in erster Linie wohl darin zu sehen, dass nach Auffassung der Vorbereitungsausschüsse für die Grundordnung „sich Glaubensaussagen weithin der juristischen Faßbarkeit im Rahmen einer Präambel entziehen, weil sie zu plerophorisch wirken“ (ebd., 73) und deshalb der ausdrückliche Bezug auf Barmen 1934 unterblieb. Implizit mag jedoch der in der 3. Barmer These zum Ausdruck kommende Kirchenbegriff bei dieser Konzeption der Präambel durchaus nachgewirkt haben; vgl. Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche Barmen 1934. Vorträge und Entschließungen. Im Auftrage des Bruderrates der Bekenntnissynode hg. v. KARL IMMER, Wuppertal‐ Barmen 1934, 10; dazu auch die Ausführungen HANS ASMUSSENS ebd., 19f. 64 HANS‐GERNOT JUNG, Das Augsburgische Bekenntnis, 32 (s. Anm. 24). 65 Vgl. o. Anm. 12.
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schen Ursprünge nicht negiert, aber auch nicht in ihrer unterschiedli‐ chen Tendenz vorabsolutiert werden müssen: Die Bekenntnisse der Reformation, namentlich die Confessio Augustana, kommen als Zeug‐ nisse in den Blick, deren Relevanz für das Selbstverständnis wie für das Bekennen der Kirche in der Gegenwart weiterhin gegeben ist. Die Evangelische Kirche von Kurhessen‐Waldeck kann daher durchaus als eine „bekenntnismäßig gebundene Kirche“ bezeichnet werden, wie es Maurer schon früher betonte66 – freilich eben nicht in dem von ihm so verstandenen Sinn, dass sie sich aufgrund eines historisch nachweisba‐ ren „Bekenntnisstandes“ einer bestimmten Konfessionsgemeinschaft zuordnen ließe, sondern weil sie in freier Entscheidung und Selbstbin‐ dung ihre geschichtliche Prägung als eine bleibende Verpflichtung anerkennt. So – und nur so! – gesehen ist sie zuallererst auch „Kirche Augsburgischer Konfession“! 4. Diese in der Präambel nicht nur rückblickend festgestellte, son‐ dern prospektiv ausgelegte Ökumenizität erfuhr ihre Konkretion in den zwischenkirchlichen Gesprächen, die zur „Leuenberger Konkor‐ die“67 führten. Mit gewissem Stolz konnte der damalige Berichterstat‐ ter, Oberlandeskirchenrat Bezzenberger, 1973 vor der kurhessischen Landessynode erklären, es sei „die Notwendigkeit zur Aufarbeitung der Kirchentrennungen, die trotz des gemeinsamen Ansatzes im Auf‐ bruch der Reformation die reformatorischen Kirchen auseinanderiß, in unserer Landeskirche, bedingt durch ihre besondere kirchengeschicht‐ liche Situation, früher erkannt worden“; sie habe „ihr abschließendes Ergebnis in dem Wortlaut der Präambel unserer Grundordnung von 1967 gefunden“. Seiner Einschätzung nach bedeutete die Leuenberger Konkordie „im Grunde die Ausweitung der Intention dieser Präambel auf die Ebene der reformatorischen Kirchen in Europa“68. Wer bei der Rede von der „Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation“ nach dem Gemeinsamen fragt, findet dies in der Leuenberger Konkor‐ die inhaltlich expliziert69. In dem, was sie als Übereinstimmung erklärt, ist sie zugleich eine legitime Fortsetzung dessen, was in der Geschichte des evangelischen Bekenntnisses mit der Darlegung des „magnus con‐ sensus“70 in der Confessio Augustana begann. Daher war es nur folge‐ 66 WILHELM MAURER, Bekenntnisstand, 70 (s. Anm. 6). 67 Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie), Hannover 1973. 68 Verhandlungen der 7. außerordentlichen Tagung der 5. Landessynode der Evangeli‐ schen Kirche von Kurhessen‐Waldeck, Kassel 1973, 81. 69 Vgl. Konkordie (s. Anm. 67), 3, Nr. 4 („Gemeinsame Aspekte im Aufbruch der Re‐ formation“). 70 BSLK, 50, 3.
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In der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation
richtig, dass die Evangelische Kirche von Kurhessen‐Waldeck als eine der ersten dieser Konkordie beitrat. Sie gab mit diesem Schritt ein wegweisendes Beispiel dafür, wie sie selbst die Präambel ihrer Grund‐ ordnung als Verpflichtung zu interpretieren gedachte.
Umsetzung
Kirchengeschichte im Religionsunterricht I. Eine Verlegenheitsanzeige Die Frage nach der Bedeutung der Kirchengeschichte innerhalb eines Gesamtkonzepts von Religionsunterricht führte in den vergangenen Jahrzehnten eher ein Schattendasein. Wurde sie unter religionspädago‐ gischem Aspekt überhaupt thematisiert, stand sie oft unter dem ausge‐ sprochenen oder unausgesprochenen Ideologieverdacht, die Institution Kirche legitimieren und stabilisieren zu wollen. Wenn überhaupt, dann sollte die Behandlung kirchengeschichtlicher Themen zum kritischen Umgang mit Geschichte und Kirche anleiten. Geradezu klassisch kam dieser Vorbehalt vor einem Vierteljahrhundert etwa im Diskussions‐ entwurf der hessischen Rahmenrichtlinien für Evangelische Religion in der Sekundarstufe II zum Ausdruck, der als aktuelle Situationsbe‐ schreibung ausführte, die Kirche erscheine Schülerinnen und Schülern „als charakteristische Hüterin von Tradition“ und fordere „geradezu zur Traditionskritik heraus“. Hinsichtlich des Bezugs auf die Geschich‐ te habe zu gelten: „Lernen von Geschichte ist Lernen an Geschichte; nicht Lernen von historischen Stoffkomplexen, sondern Einübung in kritisch‐historische Methoden.“1 Unabhängig davon, wie man diese Zielsetzung beurteilen mag, bleibt festzuhalten, dass sich damit im Grunde ein hoher hermeneuti‐ scher Anspruch verband. Es fällt jedoch auf, dass die Erarbeitung einer diesen Vorgaben entsprechenden Kirchengeschichtsdidaktik weitge‐ hend unterblieb. Von Ausnahmen abgesehen, lässt sich erst in den 90er Jahren – unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – eine „Ak‐ tualisierung der Diskussion um den Stellenwert der Kirchengeschichte im Religionsunterricht“2 feststellen. Den Schulalltag scheint sie allerdings noch nicht erreicht zu haben. Hier gilt aus meiner Sicht einstweilen Gottfried Adams Einschätzung uneingeschränkt: „Die Rolle der Kirchengeschichte im Religionsunter‐ 1 2
Rahmenrichtlinien Diskussions‐Entwurf Sekundarstufe II Evang. Religion, T. 1, hg. v. Hessischen Kultusminister, 1975, 82. WOLFGANG HASBERG, Zur Aktualisierung von Kirchengeschichtsunterricht und Kirchengeschichtsdidaktik, in: Katechetische Blätter 120 (1995), 744; vgl. auch GO‐ DEHARD RUPPERT, „... uninteressant und langweilig ...“ Kirchengeschichtsdidaktik – Eine ‚Bestandsaufnahme’, in: Katechetische Blätter 115 (1990), 230‐237.
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Kirchengeschichte im Religionsunterricht
richt der Schule ist nach wie vor gering.“3 Die im Jahr 2000 erschienene Publikation „Religionsunterricht zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Eine Studie zur Situation der Evang. Religionslehrerinnen und ‐lehrer in Kurhessen‐Waldeck“ bestätigt dieses Urteil. Nach der Bedeutung von sechs vorgegebenen Themenbereichen und Inhalten für den Reli‐ gionsunterricht befragt, rangiert in den Antworten der Lehrerinnen und Lehrer für die Grundschule und Sekundarstufe I die Thematik „Christentum und seine Geschichte“ an letzter Stelle der Bewertungs‐ skala, für die Sekundarstufe II an vorletzter4. Die Gründe dafür sind vielfältig: Vordergründig betrachtet fehlt es an überzeugenden Modellen, der schier unüberschaubaren Fülle kir‐ chenhistorischer Sachverhalte didaktisch und methodisch gerecht zu werden und zugleich bei Schülerinnen und Schülern Interesse für die Auseinandersetzung damit zu wecken. Angesichts der Komplexität einer nunmehr zwei Jahrtausende andauernden Geschichte des Chris‐ tentums kapitulieren viele Lehrerinnen und Lehrer und beschränken sich auf wenige Ereignisse, die innerhalb der Unterrichtsplanung wie erratische Blöcke anmuten. Die Hilflosigkeit, die sich in einem über‐ wiegend als Lehrervortrag und Textarbeit konzipierten Unterricht aus‐ drückt, fördert ihrerseits eher das Desinteresse von Schülerinnern und Schülern an der Kirchengeschichte, was sich wiederum demotivierend auf Lehrerinnen und Lehrer auswirkt. Alles in allem führt dies zu einer negativen Spirale, an deren Ende die Ausblendung kirchengeschichtli‐ cher Themen aus dem Religionsunterricht steht! Dennoch wäre es aus meiner Sicht zu vorschnell, den Ausweg sogleich in der Forderung nach einer verbesserten Methodik des Unter‐ richts zu suchen. So würden nur Symptome, nicht aber die Ursachen in den Blick kommen! Wichtiger scheint mir, zunächst das unterschwellig vorhandene Unbehagen an der Kirchengeschichte explizit zu machen. Erst wenn eine Verständigung über Aufgaben und Ziele der Vermitt‐ lung von Kirchengeschichte im Religionsunterricht gelingt, sind weiter gehende Überlegungen zur sachgemäßen Methodik angebracht. Um‐ gekehrt heißt das: Wenn diese Verständigung unterbleibt, verharrt das unterrichtliche Bemühen um die Kirchengeschichte in seiner Marginali‐ 3
4
GOTTFRIED ADAM, Zinzendorf und Wesley im Disput. Ein Kapitel aus der Kirchen‐ geschichtsdidaktik, in: DERS., Religiöse Bildung und Lebensgeschichte. Beiträge zur Religionspädagogik 2, Würzburg 1994, 175 (Studien zur Theologie 10). Projektgruppe „Situation der Lehrerinnen und Lehrer im Fach Evang. Religion“, Religionsunterricht zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Eine Studie zur Situation der Evang. Religionslehrerinnen und ‐lehrer in Kurhessen‐Waldeck, hg. v. Verein evang. Religionslehrerinnen und ‐lehrer im Bereich der Evang. Kirche von Kurhes‐ sen‐Waldeck (VeR) und dem Pädagogisch‐Theologischen Institut der Evang. Kirche von Kurhessen‐Waldeck (PTI), Fulda/Kassel 2000, 18f.
II. Was bringt der Umgang mit Kirchengeschichte?
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tät. Wäre womöglich in dieser Situation Abstinenz das sachgemäße Gebot? Also besser gar kein Kirchengeschichtsunterricht als ein schlecht begründeter und darum auch unzureichend durchgeführter? Manches spricht dafür. Doch mit dieser Konsequenz will ich mich nicht zufrieden geben.
II. Was bringt der Umgang mit Kirchengeschichte? Die christliche Religion ist von ihren Ursprüngen her eine geschichtlich vermittelte. „Geschichtliche Vergewisserung gehört“ – nach Rainer Lachmann – „deshalb wesenhaft zum didaktischen Programm eines theologisch und pädagogisch verantworteten christlichen Religionsun‐ terrichts.“5 Im Grunde heißt das: Nicht erst bei der Frage nach der Kir‐ chengeschichte ist diese Einsicht also zu verhandeln, sondern bereits im Zusammenhang der Begründung des Religionsunterrichts selbst! Umso mehr mag es überraschen, dass innerhalb der Religionspä‐ dagogik die Reflexion über den Themenkomplex „Geschichte“ und „Geschichtlichkeit“ eher unausgeprägt ist. Lapidar heißt es zum Bei‐ spiel einleitend in den hessischen Rahmenrichtlinien für Evangelische Religion in der Sekundarstufe I: „Evangelischer Religionsunterricht hat die israelitisch‐alttestamentliche Botschaft von Gott, der das Leben schafft, der unser Handeln herausfordert und uns seine Barmherzigkeit und Liebe anbietet, in der Deutung durch das Evangelium Jesu Christi zur Grundlage, so wie es in den Schriften des Neuen Testamentes über‐ liefert ist.“6 In dieser allgemeinen Aufgabenbestimmung werden zwei grundle‐ gende Vorentscheidungen stillschweigend vorausgesetzt: Erstens, dass Geschichte für den jüdischen wie für den christlichen Glauben eine fundamentale Bedeutung hat, weil er sich auf geschichtli‐ che Ereignisse bezieht, denen eine Heilsbedeutung beigelegt wird: auf den Exodus aus Ägypten (Ex 20,2; Dtn 6,21) bzw. auf die Gestalt Jesu Christi (Gal 4,4; Joh 1,14). Theologisch gesagt: Offenbarung Gottes voll‐ zieht sich im Medium der Geschichte. Zweitens, dass es sich bereits bei dem Bezug auf die Bibel als maß‐ geblichem Ursprungszeugnis um einen historischen Rückgriff handelt. 5
6
RAINER LACHMANN, Reformatorische Theologie – religionsdidaktisch reflektiert, in: DERS., Religionspädagogische Spuren. Konzepte und Konkretionen für einen zu‐ kunftsfähigen Religionsunterricht, hg. v. MANFRED L. PIRNER, Göttingen 2000, 194. Rahmenrichtlinien Sekundarstufe I Evang. Religion, hg. v. Hessischen Kultusminis‐ ter, 1987, 9.
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Kirchengeschichte im Religionsunterricht
Ich will die Herausforderung, vor die jeder christliche Religionsun‐ terricht von vornherein steht, an einem Beispiel verdeutlichen: Man glaube doch nicht, sich im Blick auf die unterrichtliche Behandlung etwa des Propheten Amos („Erinnerung für die Zukunft“; Jahrgangs‐ stufe 7/87) oder des Auftretens Jesu („Bruder – Mensch – Gottessohn?“; Jahrgangsstufe 9/108) die kritische Wahrnehmung der historischen Dis‐ tanz und ihre Bewältigung ersparen zu können, weil sich alles anschei‐ nend auf dem Weg der Analogie mehr oder weniger bruchlos in die Gegenwart übertragen lässt, wogegen im Blick auf Ereignisse der Kir‐ chengeschichte erst vielfältige Verstehenshindernisse überwunden werden müssten. Amos und Jesus lebten in bestimmten geschichtlichen Situationen. Ihr Auftreten liegt in weiter Ferne. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint: Der Religions‐ unterricht hat es mit mehr geschichtlichen Phänomenen zu tun, als gemeinhin bewusst ist. Aus der historischen Perspektive heraus aber besitzt die biblische Erzählung vom Propheten Amos keine höhere Dignität als etwa das Leben des Franz von Assisi oder des Thomas Müntzer. Wohlgemerkt: rein historisch gesehen! Es braucht also weite‐ re Kriterien, um bestimmte, in der Vergangenheit liegende Ereignisse und Gestalten als prägend und wegweisend und damit als gegenwärtig vermittlungswürdig zu begreifen. Deshalb sei nochmals wiederholt: Die Religionspädagogik hat „Geschichte“ nicht nur als Folgeerscheinung (im Sinne von „Wirkungsgeschichte“ der christlichen Botschaft) im Rahmen einer kirchenhistorischen Fachdidaktik zu thematisieren, son‐ dern „Geschichte“ gehört als eigenständiger Problemkreis in die Grund‐ legung der Didaktik des Religionsunterrichts! Wer die Faktizität der elementaren historischen Dimension des christlichen Glaubens betont, beantwortet freilich noch nicht die Frage, was die besondere Beschäftigung mit Kirchengeschichte im Religionsun‐ terricht bewirken soll, so dass es sich lohnt, alle Mühe auf die Entwick‐ lung einer entsprechenden Didaktik zu verwenden. Für die Klärung eines angemessenen Umgangs im Religionsunter‐ richt mit „Geschichte“ könnte eine kleine historische Reminiszenz hilf‐ reich sein. Im Revolutionsjahr 1789 hielt Friedrich Schiller seine berühmte Je‐ naer akademische Antrittsvorlesung als Professor für Geschichte unter dem Titel: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalge‐ schichte?“9 7 8 9
Ebd., 98‐102. Ebd., 139‐143. Abgedr. in: FRIEDRICH SCHILLER, Kleine philosophische Aufsätze, hg. v. I. IMEL‐ MANN, Bielefeld/ Leipzig 1913, 1‐23.
II. Was bringt der Umgang mit Kirchengeschichte?
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Zwei Gedanken machen für mich seine damaligen Ausführungen heute noch lesenswert: Zum einen ist es das beharrliche Insistieren auf einer Perspektive, die von der Gegenwart ihren Ausgang nimmt: Ge‐ wiss ist alles Geschichte, was in der Vergangenheit liegt. Aber nicht jedes geschichtliche Ereignis besitzt darum Bedeutung für das Ver‐ ständnis der Gegenwart und ist erinnerungswürdig. Nach Schiller hebt der Universalhistoriker aus der Fülle der historischen Begebenheiten „diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwi‐ dersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben. Das Verhältnis eines historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung ist es also, worauf gesehen werden muß, um Materialien für die Welt‐ geschichte zu sammeln.“10 Gleichwohl stellen auch diese zunächst nur ein „Aggregat von Bruchstücken“ dar, sofern es nicht gelingt, die An‐ häufung von Einzelteilen – wie Schiller sich ausdrückt – „zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen“11 zu erheben. Neben die Gegenwartsperspektive tritt für ihn zweitens also unab‐ dingbar die Notwendigkeit, die als gegenwartsrelevant erachteten his‐ torischen Fakten unter einem gemeinsamen Blickwinkel zu verknüpfen und zu deuten12. Unabhängig davon, ob man Schillers Programm in Anlage und Durchführung zustimmt13, können die von ihm herausgearbeiteten Gesichtspunkte der (a) Perspektivität und (b) Konstruktivität unmittelbar für eine Kirchengeschichtsdidaktik fruchtbar gemacht werden. Auf der Theorieebene bedeutet dies: Um dem Erfordernis der Per‐ spektivität zu genügen, wird der Kirchengeschichtsunterricht von der Wahrnehmung der Gegenwart ausgehen und sich zur Erhebung histo‐ rischer Gegebenheiten geschichtswissenschaftlicher Methoden bedie‐ nen. Hinsichtlich der Unerlässlichkeit der Konstruktivität reichen diese Methoden allein jedoch nicht. Sie können nur eine beliebige Summe von Einzelphänomenen erheben. Darüber hinaus ist deren Zuordnung notwendig. Und diese zuordnende Funktion hat im Kontext des Religi‐ onsunterrichts, innerhalb dessen sich der Kirchengeschichtsunterricht ereignet, die Theologie als Referenzwissenschaft zu übernehmen. Sie vermittelt mögliche Kriterien zur Konstruktion. Insofern unterscheidet 10 Ebd., 17. 11 Ebd., 19. 12 Diese Aufgabe hat nach Schiller der sogenannte „philosophische Verstand“ bzw. „philosophische Geist“: „Er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt“ (19f). 13 In manchen Teilen – besonders im Blick auf ein „teleologisches Prinzip in der Welt‐ geschichte“ (20) – atmet es sehr den optimistischen Geist der Aufklärung.
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Kirchengeschichte im Religionsunterricht
sich eine Kirchengeschichtsdidaktik in der Tat von einer allgemeinen Geschichtsdidaktik. Damit lässt sich aus meiner Sicht die Eingangsfrage nach den Zie‐ len eines Kirchengeschichtsunterrichts sachgemäß beantworten: Der Rekurs auf die Kirchengeschichte im Religionsunterricht soll Schüle‐ rinnen und Schülern, die sich in ihrer heutigen Lebenspraxis mit dem Anspruch des christlichen Glaubens konfrontiert sehen, a) Einsichten in die Entstehungsbedingungen und die geschichtlichen Wandlungsprozesse des Christentums vermitteln und eine kriti‐ sche Auseinandersetzung mit der historisch tradierten gegenwärti‐ gen Sozialgestalt der Kirche ermöglichen; b) inmitten aller zu konstatierenden Brüche hinsichtlich der Gestalt‐ werdung der christlichen Botschaft Kontinuitäten bewusst machen und zu einer eigenen religiösen Identitätsbildung im Sinne des be‐ gründeten Verhältnisses gegenüber einer Kirche helfen. Diese Aufgabenbeschreibung beantwortet zugleich die Frage, in welchem Sinn der bisher eher unspezifisch verwendete Ausdruck „Kir‐ chengeschichte“ zu verstehen sei: Es dürfte angesichts der umfassen‐ den Ausrichtung der historischen Rückfragen deutlich sein, dass es nicht nur um die Geschichte der Kirche als rechtlich geregelter Organi‐ sation und die Entwicklung der christlichen Lehre geht, sondern sich die Blickrichtung auch – und verstärkt! – auf die gesellschaftlich‐ kulturelle Prägekraft des Christentums richten muss14. Unter dieser Maßgabe bevorzuge ich eher den inzwischen eingeführten Begriff der „Christentumsgeschichte“. Er öffnet den Horizont für Fragen etwa nach der historischen Begründung unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus und Mentalitäten oder der interkulturellen Begegnung. Mit anderen Worten: Ein Verständnis der Kirchengeschichte als „Christen‐ tumsgeschichte“ wird dem Christentum als Religion eher gerecht.
III. Kirchengeschichte als Unterricht Die Behandlung christentumsgeschichtlicher Themen im Religionsun‐ terricht weiß sich an regulative Vorbedingungen gebunden. Als solche sind im Einzelnen zu nennen: der allgemeine Bildungsauftrag der Schule, die konfessionelle Bestimmtheit des Unterrichts, die fachwis‐ 14 Vgl. dazu JOCHEN‐CHRISTOPH KAISER, Art. Sozialgeschichtsschreibung III. Kirchen‐ geschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie 31 (2000), 535‐538.
III. Kirchengeschichte als Unterricht
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senschaftliche Orientierung, die Situation der Schülerinnen und Schü‐ ler, die persönliche Disposition der Lehrenden. Erst das sorgfältige Austarieren dieser Rahmenvorgaben ermög‐ licht eine angemessene Entscheidung, welche Inhalte vorzugsweise in ein kirchengeschichtliches Curriculum aufgenommen werden sollten. Bezogen auf das kirchengeschichtliche „Lernen“ heißt dies zumin‐ dest andeutungsweise: Die Institution der Schule als Bildungseinrich‐ tung für alle – und nicht etwa nur die Kirche! – ist der gegebene Ort, in eine unterrichtliche, d. h. strukturierte und geordnete Auseinanderset‐ zung mit der Vergangenheit einzutreten, die dazu führt, „Traditionen zu entdecken, bewußtzumachen und für heute gestaltend weiterzu‐ entwickeln“15. Da diese Traditionen über viele Jahrhunderte hin zu einem nicht geringen Teil durch das Christentum bestimmt sind, muss es ebenso das Interesse wie die Aufgabe des öffentlichen Schulsystems sein, kirchengeschichtliche Einsichten und Erkenntnisse in dem be‐ schriebenen umfassenden Sinn zu vermitteln. Natürlich mag eingewandt werden, ob diese Aufgabe nicht der weltanschaulich neutral gehaltene Geschichtsunterricht angemessener erfüllt. Oberflächlich betrachtet scheint ein Kirchengeschichtsunter‐ richt, der – wie der Religionsunterricht insgesamt – nach verfassungs‐ rechtlicher Feststellung „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ wird (Art. 7 Abs. 3 GG) und sich dem‐ entsprechend konfessionell versteht, voreingenommen zu sein und eine unbefangene Wahrnehmung und Aneignung historischer Sachverhalte eher zu hindern als zu fördern. Dem ist allerdings zu entgegnen, dass jegliche Rezeption von bestimmten Prämissen ausgeht und insofern interessengeleitet ist! Die vorausgesetzte Konfessionalität des Religi‐ onsunterrichts könnte man auch in dem Sinn deuten, dass die herme‐ neutischen Voraussetzungen offengelegt – und nicht subkutan einge‐ spielt – werden, unter denen der Zugang zur Christentumsgeschichte und die Auseinandersetzung mit ihr erfolgt. Da es hier nicht nur eine einzige Möglichkeit gibt, ließe sich die konfessionelle Ausrichtung als Ausdruck intellektueller Redlichkeit auffassen – freilich ohne Anspruch auf irgendeine Exklusivität. Ihr Widerlager und Korrektiv benötigt die konfessionelle Ausrich‐ tung allerdings in der strengen fachwissenschaftlichen Orientierung, d. h. in der Zugrundelegung einer historisch‐kritischen Methodik im Umgang mit geschichtlichen Phänomenen. Die Erhebung von Sachver‐ 15 Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, i.A. des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland hg. v. Kirchenamt der EKD, Güters‐ loh 1994, 51.
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Kirchengeschichte im Religionsunterricht
halten in der Vergangenheit darf sich vom Geschichtsunterricht nicht unterscheiden. Daraus ergibt sich die Forderung nach Interdisziplinari‐ tät, bezogen auf die Schule: nach zeitweiligem fächerübergreifendem Unterricht16, zumindest aber nach genauer Abstimmung der Curricula im Religions‐ und Geschichtsunterricht. Gerade eine Kirchenge‐ schichtsdidaktik, die sich als Didaktik der Christentumsgeschichte ver‐ steht, ist dringend auf inhaltliche Kooperation angewiesen, um ermü‐ dende und langweilende Wiederholungseffekte vermeiden zu können. Was die Geschichtskonstruktion und damit die Bewertung histori‐ scher Ereignisse angeht, wird es bei Unterschieden bleiben können. Hier hat die Theologie ihren Ort! Um es mit der Historikerin Anette Hettinger zu sagen: „Dadurch, dass der christliche Glaube einen be‐ stimmten Wertekanon vermittelt, an dem sich gegenwärtiges wie ver‐ gangenes Handeln messen lässt, kann im Religionsunterricht die mora‐ lische Dimension geschichtlicher Vorgänge stärker zum Ausdruck und zur Diskussion gebracht werden.“17 Geschichtliches Bewusstsein entwickelt sich erst allmählich. Legt man Piagets Darstellung der Entwicklung kognitiver Strukturen zugrunde, wird ein reflektierender Kirchengeschichtsunterricht frühes‐ tens auf der Stufe der so genannten „konkreten Denkoperationen“, d. h. beginnend in der Sekundarstufe I, möglich sein. Das schließt frei‐ lich nicht aus, bereits in der Primarstufe Gestalten der Kirchengeschich‐ te narrativ nahe zu bringen oder die Geschichte einer bestimmten Kir‐ che im Dorf oder in der Stadt unter der Fragestellung „Wie war das damals?“ zu erkunden. Ebenfalls ist zu berücksichtigen, dass sich die kognitiven Strukturen keineswegs bei allen Schülerinnen und Schülern gleichförmig ausbilden. Mit der Ausdifferenzierung der Schulformen wird auch eine Ausdifferenzierung hinsichtlich der Inhalte und der Methodik des Kirchengeschichtsunterrichts einhergehen. Und schließ‐ lich muss im Blick auf die Schülersituation davon ausgegangen wer‐ den, möglicherweise erst Interesse an der Begegnung und Beschäfti‐ gung mit der Vergangenheit zu wecken und die Bedeutung dieses Vorgangs zu begründen. Der Motivationsaufwand erscheint gerade im Kontext des Religionsunterrichts besonders hoch. Die „Empfehlungen der Gemischten Kommission für die Reform des Lehramtsstudiums Evangelische Theologie / Religionspädagogik“ aus dem Jahr 1997 kon‐ statieren „ein fast durchgängiges Desinteresse an spezifischen Phäno‐ menen der Geschichte der Kirchen und des Christentums“ und wählen eine dementsprechend dramatische Sprache, um das „zentrale didakti‐ 16 Dazu ebd., 52. 17 ANETTE HETTINGER, „Als die Päpste mit dem Kaiser stritten ...“ Kirche und Kirchen‐ geschichte im Geschichtsunterricht, in: Entwurf 1/1999, 10.
IV. Entscheidungsbedarf
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sche Problem des Kirchengeschichtsunterrichts“ zu kennzeichnen: „Je‐ der unterrichtliche Versuch einer Annäherung an vergangenes christli‐ ches Leben und Handeln ist ein Rettungsversuch, um die Geschichte dem Vorurteil, dem Verdrängen und Vergessen zu entreißen, sie gegen Widerstände zu vergegenwärtigen und dazu ihre Strukturen, Ursachen und Wirkungen freizulegen.“18 Ich frage mich, ob hier im Blick auf Schülerinnen und Schüler nicht doch zu sehr aus einer defensiven Posi‐ tion heraus argumentiert wird. Hinsichtlich der persönlichen Disposition von Religionslehrerinnen und ‐lehrern bleibt zu beachten, dass Vielen die erforderliche fachwis‐ senschaftliche Kompetenz im Blick auf die Durchführung des Kirchen‐ geschichtsunterrichts schlicht fehlt. Wie eingangs angedeutet, war der Stellenwert der Kirchengeschichte innerhalb der Religionspädagogik bisher eher gering veranschlagt. Das führt gerade angesichts der Un‐ überschaubarkeit und des ständigen Zuwachses historischer Details und Entwicklungen zu einem Überforderungssyndrom. Aufgabe der Kirchengeschichtsdidaktik ist es deshalb, Hilfestellungen zu geben, um die Komplexität – fachwissenschaftlich begründet – auf ein verant‐ wortbares Maß zu reduzieren. Dies aber erfordert curriculare Entschei‐ dungen hinsichtlich der zu behandelnden kirchengeschichtlichen Schwerpunkte.
IV. Entscheidungsbedarf Die Durchsicht der hessischen Rahmenpläne für evangelische und ka‐ tholische Religion bringt einen ernüchternden Befund an den Tag: Pflichtmäßig zu behandeln sind innerhalb der immerhin dreizehn Jahre dauernden Schulzeit nur drei gesonderte kirchenhistorische Themen‐ komplexe: − Anfänge des Glaubens / Frühe Kirche − Reformation / Martin Luther − Kirche im Nationalsozialismus / Christen und Juden Daneben werden als Wahlthemen vorgeschlagen: Mönchtum, Boni‐ fatius und die Germanenmission, Elisabeth von Thüringen und Hexen‐ verfolgung. Alles in allem ein bescheidener Minimalkatalog! Die Aus‐ wahl der drei genannten Pflichtthemen bedarf unter fachwissen‐ schaftlichen Gesichtspunkten keiner näheren Begründung: Wenn nicht 18 Im Dialog über Glauben und Leben. Zur Reform des Lehramtsstudiums Evangeli‐ sche Theologie / Religionspädagogik. Empfehlungen der Gemischten Kommission, i.A. des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland hg. v. Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1997, 55f.
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Kirchengeschichte im Religionsunterricht
diese, welche dann überhaupt! Von den Überlegungen, dem histori‐ schen Lernen auch im Religionsunterricht wieder ein stärkeres Gewicht beizulegen, sind die aus den 80er Jahren stammenden Rahmenpläne noch entfernt. Der Entwurf des Rahmenplans „Evangelische Religion Sekundar‐ stufe 1“ von 1999 geht hier weiter und sucht Schülerinnen und Schü‐ lern zumindest ein „Grundwissen“ in Kirchengeschichte nahe zu brin‐ gen. Orientierungsprinzip sind die Fragen nach der Entwicklung unterschiedlicher „Frömmigkeitsformen“, dem Verhältnis „Kirche und weltliche Macht“ und der christlichen „Wirkungsgeschichte“19. Hieraus leiten sich die einzelnen Themen und deren Inhalte ab. Auch dieser Entwurf als gegenwärtig aktuellste Bemühung in Hes‐ sen auf evangelischer Seite um die Strukturierung des Religionsunter‐ richts plädiert – wie die Rahmenpläne zuvor – für eine exemplarische Behandlung kirchengeschichtlicher Themen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Es sind die Komplexität der Christentumsgeschichte auf der einen und die unterrichtliche Situation mit einem äußerst begrenz‐ ten Stundenkontingent auf der anderen Seite. Dennoch ist mit dem Plädoyer für das Exemplarische noch keineswegs entschieden, in wel‐ cher Weise und mit welcher Absicht kirchengeschichtliche Themen im Religionsunterricht behandelt werden! Eine Möglichkeit bestünde darin, etwa im Zusammenhang eines übergreifenden Themas wie „Helfend handeln“ oder „Vorbilder, Leit‐ bilder, Orientierung“20 ausgewählte Beispiele von Ereignissen oder Gestalten aus der Geschichte aufzunehmen. Solch ein Vorgehen muss nicht von vornherein den Charakter eines historischen Exkurses haben, sondern kann anschaulich werden lassen, wie sich christlicher Glaube unter bestimmten Bedingungen konkretisiert und womöglich bewährt bzw. verfehlt. Der Gang zurück in die Geschichte hätte orientierende Funktion. Sollte sich der unterrichtliche Umgang mit der Christentumsge‐ schichte allerdings ausschließlich darauf beschränken, aus der Gegen‐ wartsperspektive heraus einzelne Ereignisse oder Personen aus der Vergangenheit herauszugreifen, habe ich Bedenken. Geschichte wird atomisiert und reduziert sich auf die setzkastenartige Bereitstellung von mehr oder weniger probaten Beispielen. Nicht umsonst hatte Schil‐ ler darum neben der Perspektivität das Erfordernis der Konstruktion genannt!
19 Rahmenplan Evangelische Religion Sekundarstufe 1 von 1999 (Entwurf), 42. 20 Ebd., 44.
IV. Entscheidungsbedarf
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Um dem gerecht zu werden, möchte ich mit Gottfried Adam und anderen dafür eintreten, dass Kirchengeschichte „als ein selbständiger didaktischer Typus im Religionsunterricht“ verstanden wird, „damit das Eigengewicht kirchengeschichtlicher Phänomene den Schülerinnen und Schülern deutlich werden kann“21. Die unterrichtliche Umsetzung hätte dann in eigenständigen kir‐ chengeschichtlichen Sequenzen innerhalb des Schuljahrcurriculums zu erfolgen. Der methodische Dreischritt bei der Begegnung mit histori‐ schen Phänomenen (Wahrnehmen – Rekonstruieren – Urteilen) ver‐ langt in fachwissenschaftlicher Hinsicht wie im Blick auf die Situation der Schülerinnen und Schüler Geduld und braucht Zeit. Doch nur so kann gewährleistet werden, dass Ereignisse und Gestalten in ihrer zeit‐ geschichtlichen Einbindung ernst genommen werden und bei Schüle‐ rinnen und Schülern ein Gespür für Kontinuitäten, aber auch Brüche in der Geschichte erwächst. Gleichwohl bleibt bei einer solchen kirchengeschichtsdidaktischen Konzeption die Notwendigkeit der Auswahl und damit der Ausgren‐ zung bestehen. Dieser Umstand verliert an Gewicht, wenn es gelingt, die Unterrichtsinhalte der einzelnen Jahrgangsstufen enger aufeinander zu beziehen. Nicht alles muss und kann gleichzeitig vermittelt werden! Das würde weder den Schülerinnen und Schülern in ihrer altersmäßi‐ gen Situation noch der Komplexität der Christentumsgeschichte ge‐ recht. Was mir vorschwebt und ich an dieser Stelle nur andeuten, aber nicht ausführen kann, ist eine Durchsicht der bisherigen Epochen der Christentumsgeschichte, um didaktisch‐methodisch reflektiert inner‐ halb einer Gesamtkonzeption des Religionsunterrichts ein integrales kirchengeschichtliches Curriculum zu erarbeiten, das sowohl die Pri‐ marstufe als auch die Sekundarstufen I und II umfasst. Erste Ansätze unter dem Stichwort „Aufbauendes Lernen“ liegen hierzu im katholi‐ schen Bereich bereits vor22. Es wäre wünschenswert, könnte es gelin‐ 21 ADAM, 179 (s. Anm. 3); vgl. auch KLAUS WEGENAST, Religionsdidaktik Sekundarstu‐ fe I. Voraussetzungen, Formen, Begründungen, Materialien, unter Mitarb. v. PHILIPP WEGENAST, Stuttgart usf. 1993, 48f, und GODEHARD RUPPERT/JÖRG THIERFELDER, Umgang mit Geschichte – Zur Fachdidaktik kirchengeschichtlicher Fundamentalin‐ halte, in: Religionspädagogisches Kompendium, hg. v. GOTTFRIED ADAM/RAINER LACHMANN, 5., neubearb. Aufl. Göttingen 1997, 306‐309. 22 Vgl. BERNHARD JENDORFF, Kirchengeschichtsdidaktische Grundregeln, in: Religi‐ onsunterricht an höheren Schulen 5/1995, 282‐290; EDITH VERWEYEN‐HACK‐ MANN/BERND WEBER, Kirche als Nachfolgegemeinschaft – Kirche unter der Versu‐ chung der Macht. Aufbauendes Lernen im Bereich Kirchengeschichte, in: Ebd., 299‐ 303. Zum Versuch, zwei Jahrtausende Christentumsgeschichte in einem Kursmodell didaktisch zu vermitteln, vgl. BERNHARD BÖTTGE, Wo Schatten ist, muss doch auch
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Kirchengeschichte im Religionsunterricht
gen, solch ein integrales Curriculum in ökumenischer Kooperation zu entwickeln.
V. Folgerungen Aus dem zuletzt Gesagten ergeben sich für mich drei praktische Folge‐ rungen, die sich gegenseitig bedingen und insofern voneinander ab‐ hängig sind. Dass die Folgerungen zugleich Forderungen darstellen, liegt in der gegenwärtig noch wenig akzeptierten Stellung der Kirchen‐ geschichte im Religionsunterricht begründet. 1. Innerhalb der Religionspädagogik sind die Bemühungen um eine angemessene Didaktik und Methodik der Christentumsgeschichte zu verstärken! Die notwendige fachwissenschaftliche Ausrichtung auf die Geschichte darf eben nicht dazu verleiten, die Fragen der Vermittlung im Blick auf Schülerinnen und Schüler in bestimmten Alters‐ und Le‐ benssituationen zu vernachlässigen. Vielmehr sollte das Lehramtsstu‐ dium – wie insgesamt, so auch im Blick auf die Christentumsgeschichte – anleiten, „wissenschaftlich zu erschließende Sachverhalte auf Grund‐ elemente und ‐strukturen, elementare Fragestellungen, innere Logik, Transparenz und Vermittelbarkeit hin zu durchdenken und die Studie‐ renden dadurch in die Lage zu versetzen, die Ergebnisse der wissen‐ schaftlichen Arbeit theologisch begründet auf entscheidende Gesichts‐ punkte hin zu konzentrieren“23. Insofern finde ich es bedauerlich, dass die von der „Gemischten Kommission für die Reform des Lehramts‐ studiums“ vorgeschlagenen einzelnen „Modelle für Studienordnun‐ gen“ die christentumsgeschichtlichen Themengebiete durchgängig dem Wahlpflichtbereich zurechnen24. 2. Der damit verbundene Anspruch ist sachgerecht nur zu erfüllen durch eine entsprechende universitäre Ausstattung der Fachbereiche mit Lehramtsstudiengängen für evangelische bzw. katholische Theolo‐ gie / Religionspädagogik. Konkret heißt das: Über die Mindestzahl von drei voll ausgestatteten Professuren für die Bereiche biblische Theolo‐ gie, systematische Theologie und Religionspädagogik hinaus ist darauf hinzuarbeiten, überall dort, wo Studierende für das Schulfach Evange‐ lische bzw. Katholische Religion ausgebildet werden, eine Professur für „Christentumsgeschichte“ einzurichten – dies unter ausdrücklicher Licht sein ... 2000 Jahre Christentum und Kirche / Bausteine für Stationenlernen (9.‐ 11. Schuljahr), in: forum religion 3/2000, 4‐19. 23 Im Dialog über Glauben und Leben, 79 (s. Anm. 18). 24 Vgl. ebd., 98‐153.
V. Folgerungen
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Betonung des Erfordernisses einer didaktischen Orientierung des Fa‐ ches! 3. Ich halte eine Revision der vorhandenen Lehrpläne und – damit verbunden – eine Neugewichtung des christentumsgeschichtlichen Anteils am Gesamtcurriculum für dringend geboten. Dabei kann es nicht vordergründig allein um eine höhere quantitative Präsenz histori‐ scher Themenzusammenhänge im Religionsunterricht gehen. Vielmehr sollte unter Aufnahme der angedeuteten Grundfrage der christlichen Religion nach der Geschichte auch in der Anlage des Religionsunter‐ richts hervorgehoben und vermittelt werden, dass und warum die Be‐ gegnung mit der Vergangenheit Bedeutung für das Verständnis der eigenen Person wie der gesellschaftlich‐kulturellen Wirklichkeit hat. Insofern ist alles Lernen immer auch geschichtliches Lernen! Ob diese drei Folgerungen Sinn machen, und wenn ja, welche Aus‐ sicht auf Verwirklichung bestehen könnte, stelle ich gerne zur Diskus‐ sion. „Kirchengeschichte im Religionsunterricht“ befasst sich mit der Vergangenheit, aber ich bin überzeugt: Sie hat ihre Zukunft noch vor sich.
Orte der Erstveröffentlichung 1.
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Jesus Christus und die Kirche in: Leben und Kirche. Festschrift Wilfried Härle, hg. v. Uta Andrée, Frank Miege und Christoph Schwöbel, Marburg 2001, 35‐42 (Mar‐ burger Theologische Studien 70). Die Jesberger Konferenz im Jahr 1849. Ein Beitrag zum Verhält‐ nis von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte 117 / Kanonistische Abteilung 86 (2000), 499‐516. Wilhelminischer Protestantismus. Der Zusammenhang von Po‐ litik, Kirche und Theologie an der Wende zum 20. Jahrhundert in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 51 (2000), 99‐114. Geistliche Leitung und Einheit der Kirche. Zur Vorgeschichte und Einführung des Bischofsamtes in der Evangelischen Lan‐ deskirche von Kurhessen‐Waldeck in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte 108 / Kanonistische Abteilung 77 (1991), 406‐427. Hermann Schafft in den Jahren 1918 bis 1938 in: Deutsches Pfarrerblatt 97 (1997), 18‐22.31. Das Jahr 1933 in der Evangelischen Landeskirche in Hessen‐ Kassel in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 44 (1993), 155‐166.
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Orte der Erstveröffentlichung
Hans von Soden und die „Judenfrage“ in: Erinnern – Verstehen – Versöhnen. Kirche und Juden in Hessen 1933–1945. Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akade‐ mie Hofgeismar, hg. v. Bernd Jaspert, Kassel 1992, 33‐58 (Didaskalia 40). Bernhard Heppe – Eine Säkularerinnerung in: Hessisches Pfarrblatt 6/1997, 179‐184. „Die Stunde der Entscheidung ist da“ – Bekennende Kirche und Schule im Nationalsozialismus in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 104 (2007), 44‐58. „Großdeutschland ruft zum Dienst!“ Die evangelische Kirche und der 2. Weltkrieg in: Erinnern und Erben in Deutschland. Versuch einer Öffnung, hg. v. Eva Schulz‐Jander u. a., Kassel 1999, 90‐110. Auf der Suche nach neuer Ordnung. Der Weg der evangeli‐ schen Landeskirche von Kurhessen‐Waldeck in den Jahren 1945–1947 in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 41 (1991), 111‐134. Was heißt: „… in der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation zu einer Kirche zusammengewachsen“? in: Vernünftiger Gottesdienst. Kirche nach der Barmer Theologischen Erklärung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans‐Gernot Jung, hg. v. Frithard Scholz und Horst Dickel, Göttingen 1990, 121‐150. Kirchengeschichte im Religionsunterricht in: forum religion. Zur Praxis des Religionsunterrichts 3/2001, 35‐ 41.
Abkürzungen richten sich nach: Siegfried Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, ²1992.
Personenregister Biblische Namen und Personen sowie Autorinnen und Autoren sind – von Ausnahmen abgesehen – im Register nicht aufgeführt. Albertz, Martin 157 Eberhard, Bernhard 28 Asmussen, Hans 78, 198 Eckert, Erwin 90 Auguste Viktoria (Kaiserin) 45 Eichhöfer, Konrad 104 Eisenberg, Hellmut 140 Bader, Claudia 93 Elisabeth von Thüringen 239 Bähr, Karl 63, 101f Ellwein, Theodor 93 Beckmann, Joachim 164, 170, 182 Flavian 220 Bezzenberger, Günther 227 Forck, Bernhard Heinrich 157 Bismarck, Otto von 37 Franz von Assisi 234 Blesse, Paul 140 Freudenberg, Adolf 180f, 184, Blum, Emil 86 186 Bodelschwingh, Friedrich (d.J.) Frick, Heinrich 86, 194, 197 107, 198 Fricke, Ferdinand 63, 66f, 75, Bonhoeffer, Dietrich 12, 177 197 Bonte, Friedrich 174 Friedrich III. (König) 36 Bormann, Martin 163 Friedrich Wilhelm I. (Kurfürst) Bucer, Martin 218 28 Bülow, Bernhard von 40 Friedrich Wilhelm III. (Kaiser) Bultmann, Rudolf 8, 111, 117, 37 122, 128, 170f Fuchs, Karl 63, 99, 101 Fürer, Hermann 210 Calvin, Johannes 221 Gerlach, Ernst 104 Dehn, Günther 86, 90f Gerullis, Georg 120 Delekat, Friedrich 154‐157 Goebbels, Joseph 95 Dettmar, Werner 213, 226 Göring, Hermann 66, 174 Dettmering, Otto 60, 63, 99‐ Grundmann, Walter 125f 101, 143 Dithmar, Theodor 63f, 104f, Happich, Friedrich 71‐74, 78, 200 183f, 189, 192, 194, 197, 203 Dönitz, Karl 180
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Personenregister
Harnack, Adolf von 35, 49‐51, 114, 123 Hassenpflug, Ludwig 29 Hauer, Jakob Wilhelm 151 Heckel, Theodor 184 Heppe, Bernhard 69, 106, 108, 135‐144, 211 Heppe, Heinrich 211 Hertzberg, Hans Wilhelm 78 Hindenburg, Paul von 98 Hirsch, Emanuel 126 Hitler, Adolf [66], [95], 97f, 102, 109, 138, 148, 157, 163, 165, [167], [169], [177] Huber, Wolfgang 145 Ide, Friedrich 60 Iwand, Hans‐Joachim 198 Jacobsohn, Hermann 117 Jäger, August 67, 100, 103 Kähler, Martin 83 Kerrl, Hanns 32, 70, 93, 153, 203 Kittel, Gerhard 112 Klingler, Fritz 161f, 176 Knieling 18 Koch, Karl 91 Köhler, Winfried 104 Krause, Hermann 195 Krause, Reinhold 105 Leo (Papst) 220 Lietzmann, Hans 126 Löwith, Karl 114, 117 Loisy, Alfred 4, 12 Luther, Hans (Reichskanzler) 115 Luther, Martin 21, 29, 46, 105, 219, 239
Lütkemann, Wilhelm 61, 72‐ 75, 194, 203 Mackensen, August von 198 Mann, Heinrich 35 Marahrens, August 184, 203 Maurer, Wilhelm 140, 211‐214, 218, 224, 227 Meiser, Hans 154 Melanchthon, Philipp 216, 219 Mennicke, Trude 92 Merzyn, Gerhard 64f, 71, 73f, 104 Metzger, Ludwig 87 Meyenschein, Richard103 Möller, Heinrich 60, 62f, 99‐ 101 Moritz (Landgraf) 220 Müller, Alfred Dedo 86 Müller, Ludwig (Reichsbi‐ schof) 69, 91, 107, 141 Müntzer, Thomas 234 Neubauer, Ernst 184 Niemöller, Martin 91, 104, 107, 138, 198 Niesel, Wilhelm 198 Nietzsche, Friedrich 43 Paquet, Alfons 86 Paulmann, Wilhelm 62, 100‐ 105 Philipp (Landgraf) 218‐220 Piaget, Jean 238 Piper, Otto 86 Pirson, Dietrich 210 Rade, Martin 117 Richter, Johannes 67 Ritter, Karl‐Bernhard 76, 88, 104‐108, 137‐139 Rosenberg, Alfred 151
Personenregister
Rundstedt, Gerd von 174 Rust, Bernhard 100 Schade, Karl Christian 104 Schafft, Hermann 81‐94, 137 Scheig, Karl 76, 190, 192, 195 Schiller, Friedrich 234f, 240 Schimmelpfeng, Hans 106, 140 Schmidmann, Gottfried 140 Seeberg, Reinhold 39, 49f Soden, Hans von 32, 60, 71f, 75‐78, 93, 106, 111‐134, 138f, 183, 186, 190, 192, 198f, 203 Stange, Erich 168 Staritz, Katharina 132 Stauber, Hermann 140 Steinweg, Johannes 74 Sterzinsky, Georg 145 Stock, Ulrich 194 Stoecker, Adolf 46f Stöhr, Hermann 177 Strathmann, Hermann 122 Stresemann, Gustav 115f Thadden‐Trieglaff, Reinold von 198
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Theys, Karl 66, 69 Thomas, Wilhelm 86 Tillich, Paul 83f, 86, 88, 91‐94 Troeltsch, Ernst 43 Ubbelohde, Hermann 117 Vilmar, August 17f, 23‐26, 28‐ 32, 186, 211, 220 Vilmar, Wilhelm 30 Wibbeling, Wilhelm 32, 34, 76, 86, 186‐193, 195f, 199, 201f, 204f Wilhelm I. (Kaiser) 40 Wilhelm II. (Kaiser) 36f, 40, 45, 48 Winnig, August 198 Wolf, Ernst 125 Wünsch, Georg 90, 117 Wurm, Theophil 76, 78, 198, 203 Wüstemann, Adolf 78, 192f, 195f
Ortsregister
Aachen 37 Altona 106 Antiochia 9 Augsburg 21, 92, 219 Bad Oeynhausen 153f, 156 Bad Sooden‐Allendorf 104, 181 Berlin 37, 45, 46‐48, 82, 88, 93, 95, 105, 138, 145, 153, 157 Berneuchen 88 Bethel 136 Betziesdorf 140 Breslau 132, 156 Calden 103 Cappel 140 Cölbe 135f, 139, 143 Dordrecht 221 Dortmund 89 Dresden 154 Eisenach 92, 125 Erlangen 120, 212 Frankfurt/Main 19f, 129, 147, 158, 181 Friedewald 82 Fürsteneck 81 Gelnhausen 189 Gudensberg 104 Habertshof 86 Halberstadt 82
Halle 82f, 90 Hanau 30, 32, 56, 99, 147, 181, 186, 189f, 192, 195f, 205f, 222 Heidelberg 90, 132 Hersfeld 28, 82 Hofgeismar 78 Homberg/Efze 17, 104f, 218 Jena 234 Jesberg 17‐34, 186 Kassel 18, 28, 30, 56f, 81f, 85, 89, 98‐100, 102, 104, 135, 140, 143, 168, 180‐182, 184, 187, 202, 209, 221f Kesselstadt 205 Kiautschou 40 Königsberg 37 Langendiebach 186, 188, 199, 201f, 204f Langenselbold 188f, 198 Langenstein 82 Loshausen 88, 137 Mannheim 90, 181 Marburg 18, 29f, 32, 56f, 81 96, 99, 106f, 111, 114, 117, 120, 132, 135f, 138f, 170, 180, 183, 194, 207, 218, 221‐223 Michelbach 140 München 109, 165 Münster 220
252 Nürnberg 129 Osnabrück 220 Paris 19 Potsdam 98 Ravensbrück 132 Samoa 40 Schlüchtern 86 Schmalkalden 206, 218f Schönstadt 136, 140
Ortsregister
Treysa 56, 71, 74, 106, 136, 158, 183, 188f, 194f, 206 Tübingen 82, 112, 136 Vršac 144 Weimar 146f Wiesbaden 182 Wittenberg 46, 94, 219 Wuppertal 92