Was wirkt in der Psychotherapie?: Bernhard Strauß und Ulrike Willutzki im Gespräch mit Uwe Britten [1 ed.] 9783666406317, 9783525406311

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Was wirkt in der Psychotherapie?: Bernhard Strauß und Ulrike Willutzki im Gespräch mit Uwe Britten [1 ed.]
 9783666406317, 9783525406311

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Psychotherapeutische

Was wirkt in der Psychotherapie?

Bernhard Strauß und Ulrike Willutzki im Gespräch mit Uwe Britten

Herausgegeben von Uwe Britten

Bernhard Strauß/Ulrike Willutzki

Was wirkt in der Psychotherapie? Bernhard Strauß und Ulrike Willutzki im Gespräch mit Uwe Britten

Mit 2 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: dalinas/shutterstock.com Texterfassung: Regina Fischer, Dönges Korrektorat: Edda Hattebier, Münster; Anne Katrin Bläser, Bonn Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-753X ISBN 978-3-666-40631-7

Inhalt

Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Theorien plus empirische Forschung plus Wissenschaftssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Die Annäherung der Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Wirkmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unbewusste Funktionen verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was bleibt von den bisherigen Modellen? . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderne Wirkungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Was wirkt wann, wie und warum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Wirkung messen und beweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Die Wertigkeit der Allgemeinen Wirkfaktoren . . . . . . . . . . . . 87 Sich begegnen in der Therapeut-Klient-Beziehung . . . . . . . . 95 Selbstzweifel von Psychotherapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Wirkung durch Bindung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Zufall und Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Zufallskomponenten in Ausbildung und Methodenorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Wirkung per Bildschirm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

I

m Dezember 2017 treffen sich in den Räumen der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie Ulrike Willutzki und Bernhard Strauß in Berlin, um über Wirkungstheorien der Psychotherapie zu diskutieren. Brisant wird dieses Thema im Fach immer dann, wenn die Wirkung und ihre Nachweise auf die einzelnen Therapierichtungen bezogen werden. Dann nehmen die einen für sich in Anspruch, was ihnen von anderen in Abrede gestellt wird. Dass Psychotherapie bei psychischen und psychosozialen Problemen hilft, gilt heute als unbestritten, ebenfalls gelten einige Grundannahmen, wie sie schon Sigmund Freud aufstellte, auch nach mehr als hundert Jahren immer noch. Trotzdem gibt es sowohl auf der Ebene der Wirkungstheorien als auch auf der therapeutisch-praktischen Ebene weiterhin große Differenzen darüber, wie angemessen und wirkungsvoll die einzelnen therapeutischen Ansätze wirklich sind – und vor allem: wie sich das belegen ließe. Bei aller Differenz und trotz so mancher Streitschrift zeichnet sich eins jedoch ab: Die therapeutischen Schulen nähern sich an. Nur, was folgt eigentlich daraus?

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Prof. Dr. Bernhard Strauß, Jahrgang 1956, ist Psychologischer Psy­chotherapeut und Psychoana­ lytiker und seit 1996 am Univer­ sitätsklinikum der Friedrich-­ Schiller-­ Universität in Jena, zu­nächst als Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie. Seit 2004 vertritt er die Fächer Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und leitet das Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind unter anderem die Bindungsforschung, die Sexualwissenschaft und die (Gruppen-)Psychotherapieforschung. Bernhard Strauß ist von mehreren Therapieschulen geprägt und hat zudem zahlreiche empirische Studien zur Psychotherapie durchgeführt. Im Jahr 2013 veröffentlichte er gemeinsam mit Michael Linden die Aufsatzsammlung »Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie« und plädierte für eine enttabuisierte Diskussion unerwünschter Wirkungen und Nebenwirkungen von Psychotherapie. Das Thema »Bindung« und die Bindungsforschung nutzt Strauß auch für die Psychotherapie selbst. Das Bindungskonzept und seine heutige Berücksichtigung innerhalb der Therapeut-Klient-Beziehung hat er in seinem Buch »Bindung« (2014) vorgestellt und gab ferner zusammen mit Henning Schauenburg den Überblicksband »Bindung in Psychotherapie und Medizin: Grundlagen, Klinik und Forschung – Ein Handbuch« (2017) heraus. 8

Prof. Dr. Ulrike Willutzki, Jahrgang 1957, ist ebenfalls Psychologische Psychotherapeutin sowie Kinder- und Jugendlichenpsycho­ therapeutin. Von 1986 bis 2013 hat sie an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität in Bochum gearbeitet; von 1998 bis 2013 war sie zugleich Co-Leiterin des Zentrums für Psychotherapie in Dortmund. Seit 2013 hat sie an der Universität Witten/Herdecke den Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie inne. Ulrike Willutzki ist kognitive Verhaltensthera­ peutin, versteht sich zudem als Systemikerin und hat sich langjährig in Psychodrama weitergebildet. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Psy­ cho­therapeutenforschung und der sozialen Ängste. Zudem hat sie sich der Ressourcenorientierung als einem generellen Wirkfaktor der Psychotherapie in zahlreichen Aufsätzen und Studien gewidmet. Im Jahr 2013 veröffentlichte sie hierzu zusammen mit Tobias Teismann das Buch »Ressourcenorien­ tierung in der Psychotherapie«, in dem sie einmal mehr für eine entschiedene Aufwertung der Ressourcen des Klienten und ihre Bedeutung im Therapieprozess plädiert, und zwar ganz unabhängig vom jeweiligen Verfahren. Vielmehr solle die Ressourcenorientierung viel stärker in die Haltung der Therapeutinnen und Therapeuten eingehen.

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THEORIEN

»Das Wichtige an der psychotherapeutischen Wissenschaft und Forschung ist, glaube ich, etwas ganz Banales, nämlich trotz der Arbeit an theoretischen Konzepten am primären Ziel psychotherapeutischer Behandlungen festzuhalten, dass es den Patienten besser gehen soll, das heißt, die Symptome zu reduzieren und die Lebenszufriedenheit zu erhöhen.« Bernhard Strauß

Theorien plus empirische Forschung plus Wissenschaftssoziologie

Frau Willutzki, im Mittelalter wurde aufgrund der Vier-Säfte-Theorie empfohlen, nur bestimmte Lebensmittel und Getränke zu kombinieren und Nahrungsmittel vor dem Essen zu zerkleinern. Diese Theorie hatte gleich mehrere Komponenten, die durch und durch falsch waren, die Folgerungen allerdings, beispielsweise Lebensmittel zerkleinert zu sich zu nehmen, waren durchaus richtig, etwa im Sinne der besseren Verdaulichkeit. Dass man dem cholerischen Menschentyp empfahl, schwächer zu würzen – damals wurde viel heftiger gewürzt als heute –, hatte bei so manchem ebenfalls positive Folgen: Sie tranken weniger, nämlich Bier, das damals ein zu jeder Mahlzeit gehörendes Lebensmittel war, sodass die emotionale Kontrolle nicht so schnell verloren ging. Ist das das übliche Schicksal ausformulierter Theorien: falsch zu sein und lediglich eine Winzigkeit zu enthalten, die länger überdauert? Willutzki  Wahrscheinlich schon. Inzwischen gehen wir in der Regel von multikausalen Modellen aus, die natürlich das Schicksal solcher einfachen Theorien nicht so schnell ereilen kann, ganz einfach deshalb, weil man Zusatzannahmen immer noch einbauen kann. Wir haben zudem heutzutage probabilistische Modelle, das heißt, für den Einzelfall muss nichts gelten, sodass es natürlich viel, viel schwieriger ist, zu sagen, etwas sei definitiv falsch. Vielmehr stellt sich etwas aus einer bestimmten Perspektive so dar, sodass sich unterschiedliche Ansätze perspektivisch ergänzen. Das finde ich eigentlich an der Psychologie auch interessant und reizvoll, dass man eben mit verschiedenen Brillen auf dieselben Gegenstände blickt beziehungsweise dass man ergänzend 12

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auf diese Gegenstände sieht, nur eben mit verschiedenen Instrumentarien. Ich weiß nicht, wie man multikausale Modelle und damit auch den Kausalitätsbegriff falsifizieren kann, denn prinzipiell sind diese ja offen für alle möglichen Einflussgrößen. Wir können alle möglichen Kausalannahmen aufnehmen, Monokausalität haben wir schon längst aufgegeben. Wenn wir zum Beispiel auf systemische Modelle sehen, dann würden wir etwa von Selbstorganisationsprozessen ausgehen, auf die sich bestimmte Einflüsse auswirken und die wiederum innerhalb des Systems unterschiedliche Bedeutung haben. Das ist jetzt erst mal sehr abstrakt, ich weiß. Strauss  Mir fiel bei den Körpersäften auch gleich die Psychoanalyse ein, für die man etwas Ähnliches konstruieren kann. Es ist eine alte Theorie, die hauptsächlich Sigmund Freud entwickelt hat und für die man heute die Frage stellen kann: Was ist davon noch übrig? Ich glaube, die frühe Psychoanalyse ist ein gutes Beispiel für eine Therapietheorie, bei der man heute wahrscheinlich vieles so nicht mehr sehen würde wie vor hundertzwanzig Jahren. Trotzdem gibt es eine Quintessenz alter Theorien: Bei der Vier-Säfte-Theorie ist dies, dass es eben unterschiedliche Formen von Charakteren gibt, die man heute nicht mehr mit Körpersäften erklärt, sondern eher lerngeschichtlich, genetisch, wie auch immer. Und so kann man, glaube ich, heute auch für die »alte« psychoanalytische Theorie sagen, dass Grundprinzipien noch heute eine Bedeutung haben, etwa die Rolle des Unbewussten, die Rolle der persönlichen Entwicklung, die Entwicklung von Psychopathologien und anderes. Freud hatte natürlich im Rahmen seiner Erkenntnismöglichkeiten, die damals noch sehr begrenzt waren, sowohl was die Psychologie als auch was die Biologie anbelangt, einen ganz bestimmten Blick und saß Irrtümern auf. Das muss man sich einfach vor Augen halten. Manches ist peu à peu fortgeführt worden, anderes wurde revidiert von späteren Theoretikern. Die heutige psychoanalytische Behandlungs- und PsychotherapieTheorien plus empirische Forschung plus Wissenschaftssoziologie

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theorie lässt sich eigentlich gar nicht mehr mit dem vergleichen, was vor hundertzwanzig Jahren mal der Kern des Ganzen war. Ich fürchte, dass manche Ihrer Kolleginnen und Kollegen toben werden, wenn sie das lesen. Strauss  Natürlich, das ist mir durchaus bewusst. Aber das ist doch das Schicksal von Theorien ganz allgemein, dass sie auf Paradigmen aufbauen, die irgendwann unhaltbar werden, auch wenn die wissenschaftliche Gemeinschaft so konstituiert ist, dass sie Paradigmen sehr lange aufrechterhält, selbst wenn es schon ganz viel Evidenz gibt, die gegen das Paradigma spricht. Irgendwann kommt es zu einem Wechsel des Paradigmas, was in der Geschichte der Psychoanalyse schon ein paarmal eingetreten ist, natürlich gegen viel Widerstand. Ich habe hautnah miterlebt, wie in den Achtzigerjahren plötzlich die Säuglingsforschung und deren Befunde die Psychoanalytiker gezwungen haben, sich von ganz vielen Konzepten schlichtweg zu verabschieden. Das hat lange gedauert und es haben auch viele aufgeheult, aber ich glaube, dass das heute relativ akzeptiert ist und wir da ein neues Paradigma haben, das eben von einem »kompetenten« und aktiven Säugling ausgeht. Ich verweise etwa auf die Veröffentlichungen von Martin Dornes. Willutzki Ein anderes Problem ist die Normativität dieser Ansätze oder diese Verabsolutierung einzelner Zugänge. Ich glaube, das wird der komplexen Realität nie gerecht. Wenn jemand behauptet, er wisse definitiv etwas, und schließt sich damit gegenüber anderen Perspektiven ab, dann wird man einem Gegenstand nicht gerecht, insbesondere nicht einem psychischen und psychosozialen Geschehen. Trotzdem finden wir das oft.

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Willutzki  Ein Problem ist dabei, dass Sprache immer nur eines sagen kann: Sprache ist linear, ich kann nicht gleichzeitig mehrere Dinge sagen, und es gibt in ihr eigentlich keinen Raum für multikausale Perspektivität, insbesondere was zeitliche Verläufe und Strukturen betrifft. Indem ich das eine sage, schließe ich scheinbar das andere aus, weil ich es nicht sage. Dadurch hört sich vieles tendenziell verabsolutierend und ausschließend an. Oft ist das aber nicht so gemeint. Da scheitern wir wissenschaftlich manchmal auch an den Möglichkeiten, die uns unsere Sprache zur Verfügung stellt. Strauss Das hat wahrscheinlich viele Gründe. Ein weiterer Grund ist ein wissenschaftssoziologischer, dass sich nämlich gewisse wissenschaftliche Gemeinschaften und Subgruppen bilden, die sich dadurch stabilisieren, dass sie eine solch enge Identität brauchen und auch konstituieren. Je mehr eine dieser Subgruppen in Bedrängnis gerät und kritisiert wird, desto mehr wird diese Identität verfestigt und manchmal geradezu radikal fanatisch. Farhad Dalal hat darüber ein gutes Buch geschrieben. Das ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt in diesem Feld. Dann kommen noch generelle Haltungen zu wissenschaftlichen Befunden dazu und zu der Frage, wie dialogbereit man im Hinblick auf andere Konzepte ist. Das alles ist schon auch ein starkes Resultat der Konstituierung von Wissenschaften, sofern man Psychotherapie im klinischen Sinne mal zu den Wissenschaften dazurechnet. Wir müssen immer vieles andere noch mit in Rechnung stellen. Strauss  Ja, das alles ist sehr komplex und hat nicht nur mit sachlichen Erkenntnissen zu tun. Willutzki  Genau, ja, das Wissenschaftssoziologische spielt eine große Rolle. Wenn sich jemand einmischt in den Diskurs, dann besteht die Notwendigkeit, damit er gehört wird, dass er auch etwas anderes sagen muss als das, was von anderen vorher gesagt Theorien plus empirische Forschung plus Wissenschaftssoziologie

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wurde. Dadurch tun neue Ansätze meistens so, als wenn das, was die anderen gesagt haben, nicht mehr gelte. Um sich einen Namen zu machen mit einem bestimmten Theorieansatz muss man den oft verabsolutieren. Das führt dann natürlich zu Streit. Herr Strauß, Sie haben die Säuglingsforschung angesprochen. Gehört zu diesem Verfall theoretischer Erklärungen auch die Ödipus-Novelle von Freud? Wenn ich bestimmte Darstellungen über die Regungen des Säuglings lese, und zwar auch noch nach seinem Geschlecht differenziert, dann habe ich den Eindruck, es wird den Säuglingen – was ich zunächst sympathisch finde – sehr viel Aktives zugeschrieben, trotzdem ist das Ganze natürlich ein erwachsener Blick auf den Säugling, der auch eine Sexualisierung hineinsieht, die man konstruktivistisch vermutlich mächtig auseinandernehmen könnte. Strauss  Ja, da haben Sie völlig recht. Gerade die Ödipus-­Novelle ist ein gutes Beispiel für dieses Problem, über das wir hier reden. Freud hat grundsätzlich mit dieser Ödipus-Thematik schon etwas formuliert und auf den Punkt gebracht mithilfe der griechischen Mythologie, was ein ganz essenzielles Thema der menschlichen Entwicklung ist, nämlich die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass es zwei Geschlechter gibt, oder meinetwegen auch mehr, dass es jedenfalls Unterschiede wie Geschlechtsunterschiede und Generationenunterschiede zwischen uns Menschen gibt. Mit diesem Umstand müssen Kinder lernen zurechtzukommen, ganz egal, wie man das nun nennt. Das war schon eine ziemlich geniale Leistung von ihm. Freud hat das im Übrigen gar nicht so absolut gemeint, wie man das heute interpretiert. Er wollte mit dem »Ödipus-Komplex« ein Modell schaffen, an dem man sich orientieren kann, um die geschlechtliche Orientierung zu verstehen. Natürlich ist das ganz klar aus der Erwachsenenperspektive gesprochen. Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren fokussieren aufgrund ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung mehr auf eroti16

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sche Aspekte ihres Körpers und auf die Körper der anderen und beginnen, so etwas wie Verführung und Verführungsfähigkeit zu entwickeln. Das wäre die allgemeinpsychologische Formulierung dessen, was Freud mit diesem Ödipus-Komplex kondensiert beschrieben hat. Man kann das streng empirisch so natürlich nicht nachweisen, dass man nun sagen könnte, alle Kinder wollten im Alter von fünf Jahren ihre Mutter heiraten und den Vater töten. Das geht einfach nicht. Trotzdem kann man sagen: Wenn man Kinder in dem Alter beobachtet, spielt dieses Thema eine ganz zentrale Rolle. Sie zeigen sich im sozialen Kontakt stark an den Körpern der anderen interessiert und setzen sich in irgendeiner Form mit den erwachsenen Männern und Frauen auseinander. Insofern ist es, glaube ich, schon nach wie vor berechtigt, zu sagen, es sei ein Entwicklungsthema, für das das ödipale Konzept ein mögliches Modell ist. Aber es gibt andere Modelle, und man kann auch ganz allgemeinpsychologisch formulieren, dass es eben entwicklungspsychologisch um diese Thematik geht, die ich gerade skizziert habe. Dennoch ist es natürlich im psychotherapeutischen Kontext immer wichtig, dass wir mit Denkmodellen arbeiten, die eine hohe Plausibilität haben und die zumindest zum Teil empirisch abgesichert sind, zum Teil auch nicht oder wenig, aber sie helfen uns zumindest als Handwerkszeug. Solche Modelle müssen praktikabel sein. Therapeutinnen und Therapeuten müssen sie als sinnvoll und hilfreich erleben, wenn sie in die psychotherapeutische Praxis gehen. Natürlich müssen wir uns immer bewusst sein, dass es lediglich Modelle sind und dass wir sie gegebenenfalls auch revidieren und modifizieren müssen, wenn sie eben nicht mehr zu passen scheinen. Aber um mal nicht immer nur auf der Psychoanalyse herumzureiten: Auch ein Großteil dessen, was zum Beispiel Hans Jürgen Eysenck in seiner Persönlichkeitstheorie geschrieben hat, wird heute nicht mehr akzeptiert. Die grundsätzliche ÜberTheorien plus empirische Forschung plus Wissenschaftssoziologie

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legung allerdings, dass es abgrenzbare Persönlichkeitstypen gibt, die gut durch Merkmale wie Neurotizismus und andere charakterisiert werden, ist heute das gängige Modell der sogenannten Big Five und sicherlich erhalten geblieben. Vieles von dem, was er da drum herum geschrieben hat und auch bezüglich seiner problematischen politischen Ansichten, würden wir heute in die Tonne schmeißen. Für so etwas gibt es natürlich in der Geschichte der Psychologie und der Psychotherapie ganz, ganz viele Beispiele. Wofür brauchen wir denn überhaupt psychologische Theorien? Willutzki  Um Ideen über das Funktionieren von Menschen zu entwickeln, und zwar als Optionstheorien. Psychotherapeutisch geht es ja darum, sich nicht nur auf die sichtbare Oberfläche zu verlassen, sondern eben zu fragen, was hinter einem Verhalten und einer Psychodynamik stecken könnte. Wenn ich mal an Ätiologietheorien oder Aufrechterhaltungsmodelle denke, dann geht es für mich als Psychotherapeutin um die Frage: Wie akzentuiere ich das, was mir ein Patient erzählt, und wo könnten möglicherweise Punkte liegen, an denen ich etwas durch eine Intervention verändere, was wiederum das Gesamte verändert. Nehmen wir mal eine Sozialphobie: Wenn ich annehme, dass die Selbstaufmerksamkeit eine große Rolle bei sozialen Phobien spielt, dann muss ich aus dem ganzen Sprachfluss, den mir jemand erzählt, einen Punkt identifizieren, von dem ich mir sage: Wie wäre es denn, wenn man das verändert? Ich muss eine Idee darüber entwickeln, dass sich möglicherweise das gesamte Gefüge dadurch verändern könnte. Patientinnen und Patienten müssen nicht wissen, was sie da tun, aber hoffentlich habe ich als Psychotherapeutin ein paar Ideen, an welchen Stellen ich einsteigen kann. Trotzdem bleibt es natürlich immer eine Theorie. Für den einen ist dieser Punkt wichtig, für den anderen ist ein anderer Punkt wichtiger. 18

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Für dieses Vorgehen brauche ich als Psychotherapeutin Theorien, Modelle, die Grundlage einer für die Patientin beziehungsweise den Patienten individuellen Fallkonzeption sind. Das heißt: Wie ist die Person gestrickt, wie wirken verschiedene Probleme und Ressourcen zusammen, was ist mit der Zieldimension, welche Bedürfnisse hat sie und so weiter. Beim therapeutischen Vorgehen handelt es sich eben nicht um eine bloße Anwendung von Methoden. Psychotherapie ist nicht als Anwendung von Methoden zu verstehen, sondern Methoden geben uns Handlungsmuster, um Systeme in bestimmter Weise in Bewegung zu bringen. Welche Weise wir für relevant halten, welches Ziel dahintersteht, ist entscheidend. Gleichzeitig kann man eigentlich auch nicht sagen, eine Methode funktioniere nicht, denn »Methode« heißt eigentlich nur, dass das eine mögliche Art und Weise ist, wie man jetzt an diesem konkreten Punkt drehen kann. Wenn man mit der Methode nicht an dem Punkt drehen kann, dann muss man sich etwas anderes ausdenken. Das gilt zumindest so lange, wie ich aufgrund meines Bildes vom Patienten beziehungsweise der Patientin meine, dass es wichtig ist, bestimmte Punkte zu verändern. Diejenigen, die die Theorien und Interventionsmodelle entwickelt haben, die hatten irgendwelche Ideen und waren vermutlich Experten, die viel Gehirnschmalz da reingesteckt haben. Trotzdem: Vielleicht hatten die gar nicht die besten Ideen, vielleicht hat jemand anders bessere Ideen, um psychotherapeutisch etwas beim Patienten zu erreichen. Um hier trotzdem dranzubleiben, brauchen wir Theorien. Strauss Wir definieren die psychotherapeutischen Herangehensweisen nicht zuletzt durch eine übergreifende theoretische Konzeption. Viele therapeutische Methoden können sich deshalb nicht durchsetzen, weil ihnen die Hintergrundtheorie fehlt. Damit beschäftigt sich auch der »Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie«, der im Psychotherapeutengesetz verankert wurde. Hier geht es immer wieder auch um die Frage, ob es für Theorien plus empirische Forschung plus Wissenschaftssoziologie

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bestimmte Anwendungsformen psychotherapeutischer Methoden eine plausible, einigermaßen wissenschaftlich fundierte Hintergrundtheorie gibt, die ein Bild vom Menschen und von der Entwicklung von Psychopathologien und deren Funktion enthält. Ansonsten würden wir sie nicht anerkennen. Noch mal eine ganz andere Frage ist dann, was letztendlich in diesem therapeutischen Verfahren an Methoden, Inventaren und handwerklichen Mitteln entwickelt wird, mit denen sich tatsächlich in der konkreten Arbeit hantieren lässt. Dafür sind Theorien wichtig, aber immer mit der Maßgabe, dass sie natürlich in einer ständigen Veränderung begriffen sind, und zwar sowohl im Sinne von Verabschiedung von falschen Vorstellungen als auch als Anreicherung durch neue Erkenntnisse. Das führt letztendlich dazu, dass wir uns im psychotherapeutischen Wissenschafts- und Arbeitsfeld doch irgendwie immer mehr annähern, was die theoretischen Hintergründe anbelangt. Das breite Spektrum an Befunden aus den Grundlagenwissenschaften lässt sich ja auch nicht ignorieren, nehmen wir nur mal all die Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der Epigenetik. Es ist, glaube ich, nicht mehr verstiegen, anzunehmen, dass es in vielleicht zwanzig, dreißig Jahren eine umfassende Psychotherapietheorie geben wird, in der zwar noch die einzelnen Traditionen erkennbar sein werden, aber überführt in ein grundlegendes Modell. Klaus Grawe hat so etwas schon in den Neunzigerjahren überzeugend dargestellt.

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Die Annäherung der Konzepte

Wir haben in der Psychologie und insbesondere in der Psychotherapie immer das Problem, dass wir psychische Abläufe nicht direkt beobachten können. Da ist es bei vielem mit der Empirie nicht so ganz weit her. Nun sagen manche Vertreter Ihres Fachs, dieses ganze empirische Wissenschaftsmodell mit seiner heutigen Evidenzbasierung sei für Psychisches und auch für die psychotherapeutische Wirkung Humbug. Da werde Psychisches zu sehr auf etwas Eindimensionales glattgebürstet. An die wirkliche Tiefe des psychischen Geschehens reiche so etwas nicht einmal annähernd heran. Willutzki  Nun, das ist schwierig: Was ist die »wirkliche Tiefe des psychischen Geschehens«? Und wer kann sie erkennen? Diese Fragen hängen natürlich auch ein bisschen vom Menschenbild ab. Ich bin anders sozialisiert. Mir ist es wichtig, so weit möglich, ein partnerschaftliches Verhältnis zu Patienten und Patientinnen zu haben und mich in gewisser Weise an »Augenscheinvalidität« zu orientieren. Das heißt, mir macht es nicht so viel Spaß, etwas in jemanden hineinzugeheimnissen, der wahrscheinlich niemals etwas dazu wird sagen können, also dazu, ob das aus seiner Sicht stimmt oder nicht. Da stehen dann Hypothesen im Raum, zu denen die Betreffenden selbst gar nichts mehr sagen können oder aber ehrfurchtsvoll zu allem Ja und Amen sagen. Das macht mir einfach keinen Spaß. Ich verstehe Psychotherapie dialogischer. Das heißt jedoch nicht, dass man nicht in die Tiefe geht. Ich habe mich noch nie dafür interessiert, Modelle zu entwickeln, mit denen sich das, was Leute sagen, völlig diskreditieren lässt. Wenn ich beispielsweise an die »objektive Hermeneutik« denke, die für sich behauptet, aus dem, was jemand sagt, das herauszuarbeiten, was das Eigentliche sei, und dabei das Gesagte in den eigenen – Die Annäherung der Konzepte

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zudem noch besserwisserischen – Jargon so überführt, dass eigentlich niemand mehr widersprechen kann – nein, das gefällt mir nicht. Ich möchte kein Verhältnis zu meinen Gegenüber haben, in dem diese eigentlich keine Chance haben. Strauss  Einspruch! Ja, Herr Britten, ich denke auch, dass das, was Sie gesagt haben, tatsächlich so ist: Viele Therapeuten im psychoanalytischen Umfeld haben so eine Haltung, dass sie sagen, dieser positivistische Wissenschaftskontext ist nichts für uns, weil wir uns darin nicht wirklich wiederfinden. Das hat insofern etwas Sympathisches, weil dieser hermeneutische Ansatz ein hohes Potenzial an Kreativität bietet. Ohne diese Haltung hätte sich die Psychoanalyse in ihren vielen theoretischen Verzweigungen nicht entwickeln können, selbst wenn so manche Fehlentwicklung dabei war. Ich selbst kann aus Zeitgründen schon lange nicht mehr wirklich psychoanalytisch arbeiten, weil ich einfach zu viel unterwegs bin, aber wenn ich mal Kontrollanalysen von Ausbildungsteilnehmern mache, dann bereitet mir das ein unglaubliches Vergnügen, mit den Kandidaten eine ganze Stunde lang über irgendeine Szene oder eine Äußerung, die in einer Sitzung vorkam, zu spekulieren und fernab jeder spezifischen theoretischen Fundierung Hypothesen auszuprobieren. Das ist die eine Seite, die ich als Leistung des psychoanalytischen Herangehens würdigen möchte. Das Problem ist, dass wir da natürlich nicht stehen bleiben dürfen, sondern dass wir das zum Patienten zurückbringen müssen. Es wäre sicherlich fatal, ein abgehobenes System zu entwickeln, das mit den therapeutischen Bedingungen, dass da jemand ganz Individuelles bei mir auf der Couch liegt oder im Sessel sitzt, überhaupt nichts mehr zu tun hat und zu dem derjenige gar nichts mehr sagen kann. Das heißt, die Rechtfertigung eines solchen Vorgehens muss darin liegen, dass man auf der Basis dieser hermeneutischen Vorgehensweise zu einem Ergebnis kommt, das dem Patienten nützt. Bleiben wir zum Beispiel 22

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bei der analytischen Situation, dann ist es die Aufgabe, aus dem Gesagten eine Deutung zu machen, mit der der Patient selbst etwas anfangen kann, zu der er sagt, das sei etwas, was ihm dabei hilft, seine Biografie oder sein Selbstverständnis wenigstens etwas kohärenter zu machen. Da sind wir auf der Einzelfallebene. Das Wichtige an der psychotherapeutischen Wissenschaft und Forschung ist, glaube ich, etwas ganz Banales, nämlich trotz der Arbeit an theoretischen Konzepten am primären Ziel psychotherapeutischer Behandlungen festzuhalten, dass es den Patienten besser gehen soll, das heißt, die Symptome zu reduzieren und die Lebenszufriedenheit zu erhöhen. Die Haltung, die in der Psychoanalyse oftmals vertreten wurde, dass es auf die Symptomatik gar nicht ankomme, ist schon ziemlich arrogant. Aber die Vertreter dieser Haltung nehmen für sich ja gerade in Anspruch, dass der Langzeiteffekt stabiler sei als bei achtzig Sitzungen und sich Symptome eben viel grundsätzlicher verändern würden. Strauss  Ja, aber das ist erst mal nur eine Behauptung. Ich glaube, dass man das wirklich empirisch fundiert nicht sagen kann. Es gibt hin und wieder Studien, die das nahelegen, die aber aus vielen Gründen kritisierbar sind, zum Beispiel einige skandinavische Studien zu Langzeitpsychoanalysen, in denen es aber oft keine echten Vergleichsgruppen gab. Wir sollten vorsichtig sein mit solchen Verabsolutierungen. Der grundsätzliche Punkt, dass es überhaupt darum geht, eine Besserung des Zustandes zu erreichen, ist etwas, was in der Psychoanalyse zu lange außer Acht gelassen worden ist. Willutzki  Und teilweise in der therapeutischen Praxis immer noch außer Acht gelassen wird, indem man sagt, auf aktuelle Situationen könne man gar nicht reagieren. Strauss Ja, und das findet sich dann in den methodischen Ansätzen wieder, die eher eine Art von freiem, assoziativem Die Annäherung der Konzepte

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Denken darstellen als die Anwendung von standardisierten, überprüfbaren Methoden. Ich war mal vor mehr als zwanzig Jahren eingeladen, in einem gruppenanalytischen Kontext einen Vortrag über Therapieforschung zu halten. Das sogenannte Gruppenanalyseseminar war Anfang der Neunzigerjahre eine Gemeinschaft ausgebildeter Analytiker, die eine gruppenanalytische Zusatzausbildung machten. Der Leiter dieser Gruppe war Michael Lukas Moeller, der mich eingeladen hatte, weil er zu Recht die Befürchtung hegte, dass – wenn man sich nicht mehr in Richtung Wissenschaftlichkeit bewege – es für die Gruppenanalyse schwierig werden könnte. Nach meinem Vortrag stand als Erster ein Wiener Analytiker – ja, tatsächlich! – auf, der zu mir recht abschätzig sagte: »Junger Mann, die einzige Methode, die Psychoanalyse zu beforschen, ist die Psychoanalyse.« Das war eine sehr pointierte Aussage zu genau dieser Haltung, die besagt: Nur wir wissen, wie es geht. Willutzki  Das hat in der Psychoanalyse eine lange Tradition, auch Freud schon hat sich im Streit mit seinen ganzen Jüngern abgeschottet gegenüber deren Ideen. Strauss  Und hat sich darüber hinaus auch gegenüber der Empirie abgeschottet. Es gab Angebote an Freud, etwa von Saul Rosenzweig, die Konstrukte der Psychoanalyse experimentell überprüfen zu lassen. Freud aber meinte sinngemäß: Das brauchen wir nicht, denn wir wissen schon, dass wir gut sind und recht haben. Diese Haltung hat sich über Generationen tradiert und ist natürlich in der Tat etwas, was der Psychoanalyse heute gesundheitspolitisch auf die Füße fällt, weil sie nur wenige Wirksamkeitsbelege vorweisen kann. Entsprechend sind solche Aussagen wie »Wir sind langfristig besser« nicht wirklich evidenzbasiert, sondern eine Mischung aus der Überinterpretation von Einzelbefunden und dem festen Glauben an das Konzept. Das ist schwer zu belegen. Ich möchte noch mal betonen, dass ich eine große Sympathie für die Psychoanalyse habe, aber ich glaube dennoch, dass sie 24

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sehr kritisch bewertet werden muss, und ärgere mich geradezu darüber, wenn Kollegen immer wieder mit denselben empiriefeindlichen Argumenten und Selbstbestätigungen daherkommen. Wie sieht das bei den frühen Lerntheorien aus? Willutzki  Lerntheorien kann man natürlich auch ganz unterschiedlich interpretieren. Eigentlich sind Lerntheorien hochgradig subjektiv. Sie stellen sich als objektiv dar, aber schon im Verstärkungsbegriff ist eigentlich eine hohe Subjektivität enthalten: Etwas ist ein Verstärker, wenn es ein Verstärker für jemanden ist, hm. Man kann beobachten, dass jemand auf etwas reagiert, aber man kann nicht beobachten, warum es für jemanden ein Verstärker ist. Auch Burrhus F. Skinner war hochgradig subjektiv, nur die Sprache, die er über alles drübergelegt hat, war natürlich an den wissenschaftlichen Objektivitätskriterien orientiert. Das finde ich schon einen Widerspruch. Da haben die sich eben angeschlossen an ein positivistisches Wissenschaftsverständnis, das aber eigentlich den Kern dessen, was Lerntheorie ist, auch nicht wirklich getroffen hat. Verstärkend ist das, was zu den Bedürfnissen der Person passt – bei der Taube, die man depriviert, sieht das einfach aus. Für Menschen in »freier Wildbahn« ist das ziemlich kompliziert – ich muss im Grunde erst mal wissen, was für die Person wichtig oder relevant ist. Und das kann man nicht »objektiv« gestalten. Bis heute wird das verschiedentlich immer noch so dargestellt, als wenn Lerntheorie objektive Verhältnisse repräsentiere. Übrigens führt das dann dazu, dass Studierende diesen Ansatz total langweilig finden und die Komplexität, die da im Grunde drinsteckt, nicht wahrnehmen. Skinner hat darauf verzichtet, die »Blackbox« irgendwie zu füllen, hat aber eigentlich die noch zu füllende Blackbox immer Die Annäherung der Konzepte

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schon voraussetzen müssen. Warum sagt beispielsweise jemand, ein Lob von dir finde ich furchtbar, und warum sagt ein anderer bei derselben Person, ein Lob von dir tut mir gut? Das ist ja hoch individuell und deshalb auch total spannend. Man muss eigentlich immer gucken, worauf reagiert jemand. Da stecken das gesamte Bedeutungssystem der Person und die Lerngeschichte hinter. Da reduzieren und beschneiden sich Theorien auch selbst, die Außendarstellung von Skinners Lerntheorie wurde erfolgreich verkürzt, wissenschaftlich war das aber erst mal sehr erfolgreich. Wir finden in der Psychotherapie kaum etwas, insbesondere bei den positiven Wirkkomponenten, von dem man sagen könnte, dass es ganz eindeutig einen bestimmten Effekt bringt, oder? Strauss  Es gibt schon Komponenten, von denen man sagen würde, dass sie wichtig oder vielleicht besonders wichtig sind, zum Beispiel diverse Beziehungsaspekte, und zwar nicht so ganz platt, dass man nur sagen kann, ein Therapeut habe eine gute Beziehung zu seinem Patienten, deshalb funktioniere die Therapie, sondern vieles, was sich dahinter verbirgt, etwa eine bestimmte Übereinstimmung in den Zielsetzungen der Therapie, spielt sicher eine große Rolle, allerdings nicht die einzig entscheidende … Willutzki  Ich glaube, wir könnten uns darauf einigen, dass wahrscheinlich alles, was John Norcross und Bruce Wampold in der neuesten Auflage des Buches »Psychotherapy relationships that work« beschreiben, unabhängig von der jeweiligen Therapietheorie über das Funktionieren des Menschen sehr wichtig ist, um günstige und relevante Prozesse anzustoßen. Da geht es dann also generell um Beziehungsfaktoren, egal, ob im Einzel-, Gruppen- oder Familiensetting. Außerdem unter anderem um Empathie, Motivation, Zielkonsens, positive Wertschätzung, Kongruenz, Bindung, Veränderungsbereitschaft und vieles andere mehr. 26

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Strauss  Es ist ja eine ganz alte Sichtweise, dass es »Common Factors«, allgemeine Wirkfaktoren, in der Psychotherapie gibt, ganz unabhängig von der Therapieschule. Das heißt ja nicht, dass das etwas Küchenpsychologisches ist, nämlich einfach »nett zu sein«, sondern das ist natürlich schon etwas sehr Elaboriertes, was allerdings eben nicht spezifisch wirkt. Durch eine Psychotherapie wird ein Patient zum Beispiel im Optimalfall in die Lage versetzt, persönlichkeitsfremde Anteile besser zu integrieren und möglicherweise zu psychologisieren. Es gibt Kollegen, die glauben das gerne. Manche andere aber, die sehr an ihre Technik glauben, mögen das nicht so gerne hören. Willutzki Ja. Und wahrscheinlich gibt es auch unterschiedliche goldene Wege. Ich glaube zum Beispiel, dass menschliche Autorität ein Faktor ist, der sich allerdings sehr schlecht rationalisieren lässt und der sicherlich auch etwas zu tun hat mit Passung. Wenn etwa ein Patient ein hohes Reaktanzpotenzial hat, dann kann man mit Autorität vielleicht nicht so viel erreichen; wenn jemand hingegen in der Lage ist, sehr gut Anregungen von jemand anderem aufzunehmen, das geht bis zur Dependenz, dann kann man damit sehr gut arbeiten. So gibt es unterschiedliche Hauptstraßen, über die man laufen kann und die mehr am Patienten hängen als am Therapeuten oder an der Technik. Da kommen unterschiedliche Beziehungskonstellationen zum Tragen, denke ich. Strauss  Richtig. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass das wahrscheinlich einer der wichtigsten Wirkfaktoren in der Psychotherapie ist, nämlich dass es eine wie auch immer zu konzeptualisierende Passung geben muss. Diese erfolgt nicht nur auf einer rein menschlichen Ebene im Sinne von »der Therapeut meint es gut mit mir, ist freundlich, sympathisch«, sondern auf einer konzeptuellen Ebene. Mein Kollege Jochen Eckert aus Hamburg hat einmal in einem Aufsatz formuliert, die »Theorie des Therapeuten« sei der entscheidende Wirkfaktor der Behandlung, und meint damit, dass die Konzeption von TheDie Annäherung der Konzepte

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rapie, die jeder Behandler in differenzierter Weise entwickelt, bei den Patienten auf fruchtbaren Boden stoßen muss, das heißt, dass Patienten für diese Konzepte »aufnahmebereit« sein sollten, andernfalls wird es mit dem Behandlungserfolg nichts werden. Willutzki  Ja, und das geht runter auf die praktische Ebene, die nämlich davon abhängig ist, welche Anregungen wir geben können und welche nicht. Für welche Anregungen ist jemand offen? Selbst in der Psychotherapieprozessforschung lässt sich das sehr schlecht erfassen, denn wie beschreibt man die Struktur einer Person, die etwas vom Psychotherapeuten annimmt? Das ist sehr schwierig. Larry Beutler zum Beispiel hat das versucht, indem er das Reaktanzniveau als einen sehr wichtigen Faktor auf der Patientenseite fokussiert hat und sagte, je nachdem, wo jemand stehe, sei er in spezifischer Weise in der Lage, Anregungen von anderen Menschen aufzunehmen oder eben abzulehnen. Das findet sich auch in der Plananalyse und motivorientierten Beziehungsgestaltung etwa bei Franz Caspar wieder, mit der versucht wird, Angebote abzustimmen auf die Reaktionsbereitschaften der Person. Diese Reaktionsbereitschaft von Patienten zu operationalisieren ist nicht ganz einfach. Wir müssen sie aber eigentlich unbedingt mitberücksichtigen. Empathie zum Beispiel ist ein Faktor, der für relativ durchschlagend gehalten wird, und zwar insbesondere verbalisierte Empathie, und der für die Selbstexploration der Person, für das Gefühl, verstanden zu werden, bedeutsam ist. Es gibt allerdings eben auch Konstellationen, in denen das Leuten zu viel ist, für die eine eher unpersönliche Sachlichkeit und eine gewisse Oberflächlichkeit, zumindest in der Anfangsphase der Beziehung, essenziell ist, damit sie sich nicht zu schnell erkannt fühlen, weil sie dann zum Therapieabbruch neigen. Strauss  Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass diese Reaktionsbereitschaft konzeptuell möglichst vieldimensional sein muss, denn sie spielt sich nicht nur auf der kognitiven Ebene ab. 28

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Gerade die Empathie ist hochkomplex und deshalb auch empirisch schwer fassbar. Willutzki  Mir fällt ein Fallbeispiel dazu ein, bei dem ich die Supervisorin war: eine Patientin, die insgesamt sehr ängstlich wirkte und die Angst hatte, plötzlich irgendwo einzukoten. Die Therapeutin erkannte gleich in der ersten Sitzung die deutlichen sozialen Ängste und ihre Funktion bei dieser Patientin. Aber indem sie das sofort schon verbalisierte, kam es direkt zum Abbruch des Kontakts, weil die Patientin das Gefühl hatte, die Therapeutin sehe zu viel, sehe sozusagen durch sie hindurch. Empathie hin oder her, die Therapeutin ist nur auf die Inhalte eingegangen und hat sie empathisch mitvollzogen, aber sie hat eben nicht auf die Grenzen geachtet, die die Person hatte. Insofern, könnte man sagen, war sie auch wieder nicht empathisch genug. Von der Verbalisierung her hatte sie das super herausgearbeitet, aber das ging zu früh zu weit. Es gibt in der Forschung die Beobachtung, dass hochspezialisierte Verfahren für bestimmte Störungsbilder und Patientengruppen ausgerechnet bei denen, die die Störung am schwersten trifft, nicht so gut funktionieren wie bei denen, die das Störungsbild eher schwach ausgeprägt zeigen. Ist das ein Paradoxon? Willutzki  »Schwer gestört« heißt wahrscheinlich, dass es nicht nur einen einzigen Problemfokus gibt und der spezifische Ansatz deshalb eben auch nur schwach greift. Das Zweite, was mir dazu einfällt, betrifft die Paradoxie, die bei der großen NIMH-­Studie von Irene Elkin zur Depression auftrat. In der Studie wurde unter anderem kognitive Therapie mit interpersoneller Therapie verglichen. Bei der Analyse der Ergebnisse wurde auch betrachtet, wer am besten vom interpersonellen Angebot und wer vom kognitiven Angebot profitierte. Man sah aufgrund zweier darauf ausgerichteter Fragebogen, dass diejenigen am besten vom kognitiven Angebot profitierten, die weniger kogDie Annäherung der Konzepte

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nitive Fehler machten, und diejenigen am besten vom interpersonellen Angebot profitierten, die weniger interpersonelle Probleme hatten. Im Gegensatz zu einer Kompensationshypothese, die besagt, dass das Angebot die Fehler auf der jeweiligen Ebene beseitigen müsste, heißt das eigentlich: Damit die Person von einem Angebot profitieren kann, muss sie ganz bestimmte Voraussetzungen schon haben, um es nutzen zu können. Strauss  Wenn es tatsächlich so ist, dann würde das heißen, dass man sozusagen eine Überdosierung an therapeutischem Angebot macht, für das die schwerer beeinträchtigten Patienten allerdings gar nicht aufnahmebereit sind. In dem Fallbeispiel wäre es so, dass diese junge Therapeutin die konkrete Angst der Patientin vor dem Einkoten sofort übersetzt hat in ein Bündel sozialer Ängste und damit ein therapeutisches Überangebot gemacht hat, das für diese Patientin einfach nicht verstehbar und nutzbar war. So etwas ist durchaus plausibel. Das würde natürlich psychoanalytisch auch plausibel sein in dem Sinne, dass man sagt: Die Ausprägung einer Störung ist umso stärker, je komplexer der dahinterliegende Konflikt ist. Oder noch mal anders: Strukturdefizite mobilisieren eine massive Abwehr. Willutzki  Zum Strukturdefizit: Wenn jemand, aus welchen Gründen auch immer, nicht unterscheiden kann zwischen dem, was die anderen wollen, und dem, was er selbst will, dann wird derjenige sehr schnell von Lebensereignissen überrollt. Sagt zum Beispiel eine Patientin, der Partner habe sie geschlagen, tatsächlich aber hat er lediglich eine drohende Armbewegung gemacht, also lediglich gedroht, so kann es sein, dass die Frau es als »geschlagen werden« empfindet und auch so formuliert. Dann ist natürlich alles, was ihr passiert, viel, viel schlimmer, als wenn jemand so etwas eher bagatellisiert. Für eine solche Person wird es dann auch schwierig, Reflexionsangebote von einem Therapeuten oder einer Therapeutin aufzugreifen, weil die Dezentrierung für sie gar nicht möglich ist. Jemand, der nicht sagen kann, er stelle sich neben sich und gucke mal auf sich 30

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drauf, sondern alles ist immer unmittelbar und greift ihn oder sie direkt an, so jemand kann auch kein störungsspezifisches Angebot annehmen. Man kann sozusagen keinen Teil von sich zur Verfügung stellen, mit dem man etwas macht, sondern es wird immer gleich alles ganz und gar mit mir gemacht. Wo ist dann die Basis, auf der jemand mal etwas ausprobieren kann? Veränderung hat ja immer auch etwas mit Ausprobieren zu tun. Strauss  Das könnte übrigens wieder etwas mit der strukturellen Beeinträchtigung zu tun haben. Man kann davon ausgehen, dass besonders schwer beeinträchtigte Menschen eben auch in der Struktur schwächer sind als diejenigen, die weniger beeinträchtigt sind. Das Defizit würde dann darin bestehen, dass ich überhaupt nicht differenzieren kann, was mir der andere für ein Angebot macht, geschweige denn dieses Angebot aufnehmen kann. Was meinen Sie in diesem konkreten Punkt mit »Struktur« und »Strukturschwäche«? Strauss  Das ist eine spannende Frage, die wir beide natürlich unterschiedlich beantworten werden. Ich meine mit »Struktur« ein Konglomerat an basalen psychischen Funktionen, die man früher als Ich-Funktionen bezeichnet hat, wobei das eben über die klassischen Ich-Funktionen hinausgeht bis auf die Beziehungsebene. Dazu gehört zum Beispiel, dass ich in der Lage bin, Impulse zu kontrollieren, Frustrationen auszuhalten, mich selbst im Kontext zu differenzieren beziehungsweise differenziert wahrzunehmen und die anderen ebenfalls als differenziert voneinander wahrzunehmen, mit Reizen in einer adäquaten Weise umzugehen, über ein Repertoire an Abwehrmechanismen zu verfügen, also letztendlich alle die Persönlichkeit oder Psyche des Menschen ausmachenden Grundfunktionen, die wir brauchen, um im Lebensvollzug und im interpersonalen Alltag gut zurechtzukommen. Die Annäherung der Konzepte

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Das ist alles natürlich ein Produkt der individuellen Entwicklung. Die Ausprägungen dieser Funktionen können freilich defizitär sein, und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen, vielleicht weil sie von Kindheit an nicht vermittelt wurden oder weil eine Traumatisierung stattgefunden hat und so weiter. Es gibt viele Möglichkeiten, dass die Entwicklung dieser strukturellen Fähigkeiten beeinträchtigt ist und dies die Person besonders vulnerabel macht, sodass es nicht immer leicht ist, das zu kompensieren. Willutzki  Das kann man auch entwicklungspsychologisch ab­ bilden. Jean Piaget hat sich viel damit beschäftigt, wie diese Differenzierungsprozesse zustande kommen. Wenn jemand es nicht geschafft hat, solche Prozesse zu erlernen, dann ist es natürlich sehr schwierig, sich im interpersonellen Kontext oder in der Auseinandersetzung mit der Umwelt zurechtzufinden. Nehmen wir nur mal das Verantwortungsgefühl: Wofür bin ich verantwortlich, wofür aber auch nicht? Wenn jemand in einem Milieu aufwächst, in dem die Person immer für alles verantwortlich gemacht wurde, dann fällt es demjenigen extrem schwer, sich mal nicht in etwas verwickelt zu sehen. Wenn die Mutter immer vermittelt hat, derjenige sei dafür verantwortlich, dass es ihr schlecht gehe, dann kann er irgendwann nicht mehr unterscheiden, wofür er verantwortlich ist und was nichts mit ihm zu tun hat. Das wäre ein Strukturdefizit, das zu großen Irritationen führt. Bei Zwangsstörungen finden wir das oft, dass Leute, die unentwegt irgendwas kontrollieren müssen, aus familiären Kontexten stammen, in denen sie entweder für alles verantwortlich gemacht wurden oder aber in denen ihnen jegliche Art von Verantwortung abgenommen wurde. Da kann man natürlich kein Gefühl für Verantwortlichkeit entwickeln. Habe ich nun den Herd ausgemacht oder nicht? Habe ich den jetzt ausgemacht oder habe ich den nicht ausgemacht. Das ist ein Strukturdefizit. Strauss  Das ist ein Strukturdefizit. Würde man das in der Verhaltenstherapie auch so nennen? 32

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Willutzki  Da ist die Frage, womit man sich identifiziert. In dem Störungsmodell von Paul Salkovskis spielt dieser Aspekt von Verantwortungsirritation als Vulnerabilitätsfaktor eine wichtige Rolle. Ich würde aber einräumen, dass zumindest die klassische Verhaltenstherapie unterentwickelt ist bezogen auf diese Frage von Strukturdefiziten. Ich selbst finde es sehr hilfreich, zum Beispiel mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik diese Strukturdefizite zu konzeptualisieren. Sigmund Freud hat da schon bestimmte Ideen gehabt bezüglich Störungen der Ich-Funktionen, aber auch die Entwicklungspsychologie hat ihre Ideen dazu. Mit einer ernst gemeinten grundlagenwissenschaftlichen Orientierung in der Verhaltenstherapie ergeben sich solche Prozesse und Strukturen aus der Entwicklungspsychologie. Dennoch: Wenn ich so auf meine Supervisionserfahrungen schaue und auf junge Kollegen und Kolleginnen aus dem kognitiv-behavioralen Kontext, dann ist da oft die Schwierigkeit zu erkennen, solche Strukturdefizite bei ihren Patienten zu konzeptualisieren. Sie verstehen erst mal nicht, wieso die sich angegriffen fühlen bei bestimmten Äußerungen. Oder sie verstehen nicht, warum die Patienten zum Beispiel immer das Gleiche erzählen. Da gibt es wenig theoretisches Wissen. Strauss  Auch in der Psychoanalyse ist längst nicht mehr alles nur ein intrapsychisches Ergebnis, sondern immer auch ein Entwicklungsprodukt. Das spiegelt sich wider in der Wandlung von der Einpersonen- zur Mehrpersonenpsychologie, in der man heute ganz klar sagt, dass diese strukturellen Fähigkeiten, die ich gerade exemplarisch am Beispiel genannt habe, natürlich Endprodukte eines komplizierten interpersonalen, interaktionellen Entwicklungsprozesses darstellen, in dem andere Menschen immer eine große Rolle spielen. Jeder ist in seiner Entwicklung ein Stück weit davon abhängig, was ihm die anderen Menschen als Modell und Raum anbieten, damit diese Fähigkeiten überhaupt entwickelt und differenziert werden können. Die Annäherung der Konzepte

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Das ist dann meistens auch ein wichtiger Aspekt bei der Frage, welche Grundfunktionen vorhanden sind und welche nicht. Willutzki  Modelle spielen da eine wesentliche Rolle. Und es stellt sich dann natürlich die Frage, ob solche Strukturdefizite selbst überhaupt zu heilen oder zu verbessern sind. Strauss  Ja, natürlich ist das sehr schwierig, aufwendig und es dauert länger, als Probleme oder Symptome zu beheben, die nicht von solchen strukturellen Defiziten ausgehen. Willutzki  Zumal die teilweise nicht inhaltlich bezogen sind, sondern wir müssen wirklich zum Beispiel auf Informationsverarbeitung fokussieren. Strauss  Ja, auf Informationsverarbeitung und natürlich auch auf Beziehungskorrektur. Willutzki  Das meine ich: auf Informationsverarbeitung in sozialen Beziehungen. Das sind zentrale Prozesse. Strauss  Das ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass man manchmal Konzepte, wie dieses von Struktur und Strukturentwicklung, schulenunabhängig entwicklungs- oder persönlichkeitspsychologisch konzeptualisieren kann. Wenn ich Sie reden höre, stellt sich mir immer mehr statt weniger die Frage: Braucht man noch die großen ausformulierten Theorien? Reicht es therapeutisch nicht aus, auf bestimmte Probleme zu fokussieren, die eigentlich auf die aktuelle Klient-Therapeut-Beziehung abzielen? Strauss  Ich glaube schon, dass wir die nach wie vor brauchen, denn eine wie auch immer geartete Theorie erst schafft den Kontext, um Detailbeobachtungen überhaupt einordnen und verstehen zu können. Bleiben wir mal bei den Strukturdefiziten: Wir beobachten vielleicht, dass ein Patient seine Selbstzustände überhaupt nicht richtig wahrnehmen kann, obwohl es evident ist, dass er beispielsweise ärgerlich, wütend oder aufgeregt ist. Dann kann ich natürlich versuchen, mit ihm in Situationen und 34

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im Kontakt zu differenzieren und zu überlegen, was könnte dieser konkrete Zustand bedeuten. Aber die langfristige Strategie muss ja sein, zu verstehen, in welchem Kontext diese Einschränkungen der Selbstwahrnehmung auftreten und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Eine Theorie brauchen wir, um zu begreifen, warum dieses Defizit überhaupt zustande kommt, welche Funktion es für den Patienten hat und warum es in den Alltagsbeziehungen des Patienten aufrechterhalten bleibt. Für die Anwendung von konkreten Interventionen ist ein Kontext von großer Wichtigkeit. Willutzki  Ja, gerade auch um zu sehen, welche Optionen es gibt, da wieder herauszukommen. Das betrifft insbesondere die Funktionalität von Verhaltensweisen. Welche Funktion hat etwas, und gibt es etwas anderes, was diese Funktion ersetzen könnte? Wie kann sich die Person davon distanzieren oder was braucht sie, um sich davon distanzieren zu können, um vielleicht aus einem bestimmten Beziehungsmodus herauszutreten? Strauss  Außerdem müssen wir uns ja auch fragen, warum und wie wir einen Menschen überhaupt verändern wollen. Theoretisch thront über alldem natürlich ein bestimmtes Menschenbild. Warum will ich diesen Patienten überhaupt dazu bringen, dass er Defizite aufgibt oder verändert, zum Beispiel wenn sein Anliegen, in eine Therapie zu gehen, zunächst auf einer ganz anderen Ebene lag? Willutzki  Man muss zudem Langzeitziele formulieren, die wiederum mit dem Menschenbild zu tun haben. Was denken wir denn eigentlich, was psychische Gesundheit ausmacht? Was braucht jemand, um psychisch gesund zu sein? Da das Leben nun mal nicht so funktioniert, dass es ohne Leiden geht, kommen wir als Menschen nicht darum herum, Resilienz zu entwickeln, also uns mit Schwierigkeiten auseinanderzusetzen und Schwierigkeiten auszuhalten. Das Primärkriterium ist nun mal nicht, immer nur Spaß zu haben und positive Affekte zu spüren. Das allein wird nicht funktionieren, wir können uns nicht Die Annäherung der Konzepte

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in Watte packen. Die Langzeitziele haben, glaube ich, wirklich viel mit den Menschenbildern zu tun. Therapeutisch heißt das, dass ich auch unpopuläre Dinge sagen können muss, sonst lasse ich Patientinnen und Patienten allein mit dem, was sie draußen im Umgang mit anderen Menschen erleben. Für diese unpopulären Interventionen muss ich mich aber über Theorien und ein entsprechendes Menschenbild absichern. Ist das auch ein Gegenargument gegen einen Methodeneklektizismus? Strauss  Da müssen wir unterscheiden. Was wir längst wissen, ist, dass praktizierende Psychotherapeuten nicht eng in dem theoretischen und praxeologischen Korsett stecken bleiben, das sie einmal gelernt haben, sondern dass sowohl sie sich aktiv öffnen im Sinne eines Erwerbs weiteren Wissens und weiterer Techniken als auch dass innerhalb der Therapieschulen ganz klar zu erkennen ist, wie sich das Repertoire an Methoden immer breiter entwickelt. In der Verhaltenstherapie sind inzwischen ganz, ganz viele Konzepte integriert, die eigentlich woanders herstammen, und in der psychodynamischen Psychotherapie ist es auch keine Schande mehr, wenn man mal mit dem Patienten eine Exposition macht. Willutzki  Wobei man, wenn wir mal auf die Psychotherapeutenforschung sehen, sagen muss, dass sich die klassischen Psychoanalytiker kaum verändern. Strauss  Na ja, in der Realität ist das inzwischen in der jünge­ ren Generation auch ein bisschen anders. Die sind, glaube ich, längst offener für anderes geworden, als sie nach außen zugeben. Da haben wir wieder das Problem, das wir anfangs schon angesprochen hatten: das Problem der Identifikation und die starke Bindung an ein konzeptuelles Gerüst, das sich meistens auch in den entsprechenden Institutionen abbildet. Ich glaube, dass es eine allgemeine Entwicklung in der Psycho36

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therapietheorie ist, sich zunehmend, wenn man so will, eklektisch zu verhalten. Und auch aus der praktischen Psychotherapeutenforschung wissen wir, dass sich Psychotherapeuten jene Baustellen suchen, die ihnen liegen, und das ist durchaus auch wichtig, denn dann können sie mit den entsprechenden Patienten zumindest gefühlt besser umgehen. Da wird also vieles zusammengepuzzelt, damit es individuell passt. Willutzki Eklektizismus aber nicht im Sinne eines technologischen Eklektizismus, sondern eben als eine Idee oder als ein persönlich gefärbtes Modell davon, wie Menschen funktionieren und was psychische Gesundheit ausmacht und was ein erfülltes Leben bedeutet und so weiter. Das ist der Hintergrund, der dann fachlich weiter ausdifferenziert werden kann. Wenn man aber keine Idee davon hat, was jemand braucht, um gut zurechtzukommen, dann, glaube ich, kann das auch nicht nachhaltig sein, was man mit jemandem zusammen entwickelt. Es ist sehr schwierig, das alles genau auszuformulieren, denn vieles von dem bleibt implizit, was man darüber denkt, was Menschen brauchen, damit es ihnen gut gehen kann. Das ist alles sehr persönlich gefärbt. Aber irgendeinen Fahrplan oder einen Hafen, wie die Menschen sich entwickeln sollen und wohin sie das führen soll, den muss man, glaube ich, schon haben, um Untiefe ertragen zu können und um vorsichtig mit den Patienten an den rauen Küsten entlangzufahren. Insbesondere bei Sturm.

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»Eine Aufgabe der Psychotherapie ist aber auch E ­ mpathie, und das hat ebenfalls viel von der Eisberg-Metapher. Empathie bedeutet eigentlich, über das Gesagte hinauszugehen. Es gibt das Gesagte und das Gemeinte. Was der gemeinte Teil des Eisbergs ist, wissen wir oft nicht, aber unser therapeutisches Verstehen beruht darauf, dass wir mehr verstehen wollen, als gesagt worden ist.« Ulrike Willutzki

Unbewusste Funktionen verstehen Traditionell heißt es, die Aufgabe der Psychotherapie sei die Bewusstmachung des Unbewussten. Bleibt es dabei? Willutzki  Ja, aber es gibt natürlich unterschiedliche Begriffe vom Unbewussten. Handlungstheoretisch bedeutet es im Grunde erst mal, dass jede Art von Tun auch irgendein Ziel hat. Das ist uns selbstverständlich nicht immer präsent, aber doch insofern, als es unser Handeln orientiert. Wir sehen immer nur die Spitze des Eisbergs, wissen aber, dass es auch etwas unter der Wasseroberfläche gibt. Strauss  Die Metapher hat auch Freud schon benutzt. Willutzki  Ja, das ist von ihm. Eine Aufgabe der Psychotherapie ist aber auch Empathie, und das hat ebenfalls viel von der Eisberg-Metapher. Empathie bedeutet eigentlich, über das Gesagte hinauszugehen. Es gibt das Gesagte und das Gemeinte. Was der gemeinte Teil des Eisbergs ist, wissen wir oft nicht, aber unser therapeutisches Verstehen beruht darauf, dass wir mehr verstehen wollen, als gesagt worden ist. Strauss  Das ist der gemeinsame Nenner aller Psychotherapie, glaube ich. Die Symptome, Gedanken und Fantasien des Patienten haben natürlich eine implizite Wurzel oder einen impliziten Hintergrund, und zwar in dem Sinn, dass etwas dem Betroffenen zwar phänomenal deutlich ist, aber nicht in seiner Funktion. Die Funktionalität von etwas besser verstehbar zu machen und zu verändern, das ist es, was im Endeffekt in allen Psychotherapien in irgendeiner Form passiert. Etwas, was zunächst nicht verstehbar ist, stammt trotzdem aus dem Eisberg, auch wenn es dem Betroffenen im wahrsten Sinne des Wortes nicht bewusst ist. Insofern ist ein Ziel jeder Therapie, explizit oder implizit, etwas, was mir nicht bewusst ist, in mein Handeln, Fühlen und Denken zu integrieren. 40

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Willutzki  Und möglichst erfahrbar zu machen. Strauss  Ja, und zwar auch emotional erfahrbar zu machen. Das halte ich für einen wichtigen Zusatz, dass es eben nicht nur um eine rein rationale, kognitive Ebene geht, sondern dass das immer mit einer emotionalen Beteiligung erfolgt. Das ist ja wirklich schon eine alte Annahme von Freud. Willutzki  Eine erfahrungsbasierte Einsicht und wesentlich eine emotionale Einsicht. Strauss  Das ist eine Einsicht, die sich mittlerweile auch empirisch immer besser zeigen lässt: Wenn das limbische System mit unseren emotionalen Qualitäten nicht beteiligt ist, dann tut sich nichts – vereinfacht gesagt. Bleiben wir mal bei den zwei Dritteln des Eisbergs unter der Oberfläche: Daraus ziehen wir jetzt unsere Indizien, um das Bewusstsein zu erweitern, dann ist aber auch die Konstruktion des Unbewussten schon wieder eine Komplexitätsreduktion. Willutzki  Ja, natürlich, und es ist zudem dynamisch und motiviert. Strauss  Es ist motiviert und es ist extrem komplex. Insofern ist ganz klar, dass wir immer nur auf Teile fokussieren können, mal gezielt, weil wir denken, dass das der wichtige Aspekt ist, der dem Patienten hilft, oder weil es das einzig Greifbare ist. Und dann wieder wird man sicher auch mal die Entscheidung treffen, an bestimmten Dingen nicht zu rühren, weil sie möglicherweise den Patienten mehr destabilisieren würden als stabilisieren. Da gibt es viele Optionen. Die Arbeit mit dem Unbewussten ist natürlich eine erhebliche Reduktion von Komplexität. Das Unbewusste als ein Teil der menschlichen Seele ist extrem komplex. Jetzt müssen Sie diese Prozesse auch noch in eine Sprache bringen, die dann beim Klienten ankommt. Aber auch Sprache bietet uns Unbewusste Funktionen verstehen

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nur begrenzte Möglichkeiten des Ausdrucks, wenn sie kommunikativ anschlussfähig bleiben soll. Willutzki  Sprache ist ein wichtiges Handwerkszeug von Psychotherapeuten. Gute Psychotherapeuten sind auch Sprachkünstler, etwa in der Aufgabe, kritische Äußerungen so zu verpacken, dass jemand sie als für sich hilfreich aufgreifen kann. Das macht unseren Job eigentlich sehr interessant. Strauss  Auf jeden Fall! Aber ich möchte zu den begrenzten Möglichkeiten der Sprache noch etwas hinzufügen: Ich denke, dass deshalb eine Multiperspektive nötig ist, wie sie in institutionalisierten psychotherapeutischen Settings realisierbar ist, also in der stationären oder teilstationären Psychotherapie, wo man eben nicht nur auf die Sprache fokussieren muss. Ich denke an kreativtherapeutische oder ergotherapeutische Methoden. Da gibt es inzwischen viele Erfahrungen mit den verschiedenen Modalitäten der Auseinandersetzung mit sich selbst. Das ist ein wertvoller Ansatz in der Psychotherapie, der am Ende aber natürlich auch wieder zumindest teilweise versprachlicht werden muss. Willutzki  Das hat damit zu tun, etwas Erfahrungsbasiertes zur Verfügung stellen zu können während des therapeutischen Prozesses. Ich denke mal an so ein ganz klassisches VT-Beispiel: Bei der Therapie sozialer Ängste spielt die Bedeutung von Sicherheitsverhalten eine große Rolle. Man kann das veranschaulichen, indem man dem Patienten sagt: »Gehen Sie jetzt mal mit Ihrem üblichen Sicherheitsverhalten vor allen anderen im Raum umher.« Anschließend lässt man ihn das machen ohne diese Sicherheitsmaßnahmen. Wie fühlt es sich jetzt an? Das ist eines der klassischen Prinzipien von Verhaltenstherapie gewesen, in Situationen reinzugehen, mit Verhalten zu experimentieren und die konkreten situativen Bedingungen aufzusuchen, die Erfahrungen machen zu lassen und daraus Einsichten zu entwickeln. Da werden ja wirklich motorische, physiologische, 42

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emotionale Erfahrungen zur Verfügung gestellt, um dann über Sprache Zugriff darauf zu bekommen. Oder über andere Formen der Symbolisierung. Es muss ja nicht unbedingt die Sprache sein. Strauss  Das ist wichtig anzufügen, denn ich denke, es gibt schon vieles, was in Psychotherapien zum Vorschein kommt, was nicht besprechbar und was unsagbar bleibt. Extremes Leid zum Beispiel ist sprachlich oft nicht wirklich fassbar. Da findet man häufig gar keine angemessenen Worte oder Aussagen. Trotzdem kann man es symbolisieren durch einen emotionalen Ausdruck oder durch eine Geste, eine Haltung. Das hilft wahrscheinlich mindestens genauso gut, als wenn wir etwas zu benennen versuchen würden, was sich vielleicht gar nicht benennen lässt. Willutzki  Das wäre oft sogar eine Banalisierung, wenn man es benennen würde. Eine Geste würde stattdessen vielleicht viel besser passen. Strauss  Es geht also nicht immer und mit aller Gewalt um eine Versprachlichung, wohl aber um eine Symbolisierung. Das zu berücksichtigen halte ich für wichtig, denn dann haben wir ein sehr viel größeres Repertoire zur Verfügung als nur mit der Sprache. Da fällt mir eine schöne Studie von Rainer Krause ein, die zeigt, dass sich gute Therapien dadurch auszeichnen, dass der Therapeut das, was der Patient bespricht, mit dem dazu passenden mimischen Affektausdruck begleitet, und zwar ohne dass das dem Therapeuten bewusst sein müsste. Wenn also der Patient von einer Traumatisierung in einer inadäquaten affektiven Weise berichtet und der Therapeut zeigt den Affekt, der eigentlich dazugehört, etwa Betroffenheit, Trauer oder Schrecken, dann scheinen Therapien besser zu gelingen. Wohingegen jene Therapien, in denen sich die Therapeuten anstecken lassen von dem Affekt des Patienten, auch wenn der völlig inhaltsinadäquat ist, weit häufiger nicht gelingen. Ich betone aber noch mal: Das muss kein bewusstes Vorgehen des Therapeuten sein. Unbewusste Funktionen verstehen

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Willutzki  Klar, wenn jemand bagatellisiert und lacht bei traurigen Dingen, dann wird das wahrscheinlich nicht weiterführen. Strauss  Dieses affektive Mitgehen ist natürlich auch eine Art von Symbolisierung und steht für einen Erlebnisinhalt, der sprachlich nicht zum Ausdruck gebracht, aber mimisch affektiv verarbeitet wird.

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Was bleibt von den bisherigen Modellen?

Sprechen wir über die traditionellen, altehrwürdigen Wirkkonzepte. Herr Strauß, was würden Sie sagen, wird von Freuds Konzeption auch weiterhin Gültigkeit behalten? Strauss Seine generelle Annahme der Wirkung von Psychotherapie, also etwa das, was wir vorhin schon angesprochen haben, nämlich Unbewusstes bewusst zu machen, sodass das Unbewusste komplexer in die Persönlichkeit integriert werden kann. Das ist seine Grundidee, die geblieben ist. Aus seiner unmittelbaren Nachfolge ist die sogenannte korrektive emotionale Erfahrung geblieben, also dass man im therapeutischen Kontext auf einer Beziehungsebene Erfahrungen macht, die bisherige Erfahrungen so nachhaltig korrigieren, dass sie uns dazu in die Lage versetzen, die innere Repräsentation auch tatsächlich nach und nach zu verändern. Das ist schon, glaube ich, ein Konzept, das man noch heute als ein brauchbares und wahrscheinlich auch sinnvolles Konzept nutzen kann. Freud hat eigentlich ein sehr umfassendes Konzept von Psychotherapie geschaffen, indem er immer betont hat, Psychotherapie solle liebes-, arbeits- und genussfähig machen. Daran müsste man heutzutage öfter mal erinnern, denn die Psychotherapie ist stark partikularisiert worden. Heute kommt man tatsächlich auf die Idee, von positiven Nebenwirkungen von Psychotherapie zu sprechen, was ich für eine völlig absurde Konstruktion halte. Das impliziert nämlich, dass man eine ganz spezifische Wirkung im Blick haben solle und alles, was darüber hinausgeht, als eine positive Nebenwirkung begreift. Das ist blanker Funktionalismus. Da würde ich sagen, man sollte sich wieder mehr an das Freud’sche Konzept der breiten, generalisierten Wirkung von Psychotherapie erinnern. Was bleibt von den bisherigen Modellen?

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Willutzki  Ja. Ich finde außerdem die Idee der Übertragung wichtig, ein grundlegender kognitiv-emotionaler Prozess, der damit zu tun hat, wie Menschen funktionieren. Der Patient handelt in der Therapiesituation so, als ob er in einer Situation außerhalb wäre, sodass er selbst das aktuell gar nicht wahrnimmt – auch das hat natürlich wieder mit den korrektiven emotionalen Erfahrungen während der Therapie zu tun. Es war eine verdammt gute Idee von Freud, diesen Aspekt zu fokussieren. Man kann das heute auch über kognitive Theorien, also etwa schemagesteuerte Wahrnehmung, konzeptualisieren, aber das steckte eigentlich schon damals im Übertragungsbegriff auch drin. Strauss  Stimmt. Das ist letztlich die entscheidende Grundlage für diese korrigierende emotionale Erfahrung, dass ich eine interpersonale Konstellation herstelle, um sie dann korrigieren zu können. Willutzki  Diese Idee zieht sich durch alle Therapietheorien, dass psychische Schwierigkeiten aufscheinen können, weil wir kognitiv und emotional eigentlich woanders sind als dort, wo wir uns physisch befinden, dass wir innerlich, biografisch und interpersonell für die Auseinandersetzung mit der aktuellen Welt blockiert sind, dass wir auch in der Psychotherapiestunde emotional nicht vor Ort sind. Bei Jacob L. Moreno findet sich die Opposition zwischen der »Spontaneität« – wir sind unmittelbar und direkt kognitiv-emotional in der aktuellen Situation – und den »Kulturkonserven« – wir verhalten uns aufgrund von in anderen Situationen entwickelten Schemata, assimilieren die Umwelt quasi an unsere Konstrukte. Auch das ist ein Übertragungskonzept. Wir entwickeln im Umgang mit der Welt zur Komplexitätsreduktion bestimmte Interpretations- und Verhaltensmuster, die dazu führen, dass wir eigentlich nicht auf das reagieren, was im Moment passiert, und spontan nichts Neues entwickeln können. Das mindert Kreativität, und das behindert adäquates Reagieren in Situationen, die anders sind als das, was unser emotionales System annimmt und stillschweigend voraus46

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setzt. Dieser Mechanismus scheint mir wirklich viel »Pathologisches« auszumachen. Strauss Freud hat ja auch mal gesagt, das Ziel von Psychotherapie sei die Umwandlung von hysterischem Elend in neurotisches Unglück. Das halte ich für einen wichtigen Aspekt, dass wir es wahrscheinlich nie schaffen können, jemanden völlig »heile« zu machen, sondern nur, ihn in einen Funktionsmodus zu begleiten, der für die weitere Lebensbewältigung besser ausreicht. Willutzki  Das kann unseren Perfektionismus bremsen. Aber noch mal etwas zu Moreno: Er hat gesagt, dass es ohne die Kulturkonserven natürlich auch nicht geht, weil wir so durchlässig nicht sein können. Wir brauchen Muster und Annahmen, um uns orientieren zu können, aber möglicherweise behindern die uns eben dann, wenn die Situationen anders sind, als wir sie kennen und voraussetzen. Frau Willutzki, was nehmen Sie aus der Konzeption der Lerntheorien als besonders nachhaltig an, was davon wird auch zukünftig aus der Psychotherapie nicht mehr wegzudenken sein? Willutzki  Die Lerntheorie ist eine essenzielle Basis und wird von vielen unterschätzt. Wir werden in unserem Alltag sehr stark durch Verstärkungsprozesse geleitet. Ein Kollege hat mal gesagt, Neuentwicklung und Unabhängigkeit von der Lernumwelt seien Sternstunden. 99 Prozent unseres Verhaltens sind gelernt, und zwar meine ich damit: auf der Mikroebene. Und mit dieser Hypothese, denn das ist ja eine, kann man sehr weit kommen. Ein für mich beeindruckendes Beispiel für eine solche therapeutische Arbeit bietet Dieter Vaitl von der Universität Gießen, der sehr konsequent die Möglichkeiten der Lerntheorie durchdacht und ausgereizt hat, zum Beispiel in seinen Fortbildungen. Er ist sehr lebendig und auch sehr ausdrucksstark, und er hat gerne mit diesem »einfachen« lerntheoretischen Grundgerüst komWas bleibt von den bisherigen Modellen?

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plexe Konstellationen ausgelotet – und das wunderbar gemacht. Das ist für mich immer noch ein sehr gutes Beispiel, wie viel man mit Lerntheorie machen kann, indem man in die komplexen Situationen hineinschaut, also wo sind wir unterwegs mit interpersoneller Verstärkung, Zustimmung, minimaler Unterstützung und Verführung zu Verhaltensänderungen. Dabei glaube ich, dass gerade interpersonell die Verführung zu etwas in vielen Fällen sehr gut funktioniert – und gleichzeitig unterschätzt wird. Vieles, was beziehungsrelevant ist, sieht selbstgesteuert aus. Und vielfach ist vom anderen ein Verführungskontext bereitgestellt worden, in dem jemand erst etwas tut, weil es einfach schön ist, das mit dem Gegenüber zu erleben. Dafür finde ich die Lerntheorie einfach grandios. Ein ganz basaler Prozess. Herr Strauß, Sie werden unruhig auf Ihrem Stuhl. Strauss  Ja, ich bin voller Erstaunen über die Prozentzahl 99. Aber ich gebe dir schon recht darin, dass Lernen eine permanente Präsenz hat. Auch in dem Beispiel, das ich vorhin mit den mimischen Reaktionen des Therapeuten berichtet hatte, ist das Verhalten des Patienten Resultat eines Lernprozesses, dass der Patient lernt, andere Affekte mit seinem Lebensinhalt zu verbinden als die, die er vielleicht aus strategischen Gründen zuvor gelernt hatte. Willutzki  Ich habe dazu ein gutes Beispiel: Wenn in der Supervision darüber geklagt wird, dass eine Patientin oder ein Patient immer wieder das Gleiche erzählt und man als Therapeut nicht dazwischenkäme, dann sehen wir auf dem Videoband oft, dass der Therapeut ständig durch minimale Unterstützungsgesten dieses Verhalten verstärkt. Dann ist es ja kein Wunder, dass die Patienten das unentwegt reproduzieren. Sagt man aber: »Versuch mal, deinen Kopf gerade zu halten und nicht bestätigend zu nicken«, dann hören die meisten Patienten und Patientin48

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nen relativ schnell auf damit und wissen nun nicht genau, was gerade passiert. Klar scheint ihnen aber zu werden, dass sie jetzt etwas anderes dafür tun müssen, um die Aufmerksamkeit des Gegenübers zu erhalten. Dann unterbrechen sie dieses Erzählen. Das ist Lernen. Strauss  Eine Kollegin aus den USA, Lorna Smith Benjamin, die bei Burrhus F. Skinner studiert hat, erzählt gerne die Anekdote, dass die Studenten Skinner konditioniert hätten, indem sie immer laut waren und tuschelten, wenn er auf der rechten Seite des Hörsaals stand, während alle still blieben, wenn er sich links aufhielt. Sie berichtet, Skinner habe nach einiger Zeit bei den Vorlesungen tatsächlich immer links gestanden. Willutzki  Und wusste selbst nicht, warum er das gemacht hat. Das funktioniert eben häufig völlig unbewusst. Nehmen wir den Grawe’schen Ansatz hinzu. Was wird bleiben? Willutzki  Das muss man eigentlich erst mal wissenschaftssoziologisch beantworten: Wenn niemand über eine Theorie spricht, dann gibt es diese Theorie nicht. Das war schon 1955 bei George Kelly und der Theorie der persönlichen Konstrukte so: Nachdem darüber nicht mehr gesprochen wurde, gab es sie nicht mehr. Für Klaus Grawe gilt natürlich, dass die Präsenz im praktischen Feld eigentlich inzwischen gegen null geht, auch wenn in dem Ansatz viele gute Ideen stecken. Strauss  Bei Grawe finden wir natürlich erstmals eine Konsistenztheorie als ein zentrales Konstrukt. Das ist schon wichtig. Willutzki  Wobei man der Fairness halber sagen muss, dass es in Grawes Buch keinen einzigen Hinweis auf Carl Rogers gibt. Und wenn man weiß, dass Klaus Grawe in der Hochburg der Gesprächspsychotherapie in Deutschland, nämlich Hamburg, groß geworden ist und die Kongruenztheorie aufgesogen hat, dann … na ja. Natürlich kann man entgegnen, dass die verhaltenstherapeutische Theorie der Depressionen Was bleibt von den bisherigen Modellen?

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eine Inkongruenztheorie ist, weil die mangelnde Bedürfnisbefriedigung zu wenig Verstärkung bietet, aber das wird ja gar nicht mal formuliert. Carl Rogers kommt im Literaturverzeichnis von Grawe nicht vor. Das ist natürlich albern. Strauss  Immerhin aber hat er das Kongruenzmodell noch mal auf den Punkt gebracht, in einer etwas moderneren Sprache. Das findet sich auch verdeckt in anderen Ansätzen wieder, genauso wie seine Wirkfaktoren, auch wenn die eher eine Fleißarbeit waren, weil er sie aus der bestehenden Literatur destilliert hat. Bei den Studierenden der Psychologie bei uns in Jena finde ich das Wissen über die Wirkfaktoren durchaus wieder, frage ich aber, von wem die sind, kennt fast niemand mehr Klaus Grawe. Er ist in der klinischen Psychologie fast schon wieder in Vergessenheit geraten. Grawe zeichnet aus, dass er versucht hat, eben die allgemeinpsychologischen Theorien zusammenzubringen, die sonst gar nicht so im Bewusstsein wären. Der Durchschnittspsychoanalytiker hat keine Ahnung von Affekt und von Motivation im allgemeinpsychologischen Sinne, weil er das nie gelernt hat. Willutzki  Wenn er aus einer medizinischen Sozialisation kommt. Strauss  Und wenn er aus der psy­ chologischen Sozialisation kommt, hat Die fünf Allgemeinen Wirk­ er es inzwischen wieder vergessen. faktoren nach Klaus Grawe 1. Beziehungsgestaltung Willutzki  Für viele Therapeutinnen 2. Ressourcenorientierung und Therapeuten ist die allgemeine 3. Problemaktualisierung Psychologie gar nicht das »Eigentliche«, 4. Motivationsklärung sondern sie halten nur die Therapie5. Problembewältigung theorie für das, was sie brauchen. Strauss  Was die Wirkmodelle von Psychotherapie betrifft, kann man an dieser Stelle zur Gesprächspsychotherapie auch mal betonen, dass Carl Rogers eine ganz wichtige Figur in der Psychotherapiegeschichte ist, und zwar zum einen mit seiner Kongruenztheorie, die sich heute überall wiederfindet, auch wenn sie nicht so deklariert wird. Der 50

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andere Punkt ist die Fokussetzung auf die Beziehungen und die Beziehungsqualität, wobei er dies möglicherweise überspitzt formuliert hat mit den verschiedenen Aspekten der therapeutischen Beziehungsgestaltung, die natürlich auch wieder »nur« etwas Modellhaftes haben. Ich kann nicht wirklich Echtheit zeigen, wenn ich eine massive Aversion gegen einen Patienten entwickelt habe. Willutzki  Genau, da ist die Kongruenz beziehungsweise Echtheit als Wirkfaktor auch nicht gut herausgearbeitet worden, weil das teilweise als Spiegeln der inneren Zustände missverstanden wurde. Strauss  Trotzdem: Der grundsätzliche Fokus auf die Beziehungsgestaltung als ein Fundament von Psychotherapie ist mittlerweile fast allgemein akzeptiert. Willutzki  Ich finde auch die Selbstaktualisierung wichtig, und zwar im Sinne der Unterscheidung von einer sehr therapeutenzentrierten Akzentuierung. Menschen machen nicht das, was Therapeuten oder Therapeutinnen wollen, weder was sie lerntheoretisch noch was sie psychodynamisch einbringen, sondern Menschen machen das, was ihnen entspricht. Psychotherapie ist gar nicht möglich ohne einen gewissen Glauben an die Wachstumsbereitschaft von Menschen. Strauss  Ja, das ist eine Idee von Rogers, würde ich auch sagen. Willutzki  Und zwar in Abgrenzung sowohl von den psychodynamischen als auch von den lerntheoretischen Ideen. Immer noch massiv unterbewertet wird die Systemtheorie, obwohl kaum noch ein Therapeut nicht systemische Fortbildungen durchlaufen hat. Strauss  Ich denke, dass in der psychotherapeutischen Praxis die Systemtheorie ihren Niederschlag darin findet und auch weiter finden wird, dass man über das Individuum hinausdenkt, dass die Wirkeinflüsse immer auch von ganz woanders kommen können. Was bleibt von den bisherigen Modellen?

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Willutzki  Das trifft die Kontextvariablen, aber ich finde, darüber hinaus betrifft es eben auch das Individuum selbst als System, nicht nur als interpersonelles System, sondern als Selbstorganisationssystem. Und die Systemtheorie stellt die einfachen Kausalitätsannahmen infrage. Die Idee, dass man nicht zielgerichtet intervenieren kann, sondern eigentlich eher verstört, dass wir mit den Interventionen ein System verstören und zur Neuorganisation bewegen, dass wir nicht mechanistisch etwas tun und dann ergibt sich genau eine bestimmte Folge daraus. Wir können einen Impuls geben und versuchen, einen Rahmen für Veränderungen bereitzustellen beziehungsweise den Rahmen zu optimieren, aber ob sich dann mein Gegenüber verändert, hängt letztlich von dessen Selbstorganisation ab und nicht von dem, was ich tue. Ich glaube, das gilt für alle Ansätze. Das hat etwas mit grundsätzlichen Menschenbildannahmen zu tun. Und ich glaube, wenn man ein Modell hat, in dem man annimmt, die Intervention mache etwas Bestimmtes, dann führt das schnell zu therapeutischem Stillstand und zu einem Kontrollwahn, und zwar im Sinne von: Ich muss den anderen dazu kriegen, dass er oder sie das oder das tut. Ich kann den aber nicht dazu kriegen, sondern mein Gegenüber wird immer auf der Grundlage seiner Systemzustände auf das reagieren, was ich ihm anbiete. Das andere sind natürlich, wie du sagst, die Kontextbedingtheiten. Strauss  Ja, und die zu berücksichtigen passiert immer noch viel zu wenig. Für mich ist das ein Beitrag der Systemtheorie, der wichtig war und ist. Über die konkrete Beziehung hinauszudenken und den sozialen Kontext einzubeziehen, das, finde ich, ist in der Psychotherapie nach wie vor sehr unterentwickelt. Die Gesellschaftsorientierung fehlt weitgehend. »Gesellschaft« wäre jetzt ein weiter Horizont. Der andere Kontext ist einfach, dass das »Symptom« eine Funktionalität im unmittelbaren sozialen Kontext hat. 52

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Strauss  Ja, das ist den Psychotherapeuten sehr viel näher als der weitere gesellschaftliche Kontext. Jedenfalls ist das etwas, was die Systemtheoretiker wieder mehr reingebracht haben in die Psychotherapie. Willutzki  Und was auch unbedingt mehr berücksichtigt werden muss. Was sind heute Familienmodelle? Sie sind sehr verschieden, funktionieren aber trotzdem, wenn auch sehr unterschiedlich. Das hat mit den Kontexten zu tun, in denen Leute heute zum Beispiel arbeiten. Das ist viel zu wenig eingearbeitet in unsere Modelle. Der Optionsraum, der gesellschaftlich zur Verfügung gestellt wird, wird viel zu wenig berücksichtigt. Auch was Subkulturen betrifft. Wenn wir allein mal sehen, wie viele unterschiedliche kulturelle Muster durch Migration in unsere Gesellschaft kommen. Wir müssten viel mehr von diesen interkulturellen Mustern wissen, um dafür mit den Patientinnen und Patienten Optionen für sie zu entwickeln. Therapeuten sollten um solche Zusammenhänge jedenfalls wissen. Kommen wir zur Gestalttherapie – was aus ihr bleibt wichtig bezüglich der Wirkmodelle? Strauss  Ein wesentliches Prinzip der Gestalttherapie war die aktive Induktion von Emotionen und von emotionalen Prozessen. Das ist wirklich etwas Wichtiges, weil man sonst bei vielen Patienten ohne entsprechende Interventionstechniken kaum an die Gefühle herankommt. Das hat die Gestalttherapie exzellent in die Psychotherapie hineingebracht, und zwar inklusive der nötigen Techniken, um das induzieren zu können. Also mit einem Wort: die Emotionsfokussierung, so würde man es heute ja ausdrücken. Die moderne Form der Gestalttherapie läuft heute unter »emotionsfokussierter Therapie«. Das ist etwas, was auch die anderen Psychotherapierichtungen befruchtet hat, nicht unbedingt mit denselben Techniken, aber überhaupt als Gedanke, dass es notwendig ist, manchmal Emotionen wirklich Was bleibt von den bisherigen Modellen?

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zu induzieren, damit sie erlebbar werden und damit auch eine Basis für einen Veränderungsprozess darstellen. Willutzki  Und das damit verbundene Thema der Präsenz, also diese Fokussierung auf die Gegenwart und die Bereitschaft, im gestalttherapeutischen Kontext zu konfrontieren bei Nichtpräsenz, als Therapeut den Mut zu haben, eben manchmal nicht mit den habituellen Interaktionsformen mitzugehen. Das ist schon spannend. Fritz Perls hat das bis zu einem fast aggressiven Modus betrieben, beispielsweise mit diesem Ausbremsen üblicher Interaktionsformen, und er hat das auch mal konsequent durchgehalten, um zu sehen, was hier und jetzt passiert. Das hat er sehr offensiv betrieben. Ich selbst habe oft nicht so recht Lust dazu, das so einzusetzen, weil mir das zu »unfreundlich« erscheint, aber zu seiner Art hat das sicherlich gut gepasst. Zu manchen Therapeuten und Therapeutinnen passt das gut und wird bei denen hilfreich. Strauss  Wobei es das in anderen Ansätzen auch gibt. Willutzki  Ja, als Technik, aber nicht als Prinzip. Wenn wir dieses Spektrum nun vor uns haben: Gibt es trotz all dieser Komponenten therapeutischer Wirksamkeit etwas, von dem Sie sagen, dass es nach wie vor sträflich vernachlässigt wird? Strauss  Ein Aspekt ist, dass die Praxis der Psychotherapie natürlich sehr selektiv ist. Das heißt, dass wir bestimmte gesellschaftliche Gruppen ziemlich außer Acht lassen. Wir haben eine hohe Selektion, trotz vieler Verbesserungen, wem wir überhaupt unsere Kunst zugutekommen lassen. Da könnte man sicher noch sehr viel mehr tun. Man könnte sehr viel stärker präventiv tätig werden, indem man in bestimmte Milieus aktiv hineingeht und nicht gleich die ganze Welt ändern will. Auch mit kleinen Schritten kann man versuchen, präventiv tätig zu werden, insbesondere bei Kindern, bei denen präventive Arbeit nachhaltig wäre. 54

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Ein anderer Aspekt ist, dass gesellschaftliche Faktoren zu stark als eine Konstante betrachtet werden, die nun mal hingenommen werden muss, aber oftmals sind genau diese Faktoren ein massives Hindernis für psychotherapeutische Entwicklung. Die soziale Situation, die berufliche Situation und so etwas wird vergleichsweise wenig konzeptualisiert und thematisiert in Psychotherapien. Willutzki  Wenn man die Wirkmodelle unter dem Blickwinkel ansieht, dass der Hauptteil des Erfolgs auf den Patienten zurückgeht, dann wird gerade daran deutlich, wie wichtig die ganze soziale Situation ist und die mit ihr verbundenen Voraussetzungen, die ein Patient mitbringt. Über die Passung und über die Konzeptualisierung dieser Prozesse beim Patienten könnten wir mehr erreichen. Strauss Ein dritter Aspekt ist, dass sich die Psychotherapie immer noch den Vorwurf gefallen lassen muss, den Patienten vorrangig funktionsfähig zu machen in manchmal hoch problematischen Kontexten. Die Psychotherapeuten setzen sich damit zu wenig auseinander, erklären gerne, dass diese Kontexte nicht ihr Einsatzbereich seien. Heiner Keupp hat mal von den gesellschaftsvergessenen Psychotherapeuten gesprochen. Auch ich halte das für ein Problem. Wir müssten eigentlich viel lauter sein, auch und gerade in heutigen Zeiten. Willutzki  Es gibt dafür aus meiner Sicht ein gutes Beispiel: Akzeptiert man die Tricks der Arbeitsmarktstatistik, dann nähern wir uns zumindest in den westlichen Bundesländern wieder einer Art Vollbeschäftigung an. Gleichzeitig aber muss man sagen, dass es in den vergangenen Jahrzehnten selten wirklich so gewesen ist. Gleichzeitig hatten nämlich zumindest im Ruhrgebiet mehr als fünfzig Prozent unserer Patientinnen und Patienten keinen Job. Oder: Wer mit über fünfzig den Job verliert und immer weniger Chancen hat, wieder in eine zufriedene Berufstätigkeit zu kommen, bei dem bricht einfach ganz vieles weg im Leben. Da ist es natürlich beinahe absurd, an der damit Was bleibt von den bisherigen Modellen?

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verbundenen Verzweiflung mit der Person psychotherapeutisch zu arbeiten. Wir müssen unter solchen Bedingungen mit diesen Menschen ja die Sinnfrage außerhalb einer gesellschaftlichen Teilhabe definieren. Wir befrieden da eher gesellschaftliche Konflikte – und sind zwangsläufig nicht besonders erfolgreich. Die gesellschaftlich forcierte Individualisierung betreiben auch wir in der Psychotherapie, jedenfalls als Profession. Wir vereinseitigen Konflikte an dem Punkt und fokussieren aufs Individuum. Strauss  Man kann nicht gegen die Gesellschaft antherapieren, oder? Willutzki  Man könnte natürlich die alten Ideen der Handlungsfähigkeit des Subjekts, die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und Ähnliches aktivieren – ein altes Thema der Psychologie, nicht zuletzt seit den Achtundsechzigerjahren, aber das hat eben auch Grenzen. Strauss  Ja, man müsste es schon viel stärker als Thema in die Psychotherapie hineinbringen. Das tun wir selten und viel zu oft nicht explizit genug.

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Die Wirkmodelle werden heute flankiert von einer Flut von Wirkungsstudien »im Labor«, so möchte ich es mal nennen. Da haben dann meist »amerikanische Forscher« herausgefunden, dass Menschen, die aufrecht und mit dem Gesicht nach vorn gerichtet gehen, zufriedener sind, weil sie die offenen Türen, die sich ihnen bieten, besser wahrnehmen und nutzen, aber der Gramgebeutelte mit nach unten geneigten Schultern findet in seinem Nahbereich eher den Zehn-EuroSchein, den jemand auf dem Gehsteig verloren hat. Viel Rauch um nichts? Viele Forschungsgelder für Belanglosigkeiten? Strauss  Diese Beispiele betreffen jetzt natürlich die allgemeine Psychologie des Menschen. Wir sind hier aber bei der Psychotherapieforschung. Und auch da möchte ich noch mal unterscheiden: Von welcher Art von Forschung wollen wir hier reden? Es gibt in der Psychotherapie ganz klar eine Kategorie von Forschung, die auf die Wirkung abzielt, also auf die Effektivität. Es existiert eine zweite Art von Forschung, die mehr auf die Wirkweise rekurriert, also auf den Prozess und die Faktoren, die die Wirkung letztendlich ausmachen. Im ersten Bereich, würde ich sagen, haben wir eine relativ stabile Befundlage, die im Großen und Ganzen zeigt, dass Psychotherapie sicher wirksam ist, jedenfalls besser, als wenn man keine Psychotherapie machen würde – zumindest für einen großen Teil der Patientinnen und Patienten gilt das. Bei der letztgenannten Forschung gibt es allerdings große Einschränkungen, die darin begründet liegen, dass natürlich immer eine Selektion jener Betroffenen vorgenommen wird, die überhaupt in die Studien einbezogen werden. Vor Jahren haben wir beide eine gemeinsame Studie gemacht zur Sozialphobie, da hatten wir mit tausendachthundert Patienten angefangen und es blieben vierhundert übrig. Moderne Wirkungsforschung

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Willutzki  Wir hatten eine Ausschreibung gemacht, mit der wir Leute mit bestimmten Themen suchten. Diese Quote war eigentlich sogar noch ganz gut. Strauss Stimmt. Trotzdem ist das immer sehr selektiv. Der Befund, dass Psychotherapie wirkt, zeigt sich als stabil, dennoch sollten wir uns damit nicht zufriedengeben, und zwar in mehreren Hinsichten: Wir müssen sehr viel mehr auf jene sehen, bei denen eine Therapie nicht wirkt, denn die gibt es natürlich auch. Außerdem müssen wir sehr viel mehr auf jene schauen, die gar nicht erst in die Studien hineinkommen, aus welchen Gründen auch immer. Das sind meistens nämlich durchaus psychologische Gründe. Wir sollten uns also viel weniger darauf kaprizieren, einfach bestimmte Therapieansätze in Vergleichsstudien weiterhin zu kontrastieren, denn im Endeffekt kommt immer heraus, dass die Unterschiede vergleichsweise gering sind. Den hohen Aufwand, den solche Studien machen, nur um immer wieder dieses Ergebnis zu replizieren, halte ich für unökonomisch. Die andere Seite betrifft die prozessorientierte Forschung, in der es um die Frage geht, was denn eigentlich in der Psychotherapie wirkt. Da kann ich noch mal Klaus Grawe zitieren, der mal ironisch in späten Jahren gesagt hat: »Wenn ich mal groß bin, dann will ich verstanden haben, wie Psychotherapie wirkt.« Das ist nämlich eine Herausforderung, die immer wieder frustriert wird durch diese Forschung, denn wir denken uns ständig neue Prädiktoren aus, denken uns stetig neue prozessbegleitende Konzepte aus und finden immer heraus, dass der Prozentsatz, der dadurch aufgeklärt wird, extrem niedrig ist. Es gibt bestimmte »alte« Variablen, die mal »modern« waren, die aber wieder völlig verschwunden sind, zum Beispiel Persönlichkeitsmerkmale, das misst heute kein Mensch mehr in der Psychotherapieforschung. Andere Variablen kommen hinzu. Bindung ist heute ein ganz aktuelles Thema. Es gibt einen Riesenhype mit Studien über die Bindungsaspekte in der Psycho58

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therapie. Meine Prognose ist, dass es immer wieder neue Moden gibt, die im Endeffekt dazu beitragen, dass wir sagen, gut, das könnte eine Bedeutung haben, aber so richtig erklären tut es das immer noch nicht. Willutzki  Eingebürgert hat sich die Aufteilung der Erfolgsvarianz in ein Kuchenmodell, womit also feste Einflussgrößen behauptet werden. Strauss  Was sehr fragwürdig ist. Willutzki  Ja, sehr fragwürdig. Damit wird ausgesagt, Methoden spielten so gut wie gar keine Rolle, der Therapeut als Person kläre auch nur einen kleinen Anteil der Wirkung auf, die Beziehungsfaktoren spielten eine etwas größere Rolle und ein Hauptteil des Erfolgs gehe entweder auf unbekannte Faktoren oder auf den Patienten beziehungsweise die Patientin selbst zurück, also ihre Voraussetzungen, Fähigkeiten, Rahmenbedingungen. Manchmal tauchen noch die Passungsaspekte zwischen Therapeut und Klient auf, aber: Wie werden die konzeptualisiert? Sie sind jedenfalls sehr schwer zu konzeptualisieren. So, und bei alldem taucht eigentlich die Passung im Sinne von Interaktion zwischen den einzelnen Teilaspekten gar nicht auf. Das ist alles zu statisch gedacht und berücksichtigt überhaupt nicht die Wechselwirkungen. So ist es dann eigentlich schwer zu sagen, was etwas bringt und was nicht. Das gilt wahrscheinlich selbst für die Persönlichkeitsvariablen, aber gerade, so denke ich, vermutlich auch für die Methoden. Einfach nur zu sagen, die Methoden bringen nichts, ist zu kurz gegriffen; die Frage ist eher, bei wem welche Methode wirkt. Aber dann kann man alles nicht mehr gut als Kuchen darstellen. Donald J. Kiesler hat das ja schon lange vor der aktuellen Diskussion mal versucht durchzudeklinieren: Bei welchem Patienten beziehungsweise welcher Patientin mit welchem Problem welche Methode bei welchem Therapeuten … Was müssten das für Studien sein, damit man das gesamte Kiesler-Gitter Moderne Wirkungsforschung

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abdecken könnte? Die ganze Weltbevölkerung müsste alle zwei Jahre mal ran, damit man das beforschen könnte. Das geht also nicht, jedenfalls ist das Kuchenmodell viel zu statisch. Ich glaube, dass noch mehr beschreibbar wäre, wenn man wirklich Theorien über menschliches Funktionieren in die Psychotherapieforschung einbeziehen würde. Ich weiß nicht genau, wie das gehen kann, aber irgendwie müsste das stärker vorkommen. Auch in der Therapeutenforschung. Der Therapeut, die Therapeutin spielt eine Rolle, sagen wir, aber was denn genau? Strauss  Die Therapeutenforschung ist ein gutes Beispiel. Sie ist ja etwas relativ Neues. Therapeuten sind kaum im Fokus gewesen lange Zeit. Man hat gedacht, sie seien Konstanten, die ihr Handwerk gelernt haben, da unterscheide sich nicht viel. Dann kamen Studien mit großen Stichproben, die zeigten: Na, so gleich sind die gar nicht, sondern es gibt auch hier mehr oder weniger eine Normalverteilung, an deren einem Ende die Supererfolgreichen sind, die konstant gute Resultate erreichen, am anderen Ende aber sind auch die, die konstant viel Mist machen – und das sind vielleicht gar nicht so wenige. Wir wissen de facto aber nicht wirklich, was diese beiden Gruppen unterscheidet. Wir haben natürlich Theorien, können die eine und andere Studie bemühen bis hin zu dieser Mimikgeschichte, die ich vorhin erwähnt habe, und eine Hypothese aufstellen, aber bei gut messbaren Merkmalen wie Ausbildung, Erfahrung, bestimmten Spezialkompetenzen unterscheiden sie sich gar nicht besonders. Hier verbergen sich Fragen, die für die Weiterentwicklung von Psychotherapie genauso wichtig sind wie jene, die den Fokus auf Patienten richten, die in Psychotherapien nicht gut vorankommen, die womöglich sogar unerwünschte Effekte davontragen. Ohne nun wieder defizitorientierter werden zu wollen, müsste hier mehr eine Verlagerung von der Erfolgskultur auf die Fehlerkultur im therapeutischen Kontext stattfinden. Willutzki  Mir geht es bis heute so, dass ich manchmal denke, wenn ich Videobänder von Kollegen sehe, zum Beispiel bei 60

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Supervisionen und auf Tagungen, dass die etwas machen, von dem ich sagen würde: Das geht doch gar nicht. Dann kommt die Reaktion des Patienten oder der Patientin, und prompt: Es geht wunderbar. Vorher hätte ich gesagt: Um Gottes willen! Ich hätte hundertprozentig davon abgeraten. Ja, dann geht es auch mir so, wie du gerade zitiert hast: Wenn ich groß bin, hätte ich gern gewusst, wie das funktioniert, denn da gibt es immer noch sehr viele Überraschungen. Strauss  Vermutlich. Wenn man es auf den Punkt bringen will, könnte man wieder mal sagen: Wir wissen, dass wir eigentlich nichts wissen. Auf dem Weltkongress der Psychotherapie 2017 gab es eine inszenierte Kontroverse auf einem Podium zwischen einerseits Bruce E. Wampold, Mitautor des Buches »Die Psychotherapie-Debatte« und Verfechter der Gleichwertigkeit der sogenannten Bona-fide-Therapien. Er vertritt ein Kontextmodell von Psychotherapie und kein medizinisches. Das Der Dodo-Vogel bedeutet, dass bei der Behand­ Der Dodo oder auch die Dronte ist lung einer psychischen Stö­ ein heute ausgestorbener Vogel, rung weni­ ger eine ganz der ausschließlich auf der Insel spezi­fi­sche Psychotherapie Mauritius lebte. Er kommt in dem in­di­ziert ist, beispielsweise Kinderbuch »Alice im Wunderland« von Lewis Carroll vor, wo er ein wie ein Medikament bei einer völlig desolat verlaufendes WettSymptomatik in der Medizin, rennen bewerten und den Preis für sondern eher eine Haltung den Besten vergeben soll. Doch und die bereits genannten der Dodo ist ratlos und kommt zu kontextuellen Faktoren. Wamdem Ergebnis, dass eigentlich alle pold vertritt die Meinung, gewonnen haben und einen Preis dass die Wirksamkeit einzelverdient hätten. ner Therapien nur scheinbar nachweisbar ist, er argumentiert immer mit dem Dodo-Vogel-Vergleich, dass nämlich allen ein Preis zustehen würde, wenn wir die Vergleichsstudien von Psychotherapien richtig lesen und interpretieren würden. Moderne Wirkungsforschung

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Sein Konterpart war Pim Cuipers, ein holländischer Psychologe, der sehr viel mit Metaanalysen arbeitet und sagt, wenn man die Studien methodisch betrachtet, dann sind insgesamt die Fallzahlen in der Psychotherapie-Vergleichsforschung immer noch viel, viel, viel zu gering, um überhaupt fundierte Aussagen über die differenzielle Wirksamkeit von Methoden treffen zu können. Das wäre bezogen auf die Wirksamkeitsforschung eine Radikalaussage. Wir wissen nur, dass wir nichts wissen. Auf die ganzen Wirkfaktoren bezogen ist es sehr ähnlich. Es gibt zwar diese wohlbekannten Tortendiagramme, die ich auch gerne nutze, allerdings mehr zur Provokation und zum Nachdenken, die letztendlich nicht wirklich nachvollziehbar sind. Die sind zwar von namhaften Wissenschaftlern publiziert worden, aber wie diese zu der Behauptung kommen, es seien nun genau neun Prozent der Varianz, die durch die Methode oder Technik erklärt werden, und genau neunzehn durch den Therapeuten, das ist völlig diffus und undurchsichtig, zumal es die entsprechenden Studien eigentlich kaum gibt, die das belegen könnten. Man kann diese Darstellungen zum Nachdenken nutzen und sich die Frage stellen, ob es überhaupt sinnvoll ist, diese Gewichtung einzelner, nur scheinbar disparater, real aber eng aufeinander bezogener Bereiche vorzunehmen. Oder handelt es sich nicht doch eher um eine ganz komplexe Angelegenheit, bei der Patientenmerkmale, Therapeutenmerkmale und die vielfältigen Allgemeinen Wirkfaktoren eine Rolle spielen? Das könnte man dann auch sehr pessimistisch bewerten, indem wir sagen, eigentlich wissen wir nicht so furchtbar viel; man kann es jedoch auch ressourcenorientiert betrachten und sagen, da gilt es noch viele Überraschungen zu finden. Würden Sie denn sagen, dass es irgendwann in absehbaren Jahren ein allgemeines Wirkmodell geben wird, in dem jede Richtung mit ihren Schwerpunkten genau an der Stelle vorkommt, die ihre Stär62

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ken ausmacht, ein großes, allgemeines Wirkmodell, das alle Fachleute unterschreiben? Willutzki  Nein. Allein wissenschaftssoziologisch steht dem vieles entgegen, deshalb glaube ich nicht, dass es das geben wird. Die Psychotherapiekultur ist nicht auf Konsens ausgerichtet. In der Therapieforschung gibt es die »Splitter«, das sind Leute, die eher mit differenzierten und differenzierenden, sich von anderen abgrenzenden Theorien für unterschiedliche Kontexte und für verschiedene Störungen und für verschiedene theoretische Ansätze arbeiten. Und es gibt die »Lumper«, die betonen, was Gemeinsamkeiten sind. Ich persönlich zähle mich eher zu den Lumpern, aber es wird immer persönliche Akzentuierungen und unterschiedliche Wege irgendwohin geben. Ein solches Modell müsste auch ungeheuer komplex sein, sodass es praktisch nicht verwendbar wäre. Ich kann es mir nicht vorstellen. Strauss  Ich sehe das relativ ähnlich. Potenziell wird es so ein Modell geben, und ich vermute, dass es das eigentlich auch schon längst gibt. Wir können inzwischen die Psychologie als Wissenschaft benutzen, um ein allgemeines Modell von Psychotherapie zu konzeptualisieren, was ja viele schon gemacht haben. Ich kann da wieder auf Klaus Grawe verweisen, der mit der »Neuropsychotherapie« einen sehr ernsthaften Versuch in diese Richtung gemacht hat. Wenn man die Entwicklung der Motivations-, Affekt-, Kognitionspsychologie und viele andere heranzieht, dann kann man daraus ohne Zweifel ein allgemeines Modell von Psychotherapie stricken, und darin würden sich die verschiedenen, spezifischen Verfahren unterschiedlich verorten lassen. Viele der Begriffe einzelner Therapietheorien müssten dann allgemeinpsychologisch anders heißen, weil statt »Motiv« manche »Trieb« sagen oder so. Im Prinzip gibt es so etwas auch schon, aber es könnte noch weiter elaboriert werden – insgeheim schreiben wir alle ja sozusagen automatisch daran. Trotzdem glaube auch ich, dass die Psychotherapiesozialisa­ Moderne Wirkungsforschung

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tion und die Wissenschaftsgemeinde so gestrickt sind, dass es ein allgemeines Modell schwer haben wird, von allen akzeptiert zu werden. Die therapeutische Sozialisation verläuft letztendlich so, dass man neben den persönlichen Motiven, sich überhaupt mit Psychotherapie zu beschäftigen, zu einer Psychotherapiemethode oder zu einem Verfahren kommt, das vermeintlich am besten zu einem selbst passt. Ich persönlich zum Beispiel habe zufällig im Gymnasium einen Deutschlehrer gehabt, der extrem psychoanalyseorientiert war und der uns in der Oberstufe ein Seminar »Einführung in die Psychoanalyse« anbot. Wenn ich dem nicht begegnet wäre oder ich irgendein anderes Sozialerlebnis gehabt hätte, dann hätte ich mich nicht so früh für die Psychoanalyse interessiert. Das sind die individuellen Geschichten, die die Sozialisation in einem Verfahren anschieben. Danach kommt das hinzu, was wir hier schon ein paarmal »Wissenschaftssoziologie« genannt haben, dass man nämlich in einen identitätsbildenden »Strudel« gerät und sich notwendigerweise mit Konzepten, mit Ritualen, mit Vorgehensweisen einer bestimmten Subgruppe in diesem Feld identifiziert und dann auch diese ganzen Prozesse wirken, die natürlich gesellschaftlicher Natur sind, dass sich Wissenschaft zunehmend partikularisiert, dass wenig altruistische Haltungen vorkommen, dass man eigenes Wissen ungern mit anderen teilt und … Willutzki  … dass man etwas von anderen aufnimmt, ohne … Strauss  … ohne zuzugeben, von wem man es entliehen hat. Willutzki  Genau, dafür gibt es auch schöne Beispiele. Strauss  Das sind alles Prozesse, die den genuinen wissenschaftlichen Möglichkeiten entgegenstehen und die jetzt im Moment auch verhindern, dass wir bei der Reform der Ausbildung mehr inhaltlich anstatt therapieschulen- und berufsgruppenorientiert diskutieren. Willutzki  Die meisten Ideen in der Psychotherapie sind eigentlich etwas, was sich auch meine Oma schon hätte ausdenken können. 64

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Die Grundideen sind nicht besonders intellektuell oder sonst wie herausfordernd. Um aber das gesamte Potenzial auszuloten, das in diesen »einfachen« Ideen steckt, muss man sich lange damit beschäftigen. Man kann Psychoanalyse sehr differenziert betreiben, man kann Lerntheorien sehr differenziert betreiben, man kann systemische Ansätze sehr differenziert betreiben; die Feinheiten herauszuarbeiten oder die Einzelbeobachtungen zu vernetzen mit den konkreten Gegebenheiten, das ist doch zeitlich und auch intellektuell relativ aufwendig. Welche Unterscheidungen muss man lernen? Was mache ich mit Anteilen, die nicht in mein Bild und in meine Erwartungen passen? Ignorieren wir sie oder greifen wir sie auf? Das ist einfach total viel Arbeit. Die nötige wissenschaftliche Tiefe kann man auch nicht in allen Bereichen gleichzeitig erreichen. Experte wird man innerhalb von zehn Jahren, würde die Expertiseforschung sagen, aber dann hat man einen Bereich abgedeckt. Wenn man dann einen zweiten Bereich dazunimmt, dann geht’s zwar hoffentlich ein bisschen schneller, aber auch das braucht wieder viel Zeit. Aber das würde für einen anderen Aufbau von Instituten sprechen. Willutzki  Was meinen Sie mit einem anderen Aufbau von Instituten? Institute, in denen alle zusammenkommen und an etwas Gemein­ samem arbeiten. Willutzki  Ich bleibe noch mal bei jenen Beobachtungen, die nicht in unser jeweiliges Bild passen. Wann sagen Therapeuten oder Supervisoren, wenn sie eine Fallkonzeptualisierung sehen, dass da etwas nicht »stimmt«? Wann sagt man, eine Information, die da noch drinsteckt, zwingt dazu, noch mal neu zu konzeptualisieren? Die Expertiseforschung würde sagen, dass diese Prozesse irgendwann intuitiv und dann aber auch nicht mehr Moderne Wirkungsforschung

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so gut versprachlichbar sind. Das ist wissenschaftlich betrachtet natürlich eigentlich furchtbar, weil wir da offenbar an bestimmte Bereiche nicht herankommen. Dann frage ich mich weiter: Kann ein einzelner Mensch denn in allen Bereichen so kompetent sein? Strauss  Also, ich bin da nicht so sicher, ob die Grundidee der Psychotherapie, dass man mit Beziehungen heilt oder zumindest den Zustand verbessert, von meiner Großmutter hätte ausgedacht werden können. Du sprachst von den Grundideen, ja, aber die ganz unterschiedlichen Schattierungen jener Ideen, die hinter den einzelnen psychotherapeutischen Schulen stehen, das kann vermutlich wirklich nicht in einer Person verkörpert werden. Das scheint mir tatsächlich unrealistisch. Dennoch denke ich, dass die Identifikation mit einer oder einigen zentralen Ideen ganz wichtig ist für eine Identitätsbildung als Psychotherapeut. Irgendwelche solcher »Schubladen« wird es immer geben. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist aber natürlich schon, dass es immer wieder so auch vermittelt wird. Ich erzähle ein Beispiel: Ein Kollege, der Verhaltenstherapeut ist und sich viel mit Persönlichkeitsstörungen beschäftigt, berichtete mir von einer Tagung, auf der eine Kollegin, die sich als Psychodynamikerin versteht, ein Video gezeigt hat von einer Therapiestunde mit einer persönlichkeitsgestörten Patientin, und zwar unter dem Label einer »mentalisierungsbasierten Psychotherapie«. Mein Kollege sagte dazu: »Das, was die da gemacht hat, das mache ich ganz genauso. Ich nenne es nur anders.« Das ist ein Erlebnis, das man relativ oft haben kann, selbst wenn man ins Detail psychotherapeutischer Behandlungen sieht, dass es nämlich doch oft eine größere Überschneidung gibt, als man denkt und angesichts aller Abgrenzungsgesten erwarten würde. Willutzki  Ja, es gibt aber auch die ganz anderen Beispiele, bei denen man sagt, nein, das würde ich ganz anders machen, das halte ich nicht für gut. Strauss  Ja, das sind die zwei Teile der Wahrheit. 66

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Ich habe deshalb so naiv gefragt, weil Sie sehr oft jetzt schon bei der Wissenschaftssoziologie gelandet sind. Das hat mich ein bisschen frustriert, ehrlich gesagt. Also ich hatte … Strauss  Sie waren optimistischer. Jedenfalls wäre mir die Antwort, es könne keiner in alles so tief einsteigen, wie es notwendig wäre, die liebere Erklärung. Dass natürlich das andere eine Rolle spielt, ist überhaupt keine Frage. Strauss  Dass ich das so stark betone, ist ein Stück weit mit meiner eigenen psychotherapeutischen Biografie verbunden. Ich bin, glaube ich, sehr wenig ideologisch, was Psychotherapietheorien anbelangt. Aber ich habe diese ideologischen Haltungen einfach über Jahrzehnte, seit ich mich damit beschäftige, immer wieder schmerzlich und ärgerlich erleben müssen. Das hat mich schon auch desillusioniert. Das Beispiel mit diesem Wiener Analytiker, der mir sagen musste, die Psychoanalyse könne nur durch die Psychoanalyse beforscht werden, das ich schon erzählt habe, das erlebe ich in Variationen am laufenden Band, und es passiert immer noch. Willutzki  Außerdem habe ich zu oft erlebt, dass bestimmte Ergebnisse gefeiert werden, während andere, die inhaltlich direkt daneben liegen, vielleicht sogar zeitlich eher lagen und mit der gleichen Operationalisierung erarbeitet wurden, völlig ignoriert werden. Wer wird gehört und wer wird nicht gehört? Das hat wirklich einen hohen Zufälligkeitseffekt, um es mal so zu nennen, auch wenn sich das von außen anders darstellt. Dadurch sind ganz viele gute Ideen untergegangen im Laufe der Zeit. Oder sie kommen irgendwo wieder hoch und werden plötzlich gefeiert, aber eben von anderen. Das können auch niedergelassene Kolleginnen und Kollegen oft gar nicht sehen oder durchschauen, sie haben einfach nicht die Zeit dazu, sich überhaupt in diese Zusammenhänge Moderne Wirkungsforschung

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reinzuarbeiten. Wir beide haben die Möglichkeit und werden dafür zumindest anteilig bezahlt, dass wir wissenschaftlich lesen und hören, aber die Menschen, die täglich fünf, sechs oder auch mehr Therapiestunden machen, die werden dafür überhaupt nicht bezahlt. Dann wird manchmal etwas gefeiert, bei dem wir dastehen und denken, das ist doch alles nicht neu, das müsste doch eigentlich schon längst in der Praxis angekommen sein. Unglaublich oft werden Vorläufer gar nicht gekannt und eine wissenschaftshistorische Perspektive existiert kaum. So kommt es immer zu diesen Wellen, dass etwas untergeht oder auch etwas »Altes« wieder hochkommt – und das hat einen hohen Beliebigkeitsanteil. Was man nicht kennt, auch wenn es uralt ist, kommt einem neu vor. Strauss Ich habe kürzlich über die Geschichtsvergessenheit in der Psychotherapie einen Aufsatz geschrieben, weil diese wirklich sehr auffällig ist. Auch das liegt übrigens wieder in wissenschaftssoziologischen Bedingungen begründet, aber auch an berufssoziologischen, denn der akademische Beruf eines Psychotherapeuten ist in der Praxis total unakademisch, jedenfalls in dem Verständnis, dass die meisten Praktiker zwar ihre Fortbildungspunkte sammeln, sich dafür aber am liebsten wellnessorientierte Veranstaltungen aussuchen – ja, freilich ist Psychohygiene auch wichtig! – oder aber etwas aussuchen, in dem das bestätigt wird, was sie bestätigt haben wollen, selten aber mal wirklich in ein neues Feld einsteigen, und zwar weil sie überhaupt keine Zeit und überhaupt keine Energie dafür haben. Sie wollen gar nicht wahrnehmen, was in der wissenschaftlichen Literatur passiert. Deshalb brauchen die wissenschaftlichen Ergebnisse so lange, bis sie auf die Praxis abfärben – wenn überhaupt. Die meisten praktisch praktizierenden Therapeuten sagen: Forschungsliteratur sei langweilig, inspiriere sie nicht und sie wüssten nicht, warum sie die lesen sollen. Willutzki  Forschungsliteratur ist natürlich auch schwere Kost und eben hochgradig partikularisierend … 68

Wirkmodelle

Strauss  … partikularisierend und praxisfern, zum Teil aber auch nur auf den ersten Blick. Willutzki  In der Forschungsliteratur ist aber eben auch unterentwickelt, klare Aussagen zu machen für Praktiker, was dann eben dazu führt, dass sie sie nicht interessiert oder von ihnen sogar als enttäuschend verarbeitet wird.

Moderne Wirkungsforschung

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WAS WIRKT WANN, WIE UND WARUM?

»In irgendeiner Form sollte man Rückmeldungen erfassen, sonst interpretiert man in seinen Patienten etwas hinein, was möglicherweise überhaupt nicht der Realität entspricht, sondern eher der eigenen Wunscherwartung. Das wäre eine problematische Haltung.« Bernhard Strauß

Wirkung messen und beweisen

Der Erfolg einer Psychotherapie ist ein schwieriges Konstrukt. Es gibt Prozesse, bei denen der Klient schließlich die Therapie abbricht und sagt, das alles habe ihm überhaupt nichts gebracht, während der Psychotherapeut vielleicht sagen würde, der Klient habe bestimmte wichtige Schritte gemacht, die nimmt er mit, die Therapie sei kein Misserfolg gewesen. Es gibt auch den umgekehrten Fall, dass der Psychotherapeut am Ende sagt, ach, da sind wir überhaupt nicht weitergekommen, aber der Klient behauptet, die Gespräche hätten ihm im weiteren Leben viel geholfen. Darüber hinaus gibt es ja noch den Effekt, dass sich eine Wirkung erst zwei Jahre später wirklich realisieren kann. Also: Wie will ich Wirkung eigentlich wirklich messen, wenn man die zeitliche Wirkungsverzögerung und überhaupt die Perspektivik auf diese Prozesse berücksichtigt? Kann das gehen? Strauss  Es gibt viele, viele Studien zu der Frage der Bewertung von Psychotherapieeffekten und der Frage, wie unterschiedlich Patient und Therapeut das sehen. Es gibt immer wieder den Hinweis darauf, dass die Übereinstimmung gering ist, sowohl im Hinblick auf die Frage, wie gerade der Zustand des Patienten ist, also einmal aus der Sicht des Therapeuten und einmal aus der des Patienten, als auch sehr gering ist bei der Übereinstimmung im Hinblick auf die Frage, was in einer Therapie oder auch in einer einzelnen Therapiestunde wichtig war. Da haben Therapeuten oftmals eine ganz andere Sicht als ihre Patienten. Und das betrifft sogar auch den Punkt, wie gut denn eigentlich momentan die Beziehung ist. Da existieren hohe Diskrepanzen, und zwar mit einer gewissen Tendenz, dass die Therapeuten oftmals eher positivere Bewertungen haben als die Patienten selbst. Das zeigt schon, dass das Ganze perspektivabhängig ist. Insofern ist es natürlich eine berechtigte Frage, was überhaupt das 72

Was wirkt wann, wie und warum?

Bezugssystem sein soll. Patienten haben primär ein Interesse daran, dass es ihnen besser geht, viele Therapeuten jedoch gehen eher von der Intensität der Durchdringung eines Themas aus, von der Tiefe des Gesprächs oder von so etwas wie Nachreifung, ganz unabhängig vom konkreten Problem. Willutzki  Oder auch davon, welche Konflikte überhaupt thematisiert werden und werden sollen. Strauss  Genau. Das ist ein Grundproblem, dass die Bezugssysteme unterschiedlich sind, auch zwischen den Therapieschulen. Ein Manko in der Psychoanalyse ist sicherlich immer gewesen, dass die Symptomreduktion und die Frage der Zufriedenheit der Patienten unterbelichtet geblieben sind zugunsten von lange Zeit schwer zugänglichen und wenig operationalisierten Konstrukten als Indikator für Therapieerfolg, etwa »Nachreifung« oder »strukturelle Veränderungen«. Willutzki  Während wir in der Verhaltenstherapie verabsolutiert haben, dass es ausschließlich um Symptomreduktion gehe. Das ist natürlich auch nicht richtig, weil auch das vielfach nicht im Interesse der Patienten ist. Mein früherer Chef, Dietmar Schulte, hat schon 1993 einen Artikel geschrieben, in dem er versucht hat, das – auch schulenübergreifend – zu systematisieren. Kaum aber eine Studie berücksichtigt mehrere Facetten. Und, ganz am Rande: Patientinnen und Patienten fänden es zumeist nicht so lustig, erst aus allen möglichen Perspektiven befragt zu werden. Sogar Reviewer von Artikeln meckern auch immer daran rum, wenn es viele Ergebnisperspektiven gibt. Strauss  Es gibt da wie dort unterschiedliche Maßstäbe und Perspektiven. Grundsätzlich ist für mich unstrittig, dass der Psychotherapieerfolg daran gemessen werden sollte, ob sich ein Patient besser fühlt, ob er weniger Symptome hat und funktionsfähiger ist in seinen verschiedenen Kontexten. Kommt er nun wieder in seinem sozialen Gefüge zurecht, kommt er beruflich zurecht, kommt er in seinem Alltagsleben zurecht?

Wirkung messen und beweisen

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Ja, aber dafür kommt doch nur eine empirische Studienform infrage. Es gibt einen Evaluationsbogen, der ausgefüllt wird. Das wäre eine pragmatische Lösung, wobei auch dann die Nachwirkung noch nicht einbezogen wäre. Willutzki  Ja, und dann kann ich als Therapeutin unter Umständen begründen, warum eine Verschlechterung ein positiver Schritt ist. Aber das müsste ich dem Patienten theoretisch begründen können. Ich müsste irgendwie zeigen, dass das mittelfristig einmündet in eine nachhaltige Verbesserung. Strauss  Das ist richtig. In der Therapieforschung gibt es bezüglich der Diskrepanz zwischen Patienten- und Therapeutenperspektive einen regelrechten Trend in den letzten zwanzig Jahren, in dem man überlegt, was es denn bringen würde, wenn man den Therapeuten besser zurückmelden würde, was eigentlich der Patient denkt. Nicht so relevant wäre das vielleicht in jenen Fällen, in denen sich Patienten so entwickeln, wie man es erwarten würde aufgrund der Kenntnisse vieler anderer Verläufe, aber gerade für die Patienten, die eine andere Entwicklung nehmen, die problematische Entwicklungen zeigen, die nicht erwartungsgemäß reagieren, wäre eine solche Rückmeldung sehr sinnvoll, denn dann könnte die Perspektive des Therapeuten korrigiert und er anregt werden, darüber nachzudenken: Wodurch kommt denn diese Diskrepanz überhaupt zustande? Willutzki  Das wäre insbesondere in den Fällen wichtig, in denen ein Therapeut mit einem Patienten zusammensitzt und nicht mitbekommt, dass dieser gar nicht in der Spur ist. Da sitzt ein Therapeut mit einem Menschen eng zusammen und kann offenbar eine völlig falsche Vorstellung davon entwickeln, wie es dem jetzt geht. Also müsste man explizit danach fragen, wie dieses und jenes für ihn war oder ist. Strauss  Erstens das. Zweitens können viele Patienten auch nicht gut ausdrücken, dass etwas nicht gut für sie war. Sie können das 74

Was wirkt wann, wie und warum?

aber vielleicht sehr viel besser mitteilen, wenn sie einen Fragebogen ausfüllen. Ein Fragebogen hat den Vorteil, dass er wirklich standardisiert ist. Ich habe eine interessante Anekdote dazu: Ein guter Freund und Kollege von mir, Gary Burlingame von der Brigham Young University, macht Feedbackforschung. Er hat jetzt angefangen, auch in Gruppenpsychotherapien zum Feedback zu forschen, und die Fragestellung der Studie war: Kann ich das Ergebnis von Gruppen verbessern, indem ich entweder Ergebnisfeedbacks gebe, das heißt den Therapeuten über die allgemeinen Fortschritte der einzelnen Patienten regelmäßig informiere, oder wird das Ergebnis womöglich noch besser, wenn ich zusätzlich ein gruppenbezogenes Feedback gebe? So lässt sich beispielsweise mit einem standardisierten Fragebogen, dem »Group Questionnaire«, erfassen, ob sich jemand in der Gruppe wohlgefühlt hat, er die Gruppe produktiv erlebt und Ähnliches. Der Plan für die Studie war: eine Bedingung ohne Feedback, einmal verglichen mit Symptomfeedback sowie einmal verglichen mit Symptom- plus Gruppenfeedback. Die überraschende Erfahrung lautete, dass die lokale Ethikkommission dem Kollegen verboten hat, die Nichtfeedbackbedingungen mit zu untersuchen, denn sie fand es unethisch in heutigen Zeiten, kein Feedback zu geben, weil es völlig offensichtlich wäre, dass ein Feedback bedeutsam ist für die Psychotherapie. Willutzki  Stimmt, in Amerika ist das Standard, in Deutschland kann man völlig ohne Feedback arbeiten. Strauss  In Deutschland haben wir ein System, bei dem man einen Kassenantrag stellt, und dann kümmert sich abgesehen eventuell vom Verlängerungsantrag kein Mensch mehr darum, was eigentlich in der Therapie passiert – um es mal ganz platt zu sagen. Ich finde das schon denkwürdig. Das Problem jedenfalls liegt auf der Hand, dass Patient und Therapeut häufig sehr unterschiedliche Sichtweisen haben, und es existiert relativ Wirkung messen und beweisen

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wenig Kontrolle über die therapeutischen Prozesse, die natürlich auch sehr problematisch verlaufen können. Es wird schon auch viel Murks gemacht in dem Bereich, das muss man mal ganz klar sagen, und zwar bis hin zu extremen Kunstfehlern. Insofern wäre das Feedback schon ein wichtiges Lernmodell für Therapeuten. Unser System könnte über Feedbacks peu à peu verbessert werden. Willutzki  Da stecken zwei Punkte drin: Zum einen wäre das ein Ernstnehmen des Patienten, zum anderen wäre das eine Reflexion der eigenen Arbeit. Ein Feedback ist ja nicht nur in der formalisierten Variante nützlich, sondern auch bezüglich der Prozessforschung. Eigentlich könnten Therapeuten ihre Patienten am Ende jeder Sitzung fragen: »Was nehmen Sie heute mit?« Das tun sie aber meistens nicht. Bei der Veränderung der Psychotherapierichtlinien hatte es ursprünglich die Idee gegeben, den Klienten solche Fragebogen standardmäßig in regelmäßigen Abständen vorlegen zu lassen. Willutzki  Das ist aus Datenschutzgründen wieder gestrichen worden. Das war eine Idee der Krankenkassen. Unabhängig vom methodischen Vorgehen: Die Rückmeldungen hätten ja eine vermutlich große Bedeutung auch für die Beziehungsgestaltung. Willutzki  Ehrlich gesagt, ich verstehe gar nicht, wie man das nicht machen kann. Es passiert aber oft nicht. Strauss  Wenn ich mal an die klassische analytische und tiefenpsychologische Therapie denke, dann sagt man da nach fünfzig Minuten: »Jetzt ist die Stunde zu Ende, wir sehen uns nächsten Mittwoch um die gleiche Zeit wieder.« Man sagt nicht: »Sagen Sie mir noch kurz, wie es Ihnen jetzt geht und was für Sie heute wichtig war.« 76

Was wirkt wann, wie und warum?

Willutzki  Auch viele andere Therapeuten machen es nicht, weil sie eben nicht hören wollen, dass jemand sagt, das habe ihm heute nichts gebracht. Oder jedenfalls weiß er nicht, was es ihm gebracht haben soll, denn man kann es ja fachlich anders bewerten. Strauss  Dieses generelle Problem kommt natürlich noch dazu, dass negative Aspekte des Systems so wenig beleuchtet werden. Ein therapeutisch erfahrener Klient würde vielleicht auch antworten: »Warum ist Ihnen das jetzt wichtig, dass ich das sage?« Strauss  Weil ich ein Interesse an Ihnen als Person habe. Die Vorgabe der Abstinenz, wie sie insbesondere für die psychoanalytische Therapie gilt, geriete dann aber schon ins Wanken. Strauss  Nein, ich denke, auch Psychoanalytiker würden heute deutlich zeigen, dass sie sich für den Patienten interessieren. Lassen Sie mich aber noch mal auf den Punkt fokussieren, dass auch ein solcher Fragebogen die Nachwirkung nicht messen kann. Wo existiert denn der Standort, von dem aus man das sehen und messen kann? Willutzki  Da spielt die Frage eine Rolle, welches Veränderungsmodell man hat. Wir wissen aus der Psychotherapieforschung, dass Kleinvieh auch Mist macht, dass sich das Eichhörnchen ernährt, auch wenn es mühsam ist. Außerdem gibt es kontinuierliche und diskontinuierliche Verläufe. Strauss  Man ist sich, glaube ich, darüber einig, dass verschiedene Ebenen von Therapieergebnissen unterschieden werden müssen. Wir arbeiten in der Forschung oft mit einem Phasenmodell der psychotherapeutischen Veränderung, das besagt: Zuerst erfolgt eine Remoralisierung, das heißt, der Patient schöpft wieder Wirkung messen und beweisen

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Hoffnung, nachdem er demoralisiert war. Das zeigt sich messbar am ehesten am Wohlbefinden. Man kann allein schon oft beobachten, dass Patienten, die einen Termin beim Therapeuten haben, in der Zeit bis zur Inanspruchnahme des Termins eine deutliche Verbesserung der Befindlichkeit und manchmal sogar der Symptomatik zeigen. Erklärbar wird das durch die Tatsache, dass da etwas passiert, es tut sich etwas bei meinem Versuch, meine Lage zu verbessern, ich schöpfe Hoffnung. Die zweite Phase ist die der Remediation, das heißt, der Behandelte baut seine Symptomatik ab, es findet eine Genese auf der Symptomebene statt. Das dauert oft länger und ist ein verzögerter Verlauf, es geht aber manchmal auch ziemlich schnell. Die dritte Phase wäre dann die der Rehabilitation, was bedeutet, dass ein Patient langsam anfängt, in seinen Lebensbereichen wie Familie, Beruf, Partnerschaft wieder besser zurechtzukommen und weniger Konflikte zu haben. Das dauert nachweislich noch länger, weil dies manchmal eine Strukturveränderung voraussetzt. Solche Veränderungen treten oft erst im Nachhinein zutage, also auch nach Ende einer Therapie, sofern es sich um eine Kurzzeittherapie handelt. Es kann natürlich durchaus sein, dass eine Rehabilitation vielleicht erst ein oder zwei Jahre später eintritt, und zwar – da wird es dann kompliziert – auch befördert durch andere Einflüsse. Wir nehmen ja leicht eine etwas narzisstische Sicht ein, dass die Psychotherapie alles bewirke, aber es gibt noch ganz viele andere Einflüsse im Leben eines Menschen, die möglicherweise zumindest auch heilsame Wirkungen haben. Dies ist Teil der Frage, auf welcher Ebene man psychotherapeutischen Erfolg definiert, und entsprechend muss man mit Geduld an die Sache herangehen. Alles in allem: In irgendeiner Form sollte man Rückmeldungen erfassen, sonst interpretiert man in seinen Patienten etwas hinein, was möglicherweise überhaupt nicht der Realität entspricht, sondern eher der eigenen Wunscherwartung. Das wäre eine problematische Haltung. 78

Was wirkt wann, wie und warum?

Willutzki  Außerdem ist unsere Profession ein Dienstleistungsgewerbe. Strauss Ich habe vor langer Zeit mal in einer psychothera­ peutischen Klinik gearbeitet und dort versucht einzuführen, dass Patientinnen und Patienten nach jeder Gruppentherapiestunde Fragebogen ausfüllen sollten. Monatelang habe ich gegen Widerstände angekämpft, weil erst mal die üblichen Argumente kamen: Das verändere oder störe den Prozess. Das ist ziemlich absurd, denn gerade während der analytischen Ausbildung rennen die Kandidaten ständig zu irgendwelchen Supervisoren und Kontrollanalytikern, mit denen sie – oft ohne Wissen des Patienten – ihr Vorgehen klären, aber dies wurde nie als Problem einer »Prozessstörung« gesehen. Solche Fragebogen hingegen schon. Als wir es dann endlich geschafft hatten, das einzuführen, haben die Patienten gesagt: »Endlich nimmt uns jemand ernst.« Die haben das wirklich als Wertschätzung erlebt. Das unterstreicht noch mal den Dienstleistungsaspekt unserer Arbeit. Die Menschen kommen zu uns, weil sie Hilfe haben wollen. Darum geht es. Bei all den Einschränkungen, über die wir nun gesprochen haben: Muss man denn eigentlich den wissenschaftlichen Anspruch der Psychotherapie immer noch hochhalten? Willutzki  Natürlich, aber was heißt denn »wissenschaftlich«? Darüber müsste man vielleicht mal reden, das ist ja eine sehr große Frage, die innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde auch noch mal anders und differenzierter diskutiert wird als beispielsweise dort, wo wissenschaftliche Argumentationsfiguren politisch genutzt werden, um bestimmte Interessen durchzusetzen. Wenn man versucht, die Essentials rauszuarbeiten, bleibt für »wissenschaftlich« vermutlich etwas übrig wie systematisch, explizierbar, theoriegeleitet oder theorieorientiert. Zunächst bedeutet es einmal, sich jenseits der eigenen EinWirkung messen und beweisen

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drücke zu öffnen für Rückmeldungen aus anderen Perspektiven, insbesondere der der Patienten. Strauss  Mit der Gefahr, dass man keineswegs alles bestätigt bekommt, was man gerne erreicht hätte. Willutzki  Ja, es geht darum, Immunisierungstendenzen gegenüber vorsichtig zu sein. Und da kann man ja auch post hoc noch einiges machen. Mir fällt das Beispiel einer Gruppentherapiestudie ein: achtzig Stunden Gruppentherapie bei Adipositas, inklusive Katamnese, direktes empirisches Ergebnis am Ende der Therapie: 2,3 Kilogramm Gewichtsabnahme. Die Katamnese ein halbes Jahr nach der Therapie ergibt, dass fast alle wieder zugenommen haben. Die Schlussfolgerung der Autoren lautete: lebenslange Gruppentherapie bei Adipositas. So kann man sich natürlich auch abschotten … Ich gebe zu, die Studie ist schon ein bisschen her, aber das zeigt dieses Dilemma deutlich auf: Was ist klinisch relevant, was ist das Verhältnis zwischen Aufwand und Wirkung, wie vergleicht man sich mit anderen? Strauss Es kommt noch hinzu, dass es nicht allein um die Bereitschaft geht, sich den Spiegel vorhalten zu lassen mit der Gefahr, dass man jemand anderes darin sieht, als man selbst gerne sehen würde. Es ist ein ganz wichtiger und mächtiger Schritt, sich dann mit problematischen Verläufen auch wirklich auseinanderzusetzen. Bis heute gibt es eine lange Tradition, sich hinzustellen und zu behaupten, wenn eine Therapie nicht gut gelaufen sei, habe es am Patienten gelegen. Dann hat dieser Mensch eine sehr schwere Störung gehabt oder sonstige Defizite. Kaum aber wird mal darüber nachgedacht, was denn vielleicht wir als Therapeuten falsch gemacht haben könnten. Eventuell ist mein Fallkonzept für diesen Patienten völlig unpassend gewesen. Ich glaube, es gibt da noch ein Grundproblem: Die wenigsten, die in die Psychotherapie kommen, haben ja wirklich eine genauere, plastische Vorstellung davon, was da eigentlich mit ihnen passiert. 80

Was wirkt wann, wie und warum?

Strauss Richtig. Willutzki  Müssen sie ja auch nicht. Bei einer Dienstleistung würde ich durchaus sagen: Ich will wissen, was da mit mir passiert. Willutzki  Die meisten Menschen, die kommen, würden schon sagen, Psychotherapie sei ein Teil des medizinischen Systems und nach der Therapie solle es ihnen besser gehen. Wie das dann genau läuft … ist das wirklich so wichtig? Strauss  Ja, so allgemein schon, aber was die Therapeuten mit ihnen machen, das ist ja in der Tat oft nicht so klar und auch ein gewisser Zufall. Wenn ich mir einen Therapeuten suche, indem ich mir das Branchenverzeichnis nehme und mich durchtelefoniere, dann hoffe ich lediglich, dass ich irgendwo unterkomme und einen Termin erhalte. Werde ich irgendwo angenommen, dann nehme ich den Termin dankend wahr und frage erst mal gar nicht, ob das ein Verhaltenstherapeut ist oder ein Tiefenpsychologe oder sonst wer. Ist das jetzt ein schlecht informierter oder ein durchschnittlicher Klient? Willutzki  Es stimmt schon, Laien können die Therapierichtungen oft kaum unterscheiden und verfügen kaum mal über Kriterien dafür, welchen Therapeuten sie wollen, wie sie den inhaltlich und fachlich auswählen sollen. Strauss  Befragt man Patientinnen und Patienten nach Therapien, in welcher Art von Psychotherapie sie waren, dann antworten die meisten: »Bei Herrn Dr. XY.« Nächste Frage: Was hat der denn gemacht? »Na, eine Gesprächstherapie.« Das ist das, was hängen bleibt. Aber was sich tatsächlich dahinter verbirgt, weiß der Laie oft nicht, obwohl das ja eigentlich ganz entscheidende Fragen sind: Was will ich, was kann ich erreichen und mit welWirkung messen und beweisen

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chen Mitteln erreiche ich es am besten? Das ist für den Patienten relativ unklar. Wenn der Therapeut wirklich gut ist, dann handelt der das Vorgehen mit dem Patienten aus. Willutzki  Das Patientenrechtegesetz erfordert eigentlich eine Aufklärung darüber. Wenn ich als Patient allerdings kein Raster habe, um Dinge einordnen zu können, nutzt mir auch das relativ wenig. Wenn der Klient der Nutzer einer Dienstleistung ist, wäre es da nicht konsequent, dass er auch den Rahmen bestimmt? Dann sagt er: »Ich habe dieses Problem, das mich schwer belastet, ich will das in dreißig Sitzungen bearbeitet haben.« Dann müsste ein Psychoanalytiker beispielsweise antworten: »Das ist Ihr gutes Recht, aber dann sind Sie bei mir falsch, denn ich bin Experte für andere Probleme mit längerer Therapiedauer.« Der Verhaltenstherapeut hingegen sagt sich: Na ja, dreißig Stunden, ich versuche es mal. Strauss  »Ach was«, sagt der, »das schaffe ich in der halben Zeit, machen Sie sich keine Sorgen!« Willutzki »Eine Angststörung haue ich in sieben Stunden weg.« Angeblich gibt es Supervisoren, die so etwas zu den Ausbildungskandidaten sagen. Nein, aber mal ernsthaft: Jemand, der eine klassische Psychoanalyse aufnimmt, weiß wahrscheinlich vorher ungefähr, worauf er sich einlässt, sonst kommt er nicht darauf. Viele Leute können das ja zudem auch gar nicht einhalten, dreimal pro Woche einen solchen Termin wahrzunehmen, das ist völlig absurd. Für eine Psychoanalyse entscheidet man sich bewusst und weiß, was man will. Bei den anderen Therapierichtungen ist es anders. Strauss  Ja, das ist schon ein Sonderfall, denke ich auch. Die eher zeitlich begrenzten Therapien in der Verhaltenstherapie, in der Tiefenpsychologie und so weiter sind aber schon auch sehr unterschiedlich lang. Willutzki  Klar, ob achtzig oder hundertfünfzig Stunden, das macht schon einen Unterschied. 82

Was wirkt wann, wie und warum?

Zu den psychoanalytischen Behandlungsplätzen muss man zudem sagen, dass die Therapeuten ja vorrangig die Leute »behandeln«, die selbst in einer psychotherapeutischen Ausbildung sind. Das macht bei denen mehr als die Hälfte der Therapien aus, die haben ansonsten gar keine hohe Kapazität. Strauss  Der Anteil der Psychoanalysen oder analytischen Therapien an den gesamten Therapien im System der gesetzlichen Krankenversicherung ist sehr gering. Willutzki  Das ist jedenfalls nicht der Standardfall. Strauss Es gibt natürlich Indikationen, die für eine Psychoanalyse sprechen, sofern der Patient das auch mitmacht und das will. In jedem Fall aber ist es sinnvoll, das Wie der Therapie zu erklären: Worauf legt man Wert, was erwartet den Patienten, wenn er in so eine Therapie geht, was können problematische Seiten werden? Das fordert das Aufklärungsgesetz, dass man Patienten darauf hinweist, dass es ihnen zwischenzeitlich schlecht gehen kann und dass möglicherweise sogar neue Krisen auftreten können. Ich weiß nicht, ob das in niedergelassenen Praxen wirklich so umfassend gemacht wird. Willutzki  Das glaube ich nicht, obwohl das jetzt erforderlich ist und in den Sprechstunden auch gemacht werden muss. Ein anderer Aspekt ist, dass Psychotherapie natürlich einerseits ein Dienstleistungsangebot ist, andererseits ist es allerdings ein ungewöhnliches Dienstleistungsangebot, denn der Erfolg hängt nicht unwesentlich davon ab, was die Person selbst tut und aufgreift, wie stark sie sich auf den Prozess einlässt. Es wird ja nichts mit einem »gemacht« in diesem Sinn. Beim Chirurgen lege ich mich hin und der schneidet mich und operiert mich, während es in der Psychotherapie vor allen Dingen um die Prozesse geht, die zwischen den Sitzungen ablaufen. Dafür muss man viele Menschen ja erst mal sozialisieren. Vom Arzt erwarten wir, dass der etwas mit uns macht. Das können wir ja so gar nicht. Insofern müssen wir den Patienten erst mal helfen, sich so zu verhalten, dass das Angebot auch nützlich sein kann. Wirkung messen und beweisen

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Ilka Quindeau und Wolfgang Schmidbauer haben im Gespräch mit mir gesagt, es sei schon letztlich eine Verführungssituation, die beim Psychotherapieangebot vorliege. Therapeuten müssten die Klienten erst zu etwas verführen, damit sie sich auf das Angebot einlassen könnten. Willutzki  Oder anders gesagt: Wir müssen jene Anteile von ihnen aktivieren, die nötig sind, damit sie vom Angebot profitieren können. Strauss  Wobei ich »Verführung« eine gute Metapher finde, was aber eben auch impliziert, dass sich manche Patienten nicht verführen lassen. Daraus müssen wir dann auch die Konsequenzen ziehen. Da passt das Setting nicht? Strauss  Ja. Es gibt eine Statistik der Techniker Krankenkasse, die zeigt, dass man, wenn man im Ruhrgebiet depressiv wird, mit einer extrem hohen Wahrscheinlichkeit bei einem Verhaltenstherapeuten landet. Wenn man dagegen am Starnberger See depressiv wird, da hat man eine ebenso hohe Wahrscheinlichkeit, bei einem Analytiker zu landen. Das sind eben diese Zufälle, die nicht indikationsabhängig sind. Es gibt große regionale Unterschiede, und die Gründe dafür liegen weit weg von der wirklichen Indikationsstellung, dass ein Verfahren für den Patienten X das richtige ist. Nach meiner Erfahrung passiert es relativ selten, dass sich Therapeuten, wenn sie merken, dass ein Therapieprozess nicht gut verläuft, die Frage stellen, ob der Klient wirklich richtig bei ihnen ist und ob sie den nicht vielleicht besser zu einem Kollegen überweisen sollten. Willutzki  Das liegt natürlich wieder mal daran, dass es sehr schwer ist, irgendwie fundierte differenzielle Indikationsaussagen zu machen, ich hatte schon auf die Kiesler-Untersuchungen verwiesen. 84

Was wirkt wann, wie und warum?

Strauss Wenn wir aber das ernst nehmen, was schon zum Thema »Passung« gesagt wurde, dann sollte eine Differenzialindikation schon möglich sein. Willutzki Aber natürlich, wenn jemand erkennt, dass die Patientenpräferenzen und das, was er als Angebot machen kann, überhaupt nicht zusammenpassen, dann könnten Therapeuten getrost auch mal sagen: »Woanders sind Sie wahrscheinlich besser aufgehoben.« Strauss  Man weiß eigentlich auch von sich, jedenfalls mit ein bisschen Erfahrung, dass es bestimmte Patienten gibt, mit denen man einfach nicht »kann«. Willutzki  Das ist schon ein Problem, ja. Wenn Psychotherapie nicht funktioniert, dann neigen Therapeuten dazu, einfach weiterzumachen, weil sie den inneren Druck haben, sie müssten doch helfen. Man könnte auch sagen: »Vielleicht gehen Sie besser zu jemand anderes, ich nenne Ihnen einen Kollegen, bei dem haben Sie vielleicht eine Chance, dass er nicht mit denselben blinden Flecken da rangeht wie ich.« Ja, man muss es dem Klienten ja auch vermitteln, damit der sich nicht weggeschickt fühlt. Willutzki  Das kann man aber. Strauss  Ich bin gerade noch mal ein später Vater geworden und hatte einen Patienten, der seine eigene kleine Tochter massiv missbraucht hatte und der sich auf Empfehlung seines Anwalts an mich wandte, damit ich ihn psychotherapeutisch unterstütze. Dem musste ich sagen: »Ich kann das nicht, denn dabei fällt mir immer meine eigene kleine Tochter ein. Ich kann Sie nicht in Therapie nehmen, es tut mir leid.« Das hat er auch verstanden. Das ist so ein offenkundiger Grund, warum man einen Patienten auch mal nicht nehmen darf. Es gibt natürlich oftmals sehr viel subtilere Gründe, warum man mit bestimmten Patienten nicht so gut zurechtkommt. Das kann sehr persönlich sein und Wirkung messen und beweisen

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man will das dann vielleicht auch nicht sagen. Ich finde aber, da muss man irgendeinen Weg finden, damit man es sich selbst eingestehen kann. Willutzki  Wir müssen auch daran denken, was eine Psychotherapie für die Patientinnen und Patienten bedeutet. Für uns ist das vielleicht eine Stunde pro Woche, für den Patienten bedeutet es schlimmstenfalls, dass ein Jahr lang oder auch länger keine wirkliche Veränderung eintritt, sich all seine Mühen mit sich selbst nicht positiv auswirken, und zwar obwohl es auch anders laufen könnte. Aber Therapeuten und Therapeutinnen lieben das nicht gerade, sie erleben das oft als Scheitern. Strauss  Therapeuten lieben das nicht und denken entsprechend auch wenig darüber nach, weil sie einfach so eine bestimmte Vorstellung von Wichtigkeit und Verpflichtung empfinden. Willutzki  Ja, aber das ist eben keine Fehlerfreundlichkeit. Und, wie Sie schon sagten, es ist immer auch die Frage, wie wir es dem Patienten gegenüber formulieren, damit wir das nicht auf den Patienten attribuieren. Das zu vermitteln und wie genau das gehen kann, halte ich für eine wichtige Aufgabe in der Ausbildung von Psychotherapeutinnen und -therapeuten.

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Was wirkt wann, wie und warum?

Die Wertigkeit der Allgemeinen Wirkfaktoren

Ich möchte noch einmal die Allgemeinen Wirkfaktoren aufgreifen. Wie wirken die eigentlich zusammen, denn strikt zu trennen sind sie ja nur analytisch, praktisch aber hängen sie eng zusammen. Willutzki  Ich bin natürlich voreingenommen, aber ich würde bei der Aufzählung selbstverständlich bei der Ressourcenorientierung anfangen, und zwar eine Ressourcenorientierung ohne Angst vor der Problemaktivierung. Damit ist man dann ganz schnell auch schon bei der Beziehungsgestaltung, also bei der Frage: Wie wohl fühlen sich beide Seiten miteinander? Deshalb ist die Beziehungsgestaltung so wichtig. Psychisch beeinträchtigte Menschen stehen oft stark unter Druck, sodass sie nicht gut spielerisch sein können, sich und Neues nicht gut ausprobieren können. In Sicherheit fällt das Experimentieren nun mal leichter. Wenn wir die Ressourcen von jemandem stark akzentuieren, können wir auch die Problemaktivierung abfedern. Und Problemaktivierung bedeutet ja keinesfalls, wie es manchmal behauptet wird, eine fortwährende Bestätigung der pathologischen Struktur. Argumentiert man zum Beispiel mit Rogers und der Selbstaktualisierungstendenz und geht davon aus, dass Menschen entwicklungsorientiert sind, dann ist die Aktualisierung der Probleme eher die Plattform, von der aus Exploration, Veränderung und Infragestellung geschehen und Neues entstehen kann. Ich möchte betonen, dass mit den Allgemeinen Wirkfaktoren noch nichts darüber ausgesagt ist, in welcher Kombination was davon zum Tragen kommt. Das ist eigentlich die interessantere und weitergehende Frage: Welche Ideen gibt es dazu, was Voraussetzung für was ist? Strauss  Ja, das muss man ja alles als einen Entwicklungsprozess sehen. Die Wertigkeit der Allgemeinen Wirkfaktoren

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Willutzki  Ja, eben, genau. Inklusive der wechselseitigen Rückkopplungen. Strauss Es gibt Momente, in denen mehr die Problemaktu­ alisierung im Zentrum steht, um besser zu verstehen, worum es eigentlich geht. Dann gibt es die Phasen, in denen Therapeuten stärker auf die Ressourcen zurückkommen müssen. Das alles ist zudem, glaube ich, auch noch hoch individuell. Wenn man die therapeutischen Beziehungsaspekte als Allgemeinen Wirkfaktor nutzt, dann greifen die natürlich auch auf alle anderen Faktoren zu: Wenn man die Problemaktualisierung auch auf der Beziehungsebene vollzieht, weil eine gute Beziehungserfahrung als Ressource genutzt werden kann, und so weiter. Das muss man therapeutisch in Einklang bringen, da existieren Wechselwirkungen zwischen den Faktoren. Letztlich ist es aber vermutlich doch eine begrenzte Zahl von Faktoren, die eine besondere Rolle spielen. Willutzki  Je nach Patienten sind auch unterschiedliche Schwerpunkte nötig. Strauss  Noch etwas muss man, glaube ich, sehen: Im Endeffekt sind die sogenannten Allgemeinen Faktoren nicht so »allgemein«, denn sie müssen für den jeweiligen Patienten »spezifisch« gemacht werden. Patienten und Patientinnen haben spezifische und höchst individuelle Probleme und Ressourcen, die es zu aktivieren gilt, sie haben eine ganz unterschiedliche Grundlage für eine motivationale Klärung und sie haben vor allem extrem unterschiedliche Beziehungsvorerfahrungen. Die Ressourcenorientierung verlagert die Blickrichtung tendenziell weg von den Problemen und den Defiziten hin zu den Fähigkeiten der Klientinnen und Klienten. Wäre dann nicht eine konsequente Ressourcendiagnostik richtiger? Oder anders: Brauchen wir noch Diagnosen? 88

Was wirkt wann, wie und warum?

Willutzki  Die Diagnosestellung ist gerade im systemischen Kontext immer wieder infrage gestellt worden wegen der mit ihr verbundenen Gefahr der Reifizierung beziehungsweise Festschreibung von doch sehr fluiden und vor allem sprachlich repräsentierten Problemkonstellationen. Die Frage »Soll man diagnostizieren oder nicht?« kann man aber nicht polarisieren und dann beide Seiten gegeneinander ausspielen, sondern es existieren unterschiedliche Möglichkeiten. Wenn man kritisch drangeht und sagt, Symptome seien Ausdruck dysfunktionaler Systemmuster, dann kann man natürlich nicht auf die Symptome fokussieren, weil man dann unentwegt auf der Problemebene stecken bleibt. Ganz pragmatisch relevant wird dies im familienthera­ peutischen Kontext. Warum geht man da konsequent auf die Ressourcenaktivierung zu? Weil man gar keine Zeit hätte, Problemanalysen für alle Beteiligten durchzuführen. Die Möglichkeit besteht gar nicht. Nicht einmal eine Kombination von Problem- und Ressourcenanalyse ist da möglich, denn der Handlungsdruck in diesem komplexen sozialen Feld ist groß, sodass man mit dem gehen muss, was funktioniert, und nicht mit dem, was nicht funktioniert. Deswegen sind in der Familientherapie auch nicht die besseren Therapeuten unterwegs, bloß weil sie eben die Ressourcenorientierung immer schon höhergehängt haben. Wenn die vorrangig mit allen darüber sprechen würden, welche negativen Bilder alle Familienmitglieder voneinander haben, dann würden ihnen die Therapiesitzungen um die Ohren fliegen. Allerdings zu behaupten, man habe keine diagnostischen Muster im Kopf, sehe keine Konstellationen oder Syndrome, ist auch albern. Strauss  Ressourcenaktivierung ist natürlich ohnehin vielfältig. Ich würde mal sagen, dass das Grundprinzip der Ressourcenaktivierung darin besteht, dass man für den Patienten die geeignete Therapiemethode findet, weil man dann seine ResDie Wertigkeit der Allgemeinen Wirkfaktoren

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sourcen am besten nutzen kann. Ein lang anhaltender psychoanalytischer Prozess ist wahrscheinlich nur für Patienten gut, die die Ressource oder zumindest das Potenzial haben, selbstreflexiv zu sein, oder zumindest die Motivation dazu mitbringen, über Selbstreflexion eine Veränderung herbeizuführen. Das ist eine Ressource, die nicht jeder hat. Willutzki  Man muss da genau hinsehen, ja. Ressourcenorien­ tierung heißt auch Patientenzentrierung, was ich nach wie vor unterentwickelt finde. Einfach nur zu sagen, die therapeutische Beziehung ist die Ressource, die durch die Therapeuten hinzukommt, das ist dann auch zu platt, das ist ein feiner Rückzug. Man muss auch ein Fallkonzept haben vom Patienten beziehungsweise der Patientin, um Ressourcen identifizieren zu können in irgendeiner Weise, also nicht nur ein Problemkonzept, sondern eben auch ein Ressourcenkonzept. Wir müssen darüber nachdenken, wo die Ressourcen des Patienten, der Patientin liegen, die uns ja erst einmal nichts als Probleme schildern. Da wären wir wieder bei der Reaktionsbereitschaft der Person: Wozu neigt sie? Was kann sie gut integrieren? Wo sind ihre nützlichen Routinen und Automatismen? Strauss  Das gehört zu einer guten Indikation dazu. Willutzki  Genau. Wo sind die Stärken und wie kann ich die aufgreifen? Wie kann ich für diese Person mit ihren Voraussetzungen einen Rahmen schaffen, in dem sie sich entwickeln kann, und nicht nur zu fragen, wo liegen die Probleme? Ein Fallkonzept, auch bezüglich der Ressourcen, finde ich total wichtig. In Deutschland ist es ja ein bisschen so, dass man Methoden anwendet oder ein Manual durchführt, insbesondere im verhaltenstherapeutischen Kontext. In England wird das ganz anders gemacht. Dort heißt es: Du musst eine Idee dazu entwickeln, wie jemand funktioniert, um dann daran ansetzen zu können. Strauss  Das ist ja eigentlich auch der Anspruch der Tiefenpsychologen, nämlich eine Fallkonzeption auf der Basis der 90

Was wirkt wann, wie und warum?

Vorerfahrungen, unbewusster Konflikte, struktureller Merkmale und verinnerlichter Beziehungsmuster zu entwickeln, die aber dann den Patienten transparent gemacht werden müssen. Willutzki  Die Engländer lachen immer über die Deutschen mit ihren Manualen, die dezidiert vorgeben, in welcher Stunde man was zu tun hat. Die wundern sich immer nur über unser störungsspezifisches Denken. Mir fällt da eine Äußerung von David M. Clark ein, einem sehr einflussreichen englischen Kollegen, der auch in Deutschland breit rezipierte Studien veröffentlicht hat, zum Beispiel 2001 zur sozialen Angststörung. Er hat einmal gesagt, eigentlich könne man störungsspezifische, manualorientierte Buchreihen, wie sie in deutschen Fachverlagen so üblich und erfolgreich sind und wie sie, auch unter seiner Beteiligung zusammen mit Ulrich Stangier, bei uns erschienen sind, gar nicht machen, weil das der individuellen Person, die da vor einem sitzt, gar nicht gerecht wird. Das ist ja ein Arbeiten mit Schablonen. Wenn Sie die Wirkfaktoren in eine Hierarchie bringen müssten, ist dann die Ressourcenorientierung der wichtigste? Willutzki  Sagen wir anders: Ohne sie geht’s nicht. Strauss  Das denke ich auch, aber die Ressourcen können ganz unterschiedliche sein. Willutzki  Ja, man muss darunter nicht ganz bestimmte methodische Verfahren verstehen, sondern man kann sie auch auf der Prozessebene ansiedeln oder auf der inhaltlichen Ebene aktivieren. Man kann über die therapeutische Beziehung als zusätzliche Ressource arbeiten, man kann über Einbeziehung von Angehörigen arbeiten – das kann ganz unterschiedliche Formen annehmen. Wenn ein Patient nicht sagt, er fühle sich in der Therapie wohl oder aufgehoben oder könne sich entspannen, dann wäre das ganz schlecht fürs Lernen. Strauss  Aber wenn jemand nur sagt, er könne sich entspannen … Die Wertigkeit der Allgemeinen Wirkfaktoren

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Willutzki  Nein, das ist natürlich auch zu wenig. Aber wenn sich jemand nicht entspannen kann, dann kann auch nicht gut Neues entstehen. Die Ressourcenorientierung trägt sehr viel zur Öffnungsbereitschaft oder Aufnahmebereitschaft bei, wenn man mal auf das generische Psychotherapiemodell von David E. Orlinsky und Kenneth I. Howard zurückgreift. Im Systemischen würde man sagen, man müsste versuchen, ein Yes-Set zu etablieren, jemand muss zustimmend nicken. Wenn jemand nicht so gestimmt ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Veränderndes reinkommt ins System, nicht so groß. Strauss  Es ist ja modern, heute auch die Psychotherapie bin­ dungs­theoretisch zu formulieren. Da gehört dann beides dazu: Bindung und Exploration. Der Therapeut muss den Patienten in den Zustand versetzen, dass er sich sicher fühlt und entspannen kann, wie es in dem Bild vom sicheren Hafen ausgedrückt wird. Wenn er dieses Gefühl nicht hat, kann er auch nicht in den Zustand der positiven Aktivierung kommen. Für die Exploration sollte er seine vorhandenen Ressourcen abrufen können. John Bowlby hat ein Modell entwickelt, in dem man diese ganzen Faktoren gut unterbringen kann. Also, man muss von der guten Beziehung, der sicheren Basis aus die Probleme aktualisieren und explorieren, Lösungen erproben und mit der Nutzung der eigenen Ressourcen dann ein Stück weiterkommen.

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Was wirkt wann, wie und warum?

SICH BEGEGNEN IN DER THERAPEUT-KLIENT-BEZIEHUNG

»Wenn es gelingt, die Sichere-Basis-Funktion in der Therapie zu übernehmen und in den r­ ichtigen Momenten einzusetzen, dann kommt man w ­ ahrscheinlich dazu, dass Exploration stattfinden kann und Veränderung dadurch möglich wird.« Bernhard Strauß

Selbstzweifel von Psychotherapeuten

Wie erleben Sie junge und angehende Therapeutinnen und Therapeuten, wenn denen so nach und nach bewusst wird, dass über die Art, wie sie wirken und was sie bewirken, eigentlich vieles unklar ist? Gibt es da große Verunsicherung? Willutzki  Ja, klar. Kompetenzzweifel und Kompetenzirritationen sind natürlich bis hin zum Praxisschock ganz normal. Ich finde es deshalb auch ganz nützlich, mit entwicklungsorientierten Supervisionsmodellen zu arbeiten. Das bedeutet, davon auszugehen, dass es unterschiedliche Stadien auch in der Psychotherapeutenentwicklung gibt. Als beginnende Psychothera­ peutin hat man eben eher selbstzentrierte Kriterien: Wie »überlebe« ich eigentlich, wie bringe ich so eine Stunde hinter mich, wie erfülle ich Erwartungen? Wenn darin eine gewisse Routine herrscht, dann hebt sich der Blick und wir sehen die Landschaft vor uns, sprich meine Patientin oder meinen Patienten. Dann erkenne ich, dass die vielleicht angesichts meiner wunderbar memorierten Zugänge den Kopf schütteln oder die Stirn runzeln, und mache mir Gedanken darüber, wie passt das jetzt eigentlich, war das nicht Unsinn, was ich da gerade eingebracht habe? In dieser Phase gibt es das Problem, dass ich mich manchmal zu sehr anstecken lasse von der Befindlichkeit meiner Patientin oder meines Patienten. Wenn jemand beispielsweise in einer Woche schlecht drauf ist, dann stelle auch ich mich als Therapeutin vollständig infrage. Ich setze vielleicht Himmel und Hölle in Bewegung, gehe in die Supervision, lese Bücher, frage Kollegen und Kolleginnen, entwickle ein neues, vermeintlich dann besseres Vorgehen. Nach einer Woche kommt die Person wieder und sagt: »Ach, meinen Sie? Nee, wir können gut so weitermachen, letzte Woche 96

Sich begegnen in der Therapeut-Klient-Beziehung

war ich nicht so gut drauf, aber das ist nicht so wichtig«, dann bin ich selbst auch wahnsinnig erleichtert und gleichzeitig ein bisschen frustriert, weil ich mich doch so gut anderweitig vorbereitet habe. Diese emotionale Ansteckung passiert Therapeuten in der Mittelphase ihrer Entwicklung, wie sie zum Beispiel von Cal D. Stoltenberg und Ursula Delworth als »Pubertät« von Therapeutinnen und Therapeuten beschrieben wird. Die Balance zwischen Selbst- und Patientenorientierung muss sich im Laufe der Zeit erst entwickeln. Man muss sich als Therapeutin immer wieder dezentrieren oder distanzieren können, um die Schwächen der beiden Perspektiven ausbalancieren zu können. Strauss Ich habe am Wochenende ein Seminar gehalten zu psychodynamischen Gruppen mit jungen Ausbildungskandidaten, die ja in der Regel die Erfahrung machen, dass sie als »Psychotherapeuten in Ausbildung« in irgendwelchen Kliniken landen und dort vor Gruppen gesetzt werden, ohne dass sie darauf jemals vorbereitet worden sind, geschweige denn angeleitet wurden. Das ist oftmals eine geradezu traumatische Erfahrung. In unserem Institut in Erfurt ist es so, dass ich in der vertieften Ausbildung als Pflichtmodul einen Theorieblock zur Gruppentherapie anbiete. Da habe ich versucht, denen ein vielleicht etwas elaboriertes Konzept davon zu vermitteln, was man denn eigentlich als psychodynamischer Gruppentherapeut macht. Darauf kann es zwei extreme Reaktionen geben. Manche sagen: »So eine Scheiße, hätte ich das doch früher gewusst.« Andere sagen: »Gott sei Dank habe ich das nicht gewusst.« Das ist symptomatisch dafür, wie unterschiedlich Menschen »ticken«, die Psychotherapie lernen. Ich glaube, es gibt tatsächlich die, die verzweifeln angesichts der Komplexität. Es gibt andere, die scheren sich nicht sonderlich darum – merken es erst später und verzweifeln dann. Da gibt es wirklich sehr unterschiedliche Typen zwischen diesen beiden Polen. Selbstzweifel von Psychotherapeuten

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Willutzki  Es gibt diese Kolleginnen und Kollegen in der Psychotherapieausbildung, die am liebsten als Mittel gegen ihre Unsicherheit die ganze Theorie vorher hätten. Aber es geht in der therapeutischen Entwicklung um die sukzessive Mischung und Verzahnung von Wissen und Handeln, denn in der konkreten Umsetzung mit dem Patienten nützt einem oft all das theoretische Wissen nichts. Die Entwicklung findet in Stufen statt. Manches, was man als junger Therapeut oder Therapeutin theoretisch hört, hört man später ganz anders. So ist das mit der Kompetenzentwicklung. Wir sind ja keine Trichter, in die man alles reinkippt, und dann kommt das Richtige dabei heraus, sondern wir befinden uns stets in diesem Wechselspiel von Erfahrung und Reflexion. Wie lauten Ihre Tipps, wenn junge Therapeuten den Eindruck haben, bei einem Klienten nicht voranzukommen, nichts zu bewirken? Strauss  Ich würde da zuerst mal den Patienten fragen, ob der das genauso sieht, und bei einer negativen Rückmeldung mit dem Patienten gemeinsam überlegen, ob die momentane Strategie die richtige ist oder eher nicht. Willutzki  Ich finde für solche Situationen nach wie vor das Modell vom Frederick H. Kanfer, Hans Reinecker und Dieter Schmelzer nützlich. Sie haben ein Phasenmodell des Verlaufs von Psychotherapien entwickelt, nach dem Psychotherapeutinnen jeweils Zwischenziele erreichen müssen, die die Voraussetzungen für die nächsten Schritte schaffen. Zunächst geht es darum, dass eine Arbeitsbeziehung entstehen muss und eine gewisse Anspannungsreduktion bei den Patientinnen und Patienten erreicht wird, sie ankommen, vertrauen und sich verstanden fühlen. Hierauf aufbauend geht es dann um die Klärung von Zielen: Was sind wirklich Ziele, mit denen die Person in Kontakt kommen will, die ihr eigentlich wichtig sind, die aber vielleicht im Problem lange untergegangen sind. Auf 98

Sich begegnen in der Therapeut-Klient-Beziehung

der Ebene dann zu schauen, woran will man arbeiten, wo sind sinnvolle therapeutische Ansatzpunkte – um dann einzelne Projekte anzugehen. Strauss  Das ist ein Aushandlungsprozess. Willutzki  Genau, und in diesem Prozess muss ich als Therapeutin immer im Blick behalten, ob die Voraussetzungen noch hinreichend gegeben sind. Als Bild vielleicht: Es ist ein bisschen so, wie wenn ich einen Teller auf einem Stab zum Drehen bringe, dann den nächsten und noch einen. Am Anfang versuche ich den Teller »Beziehung« aufzustellen, und zwar so, dass er sich dreht und nicht runterfällt. Dann packe ich den Teller »Änderungsmotivation« dazu. So gehe ich immer weiter. Auch wenn ich fokal an einem Teller arbeite, muss ich parallel die anderen Teller immer seitlich im Blick behalten. Wenn irgendwas runterfällt oder in Gefahr ist, dann muss ich erst mal wieder sehen, dass ich ihn aufstelle, ihn wieder in Bewegung bringe. Ich finde das Modell sehr nützlich als Heuristik, um zu schauen, dass ich, wenn etwas nicht funktioniert, auf frühere oder auf Basisaufgaben zurückkommen muss, die man vielleicht nicht mehr hinreichend im Blick hatte. Es ist trotzdem komplex genug, finde ich. Was raten Sie bei generellen Selbstzweifeln? Strauss  Ich würde generell schon sagen, dass Selbstzweifel ganz natürlich sind und in dem Prozess absolut notwendig. Es wäre schlimm, wenn man die nicht hätte. Wenn sie natürlich so persistieren, dass derjenige die Lust verliert, dann muss man mit dem Einzelnen näher ins Gespräch kommen. Das kann ja ganz viele unterschiedliche Gründe haben. Aber prinzipiell sind Selbstzweifel etwas ganz Essenzielles, glaube ich, für die Sozialisation eines Psychotherapeuten. Willutzki  Es gibt einen Schwierigkeitsfragebogen für Therapeuten, mit dem überprüft werden kann, wie die Schwierigkeiten, die die Selbstzweifel von Psychotherapeuten

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Therapeuten erleben, mit dem therapeutischen Prozess oder mit dem Therapieerfolg zusammenhängen. Helene Nissen-­Lie und ihre Kollegen haben das in Oslo beforscht und relativ erfahrene Therapeuten befragt, während wir hier Therapeuten befragt haben, die am Anfang der Ausbildung standen. Unsere Ergebnisse waren: Je mehr Zweifel, desto ungünstiger das Therapieergebnis, wie Patrizia Odyniec und Kollegen gezeigt haben. Bei der Kollegin in Oslo hieß es: Je mehr Zweifel, desto besser der Erfolg – für beides gilt dabei, dass es sich nicht um extreme Werte handelt. Das heißt, die Zweifel haben abhängig davon, wo jemand steht, eine unterschiedliche Funktion. Bei den Anfängern und Anfängerinnen ist es vielleicht so: Sie sehen dann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, also nur noch die Zweifel. Sie wirken unsicher. Dann entwickelt sich ein ungünstiger Aufschaukelungsprozess: Ihre Patienten und Patientinnen nehmen sie als unsicher, möglicherweise nicht kompetent, auf jeden Fall als nicht haltgebend wahr; dies verunsichert wiederum die Therapeutinnen noch weiter und schränkt ihre Handlungsfähigkeit weiter ein. Bei den sehr erfahrenen Therapeuten und Therapeutinnen, die in Oslo untersucht wurden, gilt dagegen eher, dass diejenigen, die auch trotz so vieler Erfahrungen Selbstzweifel zulassen, die bescheiden bleiben und offen für Veränderungen und die nicht einfach so ihren Stiefel durchziehen – bei denen sind Selbstzweifel nützlich. Zieht sich jemand selbstgewiss und selbstgefällig zurück, auch wenn die Prozesse nicht gut laufen, dann wird das irgendwann dysfunktional. Jemand aber, der gerade erst anfängt und sich bei jeder Bewegung infrage stellt, erreicht eben auch keine Sicherheit. Es gibt sie, die guten Therapeutinnen und Therapeuten, die irgendwie immer überdurchschnittliche Ergebnisse haben. Warum? Strauss  Das ist eine große Frage. Wir können keine eindeutige Antwort darauf geben, wir können nur spekulieren. Wenn man 100

Sich begegnen in der Therapeut-Klient-Beziehung

all das zusammennimmt, was wir jetzt schon besprochen haben, würde ich vermuten, dass das Personen sind, die sehr gut im individuellen Fall das Repertoire all dieser unterschiedlichen Wirkfaktoren gestalten, anwenden, kombinieren können, die zudem selbstreflexiv sind und Selbstzweifel nicht nur zulassen, sondern auch richtig einsetzen können, die also sozusagen ein Stück weit auch demütig sind. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Begriff in dem Kontext, und zwar in dem Sinne, dass sie selbst bereit sind, von einem Patienten etwas zu lernen. Es gibt nämlich andere Therapeuten, die so selbstgewiss sind, dass sie über den Patienten denken: »Du bist derjenige, dem ich etwas beibringe.« Die sind gar nicht mehr aufnahmefähig für die wichtigen Botschaften, die auch Patienten aussenden, um etwas zu korrigieren, was der Therapeut vielleicht falsch macht. Auf dieser Ebene vollzieht sich das. Deswegen ist das auch so schwer untersuchbar, denn all das ist nicht messbar, zum Beispiel an Berufsjahren, Ausbildung, Lebensalter oder so etwas, sondern das ist ein relativ komplexes intra- und interpersonales Geschehen. Das alles macht Psychotherapie aus. Willutzki  Ich finde auch noch hilfreich die Unterscheidung von Michael H. Rønnestad und Thomas Skovholt zwischen Erlebnis und Erfahrung. Ein bloßes »Erlebnis« aufseiten des Therapeuten bedeutet, dass ich in einer Sitzung oder auch regelmäßig mitbekomme, irgendwas funktioniert nicht, aber ich mache in meinem Alltag unhinterfragt weiter. »Erfahrung« heißt, dass ich mir Zeit nehme, um darüber nachzudenken und dem nachzuforschen. Ich mach mir »einen Knoten in mein Taschentuch«, denn auf dem Weg nach Hause will ich darüber noch mal nachdenken. Oder ich rede in der Intervision darüber. Aus Erfahrungen können Veränderungen entstehen, aus Erlebnissen eben nicht. Das ist ein sehr schlecht zu fassender Prozess. Das kann man, glaube ich, nur über eine entsprechende Therapeutensozialisation erzielen – und ob das dann im Einzelfall klappt, wissen wir natürlich auch wieder nicht. Selbstzweifel von Psychotherapeuten

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Gibt es einen intuitiven Faktor? Willutzki  Natürlich gibt es Talente. Strauss  Ganz klar gibt es Talente, und ganz klar gibt es auch untalentierte Therapeuten. Das ist, glaube ich, auch wirklich ein Problem der Ausbildung, dass speziell die Untalentierten nicht richtig geführt werden und sie möglicherweise sogar verhindert werden müssten. Wir beide haben vor Jahren gemeinsam ein Gutachten über die Psychotherapieausbildung erstellt und Institute befragt. Eine meiner Mitarbeiterinnen hat dann in ihrer Doktorarbeit noch so eine Unterauswertung gemacht und hat die Antworten der Institutsleiter analysiert nach der Fragestellung: »Bei wie vielen der Kandidaten denken Sie während der Ausbildung, dass die eigentlich gar nicht geeignet sind für den Job?« Von vielen wurde eine zweistellige Prozentzahl genannt, also mehr als jeder Zehnte. Also schon eine signifikante Zahl. Auf die Frage: »Was machen Sie mit denen?«, haben die meisten gesagt: »Nichts. Die lassen wir durch.« Die gehen halt ihren Weg, kriegen vielleicht mal eine kritische Rückmeldung, aber im Endeffekt gibt es keinen Mechanismus, frühzeitig zu sagen: »Lieber Herr M., liebe Frau N., Sie müssen vielleicht erst mal noch abwarten oder vielleicht sich wirklich Gedanken darüber machen, ob dieser Beruf der richtige für Sie ist.« Willutzki  Ja, aber meine Erfahrung ist auch, dass man am Anfang der Ausbildung manchmal denkt, oh, Madonna! Aber viele, viele Leute kommen trotzdem gut raus, bei denen passiert in der Ausbildungszeit viel. Strauss  Das ist die große Mittelgruppe. Es gibt aber von Anfang an einen gewissen Prozentsatz, der ist so auffällig, dass akutes Training und gute Beratung wahrscheinlich nicht viel bringen. Und das sind, ehrlich gesagt, diejenigen, die viel Mist machen. Das ist die alleroberste Spitze des Eisbergs von denen, die wirklich massiv dysfunktional sind, die Kunstfehler begehen, die Patienten ausnutzen und so weiter. Wir machen seit Jahren 102

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in Zusammenarbeit mit einem Verein »Ethik in der Psychotherapie«, der sehr sorgfältig Beschwerdefälle prüft, Auswertungen jener Fälle, die wirklich auf eklatante Fehler und Grenzüberschreitungen verweisen. Wir werten die Beschwerdefälle in einem regelmäßigen Abstand aus, und es ist unglaublich, was da alles passiert, wie ausgebildete Psychotherapeuten ihre Patienten emotional, sozial bis hin zu sexuell missbrauchen. Das möchte man nicht für möglich halten. Willutzki Lange Zeit und je nach Zeitgeist waren ja auch bestimmte Rollenbrüche gar keine Tabus. In den Siebziger- und Achtzigerjahren gab es beispielsweise gar kein Unrechtsbewusstsein bei sexuellen Übergriffen. Aber auch heute noch lassen sich einzelne Therapeuten von Patienten die Praxisräume streichen. Strauss  Sie lassen sich die Hunde ausführen oder die Wohnung putzen. Willutzki  Oder lassen sich regelmäßig bekochen. Ein anderes Problem im Ausbildungssystem ist, dass Psychotherapeuten in der Ausbildung eigentlich Kunden sind, dass also das Ausbildungsinstitut etwas liefern muss. Strauss  Ja, es lebt von den Ausbildungskandidaten. Willutzki  Es ist sehr schwierig, nachzuweisen, dass sich jemand so deutlich gegen Absprachen und Regeln verhalten hat, um ihn dann rausschmeißen zu können. Die meisten Institute betreiben einen solchen Aufwand nicht. Und außerdem: Wenn ein Institut das öfter machen würde, würde es im Feld auch einen schlechten Ruf haben. Strauss Einen schlechten Ruf haben, weniger Zuspruch be­ kommen und damit weniger Geld verdienen. Wir haben nun die dysfunktionalen Therapeuten angesprochen, aber verraten Sie beide mir doch mal: Wie wirken denn Gurus? Strauss  Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil über den Placeboeffekt! Nicht zufällig haben wir in der Psychotherapie immer Selbstzweifel von Psychotherapeuten

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mehr Forschung zur Bedeutung der Placebowirkung. In der Psychotherapie ist das nicht neu, es wird nur inzwischen mehr fokussiert darauf, dass es natürlich auch in zwischenmenschlichen Beziehungen Placebowirkungen gibt. Man weiß ja längst aus der medizinischen Placeboforschung, wenn ein Chefarzt eine Pille verordnet, ist der Wirkungseffekt deutlich größer, als wenn sie der Medizinstudent gibt. Wenn ein Psychotherapieguru, der mit einem bestimmten Therapieverfahren assoziiert wird, Audienz hält, ist das sehr viel wirksamer, als wenn es sich um einen Ausbildungskandidaten handelt. Willutzki Das sage ich auch immer unseren Ausbildungskandidaten, wenn sie mich fragen, was ich denn anders gemacht hätte in einer Therapiesituation. Das ist nicht dasselbe. Wenn die mit fünfundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren vor dem Patienten sitzen, dann ist das etwas anderes, als wenn ich da sitze. Was bei mir funktioniert, muss bei denen noch lange nicht funktionieren. Das wäre einfach unredlich, das zu verschweigen, aber das wird oft verschwiegen. Die Gurus verschweigen das gern. Also, der Professorentitel hilft Ihnen? Strauss  Das ist gar nicht unbedingt der Professorentitel, denn der kann viel zu sehr nach Wissenschaft riechen, sondern das sind meistens andere Leute, die zu Gurus werden. Ich weiß von einem klinischen Lehrstuhl mit einer Beratungsstelle, dass da bei bestimmten Klienten sofort überlegt wird, ob der Professor die übernehmen sollte, weil absehbar ist, dass sie von einer solchen Zuweisungen beeindruckt sein werden. Oder Klienten sagen schon, sie müssten aber zum Professor, denn bei ihnen liege eine ganz besonders schwierige Erkrankung vor. Strauss  Der Placeboeffekt ist nicht zu unterschätzen. 104

Sich begegnen in der Therapeut-Klient-Beziehung

Willutzki  Nein, im Gegenteil, das ist etwas Wichtiges. Das kann man ganz systematisch einsetzen. Ich merke das schon allein, wenn ich in einem Krisengespräch dazukomme. Das Gespräch ändert sich sofort. Strauss  Ich mache alle zwei Wochen auf unserer Tagesklinik eine Chefvisite. Manche Patienten begegnen mir dabei geradezu ehrfürchtig. Wenn ich einen Satz sage, dann behalten sie den eine Woche lang im Kopf, während sie die Empfehlungen ihrer angestammten Therapeuten oft schnell wieder vergessen. Das muss man vielleicht noch viel mehr als ein positives Potenzial des Placeboeffekts nutzen. Das ist jedenfalls nicht zu unterschätzen. Ich glaube ohnehin, dass man das in Psychotherapien nur ganz schlecht trennen kann, denn die Beziehungseinflüsse haben nun mal eine gewisse Wirkung, wir sprachen ja schon darüber. Willutzki  Allein die Aufnahmebereitschaft ist sehr stark von solchen Einflüssen abhängig. Hört mir jemand aufmerksam zu oder nicht? Aber natürlich spielt das auch nicht bei jedem Patienten eine Rolle. Strauss  Außerdem wollen wir jetzt nicht verschweigen, dass es auch den Koryphäenkiller gibt.

Selbstzweifel von Psychotherapeuten

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Wirkung durch Bindung?

Welche Rolle spielt denn die Bindungskomponente? Psychotherapie als ein besonderes Bindungsverhältnis, das aber dennoch nicht die Qualität hat, die wir in Alltagsbeziehungen erwarten oder pflegen. Strauss Da gibt es viele Missverständnisse. Dieses genuine Bindungskonzept ist ein sehr spezifisches Konzept. Es ist ja nicht gleich »Beziehung«. Es ist eine spezielle Form von Beziehung zu einer Person, dem Therapeuten, von der man erwarten kann, dass sie die sichere Basisfunktion übernimmt. Dass in der Psychotherapie heute vieles mit diesem Bindungsbegriff generalisiert wird im Sinne von »eine gute Beziehung ist eine gute Bindung«, ist mit Vorsicht zu sehen. Man muss sich das sehr viel spezifischer anschauen. Da spielt eine Rolle, dass Patienten, wenn sie in Unruhe und Aufregung sind und sich »bedroht« fühlen, in ihrem Bindungssystem aktiviert sind und der Therapeut dann besonders sensibel sein muss, um das zu merken und zumindest zu versuchen, diese Funktion mit einer sensitiven Reaktion auf die Bindungswünsche zu erfüllen. Das klappt nicht immer. Es gibt sicher nicht wenige Patienten, die das dann gar nicht annehmen können. Aber die Haltung zumindest einzunehmen, es mit dieser Funktion zu versuchen, das ist, glaube ich, ganz wichtig. Es ist ebenfalls ganz wichtig, dass der Therapeut reflektiert, wie er sich optimal seinem Patienten gegenüber verhalten sollte, weil wir aus der Bindungstheorie ganz gut ableiten können, was unsere gebundenen Patienten – je nachdem, ob es eher in die vermeidende oder in die verstrickte Richtung geht – bisher oft erlebt haben. Zum Beispiel haben die Vermeidenden oftmals erlebt, dass ihr Gegenüber nicht merkt, dass es ihnen schlecht geht. Wenn man das in der Therapie wiederholt, dann haut man 106

Sich begegnen in der Therapeut-Klient-Beziehung

immer noch mal in dieselbe Kerbe. Die Verstrickten wiederum sind gewohnt, dass ihr Gegenüber eben unzuverlässig reagiert, manchmal sich darauf einlässt, manchmal aber auch nicht. Solche Grundprinzipien zu beachten halte ich für sehr, sehr hilfreich, wenn man dieses Konzept in der Psychotherapie anwendet. Daraus kann man tatsächlich zumindest ein Teilmodell der therapeutischen Beziehung ableiten. Wenn es gelingt, die Sichere-Basis-Funktion in der Therapie zu übernehmen und in den richtigen Momenten einzusetzen, dann kommt man wahrscheinlich dazu, dass Exploration stattfinden kann und Veränderung dadurch möglich wird. So würde ich das sehen. Willutzki  Ich finde es auch wichtig zu betonen, dass Bindung nicht identisch ist mit Beziehung. Sind Sie denn glücklich mit dem Begriff selbst, der ja eigentlich etwas Relationales ausdrückt? Strauss  Gemeint ist ein Motiv eines Menschen, das primäre Motiv, Bindung zu anderen zu finden. Das ist die ursprüngliche Idee. Ich hatte vor Zeiten einmal mit Gerd Rudolf aus Heidelberg eine Kontroverse, weil er diesen Begriff »Bindung« auch in der Strukturachse der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) benutzt hat und damit eigentlich eher »Objektpermanenz« meint. Aber er hat es »Bindung« genannt. Ich halte das für etwas irreführend, denn Bindung im Sinne von John Bowlby meint etwas ganz anderes. Gerd Rudolf antwortete dann aber zu Recht, das Wort »Bindung« gehöre jedem und könne von jedem benutzt werden. Aber Sie haben natürlich schon recht. Im Englischen kann man das besser differenzieren, denn da sagt man »attachment« oder aber »relationship« beziehungsweise »alliance«. Es ist eine ziemliche Katastrophe, wie im deutschen Sprachraum mit diesem Begriff umgegangen wird. Bindung spielt plötzlich überWirkung durch Bindung?

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all eine Rolle. Viele Therapeuten, wenn sie Patienten haben, die eine unsichere Bindung haben, behaupten, die hätten eine Bindungsstörung. Auch das ist etwas völlig anderes. Das ist eine klinische Diagnose, die »Bindungsstörung«. Da wäre etwas mehr Schärfe auch konzeptuell angebracht. Wenn Sie einem Klienten gegenübersitzen, dann sitzen Sie dem ja auch als Mensch gegenüber. Ist das eine Wirkkomponente, wenn Sie auch etwas von sich durchblicken lassen, das über die reine Therapeutenrolle hinausgeht? Ist es eine eigene Wirkkomponente, wenn Sie authentisch und »als Mensch« rüberkommen? Strauss  Ich würde mal ganz spontan sagen: Das ist sogar extrem wichtig. Es ist ganz problematisch, wenn wir als Therapeuten nur eine Rolle spielen und eine Maske aufsetzen, hinter der man unsere wahren Regungen nicht mehr erkennt, denn genau das hat für viele psychisch verunsicherte Menschen etwas Modellhaftes. Abstinenz um jeden Preis ist nicht das Gelbe vom Ei. Im Gegenteil, das ist wahrscheinlich sogar eher schädlich, wenn man das übertreibt. Menschliche Regungen oder Kommentierungen ganz alltäglicher Dinge sind immens wichtig im psychotherapeutischen Geschehen. Was aber natürlich nicht heißt, dass man sich durchweg so verhalten sollte, wie man es in Alltagsbeziehungen macht. Willutzki  Vor allen Dingen bedeutet das nicht, dass man eigene Bedürfnisse und Bedürftigkeiten befriedigt. Strauss  Das ist die Gefahr dabei. Willutzki  Unser Job ist einer, in dem wir nicht als die »eigentliche Person« auftreten, sondern als die »variable Person«. Wir müssen variable, zum jeweiligen Gegenüber passende Angebote machen können, das ist unsere professionelle Aufgabe. Strauss  Wenn ich vier Wochen in Urlaub gehe und mich von meinem Patienten verabschiede und der Patient fragt: »Wohin fahren Sie denn?«, und ich antworte: »Warum wollen Sie das 108

Sich begegnen in der Therapeut-Klient-Beziehung

denn wissen, warum ist das für Sie wichtig?«, dann ist das eine extrem unnatürliche Verletzung. Es ist eine therapeutische Aufgabe, persönliche Aspekte nicht völlig rauszuhalten oder sogar zu verbergen, ohne sich aber so weit einzubringen, dass es dann schon wieder grenzüberschreitend wird. Willutzki  Natürlich darf ein Therapeut in der ersten Therapiesitzung nach einem Urlaub nicht erst eine halbe Stunde lang davon erzählen, denn dann würde er dem Patienten Raum nehmen durch sein reales Selbst. Strauss Der Patient darf merken, dass der Therapeut ein erlebendes Wesen ist  – das ist, glaube ich, eine essenzielle Voraussetzung. Willutzki  Eigene Grenzen kann man schon einbringen als Therapeutin, aber mit einer Funktion, also bezogen auf das, was ein Patient oder eine Patientin primär braucht, und nicht bezogen auf mich als Therapeutin. Dafür werden wir ja auch nicht bezahlt.

Wirkung durch Bindung?

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ZUFALL UND KONTINGENZ

»Ich glaube auch, dass die sinnliche Wahrnehmung etwas Wichtiges bleiben wird. Wenn sich soziale Kontakte nur noch medial abspielen, dann ist allein das schon ein Problem.« Ulrike Willutzki

Zufallskomponenten in Ausbildung und Methodenorientierung

Sie gehen davon aus, dass die Therapierichtung, für die sich ein Ausbildungskandidat entscheidet, weniger etwas damit zu tun hat, dass er ausschließlich die fachliche Plausibilität aller Schulen abwägt, sondern mit zutiefst persönlichen Vorlieben und damit, auf welche Menschen er beispielsweise im Studium trifft. Willutzki  Das hat viel mit historischen Zufälligkeiten zu tun, nicht unbedingt mit den »zutiefst persönlichen Vorlieben« – was auch immer das ist. Strauss  Historische Zufälligkeiten in Form von Sozialisationserfahrungen. Wir haben im Kontext des Forschungsgutachtens zur Ausbildung eine kleine Studie gemacht, in der man ganz klar sieht, dass diejenigen, die an rein verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Psychologielehrstühlen studieren, sich natürlich erst mal eher für eine verhaltenstherapeutische Ausbildung entscheiden, mehr als jene, die in psychodynamischen Kontexten sozialisiert werden. Das ist natürlich fast trivial, aber nicht unwesentlich zu sehen, wenn man bedenkt, wie viele verhaltenstherapeutische Lehrstühle es an psychologischen Instituten gibt. Ich denke allerdings, dass es eine Mischung ist, die aber eben auch viele Zufälligkeiten enthält, vielfältige Sozialisationserfahrungen. Hätte ich diesen schon erwähnten Deutschlehrer nicht gehabt und wäre ich nicht auf ein humanistisches Gymnasium mit entsprechender philosophischer Vorprägung gegangen, dann wäre ich vermutlich woanders gelandet. Ich hatte diesen Kontext und eben nicht einen anderen. Willutzki  In Buenos Aires zum Beispiel entscheiden sich fast alle für die Psychoanalyse, weil es dort nichts anderes gibt. Deswegen kann man aber noch nicht sagen, die lateinamerikanischen Ver112

Zufall und Kontingenz

treter seien automatisch besser geeignet für tiefsinnige Analysen. Strauss  Auch das hat natürlich historische Gründe. Willutzki  Ja, aber für die einzelne Entscheidung ist das zufällig. Strauss Selbstverständlich gibt es zusätzlich psychologische Differenzen. Auch dazu existieren viele Studien. So sind die Lerngewohnheiten psychodynamischer Ausbildungsteilneh­ mer ganz offensichtlich andere als die von Verhaltensthera­ peuten. Ein schwedischer Kollege, Rolf Sandell, konnte in einer gemeinsamen Studie mit Bo Heffler zeigen, dass Verhaltenstherapeuten eher einen Lernstil haben, der auf das Ausprobieren von reflektierten Strategien ausgerichtet ist, während psychodynamisch orientierte Therapeuten eher abwartend beobachten und sich auf ihre Gefühle verlassen. Wir haben noch herausgefunden, dass die Argumente für die Wahl eines Verfahrens bei den Verhaltenstherapeuten sehr viel pragmatischer ausfallen. Sie sind auch stärker forschungsorientiert und denken viel ökonomischer. Bei den Psychodynamikern und anderen ist die Wahl des Verfahrens sehr viel persönlicher, das heißt auf eigene Erfahrungen wie Lebenskrisen und anderes bezogen und viel reflektorischer. Also, da gibt es ein breites Spektrum an Faktoren, die die Entscheidung determinieren. Das wären weitere Argumente dafür, die Konkurrenz der Schulen etwas herunterzukochen, denn der Therapeut wählt seine Therapieschule nach eigenen Persönlichkeitsmerkmalen und teilweise nach zufälligen Einflüssen aus, der Klient wiederum landet in starkem Maße in einer Therapie, weil sie örtlich zufällig stärker vertreten ist. Strauss  Natürlich. Die Konkurrenz ist völlig übertrieben. Das heißt, die Schulentscheidung ist lediglich eine Wahl für den sicheren Hafen als Therapeut?

Zufallskomponenten in Ausbildung und Methodenorientierung

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Willutzki  Mir fällt es schwer, das so zu akzentuieren. Das ist alles eine viel, viel zufälligere und willkürlichere Entscheidung. So viel bewusste Entscheidung ist da gar nicht drin. Auch in anderen Bereichen unseres Lebens sind wir häufiger wenig bewusst wählend und entscheidend, als es uns lieb wäre. Ich halte das für eine Überschätzung des Individuums, ich möchte solche Entscheidungen, die eher im Nachhinein gerechtfertigt werden, nicht so »feiern«. Ich muss jetzt mal dazwischenfragen, ob Sie eigentlich von »zufällig« oder von »kontingent« reden? Willutzki Beides. Strauss  Stimmt, das haben wir zu wenig differenziert bisher. Bei »zufällig« würde ich nämlich widersprechen. Ich glaube, das ist nicht zufällig, sondern das ist abhängig von ganz basalen Persönlichkeitsbedingungen des Einzelnen und von einer gewissen Affinität zu Denkweisen, zu Herangehensweisen – das aber ist nicht »zufällig«. Wenn jemand wirklich zufällig ein Verfahren wählt, dann muss er Glück haben, dass er sich dann wirklich zu Hause fühlt. Das ist meine Auffassung. Willutzki  Ich bin da wahrscheinlich stärker sozialkon­struk­ tionistisch orientiert. Kontingent, bezogen auf die Sozialisationseinflüsse im weitesten Sinne, ja, aber zusätzlich auch zufällig. Die Verhältnisse in Buenos Aires sind zufällig. Noch ein Aspekt: Wo bekomme ich vielleicht eine Stelle in einer Forschungsabteilung angeboten – und wo sind die Türen zu? Entsprechend entscheiden wir uns. Strauss  Nein, da widerspreche ich schon wieder. Ich bin in meiner akademischen Sozialisation als Student an der Verhaltenstherapie orientiert gewesen, obwohl ich den Einfluss dieses Deutschlehrers hatte. Wir werden im Laufe der Zeit mit Unter114

Zufall und Kontingenz

schiedlichem bekannt gemacht und haben immer wieder Wahlmöglichkeiten. Das ist nicht »zufällig«. Willutzki  Sei ehrlich, es gab doch auch nichts anderes, denn sonst hättest du nach Frankfurt gehen müssen. Strauss Nein, nein, in den Siebzigerjahren gab es durchaus noch etwas anderes außer Frankfurt. Eigentlich hatte ich nach Salzburg zu Igor Alexander Caruso gehen wollen. Die haben mich aber damals als deutschen Studenten nicht genommen. Dann bin ich mit dieser Verhaltenstherapiesozialisation ins Berufsleben eingetreten und konnte damit am Anfang sehr gut umgehen, denn ich habe in Hamburg an einer sexualwissenschaftlichen Abteilung der Nervenklinik gearbeitet, wo man sehr pragmatische Verhaltenstherapie machte. Spätestens nach zwei Jahren allerdings habe ich gemerkt, dass ich einfach an meine Grenzen stieß, weil ich bemerkte, dass da in den Menschen ganz viel anderes noch passierte. Sexualität ist nicht nur Sexualverhalten. Das hätte ich gar nicht wahrgenommen, wenn ich nicht diese andere psychoanalytische Sozialisation auch gehabt hätte, eine grundlegende Affinität dazu. Ich glaube, das sind unsere individuellen Entscheidungswege, die viel Kontingentes haben und wenig rein Zufälliges. Auch in Buenos Aires hätte man mindestens noch die Möglichkeit, Psychodrama zu lernen. Das ist dort nämlich auch ziemlich verbreitet. Auch das wäre eine Wahlmöglichkeit. Willutzki  Herr Britten, müssen wir uns jetzt einigen? Nein, ganz und gar nicht. Strauss  Die Ausbildungsforschung hat dazu ein paar Erkenntnisse: Die Ausbildung ist ja nicht das Endstadium der therapeutischen Entwicklung. Man wählt eine Ausbildung auch aus pragmatischen Gründen, denn man macht eine Ausbildung, um später Geld mit dieser Tätigkeit zu verdienen. Das ist in unserem System nicht ganz irrelevant. Wir können ebenZufallskomponenten in Ausbildung und Methodenorientierung

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falls beobachten, dass es unter den niedergelassenen Psychotherapeuten einen Anteil gibt, der sich im Grunde seines Herzens gar nicht als Psychodynamiker oder Verhaltenstherapeuten definiert, sondern von sich sagt, er sei eigentlich humanistischer Psychotherapeut oder auch Systemiker. All diese müssen sich sozusagen unter die anerkannten Deckmäntel begeben, damit sie überhaupt praxisfähig sind und niedergelassen arbeiten können. Eine noch viel größere Vielfalt wird deutlich, wenn man bei all den Therapeuten die Zusatzqualifikationen und Fortbildungen hinzunimmt. Das spielt alles für eine fachliche Identität eine Rolle. Wir haben mal eine Umfrage gemacht, in der wir Gruppentherapeuten in Kliniken gebeten haben, sich selbst zu klassifizieren, welchen Verfahren sie sich zuordnen. Es war abenteuerlich, was da für Konstruktionen herauskamen. Ich nenne nur mal eine Beschreibung: »systemisch-kognitiver Therapeut nach Grawe mit psychodynamischen Anteilen«. Wenn man das mal liest, wird deutlich: An Selbstzuschreibungen gibt es nichts, was es nicht gibt. Willutzki  Ja, darauf können wir uns verständigen. Innerhalb der einzelnen Ansätze existiert eine Variabilität, die sehr groß ist, manchmal gar Zweifel an der Kohärenz eines Verfahrens aufkommen lässt. Da kann man natürlich ganz unterschiedliche Wege gehen. Strauss  Und es hat natürlich mit der Person zu tun, von der man das vermittelt bekommt. Willutzki  Und was man hört und was man nicht hört. Strauss  Was man gern mag und was spannend ist, womit man am besten überleben kann.

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Psychotherapie ist im Begriff, sich zu verändern. Zukünftig werden Therapeutinnen und Therapeuten vor Skype sitzen und zumindest Zwischentermine nutzen, um mit Klienten im Kontakt zu bleiben und sie zu stabilisieren, wenn Krisensymptome auftreten und so weiter. Nicht nur in der Suchttherapie sind das schon heute oft ganz wichtige Zwischentermine. Die Psychotherapie wird medialisiert. Welche Wirkfaktoren retten Sie hinüber in dieses Zeitalter? Strauss Die meisten sind durchaus rettbar. Ich habe schon Skype­therapien gemacht, das funktioniert wunderbar. Auch so kann man all das realisieren, was wir hier besprochen haben. Man kann Ressourcen aktivieren und man kann ganz viel für die Beziehungsgestaltung tun. Ich glaube, es gibt kein Argument gegen die Medialisierung. Allerdings muss es bestimmte Voraussetzungen dafür geben, aber dann könnten bestimmte Patienten vielleicht sogar stärker von einer therapeutischen Intervention profitieren als in einem direkten Kontakt. Die Sucht ist ein gutes Beispiel, denn da besteht dann die Möglichkeit, eine hohe Kontinuität im Kontakt herzustellen, die man real gar nicht leisten könnte. Sie sehen solche Möglichkeiten aber eher als Ergänzung zum direkten Kontakt? Strauss  Bisher ja. In meinem Beispiel hatte ich tatsächlich in vivo begonnen, dann aber wurde der Patient beruflich versetzt. Wir haben das dann bis zur letzten Sitzung via Skype fortgeführt. Es ging also auch darum, die gute Beziehung und den Therapieerfolg nicht durch einen Abbruch oder durch einen ungewollten Therapeutenwechsel zu gefährden. Wirkung per Bildschirm

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Willutzki  So etwas ist im Moment ja nur privat abzurechnen. Die Krankenkassen sagen bisher, ein persönlicher Kontakt sei notwendig. Strauss  Das wird sich ändern. Willutzki  Ja, das wird sich ändern. Ich kann noch ein Beispiel erzählen: Wir bauen gerade in einer Stadt, die massiv von Abwanderung geprägt ist, ein System auf, um den Erhalt der Basisfunktionen in der psychotherapeutischen Versorgung zu sichern. Die haben in diesem Ort massenhaft nicht besetzte Arzt- und Therapeutenstellen. Da geht es nun darum, dass wir eine Kooperation aufbauen, bei der eben solche Medien eine wichtige Rolle spielen können. Die Krankenkassen allerdings lehnen das weiterhin strikt ab und sagen, das müsse auf der Ebene des Gemeinsamen Bundesausschusses entschieden werden. Das werden nicht einzelne Kassen dezentral entscheiden. Da muss eine übergeordnete Regelung her. Man muss auch einfach den kulturellen Wandel sehen: Junge Menschen nutzen Medien sehr intensiv, um ihr Sozialleben zu bevölkern. Für die wäre so eine Art Psychotherapie gar nichts Besonderes. Strauss  Ja, und Übertragungen machen auch vor dem Internet keinen Halt. Willutzki  Für manche wäre das viel einfacher. Natürlich brauchen wir dafür Regelungen. Wenn mir eine Patientin eine lange Mail schreibt, dann schreibe ich manchmal nur zurück: »Ich denk an Sie.« Solche Kurzkontakte lassen sich mittels eines Mediums sehr gut machen, um die Person unterstützen und stabilisieren zu können. Und wo sind die Risiken? Strauss  Ich denke, Psychotherapie am Bildschirm ist nicht für alle geeignet. Ich habe neulich einen namhaften Kollegen zu dem Thema sprechen hören, der zum Schluss seines Vortrags 118

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eine alte Schreibmaschine zeigte und meinte: »Das ist das Auslaufmodell des heutigen Psychotherapeuten.« Der hat die Position vertreten, es werde zukünftig alles nur noch über diesen Weg gehen. Das halte ich natürlich für Quatsch. Es wird immer Patienten geben, die den persönlichen Kontakt und eine Kommunikation auf vielen Kanälen benötigen und wollen. Willutzki  Ich glaube auch, dass die sinnliche Wahrnehmung etwas Wichtiges bleiben wird. Wenn sich soziale Kontakte nur noch medial abspielen, dann ist allein das schon ein Problem. Auf das, was mir eine Patientin sagt in einer Sitzung, kann ich ganz anders reagieren, als wenn ich nur mit dem Gesicht auf einem Bildschirm rede. Das hat eine ganz andere Dynamik. Auch eine SMS kann nur zusätzlich helfen. Strauss  Man darf diese Debatte nicht verkürzen. Das Risiko liegt aber vielleicht darin, dass die »real relationship«, die Realbeziehung, zu wenig zum Tragen kommt. Willutzki  Wir sind nur noch Bilder. Strauss  Trotzdem hat auch eine solche therapeutische Arbeit eine versorgungspolitische Berechtigung. Ich habe neulich mit einem Analytiker aus Philadelphia gesprochen, der hier in Berlin zu Gast war und der erzählte, er habe zunehmend Patienten, die sagen: »Lieber Dr. Sowieso, ich möchte gerne auf Skype umschalten, denn ich brauche drei Stunden, um zu Ihnen zu fahren, und dann wieder drei Stunden zurück.« Das ist in heutigen Zeiten ja gar nicht mehr machbar. Der macht also zunehmend Skypetherapien, und zwar auch aus dem Grunde, seine Patienten zu entlasten. Auch in ländlichen Regionen mit mühsamen Verkehrsverbindungen können das Lösungen sein. Ich habe mich gerade gefragt, ob dann auch die »skype relationship« therapeutisch konzeptualisiert wird. Strauss  Jedenfalls wird das zur Beziehungsgestaltung beitragen. Man bleibt ja präsent. Anders als in Chatrooms. Wirkung per Bildschirm

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Willutzki  Als Person kann man sich so durchaus zeigen. Strauss  Es gibt einen schönen Cartoon, auf dem ein Hund vor dem Computer sitzt und am Bildschirm arbeitet. Darunter steht: »On the Internet, nobody knows you’re a dog.« Das ist natürlich die Gefahr dabei, dass da irgendwelche Hunde auf der anderen Seite sind, die ich gar nicht mehr wahrnehme, weil ich gar nicht mehr weiß, wer sie eigentlich wirklich sind.

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