War Greco astigmatisch?: Eine psychologische Studie zur Kunstwissenschaft [Reprint 2021 ed.] 9783112438121, 9783112438114

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War Greco astigmatisch?: Eine psychologische Studie zur Kunstwissenschaft [Reprint 2021 ed.]
 9783112438121, 9783112438114

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War Greco astigmatisch? Eine psychologische Studie zur Kunstwissenschaft Von

DR. D A V I D KATZ Privatdozent der Philosophie an der Universität Göttingen

Leipzig Verlag von Veit & Comp. 1914

Druck Ton Uetzger db Wittig in Leipzig.

Es gibt vielleicht kunstwissenschaftliche Forscher und Ästhetiker, welche in einer Betrachtungsweise, wie sie im folgenden geübt wird, eine für ihre Zwecke wenig ersprießliche oder gar die echten Probleme verschleiernde Methode glauben sehen zu müssen. Ich weiß nicht, wie weit man in solcher Auffassung nur ein unbehagliches Gefühl darüber erblicken soll, daß die Beschaulichkeit der Arbeitsweise mit bequemen, mehr dialektischen Methoden gestört werden möchte durch die mühsamere, von psychologischen Gesichtspunkten geleitete und psychologische Gesetzmäßigkeiten berücksichtigende exakte Forschungsweise. Es ist vielleicht gerechter anzunehmen, daß Kunstwissenschaft und Ästhetik gern die Hilfe der exakten Psychologie in Anspruch nehmen und die unbehagliche Stimmung nur als eine Reaktion gegenüber gelegentlichen unberechtigten Grenzüberschreitungen der Psychologie aufzufassen ist, gegenüber Tendenzen, welche alle kunstwissenschaftlichen Tatsachen und ästhetischen Phänomene in psychologische Gegebenheiten aufzulösen versuchen* Das Unberechtigte eines derartigen Verfahrens sei von vornherein ausdrücklich betont. 1*

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Auch ist vielleicht gerade in der Anwendung von Gesichtspunkten der P s y c h o p a t h o l o g i e zur Erklärung des künstlerischen Schaffens des Guten etwas zuviel geschehen. Auch gegen derartige Übertreibungen ist mit Entschiedenheit Stellung zu nehmen. Wird doch auch gar zu oft von Seiten derer, die mit der Anwendung pathologischer Betrachtungsweisen auf Probleme der künstlerischen Wirksamkeit schnell zur Hand sind, übersehen, daß man selbst im Fall der berechtigten Annahme eines pathologischen Einflusses auf die künstlerische Produktion der Verpflichtung einer Betrachtung des Kunstwerks unter ästhetischem und kunstwissenschaftlichem Gesichtspunkt nicht enthoben ist. Denjenigen, welche in dieser Hinsicht Befürchtungen hegen, kann ich, das Endergebnis meiner Untersuchungen vorausnehmend, mitteilen, daß ich es für ausgeschlossen halte, es lasse sich das Hervorstechende an G r e c o s Stil aus einem Augenfehler, sei es nun ein astigmatischer oder ein anderer, verständlich machen. Also zum mindesten muß das E r g e b n i s den Gegnern der Methode, durch die es gewonnen wird, sympathisch sein. Manche werden erklären, sie hätten ein solches Ergebnis von vornherein als selbstverständlich erwartet, und darum sei seine wissenschaftliche Erarbeitung nicht nötig, die in Anwendung gebrachte Methode sei als überflüssig zu bezeichnen. Wer sich bei dieser Stellungnahme, was der Fall zu sein scheint, von der Annahme leiten läßt, daß die

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Sinnesorganisation eines Künstlers als ein noch ganz und gar peripherer Faktor überhaupt für seine Produktion ohne Bedeutung sei, huldigt nicht einer möglichen Annahme, sondern stellt sich dabei mit offenkundigen Tatsachen in Widerspruch. So ist es nicht etwa eine Hypothese, sondern eine erwiesene Tatsache, daß die Farbenempfindung des Malers für seine Farbengebung von Bedeutung werden kann. 1 So wissen wir, daß die Refraktionsverhältnisse des Auges eines Künstlers sich nicht nur in seiner Strichführung, sondern auch in seiner gesamten malerischen Auffassung äußern können. 2 Warum sollte eine Organisation des Auges, die eine veränderte Abbildung zur Folge hat, für die Formengebung des Künstlers bedeutungslos sein ? Ist also schon einmal, wie im Fall G r e c o , der Verdacht einer veränderten Formwahrnehmung wach geworden, so bedarf derselbe auch einer genaueren Prüfung. Aber zugegeben selbst, man hätte in dem vorliegenden Fall auf einem anderen als dem beschrittenen Wege der Wahrnehmungsanalyse zu 1 Schon im Jahre 1872 hat L i e b r e i c h , und neuerdings hat Hess (Arch. f. Augenheilkunde Bd. 63, 1909) darauf hingewiesen, daß sich die Gelbfärbung der Linse in höherem Alter in einer weniger delikaten Verwendung der blauen Farbe bei älteren Malern äußern kann. — Hier und im folgenden berichte ich über die Ergebnisse der Untersuchungen L i e b r e i c h s , die ich mir nicht im Original zugänglich zu machen vermochte, nach L. A r r e a t , Psychologie du peintre. Paris 1892. 2 Vgl. hierzu A r r e a t , S. 239ff.

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demselben Resultat kommen können, so wird die hier beobachtete Methode dem einen oder dem anderen doch vielleicht ein nicht ganz unwillkommenes Beispiel sein für die Anwendung exaktpsychologischer, zum Teil direkt experimentell vorgehender Betrachtungsweisen auf ästhetische und kunstwissenschaftliche und schließlich auch kunsthistorische Gebiete. Je weiter diese Betrachtungsweise vordringt, um so mehr hat die bloß subjektive Meinung zurückzuweichen. Vielleicht ist diese Methode nicht überall anzuwenden, aber die Fragen der genannten Gebiete, auf die sie schon jetzt sicher eine erfolgreiche Anwendung finden könnte, sind äußerst zahlreich, und es entspricht nicht den Prinzipien wissenschaftlicher Forschung, ein von anderer Seite gebotenes Mittel der Untersuchung zu ignorieren und sich dort, wo die Anwendung exakter Methoden möglich ist, länger mit der Anwendung weniger exakter, wenn auch vordem berechtigter Methoden zu begnügen. Die wissenschaftliche Betrachtungsweise, die hier in Vorschlag gebracht wird, ist nicht absolut neu, ist sie doch bereits vor Jahrzehnten von Forschern wie H e l m h o l t z , B r ü c k e , B e z o l d und R o o d versucht worden, ja, ist sie im Keim doch schon in Untersuchungen zu erkennen, wie sie L e o n a r d o da V i n c i in seinem Traktat über die Malerei angestellt hat. Nur sind wir eben, dank den Forschungsergebnissen der modernen experimentellen Psychologie, so viel tiefer in die Analyse der für das Verständnis der künstlerischen Leistung wichtigen Gesichtswahrnehmung eingedrungen, daß eine erneute Inangriffnahme der alten

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Fragen geboten und eine Aufrollung neuer Fragen erwünscht scheint. Im Vorwort zu meinen Untersuchungen über die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung 1 stellte ich in Aussicht, „die hier und dort berührten Probleme der Gemäldekunst in nicht allzu ferner Zeit weiter zu entwickeln". Das Manuskript, welches diese Weiterentwicklungen enthält, ist inzwischen recht angewachsen, der V. Kongreß für experimentelle Psychologie 2 , sowie der Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft® boten mir Gelegenheit, in summarischer Weise einiges daraus vorzutragen. Ein Kapitel meines Manuskriptes über die Bedeutung von Akkommodation und Refraktion des Auges für die Gemäldekunst erhielt als Anhang eine Studie über Greco. Da sie, was für die übrigen Teile des Manuskriptes nicht gilt, abgeschlossen war, und mir die Darstellung an einem konkreten Problem als der geeignetste Weg erschien, eine wenig bekannte Methode bekannt zu geben, so entschloß ich mich zur Veröffentlichung dieser Studie. „ E l G r e c o s N a m e ist heute in weiten K r e i s e n so viel genannt, wie er noch vor k u r z e m u n b e k a n n t war. Zwischen exaltierter B e w u n d e r u n g , die in d e m Meister von Toledo die schlechthin vollkommene Verkörperung des B e g r i f f s der reinen Malerei erblickt, u n d ebenso unbedingter Ablehnung von seiten derer, die ihn nur als Sonderling und ManieErgänzungsband 7 der Zeitschrift für Psychologie, Leipzig 1911. 2 Bericht über den V. Kongreß f. exp. Psychologie. Herausgeg. von F. Schumann. Leipzig 1912. 3 Bericht über den Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Stuttgart 1914. 1

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risten aufzufassen vermögen, hat vorläufig die besonnene Betrachtung, die den Mann aus seiner Zeit und aus den Grenzen seiner Individualität heraus begreifen will, schweren S t a n d . " 1 Daß G r e c o erst so spät die Kunsthistoriker veranlaßt hat, sich in dem Maße, wie er es verdient, mit ihm zu beschäftigen, erklärt sich einmal aus dem äußerlichen Umstand, daß die überwiegende Mehrzahl derjenigen Werke, die für ihn besonders charakteristisch sind, sich an weniger leicht zugänglicher Stelle befinden, mehr aber daraus, daß ihm die ihm zukommende Stellung in der Entwicklungsgeschichte der Malerei erst von einer Zeit eingeräumt werden konnte, welche in ihm einen mehr oder weniger bewußten Vertreter gewisser von ihr mit vollem Bewußtsein angewandter künstlerischer Gestaltungsprinzipien erkannte. Indem G r e c o als Vorläufer einer ausgeprägt impressionistischen Malweise erscheint, erschließt sich uns sein Verständnis viel leichter als seinen Zeitgenossen. ,,Dank der schöpferischen Tätigkeit unserer modernen Meister, die uns die Erkenntnis lang verborgener Entwicklungsmöglichkeiten vermitteln. " 2 A. G o l d s c h m i d t , E l Greco und sein „ManierisSüddeutsche Monatshefte, 1911, Heft 5. 2 v. T s c h u d i in dem Katalog der aus der Sammlung des kgl. Rates M. von N e m e s ausgestellten Gemälde. München 1911. Die in dieser Sammlung enthalten gewesenen Werke G r e c o s sind die einzigen mir aus seiner Kunst bekannt gewordenen Originalarbeiten. Die Bekanntschaft mit 1

mus".

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G o l d s c h m i d t hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Anerkennung G r e c o s nicht erst in unseren Tagen überhaupt eingetreten ist, sondern daß man schon im 18. Jahrhundert über den Rang seiner Kunst nicht mehr ganz im unklaren war. In Deutschland ist es C. J u s t i 1 , dem nach G o l d s c h m i d t nach wie vor die Priorität in der neuerlichen Anerkennung G r e c o s gebührt. In Spanien selbst 2 hat sich bekanntlich M. C o s s i o das größte Verdienst um die Erforschung des Lebens und der Kunst G r e c o s erworben. Neuerdings übertrug 3 dann M e i e r - G r ä f e auf Greco alle Ehren, mit denen man früher — seiner Ansicht nach durchaus zu Unrecht — Y e l a s q u e z bekleidet hatte. Schon früh mischte sich in die Anerkennung, die G r e c o s malerisches Genie fand, der Vorwurf, er hätte die Grenzen, die der subjektiven künstlerischen Umformung gezogen seien, in grober Weise verletzt, man dürfe G r e c o s reifem Werk gegenüber schon nicht mehr von einem berechtigten guten Photographien und sonstigen Nachbildungen genügt aber, wie man sehen wird, für die Prüfung der hier untersuchten Frage. 1 C. J u s t i , Diego Velasquez und sein Jahrhundert. Bonn 1888; sowie desselben Verfassers Miszellaneen aus drei Jahrhunderten spanischen Kunstlebens. Bd. 2. Berlin 1908. 2 M. Cossio, El Greco. Madrid 1908. Herr Vinc e n t e V i q u e i r a hatte die große Liebenswürdigkeit, mir bei der Übersetzung der genannten spanischen und portugiesischen Literatur beträchtliche Opfer an Zeit zu bringen. 3 J. M e i e r - G r ä f e , Spanische Reise. Berlin 1910.

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Stil, sondern nur noch von einem wüsten Manierismus sprechen. P a c h e c o , der Schwiegervater von Y e l a s q u e z , den die Kunst des Griechen so angezogen haben muß, daß er ihn 1611, wenige Jahre vor G r e c o s Tod, in Toledo aufsuchte, hielt mit der Äußerung seines Mißfallens über eine Technik nicht zurück, die ihm als völlig entartet erschien. Als „Crueles borrones" 1 (etwa zu übersetzen mit „grausame Klecksereien") erscheinen ihm die hingeschleuderten Farbflecke G r e c o s , die wir jetzt als Ausdrucksmittel einer impressionistischen Auffassung deuten. Einzelne Züge des Menschen G r e c o , über den uns die Zukunft hoffentlich noch nähere Auskunft bringen wird, boten der Annahme Nahrung, die spätere Grecosche Kunst sei der Ausfluß eines pathologischen Geistes und böte dem Psychiater eher als dem Kunsthistoriker einen Stoff zur Analyse. 2 Wurde seine geniale Begabung in der Jugend durch die nachhaltigen Einflüsse der Venezianischen Malerei, die besonders durch T i z i a n 1

Aus P a c h e c o s „Kunst der Malerei". Auszüge derselben findet man in Cossios Werk, S. 345ff., sowie in dem Dialog über die Malerei, den J u s t i in seinem an erster Stelle genannten Werk mitteilt. 2 „Er entfernte sich von der landläufigen Ansicht der Künstler, weil er in allem ebenso absonderlich war, wie in seinem Malen." (Pacheco). — Viel wichtiges biographisches Material hat die Arbeit von F. de B. de San R a m o n y F e r n a n d e z über Greco, Madrid 1910, zutage gefördert. Ein eingehendes Referat derselben hat A. L. Mayer in der Zeitschr. f. bildende Kunst, Neue Folge, 22. Jahrgang, 1911, erstattet.

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und T i n t o r e t t o auf ihn wirkte, zu einer glücklichen Entfaltung gebracht, so soll ihm die völlige Isolierung in Toledo zum Verhängnis geworden sein. Greco „ist ebenso merkwürdig durch sein außerordentliches malerisches Genie . . . wie durch die beispiellose, und in der Tat pathologische Entartung der Manier, der er in der Folge verfiel". „ G r e c o nahm die verzerrten Gebilde eines kranken Gehirns für Offenbarung." 1 Es ist zunächst das I n h a l t l i c h e von G r e c o s Kunst, welches es zu einem derartigen Urteil kommen ließ. Er zeigt für die Darstellung solcher Seelenzustände eine besondere Vorliebe, die bereits das Pathologische streifen. Erlebnisse, wie er sie schildert, mögen sich im Gefolge der exercitia spiritualia der Jesuiten einstellen, sie dürften den Halluzinationen von an religiösem Wahnsinn Erkrankten nahestehen. Erscheinungen von Gespenstern hat er auf der Leinwand festgehalten. Es ist nun dem Künstler ganz sicher nicht zu verbieten, sein Können an dergleichen nicht alltäglichen Stoffen zu erproben. Und die Schilderung religiös-exstatischer Zustände haben sich viele Künstler, so doch auch R a f f a e l , gelegentlich als Aufgabe gestellt, ohne dadurch in den Verdacht psychischer Anomalität gelangt zu sein. Wenn nun auch derartige Motive bei G r e c o mit ungewöhnlicher Häufigkeit behandelt worden sind: Das Inhaltliche allein hätte 1

C. J u s t i , S. 76 und S. 79.

Diego Velasquez und sein Jahrhundert.

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wohl, wenn G r e c o in seiner Formung nicht die gewohnten und anerkannten Bahnen verlassen hätte, den Verdacht eines pathologischen Zuges seines Schaffens durchaus nicht geweckt. Dieser Verdacht wurde erst wach gemacht durch die formale Behandlung, die er vielen seiner Vorwürfe zuteil werden ließ. In dieser Hinsicht stoßen wir nun bei Greco tatsächlich auf ganz ungewöhnliche Dinge. Greco scheinen die Tatsachen, die sich auf die Anatomie des menschlichen Körpers beziehen, völlig gleichgültig gewesen zu sein. Abweichungen des Künstlers von der Natur scheinen nur dem Naturalisten unbedingt verdächtig. Auf G r e c o s Bildern kommen aber menschliche Gestalten vor, in denen das normale Verhältnis von Körperlänge zu Körperbreite nahezu um das Doppelte übertroffen wird. Das geht weit über das hinaus, was wir an Veränderung dieses Verhältnisses sonst in der Kunst antreffen, wenn dadurch eine bestimmte künstlerische Wirkung erreicht werden soll. Selbst Künstler, bei denen in offensichtlicher Weise die Schlankheit der menschlichen Figur zu einem vorwaltenden Stilisierungsprinzip geworden ist, erlauben sich von den anatomischen Durchschnittsmassen nur Abweichungen, die gegenüber den bei G r e c o zu beobachtenden als höchst bescheiden zu bezeichnen sind. Nicht minder auffällig wie die soeben genannten Abweichungen von dem durch die Anatomie festgestellten Normalverhältnis von Körper-

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länge zu Körperbreite sind die Abweichungen, die bei G r e c o mit Bezug auf das Normal Verhältnis von Körperlänge zu Länge des Hauptes angetroffen werden. Bei Greco treffen wir Menschen an von zehn- bis zwölffacher Kopflänge, das klassische hellenische Maß, welches zumal der etwas übertreibenden plastischen Kunst, nicht der Malerei entnommen ist, erlaubt nur 7 2 / 3 Kopflängen. 1 Noch stärker als die scheinbaren Willkürlichkeiten in der Abweichung von den anatomischen Längenmaßen berühren den Betrachter G r e c o scher Bilder die unzähligen Verstöße gegen die sonst von künstlerischer Seite wohl stets respektierte Tatsache der Symmetrie der menschlichen Körperhälften. Am auffälligsten, weil auch am wenigsten zu verbergen, sind diejenigen Abweichungen von der Symmetrie der beiden Körperhälften, die am menschlichen Antlitz zutage treten. Sie springen einem auch bei den in Betracht kommenden G r e c o schen Gestalten am meisten in die Augen. Ein schiefer Mund ist nicht selten, das eine Auge weicht im Schnitt häufig von dem anderen ab und ist auch im ganzen in eine andere Höhe gesetzt als das andere, die Nase ist nach der Seite verschoben und unregelmäßig gebaut. Ja, es kommt vor, daß die ganze eine Gesichtshälfte eine totale Deformation gegenüber der anderen erlitten zu haben scheint. Und all die genannten Anomalien trifft man mit einer 1

Vgl. hierzu R i c a r d o Jorge. 1913. S. 39.

El Greco.

Coimbra

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solchen Häufigkeit an, daß an eine Zufälligkeit ihres Ursprungs nicht zu denken ist. Im folgenden wollen wir diese unregelmäßigen Abweichungen im Gegensatz zu den mehr regelmäßigen Dehnungen als Verzerrungen bezeichnen. Auf den ersten Eindruck hin macht sich weniger bemerkbar, wenngleich sie dem Verständnis bei Berücksichtigung der zu Zeiten G r e c o s gegebenen Tradition keine geringeren Rätsel aufgibt, die bei ihm gelegentlich vorkommende Behandlung des Raumes. Häufig bleibt man über die Natur der Räume, in denen sich die dargestellten Personen befinden, völlig im unklaren. Figuren, die verschiedenen Plänen des Bildraums anzugehören scheinen, stoßen ohne jede Vermittlung aneinander, so daß es zu einer ganz auffälligen Größendifferenz der Figuren kommt. Wenn auch die Behandlung des Raumes nicht die Vermutung aufkommen läßt, daß man es mit einem Primitiven aus der Zeit vor der Entdeckung der perspektivischen Gesetze zu tun hat, so fehlt ihr doch durchaus das Spezifische, welches wir bei einem Künstler aus der Zeit der Hochrenaissance erwarten, der durch die Schule Tizians gegangen ist. Man kann keinen Augenblick daran zweifeln, daß die ungewöhnliche Raumgestaltung dort, wo sie angetroffen wird, ihre Quelle nicht in einem Unvermögen gehabt hat, da uns G r e c o auf einigen Bildern aus seiner Frühzeit 1 1

Tempelaustreibung und Blindenheilung.

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selbst Proben seines Könnens auf diesem Gebiet gegeben hat. Auch das sei noch erwähnt: Die Komposition derjenigen Bilder, an die vorstehend gedacht worden ist, schließt die Annahme aus, daß die Raumgestaltung unter Voraussetzung eines ungewöhnlichen Standpunktes des Künstlers der dargestellten Szene gegenüber ihre Erklärung finden könnte. Bekanntlich verdient dieser Gesichtspunkt beim Verständnis von Werken der Illusionsmalerei eine Beachtung. 1 Es lag gegenüber den bei Anwendung des natürlichen Maßstabes karikaturenhaft zu nennenden Dehnungen und Verzerrungen, die sich G r e c o mit den Gestalten seiner Kunst erlaubte, nicht so fern, an Anomalien seines optischen Wahrnehmungslebens zu denken, und es spricht nur für den Respekt, mit dem man seiner Kunst und speziell ihrem koloristischen Teil gegenübertrat, daß man die Störung seiner optischen Wahrnehmung in einen möglichst peripheren Teil seines optischen Wahrnehmungsmechanismus zu verlegen versuchte. Von den Transformationen, welche den optischen Eindruck, der dem Künstler die Anregung gibt, auf seinem Weg durch den Organismus des Künstlers bis zu seiner Fixierung auf der Leinwand treffen, ist die durch den optischen Apparat des Auges bedingte die peripherste, da sie noch rein nach 1

Vgl. hierzu das Kapitel „Die Apperzeption des Bildes zur Zeit der Renaissance" aus E. R. J a e n s c h , Über die Wahrnehmung des Raumes. Leipzig 1911.

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physikalischen Prinzipien vor sich geht. Sie hat mit eigentlich künstlerischer Transformation noch wenig zu tun. Gelang es also, die Störung peripher anzusetzen, so blieb die künstlerische Persönlichkeit G r e c o s davon unberührt, so war er gewissermaßen für die anstößigen Mißbildungen nicht verantwortlich zu machen. Dieser Versuch wurde nun von J u s t i unternommen, der die Vermutung einer Sehstörung G r e c o s aussprach. Dieser Ansicht hat sich G o l d s c h m i d t in der oben genannten Studie angeschlossen. „Es handelt sich, wenn die rein medizinische Frage sachgemäß beantwortet werden soll, in der Tat um einen typischen Fall von Astigmatismus". Gegen die Annahme, G r e c o s Originalität sei aus einer geistigen Erkrankung verständlich zu machen, hat sich mit Entschiedenheit M e i e r - G r ä f e in seiner oben erwähnten Arbeit ausgesprochen. Ohne zu vergessen, daß Inhalt und Form des Kunstwerks nie ohne Not getrennt betrachtet werden sollten, erscheint uns eine Beschränkung auf die Form von G r e c o s Kunst mit Rücksicht auf das Ziel unserer Untersuchung doch statthaft. Der Psychiater knüpft seine Untersuchung an den I n h a l t der Zeichnungen seiner Patienten an. Da uns die Frage nach der Geisteskrankheit G r e c o s in dieser Studie nicht beschäftigen soll, dürfen wir auf die Analyse des Inhalts seiner Werke verzichten. Wir wollen allein die Berechtigung der Annahme prüfen, daß G r e c o astigmatisch gewesen sei. Die Entschei-

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dung dieser Frage ist für das Verständnis der Persönlichkeit G r e c o s , damit aber auch für die Frage nach seiner geistigen Erkrankung von großer Wichtigkeit. Ohne einen Augenfehler der angedeuteten Art zu Hilfe zu nehmen, versucht M e i e r - G r ä f e die Verzerrungen, die uns als die auffälligsten erschienen, die Unsymmetrien der Gesichtshälften, zu erklären, indem er in ihnen künstlerisch wohl berechnete Ausdrucksmittel sehen zu müssen glaubt. „ G r e c o hat richtig beobachtet, daß die Menschen nur sehr selten eine gerade Nase haben und daß bei den wenigsten die Lage der Augen und des Mundes der mathematischen Einteilung entspricht. Die geringen Abweichungen, die den Gesichtern das Eigentümliche geben, übertreibt er. Der Mund sitzt entweder nach links oder nach rechts, fast nie in der Mitte, und das erscheint infolge der ganzen Organisation des Gesichtes vollkommen in Ordnung" (S. 81 der Spanischen Reise). Indessen, so plausibel diese Erklärung auch für die G r e c o sehe Porträtierkunst klingt, bei der es sich um die Darstellung bestimmter Persönlichkeiten handelt, so wenig scheint sie doch angebracht gegenüber Idealgestalten, Heiligen und Engeln, wenn man nicht die unwahrscheinliche Annahme machen will, daß in all den in Betracht kommenden Fällen G r e c o die Züge von Modellen habe verewigen wollen. Es handelt sich nach G o l d s c h m i d t bei G r e c o um einen sogenannten hyperopischen (weitsichtigen) 2

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Astigmatismus nach der Regel, wo die vertikale Achse des Auges stärker, die horizontale schwächer bricht. Wie läßt sich nun eine derartige Diagnose begründen? Wenn wir vor ein normalsichtiges Auge eine regelmäßige zylindrische Linse bringen, so erscheinen die Objekte dem Auge in eigentümlich veränderter Form. Abgesehen von der fast durchgängigen Herabsetzung der Deutlichkeit der Wahrnehmung erfahren die Objekte eine Dehnung, die sich nach der Brechungsrichtung der Zylinderlinse und ihrer Lage zum beobachtenden Auge bestimmt und die bei Drehung der Linse vor dem Auge mitwandert. Es kommt bei diesem Versuche nicht darauf an, ob eine konkav- oder konvexzylindrische Linse Verwendung findet. Wir haben dabei unser Auge künstlich astigmatisch gemacht und erhalten von der Welt Bilder, wie sie ein Auge erhält, das mit regelmäßigem Astigmatismus von einer solchen Stärke behaftet ist, wie sie unsere Linse hervorruft. Setzt man voraus, daß G r e c o die Objekte so, wie sie auf der Leinwand erscheinen, auch wahrgenommen habe, so scheint der Schluß nicht so fern zu liegen, daß er einen Astigmatismus besessen habe, bei dem die Brechkraft des Auges in horizontaler Richtung von der in vertikaler Richtung am stärksten abwich. Damit wäre aber noch nicht eine volle Bestimmung der Art seines Astigmatismus vorgenommen. Man unterscheidet in klinischer Hinsicht fünf Arten des regelmäßigen Astigmatismus, den ein-

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fachen myopischen, den einfachen hypermetropischen, den zusammengesetzten myopischen, den zusammengesetzten hypermetropischen und den gemischten Astigmatismus. 1 Können wir die nähere Bestimmung bei G r e c o nicht in der Weise vornehmen, daß wir diejenige Linse bestimmen, mit der wir unser Auge künstlich astigmatisch machen müssen, um auf den in Betracht kommenden G r e c o schen Bildern die unnatürlich erscheinenden Änderungen der Figuren zum Verschwinden zu bringen ? J e nach der Art und dem Ausmaß des so ermittelten künstlichen Astigmatismus wäre natürlich G r e c o s Astigmatismus in beiden Hinsichten das entgegengesetzte Vorzeichen zu geben. Auf die Möglichkeit einer derartigen Bestimmung hat bereits G o l d s c h m i d t aufmerksam gemacht. Er rät „ein für den Fall bezeichnendes Werk G r e c o s , zum Beispiel die Himmelfahrt Christi im Prado, mit korrigierenden Augengläsern zu betrachten. Der Effekt ist eine Raum- und Bildwirkung, bei der das normale Auge durch keinen von Proportionsfehlern entstellten Manierismus gestört wird." Wenn G o l d s c h m i d t auf diesem Weg zu dem bereits oben mitgeteilten Resultat kommt, es habe sich bei . 1 Vgl. hierzu z. B. 0 . S c h w a r z , Die Funktionsprüfung des Auges und ihre Verwertung für die allgemeine Diagnostik. Berlin 1904. S. 139f. Eine, auch für ophthalmologisch Ungebildete leicht verständliche, durch schematische Konstruktionen erläuterte Darstellung des Astigmatismus findet man bei E. F u c h s , Lehrbuch der Augenheilkunde, 6. Aufl., Leipzig und Wien 1897, S. 754ff. 2*

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G r e c o um einen hypermetropischen (weitsichtigen) Astigmatismus gehandelt, so finde ich diesen Schluß nicht zwingend. Für ein normalsichtiges (emmetropisches) Auge lassen sich die Dehnungen auf G r e c o sehen Bildern mit verschiedenen Gläsern, z. B. einer konkaven Zylinderlinse mit horizontaler Zylinderachse, einer konvexen Zylinderlinse mit vertikaler Achse korrigieren. Es ist also tatsächlich nicht möglich, allein auf Grund derartiger empirischer Feststellungen nähere Angaben darüber zu machen, welche der oben genannten Arten von Astigmatismus bei G r e c o vorgelegen habe. Auch aus den Undeutlichkeitsverhältnissen der Bilder läßt sich, wofür hier der Nachweis nicht erbracht zu werden braucht, in dieser Hinsicht nichts Sicheres ableiten. Betrachtet man mit künstlich astigmatisch gemachtem Auge eine Kreisfläche, so erscheint sie zur elliptischen Fläche deformiert. Auch der Umstand nun, daß G r e c o vielfach elliptische Flächen auftreten läßt, wo man nach der Natur des dargestellten Gegenstandes kreisförmige Flächen erwartet, hat dazu beigetragen, ihn zum Astigmatiker zu stempeln. Es geht aber nicht an, auch solche Fälle als Beweismittel heranzuziehen, in denen die Ellipse als ein k o m p o s i t i o n e l l e r Faktor auftritt. Es ist ganz unzweifelhaft, daß so wie etwa bei L e o n a r d o da V i n c i das Dreieck als kompositionelles Prinzip vielen seiner Schöpfungen entjnommen werden kann, von Seiten G r e c o s die Ellipse als Kon-

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struktionsprinzip bei vielen Schöpfungen zugrunde gelegt zu sein scheint. Am deutlichsten tritt das in der Kreuzigung zutage, die sich im Prado befindet. Für das Martyrium des Heiligen Mauritius hat M e i e r - G r ä f e auch die Zurückführung auf das elliptische Kompositionsprinzip (,,das Bild wird diagonal von zwei Ellipsen durchschnitten") vorgenommen. M e i e r - G r ä f e faßt seine darauf gerichteten Beobachtungen in die Worte zusammen: „Die Ellipse scheint sein Lieblingsmotiv gewesen zu sein" (Spanische Reise, S. 250). Nun ist aber doch so viel klar, daß die elliptische Form als Kompositionsprinzip sich in diagnostischer Beziehung nur dann mit den Fällen, in denen eine ihrer Natur nach kreisförmige Fläche elliptisch dargestellt wird, auf eine Stufe stellen ließe, wenn man nachweisen könnte, daß so wie L e o n a r d o da V i n c i das Dreieck, Greco den Kreis als Kompositionsprinzip habe verwenden w o l l e n und nur durch seinen Augenfehler vom Kreis zur Ellipse gedrängt worden sei. Ein derartiger Nachweis ist aber bis jetzt nicht erbracht worden. Es mag auch schon hier als ein Resultat unserer Untersuchungen vorweggenommen werden, daß man allen Grund zur Annahme hat, Greco habe die Ellipse mit voller Absichtlichkeit als Kompositionsprinzip verwendet. Gegen den Versuch, in der elliptischen Kompositionstendenz G r e c o s einen Hinweis auf seinen Astigmatismus zu sehen, wendet sich auch K e h r er 1 in einer aller1

H. Kehr er, Die Kunst des Greco.

München 1914.

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dings nicht ganz überzeugenden Weise. „Wer da sagt, die Tatsache, daß G r e c o mit der Ellipse komponiert habe, sei ein Beweis für sein astigmatisches Auge, zeigt wenig Verständnis für das künstlerische Phänomen, vergißt, daß er mit dieser Diagnose die Künstler des Barocks, vor allem seine Architekten, zu Augenkranken macht." Man hat im allgemeinen bei der Untersuchung der Frage nach G r e c o s Augenfehler mehr die regelmäßigen Dehnungen der Körper in der Richtung oben-unten, unter denen die Deformation der Kreisflächen zu elliptischen als ein Spezialfall auftritt, weniger die unregelmäßigen Verzerrungen beachtet, die es zu Abweichungen von der Symmetrie des menschlichen Körpers kommen läßt. Und doch müssen diese letzteren — immer den Standpunkt des Naturalisten vorausgesetzt — als die auffälligeren bezeichnet werden. Es scheint Forschern, die zu diesem ganzen Problem Stellung genommen haben, entgangen zu sein, daß sich die unregelmäßige Verzerrung der Formen nicht nach demselben Prinzip wie die einfache Dehnung der Formen verständlich machen läßt. Es gibt bei Greco Figuren mit frontaler oder nahezu frontaler Ansicht, bei denen zwar die Dehnungen, nicht aber auch die vorhandenen Verzerrungen mit einem regelmäßigen Astigmatismus in Verbindung zu bringen wären. Ich betrachte es aber als eine Forderung der Folgerichtigkeit im Erklären, für die Dehnung und die Verzerrung der Formen eine einheitliche

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Quelle nachzuweisen. U m die mehr über das ganze Bild zerstreuten Verzerrungen zu erklären, die sich deutlich als weniger regelmäßig von den regelmäßigen Dehnungen abheben, müßte man schon annehmen, daß sich dem regelmäßigen Astigmatismus G r e c o s ein unregelmäßiger zugesellt habe. Es ist nicht schwer, sich auch von der Wirkungsweise des unregelmäßigen Astigmatismus ein Bild zu verschaffen. Wir bringen für diesen Zweck eine planparallele Glasplatte vor das Auge, die hier und dort mit einigen Tropfen durchsichtiger Flüssigkeit, z. B . Wasser oder Gummi, versehen ist. 1 Diese Tropfen lassen dann die Objekte, die man durch sie hindurchsieht, in mehr oder weniger starker Verzerrung erscheinen, und man kann dabei schon Verzerrungen von der auf G r e c o s e h e n Bildern angetroffenen Art beobachten. Wir stellen uns also im folgenden auf den Standpunkt, daß die Dehnungen und die Verzerrungen der Figuren nach demselben Prinzip verständlich zu machen seien und daß, falls man dabei überhaupt zur Erklärung durch Astigmatismus greifen will, man eine Kombination von regelmäßigem und unregelmäßigem Astigmatismus anzunehmen habe. „Unregelmäßiger Astigmatismus liegt vor, wenn eine der brechenden Flächen (in der Regel die Hornhaut) solche Unregelmäßigkeiten zeigt, daß die Form des gebrochenen Strahlenbündels überhaupt nicht mehr bestimmt werden kann. Hauptsächlich sind es Veränderungen der Hornhautoberfläche durch Narben, Facetten usw., die unregelmäßigen Astigmatismus bewirken." S c h w a r z , a. a. 0 . , S. 143. 1

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Die starken Abweichungen von der Tradition, die hinsichtlich der Raumgestaltung bei G r e c o zu beobachten sind, hat man bislang nicht auf einen Astigmatismus zurückzuführen versucht, und es ist auch nicht einzusehen, wie man das tun könnte. Wir selbst werden am Schluß der Studie andeuten, daß hier an tiefere Motive zu denken ist. Beschränkte sich die bisherige Betrachtung auf die Andeutung der Verlegenheiten, welche die Darstellungsweise G r e c o s einer Erklärung bereitet, so hat nun die systematische Untersuchung der in dieser Studie aufgeworfenen Frage zu erfolgen. Weder dürfen die Anhänger der Hypothese, Greco sei astigmatisch gewesen, eine unbedingte Anerkennung ihres Beweisverfahrens beanspruchen, noch haben die Gegner in überzeugender Weise dessen Unhaltbarkeit erwiesen. Als Widerlegung vermag ich z. B. auch die Ausführungen K e h r er s nicht zu betrachten, da sie nicht auf eine Prüfung der vorgebrachten Argumente eingehen. „Vom kunstwissenschaftlichen Standpunkte liegt kein Grund zu der Annahme vor, G r e c o sei astigmatisch, ja wahnsinnig gewesen. Nur aus den Absichten seines Stils sind die eigenartigen Kompositionen und die ungewöhnlichen Proportionen zu erklären." Die Anhänger der Hypothese haben in zu einseitiger Weise meist nur den optischen, nicht den psychologischen Teil des Wahrnehmungsvorgangs des Künstlers berücksichtigt und sind den daran sich anschließenden Eigentümlichkeiten des Produktionsvorganges zu

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wenig nachgegangen. Sie stellten sich das künstlerische Schaffen wohl zu sehr nach dem Prinzip der photographischen Kammer vor, für die allerdings gilt, daß sie bei einem fehlerhaften optischen System auch eine fehlerhafte Photographie liefern muß. Nach so mechanischen Prinzipien ist nun einmal das Sehen des Menschen nicht zu deuten. Wem die in der folgenden Analyse eingeschlagenen Pfade zu sehr gewunden scheinen und die angestellten Überlegungen den Eindruck unfruchtbarer Betrachtungen eines Psychologen machen, der sei daran erinnert, daß nicht der Psycholog die Streitfrage aufgeworfen hat, welche derartige Überlegungen notwendig macht, sondern der Kunsthistoriker. Ich glaube aber doch, daß dem Psychologen das Recht des Einspruchs zusteht, wenn eine Frage, die sein Forschungsgebiet berührt, nicht in methodisch einwandfreier Weise behandelt wird. Als unfruchtbar wird man aber die angestellten Betrachtungen schon darum nicht bezeichnen können, weil sie einfach für die Beurteilung von G r e c o s Werk e n t s c h e i d e n d sind, weil sie nämlich eine Auskunft darüber geben, ob die auffälligsten Züge in der Darstellungsweise G r e c o s beabsichtigt waren oder ob sie sich aus der Natur seines optischen Sinnesorgans mit, man könnte sagen, mechanischer Notwendigkeit ergeben haben. Ließe sich der Beweis von G r e c o s Astigmatismus erbringen und seine Darstellungsart als eine Folge desselben erweisen, so wäre eine Untersuchung der Frage nach den

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Motiven seines Stils überflüssig, ja unsinnig. Von Motiven könnte dann keine Rede sein, er h ä t t e dann so, wie er gearbeitet hat, aus einem optischen Zwang heraus gearbeitet. Das Problem des G r e c o s e h e n Stils in dem Sinne einer von ihm mit Bewußtsein und Absicht vorgenommenen Stilisierung der äußeren Eindrücke kann erst mit Sinn erhoben werden, wenn jeder Zweifel an einer sinnespsychologischen Bedingtheit seiner Malweise beseitigt ist. Wohlgemerkt ist die ä s t h e t i s c h e W e r t s c h ä t z u n g der G r e c o sehen Kunst von der Entscheidung jener Frage unabhängig, diese bestimmt sich allein oder in ausschlaggebender Weise hier sowohl wie bei jedem Kunstwerk nach der sinnlich wirksamen Anschaulichkeit, an die sich vielleicht noch assoziative Faktoren allgemeinster Natur anschließen. Zu diesen assoziativen Faktoren ist aber selbst bei weitestem Entgegenkommen gegenüber der Theorie von der Bedeutsamkeit assoziativer Faktoren beim Kunstgenuß all das, was sich auf die Genese des Kunstwerks in technischer Hinsicht bezieht, berechtigtermaßen nicht mehr zu rechnen. Die entgegengesetzte Ansicht würde — für die bildende Kunst jedenfalls — jedes ästhetische Werturteil geradezu zur Unmöglichkeit machen. Mit Anwendung des Gesagten auf die G r e c o sehe K u n s t : Wäre das, was wir an ihr in ästhetischer Hinsicht bewundern, genetisch aus einer Anomalie seines Sehorgans zu verstehen, so müßte doch unsere Wertschätzung dieselbe bleiben, nur wäre die ganze Pracht

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eben einem merkwürdigen Zufall zu verdanken. 1 Für das Verständnis und die Beurteilung des Menschen G r e c o ist aber die Entscheidung unserer Frage ausschlaggebend. Die Anhänger der Hypothese von G r e c o s Astigmatismus sind stillschweigend von der Voraussetzung ausgegangen, G r e c o habe die Absicht gehabt, den menschlichen Körper im großen und ganzen in seinen natürlichen Verhältnissen darzustellen. Macht man diese Voraussetzung nicht, so h a t es natürlich auch keinen Sinn, nach Ursachen für die Abweichungen von diesen natürlichen Verhältnissen zu suchen. Die P r ü f u n g der Hypothese h a t an ihre Spitze die Frage zu stellen, ob der G r e c o sche Astigmatismus als ein angeborener oder als ein erworbener betrachtet werden soll. Es ist notwendig, sich diese Alternative vor Augen zu halten, da sich sehr bald ergeben wird, daß die Hypothese grundsätzlich in dem Fall des erworbenen Astigmatismus mit einem äußerst geringen Grad und nur in dem Fall des erworbenen Astigmatismus mit einem etwas höheren Grad von Wahrscheinlichkeit zur Erklärung mancher Verzeichnungen auf einigen Bildern G r e c o s hätte in Betracht kommen können. Zwar h a t bereits G o l d s c h m i d t auf jene Alternative aufmerksam gemacht, doch h a t er es unterlassen, 1

Für das ästhetische Gebiet steht noch eine systematische Untersuchung darüber aus, welche Bedeutung dem Zufall als wertschaffender Faktor zukommt.

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jene beiden Fälle in ihrer Bedeutung für das vorliegende Problem gesondert zu behandeln. Ja, indem er sich für ein Angeborensein des Astigmatismus zu entscheiden scheint, macht er die Hypothese für die Erklärung in dem angedeuteten Maße unbrauchbar. 1 Wir beschränken im folgenden die Betrachtung auf den Fall des regelmäßigen Astigmatismus, für den unregelmäßigen wären ganz entsprechende Überlegungen durchzuführen. Setzen wir also den Fall eines angeborenen regelmäßigen Astigmatismus, der alle Objekte in einer bestimmten regelmäßigen, z. B. elliptischen, Weise verzeichnet zur Abbildung bringt. Hat unser Astigmatiker die Absicht, einen in elliptischer Abbildung erscheinenden objektiv kreisförmigen Gegenstand darzustellen, wird er ihn dann elliptisch darstellen? Man könnte geneigt sein, diese Frage mit Rücksicht auf folgende Überlegung zu verneinen. Damit der Astigmatiker von einer auf der Leinwand fixierten Zeichnung 2 denselben Eindruck erhält wie von einem gesehenen Gegenstand, muß er ihn objektiv richtig zeichnen, also einen kreisförmigen Gegenstand wieder kreis1

„Der Astigmatismus kann wohl durch Erkrankung der Hornhaut und Linse erworben sein, ist aber in den meisten Fällen mit einem anormalen Bau des Auges und des Schädels überhaupt (siehe G r e c o s angebliches Selbstbildnis bei B e r u e t e ) angeboren." 2 Der Einfachheit des Ausdrucks wegen sprechen wir im folgenden meist von Zeichnung und zeichnen anstatt von Gemälde und malen.

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förmig, einen elliptischen wieder in demselben Maße elliptisch usw. Würde er den kreisförmigen Gegenstand elliptisch darstellen, so würde ihm die Zeichnung selbst wieder in höherem Maße elliptisch erscheinen, und es müßte die Abweichung vom Vorbild sofort deutlich werden. Also unter der Voraussetzung, daß es dem Astigmatiker darauf ankäme, von vor ihm befindlichen Gegenständen Bilder entstehen zu lassen, die denselben Eindruck wie die Gegenstände selbst erwecken, sollten Verzeichnungen überhaupt nicht vorkommen. Soviel läßt sich mit Sicherheit sagen, daß eine in jeder Hinsicht naturalistische Darstellung eines Gegenstandes den Astigmatiker völlig befriedigen müßte, weil Gegenstand und Darstellung bei der Betrachtung genau dieselben Verzeichnungen erleiden würden. Es ist aber die Frage, ob der Astigmatismus seinem Träger eine derartige in jedem Punkt übereinstimmende Darstellung eines Gegenstandes gestatten würde. Für den Astigmatiker bilden sich, wenn der Astigmatismus nicht durch ein geeignetes Glas korrigiert wird, die Gegenstände, abgesehen von den bereits genannten Verzeichnungen, auch mit größerer Undeutlichkeit ab. Er kann darum auch nicht, selbst wenn er es wollte, die Einzelheiten und die Struktur der Objekte mit ihrer in der Natur vorhandenen Feinheit wiedergeben. Wir dürfen also in dieser Hinsicht nie eine genaue Wiedergabe der Natur beim Astigmatiker erwarten. Es muß auf seinen Bildern eine gewisse Verschwommenheit vor-

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herrschen. 1 Wird nun aber, von dieser Verschwommenheit abgesehen, den obigen Betrachtungen zufolge nicht eine der Form nach im großen und ganzen korrekte Zeichnung erhalten werden? Darauf ist tatsächlich eine bejahende Antwort zu geben. Eine Überlegung, welche Rücksicht zu nehmen hat auf die Verschiedenheiten der Deutlichkeit von astigmatischen Zerstreuungsbildern bei Gegenstands- und Bildbetrachtung läßt es aber nicht ganz ausgeschlossen erscheinen, daß tatsächlich minimale, aber auch nur minimale, Verzeichnungen im Sinne der astigmatischen Abbildung zustande kommen können. Diesen Nachweis, der sich zu stützen hat auf die Tatsache der Vernichtung unerwünschter physikalisch bedingter Zerstreuungskreise durch die physiologische Wechselwirkung der Sehfeldelemente 2 , möge man mir hier erlassen, weil er nur in recht umständlicher Weise zu erbringen ist. Man begnüge sich hier mit einem anschaulichen und darum besonders überzeugenden Nachweis, daß das astigmatische Auge im wesentlichen korrekte Zeichnungen zu liefern vermag. Wir nehmen dem auf S. 18 Ausgeführten zu1 Auch die nicht korrigierte Kurzsichtigkeit muß, wie eine entsprechende Erwägung lehrt, beim Malen zu einer gewissen Verschwommenheit der Darstellung führen. 2 Vgl. hierzu E. H e r i n g , Zur Lehre vom Lichtsinn. Sonderabdruck aus G r ä f e - S ä m i s c h s Handbuch der gesamten Augenheilkunde. Teil 1, Kap. 12. Leipzig 1905. S. 17ff.

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folge an, daß der durch ein Zylinderglas hervorgerufene künstliche Astigmatismus in seiner Wirkung dem natürlichen gleichzusetzen ist. Davon ausgehend habe ich nun, da mir niemand mit stärkerem natürlichem Astigmatismus zur Verfügung stand, selbst mit künstlich astigmatisch gemachtem Auge Zeichenversuche angestellt. Ich brachte vor meinem rechten Auge eine planzylindrische Linse von — 8 Dioptrien an und zeichnete nun nach Vorlagen, während das linke Auge geschlossen blieb. Ich erhielt dabei Zeichnungen, die im wesentlichen mit den Vorlagen übereinstimmten und von astigmatischen Verzeichnungen nichts verrieten. Nur zeigte die Strichführung, und zwar nach allen Richtungen, eine gewisse Unsicherheit, die sich, wie die Selbstbeobachtung während des Zeichnens ergab, als eine Folge der Undeutlichkeit der Abbildung sowie der gestörten Koordination zwischen optischem und kinästhetischem Bewegungseindruck einstellte. Besonders überzeugend wurden diese Versuche für mich dadurch, daß ich dieselben Zeichnungen erhielt, wenn ich die Zylinderlinse abwechselnd mit horizontaler und mit vertikaler Achse vor dem Auge anbrachte, das Auge dadurch also einmal nach der Regel, das andere Mal gegen die Regel astigmatisch machte, trotzdem dabei die Vorlagen einen total anderen Eindruck machten. 1 Ich schließe 1

Einige dieser Zeichenversuche habe ich mit Fräulein stud. phil. L. L j u n g g r e n wiederholt und dabei dieselben Resultate erhalten.

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aus diesen Ergebnissen nicht, was man vielleicht erwartet, daß bei natürlichem Astigmatismus keinerlei Verzeichnungen möglich sind. Die minimalen Verzeichnungen, auf die man theoretisch beim Maler rechnen darf, brauchten nämlich unter den Bedingungen unseres Versuchs, bei denen Vorlagen, die aus mit dem Hintergrund stark kontrastierenden Linien gebildet waren und ebensolche Reproduktionen gegeben waren, nicht in die Erscheinung zu treten. Derartige Bedingungen bestehen für den produzierenden Maler im allgemeinen nicht, weil in der Natur Schwarz und Weiß selten unmittelbar gegeneinandergesetzt vorkommen. Nur soviel scheint sich aus diesen Versuchen, besonders unter hinreichender Würdigung der Tatsache, daß wir hier einen ganz beträchtlichen, in praxi nur selten vorkommenden Grad von Astigmatismus erzeugt haben, schon mit Sicherheit zu ergeben, daß für die gewaltigen Verzeichnungen, die wir auf Grecoschen Bildern antreffen, die Annahme eines Astigmatismus beim Zeichnen nach der Natur keine Erklärung zu geben vermag. Wie steht es nun, wenn G r e c o nicht nach der Natur, sondern nach der Phantasie unter Zuhilfenahme von Erinnerungsbildern gearbeitet hat, was ja bei der großen Mehrheit der Bilder, die den Verdacht des Astigmatismus haben aufkommen lassen, sehr wahrscheinlich ist, lassen sich dann nicht die Verzeichnungen verständlich machen ? Auch in diesem Fall vermag die Annahme eines angeborenen

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Astigmatismus keine Aufklärung zu geben. Hat Greco seinem Gedächtnis eine Figur eingeprägt und will er sie nach der Erinnerung auf die Leinwand bringen, so muß er sie objektiv wieder richtig zeichnen, damit die Zeichnung übereinstimmt mit dem Erinnerungsbild, welches er von früher her besitzt. Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich in ganz einwandfreier Weise, daß die Annahme eines angeborenen regelmäßigen Astigmatismus die Art der Grecoschen Darstellung nicht verständlich macht, weder unter den Bedingungen eines Arbeitens nach der Natur noch unter denen eines Arbeitens nach der Phantasie. Die vorstehenden Betrachtungen wurden unter der der Hypothese noch besonders günstigen Voraussetzung durchgeführt, daß sich der Sehakt und die zeichnerische Umsetzung des Wahrgenommenen nach dem Prinzip der photographischen Registrierung regle, daß zum mindesten der Astigmatiker die Dinge in jedem Augenblick so wahrnehme, wie es dem jeweiligen Netzhautbild entspreche. Wenn es möglich wäre, die Hypothese noch unwahrscheinlicher erscheinen zu lassen, so könnte hierzu ein Hinweis auf die Beeinflussung der natürlichen Gesichtswahrnehmung durch gewisse Bewegungsvorgänge dienen. Der Sehakt wurde so vorgestellt, als sei das Auge im Kopf unbeweglich befestigt und als existierten nicht Verschiebungen des Auges zu den Gegenständen und der Gegenstände zum Auge. Tatsächlich ändert sich die relative Lage von Auge 3

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und Gegenstand beständig, und das Auge selbst besitzt eine so hohe natürliche Beweglichkeit, daß es dem Psychologen bei Versuchen im Laboratorium ernsthafte Schwierigkeiten bereitet, seine Fixierung auch nur für kurze Zeit zu erzwingen. Diese mannigfachen Bewegungsmöglichkeiten erweisen sich nun für den Sehakt von größter Bedeutung und lassen ihn zu einem recht komplizierten Vorgang werden. Die Auffassung der Gegenstände geht aus einer Synthese sukzessiver Eindrücke hervor. Wenn ein kreisförmiger Gegenstand bei einer bestimmten Stellung zu den Augen eines Astigmatikers hinsichtlich einer bestimmten Richtung elliptisch erscheint, so tut er es nach einer anderen Richtung bei einer anderen Stellung zu den Augen. Nach all dem, was wir über Angleichungsphänomene im Gebiete der Gesichtswahrnehmung wissen 1 , darf es nun als ausgeschlossen gelten, daß sich das Bewußtsein eines Astigmatikers mit einem so offenbaren Widerspruch in der Dingwahrnehmung zufrieden geben wird. Wir können damit rechnen, daß es im Laufe der individuellen Erfahrung zu einer Verarbeitung der verschiedenen Einzeleindrücke kommen wird und daß sich darauf eine Wahrnehmung des Dinges gründen wird, die sich der des nicht-astigmatischen 1

Am bekanntesten sind die am blinden Fleck beobachteten Angleichungsphänomene, die uns die Stelle des blinden Flecks in der Farbe seiner Umgebung erscheinen lassen. Vgl. hierzu z. B. W. W u n d t , Grundzüge der physiologischen Psychologie. 6. Auflage. Bd. 2. 1910. S. 539.

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Auges nähert. Wir haben also anzunehmen, daß die Objekte dem mit einem angeborenen Astigm a t i s m u s behafteten Individuum wesentlich weniger verzeichnet erscheinen werden als einem normalsichtigen Individuum, welches sein Auge für wenige Sekunden oder Minuten in demselben Maße künstlich astigmatisch macht. Das muß zur Folge haben, daß die von uns oben als möglich angenommenen minimalen Verzeichnungen eine weitere Einschränkung erfahren. Die untersuchte Hypothese hat demnach auch bezüglich des vorstehend geltend gemachten Gesichtspunktes von unzulässigen Voraussetzungen ihren A u s g a n g genommen. Wenn nicht die Gültigkeit der Hypothese noch für den Fall des erworbenen Astigmatismus zu prüfen wäre, so wäre sie a l s o , s c h o n mit den vorstehenden Ausführungen als widerlegt zu betrachten. Astigmatismus kann von einem zunächst Normalsichtigen zu Lebzeiten erworben werden. ,,Der Astigmatismus kann durch die Hornhaut oder durch die Linse verursacht werden. Der erste Fall tritt ein, wenn durch E r k r a n k u n g der Hornhaut . . . . deren Wölbung geändert wird . . . . Die Linse bringt regelmäßigen Astigmatismus hervor, wenn sie sich schräg stellt, also bei S u b l u x a t i o n . " 1 Aus den Daten, die uns über G r e c o s Leben berichten, ist von einer Augenerkrankung, die eine Sehstörung astigmatischer Natur hätte zur Folge haben können, nichts zu entnehmen. Das besagt allerdings bei 1

F u c h s , a. a. 0., S. 757f. 3*

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der Lückenhaftigkeit dieser Angaben nichts gegen eine derartige Erkrankung. Wir haben aber unter diesen Umständen zu versuchen, auf indirektem Wege zu einer Entscheidung zu kommen. Es ist natürlich gänzlich ausgeschlossen, daß G r e c o der Eintritt eines Astigmatismus hätte verborgen bleiben können. Kam er ihm aber zum Bewußtsein, dann dürfte er sich kaum der Produktion weiter hingegeben haben, ohne zu versuchen, die durch den erworbenen Fehler seines optischen Systems bedingten Abweichungen seines Sehens zu kompensieren. Nehmen wir aber einmal an, G r e c o habe unbekümmert um seine veränderte Sehweise, sozusagen naiv, weitergearbeitet. Dann hätten wir auch den Einfluß des erworbenen Astigmatismus getrennt zu untersuchen für die beiden Fälle des Arbeitens nach der Natur und nach der Erinnerung. Nach den oben angestellten Versuchen sollten wir für den Fall, daß er nach Erwerbung des Astigmatismus nach der Natur arbeitete, wieder eine im wesentlichen richtige Darstellung erwarten. Ich verhehle mir nicht, daß im Interesse einer allseitigen Untersuchung an dieser wie an anderen Stellen unserer Studie eine Analyse der bei der malerischen Produktion in Betracht kommenden Bewegungen des ausführenden Organs der Analyse der optischen Verhältnisse hätte parallel gehen müssen. Aber es fehlen uns für eine derartige Analyse noch gänzlich die empirischen Unterlagen. Nur soviel darf man wohl trotzdem zu sagen wagen,

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daß bei der durchgängigen Überlegenheit der Feinheit der optischen Leistung — man denke nur daran, wie sehr die Exaktheit der Bewegungen von Arm und Hand bei Fortfall der gewohnten optischen Kontrolle leidet — das Visuelle stets die Führung gegenüber dem Motorischen bewahren wird. Ja, es ist durchaus zu erwarten, daß das Visuelle bei Änderungen, die es im Gefolge von Störungen wie Astigmatismus treffen, sofern sie nur nicht exzessiv sind, seine Überlegenheit selbst älteren gedächtnismäßig eingeprägten motorischen Reihen gegenüber aufrechterhalten wird. Es bleibt nun noch der Fall zu erledigen, daß Greco nach Erwerbung des Astigmatismus nach der Phantasie arbeitete und dabei Erinnerungsbilder, die in den gesunden Tagen erworben worden waren, zur Verwendung kamen. In diesem Fall, und nur in diesem Fall, wäre mit einer astigmatischen Verzeichnung der Figuren zu rechnen. Denn an genommen, es schwebte ihm etwa in der Erinnerung ein kreisförmiges Gebilde vor, so würde er, um einen Eindruck auf der Leinwand zu erzielen, der seinem Gedächtnisbild entspricht, ein elliptisches Bild zeichnen müssen. Für diese Behauptung ist auch unschwer der experimentelle Nachweis zu erbringen. Ich machte mein rechtes Auge wieder mit dem planzylindrischen Glas, welches bei dem ersten Versuch Verwendung gefunden hatte, unter Verdeckung des linken Auges künstlich astigmatisch und zeichnete nun aus dem Gedächtnis eine Reihe

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von Gegenständen, Tieren und menschlichen Figuren so, daß sie den mir vorschwebenden Erinnerungsbildern entsprachen. Ich erhielt dabei Bilder, die natürlich bei Betrachtung ohne Glas einen astigmatisch völlig verzeichneten Eindruck machten. Auch bei diesen Versuchen wird die Diskrepanz zwischen den visuell und den kinästhetisch vermittelten Bewegungseindrücken ganz deutlich. So selbstverständlich eigentlich auch die Resultate dieser Versuche sind, so reizvoll ist doch wegen der mannigfachen dabei möglichen Selbstbeobachtungen ihre Durchführung. Nun erhebt sich allerdings die Frage, ob die vor dem Eintritt des Astigmatismus erworbenen Vorstellungsbilder G r e c o bei der Produktion oder bei der Kontrolle des Gezeichneten lange im Sinne von Verzeichnungen hätten beeinflussen können, ohne durch die von dem astigmatisch gewordenen Auge aufgenommenen Gedächtnisbilder gehemmt zu werden. 1 Das wäre dann wahrscheinlicher, wenn der Astigmatismus erst in einem so hohen Alter eingetreten wäre, daß die früheren Gedächtnisbilder das Feld zu behaupten vermochten. Man hätte die Ergebnisse der Datierung der einzelnen Bilder G r e c o s zur Entscheidung dieser Betrachtung mit heranzuziehen. Der Umstand, daß viele Bilder G r e c o s , die den Verdacht des Astigmatismus haben 1 Zweifelhaft auch schon im Hinblick auf die unten zu erwähnenden Angleichungsphänomene bei dioptrischen Metamorphopsien.

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aufkommen lassen, Eingebungen der Phantasie gewesen sein dürften, spricht nicht gerade gegen die einzige Möglichkeit, die in dieser Studie diskutierte Hypothese teilweise — wir wollen mit Rücksicht darauf von einer Teilhypothese sprechen — aufrecht zu erhalten. Man könnte daran denken, auch zur Entscheidung der vorstehend berührten Frage nach der Erwerbung von Gedächtnisbildern durch ein astigmatisch gewordenes Auge das Experiment am lebenden Menschen heranzuziehen, welches sich natürlich über eine längere Zeit erstrecken müßte. Ich wollte mich diesem Versuch selbst unterziehen, mußte aber das Zylinderglas bald wieder von meinem Auge entfernen, weil sich schnell aus hier nicht weiter zu verfolgenden — sehr wahrscheinlich mit dem Akkommodationsmechanismus zusammenhängenden — Ursachen eine heftige Übelkeit einstellte. Zum Glück sind nun aber bereits ähnliche Versuche ausgeführt worden, bei denen an Stelle zylindrisch geschliffener Gläser prismatische Gläser eine Verwendung gefunden haben, die auch Bildverzerrungen zur Folge haben. W u n d t berichtet über die dabei zur Beobachtung kommenden als dioptrische Metamorphopsien bezeichneten Phänomene folgendes: „Man lasse sich eine prismatische Brille anfertigen, deren brechender Winkel zweckmäßig, um störende Farbenwirkungen zu vermeiden, 5 — 6 ° nicht überschreitet. Durch eine solche Brille erscheinen zunächst geradlinige Konturen gebogen,

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ebene Flächen gewölbt, und kompliziertere Bilder dementsprechend verzerrt. Entschließt man sich aber eine solche Brille dauernd zu tragen, so verschwinden die Verzerrungen schon nach wenigen Tagen: man sieht jetzt die Gegenstände ebenso gerade wie mit bloßem Auge oder mit einer nicht prismatischen Brille. Da nun das Bild auf der Netzhaut in diesem Falle immer dasselbe bleibt, so kann diese Aufhebung der Verzerrung nur auf eine Anpassung der Netzhautelemente an die neuen Bedingungen des Sehens zurückgeführt w e r d e n . " 1 Ebensowenig wie für den Eintritt der Verzeichnungen kann es für deren Ausgleich irgendeinen Unterschied bedingen, ob dieselbe durch eine künstliche Vorrichtung oder durch natürliche Veränderungen in den brechenden Medien des Auges ihre Ursache haben. Wir sollten also auch bei einem erworbenen Astigmatismus auf einen, zumal in kurzer Zeit sich vollziehenden, wenigstens teilweisen zentralen Ausgleich der entstehenden Verzeichnungen rechnen dürfen. Aus der Betrachtung der Bilder G r e c o s selbst wird sich auch die Unwahrscheinlichkeit einer solchen Teilhypothese ergeben. Aber es wird für alle zukünftigen Fälle lehrreich sein, zunächst in einer noch mehr allgemeinen Weise den Grad ihrer Wahrscheinlichkeit zu erwägen. Sie wird sich selbst wieder als abhängig von weiteren nur wenig wahrscheinlichen Bedingungen erweisen, so daß man daraus — der Wahrscheinlichkeitsalgorithmus schreibt 1

W u n d t , S. 543 des oben erwähnten Werkes.

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ja die Multiplikation der einzelnen Wahrscheinlichkeitswerte vor — den niedrigen Grad ihrer Wahrscheinlichkeit erschließen kann. Wenn auch mit der Möglichkeit der Erkrankung e i n e s Auges G r e c o s , die Astigmatismus zur Folge hat, zu rechnen ist, so ist es doch nicht sehr wahrscheinlich, daß eine solche Erkrankung gleichzeitig b e i d e Augen ergriffen habe. Es würde aber anzunehmen sein, daß G r e c o bei Erkrankung nur eines Auges sich mehr auf das gesundgebliebene Auge beim Arbeiten verlassen haben würde. Auch diese Annahme läßt sich experimentell leicht als berechtigt erweisen. Bei den zuletzt erwähnten Versuchen stellen sich die astigmatischen Verzeichnungen n i c h t ein, wenn das linke Auge beim Zeichnen nicht geschlossen gehalten wird, sondern geöffnet bleibt. Dieses Resultat zeigt offenbar, daß, trotzdem beim gewöhnlichen binokularen Sehen die Eindrücke meines rechten Auges die Gesichtswahrnehmung in höherem Maße bestimmen als die des linken Auges, sie doch dann, wenn sie astigmatisch verzeichnet sind, keine nennenswerte Berücksichtigung finden. Die astigmatisch verzeichneten Eindrücke meines rechten Auges würden sich aber sicher dann beim binokularen Sehen durchgesetzt haben, wenn mein linkes Auge in hohem Maße sehuntüchtig wäre. So sollten wir auch nur dann bei einem Astigmatischwerden des einen Auges G r e c o s astigmatische Verzeichnungen in seinen nach Erinnerungsbildern komponierten Werken erwarten, wenn er auf einem

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Auge überhaupt blind oder in dem Maße sehuntüchtig gewesen wäre, daß er es beim Sehen nicht verwendet hätte. Verfolgen wir also auch noch die hier angedeutete Möglichkeit. Da scheint nun den Anhängern der Teilhypothese eine neue Hoffnung zu erwachsen. Es gibt eine Reihe von Portraits von der Hand G r e c o s , sowie Köpfe auf größeren Werken, in denen man Selbstportraits vermutet. 1 Einige dieser Selbstbildnisse, a m deutlichsten das von dem Gemälde, welches die Bestattung des Grafen von Orgaz darstellt, zeigen nun einen ausgesprochenen Strabismus des rechten Auges. Es erscheint demnach nicht ganz unberechtigt anzunehmen, G r e c o habe selbst einen starken Strabismus des rechten Auges besessen. Bei hohen Graden des Schielens wird nun häufig eine starke Beeinträchtigung der Sehtüchtigkeit des schielenden Auges beobachtet, es kommt vor, daß die Eindrücke dieses Auges wegen der störenden Doppelbilder, die sie veranlassen, unterdrückt werden und beim binokularen Sehen zur Konstituierung der Gesichtswahrnehmung nichts beitragen. Es bleibt also die Möglichkeit bestehen, G r e c o habe infolge des Strabismus seines rechten Auges fast nur das linke zum Sehen benutzt und 1

C o s s i o hat alle Köpfe, in denen man Selbstbildnisse vermutet hat, auf Tafel 1 des zu seiner Biographie gehörigen Bilderatlanten zusammengestellt. Er hat auch in eingehender Weise für die einzelnen Köpfe die Berechtigung dieser Vermutung geprüft.

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dieses sei dann infolge einer Erkrankung astigmatisch geworden. Also nur bei der Annahme, daß ein Auge G r e c o s (etwa infolge eines Strabismus) zum Sehen nicht wesentlich herangezogen worden sei, erscheint es nicht völlig ausgeschlossen, daß seine Bilder beim Arbeiten nach der Erinnerung wenigstens zeitweilig durch den erworbenen Astigmatismus beeinflußt worden seien. Es darf nun nicht verschwiegen werden, daß selbst den hier in Betracht kommenden Bildern, auch wenn ihre Natur als Selbstbildnisse nicht umstritten wäre, nicht mit unbedingter Sicherheit zu entnehmen ist, G r e c o sei in dem Maße strabisch gewesen, wie es auf diesen Bildern erscheint. Wir bezeichneten oben die Anschauung M e i e r - G r ä f e s als nicht unberechtigt, G r e c o habe mit Vorliebe in der Portraitkunst kleine Unregelmäßigkeiten der Gesichtszüge im Dienste einer schärferen Charakterisierung übertrieben. Die Gültigkeit dieser Anschauung vorausgesetzt, hätte man also nicht einmal anzunehmen, G r e c o habe tatsächlich einen Strabismus von solcher Stärke besessen, wie er auf einigen Selbstportraits zutage tritt. Niedrigere Grade von Strabismus brauchen aber die Sehschärfe des schielenden Auges nicht in der angedeuteten ungünstigen Weise zu beeinflussen. Wir wollen aber nun, indem wir die Untersuchung wieder im näheren Anschluß an G r e c o s Werk selbst durchführen, auf andere Konsequenzen der Hypothese, von der auch die Teilhypothese

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betroffen wird, aufmerksam machen, die sich nicht erfüllt zeigen, und die so den Rest von Wahrscheinlichkeit, welchen wir vorstehend der Teilhypothese beließen, zerstören müssen. Ein optisches System von einer bestimmten brechenden Kraft bildet stets in derselben Weise ab und liefert nicht heute Bilder dieser, morgen jener Art. So sollte nun auch bei der optischen Natur des Astigmatismus G r e c o stets zu Verzeichnungen von genau derselben Art geführt worden sein. Diese Folgerung ist gar nicht zu umgehen. Sie findet nun aber durchaus keine Bestätigung durch die Tatsachen. Wäre G r e c o wirklich astigmatisch geworden, so hätte er von diesem Zeitpunkt an ohne Ausnahme Bilder von astigmatischer Verzeichnung malen sollen. Nun trifft es aber keineswegs zu, daß alle Bilder, welche solchen Werken folgen, die den Verdacht des astigmatischen Ursprungs in besonderem Maße erwecken, von eben diesem Typus seien, eine Tatsache, auf die mit Recht schon K e h r er auf S. 91 seiner Arbeit hingewiesen hat. Bildern mit Figuren von auffälliger Verzeichnung folgen solche, bei denen ein Verdacht der Sehstörung gar nicht aufkommt. Wir finden in der (nach Cossio) letzten Epoche G r e c o s völlig unverdächtige Bilder, während in der vorhergehenden zweiten Epoche Bilder mit deutlichen Verzeichnungen vorkommen. Vergeblich würde man sich aber bemühen, alle Bilder der ersten Art als Schöpfungen nach der Natur, alle Bilder der letzten

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Art als Schöpfungen nach der Phantasie zu erweisen. In noch höherem Maße unverträglich mit der Hypothese ist die Tatsache, daß auf Gemälden mit Verzeichnungen durchaus nicht für alle Teile dieselbe Richtung der Verzeichnung vorherrscht und daß auf demselben Gemälde sowohl verzeichnete Figuren als solche vorkommen, die entweder als normal gelten können oder nur eine solche Schlankheit aufweisen, die wir als künstlerisch ohne weiteres zulässig ansehen. Der Astigmatiker sieht alle Dinge in derselben Richtung verlängert, also von oben nach unten oder von rechts nach links oder in anderen dazwischen liegenden Richtungen. Ebensowenig wie ein regelmäßiges optisches System einen Teil der abgebildeten Dinge in horizontaler, einen anderen in vertikaler Verlängerung erscheinen lassen kann, ebensowenig wären von einem regelmäßig astigmatischen Auge Bilder mit verschiedener Verzeichnung in ihren verschiedenen Teilen zu erwarten. Als Beispiel sei hier das Begräbnis des Grafen von Orgaz genannt. Die Figuren des unteren Teiles des Bildes zeigen keine über den Rahmen des sonst vorkommenden wesentlich hinausgehenden Verlängerungen, dagegen befinden sich auf dem Teil desBildes, welcher die Szene aus der überirdischen Welt darstellt, Figuren von jener verdächtig erscheinenden Länge. Also auf demselben Bild Figuren von annähernd normaler und von auffällig übertriebener Länge. Das muß seinen Grund in

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tieferliegenden künstlerischen Motiven haben. Ist dem aber so, dann werden wir derartige tieferliegende Motive auch für die sonst bei G r e c o angetroffene Schlankheit der Figuren anzunehmen haben. Dann werden wir aber auch für die Erklärung der Verzerrungen nicht sofort an einen unregelmäßigen Astigmatismus denken. Daß hier die Hypothese versagt, ist ganz unzweifelhaft. Handgreiflich wird das auch dann, wenn wir das oben von G o l d s c h m i d t in Vorschlag gebrachte Verfahren anwenden, durch ein passend gewähltes korrigierendes Glas die Verzeichnungen G r e c o scher Bilder zum Verschwinden zu bringen. Bildern gegenüber wie dem zuletzt genannten gelingt das nur teilweise, d. h. also, man kann bei in einer bestimmten Lage festgehaltenem Glase zwar für einen Teil des Bildes die Körper so erscheinen lassen, daß sie einen mehr natürlichen Eindruck machen, dabei gewinnen aber nicht die Körper des anderen Bildteiles, ja erscheinen eher jetzt erst verzeichnet. A r r e a t berichtet auf S. 243f. in seinem oben erwähnten Buch über zwei von L i e b r e i c h mitgeteilte Fälle astigmatischer Maler. Ich hatte nicht die Möglichkeit, diesen Fällen an der Hand von L i e b r e i c h s Originalmitteilungen nachzugehen. Ich lasse die in Betracht kommenden Stellen aus A r r e a t in wörtlicher Übersetzung folgen, schicke aber voraus, daß ihnen nichts Sicheres für das Problem des astigmatischen Malers zu entnehmen ist, weil die Trennung der Gesichtspunkte, die wir als nötig nachgewiesen haben, nicht zur Durchführung gelangt ist. Auch erscheint die rein ophthalmologische Seite der Frage nicht ganz verständlich.

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„Ich kenne einen Landschaftsmaler und einen Bildnismaler, welche beide Astigmatismus von derselben Art haben, derart, daß die Brechung des vertikalen Meridians von der des horizontalen Meredians abweicht. Daraus folgt, daß ihr Sehen normal für die vertikalen Linien ist, daß es aber leicht myop ist für die horizontalen Linien. Diese Eigentümlichkeit h a t fast keinen störenden Einfluß für den Landschafter g e h a b t . . ." Der Vordergrund seiner Bilder, „welcher gewöhnlich Wasser mit leicht bewegten Wellen zeigt, ist nicht mit derselben Treue wie der Mittelgrund und der Hintergrund gemalt. Ich habe dort kleine horizontal gehaltene Pinselstriche von verschiedenen Farben gefunden, die gar nicht zum Wasser zu gehören schienen." Ein Glas, welches das Auge astigmatisch macht, läßt diese kleinen Striche verschwinden; m a n sieht das Bild, wie es der Maler bei der Arbeit gesehen hat. Was den Porträtisten angeht, der in Paris sehr geschätzt war, so wurden seine Bilder schlecht. Der Mangel der Genauigkeit, der daran als Wert erschien, artete in einen Fehler der Proportion aus. ,,In all seinen Bildnissen scheinen Hals und Oval des Gesichts beträchtlich verlängert, und alle Einzelheiten sind auf dieselbe Weise verlängert. „Dem Mangel an Genauigkeit der horizontalen Linien hat sich die Weitsichtigkeit f ü r die vertikalen Linien hinzugefügt."

Wir erhalten als Resultat der vorstehenden Untersuchungen, daß die auffällige Formgebung, die wir auf vielen Grecoschen Bildern antreffen, nicht durch die Annahme, G r e c o sei astigmatisch gewesen, ihre Erklärung zu finden vermag. Die Auffassung eines rein mechanisch bedingten Ursprunges von Besonderheiten seiner Kunst entfällt damit, und es ist freie Bahn geschaffen für die Untersuchung der tieferen Motive seines Schaffens.

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Bei der Begrenzung, die wir für unser Problem eingangs der Studie vorgenommen haben, sehen wir unsere Aufgabe als erledigt an und begnügen uns mit der Andeutung, daß diejenigen im Recht zu sein scheinen, welche das Ganze der G r e c o schen Kunst samt ihren Eigentümlichkeiten der Formgebung und der Raumgestaltung nach den Gesichtspunkten der reinen Malerei deuten wollen. Wir betonten vorstehend immer wieder die Auffälligkeit der Verzeichnungen der menschlichen Körper, wenn dabei seine natürlichen Maße zum Ausgangspunkt genommen werden. In höchstem Maße auffällig, ja geradezu unerträglich würden uns Grecosche Menschen sein, wenn sie uns in der Wirklichkeit begegnen würden. In der Grecosehen Kunst sind sie nur Gegenstände, an denen die mystischen Wunder der Farbe und des Lichts demonstriert werden sollen. Dem Künstler stehen die Notwendigkeiten des malerischen Prinzips höher als die Maße der Anatomie. Es ist Sache der Kunsthistoriker, uns von solchen Betrachtungen aus zu einem vollen Verständnis des Gr e c o sehen Stils zu verhelfen.

KUNST UND

ILLUSION VON

DR. JULIUS PAP Groß «Oktav - X u . 224 S. 1914. Eleg. in Leinen geb. 7.80 M„ geh. 6.80 M.

P \ a s Buch, das dem Andenken J—/ Theodor G o m p e r z ' gewidmet ift, spricht von der Illufion im Sinne des kunstpsydbologifchen Sprachge« brauchs, das heißt dem eigentümlidhen seelifcfien Erfolg der sogenannten naturdarstellenden Künste. Im pole« mifchen Teil setzt (ich der Verfafler mit den Darlegungen L a n g e s , V o l k e l t s , Lipps', K ü l p e s , S o u « r i a u s u. a. auseinander. Die Er«* gebnisse, zu denen Pap gelangt, sind für den Philosophen, den Aesthe« tiker, den Kunsitwiflenfdiafter von gleicher, großer Bedeutung.

VERLAG V E I T ® COMP. LEIPZIG

DI B W E R K E

VON

GOMPERZ

GEHÖREN ZU DEM WERTVOLLSTEN, WAS JE ÜBER DAS DENKEN DES ALTERTUMS GESCHRIEBEN WARD GRIECHISCHE D E N K E R Eine Geschichte der antiken Philosophie in drei Bänden. Groß-Oktav. Elegant in Halbfranz gegebunden 40.50 M. geheftet 33 M.

A R I S T O T E L E S ' POETIK übersetzt und eingeleitet von TH. GOMPERZ. Mit einer Abhandlung: Wahrheit und Irrtum in der Katharsis - Theorie des Aristoteles von A L F R E D FREIHERRN V O N BERGER. Oktav. Geheftet 3 M.

HELLENIKA.

Eine Auswahl logischer und philosophiegeschichtlicher Schriften in mehreren Bänden. Band I Band II 11 M. Der nächste Band unter der

philokleiner 12 M. Presse.

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VERLAG VEIT & COMP. LEIPZIG Marienstraße 18,

M e t z g e r & Wittig, L e i p z i g .