Wald – Weber – Wagner: Studien zur Waldthematik in der musikalischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts 3826074483, 9783826074486

Waldesrauschen und Hörnerschall, Vogelgesänge und Waldesstille – Imaginationen von Wald können durch ein weites Spektrum

168 7 9MB

German Pages 556 Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Wald – Weber – Wagner: Studien zur Waldthematik in der musikalischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts
 3826074483, 9783826074486

Table of contents :
Frontmatter
Vorbemerkungen
I. Natur als Landschaft
II. Wald, Musik und Waldmusik
III. Wald und Romantik
IV. Wald und Mittelalter
V. Heiliger Wald, heilende Waldluft
V. Heiliger Wald, heilende Waldluft
VII. Beobachtungen zu Webers Freischütz
VIII.Waldbilder in Wagners Schriften
IX. Das „Waldweben“ in Wagners Siegfried
X. Silvane Aspekte der Wagner-Rezeption
Backmatter

Citation preview

Georg Högl

Wald – Weber – Wagner Studien zur Waldthematik in der musikalischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts

Georg Hö gl

Wald – Weber – Wagner

WUÜ RZBURGER BEITRAÜ GE ZUR MUSIKFORSCHUNG Im Auftrag des Instituts fü r Musikforschung Wü rzburg herausgegeben von Ulrich Konrad Editionskollegium: Friedhelm Brusniak Andreas Haug Juniper Hill Bernhard Janz Ulrich Konrad Eckhard Roch Elena Ungeheuer

Band 8

Georg Hö gl

Wald – Weber – Wagner Studien zur Waldthematik in der musikalischen OÜ ffentlichkeit des 19. Jahrhunderts

Kö nigshausen & Neumann

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Richard-Wagner-Verbands Würzburg-Unterfranken e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 20 (Zugleich: Dissertation, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Philosophische Fakultät, 2020) © Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2021 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics / coverart Satz: Georg Högl Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

ISBN 978-3-8260-7448-6

www.koenigshausen-neumann.de www.ebook.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

Inhalt Vorbemerkungen................................................................................................................................11 I. Natur als Landschaft 1. Freiheit und Entfremdung .....................................................................................................19 2. Kompensation und Komplementaritä t 2.1. „Natur, ach!“ .......................................................................................................................27 2.2. Analyse und Synthese....................................................................................................29 2.3. Wald als Metapher fü r Verlust ...................................................................................31 3. Stimmungskunst 3.1. Verzeitlichung ...................................................................................................................39 3.2. Natur und Ich ....................................................................................................................42 3.3. Einheit und Stimmung ..................................................................................................46 3.4. Zum ä sthetischen Landschaftsbegriff ....................................................................48 3.5. Die Landschaft der Maler.............................................................................................49 3.6. Bewegungslandschaft und ›Seelenspiegel‹ ..........................................................52 3.7. Eine musikalische Landschaft in Tonkünstlers Leben......................................58 4. Landschaft als Kultur 4.1. Das landschaftliche Auge .............................................................................................63 4.2. Wald und Vergangenheit ..............................................................................................66 4.3. Rü ckwirkungen: Der „Stempel der Bearbeitung“ .............................................68 4.4. „Buch und Hain“ ...............................................................................................................72 4.5. Das landschaftliche Ohr................................................................................................78

II. Wald, Musik und Waldmusik 1. Hirten im Urwald und ›musica boschereccia‹ ...............................................................83 2. „Waldmusik“.................................................................................................................................87 3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick 3.1. Waldthematik in der poetischen Musikbeschreibung ....................................89 3.2. Programmatische Waldkompositionen .................................................................96 3.3. Waldszenen im Musiktheater: Kontexte und Tendenzen ........................... 101 a. Irrende Ritter .............................................................................................................. 104 b. Zauberwä lder ............................................................................................................. 107 c. Im Wald, da sind die Rä uber ................................................................................. 110 d. Kinder des Waldes .................................................................................................... 110 e. „Wilder Wald. Zigeuner-Lager.“ ........................................................................... 113 4. Literaturü berblick zu ›Wald und Musik‹ ...................................................................... 116

Inhalt

5. Der klingende Wald 5.1. Vorbemerkungen .......................................................................................................... 130 5.2. „Der Waldgesang der luft’gen Schaaren“ ........................................................... 134 5.3. Hö rnerklang ................................................................................................................... 140 a. Jagd .................................................................................................................................. 140 b. „Leis’ und ferner / Klingen Hö rner“ ................................................................. 147 c. Mehr Farbe als Zeichnung ..................................................................................... 158 5.4. Waldesrauschen............................................................................................................ 161 a. Windharfe Wald ......................................................................................................... 163 b. Natursprache .............................................................................................................. 168 c. „Luftschwingungen“ und „Empfindungsnerven“ ......................................... 173

III. Wald und Romantik 1. Als Einleitung............................................................................................................................ 175 2. Aufgeklä rte Ebene und romantischer Bergwald ....................................................... 176 3. Das Kleid der Venus ............................................................................................................... 180 4. Romantische Landschaft ..................................................................................................... 181 5. Erhabener Wald ....................................................................................................................... 186 6. „Wilde Wald- und Felsenlandschaft“ .............................................................................. 190 7. Wald und Welt 7.1. Ludwig Tieck und die ›Welt-Form‹ des Waldes .............................................. 193 7.2. Der Aufzug der Romanze............................................................................................ 196 8. Tiefe des Waldes...................................................................................................................... 199 9. Waldnacht – „wie in einem Zwischenreiche“.............................................................. 201 10. Der Wald hat Ohren............................................................................................................. 205

IV. Wald und Mittelalter 1. Wald in der romantischen Mittelalterrezeption ....................................................... 209 2. Wald in mittelalterlicher Literatur .................................................................................. 212 3. Wald als Schauplatz des Mittelalters.............................................................................. 214

V. Heiliger Wald, heilende Waldluft 1. Landschaft und Religion ...................................................................................................... 221 2. Waldesdom ................................................................................................................................ 223 3. „Kirchenstille der Wildniß“ ................................................................................................ 226 4. Waldesorgel ............................................................................................................................... 228

Inhalt

5. Exkurs: Schwebeklang und „Sehnsucht nach dem Walde“ ................................... 229 6. Monsalvat – mons silvaticus, mons salvationis.......................................................... 231 7. Waldluft – „zu den grü nen Tempeln der Gesundheit“ ............................................ 234

VI. Deutscher Wald 1. Der „klassische Morast“ ....................................................................................................... 239 2. Klopstock und der deutsche Eichenhain ...................................................................... 245 3. Der ›deutsche Wald‹ im Umfeld der Befreiungskriege 3.1. „Freiheit der deutschen Eichen“ ............................................................................ 249 3.2. „Die wilde Jagd und die Deutsche Jagd“ ............................................................. 253 3.3. Das „deutsche Waldesrauschen“ ........................................................................... 256 3.4. Wald als Kampfplatz der deutschen Oper ......................................................... 257 3.5. Exkurs: Die „Kö rner-Eiche“ auf der Opernbü hne .......................................... 259 4. Wagnersche Eichen ................................................................................................................ 261 5. Altdeutsche Wä lder................................................................................................................ 266 6. Germanische „Waldfreiheit“ und deutsches „Naturgefü hl“ 6.1. Klima und ›Nationalcharakter‹ .............................................................................. 268 6.2. Die „Waldideologie“ Wilhelm Heinrich Riehls ................................................ 272 6.3. Exkurs: Constantin Frantz und „was er vom Forst sagt“ ............................ 277 6.4. Wald und Volk ................................................................................................................ 278 6.5. ›Deutsch‹ zwischen Waldestiefe und Burghö he ............................................. 279 7. Ideallandschaft und „Tatsachenpartikel“ ..................................................................... 284 8. Exkurs: „Der Wald in der Musik der Germanen“....................................................... 287

VII. Beobachtungen zu Webers Freischütz 1. Vom Geiste des Romantischen ............................................................................................. 289 2. „Samiel! erschein’!“ ................................................................................................................ 295 3. „Nichts als Naturkrä fte!“ ...................................................................................................... 299 4. Die Adagio-Introduktion der Freischütz-Ouvertü re 4.1. Wer hö rt den Wald? Drei Positionen a. Christoph Ruths ......................................................................................................... 305 b. Hermann Kretzschmar ........................................................................................... 306 c. Hans Heinrich Eggebrecht ..................................................................................... 307 4.2. Organisches Ganzes oder „Lumpenkö nig“ ........................................................ 308 4.3. Der erste Ton .................................................................................................................. 314 4.4. Die Traulichkeit der schö nen Stelle ..................................................................... 317 4.5. Die „Schattenparthie“ ................................................................................................. 320 4.6. Die Adagio-Einleitung als pittoreske Szene ...................................................... 322

Inhalt

VIII. Waldbilder in Wagners Schriften 1. Wagner und die Pariser Freischütz-Auffü hrung 1841 1.1. Wagners Weber ............................................................................................................. 327 1.2. „fast wü rde ich glauben wieder beim ›Walde‹ anfangen zu mü ssen“.... 329 a. Die Wolfsschlucht bei Tageslicht ........................................................................ 331 b. Das „Gedicht jener bö hmischen Wä lder selbst“ .......................................... 339 1.3. Le Freischutz ................................................................................................................... 348 2. Wald und Baum in Oper und Drama 2.1. Die „Volksblume von der Waldwiese“ ................................................................. 356 2.2. Das Umfeld der „Waldwiese“ .................................................................................. 364 2.3. Der „Naturwald des Volkes“ .................................................................................... 370 3. Die „große Waldesmelodie“ 3.1. „Waldesmelodie“ und „unendliche Melodie“ ................................................... 372 3.2 „[I]m Wald dort auf der Vogelweid’ …“ ................................................................ 383

IX. Das „Waldweben“ in Wagners Siegfried 1. Vorbemerkungen .................................................................................................................... 389 2. Uberblick: Wald in der Ring-Dichtung ........................................................................... 391 3. Vom Weben des Waldes ....................................................................................................... 391 4. Siegfrieds Weg in den Wald 4.1. Thidrekssaga .................................................................................................................. 401 4.2. Karl Simrocks „Wunder der Wildniss“ ................................................................ 405 4.3. Das „Waldstü ck“ Der junge Siegfried .................................................................... 406 4.4. Siegfried in der „waldeinsamkeit“ ........................................................................ 410 4.5. Exkurs: Alt wie der Wald .......................................................................................... 413 4.6. „Siegfried allein“ im Wald ......................................................................................... 415 4.7. Vom Jungen Siegfried zum Siegfried ..................................................................... 418 5. Zur Dramaturgie des zweiten Akts 5.1. „Tiefer Wald“ .................................................................................................................. 419 5.2. Kontemplation unter der Linde ............................................................................. 422 5.3. Mittags im Wald: „Pan schlä ft.“............................................................................... 431 5.4. Mutter Natur .................................................................................................................. 437 6. Zur Komposition des „Waldweben“ 6.1. Krise in der „Waldeinsamkeit“ ............................................................................... 440 6.2. Exkurs: Waldvogelstimmen ..................................................................................... 446 6.3. „Waldweben“ in der Partitur ................................................................................... 448 6.4. Polyphonie und Tiefe .................................................................................................. 453 6.5. Regressive Musik .......................................................................................................... 455 6.6. Zum formalen Aufbau................................................................................................. 457 6.7. „Waldweben“ und „Waldesrauschen“ .................................................................. 460

Inhalt

X. Silvane Aspekte der Wagner-Rezeption 1. ›Wald und Welt‹ in Wagners Briefwechsel mit Ludwig II. von Bayern ............ 463 2. „Waldwiese“ Bayreuth 2.1. Reuth und Rü tli ............................................................................................................. 471 2.2. Ein Tempel im Wald .................................................................................................... 475 3. Ausblick: „Nach Osten weithin dehnt sich ein Wald“ .............................................. 481

XI. Anhang 1. Literaturverzeichnis Zitierte Sekundä rliteratur ................................................................................................. 490 Zitierte Primä rquellen ........................................................................................................ 520 Zitierte Lexika und Wö rterbü cher................................................................................. 540 Zitierte Briefausgaben ........................................................................................................ 541 Zitierte Textausgaben ......................................................................................................... 541 2. Abkü rzungen und Literatursiglen ................................................................................... 544 3. Register ....................................................................................................................................... 545

Vorbemerkungen La nature attacha, par des liens secrets, Le destin des mortels à celui des forê ts. Alexandre Moreau de Jonnè s1

„Durch geheime Bande knü pfte die Natur das Schicksal der Sterblichen an das der Wä lder.“ – Diesen Leitspruch setzte 1825 der franzö sische Statistiker Alexandre Moreau de Jonnè s an den Beginn einer vielbeachteten Abhandlung, in der er die Bedeutung des Waldes fü r Klima, Bodenfruchtbarkeit, Erosionsschutz und Wasserversorgung empirisch darlegte. Durch „geheime Bande“ scheinen auch Wald und Musik miteinander verbunden: Lä sst sich auch mü helos ein Reigen von Assoziationen aufzä hlen, so fä llt es doch bei genauerer Uberlegung schwer, spezifische Merkmale und Kriterien dieser verschiedenartigen Verbindungslinien zu benennen. In einem kurzen Essay ü ber den Wald in der Musik, der 1964 in der Schweizerischen Zeitschrift fü r Forstwesen erschien, ä ußert Hans Galli dazu folgende, nicht eben ermutigende Einschä tzung: Wenn man untersucht, in welcher Weise der Wald in allen seinen Erscheinungsformen in der Musik einen Widerhall fand, so stellt man wohl fest, daß es einen solchen gab und gibt, aber auch, daß er schwer faßbar ist. Es wurde darü ber noch nie eine Dissertation verfaßt, und wer eine solche zu schreiben versuchte, sä he sich bald vor die Unmö glichkeit gestellt, mit dem Thema ins Reine zu kommen.2

Ein ä hnliches Lagebild schickt der Musikwissenschaftler Elmar Budde seiner „historische[n] Skizze“ ü ber den Wald in der Musik des 19. Jahrhunderts (1987) voraus, welche trotz ihrer Kü rze eine differenziertere Herangehensweise an die Thematik versucht: Zwar wü rde wohl „[j]eder Musikliebhaber […] die Frage, ob zwischen dem Naturereignis Wald und der Klangwelt der Musik Beziehungen bestehen, spontan bejahen“ und etwa „auf die vielen Jä gerchö re, Hornmusiken und Waldlieder des 19. Jahrhunderts verweisen“, oder gar „romantische Musik und Wald ü berhaupt in eins setzen“; doch scheine es, als ob sich diese historisch gewachsene und in

1

2

Alexandre Moreau de Jonnè s, Premier mémoire en réponse a la question proposée par l’Académie royale de Bruxelles: Quels sont les changemens que peut occasioner le déboisement de forêts considérables sur les contrées et communes adjacentes […]?, Bruxelles 1825, S. [I]. In der deutschen Ubersetzung des Forstprofessors Wilhelm Widenmann erschienen als Untersuchungen über die Veränderungen, die durch die Ausrottung der Wälder in dem physischen Zustand der Länder entstehen, Tü bingen 1828. Hans Galli, Der Wald in der Musik, in: Schweizerische Zeitschrift fü r Forstwesen 115 (1964), S. 771f. (hier S. 771).

11

Vorbemerkungen

hohem Maße ideologisch aufgeladene „Symbiose“ von „Musik, Wald und deutsche[r] Innerlichkeit“ letztlich „der rationalen Auflö sung programmatisch widersetz[e].“3 Eine grundlegende Problematik, auf welche die Skepsis beider Einschä tzungen verweist, ist die des dialektischen Verhä ltnisses von Kunst (beziehungsweise Kultur) und Natur. Welche Aussagen sind ü ber Verbindungslinien zwischen zwei Sphä ren oder komplementä ren Begriffen mö glich, die in fundamentaler Polaritä t zueinander aufgefasst werden? Und kommt nicht, sofern man Musik idealtypisch als Zeitkunst, Wald hingegen als Naturraum auffassen will, auch noch der kategoriale Unterschied von rä umlicher und zeitlicher Dimension erschwerend hinzu? So gesehen kö nnte es kaum abwegigeres geben, als Musik und Wald miteinander in Verbindung zu bringen. Zwischen solch gewissermaßen ›naturalistischer‹ Auffassung von Natur als das unbedingt, objektiv, konstant und ›außerkulturell‹ Vorhandene einerseits, und einer ›kulturalistischen‹ Auffassung von Natur als „mentales Konzept“, als kulturell und historisch variable, geistige Konstruktion des Menschen andererseits, klafft im neuzeitlich-abendlä ndischen Denken das „konzeptionelle Schisma im Naturbezug“ (Ludwig Fischer4). So mahnte bereits Johann Gottfried Herder an: „Kein Wort in der menschlichen Sprache ist vieldeutiger, als Natur“5. Je nach Relation und gesetztem Gegenbegriff erlangt das Wort eine andere Bedeutung. Unter Natur begreifen Menschen letztlich „das Fremde, vor dem sie ihre Identitä t kontrastiv entwerfen.“6 Damit ist freilich jede Begegnung mit, jedes Denken und Sprechen ü ber Natur zugleich ein kultureller Akt. Die kulturalistische ›Theorie der Landschaft‹ erklä rt auf grundlegende und generelle Weise, unter welchen geistesgeschichtlichen Bedingungen und vermittels welcher Transformationen ä ußere Natur, wie eben Wald, zu einem Objekt ä sthetischer Betrachtung und kü nstlerischer Gestaltung werden kann. So werden in vorliegender Arbeit, mit der ›theoretischen‹ Anschauung der Natur und ihrer ä sthetischen Vergegenwä rtigung ›als Ganzes‹ durch ein empfindendes Subjekt, zunä chst die von Joachim Ritter postulierten notwendigen und hinreichenden Bedingungen moderner Naturerfahrung vorgestellt. Die Interaktion zwischen Mensch und Umwelt ist „ein Verhalten auf Grund von Bildern.“7 Indem die Naturgegenstä nde der Außenwelt eine relativ deutungsoffene Projektionsflä che fü r subjektive wie intersubjektive Ideen, Vorstellungen und Ideale bilden, ist jede bestimmte Art und Weise, wie Natur aufgefasst wird, ein kulturgeschichtliches Phä nomen – und insofern eben doch

3

4

5

6

7

12

Elmar Budde, Der Wald in der Musik des 19. Jahrhunderts – eine historische Skizze, in: Bernd Weyergraf (Hg.), Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, Berlin 1987 (= Akademie-Katalog 149), S. 47–61 (hier S. 47). Ludwig Fischer, Einleitung, in: ders. (Hg.), Projektionsfläche Natur. Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen, Hamburg 2004, S. 11–28 (hier S. 15). Johann Gottfried Herder, Kritische Wälder. Viertes Wäldchen, in: Bernhard Suphan (Hg.), Herders Sämmtliche Werke, Bd. 4, Berlin 1878, S. 181. Konrad Kö stlin, Kultur als Natur – des Menschen, in: Rolf Wilhelm Brednich u.a. (Hg.), Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt, Mü nster 2001, S. 1–10 (hier S. 5). Wilhelm E. Mü hlmann, Umrisse und Probleme einer Kulturanthropologie, in: ders. (Hg.), Kulturanthropologie, Kö ln 1966, S. 15–49 (hier S. 24).

Vorbemerkungen

nichts grundsä tzlich anderes als etwa Musik. Ahnlich wie der Zuhö rer bei der Auffü hrung eines Musikstü cks das sukzessiv Wahrgenommene mit seinen subjektiven Hö rerfahrungen abgleicht, trä gt jeder Waldspaziergä nger gleichsam ein Gepä ck von subjektiv-empirischen Erfahrungen, Erinnerungen und Wissensbestä nden mit sich, welche zur Erschließung der Außenwelt situativ aktiviert werden. Von einem komplexen „Geflecht“ spricht in diesem Betreff der Soziologe Hans Paul Bahrdt, und benennt als Beispiel das „Syndrom ›deutscher Wald‹“8, welches sich eben nicht allein aus aktuellen Sinneswahrnehmungen des Einzelnen, sondern ganz wesentlich auch aus dem diskursiven Zusammenhang kultureller Tradierung speist. Ob bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt, sind die eigenen Naturerfahrungen stets auch konstruktivistische „Verwirklichungen und Fortentwicklungen zeitlich vorgelagerter kultureller Außerungen“, wie Klaus Schriewer resü miert, der hierfü r den Begriff „Waldbewusstsein“ 9 gebraucht: „Wahrnehmen und Erleben von Wald sind vielschichtige Prozesse, in denen Sinneseindrü cke und verschiedenartige kulturelle Bilder zusammenspielen. Wald ist nicht nur Naturraum und Okosystem, er existiert gleichzeitig als Konzept in unserem Denken.“10 Dass auf die „komplexe Interferenz von ä sthetischer Theorie, Malerei, Gartenkunst und Literatur“11, als welche sich die landschaftliche Wahrnehmung der Natur charakterisieren lä sst, zumal im 19. Jahrhundert auch das Musiktheater Einfluss ü bte, liegt angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung dieser Kulturerscheinung auf der Hand. Dass an den ›Bildern‹, die wir uns von der Natur machen, wie etwa am ›Konzept Wald‹, auch die Musik partizipiert, versucht die vorliegende Arbeit unter dem Begriff des ›landschaftlichen Ohrs‹ zu verdeutlichen. So beeinflussen musikalische Hö rerfahrungen die Art und Weise, wie wir die Gerä uschkulisse des Waldes wahrnehmen, wie wir aktiv ›hinhö ren‹, indem wir beispielsweise originä r musikalische Kriterien auf das Gehö rte (etwa ›Gesang‹ der Waldvö gel) anwenden oder bestimmte Klä nge oder musikalische Strukturen aus unserer Erinnerung wiederzuerkennen meinen. – Wer kurz zuvor eine Auffü hrung von Richard Wagners Siegfried besucht hat, dü rfte bei seinem nä chsten Spaziergang den Wald mit anderen Ohren hö ren (und mit anderen Augen sehen), und somit schließlich ein anderes ›Bild‹ von Wald gewinnen. Sein „Waldbewusstsein“ wurde modifiziert. Ahnliche Wirksamkeit kö nnen sprachliche Schilderungen klanglicher Ereignisse entfalten: Wer etwa durch Lektü re der Lyrik Joseph von Eichendorffs fü r das ›Waldesrauschen‹ sensibilisiert wurde, wird in der Folge die Wind- und Laubgerä usche auf neue Weise wahrnehmen. – Die Vorstellung des unmittelbar ›aus der Natur‹ schö pfenden Kü nstlers erweist sich unter solchen Prä missen freilich als illusorisch – was kann er dort finden, als seine eigenen, kulturell bedingten Projektionen? 8

9

10 11

Hans Paul Bahrdt, Umwelterfahrung. Soziologische Betrachtungen über den Beitrag des Subjekts zur Konstitution von Umwelt, Mü nchen 1974 (= sammlung dialog 72), S. 70. Klaus Schriewer, Natur und Bewusstsein. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Waldes in Deutschland, Mü nster 2015, S. 10. Ebenda, S. 9. Eckhard Lobsien, Landschaft in Texten. Zu Geschichte und Phänomenologie der literarischen Beschreibung, Stuttgart 1981 (= Studien zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 23), S. 57.

13

Vorbemerkungen

›Waldmusik‹ trat wesentlich frü her als poetische Fiktion und Thema der Literatur in Erscheinung, ehe sich dann auch Komponisten neuzeitlicher Kunstmusik um ihre klangliche Verwirklichung bemü hten. Eine historische Untersuchung des Diskurses von Wald und Musik kann sich deshalb nicht auf musikalische Werke im engeren Sinne beschrä nken, sondern muss notwendigerweise interdisziplinä r ausgelegt sein. Dass „jene Objektbereiche der Außenwelt, die in der Musik irgendwann zum Stoff der Schilderung wurden […], von den anderen Kü nsten lange vorher dem Bewußtsein zugefü hrt worden waren“, wertet Tibor Kneif als Indiz dafü r, dass die Bedeutung der Musik „als ein Mittel der Naturerkenntnis“ eher gering zu veranschlagen sei; und doch kenne die Geschichte der Musikanschauungen von jeher die Uberzeugung, dass paradoxerweise gerade die von „Naturwirklichkeit“ abstrahierte Musik „den Naturbereich und die Existenzweise der Objekte, die Bewegung“ am adä quatesten widerzuspiegeln vermö ge.12 Es bedurfte sozusagen erst grundlegender ›Erschließungsleistungen‹ aus anderen Kunstbereichen, ehe der Wald auch der musikalischen Gestaltung als Stoff erschlossen wurde; als diese historischen Bedingungen aber erfü llt waren, vermochte Musik die Waldnatur – wie sich etwa den Rezeptionszeugnissen zu Richard Wagners ›Waldweben‹ entnehmen lä sst – in besonders eindringlicher, suggestiver Weise vergegenwä rtigen. Gemeinhin wird in der Fachliteratur eine wesentlich neue Qualitä t der Walddarstellung in der Musik des 19. Jahrhunderts festgestellt, die in erster Linie durch Carl Maria von Webers Freischütz (1821) bezeugt wird. „Weber scheint in der Tat der erste Komponist gewesen zu sein“, attestiert beispielsweise Elmar Budde, „der in seiner Musik einen Ton getroffen hatte, der im Hö rer Assoziationen auslö ste, die ihm Natur und Wald scheinbar unmittelbar ›empfindlich‹ machten.“ 13 Dass zwischen dieser neuartigen musikalischen Erlebnisqualitä t und dem gesteigerten Stellenwert, den die Landschaftsdarstellung seit dem spä ten 18. Jahrhundert in der Literatur und bildenden Kunst erlangt hatte, ein historischer Zusammenhang besteht, scheint evident. Auch deshalb schien es in vorliegender Studie geboten, die interdisziplinä re Entwicklung der Landschaftsthematik im relevanten Zeitraum zumindest in ihren Grundzü gen zu behandeln, und hierbei auf die Schlagworte der ›Stimmungskunst‹ und ›Musikalisierung‹ einzugehen (Kapitel I). Wie in der literarischen Romantik, „und zwar gerade in ihren populä ren Werken“, ein „Zentrum der weiterwirkenden Waldliteratur“14 verortet ist, das bis heute nachweislich die Wahrnehmung des Waldes beeinflusst, so dü rften im Bereich der Musik 12

13

14

14

Tibor Kneif, Die Idee der Natur in der Musikgeschichte, in: Archiv fü r Musikwissenschaft 28 (1971), Heft 4, S. 302–314 (hier S. 306 und S. 302f.). Elmar Budde, Der Wald in der Musik, S. 49. Mit ä hnlichen Worten: „Dabei gelingt es Weber – vielleicht als erstem Komponisten ü berhaupt –, daß die Zuhö rer den Wald weit intensiver empfinden als als Schauplatz oder Dekoration menschlicher Handlung: Sie meinen ihn unmittelbar zu empfinden und zu erleben.“, Christoph Eschenbach, Der Wald als Thema in der Musik, in: Wolfgang Pü ttmann (Hg.), Waldfacetten. Begegnungen mit dem Wald, Leinfelden-Echterdingen 1998, S. 93–111 (hier S. 102). Werner Graf, Der Wald als Metapher. Reflexionen zum literarischen Waldbild als Thema des Literaturunterrichts, in: Sieglinde Grimm, Berbeli Wanning (Hg.), Kulturökologie und Literaturdidaktik. Beiträge zur ökologischen Herausforderung in Literatur und Unterricht, Gö ttingen 2016 (= Themenorientierte Literaturdidaktik 1), S. 219–242 (hier S. 224).

Vorbemerkungen

– oder genauer: des Musiktheaters – Carl Maria von Weber und Richard Wagner die grö ßte Nachwirksamkeit im Hinblick auf die Waldthematik entfaltet haben. Die beiden Komponisten sind jedenfalls die mit Abstand meistgenannten in der einschlä gigen Sekundä rliteratur, wodurch die Schwerpunktsetzung vorliegender Arbeit gewissermaßen schon vorgegeben war. Als die prominentesten, geradezu paradigmatischen Rang beanspruchenden Exempel musikalischer Walddarstellung empfahlen sich einerseits der Beginn der Freischütz-Ouvertü re, andererseits der als ›Waldweben‹ bezeichnete Abschnitt aus dem zweiten Akt des Siegfried (1876), fü r eingehende Fallstudien (Kapitel VII und IX). Damit einhergehend hatte sich der Fokus der Untersuchung ü ber den im engeren Sinne musikalischen Bereich hinaus auf die ›multimediale‹ Erscheinung des Musiktheaters zu weiten. Aufgrund seiner Anschaulichkeit, allgemeinen Vertrautheit und Polyvalenz bietet sich das ›Konzept Wald‹ vorzü glich fü r die bildliche Verstä ndigung ü ber unkonkrete musikalische Sachverhalte an, wie in Kapitel II.3.1. an poetisierenden Musikbeschreibungen des 19. Jahrhunderts gezeigt wird. Dass sich im Sprechen und Schreiben ü ber Wald unter anderem ä sthetische Werturteile, nationalpolitische Positionen oder poetologische Konzepte kommunizieren lassen, bezeugen nicht zuletzt die musikä sthetischen Schriften Richard Wagners, in denen eine ganze Reihe von ›Waldbildern‹ anzutreffen ist, die im Kapitel VIII vorgestellt und mit zeitgenö ssischen Publikationen kontextualisiert werden. Dabei ist die herausragendste Eigenschaft des ›Konzepts Wald‹ seine Fä higkeit, fü r hö chst ambivalente, ja konträ re Positionen zu stehen und diese zu integrieren: Wald ist eine Manifestation natü rlicher Einheit, Symbol des ›Naturganzen‹, steht zugleich aber auch fü r unü bersehbare Komplexitä t und Inkohä renz, die alles unzusammenhä ngend, abgerissen und plö tzlich erscheinen lä sst. Wald vermittelt zwischen den ä sthetischen Kategorien des Schö nen und des Erhabenen, vereint in sich die „Dialektik von Heimat und Fremde“15: Er zeigt sich januskö pfig als bergender Zufluchtsort wie als schreckliche Bedrohung. So dient Wald auf der Opernbü hne dem ü berschwä nglichen ›Joho!‹ der Jä gerchö re wie auch den schwermü tigen Herzensausschü ttungen vereinsamter Protagonisten – nicht selten in unmittelbarer Abfolge – als gleichermaßen angemessener Hintergrund. Er lä sst den Einen freier atmen und dü nkt den Anderen ein Labyrinth, stellt sich als ü ppige Vielfalt oder monotone Wildnis dar. Im Waldesschatten kö nnen sich ideale und reale Sphä re, kö nnen „sich Traum und Wahrheit gatten“16, wie Ludwig Tieck formulierte, dessen Texte das ›Waldbewusstsein‹ des 19. Jahrhunderts besonders nachhaltig prä gten. Diese ausgeprä gte Ambivalenz dü rfte der Hauptgrund sein, warum „die romantische Poesie nirgends lieber als im Walde verweilt […] und dahin, wie nach ihrer Heimath, immer wieder zurü ckkehrt“ – so die Beobachtung des Schriftstellers Siegfried August Mahlmann in einem Aufsatz von 1806, welcher in Kapitel VII.1 15 16

Ebenda, S. 231. Ludwig Tieck, Prolog. Der Aufzug der Romanze, in: ders., Kaiser Octavianus. Ein Lustspiel in zwei Theilen, Jena 1804, hier S. 36.

15

Vorbemerkungen

nä her beleuchtet wird. Wie durch unsichtbare Fä den scheint im Waldesinneren die disparate, wirre Vielfalt der Phä nomene ideell verbunden. Ja, letztlich bezeichnet der Begriff ›Wald‹ eigentlich nichts anderes als eben diese Einheit in der Mannigfaltigkeit. So besteht, wie unter anderem Tieck, Mahlmann und auch der FreischützLibrettist Johann Friedrich Kind bemerkten, eine strukturelle Wesensverwandtschaft zwischen Wald und romantischer Poesie, weshalb die Auseinandersetzung mit dem Wesen des Waldes nicht zuletzt eine Annä herung an den schillernden Begriff des Romantischen verspricht (Kapitel III). Weiteres konzeptionelles Charakteristikum der Waldlandschaft ist der inhä rente Vergangenheitsbezug: Im menschliche Zeitvorstellungen ü berschreitenden Wuchs der Bä ume veranschaulicht sich „sichtbar gewachsene Geschichte“ 17 . Die romantische Sehnsucht, sich in das ›goldene Zeitalter‹ eines idealisierten Mittelalters zurü ckzuversetzen, ließ sich gegenwä rtig durch Flucht aus der Alltagswelt in die ›Waldeinsamkeit‹ hinlä nglich stillen. Die enge Assoziation mit dem Mittelalter war denn auch ein Hauptfaktor fü r die weite Verbreitung und Popularitä t, derer sich Waldszenen auf den (Musik-)Theaterbü hnen des 19. Jahrhunderts erfreuten (Kapitel IV). Dass die ideelle Wertschä tzung fü r die Bestä ndigkeit und Wü rde uralter Hochwä lder zu einer Zeit florierte, in der sich die junge akademische Disziplin der Forstwissenschaft anschickte, die Wä lder Deutschlands nach rationellen Erwä gungen tiefgreifend umzugestalten, lä sst den historischen Zusammenhang zwischen Naturunterwerfung und kompensierender Naturverherrlichung zu Tage treten. Der Volkskundler Albrecht Lehmann, der sich in einer Reihe von Publikationen mit dem Mnemotopos ›deutscher Wald‹ auseinandersetzte, stellt fest: „Zu diesem kulturellen Muster, wie es in romantischer Literatur, Malerei und Musik vermittelt wird, gehö rt von Anfang an die Erfahrung des Verlustes.“18 – Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende, zu pathetischer Sakralisierung neigende Beschwö rung des Waldes (Kapitel V) geht mit nationalpolitischer Indienstnahme einher, deren wichtigste Stationen in Kapitel VI referiert werden. Auf den seit der Ara der Befreiungskriege voll ausgeprä gten Gemeinplatz ›deutscher Wald‹ konnte in der Folge etwa die publizistische Bewertung des Freischütz als deutsche ›Nationaloper‹ rekurrieren, so wie in der nationalen Rezeption Webers und Wagners wiederholt auf deren Qualifizierung als ›Waldkomponisten‹, als eine fü r spezifisch deutsch erachtete Befä higung, verwiesen wurde. Einzelne Aspekte einer Wagner-Rezeption ›im Zeichen des Waldes‹ werden in Kapitel X aufgegriffen. Liegen zur Waldthematik in der poetischen Literatur und der bildenden Kunst einschlä gige motivgeschichtliche Darstellungen vor, die – wenngleich schon angestaubt – zumindest als Ausgangspunkt einer Untersuchung dienen kö nnen19, so ist 17 18

19

16

Alexander Demandt, Der Baum. Eine Kulturgeschichte, Kö ln 22014, S. 34. Albrecht Lehmann, Der deutsche Wald, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, Mü nchen 2001, S. 187–200 (hier S. 188). Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, Berlin 1936 (= Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur 15); Josef Nikolaus Kö stler, Offenbarung des Waldes. Ein Beitrag zur Frage der

Vorbemerkungen

fü r den Bereich ›Wald und Musik‹ bislang leider nichts Vergleichbares vorzuweisen. Die vorliegende Arbeit kommt deshalb nicht umhin, neben ihrem eigentlichen historischen Fokus auf das zeitliche und persö nliche Umfeld von Weber und Wagner einen sehr allgemein gehaltenen, schlaglichtartigen UÜ berblick ü ber die facettenreiche Thematik ›Wald und Musik‹ und die einschlä gige Literatur zu geben (Kapitel II), freilich ohne damit das bereits 1989 von Peter Jost vorgebrachte Desiderat einer „detaillierte[n] Untersuchung der fü r den Bereich des Waldes wichtigen musikalischen Traditionslinien“ 20 einlö sen zu kö nnen. Die motiv- oder ideengeschichtliche Herangehensweise erfü llt nicht zuletzt heuristische Funktion, indem sie durch breit angelegte Recherche Texte und Quellen ans Licht bringt, die im musikhistorischen Diskurs fü r gewö hnlich ausgeblendet bleiben, jedoch kontextuelle Bezü ge und aufschlussreiche Parallelen aufscheinen lassen. „Wenn ich im Laufe meiner Arbeit etwas gelernt habe, so dies, daß der Wald sich nicht umschreiben lä ßt. Ihn zu durchqueren heißt auch, große Teile davon nicht zu berü hren.“ 21 – Zu diesem Fazit kommt der amerikanische Romanist Robert Pogue Harrison in einer ambitionierten Studie unter dem Titel Wälder. Ursprung und Spiegel der Kultur (1992), in welcher er die symbolische Bedeutung des Waldes in der Weltliteratur seit der Antike aufzeigt und unter der Prä misse interpretiert, dass jede „historische Epoche etwas Wesentliches ü ber ihre Ideologie, ihre Institutionen und ihr Recht oder ihr kulturelles Temperament in den vielfachen Aspekten offenbart, unter denen Wä lder in dieser Epoche betrachtet werden.“ 22 Mit solchem Resü mee muss sich auch vorliegende Arbeit bescheiden, deren Anspruch nicht in einer erschö pfenden Darstellung, als vielmehr einer explorativen Annä herung an die zentrale Thematik von ›Wald und Musik‹ aus verschiedenen Perspektiven und methodischen Richtungen liegen kann. Es handelt sich bei dieser Arbeit um die geringfü gig ü berarbeitete Fassung der Dissertation, mit der ich im Wintersemester 2020/21 an der Philosophischen Fakultä t der Julius-Maximilians-Universitä t Wü rzburg promoviert wurde und bei deren Ausfü hrung ich von vielen Personen und Institutionen maßgebliche und dankenswerte Unterstü tzung erfuhr. Dank gebü hrt an erster Stelle Prof. Dr. Ulrich Konrad, der als Doktorvater die Entstehung der Dissertation von den ersten UÜ berlegungen und Entwü rfen an mit Rat und ermutigendem Wohlwollen begleitete und fö rderte. Besonders fü r die Mö glichkeit, wä hrend meines Promotionsvorhabens als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt ›Richard Wagner Schriften. Historisch-kritische Gesamtausgabe‹ tä tig sein und von den dabei gewonnenen Forschungsergebnissen unmittelbar profitieren zu kö nnen, fü hle ich mich zu großem Dank verpflichtet. Fü r

20 21 22

künstlerischen Gestaltung deutschen Naturerlebens, Mü nchen 1941. Einen allgemeinen chronologischen UÜ berblick ü ber verschiedene Aspekte der Waldliteratur gibt Michael Glasmeier, Silvanische Bibliographie, in: Bernd Weyergraf (Hg.), Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, Berlin 1987 (= Akademie-Katalog 149), S. 313–321. Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹ op. 82. Zum Thema ›Wald‹ in der romantischen Klaviermusik, Saarbrü cken 1989 (= Saarbrü cker Studien zur Musikwissenschaft Neue Folge 3), S. 79. Robert Pogue Harrison, Wälder. Ursprung und Spiegel der Kultur, Mü nchen 1992, S. 10. Ebenda, S. 141f.

17

Vorbemerkungen

Unterstü tzung in der Abschlussphase meiner Promotion danke ich sehr herzlich Prof. Dr. Andreas Haug, der sich zur Zweitbegutachtung der umfangreichen Dissertation bereit erklä rte, sowie Prof. Dr. Wolfgang Riedel, der als Prü fer am Promotionskolloquium teilnahm und auch darü ber hinaus fü r fachlichen Austausch zur Verfü gung stand. Nicht zuletzt habe ich der Studienstiftung des deutschen Volkes meinen Dank auszusprechen, die durch Gewä hrung eines Promotionsstipendiums erheblich zum Gedeihen dieser Arbeit beitrug. Selbstverstä ndlich kann diese knappe Aufzä hlung bei weitem nicht all derer gerecht werden, die mich im Laufe der Jahre durch anregende und aufmunternde Gesprä che, durch wertvolle Hinweise, Hilfe bei der Literaturbeschaffung oder auch geduldiges Zuhö ren in der Ausfü hrung meines Vorhabens voranbrachten. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.

18

I. Natur als Landschaft 1. Freiheit und Entfremdung Es war wohl der 26. April 1336, als Francesco Petrarca aufbrach, um gemeinsam mit seinem Bruder den Mont Ventoux (1912 m) zu besteigen. In einem Brief an einen befreundeten Augustiner schildert er spä ter das Außergewö hnliche dieser Unternehmung: Er habe sich „einzig aus der Begierde, die herausragende Hö he des Ortes zu sehen“1 auf den anstrengenden Weg gemacht. Diese Motivation lä sst die Besteigung des provenzalischen Berges zu einem Schlü sselereignis werden, mit dem sich eine neue Art der Naturerfahrung Bahn bricht. – Auf dem Gipfel angekommen, schlug Petrarca die Confessiones des Augustinus auf (die er seinem Bericht zufolge stets bei sich trug) und las seinem Bruder eine zufä llig aufgeblä tterte Stelle vor: „… und die Menschen gehen hin und bewundern die Hö hen der Berge, […] die Weite des Ozeans und den Lauf der Gestirne, aber sie vergessen ihrer selbst.“2 Da wurde ihm das Revolutionä re und Verwerfliche seiner Tat bewusst: Anstatt den Blick auf sein Inneres, auf sein Seelenheil, zu richten, hatte er sich selbstvergessen der Bewunderung ä ußerer, irdischer Schö nheit hingegeben. Er hatte „genug vom Berg“3 und stieg beschä mt und in sich gekehrt zurü ck ins Tal. – Petrarca musste demnach seinen Versuch, sich der Natur genießend in freier Anschauung zuzuwenden, als gescheitert betrachten. Und doch kann er, indem er die Motive seiner Bergbesteigung kritisch reflektierte, als „Entdecker der Landschaft“4 1

2

3

4

„sola videndi insignem loci altitudinem cupiditate ductus“, Brief an Diogini da Borgo San Sepolcro, Francesco Petrarca, Familiarum rerum libri, IV,1,[1]. „et eunt homines admirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et giros siderum, et relinquunt se ipsos.“, Augustinus, Confessiones, X,8. „Tunc vero montem satis vidisse contentus, in me ipsum interiores oculos reflexi“, Francesco Petrarca, Familiarum rerum libri, IV,1,[29]. Als solchen bezeichnet ihn Helmut J. Schneider, Erinnerte Natur. Einleitende Bemerkungen zur poetischen Geschichte deutscher Landschaft, in: ders. (Hg.), Deutsche Landschaften, Frankfurt am Main 1981, S. V–XXII (hier S. IX). Diese historiographische Stilisierung geht im Wesentlichen auf Joachim Ritter zurü ck, dessen grundlegende Darstellung der systematischen und historischen Bedingungen moderner Naturerfahrung fü r die mittlerweile sehr extensive Literatur zum Thema ›Landschaft‹ nach wie vor einen zentralen Referenzpunkt bildet, der vielfach aufgegriffen und ausdifferenziert wurde; auch die folgenden Ausfü hrungen orientieren sich an Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, Mü nster 1963 (= Schriften der Gesellschaft zur Fö rderung der westfä lischen Wilhelms-Universitä t zu Mü nster 54). Gewü rdigt als „einer der frü hsten vö llig modernen Menschen“, der „die Bedeutung der Landschaft fü r die erregbare Seele“ bezeuge, wurde Petrarca bereits bei Jacob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860, S. 295– 297 (hier S. 295). Vgl. des Weiteren die Darstellungen bei Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft. Zur Entstehung und Entwicklung der Landschaftsmalerei, Giessen 31986 (= Kunstwissenschaftliche Untersuchungen des Ulmer Vereins, Verband fü r Kunst- und Kulturwissenschaften 8), S. 115– 121 und Jakob Hans Josef Schneider, Natur und Landschaft. Metaphysische Aspekte der Naturbetrachtung, in: ders. u.a. (Hg.), Natur als Erinnerung? Annäherung an eine müde Diva, Tü bingen 1992, S. 7– 74 (hier S. 17), sowie eine anders akzentuierte Lesart bei Jö rn Bohr, Über das Hinsehen und das Absehen von Landschaft, in: Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl (Hg.), Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis

19

I. Natur als Landschaft

gelten. Er ging hinaus ›ins Freie‹, transzendierte also den Bereich der Alltagswelt und erklomm, alle praktischen Zwecke hinter sich lassend, einen Berg – nicht etwa um Pflanzen zu sammeln, nicht um Messungen anzustellen oder eine entlaufene Ziege zu suchen, sondern einzig in der Absicht, sich in freier Betrachtung den Kosmos, die ›Natur als Ganzes‹ zu vergegenwä rtigen. Joachim Ritter hat die epochale Bedeutung dieses Vorganges herausgestellt: „Natur als Landschaft ist Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes.“ 5 Der ›ins Freie‹ gehende Petrarca wurde letztlich – wie Helmut J. Schneider pointiert anmerkt – „zum Ahnherrn noch des allsonntä glichen Kaffeespaziergangs auf den nä chstgelegenen Aussichtspunkt“ 6 , und gewissermaßen auch zu einem geistigen Wegbereiter des Waldspaziergangs.7

QR Das zweckfreie Hinausgehen in die freie, ›draußen‹ liegende Natur, wie Petrarca es wegweisend praktizierte, setzt Distanz voraus. Wem die Natur „Gegenstand und Mittel der Sorge“ ist, wer unmittelbar in und mit ihr lebt, der erfä hrt sie auf ganz andere, zweckgebundene Weise: „Als Gegenstand des Nutzens ist die Natur fü r den Menschen gerade Wildnis, […] das Widerstä ndige“, gegen das er sich in alltä glicher Auseinandersetzung behaupten muss. 8 Ritter zufolge ist Natur fü r den „lä ndlich Wohnenden immer die heimatliche, je in das werkende Dasein einbezogene Natur“. [D]er Wald ist das Holz, die Erde der Acker, die Wasser der Fischgrund. Was jenseits des so umgrenzten Bereiches liegt, bleibt das Fremde; es gibt keinen Grund hinauszugehen, um die ›freie‹ Natur als sie selbst aufzusuchen und sich ihr betrachtend hinzugeben. Landschaft wird daher Natur erst fü r den, der in sie ›hinausgeht‹ (transcensus), um ›draußen‹ an der Natur selbst als an dem ›Ganzen‹, das in ihr und als sie gegenwä rtig ist, in freier genießender Betrachtung teilzuhaben […].9

5

6 7

8 9

20

und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene, Bielefeld 2009, S. 87–100 (hier S. 94–96). Zur problematischen Erschließung der in Petrarcas Brief nicht genannten Jahreszahl siehe die Diskussion bei Heinz Hofmann, Francesco Petrarca, der Mont Ventoux und die literarische Textur der Erinnerung. War er oben oder nicht?, in: Neue Zü rcher Zeitung, 24. Dezember 2011, online-Ausgabe. Joachim Ritter, Landschaft, S. 12f. Mit Ritters Verortung des petrarkischen Briefs in der philosophischen Tradition der ›Theorie des Kosmos‹ (ϑεωρια τοῦ κοσμου) setzt Wolfgang Riedel sich kritisch auseinander, der auf antike Modelle der Landschaftsschilderung verweist, Der Blick vom Mont Ventoux. Zur Geschichtlichkeit der Landschaftswahrnehmung bei Petrarca, in: Rainer-M. E. Jacobi (Hg.), Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Bd. 10: Geschichte zwischen Erlebnis und Erkenntnis, Berlin 1999, S. 123–152. Helmut J. Schneider, Erinnerte Natur, S. IX. Ubrigens war Petrarca ein leidenschaftlicher Waldliebhaber, der sich selbst als ›Waldmenschen‹ („Silvius“, „Silvanus“) bezeichnete, siehe dazu Karl A. E. Enenkel (Hg.), Francesco Petrarca: De vita solitaria. Buch 1. Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher Kommentar, Leiden 1990, S. 249–254 (Kommentar). Jakob Hans Josef Schneider, Natur und Landschaft, S. 17f. Joachim Ritter, Landschaft, S. 13. „[G]eniessende Schau“ kö nne „nicht aufkommen, wo Not und Nutzen vorwalten“, postuliert Max J. Friedlä nder, Essays über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen, Den Haag 1947, S. 12.

1. Freiheit und Entfremdung

Diese Mö glichkeit des theoretischen ›transcensus‹, die zugleich Bedingung einer ä sthetischen Wahrnehmung von Natur ist, steht zunä chst dem neuzeitlichen Stadtbewohner offen. Er hat draußen in der Natur „nichts zu suchen“ 10 , aber viel zu finden.11 Natur als Landschaft setzt somit die „Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft“ voraus.12 – Der Mensch muss sich von der Herrschaft der Natur emanzipieren und sie zum Objekt seiner Verfü gung machen, um sich genießend in freier

10

11

12

„Ich ging im Walde / So fü r mich hin, / Und nichts zu suchen / Das war mein Sinn“, wie es in der ersten Strophe von Goethes Gefunden (1813) heißt; in: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 1, Stuttgart 1827, S. 26. „Wer den Ort der Arbeit und Industrie, die Stadt, verlä ßt und in die Natur hinausgeht, fü r den wird die Natur zur Landschaft. Sie ist der Raum seines ä sthetischen Genusses.“, Jakob Hans Josef Schneider, Natur und Landschaft, S. 18. Auf die Bedeutung des ›transcensus‹ weist Alexander von Humboldt in der Vorbemerkung zu seinem Kosmos hin: „Naturgenuß“ verdanke sich dem Hinausgehen „in d a s F r e i e (wie wir tief bedeutsam in unserer Sprache sagen)“, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Bd. 1, Stuttgart 1845, S. 7. Den Gegensatz von Stadt und Land prä supponierend, wird ›Landschaft‹ bereits in Krü nitz’ Encyklopädie als „eine Gegend auf dem Lande, so wie sie sich dem Auge darstellt“ definiert, Lemma ›2. Landschaft‹, in: Johann Georg Krü nitz (Hg.), Oekonomisch-technologische Encyklopädie, Bd. 64, Berlin 1794, S. 401. In ihrem Selbstverstä ndnis als „voluntary observer“ sind weder der romantische Landschaftsdichter noch der „picturesque traveller […] involved in the day-to-day process of country life and work; for them the seasons do not mean different kinds of labour, but different and beautiful sensations.“, John R. Watson, Picturesque Landscape and English Romantic Poetry, London 1970, S. 22. „Freiheit ist Dasein ü ber der gebä ndigten Natur. Daher kann es Natur als Landschaft nur unter der Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben.“, Joachim Ritter, Landschaft, S. 30. Vgl. hiermit auch Joachim Ritter, Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu Hegels Theorie der Subjektivität, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt am Main 1974 (= Bibliothek Suhrkamp 379), S. 11–35 (besonders S. 26f.). Neue Produktions- und Marktformen in der arbeitsteiligen Stadtgesellschaft entließen zunä chst „die Menschen, die nichts mit der Agrarproduktion zu tun haben, aus der engen Verbindung von schö n und fruchtbar, angenehm und wohlschmeckend“ und schufen damit die Voraussetzung ä sthetischer Landschaftsschau; siehe hierzu eingehender Utz Jeggle, Landschaft – Landschaftswahrnehmung – Landschaftsdarstellung, in: Detlef Hoffmann (Hg.), Landschaftsbilder, Landschaftswahrnehmung, Landschaft. Die Rolle der Kunst in der Geschichte der Wahrnehmung unserer Landschaft, Rehburg-Loccum 1985 (= Loccumer Protokolle 3/1984), S. 7–29 (hier S. 11–17), sowie Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 40–50. Helmut J. Schneider zufolge „spricht vieles dafü r, daß der Ursprung des Landschaftsempfindens mit dem Ursprung der Neuzeit selbst identisch“ sei, Helmut J. Schneider, Erinnerte Natur, S. VIII. Als „decisive qualitative change“ in der Ausprä gung einer freilich schon immer vorhandenen „basic human condition“ wird die ä sthetische Naturhinwendung im 17. und 18. Jahrhundert beschrieben von Dieter Groh, Rolf Peter Sieferle, Experience of Nature in Bourgeois Society and Economic Theory: Outlines of an Interdisciplinary Research Project, in: Social Research 47 (1980), Nr. 3, S. 557–581 (hier S. 573). Jö rg Zimmermann gibt zu bedenken, dass man „nicht ohne weiteres von einer offensichtlichen Leerstelle innerhalb der [antiken] Theorie auf die Irrelevanz solcher Erfahrung im ganzen schließen dü rfe“ und fü hrt dazu Beispiele ä sthetischer Landschaftsbeschreibung bei Horaz und Plinius an, Jö rg Zimmermann, Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs, in: ders. (Hg.), Das Naturbild des Menschen, Mü nchen 1982, S. 118–154 (hier S. 122). Auch Ruth und Dieter Groh argumentieren, dass Ritters Theorie, die auf einen bestimmten Abschnitt der Moderne seit der ›Sattelzeit‹ zugeschnitten sei, nicht als historisch-genetisches, sondern funktionales Modell tauge, das den „Endpunkt eines jahrhundertelangen Prozesses“ beschreibe, der bereits in der vormodernen Gesellschaft beginne, Ruth Groh, Dieter Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung, in: Heinz-Dieter Weber, Ulrich Gaier (Hg.), Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989 (= Konstanzer Bibliothek 13), S. 53–95 (hier S. 62–65). Entsprechend fordert Ludwig Trepl, „die Rittersche Theorie nicht als Beschreibung eines realen geschichtlichen Ereignisses in der Frü hrenaissance zu verstehen, sondern als Beschreibung eines Strukturwandels im Bewusstsein unserer Kultur“, Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft. Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld

21

I. Natur als Landschaft

Betrachtung zu ihr zurü ckwenden zu kö nnen. Diesen fundamentalen Ablö sevorgang beschreibt Friedrich Schiller in seinem 25. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) anhand der Dialektik von Empfinden und Denken: Solange der Mensch, in seinem ersten physischen Zustande, die Sinnenwelt bloß leidend in sich aufnimmt, bloß empfindet, ist er auch noch vö llig Eins mit derselben, und eben weil er selbst bloß Welt ist, so ist fü r ihn noch keine Welt. Erst, wenn er in seinem ä sthetischen Stande, sie ausser sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persö nlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehö rt hat, mit derselben Eins auszumachen. […] Aus einem Sklaven der Natur, solang er sie bloß empfindet, wird der Mensch ihr Gesetzgeber, sobald er sie denkt. Die ihn vordem nur als Macht beherrschte, steht jetzt als Objekt vor seinem richtenden Blick. Was ihm Objekt ist, hat keine Gewalt ü ber ihn, denn um Objekt zu seyn, muß es die seinige erfahren.13

Durch Reflexion schließt der Mensch sich selbst von der Natur aus und erhebt sich ü ber sie. Die ermö glichte „Entdeckung von Natur im emphatischen Sinne“ stellt sich somit als „Kehrseite des Verlustes jedes unmittelbaren Bezuges zur Natur“ dar und trä gt deshalb notwendigerweise „Spuren der Entfremdung“14. Die durch Verdinglichung der Natur gewonnene Freiheit wird in melancholischer Ambivalenz zugleich als Gewinn und Verlust erfahren. Schiller behandelt diese durch Unterscheidung konstituierte Beziehung zwischen Mensch und Natur in seinem Gedicht Der Spaziergang (1795/1800): Ein stä dtischer Spaziergä nger bricht auf, um sich draußen der „heil’gen Natur“ genießend und frei zuzuwenden. 15 Er hat es leichter als seinerzeit Petrarca, denn er kann einfach dem „lä ndliche[n] Pfad“ oder einer „verknü pfende[n] Straße“ folgen – an heiklen Stellen wurde sogar „ein gelä nderter Steig“ angelegt. 16 Das Umland ist weitgehend gezä hmt und nach menschlichen Bedü rfnissen eingerichtet; hier gilt, was in Diderots Encyclopédie (1765) so prä gnant formuliert wurde: „Die schö ne

13

14

15

16

22

2012 (= Edition Kulturwissenschaft 16), S. 63. Klaus Schriewer moniert, dass durch einseitige Fokussierung kontemplativer Zweckfreiheit in Ritters Theorie bestimmten „Praxisformen“, die mit materieller Nutzung einhergehen (fü r den Wald etwa Jagd, Waldbau, Imkerei), aber auch dem Wandern zum ›Zweck‹ der Erholung die Mö glichkeit ä sthetischer Naturaneignung abgesprochen wird, Klaus Schriewer, Natur und Bewusstsein. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Waldes in Deutschland, Mü nster 2015, S. 160–164. Eine Ubersicht ü ber weitere Kritik und Differenzierungen von Ritters Interpretation geben Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem: Zur kulturbedingten Vieldeutigkeit ästhetischer, moralischer und theoretischer Naturauffassungen. Einleitender Überblick, in: dies. (Hg.), Vieldeutige Natur, S. 13–68 (hier S. 28f.). Friedrich Schiller, Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Die Horen 2 (1795), 6. Stü ck, S. 45–124 (hier S. 95–97). Hartmut Bö hme, Gernot Bö hme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt am Main 1983, S. 28. Friedrich Schiller, Der Spaziergang, in: ders., Gedichte, Bd. 1, Leipzig 21804, S. 49–65. Siehe zu diesem Schlü sselwerk, von Schiller zunä chst unter dem Titel Elegie verö ffentlicht, die Studie von Wolfgang Riedel, „Der Spaziergang“. Ästhetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schiller, Wü rzburg 1989. Friedrich Schiller, Der Spaziergang, in: ders., Gedichte, S. 50 und 52f.

1. Freiheit und Entfremdung

Natur ist die verschö nerte Natur.“17 Die Landschaft lä sst „den frö hlichen Fleiß“ humaner Kultivierung erkennen. Und doch sind die Landbewohner, denen Schillers Spaziergä nger unterwegs begegnet, wenn auch glü cklich in ihrer „einfä ltigen Natur“18, durch ihre symbiotisch enge Naturbindung noch unfrei: Nachbarlich wohnet der Mensch noch mit dem Acker zusammen, Seine Felder umruhn friedlich sein lä ndliches Dach, Traulich rankt sich die Reb’ empor an dem niedrigen Fenster, Einen umarmenden Zweig schlingt um die Hü tte der Baum, Glü ckliches Volk der Gefilde! Noch nicht zur Freiheit erwachet, Theilst du mit deiner Flur frö hlich das enge Gesetz.19

„Seine Fesseln zerbricht der Mensch. Der Beglü ckte!“ erst, nachdem er die umruhende Natur unterworfen und durch Stadtmauern ausgesperrt hat: „In die Wildniß hinaus sind des Waldes Faunen verstoßen, / […] Zischend fliegt in den Baum die Axt, es erseufzt die Dryade“. Die Behausung mythischer Waldwesen wird in Baumaterial umgewandelt, Natur zum verfü gbaren Objekt von Arbeit, Kunst und Wissenschaft, „der Hain zu Hö lzern“ (Hegel20). Durch objektivierende Naturaneignung dehnen sich die Grenzen menschlicher Verfü gungsgewalt, die Wildnis wird in Schranken gewiesen. Kurz gefasst: „Rodung schuf Freiheit.“21 Wildnis ist primä r eine gesellschaftlich definierte, moralische Bedeutung von Natur. 22 Wildnis ist, was als Gegenwelt zur zivilisatorischen Ordnung empfunden wird: Wer Erstere lobt, kritisiert Letztere, et vice versa. So kann Wildnis etwa aus aufklä rerischer Perspektive sinnlose, weil unbeherrschte Materie meinen und den moralischen Auftrag der Erschließung implizieren. Im Zuge einer allgemeinen Hinwendung zur ä ußeren Natur und gestü tzt von der (physiko-)theologischen Annahme, dass die Prä dikate des Raums mit denen Gottes (Unendlichkeit) identisch seien, 17

18

19 20

21

22

„[L]a belle nature est la nature embellie, perfectionné e par les beaux arts pour l’usage & pour l’agré ment.“ Es sei freilich darauf hingewiesen, dass die Sentenz hier speziell auf die ›schö ne Natur‹ als Sujet der „beaux Arts“, nicht auf Natur im allgemeinen bezogen ist, Louis de Jaucourt, Lemma ›Nature‹, in: Denis Diderot, Jean le Rond D’Alembert (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 11, Paris 1765, S. 42. Vgl. hiermit die beispielhafte Argumentation, mit der sich Friedrich Theodor Vischer 1842 fü r die Verschö nerung der stä dtischen Gartenanlagen und den Ausbau der Spazierwege einsetzt, zitiert bei Gudrun M. Kö nig, Ausgegrenzt und einverleibt. Zum bürgerlichen Umgang mit Landschaft um 1800, in: Hans Werner Ingensiep, Richard HoppeSailer (Hg.), NaturStücke. Zur Kulturgeschichte der Natur, Ostfildern 1996, S. 167–182 (hier S. 178). Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. Ueber das Naive, in: Die Horen 1 (1795), 11. Stü ck, S. 43–76 (hier S. 43). Friedrich Schiller, Der Spaziergang, in: ders., Gedichte, S. 53. Hans Brockard, Hartmut Buchner (Hg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer kritische Schriften, Bd. 3: Glaube und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität […], Hamburg 1986 (= Philosophische Bibliothek 319c), hier S. 4. Joachim Radkau, Ingrid Schä fer, Holz. Ein Naturstoff in der Technikgeschichte, Reinbek bei Hamburg 1987 (= Rororo-Sachbuch Kulturgeschichte der Naturwissenschaften und der Technik 7728), S. 53. Hierzu weiterfü hrend Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem, S. 13–68, Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 99ff., Dagmar Ottman, Gebändigte Natur. Garten und Wildnis in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ und Eichendorffs ›Ahnung und Gegenwart‹, in: Walter Hinderer (Hg.), Goethe und das Zeitalter der Romantik, Wü rzburg 2002 (= Stiftung fü r Romantikforschung 21), S. 345–395 und Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 22–26.

23

I. Natur als Landschaft

erlangte der Begriff ›Wildnis‹ ab dem 17. Jahrhundert auch zunehmend positive Bedeutungen. Das Deutsche Wörterbuch (Bd. 30) merkt an, dass der „gefü hlston des wortes […] je nach dem standpunkt oder dem zeitalter sehr verschieden“ sei: Habe die „ä ltere vorstellung“ fast ausschließlich das Defizitä re, die „gefahren […] und entbehrungen“ erfasst, so finde sich daneben „auch schon frü h eine mildere auffassung, die es gestattet, das wort auch auf schö ne und anziehende gegenden anzuwenden: […] namentlich neuerdings auf romantische wald- und gebirgsgegenden in der heimath […] als quelle erhebenden naturgenusses“. Aus einer Position relativer Sicherheit und Kontrolle heraus erschloss sich Schritt fü r Schritt das ungezä hmt draußen Liegende dem ä sthetischen Genuss, wie Helmut J. Schneider rekapituliert: Erst bessere Wege und Transportbedingungen haben die Alpen zur malerischen Kulisse werden lassen, erst der Blitzableiter machte das Gewitterschauspiel genießbar. […] Wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung und ä sthetisches Naturerlebnis sind Momente desselben neuzeitlichen Prozesses.23

Vom kultivierten Nordufer des Genfer Sees aus wurden erstmals bewundernde Blicke auf die wilden Schneegipfel der savoyischen Alpen geworfen. In der Gewissheit, spä testens bei Dä mmerung wieder das Stadttor zu passieren, bricht Schillers Spaziergä nger in das Umland auf. Und wer gar die ganze britische Insel in einen einzigen Garten umzuwandeln vermochte 24 , der konnte sich auch die scheinbare ›Befreiung‹ der Gä rten von aller offensichtlichen Kü nstlichkeit und Umschließung leisten; denn ist es nicht die grö ßere Kunst, „nur mit den eignen Farben der Natur zu

23

24

24

Helmut J. Schneider, Naturerfahrung und Idylle in der deutschen Aufklärung, in: Peter Pü tz (Hg.), Erforschung der deutschen Aufklärung, Kö nigstein 1980 (= Neue wissenschaftliche Bibliothek 94), S. 289–315 (hier S. 296). Die Koinzidenz dieser Entwicklungen betont auch Ritter: „In der geschichtlichen Zeit, in welcher die Natur, ihre Krä fte und Stoffe zum ›Objekt‹ der Naturwissenschaften und der auf diese gegrü ndeten technischen Nutzung und Ausbeutung werden, ü bernehmen es Dichtung und Bildkunst, die gleiche Natur – nicht weniger universal – in ihrer Beziehung auf den empfindenden Menschen aufzufassen und ›ä sthetisch‹ zu vergegenwä rtigen.“, Joachim Ritter, Landschaft, S. 21. Bemerkenswert ist eine schaffensbiographische Anwendung dieser These durch Dennis F. Mahoney: Die postulierte „Gleichzeitigkeit“ finde sich „in einer Person selten so rein ausgeprä gt“ wie bei Novalis, der 1799 sowohl als Salinenassessor an der geologischen Erschließung Sachsens als auch an seinem Heinrich von Ofterdingen arbeitete, Dennis F. Mahoney, Die Poetisierung der Natur bei Novalis. Beweggründe, Gestaltung, Folgen, Bonn 1980 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 286), S. 53. Vgl. hierzu auch die Beispiele fü r divergierende Naturansichten in der englischen Malerei zur Anfangszeit der Industrialisierung bei Monika Wagner, Naturzerstörung und Natursehnsucht in der Malerei um 1800, in: Detlef Hoffmann (Hg.), Landschaftsbilder, S. 51–86 (besonders S. 56–58). Wie der amerikanische Tourist Ralph Waldo Emerson im ›golden age‹ der englischen Agrikultur bewundernd feststellt: „[In England] art conquers nature, and transforms a rude, ungenial land into a paradise of comfort und plenty. England is a garden. […] Nothing is left as it was made. Rivers, hills, valleys, the sea itself feel the hand of a master.“, Ralph Waldo Emerson, English traits, Boston 1856, S. 40.

1. Freiheit und Entfremdung

arbeiten und ihre gü nstigsten Zü ge aufzufassen“25, wie es in Horace Walpoles maßgeblicher Abhandlung Ueber die neuere Gartenkunst (1770) zur Richtschnur wurde? So wurden im englischen Landschaftspark der „liebliche[n] Wildheit der Form“26 die Zü gel gelockert. Freilich war dieses vordergrü ndige Gewä hrenlassen durchwegs „linked to a new level of control“, wie Helmut J. Schneider feststellt.27 Seit der Wende zum 19. Jahrhundert trat diese „Dichotomie der bü rgerlichen Natursicht“28, die in pathetischer Uberhö hung bei gleichzeitiger Unterwerfung der Natur bestand, immer drastischer zutage. Gudrun M. Kö nig weist darauf hin, dass die fü r den modernen Naturgenuss konstitutive „Hinwendung bei Distanz“ notwendigerweise das Individuum zum Zuschauer gemacht und dadurch seinen Blick dafü r getrü bt habe, dass es zugleich Akteur tiefgreifender Verä nderungen war: „Das moderne Naturverstä ndnis, das sich im 18. Jahrhundert herausbildet, hat mit dazu beigetragen, daß die Natur im 19. Jahrhundert von der bedrohenden zur bedrohten Grö ße wurde.“ 29 Aus heutiger Sicht muss die Verschrä nkung von technisch-industriellem Fortschrittsoptimismus und ä sthetischer Naturverherrlichung deshalb in vieler Hinsicht befremdlich erscheinen. Wä ren aber die Gemä lde eines Caspar David Friedrich, wä re ein Freischütz entstanden, wenn nicht zuvor die Sä chsische Schweiz mit erheblichem technischen Aufwand touristisch erschlossen worden wä re?30 In seiner Schöpfungsgeschichte des 25

26

27

28 29

30

Horace Walpole, Ueber die neuere Gartenkunst, in: A. W. Schlegel (Ubers.), Historische / litterarische und unterhaltende Schriften von Horatio Walpole, Leipzig 1800, S. 384–446 (hier S. 424). Der Text erschien erstmals 1770 als Essay on Modern Gardening. Ebenda, S. 396. Das angestrebte Maß an Natü rlichkeit im englischen Landschaftsgarten galt es sorgfä ltig auszutarieren. Zwar sollte Natur mö glichst in ihrer ›naiven‹ Schö nheit erhalten und vor dem Diktat abstrakter Regelhaftigkeit verschont, doch auch nicht einfach sich selbst ü berlassen bleiben, worauf Schiller hinweist: „Niemand wird den Anblick naiv finden, wenn in einem Garten, der schlecht gewartet wird, das Unkraut ü berhand nimmt, aber es hat allerdings etwas naives, wenn der freye Wuchs hervorstrebender Aeste das mü hselige Werk der Scheere in einem franzö sischen Garten vernichtet.“, Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 53 (Fußnote). Eine der bekanntesten (fiktionalen) Verwirklichungen dieses Ideals ist der in Rousseaus Nouvelle Héloïse (1761) beschriebene Garten der Julie d’Etange: „Ce lieu est charmant, il est vrai, mais agreste & abandonné ; je n’y vois point de travail humain. Vous avez fermé la porte; l’eau est venue je ne sais comment; la nature seule a fait tout le reste; et vous-mê me n’eussiez jamais sû faire aussi bien qu’elle. – Il est vrai, dit-elle [Julie], que la nature a tout fait, mais sous ma direction, & il n’y a rien là que je n’aye ordonné .“, Jean-Jacques Rousseau, Julie, ou la Nouvelle Héloïse, Bd. 4, Amsterdam 1761, Brief 11, S. 194. „[N]ature could be set free precisely because it had become subject to mastery on a deeper level than it had been in the previous century. The liberal bourgeois was self-confident enough not to have to subjugate nature to the harsh geometrical pattern of absolutism.“, Helmut J. Schneider, The Tree and the Origin of the Modern Landscape Experience, in: Karla L. Schultz, Kenneth S. Calhoon (Hg.), The Idea of the Forest. German and American Perspectives on the Culture and Politics of Trees, New York 1996 (= German life and civilization 14), S. 89–102 (hier S. 93f.). Tatsä chlich wurden Schneider zufolge in England „[f]ü r die großen Parkanlagen der Insel […] mehr Erdmassen bewegt und mehr Landbewohner vertrieben als fü r die aus dem Zeitalter Ludwigs XIV.“, Helmut J. Schneider, Naturerfahrung und Idylle, S. 303. Gudrun M. Kö nig, Ausgegrenzt und einverleibt, S. 168. Ebenda, S. 167. Von einer „ruinö sen Spirale“ aus industrieller Naturausbeutung und ä sthetischem Naturerleben spricht Helmut J. Schneider, Erinnerte Natur, S. VI. Bezü glich der massiven Natureingriffe, die vergleichsweise fü r die touristische Erschließung des Harz nö tig waren, siehe Susanne Ude-Koeller, Auf gebahnten Wegen. Zum Naturdiskurs am Beispiel des Harzklubs e.V., Mü nster 2004 (= Internationale Hochschulschriften 417), S. 110–116.

25

I. Natur als Landschaft

›Freischützen‹ (1843) gedenkt der Librettist Friedrich Kind der anregenden Ausflü ge, die er von seiner Dresdener Stadtwohnung aus unternahm: Ich pilgerte in die Weinberge, in den Großen Garten, nach Tharand, in die sogenannte sä chsische Schweiz, d.h. in dasjenige, was von letztern beiden in damaliger Zeit bereits gangbar war.31

Zum einen scheint in diesem autobiographischen Bericht, durchaus ä hnlich wie in Schillers Spaziergang, eine Grundbedingung des Naturgenusses auf: Ehe der Dichter „pilger[nd]“ die ›heil’ge Natur‹ aufsuchen und verherrlichen kann, muss zunä chst einmal ganz profan der Bautrupp anrü cken, um sie „gangbar“ zu machen. „Um der Wä lder Schö nheit recht beschaulich zu genießen, muß man vor Allem annehmliche Wege haben“, hä lt in diesem Sinne ein Zeitgenosse Kinds, der Forstwissenschaftler Gottlob Kö nig in seinem Lehrbuch zur Waldpflege (1849) fest.32 Das erforderliche Maß an Naturbeherrschung geht freilich ü ber die logistischen Grundlagen hinaus. Damit man sich „des Waldes ungestö rt zu erfreuen“ vermag, sind „[f]rei laufende Hunde, bö sartige Bullen der Heerden, verdä chtige Landstreicher“ unbedingt fern zu halten – ja, eine „gute Waldpolizei“ duldet „nicht einmal beerentragende Giftkrä uter […], um Unkundige auch vor dieser Gefahr sicher zu stellen.“33 Erst dann kann romantische ›Waldlust‹ aufkommen. Zum anderen lä dt Kinds Nennung des Orts Tharandt dazu ein, die enge historische Nachbarschaft von wissenschaftlich-technischer und ä sthetischer Naturauffassung aufzuzeigen: 1811 siedelte Heinrich Cotta dort die deutschlandweit erste Forstlehranstalt an, zugleich wurde der erste forstbotanische Garten angelegt. Im Juni 1816 wurde die Einrichtung in Tharandt zur kö niglich-sä chsischen Forstakademie erhoben. Kaum 20 Kilometer entfernt und nur wenige Monate spä ter, im Februar 1817, traf Kind mit dem jü ngst ernannten Kapellmeister Carl Maria von Weber zusammen, um sich mit ihm ü ber das Sujet einer neuen Oper Der Freischütz zu verstä ndigen, die wie kaum eine andere die Waldlandschaft in den kü nstlerischen Blick nehmen sollte. So wurden in nahezu identischer historischer Verortung zwei grundverschiedene, komplementä re Sichtweisen auf den Naturraum Wald ausgeprä gt.

31

32

33

26

Friedrich Kind, Schöpfungsgeschichte des ›Freischützen‹. Biographische Novelle, in: ders., FreischützBuch, Leipzig 1843, S. 63–138 (hier S. 102). G[ottlob] Kö nig, Die Waldpflege aus der Natur und Erfahrung neu aufgefaßt. Der Forstbehandlung zweiter Theil, Gotha 1849, S. 302. Ganz wie die Kulturlandschaft in Schillers Gedicht, soll auch der Wald den ›frö hlichen Fleiß‹ menschlicher Arbeit verraten. Deshalb fordert Kö nig (ebenda), alles „dem Tode verfallene Holz zeitig wegzurä umen; denn nur frohes Leben will der Wanderer im Walde sehen!“ Waldschä den durch Borkenkä fer und Holzwurm wurden hingegen als „Schauerbild“ verurteilt, wie Wilhelm Blumenhagen es drastisch ausmalt: „Es ist ein Siechenhaus, ein Kirchhof der Natur, und der erschü tterte Wanderer wendet das Auge ab […].“, Wilhelm Blumenhagen, Wanderung durch den Harz, Leipzig [1838], S. 14. G[ottlob] Kö nig, Die Waldpflege aus der Natur, S. 303. Es muss sich, wie Jeggle formuliert, ein „angstfreie[r] Umgangston mit der Natur“ einstellen, denn „wer den Wolf fü rchtet, wird nicht vom edlen Tann ergriffen.“, Utz Jeggle, Landschaft, S. 17.

2. Kompensation und Komplementaritä t

2. Kompensation und Komplementaritä t 2.1. „Natur, ach!“ [I]ndeß, wenn der Sinn dafü r nur um so mehr erwacht, um so mehr in der Wirklichkeit zu Grunde geht, so haben wir doch mehr gewonnen als verloren. Ludwig Tieck34

Mit der Objektivierung der Natur als Grundlage menschlicher Freiheit geht ihr Fremdwerden einher. Die mittelalterliche Vorstellung eines abgeschlossenen, gottzentrierten Kosmos weicht dem spezialisierten, experimentellen, quantifizierenden Erfassen vielfä ltiger und komplexer Erscheinungsformen der physischen Welt. Angesichts der rapiden Expansion differenzierter naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und der Mö glichkeit ihrer technischen Umsetzung fü hlt sich der neuzeitliche Mensch zunehmend „verloren in einem Labyrinth der Sonnen und Welten“ (Joseph Addison35) – er sehnt sich (zurü ck) nach einer Erfahrung der Natur als ›Ganzes‹. „Unser Gefü hl fü r Natur gleicht der Empfindung des Kranken fü r die Gesundheit“ 36 , formuliert Schiller in seinen Ausfü hrungen Ueber das Naive. Als Begriff, „Idee“ oder ä sthetischer Gegenstand werde ›Natur‹ erst in dem Moment fassbar, da ihr Verlust diagnostiziert wird: So wie nach und nach die Natur anfieng, aus dem menschlichen Leben als E r fa h r u n g und als das (handelnde und empfindende) S u b j e k t zu verschwinden, so sehen wir sie in der Dichterwelt als I d e e und als G e g e n s t a n d aufgehen.37

Gemä ß dieser allgemeinen Dialektik formuliert der Kulturphilosoph Robert P. Harrison die Gesetzmä ßigkeit: Je weiter Wä lder vom „stä dtischen Horizont“ zurü ckweichen, umso mehr zehren sie vom „Pathos der Distanz“, umso lä nger werden „ihre Schatten in der kulturellen Phantasie“. 38 Die aus der alltä glichen Erfahrung schwindende Natur entwickelt ein sublimiertes und abstrahiertes Sein in der Sphä re der ›theoria‹. Die neuzeitliche Erfahrung der ›freien Natur‹ als Landschaft will im fasslichen Naturausschnitt die verlorene Anschauung des kosmischen ›Naturganzen‹ mit aus der Innerlichkeit entspringenden Bildern vermitteln und so den „Zusammenhang

34

35

36 37 38

Ludwig Tieck, Einleitung, in: ders., Phantasus. Eine Sammlung von Mährchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen, Bd. 1, Berlin 1812, S. 15. „lost in such a Labarynth [sic] of Suns and Worlds“, [Joseph Addison], „As the Writers in Poetry and Fiction …“, in: The Spectator 6 (1713), Nr. 420 (2. Juli), S. 131–136 (hier S. 133). Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 70. Ebenda. Robert P. Harrison, Wälder, S. 125.

27

I. Natur als Landschaft

des Menschen mit der umruhenden Natur“ erfahrbar machen. 39 Sie besetzt gewissermaßen eine „Leerstelle“40, die bei der Verdrä ngung des metaphysischen durch den wissenschaftlichen Naturbegriff zurü ckblieb. Jö rg Zimmermann wertet diese Transformation als einen der „bedeutendsten kulturgeschichtlichen Vorgä nge des 18. Jahrhunderts“, der im Denken der Romantik gipfelte. 41 Entwarf das reflektierende Subjekt im geschichtsphilosophischen Rü ckblick das Bild unverschuldeter Unmü ndigkeit und symbiotisch-kindlicher „Gebundenheit“ in einer prä rationalen „Naturvergangenheit“, so neigte gerade die triadische Denkweise der Romantik dazu, in der ä sthetischen Landschaftsschau den Ort einer (temporä ren) Wiederherstellung dieser vormaligen Mensch-Natur-Einheit, zumindest aber der momentanen Linderung des Entfremdungsgefü hls zu sehen.42 Es keimt die Sehnsucht nach der schö nen, „verlorne[n] Natur“, derentwegen ja der Protagonist von Schillers Spaziergang schließlich aufgebrochen war: „endlich entflohn des Zimmers Gefä ngniß / Und dem engen Gesprä ch“ der Stadt lä sst er „jegliche Spur menschlicher Hä nde zurü ck“ und strebt der wilden Einsamkeit in Gebirge und Wald zu. Vormals bedrohliche Qualitä ten der Natur kö nnen, indem sie bewusst aufgesucht werden, zur Quelle ä sthetischen Genusses werden. Getrieben von empfindsamer Misanthropie, wird dem Spaziergä nger die Landschaft zur „Zuflucht vor derselben Zivilisation, die ihre Entdeckung mö glich gemacht hatte.“43 „Wild ist es

39

40

41

42

43

28

Joachim Ritter, Landschaft, S. 21 und S. 29. Das ›Ganze‹ selbst kann nicht Gegenstand der Empirie sein: „It is not possible for us to observe or to describe a whole piece of the world, or a whole piece of nature; in fact, not even the smallest whole piece may be so described, since all description is necessarily selective.“, Karl Popper, The Poverty of Historicism, London 41991, S. 77. Jö rg Zimmermann, Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs, S. 130. Von einer „Leerstelle“, die sich mit der Wende zum kopernikanischen Weltbild ergeben habe, sprechen auch Gerhard Hard, Die Landschaft des Künstlers und die des Geographen, in: Detlef Hoffmann (Hg.), Landschaftsbilder, S. 122– 139 (hier S. 123f.) und Ruth Groh, Dieter Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen, S. 57. Zur Kritik an der damit verknü pften Vorstellung eines definierten „geistig-seelischen Haushalt[s]“ des Menschen siehe Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 63. Jö rg Zimmermann, Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs, S. 130. Schlaeger hinterfragt diese gä ngige Entwicklungsvorstellung, indem er postuliert, dass (zumindest in der englischen Romantik) die ausgebildete „Wahrnehmungs- und Darstellungsroutine“ von Landschaft dem Naturverstä ndnis und der Subjektivitä tskonzeption der Romantik eher hinderlich waren, Jü rgen Schlaeger, Landschaft, Natur und Individualität in der englischen Romantik, in: Heinz-Dieter Weber, Ulrich Gaier (Hg.), Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989 (= Konstanzer Bibliothek 13), S. 177–205 (hier S. 177). Fü r einen allgemeinen (Literatur-)Uberblick siehe Thomas Noll, Urte Stobbe, Christian Scholl, Landschaftswahrnehmung um 1800. Imaginations- und mediengeschichtliche Kontinuitäten und Brüche, in: dies. (Hg.), Landschaft um 1800. Aspekte der Wahrnehmung in Kunst, Literatur, Musik und Naturwissenschaft, Gö ttingen 2012, S. 10–27. Hierzu Helmut J. Schneider, Naturerfahrung und Idylle, S. 290f., Heinz-Dieter Weber, Die Verzeitlichung der Natur im 18. Jahrhundert, in: ders., Ulrich Gaier (Hg.), Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989 (= Konstanzer Bibliothek 13), S. 97–131 (hier S. 127) und Marianne Stauffer, Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter, Zü rich 1958 (= Studiorum Romanicorum Collectio Turicensis 10), S. 70. Helmut J. Schneider, Erinnerte Natur, S. X und Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf zur Landschaft aus Sprache. Die Romantisierung der Alpen in den Reiseschilderungen und die Literarisierung des Gebirges in der Erzählprosa der Goethezeit, Tü bingen 1993 (= Studien zur deutschen Literatur 123), S. 17. Deutlich bezieht sich Schiller hier auf Ansichten des ›promeneur solitaire‹ JeanJacques Rousseau; zum Vergleich: „J’allois alors d’un pas plus tranquille chercher quelque lieu sau-

2. Kompensation und Komplementaritä t

hier und schauerlich ö d’. […] / Bin ich wirklich allein? In deinen Armen, an deinem / Herzen wieder, Natur, ach!“44

2.2. Analyse und Synthese Lä sst sich die neuzeitliche Methodik wissenschaftlicher Naturauffassung, wie in der prä gnanten Formel ›dissecare naturam‹ (Francis Bacon) ausgedrü ckt, auf die Auflö sung (αναλυσις) des Ganzen in differenzierte, quantifizier- und kontrollierbare Bestandteile zurü ckfü hren, so lautete der insbesondere von den Romantikern vorgebrachte Einwand, man kö nne auf diese Weise letztlich vor lauter Bä umen den Wald nicht mehr sehen. Man darf das Sprichwort hier geradezu wö rtlich nehmen und sich den mit Schere und Lupe anrü ckenden Botaniker vorstellen, der nach Erkenntnis des ›Waldesganzen‹ strebt. Die „Naturforscher“, erklä rt Novalis in den Lehrlingen zu Saïs (1798/99), hä tten „jene unermeßliche Natur zu mannichfaltigen, kleinen, gefä lligen Naturen zersplittert“, um „mit scharfen Messerschnitten den innern Bau“ zu erforschen. Wohl ließen sich die so gewonnenen Erkenntnisse trefflich „zur tä glichen Nahrung und Nothdurft“ verwenden, doch waren es letztlich „nur todte, zuckende Reste“ des Naturganzen. Der lebendige „Naturgeist“ hingegen kö nne nur in ä sthetischer Vermittlung (Novalis: „in Gedichten“) erfahrbar gemacht werden.45 Auch Richard Wagner, dessen theoretische Schriften dem Naturbegriff maßgebliche Bedeutung zuweisen, rekapituliert die Bedingungen neuzeitlicher Naturauffassung, so unter anderem in seiner Abhandlung Das Kunstwerk der Zukunft (1850). Die Entwicklung des Menschen habe begonnen, als dieser erstmals durch Verstandesreflexion „seinen Unterschied von der Natur empfand“, sich vom „Unbewußtsein thierischen Naturlebens losriß“ und „der Natur gegenü berstellte“, sie sich also durch bewusste „Selbstunterscheidung“ zum „Gegenstand“ machte. 46 Doch kö nne der Mensch aufgrund der ihm inhä renten „Naturnothwendigkeit“ nicht in progressiver Distanzierung, sondern nur „im freudigen Bewußtsein seines Zusammenhanges mit

44 45

46

vage dans la forê t, quelque lieu dé sert où rien ne montrant la main des hommes, n’annonçâ t la servitude & la domination, quelque asyle où je pusse croire avoir pé né tré le premier, & où nul tiers importun ne vı̂nt s’interposer entre la nature & moi.“, Jean-Jacques Rousseau, Quatre lettres à Monsieur le président de Malesherbes, in: ders., Collection complete des œuvres de J. J. Rousseau, Citoyen de Geneve, Bd. 12, Geneve 1782, lettre 3, S. 252–258 (hier S. 254f.). Ein frü heres, nah verwandtes Beispiel negativer Kulturbewertung bietet Salomon Gessners Vorwort zu den Idyllen (1756): „Oft reiss ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreisst die Schö nheit der Natur mein Gemü th allem dem Ekel und allen den wiedrigen Eindrü ken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzü kt, ganz Empfindung ü ber ihre Schö nheit, bin ich dann glü klich wie ein Hirt im goldnen Weltalter und reicher als ein Kö nig.“ Die Bewohner der lä ndlichen Idylle seien „frey von allen den Sclavischen Verhä ltnissen, und von allen den Bedü rfnissen, die nur die unglü ckliche Entfernung von der Natur nothwendig machet“, [Salomon Gessner], Idyllen, Zü rich 1756, S. 6f. Friedrich Schiller, Der Spaziergang, in: ders., Gedichte, Bd. 1, S. 49 und 63f. Novalis, Die Lehrlinge zu Saïs, in: Paul Kluckhohn, Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das dichterische Werk, Darmstadt 31977 (= Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs 1), S. 79–109 (hier S. 84). Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, Leipzig 1850, S. 2f.

29

I. Natur als Landschaft

der Natur“47 vö llige Freiheit erlangen. Diese Rü ckbindung erfahrbar zu machen, sei Aufgabe der Kunst. Es gelte, der modernen „Civilisation vollstä ndig den Rü cken [zu] kehren und mit Bewußtsein uns wieder in die Arme der Natur werfen.“48 Die frü hromantische Diktion des Novalis aufgreifend, erklä rt Wagner in Oper und Drama (1852): Die Wissenschaft hat uns den Organismus […] aufgedeckt; aber was sie uns zeigte, war ein a b g e s to r b e n e r Organismus, den nur die hö chste Dichternoth wieder zu beleben vermag, und zwar dadurch, daß sie die Wunden, die das anatomische Sezirmesser schnitt, […] wieder schließt […].49

Der „lö sende Verstand“ kö nne die „reale Wirklichkeit […] nach ihren Einzelheiten“ erkennen, der „dichtende Verstand“ hingegen die „ideale, einzig verstä ndliche Wirklichkeit“ erfassen und mitteilen. Wo der „reflektirende Verstand“ eine „wachsende Vielheit von Einzelnheiten“ erblicke, vermö ge die „dichterische Anschauung“ ein verbundenes „Ganzes“ zu sehen.50 Besonderes Potential zur ä sthetischen Auffassung und Wiedergabe von Natur attestiert Wagner der Landschaftsmalerei, die ihm als „letzter und vollendeter Abschluß aller bildenden Kunst“ gilt.51 Die Herausbildung der Naturwissenschaft und der Landschaftskunst begreift er als komplementä re Entwicklungen im Prozess der Moderne.52 Die Objektivierung der Natur firmiert in Wagners Geschichtsphilosophie, wie er sie im Ring des Nibelungen dramatisierte, als mythischer Sü ndenfall: Noch vor Alberichs Raub des Rheingolds vergeht sich Wotan am harmonischen Naturzustand, indem er sich aus dem Holz der Weltesche – quasi ›dissecans naturam‹ – einen Speer schnitzt, der ihm die (widernatü rliche) Herrschaft sichern soll. Der gö ttliche Baumfrevel markiert den Anfang vom Ende des Kosmos: „In langer Zeiten Lauf / zehrte die Wunde den Wald; / falb fielen die Blä tter, / dü rr darbte der Baum“, verkü nden die Nornen zu Beginn der Götterdämmerung. In verdinglichter Zurichtung, zu Scheiten geschlagen und getü rmt, wird „der Welt-Esche / welkes Geä st“ schließlich den Weltenbrand befeuern.

47 48

49

50 51 52

30

Ebenda, S. 5. Richard Wagner, Kunst und Klima, in: Deutsche Monatsschrift fü r Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben 1 (1850), [Heft 4], S. 1–11 (hier S. 6). Richard Wagner, Oper und Drama, Leipzig 1852, Teil 3, S. 51. Der Satz fä llt hier im Kontext sprachtheoretischer Erö rterungen. Die Dialektik von „anatomische[r] Wissenschaft“ und synthetisierender Dichtung begegnet in Wagners Schriften aber wiederholt; vgl. etwa ebenda, Teil 2, S. 68: „Die anatomische Wissenschaft […] verfolgte den ganz entgegengesetzten Weg der Volksdichtung: wo diese unwillkü rlich verband, trennte jene absichtlich; wo diese den Zusammenhang sich darstellen wollte, trachtete jene nur nach genauestem Erkennen der Theile; und so mußte Schritt fü r Schritt jede Volksanschauung […] als aberglä ubisch ü berwunden […] werden. Die Naturanschauung des Volkes ist in Physik und Chemie […] aufgegangen.“ Richard Wagner, Oper und Drama, Teil 2, S. 67–69 und S. 193. Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, S. 179–182. „Die moderne Naturwissenschaft und die Landschaftsmalerei sind die Erfolge der Gegenwart […]“, Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, S. 180.

2. Kompensation und Komplementaritä t

QR Wald ist wie wohl keine andere Landschaftsform dazu geeignet, eine Vorstellung natü rlicher Ganzheit zu vermitteln. Wald ist wesentlich mehr als die Summe seiner Einzelteile, er besteht eben „nicht blos aus Bä umen“, wie der im 19. Jahrhundert populä re Naturschriftsteller Emil Adolf Roßmä ßler anmerkt. 53 Die romantische Diktion aufgreifend, schilt er es „eine pedantische Entweihung“, wollte man „mit dem kalten Messer des Zergliederers den Wald in seine Theile […] zerlegen“. Vielmehr sei Wald ein Paradigma harmonischer Ganzheit, eine „gewaltige Vereinigung von Kö rpern und Erscheinungen, in welcher kein Theil den ü brigen vö llig gleicht, und welche alle dennoch vollkommen zusammenstimmen zu erhabenem Einklang, der die Saiten in einer jeden unverdorbenen Brust erklingen macht.“54 Es mö ge in „dieser Auffassung […] scheinen, als gehö re der Wald nur dem Dichter und dem Maler“, als entziehe sich sein wahres Wesen wissenschaftlichem Zugriff. In der Nachfolge Alexander von Humboldts verstand Roßmä ßler es als seine Aufgabe, diese strenge Dichotomie der Natursicht zu ü berwinden: Es ist eine von den Aufgaben unserer Arbeit, diesen Zwiespalt zwischen Dichter, Maler und Naturforscher zu versö hnen, und nirgends kann dies erfolgreicher geschehen, kein Ort ist dazu wü rdiger angethan als der Wald.55

2.3. Wald als Metapher fü r Verlust Zur Beschreibung der Dialektik von Objektivierung und ä sthetischer Vergegenwä rtigung von Natur hat sich in der breiten Rezeption von Joachim Ritters These der Begriff der ›Kompensation‹ etabliert, wie ihn Jakob H. J. Schneider in folgender Definition gebraucht: Natur als Landschaft ist die ä sthetische Kompensation der aus dem metaphysischen Rahmen einer ehedem als kosmisches Einheitsprinzip verstandenen Natur herausfallenden Objektivierung der Natur als Gegenstand naturwissenschaftlich-technischer Verfü gbarkeit.56

Die problematische Ubertragung des durch Ritters Hegelinterpretationen ›vorbelasteten‹ Begriffs auf seine Landschaftsthese 57 veranlasste die Einfü hrung des 53 54 55 56 57

Emil Adolf Roßmä ßler, Der Wald, Leipzig 1863, S. 9. Ebenda. Ebenda, S. 10. Jakob Hans Josef Schneider, Natur und Landschaft, S. 15. Ritter selbst scheint den Begriff in Bezug auf die Funktion des Ästhetischen mit Bedacht vermieden zu haben; lediglich in einer Fußnote erwä hnt er die Forderung nach „ä sthetische[r] Kompensation“, Joachim Ritter, Landschaft, S. 51, Fußnote 58. Hingegen verwendet er ›Kompensation‹ wiederholt (unter Berufung auf Odo Marquard) in einem zeitnah entstandenen Aufsatz ü ber Die Aufgabe der

31

I. Natur als Landschaft

Begriffs der ›Komplementaritä t‹58, womit allgemeiner die Mö glichkeit bezeichnet ist, dasselbe (Natur-)Objekt „unter verschiedenen Blickwinkeln als ein verschiedenes zu erfahren.“59 So lä sst sich ein und der selbe Wald zur gleichen historischen Zeit komplementä r unter anderem als ö konomisches, wissenschaftliches oder ä sthetisches Objekt erfahren. 60 Von Kompensation zu sprechen scheint zumindest dort angebracht, wo eine auszugleichende Verlusterfahrung als Motivation oder Auslö ser der (ä sthetischen) Vergegenwä rtigung aufscheint oder sogar benannt wird.61 Explizit geschieht dies etwa, wenn Annette von Droste-Hü lshoff ü ber ihre Westfälischen Schilderungen (1845) schreibt:

58

59

60

61

32

Geisteswissenschaften. Ausgehend von Hegels Begriff der ›Entzweiung‹ sieht er hier in der konstitutiven „Abstraktheit und Geschichtslosigkeit“ der modernen Gesellschaft die Zugehö rigkeit der Geisteswissenschaften zu ihr begrü ndet. „Sie werden auf ihrem Boden ausgebildet, weil die Gesellschaft notwendig eines Organes bedarf, das ihre Geschichtslosigkeit kompensiert und fü r sie die geschichtliche und geistige Welt des Menschen offen und gegenwä rtig hä lt, die sie außer sich setzen muß.“, Joachim Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt am Main 1974 (= Bibliothek Suhrkamp 379), S. 105–140 (hier S. 131). Vgl. hierzu auch O[do] Marquard, Lemma ›Kompensation‹, in: Joachim Ritter, Karlfried Grü nder (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 912–918 (hier Sp. 916). „Die Totalitä t der ä sthetischen Natur als Landschaft, fü r die der Geist ein Organ ausbildet, verhä lt sich komplementär und nicht kompensatorisch zur verdinglichten und partialisierten Natur. Wir halten es fü r wichtig, diesen komplementä ren Charakter zu betonen, da ein von der Ritterschen Hegelauslegung abgeleitetes Kompensationsmodell andere anthropologische, geschichtsphilosophische und auch politische Implikationen aufweist als sein ursprü nglicher Ansatz.“, Ruth Groh, Dieter Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen, S. 60. Zur Diskussion ›Kompensation‹ versus ›Komplementaritä t‹ siehe Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem, S. 27 und Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 62f. „In einem komplementä ren Verhä ltnis stehen z.B. die Begriffsbildungen der Naturwissenschaften und die Lebenswelt.“, Ruth Groh, Dieter Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen, S. 90, Fußnote 31. Gerade der Blick auf das forstliche Schrifttum des 19. Jahrhundert zeigt: „Sciences de la nature et sentiment de la nature fleurissent simultané ment.“, Guillaume Decocq, Bernard Kalaora, Chloé Vlassopoulos, La Forêt salvatrice. Reboisement, société et catastrophe au prisme de l’histoire, Ceyzé rieu 2016, S. 76. Diese freiere, nur noch mittelbar auf die ›Landschaftstheorie‹ bezogene Verwendung der Begriffe schließt sich Klaus Schriewer und Guili Liebman Parinello an. Schriewer beschreibt die Relation zwischen dem „Phä nomen der Waldliebe“ und dem „Verlust des realen Waldes“ als „begleitend“ und kompensierend, Klaus Schriewer, Die Deutschen und der Wald, in: Bernd Schmelz (Hg.), Drache, Stern, Wald und Gulasch. Europa in Mythen und Symbolen, Bonn 1997, S. 1–17 (hier S. 7). Liebman Parinello nimmt an, dass sich fü r das 18. Jahrhundert „all’Entzauberung del disboscamento e della progressiva mappatura delle foreste ancora esistenti […] quasi per compensazione un atteggiamento estetico“ zuordnen lasse, Giuli Liebman Parrinello, Prefazione, in: ders. (Hg.), Il bosco nella cultura europea tra realtà e immaginario. Atti del convegno internazionale Roma 24–25 novembre 1999, Roma 2002, S. 7– 31 (hier S. 11). Ahnlich wurde diese kompensierende Relation auch von anderen Autoren herausgearbeitet: „Aber sonderbar: je schneller die Zellulose-Produktion zunahm, desto dichter wuchs in den Kö pfen der Deutschen der Wald. […] [J]e mehr diese wackeren Mä nner den deutschen Wald in eine Holzplantage verwandelte, in eine wirtschaftlich ergiebige Monokultur, desto eigensinniger bestanden die Stä dtebewohner auf ihrem Naturerlebnis. Wä hrend die Gedichte ü ber die Waldeinsamkeit immer schlechter wurden, entwickelte sich der grü ne Restbestand zum durchorganisierten Fluchtraum.“, Hans Magnus Enzensberger, Der Wald im Kopf, in: ders., Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt am Main 1988, S. 187–194 (hier S. 188 und 192f.). „Als Industrialisierung und Urbanisierung endgü ltig den alten Wald vernichteten oder in produktions- und gewinnorientierte ›Holzä cker‹ verwandelten, verwurzelte der alte germanische ›Urwald‹ um so stä rker in den Kö pfen.“, Ulrich Linse, Der deutsche Wald als Kampfplatz politischer Ideen, in: Revue d’Allemagne 22 (1990), Nr. 3 (Juillet–Septembre), S. 339–350 (hier S. 341).

2. Kompensation und Komplementaritä t

So war die Physiognomie des Landes bis heute, und so wird es nach vierzig Jahren nimmer sein. Bevö lkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen Bedü rfnisse und Industrie. Die kleinern malerischen Heiden werden geteilt; die Kultur des langsam wachsenden Laubwaldes wird vernachlä ssigt, um sich im Nadelholze einen schnellern Ertrag zu sichern, und bald werden auch hier Fichtenwä lder und endlose Getreidseen den Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben, wie auch ihre Bewohner von den uralten Sitten und Gebrä uchen mehr und mehr ablassen; fassen wir deshalb das Vorhandene noch zuletzt in seiner Eigentü mlichkeit auf, ehe die schlü pferige Decke, die allmä hlich Europa ü berfließt, auch diesen stillen Erdwinkel ü berleimt hat.62

Was als reale Erfahrung im Untergang begriffen scheint, soll „noch zuletzt“ aufgegriffen werden und sublimiert als ä sthetische Idee aufgehen. Droste-Hü lshoffs Sorge, durch land- und forstwirtschaftliche Intensivierung kö nne der „Charakter der Landschaft“, damit eng verknü pft aber auch die „Sitten“ der Bewohner63, tiefgreifend und unwiederbringlich „umgestaltet“ werden, wurde von vielen ihrer Zeitgenossen geteilt. Erstmals, kommentiert Helmut J. Schneider, war im 19. Jahrhundert „das Gefü hl des Verlusts massiv in das Erleben landschaftlicher Gegenwart eingedrungen“.64 Vorangetrieben wurde die Umwandlung der mitteleuropä ischen Waldlandschaften durch den immensen Holzbedarf einer an der Schwelle zur Industrialisierung stehenden Gesellschaft. Besonders in der Metall- und Glasverhü ttung, im Schiffsund Bergbau und zum Salinenbetrieb, aber auch in den Privathaushalten wurden Unmengen an (Brenn-)Holz benö tigt. Zahlreiche Publikationen, die um die Wende zum 19. Jahrhundert auf die drä ngende Gefahr einer ›Holznot‹ rekurrieren, legen nahe, „daß das Thema Wald immer dann Hochkonjunktur hatte, wenn eine seiner zentralen Ressourcenfunktionen fü r die Gesellschaft bedroht war.“ 65 Indes zeigen forstgeschichtliche Untersuchungen, dass die unter dem Schlagwort der ›Holznot‹

62

63 64 65

Annette von Droste-Hü lshoff, Westfälische Schilderungen I, hier zitiert nach Helmut J. Schneider (Hg.), Deutsche Landschaften, S. 484–492 (hier S. 487f.). Vgl. hierzu Kapitel VI.6.1. Helmut J. Schneider, Erinnerte Natur, S. XVI. Gü nter Bayerl, Holznot – die Sicht der Umwelthistorie, in: Albrecht Lehmann, Klaus Schriewer (Hg.), Der Wald – ein deutscher Mythos? Perspektiven eines Kulturthemas, Berlin 2000 (= Lebensformen. Verö ffentlichungen des Instituts fü r Volkskunde der Universitä t Hamburg 16), S. 131–156 (hier S. 132). Einen Eindruck hiervon gibt die chronologische Literaturü bersicht von Michael Glasmeier, Silvanische Bibliographie, in: Bernd Weyergraf (Hg.), Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, Berlin 1987 (= Akademie-Katalog 149), S. 313–321 (hier S. 313f.). Eine breite, hinsichtlich der Interessen ihrer Verfasser jeweils kritisch zu beurteilende Quellenbasis bieten neben den Forstordnungen die sogenannten „Holzsparschriften“, ein Literaturgenre, das in den 1790er Jahren eine quantitative wie qualitative ›Blü te‹ zeitigte, siehe hierzu Joachim Radkau, Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), Nr. 4, S. 513–543 (hier S. 519–522 und 530– 532). „Concern about timber scarcity existed in complex relation with an intensifying sense of the non- or extra-economic values of trees. […] [P]eople came to invest more in trees emotionally“, Laura Auricchio, Elizabeth Heckendorn Cook, Giulia Pacini, Introduction: invaluable trees, in: dies. (Hg.), Invaluable Trees. Cultures of Nature, 1660–1830, Oxford 2012 (= SVEC 2012/08), S. 1–19 (hier S. 2–4).

33

I. Natur als Landschaft

problematisierte „Waldressourcenknappheit“ 66 sehr differenziert und regionalspezifisch bewertet werden muss und sich faktische, prognostizierte und inszenierte Dimensionen der Krise unterscheiden lassen. Publizistisch ausgebreitete Sorgen um die Zukunft des Waldes dienten nicht zuletzt dazu, politische und ö konomische Interessen der Grundbesitzer durchzusetzen, etwa durch Einschrä nkung alter Gewohnheitsrechte.67 Jedenfalls aber lä sst sich ab der zweiten Hä lfte des 18. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auch außerhalb forstlicher Kreise ein anhaltendes Krisenbewusstsein in Bezug auf Wald feststellen. Wie die oben zitierte Schilderung Droste-Hü lshoffs nahelegt, war es zumindest in Deutschland bald weniger die Angst vor tatsä chlicher Entwaldung oder akuter Holznot, als vielmehr die schmerzlich empfundene Verä nderung des Landschaftsbildes durch die sich erfolgreich bewä hrende rationelle Forstwirtschaft, welche dieses Krisenbewusstsein wach hielt. Hatte etwa der einflussreiche Forstwissenschaftler und -praktiker Wilhelm Pfeil 1816 noch die Kiefer, da sie in ihrer Anspruchslosigkeit den „grö ßten Nutzen gewä hrt“, als „Krone aller unserer Holzarten“ gerü hmt (und damit gegen die zwar schö ne, aber unrentable Eiche ausgespielt68), so musste er knapp zwei Jahrzehnte spä ter die gravierenden Folgen der erfolgreichen Aufforstungen gewahren: Das materielle Bedü rfniß gestattet immer weniger, dem Sinne fü r das Schö ne in der Waldwirthschaft Raum zu geben. Erst verschwinden die herrlichen alten großen Bä ume, dann die einzelnen malerischen Baumgruppen, zuletzt verdrä ngt die einfö rmige, graue, todte Kiefer das freundliche, lebendige Laubholz. Dieselbe Erscheinung, die bei dem Wechsel 66

67

68

34

Der Begriff „Waldressourcenknappheit“ verdeutlicht, dass die Problematik nicht nur die Verfü gbarkeit des Produktes Holz, sondern auch die Konkurrenz zwischen Holzproduktion und anderen Nutzungsformen der begrenzt verfü gbaren Waldflä che (etwa Waldweide, Waldfeldbau, Waldstreunutzung, Jagd) umfasst, siehe dazu Uwe Eduard Schmidt, Holznot – die forstgeschichtliche Sicht, in: Albrecht Lehmann, Klaus Schriewer (Hg.), Der Wald – ein deutscher Mythos? Perspektiven eines Kulturthemas, Berlin 2000 (= Lebensformen. Verö ffentlichungen des Instituts fü r Volkskunde der Universitä t Hamburg 16), S. 117–130 (hier S. 117). Transportprobleme fü hrten dazu, dass Holzversorgung und Preisentwicklung selbst in benachbarten Regionen stark divergieren konnten; ein ü berregionaler Brennholzhandel war kaum ausgeprä gt, gerade die „holzfressenden“ Gewerbe bezogen ihr Brennmaterial großteils lokal ü ber Holzberechtigungen und nicht ü ber den Markt, Joachim Radkau, Holzverknappung und Krisenbewußtsein, S. 532–534. Zur Holznot siehe ferner Detlev Arens, Der deutsche Wald, Kö ln 2012, S. 238–241. Uwe Eduard Schmidt, Holznot, S. 120–122. Zechner bezeichnet den Holznot-Diskurs als „Grü ndungsmythos der deutschen Forstwissenschaft“, Johannes Zechner, Der deutsche Wald. Eine Ideengeschichte zwischen Poesie und Ideologie 1800–1945, Darmstadt 2016, S. 247. Radkau erkennt in den Holzkonflikten der Neuzeit ein „stabilisierendes Spannungsfeld“: „Holzknappheit konnte in einer ganzen Reihe unterschiedlicher Konflikte zum Thema werden, wobei nicht immer sicher ist, ob Knappheit diese Konflikte verursachte oder aus ihnen resultierte, wenn nicht gar als bloßer Vorwand diente“, Joachim Radkau, Holzverknappung und Krisenbewußtsein, S. 522. Zum Anbau der Eiche kö nne in Anbetracht ihrer hohen Bodenansprü che nur der „mit Consequenz rathen, der zugleich erklä rt, daß er lieber Eicheln als Brod und Semmeln ißt, daß er gern in den Zustand zurü ckkehren mö chte, in welchem die alten Deutschen gefunden wurden, als ihr Land noch von Eichenwä ldern bedeckt war, und als Bonifacius die erste Axt in dem geheiligten Eichenhaine der Druiden ertö nen ließ.“, Wilhelm Pfeil, Ueber die Ursachen des schlechten Zustandes der Forsten und die allein möglichen Mittel, ihn zu verbessern, mit besonderer Rücksicht auf die Preußischen Staaten, Zü llichau 1816, S. 206.

2. Kompensation und Komplementaritä t

zwischen der Poesie des Jä gerlebens und dem dumpfen Vegetiren in dem Fabrikgebä ude stattfindet, wo der Mensch nur als ein Theil der Maschine betrachtet wird, kehrt ü berall wieder. Man kann das Beklagen [sic] aber nicht ä ndern!69

Wie Gü nter Bayerl70 darlegt, bedingten sich die insbesondere durch Einfü hrung der Stallfü tterung und Einschrä nkung der Waldweide bedingte Agrarrevolution und der Siegeszug der Forstwirtschaft im spä ten 18. und 19. Jahrhundert wechselseitig: Innovationen im Feldbau (Mechanisierung, verbesserte Zü chtungen, Kartoffelanbau) steigerten den Ertrag von Ackerland und fü hrten so dazu, dass Wald als Lieferant endosomatischer Energie (Mast, Weide, Waldstreu, Wildbret) zunehmend an Bedeutung einbü ßte. Das wachsende Ertragsgefä lle zwischen Acker und Wald ließ Urbarmachungen profitabler erscheinen und fü hrte deshalb zu neuer Rodungstä tigkeit; andererseits konnte Waldwirtschaft nun zunehmend autonom, ohne Rü cksicht auf bä uerliche und unterbä uerliche Nutzungsinteressen betrieben werden, so dass das angestrebte Ziel nachhaltig-rationeller Holzproduktion in Reichweite rü ckte.71 Von traditionellen Nutzungen entlastet, fungierten Wä lder ab dem 19. Jahrhundert primä r als Wirtschaftsgut staatlicher oder privater Holzproduzenten. Die durch bä uerliche und unterbä uerliche Nutzungsformen bedingte Differenzierung in der Baumkultur (Niederwald, Plenterwald, Hutewald) ging im Zuge dieser Entwicklung weitgehend verloren.72 Der Naturforscher Roßmä ßler rä umt 1863 lakonisch ein: „Wir wollen ehrlich sein. Die Forstwirthschaft ist der Poesie des Waldes nicht eben gü nstig.“73 Als Anekdote schildert er, wie „ein greiser Forstmann, der schon eine Wandelung seines Revieres gesehen hat, mit theilnahmvollem Lä cheln den Streifereien des Malers folgt, der vergeblich nach einem Plä tzchen fü r seinen Feldstuhl spä ht, von wo aus er ein kunstgerechtes Waldbild sich gestalten sä he.“ Der Fö rster muss ihn enttä uschen: „Du kommst zu spä t, an der Stelle Deines Waldes steht jetzt mein Forst.“74 Der anklingenden Resignation zum Trotz lieferte gerade der empfundene Verlust an landschaftlicher Schö nheit und Konstanz den Anlass, die schrumpfenden Reste ›schö ner alter Wä lder‹ (kü nstlerisch) zu wü rdigen und zu erhalten.75 Wie zu Beginn 69

70 71

72 73 74

75

[Wilhelm Pfeil], Kiefernsaat und Kiefernpflanzung, mit besonderer Berücksichtigung des Kiefernanbaues in den östlichen Provinzen Preußens, in: Kritische Blä tter fü r Forst- und Jagdwissenschaft 7 (1834), Heft 2, S. 71–174 (hier S. 73). Gü nter Bayerl, Holznot, S. 154f. Angesichts wachsender Bevö lkerung und entsprechend zunehmendem Bedarf an Agrarflä chen stellt Pfeil die Frage: „Was ist natü rlicher, als die Grö ße der Wä lder zu vermindern und diese Verminderung durch Vermehrung der Production zu decken und unschä dlich zu machen?“, [Wilhelm Pfeil], Kiefernsaat und Kiefernpflanzung, S. 72. Joachim Radkau, Holzverknappung und Krisenbewußtsein, S. 516f. Emil Adolf Roßmä ßler, Der Wald, S. 7. Ebenda; „Wald“ (theoretisch, ä sthetisch) und „Forst“ (praktisch, ö konomisch) werden hier (S. 4) als konkurrierende Wahrnehmungsweisen desselben Naturausschnitts opponiert: „Jeder Forst ist zugleich auch ein Wald, aber nicht jeder Wald, und wä re er auch noch so groß, ein Forst. D i e g e r e g e l t e P f l e g e u n d B e w i r t h s c h a f t u n g m a c h t d e n Wa l d z u m Fo r s t e .“ „Die Empfindsamkeit machte sich hä ufig an Landschaftselementen fest, die zu dieser Zeit im Verschwinden begriffen waren. So wä hlen Maler der Romantik als Motiv immer wieder den Hudewald,

35

I. Natur als Landschaft

des Jahrhunderts die Wertschä tzung fü r historische ›Baudenkmä ler‹ just in dem Moment erwachte, als selbige durch die Auswirkungen der Revolution und Sä kularisation akut bedroht waren, so schien es angesichts drastisch empfundener Verä nderungen des Landschaftsbildes ethisch geboten, zumindest einzelne ›Naturdenkmä ler‹76 fü r die Nachwelt zu bewahren, nicht etwa aufgrund ihres absoluten Alters oder ö kologischen Werts, sondern als autoritative Zeugen einer „Vorzeit“77, in der Mensch und Natur noch eine symbiotische Einheit bildeten. Neben den ö konomischen Haupt- und Nebennutzungen geriet zunehmend auch eine breite, als unermesslich wertvoll erachtete Vielfalt von ›Wohlfahrtswirkungen‹ 78 des Waldes in den Fokus. Wä hrend sich einerseits die junge Disziplin der Forstmathematik anschickte, den materiellen Ertrag des Waldes immer prä ziser zu schä tzen, entstand andererseits ein breites Bewusstsein fü r seinen unschä tzbaren immateriellen Wert. Die „Lieblichkeitspflege der Waldungen“, wie sie Gottlob Kö nig schon in der ersten Hä lfte des 19. Jahrhundert propagierte, war kein Selbstzweck, sondern sollte „sehr Vieles zur Gesittung und Veredlung der Bewohner bei[tragen],

76

77

78

36

den die Forstwirtschaft durch Altersklassenwä lder abzulö sen versuchte. Die Romantik thematisiert diesen Verlust.“, Klaus Schriewer, Natur und Bewusstsein, S. 76. Vgl. auch Henry Makowski, Bernhard Buderath, Die Natur dem Menschen untertan. Ökologie im Spiegel der Landschaftsmalerei, Mü nchen 1983, S. 126. Der Begriff ›Naturdenkmal‹ geht auf Alexander von Humboldt zurü ck und wurde vor allem durch Hugo Conwentz (Die Gefährdung der Naturdenkmäler und Vorschläge zu ihrer Erhaltung, 1904) popularisiert, vgl. hierzu Susanne Ude-Koeller, Auf gebahnten Wegen, S. 150f. Kö nig sieht im Naturdenkmalschutz, der Natur als „einzeln zu schü tzendes Projekt, das fü r das Ganze steht“ setzt, eine Folge der „parzellierte[n] Wahrnehmung“ der Landschaft, Gudrun M. Kö nig, Ausgegrenzt und einverleibt, S. 170. So fordert der ›forstliche Klassiker‹ Gottlob Kö nig im Jahr 1849: „Seltene, besonders große, herrliche Bä ume und Bestä nde sollte man erhalten, so lange als mö glich […]. Vernichten wir vollends die letzten riesigen Uberbleibsel der Vorzeit: so bleibt Nichts, was die Zukunft mahnen kö nnte an treuere Befolgung ewiger Naturgesetze; die leidige Selbstsucht hielt am Ende wohl noch die verkü nstelten Zwerggestalten der neuen Wä lder fü r etwas Rechtes.“, G[ottlob] Kö nig, Die Waldpflege aus der Natur, S. 302. Vgl. hierzu Friedemann Schmoll, Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main 2004 (= Geschichte des Natur- und Umweltschutzes 2), S. 93– 96, Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, Mü nchen 1971, S. 172f. und Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 172–174. Die (literarischen) Anfä nge solcher „moralization of nature“ in der Epoche der Empfindsamkeit skizziert Helmut J. Schneider, The Tree, S. 95f. und ders., Naturerfahrung und Idylle, S. 304–311. Der Begriff wurde hauptsä chlich durch Max Endres geprä gt, der auch ausdrü cklich die „ethische Bedeutung des so viel besungenen Waldes, seine belebende Einwirkung auf das Seelen- und Gemü tsleben des Menschen, seine ä sthetische Wirkung auf Natur- und Kunstsinn“ hervorhebt, Max Endres, Handbuch der Forstpolitik mit besonderer Berücksichtigung der Gesetzgebung und Statistik, Berlin 1905, hier S. 202. Auf die „allgemeine oder ö ffentliche Wohlfahrt“ wird aber bereits in frü heren forstlichen Texten verwiesen. Die massiven Entwaldungen wä hrend der Franzö sischen Revolution gaben ab etwa 1800 Anlass zu einer Reihe systematischer ›kulturhistorischer‹ Studien zur Bedeutung des Waldes fü r die ›Wohlfahrt‹ der Nationen und Kulturen in Geschichte und Gegenwart. Besonders im Zuge der Debatten zur Schutzwaldgesetzgebung wurde „der Begriff vom Holz auf den Wald ausgedehnt, je mehr man sich dessen allgemeiner Wirkungen bewußt wurde.“, Erich Hornsmann, Allen hilft der Wald. Seine Wohlfahrtswirkungen, Mü nchen 1958, S. 9f. Lorenz von Liburnau (Wald, Klima und Wasser, 1878) stellt die „sanitä ren“ und klimatischen Einflü sse des Waldes auf die ö ffentliche Wohlfahrt „bewußt im Gegensatz zu den Haupt- und Nebennutzungen“ dar.

2. Kompensation und Komplementaritä t

was auf die Forste wohlthä tig zurü ckwirkt.“79 Komplementä re Sichtweisen zusammenzufü hren, formierte sich schließlich gegen Ende des Jahrhunderts die neue Disziplin der Forstä sthetik als „Lehre von der Schö nheit des Wirtschaftswaldes“80 (Heinrich von Salisch).

QR Im drastisch empfundenen Wandel der Landschaft81, der wissenschaftlich-technischen ›Entzauberung‹ der Wä lder, im Schwinden alter Baumbestä nde gewahrte man Analogien fü r die beunruhigenden politischen und sozialen Umwä lzungen der sogenannten ›Franzosenzeit‹ wie auch der anbrechenden industriellen Revolution. Das Bild des Waldes entwickelte sich spä testens im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer eindringlich sprechenden Metapher fü r Verlust.82 Im Jahr 1806, welches das Ende des Heiligen Rö mischen Reiches besiegelte, schreibt Achim von Arnim in einem Nachwort zum ersten Band der Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn:

79

80

81

82

G[ottlob] Kö nig, Die Waldpflege aus der Natur, S. 300. Seine forstä sthetischen Ansichten publizierte Kö nig zuvor unter dem Titel Poesie des Waldbaues, in: [Julius] von Pannewitz (Hg.), Forstliches CottaAlbum, Breslau 1844, S. 139–141. Heinrich von Salisch, Forstästhetik, Berlin 21902 [11885], S. 1. Fü r den Forstbetrieb nahm damit Gestalt an, was Novalis fast hundert Jahre vorher an der Bergakademie Freiberg als ›nä chste Stufe‹ vorschwebte: „Erwerbsbergbau – wissenschaftlicher, geognostischer Bergbau – Kann es auch einen schö nen Bergbau geben?“, zitiert nach Gerhard Schulz, Der Bergbau in Novalis’ ›Heinrich von Ofterdingen‹, in: Der Anschnitt 11 (1959), Nr. 2, S. 9–13 (hier S. 13). An tiefgreifenden Gestaltungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts sind auch die vielerorts durchgefü hrten Meliorationen und Separationen (Flurbereinigungen) zu nennen, wie sie etwa Hoffmann von Fallersleben in seinem Gedicht Die Verkoppelung (1871) thematisiert. Carl Gustav Carus diagnostiziert 1867, dass „der moderne Kü nstler mitten im Umschwunge einer vielbewegten Zeit“ seinem Verlustschmerz „in seiner Kunst einen Ausdruck zu geben“ versucht; symbolische Bildmotive wie das „Waldesdunkel mit durchbrechendem Himmelsblau“ seien „solche Klagelaute einer unbefriedigten Existenz“, Carl Gustav Carus, Betrachtungen und Gedanken vor auserwählten Bildern der Dresdner Galerie, Dresden [1867], S. 93. Arthur Brande macht in der Kompensation von ›Wald-Verlusterfahrungen‹ ein spezifisches schaffensbiographisches Moment bei Adalbert Stifter aus: „Das Bild des in jungfrä ulichem Schweigen harrenden Waldes wird […] zu einer Metapher fü r Verlust, ä hnlich wie bei Eichendorff, der gleichfalls angesichts der Rodungen der riesigen Wä lder in seiner schlesischen Heimat, die er wä hrend seiner Kindheit und Jugend erlebte, zu einem ›Dichter des Verlustes‹ (W. Frü hwald) wurde, indem er jene vergangene Welt in Literatur, Gedä chtnis und Erinnerung verwandelte.“, Arthur Brande, Stifters Hochwald am Plöckenstein. Eine vegetationskundliche und waldgeschichtliche Analyse, in: Walter Hettche, Hubert Merkel (Hg.), Waldbilder. Beiträge zum interdisziplinären Kolloquium „Da ist Wald und Wald und Wald“ (Adalbert Stifter), Mü nchen 2000, S. 47–67 (hier S. 66). Entsprechende Wirkung entfaltet das Bild des Waldes auch im Zuge der ›Waldsterben-Debatte‹ in der Naturlyrik des spä ten 20. Jahrhunderts, in der „sich entweder diese Katastrophenszenarien prä gnant verdichten oder aber das, was anscheinend nicht mehr zu retten ist, in seiner Schö nheit wie Vergä nglichkeit wenigstens noch konserviert wird“, Johannes John, Vorwort, in: Walter Hettche, Hubert Merkel (Hg.), Waldbilder, S. 7–14 (hier S. 13). So ist sich der Schriftsteller Jü rgen Becker im Jahr 1984 sicher, „daß es die Metapher ›Wald‹ auch dann noch geben wird, wenn es den Wald nicht mehr gibt, vielleicht als Metapher fü r ›Verlust‹“, Der Baum (Was der Wald für unsere Kultur bedeutet). Gespräch, in: Die Zeit, 21. September 1984 (Nr. 39), S. 56, zitiert nach Klaus Lindemann, „Deutsch Panier, das rauschend wallt“ – Der Wald in Eichendorffs patriotischen Gedichten im Kontext der Lyrik der Befreiungskriege, in: Hans-Georg Pott (Hg.), Eichendorff und die Spätromantik, Paderborn 21988, S. 91–131 (hier S. 130).

37

I. Natur als Landschaft

O mein Gott, wo sind die alten Bä ume, unter denen wir noch gestern ruhten, die uralten Zeichen fester Grenzen, was ist damit geschehen, was geschieht? Fast vergessen sind sie schon unter dem Volke, schmerzlich stoßen wir uns an ihren Wurzeln. Ist der Scheitel hoher Berge nur einmal ganz abgeholzt, so treibt der Regen die Erde hinunter, es wä chst da kein Holz wieder, daß Deutschland nicht so weit verwirthschaftet werde, sey unser Bemü hen.83

Wie ein ü ber Jahrhunderte gewachsener Bergwald abgeholzt und „verwirthschaftet“ wird, so waren die „uralten Zeichen fester Grenzen“ spä testens durch den letzten Hauptschluss der Reichsdeputation (1803) zutiefst erschü ttert. In beiden Fä llen drohte vö llige Erosion. Drastische Aktualitä t erhielt Arnims Bild durch den katastrophalen Bergsturz von Goldau, der im September 1806 europaweit fü r Schlagzeilen sorgte und breiteres Bewusstsein fü r die Schutzfunktion alpiner Bannwä lder schaffte. 84 Bä ume geben Halt. Metaphorische ›Bannwä lder‹ scheint Arnim denn auch fü r das „Volkslied“ im Sinn zu haben, das er vor dem verderblichen „Wirbelwind des Neuen“85 zu bewahren sucht. – Angesichts landschaftlicher, politischer, sozialer und kultureller Umwä lzungen konnte der Wald im 19. Jahrhundert nicht nur im deutschsprachigen Gebiet „zur hinterwä ldlerischen Barriere gegen den Wandel und die Gefahren der Industriewelt“86 aufgebaut werden, als ein organisch gewachsener, widerstä ndiger, fest verwurzelter Ankerplatz im rapiden Strom der Zeiten.

83

84

85 86

38

Ludwig Achim von Arnim, Von Volksliedern. An Herrn Kapellmeister Reichardt, in: ders., Clemens Brentano (Hg.), Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, [Bd. 1], Heidelberg 1806, S. 425–464 (hier S. 428). Bannlegungen mit dem ausdrü cklichen Zweck des Wald- und damit Erosionsschutzes (und nicht etwa fü r die herrschaftliche Jagd) sind im Gebiet der Schweiz bereits fü r das 14. Jahrhundert belegt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden „unter dem Eindruck der aufgebrachten ö ffentlichen Meinung“ in vielen Alpenanrainerstaaten „Schutzwaldgesetze“ erlassen, Erich Hornsmann, Allen hilft der Wald, S. 118 und S. 123. Hornsmann fü hrt fü r das 19. Jahrhundert eine Reihe aufsehenerregender Naturkatastrophen an, die er mit dem infolge der Franzö sischen Revolution „einsetzenden Waldraubbau“ assoziiert (S. 121f.). Ludwig Achim von Arnim, Von Volksliedern, S. 428. Ulrich Linse, Der deutsche Wald als Kampfplatz, S. 341. Zu eindringlicher Formulierung dieses Gefü hls findet Karl Immermann im Schlusskapitel seiner Epigonen (1836): „Mit Sturmesschnelligkeit eilt die Gegenwart einem trocknen Mechanismus zu; wir kö nnen ihren Lauf nicht hemmen, sind aber nicht zu schelten, wenn wir fü r uns und die Unsrigen ein grü nes Plä tzchen abzä unen, und diese Insel so lange als mö glich gegen den Sturz der vorbeirauschenden industriellen Wogen befestigen.“, Karl Immermann, Die Epigonen. Dritter Theil, in: ders., Karl Immermann’s Schriften, Bd. 7, Dü sseldorf 1836, S. 486. Die Autoren einer historischen Studie zum Thema Waldschutz und Schutzfunktionen des Waldes stellen hinsichtlich des ö ffentlichen und wissenschaftlichen Diskurses im Frankreich des 19. Jahrhunderts fest: „Peu à peu, le reboisement des montagnes va devenir la panacé e universelle, ré ponse à tous les maux dont souffre la socié té .“, Guillaume Decocq u.a., La Forêt salvatrice, S. 19. Der von Katastrophenszenarien bestimmte Diskurs lasse sich in zwei Strä nge aufdrö seln, von denen einer die Rolle des (Berg-)Waldes „dans les é quilibres naturels“, der andere die Relation von Wald und Gesellschaft („un leitmotiv des é lites de l’administration forestiè re“) fokussiere; es handle sich somit um einen „discours ›é cologique‹ avant la lettre“, ebenda, S. 20–41.

3. Stimmungskunst

3. Stimmungskunst 3.1. Verzeitlichung Wurden im Vorangehenden historische Voraussetzungen und Bedingungen skizziert, unter denen ä ußere Natur zum Gegenstand ä sthetischer Betrachtung werden konnte, so soll nachfolgend in der gebotenen Kü rze ein Uberblick ü ber einige Tendenzen theoretischer und poetologischer Reflexion sowie kü nstlerischer Verfahrensweisen gegeben werden, die in ihrer Gesamtheit die Grundlage dafü r bildeten, dass bildliche, literarische und schließlich auch musikalische Walddarstellungen seit dem spä ten 18. Jahrhundert eine durchaus neuartige Qualitä t erreichen konnten. Die hierfü r relevanten Entwicklungslinien knü pfen sich an die (eng miteinander verwandten) Schlagworte ›Stimmungskunst‹, ›Musikalisierung‹ und ›Bewegungslandschaft‹. In der zweiten Hä lfte des 18. Jahrhunderts ä ußerten sich zunä chst in der Malerei, in der Folge dann auch in Dichtung und erzä hlender Prosa Bestrebungen zur ›Musikalisierung‹ der Landschaftsdarstellung. Wie der Musiker „die inneren Bewegungen des Gemü ths durch analogische ä ussere zu begleiten und zu versinnlichen“ wisse, so kö nne auch der „Landschaftsmaler und Landschaftsdichter“ vermittels dieser Analogie vom „Bildner gemeiner Natur zum wahrhaften Seelenmaler“ werden und den „todte[n] Buchstabe[n] der Natur […] zu einer lebendigen Geistersprache“87 wecken. Diese Mö glichkeit stellt Friedrich Schiller in einer programmatischen Besprechung (1794) der Gedichte Friedrich Matthisons in Aussicht. Durch Ubertragung der Motorik der Affekte auf „analogische ä ussere […] Bewegungen“ im dargestellten Naturraum sollte die Landschaftskunst – wie die Musik – zur Mitteilung subjektiver Empfindungen befä higt werden. Unaussprechliches sollte durch die „Buchstabe[n] der Natur“ ausgedrü ckt werden. Dieser Forderung nachzukommen, lö ste sich die Landschaftsdarstellung zunehmend vom bisher an sie gestellten Anspruch getreuer Naturnachahmung (›Mimesis‹) und suchte sich die paradigmatische ›Ungebundenheit‹ der Musik als formales Gestaltungsprinzip anzueignen. Entsprechend fasst etwa August Wilhelm Schlegel in seinen Berliner Vorlesungen des Winters 1801/1802 die Landschaftskunst als den „musikalischen Theil“ 88 der Malerei auf.

87

88

[Friedrich Schiller], „Zü rich, b. Orell u. Comp.: Gedichte von Friedrich Matthison“, Rubrik ›Schöne Künste‹, in: Allgemeine Literatur-Zeitung 10 (1794), Nr. 298, Sp. 665–672; Nr. 299, Sp. 673–680 (hier Nr. 298, Sp. 607[recte: 670]–671. „Wenn die Mahlerey, je nachdem sie den Geist bey der ruhigen Betrachtung eines umgrä nzten Gegenstandes fixirt, oder das Gemü th zu unbestimmten Fantasieen anregt, und in eine unnennbare Sehnsucht verstrickt, sich entweder der Plastik oder der Musik annä hert, so kann man die Landschaft ihren musikalischen Theil nennen.“, August Wilhelm von Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst [Berlin 1801–1804], in: Ernst Behler (Hg.), August Wilhelm von Schlegel: Vorlesungen über Ästhetik I [1798–1827], Paderborn 1989 (= Kritische Ausgabe der Vorlesungen 1), S. 179–781 (hier S. 338). Zum Stellenwert der Landschaftsmalerei bei Schlegel siehe Helmut Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der romantischen Weltanschauung, Halle 1932, S. 73–79.

39

I. Natur als Landschaft

Begü nstigt wurde der Transfer zwischen den ›Schwesterkü nsten‹ durch eine Vielzahl terminologischer Entsprechungen, angefangen beim „ursprü nglich in einen musikalischen Sinnzusammenhang“ 89 gehö renden (und spä ter dorthin „reimportiert[en]“90) Begriff der ›Stimmung‹, ü ber den (Farb-)›Ton‹, die (Klang-)›Farbe‹ und (Bild-)›Komposition‹ bis hin zur angestrebten ›Harmonie‹ des Ganzen.91 Gerade im Umfeld der Frü hromantik mit ihrem Hang zur Uberlagerung und Verschmelzung der Sinnesbereiche und Kü nste verdichteten sich die Assoziationen von Landschaft und Musik zu einem kohä renten „Textgewebe“ und erlangten „eine vorher unbekannte theoretische Dimension“92. In der Folge geriet die vormals strikte Trennung der Ausdrucksmittel und kategoriale Unterscheidung93 zwischen (simultan erfahrbarer) Raumkunst und (sukzessiv erfahrbarer) Zeitkunst zunehmend ins Wanken – womit bereits ein Hinweis zur Beantwortung der Frage gegeben ist, unter welchen Prä missen ein Naturraum (Wald) zum ä sthetischen Gegenstand einer Zeitkunst (Musik) werden konnte. Den Bestrebungen nach ›Musikalisierung‹ der malerischen und sprachlichen Landschaftsdarstellung lä sst sich – historisch nachgelagert – eine konfluierende Tendenz zur ›Verrä umlichung‹ der Musik im 19. Jahrhundert gegenü berstellen, so dass sich gerade im Bereich der Naturdarstellung das generelle Bild einer wechselseitigen Annä herung von Malerei, Literatur und Musik zeichnen lä sst.94 89

90

91

92

93

94

40

Friederike Reents, Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert, Gö ttingen 2015, S. 13. Christoph Wald, Wiederholung, Klangraum und Landschaft. Schuberts Instrumentalmusik 1822–1828, Paderborn 2016, S. 189. Hierzu Schlegel: „Die Einheit, welche er [der Landschaftsmaler] in sein Werk legt, kann aber keine andre seyn als eine musikalische, d.h. die Angemessenheit harmonischer und contrastirender Partien zur Hervorbringung einer Stimmung, oder einer Reihe von Eindrü cken, bey denen [man] gern verweilt, und die das Gemü th in einem gewissen Schweben erhalten.“, Ernst Behler (Hg.), August Wilhelm von Schlegel: Vorlesungen über Ästhetik I, S. 339. Siehe zu den „frappante[n] Ubereinstimmungen in der Begrifflichkeit“ auch Julia Cloot, Geheime Texte. Jean Paul und die Musik, Berlin 2001 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 17/251), S. 152–161. Elisabeth Dé cultot, Das frühromantische Thema der ›musikalischen Landschaft‹ bei Philipp Otto Runge und Ludwig Tieck, in: Athenä um. Jahrbuch fü r Romantik 5 (1995), S. 213–234 (hier S. 213–215). Dé cultot wertet den Begriff der „musikalischen Landschaft“ als einen „Schlü sselbegriff der romantischen Asthetik“ (S. 234). Hierfü r stellvertretend: „So hat jeder Sinn seinen ihm eigenen Bereich. Der Bereich der Musik ist die Zeit, derjenige der Malerei der Raum.“, Jean-Jacques Rousseau, Essai sur l’origine des langues où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale, hier zitiert nach der deutschen Ubersetzung von Dorothea Gü lke, Peter Gü lke (Hg.), Jean-Jacques Rousseau: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, Wilhelmshaven 1984 (= Taschenbü cher zur Musikwissenschaft 99), hier S. 148. Siehe hierzu die grundlegende Darstellung von Helga de la Motte-Haber, Musik und bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur Klangskulptur, Laaber 1990, besonders S. 25–35, S. 117 und S. 133. Zur allgemeinen „Annä herung der Dimensionen von Raum und Zeit“ in der Kunst des 19. Jahrhunderts siehe Anno Mungen, ›BilderMusik‹. Panoramen, Tableaux vivants und Lichtbilder als multimediale Darstellungsformen in Theater- und Musikaufführungen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Remscheid 2006 (= Filmstudien 45), besonders S. 31–34 und S. 166–168; zur „Musik als Raum- und Zeiterlebnis“ außerdem Heike Stumpf, „… wollet mir jetzt durch die phantastisch verschlungenen Kreuzgänge folgen!“. Metaphorisches Sprechen in der Musikkritik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1996 (= Bonner Schriften zur Musikwissenschaft 2), S. 67–70. – Polemisch zugespitzt wird diese Tendenz 1871 von Wilhelm H. Riehl beschrieben: „Der modernste Kü nstler will vorab Farbe, Ton, Stimmung […]. Vor schö ner Zeichnung […] fü rchtet er sich, wie der modernste Musiker vor

3. Stimmungskunst

„Die landschaftliche Natur“, stellt Schiller fest, „ist ein auf einmal gegebenes Ganze [sic] von Erscheinungen, und in dieser Hinsicht dem Mahler gü nstiger, sie ist aber dabey auch ein successiv gegebenes Ganze, weil sie in einem bestä ndigen Wechsel ist, und begü nstiget in sofern den Dichter.“95 Der kulturgeschichtliche Zusammenhang zwischen der Erfahrung und Schilderung von Landschaft als etwas „in einem bestä ndigen Wechsel“ begriffenes und der modernen Auffassung von Natur als (erd-) geschichtlich gewordene und sich andauernd wandelnde lä sst sich unter dem weiten Oberbegriff der ›Verzeitlichung‹ erfassen.96 Subsumieren lassen sich diesem Konzept diverse Phä nomene, wie etwa die poetische ›Entdeckung‹ der je nach Tageszeit und Beleuchtung verschiedenen Stimmungswerte ein und desselben Naturausschnittes97, aber auch die durch neue Formen der Mobilitä t (Postwagen, Eisenbahn) bedingte Verwandlung rä umlicher Distanzen in zeitliche.98 Unter dem Aspekt der ›Verzeitlichung‹ lä sst sich schließlich auch die Entwicklung der Gartenkunst im 18. Jahrhundert fassen: Mit der Ablö sung des ›franzö sischen‹ Gartentyps, dessen ideale Gesamtanlage zur simultanen Erfassung auf den Blickpunkt des Regenten zentriert ist, durch den ›englischen‹ Landschaftsgarten, der aufgrund der Vielzahl an mö glichen Aussichten, Blickachsen und mannigfaltigen Szenerien ü berhaupt nur sukzessiv, nä mlich durch ein spazierendes Subjekt, als ›Ganzes‹ erfahren werden kann, wurde das Gartenerlebnis individualisiert und dynamisiert.99 Das „landscape

95 96

97

98

99

schö ner Melodie. Als hö chstes Ideal erscheint ihm ein Bild, welches eigentlich gar nichts darstellt, aber dennoch eine Landschaft ist. In dem unbestimmten […] Effekt der verschmolzenen oder contrastirenden ›Tö ne‹ sucht das moderne Auge die geheimste Poesie der Palette, wie das moderne Ohr vorab ›Farbe‹ in der Musik begehrt […]. Farbe in der Musik, Ton im Bilde: Die Rollen sind vertauscht und die Aesthetik ist von der Bü hne verschwunden.“, Wilhelm Heinrich Riehl, Rheinlandschaft. (Gesprochen im ›Verein für wissenschaftliche Vorträge‹ zu Crefeld am 24. Oktober 1871.), in: ders., Freie Vorträge. Erste Sammlung, Stuttgart 1873, S. 57–91 (hier S. 88f.). [Friedrich Schiller], „Gedichte von Friedrich Matthison“, Nr. 299, Sp. 673. Heinz-Dieter Weber, Die Verzeitlichung der Natur, S. 100 und S. 113. Weber erkennt schon in manchen Gedichten Barthold Heinrich Brockes’ ein „ä sthetisches Wahrnehmen des Transitorischen“ in der Natur, wobei „das Vergä ngliche zum Medium ä sthetischer Glü ckserfü llung wird“ (ebenda, S. 102). Die Verzeitlichung von Natur und Kultur im 18. Jahrhundert wurde zuerst von Arthur Lovejoy (The Great Chain of Being, 1936) beschrieben. In einem Aufsatz, der sich mit Interdependenzen zwischen lebensweltlichen und musikalischen Zeit- und Beschleunigungserfahrungen auseinandersetzt, gibt Frank Hentschel einen Uberblick ü ber Kritik an der Idee der Verzeitlichung, Beethovens Eroica und die musikalische Temporalisierung im langen 18. Jahrhundert. Kritische Anmerkungen zu Forschungsstand und Methodik, in: Musiktheorie 3 (2013), S. 247–275 (hier S. 260ff.). So werden etwa Sonnenaufgang und -untergang als sukzessives „Schauspiel“ musikalischer Anmutung geschildert, wie in folgendem Reisebrief aus den Alpen von Joseph Gö rres an seine Familie, Briefteil vom 3. Juli 1820: „Von Sekunde zu Sekunde, wie die Sonne mehr sich senkt, wechselt nun das Schauspiel, die Farben werden glä nzender in der Mitte, die Lichter hö her oben und die Schatten unten dunkelblauer; um den Grundbaß in der Tiefe spielen nun nach allen Seiten die bunten Tö ne harmonisch durcheinander, unten mit dem grü nen Wasser, oben mit dem blauen Himmel sich verschmelzend, und sooft man auch das Schauspiel sieht, man freut sich immer wieder aufs neue an dem Bilde.“, zitiert nach Rudolf Walbiner (Hg.), Reisebriefe deutscher Romantiker, Berlin 1979, S. 354–359 (hier S. 355f.). Siehe hierzu Anno Mungen, ›BilderMusik‹, S. 51–53 und Helga de la Motte-Haber, Musik und bildende Kunst, S. 36. Vgl. Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 96f. Bei der Anlage von Landschaftsgä rten sei darauf zu achten, dass „jeder Schritt […] auf eine neue Lage, auf ein neues Gemä lde“ fü hrt, fordert C[hristian]

41

I. Natur als Landschaft

gardening“ etablierte sich als „visual art that incorporated a temporal dimension“.100 Wandernd wurde Landschaft sukzessiv als stä ndig fließender Wechsel des bildhaften Gegenü bers erlebt. Eine Blü te erlebte die Dynamisierung der ä ußeren Natur in den ›Bewegungslandschaften‹ der literarischen Romantik, die durch ziehende Wolken, changierende Beleuchtung, fliegende und singende Vö gel, wankende Bä ume und rauschende Bä che, nicht zuletzt aber durch die (wandernde) Fortbewegung des Protagonisten, aus dessen subjektiver Wahrnehmung heraus sie geschildert werden, in einen einzigen, kontinuierlichen Bewegungsstrom aufgelö st sind.101

3.2. Natur und Ich [D]ie Landschaft als solche existirt nur im Auge ihres Betrachters. August Wilhelm Schlegel102

Als „Einheit von Dinglich-Konkretem mit Bildhaftem“103 setzt Landschaft immer ein betrachtendes Subjekt voraus: „Mit seinem Hinausgehen verä ndert die Natur ihr Gesicht“ (Ritter104). Die geistesgeschichtliche Entwicklung zum Subjektivismus war fü r die ä sthetische Wahrnehmung von Natur, verbunden mit der im Laufe des 18. Jahrhunderts sich vollziehenden Emanzipation der Landschaftsmalerei, von

100 101

102

103

104

42

C[ay] L[orenz] Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 2, Leipzig 1780, S. 7. Zum „Erlebnis des Nacheinander“ in Literatur und Gartenbau siehe auch Helmut J. Schneider, Erinnerte Natur, S. XIf. Wald schreibt, der durchwanderte Landschaftsgarten sei „gleichsam parataktisch erfahren“ worden und fü hrt analoge Beispiele musikalischer Gartenmetaphern an, Christoph Wald, Wiederholung, Klangraum und Landschaft, S. 202–206. Da Wahrnehmung und „Deutung“ des Landschaftsgartens je nach Perspektive und Betrachter variieren, lä sst sich die Verä nderung der Gartenform als Wandlung „vom Emblematischen zum Expressiven“ auffassen, siehe dazu Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann, „Der größte plat de ménage, die Natur“. Gärten als Schaugerichte und die Wandlung vom Emblematischen zum Expressiven, in: Thomas Noll u.a. (Hg.), Landschaft um 1800, S. 124–152 (hier S. 124f.). Annette Richards, The free fantasia and the musical picturesque, Cambridge 2001, S. 92. August Langen, Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts, in: Alexander Ritter (Hg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung 418), S. 112–191 (hier S. 175–183). Vgl. auch Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt a.M. 1990, S. 135–138. August Wilhelm von Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, in: Ernst Behler (Hg.), August Wilhelm von Schlegel: Vorlesungen über Ästhetik I, S. 338. Dó ra Drexler, Landschaft und Landschaftswahrnehmung. Untersuchung des kulturhistorischen Bedeutungswandels von Landschaft […], [Weihenstephan 2010], S. 36. „Landschaft ist Natur, die im Anblick fü r einen fü hlenden und empfindenden Betrachter ä sthetisch gegenwä rtig ist: […] Was sonst das Genutzte oder als Odland das Nutzlose ist und was ü ber Jahrhunderte hin ungesehen und unbeachtet blieb oder das feindlich abweisende Fremde war, wird zum Großen, Erhabenen und Schö nen: es wird ä sthetisch zur Landschaft.“, Joachim Ritter, Landschaft, S. 18. Grundsä tzlicher formuliert findet man diesen Gedanken bereits bei Diderot: „Une considé ration surtout qu’il ne faut point perdre de vû e, c’est que si l’on bannit l’homme ou l’ê tre pensant & contemplateur de dessus la surface de la terre; ce spectacle pathé tique & sublime de la nature n’est plus qu’une scene triste & muette.“, [Denis Diderot], Lemma ›Encyclopédie‹, in: ders., Jean le Rond D’Alembert (Hg.), Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 5, Paris 1751, S. 641.

3. Stimmungskunst

grundlegender Bedeutung.105 Stellvertretend fü r das breite Spektrum zeitgenö ssischer Reflexion ü ber diesen Zusammenhang kann folgender Gedanke aus einem Brief des Malers Philipp Otto Runge (1777–1810) an seinen Bruder stehen: Wie selbst die Philosophen dahin kommen, daß man alles nur aus sich heraus imaginirt, so sehen wir oder sollen wir sehen in jeder Blume den lebendigen Geist, den der Mensch hineinlegt, und dadurch wird die L a n d s c h a f t entstehen, denn alle Thiere und die Blumen sind nur halb da, sobald der Mensch nicht das Beste dabei thut; so dringt der Mensch seine eignen Gefü hle den Gegenstä nden um sich her auf, und dadurch erlangt Alles Bedeutung und Sprache.106

Ein Bild der Landschaft „aus sich heraus“ entwerfend, wird der Betrachter durch Naturkontemplation zur Selbstwahrnehmung geleitet: In der ä ußeren gewahrt er die Projektion seiner inneren Natur. Einem Postulat Rousseaus zufolge genießt der ›einsame Spaziergä nger‹ in der freien Natur gar „nichts, das außer ihm selbst wä re, nichts als sich selbst und sein eigenes Sein“107. „As a man is, so he sees“, formuliert 1799 der Poet und Maler William Blake: „The tree which moves some to tears of joy

105

106

107

Eingehend widmet sich dieser Thematik die Monographie von Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft. Gesondert hingewiesen sei auf seine Ausfü hrungen zum neuen, ›autonomisierten‹ Selbstverstä ndnis des Kü nstlers (ebenda, S. 58–64). Die „Einheit“ neuzeitlicher Landschaftsdarstellung grü nde nicht mehr auf „einem allegorisch vorgefertigten Konzept“, sondern auf „dem in die Umgebung blickenden Subjekt“ (S. 25). Zur romantischen Auffassung der Natur als Kulisse subjektiver Empfindungen siehe Lothar Pikulik, Erzähltes Welttheater. Die Welt als Schauspiel in der Romantik, Paderborn 2010, S. 101–111. Bezü glich der direkten Wirkung auf das „Gemü th“ des Subjekts, die der „leblosen Natur“ etwa in den Theorien Hirschfelds und Sulzers zugesprochen wird, siehe Thomas Noll, „Das fast allen Menschen beywohnende Wohlgefallen an schoenen Aussichten“. Zur Theorie der Landschaftsmalerei um 1800, in: ders. u.a. (Hg.), Landschaft um 1800, S. 27–59 (besonders S. 38–45). „Das Ich-Erlebnis ö ffnet sich der Landschaft, wä hrend deren Vokabeln – Baum und Berg, Strom und Abgrund – zu Metaphern des subjektiven Empfindens umgeprä gt werden“, Werner Hofmann, Zur Geschichte und Theorie der Landschaftsmalerei, in: ders. (Hg.), Caspar David Friedrich 1774–1840, Mü nchen 1981, S. 9–29 (hier S. 9). „Wenn es der einzelne betrachtende Mensch ist, der immer den zentralen Punkt einnimmt, dann versteht man auch, warum gleichzeitig mit Landschaften Porträ ts, also Darstellungen individueller Menschen entstehen.“, Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 37– 39 (hier S. 39). Eine knappe Charakterisierung und Gegenü berstellung subjektivistischer und objektivistischer Landschaftsbegriffe unternehmen Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem, S. 25–27. Brief von Philipp Otto an Daniel Runge vom 7. November 1802, zitiert nach [Daniel Runge (Hg.)], Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften, Bd. 1, Hamburg 1840, S. 16. Entsprechend seien fü r die Landschaftsmalerei „grade in den neuern Zeiten“ die Bedingungen gegeben, dass „eine recht schö ne Kunst wieder erstehen kö nnte“, wie Philipp Otto in einem Brief an Daniel vom 9. Mä rz 1802 ä ußert, ebenda, S. 14f. „De quoi jouit-on dans une pareille situation? De rien d’exté rieur à soi, de rien sinon de soi-mê me & de sa propre existence; tant que cet é tat dure, on se suffit à soi-mê me, comme Dieu.“, Jean-Jacques Rousseau, Les Rêveries du promeneur solitaire, in: ders., Les Confessions de J. J. Rousseau, suivies des Rêveries du promeneur solitaire, Bd. 2, Geneve 1782, S. 151. Eine beispielhafte Landschaftsschilderung aus seiner Nouvelle Héloïse: „[J]e parcours à grands pas tous les environs, et trouve par tout dans les objets la mê me horreur qui regne au dedans de moi.“, Jean-Jacques Rousseau, Julie, ou la Nouvelle Héloïse, Bd. 1, lettre 26, hier S. 152f.

43

I. Natur als Landschaft

is in the Eyes of others only a Green thing which stands in the way.“108 Gleichfalls mit Blick auf den Wald postuliert Jean Paul in der Unsichtbaren Loge: Denn man genießet an der Natur nicht was man sieht, (sonst genö sse der Fö rster und der Dichter draußen einerlei), sondern was man ans Gesehene andichtet und das Gefü hl fü r die Natur ist im Grunde die Phantasie fü r dieselbe.109

Entgegen der rezeptiv-passiven Konnotation des Begriffs ›Landschaftswahrnehmung‹, handelt es sich eigentlich um ein aktives und konstruktives Verfahren, um schaffendes Schauen. 110 Die Landschaft wird – um einen Ausdruck Fichtes zu gebrauchen – durch den Betrachter „hingesehen“111. Das „hö chste Verhä ltniß der Kunst zur Natur“ sah Friedrich W. J. Schelling „dadurch erreicht, daß sie diese zum Medium macht, die Seele in ihr zu versichtbaren“112, wie auch noch Carl Gustav Carus die „Hauptaufgabe landschaftlicher Kunst“ als die „Darstellung einer gewissen Stimmung des Gemü thlebens (Sinn) durch die Nachbildung einer entsprechenden Stimmung des Naturlebens (Wahrheit)“113 definierte. Die ä ußere Natur wird so zum ›Seelenspiegel‹ und Ausdruck des Unaussprechlichen, als Signifikant einer Innenwelt und ›immanenter‹ Widerschein von Transzendenz. Die ä sthetische Konstituierung von Landschaft impliziert deshalb

108

109

110

111

112

113

44

William Blake an John Trusler, Brief vom 23. August 1799, in: Geoffrey Keynes (Hg.), Poetry and prose of William Blake, London 1961, Nr. 5, S. 834–836 (hier S. 835). Ahnlich pointiert hat Gustav Pfarrius diese fundamentale Abhä ngigkeit von subjektiver Stimmung in seinem Gedicht Natur-Eindruck behandelt, in: ders., Die Waldlieder, Kö ln 21853, S. 124f. Jean Paul, Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung, Bd. 2, Berlin 21822, S. 322. In der ersten Auflage (1793) steht „das Genie“ anstelle von „der Dichter“. Zu Plotins Konzept der ›schaffenden Betrachtung‹ und seiner Rezeption bei Novalis siehe Lothar Pikulik, Erzähltes Welttheater, S. 107–111. Bohr spricht von „doppelte[r] Prä gnanzbildung“, die einerseits in der „rahmenden Abgrenzung nach außen“, andererseits in der „Gestaltung nach innen“ bestehe, Jö rn Bohr, Über das Hinsehen und das Absehen von Landschaft, S. 92; vgl. auch Gerhard Hard, „Dunstige Klarheit.“ Zu Goethes Beschreibung der italienischen Landschaft, in: Die Erde 100 (1969), Heft 2–4, S. 138–154 (hier S. 139) und Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 25f. Zum „reflektierte[n] Selbstgenuß“ in der Natur siehe ferner Bodo Lecke, Das Stimmungsbild. Musikmetaphorik und Naturgefühl in der dichterischen Prosaskizze 1721–1780, Gö ttingen 1967 (= Palaestra 247), S. 179. „[D]ie S e h e ist unmittelbar und durch sich selbst schö pferisches Leben: die Realitä t wird in der That hingesehen; h i n g e s e h e n , sage ich, ohne Anwendung irgend eines anderen Organs, als Realitä t hingesehen, nicht etwa als bloßes Bild, indem sie eben Realitä t ist fü r die andere objective Anschauungsform.“, Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre. Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812, in: I[mmanuel] H[ermann] Fichte (Hg.), Johann Gottlieb Fichte’s System der Sittenlehre, Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten und vermischte Aufsätze, Bonn 1835 (= Nachgelassene Werke 3), S. 1–118 (hier S. 17). Zum Wandel des wahrnehmungsä sthetischen Bildbegriffs im 18. und 19. Jahrhundert siehe Anno Mungen, ›BilderMusik‹, S. 38–41. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur. Eine Rede zur Feier des 12ten Oktobers […], Mü nchen 1807, S. 46. Zur Stellung der Landschaft in Schellings naturalistischem Idealismus vgl. auch Helmut Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft, S. 109– 119. Carl Gustav Carus, Neun Briefe über Landschaftsmalerei, geschrieben in den Jahren 1815–1824, Leipzig 1831, Brief 3, S. 41.

3. Stimmungskunst

immer „einen Sprung von der Physik in die Metaphysik.“114 Wo das subjektiv Innere und die ä ußere Erscheinung sich berü hren, da entstehen Bedeutung und Sprache. Die fü r die romantische Asthetik typische Verschrä nkung von Natur und Kunst durch den Sprachbegriff animiert die ä ußere Natur zum dialogfä higen ›Du‹, dessen geheimnisvolle Reden zu dolmetschen Aufgabe des Kü nstlers ist.115 So lä sst etwa Novalis in den Lehrlingen zu Saïs fragen: Drü ckt nicht die ganze Natur so gut, wie das Gesicht, und die Geberden, der Puls und die Farben, den Zustand eines jeden der hö heren, wunderbaren Wesen aus, die wir Menschen nennen? Wird nicht der Fels ein eigenthü mliches Du, eben wenn ich ihn anrede? Und was bin ich anders, als der Strom, wenn ich wehmü tig in seine Wellen hinabschaue, und die Gedanken in seinem Gleiten verliere?116

Solchem vorreflexiven „Sein einer noch ungeschiedenen Subjekt-Objekt-Einheit“ sucht sich die Romantik in der Landschaftserfahrung anzunä hern.117 Der „ä sthetisch, d.h. mit kü nstlerischen Augen betrachte[te]“ Naturgegenstand offenbart seine „Idee“ – so heißt es schließlich in Arthur Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung (1819) – indem er „sich mir aufschließt und mich anspricht“118. Eben dieses wechselseitige, sympathetische ›Ansprechen‹ von innerer und ä ußerer Natur nä hrt die Sehnsucht, die empfundene ›Entfremdung‹ in der Landschaftserfahrung zumindest situativ, fü r einen glü cklichen Augenblick, ü berwinden zu kö nnen. Wo der „Charakter einer Landschaft […] mit dem innern Leben des Menschen“ in „Einklang“

114

115

116

117

118

Ruth Groh, Dieter Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen, S. 59. Vgl. hierzu Helmut Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft, S. 40f., Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 230f. und Helmut J. Schneider, Naturerfahrung und Idylle, S. 298f. Indem die Landschaft als Seelenspiegel eine „innerweltliche Transzendenz“ aufscheinen lä sst, sieht Schneider in ihr „die romantische Anschauung vom Erlö sungscharakter des Kunstwerks schon in der Aufklä rung vorweggenommen.“ Jean Paul vergleicht den „Wechselspiegel“ von innerer und ä ußerer Natur mit der Transsubstantiation („Brotverwandlung in das Gö ttliche“), Jean Paul, Vorschule der Aesthetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit, Bd. 1, Wien 21815, S. 20. Humboldt spricht vom „geheimnißvollen Bande, welches das Sinnliche und Uebersinnliche verknü pft“: „Die Welt, die sich dem Menschen durch die Sinne offenbart, schmilzt, ihm selbst fast unbewußt, zusammen mit der Welt, welche er, inneren Anklä ngen folgend, als ein großes Wunderland, in seinem Busen aufbaut.“, Alexander von Humboldt, Kosmos, Bd. 1, S. 15f. Von in der Landschaft „aufgelö ste[r] Transzendenz“ spricht Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, hier S. 58f. und S. 180f. Jö rg Zimmermann, Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs, S. 134–137 (hier S. 136). Siehe hierzu etwa Wackenroders Abhandlung ü ber die gö ttliche Sprache der Natur und die menschliche Sprache der Kunst, [Wilhelm Heinrich Wackenroder], Von zwey wunderbaren Sprachen, und deren geheimnißvoller Kraft, in: [ders., Ludwig Tieck], Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Berlin 1797, S. 131–140. Zum romantischen Paradigma der Ich-Du-Beziehung zur Natur siehe Lothar Pikulik, Erzähltes Welttheater, S. 106f. Novalis, Die Lehrlinge zu Saïs, in: Paul Kluckhohn, Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das dichterische Werk, S. 100. Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem, S. 41f. Zur Thematik der „Verä hnlichung“ und Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur in den Lehrlingen zu Saïs siehe auch Dennis F. Mahoney, Die Poetisierung der Natur bei Novalis, S. 38–44. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig 1819, S. 302f.

45

I. Natur als Landschaft

steht, da kommt es zu „geheimnissvollem Verkehr“ (Humboldt119), da erschließt sich das innere Wesen der Natur zur vertrauten Teilhabe.

3.3. Einheit und Stimmung In einer Landschaft – so formuliert es Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1774) – machen „tausend verschiedene, unendlich durch einander gemischte Formen, ein Ganzes aus, darin sich alles so vereiniget, daß von der unbeschreiblichen Mannigfaltigkeit der Vorstellungen keine der andern wiederspricht, obgleich jede ihren eigenen Geist hat.“120 Wie ist solche Einheit zu bewerkstelligen? Wie kann ein Betrachter eine unendliche „Mannigfaltigkeit“ ä sthetisch beherrschbar machen und zu einem Ganzen vereinigen; das heißt: Wie entsteht Landschaft? – Als Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Fragen mag die einschlä gige Darstellung dienen, die Alexander von Humboldt in seinem fü nfbä ndigen Lebenswerk Kosmos (1845–1862) ausbreitet. Mit diesem kolossalen „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ will er dem „Vorurtheile“ entgegentreten, „als mü ßte nothwendig wissenschaftliche Erkenntniß das Gefü hl erkä lten, die schaffende Bildkraft der Phantasie ertö dten und so den Naturgenuß stö ren.“121 Es sei dazu nö tig, die „Natur als ein durch innere Krä fte bewegtes und belebtes Ganze [sic]“ aufzufassen, „in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen“ und „den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.“122 Zur empirischen Beobachtung mü sse deshalb die emotionale Vermittlung von Natur, „wie sie sich im Inneren des Menschen abspiegelt“123, treten. Diese Bedingung hatte Humboldt schon 1810 in einem Brief an Goethe ausgesprochen: „Die Natur muß gefü hlt werden; wer nur sieht und abstrahiert, […] wird die Natur zu beschreiben glauben, ihr selbst aber ewig fremd sein“ 124 . Gegenü ber der naturwissenschaftlichen „Zergliederung“ der Welt zeichne sich die landschaftliche Wahrnehmung dadurch aus, dass die „Naturerscheinungen gleichzeitig vor die Seele treten, daß eine Fü lle von Ideen und Gefü hlen gleichzeitig erregt werde.“ Die „Gemü thsstimmung“ des Betrachters lege den Natureindrü cken eine subjektive „Einheit des Empfundenen, des Nicht-Entfalteten“ bei, so dass sie ›auf einen Blick‹ als harmonisches Ganzes erfasst werden.125

119

120

121

122 123 124

125

46

Alexander von Humboldt, Ueber die Wasserfälle des Orinoco, bei Atures und Maypures, in: ders., Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen, Bd. 1, Tü bingen 1808, S. 281–330 (hier S. 283f.). Lemma ›Landschaft. (Zeichnende Künste.)‹, in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Bd. 2, Leipzig 1774, S. 653–676 (hier S. 653). Alexander von Humboldt, Kosmos, Bd. 1, S. 21. Zur historischen Einordnung von Humboldts Vorhaben siehe Heinz-Dieter Weber, Die Verzeitlichung der Natur, S. 128. Alexander von Humboldt, Kosmos, Bd. 1, S. VI und 6. Ebenda, Bd. 2, S. 4. Alexander von Humboldt an Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 3. Januar 1810, in: Ludwig Geiger (Hg.), Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander v. Humboldt, Berlin 1909, S. 305. Alexander von Humboldt, Kosmos, Bd. 1, S. 9f.

3. Stimmungskunst

Ohne eine verbindliche Stimmung wä ren die disparaten Einzeldinge der Umwelt nicht als Landschaft wahrzunehmen, weshalb Ludwig Trepl sie als „die wesentliche Eigenschaft der Landschaft“ definiert.126 Jedes einzelne ›Landschaftselement‹ trä gt mit seiner Wirkung zu dieser Stimmung bei, wie es umgekehrt von ihr durchdrungen ist. Dieser Schlü sselbedeutung entsprechend, begreift der Kulturphilosoph Georg Simmel die Begriffe ›Einheit‹ und ›Stimmung‹ als „nur nachträ gliche Zerlegungen eines und desselben seelischen Aktes.“127 Der vieldeutige und schwer fassliche Begriff der ›Stimmung‹ umspannt dabei nicht nur eine ›bestimmte‹ (und ›bestimmende‹) subjektive Gemü tsverfassung des Betrachters, als seine emotionale Stellungnahme zu den Erlebnisgehalten des Betrachteten, sondern vor allem das Zurü cktreten einzelner Bestandteile vor einem „irgendwie gestimmten Gesamteindruck“128. Die wahrgenommene Natur bildet nicht von sich aus eine „Eindruckseinheit“, sondern muss erst in einem geistigen Prozess dazu geformt werden. Simmel beschreibt, wie sich mit der ä sthetischen Betrachtung der Objektwelt das erforderliche „Instrument zur Vereinheitlichung der empirisch gewonnenen Sinneseindrü cke“ gebildet habe, welches fü r Ubereinstimmung der wahrgenommenen Teile mit dem Subjekt sorgt, „indem es sie nach Maßgabe von Stimmung, Gefü hl und Wissen ordnet.“129 Einige wesentliche Eigenschaften und Operationen dieses Instruments werden im Folgenden knapp anhand der verschiedenen Kunstgattungen skizziert. Dass dabei vielfach terminologische Entsprechungen und analoge Verfahrensweisen aufscheinen, weist auf gemeinsame geistige Voraussetzungen hin. Simmels Annahme, dass man sich der komplexen „Formel, die die Landschaft als solche erzeugt“, am ehesten ü ber die „Landschaft als malerisches Kunstwerk“130 annä hern kö nne, begrü ndet sich in der historischen Herausbildung des Begriffs, die deshalb zunä chst kurz referiert wird.

126

127

128

129

130

„Die Stimmung vor allem ist es, was all den verschiedenen Dingen um uns herum Einheit gibt; es ist die ganze Landschaft, die diese eine Stimmung hat, und nichts sonst scheint es zu geben, was man gleichermaßen einleuchtend eine Eigenschaft der ganzen Landschaft, die um einen ist, nennen kö nnte.“, Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 22 und 41. Georg Simmel, Philosophie der Landschaft [1913], in: Gert Grö ning, Ulfert Herlyn (Hg.), Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung. Texte zur Konstitution und Rezeption von Natur als Landschaft, Mü nchen 1990 (= Arbeiten zur sozialwissenschaftlich orientierten Freiraumplanung 10), S. 67–79 (hier S. 75–77). Jö rn Bohr, Über das Hinsehen und das Absehen von Landschaft, S. 92. Zur großen „Bedeutungsvielfalt und daraus resultierenden Vagheit“ des deutschen Wortes ›Stimmung‹ siehe Friederike Reents, Stimmungsästhetik, S. 13–16, Julia Cloot, Geheime Texte, S. 159–161 und Hilmar Frank, Eckhard Lobsien, Lemma ›Landschaft‹, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch, Bd. 3, Stuttgart 2001, S. 617–664. Georg Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 71. „So hinterlegt das Subjekt seinen Sinneseindrü cken gleichsam seine eigene Natur und ergä nzt so das aus sich heraus, was dem Ausschnitt notwendig fehlt: Die ganze Natur.“, Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 37f. Georg Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 71.

47

I. Natur als Landschaft

3.4. Zum ä sthetischen Landschaftsbegriff In der deutschen Sprache erlangte der Begriff ›Landschaft‹ seine ä sthetische Bedeutung – neben der viel ä lteren topographischen – gegen Ende des 15. Jahrhunderts, und zwar zunä chst als Fachbegriff der bildenden Kunst: ›Landschaft‹ bezeichnet in diesem Sinne (wie auch die etwa zeitgleich auftretenden Entsprechungen ›landscape‹, ›paysage‹ und ›paesaggio‹) die malerische Darstellung eines ›schö nen‹ Naturausschnittes. Der terminus technicus ging im 18. Jahrhundert als Bezeichnung fü r ein „ä sthetisch und emotional aufgefaßtes Naturbild“ in den bildungs- und umgangssprachlichen Gebrauch ü ber und wird bis heute vorwiegend in diesem Sinne verwendet. 131 Sowohl die (alltä gliche) Wahrnehmung der Natur als auch ihre literarische Beschreibung wurden durch die visuelle Syntax der Landschaftsmalerei nachhaltig geprä gt. Landschaft wird ›wie gemalt‹ gesehen und geschildert. So spricht etwa Goethe von seiner „Gewohnheit von Jugend auf die Landschaft als Bild zu sehen“ 132 . Der Blick auf die Landschaft ist am Kunstprodukt geschult, das im 131

132

48

Gerhard Hard, Die ›Landschaft‹ der Sprache und die ›Landschaft‹ der Geographen. Semantische und forschungslogische Studien zu einigen zentralen Denkfiguren in der deutschen geographischen Literatur, Bonn 1970 (= Colloquium Geographicum 11), hier S. 22 und S. 28–34; zum Begriff ›Landschaft‹ siehe ferner Rainer Gruenter, Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte (1953), in: Alexander Ritter (Hg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung 418), S. 192–207. Gruenter verortet den Eingang der „Landschaftsvokabel“ in den allgemeinen Sprachgebrauch im 16. und 17. Jahrhundert (S. 198); seine Untersuchung umfasst die deutsche, italienische, franzö sische, niederlä ndische und englische Wortgeschichte; siehe weiterhin Dó ra Drexler, Landschaft und Landschaftswahrnehmung, S. 12–38. Die ›Aufsplitterung‹ des ä lteren Landschaftsbegriffs, der die Einheit von Land, Bewohnern und Verwaltung umschloss, ist detaillierter nachgezeichnet bei Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 15–32. Eberle referiert auch die Etymologie des Wortes ›Land‹: anders als etwa das lateinische ›terra‹, das dem ›Meer‹ opponiert ist, habe ›Land‹ ursprü nglich den Gegensatz zum unkultivierten ›Wald‹ gebildet (S. 15f.). Korpusbasierte Ansä tze zu einer Wortgeschichte von ›Landschaft‹ und einen Literaturü berblick bietet Dominik Brü ckner, Bemerkungen zum semantischen Wandel von ›Landschaft‹ seit dem 18. Jahrhundert, in: Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl (Hg.), Vieldeutige Natur, S. 69–86. Seine Auswertung des ›Freiburger Klassikerkorpus‹ (ca. 1750–1865) ergibt „sieben recht eindeutig voneinander zu scheidende Bedeutungen“ von ›Landschaft‹; die mit Abstand hä ufigsten sind „bildliche Landschaftsdarstellung“ (30%) und „Auffassungsgestalt der außerstä dtischen Umwelt“ (60%). Siehe zum Landschaftsbegriff ferner Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 7–11 und Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem, S. 19–22. Die idealtypische Begriffsbestimmung lautet hier (S. 21): „Eine von der Natur allein oder von Natur und Menschenhand geformte Gegend ist eine Landschaft, wenn sie ein empfindender Betrachter ä sthetisch als harmonische, individuelle, konkrete Ganzheit sieht, die ihn umgibt.“ Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Bd. 4, Stuttgart 1833 (= Goethe’s Werke. Vollstä ndige Ausgabe letzter Hand 48), S. 133. „Mein Auge war noch nicht geü bt, die Natur wie ein Gemä lde zu betrachten“, erinnert sich Salomon Gessner in autobiographischer Rü ckschau; erst durch das Studium der bildenden Kunst werde es „so gewö hnt […], in der Natur das zu bemerken, was malerisch schö n ist, dass kein Spaziergang zu jeder Jahrs- und Tageszeit […] ohne Nutzen ist.“, Salomon Gessner, Brief ueber die Landschaftsmalerey an Herrn Fuesslin, in: ders., Salomon Gessners Schriften, Bd. 1, Zü rich 1777, S. 165–194 (hier S. 171f. und S. 189). Auch Goethe musste sich diese Fä higkeit erst aneignen, „denn welcher Sinn, welches Talent, welche Uebung gehö rt nicht dazu, eine weite und breite Landschaft als Bild zu begreifen!”, Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben, Bd. 2, S. 19. Vgl. hierzu Gerhard Hard, „Dunstige Klarheit“, S. 138–154 und Annette Richards, The free fantasia, S. 73f. Der Landschaftsmaler „lehrt uns sehen“, lä sst August Wilhelm Schlegel einen Gesprä chsteilnehmer in Die Gemälde (1799) ä ußern, siehe hierzu Thomas Noll, Zur Theorie der Landschaftsmalerei um 1800, S. 27. Beispielhaft dokumentiert ist dieser ›Lerneffekt‹ in Franz Grillparzers

3. Stimmungskunst

Modell zeigt, „was uns auch in der Natur zu interessieren hat, in Hinsicht auf welche Bedü rfnisse wir also auch die Natur in unserer Wahrnehmung umbilden.“ 133 Die kü nstlerische Form ist in der ä sthetisch wahrgenommenen Natur bereits „embryonal“ veranlagt, weshalb Simmel die Landschaft als „Kunstwerk in statu nascendi“ bezeichnet. 134 So verstanden ist jeder erblickte Naturausschnitt ein potentieller ›Vorwurf‹ zu einem auszufü hrenden Landschaftsbild: Die gesehenen Naturdinge werden aktiv Bildebenen zugeordnet, in raumlogischen Zusammenhang gebracht, perspektivisch zum ›Ganzen‹ komponiert und durch einen ›Rahmen‹ gefasst.135

3.5. Die Landschaft der Maler Damit Natur zur Landschaft wird, muss also ein betrachtendes Subjekt die wahrgenommenen Einzelheiten zur harmonischen Einheit fü gen, in der die Natur als Ganzes aufscheint. Deshalb sucht der Landschaftsmaler die Darstellung der unterschiedlichen Naturgegenstä nde dem verbindenden Prinzip einer Stimmung unterzuordnen. Geistige Voraussetzung ist die „Erkenntnis des gleichmä ssigen Verwobenseins aller Dinge im Raume“ 136 : Alle Teile eines Naturausschnittes erlangen, indem sie „aus individuell-einheitlicher Wertung“ auf ein betrachtendes Subjekt bezogen werden, eine „unbedingte Gleichartigkeit“ 137 . Dazu bedient sich die Landschaftsmalerei einer kohä rent in die Tiefe zurü ckweichenden Linearperspektive

133

134 135

136

137

Reisetagebuch: Nachdem er mehrere Tage in der Dresdener Gemä ldegalerie verbracht hatte, beschloss er am 2. September 1826 „nach Tharandt zu fahren, um doch etwas von der gerü hmten schö nen Natur um Dresden zu genießen. Einige Gö tterstunden verlebt! Die Gegend ist paradiesisch, die Aussicht von den Ruinen ü ber allen Begriff. Ich weiß nicht, war es die Gewohnheit der letzten Tage, in Galerien heimisch zu sein, oder liegt es im Eigentü mlichen der hiesigen Natur, daß jede einzelne Aussicht sich mir so sehr als ein Gemä lde darstellte. Ich habe das wohl nie in so hohem Grade erfahren“, Rudolf Walbiner (Hg.), Franz Grillparzer: Reisetagebücher, Berlin [1971], hier S. 110. Eckhard Lobsien, Landschaft als Zeichen. Zur Semiotik des Schönen, Erhabenen und Pittoresken, in: Manfred Smuda (Hg.), Landschaft, Frankfurt am Main 1986 (= suhrkamp taschenbuch materialien 2069), S. 159–177 (hier S. 160). Siehe hierzu auch Utz Jeggle, Landschaft, S. 18–20, sowie Antonia Dinnebier, Der Blick auf die schöne Landschaft – Naturaneignung oder Schöpfungsakt?, in: Ludwig Fischer (Hg.), Projektionsfläche Natur. Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen, Hamburg 2004 (= Verö ffentlichungen des Forschungsprojekts ›Natur im Konflikt. Naturschutz, Naturbegriff und Kü stenbilder‹), S. 61–76 (hier S. 63f. und S. 69–73), und Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 29–32, S. 93f. und S. 131f. Touristen der Goethezeit berichten von ihren Reisen in die Schweiz „[f]ast wie von einem Gang durch eine Ausstellung von Landschaftsgemä lden“, ebenda, S. 138. Georg Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 74. Ein anschauliches Beispiel fü r diesen Vorgang ist Heinrich von Kleists Beschreibung der Aussicht auf das sä chsische Schloss Lichtenstein, an dem er im Herbst 1800 auf der Reise von Dresden nach Wü rzburg vorbeikommt: „Wir sahen von einem hohen Berge herab, rechts und links dunkle Tannen, ganz wie ein gewä hlter Vordergrund; zwischen durch eine Gegend, ganz wie ein geschloßnes Gemä lde.“, Brief an Wilhelmine von Zenge vom 4.–5. September 1800, in: Roland Reuß, Peter Staengle (Hg.), Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. IV/1: Briefe 1, Basel 1996. Nr. 18, S. 260. Kurt Gerstenberg, Die ideale Landschaftsmalerei. Ihre Begründung und Vollendung in Rom, Halle 1923, S. 20. Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 88–94 (hier S. 88).

49

I. Natur als Landschaft

und der geschichteten Anordnung des Raums in Vorder-, Mittel- und Hintergrund.138 Insbesondere trä gt eine global-homogene, durch Atmosphä re und Entfernung modifizierte Beleuchtung (›Luftperspektive‹) dazu bei, Kontinuitä t zwischen den Einzelobjekten herzustellen.139 Durch sie wird alles „in die lieblichste Harmonie vereiniget, und in jeden gefä lligen Ton gestimmt“, wie es in Sulzers Theorie der Schönen Künste heißt: „Auf das einfallende Licht kommt in diesem Stü k fast alles an. […] Wichtiger ist hier, als in allen andern Gattungen der beste Ton, und die vollkommenste Harmonie der Farben.“140 Im ›Ton‹ ä ußert sich das bestimmende Primat des Verbindenden ü ber das Abgrenzende (›Zeichnung‹, Kontur). In der Landschaftskunst – so Schelling in seiner Philosophie der Kunst (1802) – wird „das Licht selbst als solches zum Gegenstand“, da es „die Einheit einer Stimmung […] in uns hervorbringt.“141 Das Bestreben nach einheitlicher Stimmung erklä rt die Vorliebe der Landschaftsmaler fü r Nebel und Mondschein: „Beide mildern die Eigenwertigkeit der Lokalfarben ab und sorgen fü r ein farbiges Unisono, einen einheitlichen mittleren Farbklang, der sich wie ein zarter Schleier ü ber das Bild legt und so jene ›schwebende‹ Stimmung hervorruft, die die Gedanken schweifen lä ßt und zum Trä umen veranlaßt.“142 Eberhard Roters charakterisiert deshalb Nebel und Mondschein als die „hauptsä chlichen Bindemittel der romantischen Landschaft“. Eine ganz ä hnliche Bedeutung und Wirkung kommt der laubgebrochenen Dä mmerbeleuchtung im Waldesinneren (›Waldesgrü n‹ oder ›Waldstimmung‹) zu.

QR Der Protagonist in Ludwig Tiecks Kü nstlerroman Franz Sternbald’s Wanderungen (1798), ein deutscher Student der Malerei, gelangt im Gesprä ch mit einem landschaftsmalenden Einsiedel, den er in einer kü nstlerischen Krise um Rat ersucht, zu der kritischen Einsicht: [W]as soll ich mit allen Zweigen und Blä ttern? mit dieser genauen Kopie der Grä ser und Blumen? Nicht diese Pflanzen, nicht die Berge will 138

139

140

141

142

50

Indem sie in der Tiefe durch den Horizont begrenzt wird, ohne aber mit diesem zu enden, ist die (gemalte) Landschaft „in ihren Tendenzen zugleich total und partikular“, Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 49–75 (hier S. 50). Als „in sich geschlossene Anschauung“ ist sie „verflochten in ein unendlich weiter Erstrecktes“, Georg Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 68f. Vgl. hierzu Helmut Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft, S. 52f. Joseph Leo Koerner, Caspar David Friedrich. Landschaft und Subjekt, Mü nchen 1998 (= Bild und Text: Epochen der deutschen Kunst 3), S. 111f. und S. 116. Zum kunsthistorisch relevanten Schlagwort ›Raumdurst‹ siehe Rainer Gruenter, Landschaft, S. 200–202. Zum semantischen System des perspektivischen Sehens vgl. auch Jö rn Bohr, Über das Hinsehen und das Absehen von Landschaft, S. 93. Lemma ›Landschaft. (Zeichnende Künste.)‹, in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 653 und S. 656f. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst, in: Karl Friedrich August Schelling (Hg.), Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Erste Abtheilung, Bd. 5, Stuttgart 1859, S. 544 und 546. Das nachgelassene Manuskript wurde „[e]rstmals vorgetragen zu Jena im Winter 1802 bis 1803, wiederholt 1804 und 1805 in Wü rzburg.“ Zu Schellings „Lichtmetaphysik“ vgl. auch Helmut Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft, S. 115–117. Eberhard Roters, Jenseits von Arkadien. Die romantische Landschaft, Kö ln 1995, S. 27–47 (hier S. 30).

3. Stimmungskunst

ich abschreiben, sondern mein Gemü th, meine Stimmung, die mich gerade in diesem Momente regiert, diese will ich mir selber festhalten, und den ü brigen Verstä ndigen mittheilen.143

Tieck selbst hatte, als er im Frü hsommer 1793 gemeinsam mit Wackenroder die Frä nkische Schweiz bereiste, die Erfahrung gemacht, dass die „ganze Natur […] dem Menschen, wenn er poetisch gestimmt ist, nur ein Spiegel“ sei, „worin er nichts als sich selbst wiederfindet.“144 Durch Tieck und gleichgesinnte Zeitgenossen wurde, in der Malerei wie in der Poesie (und schließlich auch in der Musik), der Weg zu einer Landschaftskunst bereitet, „die sich nicht mehr als Trä ger eines mimetisch abzubildenden Inhalts, sondern […] als eine autonome, in letzter Konsequenz ungegenstä ndliche Bewegung“145 verstand. Um sie zum Ausdruck subjektiver Stimmungen zu befä higen, wollten die Frü hromantiker gerade das, was klassizistische Kunsttheoretiker wie Carl Ludwig Fernow als Defizit der Musik gegenü ber der Malerei erachteten, nä mlich ihre ungegenstä ndliche Abstraktheit und konturlose ›Farbigkeit‹ 146 , als erstrebenswerte Qualitä t in die Landschaftsmalerei „hineinlocken“ (Tieck147). Musik sollte in diesem Sinne nicht nur zeichenhaft im Bild thematisiert

143

144

145

146

147

Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte, Bd. 2, Berlin 1798, S. 125. Vgl. hierzu den Brief von Philipp Otto Runge an Tieck, in welchem er die Aufgabe der Landschaftsmalerei darin erkennt, „daß die Menschen in allen Blumen und Gewä chsen, und in allen Naturerscheinungen, sich und ihre Eigenschaften und Leidenschaften sä hen“, zitiert und kommentiert bei Julia Cloot, Geheime Texte, S. 155. Ludwig Tieck an August Ferdinand Bernhardi, Brief von Ende Juni 1793, zitiert nach Rudolf Walbiner (Hg.), Reisebriefe deutscher Romantiker, S. 35–55 (hier S. 40f.). Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 136 und Elisabeth Dé cultot, Das frühromantische Thema der ›musikalischen Landschaft‹, S. 221–231. „Man pflegt gern die Landschaftsmalerei der Musik zu vergleichen, und diese Vergleichung hat ihren Grund in der Aehnlichkeit der Wirkungen, welche Farben und Tö ne, sowohl einzeln auf die Empfindung, als im harmonischen Verein aufs Gefü hl, hervorbringen.“ Allerdings verlange die Malerei „a n s c h a u l i c h e B e s t i m t h e i t und einen k a r a k t e r i s t i s c h e n A u s d r u k “, wogegen „die Tonkunst durch ihr mannigfaltiges Spiel der Tö ne blos Empfindungen, und nur mittelst dieser, auf eine sehr unbestimte Weise, Anschauungen und Ideen wecken“ kö nne, Carl Ludwig Fernow, Vorrede, in: ders., Römische Studien, Bd. 2, Zü rich 1806, S. V–XVI (hier S. VIf.). Darü ber, dass sich die ›musikalische‹ Qualitä t eines malerischen Kunstwerks primä r in seiner Beleuchtung und Farbigkeit und nicht in der Kontur oder Zeichnung niederschlage, dass folglich „der Farbgebung die grö ßte Bedeutung in der Erzeugung eines musikä hnlichen Eindrucks zukommt, sind sich die Theoretiker der Malerei seit Hagedorn einig.“, Julia Cloot, Geheime Texte, S. 158. So wird etwa in Tiecks Phantasus die Malerei Correggios mit der Musik Pergolesis verglichen: „und wie dieser mit Licht und Schatten spielt […], eben so sinnig nimmt Pergolese die hohen und tiefen Tö ne als Licht und Schatten“, Ludwig Tieck, Phantasus, Bd. 2, S. 438. Wie der Musiker, so muss nach Sulzers Theorie der Schönen Künste auch der Maler einen der auszudrü ckenden Empfindung angemessenen ›Ton‹ treffen, „[d]enn wie in der Musik eine Tonart von der andern sich ebenfalls durch etwas Sittliches oder Leidenschaftliches unterscheidet, […] so ist es auch in der Farbenmischung.“, Lemma ›Ton. (Mahlerey.)‹, in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, hier S. 1161. Zum Begriff ›Ton‹, der zwischen Musik, Malerei und Rhetorik vermittelt, siehe weiter Julia Cloot, Geheime Texte, S. 157–159. „In der Bezeichnung des einheitsstiftenden Moments im Kunstwerk sind die Begriffe Empfindung und Ton synonym“ (S. 157). „O, mein Freund, wenn Ihr doch diese wunderliche Musik, die der Himmel heute dichtet, in Eure Mahlerei hineinlocken kö nntet! Aber Euch fehlen Farben, und Bedeutung im gewö hnlichen Sinne ist leider eine Bedingung Eurer Kunst.“, Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Bd. 2, S. 172. Zur „Musikalisierung der Malerei“ bei Runge und Moritz von Schwind siehe Helga de la Motte-Haber, Musik und bildende Kunst, S. 124–133.

51

I. Natur als Landschaft

werden (etwa durch musizierende Staffage oder Abbildung von Instrumenten), sondern wurde zum strukturellen Vorbild und paradigmatischen Muster der Landschaftsdarstellung erklä rt, die sich damit von „Bedeutung im gewö hnlichen Sinne“148 emanzipieren sollte. So versucht denn etwa der Protagonist aus Tiecks Sternbald in einer Traumepisode, die „in einem dunkeln Walde“ erklingende „Musik des Mondscheins“ und den Klang der „liebliche[n] Orgel der Natur“ mit Farben festzuhalten – „ja es gelang ihm sogar, und er konnte nicht begreifen wie es kam, die Tö ne der Nachtigall in sein Gemä hlde hineinzubringen.“149 Unter dem Primat harmonisierender Stimmung verschmelzen alle subjektiven Wahrnehmungen zu einem einzigen, musikalischen Gesamteindruck.

3.6. Bewegungslandschaft und ›Seelenspiegel‹ Wenngleich mit bedeutender Verzö gerung, wurden die in der Malerei entwickelten Verfahren, Natur zum Landschaftsbild zu gestalten, auch auf ihre sprachliche Beschreibung ü bertragen und dort nutzbar gemacht. Solange kein poetisches Bedü rfnis auftrat, die spezifische Individualitä t einer Landschaft auszusagen, konnte man sich gemä ß der kanonischen Formel ›ut pictura poesis‹ mit der Bezeichnung eines Schauplatzes durch deskriptives Anfü hren einer Anzahl von (oftmals topischen) Merkmalen desselben begnü gen.150 Da es der sprachlichen Schilderung aufgrund ihres transitorischen Charakters verwehrt ist, Naturgegenstä nde simultan als „Eindruckseinheit“ (Simmel) darzustellen, muss die Summe der Einzelheiten notwendig sukzessiv aufgezä hlt werden. Die Gesamtheit des Bildeindrucks zerfä llt in parataktische Reihungen.151 Die klassische Problematisierung dieser Differenz entwarf Gotthold Ephraim Lessing in seinen Ausfü hrungen zu Laokoon (1766): „Was das Auge mit einmal ü bersiehet“, kö nne der Dichter nur „langsam nach und nach“ aufzä hlen, „und oft geschieht es, daß wir bey dem letzten Zuge den ersten schon wiederum vergessen haben.“152 So kritisiert 148 149 150

151

152

52

Ebenda (Tieck-Zitat in vorheriger Fußnote). Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Bd. 1, S. 170–173. Heinz-Dieter Weber, Die Verzeitlichung der Natur, S. 98f. und Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 94f. Koschorke spricht vom geschichtlichen „Eindruck einer Phasenverschiebung zwischen Malerei und Dichtung“. Als Resultat einer historischen Entwicklung „vom Typischen zum Individuellen“ wird Landschaft beschrieben bei Antonia Dinnebier, Der Blick auf die schöne Landschaft, S. 61–63; vgl. auch Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 59. „Die Parataxe ist die adä quate syntaktische Wiedergabe eines Landschaftsbildes, das aus austauschbaren, unverbunden nebeneinanderstehenden, nur durch den Duktus der ordnenden Beobachtung zusammengefü gten Teilen besteht.“, Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 121. Die frü hen Ansä tze, landschaftlichen Raum in Sprache zu ü bertragen, bezeichnet Koschorke (ebenda, S. 119) als „Buchstabierversuche“. Ferner weist er darauf hin, dass die vermeintliche Simultaneitä t der Uberschau auch in der Malerei „nur eine, wenn auch konstitutive, Fiktion“ sei, da „ein Blickfeld erst durch das Nachtasten markanter Linien mit dem Auge“ entstehe, ebenda, S. 136. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, Bd. 1, Berlin 1766, S. 167.

3. Stimmungskunst

Lessing die ›poetische Malerei‹ seines Zeitgenossen Albrecht von Haller, „weil das Coexistirende des Kö rpers mit dem Consecutiven der Rede dabey in Collision kö mmt, und indem jenes in dieses aufgelö set wird, uns die Zergliederung des Ganzen in seine Theile zwar erleichtert, aber die endliche Wiederzusammensetzung dieser Theile in das Ganze ungemein schwer, und nicht selten unmö glich gemacht wird.“153 Gruenter kommt in seiner Studie zur Bedeutungsgeschichte von ›Landschaft‹ zu dem Ergebnis, dass „[ü ]ber das Wort […] auch die Sache aus der Malerei in die Dichtung eingedrungen“ sei: Kurz gesagt wurzle die „dichterische Landschaftsschilderung“ in der „literarischen Entdeckung des Landschaftsgemä ldes.“154 ›Rahmenschau‹, Perspektivik und Stimmung prä gen zunehmend auch die Formgebung des dichterischen Landschaftsbildes, das nicht mehr als parataktische Aufzä hlung objektiver Bestandteile, sondern aus dem ganzheitlichen Eindruck subjektiver Anschauung heraus gestaltet ist. Lessings Forderung entsprechend muss wie in der Malerei, so eben auch in der Dichtung „das hö here Licht […] auf alle [Theile] gleich vertheilet scheinen“, damit zur poetischen Einheit wird, „was in der Natur mit eins gesehen wird.“155 Die einzelnen Naturdinge werden dazu (quasi zentralperspektivisch) in ihrer Beziehung zu einem Protagonisten aufgefasst, dessen subjektive Stimmung der gesamten Schilderung den verbindlichen, „eigenen einzigen Ton der Empfindung“156 angibt. Nach Jean Pauls Vorschule der Aesthetik wü rde „der poetischen Landschaft, welche nur Einzelnes nach Einzelnem aufbreitet, […] das steigende Ganze vö llig mangeln und jede Einzelnheit unbegleitet und nackt da stehen, wenn nicht ein inneres poetisches Ganzes der Empfindung das ä ußere erstattete, und so jedem kleinen Zuge seine Mitgewalt anwiese und gä be.“157 Sein treffender Vergleich: „jedes LaubBlatt wird eine Welt, aber doch will der Fehl-Dichter uns durch eine Laubholzwaldung durchzerren.“ Die empfundene Schö nheit eines Waldes als Gesamteindruck lä sst sich eben nicht angemessen durch aufzä hlende Beschreibung von Einzelheiten schildern. Um diese Aufgabe zu lö sen, mü sse die Landschaftsschilderung „mehr musikalisch“ 158 aufgefasst werden. Wie die Musik sei dann auch die „[p]oetische

153 154

155 156 157 158

Ebenda, S. 172. Siehe hierzu Julia Cloot, Geheime Texte, S. 106–112. Rainer Gruenter, Landschaft, S. 200–207 (hier S. 204). Der fü r die Literatur des 18. Jahrhunderts kennzeichnende „Aufgang beherrschbarer Mannigfaltigkeit im ä sthetischen Bild“ beruhe wesentlich auf diesem Ubertragungsvorgang, konstatiert Helmut J. Schneider, Naturerfahrung und Idylle, S. 303. Vgl. Bernd Kortlä nder, Die Landschaft in der Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, in: Alfred Hartlieb von Wallthor, Heinz Quirin (Hg.), ›Landschaft‹ als interdisziplinäres Forschungsproblem. Vorträge und Diskussionen des Kolloquiums am 7./8. November 1975 in Münster, Mü nster 1977 (= Verö ffentlichungen des Provinzialinstituts fü r westfä lische Landes- und Volksforschung […] Reihe 1 Heft 21), S. 36–44 (hier S. 37–39) und Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 94–96. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, Bd. 1, S. 169f. Jean Paul, Vorschule der Aesthetik, Bd. 2, § 80, S. 59–64 (hier S. 60). Ebenda, S. 61. Ebenda. Als positive Beispiele angefü hrt werden hierfü r die Landschaften von Jacobi, Herder, Heinse und Tieck, vor allem aber die in Goethes Werther (ebenda, S. 61f.). Fü r einen Vergleich von Schillers und Jean Pauls Ansatz siehe Bernd Kortlä nder, Die Landschaft in der Literatur, S. 39f.

53

I. Natur als Landschaft

Landschaftsmahlerey“ zur Außerung von Innerem, zum Ausdruck des Unaussprechlichen in der Lage.159 Wie in der gemalten Landschaft, so begrü ndet sich auch in der sprachlich geschilderten diese Qualitä t des ›Musikalischen‹ vor allem in Dynamik und transitiver Fluiditä t der Farben.160 In Jean Pauls eigenen, wesentlich durch Bewegung geprä gten Landschaftsbeschreibungen lä sst sich beobachten, wie das empirisch-anschauliche, definierte Bild der Naturgegenstä nde nur als „Ausgangspunkt und Absprung“ genutzt wird, um dann „desto wirksamer ihre Festigkeit aufzulö sen“ und sie „in Fluß zu bringen“161. Idealtypisch beschreiben lä sst sich die Entwicklung des Bewegungselements in der Landschaftsdichtung vom 18. Jahrhundert bis zu Jean Paul als Ubergang von Abfolgen statischer Einzelbilder („Bilderjagd“ 162 ) hin zur dynamischfließenden „Bewegungslandschaft“, in der Raum und Zeit nicht mehr kategorisch unterschieden sind. 163 Verschleiert durch romantisierende Distanz, in der Unterscheidungen und Konturen verschwimmen, kö nnen die Dimensionen fließend ineinander ü bergehen, wie etwa in Eichendorffs frü hem Romanfragment Marien Sehnsucht: „Die Strö me lö sen sich in der Ferne zum Gesang auf.“ 164 Verschrä nkt sind 159

160

161

162

163

164

54

„Es gibt Gefü hle der Menschenbrust, welche unaussprechlich bleiben, bis man die ganze kö rperliche Nachbarschaft der Natur, worin sie wie Dü fte entstanden, als Wö rter zu ihrer Beschreibung gebraucht […].“, Jean Paul, Vorschule der Aesthetik, Bd. 2, S. 61. Vermittelt durch den Stimmungsbegriff, stehen bei Jean Paul „Landschaftsszenerien fü r Ich-Dispositionen“, Gerhart Baumann, Jean Paul. Zum Verstehensprozeß der Dichtung (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 264), Gö ttingen 1967, S. 37. Die geschilderten „Naturgegenstä nde werden als zeichenhafte Manifestationen der Seelenregungen aufgefaßt“, Julia Cloot, Geheime Texte, S. 151. Wesentliche Etappen und Beiträ ge (Haller, Geßner, Klopstock, Rousseau, Sterne, Goethe) in der Herausbildung dieser subjektiv-empfindsamen Landschaftsbeschreibung referiert Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 12–29. Koschorke spricht in Bezug auf Jean Pauls Landschaftspoetik von einem „unbegrenzte[n] und widerstandslose[n] Fluidum der Sprachbewegung“ und einem „Medium der schwerelosen Ubergä nglichkeit zwischen den Dingen“, Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 136f. Wolfdietrich Rasch, Die Erzählweise Jean Pauls. Metaphernspiele und dissonante Strukturen, Mü nchen 1961, S. 33. Eine treffende Charakterisierung dieser ›musikalischen‹ Eigenschaft gelang dem Komponisten Ferdinand von Hiller: „Der einzige Dichter, der durch lange Naturmalereien zu ganz eigenthü mlichen Wirkungen gelangte, scheint mir Jean Paul zu sein. Man erhä lt zwar durchaus keine A n s c h a u u n g von dem, was er zu zeichnen versucht – aber es klingt wie Musik, eben so unbestimmt und eben so stimmungsvoll.“, Ferdinand Hiller, Streifzüge eines Musikers, in: ders., Künstlerleben, Kö ln 1880, S. 225–266 (hier S. 230). Helmut J. Schneider, Erinnerte Natur, S. XI. Schneider gebraucht den Begriff in Bezug auf Brockes’ Dichtung. Goethe, der den Begriff durch Kleist kennenlernte, nutzte seine nä here Umgebung als „Revier“ zur „Bilderjagd“, „um poetisches Wildpret darin aufzusuchen“, Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben, Bd. 2, S. 100. August Langen, Verbale Dynamik, S. 121f.; der „Typus der Bewegungslandschaft im sprachlichen Sinne ist zweifellos am ausgeprä gtesten bei Jean Paul“, ebenda, S. 176. Zur Bewegung in seinen Landschaften siehe Julia Cloot, Geheime Texte, S. 177–187. Joseph von Eichendorff, Roman: Marien Sehnsucht, in: Ansgar Hillach (Hg.), Joseph von Eichendorff: Werke, Bd. 4: Nachlese der Gedichte, erzählerische und dramatische Fragmente, Tagebücher 1798–1815, Mü nchen 1980, hier S. 99. „[T]he creative transformation of music into painting, or the comparison between them, hinges on the experience of distance that dissolves space into time and vice versa“, Berthold Hoeckner, Schumann and Romantic Distance, in: Journal of the American Musicological Society 50 (1997), Nr. 1, S. 55–132 (hier S. 95). „Die Ferne ist ü berhaupt der Ort, oder besser das Medium, in dem sich Ubergä nge der verschiedensten Art vollziehen.“, Heinz Hillmann, Bildlichkeit der deutschen Romantik, Frankfurt am Main 1971, S. 316. Fü r eine Interpretation der Eichendorffschen Landschaften als „kö rperlose[] Gebilde aus reiner Bewegung“ siehe Richard Alewyn, Eine Landschaft

3. Stimmungskunst

rä umliche Statik und zeitliche Dynamik in repetitiv kreisenden oder pendelnden Bewegungen – etwa der typisch „Eichendorffsche[n] Formel“165 des ›hin und her‹ – die sich in der Literatursprache der Romantik als probates Mittel poetischer Raumkonstitution etablierten und schließlich auch in die musikalischen Realisationen der Landschaftsthematik hineinwirkten (Stichwort ›Waldweben‹166). Wie der Germanist August Langen anhand einer eingehenden Quellenanalyse zeigt, wurzelt die dabei verwendete „Bewegungssprache der Landschaftsdichtung“ im eigentü mlichen Vokabular und Sprachgebrauch pietistischer Mystik. Mit der Entfaltung des Subjektivismus habe sich in der Literatur des 18. Jahrhunderts ein „Durchseeltwerden der Landschaft“ vollzogen, welches er als dreistufigen Prozess darstellt: Auf der ersten, noch rein religiö s gebundenen des Pietismus wird die Seele des Individuums entdeckt; ihre Beziehungen zu Gott sind das Urerlebnis. Auf der zweiten Stufe sind diese Beziehungen verweltlicht: an Stelle des Verhä ltnisses von Mensch zu Gott tritt das von Mensch zu Mensch. Dieser Stand ist im wesentlichen in der Empfindsamkeit erreicht. Endlich tritt die Entwicklung in ihre dritte und letzte Stufe: die Natur wird durch die Seele, fü r die Seele erobert. Aus dem Verhä ltnis Mensch zu Mensch wird die Beziehung Mensch–Natur. Die Landschaft wird subjektiv, wird durchseelt, Stimme und Echo des Menschenherzens. Wie einst die Seele und der Gott, so stehen sich nun Mensch und Landschaft einander gegenü ber wie geö ffnete Spiegel, wie einander rufende und antwortende Abgrü nde, ja, in einer neuen, weltlichen Unio mystica verschmelzen Mensch und Natur ineinander. Auch diese letzte Entwicklung setzt […] in der Empfindsamkeit ein, sie ist im Sturm und Drang vollendet und wird in der Romantik weitergefü hrt.167

Sprachgeschichtlich impliziert dieser Sä kularisierungsprozess die Ubertragung mystischen Wortschatzes, insbesondere der zahlreich und stilprä gend „zur Schilderung des Seelenlebens“ verwendeten Bewegungsverben, auf die Beschreibung

165

166 167

Eichendorffs, in: Paul Stö cklein (Hg.), Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie, Darmstadt 1966, S. 19–43. Alexander von Bormann, Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei Joseph von Eichendorff, Tü bingen 1968 (= Studien zur deutschen Literatur 12), S. 258. „Alle diese Bewegungen […] kommen gleichsam nicht von der Stelle, sie kö nnen zwar enden, aber […] nicht, weil ein in ihnen intendiertes Ziel erreicht wä re. Sie hö ren vielmehr bloß auf, um dann in ä hnlichen Zusammenhä ngen erneut zu beginnen. Besonders deutlich wird diese Form der Bewegung am Kreisen, das zwar als Ganzes situiert werden kann, aber in sich selbst weder Anfang noch Ende hat.“, Fred Lö nker, Nachwort, in: Ursula Regener, ders. (Hg.), Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild, Stuttgart 2008, S. 67–80 (hier S. 69). In ä hnlicher Weise drü cken auch die von Jean Paul bevorzugten Verben jeweils ein „In-sichSchwingen“ aus und evozieren Raum, „gerade, weil ihnen die eindeutige Bewegungsrichtung fehlt“, Julia Cloot, Geheime Texte, S. 185. Siehe hierzu Kapitel IX. August Langen, Verbale Dynamik, S. 118f. Wie die aufeinander gerichteten Spiegel sind auch die „rufende[n] und antwortende[n] Abgrü nde“ (nach Psalm 41,8: „abyssus abyssum invocat“) Sinnbilder mystischen Gottesbezugs (ebenda, S. 113f.). Langens Studie erschien zuerst in der Zeitschrift fü r deutsche Philologie 70 (1948/49), S. 249–313.

55

I. Natur als Landschaft

zwischenmenschlicher Beziehungen und schließlich deren Einfließen in poetische Landschaftsdarstellungen. In derart ›durchseelter‹ Landschaft scheint innerweltliche Transzendenz auf. – Ganz in diesem Sinne beschreibt Goethes Werther (1774) ein innerlich entworfenes Bild der ä ußeren Natur als den „Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes“168 und bietet zugleich ein mustergü ltiges Beispiel einer aus subjektiver Stimmung entworfenen, dynamischen ›Seelenlandschaft‹: Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberflä che der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum stehlen, und ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und nä her an der Erde tausend mannigfaltige Grä sgen mir merkwü rdig werden. Wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzä hligen, unergrü ndlichen Gestalten, als der Wü rmgen, der Mü ckgen, nä her an meinem Herzen fü hle, und fü hle die Gegenwart des Allmä chtigen, der uns all nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trä gt und erhä lt.169

Der Abstand zwischen ›Ich‹ und ä ußerer Natur ist in dieser bewegungsbasierten Beschreibung weitestgehend getilgt.170 Wie Gott die Menschen „nach seinem Bilde“ schuf, so kreiert Werthers Seele sich ein Abbild in einer Umgebung, „die fü r solche Seelen geschaffen ist, wie die meine.“171 Die vom Entfernten zum Nä chsten ü bergehende Rahmung ist allein durch den selektiv schweifenden, die „mannigfaltige[n]“, „unzä hligen, unergrü ndlichen Gestalten“ zu einer harmonischen Ganzheit synthetisierenden Blick des betrachtenden Subjekts abgesteckt. Als eine Folge der Emanzipation subjektiver Wahrnehmung beschreibt Bernd Kortlä nder die allgemeine „Tendenz zur immer weiter fortschreitenden Verflü chtigung des empirischen Gehalts der Landschaftsdarstellung“ 172 . Als polyvalente 168 169 170

171

172

56

[Johann Wolfgang von Goethe], Die Leiden des jungen Werthers, Bd. 1, Leipzig 1774, S. 10. Ebenda, S. 9. „um mich dampft“, „sich […] [hinein] stehlen“, „fallenden Bache“, „das Wimmeln“, „das Wehen“. Siehe zu dieser Stelle aus dem Werther auch Bernd Kortlä nder, Die Landschaft in der Literatur, S. 38f. Koschorke bezeichnet es als wesentliches Bestreben der romantischen Literatursprache, „den Unterschied zwischen seelischem Innenraum und ä ußerer Realitä t fiktional zu verwischen und letztlich aufzuheben.“ Dazu werde „zwischen den Bildbereichen der realen Motorik im Raum und der Motorik der Affekte“ ein „semantische[r] Austausch“ hergestellt, Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 193f. Eine noch dichtere Formulierung aufgehobener Distanz zwischen Subjekt und Natur gelingt Goethe in Wanderers Nachtlied, am prä gnantesten wohl in dem Satz „In allen Wipfeln / Spü rest du / Kaum einen Hauch“; zum „lyrische[n] Ineinander“ in der Stimmungslyrik siehe Friederike Reents, Stimmungsästhetik, S. 176–179. [Johann Wolfgang von Goethe], Die Leiden des jungen Werthers, Bd. 1, S. 9f. In autobiographischer Rü ckschau reflektiert Goethe, dass seine Arbeit am Werther wesentlich durch „eine wundersame Verwandtschaft mit den einzelnen Gegenstä nden der Natur, und ein inniges Anklingen, ein Mitstimmen in’s Ganze“, sowie durch die Einbeziehung des „mahlerische[n] Blick[s]“ geprä gt gewesen sei, Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben, Bd. 3, S. 150. Bernd Kortlä nder, Die Landschaft in der Literatur, S. 41. So zeigt etwa Schlaeger anhand einer Analyse von Wordsworths Tintern Abbey (1798), wie Landschaft in einen „Prozeß des Erlebens von Natur“ aufgelö st wird – ein „Vorgang, in dem Natur ihre dinglichen und damit visuell einholbaren Qualitä ten

3. Stimmungskunst

Projektionsflä che innerseelischer Vorgä nge wird der geschilderte Naturraum zunehmend auf stereotypische Formeln reduziert. Wenn etwa Eichendorff, in dessen Lyrik Kortlä nder einen Hö hepunkt dieser Entwicklung erreicht sieht, den Wald als „Du meiner Lust und Wehen / Andä cht’ger Aufenthalt!“173 anspricht, erfä hrt man ü ber dessen ä ußeres Erscheinungsbild letztlich nicht viel mehr, als dass er „grü n[]“ ist. – Anschaulich wird die stimmungsabhä ngige Ambivalenz subjektiver Naturauffassung in einer Novelle Ludwig Tiecks (1826) beschrieben: Bringen wir einen frommen, gelä uterten Sinn […] der Natur entgegen, so wird sie uns der heiligste Tempel, Psalmen und Lobgesä nge tö nen dann unsrer frommen Begeisterung. Aber ihre dunkeln Felsen und Wasserfä lle, ihre wü ste Einsamkeit, mit den schwarzen Wolkenmassen drü ber brü tend, ihr wildes Echo kann auch verstö rte Sinne noch unruhiger aufregen, den tobenden Geist noch mehr reizen, denn sie antwortet nur in der Weise, wie man sie fragt.174

Fü r Goethes Werther, der innerlich „die Gegenwart des Allmä chtigen“ ahnt, wird auch der umgebende Wald zum „innere[n] Heiligthum“, in das „einzelne Strahlen“ der hochstehenden Sonne dringen. Er fungiert – um ein akustisches Pendant zum Bild des ›Seelenspiegels‹ zu gebrauchen – als amplifizierender Hallraum seiner subjektiven Stimmung: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Den ä ußersten Gegenpol im Spektrum subjektiver Waldwahrnehmung – gewissermaßen die „Nachtseite“175 des Waldes – bringt der verzweifelte Max im Freischütz (I/4) zur Sprache: „O dringt kein Strahl durch diese Nä chte? / Herrscht blind das Schicksal?

173

174

175

fortschreitend zugunsten transzendenter Bedeutung verliert.“, Jü rgen Schlaeger, Landschaft, Natur und Individualität, S. 201. Schulz beschreibt anhand des Heinrich von Ofterdingen, wie „Novalis eine Fü lle von Anregungen aufgenommen und in seinen Roman verwoben hat. Aber nirgends herrscht wirklich eine konkrete Realitä t. […] Universalisierung, Absolutisierung, Romantisierung waren seine Methoden. Das einzelne wird zu einem vö llig eigenwilligen, bedeutsamen Symbol zusammengefü gt, hinter dem nur noch der Wille des Dichters als oberstes Gesetz steht.“, Gerhard Schulz, Der Bergbau in Novalis’ ›Heinrich von Ofterdingen‹, S. 10f. Siehe hierzu auch die gute Darstellung von Helga de la Motte-Haber, die allgemein von einer „[f]iktiv werdende[n] Natur“ spricht; in der Naturlyrik des frü hen 19. Jahrhunderts sei die Natur dann nicht mehr „der Erkenntnisgegenstand, sondern ein Mittel der Selbsterkenntnis.“ (S. 171), Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur. Naturanschauung und musikalische Poetik, Laaber 2000, S. 160ff. Joseph von Eichendorff, Abschied, in: ders., Gedichte, Berlin 1837, S. 36. Vgl. auch die ä hnlich januskö pfige Schlussstrophe des 1809 entstandenen Gedichts Auf dem Schwedenberge: „Du Wald, so dunkelschaurig, / Waldhorn, Du Jä gerlust! / Wie lustig und wie traurig / Rü hrst Du mir an die Brust!“, ebenda, S. 140. Ludwig Tieck, Der Aufruhr in den Cevennen. Eine Novelle in vier Abschnitten, Bd. 1, Berlin 1826, S. 85. Vgl. hierzu Sternbalds Worte: „Ich mö chte die ganze Welt mit Liebesgesang durchströ men, den Mondschimmer und die Morgenrö the anrü hren, daß sie mein Leid und Glü ck wiederklingen, daß die Melodie Bä ume, Zweige, Blä tter und Grä ser ergreife, damit alle spielend meinen Gesang wie mit Millionen Zungen wiederholen mü ßten.“, ders., Franz Sternbalds Wanderungen, Bd. 2, S. 89. In Anlehnung an die einflussreichen Vorlesungen des romantischen Naturforschers Gotthilf Heinrich Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden (Arnold) 1808.

57

I. Natur als Landschaft

Lebt kein Gott?“176 – Was dem einen ein Heiligtum, ist dem anderen eine gottverlassene Wildnis.

3.7. Eine musikalische Landschaft in Tonkünstlers Leben Vor dem Hintergrund der theoretischen Uberlegungen und kü nstlerischen Bestrebungen um ›Musikalisierung‹ der Landschaft in Malerei und Dichtung sowie der festgestellten Aquivalenz der jeweils durch ›Farben‹ und ›Tö ne‹ bewirkten Stimmungen, sind auch die vielfä ltigen Metaphern und intermodalen Vergleiche zu betrachten, die zwischen den Kü nsten und Sinnesbereichen vermitteln. In Carl Maria von Webers unvollendetem Roman Tonkünstlers Leben, an dem er seit 1809 phasenweise arbeitete, findet sich eine ausfü hrliche Beschreibung musikalisierter Landschaftswahrnehmung, welche als aufschlussreiches Zeugnis fü r die skizzierte Annä herung, zumal im Hinblick auf deren Konsequenzen fü r die musikalisch-kompositorische Konzeption gelten kann. Das Fragment XII177, das als Anfangskapitel des Romans vorgesehen war, wurde als einer von wenigen Teilen bereits zu Webers Lebzeiten verö ffentlicht. Es erschien im Januar 1821 im ersten Heft der Monatsschrift Die Muse178, deren Herausgeber der Freischütz-Librettist Johann Friedrich Kind war. Inhalt des aus der Ich-Perspektive geschriebenen Textes sind Selbstreflexionen eines Kü nstlers, der sich in einer anhaltenden Schaffenskrise befindet und deshalb beschließt, aus dem „engbrü stigen Verhä ltniß-Zirkel“ seines Heimatortes auszubrechen und auf Reisen zu gehen. Zeitgenö ssische Rezensenten goutierten Webers schriftstellerische Arbeit und machten darin autobiographische Zü ge aus.179 Gleich zu Beginn des ersten Kapitels formu-

176

177

178

179

58

Solveig Schreiter (Hg.), Friedrich Kind, Carl Maria von Weber: Der Freischütz. Romantische Oper in drei Aufzügen. Kritische Textbuch-Edition, Mü nchen 2007 (= Opernlibretti – kritisch ediert 1), S. 32. Reihung der Fragmente nach Gerhard Jaiser, Carl Maria von Weber als Schriftsteller. Mit einer in Zusammenarbeit mit der Weber-Gesamtausgabe erarbeiteten quellenkritischen Neuausgabe der Romanfragmente ›Tonkünstlers Leben‹, Mainz 2001 (= Weber-Studien 6). Der autographe Entwurf (D-B Mus. ms. autogr. theor. C. M. v. Weber WFN 6, Abt. I, Bl. 7a/r–7b/v) ist auf den 17. Februar 1819 datiert. Bereits Karl G. T. Winkler (alias Theodor Hell) wertet das Fragment, das geringfü gige Bezü ge zu Fragment I enthä lt, in seiner Ausgabe als „Erstes Kapitel. (Nach der zweiten Ausarbeitung.)“, Theodor Hell (Hg.), Hinterlassene Schriften von Carl Maria von Weber, Bd. 1, Dresden 1828, S. 20. Carl Maria von Weber, Bruchstücke aus: Tonkünstlers Leben. Eine Arabeske, in: Die Muse. Monatschrift fü r Freunde der Poesie und der mit ihr verschwisterten Kü nste 1 (1821), Heft I/1, S. 49–72 (zwei Teile); ein dritter Teil erschien in Heft I/3, S. 79–98. Trotz eines Fortsetzungshinweises am Schluss erfolgte keine weitere Verö ffentlichung zu Webers Lebzeiten; auch ist in seinen Tagebü chern keine weitere Beschä ftigung mit dem Roman nachweisbar. „Es sind tiefe Blicke in das Leben, oder vielmehr geniale Griffe aus dem Leben, aus der eigenen Brust des vielerfahrenen Kü nstlers.“, befindet der Dresdener Professor K[arl] Fö rster, „Die Muse. Monatschrift fü r Freunde der Poesie …“, Rubrik ›Literarischer Wegweiser‹, in: Abend-Zeitung [Dresden], 31. Januar 1821 (Beilage zu Nr. 27), S. [I–II] (hier S. [II]). Besonders ausgeprä gt scheint der autobiographische Bezug in den Kindheits- und Jugendberichten des Fragments IX (Brief an …), das zugleich mit Fragment XII in der Muse abgedruckt wurde. Ein weiterer, anonymer Rezensent schreibt: „Diese Bruchstü cke, im Tone an den genialen H o f f m a n n erinnernd, enthü llen manches Geheimniß der schaffenden Kü nstlerkraft und konnten nur von einem Manne kommen, der wie wenige die Fä higkeit

3. Stimmungskunst

liert Weber zentrale Positionen seines Verstä ndnisses vom musikalischen Kunstwerk. Dieses mü sse von einer inneren Anschauung des ›Ganzen‹ ausgehend organisch entwickelt werden, wozu das „geistige Ohr“ zunä chst „ganze Perioden, ja ganze Stü cke auf einmal“ hö ren mü sse. Erst in einem „spä tern, besonnenen Moment“ gelte es dann die kompositorischen Einzelheiten „auszufü llen und zu glä tten“. Es will etwas Ganzes s e h e n , dieses Ohr, eine Ton-Gestalt mit einem Gesicht, daß es einst auch der Fremde wieder erkenne und unter dem Gewü hle finde, hat er es einmal gesehen. D a s will es, nicht einen zusammengeflickten Lumpenkö nig!180

Durch das Vokabular, vor allem das hervorgehobene Verb „s eh en“, betont Weber die visuelle und plastische Dimension dieses Vorgangs der Prä gnanzbildung, dessen Erfolg darin liege, dass „der Sinn […] ein Bild erfaßt“181. Eine musikalische Komposition dü rfe demnach nicht durch Addition von Einzelheiten, sondern durch Evolution aller Teile aus dem Ganzen der subjektiven Anschauung und Stimmung heraus entstehen.182 Der Vergleich mit den Verfahren der Landschaftsmaler und -dichter liegt in greifbarer Nä he, und folgerichtig wendet sich Webers Erzä hlung nun der Erscheinung der ä ußeren Natur zu: In herrlich ruhiger Grö ße entfaltete sich die kommende Pracht des Tages. Das heilige Crescendo der Natur im lichtbringenden Aether erhob mein still ergebenes Gemü th zu fromm heiterer Ahnungs-Regung.183

180 181 182

183

hat, sich schaffend zuzusehen.“, [anonym], „Die Muse. Monatsschrift fü r Freunde der Poesie…“, in: Literarisches Conversations-Blatt 2 (1821), Nr. 259 (10. November), S. 1033–1035 (hier S. 1033). E.T.A. Hoffmann, dem Weber wiederholt persö nlich begegnete, prä gte in besonderem Maße seinen schriftstellerischen Stil; im Februar 1816 erweckte die Lektü re seiner Fantasiestücke in Callot’s Manier in Weber „die Lust mein Künstlerleben, wieder vorzunehmen“, Carl Maria von Weber an Friedrich Rochlitz, Brief vom 4./17. Februar 1816, zitiert nach WeGA, (Dateiversion vom 14. April 2017). An literarischen Vorbildern sind ferner Jean Paul und (Webers Dresdener Nachbar) Ludwig Tieck zu nennen; vgl. hierzu Karl Laux, Vorwort, in: ders. (Hg.), Carl Maria von Weber: Kunstansichten. Ausgewählte Schriften, Wilhelmshaven 1978 (= Taschenbü cher zur Musikwissenschaft 23), S. 5–18 (hier S. 12f.) und den breiteren Uberblick von Steven Paul Scher, Carl Maria von Weber’s ›Tonkünstlers Leben‹: The Composer as a Novelist? (1978), in: Walter Bernhart, Werner Wolf (Hg.), Essays on literature and music (1967–2004), Amsterdam 2004 (= Word and Music Studies 5), S. 127–142. Bezü ge zwischen Tonkünstlers Leben und Tiecks Sternbald behandelt Arnfried Edler, „Glanzspiel und Seelenlandschaft“. Naturdarstellung in der Oper bei Weber und Rossini, in: Friedhelm Krummacher (Hg.), Weber – jenseits des ›Freischütz‹. Referate des Eutiner Symposiums 1986 anläßlich des 200. Geburtstages von Carl Maria von Weber, Kassel 1989 (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 32), S. 71–83 (hier S. 75–77). Carl Maria von Weber, Bruchstücke aus: Tonkünstlers Leben, S. 54. Ebenda, S. 55. Angelehnt an Johanne Messerschmidt-Schulz, Zur Darstellung der Landschaft in der deutschen Dichtung des ausgehenden Mittelalters (Vorstellungsweise und Ausdrucksform), Breslau 1938 (= Sprache und Kultur der germanischen und romanischen Vö lker B/28), S. 13. Carl Maria von Weber, Bruchstücke aus: Tonkünstlers Leben, S. 57.

59

I. Natur als Landschaft

Ganz im Sinne Schillers schwingt sich Weber hier zum „wahrhaften Seelenmaler“ auf, indem er die „inneren Bewegungen des Gemü ths durch analogische ä ussere“184 begleitet: ä ußere Entfaltung der „kommende[n] Pracht“ und innere Erhebung zur „Ahnungs-Regung“. Wie Schiller verweist auch Weber, den Terminus Crescendo gebrauchend, auf die Musikalitä t dieses Verfahrens. Ein individuelles Bild der Landschaft wird aus der „fromm heitere[n]“ Stimmung des Protagonisten heraus entworfen: „Wunderbar wirket stets auf mich die freie Natur, und gewiß ganz verschieden von andern Gemü thern.“185 Wie Arnfried Edler darlegt, bildet die Aufhebung der „Subjekt-Objekt-Schranke zwischen Natur und Kü nstler“ fü r Weber den Ausgangspunkt kü nstlerischen Schaffens. Im Kompositionsvorgang gelte es, einen „subjektiv gefä rbten Natureindruck, die Stimmung, an die Bewegungsform der Musik“186 zu vermitteln. Diese musikalische „Bewegungsform“ ist in der Wahrnehmung und sprachlichen Schilderung der Landschaft bereits veranlagt. Die Subjektivitä t des „Anschauungs-Vermö gen[s]“ begrü ndet Weber – in Anschluss an die zeitgenö ssische Reflexion zur Theorie der Landschaftsdarstellung – mit der individuellen Betrachterperspektive („Gesichtskreis […] Deines Standpunkts“) und der einheitsstiftenden „Farben-Gebung“ („Ton“): [A]uch eine, nur dir eigene Farben-Gebung erhalten alle Gegenstä nde, die sie unwillkü hrlich dem Grundtone Deines Lebens und Gefü hles abborgen; und da ich denn einmal von Ton spreche, so will ich auch gar nicht lä ugnen, daß alles sich bei mir zu musikalischer Form bequemen muß. Das Anschauen einer Gegend ist mir die Auffü hrung eines Musikstü ckes. Ich erfü hle das Ganze, ohne mich bei den es hervorbringenden Einzelnheiten aufzuhalten; mit einem Worte, die Gegend bewegt sich mir, seltsam genug, in der Zeit. Sie ist mir ein successiver Genuß.187

Sprechend wie mit diesen Worten dü rfte das Konzept musikalischer Landschaft selten geschildert worden sein. Weber folgt hier dem in Lessings Laokoon aufgezeigten Weg der ›Verzeitlichung‹ und fasst die Landschaft als „ein transitorisches Schö nes“188 auf. Man kann davon ausgehen, dass Weber in Betreff dieser Auffassung entscheidende Anregungen durch Tieck empfangen hatte, in dessen Phantasus (Bd. 1, 1812) sich folgende Reflexion ü ber die Ahnlichkeit von romantischer Poesie und Landschaft findet: Ist diese Gegend nicht, durch welche wir wandeln, […] einem schö nen romantischen Gedichte zu vergleichen? Erst wand sich der Weg labyrinthisch auf und ab durch den dichten Buchenwald, der nur augenblickliche rä thselhafte Aussicht in die Landschaft erlaubte: so ist die erste Einleitung

184 185 186 187 188

60

[Friedrich Schiller], „Gedichte von Friedrich Matthison“, Nr. 298, Sp. 607[recte: 670]–671. Carl Maria von Weber, Bruchstücke aus: Tonkünstlers Leben, S. 58. Arnfried Edler, „Glanzspiel und Seelenlandschaft“, S. 77. Carl Maria von Weber, Bruchstücke aus: Tonkünstlers Leben, S. 58f. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, Bd. 1, S. 217.

3. Stimmungskunst

des Gedichtes; […] nun traten wir in den Hain von verschiedenem duftenden Gehö lz, in welchem die Nachtigall so lieblich klagte, die Sonne sich verbarg, ein Bach so leise schluchzend aus den Bergen quoll, und murmelnd jenen blauen Strom suchte, den wir plö tzlich, um die Felsenecke biegend, in aller Herrlichkeit wieder fanden […]. Wie wird sich diese reizende Landschaft nun ferner noch entwickeln? Schon oft habe ich Lust gefü hlt, einer romantischen Musik ein Gedicht unterzulegen, oder gewü nscht, ein genialischer Tonkü nstler mö chte mir voraus arbeiten, um nachher den Text seiner Musik zu suchen; aber wahrlich, ich fü hle jetzt, daß sich aus solchem Wechsel einer anmuthigen Landschaft ebenfalls ein reizendes erzä hlendes Gedicht entwickeln ließe.189

Aufgrund ihrer gemeinsamen Sukzessivitä t sind Landschaftserfahrung, Musik und Dichtung einander ä hnlich und aufeinander beziehbar. Gleichermaßen ist ihnen poetische Bedeutung in Verlaufsform eingeschrieben, die ›herausgelesen‹ und kü nstlerisch ü bersetzt werden kann. Der selbe „Wechsel“ von Landschaftseindrü cken kann als „erzä hlendes Gedicht“ (Tieck) oder als „Auffü hrung eines Musikstü ckes“ (Weber) umgesetzt werden. Ganz dem Ideal romantisch-pittoresker (Landschafts-)Asthetik entsprechend, beginnt der von Tieck angedeutete Verlauf „labyrinthisch“ in einem dichten Wald, der nur „augenblickliche rä thselhafte Aussicht“ auf das Kommende zulä sst; eine melancholisch gestimmte Passage folgt, ehe „plö tzlich“ ein neuer Eindruck die Aufmerksamkeit beansprucht. Wir kommen auf die Analogie von Landschafts- und Musikerlebnis, im Besonderen auch auf diese Passage aus dem Phantasus zurü ck, wenn wir uns in Kapitel VII.4. dem Beginn von Webers Freischütz-Ouvertü re widmen, kehren aber zunä chst zu Webers Romanfragment und dem „successive[n] Genuß“ zurü ck, den ihm die Landschaftsbetrachtung bereitet. Es habe damit, schreibt Weber, „seine großen Freuden und seinen großen Jammer. Freude, weil ich nie genau weiß, wo der Berg, der Baum, das Haus steht, oder etwa gar, wie das Ding heißt, und daher bei jedesmaligem Anschauen eine neue Auffü hrung erlebe.“ 190 Das Primat der Stimmung und die damit einhergehende Fluiditä t und Unbestimmtheit der musikalischen Landschaft lassen die konturierende Zeichnung der „Einzelnheiten“ verschwimmen und vor dem Gesamteindruck zurü cktreten; entsprechend geht auch die nominale Unterscheidbarkeit („wie das Ding heißt“) mehr und mehr verloren und lö st sich in (verbale) Bewegung auf. Wo allerdings die sukzessive Mannigfaltigkeit der Reize das beherrschbare Maß ü berschreitet und der Betrachter in der Abfolge visueller Eindrü cke keine Prä gnanz mehr „ausbilde[n]“ kann, weil die perspektivische Durchformung fehlt, wie etwa auf einer schnellen Kutsch- oder Zugfahrt, da droht die Stimmung zu kippen. Die einheitsstiftende „Tonverwandt[schaft]“ zerfließt dann in ein

189

190

Ludwig Tieck, Einleitung, in: ders., Phantasus, Bd. 1, S. 15. Die ersten beiden Bä nde des Phantasus erschienen 1812, Bd. 3 im Jahr 1816. Weber spielt in Briefen an seine Frau vom 3. Dezember 1816 und 21. Januar 1817 auf den Phantasus an, dü rfte den hier relevanten ersten Band aber schon frü her gelesen haben. Carl Maria von Weber, Bruchstücke aus: Tonkünstlers Leben, S. 59.

61

I. Natur als Landschaft

ü berforderndes, „buntes Farbenspiel“; ernü chtert weicht schließlich die freie Anschauung wieder dem alltagspraktischen Blick fü r das „bloße Leben“: Aber großen Jammer, wenn ich fahre. Da fä ngt eine gute Confusion an in meiner Seele; dann gaukelt und wirbelt alles durcheinander. Wie jagen, durchkreuzen und rä dern sich alle Begriffe und Vorstellungen in mir! Sehe ich stillestehend so recht festen Blickes in die Ferne, so beschwö rt dies Bild fast immer ein ihm ä hnliches Tonbild aus der verwandten Geisterwelt meiner Phantasie herauf, was ich dann vielleicht lieb gewinne, festhalte, und ausbilde. Aber, gerechter Himmel! mit welchen Purzelbä umen stü rzen die Trauermä rsche, Rondo’s, Furioso’s und Pastorale’s durcheinander, wenn die Natur so meinen Augen vorbeigerollt wird. Da werde ich dann immer stiller und stiller, und wehre dem allzu lebendigen Drang in der Brust. Kann ich dann auch nicht den Blick abziehen von dem schö nen Glanzspiele der Natur, so wird es mir doch bald nichts mehr, als ein buntes Farbenspiel; meine Ideen entfernen sich durchaus von allem Tonverwandten, das bloße Leben mit seinen Verhä ltnissen tritt herrschend vor […].191

Zusammenfassend lassen sich im ä sthetischen Diskurs von Landschaft und Musik, der das erste Kapitel von Tonkünstlers Leben inhaltlich bestimmt, zwei grundsä tzliche Tendenzen herausstellen. Die eine – zuletzt vorgestellte – kann kurz als ›Musikalisierung‹ der Landschaft bezeichnet werden. Weber selbst charakterisiert diese Tendenz trefflich, indem er das „Anschauen einer Gegend“ mit der „Auffü hrung eines Musikstü ckes“ gleichsetzt und in Bezug auf deren Wahrnehmung von „musikalischer Form“ und „successive[m] Genuß“ spricht. – Daneben lä sst sich eine zweite, weniger explizit formulierte, aber gewissermaßen als invertiertes Pendant beschreibbare Tendenz ausmachen. Diese betrifft die poetologische Konzeption des musikalischen Kunstwerks. Musik soll als „etwas Ganzes“, als prä gnantes „Bild“, als „Ton-Gestalt mit einem Gesicht“ vergegenwä rtigt werden. Wie eine Landschaft dem Auge, soll sich Musik dem „geistige[n] Ohr“ als eine Eindruckseinheit darstellen, als eine augenblicklich – beziehungsweise in einem „Ohrennu“ 192 , um ein von Ulrich Konrad vorgeschlagenes akustisches Aquivalent zu gebrauchen – erfassbare Mannigfaltigkeit. In idealtypischer Dialektik lä sst sich der Tendenz zu musikalischer Qualitä t von Landschaft demnach eine Tendenz zu plastischer Qualitä t von Musik gegenü berstellen – eine wechselseitige Annä herung.

191

192

62

Ebenda, S. 59f. Dieser Textabschnitt, mit dem das erste der 1821 abgedruckten Bruchstücke schließt, beruht auf einer ä hnlich lautenden Passage aus Fragment I (datiert: 2. Dezember 1809), nach dem Autograph (D-B Mus. ms. autogr. theor. C. M. v. Weber WFN 6, Abt. I, Bl. 3a/r–3b/v) ediert in der WeGA. Ulrich Konrad, Von den erogenen Zonen des Gehörs, oder: Schöne Stellen in der Musik, in: Zeitschrift fü r Literaturwissenschaft und Linguistik 152 (2008), Nr. 4, S. 72–83 (hier S. 77).

4. Landschaft als Kultur

4. Landschaft als Kultur 4.1. Das landschaftliche Auge Jedes Zeitalter, wenn es neue Ideen bekö mmt, bekö mmt auch neue Augen […]. Heinrich Heine193

Es erweist sich, dass wir „den Kopf voll Landschaften“ (Jean Paul194) haben, wenn wir der ä ußeren Natur begegnen. Einhergehend mit der breiten Reflexion ü ber die Subjektivitä t der Naturerfahrung, bildete sich im 19. Jahrhundert vertieftes Bewusstsein fü r deren Historizitä t und diskursive Kontextualitä t heraus – dafü r also, dass die jeweilige Naturwahrnehmung nicht nur durch die augenblickliche Stimmung, sondern auch durch individuelle Erinnerungen 195 und den geschichtlichen Erfahrungshorizont kultureller Modelle, Ideen und Raster geprä gt ist. Fü r das ä sthetische Organ, das die vorgefundenen Naturausschnitte nach Maßgabe solcher Muster zum imaginierten Kunstwerk umgestaltet, fand der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl den anschaulichen Begriff des „landschaftlichen Auges“, den er in einem Aufsatz von 1850 erlä utert: Nur der Mensch schafft kü nstlerisch, nicht die Natur. Eine Landschaft, wie sie sich draußen unsrem Blicke zeigt, ist nicht schö n an sich, sie hat nur mö glicherweise die Fä higkeit i n d e m Au g e d e s B e s c h a u e r s zur Schö nheit vergeistigt und gelä utert zu werden. […] [W]er nicht selbst bereits ein Stü ck von einem Kü nstler ist, wer nicht im Kopfe selber schö ne Landschaften malen kann, der wird draußen nie welche sehen. Die schö ne Natur, dieses subjectivste aller Kunstwerke, welches anstatt auf Holz oder Leinwand auf die Netzhaut des Auges gemalt ist, wird jedesmal ein anderes mit dem geistigen Standpunkt des Sehenden. Und wie bei Einzelnen, so also auch bei ganzen Generationen. […] Mit jedem großen Umschwung der

193

194 195

Heinrich Heine, Die Nordsee. 1826. Dritte Abtheilung, in: ders., Reisebilder, Bd. 2, Hamburg 1827, hier S. 64f. Jean Paul, Flegeljahre. Eine Biographie, Bd. 1, Tü bingen 1804, S. 208. Einen poetischen locus classicus fü r die Verknü pfung von Landschaftswahrnehmung und Erinnerung schuf William Wordsworth mit seinen Lines written a few miles above Tintern Abbey (1798), in denen er sein subjektives Erlebnis einer Gegend nach fü nfjä hriger Abwesenheit schildert: „And now, with gleams of half-extinguish’d thought, / With many recognitions dim and faint, / And somewhat of a sad perplexity, / The picture of the mind revives again […].“, [William Wordsworth], Lines written a few miles above Tintern Abbey on revisiting the banks of the Wye during a tour, / July 13, 1798, in: [ders., Samuel Taylor Coleridge], Lyrical Ballads, With a Few Other Poems, Bristol 1798, S. 201–210 (hier S. 204f.). Die Wahrnehmung ist durch aktualisierte Erinnerungen ü berformt, erhä lt dadurch einen „virtuellen Zeitbezug“ und fü hrt den Betrachter zur (biographischen) Selbstreflexion; damit einher geht ein „Prozeß der Entsinnlichung“: „Die verä ndernde Kraft der Zeit hat im Bewußtsein des Dichters dem Gegenstand eine Geschichte geschaffen, hinter der sein visueller Eindruck verblaßt“, Jü rgen Schlaeger, Landschaft, Natur und Individualität, S. 184–201 und John R. Watson, Picturesque Landscape, S. 79–92. Zur Korrelation von Wald und Erinnerung in Wordsworths Lyrik siehe auch Robert P. Harrison, Wälder, S. 188–196.

63

I. Natur als Landschaft

Gesittung erzeugt sich auch ein neuer „Blick“ fü r eine andere Art landschaftlicher Schö nheit.196

So hat Riehl zufolge „jedes Jahrhundert […] nicht nur seine eigene Weltanschauung, sondern auch seine eigene Landschaftsanschauung.“197 Riehls Methode bestand darin, diesen Wandel der Wahrnehmung aus kulturgeschichtlichem Studium heraus zu erklä ren, die dabei wirkenden Gesetzmä ßigkeiten auszumachen, um dann Rü ckschlü sse auf das kollektive Bewusstsein („Geistesstimmung und Gemü thsrichtung“198) einer historischen Epoche oder Kultur ziehen zu kö nnen. Seine Untersuchungsgegenstä nde („Urkunden“) fand er vor allem „in der beschreibenden Literatur, in der Poesie, in der Landschaftsmalerei, wie in der unmittelbaren Beobachtung des gegenwä rtigen Volkslebens selber.“199 „Worin ruht die ›Romantik‹, welche man von den deutschen Alpen wie vom deutschen Rheine rü hmt?“, fragt Riehl in seiner ausschweifenden Alpenwanderung eines Historikers (1869/1872), um als Antwort zu geben: „Sie ruht in u n s und wir erwecken sie aus dem eigenen Gemü the, indem wir die Vergangenheit in der Gegenwart ahnen und suchen“200. – Wä hrend man ›mit der Zeit‹ vergisst, bleibt im (Natur-) Raum die Erinnerung prä sent.201 In der Naturanschauung werden Vergangenheit, Erinnerung und Geschichte als rä umliche Dimension in der Gegenwart erfahrbar. Es ist wiederum Riehl, dem dieses Konzept eine griffige Formulierung verdankt: „die Geschichte lebt in der Landschaft“202.

196

197 198

199 200

201

202

64

Wilhelm Heinrich Riehl, Das landschaftliche Auge. 1850, in: ders., Culturstudien aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1859, S. 57–79 (hier S. 67f.). Ebenda, S. 57. Siehe hierzu die Erlä uterung, die Riehl in seinem Vortrag ü ber die Rheinlandschaft gibt: „Insofern aber der Wechsel des landschaftlichen Schö nheitsideals bei Vö lkern und Generationen sich gesetzmä ßig gliedert und bewegt, erhebt er sich wenigstens ü ber die blose Laune des individuellen Geschmacks. Die jeweilige Auffassung der Naturschö nheit gestaltet sich zu einer Aussprache der geheimsten Geistesstimmung und Gemü thsrichtung der Geschlechter, sie wird solchergestalt wissenschaftlich faßbar, ja sie gibt wiederum ein Material zur Psychologie des Volkes.“, Wilhelm Heinrich Riehl, Rheinlandschaft, in: ders., Freie Vorträge, S. 59. Ebenda. Wilhelm Heinrich Riehl, Alpenwanderung eines Historikers, in: ders., Freie Vorträge, S. 92–134 (hier S. 132). Maurice Halbwachs zufolge ist das kollektive Gedä chtnis einer Gruppe auf das rä umlich vermittelte „Bild der Permanenz und der Bestä ndigkeit“ angewiesen: „So gibt es kein kollektives Gedä chtnis, das sich nicht innerhalb eines rä umlichen Rahmens bewegt […] und es wä re unverstä ndlich, daß wir die Vergangenheit wiedererfassen kö nnen, wenn sie nicht tatsä chlich durch das materielle Milieu aufbewahrt wü rde, das uns umgibt.“, Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, S. 127– 163 (hier S. 127 und 142). Allgemeiner: „Wo Gedä chtnis im Horizont des Raumes konstituiert wird, steht die Persistenz und Kontinuitä t der Erinnerungen im Vordergrund; wo das Gedä chtnis im Horizont der Zeit konstituiert wird, stehen Vergessen, Diskontinuitä t und Verfall im Vordergrund.“, Aleida Assmann, Zur Metaphorik der Erinnerung, in: dies., Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 21993, S. 13–35 (hier S. 22). „Aus drei verschiedenen Wurzeln erwä chst diese dichterische Schö nheit des Rheines: die Geschichte lebt in der Landschaft; die vorgeschrittenste Cultur der Gegenwart verwä chst mit einer reizenden Natur; die Natur selber aber gruppirt und ordnet sich zum fertigen Gemä lde.“, Wilhelm Heinrich Riehl, Rheinlandschaft, in: ders., Freie Vorträge, S. 91. Zu Riehls Auffassung der ›historischen Landschaft‹ als fortgesetzt wirksame „Kulturmacht“ vgl. auch Jasper von Altenbockum, Wilhelm Heinrich Riehl 1823–

4. Landschaft als Kultur

Durch historische und gesellschaftlich vermittelte Vorleistungen prä formiert, trifft der individuelle Blick unweigerlich auf Erinnerungsschichten in der vorgefundenen Landschaft. Das ›landschaftliche Auge‹ greift aktualisierend auf die kulturelle Bedeutungshistorie einer Gegend oder eines Landschaftstyps zurü ck und konstruiert die Landschaft als einen Hybriden aus Natur und Kultur. „Landschaften“, formuliert Simon Schama die zentrale These seiner Abhandlung Der Traum von der Wildnis (1996), „sind Kultur, bevor sie Natur sind, Konstrukte der Phantasie, die auf Wald und Wasser und Fels projiziert werden.“203 Der Historiker Pierre Nora prä gte in den 1980er Jahren den – zwischenzeitlich inflationä r gebrauchten – Begriff ›Erinnerungsort‹ (›lieu de mé moire‹), um eine Art diskursiven Verdichtungs- oder Knotenpunkt zu bezeichnen, dem in einem bestimmten soziohistorischen Kontext zentrale Bedeutung zukommt. Bezeichnet der Begriff im paradigmatischen Sinne primä r einen symbolischen Topos des kollektiven Gedä chtnisses und keinen konkreten geographischen Ort, so kann ersterer doch an letzteren geknü pft sein. Als Deutsche Erinnerungsorte kö nnen etwa ›der deutsche Wald‹, ›der Rhein‹ und ›die Wartburg‹, aber auch Personen wie ›Arminius‹ oder ›Richard Wagner‹ gelten.204 Ihrer identitä tsstiftenden Funktion entsprechend kö nnen gerade solche ›Erinnerungsorte‹ wesentlich zur Bedeutungsaufladung spezifischer Gegenden oder Landschaftstypen beitragen und deren Wahrnehmung ü berlagern.

203

204

1897. Sozialwissenschaft zwischen Kulturgeschichte und Ethnographie, Kö ln 1994 (= Mü nstersche historische Forschungen 6), S. 129–136. „Denn wenn wir auch gewohnt sind, Natur und menschliche Wahrnehmung in zwei Bereiche zu scheiden, sind sie in Wirklichkeit nicht voneinander zu trennen. Bevor die Landschaft je ein Refugium fü r die Sinne werden kann, ist sie schon das Werk des Geistes. Ihre Szenerie ist ebenso aus Schichten der Erinnerung zusammengesetzt wie aus Gesteinsschichten.“, Simon Schama, Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination, Mü nchen 1996, S. 16 und 74. Fü r vergleichbare Ansä tze konstruktivistischer Landschaftstheorien siehe etwa Helmut J. Schneider, Erinnerte Natur, S. V, Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 12, Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem, S. 15, Klaus Schriewer, Natur und Bewusstsein, S. 10, sowie Gisela Kangler, Von der schrecklichen Waldwildnis zum bedrohten Waldökosystem – Differenzierung von Wildnisbegriffen in der Bedeutungsgeschichte des Bayerischen Waldes, in: Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl (Hg.), Vieldeutige Natur, S. 263– 278 (hier S. 265). Vgl. hierzu die Beiträ ge von Albrecht Lehmann, Der deutsche Wald, Werner M. Doyé , Arminius sowie Herfried Mü nkler, Richard Wagner, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, Mü nchen 2001. Zur Entstehung und Rezeption des Forschungsparadigmas siehe Cornelia Siebeck, Lemma ›Erinnerungsorte, Lieux de Mémoire‹, in: Docupedia-Zeitgeschichte, online-Ausgabe, (Version vom 2. Mä rz 2017) und Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Weimar 22011, S. 25–29.

65

I. Natur als Landschaft

4.2. Wald und Vergangenheit Erinnernd rü hrt sich in den Bä umen, Ein heimlich Flü stern ü berall. Joseph von Eichendorff205 Vergangenheit und Gegenwart Gefallen sich allda zu grü nen[.] Johann Mayrhofer206

Steigender Holzbedarf der Stä dte und Eisenbahnen fü hrte dazu, dass auch in dem idyllisch von Gemeindewä ldern umschlossenen Schweizer Ort Seldwyla die Profitgier Einzug hielt – so schildert es Gottfried Kellers Erzä hlung Das verlorene Lachen (1874). Angewidert von der rü cksichtslosen „Baumschlä chterei“ seiner Konkurrenten, versucht der Holzhä ndler Jukundus zumindest die uralte „Wolfhartsgeeren-Eiche“, die wohl einst „in germanischen Morgenlü ften gebadet hatte“, durch Ankauf vor der Fä llung zu bewahren. Letztlich aber sieht er sich aus wirtschaftlicher Notlage gezwungen, sie doch zu verkaufen. Ein Dutzend Mä nner rü ckt zur Vollstreckung an. Es bleibt „nur der leere Himmel an der Stelle. Da ging es ihm durch’s Herz, wie wenn er allein Schuld wä re und das Gewissen des Landes in sich tragen mü ßte.“207 – Im Bild des Baumes, das ü berhaupt zu den „allgemein-menschlichen Anschauungsformen von spontaner Evidenz“ 208 gehö rt, wie Alexander Demandt materialreich belegt, manifestiert sich die Verknü pfung von Natur und Erinnerung besonders anschaulich. Die Beobachtung des langsamen, aber stetigen Wachstums eines Baumes regt zur Extrapolation in Vergangenheit und Zukunft jenseits menschlicher Lebensspannen an: Wann keimte wohl der mä chtige Stamm, welche Zeitlä ufe sah der Baum kommen und gehen, wann wird der Setzling Schatten spenden? Mit dem Fä llen eines Baums reißt die Kontinuitä t von Vergangenheit und Gegenwart ab: „Was sich sonst dem Blick empfohlen, / Mit Jahrhunderten ist hin.“209 In Hö henwuchs, Jahresringen und Schichten zyklisch abgeworfenen Laubs legt jeder Baum seine ›Chronik‹ an – der Wald archiviert die eigene Historie. So verkö rpern Wald und Baum die lebendige, „sichtbar gewachsene Geschichte“210. Wä lder 205 206 207

208 209

210

66

Joseph von Eichendorff, Liebe in der Fremde, in: ders., Gedichte, S. 45. Johann Mayrhofer, In einer Waldgegend, in: ders., Gedichte, Wien 1824, S. 3. Gottfried Keller, Das verlorene Lachen, in: ders., Die Leute von Seldwyla. Erzählungen, Bd. 4, Stuttgart 21874, S. 103–258 (hier S. 148–150). Kellers Erzä hlung wurde am 2. November 1879 in der Villa Wahnfried gelesen: „[B]ei dem Fä llen der Eiche sind wir, R[ichard] und ich, ganz erschü ttert“, notiert Cosima Wagner im Tagebuch, CT II, S. 435f. (hier S. 436). Alexander Demandt, Der Baum, S. 38. … singt „Lynceus, der Thü rmer“ angesichts der Vernichtung der Lindenbä ume in Goethes Faust. Der Tragödie zweyter Theil in fünf Acten, Stuttgart 1832 (= Goethe’s nachgelassene Werke 1), S. 310. Alexander Demandt, Der Baum, S. 34; vgl. Helmut J. Schneider, The Tree, S. 100: „living past is represented by the trees and their roots“. Zum Wald „quale fonte della sua stessa storia“ siehe Luigi Zanzi, Per una storia ›naturale‹ dei rapporti culturali tra uomo e foresta nel mondo ›alpino‹, in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), L’uomo e la foresta secc. XIII–XVIII. Atti della ›Ventisettesima settimana di studi‹,

4. Landschaft als Kultur

lassen „latente Dimensionen von Zeit und Bewusststein zutage treten“; in ihnen materialisiert sich nicht nur eine „angesammelte Geschichte natü rlichen Wachstums“, sondern auch ein reiches „Reservat kultureller Erinnerung“ 211 . Fü r Robert P. Harrison stellen Wä lder „eine Art Korrelat oder Urszene fü r das poetische Gedä chtnis“ 212 dar, wie auch Simon Schama seine Abhandlung zu Landscape and Memory (1996) im Wald beginnen lä sst.213 Der Historiker Luigi Zanzi beschreibt die Erfahrung eines „eterno presente“, das sich tief im Waldesinneren einstelle – eine Art eigengesetzlicher, abgeschirmter „temporalità silvana“, die menschliches Ermessen ü bersteigt.214 Die mythische „Auffassung des Waldes als Jenseits- oder Totenreich“ 215 , ein hä ufiges Mä rchenmotiv, ä ußere sich gerade darin, dass die zeitliche Vergä nglichkeit als der wichtigste Faktor, dem menschliches Leben unterworfen ist, in ihm nicht wirksam ist: Dornrö schen altert nicht. Rousseau berichtet, er habe sich fü r die Ausarbeitung seines Discours sur l’inégalité (1755) tagelang „tief innen im Walde“ aufgehalten, weil er eben „dort das Bild der Urzeit“ gefunden habe, auf das er seine Ausfü hrungen stü tzen konnte.216 Vom Waldgang versprach er sich regressive Annä herung an einen vormaligen, als weniger degeneriert angenommenen Daseinszustand, wodurch die rä umliche Entfernung vom stä dtischen Wohnort auch mit historischer Distanzierung von der Gegenwart verknü pft ist. Wer sich nach Vergangenheit sehnt, geht in den Wald. – Die Antithese von ›ewigem‹ Wald und historischer (Zeit-)Welt erfreute sich zumal seit

211 212

213

214

215

216

Firenze 1996 (= Serie II – Atti delle ›Settimane di studi‹ e altri convegni 27), S. 1171–1217 (besonders S. 1180). Dementsprechend fordert der Waldforscher Oliver Rackham: „Woods are historical documents that should be read before somebody burns them.“, zitiert nach Laura Auricchio u.a., Introduction: invaluable trees, S. 14. Robert P. Harrison, Wälder, S. 10 und S. 82. Ebenda, S. 188; im „nostalgischen Blick zurü ck auf eine ferne und originä re historische Vergangenheit ragen Wä lder in der nachchristlichen Phantasie […] unü bersehbar auf.“ (ebenda, S. 187). Simon Schama, Landscape and Memory, New York 1996. Eine deutsche Ubersetzung erschien unter dem Titel Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination, Mü nchen 1996, hier S. 31ff. Zanzi nimmt an, eine Verschrä nkung von (zeitlicher) „memoria“ und (rä umlichem) „orientamento“ innerhalb des „spazio forestale“ sei „la fonte di quella intima connessione tra la ›selva‹ e i paesaggi della ›memoria‹ che ha sottilmente indotto ripetutamente i poeti ad evocare gli […] orizzonti della foresta come più propri ad ispirare, a quietare ed insieme esaltare le desideranti, melanconiche inclinazioni al ricordo del tempo passato, vissuto come un tempo ›originario‹.“, Luigi Zanzi, Per una storia ›naturale‹ dei rapporti culturali, S. 1208–1210. Marianne Stauffer, Der Wald, S. 26. Schneider nimmt an, dass im Zuge der Sä kularisation neue Strategien im Umgang mit dem Tod erforderlich wurden und die Natur dabei „some if its former mythical quality, ›enlightened‹ now to an aesthetic religion“, wiedererlangen konnte, Helmut J. Schneider, The Tree, S. 96. Vgl. hierzu auch die politische Diskussion der 1920er Jahre um einen ›Ehrenhain‹ fü r gefallene deutsche Soldaten, Susanne Ude-Koeller, Auf gebahnten Wegen, S. 160–162. Waldfriedhö fe und Bestattungswä lder erfreuen sich in den letzten Jahrzehnten zunehmender Beliebtheit; so unterhä lt etwa die Bundeswehr seit 2014 bei Potsdam einen ›Wald der Erinnerung‹ fü r Gefallene der Auslandseinsä tze. So der Bericht in seinen Confessions (Buch 8), hier zitiert nach Robert P. Harrison, Wälder, S. 157f. Zum Waldgang als Zeitreise zum ›ursprü nglichen Zustand‹ (Chateaubriand: „Liberté primitive, je te retrouve enfin!“) vgl. Yvon Le Scanff, Forêt verte et forêt noire: une polarité romantique, in: Vigor Caillet (Hg.), La forêt romantique. Actes d’un colloque sur le Romantisme, Maine-Giraud, 3–5 juin 2010, Pessac 2012 (= Eidô lon 103), S. 159–171 (hier S. 168f.).

67

I. Natur als Landschaft

der Romantik großer Beliebtheit. 217 Wie kaum ein anderes Landschaftselement stand Wald fü r historische Kontinuitä t und Zeitlosigkeit, fü r Vergangenheitsbezug (insbesondere zum Mittelalter, siehe Kapitel IV) und „Epochenverschleppung“218. Aus forstwirtschaftlicher Sicht bezeugen Waldbä ume einen ›Generationenvertrag‹, demgemä ß nur selten der Pflanzende und Hegende auch der Erntende sein wird. Schon die vergleichsweise schnellwü chsige Fichte braucht 80 bis 120 Jahre, um Schlagreife zu erreichen. In einem Gedicht Aus dem Walde (1848) lä sst Emanuel Geibel einen alten Fö rster erklä ren: Denn es gilt ein ewig Recht Wo die hohen Wipfel rauschen; Von Geschlechte zu Geschlecht Geht im Wald ein heilig Tauschen. […] Drum im Forst auf meinem Stand Ist mir’s oft, als bö t’ ich linde Meinem Ahnherrn diese Hand, Jene meinem Kindeskinde.219

Die historische Bedeutungsaufladung schlä gt sich sogleich auch in der akustischen Wahrnehmung nieder: „Aber in den Wipfeln ging’s / Wie ein Gruß aus alten Zeiten.“220

4.3. Rü ckwirkungen: Der „Stempel der Bearbeitung“ Gilt auch die „gesamte wahrnehmbare Welt […] ihrem Subjekt als Inbegriff von Faktizitä ten“ und „etwas an sich Vorhandenes“, so ist sie nach Max Horkheimer doch „ebensosehr Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis“ und trä gt allenthalben den „Stempel der Bearbeitung“ an sich.221 Was uns die Sinne zufü hren, ist somit „in doppelter Weise gesellschaftlich prä formiert“, nä mlich nicht nur durch die Historizitä t des ›landschaftlichen Auges‹, sondern selbstverstä ndlich auch „durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes“ selbst. Bestimmte Landschaftsvorstellungen und -ideale ›realisieren‹ sich etwa in der Wahl des Siedlungsplatzes, der Anlage des Wegenetzes und den gestaltenden Maß-

217

218

219 220 221

68

Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 117. So wird etwa bei Eichendorff „[d]er Zeitgeist […] fast stets antithetisch zum Wald bestimmt“, Alexander von Bormann, Natura loquitur, S. 118 (Fußnote 18). Zur Koppelung von Jugend und Waldnatur bei Eichendorff („Waldesrauschen meiner Kindheit“) siehe Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 52 (Fußnote 65). Clemens Escher, „Deutschland, Deutschland, du mein Alles!“. Die Deutschen auf der Suche nach einer neuen Hymne 1949–1952, Paderborn 2017, S. 239–242 (hier S. 240). Emanuel Geibel, Aus dem Walde, in: ders., Juniuslieder, Stuttgart 1848, S. 66–68 (hier S. 67). Ebenda, S. 68. Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie (1937), in: ders., Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt am Main 61975, S. 12–56 (hier S. 21f.).

4. Landschaft als Kultur

nahmen der Land- und Forstwirtschaft: „Landscapes are formed by landscape tastes.“222 Die gesamte sinnliche Welt, die ein „Mitglied der industriellen Gesellschaft tä glich um sich sieht, […] trä gt die Zü ge der bewußten Arbeit an sich, und die Scheidung, was davon der unbewußten Natur, was der gesellschaftlichen Praxis angehö rt, ist real nicht durchzufü hren.“ Selbst dort, wo es sich um die Erfahrung natü rlicher Gegenstä nde als solcher handelt, ist deren Natü rlichkeit durch den Kontrast zur gesellschaftlichen Welt bestimmt und insoweit von ihr abhä ngig.223

Dies gilt freilich auch fü r den „Wald als unzweifelhafteste Manifestation der Natur“224, obwohl oder gerade weil eben dieser gerne fü r den Inbegriff der vom Menschen unbeeinflussten, a priori und unwandelbar gegebenen Natur gehalten wurde und wird. Der ›ewige Wald‹ ist ein Mythos: Tatsä chlich sind Wä lder seit jeher im Wandel begriffen und zumal in Mitteleuropa seit Jahrtausenden „Teil der Kultur“, wie Hansjö rg Kü ster in seiner Geschichte des Waldes darlegt. Ja, gerade ein annä hernd „konstantes Aussehen von Wald ist nur durch die Einwirkung oder Kultur des Menschen zu erreichen.“225 Mit dem Ubergang zur ackerbaulichen Wirtschafts- und Lebensform brach in Europa die „Holzzeit“ an: Holz wurde seitdem nicht nur als universell brauchbarer Rohstoff geerntet, sondern auch, um Flä chen fü r den Feldbau zu rä umen. Auch die Weidehaltung von Rindern, Schweinen, Schafen und Ziegen trug ü ber Jahrhunderte hinweg zur Lichtung der Wä lder bei. Im Laufe der Zeit bildete sich so die kompartimentierte Kulturlandschaft mit ihren typischen, scharf gezogenen Grenzen zwischen Wald und Offenland heraus. Die regelmä ßige Verlagerung der Siedlungs- und Wirtschaftsflä chen, wie sie teilweise noch bis ins Mittelalter praktiziert wurde, begü nstigte Baumarten wie Rotbuche, Fichte und Hainbuche, die sich in Sekundä rsukzession auf den aufgelassenen Freiflä chen ausbreiten konnten. Den großen 222

223

224

225

David Lowenthal, Hugh C. Prince, English Landscape Tastes, in: Geographical Review 55 (1965), Nr. 2, S. 186–222 (hier S. 186). Vgl. Gerhard Hard, Die ›Landschaft‹ der Sprache, S. 15. Bei der Entstehung von Landschaft fungiert der Mensch also zugleich als „Kultivateur“ und als „Kompositeur“: „Das Bild von der Natur ist nicht nur Fiktion, sondern auch Ansicht und Gestaltung von Realitä t.“, Utz Jeggle, Landschaft, S. 10 und 27. So weist Riehl darauf hin, dass man im 18. Jahrhundert noch „[z]ahllose Lustschlö sser […] in kahle, langweilige Ebenen“ baute, in der festen Uberzeugung, „ihnen dadurch die mö glich schö nste Lage gegeben zu haben.“, Wilhelm Heinrich Riehl, Das landschaftliche Auge, S. 57. Nachhaltig geprä gt wurde das ä ußere Bild der Landschaft in Deutschland nicht zuletzt durch die Erschließungsarbeiten der zahlreichen Heimat-, Wander- und Naturschutzvereine, die vor allem gegen Ende 19. Jahrhunderts gegrü ndet wurden. Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, S. 23; vgl. Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 12: „Niemand kann […] der Natur grundsä tzlich anders begegnen als der Gesellschaft“. Detlev Arens, Zwischen Waldnutzung und Waldanschauung. Von deutscher Forstwissenschaft und Waldromantik, in: Ursula Breymayer, Bernd Ulrich (Hg.), Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, Dresden 2011, S. 54–65 (hier S. 61). Bei einer Befragung von mehr als 100 Probanden, die Hard im Rahmen seiner Studie durchfü hrte, wurde auf die Frage, welches „Requisit“ zur „Mindestausstattung“ einer Landschaft gehö re, mit deutlichem Abstand am hä ufigsten „Wald“ genannt, Gerhard Hard, Die ›Landschaft‹ der Sprache, S. 79–83. Hansjö rg Kü ster, Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, Mü nchen 32013, S. 7.

69

I. Natur als Landschaft

Buchenwä ldern, die heute als besonders charakteristisch fü r die Landschaft Europas und Deutschlands gelten, wurde durch menschliche Rodungs- und Siedlungstä tigkeit im wahrsten Sinne der Boden bereitet.226 Wie Kü ster erklä rt, waren selbst die schrecklichen ›Urwä lder‹, von denen Tacitus gegen Ende des ersten Jahrhunderts in seiner Germania schreibt, bereits „Natur aus zweiter Hand“ 227 . Und doch fungierte die knappe Schilderung des Tacitus als ein „wesentlicher Antrieb dafü r, seit dem 18. Jahrhundert durch Aufforstung kü nstliche Wä lder zu begrü nden“, mit dem erklä rten Ziel, „einen alten Zustand der ›Natur‹ wiederherzustellen, wofü r man eine Begrü ndung aus historischer Sicht beizusteuern trachtete.“ 228 Ein literarisch abstrahiertes Idealbild, das man einer ethnographischen Schrift der Antike entnahm, wurde de facto zum „Referenzpunkt“ der gegenwä rtigen Natur – und zwar nicht nur fü r ihre Wahrnehmung, sondern letztlich auch fü r ihre aktive Gestaltung.229 Das blü hende Eigenleben, das die verschiedensten kulturell vermittelten Waldbilder in den Kö pfen der Zeitgenossen entwickelten, gewahrten Naturwissenschaftler und Forstpraktiker des 19. Jahrhunderts mit zwiespä ltigen Gefü hlen. So erö ffnet etwa der Botaniker Matthias Jacob Schleiden seine „Schutzschrift“ Für Baum und Wald (1870) mit den Worten: Wald und Waldesgrü n, Waldesschatten und Waldeinsamkeit! Wer schwä rmt nicht dafü r? Und doch mö chten wir behaupten, daß es noch nicht gar zu viele Menschen giebt, die aus eigner Anschauung wissen, wie ein wirklicher Wald aussieht, was er ist, welchen Eindruck er macht.230

Wiewohl die forstliche Zunft im Allgemeinen von der zunehmenden Waldbegeisterung profitieren konnte, sah sie sich doch mitunter auch in ihrer fachlichen Deutungshoheit bedrä ngt. So beklagt etwa der ›forstliche Klassiker‹ Wilhelm Pfeil 226

227 228

229

230

70

Hansjö rg Kü ster, Geschichte des Waldes, S. 87–93. Vgl. zusammenfassend auch vom selben Autor Zähmung und Domestizierung – Von der Wildnis zur Kulturlandschaft, in: Josef Heringer, Martin Held (Hg.), Schön wild sollte es sein … Wertschätzung und ökonomische Bedeutung von Wildnis, Laufen/Salzach 1999 (= Laufener Seminarbeiträ ge 99,2), S. 35–41 (hier S. 36–38). Die ›Alten Buchenwä lder Deutschlands‹ wurden 2011, ergä nzend zu den ›Buchenwä ldern der Karpaten‹, in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen. Hansjö rg Kü ster, Geschichte des Waldes, S. 100. Ebenda, S. 99. Siehe beispielsweise die Berufung auf Tacitus bei Karl August Scheidt, Kurze Betrachtungen über einige Ursachen des allgemein werdenden Holzmangels in Deutschland und über die Mittel demselben abzuhelfen, in: Abhandlungen der Churfürstlich-baierischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 9: Philosophische Stücke, Mü nchen 1775, S. 121–151 (hier S. 123–125). Vgl. hierzu Divya P. Tolia-Kelly, Landscape and memory, in: Peter Howard u.a. (Hg.), The Routledge Companion to Landscape Studies, London 2013, S. 322–334 (hier S. 323). Darlegen lä sst sich die Funktionalitä t dieses Prozesses auch anhand des „Mythos vom deutschen Laubwald“, siehe Susanne UdeKoeller, Auf gebahnten Wegen, S. 141. Das „phantastische Muster“ eines ›deutschen Waldes‹ lieferte „den Bauplan fü r die Wä lder, die durchs 19. Jahrhundert hindurch zunehmend von Geschichts-, Naturschutzvereinen und Heimatbü nden ins Werk gesetzt wurde.“, Erhard Schü tz, Dichter Wald, in: Ursula Breymayer, Bernd Ulrich (Hg.), Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, Dresden 2011, S. 107–117 (hier S. 112). M[atthias] J[acob] Schleiden, Für Baum und Wald. Eine Schutzschrift an Fachmänner und Laien gerichtet, Leipzig 1870, S. 1.

4. Landschaft als Kultur

im Jahr 1816 das – volkswirtschaftlich betrachtet – ganz irrationale Eichen-Faible der deutschen Patrioten. 231 Ja, die Eichenwä lder seien „fü r viele der Talisman, an dessen Existenz die Existenz des deutschen Volkes geknü pft scheint: um seine politische Auferstehung zu feiern, pflanzt man eine Eiche, diesen edeln deutschen Baum!“ Pfeil fragt sich, wie „wohl eigentlich die Eiche zu dieser ungemeinen Reputation gekommen“ sei: Durch ihre Nutzbarkeit? – Die kö nnen viele, welche ü ber die deutschen Eichenwä lder reden, gar nicht beurtheilen, und sie ist gar nicht so groß, als man in der Regel glaubt, am wenigsten ist sie aber unentbehrlich. […] Es scheint, daß ursprü nglich die Eiche dadurch ihren Ruf erhalten hat, daß wir wissen, unser Vaterland war frü her mit Eichenwä ldern bedeckt; unsere Vä ter aßen vor 1800 Jahren Eicheln; die Eiche ist ein Baum der Deutschland eigenthü mlich zugehö rt, ein Attribut unseres Vaterlandes, ein Baum, dem von unseren Vorfahren eine Art von Anbetung erwiesen wurde; ein Eichenzweig der Lorbeer unserer Barden, unserer Helden.232

Es sind demnach ideale Faktoren, literarisch und kü nstlerisch vermittelte Imaginationen eines „mit Eichenwä ldern bedeckt[en]“ Deutschlands der Vergangenheit, welche die gegenwä rtige Wahrnehmung, aber auch Gestaltung der Landschaft beeinflussen. – Im Wald stehen sich Mitte des 19. Jahrhunderts „die Vertheidiger der extremsten Ansichten und Strebungen gegenü ber“, wie es in einem Zeitschriftenartikel von 1854 heißt: Auf der einen Seite die „kurzsichtigen Bodenausnü tzer um jeden Preis“, auf der anderen die „ebenso leidenschaftlichen Urwald-Verehrer“, und „selbst politische Steckenpferde, modern socialistische, wie romantisch mittelalterliche, werden abwechselnd auf Kosten der Wä lder und Felder geritten.“233 Wissenschaftliche Argumentation und romantische Waldutopie sind im forstlichen Schrifttum des 19. Jahrhunderts oft eng miteinander verflochten.234 Besonders die Verfechter der 1858 von Max Pressler begrü ndeten ›Bodenreinertragslehre‹, die eine maximale Verzinsung des Bodenkapitals durch ›rationelle‹ Forstwirtschaft anstrebten und dafü r den Anbau von Fichte und Kiefer in Reinbestä nden propagierten, sahen sich durch die umgreifende ›Idealisierung‹ des Waldes in die Defensive gedrä ngt. Mit einer unwirschen Rechtfertigung und polemischer Kritik an den kursierenden „Phantasiegebilden“ erö ffnet zum Beispiel eine 1879 vorgestellte Studie ü ber den Wald im nationalen Wirthschaftsleben von Philipp Geyer: Der Volkswirth hat lediglich nach den Thatsachen, nach der realen Wirklichkeit, nach den Ergebnissen der Wissenschaft zu urtheilen, nicht nach Phantasiegebilden. Die reale Wirklichkeit spricht aber keineswegs in 231 232 233

234

Siehe hierzu Kapitel VI.3. Wilhelm Pfeil, Ueber die Ursachen des schlechten Zustandes der Forsten, S. 204f. [Redaktion], Die Böhmische Forstkultur der Jetztzeit und ihr Verhalten zur Landwirthschaft, in: Centralblatt fü r die gesammte Landeskultur [Bö hmen] 5 (1854), Nr. 52, S. 416. „Il parait alors bien difficile de dissocier dans les é crits des forestiers les arguments scientifiques des descriptions romantiques et imaginaires.“, Guillaume Decocq u.a., La Forêt salvatrice, S. 76.

71

I. Natur als Landschaft

so ü berschwenglicher Weise fü r den Wald, dass man Gefahr liefe, darü ber in poetische Exstase zu verfallen. Denn der Wald ernä hrt, wie jeder Jä ger weiss, nicht einmal das Wild. Noch viel weniger hat er jemals ein menschenwü rdiges Dasein geschaffen. Die Forstwirthe vom Fach hö ren es zwar nicht besonders gerne, wenn man sagt, dass der Wald ü berhaupt und seine gegenwä rtige Bewirthschaftung insbesondere viel eher als Quelle der nationalen Armuth, denn als Quelle des nationalen Reichthums betrachtet werden mü sse.235

Ein ineffizient bewirtschafteter Forst, der das avisierte Renditeziel verfehlt, verbraucht unter dieser Perspektive nur unnö tig Platz, das heißt Bodenkapital. Der harsche Tonfall verrä t die Intensitä t der Interessenkonflikte: Es galt, in fortwä hrender Auseinandersetzung den waldigen Grenzverlauf zwischen der „realen Wirklichkeit“ und den „Phantasiegebilden“, zwischen Forstwirtschaft und Waldromantik auszuhandeln.

4.4. „Buch und Hain“ Du wirst einiges mehr in den Wä ldern finden als in den Bü chern. Holz und Steine werden dich lehren, was Du bei den Lehrern nicht hö ren kannst. Bernhard von Clairvaux236 Auch ich liebte es, hinauszuschweifen, in Wä ldern mich zu bergen, auf Anhö hen mich wiederzufinden. Keine Schule lehrte mich, was ich dort mir bildete. Richard Wagner237

Ein erneuter, kurzer Rekurs zu Petrarca: Seine ›Gipfellektü re‹ der augustinischen Confessiones stellt nicht das einzige literarische Moment seiner Bergbesteigung dar. Auch seine ersten Landschaftseindrü cke auf dem Mont Ventoux vermag er anhand von literarisch angeeignetem Vorwissen einzuordnen und zu bewerten. Was er ü ber die Berge Athos und Olymp gelesen und gehö rt habe, scheine ihm angesichts seiner eigenen Bergerfahrung nun „weniger unglaublich“, schreibt er. 238 Ja, letztlich verdankt sich die ganze Unternehmung einem literarischen Auslö ser: Petrarca fü hrt die Lektü re eines Berichts des Livius ü ber die Besteigung des Berges Hä mon durch 235

236

237

238

72

Ph[ilipp] Geyer, Der Wald im nationalen Wirthschaftsleben. Eine Studie aus deutscher Staats- und Volkswirthschaft, Leipzig 1879, S. VI. Ratschlag an den Magister Henry Murdac, zitiert nach Adriaan H. Bredero, Bernhard von Clairvaux. Zwischen Kult und Historie, Stuttgart 1996, S. 113. Richard Wagner an Ludwig II. von Bayern, undatierter Brief [Juli 1865], in: Br Ludwig, Bd. 1, Nr. 114, S. 129–132 (hier S. 129). „iamque michi minus incredibiles facti sunt Athos et Olimpus, dum quod de illis audieram et legeram, in minoris fame monte conspicio.“, Francesco Petrarca, Familiarum rerum libri, IV,1,[16].

4. Landschaft als Kultur

Philipp von Makedonien als Anstoß und Rechtfertigung seiner eigenen Bergbesteigung an. 239 – Es erweist sich, dass Petrarca die gesamte Besteigung des Mont Ventoux „im Spannungsfeld von Landschaft und Literatur“240 erlebt und schildert. Dieses Spannungsfeld von Kultur und Natur, Idealitä t und Realitä t, Erwartung und Erfü llung blieb fü r die gesamte neuzeitliche Landschaftserfahrung von grundlegender Bedeutung und entfaltete seit dem 18. Jahrhundert, als sowohl das Lesen als auch der Ausflug ›ins Freie‹ weiteren Bevö lkerungskreisen zugä nglich wurden, eine eminente wahrnehmungsleitende Wirkung. Dem Bildungsgedanken verpflichtet, galt zumal in der Frü hzeit des modernen bü rgerlichen Tourismus die intensive Lektü re einschlä giger Literatur als unabdingbare Voraussetzung einer „nutzbaren Reise“. 241 Und so erschien dann beispielsweise dem humanistisch gebildeten Besucher Italiens „die Wirklichkeit selbst […] hier im hö heren Glanze der Dichtung“242, wie Carl Ludwig Fernow im Jahr 1806 schwä rmt. In einer Studie zur Reiseliteratur der Goethezeit legt Petra Raymond anhand zahlreicher Belege dar, dass Literatur den Touristen als „Erlebnisfolie“ diente, durch welche sie die Landschaft gefiltert „in einer Art von Wiedererkennen“ wahrnehmen konnten. So geriet gerade der frü he Alpentourismus mitunter „zu einer Art literarischer Spurensuche“: Die (vermeintlichen) Handlungsorte von Rousseaus Briefroman Nouvelle Héloïse (1761) entfalteten enorme Anziehungs- und Suggestivkraft.243 Besucher Schottlands hingegen konnte sich „auf dem classischen Boden der Ossianischen Lieder“ 244 wä hnen, oder spä ter auch die Romanschauplä tze Walter Scotts (1771–1832) besichtigen. Die „lektü rebedingte Erfahrungsnormierung“ begü nstigte die Kanonisierung einer begrenzten Zahl touristischer Orte, deren Sehenswü rdigkeit vielfach schriftlich verbü rgt war und fü hrte weiterhin dazu, dass sich in „der sprachlichen Formung des Naturerlebnisses […] zunehmend feste Schemata heraus-

239

240

241

242

243 244

Und wenn sich schon ein alter Kö nig zu solchem Abenteuer hinreißen lasse, dann dü rfe man es wohl einem jungen ›Privatmann‹ wie ihm auch nicht verü beln („Ceterum, ut illo omisso, ad hunc montem veniam, excusabile visum est in iuvene privato quod in rege sene non carpitur.“), ebenda, IV,1,[3]. Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, Berlin 1970, S. 19–29 (hier S. 25); außerdem Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 118. Wer die weite Welt sehen will, muss sich zunä chst „gelehrte[r] Vorbereitung“ unterziehen, denn eine ungenü gend vorbereitete Reise „lä ßt den Kopf leer, schadet dem Geiste und Kö rper, und hat kein anderes Verdienst, als viel Post gefahren zu seyn“, mahnt das Lemma ›Reise‹, in: Johann Georg Krü nitz (Hg.), Ökonomisch-technologische Encyklopädie, Bd. 122 (1813), hier S. 148. Siehe hierzu auch Richards’ Charakterisierung der „picturesque“-Asthetik als „the visual and verbal language of the new tourism, presenting nature as culture, culture as nature“, Annette Richards, The free fantasia, S. 101. Carl Ludwig Fernow, Über die Landschaftsmalerei, in: ders., Römische Studien, Bd. 2, hier S. 47f. Vgl. hierzu Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 212. Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 89–111 (hier S. 89f.). Emilie Harmes [= Emilie von Berlepsch], Caledonia, Hamburg 1802, S. 55. Zur Ossian-Rezeption, die im deutschsprachigen Raum ab Mitte der 1760er Jahre einsetzte, siehe Daniel Ternois, Zur Wirkung der Gedichte Ossians, in: Werner Hofmann (Hg.), Ossian und die Kunst um 1800, Mü nchen 1974, S. 37– 41, sowie die chronologische Dokumentation ebenda, S. 11–36; ferner Eberhard Roters, Jenseits von Arkadien, S. 7–25. Der ersten Generation der Schottlandreisenden dienten noch die Schriften William Gilpins „als ä sthetischer Ratgeber fü r die korrekte Landschaftswahrnehmung“, Barbara Schaff, „A scene so rude, so wild as this, yet so sublime in barenness“: Ein neuer Blick auf Schottland in der Reiseliteratur der Romantik, in: Thomas Noll u.a. (Hg.), Landschaft um 1800, S. 207–226 (hier S. 212).

73

I. Natur als Landschaft

[bildeten], die die Begegnung mit der Landschaft prä gten und sich in den Reisebeschreibungen verknü pften und verdichteten.“245 Der etablierte Bildkanon der Landschaftstypen, dessen Bekanntheit in weiten Kreisen vorausgesetzt werden konnte, stellte ein „allgemeinverstä ndliches Reservoir literarischer Ausdrucksmittel“246 bereit. Im Zuge der Kanonisierung flossen einzelne Naturszenen zu abstrahierten Landschaftstypen zusammen, an denen sich der jeweils konkret vorgefundene Naturausschnitt messen musste.247 Raymond beobachtet, dass sich die Schweizreisenden mit dieser „literarischen Uberformung des Erlebens […] den direkten, ungebrochenen Zugang zu einem individuellen, nicht von der Literatur vermittelten Landschaftserlebnis“ mehr oder weniger verstellten.248 Von einem konkreten geographischen Ort abstrahiert, ließ sich die literarische ›Erlebnisfolie‹ leicht auf mehr oder weniger ä hnliche Landschaftstypen ü bertragen. Gerade bei Waldlandschaften, die untereinander (zumal bei ä sthetischer, nicht forstkundlicher Betrachtung) ein hohes Maß an charakteristischer Ahnlichkeit aufweisen, fä llt solch ›semantischer‹ Austausch leicht; und so meint dann beispielsweise der Theologe Leonhard Meister (1741–1811) bei einem Spaziergang durch Schweizer Gebirgswä lder „gegen ü ber auf dem benachbarten Gebü rge […] im Wettkampfe Ossians Geister zu sehen, oder am Fuße der Fichten, wo ich ruhte, den Gesang des verklä rten Barden zu hö ren“249. Man musste nicht nach Schottland reisen, um sich in die Welt des Ossian zu versetzen – ein Spaziergang zum nä chstgelegenen Fichtenwald konnte ausreichen. Welch entscheidende Rolle literarisches ›Vorwissen‹ insbesondere bei der Wahrnehmung derjenigen Landschaften spielte, die man mit seit dem 18. Jahrhundert mit dem Adjektiv ›romantisch‹ belegte, lä sst sich leicht erproben, indem man den Begriff – etwa im Sinne des frü heren Gebrauchs durch Friedrich Schlegel – durch ›romanhaft‹ austauscht: Eine romantische Landschaft wä re demnach eine, die an die typischen Schilderungen eines Romans erinnert. Wie Raymond resü miert, wurde das Attribut ›romantisch‹ zum wirkungsä sthetischen „Mittler zwischen der Umgebung und der Stimmung des Betrachters, die wiederum von der Literatur beeinflußt sein 245

246 247

248 249

74

Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 111 und S. 119f. Die Auswü chse solcher Verfestigung parodiert Eichendorff in einer Episode von Ahnung und Gegenwart: Einem aufdringlichen Naturschwä rmer, der wortreich von „des Eichwalds heiligen Schatten“ und der „Orgel des Weltbaues“ fabuliert, fä llt wä hrend des Redens ein Buch (Schillers Don Karlos) aus der Tasche, worauf Leontin spö ttisch anmerkt, er verliere die Noten, nach denen er seinen Sermon „aborgelt“; seine Empfehlung: „Macht doch die Augen fest zu in der Musik und im Sausen des Waldes, daß ihr die ganze Welt vergeßt und Euch vor allem!“, Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart. Ein Roman, Nü rnberg 1815, S. 281. Zum Imaginationshemmnis der „eingeschliffenen Assoziationsketten“ siehe auch Eckhard Lobsien, Landschaft als Zeichen, S. 164f. Dem entspricht auch die Beobachtung Ude-Koellers, wonach der Harztourismus des spä ten 19. Jahrhunderts die „von der Literatur und Malerei verbreitete Vorstellung vom Harz als einer typisch romantischen Landschaft“ voraussetzte, Susanne Ude-Koeller, Auf gebahnten Wegen, S. 49–56. Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 275. Ebenda, S. 182–184 (hier S. 182). So entstanden etwa gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Transferbezeichnungen ›Sä chsische Schweiz‹ und ›Frä nkische Schweiz‹. Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 92. Leonhard Meister, Kleine Bergreise auf den Rigi, in: ders., Fliegende Blätter / größtentheils historischen und politischen Innhalts, Basel 1783, hier S. 7.

4. Landschaft als Kultur

konnte, d.h. auf eine Formel gebracht: Romantische Empfindungen konnte man am besten in romantischer Landschaft bei romantischer Lektü re erlangen.“250 Grö ßte Wirkung wurde dabei der Lektü re ›an Ort und Stelle‹ zugeschrieben. Barbara Schaff stellt fest, dass sich das „reading on the spot“ als synä sthetische Erfahrung von Landschaft und Literatur mit Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer dominanten Rezeptionskonvention entwickelte. 251 Ein zeitgenö ssischer Ratgeber ü ber Die Kunst spatzieren zu gehen (1802) sah sich gar zu der Warnung veranlasst, man wü rde leicht die „Natureindrü cke“ verpassen, wenn man „gehend liest“.252 Hatte bereits Johann Gottfried Herder erklä rt, man mü sse sich „aus dem Lehnstuhl des Gelehrten und vom weichen Sopha der Gesellschaften“ erheben, um inmitten der „lebenden und webenden Natur, […] die Lieder und Thaten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfü llet, an den Orten, da sie geschahen“253, die Dichtung des Ossian empfindsam nachvollziehen zu kö nnen, so kam 1789 auch Wilhelm von Humboldt, tief beeindruckt von der Hö hle am Schweizer Beatenberg, zu der Auffassung, dass wirkliches Verstä ndnis eines Kunstwerks nur erlangen kö nne, wer sich selbst an den Ort der Entstehung begebe, da „[a]n den mythen der vö lker […] die natur ihrer wohnsize [sic] unverkennbar“254 sei. Die interessierte Hinwendung zu den Liedern, Mä rchen und Sagen der „vö lker“ weckte das Bedü rfnis, den (›klimatischen‹255) Eindrü cken der jeweils prä genden ›Ursprungslandschaft‹ selbst

250 251

252 253

254

255

Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 52 und S. 103. Barbara Schaff, „A scene so rude“, S. 217. Zeitgenö ssische Reisefü hrer erfü llten diese Konvention, indem sie die fü r den jeweiligen Ort wichtigsten „Lieferanten erlebnisrelevanter Empfindungen“ zitierten. Eine Parodie dieser geradezu ›philologischen‹ Kontextualisierung des Landschaftserlebnisses flicht Heine in seine Harzreise ein: Aus der Bewunderung eines Sonnenuntergangs auf dem Brocken wird er durch die floskelhafte Bemerkung eines Nebenstehenden zurü ck in seine „Werkeltagsstimmung“ gerissen. Eine Dame weist ihn schließlich bezü glich des Sonnenuntergangs noch auf „eine Stelle aus Goethes Reisebriefen“ hin und fragt ihn, ob er den Werther gelesen habe. „Ich glaube, wir sprachen auch von Angorakatzen, etruskischen Vasen, tü rkischen Schals, Makkaroni und Lord Byron, aus dessen Gedichten die ä ltere Dame einige Sonnenuntergangsstellen, recht hü bsch lispelnd und seufzend, rezitierte.“, Heinrich Heine, Die Harzreise. 1824, in: ders., Reisebilder, Bd. 1, Hamburg 1826, hier S. 210–212. Vgl. zu dieser Szene Friederike Reents, Stimmungsästhetik, S. 209–211. Karl Gottlob Schelle, Die Spatziergänge oder die Kunst spatzieren zu gehen, Leipzig 1802, S. 153f. [Johann Gottfried Herder], Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker, in: [ders.] (Hg.), Von Deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter, Hamburg 1773, S. 1–70 (hier S. 18– 20). „In solchen gegenden, den schö nsten werken der natur nah, fern von allem machwerk der kunst, wü rde man erst Homer, und Ossian verstehn.“, Tagebucheintrag vom 25. Oktober 1789, zitiert nach Albert Leitzmann (Hg.), Wilhelm von Humboldts Tagebücher, Bd. 1, Berlin 1916 (= Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften 14), S. 205–209 (hier S. 207). Zur ›klimatheoretischen‹ Begrü ndung nationalkultureller Differenzen im 18. und 19. Jahrhundert siehe das Kapitel VI.6.

75

I. Natur als Landschaft

nachzuspü ren und beeinflusste dadurch in erheblichem Maße deren Wahrnehmung.256 Abstrahiert leitet Richard Wagner daraus in Oper und Drama den poetologischen Imperativ ab, sich selbst auf die „Waldwiese“ zu begeben, um das dort florierende „Volkslied“ vö llig erfassen zu kö nnen.257 Schon als Kind sei er „mit dem Shakespeare in’s Wä ldchen von Blasewitz gegangen […], um weiter zu lesen“, und habe dort „alles dä monisch phantastisch aufgefaßt“, berichtet Wagner.258 Um sich spä terhin in die Lektü re antiker Schriftsteller zu versenken, habe er sich „tief in ein dichtes Gebü sch“ des sommerlichen Gartens zurü ckgezogen, wo er sich „wie mit fü hlbarer Wirklichkeit in Athen […] heimischer empfand als in irgendeinem Lebensverhä ltnisse der modernen Welt.“259 Anfang Juli 1845 reiste er mit seiner Frau zum Sommerurlaub nach Marienbad, auf den „vulkanischen Boden dieses merkwü rdigen und fü r mich immer anregenden Bö hmen“260. Minna und er hä tten sich wä hrend des fü nfwö chigen Aufenthalts „von Bekanntschaften […] so fern wie mö glich gehalten“, seien „dafü r aber nicht viel aus Wä ldern u. Bergen herausgekommen“261, berichtet er seinem Bruder. In der Autobiographie schreibt Wagner: Sorgsam hatte ich mir die Lektü re hierzu mitgenommen: die Gedichte Wolfram von Eschenbachs in den Bearbeitungen von Simrock und San Marte, damit im Zusammenhange das anonyme Epos vom ›Lohengrin‹ mit der großen Einleitung von Görres. Mit dem Buche unter dem Arm vergrub ich mich in die nahen Waldungen, um am Bache gelagert mit Titurel und Parzival in dem fremdartigen und doch so innig traulichen Gedichte Wolframs mich zu unterhalten.262

Wagner begibt sich hier, in doppeltem Sinne, ›zu den Quellen‹. Nicht im Komfortbereich der stä dtischen Kuranlagen, sondern in der zivilisatorischen Ubergangszone

256

257 258 259 260 261 262

76

Vgl. hierzu Rudolf Walbiner, Nachwort, in: ders. (Hg.), Reisebriefe deutscher Romantiker, S. 445–476 (hier S. 461). Indes blieb die gesteigerte Eindrü cklichkeit der in-situ-Rezeption nicht der vermeintlich naturwü chsigen ›Volksdichtung‹ vorbehalten, sondern wurde auch zeitgenö ssischen Werken angediehen. Joseph von Eichendorff etwa erinnert sich seiner „Morgenspaziergä nge auf den gibichensteiner Felsen mit Sternbalds Wanderungen v. Tie[c]k“ (Tagebucheintrag vom 13. August 1805), und als er spä ter die Stadt Nü rnberg besuchte und „ü ber diesen (auch durch Tie[c]ks Sternbald) klaßischen Boden“ schritt, da war ihm, „als mü ßte ü berall ein Ritter mit wehendem Helmbusch die Straße herabgesprengt kommen.“ (Tagebucheintrag vom 15. Mai 1807), zitiert nach Ansgar Hillach (Hg.), Joseph von Eichendorff: Werke, Bd. 4, S. 484f. und S. 578. Siehe hierzu Kapitel VIII.2. Tagebucheintrag Cosimas vom 15. Juni 1874, CT I, S. 828f. (hier S. 828). Martin Gregor-Dellin (Hg.), Richard Wagner: Mein Leben, Mü nchen 1963, S. 356. Richard Wagner, Mein Leben, S. 315. Richard Wagner an Albert Wagner, Brief vom 4. August 1845, in: SBr 2, Nr. 168, hier S. 446. Richard Wagner, Mein Leben, S. 315. „San-Marte“ ist das Pseudonym des Juristen und Literaturhistorikers Albert Schulz, der unter anderem das zweibä ndige Leben und Dichten Wolfram’s von Eschenbach (1836/41) verö ffentlichte. Zu Wagners Lektü re mittelalterlicher Literatur siehe weiterhin Stewart Spencer, Wagners Mittelalterbild, in: Barry Millington (Hg.), Das Wagner-Kompendium. Sein Leben – seine Musik, Mü nchen 1996, S. 174–177 und den Uberblick bei Danielle Buschinger, Das Mittelalter Richard Wagners, Wü rzburg 2007, S. 19f.

4. Landschaft als Kultur

der „nahen Waldungen“, in bukolisch-romantischer Pose „am Bache gelagert“, verortet er seine Hinwendung zum ›Ursprü nglichen‹. In dieser zeitlosen Naturidylle versteht er es, sich intim „mit Titurel und Parzival […] zu unterhalten“. Gemä ß der Paradoxie romantischer ›Natursprachlichkeit‹ macht die alte Literatur einen „fremdartigen und doch so innig traulichen“ Eindruck auf ihn. Bald regte aber die Sehnsucht nach eigener Gestaltung des von mir Erschauten sich so stark, daß ich, vor jeder aufregenden Arbeit wä hrend des Genusses des Marienbader Brunnens gewarnt, Mü he hatte, meinen Drang zu bekä mpfen.263

Mit der autobiographischen Inszenierung seines kreativen Waldgangs folgt Wagner einerseits der bis in die Antike zurü ckreichenden „Tradition des Waldes als idealen Dichterort“264; zugleich vollzieht er, insofern der Wald als ›klassischer Boden‹ des Mittelalters gelten kann265, eine Lektü re in situ, ausgezeichnet durch gesteigerte Intensitä t. – Dagmar Ottman erfasst die allgemeine kulturgeschichtliche Tendenz: „Die Ausrichtung auf ein heldisch verklä rtes Mittelalter ließ die deutschen Romantiker in die Wä lder ziehen“266. Wer den Wald betritt, erfä hrt einen morphologisch von der Umgebung abgeschirmten Raum, in dem sich, veranschaulicht durch die ›ü bermenschliche‹ Grö ße der Bä ume und das Wissen um ihren langsamen Wuchs, natü rlicher Vergangenheitsbezug manifestiert. Diese beiden Faktoren bilden die elementarste Grundlage dafü r, dass Wald wie kaum eine andere Landschaftsform mit der Mö glichkeit des Eintauchens in eine Sphä re der Idealitä t und des „[Z]urü ckversenken[s]“267 in eine imaginierte Vergangenheit assoziiert ist. Die subjektiv wahrgenommene Wirklichkeit bildet sich aus der Uberlagerung von Idealitä t und Realitä t, von literarisch-kultureller Vermittlung und Eigenerlebnis, oder – um eine griffige Formel aus Wagners Meistersinger-Dichtung zu gebrauchen – aus der Synthese von „Buch und Hain“: Die Lektü re des „alte[n] Buch[s]“ und das individuelle Erlebnis der „Waldespracht“ bilden zusammen eine ä sthetische Einheit.268 263 264

265 266

267

268

Richard Wagner, Mein Leben, S. 315. Karl A. E. Enenkel (Hg.), Francesco Petrarca: De vita solitaria, S. 250 und 540ff. (Kommentar). Siehe auch Alexander Demandt, Der Baum, S. 171. Siehe hierzu Kapitel IV. Dagmar Ottman, Gebändigte Natur, S. 364, in Anlehnung an Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 120. So appelliert Charlotte in W.H. Riehls Novelle Gespensterkampf (1862): „unter deutschen Eichen und Buchen wollen wir uns in Germaniens und des Wodansbergs Urgeschichte zurü ckversenken, hier wollen wir Klopstocks Bardiete lesen“, zitiert nach Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 121. Weiteres zur silvanen in situ-Lektü re bei Riehl ebenda, S. 121f. Vgl. hierzu Kapitel VIII.3.2. In den Eingangsversen seiner Idylle (1838) gestaltet Eduard Mö rike anschaulich das Verfließen von Realitä t und Idealitä t bei der Mä rchenlektü re in situ. Das lyrische Ich weilt mit den grimmschen Kinder- und Hausmärchen im Wald und nimmt folglich die ganze Umgebung als „[m]ä hrchenhaft“ wahr: „Grü nlicher Maienschein warf mir geringelte Lichter / Auf’s beschattete Buch, neckische Bilder zum Text. / […] / Mä hrchenhaft fü hl’ ich mich selbst, mit aufgeschlossenen Sinnen / Seh’ ich, wie helle! den Wald, ruft mir der Gukuk, wie fremd! / Plö tzlich rauscht

77

I. Natur als Landschaft

Ganz wie Walther von Stolzing in den Meistersingern, beruft sich beispielsweise auch der Librettist Friedrich Kind in seiner Schöpfungsgeschichte des ›Freischützen‹ auf die persö nliche Synthese von ›Buch und Hain‹. Er erklä rt, seine Jugendzeit „fast nur im Umgange mit [August] Apel, Bü chern und Bä umen“269 verbracht zu haben und legitimiert dadurch sein Schaffen in doppelter Weise: Einerseits durch Verweis auf die literarische Tradition, andererseits durch postulierten Naturbezug. Sein Freischütz-Buch legt beredtes Zeugnis davon ab, in welch hohem Maße sein ›Waldbild‹ philologisch aufgeladen, ja nachgerade ü berfrachtet war – so etwa, wenn er in seinen Erlä uterungen zur Szenerie der Oper einen literarischen Bogen von den antiken „Faunen und Satyrn“ und dem dodonä ischen Eichenorakel ü ber Cicero, die mittelalterlichen Hubertus- und Genoveva-Legenden sowie diverse Sagen bis hin zu Gottfried August Bü rgers Ballade Der wilde Jäger schlä gt, um schließlich bei seiner eigenen Gestaltung der Wolfsschlucht-Szene zu landen.270 Die Ausfü hrungen lassen erahnen, wie reich und phantastisch bevö lkert die Waldlandschaft fü r Kind und ä hnlich belesene Zeitgenossen war.271

4.5. Das landschaftliche Ohr Die Wahrnehmung der Landschaft ist durch die augenblickliche Stimmung des Betrachters, den individuellen Erfahrungshorizont sowie historisch und kulturell

269 270

271

78

es im Laub, – wird doch Sneewittchen [sic] nicht kommen, / Oder, bezaubert, ein Reh? […]“, Eduard Mö rike, Idylle. An J. M., in: ders., Gedichte, Stuttgart 1838, S. 97–100 (hier S. 97). Siehe hierzu Heinz Rö lleke, Märchenhafte Subtexte zu Eduard Mörikes ›Wald-Idylle‹, in: ders., „Alt wie der Wald“. Reden und Aufsätze zu den Märchen der Brüder Grimm, Trier 22010 (= Schriftenreihe Literaturwissenschaft 70), S. 237–242. Prä gnantes Zeugnis fü r die Prä valenz der literarisch-idealisierten Umweltwahrnehmung legt die Euryanthe-Librettistin Helmina von Ché zy in ihrer Autobiographie ab: „Bei allem, was ich vornahm, schwirrten die Bilder aus den Bü chern, die ich gelesen, um mich herum, und ich lebte durchaus nicht in der wirklichen Welt. Das gewö hnliche Leben war mir nackt und dü rr; ich ersehnte Menschen und Dinge, wie sie in meinen Bü chern standen.“, Helmina von Ché zy, Unvergessenes, Bd. 1, Leipzig 1858, S. 115. Oder auch Richard Wagner in einem Brief an Eliza Wille vom 30. September 1858: „Alle Welt ist eben nur praktisch; bei mir aber gewinnt das Ideale solche Realitä t, dass sie meine Wirklichkeit ausmacht, an der ich nichts gestö rt dulden kann.“, SBr 10, Nr. 50, S. 87– 92 (hier S. 87). Richard „geht spazieren und entdeckt die Wolfsschlucht“, notiert Cosima Wagner am 12. Juni 1872 lapidar in ihrem Tagebuch (CT I, S. 533): Hier ü berlagert beispielsweise die ideale Freischütz-Szenerie die reale Bayreuther Umgebung. Friedrich Kind, Schöpfungsgeschichte des ›Freischützen‹, in: ders., Freischütz-Buch, S. 86. Friedrich Kind, Erläuterungen. (Aus Sprache und Geschichte), in: ders., Freischütz-Buch, S. 212–242 (hier S. 237–241). Der Umwelthistoriker Michael Imort kommt zu dem Schluss, dass die „aestheticization and mythification of the forest as the quintessential German nature“ gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch eher „in the notional rather than the material forest“ stattfand – dass sich die zirkulierenden Waldimaginationen („the imaginary forest of Romantic poetry and music“) sozusagen mehr aus dem ›Buch‹ als aus dem ›Hain‹ speisten. Sie bedurften nicht zwingend der empirischen Anschauung als Stimulus – ja, letztere konnte wohl mitunter eher hinderlich und desillusionierend wirken, Michael Imort, A Sylvan People. Wilhelmine Forestry and the Forest as a Symbol of Germandom, in: Thomas Lekan, Thomas Zeller (Hg.), Germany’s Nature. Cultural Landscapes and Environmental History, Piscataway 2005, S. 55–80 (hier S. 61).

4. Landschaft als Kultur

tradierte Sichtweisen bestimmt – ja, man muss „ein Stü ck von einem Kü nstler“ (Riehl 272 ) sein, um sie ü berhaupt zu sehen. Es wurde dargelegt, in welchem Ausmaß das ›landschaftliche Auge‹ in seiner Tä tigkeit durch Muster der bildenden Kunst und Literatur geprä gt und geleitet wird. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Groh und der Historiker Dieter Groh fassen diesen konstruktivistischen Ansatz wie folgt zusammen: Ohne vorgä ngige Lektü re von Texten oder vorgä ngige Aneignung von Sichtweisen, die durch Bilder vermittelt werden, kann also Natur als Landschaft gar nicht wahrgenommen werden. […] Realerfahrung ist nie primä r, sie ist durch Weltbilder oder Rezeption von Kunstwerken aus Dichtung und Malerei prä formiert oder vermittelt.273

Wenngleich dem Hö rsinn, wie die Landschaftsplanerin Antonia Dinnebier expliziert, „keine konstitutive Bedeutung fü r die Landschaft“ 274 zukomme (da man andernfalls etwa ein ›stummes‹ Gemä lde gar nicht als Landschaft wahrnehmen kö nnte), so ist ihm doch zumindest kontribuierende Funktion zuzubilligen.275 Entsprechend wird bereits in William Wordsworths programmatischem Gedicht Tintern Abbey (1798) der Naturausschnitt, in dessen Wahrnehmung der Betrachter seine Subjektivitä t integriert, als „mighty world / Of eye and ear, both what they halfcreate, / And what perceive“ 276 , charakterisiert. Landschaft ist demnach die Synthese aus empirisch Gegebenem und kreativer Eigenleistung, und zwar sowohl von Auge als auch Ohr vermittelt. In diesem Sinne lä sst sich der Asthetik des produktiven ›Hinschauens‹ von Landschaft eine Asthetik des produktiven ›Hinhö rens‹, dem ›landschaftlichen Auge‹ ein ›landschaftliches Ohr‹ zur Seite stellen. Analog zur visuellen lä sst sich auch die akustische Naturwahrnehmung als ein konstruktiver Akt auffassen, der durch kü nstlerische (das heißt primä r: musikalische) Muster und literarisch-sprachliche Schilderungen musikalisch-akustischer (Natur-)Ereignisse, geprä gt ist. So wird etwa die Wahrnehmung des Waldes eine andere sein, wenn man zuvor die ›Waldweben‹Musik aus Wagners Siegfried gehö rt 277 , oder aber eine lyrische Schilderung des ›Waldesrauschens‹ gelesen hat. Den literarischen wie auch kompositorisch verwirklichten ›Waldmusiken‹, von denen im Folgenden ausfü hrlicher die Rede sein wird,

272 273 274 275

276 277

Wilhelm Heinrich Riehl, Das landschaftliche Auge, S. 67. Ruth Groh, Dieter Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen, S. 55f. Antonia Dinnebier, Der Blick auf die schöne Landschaft, S. 61. So formuliert etwa Mungen: „Außerhalb mediatisierter Wahrnehmungsrealitä ten erlebt der Einzelne die Zustä nde der Natur akustisch im Zusammenhang von Gerä uschen und musiknahen Ereignissen […]. Gerä usche bilden das hö rbare Umfeld der Landschaft.“, Anno Mungen, ›BilderMusik‹, S. 263. [William Wordsworth], Tintern Abbey, in: [ders., Samuel Taylor Coleridge], Lyrical Ballads, S. 207f. Um aus einem Feuilleton-Artikel anlä sslich einer konzertanten Auffü hrung in Prag zu zitieren: „aus den wunderprä chtigen Harmonien des Orchesters tö nt es unvergeßlich ins Ohr, und hat man diesem Waldweben nur einmal gelauscht, so glaubt man, zwischen allen Wipfeln aller Linden mü sse es so rauschen und alle Waldvö gel mü ßten so singen, wie die ü ber dem Haupte des einsamen Siegfried.“, Polylogos, Sonntagsplaudereien, in: Prager Tagblatt, 4. Mä rz 1883 (Nr. 63), S. 1f. (hier S. 2).

79

I. Natur als Landschaft

kommt in diesem Sinne eine erkenntnisleitende, auf die ›reale‹ Lebenswelt rü ckbezogene Funktion zu. Vorlä ufig soll diese Funktion knapp durch zwei Fallbeispiele aus dem 19. Jahrhundert verdeutlicht werden.

QR Der Weber-Biograph Friedrich Wilhelm Jä hns teilt eine Erinnerung des sä chsischen „Kammermusiker[s] G. Roth“ mit, anhand der er nachzuweisen sucht, dass in Webers Kompositionen mitunter ›naturgegebenes‹ Material („sogenanntes ›B en ut ztes‹ […] direct aus dem grossen Reiche der Natur“) eingeflossen sei. Der Bericht lautet bei Jä hns: Es war ein heisser Mittag im hohen Sommer 1824, zur Zeit der ersten innern Beschä ftigung W[eber]’s mit Oberon. W. und Roth befanden sich, vom Dienst in Pillnitz kommend, am Ausgange des Keppgrundes in der Nä he von W.’s Sommerhause zu Hosterwitz. Ueberall tiefste Stille in dem weiten Landschaftsbilde, das unter der Berglehne, auf der sie wandelten, vor ihnen ausgebreitet lag; kein Laut, nicht einmal eines Vogels Zwitschern in der Luft; nur ein feines Singen, ein kaum hö rbares Surren und Schwirren der sich tummelnden Insektenwelt. Plö tzlich ergriff W. Roth’s Arm, legt rasch den Finger auf den Mund, um ihn darauf wieder lebhaft empor zu heben und auf das belebte Schweigen in der Natur zu deuten, und dazu flü stert er kurz und leise: ›Oberon!‹278

Der wahrgenommene Naturausschnitt wird in dieser Episode sowohl visuell als auch akustisch nach kü nstlerischen Maßgaben transformiert: Wie das ›landschaftliche Auge‹ die weite Mannigfaltigkeit zum „Landschaftsbilde“ zusammenfasst, so filtriert das ›landschaftliche Ohr‹ aus formlosem Naturgerä usch eine prä gnante Elfenmusik. Ein einzelnes Schlagwort, der Name des Elfenkö nigs Oberon, reicht als zauberhafte Losung oder ›Stimmungschiffre‹, um diese Verwandlung des Wahrgenommenen auch fü r den Begleiter (und Leser) nachvollziehbar zu machen.279 Wä hrend Jä hns das Augenmerk auf das rezeptive Entnehmen ›aus der Natur‹ richtet, ist der Vorgang doch eigentlich als Wechselwirkung zu verstehen: Weber legt aktiv etwas von seiner „innern Beschä ftigung […] mit Oberon“ 280 in die ä ußere Natur 278

279

280

80

Friedr[ich] Wilh[elm] Jä hns, Carl Maria von Weber in seinen Werken. Chronologisch-thematisches Verzeichniss seiner sämmtlichen Compositionen, Berlin 1871, S. 401. Als literarisches Vorbild fü r die Episode dü rfte die berü hmte Unwetterszene aus Goethes Werther gedient haben, in der Lotte angesichts des erhabenen Naturschauspiels mit nur einem Wort („Klopstock!“) auf Klopstocks Frühlingsfeyer als Referenztext verweist: „Wir traten an’s Fenster, es donnerte abseitwä rts und der herrliche Regen sä uselte auf das Land […]. Sie stand auf ihrem Ellenbogen gestü zt und ihr Blik [sic] durchdrang die Gegend, […] sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte – Klopstock! Ich versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Loosung ü ber mich ausgoß.“, [Johann Wolfgang von Goethe], Die Leiden des jungen Werthers, Bd. 1, S. 43. Friedr[ich] Wilh[elm] Jä hns, Carl Maria von Weber in seinen Werken, S. 401. Naheliegend scheint der Bezug zur musikalischen Gestaltung der Chor-Introduktion (I/1, Verse: „Jagt die wirre Mü cke fort! / Lasst die Bien’ nicht summen dort!“). Dass „Weber auf die Stimmen der Umwelt mit ungemein geschä rftem Gehö r reagierte“, ist fü r Hans Schnoor vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund zu

4. Landschaft als Kultur

hinein, so dass sich in der landschaftlichen Erfahrung der Eindruck eines Wiedererkennens einstellt.

QR Die romantische Dichtung „verfeinerte und vertiefte das Naturgefü hl, weckte das Verstä ndniß fü r die Seele der Landschaft, fü r den ahnungsvollen Zauber der Waldeinsamkeit, der Felsenwildniß, der moosbedeckten Brunnen.“ 281 Dieser Satz aus Heinrich von Treitschkes Deutscher Geschichte findet sich unter einer Reihe von Exzerpten wieder, die der Komponist Engelbert Humperdinck in seinem Tagebuch festhielt. Neben dem Ausdruck „Seele der Landschaft“ notierte er: „aha! Landschaftsmusik!“ 282 Welche Vorstellung sich fü r Humperdinck mit diesem Begriff verband, lä sst sich anhand zweier weiterer Tagebucheinträ ge aus dem zeitlichen Umfeld nachvollziehen. Im ersten, niedergeschrieben am 16. Dezember 1878, heißt es: Die aufgeregten sinne zauberten […] mich trä umenden in eine herrliche waldgegend, deren schö nheit eigentü mlicher weise jedoch weniger vom auge als vom ohre empfunden zu werden schien. Gemä ß meinem merkwü rdigen hange zur verquickung von musik und (landschafts)malerei glaubte ich den wald wie ein großes orchester klingen zu hö ren. Herrliche streichquartettharmonien winkten mir buchen und tannen zu, untermischt mit dem flö ten- und fagottartigen gemurmel der waldbä che, den langgezogenen posaunenklä ngen eines nahen wasserfalles und den sanften trompeten- und hornstö ßen der durchs laub fallenden sonnenstrahlen.283

Zur Vermittlung zwischen visueller und musikalischer Sphä re bemü ht Humperdinck den verbaldynamisierten Modus der Landschaftsschilderung: In kontinuierlicher Bewegung ›winken‹ die Bä ume, fließt das Wasser, durchmisst Licht ›fallend‹ den Raum. So kommt es zur „verquickung“ rä umlicher und zeitlicher Qualitä ten. Humperdincks ›landschaftliches Ohr‹ ordnet einzelnen Bewegungsformen instrumentale Idiome zu, die miteinander „untermischt“ zum symphonischen Ganzen zusammenstimmen, ganz wie die einzelnen Naturelemente in der Anschauung der Waldlandschaft. Von solcher „Landschaftsmusik“, als Anmutung musikalisiert erlebter Landschaft, berichtet ferner ein Tagebucheintrag vom 5. September 1879: Zur feier des geburtstages meiner schwester wurde gestern nachmittag ein spaziergang mit Oberfö rsters nach dem 3/4 stunden entlegenen

281

282

283

verstehen, dass „von Dresden in jenen Jahren ein neues Naturerleben“ ausgegangen sei (womit insbesondere die Emanzipation der Landschaftskunst gemeint ist), Hans Schnoor, Weber auf dem Welttheater. Ein Freischützbuch, Dresden 21953, S. 64f. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Erster Theil, Leipzig 1879 (= Staatengeschichte der neuesten Zeit 24), S. 207. Hans-Josef Irmen (Hg.), Engelbert Humperdinck: Briefe und Tagebücher, Bd. 1, Kö ln 1975 (= Beiträ ge zur Rheinischen Musikgeschichte 106), S. 98f. Ebenda, S. 80.

81

I. Natur als Landschaft

›Latzen-Busch‹ unternommen. Die ernste schweigsamkeit dieses buchenhaines, der mit seinen hohen in einander verschlungenen blä tterkronen einem richtigen dome gleicht, erweckte gleich anfangs ä hnliche empfindungen in meinem gemü te. Als wir uns auf dem rasen niedergelassen und die lä rmenden kinder sich im walde zerstreut hatten, erregte ein merkwü rdiges concert in den gipfeln der bä ume meine aufmerksamkeit. Myriaden von fliegen, die dem auge unsichtbar in den durch die blä tter einfallenden sonnenstrahlen umherschwirrten, gaben einen merkwü rdigen ziemlich reinen ton von sich, den ich in ü bereinstimmung mit Adelheid als das 1 gestrichene c erkannte, mit einer leichten trillerartigen wendung nach dem kleinen h. Mir fiel dabei das tremolo der violen auf c im vorspiele des II. aktes vom ›Siegfried‹ ein, das die weltentlegene ö de des urwalds so treffend charakterisiert. Dann mußte ich an das meinen weltallsempfindungen so sehr zusagende mä rchen von der sphä ren-musik denken, die ungezä hlte scharen von weltkö rpern bei ihrem reigen durch das universum ausfü hren.284

Humperdinck, der die „Waldesmelodie“-Metapher285 aus Wagners „Zukunftsmusik“-Aufsatz von 1861 gekannt haben dü rfte, beschreibt, wie sich auf Grund einer Analogie zwischen Umgebungs- und Subjektstimmung („ä hnliche empfindungen“) ein allmä hliches Aufschließen hö herschwelliger Natureindrü cke vollzieht. Die kontemplative Landschaftsschau weckt „weltallsempfindungen“, das momentane Gefü hl harmonischer Teilhabe am kosmischen Naturganzen. An Wagners Siegfried geschult, erachtet Humperdincks ›landschaftliches Ohr‹ ein wahrgenommenes Detail fü r „merkwü rdig[]“, da es Erinnertes wachruft: Ein aus dem musikalischen Kunstwerk vertrautes Muster wird in der Naturanschauung (beziehungsweise Naturanhö rung) wiedergefunden. Diese Korrespondenz lö st eine komplexe Projektion und Bedeutungsaufladung aus: Der reale Naturraum „Latzen-Busch“ gestaltet sich in Humperdincks Wahrnehmung zum idealen ›Siegfried-Urwald‹.

284 285

82

Ebenda, S. 96. Siehe hierzu Kapitel VIII.3.

II. Wald, Musik und Waldmusik 1. Hirten im Urwald und ›musica boschereccia‹ Wie der Wald verschiedentlich als Wiege der menschlichen Kultur schlechthin aufgefasst wurde1, figurierte er ü ber die Jahrhunderte hinweg auch wiederholt als mythische Heimstä tte der Musik. Antike Theorien zur Entstehung der Musik setzen oftmals beim Versuch des Menschen an, mit der Lautwelt der Natur in Dialog zu treten. 2 Ein unter Bä umen ruhender Hirte fü hlt sich durch Windgerä usche oder Vogelstimmen zu nachahmender Erwiderung angeregt, wozu er sich mitunter ein (hö lzernes) Instrument erschafft. Lukrez, der im fü nften Buch De rerum natura (1. Jahrhundert v. Chr.) seine Entstehungsgeschichte der Musik unmittelbar auf Ausfü hrungen zur Baumzucht folgen lä sst, nimmt an: „Die Menschen ahmten die zwitschernden Stimmen der Vö gel mit dem Mund nach, schon lange bevor sie ergö tzliche Lieder singend begleiten und durch sie die Ohren erfreuen konnten.“3 Neben den Vogelstimmen sei auch das „Sä useln des Windes“ mit hohlen Stä ngeln imitiert worden; als Ort des Geschehens werden „nemora ac silvas saltusque“ genannt. „Unter dem breiten Dach einer Buche“ lagert sich der Hirte Tityrus in Vergils erster Ekloge Bucolica, um ein „Waldlied“ („silvestrem musam“) zu flö ten.4 Auch „rauschende Eichen“5 und „sprechende Fichten“6 gehö ren zur silvanen Klangkulisse Arkadiens.7 Als natü rliche Schallquellen gewä hren Bä ume und Wä lder dem musikverstä ndigen Hirten akustische Anregung und ›Begleitung‹ sowie zugleich auch das Material zum Instrumentenbau. Musizierend wird der Hirte selbst Teil seiner klingenden Umgebung und Reprä sentant des harmonischen Landlebens eines ›goldenen Zeitalters‹. Repliziert wird das Bild des „mü ßigen Hirten“ („Pastor otiosus“), der „von der Natur angeregt, durch Nachahmung des Vogelgesangs oder der rauschenden Bä ume“ 8 zum Musiker wird, in einem der einflussreichsten Poetik-Kompendien der 1

2

3

4

5 6 7 8

Harrison stellt seiner kulturgeschichtlichen Abhandlung ein Zitat aus der Scienza Nuova (1725/30) von Giambattista Vico voran: „Die Ordnung der menschlichen Dinge schritt so vorwä rts: zunä chst gab es die Wä lder, dann die Hü tten, darauf die Dö rfer, spä ter die Stä dte und schließlich die Akademien.“, Robert P. Harrison, Wälder, S. 13. Siehe zum Folgenden auch Hermann Jung, Die Pastorale. Studien zur Geschichte eines musikalischen Topos, Bern 1980 (= Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft 9), besonders S. 7–36. „At liquidas avium voces imitarier ore ante fuit multo quam levia carmina cantu concelebrare homines possent aurisque iuvare.“, Titus Lucretius, De rerum natura, 5,1379–1381. „Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi / silvestrem tenui musam meditaris avena“, Publius Vergilius, Bucolica, ecl. 1,1–2. „Forte sub arguta consederat ilice Daphnis“, ebenda, ecl. 7,1. „Maenalus argutumque nemus pinosque loquentis“, ebenda, ecl. 8,22. Einen Uberblick ü ber Musik in der antiken Bukolik gibt Hermann Jung, Die Pastorale, S. 15–27. „[…] Naturae impulsu, vel avicularu[m] imitatione, vel arborum sibilis“, Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem, liber 1: Historicus, [Genf] 1561, S. 6 (Kapitel IV, „Pastoralia“). Kaum modifiziert wird das Narrativ von der Entstehung der Musik und Poesie „in Feldern und Wä ldern“ ein gutes Jahrhundert spä ter durch Sigmund von Birken wiederholt: „[V]or der Sü ndflut“, als die Menschen noch „ein faules

83

II. Wald, Musik und Waldmusik

Renaissance, den Poetices libri septem (1561) von Julius Caesar Scaliger. Die Rezeption antiker Hirtendichtung in literarischen ›Schä ferspielen‹ wie der „favola boschereccia“ Aminta (1573) von Torquato Tasso lieferte wichtige Impulse fü r die frü he Madrigal- und Opernproduktion. Musica boscareccia, zu deutsch Wald[-]Liederlein, betitelte der Thomaskantor Johann Hermann Schein seine ab 1621 erscheinende Sammlung von Musikstü cken nach „Italian-Villanellische[r] Invention“.9 Ein Scherzo boscareccio enthä lt auch die kurz darauf erschienene Ariensammlung von Carlo Milanuzzi. Von Wald ist darin zwar nicht explizit die Rede, wohl aber von tanzenden Hirten „[c]on Piffari, Naccare, e Lire“10. – Unter dem Doppellemma „Waldliedlein / Waldmusic“ gibt ein deutsch-italienisches Dictionarium von 1678 an: „canzione, musica boscareccia, villanella, vid[e] Dorff-/ Bä urisch-/ Bauren- etc.“11, woraus sich die Bedeutungsü berschneidung mit anderen Formen ›lä ndlichen‹ Musizierens wie dem „Dorffliedlein“ und der „bä urische[n] Composition“ ablesen lä sst. Das „geistliche Waldgedicht“ Seelewig (1644), von Sigmund Theophil Staden nach dem Text von Georg Philipp Harsdö rffer komponiert, gilt als ä lteste erhaltene Oper in deutscher Sprache: Die Nymphe Seelewig muss sich den Anfechtungen des „Satyrus oder Waltgeist“ Trü gewalt (!) widersetzen, wozu sie auch das Echo um Rat bittet. Nach Auskunft des Dichters handelt es sich hierbei um „Schä fereyen […] welche dahero Waldgedichte genennet werden / weil sie als in Wä lderen [sic] verhandelt / dargestellet / und deswegen der Schauplatz mit allerhand Gemä lden kostbarlich verä ndert / und ausgezieret werden muss.“12 In den genannten Beispielen aus dem 17. Jahrhundert verweist das Determinans ›Wald‹ nicht allein auf einen Inhalt oder Schauplatz, sondern auch auf eine spezifische Stilistik, das italienische Vorbild der ›favola boschereccia‹ und die Tradition der Pastorale: Dieses klassische Setting harmonischer Mensch-Umwelt-Beziehung in vorzeitlicher Waldweidelandschaft wurde zunä chst in der Literatur und bildenden Kunst der griechischen und rö mischen Antike fixiert und bildete ü ber Jahrhunderte eines der „most enduring sets of conventions which link music and landscape in

9

10

11

12

84

freyes Leben“ hatten, wurden sie durch „die sü ß-rauschende Buhlerey der Winde mit dem Laub der Wä lder […] und absonderlich die auf den Baum-ä sten sitzende oder unter den Wolken fliegende LuftPsalter und Schnabel-Harffen […] zur Nachfolge u. zum Singen gereitzet.“, [Sigmund von Birken], Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst / oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy / mit Geistlichen Exempeln, Nü rnberg 1679, S. [II] der „Vor-Rede“. Johann Hermann Schein, Musica boscareccia. Wald Liederlein Auff Italian-Villanellische Invention / Beydes für sich allein mit lebendiger Stim oder […] auch auf Musicalischen Instrumenten ahnmutig und lieblich zu spielen, [Leipzig] 1621. Ein zweiter und dritter Teil wurden 1628 in Straßburg bei Paul Ledertz verlegt. Carlo Milanuzzi, Scherzo boscareccio, in: ders., Ariose vaghezze. Commode da Cantarsi a voce sola nel Clavicembalo / Chitarrone, Arpa doppia, & altro simile stromento […], Venetia 1622, S. [XXXVII]. Lemma ›Waldliedlein‹, in: Matthias Krä mer (Hg.), Das neue Dictionarium Oder Wort-Buch / In TeutschItaliänischer Sprach […], Nü rnberg 1678. S. 1206. [Georg Philipp Harsdö rffer], [Frauenzimmer] Gesprechspiele / So Bey Teutschliebenden Geselschaften an- und auszuführen. Vierter Theil: Samt einer Rede von dem Worte Spiel, Nü rnberg 1644, S. 32. Peter Keller stellt fest, dass das Waldgedicht „in Harsdö rffers Terminologie offenbar identisch mit dem Schä fergedicht“ und dieses wiederum „dem Inhalt und Wesen nach dasselbe wie ein Schä ferspiel“ sei, Peter Keller, Die Oper Seelewig von Sigmund Theophil Staden und Georg Philipp Harsdörffer, Bern 1977, S. 34. Zur „favola boschereccia sacra“ siehe ebenda, S. 44–46.

1. Hirten im Urwald und ›musica boschereccia‹

western culture“13 . ›Waldmusik‹ ist in diesem Sinne eine Form idealisierter lä ndlicher Musik, die das Musikleben der Hirten Arkadiens wachrufen will. In dieser Bedeutung wird der Begriff noch im 18. Jahrhundert gebraucht, so etwa in der deutschen Ubersetzung von James Thomsons Tancred and Sigismunda, die Johann Heinrich Schlegel 1764 herausgab: „In jedem Thale scherzen / Mit muntern Nymphen die entzü ckten Schä fer. / Die Ruh begeistert sie zu neuen Liedern, / Die Waldmusik erschallt in freyern Tö nen.“14 Auch der Idyllendichter Salomon Gessner verortet Die Erfindung des Saitenspiels und des Gesanges (1756) im Wald, dem „Gesangvolle[n] Hain“ in der „ersten Jugend der Tage.“15 Der Gesang, damals noch „ein Regelloses Jauchzen der Freude“, habe sich aus dem menschlichen Bestreben entwickelt, den „von hoher Bä ume Wipfeln“ tö nenden Gesang der Vö gel „nachzulallen“. Auf einer Bogensaite zupfend, habe ein Jä ger die Harmonie dazu erfunden, nachdem „ein Gott […] im Hain ihm erschienen“ sei und „die Saiten der Leyer harmonisch geordnet und seine Lieder ihm vorgespielt“16 habe. Zuletzt habe dann der Satyr Marsyas auch noch „die Flö te unter die Waldgö tter“ gebracht. So lä sst sich in der langen Tradition der Pastorale eine diskursive Engfü hrung von Wald und Musik nachzeichnen. Erik Dremel charakterisiert die Pastorale als einen „Traum vom Land(leben), der in der Stadt geträ umt wird“: Die pastorale Welt definiert sich „durch Interaktion mit ihrem urbanen Gegenteil“, durch die Gegenü berstellung von „naiv“ und „kultiviert“.17 Vorgestellt in „parkä hnlich aufgelichtete[n] Waldweideszenen“, diente das imaginierte Vorbild Arkadiens den neu angelegten Landschaftsgä rten des 18. Jahrhunderts als Folie.18 Als gesamteuropä isches Kunstphä nomen erfuhr die Pastorale auch eine anhaltende und intensive musikalische Rezeption. Hermann Jung, der die musikgeschichtliche Entwicklung bis ins 18. Jahrhundert skizziert, begreift die Pastorale (im Anschluss an Walter Wiora) als „musikalischen Topos“, als „spezieller als eine Gattung, aber genereller als ein individuelles Musikstü ck“.19 Als eine Kombination von Merkmalen, der durch Konvention eine Verweisfunktion zukommt, steht der Topos spä testens seit Joseph Haydns Jahreszeiten und Ludwig van Beethovens ›Pastoralsymphonie‹ auch in allgemeinerem Bezug zum „Konzept Landschaft“ 20 . Die musikalische Pastorale bedient sich

13

14

15

16 17

18 19 20

George Revill, Landscape, Music and the Cartography of Sound, in: Peter Howard u.a. (Hg.), The Routledge Companion to Landscape Studies, London 2013, S. 231–240 (hier S. 233). Jakob [James] Thomson, Tankred und Sigismunda, ein Trauerspiel, aus dem Englischen, in: Johann Heinrich Schlegel (Hg.), Trauerspiele, Kopenhagen 1764, hier S. 131. Konkrete geographische Angaben bezeichnen hier Sizilien als Ort der Idylle. [Salomon Gessner], Die Erfindung des Saitenspiels und des Gesanges, in: ders., Idyllen, S. 91–99 (hier S. 91). Ebenda, S. 95. Erik Dremel, Pastorale Träume. Die Idealisierung von Natur in der englischen Musik 1900–1950, Kö ln 2005, S. 20. Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 98. Hermann Jung, Die Pastorale, S. 11. Christoph Wald, Wiederholung, Klangraum und Landschaft, S. 133, 141 und 158.

85

II. Wald, Musik und Waldmusik

traditioneller „symbolic codes“21, wobei Verfahren der Imitation (etwa Tonmalerei sä uselnder Winde), der Zitation (etwa idealisierte ›Volkstä nze‹) und der Allegorie (etwa Flö te oder Schalmei fü r ›Hirten‹) zu unterscheiden sind. Peter Jost zufolge lassen sich bei den musikalischen Gestaltungsmerkmalen zwar Schnittmengen zwischen der Pastorale und spezifisch-programmatischen ›Waldkompositionen‹ (des 18. und 19. Jahrhunderts) feststellen, doch bestehe ein „gravierender Unterschied“ im weitaus geringeren Grad an Typizitä t Letzterer gegenü ber dem stark konventionalisierten Pastorale-Topos: Eine vergleichbare „Eindeutigkeit, mit der auf den Wald als intendiertes Sujet hingewiesen wü rde“, werde in solchen Musikstü cken nicht erreicht.22 Gleichwohl kommt auch in einschlä gigen waldthematischen Kompositionen die Verweisfunktion bestimmter „symbolic codes“ zum Tragen, sei es durch Imitation von (Wald-)Vogelgesang oder Windgerä uschen, durch Zitation kodifizierter Jagdsignale und Waldlieder oder durch allegorisierenden Gebrauch des Waldhorns. Auf einige dieser Verfahren wird im Weiteren noch nä her eingegangen. Bemerkenswerterweise wurde traditionelles Gedankengut zum Wald-MusikVerhä ltnis auch in forstwirtschaftlichen Lehrwerken wie der Sylvicultura oeconomica (1713) aufgegriffen. Carlowitz widmet sich im siebten Kapitel den „fü rtrefflichen und unentbehrlichen Nutzen der Wä lder und des Holtzes“ und stellt dazu eine Liste mit 32 Punkten auf. Der immaterielle, ›musikalische Nutzen‹ der Wä lder wird in §§ 22 und 26 gewü rdigt: §. 22. Wie nun uns hierbey die Wä lder zur Speiße und Nahrung / wie auch zur Erwä rmung und Zierde unserer Leiber zu statten kommen; so recommandiren sie sich ferner auch denen Ohren; indem ja mancherley Arten der lieblich singenden Vö gel / als Amseln / Zippen / Nachtigallen / Fincken / und dergleichen auf denen grü nen Aesten der Wald-Bä ume sich aufhalten / nisten / und denen Einwohnern und Reisenden / sonderlich / in Frü hlinge / nicht geringe Lust erwecken. […] §. 26. Nechst denen Augen hat auch das Gehö r von denen Wä ldern sein Theil und Vergnü gen zu geniessen / worzu so wohl die singenden Vö gel / als auch die Bä ume selbst das ihrige contribuiren / sintemahl die Freud erweckende Musicalische Instrumenta mehrentheils aus Holtz bereitet werden / wie denn die dü nnen Breter / so man aus denen alten Tannen schneidet / die besten resonanz-Bö den geben. Ja auch ohne dieselben kan das Gehö r eine sonderbahre Belustigung haben / maßen denn in denen Wä ldern / Hö ltzern und Bü schen / ein vielfä ltiges Echo oder Wiederschall insgemein anzutreffen ist / so ein Wort drey vier oder mehrmal nachsprechen kan / die weil die dicken Bä ume / Zweige und Blä tter die Stimme nicht durch dringen lassen / sondern selbige wieder zurü cke schicken davon Virg[il] Ecl[ogae] I. / Formosam resonare doces Amaryllida sylvas. d.i. / Du lehrst die grü nen Wä lder singen / Und Amaryllis wiederklingen / welch 21

22

86

George Revill, Landscape, Music and the Cartography of Sound, S. 233. Revill verwendet die Begriffe „imitation“, „quotation“ und „allegory“. Eine Ubersicht ü ber „[p]astorale Elemente“ in der Musik bietet Christoph Wald, Wiederholung, Klangraum und Landschaft, S. 146f. Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹, S. 80.

2. „Waldmusik“

Echo denen Ohren um so viel angenehmer und unvergleichlicher gemacht wird / wenn man es mit Instrumental-Music auffordert.23

In wenigen Sä tzen bringt Carlowitz hier eine erstaunliche Bandbreite an Bezugspunkten von Wald und Musik zur Sprache: Neben der klanglichen Kulisse von Naturgerä uschen, dem Vogelgesang und der Bedeutung des Holzes fü r den Instrumentenbau verweist er – aus Vergils Bucolica zitierend – auf eine spezifische Raumakustik der Landschaft sowie auf den besonderen Reiz der Auffü hrung von Instrumentalmusik im Wald.

2. „Waldmusik“ „Wald-music (die) a consort of musick in a wood.“24 – Natü rlich kann das Kompositum ›Waldmusik‹ zunä chst einmal Musik bezeichnen, die im Wald erklingt.25 Der Bearbeiter des Teutsch-Englischen Lexicons von 1716, dem das vorangestellte Lemma entnommen ist, meint aber offenbar etwas anderes: Er versteht unter ›Waldmusik‹ primä r „a consort of musick“, also eine bestimmte Gruppierung von Musikern. Dieser Sprachgebrauch erinnert an die seit dem frü hen 18. Jahrhundert ü bliche Verwendung der Bezeichnung ›Harmoniemusik‹ fü r ein bestimmtes Blä serensemble, das an vielen Hö fen die musikalische Unterhaltung bei Jagd und Tafel zu gewä hrleisten hatte. 26 Fasst man ›Waldmusik‹ derart auf, so liegt die Vorstellung einer hö rnerlastigen Blä serbesetzung fü r Anlä sse im Freien nahe, deren Repertoire Jagdmusik, Serenaden und andere Freiluftmusiken umfasst. 27 Ein solches Ensemble konnte selbstverstä ndlich auch außerhalb des Waldes, etwa in einer Gartenanlage auftreten: Einer durchreisenden kö niglichen Gesellschaft zu Ehren – so ein zeitgenö ssischer Bericht von 1768 – „liessen sich zu Hovestadt in dem Hochgrä fl. von Plettenbergischen Garten an beyden Enden schö ne Waldmusik, abgewechselnd mit einer Canonade hö ren“28.

23

24

25

26

27

28

Hans Carl von Carlowitz, Sylvicultura oeconomica, Oder Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht […], Leipzig 1713, S. 366 und S. 369. Das Vergil-Zitat und seine Ubersetzung sind im Original durch Zeilenumbrü che abgesetzt. Lemma ›Wald-music‹, in: [Christian Ludwig (Hg.)], Teutsch-Englisches Lexicon, Worinnen nicht allein die Wörter samt den Nenn- Bey- und Sprich-Wörtern, Sondern auch so wol die eigentliche als verblümte Redens-arten verzeichnet sind, Leipzig 1716, Sp. 2373. Als poetische Bezeichnung fü r Hornsignale bei der Jagd erscheint der Begriff etwa in einem Gedicht von J[ohann] F[riedrich] von Meyer, Der Hilden Schnee, in: C[hristoph] M[artin] Wieland (Hg.), Der Neue Teutsche Merkur vom Jahre 1793, Bd. 1, Weimar 1793, S. 99–106 (hier S. 101). Wolfgang Suppan, Lemma ›Harmoniemusik‹, in: Osterreichische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Oesterreichisches Musiklexikon. Online-Ausgabe, Wien 2002ff. (Version vom 6. Mai 2001). Johann Mattheson charakterisierte die „Serenata“ als Freiluftmusik, „denn da kan [sic] man allerhand Instrumente […] gebrauchen, die in einem Zimmer zu hefftig und ü bertä ubend klingen wü rden, als da sind Trompeten, Paucken, Waldhö rner, etc.“, [Johann] Mattheson, Kern Melodischer Wißenschafft, bestehend in den auserlesensten Haupt- und Grund-Lehren der musicalischen Setz-Kunst oder Composition […], Hamburg 1737, S. 101. „Lippstadt, den 18. Junii“, in: Augspurgische Ordinari Postzeitung, 29. Juni 1768 (Nr. 154), [S. 4].

87

II. Wald, Musik und Waldmusik

Fast ein Jahrhundert spä ter, im September 1860, berichtet der Korrespondent einer Forstzeitschrift aus Winterberg im Bö hmerwald (heute Vimperk) von Feierlichkeiten, die anlä sslich der wegebaulichen Erschließung dieser „großartigen Urwaldnatur“ begangen wurden. Auf die Festrede des fü rstlichen Waldbesitzers folgten „von gedä mpften Waldhö rnern getragen, die erhabenen Klä nge der Volkshymne“, dann „ging es weiter, die Musikbande voran […] bis zu einem improvisirten Restaurationspunkte“, wo gespeist wurde, „wä hrend die Waldmusik in geordneten Pausen weitere Stü cke vortrug.“ Der Bericht schließt mit der Prognose, „daß das Echo der Waldmusik, die das ganze Fest begleitete, noch lange in aller Theilnehmer Gedä chtnisse nachhallen wird.“29 Das Repertoire der „Waldmusik“, die hier ›in situ‹ auftrat, wies demnach eine gehö rige Breite auf; mö glicherweise waren neben den genannten Waldhö rnern noch weitere Instrumente beteiligt. – Adalbert Stifter jedenfalls, der in Der beschriebene Tännling (1846) eine „Netzjagd“ auf zusammengetriebenes Wild schildert, lä sst zum Aufktakt des makabren Spektakels eine „rauschende Waldmusik von Hö rnern und andern klingenden Instrumenten“30 ertö nen, versteht den Begriff also nicht als auf Hö rner beschrä nkt. Herwig Gottwald weist darauf hin, dass ›Wald‹ in Stifters Texten hä ufig als positiv besetztes „Fahnenwort“ gebraucht werde, dass also mit ›Wald-‹ gebildete Komposita „nicht primä r beschreibend oder klassifizierend auf den Wald als Handlungsort oder Hintergrund bezogen“ seien, sondern der Umschreibung kultureller Formationen dienten, „die als scheinbar natü rliche Bereiche vom Urbanen als Gegenwelt semantisch abgehoben werden“. 31 Wie die vorangehenden Beispiele gezeigt haben, lä sst sich eben diese, eine ethische und (musik-)ä sthetische Werthaltung implizierende Verwendung des Determinans ›Wald‹ einerseits auf die Traditionslinie der Pastorale zurü ckfü hren; andererseits ist sie aber auch durchaus typisch fü r den Sprachgebrauch des 19. Jahrhundert, wie sich nicht zuletzt an den Schriften Richard Wagners darlegen lä sst. Schließlich kann ›Waldmusik‹ auch als poetische Bezeichnung fü r den Gesang der Waldvö gel dienen: „Vö gel- sive Waldmusik / avium cantillatio“ 32 wird in Stielers Wö rterbuch von 1691 als bedeutungsgleiches Wortpaar gefü hrt. Eine „Waldmusik der Vö gel“33 erklingt in Wielands Idris und Zenide (1768). Einige Jahre spä ter rü hmt 29 30

31

32

33

88

Ein Waldfest in Böhmen, in: Monatschrift fü r das Forst- und Jagdwesen 4 (1860), S. 390–393. Adalbert Stifter, Der beschriebene Tännling, in: C[arl] Drä xler-Manfred (Hg.), Rheinisches Taschenbuch auf das Jahr 1846, Frankfurt am Main 1846, S. 351–405 (hier S. 387). Ahnlich wird in einer 1840 erschienenen Erzä hlung unbekannter Autorschaft „das Getö se jener herbeiströ menden Jä ger und Schü tzen und das Rauschen der Waldmusik“ bei einem Schü tzenfest beschrieben; Der redliche Sohn, in: Unterhaltungsblatt zur Augsburger Postzeitung, 4. Januar 1839 (Nr. 1), hier [S. 3]. Herwig Gottwald, Natur und Kultur. Wildnis, Wald und Park in Stifters ›Mappe‹-Dichtungen, in: Walter Hettche, Hubert Merkel (Hg.), Waldbilder, S. 90–106 (hier S. 92f.). Lemma ›Musik‹, in: Der Spaten [= Kaspar von Stieler] (Hg.), Der Deutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz […], Nü rnberg 1691, Sp. 1313. Im dritten Gesang berichtet Zerbin von Spaziergä ngen, auf denen sein „sehnend Herz […] den Bä umen Ohr und Zungen“ gab: „Ich fragte sie, und dem getä uschten Ohr, / Kam ihr Gelispel oft wie eine Antwort vor.“ So wird der zunä chst als schrecklich geschilderte Wald zum Ort der Selbstreflexion und Zwiesprache mit der Natur: „Die Ruhe der Natur, das allgemeine Schweigen, / Das hier aus dichtverflochtnen Zweigen / Allein die Waldmusik der Vö gel unterbrach, / Schien die wollü stige Melancholie zu sä ugen, / Worinn mein Geist so gern sich mit sich selbst besprach“, [Christoph Martin

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

der amerikanische Naturforscher William Bartram ein ›Konzert‹ von Taube, Papstfink, Indigofink und Baltimoretrupial mit den Worten: „How harmonious and soothing is this native sylvan music now at still evening!“34 In der deutschen Ubersetzung (1793) seines berü hmten Reiseberichts aus Nordamerika liest man: „Ich hö re hier am stillen Abend eine harmonische und sanfte Waldmusik.“35 Der schlaglichtartige Uberblick ü ber die Begriffsgeschichte, der an dieser Stelle nicht ausfü hrlicher und durchgä ngig geleistet werden kann, soll andeuten, welche semantische Breite ›Waldmusik‹ – als formelhafter Kristallisationspunkt des Diskurses ›Wald und Musik‹ – ü ber Jahrhunderte hinweg ausprä gen konnte. Unterscheiden, wenn auch nicht immer scharf voneinander abgrenzen, lassen sich mindestens die Bedeutungen von im Wald erklingender (Jagd-)Musik oder musikalisch aufgefasster Landschaftsgerä usche, von ›lä ndlicher‹ Musik in pastoraler Tradition, eines (Blä ser-) Ensembles fü r Freiluftauffü hrungen, sowie des Gesangs der Waldvö gel. Dieses literarische Bedeutungsspektrum musste schließlich auch anregend und prä gend auf die kompositorisch realisierten ›Waldmusiken‹ einwirken. Wie Elmar Budde konstatiert, fand „die Verbindung von Wald und Musik […] zumindest als poetische Fiktion in der Literatur sehr viel frü her ihren Niederschlag als in der Musik selbst“36. Zutreffend scheint diese Feststellung – wie der vorangehende chronologische Abriss zeigte – sowohl im Allgemeinen, als im Besonderen auch mit Blick auf das 19. Jahrhundert, dem sich die folgenden Ausfü hrungen widmen.

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick 3.1. Waldthematik in der poetischen Musikbeschreibung Der Wandel der Musikä sthetik um die Wende zum 19. Jahrhundert wird gemeinhin mit einer neuen Rezeptionshaltung des programmatischen und assoziativen Hö rens verknü pft.37 Die Ubertragung des Unsagbarkeitstopos auf die ›absolute‹ Instrumentalmusik weckte das Bedü rfnis, beim Musikhö ren gewonnene Eindrü cke

34

35

36 37

Wieland], Idris. Ein Heroisch-comisches Gedicht. Fünf Gesänge, Leipzig 1768, Dritter Gesang, S. 132f. Wilhelm Heinse greift diese Stelle in einem autobiographischen Brief an Gleim auf: Er selbst habe in seiner frü hen Jugend „oft in den dichtesten Wä ldern, Betrachtungen ü ber das Innere des Menschen“ angestellt und sei, da er „nach Art meiner Vorfahren bestä ndig in den Wä ldern lag“, dazu verleitet worden, „Jagdlieder zu machen.“, Wilhelm Heinse an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief vom 18. November 1770, in: Wilhelm Kö rte (Hg.), Briefe zwischen Gleim, Wilhelm Heinse und Johann von Müller, Bd. 1, Zü rich 1806, S. 3–13 (hier S. 6). William Bartram, Travels through North & South Carolina, Georgia, East & West Florida […], Philadelphia 1791, S. 154. William Bartram, Reisen durch Nord- und Süd-Karolina, Georgien, Ost- und West-Florida […], ü bers. von E. A. W. Zimmermann, in: Magazin von merkwürdigen neuen Reisebeschreibungen aus fremden Sprachen übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen begleitet, Bd. 10, Berlin 1793, hier S. 151. Elmar Budde, Der Wald in der Musik, S. 49. Siehe hierzu etwa Carl Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik, in: Hermann Danuser (Hg.), Carl Dahlhaus: 19. Jahrhundert II. Theorie, Ästhetik, Geschichte: Monographien, Laaber 2003

89

II. Wald, Musik und Waldmusik

und Erfahrungen zu verbalisieren, sie mithilfe von Metaphern, poetischen Paraphrasen und Analogiebildungen sprachlich umreißen und Anderen mitteilen zu kö nnen.38 Der bü rgerliche Konzertbetrieb machte sich diese Art der Musikbeschreibung zunutze, um dem Publikum Handreichungen in Form poetisierender Besprechungen, hermeneutischer Werkeinfü hrungen und (fiktionaler) Programme in ›Konzertfü hrern‹ zu geben. Aufgrund ihrer allgemeinen Vertrautheit und ihres Facettenreichtums waren (und sind) Sprachbilder aus dem Bereich des Waldes besonders geeignet, metaphorische Zugä nge zu (Instrumental-)Musik zu erö ffnen. So lä sst sich Wald etwa als ›begehbare‹ Komponente einer sukzessiv erlebten Landschaft, harmonischer Konflux natü rlicher Gerä usche, Paradigma organischen Ineinandergreifens oder aber auch verwirrender, unü bersichtlicher Komplex apostrophieren. Um einen Eindruck von der Polyvalenz der Bilder zu geben, werden im Folgenden zunä chst einige einschlä gige Beispiele aus dem Bereich der Musikkritik des 19. Jahrhunderts angefü hrt. – So notiert 1799 ein anonymer Rezensent der Allgemeinen Musikalischen Zeitung ü ber Beethovens Violinsonaten op. 12: Rec., der bisher die Klaviersachen des Verfassers nicht kannte, muss, nachdem er sich mit vieler Mü he durch diese ganz eigene [sic], mit seltsamen Schwierigkeiten ü berladene Sonaten durchgearbeitet hat, gestehen, dass ihm bey dem wirklich fleissigen und angestrengten Spiele derselben zu Muthe war, wie einem Menschen, der mit einem genialischen Freunde durch einen anlockenden Wald zu lustwandeln gedachte und durch feindliche Verhaue alle Augenblicke aufgehalten, endlich ermü det und erschö pft ohne Freude herauskam. Es ist unleugbar, Herr von B e e t h ove n geht einen eigenen Gang; aber was ist das fü r ein bisarrer [sic] mü hseliger Gang! Gelehrt, gelehrt und immerfort gelehrt und keine Natur, kein Gesang!39

Obgleich die Metapher im Wald verortet ist, wird ein Mangel an Natü rlichkeit beklagt: „Verhaue“40, kü nstliche Eingriffe, brä chten allenthalben den natü rlichen Gang ins Stocken und machten den Lustwandel zum beschwerlichen Hindernisparcours. Dass man sich durch Beethovens Instrumentalmusik in das Unterholz eines „grü nen Wald[s]“ versetzt fü hlen kö nne, rä umt in einer Rezension von 1828 auch Gottfried Wilhelm Fink ein, meint allerdings: „Wenn er uns zuweilen durch kleine Sü mpfe fü hrt, so geschieht es nur, um uns bald desto reizendere Haine zu zeigen.“41 Damit

38 39

40 41

90

(= Gesammelte Schriften 5), S. 391–850. Vgl. auch die Bemerkungen zur romantischen „Literarisierung der Musik“ und ihren Konsequenzen fü r die Librettistik bei Christoph Nieder, Von der ›Zauberflöte‹ zum ›Lohengrin‹. Das deutsche Opernlibretto in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1989 (= Germanistische Abhandlungen 64), S. 30–37. Heike Stumpf, Metaphorisches Sprechen in der Musikkritik, besonders S. 9, 17 und 41. „Tre Sonate per il Clav. o Fortepiano con un Violino, comp. […] dal S. Luigi van Beethoven“, Rubrik ›Recensionen‹, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 1 (1799), Nr. 36, Sp. 570f. Das DWB erlä utert ›Verhau‹ im ursprü nglichen Sinn als „wegsperre durch niedergehauene bä ume“. G[ottfried] W[ilhelm] Fink, Urtheil über Beethoven aus der Revue musicale, verbunden mit unsern Ansichten, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 30 (1828), Nr. 11, Sp. 165–170; Nr. 12, Sp. 181–185 (hier Nr. 11, Sp. 170); es handelt sich hierbei um eine Replik auf eine Rezension von François-Joseph Fé tis.

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

der Hö rer sich nicht „in einem einseitigen Gefü hle ermattend“ verliere, sondern immer wieder „von Neuem empfä nglich werde[] fü r einen neuen, vom vorherigen verschiedenen und doch mit jenem im Zusammenhange stehenden […] Genuss“, reiße Beethoven ihn „plö tzlich mit wunderbarer Gewalt ü ber Dorn und Gestripp rasch mit sich fort in ein neues Gefild hoher Schö nheit.“ Dieser Rekurs auf die pittoreske Landschaftsä sthetik mit ihrer Emphase auf Uberraschung und Kontrast dient Fink dazu, nationale Rezeptionsunterschiede herauszustellen; wü rde etwa „ein Englä nder […] mit Beethoven’s Wesen in Vielem zusammentreffen“, so dü rfte hingegen der kultivierte „Franzos“ seine Schwierigkeiten mit ihm haben, denn Beethovens „Natur“ sei „vorherrschend romantisch, etwas, von dem man immer gemeint hat, dass es sich der sonst so gebildete Franzos am wenigsten anzueignen fä hig sey.“42 Drastischer noch wird der holprige Waldgang in Schumanns Besprechung eines Klaviertrios von Anton Bohrer (1783–1863) ausgemalt, fü r dessen „verwilderten Schreibstyl“ er folgenden Vergleich findet: Trä test du, lieber Lesender, aus einem weißgetä felten erleuchteten Marmorsaal auf einmal des Nachts hinaus und in einen Fichtenwald mit struppig und knollig ü ber den Weg sich hinziehenden Wurzeln – vom Himmel fallen einzelne schwere Tropfen – du rennst mit dem Kopf links und rechts an, ritzest dich blutig in Strä uchern, bis sich endlich nach langem Umherirren ein Ausgang findet, – – so empfä ndest du, was ich beim Uebergang vom Rosenhainschen Trio zu einem von Anton Bohrer […].43

Aus der wohlgeordneten Klassizitä t des Marmorsaals sieht sich der Hö rer plö tzlich in das undurchdringliche Dickicht des regenschweren Nadelwaldes versetzt. Ohne einen Faden, ohne eine leitende Idee, die einen durch das nä chtliche Labyrinth fü hrt, kann diese Wildnis nur als Bedrohung wahrgenommen werden.44 – Als „Do r n en h ecke, welche durch bengalisches Feuer beleuchtet wird“ 45 , wird Wagners Tannhäuser-Ouvertü re in einer Zeitungsrezension von 1853 geschildert: Schroffe Wildnis, blendend grell inszeniert. Auch die Bezeichnung ›Wolfsschlucht‹ wurde in der Musikkritik polemisch auf Wagners Kompositionen angewandt.46 Weit weniger abstoßend stellen sich die „amerikanischen Urwä lder“ dar, die Schumann beim Studium des „in glü cklicher Stimmung“ geschriebenen Klaviertrios op. 6 von Ferdinand Hiller vor Augen stehen: 42 43 44

45

46

Ebenda, Nr. 12, Sp. 181. Vgl. zu Finks Rezension auch Annette Richards, The free fantasia, S. 190. [Robert Schumann], Trio’s, in: Neue Zeitschrift fü r Musik 5 (1836), hier Nr. 4, S. 15 (Fortsetzung). Zur Analogiebildung von Wandern und Musikhö ren und dem Bild des Ariadnefadens siehe Annette Richards, The free fantasia, S. 206–210. Siehe außerdem das Lemma ›Dickicht‹, in: Keith Spalding (Hg.), An Historical Dictionary of German Figurative Usage, Bd. 2, Oxford 1967, S. 473. Zitiert nach Wilhelm Wappert, Richard Wagner im Spiegel der Kritik. Wörterbuch der Unhöflichkeit, enthaltend grobe, höhnende, gehässige und verleumderische Ausdrücke, die gegen den Meister Richard Wagner, seine Werke und seine Anhänger von den Feinden und Spöttern gebraucht wurden, Leipzig 21903, S. 20. Hanslick bezeichnet 1866 das Meistersinger-Vorspiel als „Nü rnberger Wolfsschlucht“, Tristan wird als „Wolfsschlucht der Liebe“ geschmä ht, laut Wilhelm Wappert, Richard Wagner im Spiegel der Kritik, S. 99.

91

II. Wald, Musik und Waldmusik

Ja, einige Minuten lang war mir’s, als stä nd’ ich in hö chst amerikanischen Urwä ldern unter riesenblä ttrigen Pflanzen mit darum geringelten Schlangen und darü ber wehenden Silberfasanen, zu so speciellen Bildern regt das Trio durch die Ungewö hnlichkeit an.47

Die Gefahr, irre zu gehen, scheint hier nicht vordringlich, da der fiktive Betrachter in diesem tableauartigen Wunderland exotischer Phantastik staunend an festem Standpunkt verharren und seiner Schaulust frö hnen kann: Ein tieferes Eintauchen ins urwü chsige Unterholz ist angesichts der reizend-bunten Oberflä che gar nicht verlockend. Verschieden akzentuiert, kann das Bild des Urwaldes auf musikalische Strukturdichte, aber auch auf wildwü chsig-rankende Ornamentik verweisen.48 Eng mit der Waldmetaphorik verwandt ist die Vergleichung des musikalischen Kunstwerks mit einem (pflanzlichen) Organismus, wie sie im musiktheoretischen Diskurs besonders durch E.T.A. Hoffmann etabliert wurde.49 Als Modell fü r die ä sthetische Maxime der ›Einheit in der Mannigfaltigkeit‹ steht dabei meist der einzelne Baum, dessen verborgene Keimanlage und Verwurzelung entelechische Grundlegung fü r die komplex ausgebildete Endgestalt ist. Als riesiger ›Makroorganismus‹ begriffen, stellt Wald eine potenzierte Form dieses Modells dar. – Das verschlungene Ineinandergreifen der Vegetation lä sst polyphone Kompositionsverfahren assoziieren: Auf dem Gebiet der Fugenkomposition habe Johann Sebastian Bach „riesenarmige Eichenwä lder angelegt“50, schreibt Schumann; Mendelssohn kultiviere auf selbigem Felde „wenigstens noch Blumen“. Idealerweise bleibe bei einer Fuge „das kü nstliche Wurzelwerk“ ganz verdeckt, so „daß wir nur die Blume sehen.“ – In ä hnlichem Duktus ä ußert sich 1859 auch Riehl zu den Klavierwerken Bachs: Kinder soll man nicht ohne Fü hrer in den Wald schicken, und Bachs Werke sind fü r den Schü ler ein wahrer musikalischer Hoch- und Urwald. Gar oft fü hrt den einsamen Wanderer ein breiter Weg von guter Richtung in den Wald hinein, und wir schreiten eine Weile lustig vorwä rts und dü nken uns, obgleich landesunkundig, dennoch des Zieles sicher. Aber die schö ne Fahrbahn wird immer grasiger und schmaler, je tiefer wir ins Dickicht dringen; rechts und links zweigen ausgefurchte Wege ab: es sind Holzwege, die sich zwischen den Wurzelstö cken eines gefä llten Schlages verlaufen; auch wohlbetretene Fußpfade verlocken uns; doch sind es nicht

47 48

49

50

92

[Robert Schumann], Trio’s, hier Nr. 12, S. 48 (Fortsetzung). So spricht etwa Ludwig Rellstab von einem „Urwald von Figuren und Passagen“ und einem „Wald von Passagen und Arpeggio’s“; siehe zur (Ur-)Waldmetapher in der Musikkritik auch Heike Stumpf, Metaphorisches Sprechen in der Musikkritik, S. 78f. Hierzu ausfü hrlicher Heike Stumpf, Metaphorisches Sprechen in der Musikkritik, S. 127–133 und Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur. Naturanschauung und musikalische Poetik, Laaber 2000, S. 155. Jeanquirit [= Robert Schumann], „Prä ludien und Fugen fü r das Pianoforte von Felix Mendelssohn Bartholdy“, Rubrik ›Museum‹, in: Neue Zeitschrift fü r Musik 7 (1837), Nr. 34 (27. Oktober), S. 135f. (hier S. 135). Ein vegetabiles Bild zog spä ter auch Richard Wagner zum Vergleich heran, wie Cosimas Tagebucheintrag vom 12. Mä rz 1869 dokumentiert: „Die Bach’sche Fuge sei wie ein großer Baum, so erhaben und auch ergreifend […].“, CT I, S. 70.

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

Fä hrten des Menschen, sondern des Wildes, und enden bei einer einsamen Quelle.51

In pittoresker Ausfü hrung beschreibt Riehl eine Zunahme an Komplexitä t vom Betreten des Waldes an (›Exposition‹), die nach mehr oder minder absehbaren Wendungen und manchen ›Trugschlü ssen‹ auf ein Ziel zulä uft. Wie den versierten Wanderer die „Logik der Ortskunde […] selbst in fremder Wildniß […] ans Ziel“ leite, so finde sich bei Bach „nur der Mann von gereifter und gereinigter Kunstbildung“ zurecht.52 Am Beispiel von Anton Bruckners 4. Sinfonie (WAB 104) weist Budde auf die nachhaltige Rezeptionslenkung durch poetisierende Konzertfü hrer-Literatur hin, die wiederholt auf die „Gleichsetzung von deutschem Wesen, deutscher Musik und deutschem Wald“ pochte.53 Insbesondere Hermann Kretzschmar ›entdeckte‹ in seinem auflagenstarken Führer durch den Concertsaal (1. Auflage 1887/90) in vielen symphonischen Werken einen poetischen Bezug zum Wald, ohne dass dieser von den Komponisten intendiert sein musste und schuf auf diese Weise gewissermaßen neue ›Waldmusik qua Rezeption‹.54 Ein instruktives Beispiel hierfü r stellt Franz Schuberts ›Große Sinfonie‹ in C-Dur (D 944) dar, die bekanntlich erst postum von Schumann aufgefunden und 1839 durch Felix Mendelssohn Bartholdy uraufgefü hrt wurde. In einem empfehlenden Artikel fü r die Neue Zeitschrift fü r Musik sieht Schumann bewusst davon ab, „der 51

52 53

54

Wilhelm Heinrich Riehl, Sebastian Bachs Klavierwerke in der Gegenwart, in: ders., Musikalische Charakterköpfe. Ein kunstgeschichtliches Skizzenbuch, Bd. 2, Stuttgart (Cotta) 31869, hier S. 353f. Ebenda, S. 354. Elmar Budde, Der Wald in der Musik, S. 57f. Fü r den ö sterreichischen Musikkritiker Ambros wirken etwa die „Waldhö rner im Trio“ von Mendelssohns Sinfonie Nr. 4 (MWV N 16), „als befalle ihn mitten im italischen Paradiese eine recht deutsche Sehnsucht nach dem lieben hellen Grü n der Wä lder seiner Heimat“; auch deshalb sei Mendelssohns Symphonik „echt deutsch, diese Musik sieht so blond und blauä ugig aus“, August Wilhelm Ambros, Die Gränzen der Musik und Poesie. Eine Studie zur Aesthetik der Tonkunst, Prag 1856, S. 175f. Verwiesen sei in diesem Betreff auf Nattiez’ Auffassung des musikalischen Werks als nicht allein den (noten-)textlichen Bestand, sondern auch die Genese („acts of composition“) und nachgelagerte „acts of interpretation and perception“ einschließenden „total musical fact“, Jean-Jacques Nattiez, Music and Discourse. Toward a Semiology of Music, Princeton 1990, S. IX. Bei Kretzschmar liest man etwa, Bruckner halte in seiner 4. Symphonie „im Wald, wie das altgermanische Heidentum, seinen Gottesdienst […]. Ihm ist im Sinne jener alten Zeiten, wo wir Deutschen noch ein Waldvolk waren, der Wald das herrlichste Gotteshaus, der schö nste Dom […]. Der Wald stimmt den Komponisten ernst religiö s, und ein feierlich erhabener Grundton […] durchzieht die ganze Sinfonie.“, Hermann Kretzschmar, Führer durch den Concertsaal. I. Abtheilung: Sinfonie und Suite, Bd. 1, Leipzig 31898, S. 665f. Auch im Finale von Joseph Haydns 5. Sinfonie hö rt Kretzschmar „geheimnissvolle Stimmen aus Waldesdunkel erschallen[]“ (ebenda, S. 103), zur Durchfü hrung im ersten Satz von Antonı́n Dvoř á ks 5. Sinfonie op. 76 (alte Zä hlung: 3. Sinfonie) notiert er: „Als wä re der Wald dichter und der Schatten dunkler geworden, tritt Ruhe im Orchester ein. […] Es flü stert in den Bä umen, es zirpt im Grase“ (ebenda, S. 485f.). Dabei postuliert Kretzschmar in seinem Plä doyer fü r musikalische Hermeneutik, ein Komponist kö nne „[m]it allen Tö nen der Welt […] keine bestimmte Vorstellung von einem Wald“ geben, außer „wenn der Komposition ein Text oder eine Uberschrift zu Hü lfe kommt“: In diesem Fall aber vermö ge sie „in die Feierlichkeit oder die Heimlichkeit des Waldes schneller, unmittelbarer und fesselnder einzufü hren als jedes Gedicht und jedes Gemä lde.“, Hermann Kretzschmar, Anregungen zur Förderung musikalischer Hermeneutik, in: Rudolf Schwartz (Hg.), Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1902, Bd. 9, Leipzig 1903, S. 45–66 (hier S. 50).

93

II. Wald, Musik und Waldmusik

Symphonie eine Folie zu geben“, um die individuell verschiedene Wahrnehmung potentieller Hö rer nicht zu beeinflussen, spricht aber nichtsdestotrotz rä umliche und landschaftliche Assoziationen an.55 Diese werden Jahrzehnte spä ter in Kretzschmars Führer durch den Concertsaal aufgegriffen. 56 Das Zusammentreffen der „naiv frö hliche[n] Klä nge“ der Holzblä ser und Streicher mit dem „mysteriö s schauerliche[n]“ Motiv der Posaunen in der Durchfü hrung des ersten Satzes beschreibt Kretzschmar so: „Es ist wie Vogelzwitschern und Waldesrauschen in einer Stunde, wo die Natur einschlä ft.“57 Wä hrend Kretzschmar diese Metapher, durch die erstmals eine Assoziation der Symphonie mit ›Wald‹ hergestellt worden sein dü rfte, auf eine konkrete Stelle im Notentext bezieht, steht laut einem 1955 erschienenen Aufsatz von Schmidt-Vogt der gesamte 1. Satz „mit dem langgezogenen Hornthema […] im Banne deutscher Natur- und Waldromantik.“58 Bemerkenswerterweise weist Schmidt-Vogt (der Kretzschmars Concertführer zwar nicht als Quelle nennt, aber nachweislich nutzte59) dabei nicht auf besagte Durchfü hrungspassage, dafü r aber auf das achttaktige Hornsolo hin, das den Sinfoniesatz erö ffnet. Einmal etabliert, scheint sich hier die Waldassoziation von einem musikalischen Merkmal auf andere ü bertragen zu haben.60 Wie mehrere der vorgestellten Beispiele erkennen lassen, bieten sich Landschafts- und Musikerfahrung aufgrund ihrer gemeinsamen Sukzessivitä t vorzü glich zur Parallelisierung an. Pauschal gesprochen, fanden in der Musik(-beschreibung) des 19. Jahrhunderts solche Verlaufsformen besonderen Anklang, die aus anfä nglicher Trü bheit und temporä rer Orientierungslosigkeit hin zur ›Lichtung‹ und der ebenen Bahn einer ›Stretta‹ fü hren – in denen sozusagen ein initialer ›pittoresker Widerstand‹ zu ü berwinden ist.61 – Als besonders prä gnanter Moment sukzessiven 55

56

57 58

59

60

61

94

„Die Bilder der Donau, des Stephansthurms und des fernen Alpengebirgs zusammengedrä ngt und mit einem leisen katholischen Weihrauchduft ü berzogen, und man hat eines von Wien, und steht nun vollends die reizende Landschaft lebendig vor uns, so werden wohl auch Saiten rege, die sonst nimmer in uns angeklungen haben wü rden. Bei der Symphonie von Schubert, dem hellen, blü henden, romantischen Leben darin […] wird es mir wieder recht klar, wie gerade in dieser Umgebung solche Werke geboren werden kö nnen.“, R[obert] Sch[umann], Die 7te Symphonie von Franz Schubert, in: Neue Zeitschrift fü r Musik 12 (1840), Nr. 21 (10. Mä rz), S. 81–83 (hier S. 82). Beispiele: „dass seine Compositionen an die Wiener Landschaft […] erinnern“, „wie eine heitere, herrliche, grossartige Frü hlingslandschaft“, „ein herrlicher Tag, eine herrliche Landschaft!“, Hermann Kretzschmar, Führer durch den Concertsaal, Bd. 1, S. 211–216. Ebenda, S. 213. Helmut Schmidt-Vogt, Das Waldthema in der Musik, in: Forstwissenschaftliches Centralblatt 74 (1955), Nr. 7–8, S. 219–235 (hier S. 228). Vgl. etwa Schmidt-Vogts Urteil ü ber Bruckners 4. Sinfonie (S. 230f.) mit demjenigen Kretzschmars. Schmidt-Vogt zitiert dabei auch einige Worte aus „einem bedeutenden ä lteren Konzertfü hrer“, wobei es sich eben um ein Zitat von Kretzschmar handelt. In der bedeutend erweiterten Buchfassung (1996) seiner Abhandlung nennt Schmidt-Vogt an entsprechender Stelle Kretzschmar als Quelle, aus der er zudem wö rtlich zitiert und Notenbeispiele zur Durchfü hrung ü bernimmt, Helmut Schmidt-Vogt, Musik und Wald, Freiburg im Breisgau 1996 (= Rombach-Wissenschaft Reihe Okologie 3), S. 51. 1958 wird Schuberts ›Große Sinfonie‹ durch Erich Hornsmann erneut in den Waldkontext gestellt. Auch er macht von Kretzschmars Concertführer Gebrauch, dem er, ohne die Zitation kenntlich zu machen, das oben angefü hrte Zitat („Es ist wie Vogelzwitschern und Waldesrauschen…“) entnimmt, Erich Hornsmann, Allen hilft der Wald, S. 201. Als anschauliches Beispiel aus einer anonymen Rezension: „Wenn man ein wohlgeordnetes Potpourri hö rt, so glaubt man, man durchwandle einige Partien eines Parkes: – beim Eintritt begrü sst uns ein

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

Landschaftserlebens empfiehlt sich der ›Eintritt in den Wald‹ der musikalisch-poetischen Gestaltung.62 Vermittelt durch den Stimmungsbegriff, gestattet die plö tzliche Umstellung der Sinneseindrü cke, insbesondere der Wechsel der Beleuchtung (›Ton‹), evidente Analogiebildungen zu musikalischen Vorgä ngen.63 Als Beispiel einer poetisierenden Musikbeschreibung, welche auf die spezifische (Licht-)Stimmung des Waldesinneren abzielt, um eine entsprechende Qualitä t der Musik zu adressieren, sei zuletzt Ludwig Rellstabs Rezension (1832) zu Mendelssohns Sommernachtstraum-Ouvertü re angefü hrt. Trotz grundsä tzlicher Skepsis gegenü ber Kompositionen, die sich an ein „poetisches Gerü st“ anlehnen, lobt Rellstab die ausgesprochen pittoreske Qualitä t des Sujets.64 Das Verdienst des Komponisten liege darin, wie ein Landschaftsmaler die plastische Mannigfaltigkeit „mit einem Blick ü berschaut“ und vermittels einheitlicher Stimmung („Mondlicht“, „Waldesgrü n“ 65 , „romantische Dä mmerung“) zum Ganzen harmonisiert zu haben. Dem Primat der Stimmung entsprechend, gilt Farbwerten und Beleuchtung vornehmliche Aufmerksamkeit: Die Ouverture beginnt mit einigen trä umerischen Akkorden der Flö ten und Clarinetten, welche den leisen Mondstrahlen gleichen, die sich in den dunklen Wald stehlen, um den romantischen Schauplatz zu beleuchten.66

62

63

64

65 66

dü sterer, schattiger Baumgang, allmä hlig wird er lichter und lichter und auf einmal stehen wir an einem heitern Wiesenplane; […] aus einem kurzen Gestripp treten wir in eine pathetische franzö sische Allee und so wandeln wir fort und fort …“, abgedruckt unter „Potpourri concertant pour le Violon […] composé par C. G. Henning“, in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung 3 (1826), Nr. 10 (8. Mä rz), S. 75f. (hier S. 75). Hingewiesen sei in diesem Betreff nochmals auf die Vergleichung von romantischer Poesie und Landschaft bei Ludwig Tieck, Einleitung, in: ders., Phantasus, Bd. 1, S. 15. Vgl. ferner die Interpretation des Beginns der Freischütz-Ouvertü re in Kapitel VII.4. Das vielleicht bekannteste Beispiel stellt die mit „Eintritt in den Wald“ (Ziffer 21) bezeichnete Stelle in Richard Strauss’ Alpensinfonie op. 64 (1915) dar, wo sich aus einem ü berwä ltigenden c-Moll-Klang des ganzen Orchesters allmä hlich die getragene Melodik der Hö rner und Posaunen und die flirrenden Figurationen der Streicher herausschä len. – Im ersten Stü ck (›Eintritt‹) aus Robert Schumanns Waldszenen mag man sich ab T. 8 plö tzlich in das „grü ne[] Dickicht“ versetzt fü hlen, von dem das vorangestellte Motto spricht. Die melodische Kontur tritt hier zurü ck, wogegen „colours, harmonies, and register of the notes“ zur Geltung kommen; hierzu Clemens Goldberg, Going into the Woods. Space, Time, and Movement in Schumann’s Waldszenen op. 82, in: International Journal of Musicology 3 (1994), S. 151–174 (hier S. 164–166). Zur Beschreibung harmonischer Modulationen wird in Musikkritiken des 19. Jahrhunderts meist die Metapher des Licht- und Ortswechsels gebraucht, siehe hierzu Heike Stumpf, Metaphorisches Sprechen in der Musikkritik, S. 71. „Mondlicht, Elfentanz, Liebespaare und Waldesgrü n, humoristisches Getü mmel seltsamer Gestalten, alles schwä rmt, flattert, summt durcheinander, und die Seele wird durch stets neue reizende oder groteske Aufzü ge fortwä hrend mit neuen Anschauungen erfü llt. Fast jede Zeile des Gedichts schauen wir an, kö nnten sie malen; und, so plastisch alles in die Wirklichkeit tritt, so ist doch das Ganze mit einer romantischen Dä mmerung, mit dem Silberduft der Mondstrahlen so kü nstlerisch umhü llt […].“, [Ludwig Rellstab], „Ouverture zu Shakespears Sommernachtstraum, componirt von Felix Mendelssohn-Bartholdy“, in: Iris im Gebiete der Tonkunst 3 (1832), Nr. 50, S. 197–200 (hier S. 198). Zur musikalischen Metaphorik von Waldgeistern und Feen, die sich wesentlich aus der romantischen Shakespeare-Rezeption speiste, siehe Heike Stumpf, Metaphorisches Sprechen in der Musikkritik, S. 63–67. Zur Apostrophe des Waldes als reine Farbe vgl. auch den Abschnitt II.5.3.c. [Ludwig Rellstab], „Ouverture zu Shakespears Sommernachtstraum“, S. 198. Hingewiesen sei auf die bemerkenswerte Ubereinstimmung mit folgender Metapher, die sich in einer Besprechung von Alexander Fescas Klavierstü ck (!) La Sylphide op. 19 findet: „Im feierlichsten Adagio, im zartesten Piano

95

II. Wald, Musik und Waldmusik

Durch den Laubschirm des Waldes in einzelne Strahlen aufgefä chert, tritt das Licht als visuelle Gestalt in Erscheinung und kann dadurch, ü ber die konventionelle Chiaroscuro-Kontrastierung hinaus, fü r differenziertere musikalische Metaphernbildung nutzbar gemacht werden. Wie selbstverstä ndlich wird dieser Transfer durch das Epitheton ›leise‹ vollzogen.67

3.2. Programmatische Waldkompositionen Florierte die poetische und metaphorische Verknü pfung von Wald und Musik in der romantischen Literatur wie auch im vorgestellten Musikschrifttum bereits im frü hen 19. Jahrhundert, so erfuhren Instrumentalkompositionen mit programmatisch intendierter und durch Titel oder Motto explizit gemachter Waldthematik erst ab der zweiten Jahrhunderthä lfte eine Konjunktur, die sich dann bis ins frü he 20. Jahrhundert hinein intensivierte.68 Im Fahrwasser bedeutenderer Kompositionen wie Schumanns Waldszenen (1848/1849) und Liszts Konzertetü de Waldesrauschen (1862/1863) entstand eine Vielzahl von Charakter- und Salonstü cken fü r mehr oder weniger ambitionierte Pianisten. 69 Stephen Heller brachte zwischen 1853 und 1873 drei Serien (op. 86, 128, 136) von Charakterstü cken fü r Klavier unter dem Titel Im Walde heraus, mit denen er sich sowohl auf Schumanns Waldszenen als auch auf Webers Freischütz bezog.70 Der Musikschriftsteller Walter Niemann kommentiert im Jahr 1913: „Im ü brigen steht der Wald, namentlich seit dem herrlichen Klavierpoeten des Waldes, Stephen Heller, im hö chsten Kurs, wenn auch nicht immer

67

68

69

70

96

zittern weiche Accorde wie Flö ten und Clarinetten durch das Laub am abendlich heimischen Waldessaume.“, Emil Mayer, „Neue Compositionen von Alexander Fesca“, Rubrik ›Revue im Stich erschienener Musikalien‹, in: Wiener allgemeine Musik-Zeitung 7 (1847), Nr. 20, S. 82f. (hier S. 83). Rellstab scheint sich hier auf die „Musik des Mondscheins“ zu beziehen, mit der Tieck die andä chtige Stimmung einer nä chtlichen Waldszene zu mustergü ltigem Ausdruck brachte, vgl. Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Bd. 1, S. 171f. Vgl. hierzu die Ubersicht bei Elmar Budde, Der Wald in der Musik, S. 52–58 und Christoph Eschenbach, Der Wald als Thema in der Musik, S. 103. Als typisches Beispiel sei die „Polka-Mazurka“ Dans les bois op. 119 (1866) von Emile Waldteufel genannt (Album der beliebtesten Tänze für das Pianoforte, Bd. 2, Plattennummer „Collection Litolff No. 1543“), deren „Introduction“ das Bestreben erkennen lä sst, in denkbar knappster Weise ein charakteristisches Lokalkolorit anzudeuten, wozu die linke Hand kurz die Idiomatik eines Hö rnerduos (Hornquinten) zitiert, in der rechten Hand (hohe Lage, floskelartige Repetition kurzer Tonfolgen, Triller) stilisierter Vogelgesang imitiert wird. Instruktiv ist auch die „Erzä hlung am Clavier“ Waldfahrt von Wilhelm Tappert, da sie gä ngige ›symbolic codes‹ der musikalischen Walddarstellung in schlichter, gleichsam aufgedrö selter Form prä sentiert, Wilhelm Tappert, Waldfahrt, oder: Der kleine Fritz besucht den Herrn Ruprecht. Eine Erzählung am Clavier, in: ders., Musik und musikalische Erziehung, Berlin 1867, S. 56–72. Erwä hnt sei ferner, dass unter den 1900 verö ffentlichten Dorf- und Waldidyllen op. 179 von Nicolai von Wilm die Nr. 3 den wagnerschen Titel Waldweben trä gt. Die Stü cke der dritten Serie tragen die Titel „Im Walde“, „Max“, „Agathe“, „Strophen des Caspar“, „Aennchen und Agathe“ und „Wilde Blumen“. In einem Brief an seinen Verleger merkt Heller an: „Ich wollte mit den Uberschriften die Stimmungen der bekannten Gestalten bezeichnen, und da sie sozusagen Kinder des Waldes, schienen sie mir ein guter Vorwurf fü r solche Bilder.“, zitiert nach Christoph Eschenbach, Der Wald als Thema in der Musik, S. 105. Hingewiesen sei ferner auf Hellers Pastorale Sylvana (op. 48,2) und seine vier ›Freischütz-Etü den‹ (op. 127).

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

in gleicher Frische.“71 An Klavierliteratur seien noch die Forest Idylls op. 19 (1884) und Woodland Sketches op. 51 (1896) des Amerikaners Edward McDowell erwä hnt, der unter anderem in Frankfurt bei Joachim Raff Komposition studiert hatte. An Beispielen symphonischer ›Waldmusiken‹ ist zunä chst die Wald-Symphonie fü r großes Orchester op. 120 des englischen Komponisten und ›Wagnerianers‹ John Lodge Ellerton (1801–1873) zu nennen, die 1857 in Aachen uraufgefü hrt und 1861 bei Breitkopf & Hä rtel verlegt wurde. Im Druck sind jedem Abschnitt der Symphonie epigraphische Verse aus James Thomsons The Seasons (1730) zugeordnet. 72 Erwä hnt seien weiterhin die Konzertouvertü re La selva incantata (1868) des WeberSchü lers Julius Benedict, die an Uhlands Harald-Ballade angelehnte „lé gende-symphonique“ La forêt enchantée (1878) von Vincent d’Indy und Alexander Glasunows symphonische Fantasie Der Wald op. 19 (1887). Ausfü hrlichere Besprechung verdient die 3. Symphonie F-Dur ›Im Walde‹ op. 153 von Joachim Raff, die 1869 in Wiesbaden entstand. Nach der Erstauffü hrung, die am 17. April 1870 im Umfeld der Premiere seiner Oper Die Dame Kobold in Weimar erfolgte, ü berarbeitete Raff die Partitur, die im Jahr darauf bei Fr. Kistner in Leipzig im Druck erschien.73 Er verfasste fü r seine Symphonie ein detailliertes Programm, das allerdings erst postum im Lexikon der deutschen Konzertliteratur (1909) „nach dem handschriftlichen Entwurfe“ abgedruckt wurde. 74 Im ersten Satz („Am Tage. Eindrü cke und Empfindungen“) stellt Raffs Programm der Musik die sukzessive Verlaufsform subjektiver Landschaftserfahrung zur Seite. Besonderes Augenmerk legt seine Schilderung auf den „Schauer“ beim Betreten des ›Waldesdoms‹: Den Wanderer lockt es wie mit fernem leisen Grü ßen zum Walde, dem er auf bekanntem Pfade zuschreitet. Bald tritt er in den smaragdenen Dom, den die ragenden Wipfel ü ber ihm wö lben; ihn befä llt jener leise Schauer, welchen man beim Eintritt in unsere gotischen Tempel empfindet, deren Pfeilerbü ndel uns an die Gruppen schlanker Stä mme gemahnen, unter denen wir im Walde dahinschreiten.75

Lä sst sich das „leise[] Grü ßen“ auf das gleich zu Beginn des Satzes (T. 2–8) erklingende Quartsignal der F-Hö rner beziehen, die somit als lockende Stimme des Waldes fungieren, so fä llt es weniger leicht, den Moment des Waldeintritts im Notentext zu verorten. Am plausibelsten erscheint der Bezug zu der ungewö hnlichen Des-Dur-

71

72

73

74

75

Walter Niemann, Die Musik der Gegenwart und der letzten Vergangenheit bis zu den Romantikern, Klassizisten und Neudeutschen, Berlin 1913, S. 17. Siehe hierzu Jü rgen Schaarwä chter, Two Centuries of British Symphonism. From the beginnings to 1945, Bd. 1, Hildesheim 2015, S. 111–116. Titelblatt: „Im Walde. / Sinfonie / (No. 3. F-dur.) / fü r grosses Orchester / von / Joachim Raff. / op. 153.“ Plattennummer des Partiturdrucks: 3568. Fü r eine ausfü hrliche Beschreibung und Analyse der Symphonie siehe Carol S. Bevier, The Program Symphonies of Joseph Joachim Raff, Denton/Texas 1982, S. 25–93. Theodor Mü ller-Reuter, Lexikon der deutschen Konzertliteratur. Ein Ratgeber für Dirigenten, Konzertveranstalter, Musikschriftsteller und Musikfreunde, Leipzig 1909, S. 383–386. Zitiert nach Theodor Mü ller-Reuter, Lexikon der deutschen Konzertliteratur, S. 384.

97

II. Wald, Musik und Waldmusik

Wendung in T. 51ff. (siehe Notenbeispiel 176), die in ihrer ›schaurigen‹ Schwelldynamik (fpp crescendo) und gleichzeitigen Verdichtung der klanglichen Textur (Synkopierung der Geigen, Teilung der Bratschen, Einsatz der Posaunen) an einen plö tzlichen Umschwung der (Licht-)Stimmung denken lä sst.

Notenbeispiel 1: Joachim Raff, Sinfonie Nr. 3 ›Im Walde‹ op. 153, T. 49ff.

Der „Wanderer“ lä sst sich durch die erhabenen Eindrü cke des dunklen Waldesinneren nicht aus der kontemplativen Ruhe bringen und vermag folglich, seine melancholische Gemü tsstimmung in den Naturraum abspiegelnd, mit der „Natur selbst“ in dialogischen Austausch zu treten:

76

98

Erstellt nach dem Partiturerstdruck. Instrumentenbezeichnungen wurden angepasst; Celli und Bä sse sind im Druck zweizeilig notiert, spielen in der wiedergegebenen Passage aber durchwegs in Oktaven. Die Setzung der Bindebö gen folgt der Gepflogenheit des Drucks. In T. 50 des Drucks sind in den Violinstimmen jeweils beide Notenwerte punktiert (entsprechend dem ternä ren Rhythmus der Bratschen); hier angepasst an die Notation der Flö tenstimme.

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

Da raschelt’s im Laube, es ist das erschreckte Wild, das den Tritt des Jä gers zu vernehmen glaubt. Der Wanderer schreitet ruhig weiter und gibt sich seinen Empfindungen hin; auf seine Lippen tritt eine einfache Weise, die nicht ohne jeden Zug von Melancholie ist, welche ihren Grund im Bewusstsein des Bruches zwischen Menschheit und Natur hat. Aber ist es nicht, als ob der singende Wanderer die Stimmen des Waldes erweckte? Ist es nicht, als ob die Wipfel und die Vö gel, die in denselben sich wiegen, in sein Lied mit einstimmten, ja als ob die Natur selbst dem Sä nger mit einem Gegengesang antwortete, der, verstummend, ein langes Echo erweckt, welches dem Dahinschreitenden wie ein Nachruf folgt.77

Etablierte Metaphorik aufgreifend, schildert Raff die musikalische Durchfü hrung und Entwicklung des weiteren Symphoniesatzes, der unter anderem mit der Kontrapunktik kanonischer Stimmeinsä tze aufwartet, als Tour de Force durch unwegsames Unterholz hin zur vertrauten Weite eines lichten Hochwaldes (Reprise): Der Weg wird beschwerlicher, der Wald dichter; jetzt geht es aufwä rts ü ber einen Weg, der durch blossliegende Baumwurzeln fast ungangbar gemacht wird; nun noch eine Strecke Durcharbeitens durch Dickicht, da langt der Wanderer oben in einem prachtvollen Schlage von hohen krä ftigen Stä mmen an. Es weitet sich wieder die Brust und die ersten frohen Stimmungen kehren zurü ck.78

Eine kurze Jagdepisode folgt, der jedoch die romantische Negativwertung als „Blutarbeit“ anhaftet: „Der Wanderer wendet sich ab von diesem Bilde“, schreibt Raff.79 Die eingetretene „Disharmonie“ lö st sich schließlich „in einem mä chtig anschwellenden Akkorde“ auf. – Der zweite Satz („In der Dä mmerung“) ist in die Abschnitte „Trä umerei“ (Largo) und „Tanz der Dryaden“ (Allegro assai) unterteilt. Erneut stellt sich ein harmonisches Stimmungsverhä ltnis zwischen Subjekt und Umgebung ein, doch liegt der programmatische Fokus nun auf der kreativen Imagination, die in der „geheimnisvollen Stille“ durch das „Zwielicht“ und „leise Flü stern“ des Waldes angeregt wird. Die Beeinträ chtigung der sinnlichen Wahrnehmung durch das Erhabene bewirkt eine Auflö sung der Grenzen von Realitä t und Idealitä t; Erinnertes und Eingebildetes wird dem ruhenden „Wanderer“ in der Landschaft gegenwä rtig: Er glaubt die Stimme der Geliebten zu hö ren, und sein Herz antwortet dieser Stimme. Aber den Seufzern seiner Sehnsucht erwidert teilnehmend, beschwichtigend die Stimme der Natur. Das Herz wird ruhiger, der Schlummer naht den mü den Sinnen. Unmerklich verirren sich die Gedan-

77

78 79

Zitiert nach Theodor Mü ller-Reuter, Lexikon der deutschen Konzertliteratur, S. 384. Mit der „einfache[n] Weise“ dü rfte das ab T. 84 (Poco più Allegro) zunä chst durch das Streichorchester vorgestellte espressivo-Thema bezeichnet sein. Ebenda, S. 384. Zur romantischen Bewertung der Jagd vgl. den Abschnitt II.5.3.a.

99

II. Wald, Musik und Waldmusik

ken: der Traum beginnt. In diesem aber zeigt sich der entfesselten Phantasie ein unheimlicher, schreckhafter Gegenstand. […] Der Traum hat ihn glü cklicherweise getä uscht […]; nur das leise Flü stern der vom Abendhauch bewegten Wipfel ist zu hö ren. Der Wanderer […] entschlummert […]. / […] Im Zwielicht huschen jene zarten Wesen, womit die Phantasie den Walde bevö lkert, hervor und umgaukeln den Schlä fer.80

Fü r den dritten Satz weicht Raff von der subjektiv-landschaftlichen Auffassung der Thematik ab, wozu er anmerkt: „Hat der Tondichter bis hierher den Wald immer noch in Beziehung zum Menschen dargestellt, so lä sst er ihn nunmehr als etwas elementarisch Selbstä ndiges erscheinen, und symbolisiert ihn durch eine Melodie, die wir Waldweise nennen wollen. – Das stille Weben der Nacht im Walde beginnt“ und die „mahnenden Hornrufe des treuen Eckart“ kü nden vom „Nahen der wilden Jagd“: Unter den unheimlichen Klä ngen eines Gespensterreigens erscheint das Geleite der Frau Holle; dann naht diese selbst. Wehklagend verwü nscht das unselig wonnige Weib ihr Los, welches sie verdammt, an Wotans Seite ewig dem nä chtlichen Zuge zu folgen. Wotan selbst, der Ahasver des Waldes, […] zieht in finsterer Majestä t dem Gefolge vorauf [sic], welches mit wildem Jubel den gefallenen Gott begleitet.81

Um die dä monische Nachtseite des Waldes in dramatische Aktion treten zu lassen, zitiert Raff ein Aufgebot sagenhafter Gestalten herbei, wobei er die Anregung zu dem Ensemble aus getreuem Eckart, Holle, Wotan und wilder Jagd Ludwig Bechsteins Deutschem Sagenbuch (1853) entnommen haben dü rfte. 82 Der unbä ndige Tross zieht tosend vorü ber, um nach kurzem Intermezzo, „gleichsam in ü berstü rzter Hast, vom Grauen des jungen Tages zur Eile angespornt“, noch einmal zurü ckzukehren. Dann endlich weicht die Nacht, der „Morgenwind und die Vö gel erwachen“, erneuert rauscht „die Waldweise […] durch die bewegten Wipfel. Auch der erwachte Wanderer erhebt seine Stimme und schliesst sich dem Hymnus der Natur an.“ Dieses Konzept formaler Schlussgestaltung erinnert an Beethovens ›Pastorale‹ (5. Satz: ›Hirtengesang‹). Im vollen Orchester ertö nt zuletzt als Reminiszenz nochmals die „einfache Weise“ aus dem ersten Satz, das symphonische Ganze einfassend.

80 81 82

Zitiert nach Theodor Mü ller-Reuter, Lexikon der deutschen Konzertliteratur, S. 385. Ebenda, S. 385. Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch, Leipzig 1853, S. 26, 430f. und 748f. Frau Holle (Hulda) wird hier (S. 391) mit der Gö ttin Venus, der legendä ren Herodias und dem „laufenden Juden“ identifiziert – daher wohl Raffs Rekurs auf „Ahasver“. Als Teilnehmerin der wilden Jagd wird Frau Holle bereits bei Grimm gefü hrt: „Gleich Wuotan fä hrt Holda aber auch schreckenhaft durch die lü fte und gehö rt, wie der gott, zu dem wü tenden heer.“, Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Bd. 2, Gö ttingen 21844, S. 246.

100

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

3.3. Waldszenen im Musiktheater: Kontexte und Tendenzen Herrlich ists im Grü nen! Mehr als Opernbü hnen Ist mir Abends unser Wald, Wenn das Dorfgelä ute Dumpfig aus der Weite Durch der Wipfel Dä mmrung hallt. Friedrich Matthison83 Der tiefsinnige Geschichtsforscher wird an Gedichten, die im Theater gefielen, die Zeit erkennen. Ludwig Tieck84

Wie im Allgemeinen die landschaftliche Natur oft weniger um ihrer selbst willen, denn „als Trä ger vielschichtiger Bedeutungen, Funktionen und Verweisungszusammenhä nge“85 Eingang in die (erzä hlende) Literatur gefunden hat, so lassen sich auch Waldszenen in der dramatischen Literatur meist spezifischen dramaturgischen und inhaltlichen Kontexten zuordnen. Wald bildet keinen austauschbaren, neutralen Hintergrund, sondern erscheint oft als ein Teilmoment der Handlung, beispielsweise indem er (etwa in seiner Funktion als Verwirrungsstifter oder Angstauslö ser) den Lauf der Handlung beeinflusst, handelnde Personen mit ihm interagieren (indem sie ihn etwa als Versteck nutzen oder in Dialog mit ihrem Echo treten), oder indem er der szenischen Etablierung einer (Figuren-)Stimmung verpflichtet ist. Eine quantitativ-statistische Erhebung zur Waldthematik im Musiktheater mü sste unweigerlich mit einer detaillierten qualitativen Untersuchung einhergehen, da etwa einer bloßen Erwä hnung im Titel oder (Neben-)Text eines Librettos noch wenig Aussagekraft zukommt und eine Beurteilung der vielfä ltigen musikalischen Realisierungen sich schwerlich auf den Nachweis einzelner, im Notentext zu identifizierender Spezifika stü tzen kö nnte.86 Kann im Rahmen vorliegender Studie beileibe keine derartige Auswertung geleistet werden, so mö gen im Folgenden zumindest einige stoffliche Kontexte, innerhalb welcher Wald mit einiger Regelmä ßigkeit zum Gegenstand (musik-)theatraler Darstellung wurde, sowie allgemeinere Tendenzen 83

84

85

86

Friedrich Matthison, Der Wald, in: Fü ssli, Johann Heinrich (Hg.), Friedrich Matthisons Gedichte, Zü rich 1792, S. 93–95 (hier S. 93). Ludwig Tieck, Einleitung, in: Eduard von Bü low (Hg.), Friedrich Ludwig Schröders dramatische Werke, Bd. 1, Berlin 1831, S. III–LXIV (hier S. XII). Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 297. So besteht etwa Eichendorffs Verfahren darin, „Landschaftselemente im Sinne von Kulissen so zusammen[zustellen], wie er sie in ihrer symbolischen Bedeutung fü r seine Figuren und deren Schicksale braucht“, Lothar Pikulik, Erzähltes Welttheater. Die Welt als Schauspiel in der Romantik, Paderborn 2010, S. 117–119. Vgl. hiermit Unverrichts Uberlegungen, ab wann von einem in der Oper realisierten ›Bergmilieu‹ gesprochen werden kö nne, Hubert Unverricht, Das Berg- und Gebirgsmilieu und seine musikalischen Stilmittel in der Oper des 19. Jahrhunderts, in: Heinz Becker (Hg.), Die ›Couleur locale‹ in der Oper des 19. Jahrhunderts, Regensburg 1976 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 42), S. 99– 119 (hier S. 99f.).

101

II. Wald, Musik und Waldmusik

angesprochen werden, die in ihrer Gesamtheit auf eine ab dem spä ten 18. Jahrhundert stark zunehmende Konjunktur der Waldthematik auf den Bü hnen hindeuten. Liegt hierbei der Fokus auf der deutschsprachigen Musiktheaterproduktion, so schien doch eine strikte Beschrä nkung der Beispiele in Anbetracht der Wechselwirkungen zwischen Sprech- und Musiktheater, insbesondere der intensiven Rezeption des ersteren durch das letztere, sowie der intereuropä ischen Beeinflussung nicht sinnvoll. Die Ablö sung des Dramma per musica als dominierende Form des Musiktheaters bedingte zusammen mit der gegen Ende des 18. Jahrhunderts lauter werdenden Forderung nach „umweltgerichteten Sujets“87 in historischem und zeitgeschichtlichen Milieu eine tiefgreifende Revision der gä ngigen Bü hnenbilder, Spielorte, Rollentypen und Dekorationen. 88 Die gesteigerte Wertschä tzung fü r erhabene und pittoreske Landschaften und die Naturhinwendung der literarischen (Frü h-)Romantik fanden ihre Parallele in einer Vermehrung einschlä giger ›plein-air‹-Bü hnenbilder, wie Gudrun Busch anhand des Inventarbestands der Mü nchener Oper nachweist. 89 Christoph Nieder merkt an, dass etwa „der ›Deutsche Wald‹ […] im Freischütz […] eine Spielart des in ganz Europa beliebten Pittoresken“90 darstellt, wie es im Musiktheaterbereich insbesondere durch die Opé ra-comique kultiviert wurde. Siegfried Goslich resü miert, dass der romantischen Oper zwischen 1813 und 1850 durch die fü hrenden Vertreter des (deutschen) dichterischen Schrifttums zwar „kein wegweisendes Libretto“, aber doch ein „reiche[r] Quell der Stoffe“ erschlossen wurde.91 Als einem der zentralen Motive kü nstlerischen Ausdrucks kam dem Wald in vielen dieser Stoffe eminente Bedeutung zu, die sich auch auf das Musiktheater ü bertrug.92 Insbesondere brachte die produktive Rezeption mittelalterlicher Stoffe eine Vielzahl musiktheatraler Werke mit Waldschauplatz hervor, wovon an anderer Stelle (Kapitel IV.3.) einige Beispiele gegeben werden. Auch technische Entwicklungen trugen dazu bei, dass die ›Bü hnenprä senz‹ des Waldes eine neue Qualitä t erreichte. Heinz Becker merkt an, dass mit dem Ubergang von der Rampen- zur Guckkastenbü hne die szenische Tiefendimension an Bedeutung gewann, womit eine Ausdifferenzierung musikalischer Fernwirkungen (›come

87

88

89

90 91 92

Heinz Becker, Die ›Couleur locale‹ als Stilkategorie der Oper, in: ders. (Hg.), Die ›Couleur locale‹, S. 23– 45 (hier S. 28). An Beispielen fü r Opern ›komischer‹ Genres, welche diese Entwicklung reprä sentieren und bereits im Titel auf den Waldschauplatz verweisen, seien genannt: die Komö die Les deux Chasseurs et la Laitière (1763) mit Musik von Egidio Duni, Die Jagd (1770), Singspiel von Johann Adam Hiller, Silvain (1770) und Guillaume Tell (1791), Opé ras-comiques von André Gré try, Der Holzhauer (1778), komische Oper von Georg Anton Benda, Robin Hood; or, Sherwood Forest (1784), Comic Opera von William Shield, sowie The Children in the Wood (1793), Comic Opera von Samuel Arnold. Gudrun Busch, Die Unwetterszene in der romantischen Oper, in: Heinz Becker (Hg.), Die ›Couleur locale‹, S. 161–212 (hier S. 164). Christoph Nieder, Von der ›Zauberflöte‹ zum ›Lohengrin‹, S. 25. Siegfried Goslich, Die deutsche romantische Oper, Tutzing 1975, S. 156. Einige knappe Anmerkungen zur Waldthematik in der romantischen Librettistik macht Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 98–100.

102

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

da lontano‹) einherging.93 Aus der franzö sischen Theatertradition dekorativer Chorszenen heraus etablierte sich die Inzidenzmusik der tö nend und singend aus Waldkulissen auf- und abziehenden Jä gerchö re als beliebtes Mittel akustischer Raumgestaltung. 94 Ferner konstatiert Becker, dass die „schwarze Romantik mit ihrem Hang zum Nä chtigen und Spukhaften […] ohne die Entwicklung der Beleuchtungstechnik nicht zu voller Bü hnenwirksamkeit gekommen“ wä re. Erst durch Einsatz der Gasbeleuchtung konnte das Zwielicht des Waldes in all seinen Schattierungen und Farbnuancen adä quat auf die Theaterbü hne gebracht werden. Das „neuartige Erlebnis der Raumtiefe wurde von faszinierenden Lichtwirkungen unterstü tzt, der schroff abgesetzte Chiaroscuro des Barock verfloß in der feingestuften, konturenarmen Farbgebung des romantischen Bü hnenbildes.“95 Wie Nieder feststellt, sind die gä ngigsten Spielorte in der Librettistik des 19. Jahrhunderts hö fische (Vor-)Zimmer oder ö ffentliche Plä tze, die relativ zwanglos Begegnungen aller beteiligten bü rgerlichen und adligen Akteure erlaubten. 96 – In besonderem Maße ermö glichte der freie Naturraum des Waldes Begegnungen ü ber sä mtliche Standesschranken hinweg. Ein frü hes, anschauliches Beispiel hierfü r ist die Opé ra-comique Le Roi et le fermier (1762) von Pierre-Alexandre Monsigny. Der erste und zweite Akt spielen durchwegs „dans une Forê t“; um die Verwechslung mit einem kultivierten Park auszuschließen, schreibt der Librettist Michel-Jean Sedaine ausdrü cklich vor, dass die Bä ume nach pittoresker Manier „çà & là […] & sans ordre“97 auf der Bü hne zu verteilen seien. Wä hrend einer hö fischen Jagd zieht ein Sturm auf, der Tross verliert sich (Akt I) und der Kö nig findet Zuflucht bei einer Waldbauernfamilie, deren ungekü nstelt herzliche Art ihn beeindruckt und rü hrt. Vor der Kulisse der konventionsfreien Waldnatur kö nnen sich Kö nig und Bauer auf einer Ebene begegnen. Bedeutsamer noch wurde fü r die Librettistik des 19. Jahrhundert die traditionelle Auffassung des Waldes als prä kultureller Außenbezirk, der Begegnungen mit außerhalb der Gesellschaft stehenden Personen, insbesondere aber auch mit nichtoder halbmenschlichen Wesen ermö glicht. Wald bildet in diesem Sinne den ›common ground‹ fü r Personenkonstellationen zwischen Alltags- und Zauberwelt. Libretti nach Mä rchenvorlagen, wie sie auf deutschen Bü hnen ab den 1770er Jahren aufkamen 98 , bedurften dieses intermediä ren Raums in besonderem Maße. Eine Waldbegegnung der besonderen (und damit zugleich wieder typischen) Art macht

93 94

95 96 97

98

Heinz Becker, Die ›Couleur locale‹ als Stilkategorie, S. 32f. Auch die Etablierung des Mä nnerchorgesangs, als eine der bedeutendsten Breitenerscheinungen der Romantik, war hierbei von Bedeutung. Sie ä ußerte sich in der Oper in unzä hligen Jä ger-, Soldatenund Trinkliedern. Charakteristika und Beispiele listet Siegfried Goslich, Die deutsche romantische Oper, S. 352–354. Heinz Becker, Die ›Couleur locale‹ als Stilkategorie, S. 34. Christoph Nieder, Von der ›Zauberflöte‹ zum ›Lohengrin‹, S. 11. [Michel-Jean Sedaine], Le Roi et le fermier. Comedie en trois actes. Mêlée de morceaux de Musique, Paris 1762, S. 1. David J. Buch, Magic Flutes & Enchanted Forests. The Supernatural in Eighteenth-Century Musical Theater, Chicago 2008, S. 265–267.

103

II. Wald, Musik und Waldmusik

etwa Anna im zweiten Akt von Marschners Hans Heiling (1833). Auf einem abendlichen Spaziergang in „Wilde[r] Wald- und Felsengegend“ schü ttet sie den geduldig zuhö renden Bä umen ihr Herz aus (II/1, Rezitativ und Arie), als plö tzlich Furcht sie anficht: „Von welcher Seite bin ich denn gekommen? […] ich habe mich wohl gar verirrt? […] Und wenn die Nacht mich ü berfä llt! Hier soll es nicht geheuer sein …“. Und tatsä chlich „murmelt, rauscht“ es schon, Gnome steigen aus Gebü schen und Klü ften, die Kö nigin der Erdgeister erscheint hö chstpersö nlich, um Anna darü ber aufzuklä ren, dass ihr Geliebter Hans in Wahrheit ein „Geisterfü rst“ sei.

a. Irrende Ritter Allgemein gesprochen, lag das Hauptstoffgebiet der Operndichtungen (im Dramma per musica und der Tragé die lyrique) bis ins 18. Jahrhundert in der Heldensage und -geschichte des klassischen Altertums. Wald mochte etwa als stilisiertes Requisit einer pastoralen Szene, als generischer Schauplatz der Jagd oder Teil gebä ndigter Natur (hö fischer Garten, Hain eines Tempels) in Erscheinung treten, doch waren in der Szenerie der Barockoper mit ihrem Grundvorrat tableauartiger Typen insgesamt „die ›plein-air‹-Szenen noch in der Minderzahl“99. Zu den bedeutendsten Abweichungen von dieser stofflichen Norm gehö rten die dutzendfach vertonten Libretti nach den Hauptwerken von Ludovico Ariost (Orlando furioso, 1516/1532) und Torquato Tasso (La Gerusalemme liberata, 1575). 100 In beiden Werken sind wichtige Handlungsmomente im Wald angesiedelt. Im Orlando ist dieser primä r ein Ort des Kontrollverlusts und der (erotischen) Irrfahrten; in seiner Formlosigkeit und Obskuritä t bildet er die naturrä umliche Entsprechung zum Zustand menschlicher Verrü cktheit und dient gewissermaßen als Paradigma fü r die Erzä hlstruktur des weitlä ufigen Epos, das sich fortwä hrend in episodischen Nebenwegen verlä uft.101 Auf ihren Waldwanderungen sind die irrenden Ritter unerkannten Mä chten ausgesetzt, „deren Verfü hrungskraft den verborgenen Tiefen ihrer eigenen zü gellosen Leidenschaften entspringt.“102 Zu den (heutzutage) bekanntesten Opernadaptionen des Orlando furioso zä hlen diejenigen von Georg Friedrich Hä ndel. 103 Im zweiten Akt seines Orlando (1733) 99

100

101

102 103

Siehe die knappe Ubersicht bei Gudrun Busch, Die Unwetterszene, S. 162f. Busch weist darauf hin, dass quasi ›wildromantische‹ Landschaftstypen in der Geschichte der Oper bereits seit dem 17. Jahrhundert durch die Unwetterszene vorgeprä gt wurde, ebenda, S. 180. Hierzu Siegfried Goslich, Die deutsche romantische Oper, S. 129. Ubrigens befanden sich beide Werke (jeweils in deutscher, Tasso zudem in franzö sischer Ubersetzung) in Wagners Dresdener Privatbibliothek, Curt von Westernhagen, Richard Wagners Dresdener Bibliothek 1842–1849. Neue Dokumente zur Geschichte seines Schaffens, Wiesbaden 1966, Nr. 4 und Nr. 138, sowie Hinweis auf S. 113. Zum Wald in Orlando furioso siehe Marianne Stauffer, Der Wald, S. 178–194 und Robert P. Harrison, Wälder, S. 118–125. Robert P. Harrison, Wälder, S. 120. Erwä hnt sei ferner die Tragé die lyrique Roland (1778) von Niccolò Piccini, wo der zweite Akt im Wald, am Brunnen der Liebe und dem von Merlin verzauberten Brunnen des Hasses spielt. Mehrere Waldszenen weist auch Joseph Haydns Dramma eroicomico Orlando paladino (1782) auf.

104

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

findet sich die trauernde Dorinda in einem Wald ein, um dem Gesang einer Nachtigall zu lauschen, der ihrer melancholischen Stimmung genau entspricht („Amoroso rosignolo / Par che […] accompagni il mio dolor“); die Waldlandschaft fungiert als Seelenspiegel. – Auf den Gesä ngen 4–6 aus Ariosts Epos basiert die erfolgreiche Libretto-Adaption Ginevra Principessa di Scozia (1708) von Antonio Salvi, die unter anderem von Antonio Vivaldi (1736), Georg Christoph Wagenseil (1745), Ferdinando Bertoni (1753) und wiederum Hä ndel (Ariodante, 1735) in Musik gesetzt wurde. Das Stü ck behandelt die vermeintliche Untreue der schottischen Kö nigstochter Ginevra, deretwegen sich ihr Geliebter Ariodante am Schluss des zweiten Akts selbstmö rderisch ins Wasser stü rzt. Er ü berlebt und wird in einer Waldumgebung angespü lt, wo ihn Dalinda, die ebendort Zuflucht vor Widersachern sucht, ü ber die intriganten Verwicklungen aufklä rt: Sie selbst habe – verkleidet als Ginevra – dem Rivalen Polinesso Zutritt zur Schlafkammer gewä hrt; Ginevra hingegen sei unschuldig. Ariodante kehrt daraufhin an den Kö nigshof zurü ck, um in einem Turnier fü r ihre Ehre einzustehen.104 So markiert sein Erwachen in der Waldwildnis einen persö nlichen Tief- und dramatischen Wendepunkt; nach dem Muster mittelalterlicher Epik fungiert die Waldepisode als ›rite de passage‹. Die gleiche Handlung liegt dem Dramma eroico Ginevra di Scozia (1801) von Giovanni Simone Mayr zugrunde (Libretto: Gaetano Rossi), das sich ü ber Jahrzehnte hinweg erfolgreich auf den europä ischen Bü hnen behauptete.105 Im Vergleich der Libretti zeigt sich der erhö hte Stellenwert, welcher der Charakterisierung des Schauplatzes zukommt: Wo sich das von Hä ndel komponierte Textbuch mit der lapidaren Bü hnenanweisung „Bosco“ (III/1) begnü gte, wird jetzt ein „Foltissimo e vasto bosco“ mit einer prä chtigen Eremitage verlangt, deren Anblick in pittoresker Manier teilweise durch Bä ume verdeckt sein soll, „che ingombrano tutta la Scena“ (II/3). In romantischer Waldabgeschiedenheit leben hier die „Solitarj della Scozia“. Ariodante kommt zu sich und schildert, an einen Baumstamm gestü tzt, in ausgedehntem Monolog seine Landschaftswahrnehmungen: Ove son io?.. Dove m’inoltro! quali Ombre opache diffonde d’ogni intorno La tortuosa selva, e asconde il giorno? Che silenzio profondo! Muta quı̀ par natura. Oh! come tutto Quı̀ spira un sacro orrore! Come si pasce un cor nel suo dolore! Questo, sı̀, questo è il luogo, che richiede La mia desolazion. […]106

104

105

106

Abgewandelt liegt das Handlungsmodell (Bezichtigung und Bedrohung der in Wahrheit treuen Edelfrau) dann auch Webers Euryanthe und Schumanns Genoveva zugrunde. Zur außergewö hnlichen Auffü hrungsgeschichte siehe Claudio Toscani, Soggetti romantici nell’opera italiana del periodo Napoleonico (1796–1815), in: Guido Salvetti (Hg.), Aspetti dell’opera italiana fra Sette e Ottocento: Mayr e Zingarelli, Lucca 1993, S. 13–70 (hier S. 56ff.). Zitiert nach dem Wiener Librettodruck (Mattia Andrea Schmidt) 1801, S. 29.

105

II. Wald, Musik und Waldmusik

Der Wald in seiner Dunkelheit und Stille ist hier – wie sich in der Eingangsfrage „Ove son io?“ konzis ausdrü ckt – zunä chst ein Raum der Fremdheit. Zugleich ist es genau der Schauplatz, den die Stimmung des Protagonisten ›verlangt‹ („richiede“): In ihm spiegeln sich die innere Verstrickung, Orientierungslosigkeit und Vereinsamung. Der suizidale Ariodante hat sich in umfassendem Sinne selbst verloren; die Stimme der ä ußeren wie auch eigenen menschlichen Natur dü nkt ihm „verstummt“. Erst allmä hlich findet er in der sakralisierten Aura des Waldes wieder zu sich. Claudio Toscani weist darauf hin, dass dieser statische Szenentyp, in dem der Protagonist sich mit der umgebenden Natur in Einvernehmen setzt, eine dramaturgische Begleiterscheinung der Etablierung romantischer Schauplä tze darstellt.107 – Mit einem ungewö hnlich ausgedehnten Orchestervorspiel (22 Takte) leitet Mayr die Waldszene ein. 108 Wenngleich sie eher ä ußerlicher Art sind, erscheinen dabei einige strukturelle Ahnlichkeiten zum Beginn der Freischütz-Ouvertü re bemerkenswert: Ein durch Pausen artikuliertes Unisono der Streicher und Fagotte (Larghetto, piano) steigert sich zur Klimax eines Oktavsprungs, ehe sich ü ber der pendelnden Grundierung der tiefen Streicher der ›Gesang‹ des Horns entfaltet (siehe Notenbeispiel 2109).

Notenbeispiel 2: Giovanni Simone Mayr, Ginevra di Scozia, II/3, T. 1ff.

In ihrer Ambivalenz als unheimlicher Schreckens- und idyllischer Zufluchtsort wird die Waldszene – freilich in weitaus konventionellerer Umsetzung als spä ter bei Weber110 – in den kontrastierenden Stimmungswerten des Erhabenen und Schö nen 107

108 109

110

Fü r die italienische Oper im Zeitraum von 1796–1815 konstatiert er: „Nella scenografia svolge un ruolo sempre più importante la natura […]. Dal punto di vista drammaturgico sono particularmente significativi alcuni momenti di stasi, nei quali l’eroe cerca conforto nella natura circostante, rappresentata da silenziose solitudini o da selvaggi scenari che fanno da sfondo a una passione disperata […].“, Claudio Toscani, Soggetti romantici nell’opera italiana, S. 20f. Siehe hierzu auch die Anmerkungen und das T. 5–11 zeigende Notenbeispiel ebenda, S. 54f. Erstellt nach einer Partiturabschrift aus der Ricasoli Collection (University of Louisville Music Library, Profana 122a). Weber sah die Ginevra am 25. Juni 1811 in Mü nchen und verfasste darü ber (unter dem Pseudonym „Simon Knaster“) eine Rezension fü r das Gesellschaftsblatt fü r gebildete Stä nde (Nr. 51, Sp. 415f.), in

106

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

evoziert. Der zeitgenö ssischen Beliebtheit des Einsiedlermotivs entsprechend, ist es hier nicht das Gestä ndnis Dalindas, sondern der Zuspruch eines Walderemiten (Gran Solitario), der den Helden zurü ck auf die ritterliche Bahn der Ehre fü hrt.

b. Zauberwä lder Nach den dü steren Wä ldern Ariosts wenden wir uns kurz den Zauberwä ldern Tassos zu. David J. Buch gab seiner materialreichen Studie ü ber das Wunderbare („marvelous“) im Musiktheater des 18. Jahrhunderts den Titel Magic Flutes & Enchanted Forests, „because these are among the most frequently encountered references in supernatural operas.“111 Als Schauplä tze wunderbarer und ü bernatü rlicher Vorgä nge erschienen Zauberwä lder schon im frü hen 17. Jahrhundert wiederholt auf den Musiktheaterbü hnen, etwa in franzö sischen Produktionen wie dem Ballet de l’Aventure de Tancrède en la Forêt enchantée (1619) oder dem Ballet des fées des forêts de St. Germain (1625).112 Das Motiv des Zauberwaldes war zwar „commonplace from epic romance“; andauernde Beliebtheit und dutzendfache Bü hnenrezeption verdankte es aber hauptsä chlich der Armida-Episode aus Tassos Versepos La Gerusalemme liberata. Ein typisches Bearbeitungsbeispiel stellt das 1784 mit der Musik Joseph Haydns in Esterhá za aufgefü hrte Dramma eroico Armida dar. Der dritte Akt fü hrt den Protagonisten Rinaldo in den „Orrido bosco“ (III/1), Machtbereich der sarazenischen Zauberin Armida, wo zunä chst nichts als das Murmeln sanfter Bä chlein und zarter Vogelgesang zu hö ren ist; zusehends nimmt der Wald „liebliche und verfü hrerische Zü ge“ („sembianze amene e seduttrici“) an, blumengekrö nte Nymphen tauchen zwischen den Bä umen auf und eine „dolce sinfonia“113 erklingt. Letztlich gelingt es jedoch Rinaldo, den trü gerischen Verlockungen des Zauberwaldes zu widerstehen, der daraufhin verschwindet.114 Bekannte Bearbeitungen des Sujets schufen zuvor bereits Jean-Baptiste Lully (Armide, 1686), Hä ndel (Rinaldo, 1711) und Christoph Willibald Gluck (Armide,

111 112 113

114

der er die Darbietung als „einen so herrlichen Ohrenschmauß, als sich Ref. seit langer Zeit nicht erinnert im hiesigen Theater gehabt zu haben“, rü hmt. Allerdings bemä ngelt er, dass der in Bayern gebü rtige Mayr „so gä nzlich in seinen Compositionen seinen deutschen Ursprung verlä ugnet“. Dass der Kapellmeister Joseph Weigl weitgehende Eingriffe in den Notentext vorgenommen habe, hä lt Weber unter diesen Umstä nden fü r entschuldbar; zitiert nach WeGA, (Dateiversion vom 8. Februar 2019). David J. Buch, Magic Flutes & Enchanted Forests, S. XXIf. Nachweise ebenda, S. 34f. Die kompositorische Realisierung einer „soft music“, die den Bü hnenvorgang begleitet, ist fü r diese Armida-Waldszene gang und gä be, vgl. David J. Buch, Magic Flutes & Enchanted Forests, S. 47–49. Ohne eine direkte Bezugnahme postulieren zu wollen, sei doch angemerkt, dass noch die ›Hö rnerstelle‹ (T. 9–24) in Webers Freischütz-Ouvertü re an diesen ›weichen‹ Vertonungstypus aus der Armida-Tradition gemahnt; Richard Wagner spricht diesbezü glich von einer „weiche[n] Waldphantasie“, Ueber das Dirigiren, Leipzig [1869], S. 42 [Hervorhebung von GH]. Zitiert nach dem gedruckten Libretto von Durandi Jacopo (?), Oedenburgo (Giussepe Siess) 1784. Nahezu wö rtlich entspricht diesem die Zauberwaldszene im zweiten Akt des Dramma per musica Rinaldo (Libretto: Giuseppe Maria Foppa, Musik: Pietro A. Guglielmi), das 1789 im venezianischen Teatro San Benedetto aufgefü hrt wurde.

107

II. Wald, Musik und Waldmusik

1777). Den Zauberwald im Titel tragen etwa das Ballett La foresta incantata (1754) von Francesco Geminiani und die 1803 in Berlin uraufgefü hrte Oper La selva incantata von Vincenzo Righini, beide auf Tassos Gerusalemme basierend. Auch Georg Joseph Vogler komponierte ein Ballett La forêt enchantée (1770 oder 1771) – nach eigenem Bekunden eine der allerersten Kompositionen mit der vierfachen Waldhornbesetzung, derer sich dann sein Schü ler Carl Maria von Weber wiederholt bedienen sollte. 115 Trotz abflauender Popularitä t brachten auch das 19. und frü he 20. Jahrhundert noch rund ein Dutzend Armida-Opern hervor.116 So findet sich die „Orrida selva“ (II/1), die durch Armidas Magie in einen „Giardino incantato, in cui mostrasi in tutto il suo aspetto la semplice natura“117 (III/1) verwandelt wird, etwa noch in Gioachino Rossinis Dramma per musica Armida (1817). Ganz ins Schaurige gewendet, erscheint der Zauberwald als Ort der Bewä hrung in Christoph Friedrich Bretzners mehrfach vertontem Singspiel-Libretto Das wütende Heer, oder: Das Mädchen im Thurm (1780).118 In einem „finstre[n] fü rchterliche[n] Wald“, dessen uralte Bä ume „noch von der Sü ndfluth her“ stehen, wird Grä fin Laura vom „wilden Jä ger“ in einem magischen Turm gefangen gehalten. „Kannst dir nichts grauerlichers [sic] denken, als wenn man in den Wald tritt. Das ü berfä llt einem [sic] gleich, und braußt, und weht und pfeift um einen herum, daß einem Hö ren und Sehen vergeht.“119 Allen Warnungen zum Trotz machen sich der Ritter Albert und sein alberner Waffenträ ger Robert auf den Weg (II/1: „Der Wald […]. Es ist Nacht. Mondschein.“). Ehe schlussendlich die Rettung der Grä fin gelingt, gilt es spukhaften Anfechtungen zu widerstehen: Ein „Sturm mit Donner und Blitz“ erhebt sich, das „wü tende Heer“ zieht mit einem „Chor wilder Stimmen, […] dumpfe[m] Geheul, Bellen der Hunde, und Blasen der Jagdhö rner“ vorü ber.120 Auch ein komischer Dialog Roberts mit dem Echo des Waldes darf nicht fehlen (II/3).121 115

116

117 118

119 120

121

Siehe hierzu den Hinweis in [Georg Joseph] Vogler, Utile Dulci. A[bt] Voglers belehrende musikalische Herausgaben, Heft 1, Mü nchen 1808, S. 55; hier ist der Titel des Ballets als La soirée enchantée wiedergegeben. Fü r bibliographische Auskunft zu dieser seltenen Publikation danke ich Rü diger ThomsenFü rst. Dass er „in seinem serieusen Ballet: La forêt enchantée, das erstemal zwey Paar Waldhö rner setzte“, behauptet Vogler auch im Lemma ›Instrumentalsatz‹, in: [Heinrich Gottfried Martin Kö ster (Hg.)], Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, Bd. 17, Frankfurt am Main 1793, S. 657f. (hier S. 658). Voglers Einfluss auf Webers Hornsatz behandelt Joachim Veit, Der junge Carl Maria von Weber. Untersuchungen zum Einfluß Franz Danzis und Abbé Georg Joseph Voglers, Mainz 1990, S. 261–266. Siehe hierzu den Aufsatz von Albert Gier, Ecco l’ancilla tua … Armida in der Oper zwischen Gluck und Rossini (mit einem Seitenblick auf Antonín Dvořák), in: Achim Aurnhammer (Hg.), Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1995 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 3), S. 643–660. Zitiert nach dem gedruckten Libretto, Napoli (Tipografia Flautina) 1817, S. 24 und 30. Nachweisbare Vertonungen (ohne Anspruch auf Vollstä ndigkeit): 1780 von Jakob Friedrich Gauß, 1780 von Johann André , 1782 von Johann Christoph Kaffka, 1787 von Josef M. Ruprecht, 1788 von Anton Schweitzer. Zitiert nach dem Librettodruck Stuttgart (Christoph Gottfried Mä ntler) 1780, hier S. 8. In der Vertonung dieser Szene durch Johann André lä sst sich ein mö gliches Vorbild fü r Webers Geisterchor in der Wolfsschlucht ausmachen, hierzu Thomas Bauman, North German Opera in the age of Goethe, Cambridge 1985, S. 188–191. Im gedruckten Libretto (S. 34) ist hierzu als Fußnote vermerkt: „Dieses Echo ist wirklich in der Natur; und nahe bey Leipzig ist eines, so ganze Zeilen sehr deutlich wiederholt.“

108

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

Auf ganz ä hnlichen Fü ßen steht das „romantisch-komische Volks-Mä rchen mit Gesang“ Das Sternenmädchen im Maidlinger Walde (1801) von Leopold Huber (Libretto) und Ferdinand Kauer (Musik), zu dem ü brigens Carl Maria von Weber 1816 ein Einlagelied (WeV D.5) komponierte. Eine 1804 in Berlin uraufgefü hrte Bearbeitung des Sujets als „Romantisches Feenmä rchen mit Gesang“ Die Sternenkönigin von Julius von Voß wird vom Rezensenten als „reich an Pomp, Geisterscenen, Verwandlungen und Theatercoups aller Art“ beschrieben. „Die Musik […] ist ein wahres Quodlibet: Kauer steht auf den Anzeigeblä ttern; aber eben so gut hä tten auch Weber, Himmel, Righini und Winter genannt werden kö nnen.“122 Hier heißt der Ritter Moritz und sein feiger Waffenträ ger Kaspar. Der erste Auftritt im „Gebirgigte[n] Wald“ (I/11) zeigt die beiden als Irrende: „Drei Wege! welcher mag der rechte seyn?“ Kaspar: „Ach Herr! einer fü hrt vielleicht in einen Sumpf, einer in einer [sic] Bä renhö le, einer in ein Rä ubernest. Ich hielt’ fü r das gescheut’ste, hin zu gehen, wo wir herkamen.“123 Eine „liebliche Stimme“ lockt den Ritter ins Unterholz, ein Fels tut sich auf und schließt ihn ein, wä hrend Kaspar aus Furcht eine „hohe, dick belaubte Eiche“ erklimmt. Indem der kurz darauf auftretende Knappe Kilian prahlt, er kö nne es mit einer ganzen „Kompagnie wü thender Rolande“ (I/13) aufnehmen, wird dem literarischen Vorbild der Waldepisode die Reverenz erwiesen. Wie sich an der reichen musikdramatischen Rezeptionsgeschichte ablesen lä sst, kommt den Waldepisoden aus Tassos Gerusalemme und Ariosts Orlando eine wichtige historische Vermittlungsfunktion zu, durch welche vorneuzeitliche Motive und Vorstellungen tradiert und fü r die kü nstlerische Produktion wachgehalten wurden: Der Wald als Ort der Verirrung und Bewä hrung, als autonome Zaubersphä re bezirzender Anmutung, als abenteuerlicher Raum des Plö tzlichen und Wunderbaren. Insbesondere durch Tieck, der sich in einer Waldepisode in Sternbald’s Wanderungen ausdrü cklich auf den „Geist von Ariosts Dichtungen“124 beruft, wurden diese ä lteren Vorstellungen aufgegriffen und der romantischen Literaturproduktion neu erschlossen. Es ist anzunehmen, dass der durch dutzendfache Ausgestaltung stets ä hnlicher Szenentypen bedingte Grad konventioneller Verbindlichkeit zu Erwartungshaltungen beim Theaterpublikum fü hrte: Wenn der Bü hnenvorhang zu einer Waldkulisse ö ffnete, konnte man sich auf wunderbare Vorgä nge und ü berraschende Effekte gefasst machen – der „Geist des Romantischen“ 125 stellte sich ein.

122

123 124

125

[anonym], „Berlin, den 21ten Decbr.“, Rubrik ›Nachrichten‹, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 7 (1805), Nr. 16 (16. Januar), Sp. 254–257 (hier Sp. 256f.). Zitiert nach dem Librettodruck Berlin (Christian Gottfried Schö ne) 1805, hier S. 27. Rudolf: „Oft ist es, als wenn der Geist von Ariosts Dichtungen ü ber uns hinwegfliegt, und uns in seinen krystallenen Wirbel mit fassen wird; nun horchen wir auf und sind auf die neue Zukunft begierig, auf die Erscheinungen, die an uns mit bunten Zaubergewä ndern vorü bergehn sollen: dann ist es, als wollte der Waldstrom seine Melodie deutlicher aussprechen, als wü rde den Bä umen die Zunge gelö s’t, damit ihr Rauschen in verstä ndlichern Gesang dahinrinne.“, Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Bd. 2, S. 54. Vgl. hierzu Kapitel VII.1.

109

II. Wald, Musik und Waldmusik

c. Im Wald, da sind die Rä uber Zur epochalen Konjunktur des Waldes auf der Opernbü hne trugen auch spezifische Schauplatzqualitä ten fü r bestimmte modische Sujets bei. So verlangte etwa die um die Wende zum 19. Jahrhundert besonders im franzö sischen und italienischen Musiktheater florierende Mode der Rä uber- und Brigantenstoffe nach szenisch adä quatem „Dä mmerlicht von Hö hlen, Wä ldern, Felsenschluchten und Klippen“126. In Nicolas Dalayracs einaktiger Opé ra-comique Deux mots ou Une nuit dans la forêt (1806) verschlä gt es zwei Reisende bei Nacht und Unwetter in ein abgelegenes Waldgasthaus, das sich als Rä ubernest entpuppt. Das Textbuch von Benoı̂t-Joseph Marsollier diente weiterhin als Vorlage fü r Conradin Kreutzers Einakter Zwei Worte oder Die Nacht im Walde (1808). In einer „Waldgegend“ spielt auch der Beginn der heroisch-komischen Oper Miranda (1811), fü r das Theater an der Wien geschrieben und komponiert von Friedrich August Kanne: Rä uber verstecken sich im Gebü sch vor Jä gern, deren Auftritt (I/2) sich wie ü blich durch nahenden Hö rnerschall ankü ndigt, ehe sie ihrer „Jagdlust“ in einem Chor Ausdruck verleihen.127 Ein spä teres Beispiel, welches gleichwohl durch Erwä hnung Salvator Rosas den Bogen zurü ck zur Landschaftsmode des 18. Jahrhunderts schlä gt, ist Jacques Offenbachs Opé ra Bouffe Les Brigands (1869). Die Beschreibung der Erö ffnungsszene lautet hier: „Un site d’une sauvagerie é trange (paysage à la Salvator Rosa); d’é normes rochers. […] Quelques arbres sur la montagne.“128 – Als Grundlage zahlreicher (musik-)dramatischer Bearbeitungen dienten schließlich auch die in Sherwood Forest angesiedelten, balladesken Erzä hlungen ü ber den englischen Wegelagerer Robin Hood, die sich zumal seit den 1780er Jahren enormer Popularitä t erfreuten.129

d. Kinder des Waldes Auf großes wissenschaftliches, ö ffentliches und schließlich auch kü nstlerisches Interesse stießen seit dem 18. Jahrhundert Berichte ü ber sogenannte ›wilde Kinder‹. Besonderes Aufsehen erregten etwa der 1724 aufgefundene ›Wilde Peter von Hameln‹ oder der 1797 gefangene ›Victor von Aveyron‹. Mit dem rä tselhaften Schicksal der Kinder rü ckte auch die Frage nach der Mö glichkeit oder Unmö glichkeit des

126

127 128

129

Anna Amalie Abert, Räuber und Räubermilieu in der Oper des 19. Jahrhunderts, in: Heinz Becker (Hg.), Die ›Couleur locale‹, S. 121–129 (hier S. 122). Zum Wald als klassisches Rä uberversteck siehe weiterfü hrend Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 38 (Fußnote 72). Hier zitiert nach dem gedruckten Libretto, Wien (Johann Baptist Wallishausser) 1811, S. 3f. Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halé vy; hier zitiert nach dem gedruckten Libretto, Paris (Michel Lé vy Frè res) 1870, S. 1. Siehe hierzu Linda V. Troost, Robin Hood Musicals in Eighteenth-Century London, in: Thomas Hahn (Hg.), Robin Hood in Popular Culture. Violence, Transgression, and Justice, Cambridge 2000, S. 251– 264.

110

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

Wald(ü ber)lebens in den Fokus.130 Aus der Faszination realer und fiktiver Schilderungen, die nicht allein die Sensationslust bedienten, sondern auch anthropologische und pä dagogische Grundfragen nach dem ›Naturzustand‹ des Menschen aufwarfen, speisten sich diverse Theaterproduktionen mit Waldschauplatz. Ein herausragender Erfolg war das 1796 am Wiener Kä rntnertortheater uraufgefü hrte pantomimische Ballett Das Waldmädchen (Choreographie von Joseph Trafieri, Musik von Paul Wranitzky).131 Im gleichen Fahrwasser segelte die zweiaktige Oper Das stumme Waldmädchen, im Herbst 1800 vom dreizehnjä hrigen Carl Maria von Weber komponiert und im November in Freiberg uraufgefü hrt. Ein Jä gerchor erö ffnet die in gebirgiger Waldlandschaft spielende Handlung. Die besondere Herausforderung, der stummen Protagonistin einzig durch Instrumentalmusik, Tanz und pantomimisches Spiel Ausdruck zu verleihen, reizte Weber Jahre spä ter zu einer weiteren Bearbeitung des gleichen Sujets, seiner fü nften Oper Silvana (1810, ü berarbeitet 1812 und 1817), wiederum in „Gebü rgigte[r] WaldGegend“ (I/1) verortet.132 Auch Richard Wagner brachte mit Siegfried und Parsifal zwei prominente ›Waldwaisen‹ auf die Bü hne. Ihre Waldherkunft gemahnt einerseits an die außergewö hnlichen Umstä nde bei sagenhaften Heldengeburten und partizipiert andererseits am frü hneuzeitlichen Diskurs der ›wilden Kinder‹.133 In Wagners Konzeption des Siegfried-Dramas stellt die Waldwildnis den prä kulturellen Raum dar, in dem der ›natü rliche Mensch‹ heranwachsen kann. Mit „jä hem Ungestü m“ und in „wilder Waldkleidung“, die nach dem Vorbild tierischer Tarntracht die Ubereinstimmung mit der Umwelt optisch reprä sentiert, kommt er zum ersten Auftritt (I/1) „aus dem Walde“ gelaufen. Seine Zugehö rigkeit zur Waldsphä re wird zudem durch sein instrumentales Attribut, das silberne Horn, angezeigt. Sprechen die frü heren Textstufen generisch von einem „Horn“, so spezifiziert Wagner es in Orchesterskizze und Partitur als „Hü fthorn“, worunter er offenbar nichts anderes verstand, als ein kleines Horn, das an einem Hü ftgurt getragen wird.134 Mit der Hü fte hat die Bezeichnung allerdings ursprü nglich nichts zu tun; dem Grimmschen Wö rterbuch zufolge ist sie „verderbt oder umgedeutet aus hifthorn“. Der Hift (›Heuler‹) ist das gestoßene Signal, mit dem 130

131

132 133

134

Die rezipierten Fä lle waren fast ausschließlich im Wald verortet; zur Bedeutung des Waldes in den Berichten siehe eingehend Hansjö rg Bruland, Wilde Kinder in der Frühen Neuzeit. Geschichten von der Natur des Menschen, Stuttgart 2008, S. 79–101. Siehe hierzu die Darstellung von Bama Lutes Deal, The Origin and Performance History of Carl Maria Von Weber’s Das Waldmädchen (1800), Tallahassee 2005, S. 24–45. Eine sehr ä hnliche Handlung (allerdings in den exotischen Wald einer einsamen Insel verlegt) liegt dem erfolgreichen Ballett L’Allievo della natura (1816) von Gaetano Gioja zugrunde. Zur ›pantomimischen‹ Silvana-Musik siehe Joachim Veit, Der junge Carl Maria von Weber, S. 358–362. Vgl. hierzu Hildegard Elisabeth Keller, Wagners Wälder. Beobachtungen zu Siegfrieds Waldleben, in: Ulrich Mü ller u.a. (Hg.), Rhein und Ring, Orte und Dinge: Interpretationen zu Richard Wagners Der Ring des Nibelungen. Beiträge der Ostersymposien Salzburg 2007–2010, Anif/Salzburg 2011 (= Wort und Musik 73), S. 152–166 (hier S. 157f.). Zum mythologischen Topos der Waldkindheit auch Lynn Snook, Wagners Mythische Modelle, Anif/Salzburg 2009 (= Wort und Musik 71), S. 61f. In seiner Autobiographie erinnert sich Wagner, bei einem Besuch in Bamberg 1833 „mit großem Interesse“ die „Geschichte von Caspar Hauser“ erfahren zu haben, der aufgrund seiner vermeintlich ›wilden‹ Herkunft „damals noch großes Aufsehen machte und welchen, wenn meine Erinnerung mich nicht tä uscht, man mir persö nlich zeigte“, Richard Wagner, Mein Leben, S. 81. Entsprechend schildert Elsa in Lohengrin (I/2), der Gralsritter trage „[e]in golden Horn zur Hü ften“.

111

II. Wald, Musik und Waldmusik

sich die Jä ger bei der Hirschjagd verstä ndigen. Indes lä sst sich schon an dieser begrifflichen Umdeutung ablesen, wie sehr die jagdliche Assoziation des Instruments zugunsten einer allgemein ›natü rlichen‹ ausgeblendet ist. Auch die „Waldweise“, die Siegfried auf seinem Horn blä st (II/2, T. 961ff.), weist sich durch Fanfarenmelodik, ternä re Rhythmik und „schmetternd[en]“ Vortrag als verkappte Jagdweise aus.135 Im Prosa-Entwurf Der junge Siegfried (Mai 1851) kommt der Protagonist zunä chst mit dem typischen Tierattribut der ›wilden Kinder‹, nä mlich einem „großen wolf […] vom wald hereingebraust“ (I/1), erst bei seinem zweiten Auftritt dann „mit einem bä ren, den er gebunden vor sich hertreibt“136. Ebenso verhä lt es sich auch noch in der versifizierten Fassung137 des Juni 1851, wogegen der Privatdruck von 1853 nur mehr den Auftritt mit Bä ren enthä lt. Der Grund fü r die Weglassung war mö glicherweise, dass Wagner im Prosa-Entwurf zum zweiten Walküre-Aufzug (Mai 1852) erstmals Wotan mit „Wä lse“, dem Großvater Siegfrieds identifizierte, der „wolfgleich in wä ldern schweift[]“138. Offenbar schien es Wagner in der Folge unpassend, Siegfried – den leibhaftigen Abkö mmling der „Wö lfinge“ – als Wolfbä ndiger auftreten zu lassen. Die Szene mit dem Bä ren fand Wagner im Nibelungenlied vor, wenn auch in ganz anderem Kontext.139 Der Bä r verkö rpert die Faszination schierer

135

136

137

138

139

Vgl. auch die Wiederkehr der Motivik im Jagdkontext zu Beginn des dritten Aktes der Götterdämmerung. Zu Siegfrieds Hornattribut siehe weiterhin Egon Voss, Studien zur Instrumentation Richard Wagners, Regensburg 1970 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 24), S. 176–178. Zitiert nach Otto Strobel (Hg.), Richard Wagner: Skizzen und Entwürfe zur Ring-Dichtung. Mit der Dichtung ›Der junge Siegfried‹, Mü nchen 1930, S. 70 und 76. Die Redundanz der beiden Auftrittsszenen ä ußert sich auch sprachlich; bei der ersten heißt es: „Er lö st dem wolf den zaum, u. giebt ihm damit einen schlag auf den rü cken: ›da, lauf heim! dich brauch’ ich nicht!‹ Der wolf lä uft in den wald.“ Bei der zweiten (nach der ›Wissenswette‹ zwischen Mime und Wanderer): „S i e g f r . hä lt plö tzlich inne, lö st den bä ren, giebt ihm einen schlag auf den rü cken: ›lauf heim, dich brauch’ ich auch nicht!‹ – der bä r springt fort.“ In beiden Fä llen erklä rt Siegfried, er sei „tief in den wald hineingegangen“ und habe sein Horn geblasen, „ob wohl ein guter geselle sich zu ihm finden mö chte“ (S. 70), respektive „daß ein guter geselle sich fä nde“ (S. 76). – Zur Symbolik des Wolfs siehe ausfü hrlich Hansjö rg Bruland, Wilde Kinder, S. 101–112. Siehe Otto Strobel (Hg.), Skizzen und Entwürfe zur Ring-Dichtung, S. 101 und 128. Mimes Reaktion beim ersten Auftritt weist hier noch auf eine Jagdtä tigkeit Siegfrieds hin: „Gern leid’ ichs wenn du wö lfe erlegst: / was bringst du lebend die wilden heim?“ Fricka spricht hier zu Wotan: „Doch jetzt, da dir Wä lse zu heisen [sic] gefiel und wolfgleich in wä ldern [du] schweiftest, […] um ein menschenpaar dir zu erzeugen […].“, Otto Strobel (Hg.), Skizzen und Entwürfe zur Ring-Dichtung, S. 239. Offenbar entbehrt es noch tieferer genealogischer Bedeutung, wenn Siegfried von Mime bereits in der Versfassung des Jungen Siegfried nach dem Drachenkampf als „Siegfried! / Wolfssohn du!“ (ebenda, S. 164) angesprochen wird; spä ter ä nderte Wagner die Anrede zu „mein Wä lsung! / Wolfssohn du!“ und legte dem Begriff dadurch tiefere Bedeutung bei. Zur nachträ glichen Gleichsetzung Wotans mit Wä lse und Wolfe und Wagners Entlehnung der „Wö lfinge“ aus dem Wolfdietrich-Gedicht siehe ausfü hrlicher Elizabeth Magee, Richard Wagner and the Nibelungs, Oxford 1990, S. 158–163. Siegfried treibt dort wä hrend der Jagd mit der Wormser Hofgesellschaft aus hä mischem Jux und Ubermut einen gefangenen Bä ren unter die Kü chenknechte. Zu Wagners Ubernahme dieser Szene siehe Nikolaus Henkel, Wagners Vorstellungen von den Nibelungen. Einblicke in das Mittelalter-Gedächtnis des 19. Jahrhunderts, in: Tobias Janz (Hg.), Wagners Siegfried und die (post-)heroische Moderne, Wü rzburg 2011 (= Wagner in der Diskussion 5), S. 135–156 (hier S. 143) und Ernst Meinck, Die sagenwissenschaftlichen Grundlagen der Nibelungendichtung Richard Wagners, Berlin 1892, S. 203f.

112

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

Naturkraft, war darü ber hinaus aber auch in besonderer Weise germanisch-deutsch konnotiert.140

e. „Wilder Wald. Zigeuner-Lager.“ Zur Konjunktur von Waldszenen trug ferner die seit dem 17. Jahrhundert anwachsende und besonders im 19. Jahrhundert florierende, literarische wie (musik-) theatrale Beliebtheit von Zigeuner-Sujets bei. Unwegsame und schaurige Gegenden, typischerweise wilde Wald- und Felsenlandschaften, sind auf der Theater- und Opernbü hne die bevorzugten Aufenthaltsorte fahrender Leute. 141 Im fü nften Akt von Goethes Götz von Berlichingen (1773) spielt eine Szene bei „Nacht, im wilden Wald. Zigeunerlager“142. Das als „Walddrama“ bezeichnete Zigeunermelodram Adolar und Hilaria (1780) von Friedrich Hildebrand von Einsiedel wurde sogar ›in situ‹, bei Fackelschein auf einer Naturbü hne im nä chtlichen Wald aufgefü hrt, „mit Musik, Gesang, Tanz und fernem Waldhornklang“, wie Carl Ludwig von Knebel berichtet.143 Wiederholt wird das freie Waldleben der Zigeuner als utopische Idealform des ›naturae convenienter vivere‹ gerü hmt: Wer die Nacht im Wald verbringe, den weihe die Natur in ihre Geheimnisse ein. Im Wald, so erklä rt ein alter Zigeuner in Ernst Wagners Roman Die reisenden Maler (1806), „ists doch am lustigsten, da lebt sich der arme Mann zum Kö nig“; und wenn erst die Nacht einkehre, da „rufen uns, wahr und wahrhaftig, die Geister, und lehren uns manche schö ne Kunst.“144 Eduard Devrients Libretto zur romantischen Oper Der Zigeuner (1832) sieht fü r den ersten Akt ein Zigeunerlager in „Dichte[m] Wald“, fü r den dritten Akt eine „Wilde Wald- und Felsengegend“ bei Nacht vor. Auch die romantische Oper Mara (1841), komponiert von Josef Netzer nach dem Text von Otto Prechtler, spielt bei Nacht und Wald in

140

141

142

143

144

Zur Symbolik des Bä ren siehe ausfü hrlich Hansjö rg Bruland, Wilde Kinder, S. 112–135. Nach Donington verweist die Symbolik des Bä ren „in erster Linie auf die Große Mutter als Verschlingende“, Robert Donington, Richard Wagners ›Ring des Nibelungen‹ und seine Symbole. Musik und Mythos, Stuttgart 41995, S. 139f. – „merkwü rdig setzt die thierfabel dem frä nkischen kö nigthum des lö wen ein d e u t s c h e s , alemannisches oder sä chsisches des bä ren entgegen und wahrscheinlich lange schon standen die rohen, ungeleckten, ungeschliffenen Deutschen in ihren wä ldern dem verfeinerten leben der romanischen vö lker gegenü ber“, notiert das Grimmsche Wörterbuch (Bd. 1, Sp. 1122f.). – Im kulturgeschichtlichen Modell lä sst sich die ideelle Wertschä tzung des Tieres als Kompensation reellen Verlusts auffassen: 1835 wurde bei Ruhpolding der letzte Braunbä r Deutschlands erlegt. Wagner selbst erlebte die Aufregung um einen leibhaftigen ›Schadbä ren‹ noch Jahre spä ter wä hrend eines Aufenthalts in St. Moritz (Schweiz), siehe hierzu den Brief an seine Frau vom 22. Juli 1853, SBr 5, Nr. 212, S. 367f. (hier S. 368). Rudolph Angermü ller, Zigeuner und Zigeunerisches in der Oper des 19. Jahrhunderts, in: Heinz Becker (Hg.), Die ›Couleur locale‹, S. 131–159 (besonders S. 149f.). [Johann Wolfgang von Goethe], Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel, o. O. 1773, S. 184. Siehe hierzu Susanne Mü ller-Wolff, Ein Landschaftsgarten im Ilmtal. Die Geschichte des herzoglichen Parks in Weimar, Kö ln 2007, S. 100f. und Gabriele Busch-Salmen, Walter Salmen, Christoph Michel, Der Weimarer Musenhof. Dichtung, Musik und Tanz, Gartenkunst, Geselligkeit, Malerei, Stuttgart 1998, S. 85. Ernst Wagner, Die reisenden Maler. Ein Roman, Bd. 1, Leipzig 1806, S. 4.

113

II. Wald, Musik und Waldmusik

einem Zigeunerlager am Fuße der Pyrenä en: „Die Nacht im Walde bei Euch / Sie verträ umt sich so schö n!“, schwä rmt ein Obdach suchender Reisender (I/3). Und noch in Anton Rubinsteins Oper Die Kinder der Haide (1861, Libretto von Salomon Mosenthal) ist das Lager in einer „Felsenkluft im Walde“ (Akt 4) aufgeschlagen. In die Reihe der Beispiele fü gt sich schließlich auch das Schauspiel Preciosa (1820) von Pius A. Wolff, zu dem Carl Maria von Weber Ouvertü re und Bü hnenmusik (WeV F. 22) komponierte. Die Regieanweisung fü r den Beginn des zweiten Akts lautet hier: „Wilder Wald. Zigeuner-Lager. Nacht. Mondschein.“ 145 Der Vorhang ö ffnet sich mit einem dreistrophigen Chor der Zigeuner (Nr. 6: „Im Wald! im frischen grü nen Wald“), angereichert mit koloristischem Instrumentarium (2 Piccoloflö ten, Triangel, Tambourin, Schellen, kleine Trommel). Von einer knappen Einleitung der Streicher in figuriertem Unisono (T. 1–14) und wenigen kurzen Interjektionen abgesehen, ist die Nummer als diegetische plein-air-Musik ausschließlich den Blasund Perkussionsinstrumenten anvertraut. 146 Der gesungene Text beschrä nkt sich, indem er das ohnehin Hö r- und Sehbare redundant verbalisiert, auf eine funktionale Reihung von Floskeln. Die erste Strophe lautet: Im Wald, im Wald, Im frischen grü nen Wald, Wo’s Echo schallt! Im Wald, wo’s Echo schallt! Da tö net Gesang und der Hö rner Klang So lustig den schweigenden Forst entlang, Trarah! Trarah! Trarah!

In ä hnlicher Weise expliziert die zweite Strophe die Tageszeit („Die Nacht, die Nacht …“), die dritte liefert einen generischen Beitrag zur Charakterzeichnung („die Welt ist unser Zelt. Und [wir] wandern …“) und benennt nochmals die Requisiten pittoresker Waldlandschaft („die Wä lder, die Thä ler, die felsigen Klü fte“). Die kurzen, regelmä ßig durch Pausen abgesetzten Phrasen des Chors sind großteils durch zwei Klarinetten, zwei Fagotte und vier Hö rner im Orchester begleitet; zusä tzlich sind vier weitere Hö rner „auf dem Theater“ platziert, die jeder Phrase eine Echo-Imitation folgen lassen. In einem Briefentwurf an den Autor des Schauspiels ä ußert Weber sich zu seiner Komposition und merkt bezü glich des Chorliedes an, dass dieses „ganz auf den Echo Efekt [sic] gestellt“ sei:

145

146

Zitiert nach der Partitur der WeGA, Bd. III/9, S. 111. „Das deutsche Volk fü hlte die Wahrheit der Waldstimmung auch aus der spanischen Verkleidung heraus“, notiert zu Webers Schauspielmusik Heinrich Adolf Kö stlin, Geschichte der Musik im Umriß für die Gebildeten aller Stände, Tü bingen 1875, S. 332. Zu einer prominenten Freiluftauffü hrung von Webers „Echochor“ kam es bei dem großen thü ringischen Sä ngerfest 1847 auf dem „Amphitheater eines idyllischen Wiesengrundes“ unweit der Wartburg; siehe hierzu den anonymen Bericht Das Sängerfest zu Eisenach am 23. und 24. August 1847, in: Illustrierte Zeitung [Leipzig] 9 (1847), Nr. 216 (21. August), S. 115–119 (hier S. 118).

114

3. Wald in der Musik und Oper des 19. Jahrhunderts: Ein Uberblick

Da es fast unthunlich war die ganze Wahrheit des Echos in Wiederholung aller Stimmen zu geben so hielt ich mich an das in der Natur begrü ndete, leichtere in der Ferne schallende des Horntons. Dabey setze ich voraus daß die Zigeuner das Echo schon kannten, und es gleichsam nekend ihre Melodien danach abtheilten, wie man wohl im wü rklichen Leben thut. Dabey wü rde es sich also gut machen, wenn die Zig[euner] nach denen Sä tzen, die das Echo wiederholt sogleich lauschende Bewegungen machten als auf etwas gewiß erwartetes.147

Der Textvorlage entsprechend ist Weber vor allem an der musikalischen Suggestion von Rä umlichkeit gelegen. Der Struktur der Komposition liegt das naturhafte Prinzip von Ruf und Widerhall zugrunde.148 Sein Vorschlag, das aktive Hinhorchen auf das Echo pantomimisch hervorzuheben, lä sst an ein kü nstlerisches Verfahren seines Zeitgenossen Caspar David Friedrich denken: Wie dieser in seinen Landschaftsgemä lden ›Rü ckenfiguren‹ platzierte, die den Vorgang der optischen Prä gnanzbildung – das ›Hinschauen‹ der Landschaft – fü r den Bildbetrachter nachvollziehbar machen, so sollte hier das Publikum durch „lauschende Bewegungen“ der Darsteller fü r die akustische Umgebungswahrnehmung – das ›landschaftliche Ohr‹ – sensibilisiert werden. Ahnlich wie die Betrachter einer flachen Leinwand in die perspektivische Tiefe eines gemalten Naturausschnitts, so sollten sich die Zuhö rer vermittels raumakustischer Imagination aus ihren engen Theaterlogen in eine weiträ umige Waldlandschaft versetzt fü hlen. Bemerkenswert ist diesbezü glich auch Webers Hinweis auf die „in der Natur begrü ndete“ Eignung des Hornklangs fü r Distanzwirkungen, wie sie an spä terer Stelle (Kapitel II.5.3) noch eingehender erö rtert wird. Auch wenn man von dem Bestreben nach Suggestion rä umlicher Weite absieht, so scheint sich doch die Frage, was Weber dazu bewog, den Hö rnern hier derart große klangliche wie idiomatische Prominenz einzurä umen, angesichts der stereotypen Vorgaben seitens des vertonten Textes zu erü brigen. Auffä llig erscheint dennoch – oder gerade deshalb – der Umstand, dass das ursprü ngliche assoziative Bindeglied zwischen Wald und Hö rnerklang, nä mlich die Thematik der Jagd, in Wolffs Liedtext gar nicht vorkommt. Dichter wie Komponist setzen sich hier gleichermaßen vermittelnd ü ber diese assoziative Lü cke hinweg: Wolff, indem er alle Strophen mit onomatopoetischen Interjektionen („Trarah!“, „Wauwau!“149, „Halloh!“) beschließt, wie sie eigentlich fü r Jagdlieder typisch sind, und Weber, indem er bei der fanfaren- und signalartigen Motivik der Jagdmusik Anleihen nimmt. Vom exotischen Zusatzinstrumentarium abgesehen, lassen sich keine wesentlichen musikalischen Unterscheidungsmerkmale zu den, im deutschen Musiktheater der Zeit so beliebten, strophischen Jä gerchö ren festmachen. Und eben 147

148 149

Carl Maria von Weber an Pius Alexander Wolff, Briefentwurf vom 13. Juli 1820, zitiert nach WeGA, (Dateiversion vom 20. Dezember 2017). Zum Echo als musikalisches Formprinzip siehe auch Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur, S. 51ff. Wolff ü berträ gt die fü r Jagdlieder typische Apostrophe und Imitation des (Jagd-)Hundegebells in der zweiten Strophe kurzerhand auf Wachhunde: „Die Wö lfe lauern und sind uns nicht fern, / das Bellen der Hunde, sie hö rens nicht gern“.

115

II. Wald, Musik und Waldmusik

wie diese in der Regel „purely decorative“150 fungieren, so ist auch der Zigeunerchor aus Preciosa, bar jeder dramatischen Relevanz, ausschließlich der musikalischen Etablierung von Schauplatz und Kolorit gewidmet.

4. Literaturü berblick zu ›Wald und Musik‹ Wurden im Vorangehenden bereits einige Traditionslinien der Reflexion ü ber das Verhä ltnis von Wald und Musik skizziert, sowie Beispiele fü r kompositorisch realisierte ›Waldmusiken‹ und musikdramatische Waldszenen genannt, so wird im Folgenden ein Uberblick ü ber einschlä gige (Sekundä r-)Literatur gegeben, die sich spezifischeren Fragen nach dem Wald-Musik-Verhä ltnis widmet. Dabei soll nicht allein der Forschungsstand referiert, sondern auch kenntlich gemacht werden, in welchen Kontexten und von welchen Akteuren die interdisziplinä re Thematik aufgegriffen wurde. Als bemerkenswerte Tendenz lä sst sich vorab festmachen, dass Musikdiskurse in forstlichen Kreisen vornehmlich unter dem Aspekt sogenannter ›Wohlfahrtswirkungen‹ stattfanden. Vereinfacht gesagt, wurde dabei das Postulat eines positiven ›klimatischen‹ Einflusses der Waldnatur auf die Landeskultur mit Verweis auf den kulturellen ›Nutzen‹ des Waldes – bezeugt durch exemplarische ›Waldmusiken‹ – untermauert. In diesem Sinne verbuchte bereits Carlowitz’ Sylvicultura oeconomica (1713) den „unentbehrlichen Nutzen der Wä lder“ fü r das Musikleben als Argument fü r den Waldschutz.151 Weitere Verbreitung fand dieses Argumentationsmuster ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, wozu Wilhelm Heinrich Riehls Postulat einer „ä sthetische[n] Erziehung des Volks“ durch den Wald wesentlich beitrug.152 Wie sich zeigen wird, wurden insbesondere Carl Maria von Weber und Richard Wagner wiederholt in den Zeugenstand kulturalistisch argumentierenden Waldschutzes gerufen. Eine zweite Tendenz lä sst sich mit einem Diktum Erich Hornsmanns bezeichnen: „Die Literatur der Wohlfahrtswirkungen ist gleichzeitig eine Literatur der Waldesnot.“153 Tatsä chlich bestä tigt sich auch mit Blick auf die Sekundä rliteratur die kulturgeschichtliche Kompensationsthese, wonach aktuelle landschaftliche Wandel- und Verlusterfahrungen jeweils mit intensivierter Aufmerksamkeit und Wertschä tzung korrespondieren. Im Hinblick auf unser Thema lassen sich zwei derartige Hochkonjunkturen im 20. Jahrhundert lokalisieren, nä mlich zum einen im personalen Umfeld der in den Nachkriegsjahren aktiv werdenden ›Schutzgemeinschaft Deutscher Wald‹ 154 (SDW), zum anderen im Kontext der ›Waldsterben‹-Debatte der 1980er Jahre. 150

151 152 153 154

Alexander Lothar Ringer, The Chasse. Historical and Analytical Bibliography of a Musical Genre, Ann Arbor 1955, S. 318. Hans Carl von Carlowitz, Sylvicultura oeconomica, S. 366 und 369. Vgl. hierzu Kapitel VI.6.2. Erich Hornsmann, Allen hilft der Wald, S. 14. Die SDW wurde im Dezember 1947 mit dem vorrangigen Ziel gegrü ndet, gegen ›Reparationshiebe‹ der alliierten Besatzungsmä chte zu protestieren. Astrid M. Kirchhof bewertet die Institution als „Teil

116

4. Literaturü berblick zu ›Wald und Musik‹

So mag die chronologische Reihe einschlä giger Texte ein kurzer, in seiner appellativen Positionierung aber besonders prä gnanter Artikel ü ber den Wald in der Musik von Erich Herrmann erö ffnen, der 1949 im Grünen Blatt, einer Publikation der SDW, erschien.155 Herrmann stellt seinem Aufsatz ein Wanderlied von Jens Rohwer voran, einem Protagonisten der pä dagogischen Jugendmusikbewegung. In der „modernen Singbewegung“, die mit Singwochen und Sommerlagern die Jugend „hinaus aus der Großstadt“ fü hre und „die tiefe Verwurzelung unseres Daseins mit der Natur“ erleben lasse, sieht Herrmann das Potential fü r eine Regeneration der „deutschen Musikkultur“. Hingegen werde in der „moderne[n] Instrumentalmusik“ die „Naturverbundenheit […] geradezu geleugnet“. Der Wald ist das Lebenselement des singenden Menschen auch heute noch und wird es immer bleiben. Angesichts dieser Tatsache kö nnen wir immer noch hoffen, daß auch die moderne Instrumentalmusik auf irgendeine Weise zur naturgegebenen Kraft der Klä nge zurü ckfindet. Wenn sie die Naturschilderung verschmä ht, so braucht dies kein Nachteil zu sein. Glaubt sie jedoch nur dadurch zu einer neuen Tonsprache zu gelangen, indem sie die Tö ne ihrer natü rlichen Bindungen entkleidet, so kö nnen wir fü r ihre Zukunft ä hnliche traurige Folgen voraussagen, wie sie die entblö ßten Waldflä chen nach sich ziehen werden.156

Die Musik der „Neutö ner“ setzt Herrmann zur widernatü rlichen „Musik der abgeholzten Wä lder“ herab und stellt ihr die „natü rlichen Bindungen“ des Waldes als musikkulturelles und -ä sthetisches Paradigma entgegen. Nicht nur die Parallelisierung von Wald- und Kulturzustand erinnert an Riehl, sondern auch die anschließende Herabsetzung des 18. Jahrhunderts: Bis zu Goethes Lebzeiten seien die Schö nheiten der Natur „auch der Musik so ziemlich fremd geblieben“, weshalb man etwa bei Johann Sebastian Bach „vergebens nach musikalischen Stimmungsbildern, Waldszenen u. dergl.“ suche. 157 Die „schö nsten musikalischen Schilderungen des Waldes“ habe dagegen die „von den Neutö nern so viel geschmä hte Romantik“ hervorgebracht, wobei Weber „an erster Stelle“ genannt wird: Im Freischütz sei „der Zauber des Waldes mit seinen wechselnden Stimmungen in ergreifender und fü r alle Zeiten gü ltigen Weise nachempfunden worden.“ Es folgt eine Wü rdigung der Waldszenen

155

156 157

einer kulturkritischen, modernitä tsfeindlichen Bewegung“, die an ein letztlich auf Riehl zurü ckgehendes Heimatkonzept anknü pfe, Astrid Mignon Kirchhof, „Tu dem Wald kein Leid, er ist der Heimat schönstes Kleid“. Gründung und Entwicklung der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, in: Bernd Weyergraf (Hg.), Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, Berlin 1987 (= Akademie-Katalog 149), S. 251– 255 (hier S. 251f.). Erich Herrmann, Der Wald in der Musik, in: Grü nes Blatt, Nr. 12 (Dezember 1949), S. 10f. Beim Autor dü rfte es sich um den gleichnamigen Musikforscher (geb. 1884 in Goldap) handeln, der 1908 eine physiologische Untersuchung ü ber die Klangfarben von Instrumenten vorlegte (Über die Klangfarbe einiger Orchesterinstrumente und ihre Analyse, Stuttgart 1908). Erich Herrmann, Der Wald in der Musik, S. 10f. „Der Wald war damals noch nicht ›gesellschaftsfä hig‹. Wie hä tte man ihn auch mit leichten, zierlichen Spangenschuhen und Seidenstrü mpfen betreten sollen, ganz abgesehen davon, daß herabhä ngende Zweige die wohlgepflegte Perü cke zerzaust hä tten. Erst als diese sich ü berlebt hatte, brach eine neue Zeit an.“, Erich Herrmann, Der Wald in der Musik, S. 10f.

117

II. Wald, Musik und Waldmusik

Wagners (Tannhäuser, Siegfried, Parsifal) und Humperdincks (Hänsel und Gretel). Man kö nne schließlich nicht „vom Wald in der Musik sprechen, ohne Beethovens zu gedenken“; und das, obwohl Herrmann ihm „keine Waldkompositionen nachweisen“ kann. Ausschlaggebend sei bei ihm vielmehr das „Geheimnis der Formwerdung“, das dem „Wachsen und Werden des Waldes“ gleiche. Herrmann rekurriert damit auf einen seit dem frü hen 19. Jahrhundert, vor allem durch E.T.A. Hoffmanns organismische Sprachbilder etablierten Gemeinplatz der Beethoven-Rezeption. Sein kurzer Aufsatz zeigt beispielhaft, wie Wald als ›Naturgegenstand‹ der ethischen Kritik und Legitimation dienen kann und im Sprechen ü ber Wald differenzierte musikä sthetische Werturteile kommuniziert werden kö nnen. „Kaum ein anderes Volk ist mit dem Walde in seinem Herzen so verwachsen wie das deutsche.“ Davon geht Hermann Unger 158 in seinem Aufsatz Der Wald in der Musik aus, der 1954 im Handbuch der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald erschien.159 In vö llig riehlschem Duktus schreibt Robert Lehr, Bundesinnenminister von 1950 bis 1953 und erster Prä sident der SDW, im Geleitwort des Handbuchs: „Ein Volk stirbt, wenn seine Wä lder untergehen – wir kä mpfen fü r das Erwecken wahrer Waldgesinnung in breitesten Schichten unserer Bevö lkerung.“ 160 Abgedruckt ist dort auch seine Rede zum ›Tag des Baumes‹ 1954 mit dem bezeichnenden Titel Jeder Deutsche ein Waldfreund. Unger sucht nun dieses Postulat mit einschlä gigen Beispielen aus der deutschen Musikgeschichte zu erhä rten. Das Nachzeichnen generationsü bergreifender Verbindungslinien soll offenbar den nationalkulturellen Faktor betonen: Raffs Sinfonie ›Im Walde‹ sei eine „Wiederaufnahme der Weberschen Wolfsschluchtszene“, Hans Pfitzner wird als „Erbe Carl Maria von Webers“ bezeichnet, ja der Waldgeist Trü gewalt aus Stadens Seelewig (1644) prä figuriere bereits die Figur des Mime aus Wagners Siegfried. – Wald, so das Narrativ, sä umt Anfang und Ende der deutschen Musik. Ahnlich wie Herrmann, schließt auch Unger mit einer Apologie der Romantik und Aburteilung der zeitgenö ssischen Hindemith-Schule: Aus all diesen Beispielen, die sich zwanglos um viele andere vermehren ließen, spricht immer wieder die tiefe Naturverbundenheit des deutschen Musikers, die sein bestes Erbteil war und die etwa als ›ü berholte gefü hlsselige Romantik‹ abzutun, nicht nur ein historischer Irrtum, sondern, was weit schlimmer, ein Raub an dem sein wü rde, was unserer Musik ihre wahre Kraft und Tiefe schenkte und was durch noch so geistreich-

158

159

160

Es ist anzunehmen, dass es sich beim Autor um den Reger-Schü ler, ehemaligen Leiter der Rheinischen Musikschule und stellvertretenden Direktor der Kö lner Hochschule (geb. 1886, gest. 1958) handelt. Zu dessen Rolle in der nationalsozialistischen Kulturpolitik siehe Michael Custodis, Entnazifizierung an der Kölner Musikhochschule am Beispiel von Walter Trienes und Hermann Unger, in: Albrecht Riethmü ller (Hg.), Deutsche Leitkultur Musik? Zur Musikgeschichte nach dem Holocaust, Stuttgart 2006, S. 61–83. Hermann Unger, Der Wald in der Musik, in: Ferdinand Oppenberg (Hg.), Uns ruft der Wald. Handbuch der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, Rheinhausen 1954, S. 151–153. Robert Lehr, Zum Geleit!, in: Ferdinand Oppenberg (Hg.), Uns ruft der Wald, hier S. 5.

118

4. Literaturü berblick zu ›Wald und Musik‹

intellektuelle Spielereien oder gar ›motorisch-dynamische‹ Realistik nie wettzumachen sein kann.161

Die bis dahin umfä nglichste Abhandlung ü ber Das Waldthema in der Musik erschien 1955 im Forstwissenschaftlichen Centralblatt.162 Der Autor Helmut SchmidtVogt, damals promovierter Forstmeister in Teisendorf, wurde spä ter auf den Freiburger Lehrstuhl fü r Waldbau berufen und ist Hauptverfasser des Standardwerks Die Fichte. Zu seiner Motivation, in einer „kleinen Studie […] den nur schwer zu erfassenden Zusammenhä ngen von Walderleben und Musik“ nachzugehen, schreibt er: Den Wald nur als Objekt der Forstwirtschaft und Forstwissenschaft zu betrachten, heißt ihn seines grö ßten Zaubers zu entkleiden. […] Den Wald als eine der Urquellen ewiger deutscher Musik erkennen und lieben zu lernen, war letztlich Sinn dieser Zeilen.163

Der deutsche Musiker sei „wohl am meisten dazu ausersehen […], dieser Seite des Naturerlebens in der Musik Ausdruck zu geben – spielt doch der Wald in seiner Landeskultur eine besondere Rolle und entspricht doch ›Musik als Ausdruck‹ in ganz besonderem Maße deutschem Wesen.“ 164 Als Vorbilder dienten Schmidt-Vogt die motivgeschichtlichen Studien von Baumgart165 (Dichtung) und Kö stler166 (Malerei). Beachtlich ist, gerade in Anbetracht der ›Fachfremdheit‹ des Autors, nicht nur die aus breiter Repertoirekenntnis geschö pfte Sammlung und Kommentierung einschlä giger Werke, sondern auch das Bemü hen um eine historisch-theoretische Reflexion und Hinfü hrung zur Thematik. Unter Berufung auf Hanslick definiert Schmidt-Vogt Musik als „unanschaulich[e] und ungegenstä ndlich[e] […] Kunst der Tö ne“, die „Gedanken oder Vorstellungen“ nur dann vermitteln kö nne, „wenn der Komponist seinem Werk das Wort – gleichgü ltig auf welche Weise – beigegeben“ habe. In allen ü brigen Fä llen […] kann der Schaffensanstoß oder die außermusikalische Idee nicht erkannt werden. Ein Versuch, dem in Tö nen ausgedrü ckten Walderlebnis […] nachzuspü ren, kann sich somit nur und muß sich auch grundsä tzlich auf Werke beschrä nken, bei denen die Musik sich entweder in Verbindung mit dem Wort wie im Lied, im Oratorium oder in der Oper gegenstä ndlichen Formen nä hert oder wo durch dem Musikwerk beigefü gte Uberschriften wie in der Programm-Musik oder auch durch Erlä uterungen des Komponisten die Anregungen, Gedanken und Empfindungen erkennbar sind.167

161 162 163 164 165 166

167

Hermann Unger, Der Wald in der Musik, S. 153. Helmut Schmidt-Vogt, Das Waldthema in der Musik, S. 219–235. Ebenda, S. 219 und S. 235. Ebenda, S. 220. Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung. Josef Nikolaus Kö stler, Offenbarung des Waldes. Ein Beitrag zur Frage der künstlerischen Gestaltung deutschen Naturerlebens, Mü nchen 1941. Helmut Schmidt-Vogt, Das Waldthema in der Musik, S. 219.

119

II. Wald, Musik und Waldmusik

Diese strikte Auffassung einer „absoluten Musik“ ü bergeht Schmidt-Vogt allerdings im weiteren Verlauf mindestens zweimal, nä mlich indem er Schuberts ›Große Sinfonie‹ in C-Dur („im Banne deutscher Natur- und Waldromantik“168) und Bruckners vierte Sinfonie anfü hrt.169 Die Annahme, dass Kompositionen „mit dem Wald und seinem Erleben in einem Zusammenhang stehen“, werde in vielen Fä llen durch Einsatz von Waldhö rnern oder Nachahmung von Vogelstimmen nahegelegt.170 Einer chronologischen Reihe von mehr als 50 Beispielen, die bei spä tmittelalterlichen Liedern einsetzt, schickt Schmidt-Vogt voraus, dass Wald im Wesentlichen erst in Folge der durch Rousseau angeregten „Hinwendung zu dem Natü rlichen“ ein „Thema in der Musik“ geworden sei. Als ersten „Hö hepunkt in der Darstellung des Walderlebnisses in der Musik“ bezeichnet er Rezitativ und Arie der Hanne (Nr. 15/16) aus dem ›Sommer‹ von Joseph Haydns Jahreszeiten („Willkommen jetzt, o dunkler Hain“). Mit dem Freischütz habe dann Weber das „Hohelied des deutschen Waldes“ geschaffen. Sind es in Webers „Freischü tz“ in erster Linie die Klangfarben der Waldhö rner und die volksliedhaften Jä gerweisen, die die Waldromantik versinnbildlichen, so wird im „Siegfried“ im Waldweben der Wald selbst Musik. Nicht mehr froher Hö rnerklang und Jä gergesang durchklingen den Wald, nein, der Wald singt selbst sein Lied, die Zweige der Bä ume, die Blä tter rauschen leise im Wind, durchweben die Stille und die Vogelrufe hä ngen wie schwerelos im Raum – Waldesstille – Weltferne – ewige Romantik des Waldes.171

40 Jahre spä ter griff Schmidt-Vogt – mittlerweile im Ruhestand – seinen Aufsatz wieder auf und erweiterte ihn zur Monographie Musik und Wald. Dazu pflegte er zahlreiche Beispiele ein, die ihm von Fachkollegen zugetragen worden waren, wodurch besonders die Musik des 20. Jahrhunderts und außerhalb des deutschen Sprachraums stä rkere Berü cksichtigung findet. Zur „musikwissenschaftliche[n] Bearbeitung des gesammelten Materials“ fü hlte er sich indes nicht berufen.172 Ersatzlos getilgt wurde die Erö rterung der Problematik von ›absoluter Musik‹ und außermusikalischem Inhalt; neu hinzu kam ein Kapitel ü ber den „Wald im Konzertsaal“, das die forstliche Produktion und Verarbeitung von Klangholz fü r den Instrumentenbau behandelt. In einer Rezension des Buches drü ckt der Volkskundler Lutz Rö hrich 1997 seine Verwunderung darü ber aus, „daß das Waldthema in der Musik noch nie Gegenstand einer grö ßeren wissenschaftlichen Untersuchung oder auch nur einer Dissertation geworden ist.“173

168 169

170 171 172 173

Ebenda, S. 228. Fü r Letztere habe sich Schmidt-Vogt zufolge „ganz von selbst […] bald der Name ›Waldsinfonie‹ herausgebildet, […] obwohl Bruckner keine entsprechenden Hinweise gegeben“ habe, ebenda, S. 230. Ebenda, S. 220. Ebenda, S. 230. Helmut Schmidt-Vogt, Musik und Wald, S. 11. Lutz Rö hrich, [Rezension zu] „Helmut Schmidt-Vogt, Musik und Wald“, in: Jahrbuch fü r Volksliedforschung 42 (1997), S. 163f.

120

4. Literaturü berblick zu ›Wald und Musik‹

Erich Hornsmann, Jurist und Grü ndungsmitglied der SDW, legte 1958 eine umfassende Systematik sogenannter ›Wohlfahrtswirkungen‹ des Waldes vor. Im Abschnitt „Wald und Kultur“ widmet er der Musik vier Druckseiten, wobei er im Wesentlichen der frü heren Darstellung Schmidt-Vogts folgt. Auch fü r ihn ist der Hö hepunkt der ›Waldmusik‹ bei Weber erreicht: Der alle Vorgä nger und Nachfahren ü berragende Musiker des Waldes wurde Karl Maria von Weber. Was er an Waldesstimmungen in Das stumme Waldmä dchen (Sylvana) und in Preciosa andeutete, schuf er vollendet im Freischü tz, dessen Text dem Sagenkreis der waldreichen Sä chsischen Schweiz entstammt. Der Freischü tz ist die deutsche Waldoper. […] Der Wald hat seinen hö chsten Rang erreicht, er war um seiner selbst willen in Melodien gefaßt worden.174

Im doppelten Wagner-Jubilä umsjahr 1963 „darf, ja soll auch eine dem Forstwesen gewidmete Zeitschrift dieser vielleicht bedeutendsten […] Gestalt des 19. Jahrhunderts gedenken. Denn in Wagners Tondramen hat der Wald und die ganze Natur in einzig ihm mö glicher inniger Vereinigung von Dichtung und Musik Stimme erhalten.“ So der Forstwissenschaftler Karl Alfons Meyer in einem kleinen Essay Wald bei Wagner, erschienen in der Schweizerischen Zeitschrift fü r Forstwesen.175 Vor allem Siegfried sei „ein kostbarstes Denkmal des Waldes“. Wiederum im Kontext der ›Wohlfahrtswirkungen‹ wurde das Thema Musik und Wald 1964 in der Schweizerischen Zeitschrift fü r Forstwesen aufgegriffen. Der Herausgeber Hans Leibundgut verweist in diesem Betreff zunä chst auf ein Konzert der Prager Mozartgesellschaft, mit dem 1956 ein internationales Waldbauseminar erö ffnet wurde: Oft dachte ich hier ü ber das Gemeinsame von Musik und Waldbau nach. Liegen nicht Parallelen in der Melodik und im ausgeglichenen Lebensablauf des Waldes, im gesetzmä ßigen Nebeneinander verschiedener Entwicklungslinien, in der Harmonie und im dynamischen Gleichgewicht des Beziehungsgefü ges eines Waldes, im Rhythmus der Musik und des Waldlebens? Sind Waldbaumeister wie Walter Schä delin und Walter Deck nicht mit Komponisten vergleichbar? Kü nstler wa re n sie jedenfalls!176

›Waldkomponisten‹ sind in diesem Fall also die Forstwirte, deren kunstgerechte Gestaltung des Waldes Analogien zur musikalischen Komposition aufweise. Zugleich wirke der Wald als „Ort der Eingebung Begnadeter“ und „fruchtbarer Nä hrboden wertvollen Kulturgutes“ bis heute inspirierend auf Musikschaffende. So kommen 174 175

176

Erich Hornsmann, Allen hilft der Wald, S. 201. Karl Alfons Meyer, Wald bei Wagner, in: Schweizerische Zeitschrift fü r Forstwesen 114 (1963), S. 118– 120. Hans Leibundgut, Musik und Wald, in: Schweizerische Zeitschrift fü r Forstwesen 115 (1964), S. 731– 733 (hier S. 732). Ubrigens stand der Forstwissenschaftler Walter Schä delin, Leibundguts Vorgä nger am Zü rcher Lehrstuhl fü r Waldbau, mit den Komponisten Othmar Schoeck und Volkmar Andreae in Kontakt.

121

II. Wald, Musik und Waldmusik

beide Richtungen einer Wechselwirkung von Wald und Musik zur Geltung: „In der Musik klingt die Seele des Waldes.“ Im Walde selbst aber wurzelt das Werk keines andern der großen Meister so tief wie bei Ludwig van Beethoven. […] Gewiß, die schö pferische Kraft Beethovens stammt, wie bei jedem Genie, aus seinem eigenen Innern, nicht aus der Umwelt, aber seine Inspiration keimte, blü hte und reifte erst recht in der belebten, klingenden ›Einsamkeit‹ der Natur.177

Das Heft enthä lt weiterhin 17 kurze Beiträ ge von (Schweizer) Musikern, die der Einladung folgten, „in einigen Zeilen ihre Beziehungen zum Wald wiederzugeben.“178 Aus dieser heterogenen Reihe von Texten seien hier nur einige bemerkenswerte Phrasen herausgegriffen: Cornelio Giuseppe Cairati (1909–1991), Leiter der Zü rcher Accademia di Canto, bemerkt die „affinità con la musica e con scene teatrali“ bei Spaziergä ngen im herbstlichen Wald und fü hlt sich dabei in die Schlussszene aus Verdis Falstaff versetzt.179 Derartige Durchdringung von Opernauffü hrung und „eigenen Walderlebnisse[n]“ beschreibt anhand seiner Freischütz-Erinnerungen auch der Pianist Franz Josef Hirt: „Jeder Seitenblick kö nnte hinter jenen dunklen Bü schen plö tzlich den großen Unbekannten, den Dä mon entdecken. Samiel? Rü bezahl?“180 Der Komponist Klaus Huber berichtet, er habe sich im Wald „Orientierung im Bereich der Tonhö hen und -dauern“ verschafft; die „Musik unserer Generation“ kö nne im Wald „Freiheit von beschrä nkten Zeitvorstellungen“ finden, und mit dem Baum „eines der krä ftigsten und durchschaubarsten Symbole einer Vielfalt in der Einheit.“181 Auf die Dialektik von Einheit und Mannigfaltigkeit rekurriert auch der Violinist Angelo Maccabiani: In der natü rlichen Klangkulisse des Waldes, einer „Pflanzensymphonie“ mit Singvö geln als „Solisten“, wirke nie „auch nur ein einziger Ton falsch oder deplaziert.“ Die Beziehung eines Musikers zum Wald ist ein seltener Titel mit unendlich vielen Mö glichkeiten zur Auslegung in Variationen ohne Zahl. Alle jene, die Musik schrieben ü ber Wä lder und Forste, haben bewiesen, daß es sich reichlich lohnt, diese beiden in einem Atemzug zu nennen. Ist nicht der Wald fü r sich schon Musik? Musik genug, um nicht mehr komponieren zu mü ssen?182

177 178

179 180 181

182

Hans Leibundgut, Musik und Wald, S. 732f. Musiker und Wald, in: Schweizerische Zeitschrift fü r Forstwesen 115 (1964), S. 734–759 (hier S. 734). Die Beiträ ge stammen von Helene Fahrni, Luc Balmer, Paul Baumgartner, Cornelio Giuseppe Cairati, Franz Josef Hirt, Klaus Huber, Angelo Maccabiani, Peter Mieg, Walter Mü ller von Kulm, Otmar Nussio, Willi Reich, Walter Rü sch, Armin Schibler, Erich Schmid, Richard Sturzenegger, Rä to Tschupp und Hans Vollenweider. Ebenda, S. 737. Ebenda, S. 738. Ebenda, S. 739. Hubers Text wurde erneut abgedruckt in: Max Nyffeler (Hg.), Klaus Huber: Umgepflügte Zeit. Schriften und Gespräche, Kö ln 1999 (= Edition MusikTexte 6), S. 367f. Ebenda, S. 740.

122

4. Literaturü berblick zu ›Wald und Musik‹

Letztere Frage stellt sich auch dem Dirigenten und Komponisten Otmar Nussio. Der Wald selbst biete eine „unvergleichliche Polyphonie, welche weder einer Steigerung noch einer Ubersetzung“ bedü rfe. Als „gelungene Deskription“ gilt ihm lediglich Wagners ›Waldweben‹ – „und selbst da spielt die Hauptrolle Siegfried selbst.“ Seine Empfehlung lautet deshalb: „Wo der Wald anfä ngt, da kann selbst die Musik aufhö ren.“ 183 – Anknü pfend bei ›klimatheoretischen‹ Diskursen des 19. Jahrhunderts, postuliert der Musikwissenschaftler Walter Rü sch ein Nord-Sü d-Gefä lle im kulturellen Stellenwert des Waldes („in Italia il significato del bosco non è quello del nord“), das er mit musikä sthetischen Differenzen korreliert. Im schematischen Gegensatz von finsteren, ›nordischen‹ Hochwä ldern auf der einen und mediterranlichtdurchfluteten Baumgruppen auf der anderen Seite, sieht er eine unterschiedliche „sonorità “ gespiegelt: Non è […] la oscura densità dei boschi pieni di misteri che attira l’anima del poeta e del musicista [nei paesi settentrionali]. E piuttosto il boschetto, il gruppo di alberi, di cipressi, di pinie che creano quell’inconfondibile sfondo di una sonorità più chiara, più splendente della natura meridionale. […] Perché nel meridione ogni cosa è partecipe della grande luce del sole che rischiara e trasforma l’oscurità misteriosa dei boschi discendenti dal settentrione in una visione di limpidezza e di classicità di suoni, di linee e di colori.184

Nach einem Exkurs zum Streichinstrumentenbau schließt das Sonderheft der Schweizerischen Zeitschrift fü r Forstwesen mit dem Essay Der Wald in der Musik von Galli, aus dem bereits ganz zu Beginn vorliegender Studie zitiert wurde, als von der „Unmö glichkeit […], mit dem Thema ins Reine zu kommen“185, die Rede war. Galli nimmt an, dass ein je nach Zeit, Kultur und Individuum unterschiedlich stark ausgeprä gtes „Naturgefü hl“ die Produktion von ›Waldmusik‹ bedinge. Die wichtigsten „Themenkreise“, durch welche „die Musik mit dem Wald in Beziehung gebracht wurde“, seien „die Jagd, die Sagenwelt, der Wald als Ort des Geheimnisvollen und Rä tselhaften oder des Schauerlichen, als Ort der Einsamkeit, als seelischer Jungbrunnen und schließlich als Heimat der Vogelstimmen.“186 Harald Thomasius, dessen Publikationen sich insbesondere mit ö kologischem Waldbau und ›Wohlfahrtswirkungen‹ befassen, gab 1972 ein umfangreiches forstwissenschaftliches Lehrwerk „auf den Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus“ 187 heraus, zu dem der Dresdener Musikkritiker Gottfried Schmiedel einen

183 184 185

186

187

Ebenda, S. 746. Ebenda, S. 748. Hans Galli, Der Wald in der Musik, in: Schweizerische Zeitschrift fü r Forstwesen 115 (1964), S. 771f. (hier S. 771). Ebenda. Galli verfasste eine Dissertation ü ber Richard Wagner und die deutsche Klassik (1936); angesichts dessen erstaunt es, dass im Essay lediglich kurz dessen ›Waldweben‹ erwä hnt wird. Harald Thomasius (Hg.): Wald. Landeskultur und Gesellschaft, Jena 21978, hier S. 11 (Aus dem Vorwort zur 1. Auflage).

123

II. Wald, Musik und Waldmusik

oberflä chlichen Beitrag ü ber den Wald in der Musik lieferte.188 Der neunseitige Text setzt beim Vogelgesang an, kommt dann auf den Instrumentenbau zu sprechen und schließt mit umfä nglichen Ausfü hrungen zur Jagdmusik. Hö rnerklang verbinde sich „fü r den Hö rer gefü hlsmä ßig mit der bildhaften Vorstellung des Waldes und der Jagd“, weshalb man in Symphonien von Dvoř á k, Brahms, Bruckner, Sibelius oder Schostakowitsch „nicht nur in einzelnen Episoden, sondern oft in ganzen Sä tzen, das Rauschen der Wä lder“ zu vernehmen meine, obgleich es dafü r „keine konkreten Hinweise durch bildhafte Uberschriften“189 gebe. Zwar habe die Jagd als „feudalistisches Schaugeprä nge“ in der DDR keine Zukunft, die „historischen deutschen Jagdsignale“ wü rden jedoch als kulturelles Erbe bewahrt. „Da ja der Wald ü berhaupt in Wagners Dramen eine bedeutende Rolle spielt“, widmete der Schweizer Forstwissenschaftler Walter Keller dieser Thematik in den 1970er Jahren zwei Essays, welche dichterisch-dramaturgische190 wie auch musikalische191 Aspekte berü cksichtigen. Eine „Betrachtung des Waldes in der Musik“ fü hre „letztlich immer zum Begriff der ›Romantik‹“, da die „Lockung durch das Fremde“, und so auch das Bestreben nach musikalischer Annä herung an die wesensfremde Natur, ein romantisches Charakteristikum sei. 192 Keller versucht eine Unterscheidung zwischen ›subjektivistischen‹ und ›objektivistischen‹ Realisationen der Waldthematik in Wagners Kompositionen, wobei er als Beispiel fü r Letztere die ›Waldesmorgenpracht‹-Musik aus Parsifal anfü hrt: In der „kanonischen Engfü hrung“ der instrumentalen Stimmeinsä tze werde hier – in Analogie zu perspektivisch zusammenrü ckenden Bä umen – ein „objektive[s] rä umliche[s] Bild des Waldes gezeichnet“.193 „Der Wald stirbt“, titelte ›Der Spiegel‹ im November 1981 und trug damit die Debatte um das Waldsterben in die breite Offentlichkeit.194 Gerhard Rü hm griff die Thematik 1983 in seinem Hö rspiel Wald. Ein deutsches Requiem auf. Im Jahr darauf mahnt Bartholomä us Grill den „deutschen Abschied vom Wald“ an und verweist zynisch auf Webers Freischütz als musikalisches „Waldsubstitut“195. Plakativer noch wird der Kompensationsgedanke in einem Beitrag zur Zentenarfeier (1983) von 188

189 190

191 192 193

194 195

Gottfried Schmiedel, Der Wald in der Musik, in: Harald Thomasius (Hg.), Wald. Landeskultur und Gesellschaft, Jena 21978, S. 393–402. Fü r Informationen zum Autor siehe Dieter Hä rtwig, Lemma ›Schmiedel, Gottfried‹, in: Institut fü r Sä chsische Geschichte und Volkskunde (Hg.), Sächsische Biografie, online-Ausgabe (2008), (Dateiversion vom 1. 12. 2008). Gottfried Schmiedel, Der Wald in der Musik, S. 401. Walter Keller, Die Schutzfunktion des Waldes bei Richard Wagner, in: ders., Parsifal-Variationen. 15 Aufsätze über Richard Wagner, Tutzing 1979, S. 97–102 (hier S. 97). Ders., Über Richard Wagners Waldmusik, ebenda, S. 103–111. Ebenda, S. 104f. Ebenda, S. 110. Lediglich hingewiesen sei auf zwei thematisch verwandte Aufsä tze von Walter Keller, Pfitzners ›Rose vom Liebesgarten‹ – Die Waldoper des Jugendstils, in: Mitteilungen der Hans PfitznerGesellschaft, Neue Folge Heft 60 (2000), S. 13–17, und ders., Bär, Geier, Luchs und Wolf auf dem Operntheater, in: Forest Snow and Landscape Research 76 (2001), Nr. 1/2, S. 91–106. Jochen Bö lsche, Säureregen: „Da liegt was in der Luft“, in: Der Spiegel, Nr. 47 (1981). Bartholomä us Grill, Gefühl und Holz, in: ders., Manfred Kriener (Hg.), Er war einmal. Der deutsche Abschied vom Wald?, Giessen 1984, S. 189–210 (hier S. 208).

124

4. Literaturü berblick zu ›Wald und Musik‹

Richard Wagners Tod formuliert: „In dem Augenblick, wo der Wald zu sterben anfä ngt, sind wir erst in der Lage zu sehen, was Wagner oder die Kunst rettend uns als Vision an Mö glichkeiten auftun kann.“196 – „Die Idee zu diesem Buch wurde durch das Waldsterben ausgelö st“197 heißt es ausdrü cklich in den 1986 erschienenen, kulturgeschichtlichen Reisen in die Tiefen des Waldes von Dieter Struss. „Endzeitstimmung“ 198 diagnostiziert auch Bernd Weyergraf in der Einleitung zum 1987 erschienenen Ausstellungskatalog Waldungen, einer der gewichtigsten und facettenreichsten Publikationen zur Kulturgeschichte des deutschen Waldes. Der Musikwissenschaftler Elmar Budde steuerte mit seiner „historischen Skizze“ ü ber den Wald in der Musik des 19. Jahrhunderts die bis dato fundierteste Auseinandersetzung mit dem Thema bei.199 Er beschreibt Erscheinungen und Wandlungen von ›Waldmusik‹ vor gesellschaftlichem und musikä sthetischen Hintergrund und macht dabei als generelle Tendenz ein „Zurü cktreten des musikalischen Sprachcharakters“ zugunsten einer „Unmittelbarkeit“ des Erlebens aus. Bis ins frü he 19. Jahrhundert sei die „Welt des Waldes“ in der Musik nur selten, und wenn dann eher durch depiktive „akustische Signale“ denn „als Gefü hl“ beschworen worden. Carl Maria von Weber komme deshalb die Bedeutung zu, „der erste Komponist gewesen zu sein, der in seiner Musik einen Ton getroffen hatte, der im Hö rer Assoziationen auslö ste, die ihm Natur und Wald scheinbar unmittelbar ›empfindlich‹ machten.“200 Seine Intention, besonders im Freischütz dem Bü hnengeschehen und der Musik eine „unmittelbare Erlebnisform“ zu geben, die ü ber die „innersprachliche Struktur“ der Musik hinausfü hre, sei dann von Wagner „nicht nur im Blick auf Wald- und Naturszenen“, sondern „auf das musikalische Drama schlechthin“ aufgegriffen worden. Was macht eine Komposition zur ›Waldmusik‹? Reicht es, dass die Thematik im Titel, einem programmatischen Hinweis oder im vertonten Text anklingt? Kann ›Waldmusik‹, wo dergleichen sprachliche oder bildliche Vermittlung nicht gegeben sind, ü berhaupt werkimmanent anhand des Notentextes identifiziert werden? Der Musikwissenschaftler Peter Jost lieferte einen grundlegenden Beitrag zur Erö rterung dieser Problematik in seiner 1989 erschienenen Dissertation ü ber Schumanns Waldszenen op. 82.201 Naheliegenderweise legt er dabei den Fokus auf ›abbildende‹ Nachahmungen natü rlicher Klä nge, die musikalisch-assoziative Annä herung an den Wald „durch bestimmte ihm innewohnende, akustisch wahrnehmbare Vorgä nge“202. 196

197 198

199 200 201

202

Hans Jü rgen Syberberg, Filmisches bei Richard Wagner, in: Gerhard Heldt (Hg.), Richard Wagner: Mittler zwischen Zeiten. Festvorträge und Diskussionen aus Anlass des 100. Todestages, Anif/Salzburg 1990 (= Wort und Musik 3), S. 67–74 (hier S. 73). Dieter Struss, Reisen in die Tiefen des Waldes, [Mü nchen] 1986, S. 11. Bernd Weyergraf, Deutsche Wälder, in: ders. (Hg.), Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, Berlin 1987 (= Akademie-Katalog 149), S. 6–12 (hier S. 11). Der Katalog dokumentiert eine Ausstellung der Akademie der Kü nste vom 20. September bis 15. November 1987. Elmar Budde, Der Wald in der Musik, S. 47–61. Ebenda, S. 49f. Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹, S. 71–89. Ubrigens merkt auch Jost im Vorwort seiner Studie an, dass die Thematik durch die aktuelle ›Waldsterben‹-Debatte neuerlich ins allgemeine Bewusstsein gerü ckt sei. Ebenda, S. 74.

125

II. Wald, Musik und Waldmusik

Allerdings kö nne durch „einzelne Nachahmungen von Hö rbarem“ wie etwa Vogelrufe oder Hornmotive die Vorstellung von Wald „kaum nachdrü cklich“ evoziert werden, da die relevanten „Assoziationsfelder“ zu vielseitig und mehrdeutig seien: Imitierte Vogelstimmen etwa – man denke nur an den 1. Satz von Vivaldis Primavera RV 269 – kö nnten eben so gut auf ›Frü hling‹ oder ›Garten‹ verweisen. Jost folgert: „Eine Vorstellung von ›Wald‹ kann daher nur in einem Zusammenwirken mehrerer Faktoren erreicht werden – und selbst dann bleibt das eindeutige Erkennen des ›Gemeinten‹ ohne zusä tzliche verbale Ankü ndigung (in welcher Form auch immer) fraglich.“203 Im Falle der Waldszenen habe Schumann solche Verbalisierung zunä chst durch Titelgebung und zusä tzliche Mottos vorgesehen. Erst kurz vor Drucklegung entschied er sich, Letztere (bis auf eine Ausnahme204) zu entfernen – wie Jost annimmt, um einer „Begrenzung des Imaginationsspielraums“ vorzubeugen. 205 Der Waldbezug in seinen verschiedenen Facetten bleibt freilich durch die Titel des Zyklus wie der Einzelstü cke explizit.206 Zu einem interdisziplinä ren Seminar ü ber Wald, das im Wintersemester 1991/92 an der Philosophischen Fakultä t in Freiburg (Schweiz) stattfand, steuerte der Musikwissenschaftler Luigi F. Tagliavini Ausfü hrungen ü ber La forêt dans la musique 207 bei, von der Frage ausgehend, inwiefern Musik als eine „langage ›non signifiant‹“ mit außermusikalischem Inhalt assoziiert werden kö nne. Anlä ßlich einer Auffü hrung von Schumanns Liederkreis op. 39 und den Waldliedern op. 119 hielt Bernd Weyergraf am 30. Oktober 1993 in der Kunsthalle Bremen einen Vortrag ü ber Deutsche Wälder. Wandlungen eines Symbols. Es folgte ein Vortrag von Budde ü ber den Wald in der Musik und ein „kulturgeschichtliches Gesprä ch ü ber den Wald“ mit den Teilnehmern Budde, Gü nter Kleinen, Andreas Kreul, Tobias Plebuch, Schmidt-Vogt, Weyergraf und Kurt Seibert.208 Vertreten ist Der Wald als Thema in der Musik auch in den 1998 vom Deutschen Forstverein herausgegebenen Waldfacetten. Dem Pianisten und Dirigenten Christoph Eschenbach gelingt in Anbetracht der gebotenen Kü rze und Zielsetzung ein ausgewogener Uberblick. „Jagdmusik und Vogelstimmen“ seien die musikgeschichtlich wichtigsten Waldmotive, wobei sich die Beziehung zwischen Wald und Musik aber nicht in vermittelnden Werktiteln, Programmen und Tonmalerei erschö pfe.209 203 204

205 206

207

208

209

Ebenda. Vorgesehen waren lyrische Mottos von Joseph von Eichendorff, Friedrich Hebbel, Heinrich Laube und Gustav Pfarrius. In die gedruckte Ausgabe (1850) gingen nur Hebbels Verse aus den Waldbildern als Motto fü r das vierte Stü ck (Verrufene Stelle) ein. Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹, S. 158–171 (hier S. 170). Die Titel der neun Stü cke lauten: Eintritt, Jäger auf der Lauer, Einsame Blumen, Verrufene Stelle, Freundliche Landschaft, Herberge, Vogel als Prophet, Jagdlied und Abschied. Im Anhang (S. 285–289) bietet Jost eine Synopse der Gedichtvorlagen und exzerpierten Mottos. Luigi Ferdinando Tagliavini, La forêt dans la musique, in: Dimiter Daphinoff (Hg.), Der Wald. Beiträge zu einem interdisziplinären Gespräch, Freiburg 1993 (= Studien und Texte zur Philologie und Literatur, Neue Folge 13), S. 171–184. In der Ankü ndigung heißt es: „Was mit romantischer Naturfaszination als ›Waldeinsamkeit‹ und ›andä cht’ger Aufenthalt‹ seinen Anfang nahm, endet einstweilen in allgemeiner Depression. Der Traum von einer unverwü stlichen Natur […] ist ausgeträ umt.“ Ich danke Tobias Plebuch fü r den Hinweis. Christoph Eschenbach, Der Wald als Thema in der Musik, S. 95f.

126

4. Literaturü berblick zu ›Wald und Musik‹

In der Romantik habe sich „die Musik als Sprache der Seele dem Wald enger als zuvor“ verbunden, wobei das „rein Abbildende“ zugunsten des Ausdrucks von Empfindungen zurü ckgetreten sei. Der 2002 erschienene Kongressbericht Il bosco nella cultura europea tra realtà e immaginario enthä lt unter dem vielversprechenden Titel Dal ›Freischütz‹ al ›Siegfried‹: Musica e bosco nell’ottocento tedesco einen Aufsatz von Marta Bignami, der sich aber im Wesentlichen darauf beschrä nkt, frü here Befunde von Budde und Schmidt-Vogt zu referieren.210 „Der Wald in der Oper ist ja eine Thematik, die schon alleine ein Symposium fü llen wü rde“, ä ußerte die Theaterwissenschaftlerin Sabine Busch in der Diskussion eines 2001 gehaltenen Vortrags von Walter Keller. 211 Zumindest annä hernd realisiert wurde diese Idee durch ein 2007 abgehaltenes interdisziplinä res Symposium zum Wald als romantischen Topos. Der von Ute Jung-Kaiser herausgegebene Sammelband212 enthä lt ü berwiegend musikwissenschaftliche Beiträ ge, unter anderem zu Schumanns Vogel als Prophet (aus den Waldszenen) und Mendelssohns Mä nnerchö ren, Aufsä tze ü ber Wald im nordischen Klavierstück (Peter Jost), Wald und Träume in Regers Liedern (Susanne Popp213 ), den ›Heiligen Wald‹ in Wagners Parsifal (Ulrike Kienzle) und Wald als „Topos der Bedrohung“ in Schö nbergs Erwartung (Siegfried Mauser), ferner zwei Beiträ ge zur Waldthematik in zeitgenö ssischer Musik. Geschmä lert wird der Erkenntniswert des Sammelbandes dadurch, dass weder die Zusammenstellung der Beiträ ge noch die Einfü hrung der Herausgeberin deutlich machen kö nnen, was genau durch die Spezifikation „als romantischer Topos“ ausgesagt werden soll. Im von der UNO ausgerufenen ›Internationalen Jahr der Wä lder‹ 2011 gab das Deutsche Historische Museum einen Ausstellungskatalog mit forst- und kulturgeschichtlichen Essays heraus, darunter einer ü ber den Klang des Waldes von JungKaiser.214 Sie konstatiert, dass die „Mehrzahl der Waldvertonungen“ sich ein „musikimmanentes Potenzial“ von „Naturklä ngen“ zunutze mache, also im weiteren Sinne nachahmend operiere. Die Diskrepanz zwischen einer Breite weit ausdifferenzierter 210

211

212

213

214

Marta Bignami, Dal ›Freischütz‹ al ›Siegfried‹: Musica e bosco nell’ottocento tedesco, in: Giuli Liebman Parrinello (Hg.), Il bosco nella cultura europea tra realtà e immaginario. Atti del convegno internazionale Roma 24–25 novembre 1999, Roma 2002, S. 169–176. Zitiert nach Walter Keller, Baumarten und ihre Funktion in Siegfried Wagners Opern, in: Peter P. Pachl (Hg.), Siegfried Wagner-Kompendium 1. Bericht über das […] Symposion ›Siegfried Wagner‹ Köln 2001, Herbolzheim 2003 (= Neue Schriftenreihe der Internationalen Siegfried Wagner-Gesellschaft 1), S. 154–167 (hier S. 167). Ute Jung-Kaiser (Hg.), Der Wald als romantischer Topos. 5. Interdisziplinäres Symposion der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main 2007, Bern 2008. Popp belegt anhand von Ernst Challiers Grossem Lieder-Katalog die enorme Popularitä t von Waldliedern in der Spä tphase der musikalischen Romantik: Unter den Neuerscheinungen der Jahre 1894 bis 1906 finden sich dort „allein 22 Lieder unter dem Titel Waldeinsamkeit zu insgesamt 14 unterschiedlichen Gedichten“, gefolgt von Wald(es)nacht und Waldesrauschen (jeweils zehn Lieder), Waldeszauber (acht), Waldesruhe und Waldidyll (fü nf) und Waldmärchen (drei Lieder), Susanne Popp, Wald und Träume in Regers Liedern, in: Ute Jung-Kaiser (Hg.), Der Wald als romantischer Topos, Bern 2008, S. 213–232 (hier S. 216f.). Ute Jung-Kaiser, Der Klang des Waldes, in: Ursula Breymayer, Bernd Ulrich (Hg.), Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald, Dresden 2011, S. 173–179.

127

II. Wald, Musik und Waldmusik

und mitunter konträ rer Vorstellungen und (literarisch bezeugter) Implikationen von ›Wald‹ einerseits und dem vergleichsweise ü berschaubaren Spektrum im Notentext ›lesbarer‹ und verlä sslich zuordenbarer musikalischer Umsetzungen andererseits, fü hrt sie zu den Fragen: Trä gt die Musik dieser semantischen Vielfalt Rechnung? Die breite (qualitative und stilistische) Varianz von Waldmusiken lä sst vermuten, dass auch hier unterschiedlichste Waldaspekte zum Tragen kommen. Doch reichen die musikalischen Mittel ü berhaupt aus, diese in Klang zu ü bersetzen?215

Neben der „illustrativen Nachzeichnung konkreter Waldklä nge und deren programm-musikalischer ›Ubersetzung‹“ gebe es Kompositionen, die „den Wald als Idee begreifen und darstellen“ oder „mit stereotypen Topoi oder Versatzstü cken umreißen“, ferner die „psychologisierenden, die den Wald als Spiegel der Seele oder als eine Art Entfremdungsraum begreifen, aber auch die tiefromantischen, in denen sich der Moment der Stille, der ›Waldeinsamkeit‹ spiegelt, sowie schließlich die pathetisch aufgeladenen, zu Sakralisierungen neigenden Kompositionen.“216 Kann diese anhand von Kompositionen des 19. und 20. Jahrhunderts aufgestellte Ubersicht weder als definierter Kriterienkatalog noch als erschö pfende Systematik fü r ›Wald in der Musik‹ bestehen, so spricht sie doch eine Reihe wesentlicher Aspekte jenseits der tonmalerischen Naturnachahmung an und verweist mit der Rede vom „Wald als Idee“ auf die Dichotomie von ›realen‹ und ›idealen‹ Wä ldern, auf eine Unterscheidung von Natur und Landschaft. Des Weiteren ergä nzt Jung-Kaiser den Diskurs um Beispiele aus der zweiten Hä lfte des 20. Jahrhunderts und jü ngerer Zeit, wie etwa David Tudors elektronischen Rainforest IV (1973), die Waldstücke (1987/94) von Volker Staub, Klaus Langs Orchesterwerk fichten (2003/4) oder Martin Schü ttlers Wald (2010), die sich auf stilistisch vielfä ltige Weise mit der Thematik auseinandersetzen. Insgesamt lä sst der Literaturü berblick freilich einen eindeutigen Interessenschwerpunkt auf der Kunstmusik des 19. Jahrhunderts erkennen. Besonders die Publikationen aus dem Umfeld der ›Schutzgemeinschaft Deutscher Wald‹ lokalisieren die Hochzeit der ›Waldmusik‹ in der musikalischen Romantik und zeichnen Weber und Wagner als vollendete ›Waldmusiker‹ aus. Man ist geneigt, die in diesen Texten mehr oder weniger nachdrü cklich betriebene Vereinnahmung des Waldes als exklusiv ›deutsche Domä ne‹ auf ideologische Restbestä nde aus der ersten Jahrhunderthä lfte zurü ckzufü hren, die in der Folgezeit nur allmä hlich verblassten.217 Dass die Behauptung einer spezifischen ›Waldgesinnung‹ deutscher Musiker latent bis in die Gegenwart weitertradiert wird, zeigt sich indes in der fü nften Auflage des Kosmos 215 216 217

Ebenda, S. 175. Ebenda. Grill macht noch in der ›Waldsterben‹-Debatte der 1980er Jahre „Rü ckstä nde faschistischer Ideologie“ mitverantwortlich fü r die energischen Sorgen um den „Verlust der mythengeschwä ngerten Wä lder“, Bartholomä us Grill, Gefühl und Holz, S. 205f.

128

4. Literaturü berblick zu ›Wald und Musik‹

Wald- und Forstlexikons (2016), wo man zum Thema Wald in der Musik liest: „Fü r viele deutsche Komponisten, bekannte und unbekannte, die sich besondere Verdienste um das Volkslied erworben haben, ist der Wald in der Musik Herzensangelegenheit.“218 Bemerkenswerter noch als die Tatsache, dass im Text ohne Begrü ndung ausschließlich Personen und Werke des deutschen Sprachraums erwä hnt werden, ist der einzige darin enthaltene (und durchaus entbehrliche) Literaturverweis, nä mlich auf den weiter oben besprochenen Aufsatz von Hermann Unger, in welchem „Naturverbundenheit“ zum „Erbteil“ des „deutschen Musikers“ erklä rt wird.219 Eine quantitative Auswertung der vorgestellten Publikationen hinsichtlich der darin genannten Komponisten ergibt folgendes Bild: Die Namen Carl Maria von Weber und Richard Wagner fehlen in keinem der Texte ü ber ›Wald und Musik‹, wobei die Autoren meist Weber die grö ßere Bedeutung als ›Waldkomponist‹ zuschreiben. Neben seinem Freischütz finden (deutlich seltener) auch Silvana und Euryanthe Erwä hnung. Außer dem ›Waldweben‹ aus Siegfried werden von Wagners Werken noch Tannhäuser, Tristan und Isolde und Parsifal mehrmals genannt. Kaum weniger prä sent sind Ludwig van Beethoven und seine ›Pastorale‹ sowie Schumann mit den Waldszenen. Den fü nften Rang erreicht Mendelssohn dank seiner populä ren Eichendorff-Vertonungen Der Jäger Abschied op. 50,2 („Wer hat dich, du schö ner Wald“) und Abschied vom Walde op. 59,3 („O Tä ler weit, o Hö hen“). Weitere hä ufig genannte Kompositionen sind Liszts Konzertetü de Waldesrauschen (1861/2), Raffs dritte Sinfonie ›Im Walde‹ (1870), Humperdincks Hänsel und Gretel (1893), aber auch Bachs ›Jagdkantate‹ BWV 208 (1713) sowie die Jagd und Wald schildernden Nummern aus Haydns Jahreszeiten (1801). Auch die Namen Franz Schubert, Johannes Brahms und Richard Strauss werden in der Mehrzahl der Texte ü ber ›Wald und Musik‹ angefü hrt. Eine bemerkenswerte Absenz in dieser Reihe, die weitgehend den klassischen Kanon des deutschen Bü hnen- und Konzertwesens reprä sentiert, bildet Wolfgang Amadé Mozart. Erich Herrmann erwä hnt Mozart in seinem Essay ü ber den Wald in der Musik, allerdings nur, um „an einem Beispiel den Gegensatz“ zur „Naturverbundenheit“ Beethovens darzustellen. 220 Mit dieser Einschä tzung stand Herrmann Mitte des 20. Jahrhunderts nicht alleine da: Vor allem Alfred Einstein stellte in seiner Mozart-Monographie den „Natursinn“221 des Komponisten als schwach ausgeprä gt dar. 218

219 220

221

[anonym], Wald in der Musik, in: Gerhard Stinglwagner, Ilse Haseder, Reinhold Erlbeck (Hg.), Das Kosmos Wald- und Forstlexikon, Stuttgart 52016. S. 942. Hermann Unger, Der Wald in der Musik, S. 151–153. „Fü r Mozart war der Tag kaum ausreichend, um den Reichtum, den die Muse ü ber ihn ausschü ttete, zu Papier zu bringen. Die Bä ndigung dieser Fü lle vollzog sich mit verzehrender Schnelligkeit. So entzü ndet sich sein Genie weniger an der Beschaulichkeit der Natur, als vielmehr an der Dramatik des Lebens.“, Erich Herrmann, Der Wald in der Musik, S. 11. Alfred Einstein, Mozart. Sein Charakter, sein Werk, Zü rich 31953 [deutsche Erstausgabe 1947], S. 32. Einstein kommentiert hier einen Brief Mozarts (in welchem der Wald bei Reisenberg als „[p]rä chtig und sehr angenehm“ gerü hmt wird) mit den Worten: „In Wahrheit ist weniger sein Natursinn berü hrt als sein Gefü hl fü r Bequemlichkeit, sein Bedü rfnis nach Heiterkeit der Umgebung.“ Wiederholt und nachdrü cklich betont Einstein, dass Mozart „kein Auge hatte fü r Landschaft“ und „Rousseaus […] ›Zurü ck zur Natur‹ ihm wenig gesagt hä tte“ (S. 106), ja dass er in einer „streng verschlossenen Kutsche“

129

II. Wald, Musik und Waldmusik

5. Der klingende Wald 5.1. Vorbemerkungen Bedauerlicherweise kann das bereits 1989 von Peter Jost vorgebrachte Desiderat einer „detaillierte[n] Untersuchung der fü r den Bereich des Waldes wichtigen musikalischen Traditionslinien“222 auch durch die vorliegende Studie nicht hinreichend eingelö st werden, zumal ›musikinhä rente‹ Realisierungen der Waldthematik in ihr nur einen Teilaspekt ausmachen. Es dü rfte deutlich geworden sein, dass sich derartige „Traditionslinien“ weder auf Verfahren der Klangmalerei (als musikalische Nachgestaltung hö rbaren Naturgeschehens), noch auf den ü bergeordneten Bereich der Tonmalerei oder der Programmmusik eingrenzen lassen, die gleichwohl eine wichtige Rolle spielen.223 Die in der zweiten Hä lfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Konjunktur programmatischer ›Waldmusiken‹ vollzog sich vor dem Hintergrund einer Polarisierung zwischen Formal- und Ausdrucksä sthetik, die sich im Kern um die Frage des Naturverhä ltnisses der Musik und um die (Neu-)Legitimation von Bezugnahmen auf ›Außermusikalisches‹ drehte, und die aufgrund personaler Konstellationen als regelrechter Parteienkampf von ›Neudeutschen‹ gegen ›Traditionalisten‹ ausgetragen wurde. „Stoff“ fü r die Musik biete die Natur „nur in dem untersten Sinn des rohen Materials“, etwa im „Holz des Waldes“, das „der Mensch zum Tö nen zwingt.“224 So formuliert es ein prominenter Vertreter der ›Traditionalisten‹, Eduard Hanslick, in seiner Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen (1854). Der Rapport von ›Wald und Musik‹ reduziert sich nach dieser Auffassung auf das Holz, aus dem die Geige geschnitzt ist. „Na-

222 223

224

(S. 25) reiste, „und die Aussicht durch die winzigen Fenster interessiert[e] ihn wenig.“ Thomas Mann, ein begeisterter Leser des Buches, fasst diese Sichtweise in einem seiner letzten Briefe zusammen: „Mich interessierte besonders, daß M[ozart] gar keinen Sinn fü r Natur hatte oder fü r Architektur oder Sehenswü rdigkeiten ü berhaupt, sondern Anregung immer nur aus der Musik selbst schö pfte und sozusagen Musik aus Musik machte, eine Art von kü nstlerischer Inzucht und filtrierter Produktion, sehr merkwü rdig.“, Thomas Mann an die Familie Michael Mann, Brief vom 9. August 1955, in: Erika Mann (Hg.), Thomas Mann: Briefe 1948–1955 und Nachlese 1965, Frankfurt am Main 1965, S. 418. Die Annahme, Mozart habe wä hrend seiner Reisen kein Interesse an der Landschaft gezeigt, wurde schon frü her durch den Musikwissenschaftler Richard Batka geä ußert; ihm zufolge sei es „k e i n Z u f a l l , daß wir bei Mozart, dessen Jugend zwischen Notenpult und Konzertsaal verflog, der selbst auf seinen vielen Reisen nicht viel zum Fenster des Kutschwagens hinaussehen durfte, sondern immerzu ›studieren‹ mußte, keinen Wiederklang von Naturstimmungen begegnen“, Richard Batka, Papierne Musik, in: Der Kunstwart 16/1 (1902), Nr. 1, S. 9–12 (hier S. 11). Hornsmann hingegen nimmt an, „[m]ancher Triller Mozarts kö nnte den Vö geln abgelauscht sein. Wir wissen dies nicht, dü rfen es aber vermuten, denn es war damals unmö glich, auf den beschwerlichen und doch so naturnahen Reisen derartige Eindrü cke nicht aufzunehmen.“, Erich Hornsmann, Allen hilft der Wald, S. 200. Siehe hierzu auch den Artikel von Daniel Heartz, Mozart’s Sense for Nature, in: 19th Century Music 15 (1991), Nr. 2, S. 107– 115. Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹, S. 79. Zur Differenzierung der Begriffe siehe Hubert Unverricht, Hörbare Vorbilder in der Instrumentalmusik bis 1750. Untersuchungen zur Vorgeschichte der Programmmusik, Berlin [1953], S. 5–17. Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aestethik der Tonkunst, Leipzig 1854, S. 84.

130

5. Der klingende Wald

turschö nes fü r die Musik“ oder „etwas nachzumusiciren“ sei in der Natur schlichtweg nicht zu finden, weshalb die Tonkunst von ihr „nur Gebrauch machen kann, wenn sie in die Malerei pfuscht.“225 Einzigen „Inhalt“ der Musik sieht Hanslick in der „best immten Tong estalt ung als der freien Schö pfung des Geistes aus geistfä higem, begriffslosem Material“, wogegen er „jeden andern ›Inhalt‹ der Tonkunst unerbittlich negirt“226. Freilich lä sst schon der polemische und dogmatische Tonfall erkennen, dass solche Festlegungen zum Zeitpunkt ihrer Verö ffentlichung alles andere als unstrittig waren und nur im Hinblick auf die kunstä sthetische Auseinandersetzung mit der Programmmusik zu verstehen sind: Nicht zufä llig erschien im selben Jahr wie Hanslicks Abhandlung erstmals auch der Begriff ›Symphonische Dichtung‹.227 Die Forderung nach kategorialer Trennung von Kunst und Natur verweist zurü ck in die zweite Hä lfte des 18. Jahrhunderts, als die idealistische Philosophie ein antithetisches Verhä ltnis der Beiden postulierte. Als autonomes Subjekt sollte der Kü nstler von den „Fesseln der Naturnachahmung entbunden und nur auf Material und Verfahren verpflichtet werden.“228 Den Prozess, in dem die alte Nachahmungsdurch eine Empfindungsä sthetik abgelö st wurde, bezeichnet La Motte-Haber als „eine kontinuierliche Umwertung, durch die die Rü ckbindung an die Natur preisgegeben wurde zugunsten der Verlagerung der schö pferischen Potenzen in das menschliche Subjekt.“229 Daraus konnte sich die Vorstellung einer ›absoluten Tonkunst‹ entwickeln, die ohne Bezug zur ›Außenwelt‹ in einer autonomen Kunstsphä re existiert. Der Musik komme es nicht zu, objektive Natureindrü cke nachzubilden, sondern die subjektiven Empfindungen auszudrü cken, die durch ebendiese Eindrü cke in der Menschenseele ausgelö st werden. Der Musiker dü rfe diese Dinge deshalb „nicht direkt darstellen, sondern in den Gemü tern die gleichen Gefü hle erregen, die man empfä nde, wenn man sie wirklich sä he.“230 So formuliert es Jean-Jacques Rousseau in seinem zeitlebens unverö ffentlichten Essai sur l’origine des langues. Nahezu gleichlautend wird diese Regel in Johann Jakob Engels Abhandlung Ueber die musikalische Malerey (1780) wiederholt. Allerdings konzediert Engel, dass mitunter „der Ausdruk des Subjektiven ohne Malerey des Objektiven nicht geschehen“231 kö nne, und steckt damit gewissermaßen den Rahmen ab, innerhalb dessen sich musikalische „Malerey“ in der Folgezeit legitimieren konnte. Wie Engel 232 , so zieht zwei Jahre spä ter auch der Musiktheoretiker Heinrich Christoph Koch als anschauliches 225 226 227 228 229 230

231

232

Ebenda, S. 91 und 94. Ebenda, S. 104. Helga de la Motte-Haber, Musik und bildende Kunst, S. 47 und 81. Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur, S. 11. Ebenda, S. 18. Jean-Jacques Rousseau, Essai sur l’origine des langues, hier zitiert nach der deutschen Ubersetzung in Dorothea Gü lke, Peter Gü lke (Hg.), Jean-Jacques Rousseau: Musik und Sprache, S. 151. J[ohann] J[akob] Engel, Ueber die musikalische Malerey. An den Königl. Kapell-Meister, Herrn Reichardt, Berlin 1780, S. 25 und 33. Ebenda, S. 26.

131

II. Wald, Musik und Waldmusik

Exempel fü r diesen Sachverhalt die ›Unwetterszene‹ heran, die sich in der Oper des 18. Jahrhunderts großer Beliebtheit und Verbreitung erfreute: Wenn die Tonkunst sich mit der Dichtkunst vereinigt, wenn […] der Dichter den Zustand seiner Seele, da er zwischen Furcht und zwischen Hoffnung schwebt, schildert, unter Donner und Blitz auf dem ungestü mmen [sic] Meere im Nachen herumtreibt, und die Tonkunst unterstü tzt diese Bilder des Dichters, so weit es in ihrer Gewalt steht, durch ein gewisses Schwanken, durch ein gewisses ungestü mmes anhaltendes Braußen, u. d. gl., so ist ihr Ausdruck lebendig.233

Verfahren der Tonmalerei sind demnach ä sthetisch legitim, wo sie den Ausdruck einer mit dem dargestellten Außeren in engem Zusammenhang stehenden inneren Empfindung ermö glichen oder unterstü tzen und sich diesem Ziel dienend unterordnen. So kann es, um ein relevantes Beispiel zu geben, durchaus geboten scheinen, die schaurig-ahnungsvolle Beunruhigung, die sich in spä tabendlicher Waldlandschaft einstellt, durch musikalische Nachahmung der geheimnisvoll-suggestiven Laubgerä usche des Waldes auszudrü cken. Die Tonmalerei wä re in diesem Fall kein depiktiver Selbstzweck, sondern – um die berü hmte Formulierung Beethovens zu gebrauchen – ›mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey‹. Realisiert ist eben dieser Fall in der Szene der Agathe im zweiten Akt des Freischütz (Nr. 8, Andante, T. 61ff.). Besorgt erwartet die Protagonistin den heimkehrenden Max, wobei sich ihre Aufmerksamkeit gespannt auf die Gerä uschkulisse des nahen Waldes richtet:

Alles pflegt schon lä ngst der Ruh’[.] Trauter Freund! was weilest du? Ob mein Ohr auch eifrig lauscht, Nur der Tannen Wipfel rauscht, Nur das Birkenlaub im Hain, Flü stert durch die hehre Stille[.]234

In Webers Partitur hebt nach der Frage „was weilest du?“ in den Bratschen und Celli pianissimo eine vorwiegend in Sekundschritten fließende Linie in Sextparallelen an, welche repetitiv-kreisend allmä hlich aus tiefer Lage ansteigt, um nach einem Hochpunkt (T. 70) in entsprechender Weise wieder abzusinken. Liegetö ne der Hö rner, Bä sse und Violinen I bilden dazu eine statische Grundierung (siehe Notenbeispiel 3).

233 234

Heinrich Christoph Koch, Versuch einer Anleitung zur Composition, Leipzig 1782, S. 5f. Solveig Schreiter (Hg.), Der Freischütz, S. 47.

132

5. Der klingende Wald

Notenbeispiel 3: Carl Maria von Weber, Der Freischütz, Nr. 8: Scena ed Aria (II/2), T. 65–69 (jeweils Taktmitte)

Als dumpfes Anschwellen diffuser Windgerä usche in der mit Dunkelheit assoziierten Tieflage greift die musikalische Gestaltung das im Text angelegte Naturbild tonmalerisch auf. Entscheidend ist hierbei, dass sie sich nicht in ›Malerei‹ des ohnehin Verbalisierten erschö pft, sondern zugleich die Empfindung Agathes, ihre innere Unruhe und aufkeimende Besorgnis, zum Ausdruck bringt – so wie das Naturbild ja auch in der Dichtung nicht um seiner selbst Willen, sondern in Bezug auf die Subjektstimmung der Figur eingesetzt ist. Dies vorausgeschickt, sollen im Folgenden die wohl bedeutendsten Topoi ›akustischer‹ Walddarstellung – oder vielleicht treffender: musikalischen Waldempfindungsausdrucks – vorgestellt werden: Vogelgesang, Hö rnerklang und Waldesrauschen. Freilich darf an diese Ausfü hrungen nicht der Anspruch gestellt werden, die relevanten Traditionslinien in historisch-systematischer Grü ndlichkeit und Reprä sentativitä t abzubilden. Vielmehr sollen einzelne Aspekte beleuchtet werden, die in Hinblick auf die untersuchten Werke und Texte des 19. Jahrhunderts besonders relevant scheinen und zugleich einen Eindruck von der Bandbreite mö glicher Gestaltungs- und Deutungsmö glichkeiten vermitteln.

133

II. Wald, Musik und Waldmusik

5.2. „Der Waldgesang der luft’gen Schaaren“ Des Menschen Singemeister waren Die Vö gel schon im Paradies. Der Waldgesang der luft’gen Schaaren Klang unserm Ahnherrn wundersü ß. Das muß dir, dacht’ er, auch gelingen! Versuchend traf er manchen Ton; Und so vererbte sich das Singen Vom Vater immer auf den Sohn. August Friedrich Langbein235

Der „Waldgesang“ der Vö gel als anregendes Vorbild menschlichen Musizierens – diese uralte Vorstellung schlug sich nicht nur in unzä hligen klangmalerischen Kompositionen nieder, sondern wurde bis in die Neuzeit auch wiederholt in musiktheoretischen Schriften aufgegriffen.236 Besondere Aufmerksamkeit kam dabei meist der Nachtigall zu, so etwa in der Musurgia universalis (1650) von Athanasius Kircher: In der Nachtigall [Luscinia sive Philomela] hat die Natur gewissermaßen die Idee jeglicher Musik verdienstvoll aufgezeigt, so dass die Gesangslehrer von ihr lernen mö gen, wie der Gesang auf vollkommene Weise zu ordnen und wie die Tö ne [moduli] in der Kehle zu bilden seien.237

Um dem legendä ren Stimmwunder auf die Schliche zu kommen, bat Kircher den Anatomen Giovanni Trulla, vor seinen Augen eine Nachtigall zu sezieren, „um die einzelnen Teile des Kehlkopfs genau zu untersuchen.“238 Zudem versuchte er erstmals, ihren Gesang „in notas musicas“ zu transkribieren.239 Derartige Ubertragungen von Vogelgesang auf gebrä uchliche Tonskalen spielten in der kunstmusikalischen Rezeption der tierischen Laute eine wichtige Rolle, zumal wenn sie von einer

235

236

237

238 239

[August Friedrich] Langbein, Zueignung an alle Freunde des Gesanges, in: ders., Neuere Gedichte, Bd. 2, Stuttgart 1823, S. 213. Siehe etwa Ferdinand Hand, Aesthetik der Tonkunst, Bd. 1, Leipzig 1837, § 16–21 (S. 37–46). Fü r weitere Beispiele und einen Uberblick ü ber die Thematik siehe Maria Anna Harley, Lemma ›Birdsong‹, in: Stanley Sadie, John Tyrell (Hg.), The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 3, London 22001, S. 607–610, sowie Hubert Unverricht, Hörbare Vorbilder in der Instrumentalmusik, besonders S. 115– 118; außerdem Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur, S. 128–131; Martin Ullrich, „Singen die Vögel überhaupt?“, in: Ariane Jeßulat u.a. (Hg.), Zwischen Komposition und Hermeneutik. Festschrift für Hartmut Fladt, Wü rzburg 2005, S. 425–432 und vom selben Autor: Vögel, Kühe und Musik. Das zoosemiotische Klavier, in: Amely Deiss, Ina Neddermeyer (Hg.), #catcontent [Ausstellungskatalog], Erlangen 2015, S. 182–188 (hier S. 185f.). „Meritò totius Musicae veluti Ideam quandam in Luscinia sive Philomela natura exhibuit, ut qomodo perfecta cantus ratio ordinanda, ac in gutture moduli formā di sint, addiscant Phonasci“, Athanasius Kircher, Musurgia universalis sive ars magna consoni et dissoni, Bd. 1, Roma 1650, S. 28. „[…] ut singulas Laryngis partes exactè observarem“, ebenda, S. 29. Notengraphik ebenda, nach S. 30.

134

5. Der klingende Wald

Autoritä t wie Kircher vorgelegt wurden. Viele Komponisten gewannen ihr ›akustisches Naturvorbild‹, bereits in stilisierte Schriftform ü berfü hrt, aus zweiter Hand.240 Indem sich die Motivik verselbstä ndigte und als Kodifizierung etablierte, wurden Realismus und Originalitä t zu nachrangigen Kategorien.241 Kirchers naturwissenschaftlich-analytisches Verfahren (›dissecare naturam‹) ist instruktiv, weil es in diametralem Gegensatz zur romantischen Auffassung steht: Was bleibt am Ende vom ›Naturganzen‹ ü brig, wenn der Vogel zerschnitten, sein Gesang als ›absolute‹ Tonfolge in Notenzeilen gebannt und ›nachgeträ llert‹ wird? Um mit Novalis zu antworten: „nur todte, zuckende Reste“242. Das Wesentliche, der „Naturgeist“ und damit die eigentliche Bedeutung des Nachtigallengesangs wä re verloren. Als „thö richt“ verurteilt denn auch Richard Wagner das Ansinnen, einen einzelnen „Waldsä nger“ aus der wohlgestimmten Ganzheit der „eine[n] große[n] Waldesmelodie“ herauszulö sen.243 Die Lautkulisse der Singvö gel galt seit jeher als integraler Bestandteil der Waldlandschaft und darf als topisches Element weder im antiken ›locus amoenus‹ noch im ›Frü hlingswald‹ der mittelalterlichen Minnedichtung fehlen. Uberhaupt ist Vogelgesang ü ber weite Strecken der europä ischen Kulturgeschichte der ›Landschaftsklang‹ schlechthin.244 Dementsprechend kommt ihm auch innerhalb der romantischen Vorstellung einer latenten ›Musikalitä t‹ der Welt zentrale Bedeutung zu. Stets hö rbar, doch fast durchwegs unsichtbar bleiben die singenden Vö gel etwa in den Erzä hlungen Eichendorffs, so dass es mitunter scheint, als tö ne die Landschaft selbst, als ließe ›die Natur‹ selbst ihre Stimme vernehmen.245 – Martin Ullrich weist auf die fü r die literarische wie musikalische Rezeption von Vogelgesang bezeichnende „Ambivalenz zwischen generischem Vogel und Vogelindividuum“ hin.246 Wenn etwa bei John Keats (1819) die Nachtigall als „immortal Bird“ schon seit biblischen Zeiten

240

241

242

243 244 245

246

Martin Ullrich, Vögel, Kühe und Musik, S. 184f. Vgl. etwa die Nachtigallrufe in der Sonata Violino solo representativa (1669) von Heinrich Ignaz Franz Biber und der Unstrutischen Euterpe (1678) von Johann Georg Ahle mit der Transkription der Musurgia universalis. Ullrich suggeriert, dass noch die Vogelrufe im 2. Satz von Beethovens ›Pastorale‹ von Kircher entlehnt seien, Martin Ullrich, „Singen die Vögel überhaupt?“, S. 427. Fü r die kompositorische Umsetzung wurde die Verwendung von „woodwind timbres, high registers, brief motifs, staccato articulation, grace notes and trills“ zur Konvention, Maria Anna Harley, Lemma ›Birdsong‹, in: Stanley Sadie, John Tyrell (Hg.), The New Grove, Bd. 3, S. 608. Ferner bedingt die Integration ins musikalische Kunstwerk meist eine partielle „Auflö sung der metrischen Struktur“, Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur, S. 128f. Novalis, Die Lehrlinge zu Saïs, in: Paul Kluckhohn, Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das dichterische Werk, S. 84. Siehe Kapitel VIII.3. Siehe hierzu etwa Johanne Messerschmidt-Schulz, Zur Darstellung der Landschaft, S. 44. Leo Spitzer, Zu einer Landschaft Eichendorffs (1958), in: Alexander Ritter (Hg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung 418), S. 232–247 (hier S. 236). Martin Ullrich, Vögel, Kühe und Musik, S. 186.

135

II. Wald, Musik und Waldmusik

„the self-same song“247 singt oder bei Heinrich Heine (1839) „[s]chon manche tausend Jahre“248 lebt, ist damit offenbar weniger ein individuelles Lebewesen als eine ü berzeitliche „Idee der Nachtigall“ als „verbaltextiertes Ewigkeitssymbol“ gemeint. Das einzelne Tier steht fü r ein grö ßeres, zeitloses Ganzes. „[S]ingen die Vö gel ü berhaupt?“, fragt der Musikethnologe Erich Moritz von Hornbostel 1911 und kommt zu dem Fazit: „Wir sind die Kü nstler, nicht die Vö gel.“249 Die Schilderung der Vogellaute mit musikalischen Fachtermini – angefangen beim Begriff ›Vogelgesang‹ – weist eine lange literarische Tradition auf.250 Die menschliche Wahrnehmung der tierischen Laute misst nach kulturell-musikalischen Maßstä ben. Das jeweils Gehö rte wird mit vermittelten Ideen von Vogelgesang abgeglichen, aber auch hinsichtlich seiner Ubereinstimmung mit musikalischer Syntax und menschlicher Expression bewertet. 251 Wie sich der visuell wahrgenommene Naturausschnitt im Auge des Betrachters zur Landschaft fü gt, so konstituiert das ›landschaftliche Ohr‹ aus disparaten Tierlauten, ungeachtet ihrer biologischen Funktion, die harmonische Ganzheit des ›Vogelgesangs‹ – ein „Waldconcert“252 als ä sthetisch aufgefasster, akustischer Naturausschnitt, in dem das Einzelne in der Stimmung des Ganzen aufgeht. – Poetische Bedeutung erlangt der Vogelgesang demnach in der Vermittlung von Landschafts- und Subjektstimmung. Zu Beginn der Novelle Die Böhmen (1831) stellt der Schriftsteller Georg Dö ring (1789–1833) diese Bedingung sehr anschaulich dar: Zwei Wanderer durchquerten den Bö hmerwald, [e]ine erquickende Luft wehete ihnen entgegen, das frische Laub der Bä ume rauschte ihnen einen Morgengruß zu, und die kecken Lieder der Vö gel sprachen ihnen Muth ein zu der Wanderung, die vor ihnen lag. […] Diese Sprache der Waldsä nger schien nur einer der beiden jungen Mä nner zu verstehen. Er sah frisch und freudig in die grü nen Wipfel, er schien mit innerm Vergnü gen auf das rauschende Laub, auf die flü sternden Waldbä che, auf leisere Stimmen der neu belebten Natur, auf das Schwirren der Kä fer und das Summen der Waldbienen zu hö ren.253

247

248

249

250 251

252

253

„Thou wast not born for death, immortal Bird! / No hungry generations tread thee down; / The voice I hear this passing night was heard, / In ancient days by emperor and clown: / Perhaps the self-same song that found a path / Through the sad heart of Ruth […]“, John Keats, Ode to a Nightingale, in: Jeffrey N. Cox (Hg.), Keats’s Poetry and Prose, New York 2009, S. 456–460 (hier S. 459). „Die Nachtigall sang: […] O lö se mir / Das Rä thsel, das wunderbare! / Ich hab’ darü ber nachgedacht / Schon manche tausend Jahre.“, Heinrich Heine, Vorrede zur dritten Auflage, in: ders., Buch der Lieder, Hamburg 31839, S. XV–XVIII (hier S. VXII). Erich M. von Hornbostel, Musikpsychologische Bemerkungen über Vogelgesang, in: Zeitschrift der internationalen Musikgesellschaft 12 (1911), Heft 5, S. 117–128 (hier S. 117 und S. 128). Johanne Messerschmidt-Schulz, Zur Darstellung der Landschaft, S. 70f. „Ergö tzen“ kö nnen am Vogelgesang die „Aehnlichkeiten, die sich einmischen, ohne das Menschliche zu erreichen“, schreibt Ferdinand Hand, Aesthetik der Tonkunst, Bd. 1, § 19, S. 44. Vgl. Erik Dremel, Pastorale Träume, S. 202f. Als einer von Dutzenden Belegen fü r den Begriff: Johann N[epomuk] Vogl, Waldconcert, in: Album österreichischer Dichter, Wien 1850, S. 423f. Georg Dö ring, Die Böhmen, in: ders., Novellen, Bd. 2, Frankfurt am Main 1831, S. 5f.

136

5. Der klingende Wald

Dem romantischen Helden, der sich durch Sensibilitä t und sympathetische Empfä nglichkeit auszeichnet, steht unter glü cklichen Umstä nden die innige Teilhabe an solch musikalischer Natursprache offen. Den „lustige[n] Gesang der Waldvö gel mit der zarten Begleitung der rauschenden Blä tter“ preist er als „herrliches Morgenstä ndchen, das uns die Natur bringt“, wohingegen seinen Kameraden „dü sterer Ernst und finstere Verschlossenheit“ auszeichnen: „sein Ohr ö ffnete sich nicht dem frohen Liede der Vö gel“, woraus erkenntlich wird, dass „sein Inneres ganz anders gestaltet zu seyn schien, als das seines Begleiters“254.

QR Der Publizist und Musikwissenschaftler Richard Batka verö ffentlichte 1902 einen Aufsatz ü ber Papierne Musik, in welchem er einen „weitverbreiteten Mangel bei unsern Musikern“ anprangert: Es fehle ihnen an „deutlichen Erinnerungsbildern aus der Klangwelt“. Der jungen Komponistengeneration hä lt er „beschä mende Unerfahrenheit im Reiche der Naturklä nge“ vor und verweist auf einen besonders „drastischen Fall“: Neulich blä tterte ich im Klavierauszuge der Oper ›Das Glü ck‹ von Prochá zka, worin auf das Zauberwort einer gü tigen Fee mit einem Mal die holden Stimmen des Waldes erklingen sollen. Gleich zu Beginn aber dieses idyllischen Tonsatzes teilt uns eine Fußnote philologisch gewissenhaft mit, der Komponist habe seine Vogelrufe einem Aufsatz ü ber Vogelstimmen entnommen, der in dem so und so vielten Jahrgange einer gewissen Musikzeitung erschienen sei. Also: er ist nicht selbst hinausgegangen in den Wald und hat die dort gewonnenen Eindrü cke dann zu einem Stimmungsbilde gestaltet, sondern er hat sich seine Motive „aus dem Bü chel“ geholt. Seine Schilderung der lieblichen Waldmusik ist nicht dem Leben abgelauscht, sondern am Schreibtisch, bei der Lampe von Papier zu Papier gebracht worden.255

Erstrebenswert ist fü r Batka nicht die mö glichst realistische, wissenschaftliche Wiedergabe von Natureindrü cken: „Eine Pastoralsymphonie ist kein Lehrbuch des Vogelgesangs fü r den Forstgebrauch. So wie Wagners Waldvö gelein, singt in der Wirklichkeit kein Vogel.“256 Entscheidend sei vielmehr die vorausgehende persö nliche „Naturbeobachtung“. „Selbstgeschautes, Selbstdurchgefü hltes“, das subjektiv gestimmte Erlebnis eines Naturganzen soll dem Komponisten als Ausgangspunkt dienen. Im Kern besagt Batkas Kritik, dass der direkte, unvermittelte Zugang zum Landschaftserlebnis durch musikalisch-literarische Uberformung verstellt werde.257 Um 254 255 256 257

Ebenda, S. 6–8. Siehe hierzu auch Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 284–286. Richard Batka, Papierne Musik, S. 9. Ebenda, S. 10. Vgl. hierzu Kapitel I.4.4. Ahnliche Vorwü rfe und Forderungen („Weg mit den Citaten!“) wurden bereits gegenü ber der Reiseliteratur um 1800 erhoben, vgl. dazu Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 92 und 182–184. In die gleiche Kerbe schlä gt Carus’ Kritik epigonaler „Landschaftscaricaturen“, die durch mangelhafte Ausfü hrung und „stetes Copiren der landschaftlichen Zeichnungen und Gemä lde

137

II. Wald, Musik und Waldmusik

die „Naturentfremdung“ der Tonkunst zu ü berwinden, fordert Batka – offenbar in Anlehnung an Nietzsche – eine „Wiedergeburt der Musik aus dem Geiste des Lebens“258. Als vorbildlich in der „treue[n] Beobachtung der Urphä nomene“ gilt ihm Richard Wagner. Wer aber „die Heimlichkeiten des schweigenden und des rauschenden Waldes“ nicht selbst erfahren habe, kö nne nur auf „gewisse typische Formeln“ zurü ckgreifen: So bekommen wir so hä ufig nur Musik aus zweiter Hand, hö rt der Musiker nicht mit dem eigenen, sondern mit dem Ohre anderer, zumeist Richard Wagners in die Welt hinein.259

Wagners Einfluss erstreckt sich demnach nicht allein auf das Komponieren, sondern auch auf die Perzeption von Landschaft: Um die Wende zum 20. Jahrhundert hö rte der musikalisch sozialisierte Spaziergä nger den Wald ›mit Wagners Ohren‹. Die klanglichen Muster aus seinen Werken – Batka dü rfte hier primä r an den zweiten Akt des Siegfried gedacht haben – prä gten das ›landschaftliche Ohr‹. In eine ä hnliche Richtung wie Batkas Kritik weisen die Schriften des Ornithologen Heinrich Frieling (1910–1996), die fü r eine Synthese von (natur-)wissenschaftlicher und „subjektiv-seelisch[er]“ Naturbetrachtung in einer „totalen organischen Weltanschauung“ plä dieren.260 Seine Ausfü hrungen zur Interdependenz von Landschaft, Tierstimme und Kunst stellen zugleich einen bemerkenswerten Fall der Rezeption wagnerscher Gedanken in biologistischem Diskurs dar und seien als solche kurz umrissen. Bereits Frielings Studie zur Stimme der Landschaft (1937) greift – allerdings ohne Wagners Urheberschaft zu benennen – nahezu wortgetreu auf dessen ›Waldesmelodie‹-Metapher aus „Zukunftsmusik“261 zurü ck: Wer „Harmonie“ in der Landschaft suche, dü rfe sich „nicht pedantisch an einzelne Stimmen halten“, sondern mü sse das Ganze „unzergliedert erleben kö nnen“. Gerade Musiker hä tten „oft einen ausgesprochenen Sinn fü r derartige Landschaftsstimmungen tö nender Form“262. Frielings (von Wagner entlehntes) Beispiel ist die „tö n en d e A ll - E i n h eit“ einer „Waldessymphonie“.263 Ausdrü cklich auf Wagner beruft er sich in einer

258 259 260

261 262 263

anderer Kü nstler“ entstü nden, Carl Gustav Carus, Neun Briefe über Landschaftsmalerei, Brief 8, hier S. 133–135. Richard Batka, Papierne Musik, S. 12 [im Original gesperrt]. Ebenda, S. 10. Untersucht wurden folgende Publikationen von Heinrich Frieling, Die Stimme der Landschaft. Begreifen und Erleben der Tierstimme vom biologischen Standpunkt, Mü nchen 1937; ders., Harmonie und Rhythmus in Natur und Kunst, Mü nchen 1937 und ders., Der singende Busch. Über die Seele der Landschaft in den Stimmen und Farben unserer Vögel, Hannover 1948. Siehe hierzu Kapitel VIII.3. Heinrich Frieling, Die Stimme der Landschaft, S. 112. „Ein Vogelkonzert im morgengrauenden Wald weist keine Mißtö ne auf – alles schwebt wie ein großer, gewaltiger Chor ü ber der Landschaft, und jede kleine Vogelkehle stellt nur ein einziges, abgestimmtes Instrument dar, um die Waldessymphonie mitzugestalten. Diese e i n e herrliche Waldesmelodie kö nnen wir als solche gar nicht fassen, wenn wir sie zergliedern in die einzelnen Stimmen. Nein, wir kö nnen sie einzig und allein als G a n z e s e r l e b e n ! Und nur der Kü nstler ist fä hig, das Erlebnis einer solchen Melodie nachzuschaffen. Nicht indem er die einzelnen Weisen auseinandernimmt und dann

138

5. Der klingende Wald

kurz darauf verö ffentlichten Abhandlung ü ber Harmonie und Rhythmus in Natur und Kunst. Die ›Waldesmelodie‹-Metapher wird dort in ihrer originalen Gestalt zitiert und als Beleg fü r die „Notwendigkeit des ga nz h eit lic h en Erfassens der Waldharmonie und Waldmelodie“ angefü hrt: Diese Art des kü nstlerischen Erlebens ist himmelweit von dem Strebertum eines Menschen entfernt, der sich die einzelnen notierten Vogelstimmen zusammensetzt, um daraus eine der im Original vorliegenden ä hnliche Melodie zu komponieren. Das wä re die Komposition eines Konservatoriumsschü lers, der nach dem gelernten Schema arbeitet, das wä re eine leblose Wiederzusammensetzung eines analysierten Ganzen und nicht der erhabene Ausdruck fü r ein erlebtes Ganzes.264

Der Kü nstler mü sse den Natureindruck durch seine „Stimmung“ subjektivieren und damit in eine „seelennä here[] Form“ ü berfü hren, die dem Hö rer das „Nac h erlebenkö nn en “ erleichtere: „Wir dü rfen in den Wagnerschen ›Vogelstellen‹ weniger die Vö gel einzeln begrifflich herausarbeiten, sondern wir mü ssen die Stimmung des Meisters als Spiegel der Naturseele zu erkennen streben“265. Die Vogelmotivik im ›Waldweben‹ sei unter diesen Prä missen „keine impressionistisch gesehene Naturabbildung und erst recht kein Naturalismus, sondern etwas ganzheitlich Erlebtes“. Wagner sei „sicher nicht wie andere Komponisten in den Wald gegangen, um daselbst gehö rte Vogelmotive aufs Notenblatt zu bringen“, sondern habe in der Musik sein „innere[s] Erlebnis“ der wahrgenommenen Natur, den nachhaltigen Eindruck der „erlebten Stimmungen“ verarbeitet. Dass sich in der besprochenen Stelle im Siegfried dennoch „bestimmte Vogelgesä nge deutlich heraushö ren“ lassen, begrü ndet Frieling damit, dass auch „Erzeugnisse der freien Phantasie“ auf einem „realen Erinnerungsboden“ wurzeln.266

264

265 266

wieder zusammensetzt, sondern indem er aus dem Ganzen schö pft und uns daraus wieder das Ganze erstehen lä ßt.“, ebenda, S. 118. Heinrich Frieling, Harmonie und Rhythmus, S. 15. Frieling unterschlä gt hier freilich, dass gerade die von ihm als schü lerhaft abgetane „Wiederzusammensetzung eines analysierten Ganzen“ im „Zukunftsmusik“-Aufsatz als Charakteristikum des beethovenschen Kompositionsverfahrens herausgestellt wird. Wagner schreibt dort, Beethoven habe „die eigentliche Tanzmelodie bis in ihre kleinsten Bestandtheile zerlegt“, um sie dann „zu immer neuen Gliederungen“ wieder zusammenzufü gen, Richard Wagner, „Zukunftsmusik“. Brief an einen französischen Freund als Vorwort zu einer ProsaUebersetzung seiner Operndichtungen, Leipzig 1861, S. 43. Heinrich Frieling, Harmonie und Rhythmus, S. 14. Ebenda, S. 13–16.

139

II. Wald, Musik und Waldmusik

5.3. Hö rnerklang Freudiges Horn! O wie kü hn mahnt an die duftenden Wä lder, Mahnt an der Freiheit Revier, frö hlich dein schmetternder Laut! Sehnsucht nach freyer Natur, und der Vergangenheit Stimmen Frö hlicher Freiheit Gesang, rufen melodisch mir zu!267

Was die Anzahl lyrischer Huldigungen und literarischer Referenzen betrifft, dü rften es nicht viele Musikinstrumente mit dem Horn aufnehmen kö nnen – und dies, obwohl es sich erst relativ spä t in der europä ischen Kunstmusik etablieren konnte. Die obenan zitierte Gedichtstrophe aus Henriette von Montenglauts Herbstblumenkranz (1814) versammelt auf engem Raum eine beachtliche Reihe von Schlagworten und Motiven, die ü ber einen lä ngeren geistesgeschichtlichen Zeitraum hin wiederholt mit dem Horn assoziiert wurden: Da sind zunä chst „die duftenden Wä lder“, auf die auch die gä ngige Bezeichnung ›Waldhorn‹ verweist. Vorstellungen von ›Freiheit‹ und ›Frö hlichkeit‹ schließen an, wobei unausgesprochen die Funktion des Horns als Jagd- und Signalinstrument anklingt. Die Jagdthematik selbst bleibt – bezeichnenderweise, wie im Folgenden erlä utert wird – ausgeblendet; nur verhohlen weist die Vokabel „Revier“ auf sie hin. „Sehnsucht nach freyer Natur“, nach rä umlicher Weite und Herauslö sung aus dem Alltag, aber auch Erinnerungen an die Vergangenheit vermag das Instrument zu evozieren. Klanglich zwischen „schmetternde[m] Laut“ und „melodisch[em] […] Gesang“ changierend, erweist sich das Horn in der Kunstmusik als besonders verlä sslicher Indikator fü r ›Waldthematik‹, was den folgenden Exkurs zur Charakteristik des Instruments rechtfertigt.

a. Jagd Seit Urzeiten wurden bei der Jagd akustische Signale durch (Blas-)Instrumente erzeugt, sowohl zur Verstä ndigung der beteiligten Jä ger untereinander als auch als Lockmittel fü r Tiere.268 Fü r das europä ische Mittelalter lä sst sich etwa durch den Trésor de Vénerie (1394) von Hardouin de Fontaines-Gué rin ein differenziertes Regelwerk schriftlich fixierter Jagdhornsignale nachweisen. Johann Friedrich von Flemming fordert 1719, dass der angehende Teutsche Jäger „drey Jahr lang das HiefHorn wird haben blasen [zu] lernen“269. Vor allem der franzö sische Absolutismus 267

268

269

Henriette von Montenglaut, Das Horn[.] Terzett, in: dies., Herbstblumenkranz. Niedergelegt auf das Grab des ehrwürdigen Greises / des lieblichen Dichters Jacobi in Freiburg im Breisgau, Darmstadt 1814, S. 132f. (hier S. 133). Josef Pö schl, Jagdmusik. Kontinuität und Entwicklung in der europäischen Geschichte, Tutzing 1997 (= Alta musica 19), S. 9 und 12ff. Alexander Ringer betont, dass „since times immemorial musical instruments had been part of the hunter’s basic outfit comparable in importance to arms alone“, Alexander Lothar Ringer, The ›Chasse‹ as a Musical Topic of the 18th Century, in: Journal of the American Musicological Society 6 (1953), Nr. 2, S. 148–159 (hier S. 148). Hans Friedrich von Flem[m]ing, Der Vollkommene Teutsche Jäger, Bd. 1, Leipzig 1719, S. 253. Auf S. 311f. teilt dieses Traktat umfangreiche Intervallsignale in Notenschrift mit.

140

5. Der klingende Wald

zeitigte eine Blü te hö fischer Jagdkultur, die auf andere Lä nder Europas ausstrahlte: Bei der ä ußerst aufwä ndigen und kostspieligen ›chasse à courre‹ diente das gewundene Horn den berittenen Jä gern zur Kommunikation.270 Dass der Lä rmkulisse der Parforce-Jagd auch ä sthetischer Stellenwert eingerä umt wurde, erhellt aus Hinweisen in Heinrich Dö bels Jäger-Practica (1746). Der „Fü rst und Herr“ mü sse nicht mit den Jä gern „durch Dicke und Dü nne“ reiten, sondern kö nne – dank durch den Jagdwald geschlagenen Schneisen – bequem von der Kutsche aus „den angenehmen und wohlklingenden Laut der Hunde, Jä ger und des Jagd-Horns“ genießen: „eine besonders schö ne Music“, die „mancher Liebhaber […] dem Klange des besten GlockenSpiels vorziehet“.271 Die instrumentenbauliche Fortentwicklung des Parforcehorns befö rderte die Produktion mehrstimmiger Fanfaren, die etwa zu Ehren hoher Jagdgä ste komponiert und geblasen wurden. Als typische musikalische Merkmale bildeten sich die durch Beschrä nkung auf die Naturtonskala bedingte Stimmfü hrung in Hornquinten und der vorherrschende 6/8-Takt heraus, der den Galopp der Pikö re bei der Parforcejagd nachahmt. Uber Jahrhunderte hinweg brachte das Aufgreifen jagdlicher Thematik und jagdmusikalischer Elemente in der Kunstmusik eigene Formen und Kompositionsweisen hervor, wie etwa die durch kanonische Stimmfü hrung geprä gte Chasse und Caccia oder spä ter die tonmalerische Umsetzung jagdlicher Gedichte im Madrigal.272 Musikalisch nachgeahmt wurden neben dem Klang der Hö rner oft auch Jä gerrufe und das Gebell der Hundemeute.273 Wichtige Impulse fü r die kü nstlerische Weiterentwicklung der Jagdmusik gingen von den seit dem 18. Jahrhundert zunehmend beliebten Festjagden aus, bei welchen hö fische Feierlichkeiten, Musik- und Theaterauffü hrungen im Vordergrund standen, wogegen die Jagd selbst mitunter zur Nebensä chlichkeit geriet. Josef Pö schl merkt hierzu an: Die Jagd mit ihren Rufsignalen und Instrumenten […] hielt Einzug in die hö fischen Festmusiken gerade zu einer Zeit, in der die Entwicklung des franzö sischen Parforcehornes ihren Hö hepunkt erreichte und das Waldhorn mit seinem geschmeidigen Ton sich zu entwickeln begann. Im Gegen-

270

271

272 273

Renato Meucci, Social and political perspectives in the early history of the horn, in: Boje E. Hans Schmuhl, Monika Lustig (Hg.), Jagd- und Waldhörner. Geschichte und musikalische Nutzung, Augsburg 2006 (= Michaelsteiner Konferenzberichte 70), S. 15–28 (hier S. 15f.). Meucci weist darauf hin, dass die Praxis der berittenen Hirschjagd und der Gebrauch des gewundenen Metallhorns eng verknü pft waren, so dass „wherever this form of the hunt was adopted, the instrument promptly appeared as well (for instance in Savoy and at Weissenfels); but where the hunt did not find favour (for instance in almost the whole of Italy, and in Prussia until at least the 1730s), the new horn was introduced at a much later date.“, ebenda, S. 17f. Heinrich Wilhelm Dö bel, Neueröffnete Jäger-Practica, Oder der wohlgeübte und Erfahrne Jäger, Leipzig 1754, Cap. 39, S. 87. Besonders schwä rmt Dö bel vom Gebell der riesigen Hundemeute, welches wirke, „als ob nach der Music der Discant, Tenor, Alt und Baß, mit einander anstimmen, dessen Anmuth durch der Jä ger Zuruffen, Juchen und Blasen noch mehr vermehret wird.“ Josef Pö schl, Jagdmusik, S. 29–31 und S. 51–64. Hubert Unverricht, Hörbare Vorbilder in der Instrumentalmusik, S. 31–33.

141

II. Wald, Musik und Waldmusik

satz zum Jagdhorn ließ sich das Waldhorn klanglich auch mit den Streichern und Holzblä sern ausgezeichnet vermischen und ermö glichte somit eine fortschrittlichere, musikalische Gestaltung.274

Die zunehmende Beliebtheit des Waldhorns beschrä nkte sich nicht auf das Umfeld hö fischer Jagdmusik, sondern schlug sich in allen orchestralen Gattungen nieder. In seiner Abhandlung Das Neu-Eröffnete Orchestre (1713) stellt Johann Mattheson fest, dass die Waldhö rner „bey itziger Zeit sehr en vogue kommen“ seien, und zwar „so wol was Kirchen- als Theatral- und Cammer-Music anlanget“. Er fü hrt dafü r klangä sthetische und spieltechnische Grü nde an.275 – Jost nimmt an, dass der „beispiellose Aufstieg des Horns im Verlauf des 18. Jahrhunderts“ einerseits im Zuge einer allgemeinen Aufwertung von Instrumentalmusik erklä rlich sei, andererseits durch die Heranziehung des Horns das besonders in der franzö sischen Oper bereits „zum Topos gewordene Jagdthema auch klanglich dem realen Geschehen angepaßt werden“ konnte, wie es der vorherrschenden Nachahmungsä sthetik entsprach.276 Als fester Bestandteil aristokratischer Kultur gehö rten Jagdszenen seit jeher zum dramatischen Inventar der Tragé die lyrique und des Dramma per musica. In der zweiten Jahrhunderthä lfte macht Alexander Ringer einen letzten Hö hepunkt der musikalischen ›Chasse‹ aus, „which witnessed the apogee of the instrumental hunting piece.“277 Zudem brachte die empfindsame Tendenz der Epoche gesteigerte Wertschä tzung fü r den als ›innig‹ und ›beseelt‹ empfundenen Klang des Horns hervor, welcher der angestrebten „Natü rlichkeit des Gefü hls“278 entgegen kam.

274 275

276

277 278

Josef Pö schl, Jagdmusik, S. 65. „Die lieblich-pompeusen Waldhö rner Ital. Cornette di Caccia, Gall. Cors de Chasse, sind bey itziger Zeit sehr en vogue kommen / so wol was Kirchen- als Theatral- und Cammer-Music anlanget / weil sie theils nicht so rude von Natur sind / als die Trompeten / theils auch / weil sie mit mehr Facilité kö nnen tractirt werden.“, J[ohann] Mattheson, Das Neu-Eröffnete Orchestre, Oder Universelle und gründliche Anleitung Wie ein Galant Homme einen vollkommnen Begriff von der Hoheit und Würde der edlen Music erlangen […] möge, Hamburg 1713, S. 267. An der italienischen und franzö sischen Begriffsü bertragung bei Mattheson zeigt sich die unscharfe Scheidung von Wald- und Jagdhorn. Bezü glich der unprä zisen Abgrenzbarkeit der deutschen Begriffe ›Parforcehorn‹, ›Jagdhorn‹ und ›Waldhorn‹ siehe Klaus-Peter Koch, Deutsche Hornisten und Horninstrumentenbauer in ihrem Wirken im östlichen Europa des 18. Jahrhunderts, in: Boje E. Hans Schmuhl, Monika Lustig (Hg.), Jagd- und Waldhörner, S. 201–214 (hier S. 203). Einhergehend mit der technischen Weiterentwicklung des Instruments (Ventilisierung) wurde die Bezeichnung ›Waldhorn‹ in der Orchestermusik bis Mitte des 19. Jahrhunderts ungebrä uchlich, Ottmar Schreiber, Orchester und Orchesterpraxis in Deutschland zwischen 1780 und 1850, Berlin 1938 (= Neue Deutsche Forschungen 177), S. 184. Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹, S. 82f. Dass die wesentlich in Frankreich ausgeprä gte Nachahmungsä sthetik die Herausbildung und Entwicklung einer ›sinfonischen‹ Jagdmusik begü nstigte, hebt Ringer besonders hervor; er postuliert, „that all musical hunts of the 18th century belong to the French sphere of influence, regardless of whether or not they were composed by Frenchmen.“, Alexander Lothar Ringer, The ›Chasse‹ as a Musical Topic, S. 153; vgl. auch ders., The Chasse, S. 316f. Alexander Lothar Ringer, The Chasse, Abstract. Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹, S. 82. Der Hornist – so liest man in den Mitte der 1780er niedergeschriebenen, postum durch seinen Sohn verö ffentlichten Ideen zur Ästhetik der Tonkunst von Christian F. D. Schubart – „zieht die Noten aus voller Seele, und bese[e]lt durch seinen Hauch gleichsam die ganze Instrumentenbegleitung.“ (S. 314) Dabei verlä sst er sich auf sein „sü ssmelancholisches Gefü hl“. „Das Waldhorn menschlich gedacht, ist ein guter ehrlicher Mann, der sich eben nicht als Genie, sondern als empfindsame Seele, fast allen Gesellschaften empfiehlt.“, Ludwig Schubart (Hg.), Christian

142

5. Der klingende Wald

Fü r den Hornsatz bildete sich eine charakteristische Idiomatik aus, die neben Tonvorrat, Harmonik, Stimmfü hrung, Rhythmik und Metrik instrumentenbedingt auch eine bestimmte Reihe typischer Tonarten (besonders F-, B- und D-Dur, seltener Es-Dur279) umfasst, und selbst dort leicht identifizierbar bleibt, wo sie auf andere Musikinstrumente ü bertragen wird. 280 Neben der instrumentalen Idiomatik, die mitunter schon durch eine nur angedeutete „Hornformel“ 281 beschworen werden kann, machten sich Komponisten auch die Besonderheit zunutze, dass „ein klingendes Phä nomen gleichzeitig Musik und Signal“282 sein kann und nahmen Anleihen aus dem Repertoire kodifizierter Jagdsignale. So zitiert Joseph Haydn in der großen Jagdszene (Nr. 28) seiner Jahreszeiten (1801) zahlreiche bei der Hirschjagd gebrä uchliche Signale, die er gekonnt in einen dramatisch-musikalischen Ablauf einbindet, und die offenbar auch vom Publikum als Zitate erkannt wurden: „Die ü blichen Jagdweisen dienen der ganzen Jagd als Thema“, notiert ein Rezensent der Urauffü hrung.283 Durch solchen Transfer „kulturspezifisch vereinbarter Codes“ in ein musikalisches Kunstwerk kö nnen gezielt „spezifische Assoziationen bei Interpreten und Hö rern“ ausgelö st werden.284 Schließt nun – wenn auch nicht jede Art von Jagd – zumindest die Thematik der sogenannten ›Hohen Jagd‹, bei der Hornsignale zum Einsatz kamen, den Wald als Schauplatz implizit mit ein, und lä sst sich deshalb die Jagd als ›tertium comparationis‹ zwischen Hornklang und Wald begreifen, so hat sie doch Jost zufolge „in der musikalischen Behandlung eine Eigenstä ndigkeit entwickelt, die oftmals einen nä heren Bezug zu dem Naturphä nomen [Wald] vermissen lä ßt.“ Mehr als eine latente Verbindung, wie sie nun einmal durch die Verflechtung der Aktivitä t mit der Ortlichkeit naturgegeben ist, kann man ü ber weite Strecken der Musikgeschichte nicht ausmachen. Vor diesem Hintergrund muß die plö tzliche, obwohl nicht voraussetzungslose Wendung gesehen werden, die die Jagdthematik als pars pro toto in diejenige des Waldes einbettet und die typische musikalische Kennzeichnung der Jagd mittels des Hornklangs fü r die Sphä re des Waldes in Beschlag nimmt.285

279

280

281 282 283

284 285

Friedrich Daniel Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Wien 1806. S. 313. Uber die Benennung des Instruments schreibt Schubart: „Unsere edle Nation brauchte diess Instrument sehr frü he zur Jagd; daher es auch den Nahmen Waldhorn bekam.“ (S. 312) Unter Berufung auf Ringers umfangreiche Studie (The Chasse, 1955) unterscheidet Jost tendenziell zwischen einem franzö sisch geprä gten „hö fisch-festliche[n] Typus“ (bevorzugt D-Dur) und einem „lä ndlich-pastorale[n] Typus“ (bevorzugt F-Dur), Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹, S. 84. So kann beispielsweise im kurzen Klavierstü ck Die Jagd (1759) von Leopold Mozart auch ohne Kenntnis des Titels leicht die Imitation einer von Hö rnern gespielten Jagdmusik erkannt werden. Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹, S. 83. Donald Preuss, Signalmusik, Berlin 1980, S. 8. Korrespondenz. Wien, den 2ten May, 1801, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 3, Nr. 34 (1801), Sp. 578. Zur Komposition siehe Daniel Heartz, The Hunting Chorus in Haydn’s ›Jahreszeiten‹ and the „Airs de Chasse“ in the ›Encyclopédie‹, in: Eighteenth-Century Studies 9 (1976), Nr. 4, S. 523–539. Josef Pö schl, Jagdmusik, S. 236. Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹, S. 84f.

143

II. Wald, Musik und Waldmusik

Diesen Vorgang, an dem ganz wesentlich die Literatur „in ihrer Verschmelzung von Horn- und Wald-Motiv“ beteiligt gewesen sei, verortet Jost in der Romantik.286 Betreffs der historischen Hintergrü nde verweist Ringers Studie auf die revolutionsbedingte Zä sur in der (bis dato vor allem von Versailles ausstrahlenden) hö fischen Jagdkultur, die sich tiefgreifend auf die europä ische Produktion und Rezeption von Jagdmusik auswirken musste: Das feudal-luxuriö se Spektakel der ›chasse à courre‹ bü ßte erheblich an Attraktivitä t.287 Warum und unter welchen Bedingungen sich die Romantik dennoch hingebungsvoll der Jagdthematik annahm, dokumentiert eine Episode aus Eichendorffs Ahnung und Gegenwart (1815). Der junge Poet Leontin bekennt dort in Gegenwart einer Jagdgesellschaft: [I]ch liebe an der Jagd nur den frischen Morgen, den Wald, die lustigen Hö rner, und das gefä hrliche, freye, soldatische Leben. – Alle nahmen sogleich Parthey gegen diesen kezerischen Satz und ü berschrieen ihn heftig mit einem verworrenen Schwall von Widersprü chen. Die eigentlichen Jä ger von Handwerk, fuhr Leontin lustig fort, sind die eigentlichen Pfuscher in der edlen Jä gerey, Narren des Waldes, Pedanten, die den Waldgeist nicht verstehen; man sollte sie gar nicht zulassen, uns anderen gehö rt das schö ne Waldrevier!288

Das abenteuerliche Hinaustreten aus dem Alltag, die festliche Atmosphä re, die intensive Naturerfahrung: Nahezu alles am Jagdgeschehen vermochte romantische Faszination auszuü ben – außer das blutige Waidwerk selbst. Das „Waldrevier“ wurde den Praktikern abgesprochen und fü r ›theoretisch‹ gestimmte Freigeister beansprucht. Mit dieser sublimierten Vorstellung von Jagd verband sich nunmehr der Klang der „lustigen Hö rner“. Den anwesenden Jä gern singt Leontin zu: „Was tragt ihr Hö rner an der Seite, / Wenn ihr des Hornes Sinn vergaßt, / Wenn’s euch nicht selbst lockt in die Weite, / Wie ihr vom Berg’ frü hmorgens blast?“ So verlor die Jagdthematik als originä res Zwischenglied in der Verbindung von Horn und Wald mit dem Ende des 18. Jahrhunderts an eigenstä ndiger Bedeutung. Wo sie musikalisch wachgerufen wurde, geschah dies nicht mehr unbedingt um ihrer selbst willen, sondern zunehmend auch, um assoziativ auf Wald und Natur zu

286

287 288

Ebenda, S. 85. Dieser Einschä tzung, wonach „Jagdstü cke bis zum 18. Jahrhundert in vielen Fä llen nur in lockerem Bezug zum Thema Wald“ standen, folgt Christoph Eschenbach, Der Wald als Thema in der Musik, S. 98: „Das Jagdsujet hatte musikalisch eine weitgehende Eigenstä ndigkeit entwickelt und sich damit vom Sujet Wald gelö st. Erst die Romantik […] fü hrte Jagd und Wald musikalisch wieder enger zusammen.“ – In einer Besprechung von Haydns Sinfonie Nr. 73 (1782) weist bereits Kretzschmar auf diese Entwicklung hin. Er schreibt, man wü rde von einer Sinfonie mit dem Beinamen ›La chasse‹ „nach unseren heutigen Begriffen erwarten, dass die Vordersä tze […] der Jagd vielleicht eine Reihe von Waldbildern vorausschicken, etwa in der Weise der Raff’schen Waldsinfonie. Anders das 18. Jahrhundert, dem Wald und Gebirge nur beschrä nkt als poetische Gegenstä nde galten. Jedenfalls waren dem Naturfreunde jener Zeit Ebenen mit Canä len und Pappelalleen lieber.“, Hermann Kretzschmar, Führer durch den Concertsaal, Bd. 1, S. 79–84 (hier S. 80f.). Zum Assoziationswandel des Hö rnerklangs siehe auch die Anmerkungen bei Gabriele Busch-Salmen u.a., Der Weimarer Musenhof, S. 56. Alexander Lothar Ringer, The Chasse, S. 317. Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, S. 125f.

144

5. Der klingende Wald

verweisen. 289 Als Zeugnis fü r diesen Umwertungsvorgang kann folgender Ausschnitt aus einer Rezension dienen, die E.T.A. Hoffmann 1812 fü r die Allgemeine Musikalische Zeitung schrieb: Eben so wird man bey gewissen Melodien der Hö rner augenblicklich in Wald und Hain versetzt, welches wol tiefer, als darin liegt, dass das Horn das Instrument der im Walde hausenden Jä ger ist.290

Bezeichnenderweise reklamiert Hoffmann diese „wol tiefer“ liegende Verbindung zwischen Horn und Wald just in der Besprechung einer Komposition mit expliziter Jagdthematik, nä mlich der Ouvertü re La Chasse du jeune Henri (1797) von Etienne-Nicolas Mé hul. Die seinerzeit als Konzertstü ck ä ußerst erfolgreiche Ouvertü re Mé huls schlug eine Brü cke zwischen der Musikä sthetik des 18. Jahrhunderts und dem „programmatic symbolism of the Romantic era“ und ü berfü hrte so die Jagdthematik „as the favorite musical topic of a restricted and decadent social group“ nach der Revolution in eine „artful interpretation of nature“ (Ringer291). Als Auslö ser dieser fundamentalen Umwertung nennt Ringer „the subconscious rejection of a social past of which the hunt remained an outstanding symbol.“292 Tatsä chlich legt Hoffmanns oben zitierte Bemerkung nahe, dass er die evidente Jagdthematik kaum mehr als Selbstzweck, sondern primä r als vermittelnde Instanz zwischen Hö rnerklang und „Wald und Hain“ auffassen will – dass also, um nochmals Josts Formulierung aufzugreifen, „die Jagdthematik als pars pro toto in diejenige des Waldes“293 eingebettet wurde. „Die Klangfarbe, die Instrumentation, fü r das Wald- und Jä gerleben war leicht zu finden: die Hö rner lieferten sie“294, soll Weber in Betreff seiner Freischütz-Komposition angemerkt haben. Schon in der sprachlichen Engfü hrung bilden die Bereiche ›Wald‹ und ›Jagd‹ hier den geschlossenen Komplex, um dessen Ausprä gung sich romantische Schriftsteller, insbesondere Tieck und Eichendorff, verdient machten. Ahnlich wie ›Waldeinsamkeit‹295 verdichtete ›Hö rnerklang‹ sich in ihren Texten zu 289

290

291

292 293 294

295

Die Frage, inwiefern Josts Beschreibung dieses musikhistorischen Prozesses als „plö tzliche […] Wendung“ zutreffend ist, wä re eine eingehendere Untersuchung wert, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. [Ernst Theodor Amadeus Hoffmann], „Ouverture à grand Orchestre, du jeune Henri Chasse par F. Mé hul“, Rubrik ›Recensionen‹, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 14 (1812), Nr. 46, Sp. 743–747 (hier Sp. 743). Zu Hoffmanns Autorschaft siehe David Charlton (Hg.), E.T.A. Hoffmann’s Musical Writings: ›Kreisleriana‹, ›The Poet and the Composer‹, Music Criticism, Cambridge 1989, S. 296f. Alexander Lothar Ringer, The ›Chasse‹ as a Musical Topic, S. 159. „The ›Chasse du Jeune Henry‹ while employing traditional tunes and many a pattern familiar from older works not only established a prototype of the dramatic concert ouverture; but by creating in the orchestra a new ›romantic‹ language of nature it also helped to clear the way for the symphonic program music of the nineteenth century.”, ders., The Chasse, S. 306. Alexander Lothar Ringer, The Chasse, S. 321. Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹, S. 85. Johann Christian Lobe, Gespräche mit Carl Maria von Weber, in: Fliegende Blä tter fü r Musik 1 (1855), Heft 1, S. 27–34; Heft 2, S. 110–122 (hier Heft 1, S. 31). Dieses „schlagwort der romantik“ (DWB, Bd. 27, Sp. 1108) wurde durch Tiecks Blonden Eckbert (1797) in den Sprachgebrauch eingefü hrt.

145

II. Wald, Musik und Waldmusik

einer bedeutungsschweren „Stimmungsformel“.296 Ein schwer auflö sbares Gewebe intertextueller Bezugnahmen liegt denn auch der von Ringer und Pö schl als „[d]as vielleicht wesentlichste Merkmal der romantischen Jagdmusik“ ausgemachten „Assoziation mit ü bernatü rlichen Mä chten“297 zugrunde. Angedeutet wird der literarische Rekurs etwa in der folgenden, 1836 von Robert Schumann verfassten Rezension zu Wilhelm Tauberts erstem Klavierkonzert op. 18: Allegro, E-Dur, 6/8 Tact, Hö rnerklä nge von Weitem, – wen ziehts dabei nicht gleich hinaus in die Ferne, und tief hinein in die grü nen Wä lder! Wer Jä gerslust und Leben, (wie es etwa Hofmann [sic] einzig genug in den Teufels-Elixiren malt) in der Musik kennen lernen will, findet’s hier und von schmä chtiger Romantik nicht mehr als ein paar sehnsü chtige blaßblaue Streifen unten am Waldesfuß.298

Schumanns Imagination von „Jä gerslust und Leben“ stü tzt sich demnach auf die literarische Darstellung in Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels (1815/16). Offenbar bezieht er sich auf die Episode, in welcher der Protagonist Medardus nach nä chtlicher Irrfahrt im Walde Unterkunft beim „Revierfö rster“ findet, der ihm einerseits von seinem Arger „mit den sogenannten Freischü tzen“, von „all’ den spukhaften Jä gerlegenden“, vom Satan und seinen „Freikugeln“299 erzä hlt, ihm andererseits aber auch vorschwä rmt: Sie sind doch wohl so ein Stä dter, mein Herr! der nichts weiß von Wald und Jagdlust, da kö nnen Sie sich’s denn nicht denken, was wir Jä gersleute fü r ein herrlich freudig Leben fü hren. […] [J]a ich glaube ordentlich, wenn es manchmal so wunderbar rauscht und flü stert, als sprä che es zu mir mit ganz eignen Stimmen, und das wä re eigentlich das wahre Lobpreisen Gottes und seiner Allmacht, und ein Gebet, wie man es gar nicht mit Worten auszusprechen vermag.300

Wä hrend die Stä dter (zu denen freilich auch Hoffmann selbst gehö rte) „in ihren gemauerten Kerkern“ der Natur „ganz entfremdet“ seien, sei den Jä gern „noch etwas von der alten schö nen Freiheit geblieben, wie die Menschen […] mit der ganzen Natur in Liebe und Freundschaft lebten, wie man es in den alten Geschichten lieset.“301 – Die erhabene Schaurigkeit „spukhafte[r] Jä gerlegenden“ einerseits, das zeitlos296 297 298

299

300 301

Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 68. Josef Pö schl, Jagdmusik, S. 278 und Alexander Lothar Ringer, The Chasse, S. 320. [Robert Schumann], „W. Taubert, Concert mit Begl. des Orchest.“, Rubrik ›Pianoforte‹, in: Neue Zeitschrift fü r Musik 4 (1836), Nr. 27, S. 114–116 (hier S. 115). Die Autorschaft belegt der Abdruck des Textes in Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Bd. 1, Leipzig 1854, S. 263– 268. [Ernst Theodor Amadeus Hoffmann], Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus eines Capuziners, [Bd. 1], Berlin 1815, S. 248 und 267f. Carl Maria von Weber erhielt wä hrend eines Aufenthalts in Berlin im Sommer 1816 von Hoffmann ein Exemplar des Romans geschenkt, dazu John Warrack, Carl Maria von Weber. Eine Biographie, Hamburg 1972, S. 201. [Ernst Theodor Amadeus Hoffmann], Die Elixiere des Teufels, [Bd. 1], S. 251 und 253f. Ebenda, S. 254.

146

5. Der klingende Wald

heitere Dasein in idyllischem Einklang mit der Waldnatur andererseits – diese (in ihrer Ambivalenz der ä sthetischen Qualitä t romantischer Landschaft entsprechende) Gemengelage dü rfte literarisch inspirierten Komponisten vorgeschwebt sein, wenn sie Begriffe wie „Jä gerleben“ (Weber) oder „Jä gerslust“ (Schumann) gebrauchten. In diesem Sinne verweist denn auch der Hornklang in Webers Freischütz-Partitur nicht bloß auf das Milieu der Handlung, sondern macht zugleich „den Horizont von romantisierter Natur deutlich, deren beide Aspekte – Geborgenheit und Gefä hrdung durch das Unheimliche – gleichberechtigt in die Handlung eingreifen.“302 Auf eine Besonderheit der exzerpierten Passage aus Schumanns Rezension sei zuletzt noch hingewiesen, da sie nä heren Aufschluss ü ber die von Hoffmann erwä hnte, „tiefer“ liegende Verbindung zwischen Horn und Wald geben kann, nä mlich die auffä llige Kumulation von Vokabeln, die (rä umliche) Distanz ausdrü cken: Die Hö rner klingen „von Weitem“ und „zieh[en]“ den Hö rer „hinaus in die Ferne, und tief hinein in die grü nen Wä lder!“303 Dieser Aspekt soll im Folgenden etwas nä her beleuchtet werden.

b. „Leis’ und ferner / Klingen Hö rner“ Waldnacht! Jagdlust! Leis’ und ferner Klingen Hö rner, […] Daß die Liebe Bei uns bliebe, Wohnen blieb’ in treuer Brust! Wandelt, wandelt sich allzumal, Fliehet gleich dem Hö rnerschall, Einsam, einsam grü nes Thal. Ludwig Tieck304

Wenngleich das Verhä ltnis im Vorherigen nur in seinen Grundzü gen umrissen werden konnte, so scheint doch hinreichend evident, dass die Thematik der Jagd eine assoziative Brü cke zwischen Hö rnerklang und Wald schlagen lä sst. Ausgehend von E.T.A. Hoffmanns Annahme, es mü sse darü ber hinaus noch einen „tiefer“ liegenden Zusammenhang zwischen „gewissen Melodien der Hö rner“ und der Verortung im Wald geben, wird nachfolgend eine weitere Verbindungslinie skizziert, der als ›tertium comparationis‹ anstelle der Jagd das Konzept der Distanz (genauer: der Ferne) zugrunde liegt.

302

303 304

Jü rgen Maehder, Die Poetisierung der Klangfarben in Dichtung und Musik der deutschen Romantik, in: Wolfgang Frü hwald u.a. (Hg.), Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft, Bd. 38, Wü rzburg 1978, S. 9–31 (hier S. 27). [Schumann, Robert], „W. Taubert, Concert mit Begl. des Orchest.“, S. 115. Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Bd. 2, S. 56f.

147

II. Wald, Musik und Waldmusik

Gemä ß seiner originä ren Funktion als Signalinstrument ist das Horn mit Ferne assoziiert: „Musiksignale sind Zeichen fü r Entfernte.“ 305 Sie mü ssen im Jagdgetü mmel das Geklä ff der Hunde, das Rufen der Treiber und Pferdegetrappel ü bertö nen und dabei noch ü ber weite Distanzen vernehmbar bleiben. Das Waldhorn vermag nicht nur diese Anforderung zu erfü llen, sondern darü ber hinaus eine enorme, fein abgestufte Bandbreite von Lautstä rken und Klangfarben zu produzieren. Zur dynamischen Suggestion von Distanzwirkungen ist das Instrument deshalb besonders geeignet, wobei ihm auch die Fä higkeit zu schwellender Tonentwicklung und stopfender Dä mpfung zu Gute kommt. Derart disponiert, unterhä lt das Horn seit jeher eine besonders innige Beziehung zur Nymphe Echo, der unermü dlichen Waldbewohnerin aus Ovids Metamorphosen: „Zum Eccho [sic] ist nichts fä higer und geschickter als das Horn“, betont C. F. D. Schubart in seiner Ästhetik der Tonkunst, und lobt den „sanfte[n], sü sse[n], den Nachhall weckende[n], zä rtlichklagende[n]“ 306 Klang. Mehr oder weniger unabhä ngig von der Jagdthematik, begegnen sich hier Horn und Wald, denn als topisches Merkmal der Waldschilderung weist das Echo eine reiche literarische wie musikgeschichtliche Tradition auf.307 Akustische Fern- und Echowirkungen implizieren rä umliche Ausdehnung. Wie ein Vektor, der die landschaftliche Weite durchmisst, kommt bei Eichendorff immer wieder „[w]aldwä rts Hö rnerklang geschossen“ 308 . Insbesondere ferne und leise Horntö ne dienen der poetischen Evokation von Raum.309 So erklingen in Jean Pauls erstem Roman Die unsichtbare Loge (1793) in abendlicher Stimmung fü nf Alphö rner aus der Ferne: „Die Alpen-Echo’s klangen in die weite Nacht zurü ck und fielen zu einem tö nenden Hauche, der nicht der Erinnerung aus der Jugend sondern aus der

305 306 307

308

309

Donald Preuss, Signalmusik, S. 5. Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 311f. und 314f. Zur Assoziation von Wald und Echo in mittelalterlicher Literatur siehe Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen Roman um 1200, Gö ttingen 2003 (= Historische Semantik 3), S. 292. Als naturgegebenes musikalisches Formprinzip wird das Echo in Sachs’ Schilderung des Vogelgesangs greifbar: „Artlich ihr Concordantz / Im Wald gab Resonantz / Nach art der MUSICA“, Hans Sachs, Die Ehrentreich Fraw Miltigkeit / mit ihrem holdseligen wandel, in: ders., Sehr Herrliche Schöne und warhaffte Gedicht. Geistlich und Weltlich / allerley art […] zusamen getragen unnd volendt, Nü rnberg 1558, fol. 273 verso. – Generell sind Echowirkungen ein „hä ufiges Merkmal naturbezogener Musik“, Christoph Wald, Wiederholung, Klangraum und Landschaft, S. 150. Zur musikalisch-formalen Umsetzung siehe ebenda, S. 112 und Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur, S. 51ff. Beispiele fü r die musikalische Verknü pfung von Wald und Echo nennt Peter Jost, Robert Schumanns ›Waldszenen‹, S. 77, Fußnote 10. „Laue Luft kommt blau geflossen, / Frü hling, Frü hling soll es sein! / Waldwä rts Hö rnerklang geschossen, / Muth’ger Augen lichter Schein, / Und das Wirren bunt und bunter / Wird ein magisch wilder Fluß, / In die schö ne Welt hinunter / Lockt dich dieses Stromes Gruß.“, Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, S. 192. Hingewiesen sei auf eine theaterpraktische Anwendung im Freischütz-Libretto, das zu der EntracteSzene am Beginn des dritten Akts („Kurze Waldszene“) die Anweisung macht: „Man hö rt hinter der Gardine von Zeit zu Zeit Jagdmusik.“ Durch die Suggestion rä umlicher Tiefe kompensieren die Hö rner die Beschrä nktheit des bespielbaren Bü hnenraums vor dem Vorhang.

148

5. Der klingende Wald

tiefen Kindheit glich.“310 Die in ihrem mystifizierten Entstehen und Vergehen entrü ckten Hornklä nge suggerieren zugleich rä umliche wie zeitliche Ferne und ermö glichen ein aurales „Hinü berschauen in die andere Welt“ (Cloot311). Bei Eichendorff wird rä umliche und zeitliche Distanz formelhaft in „Tö ne[n] alter Lieder aus der Ferne“312 verschrä nkt. Besonders Tieck bringt wiederholt die Universalitä t der Entfernung zum Ausdruck, die der Hornklang zu transzendieren vermag: Wenn wir von Freunden, von unsern Lieben entfernt sind und durch den einsamen Wald in trä ger Unzufriedenheit dahin irren, dann erschallt aus der Ferne ein Horn, und schlä gt nur wenige Akkorde an, und wir fü hlen, wie auf den Tö nen die fremde Sehnsucht uns auch nachgeeilt ist, wie alle die Seelen wieder zugegen sind, die wir vermißten und betrauerten. Die Tö ne sagen uns von ihnen, wir fü hlen es innigst, wie auch sie uns vermissen, und wie es keine Trennung giebt.313

Indem „auf den Tö nen“ auch die „betrauerten“ Seelen wieder gegenwä rtig werden, erschließt der Hornklang eine rä umliche, historische und metaphysische Dimension. 314 In entrü ckter Ferne verortet, fungiert er in romantischer Literatur hä ufig als sirenenhafte ›Lockung‹315: „und der Postillon nahm dann sein Posthorn

310

311

312

313

314

315

Jean Paul, Die unsichtbare Loge, Bd. 2, S. 348f. Eine nahezu identische Aussage (ferne Alphornklä nge wecken Erinnerung an Jugendzeit) findet sich in Joseph von Eichendorff, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, Bd. 1, Paderborn 1857, S. 79. Julia Cloot, Geheime Texte, S. 188. Zum Diskurs von Klang und Distanz bei Jean Paul siehe auch Berthold Hoeckner, Schumann and Romantic Distance, S. 60–62. Zur Gleichung von „rä umliche[r] Ferne der Landschaft“ und zeitlichem Abstand siehe weiterhin Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 278f. Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, S. 322. Zur Musik- und Lied-Thematik und der Funktion des Waldhorns in Eichendorffs Dichtungen siehe zusammenfassend Christiane Tewinkel, Vom Rauschen singen. Robert Schumanns Liederkreis op. 39 nach Gedichten von Joseph von Eichendorff, Wü rzburg 2003 (= Epistemata Reihe Literaturwissenschaft 482), S. 91–94. [Ludwig Tieck], Die Töne, in: ders., Wilhelm Heinrich Wackenroder, Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst, Hamburg 1799, hier S. 245. Vgl. etwa Schumanns Anmerkung zum zweiten Satz der ›Großen Sinfonie‹ (D 944) von Franz Schubert: „In ihm findet sich auch eine Stelle, da wo ein Horn wie aus der Ferne ruft, das scheint mir aus anderer Sphä re herabgekommen zu sein. Hier lauscht auch Alles, als ob ein himmlischer Gast im Orchester herumschliche.“, R[obert] Schu[umann], Die 7te Symphonie von Franz Schubert, S. 83. Manfred H. Schmid stellt fest, dass fü r Schumann „die Ferne wesentlich zur Tonvorstellung“ gehö rte und an einer allgemeinen „Verschiebung von Gegenwart zu Vergangenheit“ partizipierte, Manfred Hermann Schmid, Musik als Abbild. Studien zum Werk von Weber, Schumann und Wagner, Tutzing 1981 (= Mü nchner Verö ffentlichungen zur Musikgeschichte 33), S. 98–103 (hier S. 102). Auch in Johann Mayrhofers Gedicht Trost, 1819 von Schubert vertont (D 671), scheint die „Zaubermacht“ des Horns in der Lage, die Grenze zum „Jenseits“ zu transzendieren. Zur transzendentalen Bedeutung des Echos vgl. Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur, S. 53. In Anlehnung an den gleichlautenden Titel eines kurzen Gedichts von Eichendorff, das die Motivik von Waldnacht und Sirenengesang zusammenfü hrt, erschienen in: Gedichte, Berlin 1837, S. 109. In Eichendorffs Zauberei im Herbste locken Waldhornklä nge Raimund in den Garten der Zauberin, die ihn mit den Worten empfä ngt: „Unglü cklicher! Wie bist du in den Kreis meiner Klä nge gekommen? Laß mich und fliehe!“, Florens [= Joseph von Eichendorff], Die Zauberei im Herbste. Ein Märchen, in: Karl Konrad Polheim (Hg.), Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff, Bd. V/1: Erzählungen. Erster Teil, Tü bingen 1998, hier S. 15. Zur Verschrä nkung von ›Lockung‹ und „Klage der Natur“ im

149

II. Wald, Musik und Waldmusik

und fuhr weiter und blies und blies […] und es war mir nicht anders, als mü ßt’ ich nur sogleich mit fort, weit, weit in die Welt.“316 Eichendorffs Taugenichts blieb nicht der Einzige, der sich vom Klang des Horns sehnsü chtig in die Ferne ziehen ließ.317 Es versteht sich von selbst, dass die intensive Bedeutungsaufladung seitens der romantischen Literatur auch bei der Komposition und Rezeption von Musik fü r Hö rner zum Tragen kam (und kommt). Fü r Jü rgen Maehder stellt der Hornklang das „Paradigma einer durch romantisierte Rezeption verwandelten Klangfarbe“318 dar: Vom „Attribut des Jä gers ü ber das Klangsymbol fü r Wald“ habe er sich schließlich „zum musikalischen Medium zur Evozierung der Vorstellung von Ferne“ entwickelt.319 Die ersten Manifestationen dieses ä sthetischen Wandels seien „gerade nicht im Felde der Musik aufzuspü ren, sondern bilden einen allgegenwä rtigen Bestandteil der deutschen literarischen Frü hromantik“. Als prä gendste Persö nlichkeit in der Herausbildung einer literarischen „Hornromantik“ 320 dü rfte Ludwig Tieck anzusehen sein; nicht umsonst wurde er von Zeitgenossen mit dem Spitznamen ›Das Waldhorn‹ bedacht.321 Selbstironisch greift er ein Jahr nach Erscheinen seines Kü nstlerromans Franz Sternbalds Wanderungen die eigentü mliche Hornbegeisterung in seinem Prinz Zerbino (1799) auf. Dort hebt das personifizierte „Waldhorn“ an zu sprechen: WALDHORN. Hö rst, wie spricht der Wald dir zu, Baumgesang – NESTOR. (hält ihm den Mund zu) Um Gottes willen, schweige doch nur, denn du bist mir das fatalste von allen diesen Instrumenten. Da ist ein Buch kü rzlich herausgekommen, mich dü nkt, Sternbalds Wanderungen,

316

317

318

319

320 321

Sirenengesang bei Eichendorff siehe Alexander von Bormann, Natura loquitur, S. 177–184. Zur allgemeinen Beliebtheit des Sirenenmotivs in der romantischen Literatur siehe Rü diger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, Mü nchen 2007, S. 210ff. Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild. Zwei Novellen nebst einem Anhange von Liedern und Romanzen, Berlin 1826, S. 23. „Die Blü te der Posthornkunst als Signalmusik begann in Deutschland um 1820 mit dem Aufkommen der Eilposten“, einige Jahrzehnte spä ter leitete der zunehmende Eisenbahnbetrieb den Niedergang ein, Donald Preuss, Signalmusik, S. 211. Als weiteres Beispiel: „Da schwebte aus weiter Ferne durch die Lü fte daher heller frö hlicher Hö rnerklang und legte sich trö stend an seine Brust, und die Sehnsucht erwachte in ihm und mit ihr sü ßes Hoffen. Er sah umher, und indem die Hö rner forttö nten, dü nkten ihm die grü nen Schatten des Waldes nicht mehr so traurig, nicht mehr so klagend das Rauschen des Windes, das Flü stern der Gebü sche.“, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Mährchen, Berlin 1819, S. 86f. Jü rgen Maehder, Die Poetisierung der Klangfarben, hier S. 27. Vgl. bezü glich der Interdisziplinaritä t dieser Entwicklung auch die Anmerkungen bei Charles Rosen, The Romantic Generation, Cambridge 41995, S. 116–135. Interessanterweise konnte die Verknü pfung des Hornklangs mit rä umlicher Weite aufgrund fest etablierter „Erfahrungsassoziationen der Hö rer“ um 1900 auch auf musikalische (Groß-)Stadtdarstellungen ü bertragen werden: „Die mit dem Hornklang verbundene Erinnerung an ›Jagdszenerien‹ oder ›Waldeinsamkeit‹ ruft, transponiert auf das Tableau der Stadt, den Eindruck der Ferne hervor“, siehe hierzu Barbara Barthelmes, Großstadt und Musik, in: Reinhard Kopiez u.a. (Hg.), Musikwissenschaft zwischen Kunst, Ästhetik und Experiment. Festschrift Helga de la Motte-Haber zum 60. Geburtstag, Wü rzburg 1998, S. 29–40. Bernhard Brü chle, Kurt Janetzky, Kulturgeschichte des Horns. Ein Bildsachbuch, Tutzing 1976, S. 182. Gü nther Debon, Eichendorff, Heidelberg und die blaue Blume, in: Universitä ts-Gesellschaft Heidelberg (Hg.), Heidelberger Jahrbücher, Bd. 34, Berlin 1990, S. 53–70 (hier S. 66).

150

5. Der klingende Wald

da ist um’s dritte Wort vom Waldhorn die Rede, und immer wieder Waldhorn. Seitdem bin ich deiner gä nzlich satt.322

Indes hatte das anbrechende Sä kulum noch keineswegs genug vom Hö rnerklang – im Gegenteil: Die hö rnerlastige Lyrik Eichendorffs, aber auch die Durchsetzung der vierfachen Hö rnerbesetzung im Orchester standen erst bevor.323 – Tiecks Kü nstlerroman Sternbalds Wanderungen (1798) behandelt das frü hromantische Thema der ›musikalischen Landschaft‹. In verschiedenen Facetten wird die wechselseitige Durchdringung von Musik- und Landschaftserlebnis geschildert, wobei Tiecks Musik oft Hö rnermusik, seine Landschaft oft Wald ist. So fü hrt im zweiten Teil des Romans der Weg den Maler Franz und den Dichter Rudolf in „einen dichten kü hlen Wald hinein“, wo sie nach einer Weile von „Hö rnern aus der Ferne“ ü berrascht werden: Nun hö rten sie eine rü hrende Waldmusik von durch einander spielenden Hö rnern aus der Ferne; sie standen still und horchten, ob es Einbildung oder Wirklichkeit sey; aber ein melodischer Gesang quoll durch die Bä ume ihnen wie ein rieselnder Bach entgegen, und Franz glaubte, die Geisterwelt habe sich plö tzlich aufgeschlossen, weil sie vielleicht, ohne es zu wissen, das große zaubernde Wort gefunden hä tten, als habe nun der geheimnißvolle unsichtbare Strom den Weg nach ihnen gelenkt, und sie in seinen Fluthen aufgenommen.324

Stellt sich auch kurze Zeit spä ter heraus, dass die mysteriö se „Waldmusik“ von einer unweit lagernden Jagdgesellschaft herrü hrt, so zeigt sich darin nur umso eindrü cklicher die romantisierende Wirkung des Waldes: Denn „ob es Einbildung oder Wirklichkeit sey“ 325 , blieb aufgrund der modifizierten Sinneswahrnehmung zunä chst ebenso schleierhaft wie die Herkunft des Klangs – fü r einen Moment schien die Natur selbst zu singen.

322

323

324

325

Ludwig Tieck, Prinz Zerbino, oder die Reise nach dem guten Geschmack, gewissermassen eine Fortsetzung des gestiefelten Katers, in: ders., Romantische Dichtungen, Bd. 1, Jena 1799, S. 238. Mit den Versen, die das „Waldhorn“ hier anstimmt, zitiert Tieck den Beginn seines Gedichts Waldhornsmelodie (1797). „Als 1808 die ersten Gedichte Eichendorffs […] erschienen, bedeutete die Verwendung poetisierter Waldhornklä nge eher einen Rü ckgriff auf bewä hrte Topoi romantischer Dichtung als eine Bereicherung der lyrischen Sprache.“, Jü rgen Maehder, Die Poetisierung der Klangfarben, S. 17. Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Bd. 2, S. 55f. Die auf Herder zurü ckgehende Vorstellung „schlummernde[r] Harmonien in den Wä ldern“, die zu „tausend schö ne[n] Stimmen“ erweckt werden kö nnen, findet sich auch in Ludwig Tieck, [Die Freunde], in: ders. (Hg.), Straußfedern, Bd. 7, Berlin 1797, S. 207–231 (hier S. 216). Das „große zaubernde Wort“ als erweckende Losung fü r die Musik der „Geisterwelt“ erscheint knapp vierzig Jahre spä ter in Eichendorffs berü hmter Wünschelruthe wieder: „Schlä ft ein Lied in allen Dingen, / Die da trä umen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“, Joseph von Eichendorff, Wünschelruthe, in: A[dalbert] von Chamisso, G[ustav] Schwab (Hg.), Deutscher Musenalmanach, Bd. 9, Leipzig 1838, S. 287. „Im Walde“ kö nnen sich „Traum und Wahrheit gatten“, verkü ndet der Chor der Schä fer in Tiecks Aufzug der Romanze (1804), siehe hierzu Kapitel III.7.2.

151

II. Wald, Musik und Waldmusik

Der Wald ü bt hier eine distanzierende, und damit romantisierende Wirkung aus: Er entzieht das Hö rnerspiel den Blicken der Zuhö rer und lä sst es ihnen zur „Waldmusik“ verschmelzen, einem undefiniert changierenden, farbig schillernden, „durch einander spielenden“ Mischklang naturhafter Anmutung. Die frü hromantische Stimmungskunst stellte diese ausgeprä gte Neigung zu klangfarblicher Fluiditä t und Verschmelzung („blended notes“326, „musikalische[r] Wirwar“327, „Gemisch […] [v]erschlungner Klä nge“328) als eine der wesentlichen Qualitä ten imaginierter ›Waldmusiken‹ heraus. Wie Sonnenlicht, das durch eine Laubkrone bricht, wird der Instrumentalklang durch das Gewirr der Waldbä ume diffus und indirekt. Das distinkte und konturierte Einzelne lö st sich auf und fü gt sich zu einem harmonischen Ganzen.329 Ahnlich schildert Tieck in der bekannten ›Waldeinsamkeit‹-Episode seines Blonden Eckbert den wunderbaren Gesang des Vogels: „fast, als wenn Waldhorn und Schallmeye durcheinander spielen.“330 Spä ter ergä nzte er, um die Unprä zision zu intensivieren: „als wenn Waldhorn und Schallmeie ganz in der Ferne durch einander spielen.“331 Die klangliche Verschmelzung ereignet sich in der Ferne, die nach romantischer Auffassung „ü berhaupt der Ort, oder besser das Medium [ist], in dem sich Ubergä nge der verschiedensten Art vollziehen.“332 Alles wird dort um einen Grad poetischer und fü gt sich zu grö ßeren Einheiten.333 Den komplexen Zusammenhang von Hornklang, Wald und Ferne weiter zu erhellen, kann ein Blick in die Aufzeichnungen des Novalis beitragen. Man findet dort, gedrä ngt skizziert, den Versuch einer Annä herung an das Wesen der Poesie ü ber den Parameter der „Ferne“: Die Phil[osophie] ist die Prosa. Ihre Consonanten. Ferne Phil[osophie] klingt wie Poesie – weil jeder Ruf in die Ferne Vocal wird. Auf beyden 326

327

328

329

330

331

332

333

„I heard a thousand blended notes, / While in a grove I sate reclined“, [William Wordsworth], Lines Written in Early Spring, in: [ders., Samuel Taylor Coleridge], Lyrical Ballads, hier S. 115. „Er hö rte schon den musikalischen Wirwar im Wä ldgen […]. [Viktor ging] durch das brausende Gehö lz, hinweg unter vollstimmigen Aesten, die so viele bewegte Spiel-Walzen waren“, Jean Paul, Hesperus, oder 45 Hundsposttage, Bd. 1, Berlin 1795, S. 213f. Als Beispiel aus spä terer Zeit: „Welch zauberhaft Gemisch / Von Jubeltö nen? […] Verschlungner Klä nge wundersame Dichtung / Aus hundert Kehlen schallt, und Lust und Wonne / Durchrauscht den Forst im Glanz der Maiensonne.“, Gustav Pfarrius, Waldsymphonie, in: ders., Die Waldlieder, S. 5f. (hier S. 5). Zum landschaftskonstituierenden Verschmelzen der akustischen Eindrü cke „zu einem einzigen Strom“ vgl. August Langen, Verbale Dynamik, S. 179. [Ludwig Tieck], Der blonde Eckbert, in: ders., Volksmährchen, Bd. 1, Berlin 1797, hier S. 209. Die Unsicherheit der Wahrnehmung wird oft durch die typischen Wendungen ›als ob‹ und ›wie wenn‹ betont, vgl. hierzu Michael Paul Hammes, „Waldeinsamkeit“. Eine Motiv- und Stiluntersuchung zur Deutschen Frühromantik, insbesondere zu Ludwig Tieck, Limburg an der Lahn 1933, S. 72f. Ludwig Tieck, Der blonde Eckbert. 1796, in: ders., Ludwig Tieck’s Schriften, Bd. 4, Berlin 1828, S. 152 [Hervorhebung von GH]. Heinz Hillmann, Bildlichkeit der deutschen Romantik, S. 316; vgl. auch Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 189. Die Ferne ist, wie Hammes formuliert, „gewissermaßen das Echo der nahen Landschaft, die Spiegelung der wahren Natur“, Michael Paul Hammes, „Waldeinsamkeit“, S. 22. So heißt es bei Jean Paul: „Spricht nicht die Landschaft, der Berg, die Kü ste gleich einem Echo desto mehr Sylben zur Seele, je ferner sie sind?“, Jean Paul, Titan, Bd. 4, Berlin 1803, S. 116.

152

5. Der klingende Wald

Seiten oder um sie her liegt + und minus Poë sie. So wird alles in der Entfernung Poësie – Poëm. Actio in distans. Ferne Berge, ferne Menschen, ferne Begebenheiten etc. alles wird romantisch, quod idem est – daher ergiebt sich unsre Urpoë tische Natur. Poë sie der Nacht und Dä mmerung.334

In der Entfernung wird alles romantisch. Was sich im Nahbereich prosaisch ausnimmt, wird durch universale (rä umliche wie zeitliche) Distanz poetisiert. Sie bewirkt die Auflö sung definierender Konturen: Konsonanten weichen den Vokalen, Zeichnung der Farbe, Begriffe den Lauten, Bä ume dem Wald, Unterschiedenes dem Ganzen.335 Durch Distanz entsteht zudem der Anschein, als seien Ursache und Wirkung entkoppelt: Die „Waldmusik“ in Tiecks Sternbald erscheint als solche ›actio in distans‹. Ihre bezaubernde Wirkung rü hrt daher, dass ihre Ursache sich dem sinnlichen Nachvollzug entzieht; so erscheint sie akausal und magisch. Entsprechend der von Novalis angefü hrten „Poë sie der Nacht und Dä mmerung“ basiert auch die des Waldes darauf, dass Wirkungen unvermittelt eintreten, weil die Ursachen im Dunkeln bleiben.336 Erfü llt demnach Wald in der Operation des Romantisierens eine vergleichbare Funktion wie die Ferne, so liegt hierin ein weiterer Berü hrungspunkt zum Horn, das als Signalinstrument und auf Grund seiner Klangspezifik in besonderer Weise mit Ferne assoziiert ist. Die frü hromantischen Theoreme des Novalis, gepaart mit dem literarischen Vorbild Tiecks, fanden unverkennbaren Niederschlag im Schaffen von Otto Heinrich Graf von Loeben (›Isidorus Orientalis‹).337 Sein erster Roman Guido (1808) liest sich „wie ein Potpourri der Romantik“338. Gerade in der zweiten Hä lfte des Romans wird – um zugleich eine besonders merkwü rdige Formulierung Loebens aufzugreifen –

334

335

336

337

338

Novalis, ›Das Allgemeine Brouillon‹ (Materialien zur Enzyklopä distik 1798/99), in: Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das philosophische Werk II, Darmstadt 31983 (= Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs 3), hier Nr. 342, S. 302. Dem entspricht die Begriffsverwendung Tiecks, der als ›romantisch‹ oft „etwas in seinen Umrissen nicht ganz Bestimmtes“ bezeichnet; der Begriff „rü ckt das Dargestellte weiter weg und hü llt es gleichsam in einen gleitenden Schleier ein“, Michael Paul Hammes, „Waldeinsamkeit“, S. 74. Die Reduktion der Konsonanten verheißt die Annä herung an die postulierte „Ursprache“ der Menschen, die „zu Anfang viel musicalischer“ war, vgl. dazu Novalis’ Notiz Nr. 245 aus dem ›Allgemeinen Brouillon‹. Siehe hierzu auch die Kommentierung bei Berthold Hoeckner, Schumann and Romantic Distance, S. 55–60 (hier S. 59, Fußnote 8). Von naturwissenschaftlicher Warte aus weist spä ter Helmholtz auf das akustische Phä nomen hin, dass sich „in der Entfernung zuerst die Consonanten“ verlieren, wogegen „die Vocale noch in grosser Entfernung“ als „musikalische Klangfarbe“ erkennbar bleiben. Zudem beobachtet er, dass ab einer gewissen Distanz „einzelne Horntö ne mit Gesang“ verwechselt werden kö nnen und bietet damit gewissermaßen die physikalische Erklä rung der „sinnenverwirrend[en]“ Uberblendungen, wie sie Tieck und Eichendorff schildern, Hermann Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1863, S. 117. Gerade in diesem „Rä thselhafte[n] des Kommens“ begrü ndet Siegfried A. Mahlmann die Romantik des Waldes, siehe hierzu Kapitel VII.1. Als „Dichter des Waldhorns“ gewü rdigt wird Loeben bei Gü nther Debon, Eichendorff, Heidelberg und die blaue Blume, S. 67. Gerhard Schulz, Einführung, in: ders. (Hg.), Isidorus Orientalis [= Otto Heinrich Graf von Loeben]: Guido. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1808, Bern 1979 (= Seltene Texte aus der deutschen Romantik 3), hier S. 9*.

153

II. Wald, Musik und Waldmusik

„alles […] zum Waldhorn auf seinen Lippen“ 339 . Wie Gü nther Debon feststellt, figuriert bei Loeben das Waldhorn als „Sinnbild der Romantik, ja der romantisch sublimierten Schö pfung schlechthin.“ 340 In Ubereinstimmung mit Novalis beruht Poesie fü r Loeben auf universaler Distanz und dem daraus resultierenden Sehnsuchtsreiz – genauer: auf „Waldhorn-Sehnsucht“ 341 . – Ferne Hornklä nge kö nnen sowohl auf Vergangenes wie auch auf Zukü nftiges verweisen, sie wecken Erinnerungen oder kü nden von Kommendem – so wie sich auch die mit dem Wald assoziierte ›Fernwirkung‹ nicht auf die rä umliche Dimension beschrä nkt.342 Etwa zeitgleich mit Loebens Guido entstand Eichendorffs postum verö ffentlichte Erzä hlung Die Zauberei im Herbste (1808). Auch hier ist der Einfluss Tiecks deutlich spü rbar, wenn der Protagonist Raimund retrospektiv von einem eindrü cklichen Klangerlebnis berichtet: Da hö rte ich plö tzlich mehrere Waldhö rner, die in einiger Entfernung von den Bergen einander Antwort zu geben schienen. Einige Stimmen begleiteten sie mit Gesang. Nie noch vorher hatte mich Musik mit solcher wunderbaren Sehnsucht erfü llt als diese Tö ne, und noch heute sind mir mehrere Strophen des Gesanges erinnerlich, wie sie der Wind zwischen den Klä ngen herü berwehte […]. Ich aber konnte nicht widerstehen und

339

340

341

342

Gerhard Schulz (Hg.), Isidorus Orientalis: Guido, S. 249. Schulz (Einführung, ebenda, S. 9*) weist auf den Zusammenhang zwischen der Zunahme des Waldhorn-Motivs im Laufe des Romans und der Tatsache, dass Loeben, als er bereits den grö ßten Teil des Romans geschrieben hatte, Tiecks Sternbald las, hin. Gü nther Debon, Eichendorff, Heidelberg und die blaue Blume, S. 67. Indem alles Gegenwä rtige zum Vergangenen, also (zeitlich) Entfernten wird, bedeutet der geschichtliche Prozess eine progressive Romantisierung. So postuliert Loeben an einer Stelle seines Romans: „Die Geschichte beweißt es deutlich […], daß alles in der Welt romantisch, das heißt sublimiert werden soll. Die Ferne ist der Lebensreiz aller Geschichte. Was uns noch gleichsam aufdrü kend nahe ist, gehö rt noch nicht ins AllerInnerste der Geschichte. […] Die Geschichte muß zum Gedicht werden, ehe sie eigentlich beginnt. Sie ist schon romantische Poesie, wie jede verklä rte Gegend, wie das Waldhorn, die Minne und alle Entfernung des Geliebten, Nahen.“, Gerhard Schulz (Hg.), Isidorus Orientalis: Guido, S. 119f. „[…] du hast mir gestern selbst gesagt, daß die romantische Dichtung deine eigentliche Seele sei, daß dir in einer minniglichen Gegend das Herz aufgehe – was ist sie aber anders, als eine ewige Ferne und Nä he? Glü klich, wem diese Vorstellung vom Nahen und Fernen einmal aufgegangen ist; sein Gemü th verwandelt sich in eine einfache, schwebende, heitere Landschaft, er wird das, was mit solch’ einer Waldhorn-Sehnsucht uns erfü llt, wenn wir’s romantisch nennen. – In diesem Worte liegt ein ganz eigener Reiz, sagte Heinrich; es schwankt in einem fort, wie ein ewiges Ton- und Farben-Echo.“, Gerhard Schulz (Hg.), Isidorus Orientalis: Guido, S. 200. Vgl. ferner auch Eichendorffs Auffassung der „Dichtung als Nachhall“, Robert Mü hlher, Natursprache und Naturmusik bei Eichendorff, Wü rzburg 1961, S. 14f. Kein Wunder, dass Loebens ›eleusischer Bundesbruder‹ Eichendorff das zentrale Motiv des transzendentalen Hö rnerklangs in einem seinem Dichterfreund gewidmeten Sonett aufgreift: „Von trü ber Bangigkeit war ich so eng befangen, / Da sprach Waldhorn zu mir aus blauen Weiten: / ›Mir nach! Durch unbekannte Lande schreiten!‹ / Rief immer fern und fern – konnt’s nie erlangen.“, in: Ursula Regener (Hg.), Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff, Bd. I/3, S. 32. Vgl. hierzu auch Gü nther Debon, Eichendorff, Heidelberg und die blaue Blume, S. 56f. Vgl. zur Assoziation des Waldes mit Vergangenheit insbesondere Kapitel I.4.2. und Kapitel IV.

154

5. Der klingende Wald

folgte dem verlockenden Waldhornsliede immerfort, das sinnenverwirrend bald wie aus der Ferne klang, bald wieder mit dem Winde nä her schwellte.343

Raimund kann sich der magischen ›Lockung‹ der Hö rner nicht entziehen und wird – „wie verwirrt bei diesen Tö nen“344 – zum bewusstlosen Mö rder. Zwar klä rt ihn schließlich sein alter Freund Ubaldo auf, dass alle Geschehnisse, all seine schmerzhaften Erinnerungen nur „eitel Phantasie“, ein „bö ser Zauber“ und „eine lange Tä uschung“ gewesen seien – doch da begegnet Raimund eines Morgens der auffä llig gefiederte „Vogel aus dem Zauberwalde“ wieder, und die mü hsam gezogene Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Einbildung und Realitä t, wird erneut verwischt: Die seltsamen Lieder des Vogels zogen, wie er ging, immer vor ihm her. Allmä hlich, je weiter er kam, verwandelten sich diese Tö ne sonderbar in das alte Waldhornlied, das ihn damals verlockte. […] „Reichen, vollen Liebesgruß / Bietet dir der Hö rner Schallen. / Komm, ach komm! eh sie verhallen!“ hallte es wider – und im Wahnsinn verloren ging der arme Raimund den Klä ngen nach in den Wald hinein und ward niemals mehr wiedergesehen.345

Die verwirrend lockenden Klä nge, aus weiter Ferne nur indirekt, fragmentarisch und zufä llig „mit dem Winde“ herangetragen, changieren in bestä ndiger Fluiditä t zwischen Waldhorn, menschlicher Stimme, Klarinette und Vogelgesang – eine ›Waldmusik‹, farbig schillernd wie das Gefieder des Vogels.346

343

344 345 346

Florens [= Joseph von Eichendorff], Die Zauberei im Herbste, in: Karl Konrad Polheim (Hg.), Sämtliche Werke, Bd. V/1, S. 13f. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 26f. Mü hlher umreißt das „Ideal der Poesie Eichendorffs“ mit dem Satz: „Das Gedicht soll wirken als wä re es ein Naturlaut.“ Dazu habe Eichendorff „wiederholt das Verschmelzen der menschlichen Stimme, die poetisch spricht oder singt, mit den Naturlauten des Waldes oder anderer Stimmen der Natur“ gestaltet. „Endlich kann man nicht mehr unterscheiden was die Natur, was der Mensch sagt.“, Robert Mü hlher, Natursprache und Naturmusik bei Eichendorff, S. 23. Vgl. zu Eichendorffs „Uberblendung[en]“ auch Christiane Tewinkel, Vom Rauschen singen, S. 109. – Auch in Tiecks Blondem Eckbert scheint dem „so wunderbare[n] Gemisch“ der Klä nge das „mit allen mö glichen Farben“ glä nzende Gefieder des Vogels als optische Entsprechung beigestellt, [Ludwig Tieck], Der blonde Eckbert, in: ders., Volksmährchen, Bd. 1, Berlin 1797, S. 212f. In Loebens Guido wird die Stimme einer „Jungfrau aus Nü rnberg“ folgendermaßen beschrieben: „jeder Klang war fern und nahe, mehr leises Waldhorn, als Flö te.“ (S. 127) Von einem „bejahrten Mann“ heißt es: „Seine Stimme war weich und fern, wie ein Waldhorn.“ (S. 234) Auch scheint es Guido, „als hö rt’ er ein Waldhorn im Wipfel oben, […] das Waldhorn wä re zulezt [sic] Sophiens Stimme“, Gerhard Schulz (Hg.), Isidorus Orientalis: Guido, S. 252. Ein weiteres Beispiel einer „in tiefer Ferne“ erfolgenden Uberblendung zwischen Instrumentenklang, Vogel- und Menschenstimme bieten Jean Pauls Flegeljahre: „Plö tzlich hö rt’ er in tiefer Ferne hinter sich eine Flö te durch das Thal gleichsam auf dem Strome herunter kommen, dem Wehen entgegen. Die Ferne ist die Folie der Flö te; und ihm, der mehr ihren Ton als ihren Gang verstand, war keine nahe gute nur halb so lieb. […] Er hö rte die Flö te, die gleichsam aus dem Herzen der stummen Nachtigallen sprach. […] Endlich war mir, als rufe mich eine Flö te beim Namen […].“, Jean Paul, Flegeljahre, Bd. 3, S. 89–92 und 156f.

155

II. Wald, Musik und Waldmusik

Der inspirierenden Bedeutungsaufladung, die dem Konnex von Hö rnerklang, Wald und Ferne in der romantischen Literatur zuteil wurde, konnten sich literarisch versierte Komponisten kaum entziehen. Wenn etwa im Freischütz (I/3) die feiernde Gesellschaft in die Waldschä nke einzieht und Max bei anbrechender Dunkelheit als einziger im Freien zurü ckbleibt, dann lä sst Weber in der Coda des Walzers die Instrumente allmä hlich verstummen und zuletzt (T. 48ff.) nur noch das Hö rnerpaar poco a poco morendo spielen; die musikalische Struktur lö st sich auf, bis nur noch dumpfer Hornklang im weiten Waldraum verhallt.347 – Meint Agathe, sehnsü chtig am Kammerfenster wartend, „aus der Tannen Mitte“ die fernen Schritte ihres Max zu erahnen (II/2), so lä sst Weber dumpfe, abgesetzte Horntö ne isoliert erklingen (Nr. 8, T. 76–79). Bezü glich des ›Waldchors‹ (Nr. 6) aus Preciosa (1820) verweist Weber selbst ausdrü cklich auf „das in der Natur begrü ndete, leichtere in der Ferne schallende des Horntons.“348

QR Zu Wagners Gebrauch des Horns im Orchester hat Egon Voss eine nü tzliche Ubersicht erstellt.349 Den charakteristischen „Fernklang“ des Instruments verwende Wagner etwa, um „wiederkehrende Motive wie leise Andeutungen erscheinen zu lassen.“350 Das Horn tö nt gleichsam aus zeitlicher Ferne, transportiert Erinnerungen oder auch Zukunftsahnungen. Maßgebliche Bedeutung kommt auch bei diesem Gebrauch literarischen Vorbildern zu. Voss weist etwa darauf hin, dass die Ankunft der landgrä flichen Jagdgesellschaft in Wagners Tannhäuser (I/3) in ihrer Gestaltung „frappante Ahnlichkeit“ zu einer Szene aus Brentanos Godwi (1801) aufweist.351 Im fü nften Kapitel des Romans erklingen im „tiefsten Theil“ eines „waldigten Thales […] mehrere Jagdhö rner auf eine sehr muntere Art.“ Es war eine rufende Melodie, und ich unterschied bald drei Hö rner, die von verschiedenen Puncten aus sich in einem Wechselliede antworteten. Das Echo verdoppelte die Tö ne, und brachte dadurch in die gedrä ngte Melodie eine angenehme tonschimmernde Verwirrung. Bald schien sich auch das Echo zu verdoppeln und aus allen Tiefen des Waldes tö nte es der

347

348

349 350 351

Siehe hierzu eingehend Manfred Hermann Schmid, Musik als Abbild, S. 12–26. Schmid stellt fest, dass fü r Weber „[i]ndirekter Hornton, ferner Klang und Dunkelheit“ in ihrer Wirkung zusammenfielen (S. 23). Tief beeindruckt von Webers Verfahren weist Wagner in seiner Besprechung der Pariser Auffü hrung explizit auf diese Stelle hin: „der Abend ward immer dunkeler und in der Ferne verklangen die Hö rner der Tanzmusik. – Ich weinte als ich dieß sah, …“, Richard Wagner, Le Freischutz, in: AbendZeitung [Dresden und Leipzig], hier Nr. 169 (16. Juli 1841), Sp. 1346. Carl Maria von Weber an Pius Alexander Wolff, Briefentwurf vom 13. Juli 1820, hier zitiert nach WeGA, (Dateiversion vom 20. Dezember 2017). Egon Voss, Studien zur Instrumentation Richard Wagners, S. 175–193. Ebenda, S. 185–187. Ebenda, S. 176 (Fußnote 13).

156

5. Der klingende Wald

Melodie nach, als ziehe ein geheimnißvolles musikalisches Leben durch die Wipfel der Bä ume.352

Ganz ä hnlich wie bei Tieck, zeichnet sich die ferne Musik der Hö rner auch hier durch eine „tonschimmernde Verwirrung“ aus. Der „geheimnißvolle unsichtbare Strom“ aus Sternbald kehrt bei Brentano als „geheimnißvolles musikalisches Leben“ wieder und gemahnt an die romantische Vorstellung einer universalen Weltharmonie, die durch den ›naturhaften‹ Klang des Horns in Resonanz versetzt wird.353 Entgrenzt und diffundiert, wird der Hornklang in Godwi zur Musik der Landschaft und Stimme des Waldes: „Auch ich war durch den tö nenden Wald wunderbar ü berrascht, und fü hlte, was die Alten in ihren Wä ldern empfinden mochten, die noch mit Gö ttern belebt waren, welche in wunderbaren Waldstimmen um den Wanderer ertö nten.“354 Eine durchaus ä hnliche Szenerie begegnet nun in Wagners Tannhäuser, nachdem sich der Protagonist aus der dunstigen Enge des Venusbergs losgesagt hat und „plö tzlich in ein schö nes Tal versetzt“ ist (I/3). Eine geschichtliche Landschaft tut sich auf und nimmt musikalisch Gestalt an im Gesang des Hirten, im Chor der Pilger, im Gelä ut ferner Herden- und Kirchenglocken, und schließlich auch im Hö rnerklang. In Analogie zu Brentanos Beschreibung sieht Wagners Partitur drei an verschiedenen Punkten platzierte Horngruppen auf dem Theater vor: „Sä mmtliche Waldhö rner hinter der Szene links ziemlich entfernt und verschieden verteilt; die Hö rner in C der Bü hne zunä chst; die Hö rner in F etwas zurü ck und tiefer, die Hö rner in Es am entferntesten und tiefsten.“ Durch die abgestufte Distanz wird der Hornklang in verschiedenen Graden der poetisierenden Auflö sung prä sentiert. Wie es bei Brentano „aus allen Tiefen des Waldes“ tö nt, so macht auch Wagners abfallende Positionierung die ›Tiefendimension‹ des Waldes raumakustisch erfahrbar. Die klanglich inszenierte Wald- und Felsenlandschaft gibt eine Weite vor, wie sie dem tatsä chlichen Bü hnenraum nicht zu Gebote steht. Wie Voss feststellt, ist das Wechselspiel der Fanfaren und Signale aufgrund der unterschiedlichen Entfernung der Horngruppen doppeldeutig: Mitunter bleibt unklar, ob die Wechsel im Verhä ltnis von Zuruf und Antwort, oder aber von Ruf und Echo stehen. 355 Es stellt sich „angenehme tonschimmernde Verwirrung“ (Godwi) ein. Die Ursache und Bedeutung des Tö nens

352

353

354 355

Maria [= Clemens Brentano], Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman, Bd. 2, Bremen 1801, S. 36. Aufgrund seiner ›natü rlichen‹, auf naturimmanenten Proportionen beruhenden Tonerzeugung scheint das Horn vorzü glich geeignet, die latente ›Naturmusik‹ zu wecken oder in Mitschwingung zu versetzen; vgl. hierzu die Anmerkungen bei Alexander von Bormann, Natura loquitur, S. 107–109, sowie Egon Voss, Studien zur Instrumentation Richard Wagners, S. 178f. Zum Resonieren des Waldes vgl. ferner die Bemerkungen zu Thoreau bei Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur, S. 69. [Clemens Brentano], Godwi, Bd. 2, S. 37. Egon Voss, Studien zur Instrumentation Richard Wagners, S. 176. Franz Liszt schreibt ü ber die besagte Stelle des Tannhäuser: „zugleich vervollstä ndigen die Signale der aus verschiedenen Entfernungen ertö nenden Jagdhö rner […] den Eindruck dieser Stunde lä ndlicher Ruhe und Waldeinsamkeit“, zitiert nach ebenda, S. 175.

157

II. Wald, Musik und Waldmusik

bleibt vorerst hinter der Waldkulisse verborgen, nur die Wirkung dringt – gleichsam als ›Waldmusik‹ – hervor.

c. Mehr Farbe als Zeichnung „Ueber etwas Schö nes exakt und bestimmt schreiben, ist schwer.“ 356 Robert Walser unterzog sich der Mü he und schrieb 1903 einen Aufsatz Der Wald. „Es ist ein dunkles Begreifen in jedermanns Herzen, warum der Wald so berauschend schö n ist, und es will niemand, namentlich kein Empfindlicher, gern mit der lauttö nenden exakten Sprache herausrü cken.“ 357 So musste es bei geziemenden – man mö chte sagen: musikalischen – Andeutungen bleiben. Eine Beobachtung Walsers betrifft das der Waldlandschaft eigene Verhä ltnis von ›Zeichnung‹ und ›Farbe‹. Der sommerlich belaubte Wald, schreibt er, sei „eine einzige, schwere, ü bermü tige Farbe.“ Grü n leuchtet ü ber allen Formen, so daß Formen verschwinden und verschimmern! Man achtet auf gar keine Form mehr im Sommer, man sieht nur die eine große, fließende, gedankenvolle Farbe.358

Freilich war Walser beileibe nicht der erste, der das Primat der Farbe ü ber die konturierten „Formen“ als Spezifikum der Waldlandschaft wü rdigte. „Nur eine Farbe sieht das Auge, aber in welchen unendlichen Abstufungen und in welcher unendlichen Ruhe!“359, schwä rmt in seinen populä ren Naturstudien (1852/57) etwa der Pä dagoge Hermann Masius. Der sprichwö rtliche Umstand, dass man ›den Wald vor lauter Bä umen nicht‹ sieht, ist ein Sonderfall; fü r gewö hnlich verschmelzen die einzelnen Bä ume – nach Art der Schraffur – in der Wahrnehmung zum farbigflä chigen Wald. Wald besteht, wie Harrison schreibt, „aus nichts als Nuancen“: „Er verwischt Unterscheidungen und ruft verlorene Verwandtschaft wach – zwischen Belebtem und Unbelebtem, Finsternis und Licht, Endlichem und Unendlichem, Leib und Seele, Gesehenem und Gehö rtem.“360 Aufgrund der terminologischen Entsprechungen und strukturellen Analogien zwischen Landschaftswahrnehmung, Malerei und Musik braucht es kaum zu verwundern, dass dem Wald im frü hromantischen Diskurs der ›musikalischen Landschaft‹ geradezu paradigmatische Bedeutung zukam. Wie der Wald, erfasst auch die

356

357 358 359

360

Robert Walser, Der Wald, in: Hans-Joachim Heerde, Barbara von Reibnitz, Matthias Sprü nglin (Hg.), Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte, Bd. I/1: Fritz Kocher’s Aufsätze, Basel 2010, S. 84–99 (hier S. 98). Ebenda, S. 91. Ebenda, S. 89. Hermann Masius, Norddeutsche Vegetationsbilder, in: ders., Naturstudien. Skizzen aus der Pflanzen- und Thierwelt, Leipzig 1852, hier S. 34f. Robert P. Harrison, Wälder, S. 221; vgl. auch S. 47f.

158

5. Der klingende Wald

Musik „eher die Farbe als die Zeichnung“361. Die verfließende Farbigkeit des Waldes wird als besonders ›musikalische‹ Qualitä t herausgestellt. So beschreibt Tieck in einer seiner Phantasien über die Kunst die flü chtige Wirkung der Musik als einen „in uns“ wachsenden „Hain mit tausend wunderbaren Blumen, mit unbegreiflich seltsamen Farben“. In diesem exotischen Zauberwald, dem Habitat einer poetischen Vergangenheit, verschwimmen alle definierten Umrisse: „Farbe funkelt an Farbe, Glanz erglä nzt auf Glanz“. 362 Auch Philipp Otto Runge sah sich auf den Wald verwiesen, wenn er, inspiriert von Tiecks literarischen Landschaftsdarstellungen, die wechselseitige Durchdringung von Musik und Natur in Bildern zu fassen versuchte.363 Uber sein Bildprojekt Quelle und Dichter schreibt er 1808 erlä uternd an Goethe: Hinter dem Walde soll die Sonne untergehn und der junge Buchenwald in einen [sic] durchsichtigen grü nen Licht schwimmen, in welchen wie Musik sich die Zweige hineinziehen. Der Dichter wird von den Klang und den schwimmenden Reiz angezogen.364

Einen „sprechenden Akkord“ mö chte Runge seiner Bildkomposition zugrunde legen, eine musikalische Harmonie. Der Wald fungiert gleichsam als tonangebendes Prisma: Das „grü ne[] Licht“ tö nt alle Lokalfarben, lä sst Konturen verschwimmen und stimmt so das Ganze zur musikalischen Einheit. Hier sei nun noch einmal der Bogen zum Horn geschlagen, dessen Klang, poetisiert durch seine ›ferne‹ Anmutung, in besonderer Weise mit flü ssiger Farbigkeit assoziiert ist. Seiner definierten, ›konsonantischen‹ Konturen entkleidet, ergießt er sich als „Gesang […] durch die Bä ume […] wie ein rieselnder Bach“ (Tieck: Sternbald), aufgelö st in „tonschimmernde Verwirrung“ (Brentano: Godwi) durchflutet er die Landschaft. Der Hornton erfü llt in der ›musikalischen Landschaft‹ eine durchaus

361

362

363

364

Albrecht Riethmü ller, Landschaft in der Musik, Landschaft zur Musik. Beethovens Pastorale und Walt Disneys Fantasia, in: Insa Bernds u.a. (Hg.), Albrecht Riethmüller: Annäherung an Musik. Studien und Essays, Stuttgart 2007, S. 123–139 (hier S. 126). „Wie schnell, gleich zauberhaften Saamenkö rnern, schlagen die Tö ne in uns Wurzeln, und nun treibt’s und drä ngt’s mit unsichtbaren Feuerkrä ften, und im Augenblick rauscht ein Hain mit tausend wunderbaren Blumen, mit unbegreiflich seltsamen Farben empor, unsre Kindheit und eine noch frü here Vergangenheit spielen und scherzen auf den Blä ttern und in den Wipfeln.“, [Ludwig Tieck], Unmusikalische Toleranz, in: ders., Wilhelm Heinrich Wackenroder, Phantasien über die Kunst, hier S. 222. Auch in seinen Ausfü hrungen ü ber Die Farben kommt Tieck zunä chst auf den Wald, dann auf musikalische Analogien zu sprechen: „Wie wunderschö n und bunt steht nun der grü ne Wald mit seinen Bä umen, mit seinen heimlichen Blumen, mit seinen lebendigen Creaturen und gefä rbten Vö geln da! […] [T]ausend Klä nge und Stimmen irren und verwirren sich durch einander und eifern mit Gesangesheftigkeit; […] Farbe ist freundliche Zugabe zu den Formen in der Natur, die Tö ne sind wieder Begleitung der spielenden Farbe.“, ebenda (Phantasien über die Kunst), S. 112f. und 118. Siehe hierzu Elisabeth Dé cultot, Das frühromantische Thema der ›musikalischen Landschaft‹, S. 215– 221. Philipp Otto Runge an Johann Wolfgang von Goethe, Brief vom 19. April 1808, zitiert nach Hellmuth von Maltzahn (Hg.), Philipp Otto Runges Briefwechsel mit Goethe, Weimar 1940 (= Schriften der Goethe-Gesellschaft 51), S. 79–87 (hier S. 86).

159

II. Wald, Musik und Waldmusik

ä hnliche Funktion wie die grü ne Beleuchtung in Runges Gemä lde. Er sorgt, gleichsam als ›Grund(farb)ton‹, fü r die harmonische Ubereinstimmung des Ganzen. So weist August Langen darauf hin, dass sich in der literarischen Stimmungskunst Eichendorffs oft „Gesang oder Waldhornmusik“ mit den Farb- und Lichterscheinungen der Landschaft verbinde.365 Von den „grü nen Bergen“ her tö nen etwa im Marmorbild „Waldhö rner aus der Ferne“, als akustisches Pendant zum „farbigen Duft“ der Luftperspektive.366 Auch Wagners Diktum, wonach die Hö rner in der Einleitung der Freischütz-Ouvertü re (T. 10ff.) „zauberischen Duft ü ber ihren Gesang aus[]gießen“367, schließt sich dieser stimmungsä sthetischen Konnotation an. – Durch ihre entsprechende Verortung in der Dialektik von Zeichnung und Farbe sind Wald und Hornklang an einem weiteren, nicht leicht zu fassenden Punkt assoziativ zusammengefü hrt: Beide stehen fü r das Primat der (klang-)farblichen Einheit und harmonischen Synthese – kurz: der ›Stimmung‹ – gegenü ber der definierten Konturierung. Welche Konsequenzen sich aus dieser Spezifik fü r die musikalische Komposition ergaben, war am 11. Januar 1871 Gegenstand eines „technische[n] Gesprä ch[s]“ zwischen Richard Wagner und dem Dirigenten Hans Richter. Die Unterhaltung betraf auch das unlä ngst aufgefü hrte Siegfried-Idyll (WWV 103) und wird in Cosimas Tagebuch wie folgt paraphrasiert: Abends technisches Gesprä ch zwischen R[ichard] und Richter, wobei mir besonders merkwü rdig ist, was R[ichard] vom Horn sagt: es habe ihm neulich so verwischt geklungen (im Idyll), so wie verschmiert, wobei ihm aufgefallen sei, wie sorgfä ltig dasselbe zu behandeln sei, da es nicht die Zeichnung, sondern die Farbe der Melodie bezeichne; daher auch die große Romantik dieses Instruments.368

Wagner attribuiert den Klang des Horns als besonders farbig und ›flü ssig‹ („verwischt“, „verschmiert“) und begrü ndet damit die „große Romantik“ des Instruments. Die Deduktion beruht auf frü hromantischem Gedankengut, wie es weiter oben anhand von Novalis’ Aufzeichnungen dargelegt wurde: Wie „jeder Ruf in die Ferne Vocal“ und „alles in der Entfernung Poësie“ wird (Novalis369), so katalysiert die eng mit dem Instrument assoziierte ›Ferne‹ den Hö rnerklang zu gesanglicher, ›vokaler‹ Farbigkeit. 370 Ein spezifisches Beispiel fü r die Anwendung dieser Hornklangfarbe

365

366

367 368 369

370

August Langen, Zur Lichtsymbolik der deutschen Romantik, in: Hugo Kuhn, Kurt Schier (Hg.), Märchen, Mythos, Dichtung. Festschrift zum 90. Geburtstag Friedrich von der Leyens am 19. August 1963, Mü nchen 1963, S. 447–485 (hier S. 481). Joseph von Eichendorff, Das Marmorbild. Eine Novelle, in: ders., Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild, hier S. 180. Richard Wagner, Ueber das Dirigiren, S. 42. Eintrag vom 11. Januar 1871, CT I, S. 340. Novalis, ›Das Allgemeine Brouillon‹, in: Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das philosophische Werk II, Nr. 342, S. 302. Auf die Dichotomie von Zeichnung und Farbe rekurriert Wagner auch in seinen sprachtheoretischen Ausfü hrungen: „Die erste Wirksamkeit des Konsonanten besteht darin, daß er den tö nenden Laut der Wurzel zu bestimmter Charakteristik dadurch erhebt, daß er sein unendlich flü ssiges Element sicher

160

5. Der klingende Wald

stellt die ›Waldweben‹-Musik in Siegfried (II/2) dar. Der ›webende‹ Streichersatz wird jeweils durch einen tiefen pianissimo-Hornton grundiert (siehe etwa T. 714ff. und T. 764ff.), der zwar vö llig konturlos und unprä sent bleibt, dem Gesamtklang aber die mit Wald assoziierte, dichte, fließende Farbigkeit beimischt.

5.4. Waldesrauschen Rufst du mich, Sü ßes Klingen? Ach! geheimnißvolles Singen, Bist nicht fremd, ich kenne dich! Ludwig Tieck371

„Der Wald steht schwarz und schweiget“372 – zumindest im Abendlied (1779) von Matthias Claudius. Wo kein Vogel singt, kein Hirsch rö hrt, kein Waldhorn tö nt, da „scheint allein die Stille dem Wald immanent zu sein“373. Rü hrt sich aber die Luft und versetzt Laub und Zweige in flatternde und reibende Bewegung, so entsteht ›Gerä usch‹ – der Wald rauscht. So trivial sich die physikalische Beschreibung ausnehmen mag, so komplex das resultierende Phä nomen: Das sogenannte Waldesrauschen setzt sich aus einer Unzahl diffuser Einzelgerä usche zusammen, deren Schallquellen ü ber Dutzende Meter in der Horizontalen wie Vertikalen verstreut liegen kö nnen. Es lä sst sich deshalb nie exakt verorten und kann zumeist nur „einer Summe von Gegenstä nden oder aber dem schlechthin Gegenstandslosen“ 374 zugeordnet werden. Entsprechend beschreibt Martin Seel es in seiner Ästhetik des Erscheinens als „ein Gerä usch oder eigentlich eine Vielzahl von Gerä uschen, deren Quelle vom Hö rer nicht ausgemacht werden kann.“ Er ist von Gerä uschen umfangen, die sich fü r ihn nicht aus einzelnen Klä ngen oder Klangfolgen ergeben, die er im Hö ren auf eine bestimmte Ereignisfolge zurü ckfü hren kö nnte. […] Das Wissen um die Herkunft des jeweiligen Rauschens (Bewegung der Blä tter und Zweige im Wind […]) kann diese Ohnmacht des Erfassens in keiner Weise ausgleichen; denn

371 372

373 374

begrenzt, und durch die Linien dieser Umgrenzung gewissermaßen seiner Farbe die Zeichnung zufü hrt, die ihn zur genau unterscheidbaren, kenntlichen Gestalt macht.“, Richard Wagner, Oper und Drama, Teil 3, S. 55. Im Anschluss an die Sprachursprungstheorien Herders und Novalis’ postuliert Wagner: „[S]obald wir aus unsrer Wortsprache die stummen Mitlauter ausscheiden und nur noch die tö nenden Laute ü brig lassen […] erhalten wir ein Bild von der ersten Empfindungssprache der Menschen“, ebenda, Teil 2, S. 179f. Ludwig Tieck, Klage im Walde, in: ders., Gedichte, Bd. 1, Dresden 1821, S. 149–151 (hier 149f.). Asmus [= Matthias Claudius], Abendlied, in: Johann Heinrich Voß (Hg.), Musen Almanach für 1779, Hamburg 1779, S. 184–186 (hier S. 184). Ute Jung-Kaiser, Der Klang des Waldes, S. 173. Andreas Hiepko, Katja Stopka, Einleitung, in: dies. (Hg.), Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung, Wü rzburg 2001, S. 9–18 (hier S. 9).

161

II. Wald, Musik und Waldmusik

dies ist eine Ohnmacht der simultanen sinnlichen Rezeption eines hö chst komplexen Geschehens.375

Dergestalt stellt sich das Rauschen als ursachenloser Geschehensablauf, eine Art akustischer ›actio in distans‹ dar. Die sinnliche Unfassbarkeit dieser Reizflut fü hrte das Rauschen im 18. Jahrhundert der Asthetik des Erhabenen zu: Im brausenden Sturm, im tosenden Meer und donnernden Wasserfall offenbarte sich die furchterregende Naturgewalt, der sich das Subjekt in erhebender Selbstbehauptung entgegenstellen konnte. – Den Romantikern hingegen war an Uberwindung der Naturentfremdung und entgrenzter Teilhabe am rauschend-tö nenden All gelegen. An die Stelle der Erhebung ü ber die Natur trat bei ihnen „die Haltung des hingebungsvollen Lauschens auf die rauschenden Bä che, Wä lder, Winde und Wellen“, wobei Susanne Scharnowski anmerkt, dass „zumindest in der frü hromantischen Asthetik immer der Gedanke eines dialektischen Prozesses“ zwischen den beiden „scheinbar so entgegengesetzten Pole[n] des Erhabenen und des Rauschens“ prä sent blieb, welcher im 19. Jahrhundert eine Annä herung der Positionen ermö glichte.376 Als suggestiv sprachä hnliche Chiffre des Numinosen und sinnliche Offenbarung rä tselhaft wirkender Natur verhieß das Rauschen die Mö glichkeit, Auskunft ü ber die geheime Verfasstheit des Weltganzen und die eigene Position innerhalb des selbigen zu gewinnen.377 Rauschen lä sst sich als indifferentes ›Alles‹ auffassen, von dem alle anderen, unterscheidbaren Sinneseindrü cke nur Diskretionen darstellen. 378 Es lä sst sich paradoxerweise aber auch als unbedeutende Stö rung des ›Nichts‹ auffassen, als vernachlä ssigbare Patina absoluter Stille: „Obwohl der Betrachter weiß, daß vieles geschieht, ist es doch zugleich so, als ob nichts geschehe – als ob nur ein Geschehen geschehe.“ 379 Wie sein Dä mmerlicht zwischen Hell und Dunkel, so schwebt das 375

376

377

378

379

Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Mü nchen 2000, S. 230. Darauf basierend, vom selben Autor: Über das Rauschen innerhalb und außerhalb der Kunst, in: Otto Kolleritsch (Hg.), „Lass singen, Gesell, lass rauschen …“. Zur Ästhetik und Anästhetik in der Musik, Wien 1997 (= Studien zur Wertungsforschung 32), 74–90. Susanne Scharnowski, „Es spricht nicht, es rauscht und toset nur!“. Eine kurze Geschichte der Ästhetik des Erhabenen und des Rauschens, in: Andreas Hiepko, Katja Stopka (Hg.), Rauschen, S. 43–55 (hier S. 45f.). Siehe hierzu etwa Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur, S. 246 und Hartmut Bö hme, Gernot Bö hme, Das Andere der Vernunft, S. 225. Christian Scheib, Die indiskrete Arbeit am Realen. Das Rauschen ist die Musik, in: Sabine Sanio (Hg.), Das Rauschen. Aufsätze zu einem Themenschwerpunkt im Rahmen des Festivals ›Musikprotokoll ‘95 im Steirischen Herbst‹, Hofheim 1995, S. 67–80 (hier S. 67). Seel zufolge tritt das Rauschen oft „als eine Diffusion des Unterscheidbaren ein“, wohingegen das ›absolute‹ Rauschen, in dem gar nichts mehr unterscheidbar wä re, nur ein Extrem beschreibt, Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 232. Als Andeutung einer umfassenden Ganzheit der Natur als eines „Gesamtstromes“ fungiert das Rauschen metaphorisch in Simmels Philosophie der Landschaft: Bezeichne man ein wirkliches Ding als ›Natur‹, so sei damit gemeint, „daß es als Vertreter und Symbol jenes Gesamtseins gelten soll, daß wir dessen Strö mung in ihm rauschen hö ren.“, Georg Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 68. Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 232. Der „unhintergehbare Doppelcharakter des Rauschens als Fü lle und Leere“ ermö glicht die „bis zum diametralen Gegensatz unterschiedlichen Besetzungen“, Ruth Sonderegger, Ist Kunst, was rauscht? Zum Rauschen als poetologischer und ästhetischer Kategorie, in: Andreas Hiepko, Katja Stopka (Hg.), Rauschen, S. 29–41 (hier S. 38).

162

5. Der klingende Wald

Rauschen des Waldes zwischen Stille und Klang. Also schweigt der Wald doch, wenn er auch rauscht? – Eichendorff dichtet: „O stille Schauer, wunderbares Schweigen, / Wenn heimlichflü sternd sich die Wä lder neigen“380.

a. Windharfe Wald Wind ist eine durch Schwankungen des hydrostatischen Drucks hervorgerufene Bewegung der atmosphä rischen Luft. Nach romantischer Auffassung wä re mit dieser Aussage zwar nichts grundsä tzlich Falsches gesagt, jedoch das Wesentliche unterschlagen. Das entscheidende ›Aber‹ trä gt Novalis in den Lehrlingen zu Saïs nach: Der Wind ist eine Luftbewegung, die manche ä ußere Ursachen haben kann, aber ist er dem einsamen, sehnsuchtsvollen Herzen nicht mehr, wenn er vorü bersaust, von geliebten Gegenden herweht und mit tausend dunkeln, wehmü thigen Lauten den stillen Schmerz in einen tiefen melodischen Seufzer der ganzen Natur aufzulö sen scheint?381

Ursache und Wirkung des Windes erschö pfen sich nicht in der empirischen Immanenz. Aus entrü ckter Ferne kommend und von einer mystischen „Aura des Zufä lligen“ 382 umgeben, durchzieht er unvorhersehbar die Welt, die ganze Natur zu konsonierender Empfindungsä ußerung anregend. Diese romantische Auffassung knü pft im Wesentlichen bei zwei ä lteren Vorstellungsbereichen an, nä mlich der pythagoreischen ›Harmonie der Sphä ren‹ und dem (biblisch geprä gten) πνεῦ μαBegriff.383 Der (gerä uschhaften) Bewegung der weltdurchwirkenden und belebenden Luft wird epiphanische Bedeutung beigelegt.384 Die ersehnte poetische Offenbarung des wohlgeordneten Naturganzen vollzieht sich sympathetisch in einem unter besonderen Bedingungen eintretenden „Ansprechen“ der Natur auf den Menschengeist und des Naturgeistes auf den Menschen, was mit dem Ausschlagen einer

380

381

382 383 384

Joseph von Eichendorff, Mahnung, in: ders., Joseph Freiherrn von Eichendorff’s Werke, Bd. 1: Gedichte, Berlin 1841, S. 395. Novalis, Die Lehrlinge zu Saïs, in: Paul Kluckhohn, Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das dichterische Werk, S. 100. Julia Cloot, Geheime Texte, S. 180. Siehe hierzu Christiane Tewinkel, Vom Rauschen singen, S. 22–35. Siehe hierzu insbesondere Gen 2,7; Joh 3,8; 1. Kö nige 19,12; Apg 2,2. Letztere Stelle (›Pfingstwunder‹) vertonte Wagner 1843 in Das Liebesmahl der Apostel (WWV 69) fü r das Dresdner Sä ngerfest: Uber einem Paukenwirbel setzen sukzessive die zehnfach geteilten, tremolierenden Streicher ein („Welch Brausen erfü llt die Luft“). – Eine der bekanntesten lyrischen Bearbeitungen des Motivs schuf Klopstock: „Nun schweben, und rauschen, und wirbeln die Winde! / Wie beugt sich der Wald! wie hebt sich der Strom! / Sichtbar, wie du es Sterblichen seyn kannst, / Ja! das bist du, sichtbar, Unendlicher!“, [Friedrich Gottlieb Klopstock], Die Frühlingsfeyer, in: ders., Oden, Hamburg 1771, hier S. 26. Auch in der (neuzeitlichen) Sage offenbart sich das Numinose oftmals akustisch durch ein unvermittelt im Freien (vor allem im Wald) auftretendes „nahes oder lautes Wehen“, so Will-Erich Peuckert, Sagen. Geburt und Antwort der mythischen Welt, Berlin 1965, S. 107. Vgl. ferner die Anmerkungen zum Verbum ›wehen‹ im Kapitel IX.3.

163

II. Wald, Musik und Waldmusik

Wü nschelrute385, vor allem aber mit dem Anklingen miteinander verwandter Tö ne verglichen wurde.386 Der unsichtbare, ›begeisterte‹ Strom, der die Bä ume zum Rauschen anregt, vermag auch im Menschen Saiten anzurü hren. Die aus der Musiktheorie entlehnte Stimmungsmetaphorik, wie sie etwa Schiller in seinem Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) auf das Zusammenspiel von Kö rper und Seele anwandte, bot in der zweiten Hä lfte des 18. Jahrhundert „ganz neue Mö glichkeiten, das Wechselverhä ltnis zwischen Innen und Außen, Organismus und Umwelt zu denken.“387 So beruht die von Johann Gottfried Herder beschriebene „Sprache der Empfindung“ (1772) darauf, dass ein „zartbesaitet[es]“ Wesen durch eine „in Laut“ geä ußerte Empfindung „wieder andre gleich zart gebaute Geschö pfe“ in harmonische ›Mitschwingung‹ versetzt.388 Dass gerade der Musik unmittelbare Wirksamkeit auf das Gemü t zugesprochen wurde, braucht angesichts der musikalischen Metaphorik von „schwingenden und mitschwingenden Nervenfasern, Vibrationskomplexen und unterschiedlich stark gespannten Nerven“389 nicht zu verwundern. Novalis erklä rt die Empfä nglichkeit der Seele fü r Musik damit, dass beide dem ›ä therischen‹ Bereich der Luft zugehö ren und dadurch in unmittelbarer Wechselwirkung stehen.390 Ahnliche Bedeutung kommt der bewegten Luft bei Tieck zu; wie die Musik den ›gestimmten‹ Menschen, so „rü hrt“ die pneumatische Afflation des Windes die ganze (organische) Natur: [D]er ermunternde Wind zieht durch die Baumwipfel und rü hrt alle Blä tter als eben so viele Zungen an, der Baum schü ttelt sich vor Freude, und wie in einer Harfe regen sich und rauschen unsichtbare Finger. Die jubelnden Vö gelein werden zu Gesä ngen angefrischt, tausend Klä nge und

385 386

387

388

389 390

Man denke an Eichendorffs Gedicht Wünschelrute (1835). Robert Mü hlher, Natursprache und Naturmusik bei Eichendorff, S. 5f. So gestaltet etwa Adalbert Stifter im Hochwald (1842) das harmonische Verhä ltnis von Wald und Mensch als wechselseitige Resonanz: Clarissa lä sst in nä chtlicher Waldabgeschiedenheit ihre Harfe erklingen – „man wußte nicht woher“ – und es war „nicht anders, als ginge sachte ein neues Fü hlen durch den ganzen Wald, und als regte er sich leise“, Adalbert Stifter, Der Hochwald, in: Johann Mailath (Hg.), Iris. Taschenbuch für das Jahr 1842, Pesth 1842, S. 267–413 (hier S. 336). Caroline Welsh, Die Stimmung in den Wissenschaften vom Menschen. Vom Sympathie-Modell zur Gemüts- und Lebensstimmung, in: Arne Hö cker u.a. (Hg.), Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften, Bielefeld 2006, S. 53–64 (hier S. 62). Zu Schillers Modell der ›Sympathie‹ vgl. auch Friederike Reents, Stimmungsästhetik, S. 32–36. Zur Vorstellung der Natur als (Saiten-)Instrument und der Verbindung von Natursprachenlehre und Musik bei Jakob Bö hme und Eichendorff siehe Robert Mü hlher, Natursprache und Naturmusik bei Eichendorff, besonders S. 7–9. [Johann Gottfried] Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesezten Preis erhalten hat, Berlin 1772, S. 5f. Caroline Welsh, Die Stimmung in den Wissenschaften, S. 57. „Der Bach und die unbeseelte Natur spricht grö ßtentheils Prosa – nur der Wind ist zuweilen musicalisch.“, Novalis, ›Das Allgemeine Brouillon‹, in: Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das philosophische Werk II, Nr. 422, S. 320. Siehe hierzu Christiane Tewinkel, Vom Rauschen singen, S. 46.

164

5. Der klingende Wald

Stimmen irren und verwirren sich durcheinander und eifern mit Gesangesheftigkeit […].391

Der „ermunternde Wind“ wirkt – im Wortsinne – inspirierend: Er trä gt ›Geist‹ heran und weckt die in allen Dingen schlafende Musik. Wie das Licht atmosphä risch zum Farbspektrum gebrochen wird, so wird das alle Tö ne enthaltende ›pneuma‹, wo es auf die Landschaft trifft, zu „tausend Klä nge[n]“ moduliert.392 Im Vergleich des Baumwipfels mit einer Harfe klingt die zeitgenö ssische Beliebtheit von Windspielen, besonders der seit den 1760er Jahren aus England kommenden Aeolian Harp an. Mit ihren von menschlicher Willkü r unbeeinflussten, auf eine entfernte Ursache verweisenden, zugleich aber ganz anrü hrend wirkenden ›Naturklä ngen‹ gehö rte die Aolsharfe seit der zweiten Jahrhunderthä lfte zur akustischen Ausstattung der zunehmend beliebten Landschaftsgä rten. 393 Als „Metapher der universellen Lyra“ wurde sie zu einem romantischen Topos.394 Die einzig vom Wind in Schwingung versetzte Saite dient gleichsam als Medium oder Indikator ›pneumatischer‹ Regungen.

391

392

393

394

[Ludwig Tieck], Die Farben, in: ders., Wilhelm Heinrich Wackenroder, Phantasien über die Kunst, S. 113. Wie „ein unsichtbarer Wind ü ber unsern Hä uptern“ weht „die allmä chtige Musik“ in einem fiktionalen Kü nstlerbrief Tiecks; der mö nchische Protagonist schildert, sie habe „[s]ein ganzes Wesen durchdrungen“, nachdem er zuvor „[s]ein Gemü th zu einer wunderbaren Aufmerksamkeit […] stimmte“, [Ludwig Tieck], Brief eines jungen deutschen Mahlers in Rom an seinen Freund in Nürnberg, in: [ders., Wilhelm Heinrich Wackenroder]: Herzensergießungen, hier S. 187f. Zu Tiecks Auffassung der Musik als kö rperloser „Geisterhauch“ siehe Elisabeth Dé cultot, Das frühromantische Thema der ›musikalischen Landschaft‹, S. 224. Vom Waldesrauschen als einem der „Urgerä usche“, die zur Dynamisierung der Landschaft beitragen, spricht August Langen, Verbale Dynamik, S. 176. In diesem Sinne verglich Runge das akustische Rauschen mit der optischen Luftperspektive; in einem Brief an Goethe vom 19./21. November 1807 schreibt er: „Ich verstehe zu wenig von Musik, mich dü nkt aber, wenn man das Anschlagen aller Tö ne zugleich mit das [sic] Brausen des Sturms gleichstellte, so ist dieser klare Fluß, der auf einer weiten Distanz zwischen uns und den Gegenstä nden bemerkbar wird, hiermit gewissermaßen zu vergleichen. Es ist das Brausen aller Farbentö ne ineinander, und wie die Gegenstä nde, welche der Sturm trifft, ihm eine Modulation in den Tö nen geben, so geben Wolken der Luft eine Richtung zu einer oder einigen Farben hin.“, Hellmuth von Maltzahn (Hg.), Philipp Otto Runges Briefwechsel mit Goethe, S. 70–76 (hier S. 75). Gabriele Busch-Salmen u.a., Der Weimarer Musenhof, S. 54–60 und August Langen, Zum Symbol der Äolsharfe in der deutschen Dichtung, in: Christoph-Hellmut Mahling (Hg.), Zum 70. Geburtstag von Joseph Müller-Blattau, Kassel 1966 (= Saarbrü cker Studien zur Musikwissenschaft 1), S. 160–191 (hier S. 164f.). Aolsharfen bestimmten in erheblichem Maße die Klangkulisse und Anmutung gewisser Orte und stellen somit einen interessanten Sonderfall ›musikalisierter‹ Landschaftswahrnehmung dar. Besonders hä ufig waren sie in Burgruinen installiert; so schreibt etwa Robert Schumann aus Bingen am Rhein an seine Mutter, dass „Aolsharfen, die auf der Burg in Zuglö chern standen“, ihn „mit ihren wunderbar verschlungenen Mollakkorden lange an den Ort“ gefesselt hä tten, Briefteil vom 25. Mai 1829, zitiert nach Rudolf Walbiner (Hg.), Reisebriefe deutscher Romantiker, S. 424–435 (hier S. 429). Kompositorische Referenzen auf die klangliche Idiomatik der Aolsharfe (wie man sie etwa in Schumanns Lied Auf einer Burg op. 39,7 ausmachen mag) konnten somit auch spezifische landschaftliche Assoziationen wachrufen. Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur, S. 218. In Windharfenklä ngen und rauschenden Luftbewegungen gestaltet auch Jean Paul das „Mitschwingen des Universums“, Julia Cloot, Geheime Texte, S. 185. Zur Metapher der ›Aolsharfenmusik‹, die in der ersten Hä lfte des 19. Jahrhunderts eine Verbindung zwischen dem ›Naturlaut‹ des Windes und den Klä ngen der Kunstmusik herstellte, siehe Heike Stumpf, Metaphorisches Sprechen in der Musikkritik, S. 121f. und Tibor Kneif, Die Idee der Natur in der Musikgeschichte, in: Archiv fü r Musikwissenschaft 28 (1971), Heft 4, S. 302–314 (hier S. 311). Der Klang der Aolsharfe stehe „an der Grenzen zwischen Kunst und Natur“, urteilt der Musikschrift-

165

II. Wald, Musik und Waldmusik

In Macphersons Ossian etwa verkü nden unberü hrt erklingende Harfen den Tod einer Person.395 In Hoffmanns Novelle Don Juan (1813) erlebt der Protagonist eine ergreifende Auffü hrung von Mozarts gleichnamiger Oper, wä hrend der es in seiner Loge zu einer mysteriö sen Begegnung mit der Darstellerin der Donna Anna kommt. Zu nä chtlicher Stunde begibt er sich erneut in das verlassene Theater, um seinen Eindrü cken nachzusinnen, als um Punkt zwei Uhr plö tzlich ein „warmer elektrischer Hauch“ ü ber ihn gleitet und ihm die Gegenwart der Sä ngerin zu verraten scheint: Die Luft streicht heftiger durch das Haus – die Saiten des Flü gels im Orchester rauschen – Himmel! wie aus weiter Ferne, auf den Fittigen schwellender Tö ne eines luftigen Orchesters getragen, glaube ich Anna’s Stimme zu hö ren […].396

Am nä chsten Morgen erfä hrt der Protagonist, dass die Sä ngerin „Punct zwey Uhr“ in ihrer Kammer verstorben sei. War es ihre entschwindende Seele, war es die sphä rische Musik des „luftigen Orchesters“, welche die ›actio in distans‹ der Saitenresonanz anregte? Oder doch einfach nur die „das Haus durchschneidende Zugluft“397? Physische und metaphysische Ursachen und Wirkungen scheinen sich im Phä nomen des Rauschens nicht auszuschließen. Die Hoffmann als ä sthetisches Ideal vorschwebende Musik sollte gerade durch ihre rauschende Unbestimmtheit in der Lage sein, „Ahnungen eines fernen Geisterreichs“398 wachzurufen. Inspiriert durch Gotthilf Heinrich Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) verweist er in seiner Musiknovelle Die Automate (1814) auf die „Urzeit“, als der Mensch noch in „heilige[r] Harmonie“ mit der Natur lebte; damals „umfing sie den Menschen, wie im Wehen einer ewigen Begeisterung, mit gö ttlicher Musik, und wundervolle Laute verkü ndeten die Geheimnisse ihres ewigen Treibens.“399 Einen „Nachhall“ dieser Urzeit vermittle die „herrliche Sage von der Sphä renmusik“. Im nä chtlichen „Sä useln des Windes“ und in den Vibrationen der Aolsharfe offenbare sich eine Musik, die in der Natur „wie ein tiefes, nur dem hö hern Sinn erforschliches Geheimnis verborgen“400 liege. – Budde zufolge

395

396

397

398

399 400

steller Richard Pohl und hebt hervor, dass gerade Richard Wagner es verstehe, sich in seinen Kompositionen der instrumententypisch „langgehaltenen Grundtö ne“ als probates Mittel der Naturdarstellung zu bedienen, [Richard Pohl], Akustische Briefe, Brief 5: Naturstimmen, in: Neue Zeitschrift fü r Musik 37 (1852), Nr. 19, S. 193–196 (hier S. 195). Hierzu August Langen, Zum Symbol der Äolsharfe, besonders S. 169–175. Zum Motiv der Harfe im Baum vgl. Psalm 137,2. [Ernst Theodor Amadeus Hoffmann], Don Juan. Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 15 (1813), Nr. 13, Sp. 213–225 (hier Sp. 225). Ebenda, Sp. 220. Der Frage, ob es der Wind oder aber „ein vorbeyfahrender Geist“ sei, der die Saiten rü hrt, widmet sich auch F[riedrich] H[ugo] von Dalberg, Die Aeolsharfe. Ein allegorischer Traum, Erfurt 1801, S. 54; zur Verwandtschaft zwischen „Geister Gelispel“, Waldesrauschen und Sphä renmusik siehe ebenda, S. 16f. [Ernst Theodor Amadeus Hoffmann], Die Automate, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 16 (1814), Nr. 6, Sp. 93ff. (hier Sp. 97). Ebenda, Sp. 99. Ebenda, Sp. 99–101.

166

5. Der klingende Wald

war die „literarisch erfundene Musik“ der Romantik „immer eine rauschende“. Das imaginierte „Rauschen der Musik“ bezeichne die „Freisetzung der Klä nge von ihrer Rü ckbindung in die definierten Tö ne“ und letztlich die angestrebte Befreiung der diskursiven Musik „vom Fluch der Bedeutung“401. Richard Wagner, der als Jugendlicher „durch die Lektü re Hoffmann’s zum tollsten Mysticismus aufgeregt“ 402 wurde, greift das Bild der ›ahnungsvoll‹ erklingenden Windharfe im dritten Teil von Oper und Drama auf: Dem „Sprachvermö gen des Orchesters“ komme es in seiner Konzeption des Dramas zu, die „unausgesprochenen inneren Stimmungen“ in einer Weise anklingen zu lassen, dass daraus ein „unwillkü rliche[s] Verlangen […] nach Bestimmung“ entstehe. Dadurch werde das Publikum zum „Mitschö pfer des Kunstwerkes“ gemacht. Wagner schreibt: In seiner Kundgebung als Ahnung mö chte ich das Empfindungsvermö gen der wohlgestimmten Harfe vergleichen, deren Saiten vom durchstreifenden Windzuge erklingen, und des Spielers harren, der ihnen deutliche Akkorde entgreifen soll.403

Das mystifizierte Ertö nen des Orchesters, zumal aus seiner Versenkung im uneinsehbaren Orchestergraben, zehrt vom romantischen Naturmythos des ›pneumatischen‹ Windes, der im Zuhö rer unwillkü rlich Empfindungssaiten erklingen lassen und das dramatische Geschehen ahnungsvoll rauschend begleiten soll. Der Wald ist die natü rliche Windharfe. Wie die vorangehenden Ausfü hrungen verdeutlicht haben dü rften, ist die akustische Wahrnehmung des rauschenden Waldes in hohem Maße durch kulturelles Vorwissen, naturphilosophische Vorstellungen und (musik-)ä sthetische Werthaltungen geprä gt: Das ›landschaftliche Ohr‹ ist zu prä gnanzbildendem ›Hinhö ren‹ geschult. Aufschlussreichen Einblick in diesen Lernprozess gibt Heinrich von Salisch (1846–1920), ein maßgeblicher Wegbereiter der forstlichen Landschaftspflege. In seinem Hauptwerk Forstästhetik (1885) ist „Duft und Stimme des Waldes“ ein eigenes Kapitel gewidmet. Dort berichtet Salisch, es sei selbst ihm als „unmusikalischen Menschen“ gelungen, durch entsprechende „Ubung“ und „Schulung“ zu einem ›musikalischen‹ Genuss der Waldlandschaft zu gelangen, und zwar „nicht von Bü chern oder Lehrern, sondern durch den Besitz einer jener Aolsharfen“. Seit ich mich an dieser geü bt habe, dem sanften Anschwellen und wieder Ersterben eines Tones, dem Kommen und Gehen der verschiedenartigsten Klä nge zu lauschen, wird mir auch im Walde mancher Genuß, der mir sonst verloren ging, zu Teil. Ich bleibe jetzt nicht mehr, wie sonst,

401

402

403

Elmar Budde, Vom Rauschen der Musik und dem Rauschen der Wälder oder über den Verlust der Vernunft und das Aufbegehren der Sinne, in: Otto Kolleritsch (Hg.), „Lass singen, Gesell, lass rauschen …“, S. 14–23 (hier S. 16f. und 21f.). So bekundet er es in seiner autobiographischen Skizze fü r Heinrich Laube, in: Zeitung fü r die elegante Welt 43 (1843), hier Nr. 5, S. 116. Richard Wagner, Oper und Drama, Teil 3, S. 165f.

167

II. Wald, Musik und Waldmusik

gleichgiltig, wenn meine Aspen, einzeln eingesprengt im jungen Buchenstangenort, schon von fern her ihre Stimme erheben beim Nahen des ersten Windstoßes, wenn sie ihn begleiten und dann verstummen, sobald er vorü berzog, wenn sie dann im gleichmä ßigen Wehen des Windes aus dem ganzen Bestande allerorten ihr Flü stern vernehmen lassen, bis sie ü bertö nt werden vom Rauschen und Brausen der jungen Buchen, die sich stä rkeren Luftwellen beugen.404

Dem geschulten Ohr erschließt sich die musikalische Qualitä t der Landschaft. Sensibilisiert fü r das silvane „Stimmorgan des Windes“ und eine ä ltere Differenzierung Matthias Jacob Schleidens405 aufgreifend, unterscheidet Salisch zwischen dem „Flü stern“ (der Blä tter), dem „Sä useln“ (bei Nadelbä umen), dem eigentlichen „Rauschen“ („Reibungen zarter Zweige“) und dem „Brausen“ („tö nende Schwingungen“ der Zweige).406 Nun wollte ich aber, statt meiner schilderte ein tonverstä ndiger Fachgenosse die Stimmen des Waldes, und ich mö chte glauben, daß eine solche Schilderung nicht ganz unfruchtbar sein kö nnte. Wie manche spaltenlange Besprechung alltä glicher Musikauffü hrungen bringen nicht die ö ffentlichen Blä tter, sicherlich mit dem Erfolg, das lesende und dann hö rende Publikum zu besserem Verstä ndnis, zu erhö htem Genuß zu schulen. Sollte nun gleiches Bestreben gegenü ber den Konzerten der Natur vergeblich bleiben?407

b. Natursprache [I]ch mö cht’ mich gern einmal bei Nacht verirren recht im tiefsten Wald, die Nacht ist wie im Traum so weit und still, als kö nnt’ man ü ber die Berge reden mit Allen, die man lieb hat in der Ferne. Hö r nur, wie der Fluß unten rauscht und die Wä lder, als wollten sie auch mit uns sprechen und kö nnten nur nicht recht! Joseph von Eichendorff408

„[D]er brausende Sturm, und der sü ße Zephyr, die klare Wasserquelle und der mä chtige Ocean – ihre ganze Mythologie liegt in den Fundgruben, den Verbis und 404

405 406 407 408

Heinrich von Salisch, Forstästhetik, S. 116–119 (hier S. 118). Wenn Salisch weiterhin anmerkt, das Waldesrauschen habe „von jeher als Gleichnis fü r den Geist gedient“, und dazu auf 1. Kö nige, 19,12 (Elija am Berg Horeb), Johannes 3,8 („Der Wind weht, wo er will …“) und auf Klopstocks Frühlingsfeier verweist, dann widerlegt er damit freilich seine eigene Behauptung, er habe die ä sthetische Wertschä tzung des Waldesrauschens „nicht [auch] von Bü chern“ gelernt. M[atthias] J[acob] Schleiden, Für Baum und Wald, S. 5. Heinrich von Salisch, Forstästhetik, S. 118. Ebenda, S. 117. Joseph von Eichendorff, Das Schloß Dürande, in: Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1837, Leipzig 1837, S. 51–107 (hier S. 62f.).

168

5. Der klingende Wald

Nominibus der alten Sprachen und das ä lteste Wö rterbuch war so ein tö nendes Pantheon“409, schreibt Johann Gottfried Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772). Das elementare Tö nen der Natur spielt in seiner Theorie zur Entwicklung der menschlichen Sprache „aus den Lauten aller Welt“ eine zentrale Rolle: Indem die ganze Natur tö nt: so ist einem sinnlichen Menschen nichts natü rlicher, als daß sie lebt, sie spricht, sie handelt. Jener Wilde sahe den hohen Baum mit seinem prä chtigen Gipfel und bewunderte: der Gipfel rauschte! das ist webende Gottheit! der Wilde fä llt nieder und betet an!410

Aus derartigen „tö nenden Handlungen“ der Natur entstanden Herder zufolge die Verben, und indem der urzeitliche Mensch die Welt als „ein Reich belebter, handelnder Wesen“ auffasste, wurden die Verben nominalisiert und personifiziert: „sehet da die Geschichte des sinnlichen Menschen, das dunkle Band, wie aus den Verbis Nomina werden – und den leichtesten Schritt zur Abstraktion!“ Eine „webende Gottheit“ tritt als Verursacher des unerklä rlichen Rauschens ein. – In einer seiner frü hen Prosaarbeiten knü pft Novalis an Herders Gedanken an, um die Entstehung der Dichtkunst in der „Kindheit des menschlichen Geschlechts“ zu begrü nden: Der erste Wind, das erste Lü ftchen, das dem Ohre des Wilden hö rbar durch den Gipfel der Eiche sauste, brachte gewiß in demselben in seinem jungen, unausgebildeten, allen ä ußerlichen Eindrü cken noch offenen Busen eine Bewegung, einen Gedanken von dem Dasein eines mä chtigen Wesens hervor, der sehr nahe an die Begeisterung grenzte und wo ihm nichts als Worte fehlten, um sein volles ü berfließendes Gefü hl durch sie ausströ men und es gleichsam den leblosen Gegenstä nden um ihn mitempfinden zu lassen, da er jetzt ohne Sprache gewiß unwillkü rlich auf die Kniee sank und durch seine stumme Bewegung verriet, daß Gefü hle an Gefü hle in seinem Herzen sich drä ngten.411

Das ›goldene Zeitalter‹, in dem sich der Verkehr zwischen Mensch und Natur in solch sinnlicher Unmittelbarkeit vollziehen konnte, liegt in weiter Ferne – der objektivierende Verstand lö ste das enge Band der Kommunikation. Gemä ß dem von Novalis zugrunde gelegten triadischen Geschichtsmodell muss es der prosaischen Gegenwart angelegen sein, sich auf die Suche nach den rä tselhaft fragmentierten Resten jener allverbindenden, poetischen Ursprache zu machen, um ihr in Zukunft neue, sublimierte Geltung zu verschaffen. So gilt es genau und sensibel hinzuhö ren, wann und wo immer die Natur tö nt. In einem 1800 entstandenen Entwurf fü r den zweiten Teil des Romans Heinrich von Ofterdingen schreibt Novalis: 409

410 411

[Johann Gottfried] Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 84. Zur Waldnatur als „Buch“ mit „Chiffern“, in dem sich „das rechte Wort“ nachschlagen lä sst, siehe etwa auch das Gedicht von Gustav Pfarrius, Das Etymologicum magnum, in: ders., Die Waldlieder, S. 144f. [Johann Gottfried] Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 82. Novalis, Von der Begeisterung, in: Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das philosophische Werk I, hier S. 22.

169

II. Wald, Musik und Waldmusik

Ein ziemlich starker Wind ließ sich in der Luft verspü ren und seine dumpfe, wunderliche Musik verlor sich in ungewisse Fernen. Sie wurde lauter und vernehmlicher in den Wipfeln der Bä ume – so daß zuweilen die Endsylben und einzelne Worte einer menschlichen Sprache hervorzutö nen schienen.412

Es scheint, die Natur wolle in gemeinsamer Sprache dem aufmerksam lauschenden Menschen etwas mitteilen. Die Beobachtung, dass ihre musikalische Rede in den Baumwipfeln „vernehmlicher“ wird, dass ursprachliche Bruchstü cke sich gleichsam in ihrem Gezweig verfangen, lä sst es ratsam erscheinen, sich forschend und horchend in den Wald zu begeben. „Es ist schon viel gewonnen, wenn das Streben, die Natur vollstä ndig zu begreifen, zur Sehnsucht sich veredelt“ 413 , schreibt Novalis in den Lehrlingen von Saïs. Das Rauschen des Waldes nä hrt diese Sehnsucht. „Schon unter den kindlichen Vö lkern“ habe es „sinnigere Seelen“ gegeben, die – in der Absicht, „Vorbilder einer edleren Natur zu schaffen“ – versuchten, „die verstummten und verlohrnen Tö ne in Luft und Wä ldern zu erwecken“414. Um dem „schö ne[n] und heilige[n] Amt“ nachzukommen, „Verkü nder der Natur zu seyn“415, bedarf der Kü nstler einer besonderen Disposition, denn „nur der musikalischen Seele dü nkt oft das Rauschen des Waldes – das Pfeifen des Windes, der Gesang der Nachtigall, das Plä tschern des Bachs melodisch und bedeutsam.“416 Dem Kü nstler kann es gelingen, die geheime Offenbarung der Natur prophetisch zu vermitteln, die rohen ›Naturtö ne‹ zumindest vage zu dolmetschen und zu raffinieren.417

412

413

414 415 416

417

Novalis, Paralipomena zum Heinrich von Ofterdingen, in: Paul Kluckhohn, Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das dichterische Werk, hier S. 349f. Statt „wunderliche“ stand zunä chst „verschwebende“, statt „menschlichen“ zunä chst „unbekannten“ (nachträ gliche Korrekturen). Novalis, Die Lehrlinge zu Saïs, in: Paul Kluckhohn, Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das dichterische Werk, S. 85. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 107. Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen, in: Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das philosophische Werk I, Nr. 226, S. 573f. Mit der Auffassung der Natur als durch das Ich zu verwirklichendes Kunstwerk knü pft Novalis bei Fichte an, siehe hierzu Helmut Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft, S. 58–60 und 96– 98. Ausdruck findet die Schlü sselrolle des Kü nstlers als Medium der Natur schon in Lavaters exaltiertem Lobpreis der „Genieen“ als „Dollmetscher der Natur! Aussprecher unaussprechlicher Dinge! Propheten!“, Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Bd. 4, Leipzig 1778, S. 83. Fü r Schelling scheint der Kü nstler, der seine „Begeisterung durch fremden Anhauch“ empfä ngt, „unter der Einwirkung einer Macht zu stehen, die ihn […] Dinge auszusprechen oder darzustellen zwingt, die er selbst nicht vollstä ndig durchsieht, und deren Sinn unendlich ist.“ Als „einzige und ewige Offenbarung“ sei Kunst somit immer auf die Poesie als „freye Gunst der Natur“ angewiesen, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transcendentalen Idealismus, Tü bingen 1800, Hauptabschnitt VI, § 1, S. 460f. Zum Auftrag des Kü nstlers in der romantischen Triade siehe Hans-Joachim Mä hl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965 (= Probleme der Dichtung. Studien zur deutschen Literaturgeschichte 7), hier vor allem S. 354–362. Vom Dichter als „einer Art Hierophant […], der allein in der Lage ist, die Geheimsprache des Waldes zu verstehen“, spricht Edgar Marsch, „Denn wir sind wie

170

5. Der klingende Wald

Der Dichter Rudolf in Tiecks Sternbald-Roman ist einer der romantischen Naturadepten, deren Bestreben sich zur Sehnsucht veredelt hat. Im Wald erlebt er, wie sich das „wirkliche[] Leben“ augenblicklich zur „verklä rtere[n] Existenz“ steigern kann; „dann ist es, als wollte der Waldstrom seine Melodie deutlicher aussprechen, als wü rde den Bä umen die Zunge gelö s’t, damit ihr Rauschen in verstä ndlichern Gesang dahinrinne.“418 Der Maler Franz machte bereits im ersten Teil des Romans diese Erfahrung, als er sich melancholisch affiziert an den Stamm eines Baumes gelehnt hatte, „der mit seinen Zweigen und Blä ttern ü ber ihm rauschte und lispelte, als wenn er ihm Trost zusprechen mö chte, als wenn er ihm dunkle Prophezeihungen von der Zukunft sagen wollte.“ Franz hö rte aufmerksam hin als wenn er die Tö ne verstä nde; denn die Natur redet uns mit ihren Klä ngen zwar in einer fremden Sprache an, aber wir fü hlen doch die Bedeutsamkeit ihrer Worte, und merken gern auf ihre wunderbaren Accente.419

Von solcher Offenbarung weiß auch Tiecks Magelone (1798) zu berichten, die sich „gegen Mittag […] an einer schö nen kü hlen Stelle des Waldes“ eingefunden hat. Ruhend unter einem Baum, „der mit allen seinen Blä ttern, wie mit eben so vielen Zungen, ein liebliches Geschwä tze macht, dem ich gerne zuhö re“, ist es ihr, „als wenn sich mancherlei Geister durch die Einsamkeit zuriefen, und Antwort gä ben“420. Vom „ewige[n] tausendstimmige[n] Gesprä ch“, als welches sich Novalis zufolge das „Leben des Universums“421 ä ußert, lä sst sich unter rauschenden Bä umen manch poetisches Bruchstü ck aufschnappen. Der Kü nstler sammelt, ü bersetzt, interpoliert und verdichtet: „Wen diese einzelnen Laute rü hren, der sezt [sic] mit wenigen Mitteln die ganze Rede zusammen“ (Eichendorff422). Den Romantikern sind die rauschenden Naturlaute eine „dunkle, aber nicht unverstä ndliche Rede“423. Ein rä tselhafter Anteil bleibt bei der Transposition in das Kunstwerk immer erhalten.424 Als

418 419 420

421

422 423

424

Baumstämme im Schnee …“ (Franz Kafka). Zur Rolle des Baumes in der Literatur, in: Dimiter Daphinoff (Hg.), Der Wald. Beiträge zu einem interdisziplinären Gespräch, Freiburg 1993 (= Studien und Texte zur Philologie und Literatur, Neue Folge 13), S. 101–135 (hier S. 127). Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Bd. 2, S. 54. Ebenda, Bd. 1, S. 166. [Ludwig Tieck], Wundersame Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter aus der Provence, in: ders., Volksmährchen, Bd. 2, S. 62. Novalis, Die Lehrlinge zu Saïs, in: Paul Kluckhohn, Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das dichterische Werk, S. 107. Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, S. 146. Richard Alewyn, Ein Wort über Eichendorff, in: Paul Stö cklein (Hg.), Eichendorff heute. Stimmen der Forschung mit einer Bibliographie, Darmstadt 1966, S. 7–18 (hier S. 14). Als „aussageloses, gleichwohl ungemein suggestives Signal“ bezeichnet Christiane Tewinkel das Rauschen (Vom Rauschen singen, S. 179). Fü r Beispiele ›sprechender‹ Landschaften siehe ferner Heinz Hillmann, Bildlichkeit der deutschen Romantik, S. 295f. Wie die gö ttliche Schö pfung, das ›Buch der Natur‹, so soll der romantischen Kunstauffassung nach auch die menschliche Schö pfung, das ›Buch der Kunst‹ („a reflection of the higher truth as revealed in nature“), in einer nur Eingeweihten verstä ndlichen Hieroglyphik verfasst sein, vgl. hierzu Liselotte Dieckmann, The Metaphor of Hieroglyphics in German Romanticism, in: Comparative Literature 7 (1955), Nr. 4, S. 306–312 (hier S. 310f.).

171

II. Wald, Musik und Waldmusik

kü nstlerisches Ausdrucksmittel steht das Rauschen deshalb fü r die „Erzeugung eines Bedeutungsü berschusses“425 , der sich ä sthetisch auswerten lä sst – um durch Suggestionen und Ahnungen an die subjektive Einbildungskraft des Adressaten zu appellieren, um ihn als ›Enträ tselnden‹ in die Performanz des Kunstwerks einzubinden. Wie im halbbewussten Zustand des Tagtraums werden im Rauschen des Waldes flü chtige, melancholische Erinnerungen426 oder auch Ahnungen427 wach. Die „Metaphorik des aufblitzenden Widerscheins“428 fü hrt unvermeidlich zu Trauer um das Verlorene, Flü chtige und Vergä ngliche, lä sst aber zugleich die trö stliche Mö glichkeit entgrenzter Teilhabe am tö nenden All erahnen, wie Scharnowski beschreibt: Das Rauschen von Bach, Wind, Wald und Wellen als Stimme der Natur bildet in der Romantik die akustische Untermalung des unbestimmten Gefü hls der Sehnsucht, aber auch des Schmerzes aufgrund von Verlust, der jedoch durch die Einbettung des Menschen in den Naturzusammenhang aufgehoben wird.429

Expressis verbis kommt diese „Einbettung“ etwa in den Gedichten Wilhelm Mü llers zur Sprache: In Die schöne Müllerin verspricht der rauschende Bach ein Ruhebett „[a]uf weichem Pfü hl“430, und auch die Zweige des Lindenbaums rauschen, „[a]ls riefen sie mir zu: / Komm her zu mir, Geselle, / Hier findst du deine Ruh’!“431 Das Rauschen transzendiert die universelle, zugleich rä umliche wie zeitliche Entfernung („Nun bin ich manche Stunde / Entfernt von jenem Ort“), fü r deren musikalische Darstellung sich Franz Schubert (D 911, Nr. 5) einmal mehr der bewä hrten, Echo imitierenden Hornidiomatik bedient (T. 57f.). Wer sich der ›Lockung‹ hingibt, folgt der paradoxen Verheißung, ausgerechnet am Quellort des Rauschens die ersehnte Ruhe und Stille zu finden: Versenkung und 425

426

427

428

429 430

431

Andreas Hiepko, Katja Stopka, Einleitung, in: dies. (Hg.), Rauschen, S. 9 und 11. Zur lyrischen Behandlung des Rauschens (insbesondere durch Eichendorff) siehe die einfü hrende Darstellung bei Christiane Tewinkel, Vom Rauschen singen. „Was dem Herzen kaum bewußt, / Alte Zeiten, linde Trauer“, wie es beispielsweise in Eichendorffs Abend heißt, in: ders., Gedichte, S. 40. Als Beispiel: „Und mich ergriff ein sü ßes Grauen, / Es rauscht’ der Wald geheimnißvoll, / Als mö cht’ er mir was anvertrauen, / Das noch mein Herz nicht wissen soll“, Nicolaus Lenau, Wanderung im Gebirge. Der Eichwald, in: ders., Gedichte, Stuttgart 31837, S. 174. Friedmar Apel, Der Mensch soll eine Harfe sein. Stimmung und Befindlichkeit in der Lyrik seit der Romantik, in: Friederike Reents, Burkhard Meyer-Sickendiek (Hg.), Stimmung und Methode, Tü bingen 2013, S. 169–181 (hier S. 173). Susanne Scharnowski, „Es spricht nicht, es rauscht und toset nur!“, S. 48. Wilhelm Mü ller, Des Baches Wiegenlied, in: ders., Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, Bd. 1, Dessau 1821, S. 47f. (hier S. 47). In seiner Vertonung des Mü ller-Gedichts Wohin? gelingt Schubert ein „syntaktischer Kunstgriff“, indem er den beiden Verszeilen „Ich hö rt’ ein Bä chlein rauschen“ und „Es singen wohl die Nixen“ identische Melodie und Harmonie zuweist und somit „Rauschen und Gesang als Ursache und Folge interpretierend in eins“ setzt, Elmar Budde, Vom Rauschen der Musik und dem Rauschen der Wälder, S. 16. Wilhelm Mü ller, Der Lindenbaum, in: ders., Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, Bd. 2, Dessau 1824, S. 83. Mü ller hat die Sammlung „[d]em Meister des deutschen Gesanges Carl Maria von Weber als ein Pfand seiner Freundschaft und Verehrung gewidmet“, [S. III].

172

5. Der klingende Wald

Auflö sung in der kü hlen Tiefe der Natur. Eine Annä herung ist die Flucht vor dem „lauten Weltgewü hle“ in die Waldesnacht, der Paul Heyse folgende Verse widmete: Waldesnacht, du wunderkü hle, Die ich tausend Male grü ß’, Nach dem lauten Weltgewü hle O wie ist dein Rauschen sü ß! Trä umerisch die mü den Glieder Berg’ ich weich ins Moos, Und mir ist, als wü rd’ ich wieder All der irren Qualen los.432

Derart „weich ins Moos“ eingebettet, kann das Verlangen nach der „schö ne[n], / Ach! mißgö nnte[n] Ferne“ einem „selige[n] Genü gen“ weichen: „Wildes Herz, nun gute Nacht!“ – Johannes Brahms, der das Gedicht 1874 als Strophenlied fü r fü nfstimmigen Chor (op. 62,3) setzte, gestaltete den Mittelteil (T. 12–16) pianissimo legato in einer kontrapunktischen, ›rauschenden‹ Unschä rfe, welche die doppelte Herabsetzung der Sinneswahrnehmung durch Wald und Nacht ebenso wie die verschwimmende Unterscheidung zwischen Subjekt und Natur einzufangen scheint.

c. „Luftschwingungen“ und „Empfindungsnerven“ Kurz referiert seien im Folgenden die Anmerkungen zum ›Waldesrauschen‹ des Botanikers Matthias Jacob Schleiden, der im 19. Jahrhundert mit seinen Vorträ gen und Publikationen ein großes Publikum erreichte. Schleiden thematisierte wiederholt die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur, wobei er entschieden und mitunter polemisch Position gegen die mystische Naturauffassung romantischen Schlages bezog. Seine populä r-naturwissenschaftlichen Ausfü hrungen geben somit eine komplementä re Sichtweise auf das ›Waldesrauschen‹, dokumentieren zugleich aber auch, wie verbreitet und wirkmä chtig die romantische Auffassung des Phä nomens zur Mitte des 19. Jahrhunderts war. In einer gedruckten Vorlesung ü ber Die Natur der Töne und Die Töne der Natur (1855) moniert Schleiden, gerade der Hö rsinn sei „mehr als irgend ein anderer Sinn Trä ger des Aberglaubens geworden und geblieben“. Besonders zä h halte sich der Aberglaube der „Musikenthusiasten, welche in der Musik die Stimmen einer hö heren Welt und eines hö heren Lebens wahrzunehmen glauben.“ 433 Zugrunde liege solchen Vorstellungen letztlich eine „physiologische Thatsache“: Kein anderer Sinn nä mlich stehe „in so unmittelbarer […] Verbindung mit den Empfindungsnerven unseres ganzen Kö rpers“ wie das Gehö r. Die Vorstellung eines sympathetischen 432

433

[Paul Johann Ludwig Heyse], Glückspilzchen, in: ders., Der Jungbrunnen. Neue Märchen von einem fahrenden Schüler, Berlin 1850, hier S. 35. M[atthias] J[acob] Schleiden, Die Natur der Töne und Die Töne der Natur, in: ders., Studien. Populäre Vorträge, Leipzig 1857, S. 93–132 (hier S. 97f.).

173

II. Wald, Musik und Waldmusik

›Ansprechens‹ zwischen Menschenseele und Weltgeist auf ihre immanent-physikalische Basis zurü ckfü hrend, schreibt Schleiden: „Wie die Saite mit tö nt, sobald sie von Luftschwingungen getroffen wird, […] so beben sä mmtliche Empfindungsnerven unseres Kö rpers mit, wenn der Gehö rnerv […] erschü ttert wird.“ Er verwirft die Idee, der Mensch habe in frü hester Zeit (dem ›goldenen Zeitalter‹ der Romantiker) aufgrund einer gemeinsamen Ursprache mit der Natur kommunizieren kö nnen, muss allerdings einrä umen, dass diese Vorstellung so weit verbreitet sei, „daß es selbst dem Aufgeklä rten schwer wird, sich von allen, auch den fernsten Consequenzen desselben frei zu machen.“434 – Anknü pfend bei seinen Ausfü hrungen zur Natur der Töne widmet Schleiden sich in einer 1870 verö ffentlichten „Schutzschrift“ Für Baum und Wald auch dem Waldesrauschen. Er erlä utert: Wohl selten oder nie ist die Temperatur in und um den Wald so vollstä ndig ausgeglichen, daß nicht ein leiser Luftzug durch die Bä ume streicht. Diese Stimme der Natur vom leisen undeutbaren Sä useln zum seltsamen Flü stern, dem man unwillkü rlich Worte unterzulegen versucht, bis zum lauten Rauschen und endlich zum wilden Brausen des Sturmes mit fast schmerzlich klingendem Aechzen und Knarren der Aeste und Zweige verleihen dem Walde ein Leben, das um so mä chtiger auf die Einbildungskraft wirkt, als wir nicht sogleich im Stande sind, die Tö ne einem bestimmten Einzelwesen beizulegen, das uns vielmehr als die Sprache der Natur selbst erscheint, von deren Verstä ndniß wir die Lö sung manchen Rä thsels glauben hoffen zu dü rfen.435

Wirkt Schleidens Referat romantischer Naturanschauung hier fast versö hnlich, so wird doch im Folgenden deutlich, dass er sie fü r einen ü berholten Standpunkt hä lt. Dazu greift er die romantische Vorstellung des ›goldenen Zeitalters‹ auf, wendet sie allerdings ins Defizitä re: Mä chtig muß diese geheimnißvolle Sprache auf d e n Menschen wirken, bei dem eine niedere Verstandesbildung die Anregungen der Phantasie lebendiger und unwiderstehlicher auftreten lä ßt und daraus erklä rt sich uns denn auch leicht die tiefe, meist religiö s gefä rbte Ehrfurcht, die der minder gebildete Mensch zu allen Zeiten und an allen Orten dem Walde dargebracht hat.436

434 435 436

Ebenda, S. 99. M[atthias] J[acob] Schleiden, Für Baum und Wald, S. 5. Ebenda, S. 5.

174

III. Wald und Romantik 1. Als Einleitung Es war einmal ein Fü rstentum, das „mit seinen grü nen, duftenden Wä ldern […], zumal da es gar keine Stä dte, sondern nur freundliche Dö rfer und hin und wieder einzeln stehende Palä ste darin gab, einem wunderbar herrlichen Garten“ glich. Dort hatten sich unter der liberalen Agide des Fü rsten Demetrius „verschiedene vortreffliche Feen von der guten Art“ angesiedelt, weshalb sich „beinahe in jedem Dorf, vorzü glich aber in den Wä ldern, sehr oft die angenehmsten Wunder begaben“. Als jedoch der tolerante Fü rst starb, folgte ihm der junge Paphnutius nach, der gemeinsam mit seinem Minister beschloss, sogleich per Dekret „die Aufklä rung“ einzufü hren. Dazu veranlassten die Beiden, im ganzen Lande „die Wä lder umhauen, den Strom schiffbar machen, Kartoffeln anbauen, die Dorfschulen verbessern, Akazien und Pappeln anpflanzen, die Jugend ihr Morgen- und Abendlied zweistimmig absingen, Chausseen anlegen und die Kuhpocken einimpfen“ zu lassen. Vor allem aber sollten die Feen als „Feinde der Aufklä rung“ in ihr Herkunftsland Dschinnistan abgeschoben werden, da sie „ein gefä hrliches Gewerbe mit dem Wunderbaren“ trieben und sich nicht scheuten, „unter dem Namen Poesie, ein heimliches Gift zu verbreiten, das die Leute ganz unfä hig macht zum Dienste in der Aufklä rung.“ Ihre „geflü gelten Pferde“ – so die Empfehlung des Ministers – soll man domestizieren, „indem man ihnen die Flü gel abschneidet und sie zur Stallfü tterung giebt, die wir doch hoffentlich zugleich mit der Aufklä rung einfü hren werden.“1 – – Diesen tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Umbruch schildert E.T.A. Hoffmann im ersten Kapitel seiner Mä rchenerzä hlung Klein Zaches (1819). Es ist die Dä mmerung des poetischen Zeitalters und der Anbruch einer prosaischen Moderne. In satirischer Sektion drö selt Hoffmann „die Aufklä rung“ in einen nü chternen Maßnahmenkatalog auf: Die Natur soll durch Infrastrukturmaßnahmen zugerichtet und verfü gbar gemacht, die Landwirtschaft nach rational-ö konomischen Erwä gungen reformiert und der Mensch selbst optimiert werden. Die Wä lder aber, als Quellorte und Refugien des Irrationalen, sollen gerodet werden, um den lichtscheuen poetischen Geschö pfen die Lebensgrundlage zu entziehen. Der rigiden Umstrukturierung organisch gewachsener, harmonischer Verhä ltnisse per staatlichem Dekret entspricht die von der Nü tzlichkeit diktierte Ablö sung urwü chsiger Wä lder durch zweckmä ßige „Akazien und Pappeln“ – der botanische Seitenhieb auf Napoleon, der die europä ischen Heerstraßen mit Alleen von Pyramidenpappeln sä umen ließ, stellt nicht die einzige Anspielung auf aktuelle zeitgeschichtliche Entwicklungen dar.2 – Mit den alten Wä ldern stirbt die Poesie. 1 2

Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, Klein Zaches genannt Zinnober, S. 21–32. Uberblickt man verschiedene Zuschreibungen deutscher Autoren, so muss die franzö sisch konnotierte Pappel als ›unpoetischste‹ Baumart gelten. Bei Schiller verbreiten Pappeln einen „fremde[n] Geist“

175

III. Wald und Romantik

2. Aufgeklä rte Ebene und romantischer Bergwald Es berü hrt uns bei nur einigem Sinn fü r die Romantik gewiß jedesmal unangenehm, wenn wir weite Landstrecken bereisen, wo der Wald im Laufe der Zeit spurlos verschwunden ist. C. von K.3

Im spä ten 18. und gesamten 19. Jahrhundert erblü hte „dendrophile Vielfalt in allen Gattungen der Literatur“ 4 , in voller Bandbreite „zwischen Sangbarem und Unsä glichem“ 5 . Das Nachdenken und Sprechen ü ber Wald erö ffnete Projektionsflä chen fü r unterschiedlichste Ideen und Visionen; er wurde zum ambivalenten Bedeutungsträ ger. Um sich dem evidenten Wertungswandel der Waldlandschaft anzunä hern, werden im Folgenden polare Zuschreibungskomplexe von ›Aufklä rung‹ und ›Romantik‹ bedient, die sich als idealtypische Bü ndel von Einstellungen, Werthaltungen und Anschauungsweisen fassen lassen. Solcher Dialektik liegt die Annahme zugrunde, dass sich ›Romantik‹ im historischen Modell als eine Verhaltensweise gegenü ber der ›Aufklä rung‹, als Form der ›Gegenaufklä rung‹ beschreiben lasse.6

3

4 5 6

in der Landschaft, sie stehen „in geordnetem Pomp“ als „Dienergefolg“ und erste Vorboten der nahen Stadt, Friedrich Schiller, Der Spaziergang, S. 54. Fü r Riehl ist die Pappel „das ä chte Sinnbild der von außen her aufgedrungenen Centralisation; sie ist der uniformmä ßige Baum, den man in Reihen aufmarschiren lassen kann gleich einer Paradeordnung von Soldaten.“ Die „napoleonische Vorliebe fü r die Pappel“ habe „die individuelle Schö nheit von hundert deutschen Landschaftsbildern“ zerstö rt, Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, Bd. 1: Land und Leute, Stuttgart 1854, S. 48–50. Hermann Masius charakterisiert in seinen vielgelesenen Naturstudien die Pappel als einen „Baum, der fast gar keine Individualitä t entwickelt“ und sich deshalb „leicht in das geistlose Ebenmaß“ der franzö sischen Gartenkunst einfü ge; in ihrer „ganzen Nü chternheit“ gehö re sie „weder in die romantische Waldwildniß, noch an das Feld, das der Schweiß des Landmanns bebaut; vor Kasernen und Zollhä usern wollen wir sie uns gefallen lassen.“ Vom Wind bewegt, bringe die Pappel nur „ein hartes, unmusikalisches Getö n“ hervor, „belä stigend wie ein Geschwä tz, dem man sich nicht zu entziehen vermag.“, Hermann Masius, Die norddeutschen Waldbäume, in: ders., Naturstudien, S. 19–21. C. von K., Die Tellurische Bedeutung der Wälder, die Bestimmung und der Werth derselben für die Landwirtschaft, sowie das Auftreten […] der Kartoffelkrankheit in Folge der Entwaldungen ganzer Gegenden, Breslau 1860, S. 6. Alexander Demandt, Der Baum, S. 310. Erhard Schü tz, Dichter Wald, in: Ursula Breymayer, Bernd Ulrich (Hg.), Unter Bäumen, S. 107. Die historische Einordnung der Romantik als ›Gegenaufklä rung‹ wurde wesentlich durch den Philosophen Isaiah Berlin (Vico and Herder, 1976) geprä gt. Freilich stellt solch binä rer Schematismus, der die Geschichte der Moderne „im Bild einer Doppelhelix zweier geistiger Krä fte“ (Theo Jung) darstellt, eine historiographische Verkü rzung dar, die vornehmlich heuristischen Zwecken dienlich ist. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Begrifflichkeit bietet Theo Jung, Gegenaufklärung: Ein Begriff zwischen Aufklärung und Gegenwart, in: Dietmar J. Wetzel (Hg.), Perspektiven der Aufklärung. Zwischen Mythos und Realität, Mü nchen 2012 (= Laboratorium Aufklä rung 12), S. 87–100. Sieferle versteht Aufklä rung und Romantik als zwei idealtypische „Reaktionsweisen auf den Prozeß der Moderne“, Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, Mü nchen 1984 (= Die Sozialverträ glichkeit von Energiesystemen 5), S. 42. Trepl unterscheidet in seiner Monographie zur Idee der Landschaft (2012) vier idealtypische Positionen: liberale und demokratische Aufklä rung, Romantik und Konservativismus.

176

2. Aufgeklä rte Ebene und romantischer Bergwald

Ein im Untersuchungszeitraum wiederholt bemü htes und sehr anschauliches Diskursmodell fü r die Gegenü berstellung von Aufklä rung und Romantik ist die Vergleichung von Ebene und Bergwald: Die im Wortsinne ›aufgeklä rte‹ Landschaft wird als waldfreies und kultiviertes Flachland vorgestellt, die romantische Landschaft hingegen als waldige Gebirgswildnis. Die enge, gleichsam ›verdichtete‹ Waldgebirgslandschaft ist mit Gefü hl und Poesie, ü bersichtlich plane Weite hingegen mit Verstand assoziiert.7 Die in Hoffmanns Klein Zaches geschilderten Rodungen kö nnen in diesem Sinne als charakteristisch fü r die romantische Sicht auf die Aufklä rung gelten: Das Diktat der Vernunft wird als zerrü ttende Bedrohung einer vormaligen Harmonie von Mensch und Natur erachtet. Es steht zu fü rchten, dass es sich bei der fortschreitenden Umwandlung des Unbekannten in das Bekannte und des Unbewussten in das Bewusste um einen irreversiblen Verbrauchsprozess handelt, an dessen Ende das Wunderbare aus der Welt verschwunden sein wird.8 Mit den Wä ldern schwindet das Unzeitgemä ße, Irregulä re und Irrationale aus dem Erfahrungsbereich: „Die Burgen sind geschleift, die Wä lder ausgehauen, alle Wunder haben Abschied genommen“9, bedauert eine altdeutsch gekleidete Gestalt in Eichendorffs Ahnung und Gegenwart. Wä hrend die Aufklä rung von der Grundannahme allgemeingü ltiger Gesetzmä ßigkeiten und Ideale (Schö nheit, Nü tzlichkeit, Vernunft) aus argumentiert und somit zu der Annahme einer universalen, menschlichen Bedü rfnissen angepassten Ideallandschaft gelangen kann, pocht die Romantik auf den Wert des Einzigartigen und Besonderen. Als organisch gewachsene Ganzheit ist aus romantischer Sicht jede Landschaft eine unwiederholbare Individualitä t und dadurch dem kü nstlich Gemachten maßlos ü berlegen.10 Der Wald der Aufklä rung ist ein flä chiges Konglomerat nü tzlicher Pflanzen, oder noch verdinglichter und konziser: ein quantifizierbares Volumen nutzbaren Holzes. 11 Der Wald der Romantik hingegen ist unbezifferbar mehr als die Summe seiner Bä ume, weit mehr als sein ganzer materieller Bestand. – 7

8 9 10

11

Harrison weist darauf hin, dass solche Opposition bereits in René Descartes’ Discours de la méthode (1637) angelegt ist. Wald lä sst sich dort als Analogie fü r das historisch Uberkommene der Tradition verstehen, das die Methode des eigenen Verstandesgebrauchs irreleitet; auf der „leere[n] Ebene“ hingegen kö nnen die mathematischen Deduktionen und rationellen Abstraktionen der Geometrie geradlinig und ungehindert verlaufen, Robert P. Harrison, Wälder, S. 135–140. „Das Enge der Gebirge scheint ü berhaupt auf das Gefü hl zu wirken“, schreibt Heinrich von Kleist 1800 in einem Brief an seine Verlobte, „und man findet darin viele Gefü hlsphilosophen, Menschenfreunde, Freunde der Kü nste, besonders der Musik. Das Weite des platten Landes hingegen wirkt mehr auf den Verstand, und hier findet man die Denker und Vielwisser.“ Es sei ihm deshalb „lieb, daß hinter Deinem Hause die Laube eng und dunkel ist“, denn „[d]a lernt man fü hlen“, Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, Briefteil vom 3. September 1800, zitiert nach Rudolf Walbiner (Hg.), Reisebriefe deutscher Romantiker, S. 129–137 (hier S. 131). Nach Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 109. Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, S. 398. Zu dieser idealtypischen Gegenü berstellung siehe vor allem Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde, S. 43 und Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 174f. Der Konservativismus geht hingegen – kurz gesagt – davon aus, dass es fü r jede individuelle Kultur eine spezifische Ideallandschaft gebe. Der aufklä rerischen Definition von Wald als einer mit Bä umen bestandenen Flä che mit Nutzwert, wie sie in Le Roys Beitrag fü r die Encyclopédie von Diderot niedergelegt ist, widmet sich Harrison unter der Kapitelü berschrift: „Was ist Aufklä rung? Eine Frage fü r Fö rster“, Robert P. Harrison, Wälder, S. 140–153.

177

III. Wald und Romantik

„Komm, angenehme Zeit! beschleunige den Lauf! / Mach alle Lä nder glatt, heb alle Hü gel auf!“ 12 In diesen Versen Johann Christoph Gottscheds (1700–1766) drü ckt sich Fortschrittsoptimismus aus, der auf menschliche Kulturarbeit und die gleichmachende Kraft der Erosion setzt. Als Vertreter der Aufklä rung kann Gottsched kaum erwarten, „bis alles eben ist“ 13 . „Stein und Wald“ mü ssten weichen, damit einst auch aus der rü ckstä ndigen Oberpfalz, die ihm gegenwä rtig noch ein „wü stes, rauhes Land, der Faunen Aufenthalt“ dü nkt, „Wo kein gesittet Volk in schö nen Stä dten hauset, / Wo, statt der Musen, Pan auf heischern Rö hren brauset“, ein „neues Paradies“ 14 werden kö nne. Gottsched ist ü berzeugt: „So wird alsdann die Welt, wo nicht die Schlü sse trü gen, / Viel krä ftiger als itzt der Menschen Sinn vergnü gen.“ – Eben diese aufklä rerische Zuversicht konnten und wollten die Romantiker nicht teilen. Sie hielten sich lieber an Stein und Wald. Das Bild der aufgerä umten, „ausgewalzt[en]“ Landschaft erschien ihnen als Dystopie, wie sie etwa der Staatstheoretiker Adam Mü ller (1779–1829), ein Vertreter der politischen Romantik, entwirft, um gegen die Einfü hrung der Gewerbefreiheit zu protestieren: Erst mü ßt ihr die Erde mit ihren unendlichen Climaten und eigenthü mlichen Lokalitä ten in eine große gleichfö rmige Flä che ausgewalzt haben, erst muß alle Vorliebe der Menschen fü r das Nä here und Angewö hnte und fü r das Besondere, Erworbene ausgerottet seyn, ehe diese unbedingte Gewerbefreyheit […] mö glich wä re.15

Das Landschaft und Gesellschaft gleichermaßen erfassende Szenario universeller Egalisierung droht aus romantischer Sicht in trister Monotonie und Gleichschaltung zu enden. Aufgrund der vorausgesetzten (klimatheoretischen) Interdependenz von „Land und Leuten“ mahnt dann auch Riehl: „Rottet den Wald aus, ebnet die Berge und sperrt die See ab, wenn ihr die Gesellschaft in dem gleichgeschliffenen Universalismus der Geistesbildung nivelliren wollt.“16 Um den historischen Wandel des ›landschaftlichen Auges‹ zu exemplifizieren, weist Riehl auf signifikante Unterschiede bei der Darstellung der Erdoberflä che im Laufe der Kunstgeschichte hin: „Landschaften und Stä dteprospekte aus der Vogelperspektive zu zeichnen, wo jede Erhebung des Bodens mö glichst verflacht, jede klare Sonderung der einzelnen Grü nde mö glichst verwischt erscheint“, stellt fü r Riehl eine „Lieblingsgrille der 12

13

14 15

16

Johann Christoph Gottsched, Neueste Gedichte auf verschiedene Vorfälle, Regensburg 1749, Nr. IV, S. 28–35 (hier S. 34). „Sagt, die ihr der Natur bestimmtes Schicksal wißt, / Wie lange wä hrt es noch, bis alles eben ist? / Bis aller Berge Sand und Staub die See getrunken, / Und aller Felsen Klump im Boden ist versunken? / Wie flach, wie rund, wie schö n, wird dann der Erdball seyn!“, ebenda, S. 33. Ebenda, S. 28 und 33. Adam Mü ller, Von der Gewerbefreyheit, in: ders., Adam Müller’s vermischte Schriften über Staat, Philosophie und Kunst, Bd. 1, Wien 21817, S. 76–87 (hier S. 77). Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 31. Als sich Gottscheds Vision des ›beschleunigten Laufs‹ im 19. Jahrhundert mit dem Siegeszug der Eisenbahn ein Stü ck weit verwirklichte, hielt man dieser Entwicklung bezeichnenderweise den Wald entgegen, so etwa in Gedichten von Nicolaus Lenau, An den Frühling 1838, in: ders., Neuere Gedichte, Stuttgart 21840, S. 214–216 (hier S. 214f.) und Justinus Kerner, Im Eisenbahnhofe, in: ders., Der letzte Blüthenstrauß, Stuttgart 1852, S. 62–64 (hier S. 63).

178

2. Aufgeklä rte Ebene und romantischer Bergwald

ä chten Zopfzeit“17 dar. „Wenn nur eine Gegend recht eben und baumlos war, dann getraute man sich schon die ergö tzlichste Landschaft aus ihr hervorzuzaubern.“18 Besonders deutlich zeige sich dies bei Paradiesdarstellungen des 18. Jahrhunderts.19 Die „romantische Schule“ habe hingegen eher zur Stilisierung ins Schroffe und Uberhö hte geneigt, wodurch sie den „Canon landschaftlicher Schö nheit […] dem mittelalterlichen wieder in ä hnlicher Weise nä herte, wie ü berall die moderne Romantik zum Mittelalter zurü ckgriff.“20 Dass man allerdings „in mittelaltrigen Bildern […] fast nie den Wald gemalt“ finde, obgleich die damaligen Kü nstler „doch noch ein ganz anderes Urbild von der ungefä lschten und unverkü mmerten Herrlichkeit des Waldes [hatten] als wir, fü r die fast nur noch ein nach Maß und Elle abgegrenzter, vom Beil verwü steter forstculturlicher Wald besteht“, erklä rt Riehl dadurch, dass die Menschen erst dann „ein landschaftliches Auge fü r denselben gewannen […], als sie aus dem Walde herausgekommen, als sie ihm fremder geworden waren und er selber zu verschwinden begann.“21 Nach seiner Auffassung liegt den Wandlungen in der ä sthetischen Bewertung des Waldes eine Dialektik historischer Prozesse zugrunde. So sei es etwa in der Ara Karls des Großen noch der „weltgeschichtliche Beruf […] des gesammten Zeitalters“ gewesen, „zu roden, zu klä ren, Licht zu machen“; alles sei dem „Ausgange des Waldes“ als der „Grä nzmark der Nacht und der alten Barbarei“ zugestrebt.22 Der dialektischen Gesetzmä ßigkeit folgend wird ä sthetische Vergegenwä rtigung als Kompensationsform realen Verlustes verstanden, woraus Riehl erklä rt, warum „jetzt“ (im Jahr 1850) der Wald wieder ideelle Hochkonjunktur verzeichne: Als der Wald noch die Regel und das Feld die Ausnahme in Deutschland bildete, galten unstreitig die Rodungen, die Oasen des geklä rten Landes, das Lichte, Freie fü r das landschaftlich Anziehendste, wä hrend uns, die wir zu viel des Lichten erhalten haben, jetzt wieder die Oase des Waldesdunkels verlockender erscheint.23

17 18

19

20

21 22 23

Wilhelm Heinrich Riehl, Das landschaftliche Auge, S. 59–64 (hier S. 62). Ebenda, S. 58. Heinrich von Treitschke pflichtet bei: „Das achtzehnte Jahrhundert hatte sich, gleich den Alten, in der reichangebauten fruchtbaren Ebene wohl gefü hlt, die neue Zeit suchte nach den romantischen Reizen der Natur; die Jugend lernte die unschuldigen Freuden der frischen, freien Wanderlust wieder schä tzen […]. Die Welt des Mä rchenhaften, Geheimnißvollen, Dunkelklaren wurde jetzt erst der deutschen Dichtung ganz erschlossen.“ Auch seien durch diesen Wandel „[u]ralte, lä ngst verschollene Empfindungen des germanischen Volksgemü ths […] wieder lebendig“ geworden, Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte, S. 207. „Auf Bibelvignetten aus dem achtzehnten Jahrhundert ist das Paradies, also das Urbild jungfrä ulicher Naturherrlichkeit, als die langweilige Ebene eines vö llig hü gellosen Gartens dargestellt, in welchem der liebe Gott seine eigene Arbeit bereits corrigirt und mit der Scheere eines franzö sischen Gä rtners aus den Baumgruppen geradlinige Alleen, Pyramiden u. dgl. herausgeschnitzelt hat.“, Wilhelm Heinrich Riehl, Das landschaftliche Auge, S. 64f. Ebenda, S. 61f. Siehe hierzu auch August Langen, Verbale Dynamik, S. 181f. und Ruth Groh, Dieter Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen, S. 54f. Wilhelm Heinrich Riehl, Das landschaftliche Auge, S. 65. Ebenda, S. 66f. Ebenda, S. 66.

179

III. Wald und Romantik

3. Das Kleid der Venus [U]m die ganze Landschaft aber hä ngt, wie ein grü ner Schleier, das duftige, grü ne Waldleben. Robert Hahnemann24

„Da kö nnen Sie auch der Venus von Milo Kleider anziehen“ 25, soll Großherzog Alexander von Sachsen-Weimar den Forstleuten entgegnet haben, die ihm den Vorschlag unterbreiteten, die im 18. Jahrhundert kü nstlich ›mediterranisierten‹ – das heißt: kahlgeschlagenen – Muschelkalkhä nge um Jena wieder aufzuforsten. Der bemä ntelnde Wald hä tte den Genuss der ›nackten‹, klassizistisch-plastischen Ideallandschaft gestö rt. Der aufgeklä rte Blick auf die entblö ßte Natur wä re getrü bt, die sinnliche Augenweide klarer Linien unter einem laubgrü nen Schleier nur mehr zu erahnen gewesen.26 – Damit fü hrt die Anekdote zu eben jenen Qualitä ten des Waldes, die ihn fü r die Landschaftskunst der Romantik so faszinierend und reizvoll machen mussten: Seine Opazitä t, Dichte und Obskuritä t, seine scheinbare Zeitlosigkeit, keusche Unzugä nglichkeit und unergrü ndliche ›Tiefe‹. Durch „Neuinszenierung der Welt“27 sollte die als ungenü gend, fahl und hinfä llig empfundene Normalitä t der empiristischen „Weltperiode des Nutzens“ (Novalis28) ü berwunden werden. Die dafü r durchzufü hrende Operation beschreibt der bekannte Aphorismus des Novalis: Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ü nglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewö hnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Wü rde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es […].29

Beim Versuch, diese universelle „Operation“ konkret auf den Wald zu beziehen, lassen sich schematisch zumindest zwei Perspektiven unterscheiden: Zum einen 24

25

26

27 28

29

Robert Hahnemann, Die Tautenburg, in: Friedrich von Sydow (Hg.), Thüringen und der Harz, mit ihren Merkwürdigkeiten, Volkssagen und Legenden. Historisch-romantische Beschreibung aller […] malerischen Gegenden und sonst beachtenswerther Gegenstände aus dem Reiche der Geschichte und Natur, Bd. 1, Sondershausen 1839, S. 43–48 (hier S. 43). Zitiert nach Gerhard Hard, Arkadien in Deutschland. Bemerkungen zu einem landschaftlichen Reiz, in: Die Erde 96 (1965), Heft 1, S. 21–41 (hier S. 24). Die positive ä sthetische Wertung der (kü nstlichen) Steppenheide verweist auf den klassizistischen „Kult der klaren, nackten Gestalt, des reinen Umrisses und der edlen Linie“, wie er besonders durch Johann Joachim Winckelmann geprä gt wurde; siehe hierzu ebenda, S. 24–30. Lothar Pikulik, Erzähltes Welttheater, S. 73ff. Novalis, ›Das Allgemeine Brouillon‹, in: Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das philosophische Werk II, Nr. 392, S. 312f. Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen, in: Richard Samuel (Hg.), Novalis: Das philosophische Werk I, Nr. 105, S. 545.

180

4. Romantische Landschaft

kann Wald (als Objekt) ›romantisiert‹ werden, wodurch – pointiert gesprochen – der nach ö konomischer Ratio eingerichtete, gemeine Wirtschaftswald „einen hohen Sinn“ erhalten, der durch Kataster und Wege erschlossene und akribisch umgrenzte Forst die „Wü rde des Unbekannten“ und einen „unendlichen Schein“ (wieder)erlangen soll. – Zum anderen kann Wald selbst als der operative Faktor begriffen werden, als das romantisierende Element einer Landschaft (oder etwa auch einer Handlung), das dem Gesamteindruck „ein geheimnißvolles Ansehn“ verleiht. Wiederum pointiert: Man fü ge Wald hinzu, um eine ›ent-deckte‹30 Landschaft zu ›romantisieren‹. Denn eine verhü llte, unü bersichtliche Gegend weckt den Sehnsuchtsreiz31; sie erscheint – um an die eingangs zitierte Anekdote anzuknü pfen – „grö ßer, erhabener und erhö ht die Einbildungskraft und spannt die Erwartung gleich einem verschleierten Mä dchen“ (Caspar David Friedrich32). Gerade im Hinblick auf die frü hromantische Literatur spricht Wolfgang Baumgart von einer quasi-medialen Auffassung des Waldes als „Prisma zwischen Auge und Schauobjekt, das die Blicklinie bricht und das Objekt ›romantisiert‹.“ 33 Wald stellt sich gleichsam als ›pittoresker Widerstand‹ zwischen Betrachter und Erkenntnisgegenstand. Im Folgenden wird versucht, diese romantisierende Wirkung auf spezifische, die sinnliche Wahrnehmung modifizierende Qualitä ten des Waldes zurü ckzufü hren. Zuvor aber soll kurz umrissen werden, was ü berhaupt unter einer ›romantischen‹ Landschaft zu verstehen ist und welcher Stellenwert dem Wald innerhalb der selbigen zukommt.

4. Romantische Landschaft „Das Romantische ist […] ü berhaupt in der Natur, wie in der Kunst, das mit Lieblichkeit gemischte Große“ 34 , erklä rt das Handbuch der Aesthetik (1803) von Johann August Eberhard – in Anbetracht der schillernden Vieldeutigkeit des gegen

30

31

32

33 34

Monika Wagner charakterisiert die aufklä rerische Naturkonzeption folgendermaßen: „Um von der Natur zu lernen, durfte sie nicht lä nger religiö s tabuisiert werden, sondern es galt sie zu entdecken.“ Programmatisch zeige dies etwa ein von Johann Heinrich Fü ssli entworfenes Frontispiz zu Erasmus Darwins Temple of Nature: „Der Tempel der Natur wird geö ffnet, das Standbild der vielbrü stigen Natura entschleiert, ihre Geheimnisse gelü ftet.“, Monika Wagner, Naturzerstörung und Natursehnsucht, S. 58. Prä gnant ist diese Wirkung etwa in einer Außerung Richard Wagners ü ber die Bayreuther Umgebung ausgesprochen: „Diese Konturen niederer waldiger Hü gel haben mich frü her immer sehnsü chtig, wehmü tig gestimmt; ich wollte ü ber sie hinaus, dorthin, nach der andren Region.“, zitiert in Cosimas Tagebucheintrag vom 6. September 1871, CT I, S. 435. Zitiert nach Joseph Leo Koerner, Caspar David Friedrich, S. 205. Friedrich bezieht sich hier auf eine Gegend, die „sich in Nebel hü llt“. Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 89. Johann August Eberhard, Handbuch der Aesthetik für gebildete Leser aus allen Ständen, Bd. 2, Halle 1803, Brief 115, S. 414–421 (hier S. 416).

181

III. Wald und Romantik

Ende des 17. Jahrhunderts in die deutsche Sprache eindringenden Begriffs ›romantisch‹35 eine erstaunlich konzise, geradezu formelhafte Charakterisierung. „Eine rauhe Gebirgsscene kann durch ihre wilde und imposante Grö ße erhaben seyn“, fü hrt Eberhard aus, „es mü ssen aber erst lieblichere Umgebungen sich dazumischen, wenn sie romantisch werden soll.“36 Gerade die kontrastreiche, ›wildschö ne‹ Mannigfaltigkeit der (Schweizer) Alpen, mit ihren schroffen Felsen, tosenden Sturzbä chen, klaren Seen, verwitterten Gehö lzen und blü henden Almen galt als Inbegriff romantischer Landschaft. Eberhards Beispiel zeigt auch, dass sich in Bezug auf Landschaften die Bedeutungen von ›romantisch‹ und ›pittoresk‹ (beziehungsweise ›malerisch‹) vermischten. Gerade im alltä glichen Gebrauch wurden die Begriffe weitgehend undifferenziert angewendet.37 Gemeint war jedenfalls ein ä sthetisches ›genus medium‹ im Spannungsfeld des Schö nen und des Erhabenen, welches in besonderem Maße die kreative Imagination des Betrachters anregt.38 Naturszenerien, bei deren Betrachtung die aktive ›kü nstle-

35

36

37

38

Bezeichnend ist die ironische Ausflucht, die Friedrich Schlegel in einem Brief an seinen Bruder August Wilhelm nimmt: „Meine Erklä rung des Wortes Romantisch kann ich Dir nicht gut schicken, weil sie – 125 Bogen lang ist.“, zitiert nach Joseph Leo Koerner, Caspar David Friedrich, S. 29–35 (hier S. 30). Seiner Auffassung der romantischen „Dichtart“ als „progressive Universalpoesie“ musste jeder Versuch definitorischer Eingrenzung entgegenstehen, vgl. sein berü hmtes Athenä ums-Fragment Nr. 116, in: Hans Eichner (Hg.), Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I [1769–1801], Mü nchen 1967 (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe 2), S. 182. Letztlich bedeutet der Begriff „mehr den Verzicht auf Definition als diese selbst“, so die treffende Formulierung von Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners, in: ders., Reden und Aufsätze, Bd. 1, Frankfurt am Main 1974 (= Gesammelte Werke 9), S. 363–426 (hier S. 403). Eine hilfreiche Differenzierung der unterschiedlichen Hauptbedeutungen im Sprachgebrauch um 1800 bietet die Einleitung von Hans Eichner in: ders. (Hg.), Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I, hier S. LIII–LVIII. Siehe außerdem Dieter Borchmeyer, Zur Typologie des Klassischen und Romantischen, in: Walter Hinderer (Hg.), Goethe und das Zeitalter der Romantik, Wü rzburg 2002 (= Stiftung fü r Romantikforschung 21), S. 19–29 (hier besonders S. 26f.) und Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 48f. Johann August Eberhard, Handbuch der Aesthetik, Bd. 2, Brief 115, S. 416. William Gilpin, der erste Theoretiker des Pittoresken, fü hrt „an intermixture of highlands, and sea“ als Beispiel einer malerischen Szenerie an, in der kontrastierende Schroffheit (erhaben) und Lieblichkeit (schö n) zusammen „a very pleasing mode of composition“ ergeben: „The roughness of the mountains above, and the smooth expanse of the waters below, wonderfully aid each other by the force of contrast.“, William Gilpin, Observations on the River Wye, and Several Parts of South Wales, &c. Relative Chiefly to Picturesque Beauty; Made in the Summer of the Year 1770, London 21789, S. 119. Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 49–54. Raymond weist auch darauf hin, dass der Begriff ›romantisch‹ zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch seine inflationä re Verwendung in der Reiseliteratur an Aussagekraft verlor und man deshalb dazu ü berging, „die jeweils besondere landschaftliche Eigenheit, obschon sie eigentlich in der Bedeutung von romantisch enthalten war, nochmal ausdrü cklich zu nennen“, ebenda, S. 133–135. Zur Verbindung des Romantischen mit dem Pittoresken und zum typischen „Uberraschungseffekt“ siehe auch Dagmar Ottman, Gebändigte Natur, S. 361–363, sowie Lothar Pikulik, Erzähltes Welttheater, S. 119–125. Hierzu Rolf Lessenich, „Half created and half perceived“: Romantische Landschaft als Konstruktion des Betrachters, in: Anja Ernst (Hg.), Die Romantik. Ein Gründungsmythos der Europäischen Moderne, Gö ttingen 2010 (= Grü ndungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst 3), S. 325–336 (hier S. 325f.), Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 136 und Eckhard Lobsien, Landschaft als Zeichen, S. 163. Zur Ubertragung des aus der klassischen Rhetorik stammenden Erhabenheitsbegriffs auf Gegenstä nde der ä ußeren Natur siehe Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 42f., sowie Ruth Groh, Dieter Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen, S. 79–83 und Antonia Dinnebier, Der Blick auf

182

4. Romantische Landschaft

rische‹ Eigenleistung des Betrachters in besonderer Weise sinnfä llig wurde, erfreuten sich in der Nachfolge des klassischen Empirismus seit dem frü hen 18. Jahrhundert zunehmender Beliebtheit. Von den im engeren Sinne (nur) ›schö nen‹ Landschaften, in denen sich die konstitutiven Elemente unter der Dominanz des Similaritä tsprinzips fast wie von selbst zur Harmonie fü gen, unterscheiden sich diese als ›pittoresk‹, ›malerisch‹ oder ›romantisch‹ bezeichneten dadurch, dass gerade die ihnen inhä rente Mannigfaltigkeit unä hnlicher, ja kontrastiver Elemente einen „gesteigerten Anreiz zur Ausbildung von Vorstellungen“ bietet und die „Uberwindung des pittoresken Widerstands eine intensivierte Wirkung“ hervorbringt.39 Der Betrachter einer pittoresken Szenerie wird durch den ersten Anblick ›gefesselt‹ und fü hlt sich sodann aktiv in den Prozess der Bildwerdung ›eingebunden‹.40 Anschaulich ä ußerte sich das neue landschaftliche Rezeptionsbewusstsein um die Wende zum 19. Jahrhundert in der Beliebtheit der ›Claude glasses‹, benannt nach dem franzö sischen Maler Claude Lorrain. Touristen wandten auf ihren ›pittoresken Reisen‹ den natü rlichen ›Sehenswü rdigkeiten‹ den Rü cken zu und blickten in diese dunkel getö nten, konvexen Taschenspiegel, um den hinter ihnen liegenden Naturausschnitt verkleinert, gerahmt und in harmonischen Farbtö nen zu genießen.41 So suchte man ›draußen‹ in der Natur die vorbildlichen Gemä lde eines Lorrain, eines Salvator Rosa oder Nicolas Poussin projektiv wiederzufinden, „wie ein Palimpsest hinter der Oberflä che des Wirklichen“42.

39 40

41

42

die schöne Landschaft, S. 66–68. Von einer „Lebensanschauung […], in der Natur und Geist sich innig vermä hlen“, spricht Siegfried Goslich, Die deutsche romantische Oper, S. 21. Eckhard Lobsien, Landschaft als Zeichen, S. 159–177 (hier S. 168f.). Richards kennzeichnet „the picturesque“ als „programme of capturing and captivating the spectator“ und einen „mode of active engagement, as opposed to passive enjoyment“, der „energetic involvement rather than the relaxation associated with the beautiful“ voraussetzt, Annette Richards, The free fantasia, S. 1–14 (hier S. 14). Siehe auch Antonia Dinnebier, Der Blick auf die schöne Landschaft, S. 66–68. Zu den ›Claude glasses‹ und ihrer hermeneutischen Funktion auf der ›Grand Tour‹ siehe etwa John R. Watson, Picturesque Landscape, S. 12–15 und Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 295f. Lobsien bezeichnet dieses „pittoreske Reisen“ als eine „ganz neue Kunstform“ des 18. Jahrhunderts, Eckhard Lobsien, Landschaft als Zeichen, S. 172. In seinem Briefroman William Lovell vergleicht Tieck den Vorgang innerer Prä gnanzbildung mit einem sammelnden Spiegel: „Freilich kann alles, was ich außer mir wahrzunehmen glaube, nur in mir selber existiren. Meine ä ussern Sinne modificiren die Erscheinungen, und mein innerer Sinn ordnet sie und giebt ihnen Zusammenhang. Dieser innere Sinn gleicht einem kü nstlich geschliffenen Spiegel, der zerstreute und unkenntliche Formen in ein geordnetes Gemä hlde zusammenzieht.“, Ludwig Tieck, William Lovell, Bd. 1, Berlin 1795, S. 320. Antonia Dinnebier, Der Blick auf die schöne Landschaft, S. 70. Stendhal erwä hnt in seiner RossiniBiographie, dass der Wald von Viterbo zur Touristenattraktion wurde, weil Lorrain und Poussin dort Anregung zu „tant de beaux paysages“ gefunden hatten, Stendhal, Vie de Rossini, Bd. 1, Paris 1824, S. 111. Zur Rolle der (italienischen) Landschaftsmalerei im Prozess der Neubewertung ›wilder‹ Landschaftstypen siehe Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 29–32. Wirksamkeit als ä sthetischer Ratgeber fü r die Landschaftswahrnehmung entfaltete die Landschaftsmalerei nicht zuletzt dadurch, dass das ›korrekte‹ Betrachten und Erleben pittoresker Szenerien selbst zum Inhalt bildlicher Darstellung wurde – gedacht sei etwa der prominenten ›Rü ckenfiguren‹ Caspar David Friedrichs, siehe hierzu Joseph Leo Koerner, Caspar David Friedrich, besonders S. 182–186 und 205f. Hohl zufolge fungieren Friedrichs Bildfiguren nicht als Staffage, sondern fassen „kompositionell und gedanklich das Erlebnis der unendlichen Landschaft in sich zusammen“ und vermitteln im Sinne Schellings zwischen Innen- und Außenwelt, Hanna Hohl, Das Thema Landschaft in der deutschen Malerei des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, in: Alfred Hartlieb von Wallthor, Heinz Quirin (Hg.), ›Landschaft‹ als interdisziplinäres Forschungsproblem, S. 45–53 (hier S. 46).

183

III. Wald und Romantik

Richards charakterisiert das Pittoreske als eine „aesthetic of instability and surprise, rough textures and partial concealments“, die sich gerade durch unvorhersehbares Changieren zwischen den Kategorien des Schö nen und Erhabenen auszeichnet. 43 Ausdrü cklich hervorgehoben werden die krause Irregularitä t 44 , das Moment dynamischer, plö tzlicher Abwechslung und die spannungsvollen „Gegenstellungen“, welche die vielfä ltigen Landschaftselemente zueinander einnehmen, so etwa in Hirschfelds Theorie der Gartenkunst: Das Romantische oder Bezaubernde in der Landschaft entspringt aus dem Außerordentlichen und Seltsamen der Formen, der Gegenstellungen und der Verbindungen. Man findet es am meisten in gebirgigen und felsigen Gegenden, in versperrten Wildnissen, wohin die geschä ftige Hand des Menschen noch nicht gedrungen ist. […] Aber außer dem, was hier die Form bewirkt, wird auch durch starke und auffallende Entgegenstellungen und kü hne ü berraschende Zusammensetzungen das Romantische erzeugt. […] Wo die rauhe finstre Wildniß sich mit einem kleinen stillen Thale voll glä nzender Blumen paart, wo ein Waldstrom am Felsen durch blü hende Gesträ uche herabschä umt, und das blinkende Wasser zwischen den grü nen Blä ttern umherirrt, wo kahle weiße Felsspitzen mitten ü ber die Oberflä che einer schö nen Waldung hervorragen – da ist ein Anfang von diesem Charakter.45

Was bereits aus den angefü hrten Beispielen hervorgeht, wird von Hirschfeld an anderer Stelle nochmals expliziert: „Ohne Gehö lz und Wasser wü rde den schö nsten Formen der Oberflä che des Erdbodens Leben und Interesse fehlen.“ Gehö lze gefallen und reizen auf eine mannigfaltige Art. Ihre Grö ße und Ausdehnung, ihr Umzug, ihre Stellung, ihre grö ßere oder geringere Dichtigkeit, die verschiedenen Grade in dem Dunkeln oder Hellen ihrer Belaubung, sind reiche Quellen der Abwechselung und der Ergö tzung. Sie sind 43 44

45

Annette Richards, The free fantasia, S. 1–14. „[A]lles, was von der Regelmä ßigkeit der Linien, von der gewö hnlichen Beschaffenheit der Formen abweicht; alles, was die Einbildungskraft aus ihrer alltä glichen Sphä re heraus in eine Reihe neuer Bilder versetzt“, ist in einer romantischen Gegend am rechten Platz, schreibt C[hristian] C[ay] L[orenz] Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 1, S. 193. An anderer Stelle (Bd. 4, S. 61f.) widmet er sich eingehend der Frage, nach welchen ›Regeln‹ Bä ume mö glichst ›irregulä r‹ zu gruppieren sind. Als Inbegriff der Unnatur gilt die gerade Allee, denn „la nature ne plante rien au cordeau“, Jean-Jacques Rousseau, Julie, ou la Nouvelle Héloïse, Bd. 4, lettre 11, S. 214. Eichendorff lä sst eine seiner Figuren bedauernd sprechen: „[E]in neues […] Geschlecht hat neue, grade, langweilige Chausseen gezogen, und wir stehen wie vergessene Wegweiser in der alten schö nen Wildniß.“, Joseph von Eichendorff, Clemens Brentano, Viel Lärmen um Nichts […] und: Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter. Zwei Novellen, Berlin 1833, S. 11. „Die gerade Linie ist nun einmal der ä sthetische Fluch der modernen Cultur“, resü miert Wilhelm Heinrich Riehl, Rheinlandschaft, in: ders., Freie Vorträge, S. 65. C[hristian] C. L. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 1, S. 214. Auf Hirschfelds Abhandlung basiert der Eintrag zum Lemma ›2. Landschaft‹, in: Johann Georg Krü nitz (Hg.), Oekonomisch-technologische Encyklopädie, Bd. 64, Berlin 1794, S. 401ff. Zur konstitutiven Bedeutung von Varianz und Kontrast siehe auch Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 135–139 und Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 176.

184

4. Romantische Landschaft

schon in der Ferne sehr anmuthige Gegenstä nde, ertheilen der Landschaft Schattirung, und erfreuen durch den Genuß der Kü hlung und Erfrischung, durch die Vorstellung des Aufenthalts, den sie dem Wild und Geflü gel verstatten, durch den Gesang ihrer befiederten Bewohner, durch die Schauspiele des Lichts und des Schattens, durch den Wohlgeruch der Blumen und Pflanzen.46

Um dem Wald Qualitä ten des Schö nen nachzuweisen, kann Hirschfeld auf lang etablierte Zuschreibungen rekurrieren, was sich schon daran zeigt, dass er in seiner Schilderung den Frü hlingstopos des klassischen und mittelalterlichen ›locus amoenus‹ (Ruhe im Schatten, Vogelgesang, blü hende Vegetation, hoher Wildbestand47) apostrophiert. „Lebhaftigkeit, Heiterkeit und Frö lichkeit ist das Eigenthum des kleinern und dü nnern Waldes oder des Hains, der edle, schlanke, nicht hoch aber zierlich gewachsene Bä ume, ein frisches helles Laubwerk, durchsichtige Zwischenrä ume, einen ebenen von Unterholz und Gesträ uch freyen Boden hat.“ 48 Solch nü tzlich-angenehme Schö nheit alleine macht einen Wald aber eben noch nicht zum romantischen Ort.49 Es bedarf dazu vielmehr der „mit Schaudern vergnü gende[n] Kraft / [s]einer gedoppelten Eigenschaft“, die zugleich zu „ergetzen und schrecken“ (Brockes 50 ) vermag, der umfassenden Ambivalenz seines „sü ße[n] Grauens“ (Lenau51) – kurz: seiner charakteristischen Teilhabe an der Asthetik des Erhabenen. 46 47

48 49

50

51

C[hristian] C. L. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 1, S. 198. Zum Wildreichtum als Fruchtbarkeits- und damit auch Schö nheitsmerkmal siehe Marianne Stauffer, Der Wald, S. 164–166. C[hristian] C. L. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 1, S. 199. Ja, sie erweist sich diesbezü glich sogar eher als hinderlich; wä hrend fü r die Landschaftskunst der Aufklä rung noch die ä sthetische Formel ›nü tzlich–schö n‹ maßgeblich ist, ist fü r diejenige der Romantik „das Nü tzliche prinzipiell stö rend“, Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 178 und Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 13. In Gilpins Remarks on Forest Scenery, einer der frü hesten ›forstä sthetischen‹ (ante litteram) Publikationen ü berhaupt, heißt es dazu: „Beauty however is not the characteristic of the forest. It’s peculiar distinction is grandeur, and dignity.“, William Gilpin, Remarks on Forest Scenery, and other Woodland Views (Relatively chiefly to Picturesque Beauty), Bd. 1, London 1791, S. 209. Konkret sei auch auf Gilpins Ausfü hrungen zum Aussehen kranker und verkrü ppelter Bä ume verwiesen: dieses laufe hä ufig dem ä sthetischen Ideal der „utility“ zuwider, bilde aber eine der „capital sources of picturesque beauty“ (ebenda, S. 7f.). Die im klassischen Landschaftsbegriff veranlagte Qualitä t ä sthetischer ›Nü tzlichkeit‹ ist es schließlich auch, welche die Rede von ›erhabener Landschaft‹ problematisch erscheinen lä sst, siehe hierzu Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem, S. 23 (Fußnote 26). Gerade der paradigmatische Fall des Landschaftsgartens zeigt, wie der Gegensatz von nü tzlicher und erhabener Natur seit dem 18. Jahrhundert auch als Gegensatz von ›unterdrü ckter‹ und ›freier‹ Natur aufgefasst wird, Jö rg Zimmermann, Zur Geschichte des ästhetischen Naturbegriffs, S. 123 und 132; vgl. ferner Schillers Kritik an den allzu ›nü tzlich‹ eingerichteten Niederlanden, hierzu Matthias Eberle, Individuum und Gesellschaft, S. 211. „Kü les und schattiges Schirm-Dach der Felder / Grü nender Schau-Platz beblä tterter Wä lder / Deine so lieblich verworrene Hecken / Schwä rzen und schmü cken / ergetzen und schrecken. / Diese mit Schaudern vergnü gende Kraft / Deiner gedoppelten Eigenschaft / Kö nnen in mir gedoppelte Triebe / Ehrfurcht und Liebe / Gegen den herrlichen Schö pfer erwecken.“, B[arthold] H[einrich] Brockes, Der Wald, in: ders., Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten […], Hamburg 21724, S. 185–194 (hier S. 188). Hingewiesen sei bezü glich dieser Ambivalenz auch auf den Eintrag ›Wald‹ in Stielers Wö rterbuch (1691), wo als Beispielphrasen unmittelbar nacheinander angefü hrt werden: „Ich bin gern in Wä ldern / reise gern in Wä ldern“ und „Grausame große Wä lder“, in: Der Spaten [= Kaspar von Stieler] (Hg.), Der Deutschen Sprache Stammbaum, Sp. 2417f. Nicolaus Lenau, Wanderung im Gebirge. Der Eichwald, in: ders., Gedichte, S. 174.

185

III. Wald und Romantik

5. Erhabener Wald Damit Natur als erhaben beurteilt werden kann, muss sie Kant zufolge „als Furcht erregend vorgestellt werden“. Er weist in seiner Critik der Urtheilskraft (1790) darauf hin, dass man „einen Gegenstand als furchtbar betrachten“ kö nne, „ohne sich vor ihm zu fü rchten“, indem wir nä mlich „uns bloß den Fall denken“, seiner Macht ausgeliefert zu sein.52 Der Anblick schrecklicher Naturgewalt sei „um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden“. Unter diesen Umstä nden kö nne der Betrachter ein seelisches „Vermö gen zu widerstehen“ in sich entdecken, das ihn ermutigt, sich „mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu kö nnen.“53 Das Erhabene sei demnach „in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserm Gemü the enthalten“ 54 , als emotional-subjektive Stellungnahme. Durch den „Genuß der Grö ße“, so heißt es bei Hirschfeld, „erhebt [man] sich von dem gewö hnlichen niedrigen Standort hinauf zu einer hö hern Sphä re der Bilder und der Empfindung; man fü hlt es, daß man nicht mehr der alltä gliche Mensch, sondern ein Wesen von einer Kraft und Bestimmung ist, die weit ü ber den Punkt, auf welchem wir stehen, hinausragt.“ 55 So kann man etwa – plakativ gesprochen – auf einem ›harmlosen‹ Waldspaziergang erhabene Eindrü cke empfangen, indem man sich vorstellt, man wü rde sich verlaufen und mü sste die Nacht alleine im Unterholz zubringen. Beschliche einen hingegen das Gefü hl, tatsä chlich die Orientierung verloren zu haben, so wü rde das ä sthetische Empfinden schnell ganz realer Sorge weichen. Erhaben, geschweige denn romantisch, erschiene der Wald dann jedenfalls nicht mehr. Edmund Burke erkundete in seiner 1757 erschienenen Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful, auf die in der Folge fast alle Kategorisierungsversuche ä sthetischer Urteile (so auch die von Hirschfeld und Kant) mehr oder weniger direkt Bezug nahmen, erstmals die sensualistischen Grundzü ge des Erhabenen. Seine Abhandlung hatte Teil an einer allgemeinen Verlagerung des Interesses vom Regulä ren zum Singulä ren, vom rational Ergrü ndbaren hin zu den subjektiven „passions“ und ihren Auslö sern. 56 Auch hier wird als Kriterium vorausgeschickt, dass die Quellen des Erhabenen nur unter kontrollierten Bedingungen („at certain distances, and with certain modifications“) zu genießen seien: „When danger or pain press too nearly, they are incapable of giving any delight“ 57 . Burke fü hrt fü r das Erhabene einen Katalog sinnlicher Phä nomene an, deren grö ßter Teil sich mü helos auf Spezifika der Sinneswahrnehmung im Wald beziehen lä sst. Am relevantesten

52 53 54 55 56

57

Immanuel Kant, Critik der Urtheilskraft, Berlin 1790, § 28, S. 101–108 (hier S. 101). Ebenda, S. 103. Ebenda, S. 108. C[hristian] C. L. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 1, S. 162. Zur Rezeption siehe Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 43f. und Dimiter Daphinoff, Der Wald im englischen Roman des 18. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Der Wald, S. 137–156 (hier S. 151– 135). [Edmund Burke], A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful, London 1757, S. 13f.

186

5. Erhabener Wald

scheinen dabei die zwielichtige „Obscurity“58 des Waldesinneren und die damit zusammenhä ngende „Suddenness“ 59 der Eindrü cke, die empfundene „Privation“ 60 , sowie schließlich der Anschein von „Infinity“. In Bezug auf diesen letzten Punkt muss Burke zwar einrä umen, dass „[t]here are scarce any things which can become the objects of our senses that are really, and in their own nature infinite.“ Entscheidend sei allerdings, dass erhabene Dinge die menschliche Auffassungskraft derart ü berforderten, dass sie letztlich unbegrenzt erscheinen und „produce the same effects as if they were really so.“ 61 Auf unterschiedliche Weise kö nnen deshalb sowohl der panoramatische Gipfelblick als auch die horizontal (und womö glich auch vertikal) eng begrenzte Innenansicht eines Waldes den Anschein der Unendlichkeit und den Eindruck des Erhabenen hervorrufen. Ja, im Grunde beginnt „Wald erst da, wo seine Grenzen verschwinden“ (Baumgart62), wo kein Ende mehr abzusehen und die Anzahl der Bä ume nicht mehr ohne weiteres zu quantifizieren ist. Gerade in der waldigen „Versperrung aller Aussicht“ sieht der Gartentheoretiker Hirschfeld ein charakteristisches Merkmal der „sanftmelancholische[n]“63 wie auch der romantischen Gegend: „Die Aussichten sind, weil die Einbildungskraft sich mit nahen Gegenstä nden beschä ftigen soll, hier mehrentheils verschlossen; sie breiten sich selten vorwä rts aus, sondern erheben sich ö fter aus der Tiefe in die Hö he, oder senken sich von der Hö he in die Tiefe herab.“64 Im Weiteren bezieht Hirschfeld auch die akustische Dimension mit ein. Im Rauschen des Laubes wie in seiner Stille vermag Wald die aurale Wahrnehmung an Grenzen zu fü hren:

58

59

60

61

62 63

64

Die sinnestrü bende „Obscurity“ bildet fü r Burke einen Multiplikator des Schrecklichen: „When we know the full extent of any danger, when we can accustom our eyes to it, a great deal of the apprehendsion vanishes. Every one will be sensible of this, who considers how greatly night adds to our dread, in all cases of danger […].“, ebenda, S. 43–45. Hier bezieht sich Burke vor allem auf das plö tzliche Ertö nen und Verstummen von Gerä uschen, ebenda, S. 66. Als besonders wirkungsvoll wird die dynamische Unbestä ndigkeit eines „low, tremulous, intermitting sound“ hervorgehoben, was natü rlich an das Waldesrauschen denken lä sst. Burke zitiert hier einen Vers aus Vergils Aeneis, mit dem ein direkter Bezug zum Wald hergestellt wird: „Quale per incertam lucem sub luce maligna / Est iter in silvis.“, ebenda, S. 67f. Auch schnelle Ubergä nge zwischen Helligkeit und Dunkelheit (wie sie im Wald erfahrbar sind) kö nnen „sublime ideas“ hervorrufen, siehe ebenda, S. 62. An die silvane Klangkulisse gemahnen ferner die von Burke als eigener Gliederungspunkt angefü hrten Schreie wilder Tiere (ebenda, S. 68f.). Als wesentliche Formen von „Privation“ fü hrt Burke an: „Vacuity, Darkness, Solitude and Silence“, ebenda, S. 50f. Ebenda, S. 52f. Aus diesem Grund, sowie aufgrund der vertikalen Ausdehnung der Bä ume, kann ein Wald trotz der Beschrä nkung des horizontalen Sichtfelds auch den Eindruck der „Vastness“ (ebenda, S. 51f.) hervorrufen (Burke weist darauf hin, dass vertikale Grö ße eine weit grö ßere Wirkung ausü be als horizontale). Von Belang sind hierfü r auch „Succession and Uniformity“ (ebenda, S. 54f.), die als Konstituenten des „artificial infinite“ angefü hrt werden; schließlich ist es ja gerade das gleichfö rmige Nebeneinander der Bä ume, das dem Wald seine Ausdehnung verleiht. Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 4. „Eine sanftmelancholische Gegend bildet sich durch Versperrung aller Aussicht; durch Tiefen und Niedrigungen; durch dickes Gebü sch und Gehö lz, oft schon durch bloße Gruppen von hohen starkbelaubten nahe an einander gedrä ngten Bä umen, in deren Gipfel ein hohles Gerä usch schwebt […].“, C[hristian] C. L. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 1, S. 211. Ebenda, S. 214.

187

III. Wald und Romantik

Grö ße und Dunkelheit bilden die feyerliche (ernsthafte, erhabene, majestätische) Gegend. Daß die erste Eigenschaft zur Bestimmung dieses Charakters unentbehrlich ist, kann keinem Zweifel unterworfen seyn; allein auch die Dunkelheit verstä rkt seinen Eindruck, wie schon die Griechen in ihren Tempeln, wie schon die Druiden in ihren Eichenwä ldern empfanden. Die Stille, die einen erhabenen Gegenstand umschwebt, vermehrt das Feyerliche. Allein weil ein starkes Getö se, der Sturm im Walde […], erhabene Empfindungen erwecken, so gehö ren sie eben so, wie tiefe Stille, zum Ausdruck dieses Charakters.65

Was des Waldes Zwielicht den Augen, ist sein Rauschen den Ohren: Eine Bresche in der Kohä renz sinnlicher Weltaneignung, durch die Traumbilder in die Realitä t eindringen kö nnen. Die Begrenzung der Sinneswahrnehmungen stimuliert die Einbildungskraft, die ü berall dort tä tig wird, wo die Kausalitä t der Phä nomene verschleiert ist und sich in das „Dunkel der Bä ume“ etwas Abenteuerliches ›hineindichten‹ (Eichendorff66) lä sst. – Welche Bedeutung der ä sthetischen Kategorie des Erhabenen hinsichtlich der „geheimnißvollen Analogie zwischen den Gemü thsbewegungen und den Erscheinungen der Sinnenwelt“67 zukommt, wird in Humboldts Kosmos nä her erlä utert: Denn das Ungemessene, ja selbst das Schreckliche in der Natur, alles was unsere Fassungskraft ü bersteigt, wird in einer romantischen Gegend zur Quelle des Genusses. Die Phantasie ü bt dann das freie Spiel ihrer Schö pfungen an dem, was von den Sinnen nicht vollstä ndig erreicht werden kann; ihr Wirken nimmt eine andere Richtung bei jedem Wechsel in der Gemü thsstimmung des Beobachters. Getä uscht, glauben wir von der Außenwelt zu empfangen, was wir selbst in diese gelegt haben.68

Gerade dort, wo die Sinneswahrnehmung in Anbetracht eines ›unfassbaren‹ Natureindrucks an ihre Grenzen stö ßt, kann sich die Illusion eines intimen Austausches, eines Gebens und Nehmens zwischen Subjekt und Umwelt einstellen – eine Art sä kularer ›unio mystica‹. Trotz jahrhundertelanger Kultivierung und Okonomisierung blieb mitteleuropä ischen Wä ldern ein mehr oder weniger ausgeprä gtes Potential zu erhabener, und damit auch zu romantischer Wirkung erhalten. Voraussetzung zur Entfaltung dieses Potentials sind spezifische Modifikatoren der sinnlichen Wahrnehmung, wie sie besonders in ausgedehnten Hochwä ldern mit geschlossenem Laubdach gegeben 65

66

67 68

Ebenda, S. 220. Hirschfeld scheint sich hier direkt auf Burke zu beziehen, der die Wirkung der „Obscurity“ als Grund dafü r anfü hrt, warum „[a]lmost all the heathen temples were dark“ und weshalb „the druids performed all their ceremonies in the bosom of the darkest woods, and in the shade of the oldest and most spreading oaks.“, [Edmund Burke], A Philosophical Enquiry, S. 43–45. Vgl. die Erzä hlung Willibalds in Viel Lärmen um Nichts: „Mir fielen alle alten schö nen Sagen dieser romantischen Gegend ein, und ich dichtete die wunderlichsten Reiseabentheuer in das wachsende Dunkel hinein.“, Joseph von Eichendorff, Viel Lärmen um Nichts, S. 56. Zum silvanen Konzept des Abenteuers vgl. Kapitel VII.1. Alexander von Humboldt, Kosmos, Bd. 2, S. 66. Ebenda, Bd. 1, S. 8.

188

5. Erhabener Wald

sind.69 Die ganz dem Ideal romantischer Landschaft entsprechenden „plö tzliche[n] Uebergä nge von dem Verschlossenen zu dem Freyen, von dem Dunkelen zu dem Heitern, von dem Fü rchterlichen zu dem Reitzenden“70, wie sie Hirschfeld in den Schweizer Alpen genoss, lassen sich auch auf einem Waldspaziergang erleben. Im Wesentlichen fußen auch noch die Aussagen ü ber Stimmungsgehalt und emotionale Wirkung des Waldes, die der Botaniker Matthias Jacob Schleiden fast ein Jahrhundert spä ter in seiner „Schutzschrift“ Für Baum und Wald (1870) trifft, auf Fortschreibungen einer Asthetik des Erhabenen. Wurde freilich die Wirkung bei Burke und Kant noch in der erhebenden Aktivierung seelischer Widerstandskrä fte, der „kontraphobische[n] Selbstbehauptung“ 71 des Subjekts gegen die bedrohliche Naturmacht begrü ndet, so ist bei Schleiden von „erhebende[r] Vertrauenssicherheit“ die Rede, mit der sich der Einzelne hingebungsvoll als „Theil des Ganzen“ fü hlen will: Es giebt zwei Naturformen, welche, wenn auch scheinbar so verschieden, doch innerlich verwandte Stimmungen im Menschen hervorrufen, das sind hohe Berge und ausgedehnte jungfrä uliche Wä lder. Wie auch dort der Blick in endlose Weite dringt, hier auf das nä chste beschrä nkt wird, ohne gleichwohl durch einen bestimmten Abschluß, wie ihn etwa eine Felswand darbietet, gehemmt zu sein, so ist doch das Verhä ltniß, welches in beiden die Grundstimmung bedingt, die Isolirtheit des Menschen, das Gefü hl, daß er allein der ganzen Natur mit ihren ewigen Krä ften, ihrem ewigen stillen Wirken gegenü bertritt, daß er sich als klein und abhä ngig vom Großen und doch wieder groß als lebendiger Theil des Ganzen empfindet, daß er dem erhabenen, jeder Stö rung und Wirrniß unzugä nglichen, stetig und unverä nderlich in gleicher Weise thä tigen Naturgesetz sich mit einer erhebenden Vertrauenssicherheit hingeben kann, wo die Klugheit, die er im Verkehr mit den Menschen aufbieten mußte, um seine Existenz zu behaupten, eben so unnö thig als machtlos ist.72

69

70 71 72

Hirschfeld: „Ein Wald kann in der Landschaft ein sehr heroischer Gegenstand seyn, durch Breite und Lä nge, und besonders die Hö he, die er einnimmt. Besteht er dabey aus bejahrten an die Wolken ragenden Bä umen, und aus einem dichten und sehr dunkeln Laubwerk, so wird sein Charakter Ernst und eine gewisse feyerliche Wü rde seyn, die eine Art von Ehrfurcht einflö ßt.“ Die entscheidenden Faktoren sind demnach „Ausdehnung und Dunkelheit“, C[hristian] C. L. Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 1, S. 198f. Die Ableitung der emotionalen Wirkung aus sinnlichen „Natureindrü ken“ findet sich auch bei Karl Gottlob Schelle: „Selbst gewisse Wä lder machen einen romantischen Eindruck. In der Idee eines romantischen Waldes liegen die Keime des Begriffes Hain. Die Idee eines Hains entstand bey den Alten nicht zufä llig; sie ging aus wirklichen Natureindrü ken hervor. Nichts als kleine Bü sche, nichts als kurzes Gesträ uch, Weiden u.s.f. erregen keineswegs die Idee eines Hains; wohl aber erregt sie ein ehrwü rdiger Eichenwald mit andern schauerlichen, schlanken und dichtbelaubten Bä umen untermischt, welches die Idee eines heiligen Dunkels, einer heeren Feyerlichkeit, einer tiefen Einsamkeit erweckt.“, Karl Gottlob Schelle, Die Spatziergänge, S. 155. Zum „Waldlustwandeln“ (ebenda, S. 156) eigne sich daher „am besten ein hoher, dichtbeschatteter Eichenwald.“ C[hristian] C[ay] L[orenz] Hirschfeld, Neue Briefe über die Schweiz, Bd. 1, Kiel 1785, S. 130. Hartmut Bö hme, Gernot Bö hme, Das Andere der Vernunft, S. 222. M[atthias] J[acob] Schleiden, Für Baum und Wald, S. 3f. Eine Wirkungsverwandtschaft zwischen Gebirge und Wald (und einsamen Inseln) konstatiert bereits Rousseau: „c’est au sommet des montagnes,

189

III. Wald und Romantik

Wie der Mensch durch Verstandesgebrauch aufhö rt, ›mit der Welt Eins zu sein‹ (Schiller), so strebt er im Naturgefü hl zu dieser Einheit zurü ck. In Schleidens Charakterisierung des Waldes resoniert schopenhauersches Ubereinkommen zwischen der Kategorie des Erhabenen und romantischen Entgrenzungsvorstellungen.73 Der erhabene Wald, der keinen „bestimmten Abschluß“ erkennen lä sst (und deshalb unendlich scheint) und in dessen „feierliche[r] Einsamkeit“ sich der Einzelne als in einem großen Ganzen verliert, verheißt die Uberwindung der Naturentfremdung und großmachende Teilhabe des Subjekts am Weltganzen. Der dabei vorausgesetzte Modus theoretischer Naturwahrnehmung ist fü r Schleiden bereits ideell im Begriff ›Wald‹ veranlagt, der in romantischer Tradition von der ›Welt‹ ausgenommen ist: „Wald und Waldeinsamkeit sind dasselbe, denn es schließt der Wald seiner eignen Natur nach den menschlichen Verkehr aus; der Wald hö rt auf, wo das eigentliche (gesellige) Menschenleben anfä ngt.“ 74 Folgt man dieser ex negativo-Definition, so muss man freilich den erschlossenen Forst hinter sich lassen, von der „bequemen Modestraße“ abweichen, um auch im Jahr 1870 zuweilen noch „auf der unbetretenen Bodendecke der Natur“ gehen zu kö nnen. An den weit vorgeschobenen Grenzen der Zivilisation, in den „kaum jemals von Menschen betretenen Urwaldbildungen des Spreewaldes oder Bö hmerwaldes“ oder aber den „Tropenwä ldern von Sü damerika“, so Schleiden, „lernt man eigentlich erst den Wald und die ihm innewohnende vegetative Kraft kennen.“75

6. „Wilde Wald- und Felsenlandschaft“ Wie sich dem Vorangehenden entnehmen lä sst, stellt Wald eine nahezu unverzichtbare Komponente romantischer Ideallandschaft dar. Diese zentrale Bedeutung fü hrt dazu, dass der Begriff ›Wald‹ mitunter als eine Art Kü rzel fü r romantische (Wald-)Landschaften gebraucht wurde, zu deren Konstitution freilich auch noch andere Elemente beitragen. Ein besonders hä ufiges und relevantes Implikat des romantischen Waldbegriffs ist der gebirgige Charakter, durch den das ›erhabene‹ Wirkungspotential der Landschaft betont wird. Ist etwa bei Tieck oder Eichendorff von Wald die Rede, so finden sich regelmä ßig Hinweise auf Felsaufschlü sse und eine erhö hte Reliefenergie. 76 Die Anlehnung an mustergü ltige Landschaftstypen der

73

74 75 76

au fond des forê ts, dans les Isles dé sertes qu’elle [nature] é tale ses charmes les plus touchans.“, JeanJacques Rousseau, Julie, ou la Nouvelle Héloïse, Bd. 4, lettre 11, S. 215. Schopenhauer postulierte, die „Betrachtung der unendlichen Grö ße der Welt“ erwecke „ein nur gefü hltes Bewußtseyn, daß man, in irgend einem Sinne […] mit der Welt Eines ist und daher durch ihre Unermeßlichkeit nicht niedergedrü ckt, sondern gehoben wird. […] Es ist Erhebung ü ber das eigene Individuum, Gefü hl des Erhabenen.“, Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 297f. M[atthias] J[acob] Schleiden, Für Baum und Wald, S. 4. Ebenda, S. 1–3. Baumgart konstatiert, dass in Tiecks Blondem Eckbert (lokalisiert in einer „Gegend des Harz“) eigentlich „kein Wald, sondern […] eine Waldlandschaft, deutlich abhä ngig vom Trivialroman“ geschildert werde, „stark – nach Tiecks Art – mit Gebirgselementen durchsetzt, so daß der Gebirgscharakter teilweise geradezu vorherrscht.“, Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung,

190

6. „Wilde Wald- und Felsenlandschaft“

(Schweizer) Alpen und deutschen Mittelgebirge wird hierin greifbar. Die Bedeutung des gebirgigen Charakters fü r die ä sthetische Beurteilung des Waldes hebt auch Vischers Aesthetik (1851) hervor: „Sein Ueberblick ist einfö rmig, wenn er nicht mit Gebirgsformen als ihr krauses Gewand zusammengefaßt wird.“77 In der (musik-)dramatischen Literatur des 19. Jahrhunderts lä sst sich diese Engfü hrung von Wald- und Gebirgslandschaft an der geradezu floskelhaft gebrauchten, in diversen Varianten dutzendfach wiederkehrenden Szenenanweisung ›Wilde Wald- und Felsenlandschaft‹ ablesen. Entspricht es dem Wesen der Parodie, im Zerrbild gerade die bezeichnendsten Merkmale der Vorlage aufzugreifen und zu karikieren, so darf es als besonders aufschlussreich gelten, dass Carl Maria von Weber fü r seine in den 1810er Jahren verfasste Parodie der deutschen Oper (Romanfragment VI von Tonkünstlers Leben) eine „Waldige Felsengegend“78 als Szenerie vorschreibt. Im Freischütz, dessen Textbuch zunä chst keine nä heren Angaben zur Landschaft macht, zeigt das erste Bü hnenbild den „Platz vor einer Waldschenke“ (I/1); die dazu erklingende Introduktion wird im Libretto als „Bö hmische Berg-Musik“ ausgewiesen.79 Der Schauplatz wird so gleichsam in szenisch-musikalischer Verschrä nkung als romantische Waldgebirgslandschaft bestimmt.80 Die Wolfsschlucht-Szenerie im zweiten Akt („Furchtbare Waldschlucht“) prä sentiert dann eine extreme Ausprä gung dieses Landschaftstyps. Angefü hrt werden die essentiellen Requisiten aber auch im ›Jä gerchor‹ (III/6), wo die Textzeile „Wenn Wä lder und Felsen uns hallend umfangen …“ daran gemahnt, dass der gebirgige Charakter der Waldlandschaft auch hinsichtlich der musikalischen Gestaltung vorauszusetzen ist: Es lä sst sich – etwas plakativ gesprochen – nicht mit eindeutiger Sicherheit sagen, ob etwa fü r die Wahl der kompositorischen Gestaltungsmittel ›Echowirkung‹ und ›Hornklang‹ eher die „Wä lder“ oder aber die „Felsen“ ausschlaggebend waren – verschmolzen sind beide jedenfalls im landschaftlichen Ganzen der „romantisch schö ne[n] Gegend“ (so die Bü hnenanweisung der Szene).81 – Ganz ä hnlich verhä lt es sich mit dem Auftritt der Jä ger (III/3) in Webers Euryanthe (1823). Die Bü hne stellt eine von Vollmond

77

78 79 80

81

S. 49. Zechner stellt in Texten Eichendorffs und Riehls „temporä re Symbolverbindungen des Silvanen und des Montanen“ fest, Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 221. Friederich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, Teil 2/1: Die Lehre vom Naturschönen, Reutlingen 1851, § 281, S. 99f. (hier S. 99). Zitiert nach WeGA, (Dateiversion vom 8. Februar 2019). Solveig Schreiter (Hg.), Der Freischütz, S. 23. Wird hier gewissermaßen die ›Waldszene‹ durch ›Bergmusik‹ komplementiert, so lä sst sich dazu ein interessantes Gegenbeispiel anfü hren, in welchem eine ›Bergszene‹ durch ›Waldmusik‹ ergä nzt wird: Weder von Jagd noch von Wald ist nä mlich in Friedrich Schlegels Gedicht Die Berge die Rede – und doch scheint Franz Schubert in seiner Vertonung (D 634) durch imitierte Hornrufe „the sublimity of forest and mountains that inspires the hero’s awe“ wachzurufen. In ihrer Analyse des Liedes merkt Lisa Feurzeig hierzu an: „While the poem does not mention a forest, it calls on all the power associated with that element of landscape by Romantic writers […], and Schubert’s choice of horn calls is a musical reference that brings the forest to mind.“, Lisa Feurzeig, Schubert’s Lieder and the Philosophy of Early German Romanticism, Farnham 2014, S. 39. Zur musikalischen Darstellung gebirgiger Landschaften vgl. Hubert Unverricht, Das Berg- und Gebirgsmilieu.

191

III. Wald und Romantik

beleuchtete Waldschlucht dar; die hohe Reliefenergie der Umgebung wird im gesungenen Text noch vor der Vegetation erwä hnt: „Die Thale dampfen, die Hö hen glü hn, / Welch frö hlich Jagen in Waldesgrü n!“ Auch hier scheint die musikalische Gestaltung sowohl mit dem waldigen als auch mit dem gebirgigen Charakter der dargestellten Landschaft zu korrespondieren. Gleiches gilt fü r den Auftritt der Jagdgesellschaft in Wagners Tannhäuser (I/3: „schö nes Tal“ vor der Wartburg). Die zeitgenö ssische Beliebtheit und konventionelle Verbindlichkeit dieses pittoresken Szenentyps lä sst sich anhand zahlreicher Beispiele nachweisen. So beginnt etwa August von Witzlebens Schauspiel mit Gesang Die Douglas (1825) mit einer Eremitenszene in „Waldige[r] Gegend“ (I/1), spä ter erscheint auch die typische „Waldige Felsengegend“ (IV/1). 82 Eine „Waldige Felsengegend unweit Frankfurt“ (III/4) verlangt die Unwetterszene in Charlotte Birch-Pfeiffers Erfolgsstü ck PfefferRösel (1828).83 Der erste Akt von Heinrich Marschners Der Templer und die Jüdin (1829) spielt in einer „wild-romantische[n] Schlucht im Wald“, der zweite Akt seines Hans Heiling (1833) in einer „Wilde[n] Wald- und Felsengegend“ des bö hmischen Erzgebirges. Eine von Mondlicht erhellte „Kurze wilde Wald- und Felsengegend“ stellt das erste Bü hnenbild des zweiten Akts in Conradin Kreutzers Oper Das Nachtlager in Granada (1834, Libretto nach Friedrich Kind84) dar. Der vierte Akt von Schumanns Oper Genoveva (1850) fü hrt in eine „Wilde Felsengegend“, wobei Bewaldung selbstverstä ndlich vorausgesetzt wird: „Und Fels und Wald hallt von den Tö nen nach“, singt die Protagonistin in ihrer großen Arie. Zahlreich und prominent vertreten ist die ›wilde Wald- und Felsenlandschaft‹ in Richard Wagners Dramentexten, insbesondere als zeitlos-mythentauglicher Schauplatz seiner Nibelungen-Tetralogie.85 Ein „Wildes Felsengebirge“ stellt die Bü hne im zweiten Aufzug der Walküre dar; Siegmund berichtet von einer Flucht „durch Wald und Flur, ü ber Fels und Stein“ (II/3) und auch Sieglinde verweist auf den implizit vorhandenen Wald: „Horch! Die Hö rner, hö rst du den Ruf? / […] / aus Wald und Gau gellt es herauf.“ „Auf dem Gipfel eines Felsberges“, jedoch noch unterhalb der montanen Waldgrenze, spielt dann der dritte Akt: „Rechts begrenzt ein Tannenwald die Scene. Links der Eingang einer Felshö hle“. – Weniger alpin stellen sich die Waldlandschaften dar, in denen die Akte 1 (Mimes Schmiede) und 2 (vor Fafners Hö hle) des Siegfried vor sich gehen. Mit Esche86 und Linde finden Laubbä ume Erwä hnung, die auf eine niedrigere Hö henlage hindeuten, doch ist auch hier die Szenerie stark 82

83

84

85

86

A. von Tromlitz [= August von Witzleben], Die Douglas. Historisch romantisches Schauspiel in fünf Abtheilungen mit Gesang und Chören, Berlin 1826, S. 7 und 125. Charlotte Birch-Pfeiffer, Pfeffer-Rösel, oder: Die Frankfurter Messe im Jahre 1297. Schauspiel in fünf Aufzügen, Wien 1833, S. 75. Uber „Querverbindung[en]“ zum Freischütz ä ußert sich Joachim Reiber, Bewahrung und Bewährung. Das Libretto zu Carl Maria von Webers ›Freischütz‹ im literarischen Horizont seiner Zeit, Mü nchen 1990 (= Literatur aus Bayern und Osterreich 2), S. 198f. Zur anregenden Wirkung seiner (Schweizer) Alpenerfahrungen auf Wagners szenische Konzeption siehe Eva Rieger, Hiltrud Schroeder, Ein Platz für Götter. Richard Wagners Wanderungen in der Schweiz, Kö ln 2009. In Siegfrieds Schmelzlied (I/3): „Wild im Walde / wuchs ein Baum, / den hab’ ich im Forst gefä llt: / die braune Esche / brannt’ ich zu Kohl’, / auf dem Herd nun liegt sie gehä uft!“

192

7. Wald und Welt

durch Felsaufschlü sse geprä gt. Wird etwa der Schauplatz des ersten Akts schlichtweg als „Wald“ bezeichnet, so nimmt doch die „Felsenhö hle“ im Vordergrund „drei Viertheile der Bü hne ein[]“. Der dritte Akt fü hrt erneut auf einen „Felsenberg[]“ in „Wilde[r] Gegend“. – Schließlich wird Siegfried im dritten Akt der Götterdämmerung wä hrend der Jagd in einem „Wilde[n] Wald- und Felsenthal“ am Rhein ermordet. „Felsiger Boden“ zeichnet auch den lichten „Wald“ im ersten Bild des Parsifal aus. Das Terrain steigt links an und senkt sich mittig „zu einem tiefer gelegenen Waldsee hinab.“ Zu Beginn des dritten Aktes wird der Vordergrund rechts durch den „Saum des Waldes“ begrenzt, wo eine Quelle entspringt. Auf der linken Seite steht Gurnemanz’ „Einsiedlerhü tte, an einen Felsen gelehnt“, der sich als Findling in diese „[f]reie, anmuthige Frü hlingsgegend mit nach dem Hintergrunde zu sanftansteigender Blumenaue“ verirrt zu haben scheint.

7. Wald und Welt 7.1. Ludwig Tieck und die ›Welt-Form‹ des Waldes Indem er noch darü ber nachdachte, war er in einem dunkeln Walde und alles ü brige war verschwunden […]. Ludwig Tieck87

„Ein paar Meter Wald genü gen, um die ü brige Welt verschwinden zu lassen“, bemerkt der Ethnologe Claude Lé vi-Strauss in seinen Tristes Tropiques (1955), tief beeindruckt von der „konfuse[n] Masse“ der brasilianischen Urwä lder. „[E]in Universum weicht einem anderen, in dem weniger die Augen als Gehö r und Geruchsinn auf ihre Rechnung kommen.“88 Wie die Gebirgslandschaft tektonisch in „Falten und Spalten ein grö ßeres Stü ck Erde“ zusammendrä nge, so schließe auch der Wald, schon aufgrund seiner Morphologie, das Versprechen einer „unendlich dichteren Welt“ in sich. Im Wesentlichen bringt Lé vi-Strauss mit diesen Beobachtungen – ob in bewusster oder unbewusster Anlehnung – zwei Hauptzü ge des romantischen Waldbildes zur Sprache: Der Wald stellt ein eigengesetzliches Universum dar, das sich von der ü brigen Welt grundsä tzlich unterscheiden und abgrenzen lä sst; zugleich wird er jener gegenü ber als eine ›dichtere‹89, ungleich poetischere Gegenwelt wahrgenommen oder vorgestellt. Als besonders plakative, in ihrer Auswertung der Vokalfarben nachgerade bemü ht wirkende Formulierung dieser romantischen Polaritä t sei ein 1843 verö ffentlichtes Gedicht Friedrich von Sallets angefü hrt, das bereits in der

87 88

89

Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, S. 170f. Claude Lé vi-Strauss, Traurige Tropen, Kö ln 1960 [franzö sische Erstausgabe 1955], S. 307–316 (hier S. 309f.). Vgl. hierzu etwa den Titel des Gedichts von Ludwig Achim von Arnim, Dichter Wald der Dichter, in: Zeitung fü r Einsiedler 1 (1808), Nr. 2 (6. April), Sp. 13–16.

193

III. Wald und Romantik

strikten Asyndese des Titels Welt, Wald das antithetische Nebeneinander der beiden getrennten Sphä ren zum Ausdruck bringt: Welt – das gellt so hell und grell; Wald – das schallt und hallt so hold; Welt – das schnellt und prellt sich schnell; Wald – da wallt und waltet Ruh. Welt, so lasse mich! Wald, umfasse mich! Welt, so dreh’ und krä usle dich! Wald, umweh’, umsä usle mich!90

Fü r Wolfgang Baumgart, der 1936 eine umfangreiche Abhandlung ü ber den Wald in der deutschen Dichtung vorlegte, macht diese polare ›Welt‹-Form91 des Waldes das wesentlichste Charakteristikum romantischer Walddichtung aus. Er nimmt an, dass es sich bei den romantischen Ausprä gungen von „Wald als eigene Welt“ und „Wald[] als im engern Sinne poetische[] Welt“ im Grunde um Weiterentwicklungen seiner frü heren Eigenschaften als fremder, abgeschlossener Raum und zaubererfü llte Gegenwelt handle, wie sie ihm, als Antithese zur christlich-kultivierten Lebenswelt, in vorneuzeitlicher Literatur und zahlreichen ä lteren „Volksmä rchen“ eignen.92 Wald erscheint in diesen Texten als autarke und autonome Welt und greift „als Ganzes in bestimmender Weise in die Handlung ein[]“93. Ohne den bestimmenden Raumfaktor Wald wä ren die erzä hlten Ereignisse nicht vorstellbar. Durch die Mä rchenrezeption der Romantiker sei diese traditionelle ›Welt‹-Form des Waldes der literarischen Produktion neu erschlossen worden. Konsistente und nachhaltig wirkende Gestaltung habe sie im Schaffen Ludwig Tiecks und Joseph von Eichendorffs erhalten. Tieck wird von Baumgart als der eigentliche „Schö pfer des romantischen Waldes“ gewü rdigt: „Er schuf in ihm ein dichterisches Medium des romantischen Geistes.“94 Seine Einschä tzung, wonach Tieck die wichtigsten Impulse fü r die Ausbreitung der Waldmotivik in der deutschen Literatur nach 1800 geliefert habe, wird von Klaus Lindemann bestä tigt: Nicht allein Eichendorff, sondern auch viele andere Dichter des 19. Jahrhunderts seien durch Tiecks Werke „angeregt worden, den Wald zu einem zentralen Motiv ihrer Poesie zu machen, ja ü ber den Wald zur Poesie zur finden.“95 Auch in der Librettistik des romantischen Musiktheaters ist Tiecks Einfluss greifbar. So lieferte er mit seinem silvanen Trauerspiel Leben und Tod der

90 91

92

93 94 95

Friedrich von Sallet, Welt, Wald, in: ders., Gesammelte Gedichte, Kö nigsberg 1843, S. 43. Baumgart gebraucht auch Formulierungen wie „Welt-Sinn“, „Welt-Bedeutung“ oder „Welt-Begriff des Waldes“. Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, hier besonders S. 33–100. Vgl. Marianne Stauffer, Der Wald, S. 26. Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 35. Ebenda, besonders S. 47–65 (hier S. 89). Klaus Lindemann, „Deutsch Panier, das rauschend wallt“, S. 94. Lindemann nimmt an (ebenda, S. 92), dass fü r Tiecks Poetisierung des Waldes weniger seine persö nlichen Walderlebnisse, wie er sie etwa 1793 auf seinen Wanderungen durch Franken haben mochte, als seine ausgiebige Lektü re von

194

7. Wald und Welt

heiligen Genoveva (1799/1800) die Vorlage fü r Louis Huths romantische Oper Golo und Genoveva (1838) ebenso wie fü r Robert Schumanns Genoveva (1850). Mit der Gozzi-Adaption Das Ungeheuer und der verzauberte Wald (1800) versuchte Tieck sich selbst als Librettist fü r Johann Friedrich Reichardt.96 Das „musikalische Mä hrchen“ blieb zwar unvertont, mochte aber gleichwohl, nicht zuletzt aufgrund seiner selbstreferenziellen Ironie, manche literarische wie musikalische Anregungen vermittelt haben. In der ersten Szene (I/1) fordert Trappola seine Freunde auf, ein tiefgrü ndiges „philosophisches Lied“ zu singen: „Einerlei was, nur daß man dabei zu grü beln findet.“ „So was von Cypressenhain, Vollmondsschein“, pflichtet Camilla bei. Rondino aber wendet ein: „Ei was! Nichts ü ber ein Lied mit Trarah, oder Hop hop tik tak“, und singt entsprechend los: „Trarah durch den Wald / Das Horn erschallt! / Hop hop! …“, eben die Art generischen Jä gerchors persiflierend, dergleichen dann den dritten Akt erö ffnen wird. – Ein Beamter schreitet ein: Das Singen, eine „unerlaubte Schwelgerei mit Zunge und Sprache“, sei verboten, seit der Staat durch ein bü rgerfressendes Ungeheuer und einen verzauberten „Wald, der allerhand Gö ttern durcheinander gewidmet ist“, bedroht werde. „Kein Mensch darf ihm zu nahe kommen, alle Phantasterei und Tollheit ist dort einheimisch“, ja die „naturforschende Gesellschaft vermuthet, daß […] dort alle in Affen oder dergleichen Creaturen verwandelt werden.“ Im Wald droht Regression in die Prä rationalitä t. Ein Minister Samieli (!) fä hrt dazwischen (I/2): „Ungeheuer, verzauberte Haine! […] Sollte man sich’s vorstellen, daß gesetzte, erwachsene Leute auf solche Kinderpossen etwas geben wü rden? Man sollte denken, man wä re mit dem Zeitalter fortgeschritten, – aber nein, alles kehrt sich wieder um, […] und die Frü chte der Aufklä rung fangen schon an schimmlicht zu werden.“ Er will „wetten, daß das Ungeheuer, […] der verzauberte Wald und all die Ungereimtheiten, nirgend anders, als in unserer Imagination existiren“, ja es komme ihm dabei „immer vor, als wenn sich ein Dichter aus Muthwillen dergleichen Erfindungen erlaubt hä tte, um ein Theater-Stü ck mit Zauberei, wilden Bestien und dergleichen zu componiren“ (II/1). Als Szene verlangt wird eine „Wü ste Felsengegend“ (II/4), typisiert durch die Beschreibung: „Bä ume und Felsen erfü llen in Gruppen das ganze Theater, doch muß alles so eingerichtet sein, daß sich dem Auge nachher ein verworrnes, aber doch angenehmes Schauspiel darbietet.“ Der dritte Akt spielt dann in einem verzauberten Wald nach dem Vorbild von Tassos Gerusalemme, wo eine „angenehme sü ße Musik“ erklingen und ein „Unsichtbarer Chor“ die Morgenrö te besingen soll.

96

Trivial- und Schauerliteratur ausschlaggebend war. Auch Baumgart stellt Tiecks subjektives Landschaftserlebnis als wesentlich „durch literarische Vorerfahrung bestimmt“ dar und fü hrt als wichtigste Einflü sse die Literatur des ›Sturm und Drang‹, Trivialromane, die Dramen Shakespeares und vor allem Mä rchen an, Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 47f. Vgl. ferner die Wü rdigung Tiecks als „eigentliche[n] Schilderer des heimlichen Waldes, wie er auf manchen Gemä lden alter deutscher Meister vorkommt, die ihm vor Augen schweben“, bei Helmut Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft, S. 73; als Uberblick zur Landschaftsthematik bei Tieck siehe ebenda, S. 66–73. Ludwig Tieck, Das Ungeheuer und der verzauberte Wald. Ein musikalisches Mährchen in vier Aufzügen, Bremen 1800.

195

III. Wald und Romantik

7.2. Der Aufzug der Romanze „[N]icht zu unterschä tzende Bedeutung“ fü r die nachfolgende, mitunter epigonale Waldlyrik rä umen Baumgart und Lindemann dem Aufzug der Romanze ein, den Tieck seinem Lustspiel Kaiser Octavianus (1804) als allegorischen Prolog vorgeschaltet hat.97 In diesem seien bereits „nahezu alle Motive angesprochen, die spä ter auch die berü hmten Waldgedichte Eichendorffs prä gen“98, was einen kurzen Abriss der Szene gerechtfertigt erscheinen lä sst. – Die Beschreibung des Schauplatzes wird von den Protagonisten selbst ü bernommen; zunä chst besingt ein Eingangschor mit Trompeten das „Echo im Walde“ und schildert die Frü hlingsszene: „Das Herz geht uns auf / Im Walde.“ Ein anakreontischer „Zug von Schä fern und Schä ferinnen […] mit Flö ten und Schallmeien“ erweist der bukolischen Waldmusik frü herer Epochen die Reverenz, mit den Versen schließend: „Der Liebe Tempel sei / Im Walde.“99 Dann tritt, als wahrer Waldenthusiast, „Der Dichter“ auf: Wie sehnsuchtsvoll fü hlt sich mein Herz gezogen, Dem frischen grü nen Walde zugelenket, […] Es lebt der Wald von wunderbaren Zungen, Die Flö ten tö nen, der Trommete Klä nge Ermuntern laut der Waldvö glein Gedrä nge, […] Dort singt ein Schä ferchor Liebesgesä nge, Und Flö ten, Horn und Wald in eins erklungen.100

„[I]n eins“ verschmilzt das Ganze des Frü hlingswaldes nicht nur fü r die Ohren, sondern fü r alle Sinne des Dichters: „Drein gießt sich Duft von Baum und Blumenblü the, / Es brennt der Wald im hellen grü nen Feuer, / Und Geister in den Zweigen sich entzü nden. / Da regt die Poesie sich im Gemü the“. In seiner subjektiven Auffassung gerinnen die Natureindrü cke zu einem deutlichen, einheitlichen Bild. Die „Glanzgestalten“ der Natur und ihr „ewge[s] Weben […] [k]ann nur der Dichter offenbarend sagen“101. Seiner Einbildungskraft erschließt sich hinter der phä nomenalen Oberflä che der flü chtigen Naturerscheinungen der ideale Kosmos einer romantischen „Mä rchenwelt“: Es klingt ein altes Lied mir in mein Ohr, […] 97

98 99 100 101

Ludwig Tieck, Prolog. Der Aufzug der Romanze, in: ders., Kaiser Octavianus. Ein Lustspiel in zwei Theilen, Jena 1804, S. 1– 38. Tieck selbst hebt den Text hervor, indem er ihn in der Gesamtausgabe seiner Schriften „an die Spitze“ stellt, da er „meine Absicht in der Poesie am deutlichsten ausspricht“, Ludwig Tieck, Vorbericht, in: ders., Ludwig Tieck’s Schriften, Bd. 1, S. V–XLIV (hier S. XLf.). Klaus Lindemann, „Deutsch Panier, das rauschend wallt“, S. 93. Ludwig Tieck, Prolog. Der Aufzug der Romanze, in: ders., Kaiser Octavianus, S. 5. Ebenda, S. 5f. „Es wechseln die Gestalten wie die Zeiten, / Sind sie Euch Rä thsel, mü ßt ihr ihn nur fragen, / Ewig bleibt stehn in seinem Lied gedichtet, / Was die Natur schafft und im Rausch vernichtet.“, ebenda, S. 9f.

196

7. Wald und Welt

Ich fü hle schon bezaubert meine Sinnen, Im Wunderglanze steigt das Bild empor. Es thun sich Thiere, Lä nder, Meer’ hervor, Da glä nzen Burgen, kö nigliche Zinnen, Ein Knab’ will mit dem Riesen Schlacht beginnen, Ein Kinderpaar, das sich im Wald verlohr. […] Doch schaut, welch Bildniß reitet durch den Wald?102

Die poetische Epiphanie, der Aufzug der Romanze, steht unmittelbar bevor. Zwischenzeitlich lä sst Tieck weitere Personen auf der Waldbü hne erscheinen, darunter eine Pilgerin, welche „die falsche Welt verlassend, […] einer Klaus’ entgegen“103 wallt, ferner „Ein Liebender“, ein Kü ster und zwei Reisende. Bezeichnenderweise werden die meisten von ihnen den entscheidenden Moment verpassen; denn kurz bevor „Die Romanze“ auftritt, stellt der erste Reisende nü chtern fest: Wir stehn, so glaub’ ich immer, in der Schonung, Die abgehegt vom andern Walde ist, Der Jä ger kommt, uns alle abzustrafen. Ich hab’ so viel Erfahrung doch gewonnen Auf meinen Reisen, daß ich mich mit Klugheit Vor allem Schaden hü t’. Ich geh nach Hause.104

Ebendort, wo sich dem Dichter eine fantastische „Mä rchenwelt“ auftut, sieht der Tourist lediglich eine forstwirtschaftliche Nutzflä che, die nicht betreten werden darf; was Diesem Lebensraum von „Geister[n]“, ist Jenem der Arbeitsplatz des Jä gers; was dem Dichter theoretisch „in eins“ fließen kann, bleibt fü r den Reisenden nach strengen Maßgaben der Praxis „abgehegt“ und unterteilt. Seine philiströ se „Klugheit“ vereitelt ihm die Teilhabe am Wesen der Romanze. Auch der zweite Reisende wird ihrer nicht ansichtig, denn eben angekommen, lenkt ihn seine Reiselust schon den nä chsten oberflä chlichen Eindrü cken zu: „Ich verweile mich zu lange, / […] / Die Betrachtung macht mir bange. / Warum soll ich hier noch harren?“ Und auch der Kü ster, der bezeichnenderweise soeben von der Reparatur einer Turmuhr zurü ckkehrt und sich in seinem Auftrittsmonolog als Gegner des ›Unzeitgemä ßen‹ erklä rt, zieht von dannen. – Kaum sind die drei abgetreten, erscheint „Die Romanze“. Vom Dichter begrü ßt und befragt, legt sie ohne Umschweife ihre Abkunft dar: „Meine Eltern will ich nennen, / Glaube heißt mein edler Vater, / Und die Mutter ist die Liebe“ 105 . Von ihrer ›Großmutter‹ mü tterlicherseits weiß sie ausfü hrlicher zu berichten: Als die neue Lehr’ erblü hte, […] 102 103 104 105

Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 8f. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 18.

197

III. Wald und Romantik

Und die Heidengö tter sanken, Flohe Venus, die betrü bte, Nach dem einsam dunkeln Walde, […] Und voll Trug hü llt sie die Glieder In die bü ßenden Gewande.106

Im Bü ßergewand ihrer zurü ckgezogenen Waldexistenz konnte Venus auch in christianisierten Zeiten ü berdauern. Dort im Wald aber „fand sie ein Eremite, / […] Und ihr weltlich Herze lachte, / Als der fromme Mann erglü hte, / Seine Brunst gestand im Wahne. / Drauf gebahr sie nach neun Monden / Liebe mit dem Heilgenglanze“. Venus wurde nach der Geburt „eingeschlossen / In der Felsenklü fte Spalten, / Daß sie keinen Trug ersinne, / Und die Liebe nicht verwandle“107. Die Liebe wuchs im Wald bei ihrem geistlichen Vater auf; dass der Wald eingangs als „[d]er Liebe Tempel“ besungen wurde, erfä hrt dadurch eine tiefere Begrü ndung. – Die Romanze kann demnach christliches und heidnisches Erbe vorweisen; in ihr sind die Sinnlichkeit der Antike und die Metaphysik des Mittelalters zur „Eintracht“108 verbunden. Dass der Dichter sie gerade im Wald antrifft, kommt nicht von ungefä hr: Hier liegen ihre genealogischen Wurzeln, hier hat die romantische Poesie somit ihre eigentliche Heimat. In dieser herausgehobenen Eigenschaft als „im engern Sinne poetische[] Welt“ liegt Baumgart zufolge die „Grundbedeutung“ des tieckschen Waldes: In ä hnlicher Weise, wie der Wald im Mä rchen das „Wunderbare“ als den „Grundgedanken des Mä rchens“ verkö rpere, umschließe er bei Tieck das „Poetische“ als den „Grundgedanken seiner Dichtung“. In beiden Fä llen ist er der realen, prosaischen (Alltags-) Welt als „Gegenprinzip“ opponiert. 109 Unter mehr oder minder deutlicher Bezugnahme auf Tieck wurde dieser Topos einer idealen Waldheimat romantischer Poesie fortan immer wieder aufgegriffen, so etwa von Uhland110, Eichendorff111 oder auch

106

107

108 109

110

111

Ebenda, S. 19. Bezü glich des Waldaufenthalts der Venus sei auch auf die Vermischung von Mythologemen der Gö ttinnen Venus und Diana hingewiesen, wie sie vereinzelt in ikonographischen Darstellungen, aber etwa auch bei Eichendorff zu beobachten ist; siehe hierzu den Stellenkommentar von Ursula Regener in: dies., Fred Lö nker (Hg.), Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild, Stuttgart 2008, S. 63. Damit bringt Tieck das Venusberg-Motiv ein, das er auch in Der treue Eckart und der Tannenhäuser (1799) und Der Runenberg (1804) verarbeitete. Ludwig Tieck, Prolog. Der Aufzug der Romanze, in: ders., Kaiser Octavianus, S. 31. Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 60–64, sowie S. 81f. Zum Wald als Landschaft des Poetischen und „Paradiesort der Phantasie“ vgl. auch Werner Graf, Der Wald als Metapher. Reflexionen zum literarischen Waldbild als Thema des Literaturunterrichts, in: Sieglinde Grimm, Berbeli Wanning (Hg.), Kulturökologie und Literaturdidaktik. Beiträge zur ökologischen Herausforderung in Literatur und Unterricht, Gö ttingen 2016 (= Themenorientierte Literaturdidaktik 1), S. 219–242 (hier besonders S. 229). „Ihr habt gehö rt die Kunde / Vom Frä ulein, welches tief / In eines Waldes Grunde / Manch hundert Jahre schlief. / Den Namen der Wunderbaren / Vernahmt ihr aber nie, / Ich hab’ ihn jü ngst erfahren: / D i e d e u t s c h e P o e s i e .“, Ludwig Uhland, Mährchen, in: ders., Gedichte, Stuttgart 1815, S. 341– 350 (hier S. 341). Erinnert sei etwa an die Apostrophe des Waldes als „[f]rommer Sagen Aufenthalt“ in Joseph von Eichendorff, Der Jäger Abschied, in: ders., Gedichte, Berlin 1837, S. 161. Fü r weitere Belegstellen siehe Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 62.

198

8. Tiefe des Waldes

August Mahlmann112. – Tieck beschließt den Aufzug der Romanze mit dem berü hmten „Allgemeine[n] Chor“: Mondbeglä nzte Zaubernacht, Die den Sinn gefangen hä lt, Wundervolle Mä rchenwelt, Steig’ auf in der alten Pracht!113

8. Tiefe des Waldes Der Wald wirkt […] ganz anders als Heide und Wiese. Kö nnte man jene elegisch, diese naiv nennen, so wü rde er romantisch heißen dü rfen. Denn der Wald hat ein Mysterium. […] Mit bannender Gewalt tritt das alte Naturrä thsel den Menschen an. Das Ahnen und Sehnen der Kreatur ergreift seine Seele.114

Tief in seinem Inneren birgt der romantische Wald ein unergrü ndliches Geheimnis. Allein der Weg dorthin kann das Ziel sein, die unstillbare Sehnsucht nach hö herem Sinn der Antrieb. Wer mit seinem Verstand in das arkane Innerste vordrä nge, vermö chte zwar vielleicht das Geheimnis zu lü ften, wü rde es damit aber zugleich zerstö ren – und mü sste sich zuletzt mit der entzauberten Hü lle begnü gen. Aus der ewigen Annä herung an das letztlich Unerreichbare, den zurü ckweichenden Horizont, die unbestimmte Ferne, die Quelle des Rauschens, die heimlichste Tiefe des Waldes, aus dem andauernden „Unterwegssein zwischen Ursprung und Verheißung“ 115 , speist sich die romantische Poesie. So treibt denn auch Tiecks Romanhelden Sternbald – wie Alfred Anger formuliert – eine „ahnungsvolle Angst vor dem Finden“116. Da liegt es nahe, dass es ihn gern in den wilden Wald verschlä gt, wo er diese Angst am ehesten stillen kann. Im Bewusstsein fundamentaler Hermeneutik thematisiert der romantische Blick auf die Natur die „Grenzen der harmonischen Landschaft, entweder als Ferne oder im Schrecklichen und Bedrohlichen“117. Gesucht wird das geheimnisvoll Verborgene, das unerreichbar hinter dem alltä glich Sichtbaren hervorschimmert. Wie bei der 112 113 114

115

116

117

Siehe Kapitel VII.1. Ludwig Tieck, Prolog. Der Aufzug der Romanze, in: ders., Kaiser Octavianus, S. 38. Hermann Masius, Norddeutsche Vegetationsbilder, in: ders., Naturstudien, Bd. 2, S. 31 und 35. Masius’ Charakterisierung des Nadelwaldes (S. 31–42) wird umfä nglich wiedergegeben bei Carl Rosenkranz, Die Pflanzen im Volksaberglauben. Ein Beitrag zur Pflege des Volkstums in Schule und Haus, Leipzig 21896, S. 32–44. Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 184f. Zur romantischen Bedeutung der Ferne als „Speicher der aufgelö sten Transzendenz“ siehe ebenda, S. 188; zur Sehnsucht nach Ferne außerdem Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 314–316. Alfred Anger, Nachwort, in: ders. (Hg.), Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen, Stuttgart 22007, S. 545–583 (hier S. 582). Vgl. auch Inken Nowald, Wie Maler den Wald gesehen, in: Bernd Weyergraf (Hg.), Waldungen, S. 95–102 (hier S. 95) und Lothar Pikulik, Erzähltes Welttheater, S. 122f. Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem, S. 42. Zur religiö s fundierten „Fernsehnsucht“ der Romantik siehe auch Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 130–135.

199

III. Wald und Romantik

Erkundung des eigenen Unbewussten bleibt in der Erfahrung der ä ußeren Natur stets ungewiss, was als Nä chstes begegnet, ob man sich auf einen Holzweg begibt, wenn man dem lockenden Waldvogel folgt, ob sich schon hinter dem nä chsten Gebü sch eine klaffende Wolfsschlucht auftut. Ahnlich wie im hö fischen Epos des Mittelalters bildet der Wald auch in der romantischen Mä rchenrezeption „die Zone, die sich vor das Land der Erfü llung lagert und die durchschritten werden muß, auch wenn sie bisweilen sich hö chst bedrohlich darstellt“; der selbst zu bahnende Weg in den Wald fü hrt „auf die eigene Schicksalserfü llung zu“118. Die Tiefe des Waldes kennt viele Steigerungen: Nicht selten befindet sich im Herzen des Waldes – gleichsam als Tabernakel seiner metaphysischen Essenz – auch noch ein bodenloser Brunnen, eine unzugä ngliche Schlucht, eine unter Moos verborgene Quelle, ein hohler Baumstamm oder der Eingang zu einer Hö hle.119 Es sind utopische Abgrü nde des Innersten, bei deren Erkundung der romantische Tiefsinn hingebungsvoll seinem ›faustischen‹ Drang frö nen kann – dem als deutschen Wesenszug beanspruchten „Hang, die Dinge in ihrer ganzen Tiefe zu nehmen“ (Eichendorff120). In den Versen Julius Hammers (1851): „O Wald, o Waldeseinsamkeit, / Wie gleichst du dem deutschen Gemü th!“121 118

119

120

121

Heino Gehrts, Der Wald, in: Jü rgen Janning, ders. (Hg.), Die Welt im Märchen, Kassel 1984 (= Verö ffentlichungen der Europä ischen Mä rchengesellschaft 7), S. 37–53 (hier S. 48). Siehe hierzu auch den Hinweis auf die mä rchenhafte Erzä hlung Undine (1811) von Friedrich de la Motte Fouqué , in welcher der abweisende Waldgü rtel um das Haus des Fischers „synonym fü r das genealogische Geheimnis der Wasserfrau“ steht, Hildegard Elisabeth Keller, Wald, Wälder. Streifzüge durch einen Topos, in: Ulrich Mü ller, Werner Wunderlich (Hg.), Burgen, Länder, Orte, Konstanz 2008 (= Mittelalter-Mythen 5), S. 927–941 (hier S. 936). Vgl. Heino Gehrts, Der Wald, S. 42. So muss auch Heinrich von Ofterdingen in seinem sehnsü chtigen Traum zunä chst „in einem dunkeln Walde allein“ wandern, ehe er zu der Felsenhö hle gelangt, in der dann „am Rande einer Quelle“ die berü hmte „blaue Blume“ blü ht, Novalis, Heinrich von Ofterdingen. Ein nachgelassener Roman, Berlin 1802, S. 10–14. Luigi Zanzi bezeichnet es als „[c]aratteristica peculiare d’ogni cultura leggendaria della foresta […] che il suo ›genio silvano‹ si rifuga nel suo ›cuore‹: la sua divinità non trascende la foresta (non sale al cielo) ma si inabissa, si confonde in essa, nel suo ›cuore‹ più ›segreto‹ e più ›oscuro‹.“ Anhand dieser Eigenschaft versucht er den Unterschied zwischen „bosco“ und „foresta“ festzumachen, da ersterer „una dimensione di cognizione sozializzata“ aufweise, die hingegen „nella foresta […] viene sostituita da una notizia rivelata da misteriose divinità silvane o dai geni che ne sono l’interpretazione. […] Si potrebbe pertanto dire che il ›bosco‹ è la porzione socializzata della foresta […].“, Luigi Zanzi, Per una storia ›naturale‹ dei rapporti culturali, S. 1204. Stauffer macht in der mittelalterlichen Literatur die Tendenz aus, wonach sich das mit dem ganzen Wald assoziierte ›Wunderbare‹ im Laufe der Zeit immer weiter „in das Innere des Waldes“ zurü ckzieht, Marianne Stauffer, Der Wald, S. 27f. Siehe ferner Schnyders Ausfü hrungen zum „(w)ortlosen Wald“ im mittelalterlichen Artusroman Iwein: Ein im wilden Wald verborgener Brunnen wird durch die Erzä hlung Kalogrenants „ausgemessen und in die Sprache gebannt“; der Ort verliert durch diese begriffliche Eingliederung in die hö fische Artuswelt seine „ursprü ngliche Magie“, Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens, S. 302–310. „Die deutsche Nation ist die grü ndlichste, innerlichste, folglich auch beschaulichste unter den europä ischen Nationen, mehr ein Volk der Gedanken, als der That. […] Dieser Hang, die Dinge in ihrer ganzen Tiefe zu nehmen, scheint von jeher der eigenthü mliche Beruf der germanischen Stä mme zu sein.“, Joseph von Eichendorff, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, Bd. 1, S. 1. Hinsichtlich der „romantischen Entdeckung der Tiefe“ siehe die einschlä gigen Kapitel in Burkhard MeyerSickendiek, Tiefe. Über die Faszination des Grübelns, Mü nchen 2010. Julius Hammer, Wenn hoch in den Wipfeln brauset der Sturm, in: ders.: Schau um dich und Schau in dich. Dichtungen, Leipzig 1851, S. 121. „Der deutsche Wald, das deutsche Herz, / Sie sind einander eng verwandt“, dichtet Pfarrius und merkt kritisch an: Wie es im „tiefe[n] deutsche[n] Wald […] / Nur

200

9. Waldnacht – „wie in einem Zwischenreiche“

9. Waldnacht – „wie in einem Zwischenreiche“ Mich umfä ngt ambrosische Nacht; in duftende Kü hlung Nimmt ein prä chtiges Dach schattender Buchen mich ein, In des Waldes Geheimniß entflieht mir auf einmal die Landschaft, Und ein schlä ngelnder Pfad leitet mich steigend empor.122

Schillers Spaziergang fü hrt in „des Waldes Geheimniß“: Mit dem Eintritt geht ein gewisser Kontrollverlust einher. Das Subjekt lä sst sich hier passiv von der Natur ›umfangen‹, ›einnehmen‹ und ›leiten‹. Die visuell beherrschte Landschaft „entflieht […] auf einmal“, da der dominante Sehsinn durch Dunkelheit in enge Schranken gewiesen wird. Suchend lä sst Schiller den Blick schweifen, hinauf zum „prä chtige[n] Dach“, zurü ck auf die schwindende Landschaft, voraus den „schlä ngelnde[n] Pfad“ entlang. Er appelliert an alle Sinne, die „duftende Kü hlung“ und das Brausen „aus dem nahen Gebü sch“ 123 wahrzunehmen. Die wechselvoll-pittoresken Natureindrü cke fungieren als herausfordernde und fö rdernde Schule der Sinne: „Deiner Dä mm’rung grü nlich Licht / Stä rkt das leibliche Gesicht“124, lobte einst Brockes den Wald. – Die von den Romantikern so geschä tzte Obskuritä t des Waldes, konstitutives Merkmal seiner Erhabenheit, aktiviert zum Einen die subjektive Imagination, kann zum Anderen aber auch einen Prozess sinnlicher Konzentration und Fokussierung auslö sen. Das Wahrnehmungsdefizit des ersten Augenblicks wird in diesem Fall durch sukzessive Anpassung der Sinne graduell bewä ltigt. So kann der Aufenthalt im Wald sowohl mit Verwirrung und Betä ubung als auch mit Schä rfung und Verfeinerung der Sinne assoziiert werden.

QR Abenteuer gebe es wahrlich zur Genü ge in den kaledonischen Wä ldern, erfä hrt Rinaldo im vierten Gesang von Ariosts Orlando furioso. Ob man aber all den Erzä hlungen auch wirklich Glauben schenken dü rfe, sei sehr fraglich: Ma come i luoghi, i fatti ancor son foschi: Che non se n’ha notitia le piu volte.125

122 123 124

125

selten […] zu Frü chten“ komme, so reiften auch die deutschen „Idee’ngebilde, reich und kü hn, […] Nur selten […] zur That“, Gustav Pfarrius, Der deutsche Wald, das deutsche Herz, in: ders., Die Waldlieder, S. 57. Als „genuine German landscape of spiritual profundity“ charakterisiert den romantischen Wald Johannes Zechner, Politicized Timber: The German Forest and the Nature of the Nation 1800–1945, in: The Brock Review 11 (2011), Nr. 2, S. 19–32 (hier S. 20). Friedrich Schiller, Der Spaziergang, in: ders., Gedichte, Bd. 1, S. 51. Ebenda, S. 50. B[arthold] H[einrich] Brockes, Der Wald, in: ders., Irdisches Vergnügen in Gott, S. 194. Zum „Offnen der Sinne“ und der damit einhergehenden „Entdeckung der Natur als Teil des Prozesses der Aufklä rung“ siehe auch Helmut J. Schneider, Naturerfahrung und Idylle, S. 293–298. Lodovico Ariosto, Orlando furioso, Vinegia 1551, fol. 18 verso.

201

III. Wald und Romantik

Zwielichtig wie der Ort seien auch die darin begangenen Taten. Denn wer kö nnte schon bestä tigen oder nachprü fen, was einem Tristan, Lancelot oder Gauvain hier einst Wunderbares widerfahren sein soll, da doch alles unter dem Schleier des Waldes geschah? Die „gesteigerte Realitä t“126 des Waldes beflü gelt die Phantasie, macht vieles denkbar und glaubhaft, hä lt jedoch zugleich alles in der Schwebe der Ungewissheit. Sie bringt – frei nach Herder – eine poetische Stimmung hervor, „wo man trä umt, weil man nicht weis, glaubt, weil man nicht siehet“ 127 . Diese traumhafte Wirkung romantischer Wald- und Felsenlandschaft erfä hrt Novalis 1797 bei einer Wanderung im Harz: Man sei dort „geneigt […], ein wenig mehr zu glauben als auf dem platten Lande; denn man findet sich in einer wunderbaren Umgebung. Die Felsen nehmen allerlei seltsame Gestalten an.“128 Eben dieser Wirkung bedient sich auch das Libretto des Freischütz, zudem großteils zur Abend- und Nachtzeit spielend.129 Die dramaturgische Pointe dieser Oper, dass nä mlich letzten Endes das Vertrauen in die gö ttliche Vorsehung ü ber den vermeintlichen Fatalismus triumphiert, funktioniert nicht zuletzt dadurch, dass die Kausalitä t aller Vorgä nge durch das zwielichtige Waldambiente in der Schwebe gehalten wird, so dass es Max scheint, „finstre Mä chte“ (I/4) hä tten sich seiner bemä chtigt. In einem seiner Aufsä tze ü ber den Freischütz stellt Richard Wagner fest, dass die Handlung schlichtweg albern wirken mü sste, wenn sie „zu platt in das konventionelle Leben gesetzt“ 130 wä re, wogegen ihr die sagenhafte Verortung in bö hmischer Waldlandschaft ü berzeugende Glaubwü rdigkeit verleihe. Treffend lä sst sich auf die spezifische Stimmung des Waldschauplatzes anwenden, was Wagner in „Zukunftsmusik“ zum allgemeinen Charakter „sagenhafter“ Stoffe ausfü hrt: Durch die Waldesstimmung wird Ereignissen eine „sagenhafte Fä rbung“ verliehen, durch die „der Geist sofort in denjenigen trä umerischen Zustand versetzt“ wird, in dem er „einen neuen Zusammenhang der Phä nomene der Welt gewahrt, […] den er mit dem Auge des gewö hnlichen Wachens nicht gewahren konnte“. Die kü nstlerische Anwendung dieser sagenhaften Fä rbung diene dazu, der „Frage nach dem Warum? beschwichtigend vorzubeugen“ und die „Scheu vor dem Unbegreiflichen der Welt zu ü berwinden“.131 – „Die Waldeinsamkeit“, resü miert Hammes,

126

127

128

129

130

131

Zur Thematik des Waldes und der ritterlichen Abenteuer im Orlando furioso siehe Marianne Stauffer, Der Wald, S. 178–194. Herder kennzeichnet mit diesen Worten die „sinnliche[] Anschauung“ des „Volksglaubens“, B. [= Johann Gottfried Herder], Von Aehnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, nebst Verschiednem, das daraus folget, in: Deutsches Museum 2 (1777), 11. Stü ck (November), S. 421–435 (hier S. 424). Novalis an August Cö lestin Just, Brief vom 1. Juli 1797, zitiert nach Rudolf Walbiner (Hg.), Reisebriefe deutscher Romantiker, S. 82–86 (hier S. 85). „[S]eltsame Gestalten“ nimmt die Umgebung ganz konkret in der Wolfsschlucht-Szene (II/6) an: Max „deutet nach dem Felsen, welcher noch vom Mondlicht beleuchtet ist. Man erblickt eine weiß verschleierte Gestalt, die die Hand erhebt.“ Richard Wagner, „Der Freischütz.“ An das Pariser Publikum, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 1, Leipzig 1871, S. 259–273 (hier S. 265). Richard Wagner, „Zukunftsmusik“, S. 37.

202

9. Waldnacht – „wie in einem Zwischenreiche“

„ist das ideale Milieu fü r phantastische Erzä hlungen, denn Dä mmer und Waldesrauschen lassen hier vieles wahrscheinlich sein, was man sonst als unglaubhaft ablehnt.“132 Gegensä tze und Distinktionen verfließen im Wald zu changierenden Zwischenzustä nden, zwischen Hell und Dunkel, Stille und Klang, Innen und Außen, Vertrautheit und Fremde, Idealitä t und Realitä t, Wachbewusstsein und Traum.133 Wä hrend das ›aufklä rende‹ Tageslicht eine klar differenzierte, schale Trivialwelt enthü llt, verheißt Dä mmerschein romantische Wiederverzauberung. Novalis bedauert, dass „die neuere wohlhabendere Zeit das einfö rmige und unbedeutendere Bild eines allgemeinen Tages darbietet“, wo doch gerade in den Hell-Dunkel-Ubergä ngen „wie in einem Zwischenreiche, eine hö here, geistliche Macht durchbrechen zu wollen“ scheine. „Wer wandelt nicht gern im Zwielichte, wenn die Nacht am Lichte und das Licht an der Nacht in hö here Schatten und Farben zerbricht“?134 Der romantische Wald schirmt das „graue Licht“ der Aufklä rung (Tieck135) oder „ä ußere Weltlicht“ (Jean Paul136) ab und bricht es zu fließenden, farbenreich vermittelnden Gradienten. Im Aufzug der Romanze preist Tieck die „grü ne Nacht / Im Walde“ mit den Versen: „Der Tag versteckt sich in den Schatten“, so dass „sich Traum und Wahrheit gatten, / Sich die Geister wiederfinden, / Die auf Erden hier geschieden“137. Der Wald als Ort entspricht der Nacht als Zeit.138 Potenziert ist die romantisierende Wirkung in der ›Waldesnacht‹.139 Wä hrend dem Menschen im gewö hnlichen 132 133

134 135

136

137

138

139

Michael Paul Hammes, ›Waldeinsamkeit‹, S. 28f. Vgl. Werner Graf, Der Wald als Metapher, S. 231f., Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur, S. 171 und Otto zur Linde, Heinrich Heine und die deutsche Romantik, Freiburg im Breisgau 1899, S. 149: „Die Dä mmerung verwischt alle Grenzen […]. Die Gegensä tze wohnen streitlos nebeneinander.“ Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 33f. „Ich hasse die Menschen, die mit ihrer nachgemachten kleinen Sonne in jede trauliche Dä mmerung hineinleuchten und die lieblichen Schattenphantome verjagen, die so sicher unter der gewö lbten Laube wohnten. In unserm Zeitalter ist es vielleicht Tag geworden, aber das romantische Mondlicht war schö ner, als dieses graue Licht des wolkigen Himmels; den Durchbruch der Sonne und das reine Aetherblau mü ssen wir erst von der Zukunft erwarten.“, Ludwig Tieck, William Lovell, Bd. 1, S. 87. Der romantische „Mondschimmer“ verflü chtigt sich, sobald, wie es „oft bey theatralischen Vorstellungen vorfä llt, zuweilen eine aufgehende Bü hnen-Thü re das ä ußere Weltlicht hereinlä sset und so die poetische Beleuchtung unterbricht durch eine weltliche.“, Jean Paul, Vorschule der Aesthetik, Bd. 1, S. 103 (Fußnote). Ludwig Tieck, Prolog. Der Aufzug der Romanze, in: ders., Kaiser Octavianus, S. 36. Vgl. dazu Tiecks Beschreibung der Wirkung einer romantischen Gegend (Giebichenstein bei Nacht) in einem Brief an Wilhelm Heinrich Wackenroder vom 12. Juni 1792: „[…] [M]ir war, als lebt ich in der fernsten Vergangenheit, […] alles stimmte die Phantasie so rein, so hoch. Oft saß ich halb im Traum, halb wachend, mit einem Auge sü ße Trä ume sehend, mit dem andern in die schö ne Gegend blickend“, zitiert nach Rudolf Walbiner (Hg.), Reisebriefe deutscher Romantiker, S. 5–8 (hier S. 6–8). Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens, S. 288 und S. 322. „And here a different Horrour seizes our shelter’d Travellers, when they see the Day diminish’d by the deep Shades of the vast Wood; which closing thick above, spreads Darkness and eternal Night below.“, [Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury], The Moralists, a Philosophical Rhapsody, London 1709, S. 201f. Johann Gabriel Seidls Nachtgesang im Walde, von Franz Schubert fü r Mä nnerchor und Hö rnerquartett vertont (D 913), schließt mit den Versen: „Und rufen wir im Sange: / Die Nacht ist im Walde daheim, / So ruft das Echo lange: / Sie ist im Wald daheim! / Drum sey uns, doppelt hier im Wald, / Gegrü ßt, o stille Nacht; Wo Alles, was dich schö n uns mahlt, / Uns noch weit schö ner lacht.“, Johann Gabriel Seidl, Nachtgesang im Walde, in: Allgemeine Theaterzeitung und Unterhaltungsblatt fü r Freunde der Kunst, Literatur und des geselligen Lebens 20 (1827), Nr. 103 (28. August), S. 421.

203

III. Wald und Romantik

Wachbewusstsein offenbarende Einsichten in die Geheimnisse der (eigenen) Natur verwehrt bleiben, kann sich in dä mmrig traumhaftem, halbbewussten Zustand ein sympathetisches ›Ansprechen‹ ereignen, das ihre ›Sprache‹ und ›Musik‹ vernehmlicher scheinen lä sst.140 In Wagners Bearbeitung des Tristan-Stoffes – Zeugnis „erzromantische[r] Nachtverherrlichung“ (Thomas Mann141) und große „Verschmelzungsfantasie“142 – spielt der zweite Akt bei „anmutige[r] Sommernacht“ in einem parkä hnlichen „Garten mit hohen Bä umen“. In Zeit und Raum manifestiert sich die Vormacht der Sensibilitä t ü ber die Vernunft.143 Die „Tages-Sonne, / mit ihrer Strahlen / eitler Wonne“144 kann nicht durchdringen. Der als Vorlage herangezogenen Fassung Gottfrieds von Straßburg entsprechend (und abweichend von den ä lteren Fassungen Bé rouls und Eilharts von Oberg) vollzieht sich auch bei Wagner die ›unio mystica‹ des Liebespaares („Himmelhö chstes Weltentrü cken“) nicht in lebensfeindlicher Waldwildnis, sondern an einem domestizierten ›locus amoenus‹. Ahnlich wie Agathe im Freischütz (II/2), richtet Isolde in Erwartung des Geliebten ihre gespannte Aufmerksamkeit auf das ›beredte Schweigen‹ der nä chtlichen Landschaft. Das in der Ferne verklingende „Jagdgetö n“, „des Laubes sä uselnd Getö n“ und das Rauschen „des Quelles sanft rieselnde[r] Welle“ lassen die naturrä umliche Weite klanglich in Erscheinung treten und gehen fließend ineinander ü ber.145 Das klangliche Verschwimmen146 thematisiert auch der Eingangsdialog, in welchem Isolde und Brangä ne sich gegenseitig vorhalten, von ihren subjektiven Hö reindrü cken „beirrt“ oder „[ge]tä uscht“ zu werden.

140

141

142

143

144

145

146

Robert Mü hlher, Natursprache und Naturmusik bei Eichendorff, S. 5f. und S. 15–17. Zur romantischen Auffassung des Traums als Offenbarung hö herer Wirklichkeit siehe Lothar Pikulik, Erzähltes Welttheater, S. 132–138; zur Nacht als „jenseitsoffene Zeit“ siehe Will-Erich Peuckert, Sagen, S. 93. Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners, in: ders., Reden und Aufsätze, Bd. 1, S. 399. Zum romantischen Nachtkult siehe weiterhin Lothar Pikulik, Erzähltes Welttheater, S. 132–136. Stefan Bö rnchen, „Alles weiß ich: alles ward mir nun frei!“. Natur-Stimmung und Welten-Erlösung in Richard Wagners ›Götterdämmerung‹, in: ders. u.a. (Hg.), Jenseits von Bayreuth. Richard Wagner heute: Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven, Paderborn 2014, S. 41–62 (hier S. 54). Zur Waldmotivik in den Tristan-Erzä hlungen siehe Marianne Stauffer, Der Wald, S. 55–72, sowie Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens, S. 270f. und Stefan Plasa, Minnegrotte und Wald von Morrois, in: Ulrich Mü ller, Werner Wunderlich (Hg.), Burgen, Länder, Orte, Konstanz 2008 (= Mittelalter-Mythen 5), S. 587–599. Richard Wagner, Tristan und Isolde, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 7, S. 1–112 (hier S. 57). Zur musikalischen Gestaltung und dramatischen Funktion des „Jagdgetö n[s]“ siehe die Anmerkungen bei Monika Lichtenfeld, Zur Technik der Klangflächenkomposition bei Wagner, in: Carl Dahlhaus (Hg.), Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, Regensburg 1970 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 23), S. 161–167 (hier S. 163f.) und Stefan Kunze, Naturszenen in Wagners Musikdrama, in: Carl Dahlhaus u.a. (Hg.), Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Bonn 1970. „Reflexionen über Musikwissenschaft Heute“, Kassel 1971, S. 199–212 (hier S. 201). Vgl. hierzu auch Abschnitt II.5.3.c.

204

10. Der Wald hat Ohren

10. Der Wald hat Ohren Die Opazitä t und Dunkelheit des Waldes beschrä nkt die visuelle Weltaneignung und lä sst dafü r andere Sinneseindrü cke prominenter hervortreten. Das Gewahrwerden dieser Verschiebung liegt dem alten Sprichwort „Das Feld hat Augen, der Wald hat Ohren“ 147 zugrunde. In der „verworrendrä ngenden Fü lle“ des hermetischen Waldesinneren fü hle sich der „herrschensgewohnte Sinn des Auges […] ü berwä ltigt“, fü hrt der sä chsische Pä dagoge Hermann Masius in seinen Naturstudien (1857) aus. Ein „unsichtbares Sausen und Flü stern zieht durch die stillbewegte Wildniß“, das Ohr werde „von den leisen schwebenden Stimmen wie in einen Traum gesungen“, in dem sich Alles „zu einem großen und ahnungsvollen Gesamteindrucke“ vereinige. Der Wald rege deshalb „[w]ie wenig anderes in der Natur […] die Phantasie auf.“148 Gesteigerte auditive Sensibilitä t fü r das „eigenthü mliche, keineswegs lautlose, Leben und Weben der Natur im Walde“ konstatiert auch der Botaniker Matthias Jacob Schleiden und verweist in diesem Betreff auf den „engen Zusammenhang, in welchem der Laut […] mit unserem gesammten Nervenleben und somit unserem Geist und insbesondere unserer Phantasie steht.“149 Im Wald lä sst sich mitunter noch die kosmische Harmonie jener „Natur von altem Stile“ 150 erahnen, welcher der romantische Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert in seinen einflussreichen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft huldigte. Der Reiz des unvermittelten Ertö nens unsichtbarer Schallquellen, wie er durch Tierlaute, das Blä tterrauschen des Windes oder auch entfernten Hö rnerklang hervorgerufen wird, musste der romantischen Prä dilektion fü r den Hö rsinn in besonderer Weise entgegenkommen.151 147

148

149

150

151

Ida von Dü ringsfeld, Otto Freiherr von Reinsberg-Dü ringsfeld, Sprichwörter der germanischen und romanischen Sprachen, Leipzig 1872, Nr. 453, S. 230f. Das Sprichwort ist in Dutzenden Varianten ü berliefert (bezeichnenderweise auch als „Der Tag hat Augen, die Nacht hat Ohren“, ebenda, S. 230) und bereits in der lateinischen Literatur des Mittelalters nachweisbar: „Aures silva, oculos campi dicuntur habere / Ergo loqui caute decet aut omnino tacere.“, siehe das Lemma ›Schweigen‹, in: Kuratorium Singer (Hg.), Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanischgermanischen Mittelalters, Bd. 10, Berlin 2000, hier S. 298. Hieronymus Bosch setzte das Sprichwort in einer seiner berü hmtesten Zeichnungen um, siehe hierzu den detaillierten Kommentar von Stefan Fischer, Hieronymus Bosch. Malerei als Vision, Lehrbild und Kunstwerk, Kö ln 2009 (= Bonner Beiträ ge zur Kunstgeschichte 6), S. 165–172. Zum Wald als „Schweigeort“ siehe Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens, S. 287–332. Hermann Masius, Norddeutsche Vegetationsbilder, in: ders., Naturstudien, Bd. 2, S. 31f. Masius’ Ausfü hrungen werden zitiert bei Carl Rosenkranz, Die Pflanzen im Volksaberglauben, S. 32. M[atthias] J[acob] Schleiden, Für Baum und Wald, S. 4f. Wie im Stimmungsbegriff klingt hier die physikalische Vorstellung des subjektiven „Nervenleben[s]“ als in Schwingung versetzbares Saitenspiel an; vgl. Kapitel II.5.4. „Es gab und giebt noch eine Natur von altem Stile, im Vergleiche mit welcher unsere alltä gliche Natur als eine von neuem Stile erscheint. Diese ist von jener weit verschieden, und in ihr hat sich die alte Harmonie der Sphä ren in eine stumme Musik verwandelt, wo man nur noch die Bewegungen der Instrumente und die Anstrengungen und Mienen der Musikanten sieht, aber keinen Laut hö rt.“, Gotthilf Heinrich von Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 41840, S. 266. Zum romantischen Fokus auf den Gehö rsinn siehe Susanne Scharnowski, „Es spricht nicht, es rauscht und toset nur!“, S. 43. Das in der romantischen Literatur dutzendfach geschilderte Phä nomen plö tzlich erklingender ›Waldmusik‹ (vgl. Kapitel II.5.3.) wurde mitunter auch in realen Auffü hrungssituationen

205

III. Wald und Romantik

Im Anschluss an die schopenhauersche Traumtheorie fü hrt Richard Wagner in seiner Beethoven-Festschrift (1870) aus, dass sich die „Schallwelt“ zur „Lichtwelt“ verhalte „wie der Traum zum Wachen“. Das „sympathische Gehö r“ versetze in einen „traumartigen Zustand“, der sich etwa darin zu erkennen gebe, dass beim Musikhö ren „das Gesicht in der Weise depotenzirt wird, daß wir mit offenen Augen nicht mehr intensiv sehen.“152 Mithin stelle sich ein Zustand „somnambulen Hellsehens“ ein, in dem der vorhandene Weltausschnitt „nicht mehr mit Bewußtsein“ wahrgenommen werde. So gewä hrt das im Waldesinneren geltende Primat des allverbindenden Hö rsinns ü ber den vereinzelnden Sehsinn einen unmittelbaren, prä rationalen Naturzugang: So […] versteht der sehnsü chtige Jü ngling den Lockgesang der Waldvö gel, so spricht die Klage der Thiere, der Lü fte, das Wuthgeheul der Orkane zu dem sinnenden Manne, ü ber den nun jener traumartige Zustand kommt, in welchem er durch das Gehö r Das wahrnimmt, worü ber ihn sein Sehen in der Tä uschung der Zerstreutheit erhielt, nä mlich daß sein innerstes Wesen mit dem innersten Wesen alles jenes Wahrgenommenen Eines ist, und daß nur in dieser Wahrnehmung auch das Wesen der Dinge außer ihm wirklich erkannt wird.153

Eine „wirklich[e]“ Wahrnehmung der Natur als Ganzes sei demnach nur auf aurikularem Weg mö glich, wogegen sie dem analytisch-unterscheidenden Sehsinn vorenthalten bleibe. 154 – Der Waldraum stellt gewissermaßen das Naturvorbild der Wagner als Ideal vorschwebenden Auffü hrungssituation dar, in der eine berü ckende, traumartige Unmittelbarkeit subjektiven Erlebens dadurch erreicht wird, dass dem „depotenzirt[en]“ Sehsinn der zerstreuende Anblick der Klangerzeugung verwehrt

152 153

154

reproduziert. So berichtet 1805 ein Rezensent von einem Festkonzert im Schlosspark Nymphenburg: „Chö re erhoben sich unsichtbar aus dem umgebenden Walde; Echos liessen sich hö ren …“, [anonym], „Mü nchen, den 16ten July“, Rubrik ›Nachrichten‹, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 7 (1805), Nr. 44 (31. Juli), Sp. 709–711 (hier Sp. 711). Richard Wagner, Beethoven, Leipzig 1870, S. 9 und S. 15f. Ebenda, S. 15. Vorgebildet ist diese Unterscheidung zwischen der Oberflä chlichkeit visueller und Tiefe akustischer Eindrü cke bereits in Jean Pauls Erö rterungen zum Wesen der Trä ume: „Das Ohr ist ü berhaupt die Tiefe der Seele, und das Gesicht nur ihre Flä che; der Klang […] verdichtet den Geist; das Sehen zerstreut, und zerlegt ihn auf Flä chen.“, Jean Paul, Museum, Stuttgart 1814, S. 326. Dieses Potential zur momentanen Uberwindung der Naturentfremdung wurde auch der Musik Wagners attestiert: „Die Musik zeigt sich daher auch geeignet, Naturvorgä nge darzustellen. Das Lautleben der Natur erscheint in ihren Tö nen verklä rt. Tonstü cke wie Beethoven’s Pastoralsymphonie oder R. Wagner’s ›Waldweben‹ erschließen uns gleichsam das innerste Wesen der Natur. In ihnen enthü llen sich ihre tiefsten Geheimnisse unseren lauschenden Sinnen.“, Siegmund von Hausegger, Die Musik als Ausdruck, Wien 21887, S. 214.

206

10. Der Wald hat Ohren

und das „sympathische Gehö r“ folglich mit einem ganzheitlichen, ›unendlich‹ anmutenden Musikeindruck konfrontiert wird. 155 Verschrä nkt sind Musik- und Walderlebnis in Wagners Metapher der „große[n] Waldesmelodie“156.

155

156

Einzelne Andeutungen Wagners weisen in diese Richtung: So erklä rt er in Das Kunstwerk der Zukunft den Eichenhain von Dodona zum Prototypen des Theaterbaus (vgl. die Anmerkung im Kapitel VI.2.) und flicht in einem 1841 entstandenen Aufsatz ü ber Halé vys La Reine de Chypre die Bemerkung ein, dass im Zuschauerraum der Pariser Großen Oper „romantische[s] Halbdunkel von Eichenhainen und italienischen Kellern“ herrsche, Richard Wagner, Bericht über eine neue Pariser Oper. (›La Reine de Chypre‹ von Halévy.), in: ders., GSD, Bd. 1, S. 299–319 (hier S. 302). Siehe hierzu Kapitel VIII.3. Ohne sich explizit auf Wagner zu beziehen, spricht der Kunsthistoriker Ulrich Christoffel 1920 von einem „Doppelerlebnis der romantischen Seele im Walde und in der Musik“: Wie der Wald, so erscheine nach romantischer Auffassung „[a]uch die Musik […] nach außen als ein geschlossenes Gefü ge einer symphonischen Harmonie. […] Wie im Walde wurde das Ich in der Musik in einen traumhaften Zustand versetzt und erlebte ein unwirkliches Dasein; wie dort blieben die Sinne aber dabei wach und erfrischten sich an den Lautschö nheiten und Klangreizen der einzelnen Tö ne und Akkorde, die ihnen in reichem Wechsel geboten wurden.“, Ulrich Christoffel, Die romantische Zeichnung von Runge bis Schwind, Mü nchen 1920, S. 111.

207

IV. Wald und Mittelalter 1. Wald in der romantischen Mittelalterrezeption Als der Historiker Heinrich von Treitschke im Jahr 1879 eine kritische Wü rdigung der „Romantiker“ versuchte, sah er deren Verdienst weniger in ihrer kü nstlerischen Produktion, als darin, dem „Fü hlen und Denken der Nation“ einen „neuen, weiten Gesichtskreis“1 erschlossen zu haben. Mit ihren „kü hnen Entdeckerfahrten“ nach dem Unbekannten, Exotischen und Authentischen hä tten sie den „historische[n] Sinn“ erweckt und jegliche Kultur als „Entfaltung des Volksgeistes“ begreiflich gemacht: Da sie ü berall in der Geschichte nach dem Volksthü mlichen und Ursprü nglichen suchten, so gelangten sie endlich auf seltsamen Umwegen zu der Frage: wie sich denn dies neue deutsche Volk gebildet habe? […] Die Deutschen entdeckten mit freudiger Beschä mung, wie lä cherlich wenig sie doch von dem Reichthum des eigenen Landes gekannt hatten. Die verrufene finstere Nacht des Mittelalters leuchtete wieder in freudigem Glanze.2

Die Suche nach einem nationalen Selbst fü hrte in die Vergangenheit. Das Ansinnen, die „nationale Kulturwä hrung aufzuwerten gegenü ber Vö lkern, die bereits ein entwickeltes antikes Mythen-System besaßen“ 3 , befö rderte die Aufarbeitung, 1 2 3

Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte, S. 205–209 (hier S. 207). Ebenda, S. 208. Rudolf Schenda, Mären von Deutschen Sagen. Bemerkungen zur Produktion von ›Volkserzählungen‹ zwischen 1850 und 1870, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), Nr. 1, S. 26–48 (hier S. 34). Vgl. Michael Titzmann, Die Konzeption der ›Germanen‹ in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Jü rgen Link, Wulf Wü lfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Stuttgart 1991 (= Sprache und Geschichte 16), S. 120–146 (hier S. 121f.). Das Bestreben, auf den Spuren Herders und Klopstocks die eigene nationale Identitä t historisch zu fundieren, begü nstigte die Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Systematisierung geisteswissenschaftlicher Disziplinen wie der Germanistik. Von der „wissenschaftlichen Verankerung romantischen Suchens nach der deutschen Volksseele“ spricht Siegfried Becker, Märchenwälder im hessischen Vor- und Nachmärz. Zur politischen Symbolik des Waldes, in: Andreas Hedwig (Hg.), „Weil das Holz eine köstliche Ware …“. Wald und Forst zwischen Mittelalter und Moderne, Marburg 2006 (= Beiträ ge zur Geschichte Marburgs und Hessens 2), S. 59–74 (hier S. 62). Dass etwa die Geschichtswissenschaft „ü berwiegend in diesem nationalen Fahrwasser erst schwimmen gelernt“ habe, postulierte bereits Dietrich Schä fer, Deutsches Nationalbewußtsein im Lichte der Geschichte. Akademische Antrittsrede, Jena 1884, S. 31. Erst in jü ngerer Vergangenheit begann die Rezeptionsforschung den historischen Gehalt der von der europä ischen Romantik reklamierten ›Wiederentdeckung‹ des Mittelalters kritisch zu hinterfragen, siehe hierzu Matthias Herweg, Stefan Keppler-Tasaki, Mittelalterrezeption. Gegenstände und Theorieansätze eines Forschungsgebiets im Schnittpunkt von Mediävistik, Frühneuzeit- und Moderneforschung, in: dies. (Hg.), Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur, Berlin 2012, S. 1–12 (hier S. 7f.). Einen knappen Uberblick ü ber ›vorromantische‹ Ansä tze zur Wiederbelebung des Interesses an mittelalterlicher Literatur im 18. Jahrhundert (etwa durch Bodmer, Gottsched, Wieland, Klopstock, Lessing) gibt Danielle Buschinger, Das Mittelalter Richard Wagners, S. 7–14.

209

IV. Wald und Mittelalter

Neubewertung und Revitalisierung mittelalterlicher Kunst und Literatur. So zeitigte die Wende zum 19. Jahrhundert eine ausgeprä gte „Erinnerungskonjunktur“ 4 des Mittelalters. Herausgehobene Bedeutung als (Mit-)Initiator romantischer Mittelalterrezeption kommt Ludwig Tieck zu, der in der altdeutschen Literatur ein Ideal der Einheit von Kunst und Leben verwirklicht sah und eine vorbildliche Publikationstä tigkeit entwickelte.5 Vorstellungen eines deutschen Mittelalters fungierten als weltanschauliche Komponente im Verstä ndnis der eigenen Gegenwart und „ideologisches Argument in der Planung der politischen Zukunft“6. Es sei von Bedeutung „fü r die ganze fernere Entwickelung“ des Volkes und deshalb auch „das vorzü glichste Geschä ft der Dichtkunst“, die „große[n], alte[n] National-Erinnerungen“ als das „herrlichste Erbtheil, das ein Volk haben kann“ zu „erhalten und zu verherrlichen“, erklä rt Friedrich von Schlegel in der ersten seiner Wiener Vorlesungen (1812) ü ber die Geschichte der alten und neuen Literatur.7 Im romantischen Rü ckblick auf ein idealisiertes Mittelalter, das ›goldene Zeitalter‹ der deutschen Nation, verwischten die harten Grenzen zwischen Glauben und Wissenschaft, zwischen Mensch und Natur, zwischen irdischem und transzendentem Sein. Es entsprach dem „poetischen Drange der Romantik“, urteilt Heinrich Laube 1840, „daß er aufgesprungen sei in Nacht und Nebel, und durch Wä lder und Kirchen verkü ndet habe, es sei das Mittelalter wieder da“8.

QR Sie kennen meine Vorliebe fü r das romantische Mittelalter, solche Ruinen sind mir immer ä ußerst ehrwü rdig, fü r die Phantasie hat das Mittelalter sehr viel anziehendes, und der Verstand findet es immer krä ftiger und vorzü glicher als unser schales Jahrhundert.9

4

5 6

7

8

9

Stephanie Wodianka, Zwischen Mythos und Geschichte. Ästhetik, Medialität und Kulturspezifik der Mittelalterkonjunktur, Berlin 2009 (= spectrum Literaturwissenschaft. Komparatistische Studien 17), S. 137–140. Zur Publizistik mittelhochdeutscher Texte um die Wende zum 19. Jahrhundert siehe die knappe Ubersicht bei Christiane Tewinkel, Vom Rauschen singen, S. 102 (Fußnote 91). Siehe hierzu zusammenfassend Danielle Buschinger, Das Mittelalter Richard Wagners, S. 14–16. Antonie Magen, Von der „politische[n] Gewalt des Mittelalters“. Mittelalterrezeption in Eichendorffs politischen Schriften, in: Matthias Herweg, Stefan Keppler-Tasaki (Hg.), Rezeptionskulturen, Berlin 2012, S. 151–165 (hier S. 151). Zum gegenwartskritischen Gestus und den ›kulturpolitischen‹ Motiven der romantischen Mittelalterrezeption siehe auch Gerard Koziełek, Ideologische Aspekte der Mittelalter-Rezeption zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Peter Wapnewski (Hg.), Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion, Stuttgart 1986 (= Germanistische Symposien-Berichtsbä nde 6), S. 119–132. Friedrich von Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur. Vorlesungen, gehalten zu Wien im Jahre 1812, Berlin 1841, S. 12f. Heinrich Laube, Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 3, Stuttgart 1840, S. 113. In der Hinwendung zum christlichen Mittelalter machten zeitgenö ssische Autoren den bestimmenden Wesenszug der ›romantischen Schule‹ aus: „They left Greece and Rome for the Christian middle ages“, resü miert beispielsweise Bisset Hawkins, Germany. The spirit of her history, literature, social condition, and national economy; illustrated by reference to her physical, moral, and political statistics, and by comparison with other countries, London 1838, S. 116. Ludwig Tieck an August Ferdinand Bernhardi, Brief von Ende Juni 1793, zitiert nach Rudolf Walbiner (Hg.), Reisebriefe deutscher Romantiker, S. 35–55 (hier S. 38f.).

210

1. Wald in der romantischen Mittelalterrezeption

An kaum etwas kann sich die romantische Imagination des Mittelalters lebhafter entzü nden, als am Anblick waldumsä umter Burgen.10 In der zitierten Briefstelle ist es die oberfrä nkische Burgruine Neideck, zu der Tieck und Wackenroder 1793 „von der beschwerlichsten Seite“ her aufgestiegen waren. Dem amerikanischen Schriftsteller und ›Waldapostel‹ Henry David Thoreau genü gte schon der Anblick eines Rheinpanoramas, um sich in einen „dream of the Middle Ages“ zu versetzen: „I floated along under the spell of enchantment, as if I had been transported to an heroic age, and breathed an atmosphere of chivalry.“11 Und als Engelbert Humperdinck in den 1880er Jahren den „Fichtelwald“ bereist, geht ihm „[s]ofort […] durch den sinn: hier muß Walther v. d. Vogelweide einmal gewesen sein! Wie ein hauch mittelalterlicher romantik zog es ü ber die schwellenden matten und verklä rte berg und wald im frü hlingslichte.“12 In den drei angefü hrten Fä llen werden Naturausschnitte in der Wahrnehmung durch literarisch vermittelte Erinnerungen ü berlagert, verwandelt und verklä rt. Ein idealer „hauch mittelalterlicher romantik“ legt sich als transformierende Stimmung ü ber das real Vorgefundene und versetzt den Betrachter in die imaginierte Vergangenheit. So wird ein abstraktes Epochenkonzept zur anschaulichen Erfahrung. Auslö ser dieser Verwandlung sind spezifische Landschaftselemente, die Kontinuitä t suggerieren und in der kollektiven Erinnerung eng mit dem Mittelalter assoziiert sind: Burgruinen und Hochwä lder. In Anlehnung an die narrative Struktur der mittelalterlichen Epik zerfä llt in der romantischen Rezeption die Welt des Mittelalters in den hö fischen Innenbereich der Burg und den wilden Außenbereich des Waldes. Wie kaum eine andere Landschaftsform steht Wald fü r die ›Epochenverschleppung‹, fü r anachronistisches Hineinragen der Vergangenheit in die Gegenwart. Fü r Riehl stellte der „deutsche Wald“ noch in seinem gegenwä rtigen Zustand zur Mitte des 19. Jahrhunderts „ein letztes verkö rpertes Stü ck Mittelalter“ 13 dar. Der Vergangenheitsbezug manifestiert sich fü r ihn vorrangig im eigenartig urwü chsigen Rechtsstatus des Waldes, der noch auf „Trü mmer[n] des feudalistischen Elementes“ grü nde. In althergebrachten Waldnutzungsrechten (Allmende) liege „ein nahezu communistisches Herkommen historisch begrü ndet“. Die „Demagogen“ wü ssten, schreibt Riehl mit Blick auf die zurü ckliegende Mä rzrevolution, „daß man zuerst den Wald niederhauen muß, wenn man mit dem Mittelalter in Deutschland aufrä umen will. Darum kommt der Wald bei jeder Volksbewegung am schlimmsten weg.“14 – Im 10

11

12 13 14

Gleichwohl handelt es sich Demandt zufolge bei der umwaldeten Burg um eine „realitä tsfremde Idylle der Romantik“, denn im Mittelalter wurden die Burgberge in der Regel fü r freies Sicht- und Schussfeld kahl geschlagen, Alexander Demandt, Der Baum, S. 191. Zum literarischen Motiv der Waldburg und seinem historischen Gehalt siehe differenzierter Philippe Mé nard, Le château en forêt dans le roman médiéval, in: André Chastel (Hg.), Le château, la chasse et la forêt, Bordeaux 1990, S. 187–214. [Henry David Thoreau], Walking, in: The Atlantic Monthly. A Magazine of Literature, Art and Politics 9 (1862), Nr. 56, S. 657–674 (hier S. 664). Hans-Josef Irmen (Hg.), Engelbert Humperdinck: Briefe und Tagebücher, Bd. 2, S. 85. Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 29. Ebenda, S. 27: „Am Wald und an nichts anderem kö nnt ihr dem deutschen Bauern den Communismus praktisch demonstriren.“ Mit anderer Stoßrichtung weiß 1871 auch der Rechtswissenschaftler Theodor Muther eine juristische Waldmetapher zu gebrauchen: Mit der Ubernahme des rö mischen Rechts

211

IV. Wald und Mittelalter

Wald gelten, mitunter im konkreten wie aber auch im ü bertragenen Sinne, noch die Gesetze und Gesetzmä ßigkeiten des Mittelalters. Die Vergangenheit lebt in der Landschaft. So konnten sich nationale Selbstbespiegelung und romantisches Naturgefü hl im ›deutschen Wald‹ treffen. Nach Hildegard Keller waren es in der Neuzeit zunä chst „erzä hlerische[] Reprisen mittelalterlicher Werke, dann aber auch von der Mittelalterrezeption losgelö ste Texte“, die dem Wald eine eminente Rolle einrä umten und dabei traditionelle Darstellungstopoi aufgriffen.15 Gerade die „vision inquié tante de la forê t“ bewertet Nougarè de als ein Residuum mittelalterlicher Waldauffassung, das durch romantische Vermittlung bis heute seine Wirkung entfalte.16 Literarische Vehikel fü r die Transposition und Fortschreibung vorneuzeitlicher Waldbilder waren vor allem Sagen und (Kunst-)Mä rchen17, aber auch neuere Formen der Erzä hlliteratur wie Gothic Novels oder Schauerromane, die ihre Handlung mit Vorliebe in Mittelalter und Wald ansiedelten. 18 – Einige wesentliche Zü ge der Walddarstellung in der rezipierten Literatur des Mittelalters seien im Folgenden kurz umrissen.

2. Wald in mittelalterlicher Literatur Keiner der bedeutenden hö fischen Romane des 12. und 13. Jahrhunderts kommt ohne Wald aus. Das mittelalterliche Ritterepos lebt „aus der Anschauung riesiger

15

16

17

18

und des modernen Staatswesens sei der „wirre, romantische Wald des deutschen Mittelalters […] bedeutend gelichtet“ worden, „und heutzutage steht kaum hie und da noch eine knorrige Eiche als Denkzeichen vergangener Tage.“, Theodor Muther, Römisches und kanonisches Recht im deutschen Mittelalter. Ein populärer Vortrag gehalten zu Gunsten des Rostocker Hülfsvereins am 20. Februar 1871 in der Aula des Universitätsgebäudes, Rostock 1871, S. 41f. Hildegard Elisabeth Keller, Wald, Wälder, S. 936. Vgl. Yvon Le Scanff, Forêt verte et forêt noire: une polarité romantique, in: Vigor Caillet (Hg.), La forêt romantique. Actes d’un colloque sur le Romantisme, Maine-Giraud, 3–5 juin 2010, Pessac 2012 (= Eidô lon 103), S. 159–171. Olivier Nougarè de, Usages et images de la forêt médiévale a travers les romans de Chrétien de Troyes, in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), L’uomo e la foresta secc. XIII–XVIII, S. 1131–1157 (hier S. 1131f.). „In der Romantik kann […] ein Zentrum der weiterwirkenden Waldliteratur vermutet werden, und zwar gerade in ihren populä ren Werken.“, Werner Graf, Der Wald als Metapher, S. 219–242 (hier S. 224). Bemerkenswerterweise scheute selbst die wissenschaftliche Publizistik der Aufklä rung nicht vor der Tradierung ominö ser Waldmythen zurü ck. Bruland weist darauf hin, dass bis ins 18. Jahrhundert hinein „gerade die gebildeten Zeitgenossen“ die Berichte von (halb-)mythischen Waldwesen wie Satyrn, Tiermenschen, Elfen, Forstteufeln oder Lindwü rmern sammelten und oftmals unkritisch verbreiteten. Durch die schiere Anzahl philologischer Nachweise schien die Existenz dieser Wesen in ihren Augen hinreichend verbü rgt. So referiert das Lemma ›Wald‹ in Zedlers Universal-Lexicon diverse Berichte von Drachensichtungen und resü miert, es sei „unstreitig abzunehmen, daß […] es wü rckliche Satyren oder wilde Mä nner, desgleichen Drachen, Lindwü rmer, grosse Schlangen, und anderes Ungeziefer mag gegeben haben“ (Bd. 52, Sp. 1160); hierzu Hansjö rg Bruland, Wilde Kinder, S. 100. Zum Wald im Mä rchen siehe etwa Heino Gehrts, Der Wald, in: Jü rgen Janning, ders. (Hg.), Die Welt im Märchen, Kassel 1984 (= Verö ffentlichungen der Europä ischen Mä rchengesellschaft 7), S. 37–53, sowie Albrecht Lehmann, Wald. Die Volksliteratur und deren Weiterwirken im heutigen Bewusstsein, in: Ute Jung-Kaiser (Hg.), Der Wald als romantischer Topos, S. 37–52 und Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 33–45. Dimiter Daphinoff, Der Wald im englischen Roman des 18. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Der Wald. Beiträge zu einem interdisziplinären Gespräch, Freiburg 1993 (= Studien und Texte zur Philologie und Literatur, Neue Folge 13), S. 137–156 (hier S. 153).

212

2. Wald in mittelalterlicher Literatur

Wä lder“ 19 , obwohl (oder gerade weil) sich der Waldanteil im deutschsprachigen Raum um 1400 nicht wesentlich von dem heutigen unterschied.20 Dabei ist der Wald „um seiner selbst willen noch kein Sujet der literarischen oder ikonographischen Darstellung“, sondern dient „als literarischer Spiegel der subjektiven Befindlichkeit von Protagonisten“, vor allem aber als „erzä hlerische Bü hne fü r spezifische Handlungselemente“ 21 . So fungiert er geradezu als „topographische Abbreviatur des ritterlichen Aventiurekonzepts“22. Der Waldrand bildet in mittelalterlichen Erzä hlungen die Schwelle zu einer defizitä ren Gegenwelt der hö fisch-christlichen Zivilisation. Wer diese ü bertritt, fü r den beginnt ein abenteuerlicher ›rite de passage‹: Die Liminalitä t des Waldgä ngers kann zum Verlust der Sprache und Identitä t fü hren, die erst nach erfolgreicher Bewä hrung wiedererlangt werden.23 Der kultivierten, geordneten und umhegten Welt der Arbeit stand eine triebhaft-ungezü gelte, entgrenzte, begriffs- und maßlose Waldwildnis als verbotenes Faszinosum gegenü ber. 24 Berufsgruppen wie Jä ger, Holzhauer und Kö hler, die in enger Verbindung zum Wald standen, waren sozial stigmatisiert und galten in der Regel als unehrlich.25 Als tabuisierte Natur haftete dem Wald der Nimbus des Heiligen an. 26 Als sowohl mit großem Prestige als auch großer Gefä hrlichkeit belegte Sphä re kennzeichnet ihn eine ausgeprä gte Ambiguitä t als 19 20

21 22

23

24

25

26

Heino Gehrts, Der Wald, S. 38 und besonders Hildegard Elisabeth Keller, Wald, Wälder, S. 927–941. Kurt Mantel, Wald und Forst in der Geschichte. Ein Lehr- und Handbuch, Alfeld 1990, S. 64. Dem faktischen Gehalt des „alte[n] und populä re[n] Geschichtsbild[s]“, wonach Mitteleuropa „noch bis weit in das Mittelalter hinein von tiefem, undurchdringlichem Urwald bedeckt gewesen“ sei, widmen sich auch Joachim Radkau, Ingrid Schä fer, Holz, S. 53. Hildegard Elisabeth Keller, Wald, Wälder, S. 933. Ebenda, S. 937. Nougarè de bezeichnet den Wald in den Romanen Chré tien de Troyes’ als „outil litté raire, qui fournit des comparaisons poé tiques, et surtout sert à instaurer l’atmosphè re de l’aventure.“, Olivier Nougarè de, Usages et images de la forêt médiévale, S. 1144f. Zur ›forest aventureuse‹ siehe auch Marianne Stauffer, Der Wald, besonders S. 25f. „Der Zusammenhang von Wald und Abenteuer ist schon in der mittelalterlich[en] Epik gemeineuropä isch verbreitet. Noch heute wird der Wald als bewä hrtes Hausmittel verabreicht, um fü r Fantasy-Bü cher und -Filme mehr Leser oder Zuschauer zu gewinnen.“, Detlev Arens, Der deutsche Wald, Kö ln 2012, S. 313. Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens, S. 289–295 und S. 301. Zur narrativen Funktion des Waldes in Wolframs Parzival und Bé rouls Tristan-Fragment siehe Stefan Plasa, Minnegrotte und Wald von Morrois, in: Ulrich Mü ller, Werner Wunderlich (Hg.), Burgen, Länder, Orte, Konstanz 2008 (= Mittelalter-Mythen 5), S. 587–592. Zum Waldrand als (moralische) Schwelle siehe auch Michel Pastoureau, La forêt médiévale, un univers symbolique, in: André Chastel (Hg.), Le château, la chasse et la forêt, S. 84f. und Albrecht Lehmann, Von Menschen und Bäumen, S. 67f. Die christlich-moralische Allegorisierung des Waldes begegnet bereits in den Confessiones (um 400) des Augustinus, wo die sinnlichen Verlockungen der Welt mit einem „ungeheuerlichen Wald voller Nachstellungen und Gefahren“ („tam immensa silva plena insidiarum et periculorum“, Confessiones, X,35) verglichen werden. Siehe hierzu Michel Pastoureau, La forêt médiévale, S. 89f. und Stefan Plasa, Minnegrotte und Wald von Morrois, S. 588. Bis weit in die Neuzeit hinein zä hlten die im Wald lebenden Kö hler zur „gente semiselvaggia“, siehe Claudio Rosati, Il bosco dei carbonai (XVI–XVIII secolo), in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), L’uomo e la foresta secc. XIII–XVIII, S. 1015–1024 (hier S. 1022). Mitunter mochten diese Berufsgruppen absichtlich „magische[] Vorstellungen des Volksglaubens“ bedient haben, um den Wald „so menschenfrei wie mö glich“ zu halten und ungestö rt ihrem Gewerbe nachgehen zu kö nnen; siehe zu dieser Hypothese Hansjö rg Bruland, Wilde Kinder, S. 94f. Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 100–104. Dem wilden, unbegrenzten Wald steht der (Hof-) Garten als geordnetes Abbild des Paradieses gegenü ber; hingewiesen sei diesbezü glich auch auf die aus dem Hohelied entlehnte Mariensymbolik des ›hortus conclusus‹.

213

IV. Wald und Mittelalter

Heils- wie Unheilsort, als Zufluchts- wie Bedrohungsraum. 27 Wald und Baum als heidnische Mytheme der Verbindung von irdischer und gö ttlicher Sphä re wurden im christlichen Mittelalter zum dä monisierten Außenbezirk umgedeutet: Der Wald umlagert den Bereich der alltä glichen Praxis als gedanklich-moralische „Weltrandzone“28, die mit einer Vielzahl mythologischer Tier- und Mischwesen, mit Waldfrä ulein, Feen, Gnomen und Drachen besetzt ist. Nichts scheint hier unmö glich. Als Ort der Versuchung und europä isches Pendant zur biblischen Wü ste wurde die Einsamkeit des Waldes von Eremiten zur spirituellen Ubung, Askese und Buße aufgesucht.29 In seiner positiven Deutung als Schutzschirm gegen verderbliche Einflü sse der stä dtischen und hö fischen Welt war der Wald „konstitutiv fü r die Heilswirksamkeit dieser Figuren“30 (Einsiedler, Waldbrü der). So erhä lt etwa Parzival die religiö se Unterweisung, die ihn auf sein christliches Rittertum vorbereitet, in der Waldklause seines Onkels Trevrizent. Ein grundverschiedenes, am antiken ›locus amoenus‹ orientiertes Waldbild prä gt die hö fische Liebeslyrik des Mittelalters. Der austreibende Laubwald des Frü hlings gehö rt dort zum „topischen Natureingang“31 und wird „in erster Linie [als] schö n und grü n“32 beschrieben. Fester Bestandteil dieser Idealisierung ist der Gesang der Waldvö gel. 33 Lichte Baumgä rten, in unmittelbarer Peripherie des Hofes verortet, gelten als Inbegriff der Lieblichkeit und werden als heimliche Orte der Minne aufgesucht.34

3. Wald als Schauplatz des Mittelalters Das rege Interesse an mittelalterlichen Stoffen dü rfte fü r sich genommen als bedeutendster Faktor fü r die Konjunktur von Waldszenen im (Musik-)Theater des 19. Jahrhundert anzusehen sein. In der szenischen Darstellung zerfä llt die Welt des 27 28

29

30

31

32 33

34

Hildegard Elisabeth Keller, Wald, Wälder, S. 933. Zu antiken und mittelalterlichen Weltrandvorstellungen siehe Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 11–23. Vom Wald als „espace transitoire“ spricht Olivier Nougarè de, Usages et images de la forêt médiévale, S. 1136. Jacques Le Goff, Le désert-forêt dans l’Occident médiéval, in: ders., L’imaginaire médiéval. Essais, Paris 21991, S. 59–75 und Olivier Nougarè de, Usages et images de la forêt médiévale, S. 1132–1134 und 1146, sowie Marianne Stauffer, Der Wald, S. 97–104. Hildegard Elisabeth Keller, Wagners Wälder. Beobachtungen zu Siegfrieds Waldleben, in: Ulrich Mü ller u.a. (Hg.), Rhein und Ring, Orte und Dinge: Interpretationen zu Richard Wagners Der Ring des Nibelungen. Beiträge der Ostersymposien Salzburg 2007–2010, Anif/Salzburg 2011 (= Wort und Musik 73), S. 162. Hildegard Elisabeth Keller, Wald, Wälder, S. 936. Zur „deutlich positivere[n] Bewertung“ des Waldes im Minnesang siehe auch Stefan Plasa, Minnegrotte und Wald von Morrois, S. 588. Johanne Messerschmidt-Schulz, Zur Darstellung der Landschaft, S. 41. Ebenda, S. 44. Die akustische Schilderung der Landschaft „bleibt in der Hauptsache auf den Vogelgesang beschrä nkt“; seltener werden auch das „Rauschen des Wassers und des Windes“ erwä hnt. Diese topische Zuschreibung lä sst sich als sublimierte Form der erotischen Besetzung des „Lustortes“ Wald auffassen, vgl. hierzu die Hinweise bei Stefan Plasa, Minnegrotte und Wald von Morrois, S. 593. Als „Rotlichtviertel des Mittelalters“ charakterisiert den Wald Viktoria Urmersbach, Im Wald, da sind die Räuber. Eine Kulturgeschichte des Waldes, Berlin 2009, S. 42.

214

3. Wald als Schauplatz des Mittelalters

Mittelalters hauptsä chlich in die Bereiche Burg und Wald. Besonderer Beliebtheit erfreute sich das Bild der Waldklause, das die Topoi der ›Waldeinsamkeit‹ und des ›Waldesdoms‹ zusammenfü hrte und zugleich die romantische Imagination des Mittelalters als ›kindliche‹ Welt des Glaubens und der Naturbindung prä gnant inszenierte. 35 Instruktiv ist in dieser Hinsicht der Wegfall der Eremitenszenen („Waldgegend mit einer Eremiten-Wohnung“), mit denen nach Kinds Willen der Freischütz erö ffnen sollte. Die im Mai 1817 vorgenommene Streichung wird auf Einwä nde seitens Webers Frau Caroline zurü ckgefü hrt und mit allgemeinen dramaturgischen Rü cksichten begrü ndet.36 Ergä nzende Hinweise geben die 1855 von Johann Christian Lobe publizierten Gespräche mit Weber. Der Komponist wird dort mit der Forderung zitiert, man solle ein dramatisches Werk, sofern es „einen bestimmten Land-, Zeit- und Sittenhintergrund hat, welcher die Handlung zum Theil mit motivirt, […] gleich von vorn herein“ mit eben dieser „eigenthü mliche[n] Sphä re“ erö ffnen: Der Zuschauer soll unter das Land- und Jä gervolk nach Bö hmen, in die aberglä ubische Zeit kurz nach dem dreißigjä hrigen Kriege versetzt werden. Ein Eremit, einsam im Walde vor einem Heiligenbilde knieend, […] macht uns glauben, daß hier ein Gemä lde aus der Ritterzeit sich vor uns entwickeln solle.37

Webers Einwand lä sst Rü ckschlü sse ü ber Stereotypen theatraler Darstellungspraxis im frü hen 19. Jahrhundert zu: Ohne nä heren Kontext wird die Figur des Walderemiten vom zeitgenö ssischen Publikum intuitiv in der „Ritterzeit“ verortet. Als topisches Element mittelalterlicher Handlungen 38 hä tte die Waldklause den Zuschauer zu Beginn des Freischütz auf eine falsche historische Fä hrte gefü hrt. In ihrem Bemü hen um Ausprä gung eines eigenstä ndigen Musiktheaters sahen sich deutsche Bü hnendichter und -komponisten auf mittelalterliche Stoffe verwiesen. Webers in den 1810er Jahren niedergeschriebenes Romanfragment VI von Tonkünstlers Leben greift diese nationalromantischen Bestrebungen ironisch auf. Es erzä hlt vom Besuch eines Maskenballs, auf dem der Reihe nach die italienische, franzö sische und deutsche Oper in Person auftreten und treffsicher persifliert werden. Der Auftritt der Letzteren verzö gert sich erheblich, da sie „durchaus nicht auf die Beine zu bringen“ ist: Eine Menge Hü lfleistender sind um sie beschä ftigt, sie fä llt aber aus einer Ohnmacht in die andere. Auch ist sie dabei so von den, an sie gemachten Prä tensionen aufgedunsen, daß kein Kleid ihr mehr passen will. 35

36

37 38

Vgl. die Bemerkungen zu Arndts Idealisierung des Mittelalters als „national childhood“ bei Stephen C. Meyer, Carl Maria von Weber and the Search for a German Opera, Bloomington 2003, S. 53f. Zur Beliebtheit des Einsiedlermotivs siehe weiterfü hrend Joachim Reiber, Bewahrung und Bewährung, S. 30. Solveig Schreiter, Zur Werk-Entstehung und frühen Aufführungsgeschichte, in: dies. (Hg.), Der Freischütz, S. 134–138. Johann Christian Lobe, Gespräche mit Carl Maria von Weber, Heft 2, S. 121. Als solches darf der „Wald mit der Klause“ etwa auch in Wagners Jugendwerk Leubald (WWV 1) nicht fehlen.

215

IV. Wald und Mittelalter

[…] Nun endlich sind einige romantische Schneider auf die glü ckliche Idee gefallen, einen vaterlä ndischen Stoff zu wä hlen[.]39

Die deutsche Oper prä sentiert sich schließlich als „Agnes Bernauerin, romantisch-vaterlä ndisches Tonspiel. Personen, so viel vonnö then. Handlung, im Herzen von Deutschland.“ Als klischeehafter Schauplatz dieses mittelalterlichen Sujets ist fü r den Beginn eine Burg und fü r das Finale eine „Waldige Felsengegend“ vorgesehen. Die Bü hne ist mit typischen Requisiten pittoresker Landschaft ü berladen: „Links im Hintergrunde ein Schloß, gegenü ber ein Weinberg, weiter vor [sic] eine Einsiedlerhü tte. – Links vorn eine Hö hle, weiter vor eine Laube, in der Mitte zwei hohle Bä ume, weiter vorn ein unterirdischer Gang.“ In dieser Ansammlung von ›Praticables‹ verbergen sich Personen (auch ein „Einsiedler“ darf nicht fehlen), die alle zugleich singen, wozu auch noch mehrere simultane Musiken hinter der Bü hne erklingen: So fliegt das obligatorische Finalensemble als konfuser Effekt um seiner selbst willen auf. Ein vö llig unmotivierter ›colpo di scena‹ beendet den Akt: „[(]Zwei Blitze fahren von verschiedenen Seiten herab und zerschmettern Einiges.) / Alle. Ha! / Der Vorhang fä llt.“ Webers Parodie nimmt auch die dramatische Funktionalisierung der Szenographie aufs Korn. In einem absurden Dialog lä sst er Agnes zu ihrer Zofe Brunhilde sagen: „Komm in den Schloßgarten, dort im dunkeln Schauerhaine wird mich leichter die nothwendige Ahnung meines Schicksals befallen.“ Die Kongruenz zwischen Subjekt- und Umgebungsstimmung soll schlichtweg durch Szenenwechsel erzwungen, der dramaturgisch gerade „nothwendige“ Affekt nicht aus der Figur heraus entwickelt, sondern ä ußerlich herbeigefü hrt werden. Mü sste die Umgebung ihren Stimmungsgehalt eigentlich „unwillkü hrlich dem Grundtone“ der subjektiven Stimmung „abborgen“ 40 , so geschieht hier, wie so oft auf der Opernbü hne, das Gegenteil. 41 Durch aufgepflanzte „Schauerhain[]“-Kulissen wird die passende Empfindung kurzerhand herbeizitiert.42

39

40 41

42

Erstdruck in W. G. Beckers Taschenbuch zum geselligen Vergnügen (1827), hrsg. von Friedrich Kind; hier zitiert nach WeGA, (Dateiversion vom 8. Februar 2019). So Webers Forderung in Fragment XII von Tonkünstlers Leben, in: Die Muse 1 (1821), Heft I/1, S. 58f. Carl Dahlhaus weist auf die hohe Anfä lligkeit der Opernfiguren fü r Affekte, die durch Außeres ausgelö st werden, hin. In dieser Hinsicht bleibe in „der Librettistik des 19. Jahrhunderts […] der barocke Ursprung der Gattung stets noch fü hlbar“. Plö tzliches, weitgehend reflexionsloses Ergriffensein durch Außeres zeichne auch Figuren wie Max (Freischütz) und Siegfried (Ring des Nibelungen) aus; siehe Carl Dahlhaus, Zum Libretto des ›Freischütz‹, in: Hermann Danuser (Hg.), Carl Dahlhaus: 19. Jahrhundert IV, hier S. 567f. und ders., Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, ebenda, S. 20–22. Entfernt erinnert Webers Parodie hier an Goethes Theaterstü ck Der Triumph der Empfindsamkeit, einer satirischen Abrechnung mit Gefü hlskult und Naturschwä rmerei: Prinz Oronaro, „der empfindsamste Mann von allen Mä nnern“, hä lt sich fü r einen ausgesprochenen Naturenthusiasten. Da man es aber „unter freyem Himmel […] nicht immer so temperirt haben [kann], wie man wü nscht“ und in milden Mondnä chten „die Mü cken just am unerträ glichsten“ sind, hat er sich eine komfortable „Reisenatur“ anfertigen lassen: In Kisten verpackt fü hrt er eine komplette Waldlandschaft, inklusive sprudelnder Quellen, singender Vö gel und Mondschein mit sich, in denen er jederzeit seinen Empfindungen frö nen kann, [Johann Wolfgang von Goethe], Der Triumph der Empfindsamkeit. Eine dramatische Grille, Leipzig 1787, hier S. 26–28.

216

3. Wald als Schauplatz des Mittelalters

Es sind „Vokabeln des Eigenen“ (Rienä cker43), die Weber ironisch-distanziert in seiner Parodie verflicht; so mancher Zug scheint auf Freischütz und Euryanthe vorauszuweisen. Das gilt auch fü r das zuletzt beschriebene, explizite Hindeuten auf die Koinzidenz von landschaftlicher und seelischer Atmosphä re. „Dies ist der Ort, / So schaurig, ö d’ und still, / Wie meine That ihn will“, erklä rt Adolar, da er die vermeintlich untreue Euryanthe zur Hinrichtung in eine „Oede Felsschlucht, dicht umbü scht“ (III/1) fü hrt. Als wä re er nicht selbsterklä rend, wird der Stimmungsgehalt der Szenerie verbalisiert.

QR Eine der meistaufgefü hrten Waldszenen des 19. Jahrhunderts, zugleich ein anschauliches Beispiel fü r die dramaturgische Funktionalisierung der Waldlandschaft als Seelenspiegel, ist in Gioachino Rossinis letzter Oper Guillaume Tell (1829) enthalten, die nach dem Vorbild von Schillers Schauspiel den spä tmittelalterlichen Schweizer Nationalmythos in Szene setzt.44 Zu Beginn des zweiten Aktes spielt die Handlung unweit des Vierwaldstä ttersees und damit vor dem regelrechten Urbild romantischer Landschaft. Das Bü hnenbild ist durch zwei große Tannen eingerahmt, die zur „Einsamkeit“ der Kulisse beitragen sollen.45 Eine berittene Jagdgesellschaft der Habsburger zieht mit Meute vorü ber und besingt im typischen 6/8-Takt die „sauvage harmonie“ der Landschaft, die sich mit ihrem Hö rnerklang vermischt. Bei hereinbrechendem Abend sondert sich Prinzessin Mathilde von der Gruppe ab, um sich in einer ›Romance‹ alleine der Wildnis anzuvertrauen (II/2). In seiner charakteristischen Ambivalenz dient der Waldschauplatz als Bindeglied zwischen den konträ ren Stimmungswerten dieser Szenenfolge: Indem die Hö rner – frei nach Tieck 46 – „[l]eis’ und ferner“ verklingen, folgt auf die gesellig-schö ne „Jagdlust“ einsam-erhabene „Waldnacht“. Mathilde singt: Sombre forê t, dé sert triste et sauvage, Je vous pré fè re aux splendeurs des palais: C’est sur les monts, au sé jour de l’orage, 43 44

45

46

Gerd Rienä cker, Richard Wagner. Nachdenken über sein ›Gewebe‹, Berlin 2001, S. 52. Ein kurzer Hinweis auf den Wald als „miroir de l’â me“ in Guillaume Tell findet sich bei Luigi Ferdinando Tagliavini, La forêt dans la musique, in: Dimiter Daphinoff (Hg.), Der Wald, S. 177. Arnfried Edler ä ußert in einer komparatistischen Studie die Vermutung, dass Rossini „sich eingehend mit der Partitur des Freischütz beschä ftigt und versucht ha[be], einiges davon seinem neuen Werk [Guillaume Tell] zuwachsen zu lassen. Das konnte ihm um so leichter fallen, als ihm von seinem italienischen Standpunkt aus die Verbindungslinien des Weberschen Werkes zur Opé ra comique, in der die Landschaftsund Milieuschilderungen seit langem eine bedeutende Funktion eingenommen hatten, besonders auffä llig erscheinen mußten.“ Im Folgenden beschrä nkt Edler sich allerdings darauf, den „weite[n] Abstand, der auch dieses letzte Opernwerk Rossinis von Webers beseelten Landschaftsdarstellungen trennt“, zu untermauern, Arnfried Edler, „Glanzspiel und Seelenlandschaft“, S. 80–83. „Des sapins touffus qui s’é lè vent des deux cô té s du thé â tre complè tent la solitude.“, zitiert nach dem zeitgenö ssischen Librettodruck Guillaume Tell, Opéra en quatre actes, représenté pour la première fois, a Paris, sur le théâtre de l’Académie royale de musique, le lundi 3 aout 1829, Paris 21829, S. 27. „Waldnacht! Jagdlust! / Leis’ und ferner / Klingen Hö rner, …“, Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen, Bd. 2, S. 56f.

217

IV. Wald und Mittelalter

Que mon cœur peut renaı̂tre à la paix; Mais l’é cho seulement apprendra mes secrets. […] Et l’é cho seulement redira mes secrets.47

Das vorü bergehende Eintreten in ein „Grenzreich der Wildnis“ – hier als expliziter Gegenpol zum hö fischen „palais“ definiert – gehö rt zum „Prozeß der romantischen Selbstfindung“ (Koschorke 48 ). Die abendliche Wald- und Felsenlandschaft entspricht Mathildes momentaner Figurenstimmung, und so kommt es zu sympathetischem Geben und Nehmen zwischen Subjekt und Umwelt („apprendra“ und „redira“). Mathilde spricht die Natur als subjektives Gegenü ber an („vous“, „[t]oi“), ihr Inneres („mes secrets“) wird in scheinbarem Dialog verä ußert und wieder verinnerlicht. So wird der finstere Wald zum Spiegelbild ihres „sentiment profond, mysté rieux“49, zum Hallraum ihrer Seele. In einer 1834 verfassten, ausfü hrlichen Besprechung der Oper stellt Hector Berlioz die Qualitä t der ›Romance‹ besonders heraus, wobei er auf zwei kompositorische Details besonderes Augenmerk legt50 – nä mlich zum einen auf die imitatorisch zwischen ersten Geigen und Bratschen wechselnde, fallende Begleitfigur, die dem Ausdruck der „mé lancolie“ verpflichtet sei, und zum anderen auf den solistischen Einsatz der Pauke unmittelbar vor Beginn der Gesangsstrophen. Als musikalische Realisation des Erhabenen wirke dieser gerä uschhafte „effet pianissimo“ hö chst anregend auf die Einbildungskraft, da er die sinnliche Wahrnehmung des Zuhö rers an ihre Grenzen fü hre – wie es auch bei vö lliger Stille im Wald geschehe.51 Man meine eines jener „Naturgerä usche“ zu hö ren, deren Herkunft und Ursache sich waldestypisch dem Nachvollzug entziehen.

QR Erfolgreiche Beiträ ge zur Mittelalterrezeption auf deutschen Opernbü hnen lieferte Heinrich Marschner. In seinen Werken, denen eine musikgeschichtliche Vermittlerrolle zwischen den Hauptwerken Webers und den romantischen Opern

47 48 49 50

51

Guillaume Tell, S. 29. Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 246f. Guillaume Tell, S. 28. „Rossini a peu é crit, à notre avis, de morceaux aussi é lé gans, aussi frais, d’une mé lodie aussi distingué e, aussi heureusement modulé s que celui-ci; outre le mé rite immense du chant et de l’harmonie, on y trouve un mode d’accompagnement dans les altos et les premiers violons plein de mé lancolie ainsi qu’un effet pianissimo de timballes au commencement de chaque couplet, qui excite vivement l’imagination de l’auditeur. On croit entendre un de ces bruits de la nature, dont la cause reste inconnue, tel qu’on en remarque par le temps le plus calme au milieu des bois; un de ces bruits é tranges qui redoublent en nous le sentiment du silence et de l’isolement.“, [Hector Berlioz], Guillaume Tell [de Rossini], in: Gazette musicale de Paris 1 (1834), hier Nr. 43 („Troisiè me article. – 2e acte.“), S. 342. Eben so wird, um mit Humboldt zu sprechen, „in einer romantischen Gegend“ das, „was unsere Fassungskraft ü bersteigt […] zur Quelle des Genusses“, indem es „das freie Spiel“ der Einbildungskraft anregt, Alexander von Humboldt, Kosmos, Bd. 1, S. 8.

218

3. Wald als Schauplatz des Mittelalters

Wagners zugesprochen wird, tritt der Waldschauplatz wiederholt prominent in Erscheinung. Seine „Große romantische Oper“ Der Templer und die Jüdin (1829), deren figurenreiche und ziemlich verwickelte Handlung auf Walter Scotts Erfolgsroman Ivanhoe (1820) basiert, spielt im Jahr 1194 in der englischen Grafschaft York. In der Anfangsszene des ersten Akts („Wilde romantische Gegend“) planen Maurice de Bracy und sein Gefolge einen Hinterhalt (Chor: „Wir lagern still uns dort im Wald“), in den dann Brian de Bois Guilbert tappt. Die beiden normannischen Ritter stellen fest, dass sie im Wald das gleiche Ziel verfolgen: BRACY.

Ich will hier freien um ein Weib, Gewalt soll mir das Jawort bringen. GUILBERT. Auch mir soll eins zum Zeitvertreib Die Tapferkeit des Arms erringen.52

Als Ort der Triebabfuhr und Habitat des ›homo homini lupus‹ weist der Wald eine unrü hmliche Tradition auf: Die Verschrä nkung von Jagd und (gewalttä tiger) Sexualitä t lä sst sich bis auf den mittelalterlichen Topos der „Minnejagd“ zurü ckfü hren und war im Musiktheater des 19. Jahrhunderts durchaus prä sent. 53 – In der Gegend haust eine „große[] Anzahl der sogenannten Geä chteten, welche durch […] die Strenge der Jagdgesetze auf das Aeußerste getrieben, sich in den Wä ldern und Einö den aufhalten“54 . Im weiteren Verlauf (I/7) findet sich deren Anfü hrer Locksly (angelehnt an die legendä re Gestalt des Robin Hood) mit seinen „treuen Waldgesellen“ bei der Hü tte des trinkfreudigen Waldbruders Tuck ein; sie brechen auf, um den sä chsischen Ritter Cedric aus normannischer Gefangenschaft zu befreien. Am nä chsten Morgen, nach erfolgreichem Kampf, versammelt sich die Schar der Geä chteten auf einem „Große[n] freie[n] Platz im Walde, […] in der Mitte des Platzes steht eine große Eiche“ (II/1); hier preisen sie im Chor den Sonnenaufgang und das Erwachen der Natur (Nr. 9: „Es zittert im Frü hroth“). „Gegen das Ende der zweiten Strophe sinkt Alles betend auf die Knie.“55 Locksly, der selbsterklä rte „Monarch“ des Waldes, nimmt Platz auf einem „Rasenthron“ unter dem majestä tischen Baum. Die Szenerie erinnert zum einen an das Schlussbild des Freischütz (III/6) und weist zum anderen auf den Beginn des Lohengrin (I/1) voraus. 52

53

54 55

Hier und im Folgenden zitiert nach dem Librettodruck der Urauffü hrung, Leipzig (Carl Focke) 1829, S. 11. Hierzu Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens, S. 316f. Daphinoff erlä utert, wie im realistischen Roman des 18. Jahrhunderts der locus amoenus „zum Austragungsort gewalttä tiger Sexualitä t“ umgedeutet wird: „Gerade die platonisch-harmlose Liebesabgeschiedenheit im Schatten dichten Laubwerks verwandelt sich zur unheimlichen Einsamkeit triebhafter Aggression. Der in seinem sozialen und erotischen Spielraum eingeschrä nkte Stä dter sucht seine Frustration dort auszuleben, wo der Bü rger nur selten hingeht: Der Wald wird vom locus amoenus des Schä ferspiels zum Ort der Schä ndung und die Frau zum Freiwild.“, Dimiter Daphinoff, Der Wald im englischen Roman, S. 149. Nieder fü hrt musikdramatische Beispiele fü r die besagte Verschrä nkung an und stellt fest, dass Komponisten auch bei metaphorischen Ubertragungen des Jagdmotivs die Hö rner-Klangfarbe beibehielten, Christoph Nieder, Von der ›Zauberflöte‹ zum ›Lohengrin‹, S. 100 und 123. Libretto, S. 21f. Ebenda, S. 86.

219

IV. Wald und Mittelalter

Marschners Hans Heiling (1833) wurde an anderer Stelle bereits kurz erwä hnt und spielt im bö hmischen Erzgebirge des 14. Jahrhunderts. Hier sind der zweite und dritte Akt vorwiegend in Wald- und Felsenlandschaft verortet. – Auch das von Julius von Rodenberg entworfene und von Marschner vertonte Melodram Waldmüllers Margret (1855) spielt in einem deutschen Fü rstentum im Spä tmittelalter. Die Erö ffnungsmusik ist mit „Morgen im Walde“56 betitelt. Die Bü hnenanweisung fü r den ersten Aufzug lautet: „Waldeinsamkeit. Im Hintergrund Waldestiefe; rechts eine felsige Hö he, von der ein Bach niederplä tschert, links eine mä chtige Eiche, dahinter verzweigtes Buschwerk. Die Sonne wirft rothes Frü hlicht durch die Baumwipfel. Indem der Vorhang aufrollt, fü llt sich die Bü hne mit einem Jagdzug.“57 Der obligatorische Jä gerchor in Strophenform wird abgesungen. Sobald die Jagdgesellschaft abgezogen ist, legt der verliebte Alfred sich einsam „an dem Eichenstamm nieder“, mit den Worten: „O Sprache des Waldes, laß mich lauschen!“ Eine „andere Gegend des Waldes“ zeigt die vierte Szene; hier herrscht „tiefe Wildnis“, „rechts umgestü rzte Stä mme und Baumgruppen“. Der liebeskranke Markus irrt durch diesen „dunklen, menschenleeren Wald“. Die Seelenzustä nde der Protagonisten lassen sich aus der Beschaffenheit des Waldes ablesen. Wiederholt kü ndigen sich Auftritte vorab mit Gesang und Hö rnerklang von fern an, so dass im Zweifel immer noch Zeit bleibt, sich rasch in einem Gebü sch zu verstecken, wovon auch Gebrauch gemacht wird. Die Konjunktur von Opern mit mittelalterlichen Sujets dauerte auch in der zweiten Hä lfte des 19. Jahrhunderts an.58 Hier sei, gleichsam als Abschluss und Ausblick auf das 20. Jahrhundert, nur noch kurz auf Maurice Maeterlincks symbolistisches Schauspiel Pelléas et Mélisande (1892) hingewiesen – ein Werk, das in den folgenden Jahrzehnten zahlreichen Kompositionen als Vorlage diente. Claude Debussy nutzte es als Grundlage fü r sein 1902 uraufgefü hrtes „Drame lyrique“ gleichen Namens. Maeterlincks Vorlage beschwö rt ein imaginä res Kö nigreich Allemonde – eine mittelalterlich-mythisch anmutende Landschaft aus Wä ldern, Burgen, Brunnen und Meereskü ste. Vor dieser Kulisse tragen sich archaische Grundkonflikte zu; viele Vorgä nge der Handlung bleiben in traumhafter Schwebe. Wald ist der Ort, an dem das Unerwartete sich schicksalshaft und scheinbar voraussetzungslos vollzieht. „Une forê t“ lautet die knappe Bü hnenanweisung fü r die erö ffnende Szene, und wie aus der Tiefe des Waldes heben die dumpfen Quintklä nge der Fagotte und tiefen Streicher an. Nach Art des Mä rchens einem weisenden Tier folgend, gelangt der irrende Golaud unvermittelt an einen Waldbrunnen, wo er die weinende Mé lisande antrifft. In der Tradition des ›Waldmä dchens‹ liegen ü ber Identitä t und Herkunft dieser Frauengestalt dunkle Schatten. Gleich dem Wald, entzieht sich ihr geheimnisvolles Wesen dem fragenden Zugriff.

56 57

58

So die Angabe bei Siegfried Goslich, Die deutsche romantische Oper, S. 225. Waldmüllers Margret. Dramatisches Idyll in zwei Acten, Libretto von Julius Rodenberg, hier zitiert nach einem zeitgenö ssischen Druck ohne Orts- und Verlagsangabe (Exemplar der Library of Congress). Siehe hierzu Jens Malte Fischer, Singende Recken und blitzende Schwerter. Die Mittelalteroper neben und nach Wagner – ein Überblick, in: Peter Wapnewski (Hg.), Mittelalter-Rezeption, S. 511–530.

220

V. Heiliger Wald, heilende Waldluft 1. Landschaft und Religion In heiliger Nacht! in Zaubernacht Mutter Natur, bet’ ich dich an! Johann Gottfried von Herder1

Die ä sthetische Hinwendung zur Natur als Landschaft erfuhr gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine bedeutende Aufwertung und erlangte eine religiö se Sinndimension. Voraussetzung dafü r war die romantische Auffassung von Religion als „Sinn und Geschmak fü rs Unendliche“, als subjektives „Grundgefü hl der unendlichen und lebendigen Natur“2 . In zeitgenö ssischen Abhandlungen scheinen die Begriffe ›Religion‹ und ›Landschaft‹ mitunter geradezu austauschbar, wie etwa in der Definition Friedrich Schleiermachers: „alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschrä nkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion“ 3 . Wichtige Impulsgeber fü r den „durchchristete[n] Pantheismus“ 4 der deutschen Frü hromantik waren Baruch de Spinoza (›deus sive natura‹) und Jakob Bö hme: Wird die Schö pfung als gö ttliche Offenbarung angenommen, kann die Naturhinwendung zur Gottessuche, die landschaftliche Kontemplation zur Andacht werden. In der Immanenz gilt es sodann der hieroglyphischen Spur oder ›Signatur‹ Gottes forschend nachzugehen.5 Gerade die protestantische Theologie prä gte die Zusammenfü hrung von christlicher Andacht und Naturgefü hl.6 Im Februar 1802 notierte Philipp Otto Runge die berü hmt gewordene historische Verortung: „[W]ir stehen am Rande aller Religionen, die aus der Katholischen entsprangen […], es drä ngt sich alles zur Landschaft“7. Er ahnte, dass „in dieser neuen Kunst“ der „hö chste[] Punct“ erst noch zu erreichen sei. Bezeichnend ist die 1808 durch Caspar David Friedrichs Kreuz im 1

2

3 4

5

6

7

Johann Gottfried Herder, St. Johannes Nacht. 1772, in: Johann von Mü ller (Hg.), Johann Gottfried von Herder: Gedichte, Bd. 1, Carlsruhe 1821 (= Sä mmtliche Werke 15), S. 146[recte: 145]–149 (hier S. 149). [Friedrich Schleiermacher], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, S. 53. Ebenda, S. 56. Eberhard Roters, Jenseits von Arkadien, S. 78–81; siehe auch Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 119f. und Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem, S. 42. Entsprechend formuliert etwa Kind in seiner Schöpfungsgeschichte des ›Freischützen‹: „Ich pilgerte in die Weinberge, in den Großen Garten, nach Tharand, in die sogenannte sä chsische Schweiz, …“, Friedrich Kind, Schöpfungsgeschichte des ›Freischützen‹, in: ders., Freischütz-Buch, S. 102 [Hervorhebung von GH]. Schon in der ersten Hä lfte des 18. Jahrhundert gab es pietistische Kreise, die ihre Gottesdienste zuweilen bei Mondschein im Wald abhielten, vgl. August Langen, Verbale Dynamik, S. 173; außerdem Joseph Leo Koerner, Caspar David Friedrich, S. 147–149. Zitiert nach [Daniel Runge (Hg.)], Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 5–7 (hier S. 7).

221

V. Heiliger Wald, heilende Waldluft

Gebirge (›Tetschener Altar‹) ausgelö ste Debatte darü ber, ob eine Landschaftsdarstellung als Sakralgemä lde fungieren kö nne. Mit religiö ser Bedeutung und sakraler Anmutung wurde vor diesem, hier nur oberflä chlich skizzierten geistesgeschichtlichen Hintergrund, in besonderem Maße der Wald aufgeladen. Religiö se Qualitä ten waren dem Walderlebnis freilich schon von antiken Autoren zugesprochen worden, so etwa in einem von Senecas Epistulae morales, der hier als Ausgangspunkt dienen mag: Kommst du in einen Hain, der mit uralten, außergewö hnlich hoch aufragenden Bä umen bestanden ist, und der den Blick zum Himmel durch ein Geflecht einander ü berlagernder Aste verdeckt, wird jener Wuchs des Waldes, die Abgeschiedenheit des Ortes und die Bewunderung des Schattens, der im Freien so dicht und durchgä ngig ist, dir den Glauben an eine Gottheit vermitteln.8

Die aufragenden Baumstä mme sind sichtbar gewachsene Zeiträ ume – Ewigkeiten, vor denen die eigene Lebensspanne verblasst. Der Blick wird empor gelenkt, in die transzendental assoziierte Vertikale.9 Ein komplexer Schirm ist ausgespannt, der Gerä usche, Beleuchtung 10 und Atmosphä re modifiziert und den Hain nach außen hin als eigenen Raum abschließt („secretum loci“); dieser Abschluss gegen die ›profane‹ (Außen-)Welt ist strukturelles Merkmal des Sakralraums. 11 Die Gesamtwirkung der Faktoren flö ßt dem Besucher „fidem […] numinis“ ein, was in neuzeitlichromantischer Diktion etwa der ›Ahnung des Unendlichen‹ entsprä che. Der alle Sinne erfassende Stimmungswechsel beim Eintritt in den Wald vermag den Eindruck des Hinaustretens aus der Welt zu erwecken und einen ›heiligen Schauer‹ auszulö sen.12

8

9

10

11

12

„Si tibi occurrerit vetustis arboribus et solitam altitudinem egressis frequens lucus et conspectum caeli [densitate] ramorum aliorum alios protegentium summovens, illa proceritas silvae et secretum loci et admiratio umbrae in aperto tam densae atque continuae fidem tibi numinis faciet.“, Lucius Annaeus Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, liber 4, epistula XLI,3. Elias Canetti schreibt ü ber das „Massensymbol“: „So ist der Wald zum Vorbild der Andacht geworden. […] Das Hinaufschauen an vielen Stä mmen wird zum Aufschauen ü berhaupt. Der Wald baut dem Kirchengefü hl vor, dem Stehen vor Gott unter Sä ulen und Pfeilern.“, Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 51992, S. 92f. (hier S. 93). Zum „Topos der Andacht“ siehe auch Hildegard Elisabeth Keller, Wald, Wälder, S. 934f. Fü r Brockes andä chtigen Blick nach oben wirkt das Laubdach wie ein buntes Kirchenfenster: „Wenn ich von unten in die Hö he / Des Himmels funkelnden Sapphir / Durch der Smaragd’nen Blä tter Zier, / Bestral’t durchs Gold der Sonnen, sehe, / So lenk’ ich billig Hertz und Sinn / Zum Schö pfer aller Schö nheit hin.“, B[arthold] H[einrich] Brockes, Der Wald, in: Irdisches Vergnügen in Gott, hier S. 191. Zur Verschlossenheit der christlichen Kathedrale siehe Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts, S. 72. „Das Ordnungslose, das Ungebundene, das unbä ndig Kü hne […] [erhä lt] im Wald […] Berechtigung und […] erzeugt in uns jenen ahnungsvollen Schauer, den nur die Natur in ihrer Grö ße hervorzurufen vermag. Es ist nicht ein einzelner Sinn, den wir angeregt fü hlen; alle Sinne wö lben sich zu Einer weitgespannten Pforte, durch welche das erhabene Waldbild in unser Inneres einzieht.“, Emil Adolf Roßmä ßler, Der Wald, S. 10. „Und in Waldes grü nen Hallen, / Tiefe Schauer in der Brust,“ heißt es in der vierten Strophe von Joseph von Eichendorffs Aufbruch, in: ders., Gedichte, S. 172f. (hier S. 172); und in Pfarrius’ Gedicht Komm mit: „[Wir] Gehn in der Hallen weite Pracht, / Wo endlos Sä ul’ an Sä ule

222

2. Waldesdom

Zumal in romantischer Literatur ist dem Wald oftmals der „Sinn eines religiö sen Welt-Raums“ beigelegt, der sich geradezu hermetisch gegen die profane Welt abschließt und dessen Einsamkeit mit der klö sterlichen Lebensweise assoziiert wird.13 „[D]er Eremit blieb im Walde, so sehr ihm auch alle zuredeten, zur Welt zurü ck zu kehren“14, heißt es etwa in Tiecks Sternbald. Das Gegenstü ck bildet eine Abschiedsszene aus Eichendorffs Dichter und ihre Gesellen (1834), in der Graf Viktor seinen Beschluss umsetzt, das weltliche Leben aufzugeben und Priester zu werden: „Hier reichte er ihnen noch einmal die Hand und wandte sich schnell zum Walde.“15 Wer im Walde weilt, ist fü r die ›Welt‹ gestorben. Tod und Leben sind in diesem ambivalenten Zwischenreich nicht streng geschieden. Webers Silvana und Preciosa, Wagners Siegfried und Parsifal teilen (mit vielen anderen literarischen Figuren) ein Schicksal: Sie alle wuchsen, von der ›Welt‹ fü r tot gehalten, im wilden Wald auf. Aus diesem Umstand resultiert ihre Sonderstellung. Wer im Walde ausgesetzt wird, ist einer hö heren Macht ü berantwortet, die ü ber Leben und Tod zu entscheiden hat. So fü hrt in Webers Euryanthe Adolar die der Untreue bezichtigte Titelheldin in eine abgelegene Waldschlucht, wo er sie mit den Worten verlä sst: „So kann ich nicht dein Richter sein; / Im Schutz des Hö chsten bleibe hier allein!“ (III/3) In Wagners Lohengrin wird Elsa vorgeworfen, ihren Bruder Gottfried als Kind „[l]ustwandelnd […] zum Wald“16 gefü hrt und dort zurü ckgelassen zu haben, was als Mord geahndet wird. Erst im letzten Augenblick der Oper offenbart sich, dass Gottfried mä rchenhaft in ein Tierwesen verwandelt und so vorü bergehend der ›Welt‹ entrü ckt worden war. In seiner trauten Abgeschlossenheit stellt der Wald gleichsam den Beichtstuhl der Natur dar. Waldbä ume sind geduldige Zuhö rer, denen auch Intimes anvertraut werden kann.17 Dramaturgisch betrachtet eignen sich Waldszenen deshalb hervorragend, um den Protagonisten monologisch sein Herz ausschü tten zu lassen – und dem heimlich im Gebü sch lauschenden Rivalen oder Geliebten handlungsentscheidende Informationen zukommen zu lassen.

2. Waldesdom Spä testens seit der Wende zum 19. Jahrhundert gehö ren wechselseitige Analogiebildungen zwischen Wald und Heiligtum – am knappsten verdichtet im Begriff ›Waldesdom‹ – zum literarischen Gemeingut. 18 Wie eine Kathedrale „aufgebaut“

13 14 15 16 17

18

steht, / Und durch der Schatten hehre Nacht / Des Unsichtbaren Schauer weht“, in: ders., Die Waldlieder, S. 1f. (hier S. 1). Zur Transzendenzerfahrung vgl. auch Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 75f. Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 30, 75–77 und 85f. Ludwig Tick, Franz Sternbalds Wanderungen, Bd. 1, S. 313. Joseph von Eichendorff, Dichter und ihre Gesellen. Novelle, Berlin 1834, S. 378. Richard Wagner, Lohengrin, in: ders., GSD, Bd. 2, hier S. 89. Dass „Gesprä che im Wald“ aufgrund der „durch den Wald erzeugte[n] Innerlichkeit“ eine „besondere Intensitä t erreichen“, bekam Schriewer noch in seinen in den 1990er Jahren gefü hrten Interviews hä ufig zu hö ren, Klaus Schriewer, Natur und Bewusstsein, S. 179f. Hierzu Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 36f.

223

V. Heiliger Wald, heilende Waldluft

durch einen „Meister“ ist der Wald in Eichendorffs Der Jäger Abschied19 (1810). Das Gedicht formuliert „Waldeslob als Gotteslob“20 und wurde in der Vertonung Felix Mendelssohn Bartholdys (1840), der in seinem Autograph den Titel zu Der deutsche Wald abä nderte, zu einem der bekanntesten und meistgesungenen Mä nnerchorstü cke ü berhaupt. Die „verinnerlichte Anbetung des Waldes“ in persö nlicher Apostrophe („Wer hat dich du schö ner Wald …“) ist Edgar Marsch zufolge ein typisches Merkmal zahlreicher Gedichte der Epoche.21 Aufgegriffen wird dieser religiö se Duktus auch in einer Neutextierung des Zigeunerchores (Nr. 6) aus Preciosa: Ein 1848 publizierter Jagdbericht beschreibt, dass der „melodische Gesang“ Webers, begleitet von zwei Hö rnern und „von einem der Jä ger mit geeigneten Strophen versehen[]“, auf dem morgendlichen Weg zur Jagd angestimmt wurde. Dabei lautete die erste Strophe: Zum Wald! Zu preisen Gott. Der Wald. Sein Loblied lallt! (:,: der Wald sein Loblied lallt.) Wir Jä ger auch stimmen mit Jauchzen ein, Stets soll uns ein Tempel der Walddom sein! Jo! io! io!22

Webers Waldlied gerä t in dieser Einkleidung zur ›musica sacra‹, der Wald- zum Kirchgang. Substanz und Legitimation bezogen die Vergleichungen von Wald und Heiligtum aus der seit dem 16. Jahrhundert zunä chst von italienischen und franzö sischen Schriftstellern wiederholt vorgebrachten These, die gotische Baukunst habe ihren Ursprung in der Nachahmung arboraler und silvaner Vegetationsformen. Anregungen dazu dü rfte, wie Rainer Graefe darlegt, vor allem die spä tgotische Ornamentik jener Zeit gegeben haben.23 Im 18. Jahrhundert wurde daran verschiedentlich die Vermutung angeschlossen, die gotische Bauweise habe die Dä mmerbeleuchtung keltischer oder germanischer Waldheiligtü mer nachzubilden beabsichtigt. 24 19 20

21

22

23

24

Joseph von Eichendorff, Der Jäger Abschied, in: ders., Gedichte, S. 161. Edgar Marsch, Zur Rolle des Baumes in der Literatur, in: Dimiter Daphinoff (Hg.), Der Wald, S. 126– 128. Ebenda, S. 126. Dem Partiturerstdruck fü gte Mendelssohn eine Blä serbegleitung ad libitum (vier Hö rner und Posaune) bei, die gleichermaßen den jagdlichen wie hymnischen Gestus der Musik unterstü tzt. In einem Brief an Fanny Hensel vom 27. Juni 1846 apostrophiert er Der Jäger Abschied kurzum als „mein Waldlied“; siehe hierzu ausfü hrlicher Ralf Wehner, Zwischen ausgelassener Fröhlichkeit und patriotischer Pflichterfüllung. Zu einigen Männerchören von Felix Mendelssohn Bartholdy, in: Denkströ me. Journal der Sä chsischen Akademie der Wissenschaften (2013), Heft 11, S. 87–111 (hier S. 99– 106). Zitiert nach Th. Kriese, Briefe über die Jagd in den Ostsee-Gouvernements des Russischen Reichs, in: Das Inland. Eine Wochenschrift fü r Liv-, Esth- und Kurlands Geschichte, Geographie, Statistik und Literatur 13 (1848), Nr. 11 (Beilage), Sp. 225–232; Nr. 17 (Beilage), Sp. 355–360 (hier Sp. 356). Rainer Graefe, Baum, Wald, Kirche, in: Bernd Weyergraf (Hg.), Waldungen, S. 86–94. Ausfü hrlich widmet sich den Zusammenhä ngen zwischen Wald und (gotischer) Sakralarchitektur auch Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 249–262 sowie S. 222; zur Rezeption siehe ferner Klaus von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, S. 190. Rainer Graefe, Baum, Wald, Kirche, S. 91.

224

2. Waldesdom

Deutsche Romantiker nahmen diese Ursprungstheorien begeistert auf und werteten sie als Beleg fortdauernder germanisch-deutscher Wald- und Naturverbundenheit. „Schon Tacitus rü hmt an unseren Altvordern, daß sie Tempel und Bilder verschmä heten“, schreibt Ernst Moritz Arndt im Jahr 1815, „daß sie die Gö tter nicht in Mauren [sic] eingeschlossen, sondern im Athem der Natur und im Dunkel der Haine wandelnd glaubten, in deren heiligen Schatten sie das anbeteten, was sie nur durch das Grauen und die Ehrfurcht sahen. Und nach diesen Hainen […] haben sie sich spä terhin die heiligen Tempel gebaut, in deren erhabener und schauerlicher Nacht wir […] wie in einem stillen […] Walde einhergehen.“25 Fü r Arndt leitet sich daraus der nationale Auftrag ab, die „alten germanischen Haine“ zu bewahren oder wenn nö tig neu aufzuforsten: „den teutschen Menschen mü ssen nirgends Bä ume fehlen“. Die von nationaler Identitä tspolitik getragene Mittelalterrezeption und romantische Naturverklä rung kulminierten im Bild des ›Waldesdoms‹. Gerade durch ihre silvane Begrü ndung konnte die Gotik zum Inbegriff deutschen Nationalstils werden; entsprechend postuliert auch Jacob Grimm in der Deutschen Mythologie: Wenn aber heidnische gö tter auf bergen und in heiligen wä ldern gedacht wurden, so dü rfen als hohe bä ume gen himmel strebende kirchen unseres mittelalters, deren erhabnem eindruck kein griechisches gewö lbe beikommt, wol auf jene germanische vorstellung zurü ckgehn.26

Den alten „waldcultus der Deutschen“, den er nicht etwa als primitive Idolatrie abtut, sondern zur pantheistischen Naturreligion idealisiert, untermauert Grimm mit philologischen und etymologischen Indizien, schlussfolgernd: „Tempel ist also zugleich wald. was wir uns als gebautes, gemauertes haus denken, lö st sich auf, je frü her zurü ck gegangen wird, in den begrif [sic] einer von menschenhä nden unberü hrten, durch selbstgewachsne bä ume gehegten und eingefriedigten heiligen stä tte. da wohnt die gottheit und birgt ihr bild in rauschenden blä ttern der zweige.“27 Letzten Endes implizierte die Stilisierung der vorzeitlichen Wä lder zu nationalen Kultstä tten eine Abwertung von Kunsthandwerk und Architektur und eine Aufwertung der Forstkultur: Wozu noch Dome bauen, wenn man auch einen Hochwald hegen kann? „Nicht in kalten Marmorsteinen, / Nicht in Tempeln, dumpf und todt: / In den 25

26

27

Ernst Moritz Arndt, Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und der Bauern im Sinner einer höheren, d.h. menschlichen Gesetzgebung, in: Der Wä chter 2 (1815), Heft 3–4, S. 346–408 (hier S. 401). Max von Schenkendorf beschwö rt solch germanisch-deutsche Kontinuitä t in seiner lyrischen Beschreibung des Kö lner Doms: „Es ist ein Wald voll hoher Bä ume, / Die Bä ume seh ich frö hlich blü hn, […] Das wollen diese Sä ulen sagen, / Die himmelwä rts die Blicke ziehn, / Dazwischen, wie in grauen Tagen / Im Eichenhain, die Beter knie’n.“, Max von Schenkendorf, Der Dom zu Köln, in: ders., Sämmtliche Gedichte, Berlin 1837, S. 350f. (hier S. 351). Jacob Grimm, Vorrede [zur zweiten Auflage], in: ders., Deutsche Mythologie, Bd. 1, Gö ttingen 21844, S. V–XLVIII (hier S. XLIV). In ganz ä hnlichem Duktus wendet spä ter Wagner das Modell einer „v e r d i c h t e n d e n Nachahmung der N a t u r “ auf die hellenische Baukunst an und fü hrt an, dass „im G ö t t e r t e m p e l de[r] verdichtet dargestellte[] G ö t t e r h a i n zu erkennen“ sei, Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, S. 152. Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Gö ttingen 1835, S. 39–57 (hier S. 41). Anmerkungen hierzu bei Siegfried Becker, Märchenwälder, S. 63f. und Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 102f.

225

V. Heiliger Wald, heilende Waldluft

frischen Eichenhainen / Webt und rauscht der deutsche Gott“28, besingt Ludwig Uhland 1813 die Freie Kunst des „deutschen Dichterwald[s]“. Der sakrale Nimbus des ›Nationalheiligtums‹ schlä gt sich dann auch in einem 1857 verö ffentlichten Buch der Pflanzenwelt nieder, welches Riehls Plä doyer fü r ein ›Recht der Wildnis‹ aufgreift: Im Gegensatz zu den „Naturruinen“ Sü deuropas und Englands habe Deutschland sich „den freien Wald gerettet, der seine Kinder in einem gemeinsamen Heiligthum zusammenfü hrt und unaufhö rlich Keime eines Naturthums in ihnen erzieht, welches in der Neuzeit allen ü brigen Vö lkern der Erde eine neue Geistesbefruchtung verspricht.“ Deutschland vor allen ü brigen Lä ndern war es, das zuerst an eine Waldkultur dachte, und Deutsche hinwiederum sind es, die noch gegenwä rtig in allen Winkeln der Erde dieses schö ne Aposteltum der Natur pflegen. Das ist auch die große Naturgarantie, daß das deutsche Volk so lange das Salz der Nationen sein wird, solange es noch seinen Wald, seine Natur sich gerettet hat.29

3. „Kirchenstille der Wildniß“ Die sakrale Aura des Waldes wechselwirkt in besonderem Maße mit seiner spezifischen Raumakustik. Ubertritt man die Schwelle des Waldrandes, so mag es einem wie dem Musiker in Runges Zeichnung Quelle und Dichter (1805) ergehen: Man wird „ergriffen von dem tö nenden Raum des Waldes“30. Ganz ä hnliche Erfahrungen hatte bereits der dritte Earl von Shaftesbury, ein Vordenker und Wegbereiter des Landschaftsgartens, „within the spacious Caverns of the Wood“ gemacht: „Here Space astonishes. Silence it self seems pregnant“31, schreibt er in The Moralists (1709). Durch ihre Lokalisierung im Naturraum wird Stille als begehbarer Zustand erfahrbar. 32 28

29

30

31

32

Ludwig Uhland, Freie Kunst, in: Justinus Kerner u.a., Deutscher Dichterwald, Tü bingen 1813, S. 3f. (hier S. 4). Karl Mü ller, Das Buch der Pflanzenwelt. Botanische Reise um die Welt, Bd. 2: Reise um die Welt, Leipzig 1857, S. 207; ausfü hrlich zitiert wird die Passage bei Carl Rosenkranz, Die Pflanzen im Volksaberglauben, S. 31. „Ein Sä nger ist in den Wald geeilt und wird ergriffen von dem tö nenden Raum des Waldes […].“ So beschreibt Runge selbst die dargestellte Szene in einem Brief an Tieck vom 29. Mä rz 1805, zitiert nach [Daniel Runge (Hg.)], Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften, Bd. 1, S. 244f. (hier S. 245). „And here a different Horrour seizes our shelter’d Travellers, when they see the Day diminish’d by the deep Shades of the vast Wood; which closing thick above, spreads Darkness and eternal Night below. The faint and gloomy Light looks horrid as the Shade it self: and the profound Stillness of these Place imposes Silence upon Men, struck with the hoarse Ecchoings of every Sound within the spacious Caverns of the Wood. Here Space astonishes. Silence it self seems pregnant; whilst an unknown Force works on the Mind, and dubious Objects move the wakeful Sense. Mysterious Voices are either heard or fancy’d: and various Forms of Deity seem to present themselves, and appear more manifest in these sacred Sylvan Scenes […].“, [Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury], The Moralists, S. 201f. Nä heres zu Shaftesbury und The Moralists bei Ruth Groh, Dieter Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen, S. 80–82. „Die Natur hat etwas Heiliges in ihrem tiefen Schweigen und stimmt zur Andacht.“, C[arl] A[ugust] Eschenmayer, Grundriß der Natur-Philosophie, Tü bingen 1832, S. V. Eichendorffs Taugenichts (1826)

226

3. „Kirchenstille der Wildniß“

Was sonst vom Lä rmen des Alltags, vom „lauten Weltgewü hle“ (Heyse33) ü bertö nt wird, wird in der Waldesstille ›ohrenfä llig‹ vernehmlich: das „in allen Dingen“ schlafende Lied (Eichendorff), das bedeutungsträ chtige Grundrauschen der Natur, ihr „beredtes Schweigen“ (Wagner34). Eine Notiz Beethovens versucht solch akustische Naturoffenbarung (wohl in Anlehnung an Jesaja 6,3) in Worte zu fassen: „Ist es doch, als ob jeder Baum zu mir sprä che auf dem Lande heilig! heilig! Im Walde Entzü cken[,] wer kann alles ausdrü cken? […] Sü ße Stille des Waldes.“35 Plausibel erscheint ein kulturgeschichtlicher Zusammenhang zwischen der ä sthetischen Entdeckung der Waldesstille und historischen Wandlungen der Waldnutzung, wie er etwa in den Ausfü hrungen Gerhard Mitscherlichs angedeutet wird. Er resü miert, dass es mit dem Ubergang zu einer systematisch auf Holzproduktion ausgerichteten Waldwirtschaft und der allmä hlichen Verdrä ngung alternativer Nutzungsformen in den Forsten des 19. Jahrhunderts tatsä chlich leiser und einsamer geworden sei: Im Walde, in dem es Jahrhunderte hindurch vom Hundegebell und Hö rnerklang der hö fischen Jagden, von dem Geschrei der Viehhirten, dem Blö ken, Wiehern, Muhen, Meckern und Grunzen des Viehs, dem Axthieb der Felgen- und Bohlenhauer und dem Pochen der Eisenhä mmer geschallt hatte, wo allenthalben die Kohlenmeiler, die Teerö fen und Aschengruben geraucht, die Schmelzö fen gequalmt hatten, wurde es nach und nach still.36

Mag diese Zusammenfassung der Realentwicklungen in breiter Tendenz zutreffen, so dü rfte sich die ›Beruhigung‹ des Waldes doch vorlä ufig am wirksamsten im Bereich der Imagination vollzogen haben. Um dem (literarisch vermittelten) Idealbild der Waldesstille zu entsprechen, schied das ›landschaftliche Ohr‹ bei der Konstitution von ›Wald‹ selektiv alle fü r unpassend erachteten Gerä usche aus.37

33 34 35

36

37

empfindet die Stimmung unter „hohen Buchen-Alleen“ als „so still, kü hl und andä chtig wie in einer Kirche“, Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild, S. 11. Wo man „nur den Schlag des eigenen Herzens in der Kirchenstille der Wildniß hö rt“, da ist Riehl zufolge „der rechte heilige Wald“, Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 35. In den „endlos dä mmernden Hallen“ der „Waldnacht“ herrscht die „Stille eines Mü nsters“, schreibt Carl Rosenkranz, Die Pflanzen im Volksaberglauben, S. 36. [Paul Johann Ludwig Heyse], Glückspilzchen, in: ders., Der Jungbrunnen, S. 35. Vgl. Kapitel VIII.3. Zitiert nach Ludwig Nohl (Hg.), Beethovens Brevier. Sammlung der von ihm selbst ausgezogenen oder angemerkten Stellen aus Dichtern und Schriftstellern alter und neuer Zeit, Leipzig 1870, S. 104. Zu Beethovens landschaftsä sthetischen Einstellungen siehe Annette Richards, The free fantasia, S. 212–214. Gerhard Mitscherlich, Zustand, Wachstum und Nutzung des Waldes im Wandel der Zeit. Rektoratsrede, Freiburg im Breisgau 1963 (= Freiburger Universitä tsreden Neue Folge 35) S. 14. Solchen Zusammenhang zwischen dem Siegeszug rationeller Forstwirtschaft und dem romantischen Topos „stiller Wald“ skizziert auch Gü nter Bayerl, Holznot, S. 155. Sofern etwa in Eichendorffs Landschaftsbeschreibungen ausnahmsweise stö rende Gerä usche aus dem Bereich der Praxis aufgenommen sind, werden sie in weiter Ferne verortet und dadurch abgemildert und harmonisiert: „Die Wä lder rauschten durch die weite Stille, aus der Ferne hö rte man nur den dumpfen Schlag eines Eisenhammers, […] [m]anchmal glaubte er Hundegebell aus den Thä lern zu vernehmen […].“, Joseph von Eichendorff, Viel Lärmen um Nichts, S. 30. Ude-Koeller stellt in einer Fallstudie fü r das spä te 19. Jahrhundert fest, dass die (montan-)industrielle Prä gung in Beschreibungen des Harz geflissentlich ausgeblendet wurde und merkt dazu an: „Nicht nur fü r den Harz war

227

V. Heiliger Wald, heilende Waldluft

4. Waldesorgel Passend zur Architekturmetapher des ›Waldesdoms‹ etablierte sich in der Romantik als poetische Formel fü r die andä chtig-stille Klangkulisse das Bild der ›Waldesorgel‹, mit dem das diskrete Tö nen der Natur in seinen unterschiedlichen Ausprä gungen umrissen wird.38 Tieck lä sst seinen Sternbald in einer Traumepisode „den Wald [betreten] mit einer Empfindung wie man in einen heiligen Tempel tritt.“39 Er trifft dort bei mondheller Nacht auf einen „Waldbruder“, der „andä chtig die Augen zum Himmel aufhob und die Hä nde faltete. Franz trat nä her: Hö rst Du nicht die liebliche Orgel der Natur spielen? sagte der Einsiedel, bete wie ich thue.“40 Musik- und Walderleben verschmelzen in allumfassender Andachtsstimmung.41 Tiecks verklä rt zum offenen Himmel aufblickender Walderemit begegnet im Finale des Freischütz wieder; zuvor kommt es in der Oper bereits zu einer eindringlichen Anbetung der nä chtlichen Waldlandschaft durch Agathe, welche die Tü re eines Altan ö ffnet, so „daß man in eine sternenhelle Nacht sieht“ (II/2). Der Altan wird gleichsam zum Altar, die (tü r-)gerahmte Landschaft zum Andachtsbild, vor dem Agathe „in frommer Rü hrung ihre Hä nde“ erhebt und eine „fromme Weise“ (Nr. 8, Aria) in die geheiligte „Himmelshalle“ schickt. Ganz im Sinne Schleiermachers

38

39 40 41

die stilisierte Ruhe der ›Waldeseinsamkeit‹ wenig real. Selbst in Waldgebieten, die weniger stark von den Erfordernissen der Bergbauindustrie geprä gt waren, stellte der Wald einen intensiv genutzten Wirtschafts- und Industriestandort dar.“, Susanne Ude-Koeller, Auf gebahnten Wegen, S. 104–106. Friedrich Kind besingt in dem Gedicht Die fremde Durchlaucht den Frü hlingseinzug mit den Versen: „Horch! horch! da schmettert’s am Felsenhang – / Hier orgelt tiefer der Waldgesang –“, in: Oscar [= Friedrich Kind] (Hg.), Leben und Liebe Ryno’s und seiner Schwester Minona, Bd. 2, Zü llichau 1805, S. 5–7 (hier S. 7). Gleichfalls mit der Stimmung des Frü hlingswaldes assoziiert ist der Orgelklang in Joseph Wenzigs Frühling in Liebe: „O Frü hling, Priester mit dem Maitalare, / Laß nun des Waldes Orgel laut erklingen“, in: Paul Aloys Klar (Hg.), Libussa. Jahrbuch für 1847, Prag 1847, S. 73–80 (hier S. 79). Vgl. weiterhin: „[I]n den gurgelnden Tö nen der befiederten Waldesorgeln glaubte Athelstan noch Geisterstimmen und prophetische Tö ne zu vernehmen, die in magischer Sprache aus der innersten Natur unmittelbar mit der Seele sprä chen, Gefü hl und Gedanke, Musik und Seligkeit, die sich in die gewö hnliche Sprache der Menschen nicht ü bersetzen lassen.“, Ludwig Tieck, Das alte Buch und die Reise in’s Blaue hinein. Eine Märchen-Novelle, in: Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1835, Leipzig 1835, S. 1– 152 (hier S. 51). „Orgeltö ne brausen, / Durch der Tannen Haar, / Und mit stillem Grausen / Knie ich am Altar, / Den in Waldeshallen / Mir der Frü hling baut, / Und des Herzens Wallen / Wird im Liede laut.“, lautet die erste Strophe von Friedrich Rü ckerts Waldandacht, in: ders., Gesammelte Gedichte, Bd. 6, Erlangen 1838, S. 399. Zur „imaginierte[n] Tonspur“ des Waldes in der romantischen Lyrik siehe auch die Anmerkungen von Erhard Schü tz, Dichter Wald. – Die von der Romantik wiederentdeckte Vorstellung einer universellen Weltenorgel („orgue universel“) greift schließlich auch Claude Debussy auf, der 1903 eine silvane Vision des synä sthetischen Gesamtkunstwerks entwirft: „La collaboration mysté té rieuse [sic] des courbes de l’air, du mouvement des feuilles et du parfum des fleurs s’accomplirait, la musique pouvant ré unir tous ces é lé ments dans une entente si parfaitement naturelle qu’elle semblerait participer de chacun d’eux… Et les bons arbres tranquilles ne manqueraient pas à figurer les tuyaux d’un orgue universel […].“, Claude Debussy, Considérations sur la musique en plein air, Rubrik ›Musique‹, in: Gil Blas 25 (1903), 19. Jan. (Nr. 8566), S. [II]. Ludwig Tick, Franz Sternbalds Wanderungen, Bd. 1, S. 69. Ebenda, S. 172. Zur ›Andacht‹ als idealen Hö rhaltung der Romantik (Tieck, Wackenroder) und der Gemeinsamkeit von Natur- und Kunsterleben siehe Helga de la Motte-Haber, Musik und Natur, S. 18 und 48.

228

5. Exkurs: Schwebeklang und „Sehnsucht nach dem Walde“

fungiert hier das „Beschrä nkte als eine Darstellung des Unendlichen“ 42 . Die Vergegenwä rtigung der unendlichen Natur im gerahmten Landschaftsbild ist sorgsam inszeniert, wie eine Anweisung des Librettisten zur zweiten Szene des dritten Aufzugs bestä tigt: Fü r den „kleine[n] Hausaltar“, vor dem Agathe ihre Cavatine (Nr. 12) singt, empfiehlt Kind ein „goldgerahmtes Bild“, „etwa eine Clause mit einem betenden Eremiten, ein Waldstü ck mit einer knieenden Pilgerin selbst, irgend ein Andacht erweckendes Landschaftsbild, dergleichen wir von dem sinnigen Landschaftsdichter mit Farben, Friedrich, […] sogar als wirkliches Altarbild in’s Große ausgefü hrt, kennen.“43 Im Finale des Freischütz, nach dem wundersamen Scheintod Agathens, erlangt schließlich die ganze „romantisch schö ne Gegend“ durch das posaunenuntermalte Auftreten des Eremiten (Nr. 16, T. 210, Adagio maestoso) die Weihe einer sakralen Szene. Ein Holzblä sersatz in seichter Kontrapunktik (T. 216–220, Andante con moto) evoziert Klang und Idiomatik einer Kirchenorgel. Fü r das Schlussbild fordert der Klausner die versammelte Gemeinde auf: „Doch jetzt erhebt noch eure Blicke / Zu dem, der Schutz der Unschuld war!“ Inmitten der freien Natur „kniet [er] nieder und erhebt die Hä nde“, die Ubrigen folgen seinem Beispiel und alle stimmen mit den Worten ein: „Ja! laßt uns zum Himmel die Blicke erheben“ (T. 364ff., Largo maestoso) – andä chtige Blicke folgen dem Wuchs der Bä ume himmelwä rts.

5. Exkurs: Schwebeklang und „Sehnsucht nach dem Walde“ Im Krisenjahr 1918 verö ffentlichte Oswald Spengler sein Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes, das in der Folgezeit zu einem der auflagenstä rksten und meistdiskutierten Sachbü cher des 20. Jahrhunderts avancieren sollte. Eingefasst in eine geschichtsphilosophische Theorie der Lebenszyklen, die letztlich auch Prognosen zukü nftiger Entwicklungen zu gestatten verhieß, stellt Spengler die Weltgeschichte als kontinuierliches Aufsteigen und Niedergehen von Hochkulturen dar. Gegen Ende des ersten Bandes mü ndet der umgreifende Entwurf in einer vergleichenden „Kulturmorphologie“ von Antike und Abendland: Dem als statisch und ahistorisch charakterisierten, apollinischen „Weltgefü hl“ der Antike wird ein dynamisches und faustisches der abendlä ndischen Kultur gegenü bergestellt. Als „Ursymbol“ ist Ersterem der definierte Kö rper der euklidischen, Letzterem der allumfassende, unendliche Raum der analytischen Geometrie zugeordnet. Aufgrund der 42

43

[Friedrich Schleiermacher], Über die Religion, S. 56. Zur Erfassung der unendlichen Natur im rahmenden Fensterblick siehe Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 286–294. [Friedrich] K[ind], Einiges über scenische Anordnungen […], Teil 2: Auch eine Stimme über die erste Aufführung des Freischützen auf dem königl. sächs. Hoftheater, am 26. Jan. 1822, in: Die Muse. Monatsschrift fü r Freunde der Poesie und der mit ihr verschwisterten Kü nste 2, Heft 5 (1822), S. 105–129, hier zitiert nach WeGA, (Dateiversion vom 10. Juni 2018). Der Aufsatz erschien zuvor bereits in der Dresdener Abend-Zeitung. Notabene: Der Verweis auf Caspar David Friedrichs Kreuz im Gebirge (ab „Landschaftsbild“) ist nur in der Textfassung der Abend-Zeitung enthalten und fehlt in der ›Muse‹; die Variante wird hier nach dem textkritischen Apparat der WeGA zitiert.

229

V. Heiliger Wald, heilende Waldluft

Annahme einer fundamentalen Interrelation zwischen Kultur und „Mutterlandschaft“44 will Spengler auch den unterschiedlichen mediterranen und „nordischen“ Vegetationsformen tiefere Bedeutung zuweisen: Wä hrend „Zypresse und Pinie […] kö rperhaft, euklidisch“ wirkten und „niemals Symbole des unendlichen Raumes“ hä tten werden kö nnen, wü rden „Eiche, Buche, Linde mit den irrenden Lichtflecken in ihren schattenerfü llten Rä umen […] kö rperlos, grenzenlos, geistig“45 wirken. Gerade der Wuchs der Eiche wirke „wie ein unerfü lltes rastloses Streben ü ber den Wipfel hinaus.“ Eine durchaus gleichartige Neigung zu raumgreifender Transzendenz attestiert Spengler auch der abendlä ndischen Mythologie: „Waldesrauschen und Waldeinsamkeit, […] die das Naturgefü hl des faustischen Menschen […] vö llig beherrschen und seinen mythischen Schö pfungen den eigentü mlichen Charakter geben, lassen das des antiken Menschen unberü hrt.“46 Das Unbegrenzte bleibe deshalb vom antiken Mythos ausgeschlossen. – Das abendlä ndische „Weltgefü hl“ habe „im H ochwald der nordischen Ebenen sein ursprü nglichstes Symbol gefunden“, genauer noch „im Laubwalde mit dem geheimnisvollen Gewirr seiner Aste und dem Raunen der ewig bewegten Blä ttermassen ü ber dem Haupte des Betrachters“; die „architektonische Verwirklichung“ dieses „Weltgefü hls“ liege im „Wä ld erhaf ten der Dome“. Spengler postuliert: „Der unendliche, einsame, dä mmernde Wald ist die geheime Sehnsucht aller abendlä ndischen Bauformen geblieben.“ 47 – Wie in der Architektur, so soll dieses „Weltgefü hl“ sich aber auch in der abendlä ndischen Musikkultur niedergeschlagen haben: Das Waldesrauschen, dessen Zauber kein antiker Dichter je empfunden hat, das jenseits aller Mö glichkeiten des apollinischen Naturgefü hls liegt, steht mit seiner geheimen Frage nach dem Woher und Wohin, seinem Versinken des Augenblicks im Ewigen in einer tiefen Beziehung zum Schicksal, zum Gefü hl fü r Geschichte und Dauer, zur faustischen schwermü tig-sorgenvollen Richtung der Seele in eine unendlich ferne Zukunft. Deshalb wurde die Orgel, deren tiefes und helles Brausen unsere Kirchen fü llt, deren Klang im Gegensatz zum klaren, pastosen Ton der antiken Lyra und Flö te etwas Grenzenloses und Ungemessenes besitzt, das Organ der abendlä ndischen Andacht. Dom und Orgel bilden eine symbolische Einheit wie Tempel und Statue.48

Anknü pfend bei der silvanen Herleitung gotischer Sakralkunst und beim romantischen Topos der ›Waldesorgel‹ kommt Spengler zu einer – kurzerhand durch die Konjunktion „Deshalb“ behaupteten – Bezugnahme der Orgelmusik auf das „Waldesrauschen“. Nä her und kritisch auf Gehalt und Tauglichkeit dieser suggestiven These und eklektischen Argumentation einzugehen, ist hier nicht die Absicht. Spengler 44

45 46 47 48

Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit, Mü nchen 31920, S. 242. Ebenda, S. 556. Ebenda, S. 568. Ebenda, S. 555. Ebenda, S. 556.

230

6. Monsalvat – mons silvaticus, mons salvationis

jedenfalls dient das Postulat dazu, den gesamten Entwicklungsgang der abendlä ndischen Musikgeschichte im weiten Bogen einer Teleologie zu fassen: Die Geschichte des Orgelbaus, eines der tiefsinnigsten und rü hrendsten Kapitel unserer Musikgeschichte, ist eine Geschichte der Sehnsucht nach dem Walde, nach der Sprache dieses eigentlichen Tempels der abendlä ndischen Gottesverehrung. Von dem Versklang Wolframs von Eschenbach bis zur Musik des Tristan ist diese Sehnsucht unverä nderlich fruchtbar geblieben. Das Streben des Orchesterklanges im 18. Jahrhundert ging unablä ssig dahin, dem Orgelklang immer verwandter zu werden. Das Wort „schwebend“, sinnlos antiken Dingen gegenü ber, ist gleich wichtig in der Theorie der Musik, der Architektur, der Physik, der Dynamik des Barock. Wenn man in einem hohen Walde mä chtiger Stä mme steht und den Sturm ü ber sich wü hlen hö rt, begreift man plö tzlich den Sinn des Gedankens von der Kraft, welche die Masse bewegt.49

6. Monsalvat – mons silvaticus, mons salvationis In „heilig nä chtiger Waldung […] – nur dem Geweihten zugä nglich“50, liegt die Gralsburg Monsalvat. In diesem „Wald, schattig und ernst, doch nicht dü ster“51 spielt die Erö ffnungsszene von Wagners „Bü hnenweihfestspiel“ Parsifal (1882). Des Morgens wird der leidende Kö nig Amfortas in seinem Krankenbett aus der Burg an den Waldsee getragen, der ihm Linderung verschaffen soll: „Nach wilder Schmerzensnacht / nun Waldes-Morgenpracht“. 52 Wie auf das Stichwort wartend, setzt „sehr 49

50

51

52

Ebenda, S. 556f. In einem 1934 als Broschü re verö ffentlichten Vortrag zur Mitgliederversammlung des Deutschen Forstvereins griff der bayerische Waldbaureferent Karl Rebel Spenglers These auf und goss sie in noch eingä ngigere Formulierungen: „›Waldesrauschen‹ – in dem einen Wort liegt die ganze nordische Kultur. Das ist Musik fü r’s deutsche Ohr. Ein unablä ssig Mü hen ist’s gewesen, bis endlich die Orgel da war und damit im wä lderhaften Dom der wä lderhafte Akkord. Eine Bach’sche Fuge, manchen Triller Mozarts, so vieles von Beethoven, Webers Freischü tz, den Tristan, Bruckners Holzinstrumentsä tze – ach so viel, so viel herrlichste Musik hä tten wir nicht ohne des Deutschen Sehnsucht nach dem Wald. Wie lang plagten sich die Komponisten, das Orchester orgelartig schwebend klingen zu lassen! – ein Ideal, dessen Idee bewußt oder unbewußt aus dem Wald herausgehorcht wurde.“, [Karl] Rebel, Der Wald in der deutschen Kultur, Berlin [1934], S. 6. Joachim Bergfeld (Hg.), Richard Wagner: Das braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1882, Zü rich 1975, S. 54. Zitiert nach Richard Wagner, Parsifal, in: ders., GSD, Bd. 10, Leipzig 1883, S. 417–491 (hier S. 419). Zu einem Bü hnenbildentwurf von Paul von Joukowsky notiert Cosima Wagner am 25. Juni 1880 ins Tagebuch: „Eine neue Skizze zum Wald ist da, ›man muß den Wald vor lauter Bä umen nicht sehen‹, sagt R[ichard]“, CT II, S. 553f. (hier S. 554). In Grimms Deutscher Mythologie (die Wagner eingehend studierte) wird eine Sage referiert, in der ein Kranker sich in den Wald tragen lä sst, von dem er Heilung erhofft; darauf weist Egon Voss hin, Studien zur Instrumentation Richard Wagners, S. 181 (Fußnote 49). – Heinrich von Stein beschreibt diese Parsifal-Szene als einen Auflö sungsvorgang, in welchem die „Seele des Leidenden“ im „Zauber des Waldes“ aufgeht und sich „in die landschaftlich umgebende Natur“ ergießt. Als apologetischer ›Wagnerianer‹ bemü ht er sich, die in Wagners Dramen so prominent hervortretenden Naturschilderungen („das besondere in diesen Werken waltende Naturgefü hl“) mit dem Anspruch des Dramatikers, ganz ›den Menschen‹ in den Vordergrund zu stellen, in Einklang zu bringen, wobei er einrä umen muss, dass mitunter schwer zu unterscheiden sei, was „hier das Bestimmende und was das Bestimmte“ sei – der Mensch durch die Natur, oder die Natur durch den Menschen, Heinrich von Stein, Die

231

V. Heiliger Wald, heilende Waldluft

weich“ das Hö rnerquartett ein, um ü ber Takte hinweg einen B-Dur-Klanggrund zu hinterlegen. – Der kö nigliche Tross zieht ab zum Bade und Gurnemanz rekapituliert in großem Monolog Vergangenes, als die heilig-tabuisierte Ruhe des Bannwalds plö tzlich durch Jagdfrevel gebrochen wird; tö dlich getroffen stü rzt ein Schwan herab, ein Schuldiger mit Pfeil und Bogen wird vorgefü hrt und von Gurnemanz gescholten: Unerhö rtes Werk! Du konntest morden? Hier im heil’gen Walde, deß’ stiller Frieden dich umfing? Des Haines Thiere nahten dir nicht zahm, grü ßten dich freundlich und fromm?53

Hier scheint der Tierschü tzer Wagner selbst zu sprechen, den die zeitgenö ssische Begeisterung fü r die Freizeitjagd anwiderte;54 zugleich sind die Verse an das altindische Drama Sakuntala angelehnt.55 Der herbeigefü hrte Bogenschü tze Parsifal bekennt sich freimü tig zur Tat, da er sich keiner Schuld bewusst ist. Von Gurnemanz befragt, weiß er keine Auskunft zu geben, als dass seine Mutter Herzeleide hieß: „im Wald und auf wilder Aue waren wir heim.“ Dergestalt erweist er sich – „ein Thor und rein“ – als der prophezeite Erlö ser der Gralsgemeinschaft und Gurnemanz beschließt, ihn zur Prü fung in die Burg Monsalvat zu fü hren. Diese entzieht sich bewusstem Zugang und ist nur Erwä hlten auf wundersame Weise zu erreichen.56 Im Prosa-Entwurf zu der Szene schreibt Wagner: Die Sonne steht im Mittag; es wird Zeit, zum heiligen Mahle sich zu begeben. Parz., sich auf den Alten stü tzend, frä gt, wohin sie geriethen; denn

53

54

55

56

Darstellung der Natur in den Werken Richard Wagners, in: Joseph Kü rschner (Hg.), Richard WagnerJahrbuch, Bd. 1, Stuttgart 1886, S. 151–164 (hier S. 160). Zitiert nach Richard Wagner, Parsifal, in: ders., GSD, Bd. 10, S. 433. Im Prosa-Entwurf notiert Wagner, dass Gurnemanz „ihn an die Heiligkeit des Waldes, der ihn so still umrausche, gemahnt“, Joachim Bergfeld (Hg.), Richard Wagner: Das braune Buch, S. 59. Cosima gegenü ber ä ußerte er, er sei „dazu bestimmt gewesen, immer in Prosa (im Leben) auszufü hren, was ich dichtete, die Scene mit dem Schwan, man wird glauben, sie sei aus meiner Ansicht ü ber die Vivisektion entstanden!“, worauf jene beipflichtet, dass auch „die Jagd im Tristan etwas Dä monisches hat wie die bewußte Sü nde“, Tagebucheintrag vom 6. Februar 1881, CT II, S. 684. Vom „grausam[en] Handwerk“ des „rauhe[n], unbarmherzige[n] Jä ger[s]“ spricht die autographe Fassung des ersten Pariser Freischütz-Aufsatzes (siehe hierzu ausfü hrlicher Kapitel VIII.1.2.), Richard Wagner, Der Freischütz, in: Egon Voss (Hg.), Richard Wagner: Schriften eines revolutionären Genies, Berlin 31990, S. 79–92 (hier S. 80f.). Von einem Schlü sselerlebnis berichtet der Tagebucheintrag vom 13. Dezember 1873: Er habe „einmal auf den Gü tern des Grafen Pachta in Bö hmen“ (1832) an einer Jagd teilgenommen und dabei einen Hasen im Lauf angeschossen. „Am Schluß der Jagd habe ein Hund das arme Tier aufgefunden und dieses herbeigezerrt, das Angstgeschrei habe ihm Mark und Bein durchdrungen; ›das ist Ihr Hase‹, habe man ihm gesagt, da habe er sich geschworen, nie wieder ein solches Vergnü gen mitzumachen. Daß der Mensch von der nü tzlichen gefahrvollen Bä ren- und Lö wenjagd zu der Jagd auf Hasen, Rehe, Hirsche gekommen, sei eine empö rende Degeneration dieses Vergnü gens.“, CT I, S. 761–763 (hier S. 762). Hierzu Ulrike Kienzle, Der „Heilige Wald“ in Wagners Parsifal, in: Ute Jung-Kaiser (Hg.), Der Wald als romantischer Topos, S. 159–183 (hier S. 172–175). Zum Wald als Initiationsraum siehe auch die Ausfü hrungen ebenda, S. 159–162.

232

6. Monsalvat – mons silvaticus, mons salvationis

ihm dü nke, dass der Wald sich immer mehr verliere, und dass sie in gemauerte Gä nge einträ ten?57

Die magische Mittagsstunde im Wald bewirkt eine Suspension zeitlichen Fortgangs.58 Das wundersame Geschehen gab Wagner Anlass zu den vielzitierten Versen: PARSIFAL. GURNEMANZ.

Ich schreite kaum, – / doch wä hn’ ich mich schon weit. Du siehst, mein Sohn, / zum Raum wird hier die Zeit.59

Szenisch realisiert wurde der Vorgang durch eine eigens angefertigte Drehbü hne. Die entsprechende Regieanweisung im Textbuch lautet: Allmä hlich, wä hrend G u r n e m a n z und Pa r s i fa l zu schreiten scheinen, verwandelt sich die Bü hne, von links nach rechts hin, in unmerklicher Weise: es verschwindet so der Wald: in Felsenwä nden ö ffnet sich ein Thor, welches nun die Beiden einschließt; dann wieder werden sie in aufsteigenden Gä ngen sichtbar, welche sie zu durchschreiten scheinen. […] Endlich sind sie in einem mä chtigen Saale angekommen, welcher nach oben in eine hochgewö lbte Kuppel, durch die einzig das Licht hereindringt, sich verliert.60

In einem Brief spricht Wagner im Betreff dieses Ablaufs von der „allmä hlichen Verwandlung des Waldes in den Grals-Tempel“61. Wenngleich der Begriff ›Verwandlung‹ als Bezeichnung fü r den Wechsel des Bü hnenbilds zur technischen Terminologie des Theaters gehö rt, so impliziert er doch hier, weiter gefasst, die Vorstellung eines wundersamen Ineinanderfließens. Die sich „in unmerklicher Weise“ vollziehende Verwandlung ist nicht etwa ein szenographischer Behelf, um den Ubergang von der Waldszene zur Gralsburg bei offenem Vorhang durchfü hren zu kö nnen, sondern ist selbst wesentlicher Darstellungszweck: Die Grenze von Wald und Tempel soll aufgelö st werden.62 57 58 59 60 61

62

Joachim Bergfeld (Hg.), Richard Wagner: Das braune Buch, S. 60. Vgl. Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens, S. 254. Siehe hierzu weiterhin Kapitel IX.5.3. Richard Wagner, Parsifal, in: ders., GSD, Bd. 10, S. 439f. Ebenda, S. 440. Richard Wagner an Ludwig II. von Bayern, Brief vom 16. Mä rz 1881, Br Ludwig, Bd. 3, Nr. 569, S. 200– 205 (hier S. 202). So mutet die „Verwandlung“ geradezu wie ein szenischer Kommentar zu Grimms philologischem Postulat an: „Tempel ist also zugleich wald. was wir uns als gebautes, gemauertes haus denken, lö st sich auf, je frü her zurü ck gegangen wird, …“, Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, S. 39–57 (hier S. 41). – Wagner selbst erklä rte nachträ glich, „die Vorü berfü hrung einer wandelnden Scene“ habe „durchaus nicht als […] dekorativ-malerischer Effekt zu wirken, sondern unter der Einwirkung der die Verwandelung begleitenden Musik, sollten wir, wie in trä umerischer Entrü ckung, eben nur unmerklich die ›pfadlosen‹ Wege zur Gralsburg geleitet werden, womit zugleich die sagenhafte Unauffindbarkeit derselben fü r Unberufene in das Gebiet der dramatischen Vorstellung gezogen war.“, Richard Wagner, Das Bühnenweihfestspiel in Bayreuth 1882, in: ders., GSD, Bd. 10, S. 381–395 (hier S. 392). – In ihrer sukzessiven Erschließung parallelisiert die Landschaftserfahrung der Protagonisten die musikalische Erfahrung des Hö rers; vgl. hierzu Mungens Ausfü hrungen zur Multimedialitä t bei Wagner, Anno Mungen, ›BilderMusik‹, S. 280–299.

233

V. Heiliger Wald, heilende Waldluft

Verdichtet drü ckt sich dieses verfließende Ineinander von Wald und Heiligtum im Namen der Gralsburg aus: Die Bezeichnung Munsalvaesche aus Wolfram von Eschenbachs Versroman Parzival wird bei Wagner als Monsalvat (›mons salvationis‹) interpretiert; indes gemahnt seine Verortung der Burg „in wildem, unnahbar entlegenem Gebirgswald“63 an die alternative Namensdeutung als „Wilder Berg, Berg der Wildniss, der Waldeinsamkeit“64 (lat. ›mons silvaticus‹, franz. ›mont salvage‹), wie sie erstmals von Karl Bartsch postuliert wurde. Szenisch und begrifflich in eins gesetzt, wird der Waldwildnis als Ort des Heils und Quell der Regeneration gehuldigt.

7. Waldluft – „zu den grü nen Tempeln der Gesundheit“ Im Auktionskatalog des Musikantiquariats Schneider wurde 1984 ein bis dato vö llig unbekanntes Manuskript Richard Wagners mit dem aufsehenerregenden Titel Der saure Regen feilgeboten.65 – Stutzig machen musste den interessierten Kä ufer freilich die Provenienz aus einem venezianischen „Palazzo Carnevale“, die Absurditä t des vollstä ndigen Titels (Der saure Regen als Präventivum der Musiksoziologie) und schließlich auch das Ausgabedatum des Katalogs: 1. April. Nein, es ist keine Stellungnahme Wagners zum ›Waldsterben‹ ü berliefert. Gleichwohl entbehrt die Vorstellung, dass er sich – hä tte er ein Jahrhundert spä ter gelebt – in der ö kologischen Debatte der 1980er Jahre zu Wort gemeldet hä tte, nicht der Plausibilitä t. – Ein virulentes Umweltthema, das Wagner tatsä chlich zeitlebens beschä ftigt zu haben scheint, ist die mit Verstä dterung und Industrialisierung einhergehende Luftverschmutzung. Die Problematik war im wahrsten Sinne handgreiflich: Als er im April 1871 die befreundete Familie Pusinelli in Dresden besuchte, kletterte er ü bermü tig auf einen Apfelbaum, woraufhin seine Kleidung von „echteste[m] Dresdner Russ“ ü berzogen war.66 Eine noch dramatischere Situation hatte Wagner in den Metropolen London und Paris kennengelernt; ü ber die „abscheuliche Londoner Luft“ und den „unausstehliche[n] Steinkohlendunst, den man weder im Hause noch auf der Strasse los wird“, beklagt er sich etwa in einem Brief an Minna vom 5. April 1855:

63 64

65 66

Joachim Bergfeld (Hg.), Richard Wagner: Das braune Buch, S. 53. Karl Bartsch, Die Eigennamen in Wolframs Parzifal und Titurel, in: ders. (Hg.), Germanistische Studien. Supplement zur Germania, Bd. 2, Wien 1875, S. 114–159 (hier S. 139f.). Gemä ß dieser Deutung wurde die Gralsburg mit Wolframs Besitzung Wildenberg (bei Amorbach im Odenwald) in Bezug gesetzt. Einen Uberblick ü ber die germanistische und lokalhistorische Kontroverse um Ubersetzung und Lokalisierung geben Gü nther Ebersold, Wildenberg und Munsalvaesche, Frankfurt am Main 1988 (= Europä ische Hochschulschriften. Reihe I, Deutsche Sprache und Literatur 1075) und Christa-Maria Kordt, Parzival in Munsalvaesche. Kommentar zu Buch V/1 von Wolframs ›Parzival‹, Herne 1997, S. 210–215. Musikantiquariat Schneider (Tutzing), Auktionskatalog Nr. 276 A (›Richard Wagner‹). So der Bericht der Familie, verö ffentlicht unter dem Titel Anton Pusinelli. [Erinnerungen an sein Leben und Wirken], in: Bayreuther Blä tter 25 (1902), Stü ck 4–6 (April–Juni), S. 89–92 (hier S. 91). Die Baumkletterei erwä hnt auch Cosimas Tagebucheintrag vom 24. April 1871, CT I, S. 380.

234

7. Waldluft – „zu den grü nen Tempeln der Gesundheit“

Jeden Augenblick hat man Hä nde wie ein Schornsteinfeger, und alle Stunde muss ich mich einmal waschen: auch die Wä sche schmutzt dabei sehr schnell; ein einmal getragenes Hemde kann ich anstä ndiger Weise vor den Leuten nicht wieder sehen lassen […]. Am schä dlichsten lagert sich Luft und Dunst mir auf die Brust, die ich nie frei habe, so dass ich mein schö nes Stimmchen schon ganz verloren habe.67

Wagners Lebenszeit war durch den rasanten Ausbau der Eisenbahn und den Siegeszug fossiler Brennstoffe geprä gt; 1881 notiert Cosima in ihrem Tagebuch: „Er […] spricht davon, wann wohl die Kohlen entdeckt worden wä ren und ob man wohl hoffen kö nnte, daß einmal die Menschheit nicht mehr in die Bergwerke ging, ein Urwald von Amerika genü ge ja als Brennstoff fü r die Menschheit. Vor allem aber das Klima! Darauf kommt er immer zurü ck.“68 – Vorlä ufig blieb zum Aufatmen nur die Flucht in die Wä lder. Die im 19. Jahrhundert voll ausgeprä gte Opposition von verderblicher Stadtluft und gesunder Waldluft ist freilich keine universale Selbstverstä ndlichkeit, sondern vergleichsweise rezentes Ergebnis historischer Umwertungsprozesse.69 Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein standen mö gliche Schadwirkungen der Waldluft im Fokus der Aufmerksamkeit. Argumentiert wurde vor allem mit der mangelnden Luftzirkulation in Wä ldern und der resultierenden Ansammlung von Feuchtigkeit, fauligen Dä mpfen oder Phlogiston.70 Mediziner stellten „in noch unbebauten, sumpfigten, waldreichen Gegenden“71 eine signifikant erhö hte Mortalitä t fest; durch großflä chi-

67

68

69

70

71

Richard an Minna Wagner, SBr 7, Nr. 26, S. 83–86 (hier S. 84). Vgl. auch Wagners Vorsatz, sich in der Schweiz „vom Londoner Qualm zu erholen“ im Brief an August Rö ckel vom 2. Feb. 1855, SBr 6, Nr. 238, hier S. 346. Zu den Berichten ü ber Umweltzerstö rung in England vgl. ferner Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde?, S. 51. Eintrag vom 26. September 1881, CT II, S. 789f. Zur Rolle der Steinkohle in der Ablö sung des „organischen Zeitalters“ siehe die Diskussion bei Joachim Radkau, Holzverknappung und Krisenbewußtsein, S. 513–543. Siehe hierzu Albrecht Lehmann, Von Menschen und Bäumen, S. 45ff., Susanne Ude-Koeller, Auf gebahnten Wegen, besonders S. 98–104, sowie Klaus Schriewer, Natur und Bewusstsein, S. 182 und Guillaume Decocq u.a., La Forêt salvatrice, S. 84–86. „Die Waldluft ist allgemein bekannt als eine ungesunde Luft. Alle Lä nder, die große Wä lder haben, oder daran grenzen, haben ungesunde Luft: und je mehr die Wä lder ausgehauen und das Land kultiviert wird, um desto gesunder wird das Klima desselben. […] Die Wä lder verhindern unstreitig, daß die verschiedenen Luftarten, besonders sich darin entwickelnde Sumpfluft, Ausdü nstungen von faulenden Kö rpern und Feuchtigkeit, […] durch einander gemischt werden kö nnen“, liest man noch in den 1790er Jahren bei Gottfried Albert Kohlreif, Abhandlungen von der Beschaffenheit und dem Einfluß der Luft, sowohl der freyen athmosphärischen als auch der eingeschlossenen Stubenluft auf Leben und Gesundheit der Menschen, Weißenfels 1794, S. 41. Ein skeptischer Einwand gegen dergleichen Annahmen: „Wenn diese Behauptung gegrü ndet wä re, so mü ßten die Wä lder fü rchterliche Wohnplä tze fü r die Gesundheit der Menschen sein, weil die Waldluft eine große Menge von jener Luft, die in den Kellern, wo Wein gä hrt, die Menschen erstickt, enthalten wü rde. Allein so etwas findet in der Natur schlechterdings nicht Statt. Lebten nicht unsere alten Deutschen grö ßtentheils in Wä ldern?“, Johann Andreas Scherer, Geschichte der Luftgüteprüfungslehre für Aerzte und Naturfreunde, Bd. 2, Wien 1785, S. 131. Ein bayerischer Obermedizinalrat moniert eine Halbierung der mittleren Lebenserwartung (18 statt 36 Jahre) in solchen Landesteilen und fordert deshalb den „fleißige[n] Anbau des Bodens“, Johann

235

V. Heiliger Wald, heilende Waldluft

ge Meliorationen und Drainagen suchte man feuchte Wiesen und Moore zurü ckzudrä ngen. – Mit voranschreitender Industrialisierung und Verstä dterung schlug das Pendel bedenklich um. Das hygienische Ungleichgewicht fiel mehr und mehr zu Ungunsten der ü berfü llten, von Kaminrauch und Abwasser verpesteten Großstä dte aus.72 Die Flucht ins Freie, das erlö sende Aufatmen in der Natur wurde unter diesen Bedingungen zum vitalen Bedü rfnis. Eine eindrü ckliche Schilderung der neuen Zuschreibungen gibt 1838 der Arzt und Schriftsteller Wilhelm Blumenhagen: Mit Wollust schlü rft die tiefathmende Menschenbrust die frische, erquickliche Luft der Hö hen ein; der ü ppige Wald in seiner ungekrä nkten Jungfrä ulichkeit haucht jedem neuen Sonnenlichte Strö me von Lebensgas, das eigentliche pabulum vitae, entgegen; alle Sinnesorgane erö ffnen sich weiter, denn ungestö rt empfangen sie die natü rlichen Reize, die endlose Aussicht fü r das Auge, die wü rzigen Dü fte der kö stlichen Krä uter, die reinen Klä nge, die Posaunentö ne des Waldlebens fü r Geruch und Gehö r; der Qualm der beengenden Stä dte, der mephitische Dunst der Dö rfer, das endemische Gift der stehenden Wä sser, die missduftende Thierschlacke der vollgepfropften Salons bleiben unten gelagert und steigen nicht hinauf zu den grü nen Tempeln der Gesundheit, aus denen ein Heer junger Sprudelquellen, unbefleckt von schmutzender Menschenhand, uns entgegen tanzt, einladend zum Labetrunke und verjü ngendem Bade; wo die Glieder sich freier regen, wo der Geist freier denkt und erschafft im Gefü hle der Erlö sung aus den Wä nden und Kerkern und der quetschenden Zwangsjacke, mit welchen der nä rrische Mensch sich selbst und seine Nachbarn umstellt und belastet hat.73

Zur Regeneration pilgern die Stä dter zu den „grü nen Tempeln der Gesundheit“. In der Waldnatur wird ein Remedium fü r kö rperliche wie auch geistige Gebrechen der Zivilisation gesucht.74 – In biographischen Zeugnissen Wagners, aber auch in seinem schriftstellerischen und kü nstlerischen Schaffen, kehrt die Gegenü berstellung von belastender, degenerierender Dunstatmosphä re und befreiender, regenerierender Waldluft geradezu leitmotivisch wieder. So klagt er 1841 in einem seiner Korrespondenzberichte aus Paris:

72

73 74

Nepomuk von Ringseis, System der Medizin. Ein Handbuch der allgemeinen und speziellen Pathologie und Therapie, Regensburg 1841, § 559, S. 510. Hierzu grundlegend und mit Fokus auf die Pariser Situation: Alain Corbin, The Foul and the Fragrant. Odor and the French Social Imagination, Cambridge 1986. Wilhelm Blumenhagen, Wanderung durch den Harz, S. 9. Auch der Landschaftsmaler Carl Gustav Carus (gleichfalls Arzt von Profession) wertet diese neuartige „Natur-Adoration“ als eine Kompensationsmaßnahme: „Die immer sich steigernde Kü nstlichkeit unserer socialen Denkungsweisen [verursacht] jenes erst in unserer Zeit hervorgetretene Bestreben sich zeitweise wie zu einer Art von Natur-Adoration hinauszustü rzen in Wä lder und Berge, in Thä ler und auf Felsen, wirklich gleichsam eine Art von Instinkt ist um sich ein Heilmittel zu suchen gegen die Krankheit des kü nstlichen Lebens und die Einwirkung desselben auf geistige Entwicklung.“, Carl Gustav Carus, Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele, Pforzheim 1846, S. 393f. So formuliert auch Wagner: „Wo der gelehrte Arzt kein Mittel mehr weiß, da wenden wir uns endlich verzweifelnd wieder an – die Natur. Die Natur, und nur die Natur, kann auch die Entwirrung des großen Weltgeschickes allein vollbringen.“, Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, Leipzig 1849, S. 42.

236

7. Waldluft – „zu den grü nen Tempeln der Gesundheit“

[S]ich in einen Wald zu legen und tausend schö ne Dinge zu trä umen, – das ist etwas, was uns das Dasein werth macht, – wer wird es leugnen? – Ach, was sind diese Sommerszeiten unerträ glich in Paris! Staub und Hitze, Qualm und Lä rmen, Hä user – sieben Etagen hoch, und Straßen – sieben Fuß breit; schlechten Wein – mattes Wasser; Flußbä der mit tausend schmutzigen Gamins bevö lkert …75

Dem Pariser Opernpublikum traut er nicht zu, „durch diese sonderbare Dunstathmosphä re hindurch“ den „frischen Wä lderduft“ des Freischütz einatmen zu kö nnen.76 Zur monoton betö renden, von „dichte[m] Duft“ erfü llten Venusgrotte sublimiert, begegnet das oppositä re Bild auch in der Tannhäuser-Dichtung von 1843: „Doch ich aus diesen ros’gen Dü ften / verlange nach des Waldes Lü ften“ (I/2).77 Vom Verlangen, „aus dem Qualm der Stadt hinaus[zu]trete[n] in ein schö nes belaubtes Thal“ erzä hlt auch ein Brief an die Mutter von 1846.78 Schon ein Garten mit alten Bä umen kö nne wesentlich zur „geistig-diä tetischen Lebensfö rdernis[] des erholungsbedü rftigen Kü nstlers“79 beitragen, heißt es in der Autobiographie. Als Wagner im Juni 1849 als Exilant nach Paris zurü ckkehrte, wurde die Stadt gerade von einer neuerlichen Cholera-Epidemie heimgesucht; unter diesen Umstä nden erschien die Metropole vollends als „der Schlund, der das Menschengeschlecht verschlingt“ (Rousseau80). An seine Frau schreibt Wagner am 8. Juni: „Heute Abend gehe ich auf’s Land, um mich vor Paris u. – der Cholera zu retten: diese Krankheit wü thet hier furchtbar! Gestern sind 1,300 Menschen daran gestorben. Es ist grä ßlich! – O, in reinere Luft!“81 75

76

77

78

79

80

81

Richard Wagner, „Kein Mensch bezweifelt …“, Rubrik ›Korrespondenz-Nachrichten‹, in: Abend-Zeitung, 1. Okt. 1841 (Nr. 235), Sp. 1879f.; 2. Okt. (Nr. 236), Sp. 1887–1889 (hier Sp. 1879). Richard Wagner, „Der Freischütz.“ An das Pariser Publikum, in: ders., GSD, Bd. 1, S. 273; siehe hierzu Kapitel VIII.1. Vgl. ferner auch den in Mein Leben angefü hrten Vergleich, wonach die Schwarzwälder Dorfgeschichten von Berthold Auerbach unter der Berliner Leserschaft eine Wirkung hervorgebracht hä tten, „wie wenn in ein parfü mirtes Boudoir […] durch das geö ffnete Fenster frische Waldluft hereingelassen wü rde.“, Richard Wagner, Mein Leben, S. 337. Bezü glich der wiederholten Verbindung „between smells and ideational content“ in Wagners Werken sei verwiesen auf den Aufsatz von Marc A. Weiner, Wagner’s Nose and the Ideology of Perception, in: Monatshefte [University of Wisconsin] 81 (1989), Nr. 1, 62–78. Richard Wagner an Johanne Rosine Geyer, Brief vom 19. September 1846, SBr 2, Nr. 217, S. 520–522. Zu diesem Brief vgl. ausfü hrlicher Kapitel IX.5.4. Richard Wagner, Mein Leben, S. 354. Vgl. hierzu den Brief an seine Frau vom 25. Juli 1856, in welchem Wagner erklä rt, dass es ihm bei der Wohnungssuche „vor Allem auf ein Grundstü ck mit grossen Bäumen ankä me, weil wir beide zu alt sind, um uns erst noch welche wachsen zu lassen. Deshalb wü nsche ich durchaus etwas mit einem Stü ckchen Wald, wo man dann nach Belieben ausroden, und die rechten Bä ume stehen lassen kann.“, SBr 8, Nr. 48, S. 124f. Martin Rang (Hg.), Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart 1963, S. 151. Zur Wahrnehmung der Großstadt als „neue Art von Wildnis“ vgl. Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 182. Richard an Minna Wagner, Brief vom 8. Juni 1849, SBr 1, Nr. 6, S. 76–80 (hier S. 80). Vgl. auch die Gegenü berstellung von Paris und der „herrlichen, stä rkenden Natur“ der Schweiz im vorherigen Brief an Minna, SBr 3, Nr. 4, S. 65–71. – Zum ganzen Bild gehö rt freilich auch, was Wagner einige Monate spä ter (am 3. Oktober) gegenü ber Liszt ä ußert: „Nach und nach wird mir meine hiesige Einö de [in Zü rich] doch unerträ glich: wenn ich’s erschwingen kann, gehe ich zum Winter einmal nach Paris: wie gern hä tte ich mir einmal von einem guten Orchester etwas aus Lohengrin vorspielen lassen!“, SBr 5, Nr. 11, S. 66f.

237

V. Heiliger Wald, heilende Waldluft

Frü hzeitig ist die Dialektik von Stadt- und Landluft auch in Wagners Festspielgedanken integriert. Schon in einem Brief an Liszt vom 30. Januar 1852 erklä rt er, dass er seinen erlesenen Zuhö rerkreis „am Liebsten in irgend einer schö nen Einö de, fern von dem Qualm und dem Industrie-pestgeruche unsrer stä dtischen Civilisation“ versammeln mö chte; „als solche Einö de kö nnte ich hö chstens Weimar, gewiß aber keine grö ßere Stadt ansehen.“82 In Bayreuth fand er schließlich einen entsprechenden Ort. Beim Festakt zur Grundsteinlegung des Festspielhauses (1872) merkt Wagner an, es seien „Witze darü ber gemacht worden, dass unser Theater in der Nä he des Irrenhauses stehen wird.“ Da aber Bayreuth „eine so gesunde Luft hat, dass es die Wahnsinnigen gesund macht“, so solle es in den Festspielen auch allen „vom deutschen Geiste Abgeirrten […] etwas Besseres, etwas Naturgemä sseres, etwas Schä rferes, aber Gesundes“ bieten, „gesund wie das Klima, gesund wie der Sinn der Bewohner dieser Stadt.“83 Und ü berhaupt, proklamiert Wagner 1878 in seinem Leitartikel fü r die Erstausgabe der Bayreuther Blä tter, sei in Deutschland von jeher „nur der ›Winkel‹, nicht aber die grosse Hauptstadt produktiv gewesen.“84 Die Großstä dte hä tten noch nichts hervorgebracht, als den „Zurü ckfluss des dort durch ›Gestank und Thä tigkeit‹ verdorbenen einstigen Zuflusses der nationalen Produktion“85: Hiervon wissen wir Kleinstä dter nun nichts. […] Aber in unserem Winkel fü hlen wir uns ungenirt und hegen noch Originale. Da wir nichts von ö ffentlicher Kunst zu schmecken bekommen, haben wir auch keinen verdorbenen Geschmack.86

82 83

84 85

86

SBr 4, Nr. 118, S. 269–274 (hier S. 270). Zitiert nach Wilhelm Tappert, Die Festtage in Bayreuth, in: Musikalisches Wochenblatt 3 (1872), Nr. 23 (31. Mai), S. 358f.; Nr. 24 (7. Juni), S. 375f.; Nr. 25 (14. Juni), S. 391–394; Nr. 26 (21. Juni), S. 407– 410 (hier S. 409). Richard Wagner, Zur Einführung, in: Bayreuther Blä tter 1 (1878), 1. Stü ck (Januar), S. 1–5 (S. 4). Mit der Formel „Gestank und Thä tigkeit“ spielt Wagner auf Mephistopheles’ Stadtkritik in Faust II (IV/1) an. Ein Zeitungsartikel ü ber die Zustä nde in London veranlasst Wagner am 21. Februar 1870 zu dem Urteil: „So eine Stadt ist der Cancer eines Volks, er saugt es aus; wenn Bismarck wirklich die großen Stä dte ausrotten mö chte, so hat er einen wirklich deutschen Gedanken.“, CT I, S. 200. Richard Wagner, Zur Einführung, S. 4.

238

VI. Deutscher Wald 1. Der „klassische Morast“ Das ist der Teutoburger Wald, Den Tacitus beschrieben, Das ist der klassische Morast, Wo Varus stecken geblieben. Heinrich Heine1

„Abschreckend wegen der Wä lder und hä sslich wegen der Sü mpfe“ 2 – so beschreibt der rö mische Senator und Schriftsteller Cornelius Tacitus (ca. 55–120 n. Chr.) das unwegsame Gebiet nö rdlich des Limes. Bei den dort hausenden Barbaren, die er kollektiv als „Germanen“ bezeichnet, mü sse es sich wohl um „vö llig unvermischte Ureinwohner“ handeln – denn wem fiele es schon ein, aus freiem Willen seine Heimat zu verlassen, um sich in dieser „unfö rmigen Landschaft, von rauhem Klima und trostlosem Wuchs und Aussehen“, anzusiedeln?3 Wenn auch dem rö mischen Volk kategorial unterlegen, kö nne man sich an diesen Wilden doch in manchen Belangen ein Beispiel nehmen, etwa bei ihren einfachen Gebrä uchen, ihrer Bedü rfnislosigkeit und strengen Moralauffassung. Die ethnographische Abhandlung Germania wird gemeinhin als ein „Sittenspiegel“ interpretiert, den Tacitus seinen ›dekadenten‹ Landsleuten vorhielt.4 So stehen auch die eher spä rlichen Landschaftsbeschreibungen im Dienst sittlicher Charakterisierung. Sie haben fü r Tacitus „nur insofern Bedeutung, als sich daraus Bezü ge zu den moralischen Qualitä ten und der geschichtlichen Kraft herstellen lassen.“5 Geistige Grundlage dafü r bildete die Klimatheorie

1 2

3

4

5

Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen, Hamburg 1844, caput 11, S. 328. „Terra […] in universum tamen aut silvis horrida aut paludibus foeda“, Cornelius Tactius, De origine et situ Germaniae liber, 5,1. „Ipsos Germanos indigenas crediderim minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos […]. quis […] Asia aut Africa aut Italia relicta Germaniam peteret, informem terris, asperam caelo, tristem cultu aspectuque, nisi si patria sit?“, Ebenda, 2,1. Diese vorsichtige Mutmaßung („crediderim“) wurde von spä teren Kommentatoren als positive Wertung und Beleg fü r die angebliche ›Reinheit‹ der Germanen gewertet; aus Sicht der Rö mer, die sich selbst als „gens mixta“ verstanden, war „Unvermischtheit“ eine stereotypische Negativzuschreibung an barbarische Vö lker, siehe den Hinweis bei Klaus von See, Barbar, Germane, Arier, S. 351. Joachim Herrmann, Einführung, in: ders. (Hg.), Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z., Bd. 2, Berlin 1990 (= Schriften und Quellen der Alten Welt 37,2), hier S. 20 und 24f. Ebenda, S. 26, 32f. Die in der rö mischen Literatur ü bliche Gleichsetzung von Land und Bewohnern erlaubte es etwa dem Dichter Properz, vom „barbarischen Rhein“ und den „sumpfigen Sugambrern“ zu sprechen; hierzu Beatrix Gü nnewig, Zum Germanenbild der Römer aus literarischer Perspektive, in: Landesverband Lippe (Hg.), 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos, Stuttgart 2009, S. 30–34 (hier S. 32f.). Zur Bedeutung literarisch-ethnographischer „Wandertopoi“ in der Germania und dem Wald als „Kulisse barbarischen Lebens“ siehe Klaus von See, Barbar, Germane, Arier, S. 31–43.

239

VI. Deutscher Wald

des Poseidonios, der zufolge sich Umweltfaktoren wie Klima und Bodenbeschaffenheit auf Lebensweise, Konstitution und Charakter der Vö lker auswirken, und so die kulturelle Uberlegenheit der Mittelmeeranwohner bedingten. Im Falle der Germanen schien demnach besonders die Wirkung der Wä lder von Belang. Von deren immenser Ausdehnung hatte bereits Julius Caesar in seinen Berichten vom Gallischen Krieg (58–50 v. Chr.) staunendes Zeugnis gegeben: Der herzynische Wald (Hercynia silva) etwa erstrecke sich „fü r einen rü stigen Fußgä nger neun Tagesreisen in der Breite. […] Es gibt niemanden in dieser Gegend Germaniens, der, auch nach sechzigtä gigem Vordringen, behaupten kö nnte, er habe den Anfangspunkt dieses Waldes erreicht oder auch nur etwas darü ber in Erfahrung gebracht.“6 Erschwerend hinzu kä men, außer hinterhä ltigen Barbaren, auch noch die bedrohlichen Wildtiere. 7 Locus terribilis!8 – Demgegenü ber weiß Tacitus von hoher Wertschä tzung fü r den Wald zu berichten, die sich in den religiö sen Handlungen der autochthonen Bevö lkerung erweise: Ubrigens glauben sie, es sei der Hoheit der Himmlischen nicht angemessen, die Gö tter in Wä nden einzuschließen oder sie auf irgendeine Weise dem menschlichen Aussehen nachzubilden. Sie weihen ihnen heilige Haine und Wä lder und benennen mit den Namen der Gö tter jenes Geheimnis, das sie nur in Ehrfurcht schauen.9

Offenbar erreichte Tacitus mit seinen Mitteilungen ü ber die nö rdlichen Nachbarn vorerst nur einen ü berschaubaren Leserkreis, und vielleicht wä re die Uberlieferung der Germania bald ganz abgerissen, wenn sich nicht ein gewisser Kaiser Tacitus im dritten Jahrhundert nach Christus seinem lange verstorbenen Namensvetter verbunden gefü hlt und das Kopieren und Verbreiten seiner Schriften angeordnet hä tte.10 Eine einzige Abschrift auf Pergament (›Codex Hersfeldensis‹) ü berdauerte die 6

7 8

9

10

„Huius Hercyniae silvae […] latitudo novem dierum iter expedito patet […]. Neque quisquam est huius Germaniae, qui se aut adisse ad initium eius silvae dicat, cum dierum iter LX processerit, aut, quo ex loco oriatur, acceperit.“, Gaius Iulius Caesar, Commentarii de Bello Gallico, 6,25. Die Urheberschaft des Exkurses zum herzynischen Wald ist strittig; mö glicherweise handelt es sich um eine pseudoepigraphische Interpolation, die jedenfalls aber bereits im Altertum in Caesars Text gelangt war, siehe hierzu Gerhard Dobesch, Zum Exkurs über den herzynischen Wald in Caesars bellum Gallicum, in: Herbert Heftner, Kurt Tomaschitz (Hg.), Gerhard Dobesch: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Kö ln 2001, S. 439–452. Siehe Gaius Iulius Caesar, Commentarii de Bello Gallico, 6,26–28. Eine differenzierte Darstellung antik-rö mischer Sichtweisen und Einstellungen zum Wald bietet Marcus Nenninger, Die Römer und der Wald. Untersuchungen zum Umgang mit einem Naturraum am Beispiel der römischen Nordwestprovinzen, Stuttgart 2001 (= Geographica historica 16); ü ber Tacitus’ Germania hier besonders S. 31–33. Schama zufolge habe sich „die klassische Zivilisation immer im Gegensatz zu den Urwä ldern definiert“, wobei er auch auf das Gilgamesch-Epos hinweist, Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 98. Vgl. hierzu auch das antike „Dreistufenschema“ menschlicher Zivilisation, das der untersten Stufe die Begriffe „Wald – Waffen – tierisches Leben“ zuordnet, Klaus von See, Barbar, Germane, Arier, S. 41. „Ceterum nec cohibere parietibus deos neque in ullam humani oris speciem assimulare ex magnitudine caelestium arbitrantur: lucos ac nemora consecrant deorumque nominibus appellant secretum illud, quod sola reverentia vident.“, Cornelius Tacitus, De origine et situ Germaniae liber, 9,2. Joachim Herrmann, Einführung, in: ders., (Hg.), Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas, Bd. 2, S. 50f.

240

1. Der „klassische Morast“

Jahrhunderte in Archiven und wurde schließlich im frü hen 15. Jahrhundert von italienischen Humanisten aufgestö bert.11 Der lang gereifte Flaschengeist sollte, nachdem der Korken gelö st und der enge Hals durchwunden war, noch umso andauernder und folgenreicher wirken: Von nun an wurde die Schrift fü r verschiedenste, bevorzugt aber politische Zwecke herangezogen – die Germania wurde „ein gefä hrliches Buch“12. Den bezeichnenden Anfang machte der pä pstliche Gesandte Giannantonio Campano, der 1471 versuchte, auf dem Regensburger Reichstag Unterstü tzer im Kampf gegen die Tü rken zu mobilisieren. In seiner Rede, die zwar wegen vorzeitiger Auflö sung des Reichstages nie gehalten, aber bald in Abschriften und Drucken verbreitet wurde, nahm er weitreichende Entlehnungen aus Tacitus’ Schrift, um den gegenwä rtigen „principes Germanorum“ die kriegerische Tapferkeit und – rhetorisch zurechtgebogen – religiö se Frö mmigkeit ihrer ›Vorvä ter‹ zu schildern. Stillschweigend vorausgesetzt wurde dabei, dass die taciteischen ›Germani‹ und die Jahrhunderte spä ter lebenden ›Deutschen‹ in einem Kontinuum stü nden, dass also das gegenwä rtig adressierte Publikum von den Helden vergangener Zeiten abstamme. Dieser Brü ckenschlag wurde nö rdlich der Alpen gern zur Kenntnis genommen und in seiner Legitimitä t nicht weiter hinterfragt.13 Das bis ins 15. Jahrhundert mü hsam konstruierte Geschichtsbild, demzufolge die Deutschen in der Erbfolge der Griechen und Troianer standen, wurde zugunsten dieses geographisch einleuchtenderen Narrativs verworfen.14 Mit der Wiederentdeckung der Germania ging eine positive Neubewertung des ›Wilden Mannes‹ einher. Wurde dieses Inbild des barbarischen, mitunter mit tierischen Zü gen dargestellten Waldmenschen bis dato als Antithese zum zivilisierten Christen aufgefasst, so wurde er nun zum Muster tugendhaften und naturgemä ßen Daseins umgearbeitet, unempfindlich fü r die Verlockungen des stä dtischen Lebens. 15 In der Folge ließ sich die Waldwildnis, in Anlehnung an frü hchristliches

11

12

13

14

15

Die sehr wenigen nachweislichen Fä lle mittelalterlicher Tacitus-Rezeption (vor allem die Benutzung der Germania durch Rudolf von Fulda und des Agricola durch Petrus Diaconus) sammelt Joachim Herrmann, ebenda, S. 53–56. So der Titel einer eingehenden rezeptionsgeschichtlichen Darstellung von Christopher B. Krebs, Ein gefährliches Buch. Die ›Germania‹ des Tacitus und die Erfindung der Deutschen, Mü nchen 2012. Zur Gleichsetzung von Germanen und Deutschen siehe Christopher B. Krebs, Ein gefährliches Buch, S. 104, Dieter Mertens, Die Instrumentalisierung der ›Germania‹ des Tacitus durch die deutschen Humanisten, in: Heinrich Beck (Hg.), Zur Geschichte der Gleichung ›germanisch-deutsch‹. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin 2004, S. 37–101 und Michael Titzmann, Die Konzeption der ›Germanen‹, S. 120f. Hans Ottomeyer, Die Erfindung der deutschen Nation. Eine europäische Geschichte, in: Landesverband Lippe (Hg.), 2000 Jahre Varusschlacht, S. 140–148 (hier S. 141f.). Der Figur des ›Wilden Mannes‹ widmet sich ausfü hrlicher Hansjö rg Bruland, Wilde Kinder, S. 135– 157; vgl. weiterhin Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 112–117, sowie François Walter, Allemagne – France. Des paysages nationaux improbables, in: Hé lè ne Miard-Delacroix u.a. (Hg.), Espaces de pouvoir, espaces d’autonomie en Allemagne, Villeneuve d’Ascq 2010, S. 67–91 (hier S. 82).

241

VI. Deutscher Wald

Eremitentum, als Rü ckzugsraum vor der „ungetrewen Welt“ auffassen, wie etwa in der zivilisationskritischen Klag der wilden Holtzleut (1530) des Hans Sachs.16

QR Einige Jahre nach der Germania lieferte der Fund eines weiteren taciteischen Buches neue Erkenntnisse ü ber die dunkle Frü hzeit und literarische Munition im „Humanistenstreit“17 zwischen italienischen und deutschen Gelehrten: Die Annales berichten von den Einsä tzen des rö mischen Feldherrn Germanicus und rä umen einem Kontrahenten besonderen Raum ein: Arminius, ein Cherusker. Martin Luther, der in ihm ein frü hes Vorbild im Kampf ›gegen Rom‹ erblickte, bü rgerte ihn mit dem deutschen Namen „Herman“ ein.18 Mit diesem Herman(n) „tritt erstmals eine individuelle Gestalt in den Fokus der Geschichtserzä hlungen und lö st sich aus der namenlosen Vorzeit“ 19 der barbarischen Stä mme. Um Jacob Grimm zu zitieren: „durch eines Rö mers unsterbliche schrift war ein morgenroth in die geschichte Deutschlands gestellt worden, um das uns andere vö lker zu beneiden haben“20. Eine prominente Rolle kommt auch hier wieder dem Wald zu, diesmal als ›Teutoburgiensis saltus‹, dem berü hmt-berü chtigten Schauplatz der ›clades Variana‹. Nicht ganz unzutreffend wurde Tacitus vom deutschen Humanisten Franciscus Irenicus als „zweiter Grü nder Deutschlands“21 geehrt. Er lieferte die Stoffe, aus denen sich nationale Mythen schneidern ließen – in einer Rezeptionsgeschichte, die Hans Ottomeyer als „Panorama der fruchtbar gemachten Irrtü mer“ 22 bezeichnet. Die identitä tsstiftende Entdeckung und ideologische Dienstbarmachung der germanischen Vorfahren, insbesondere der Arminius-Figur, ermö glichte zunä chst die Distinktion von den sü dlichen Nachbarn, deren imposantem historischen Vermä chtnis man eine „ebenbü rtige, ruhmvolle ›deutsche‹ Antike“23 entgegenzustellen bemü ht war. Die dü rftige Quellenlage regte zu eingehender Exegese und umfangreicher Kommentierung, Auf- und Ausarbeitung an. Besonderen Eifer bewies hierbei Ulrich von Hutten, der den redlichen Arminius gegen die „zarten Pfaffen und weibischen Bischö fe“24 der rö mischen Kurie positionierte. Das deutsche ›Germanentum‹ liess 16

17 18

19 20

21

22 23 24

„Biß ein enderung sich begeyt / Inn weyter welte umb und umb, / Das jederman wird trew und frumb, / Das stat hat armut und einfalt, / Denn wö ll wir wider auß dem wald.“, Hans Sachs, Klag der wilden Holtzleut uber die ungetrewen Welt, zitiert nach Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 115. Hans Ottomeyer, Die Erfindung der deutschen Nation, S. 146. Luther: „De Arminio. Wenn ich ein poet wer, wolt ich den celebriren. Ich hab in von hertzen lib. Hat herzog herman geheissen.“, zitiert nach Peter Arens, Kampf um Germanien. Die Schlacht im Teutoburger Wald, Frankfurt am Main 2008, S. 192. Hans Ottomeyer, Die Erfindung der deutschen Nation, S. 145. Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Bd. 1, Gö ttingen 21844, S. V. Zur Rezeption der Germania durch die Gebrü der Grimm siehe Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 89f. „[…] Cor. Tacitus […] que[m] no[n] minoris q[uam] alteru[m] germaniæ conditore[m] æstimo.“, Franciscus Irenicus, Germaniae exegeseos volumina duodecim, Hagenau 1518, fol. II recte. Hans Ottomeyer, Die Erfindung der deutschen Nation, S. 148. Dieter Mertens, Die Instrumentalisierung der ›Germania‹, S. 39. Ulrich von Hutten, Dem duchleuchtigen […] Fürsten […] Hern Friderich, Hertzogen zu Sachsen, zitiert nach Achim Aurnhammer, Vom Humanisten zum ›Trotzromanisten‹. Huttens poetische Rom-Polemik,

242

1. Der „klassische Morast“

sich aber auch gegen das franzö sische ›Romanentum‹ auffahren, wie es bereits in der Germania (1501) des Jakob Wimpfeling geschieht. Diese Gegenü berstellung sollte besonders im 18. und 19. Jahrhundert, aber auch darü ber hinaus noch schwerwiegende politische und kulturelle Wirkung entfalten. Christoph Otto von Schö naich, ein Protegé Gottscheds, stellt gleich in den ersten Versen von Hermann, oder das befreyte Deutschland (1751) klar, welche gegenwä rtige Relevanz sein „Heldengedicht“ habe: Hermann! dich will ich erheben: und dem sey mein Lied geweiht, Der einst Deutschlands Unterdrü cker, Galliens Geschlecht, zerstreut; Der, dem ersten Hermann gleich, unser schnö des Joch zerschlä get, Und der stolzen Lilgen Pracht vor dem Adler niederleget.25

Die goldenen Lilien der Bourbonen galt es zu rupfen, „Galliens Geschlecht“ zu zerstreuen; als „schnö des Joch“ empfand Schö naich offenbar die imperialen Bestrebungen sowie die kulturelle Hegemonie Frankreichs. Sein Epos steht in einer langen Reihe von literarischen, dramatischen und auch musikalischen Bearbeitungen des Hermann-Stoffes: Auf der Theaterbü hne erschien das Sujet – „ironischerweise“26 , wie Werner Doyé anmerkt – zuerst in Frankreich, etwa bei Georges de Scudé ry (1644) und Jean Baptiste de Campistron (1684). In deutscher Sprache folgten auf Lohensteins barock-ausschweifenden Roman ü ber den „Beschirmer der deutschen Freyheit“27 (1689/90) zahlreiche Romane, Gedichte und Dramen, letztere etwa von J. E. Schlegel (1743) und J. Mö ser (1749). Dutzende Opern basieren auf dem Sujet, das mit großer Freiheit und verschiedensten Akzentuierungen den Konventionen des Dramma per musica angepasst wurde. Als prominente Beispiele sind die Arminio-Vertonungen von Alessandro Scarlatti (1703), Johann Adolph Hasse (1730/1745) und Georg Friedrich Hä ndel (1737) zu nennen.28 Herausragende Rezeptionsbeiträ ge

25

26

27

28

in: Martin Disselkamp (Hg.), Das alte Rom und die neue Zeit. Varianten des Rom-Mythos zwischen Petrarca und dem Barock, Tü bingen 2006, S. 153–169 (hier S. 162). Christoph Otto von Schö naich, Hermann, oder das befreyte Deutschland, ein Heldengedicht, mit einer Vorrede ans Licht gestellet von Joh. Chr. Gottscheden, Leipzig 1751, S. 3. Werner M. Doyé , Arminius, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, hier S. 593. Daniel Casper von Lohenstein, Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann Als Ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit Nebst seiner Durchlauchtigen Thüßnelda In einer sinnreichen Staats- Liebes- und Helden-Geschichte, 2 Bde., Leipzig 1689/90. Die Opern Scarlattis und Hasses liegen jeweils in mehreren ü berarbeiteten Fassungen vor; eine chronologische Ubersicht bieten Paola Barbon, Bodo Plachta, „Chi la dura la vince“ – „Wer ausharrt, siegt“. Arminius auf der Opernbühne des 18. Jahrhunderts, in: Rainer Wiegels, Winfried Woesler (Hg.), Arminius und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur, Paderborn 2003, S. 265–290. Den Autoren zufolge habe das Sujet „neben dem wohlbekannten antiken und arkadisch-pastoralen Dekor die Einfü hrung einer neuen Kulisse, jener des deutschen Waldes“ (S. 266) erlaubt. Allerdings vermutet Niessen, der einen materialreichen Uberblick ü ber ›germanische‹ (und ›ossianische‹) Bü hnenstü cke gibt, dass man sich „wohl leicht mit einem Funduswald“ begnü gt habe, Carl, Niessen, Der ›Norden‹ auf dem Theater, in: Hugo Kuhn, Kurt Schier (Hg.), Märchen, Mythos, Dichtung, S. 423–446 (hier S. 429). Zur Hermann-Rezeption im 18. Jahrhundert siehe ferner Gesa von Essen, „Aber rathen Sie nur nicht den Arminius. Dieser ist mir zu sauvage“. Hermannsschlachten des 18. Jahrhunderts und die Debatte um ein

243

VI. Deutscher Wald

lieferte ferner Friedrich Gottlieb Klopstock mit seinen drei als „Bardiete“ bezeichneten Dramen.29 Bei ihm erscheint Hermann nicht nur als militä rischer, sondern zumal auch kultureller Held: Durch seinen Sieg sei die ›deutsche‹ Sprache und Kultur vor dem Untergang gerettet worden – ein Verstä ndnis, das in der Folge etwa von Ernst Moritz Arndt aufgegriffen und popularisiert wurde.30 Beschworen wird der „Geist Hermanns“ auch in Schillers Räubern (1781): Unter seinen Fittichen wü rde „aus Deutschland […] eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklö ster seyn sollen“, poltert dort der Hauptmann Karl Moor (I/2).31 Das breite kü nstlerische und historische Interesse an der Thematik kann zugleich als Auslö ser und Phä nomen einer sich vollziehenden Neubewertung der Konzepte Nation und Patriotismus im Zeitalter der Aufklä rung aufgefasst werden – wenn es auch, wie Roland Krebs anmerkt, „auf den ersten Blick paradox“32 wirken muss, dass gerade in diesem geistigen Klima eine so ausgeprä gte Vorliebe fü r die barbarische Vorzeit und hinterhä ltige Schlacht eines opportunistischen Cheruskerfü rsten gedeihen konnte. Unter den zahllosen Bearbeitungen 33 , mit denen sich die Hermann-Rezeption nach dem Ende des Heiligen Rö mischen Reichs fortsetzte, stechen die Hermannsschlacht-Dramen von Heinrich von Kleist (1808) und Christian Dietrich Grabbe (1838) hervor. Ein allmä hliches Abflauen der Begeisterung fü r die cheruskische Hel-

29 30

31 32

33

deutsches Nationalepos, in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos, Bielefeld 2008 (= Verö ffentlichungen der Literaturkommission fü r Westfalen 32), S. 17–40 und Peter Arens, Kampf um Germanien, S. 192–197. Hermanns Schlacht (1769), Hermann und die Fürsten (1784), Hermanns Tod (1787). Hierzu Werner M. Doyé , Arminius, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, S. 594 und Volker Losemann, Arminius. Karriere eines Freiheitshelden, in: Betsy van Schlun, Michael Neumann (Hg.), Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination, Bd. 6: Das 19. Jahrhundert, Darmstadt 2008, S. 99–119 (hier S. 103). Durch die weit verbreitete Darstellung Kestings fand dieses Verstä ndnis noch in den 1950er Jahren Gehö r: „Arminius hat durch seinen Sieg Germanien, also unser Deutschland, vor dem Schicksal Galliens, der politischen und kulturellen Fremdherrschaft bewahrt. Dass wir heute deutsch sprechen, denken und fü hlen, dass wir nicht Romanen geworden sind, wie die Franzosen, Portugiesen oder Spanier geht letzten Endes auf ihn und seine Tat zurü ck.“, Hermann Kesting, Der Befreier Arminius im Lichte der geschichtlichen Quellen, Detmold 1950, S. 13. [Friedrich Schiller], Die Räuber. Ein Schauspiel, Frankfurt am Main 1781, S. 20. Roland Krebs, Von der Liebestragödie zum politisch-vaterländischen Drama. Der Hermannstoff im Kontext der deutsch-französischen Beziehungen. Zu Johann Elias Schlegels und Justus Mösers Hermannstücken, in: Rainer Wiegels, Winfried Woesler (Hg.), Arminius und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur, Paderborn 2003, S. 291–308 (hier S. 291). Goethe bezeichnet das in Hermanns Schlacht entworfene „Bild [als] gar wohl geeignet, das Selbstgefü hl der Nation zu erwecken“, wenngleich „das von Klopstock erregte Vaterlandsgefü hl“ in Ermangelung „ä ußere[r] Feinde“ vorerst noch „keinen Gegenstand, an dem es sich hä tte ü ben kö nnen“, fand, Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben, Bd. 3, S. 141. Das mitunter bescheidene Niveau dieser Bearbeitungen reizte Heine zu ironischen Ratschlä gen fü r einen „an einem National-Heldengedichte“ arbeitenden „deutsche[n] Barden“: „Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß er die Sü mpfe und Knü ppelwege des teutoburger Waldes sehr onomatopö isch durch wä ßrige und holprige Verse andeuten kö nne, und daß es eine patriotische Feinheit wä re, wenn er den Varus und die ü brigen Rö mer lauter Unsinn sprechen ließe. Ich hoffe, dieser Kunstkniff wird ihm, eben so erfolgreich wie andern Berliner Dichtern, bis zur bedenklichsten Illusion gelingen.“, Heinrich Heine, Reisebilder, Bd. 1, S. 222.

244

2. Klopstock und der deutsche Eichenhain

dengestalt zeigt sich indessen nicht nur im Rü ckgang einschlä giger Opernproduktionen 34 , sondern auch in der schleppenden Finanzierung des seit den 1830er Jahren laufenden Bauvorhabens eines Hermannsdenkmals. Erst 1875, getragen von Reichsgrü ndungs-Euphorie und kulturkä mpferischem Anti-Katholizismus, konnte Ernst von Bandels Kolossalstatue auf der Grotenburg feierlich eingeweiht werden.35 Trotz wesentlicher ideologischer Fortschreibungen unterlag das Germanenbild im 19. Jahrhundert kontinuierlichem Wandel. Michael Titzmann verweist auf wechselnde politische Rahmenbedingungen, Verä nderungen des Werte- und Normensystems, sowie „Transformationen der ä sthetisch-poetologischen Theorie und Praxis“ (insbesondere die Neubewertung mittelalterlicher Literatur), die zu sukzessiven Neuinterpretationen des ›Germanischen‹ fü hrten.36 Im Zuge der hier in ihren Umrissen geschilderten frü hen Hermann- und Germanenrezeption stellte sich unweigerlich die Frage nach dem germanischen ›Urwald‹ – als geheiligter Ort, ruhmreicher Kampfplatz, Wiege der Nation. Hier schienen die Germanen, und mit diesen gleichgesetzt die Deutschen, als ›Waldvolk‹ ganz in ihrem Element. 37 Den romanischen Widerpart bildete die urbane Zivilisation der ›Welschen‹, der Italiener und Franzosen. Die Imaginationen beruhten im Wesentlichen auf einer ü berschaubaren Zahl antiker Schriftexzerpte, allen voran der taciteischen Germania als dem „zentrale[n] ideologische[n] Referenztext“38.

2. Klopstock und der deutsche Eichenhain Du gleichst der dicksten schattichsten Eiche Im innersten Hain! Der hö chsten, ä ltesten, heiligsten Eiche, O Vaterland!39

Das Vaterland als Eiche – diese Metapher legt Klopstock, reichlich mit Superlativen geschmü ckt, seinen germanischen Barden in den Mund. Die Anregung dazu 34

35

36 37

38 39

Den mindestens 37 Titeln des 18. Jahrhunderts stehen halb so viele fü r das 19. Jahrhundert (und nur mehr drei fü r das 20. Jahrhundert) gegenü ber, was zeigt, dass „der Stoff als originä rer Bestandteil der Operngeschichte des 18. Jahrhunderts“ anzusehen ist, Paola Barbon, Bodo Plachta, Arminius auf der Opernbühne, S. 266. Einer der letzten bedeutenden Beiträ ge war die „Heroische Oper“ Armin (1872), komponiert von Heinrich Hofmann nach dem Libretto von Felix Dahn, der einige Jahre spä ter seinen Bestseller Ein Kampf um Rom (1876) verö ffentlichte. Dirk Mellies, „Symbol deutscher Einheit“. Die Einweihungsfeier des Hermannsdenkmals 1875, in: Landesverband Lippe (Hg.), 2000 Jahre Varusschlacht, S. 225–229, Werner M. Doyé , Arminius, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, S. 596–599 und Volker Losemann, Arminius, S. 105–110. Michael Titzmann, Die Konzeption der ›Germanen‹, S. 121f. „Der Wald als Ursprungsort, als Lebensraum, als Kultort erhielt bereits seitens der rö mischen Historio- und Ethnographie gentile Zuschreibungen zu den germanischen Stä mmen und ihrer Mythologie“, Hildegard Elisabeth Keller, Wald, Wälder, S. 935. Michael Titzmann, Die Konzeption der ›Germanen‹, S. 120. Friedrich Gottlieb Klopstock, Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne, Hamburg 1769, Szene 7, S. 73.

245

VI. Deutscher Wald

dü rfte er antiken Quellen wie der Naturalis historia von Plinius dem Alteren entnommen haben, in der die Bedeutung dieser Baumart besonders herausgestellt wird.40 In der bildenden Kunst der Rö mer war der Eichenwald als „Kü rzel fü r die Landschaft Germaniens, ja fü r das mitteleuropä ische Barbaricum ü berhaupt“41 etabliert. Hohen Stellenwert besaß die Eiche aber auch im antiken Mittelmeerraum: Ein alter griechischer Mythos schildert die Entstehung des Menschen aus der Eiche, die den Hellenen als ä ltester und vornehmster aller Bä ume galt.42 Kultische Bedeutung eignete ihr etwa im Zeusheiligtum von Dodona, wo man dem Rauschen ihrer Blä tter und den Stimmen der Peleiaden Orakelsprü che ablauschte.43 Auf der Opernbü hne erschien das Eichenorakel von Dodona beispielsweise in der „Pastorale hé roı̈que“ Issé (1697), komponiert von André Cardinal Destouches. Priesterchö re huldigen dort den „Arbres sacré s“ und „Ché nes divins“ (III/5), ehe der Hohepriester in melismatischem Gesang verkü ndet: „L’Oracle va parler. Chaque feuille murmure.“ Weitere Eichenheiligtü mer brachte Felice Romani in seinen Libretti zu La sacerdotessa d’Irminsul (Musik: Giovanni Pacini, 1820) und Norma (Musik: Vincenzo Bellini, 1831) auf die Opernbü hne. – Friedrich Kind merkt in seinen Erlä uterungen zur ›Wolfsschlucht‹ an, dass schon das „Alterthum“ das „Wunderbare der Haine“ gefü hlt habe und verweist dazu auf „das hoch verehrte und gefü rchtete Dodonä ische Orakel“44. Richard Wagner wollte im Heiligtum der „Gö t tereiche zu Dodona“ den Prototyp des Tempel- und Theaterbaus schlechthin erkennen: In stufenweiser Naturunterwerfung habe der antike Mensch aus den „grü nenden Baumsä ulen des Gö t terhain es“ seine Baukunst entwickelt, fü hrt er in Das Kunstwerk der Zukunft (1850) aus.45

40

41 42

43

44 45

„In eadem septentrionali plaga hercyniae silvae roborum vastitas intacta aevis et congenita mundo prope inmortali sorte miracula excedit.“, Gaius Plinius Secundus Maior, Naturalis Historia, liber 16,2. Der schon bei Aristoteles belegte Name „hercynia“ gilt als keltisch und wird etymologisch mit dem lateinischen „quercus“ verknü pft, Alexander Demandt, Der Baum, S. 190. Alexander Demandt, Der Baum, S. 191. Ebenda, S. 103 und 109. Ihr Name ›δρῦ ς‹ bedeutete ursprü nglich ›Baum‹ im Allgemeinen; auf die Wortwurzel werden neben dem lateinischen ›durus‹ auch die deutschen Wö rter ›derb‹ und ›treu‹ zurü ckgefü hrt. Strabon, Γεωγραφικά, VII 7, § 10. Strittig blieb, ob mit den „Peleiaden“ gurrende Tauben oder weissagende Priesterinnen gemeint waren; H. F. Perthes argumentiert fü r Letzteres und nimmt an, dass eigentlich „das geheimnißvolle Rauschen der Wipfel, welches noch heute unsere Herzen, wie einst die unserer Ahnen, mit Andacht und Schauer erfü llt“, die Prophetien kundtat, Hermann Friedrich Perthes, Die Peleiaden zu Dodona. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung, Moers 1869, S. 8. Schilderungen des ›germanischen‹ Waldkultus wurden durch Berichte ü ber das Eichenorakel von Dodona inspiriert: „In dem heiligen Dunkel der Eichenwä lder saßen einst die Priesterinnen unserer Vä ter und lauschten dem prophetischen Rauschen der Blä tter, um der harrenden Menge den Ausspruch der Gö tter zu verkü nden.“, Carl Rosenkranz, Die Pflanzen im Volksaberglauben, S. 75–83 (hier S. 76). Friedrich Kind, Erläuterungen. (Aus Sprache und Geschichte), in: ders., Freischütz-Buch, S. 237. „Vor der G ö t t e r e i c h e zu Dodona neigte sich der, des Naturorakels bedü rftige, U r h e l l e n e ; unter dem schattigen Laubdache und umgeben von den grü nenden Baumsä ulen des G ö t t e r h a i n e s erhob der O r p h e i k e r seine Stimme: unter dem schö n gefü gten Giebeldache und zwischen den sinnig gereihten Marmorsä ulen des G ö t t e r t e m p e l s ordnete aber der k u n s t f r e u d i g e Ly r i k e r seine Tä nze nach dem tö nenden Hymnos, – und in dem T h e a t e r , […] fü hrte der Tr a g ö d e das lebendigste Werk vollendetster Kunst aus.“, Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, S. 142f.

246

2. Klopstock und der deutsche Eichenhain

Aus ihrer kultischen wie kulturellen Bedeutung erwuchs der in Mitteleuropa vorherrschenden Stieleiche (Quercus robur) starke Symbolkraft: In England etwa galt sie seit dem 16. Jahrhundert als kö niglicher Baum, als „Britanniens Zierde und Schutz“46, in Finnland und Estland als Gottesbaum Taara, im revolutionä ren Frankreich wurde sie als „arbre de la liberté “ tausendfach gepflanzt und gefeiert.47 Eichenlaub schmü ckt die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen im berü hmten Druck von Le Barbier (1789). Demandt meint: „Wenn es einen Europa-Baum geben sollte, mü ßte es wohl die Eiche werden.“48 Die universelle Wertschä tzung hatte freilich auch ganz profane Grü nde: Seit frü hesten Zeiten wurde das Weidevieh zur Eichelmast in die Wä lder getrieben. In Mitteleuropa wurde der ›Eckerich‹ vielerorts erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Stallfü tterung abgelö st. Aus Niederwaldwirtschaft gewonnene Eichenrinde (Lohe) enthielt den Gerbstoff Tannin, der im Zeitalter der Industrialisierung massenhaft zur Lederproduktion benö tigt wurde.49 Die neuzeitliche Idealisierung der knorrigen alten Eiche steht derweil unter kompensatorischen Vorzeichen: Zu der Zeit, als Klopstock sie zum deutschen Nationalsymbol erkor, wurde sie von der sich etablierenden Forstwissenschaft ihres langsamen Wachstums wegen abgeschrieben und verschwand zusehends aus den realen Hoch- und Hutewä ldern.50 In das bei Klopstock farbenreich ausgefü hrte Bild der Eiche als Kultbaum, dessen „heiliges Laub“51 die Kö pfe germanischer Krieger schmü ckt, dü rften jedenfalls auch 46

47

48 49

50

51

„Britanniae decus et tutamen“, James Wheeler, The Modern Druid, Containing Instructions […] For the Much Better Culture of Young Oaks, London 1747, Frontispiz. Dem Schutz des „Heart of Oak“ wurde, nicht zuletzt wegen des Schiffbaues, hö chste strategische wie patriotische Wichtigkeit zuerkannt, so etwa im Bericht des Schiffbauers Roger Fisher, Heart of Oak, the British Bulwark, London 1763. Zur Bedeutung der Eiche in England siehe Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 180–195. Erik Fechner, L’arbre de la liberté: objet, symbole, signe linguistique, Mots 15 (1987), Nr. 1, S. 23–42. Der Nationalkonvent schrieb 1794 vor, dass die Bä ume dazu nicht, nach Tradition des Maibaums, gefä llt und aufgestellt, sondern samt Wurzeln ge- oder verpflanzt werden sollten, Dieter Struss, Reisen in die Tiefen des Waldes, [Mü nchen] 1986, S. 69; vgl. auch Reinhard Jakob, Mythos und Zeichen. Zur Kulturgeschichte der Eiche, in: Toni Drexler (Hg.), Ein Baum wie ein Denkmal: Die Eiche. Eine kleine Kultur- und Naturgeschichte, Schö ngeising 2001 (= Jexhof-Heft 17), S. 51–75 (hier S. 65f.). Alexander Demandt, Der Baum, S. 290. Vor allem im Rheinland prä gten sogenannte Lohhecken das Landschaftsbild. Zur Blü tezeit der Lohwirtschaft berichtet eine Musikzeitschrift (1856), Wagners Lohengrin (in dem der Eichbaum wirkungsvoll in Szene gesetzt wird) werde in Hannover als „Lohgerber“ verballhornt, zitiert nach Wilhelm Tappert, Richard Wagner im Spiegel der Kritik, S. 48. Wagner dü rfte diese Schmä hung sehr gut verstanden haben – schließlich litt seine Schulbildung, wie er in der Autobiographie erwä hnt, unter dem Umstand, dass die Wohnung seines Privatlehrers „auf eine Lohgerberei hinaus[ging], deren widerwä rtiger Geruch meine Nerven dermaßen affizierte, daß er mir den Sophokles und das Griechische grü ndlich verleidete“, Richard Wagner, Mein Leben, S. 46. Die Eiche begann „ein eigentü mliches Eigenleben in den Kö pfen der Deutschen zu fü hren, als gä lte es, zumindest ihre Idee zu retten“, Annemarie Hü rlimann, Die Eiche, heiliger Baum deutscher Nation, in: Bernd Weyergraf (Hg.), Waldungen, S. 62–68 (hier S. 62). Ahnlich auch Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 118f. „Flechtet, Mä dchen, das heilige Laub des Eichenhains / Fü r die Schlä fe des Siegers!“, Friedrich Gottlieb Klopstock, Hermanns Schlacht, S. 12. In der Deutschen Gelehrtenrepublik (1774) fü hrt Klopstock aus, „daß die Eiche den deutschen Charakter vorzü glich gut abbildet“ und dass sie „bey unsern ä ltesten Vorfahren mehr, als etwas Symbolisches“ gewesen sei: „sie war ein geheiligter Baum, unter dessen Schatten die Gö tter am liebsten ausruhten.“, Friedrich Gottlieb Klopstock, Die deutsche Gelehrtenrepublik. Ihre Einrichtung. Ihre Geseze […] Erster Theil, Hamburg 1774, S. 23.

247

VI. Deutscher Wald

Elemente aus der antiken Mythologie, aus diversen kulturellen Kontexten und literarischen Vorbildern eingeflossen sein. In Macphersons Ossian etwa war der Eichbaum bereits „frequent to the point of saturation“52 beschworen worden. In der programmatischen Ode Der Hügel und der Hain (1767) stellt Klopstock den teutonischen Eichenhain als Gegenbild zum griechischen Musenhü gel von Helikon und als Quellort naturnaher, vaterlä ndischer Dichtung dar, und fü llt so den Begriff ›Hain‹ mit neuer Bedeutung: Des Hü gels Quell ertö net von Zeus, Von Wodan, der Quell des Hains. Weck’ ich aus dem alten Untergange Gö tter Zu Gemä lden des fabelhaften Liedes auf; So haben die in Teutoniens Hain Edlere Zü ge fü r mich! Mich weilet dann der Achä er Hü gel nicht; Ich gehe zu dem Quell des Hains!53

Eine Gruppe Gö ttinger Studenten fü hlte sich 1772 durch Klopstocks Verse zu einem Selbstversuch in ritueller Baumverehrung ermuntert, wie ihn ein Brief des Beteiligten Johann Heinrich Voß schildert: Ach den 12 Sept., mein liebster Freund, da hä tten Sie hier seyn sollen. Die beyden Millers, Hahn, Hö lty, Wehrs und ich giengen noch des Abends nach einem nahgelegnen Dorfe. Der Abend war außerordentlich heiter, und der Mond voll. Wir ü berließen uns ganz den Empfindungen der schö nen Natur. Wir aßen in einer Bauerhü tte eine Milch, und begaben uns darauf ins freye Feld. Hier fanden wir einen kleinen Eichengrund, und sogleich fiel uns allen ein, den Bund der Freundschaft unter diesen heiligen Bä umen zu schwö ren. Wir umkrä nzten die Hü te mit Eichenlaub, legten sie unter den Baum, und faßten uns alle bey den Hä nden, und tanzten so um den eingeschloßenen Stamm herum; riefen den Mond und die Sterne zu Zeugen unsers Bundes an, und versprachen uns eine ewige Freundschaft.54

Anschaulich zeigt der Vorgang eine immaterielle, identitä tsstiftende ›Waldnutzung‹. Obgleich der bei dieser nä chtlichen Zusammenkunft ins Leben gerufene

52

53

54

Murray G. H. Pittock, James Macpherson and Jacobite Code, in: Fiona Stafford, Howard Gaskill (Hg.), From Gaelic to Romantic. Ossianic Translations, Amsterdam 1998 (= Textxet. Studies in comparative literature 15), S. 41–50 (hier S. 44). Pittock skizziert hier (S. 45) die ikonographische und symbolische Tradition der Eiche als „image of British patriotic identity“ im 18. Jahrhundert. Mit Ossian assoziierte Landschaftstypen behandelt auch Petra Raymond, Von der Landschaft im Kopf, S. 97f. [Friedrich Gottlieb Klopstock], Der Hügel und der Hain, in: ders., Oden, S. 192–201 (hier S. 200). Hierzu auch Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 19f. Johann Heinrich Voß an Ernst Theodor Johann Brü ckner, Brief vom 20. September 1772, zitiert nach Paul Kahl, Das Bundesbuch des Göttinger Hains. Edition, historische Untersuchung, Kommentar, Tü bingen 2006 (= Exempla critica 2), S. 282.

248

3. Der ›deutsche Wald‹ im Umfeld der Befreiungskriege

›Hainbund‹ nur wenige Jahre bestand, hinterließ er bedeutende Spuren in der deutschen Literaturgeschichte und streute das „Saatgut fü r ganze Wä lder an vaterlä ndischen Eichen“55. Weiter gedeihen konnte in diesem Umfeld der frankophobe Nimbus, der sich in deutschem Hain und Baum eingenistet hatte.56

3. Der ›deutsche Wald‹ im Umfeld der Befreiungskriege 3.1. „Freiheit der deutschen Eichen“ Wachse, du Freiheit der deutschen Eichen, Wachse empor ü ber unsere Leichen! – Vaterland hö re den heiligen Eid. – Theodor Kö rner57

„So zieh’n wir aus zur Hermannsschlacht / Und wollen Rache haben.“58 Diesen archaischen Aufruf richtete Ernst Moritz Arndt im Jahr 1812 an sein „heil’ges Vaterland“. Nicht gegen rö mische Legionen ging es, sondern „Henkerblut, Franzosenblut“ sollte „das Eisen rö then“. Um die Wende zum 19. Jahrhundert, in der Ara der Revolution und Koalitionskriege, wucherte ein dichtes, assoziativ ausgreifendes Wurzelgeflecht aus Germanentum und imaginierten Urwä ldern, aus Freiheit, Kollektivitä t und Franzosenhass, aus Religion, Naturgefü hl und nationaler Distinktion – und erblü hte als deutscher Eichenwald.59 Politisch vereinnahmt, prä gte die (oft synekdochisch austauschbare) Baum- und Waldmetaphorik zum einen das Bild eines integrierenden Innenraums aus, als einiges Kollektiv der ›deutschen Stä mme‹, das sich gegen die territoriale und realpolitische Zersplitterung der deutschen Staaten und die Zerschlagung des Heiligen Rö mischen Reiches richtete.60 So schließt eine 1817 von Aloys Schreiber gedichtete Waldmusik, die „der Hö rner Zauberklä nge[]“ in traulichem „Eichengrund“ evoziert, mit dem Appell: „Deutsche sind und bleiben Brü der!“61 Zum anderen wurde

55 56

57

58

59

60

61

Erhard Schü tz, Dichter Wald, S. 108. Was sein Spottgedicht An die Herrn Franzosen (1773) motivierte, spricht des Bundes spiritus rector Voß in einem Brief an Ernst Brü ckner vom 24. Februar 1773 deutlich aus: „Die franzö sische Nation im Ganzen hass’ ich, mit jedem deutschen Patrioten“. Zum Feindbilddenken des Bundes siehe Paul Kahl, Das Bundesbuch des Göttinger Hains, S. 369ff. (Briefstelle zitiert nach S. 369). Theodor Kö rner, Bundeslied vor der Schlacht, in: [Christian Gottfried Kö rner] (Hg.), Theodor Körner: Leyer und Schwerdt, Berlin 1814, S. 51–54 (hier S. 53). Ernst Moritz Arndt, Vaterlandslied. 1812, in: ders., Gedichte. Vollständige Sammlung, Berlin 1860, S. 213. Siehe hierzu die mit zahlreichen Beispielen versehene Darstellung von Klaus Lindemann, „Deutsch Panier, das rauschend wallt“ (zur Eiche besonders S. 100–109), Alexander Demandt, Der Baum, S. 278ff., Annemarie Hü rlimann, Die Eiche, S. 62–68, sowie Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 120–124. Siegfried Becker, Märchenwälder, S. 62f., Werner Graf, Der Wald als Metapher, S. 234 und Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 55f. Aloys Schreiber, Waldmusik, in: ders., Poetische Werke, Bd. 1: Gedichte, Tü bingen 1817, S. 73f.

249

VI. Deutscher Wald

der ›deutsche Wald‹ als hermetischer „Schutzwall gegen die Fremdherrschaft“62 beschworen. Die Eichenhaine Germaniens sollten „[z]ur Scheidung von den Andern“63 dienen, wie es in einem 1814 verfassten Gedicht Max von Schenkendorfs heißt. Besonders im Bild der ›deutschen Eiche‹ war eine ausgeprä gte antifranzö sische und antirevolutionä re Grundhaltung veranlagt. 64 In einer Phase nationaler Identitä tssuche konnte sie als kontrastives Bild „all das, was nicht fremd, insbesondere nicht franzö sisch war“65 verkö rpern. Ihre ideelle Omniprä senz verdankte die Eiche einem breiten Spektrum ornamentaler und symbolischer Bedeutungszuschreibungen. Das Bild der solitä ren Eiche oder auch des Eichwaldes ließ sich von Monarchisten wie Republikanern gleichermaßen vereinnahmen. Burschenschaften schmü ckten ihre Fahnen mit goldgestickten Eichenzweigen, Turnvereine krö nten ihre Sieger mit Eichenkrä nzen, Liedertafeln besangen den Baum. Auf preußischen Reichstalern wurde 1812 Lorbeer durch Eichenlaub ersetzt66; die gleiche Ablö sung vollzog sich auf der Quadriga des Brandenburger Tors, als sie 1814 aus Paris zurü ck nach Berlin gebracht und von Karl Friedrich Schinkel restauriert wurde. Drei Eichenblä tter zeigt das Revers des Eisernen Kreuzes, das Friedrich Wilhelm III. persö nlich skizziert hatte und 1813 erstmals verlieh. Trotz manch kritischem Einwand 67 dominiert Eichenlaub seit den Befreiungskriegen die deutsche Staatsemblematik.

62

63

64

65

66

67

Siegfried Becker, Märchenwälder, S. 62. Friedrich Ludwig Jahn, Freikorps-Mitglied und ›Turnvater‹, empfahl 1833 ganz konkret die Aufforstung von Urwä ldern („Hammen“) an Deutschlands Grenzen als „Scheide zwischen zä nkischen Vö lkern“; dass es ihm hierbei vorrangig um Abschottung von Frankreich geht, machen seine Ausfü hrungen zur „Wehrlage“ (S. 152–160) deutlich. Positive Nebeneffekte: „Selten gewordene Thiere wü rden sich dort bald einfinden und vermehren. […] Ein nicht zu berechnender Gewinn wä re die Erzeugung, Erziehung und Erhaltung eines urkrä ftigen Menschenschlags. […] Der stete Krieg mit reißenden Thieren ist die beste Vorschule zur Landwehr wider reißende Vö lker.“, Friedrich Ludwig Jahn, Merke zum Deutschen Volksthum, Hildburghausen 1833, S. 161–165 (hier S. 163). Der preußische Fö rster Friedrich W. Frö mbling schlug 1844 die Anlage von „Wehrwä ldern“ als eine dem deutschen „Nationalcharakter“ angemessene Art der Landesverteidigung vor; „Mobilmachung des Waldes“ wurde aber auch in den Kriegen des 20. Jahrhunderts gefordert, zum Beispiel von F. von Mammen (1916), H. Riedel (1917), A. F. Boback (1935), V. Dieterich (1940), siehe hierzu Michael Imort, A Sylvan People, S. 60f. und 77 (Fußnote 14). „Zum Eichenwald, zum Eichenwald, / Wo Gott in hohen Wipfeln wallt, / Mö cht’ ich wohl tä glich wandern. / Du frommes, kü hnes, deutsches Wort, / Du bist der rechte Schild und Hort / Zur Scheidung von den Andern.“, Max von Schenkendorf, Vaterland. 1814, in: ders., Sämmtliche Gedichte, S. 270. Johannes Zechner, Politicized Timber, S. 20. Schü tz sieht in der deutschen Literatur um 1800 die Eiche „im nationalen Grenz-Dienst“, der von der „ursprü nglich kulturellen Franzosenfeindschaft ü ber die Abwehr der Franzö sischen Revolution bis zum Anti-Napoleonismus“ reicht, Erhard Schü tz, Dichter Wald, S. 108. Annemarie Hü rlimann, Die Eiche, S. 63. Die sich seit dem spä ten 18. Jahrhundert vollziehende deutsche Vereinnahmung der Eiche kann auch als Streben nach Deutungshoheit ü ber ein internationales Symbol verstanden werden – ein Streben, welches Rü ckschluss auf außenpolitischen Hegemonialanspruch zulä sst, Alexander Demandt, Der Baum, S. 318. Alexander Demandt, Der Baum, S. 282. Zur heraldischen und numismatischen Karriere der Eiche siehe Reinhard Jakob, Mythos und Zeichen, S. 59–61. So beklagt Friedrich Rü ckert: „Wie ihr zu dem Wahn gekommen, / Deutsche, daß fü r euern Baum / Ihr die Eich’ habt angenommen, / Zu begreifen weiß ichs kaum. / Sie ein Bild von euerm Reiche? / Welch ein krü pplig Jammerbild! / Denn verkü mmert wie die Eiche / Wä chst kein Baum im Lenzgefild.“ Seine Gegenvorschlä ge lauten: die „Buche mit dem Riesenschaft“ oder die zierliche „Birke, sä uselnd geisterhaft“, Friedrich Rü ckert, Der deutsche Baum, in: ders., Gedichte, Frankfurt am Main 1841, S. 553. Franz Grillparzer positioniert sich in der Auseinandersetzung von Philhellenismus und Ger-

250

3. Der ›deutsche Wald‹ im Umfeld der Befreiungskriege

Wie Annemarie Hü rlimann darlegt, war dem Baum einerseits „ein progressives Moment“ zugeordnet, dem „die bü rgerlichen Ideale der franzö sischen Revolution zugrunde lagen.“68 Wiederholt wurde die universelle Metaphorik von Baum-Individuum und Wald-Gesellschaft bemü ht, so etwa wenn Clemens Brentano in seinem Roman Godwi (1800/1801) im Eichenhain „eine Versammlung der Bü rger einer großen Republik“ sah, „alle voll Selbstgefü hls und eignen Sinnes, doch nur eine Absicht.“ 69 – Den im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend stä rker ausgeprä gten Gegenpol bildete hingegen „ein konservativ-idealisiertes Moment“ 70 , das Einheit, Kontinuitä t und Stä rke des germanisch–deutschen, heidnisch–christlichen Altertums beschwor. Als „der Vorwelt krä ftige Gestalten“ verkö rperten die Bä ume den Bezug zum ›goldenen Zeitalter‹ der Nation und gaben ein „[s]chö nes Bild von alter deutscher Treue“ 71 , wie Theodor Kö rner dichtete, wenige Monate bevor er, am 26. August 1813 tö dlich getroffen, von Kameraden des Lü tzowschen Freikorps „mit Eichenlaub bekrä nzt […] unter einer a lten E ich e begraben“72 wurde.

68 69

70

71 72

manophilie folgendermaßen: „Auch ihr guten alten Deutschen / Wollt euch mit der Vorzeit schmeicheln; / Doch wie laut ihr es versucht, / Eure Eichen trugen Eicheln / Hellas’ Bä ume gaben Frucht.“, zitiert nach Alexander Demandt, Der Baum, S. 283. „Die Deutschen hat nur der grü ndliche Irrthum Klopstocks, der die religiö sen Vorstellungen der Kelten mit den altgermanischen verwechselte, mit der Eiche beschenkt, die sonst den Germanen unbekannt war. Der deutsche Nationalbaum ist die Linde“, moniert M[atthias] J[acob] Schleiden, Für Baum und Wald, S. 33. Annemarie Hü rlimann, Die Eiche, S. 63. [Clemens Brentano], Godwi, Bd. 2, S. 45. Als autarkes „Volk von Titanen“ treten auch Friedrich Hö lderlins Eichbäume auf: „Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels / Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.“, Friedrich Hö lderlin, Die Eichbäume, in: Die Horen 3 (1797), 10. Stü ck, S. 101. Hoffmann von Fallersleben lä sst nach der Melodie des Gaudeamus igitur singen: „Frei und unerschü tterlich / Wachsen unsre Eichen; / Mit dem Schmuck der grü nen Blä tter / Stehn sie fest in Sturm und Wetter, / wanken nicht noch weichen. […] Wollen wir auch ihnen gleichen, / Frei und fest wie deutsche Eichen / Unser Haupt erheben. / Darum sei der Eichenbaum / Unser Bundeszeichen […]“, [Hoffmann von Fallersleben], Bundeszeichen, in: ders., Deutsche Lieder aus der Schweiz, Zü rich 1843, S. 117f. Ludwig Uhland sprach 1849 als Abgeordneter in der Frankfurter Paulskirche von der „neu erstehenden deutschen Eiche“: „Die Wurzel also ist eine demokratische, der Gipfel aber schießt nicht von den Zweigen, sondern aus der Wurzel empor.“, zitiert nach Reinhard Jakob, Mythos und Zeichen, S. 64. Der Wald oder Eichenhain als Metapher eines nationalstaatlichen Kollektivs vereinigter deutscher Volksstä mme bot sich schon sprachlich aufgrund der Doppelbedeutung von ›Stamm‹ (›Baumstamm‹ und ›Volksstamm‹) an, die sich Demandt zufolge bereits im Althochdeutschen, aber auch im Lateinischen und Griechischen findet, Alexander Demandt, Der Baum, S. 38. In solch arboral-genealogischem Doppelsinn berichtet eine Norne zu Beginn von Wagners Götterdämmerung (I/1): „An der Weltesche wob ich einst, da groß und stark dem Stamm entgrü nte / weihlicher Aste Wald.“ Annemarie Hü rlimann, Die Eiche, S. 63. Becker skizziert fü r das 19. Jahrhundert eine politisch vereinnahmte Entwicklung vom republikanischen „Eichenhain“ hin zur singulä ren Eiche als „Ausdruck des monoethnischen Prinzips“, Siegfried Becker, Märchenwälder, S. 68–71. Vgl. auch Ulrich Linse, Der deutsche Wald als Kampfplatz, S. 342. Theodor Kö rner, Die Eichen, in: ders., Leyer und Schwerdt, S. 4f. So berichtet es Heinrich Graf zu Dohna-Wundlacken im Vorwort zu Leyer und Schwerdt, S. II. Kö rners Grab bei Wö bbelin trä gt Verse aus dem Bundeslied vor der Schlacht als Inschrift: „Wachse du Freiheit der deutschen Eichen, / wachse empor ü ber unsere Leichen.“, zitiert nach Heiko Steuer, Das ›völkisch‹ Germanische in der deutschen Ur- und Frühgeschichtsforschung. Zeitgeist und Kontinuitäten, in: Heinrich Beck (Hg.), Zur Geschichte der Gleichung ›germanisch-deutsch‹. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin 2004, S. 357–502 (hier S. 410). Eichen als „Denkmal“ auf den Grä bern der „Heldenbrü der“ forderte Arndt bereits 1803 im Lied der Freien. Spä ter projektierte die ›Arbeitsgemeinschaft fü r deutsche Heldenhaine‹ das (letztlich nicht realisierte) Vorhaben, fü r jeden seit 1813

251

VI. Deutscher Wald

Ein Mitstreiter, der Maler Georg Friedrich Kersting, verewigte seine in den Befreiungskriegen gefallenen Freunde in den Gemä lden Auf Vorposten und Die Kranzwinderin. Ersteres zeigt Kö rner zusammen mit dem Jurastudenten Hartmann und dem Burschenschaftler Friesen, alle drei mit gelocktem Haar, in schwarzer Montur mit roten Litzen und goldenen Knö pfen, dekoriert mit Eisernen Kreuzen, versonnenen Blicks in ruhiger Erwartung. Das Gegenstü ck zeigt ein strahlend-weiß gekleidetes Mä dchen, an einem Bach sitzend und Krä nze aus Eichenlaub knü pfend. Gemeinsam ist beiden Bildern der Hintergrund: Wuchtige Eichen bilden ein grü nes Dach, durch das vereinzelte Lichtflecken auf den Waldboden fallen.73 In die drei krä ftigen Stä mme hinter der Kranzwinderin sind golden die Namen der Kameraden eingeschrieben. Leben sie fort in den Bä umen?74 Der Historiker und Dichter Friedrich Fö rster jedenfalls hö rte Unter Theodor Körner’s Eiche (1813) deutlich die „Geisterstimme“ des Sä ngers „rauschen“.75 Kerstings Werke sind stellvertretend fü r eine Vielzahl von Bildern deutscher Kü nstler zu nennen, die Wald und Eiche national kontextualisieren.76 Das wohl berü hmteste Beispiel stellt Caspar David Friedrichs Chasseur im Walde dar, der im Jahr 1814 zusammen mit Kerstings Gemä lden in einer Dresdener Ausstellung patriotischer Bilder gezeigt wurde: Ein franzö sischer Soldat stapft verloren durch den Schnee, scheint misstrauisch in den finsteren Nadelwald hinein zu horchen, der sich gewaltig vor ihm aufbä umt. Auf einem Stumpf im Vordergrund wittert ein Totenvogel Beute.77 Auch auf Friedrichs Gemä lde Abtei im Eichwald (1810) verlieren sich

73

74

75 76

77

gefallenen deutschen Soldaten eine Eiche zu pflanzen; siehe hierzu Ursula Breymayer, Bernd Ulrich, „Unter Bäumen“: ein Zwischenreich. Die Deutschen und der Wald, in: dies. (Hg.), Unter Bäumen, S. 14– 39 (hier S. 21). Auch ein anderes Freikorps-Mitglied, Joseph von Eichendorff, wird spä ter sein kurzes Freischä rlerDasein waldesgrü n verklä ren: „Wo wir ruhen, wo wir wohnen: / Jener Waldeshort / Rauscht mit seinen grü nen Kronen / Durch mein Leben fort.“, Joseph von Eichendorff, An die Lützowschen Jäger, in: ders., Gedichte, S. 211. Lindemann zufolge zeigt sich eine „patriotische Nuance“ in Eichendorffs Waldlyrik erstmals in der Klage (1809), Klaus Lindemann, „Deutsch Panier, das rauschend wallt“, S. 118. Andreas Bernhard nimmt an, dass bei Kersting das „Waldgrab – bislang ein Sinnbild des Ausgestoßenseins aus der christlichen Gemeinschaft […] zum Symbol der Rü ckkehr des Helden in die Natur und in der Folge ein gä ngiges, vielfä ltig variiertes Bildmotiv“ wird, Andreas Bernhard, Der deutsche Wald in Malerei und Grafik, in: Ursula Breymayer, Bernd Ulrich (Hg.), Unter Bäumen, S. 128–189 (hier S. 130). Als literarische Vorlage kö nnte Kersting das kurz zuvor entstandene Gedicht Körners Geist (1814) von Rü ckert gedient haben, wo es heißt: „Ich seh’ auch meinen Namen, / Daß er unsterblich sey, / Geschnitten in den Rahmen / Der Eiche schö n und frey. / Es sind die schö nsten Krä nze / Gegeben meiner Gruft, / Die sich in jedem Lenze / Erneun mit frischem Duft.“, Friedrich Rü ckert, Körners Geist, in: ders., Kranz der Zeit, Bd. 2, Stuttgart 1817, S. 153f. Siehe hierzu Klaus Lindemann, „Deutsch Panier, das rauschend wallt“, S. 102f. Vgl. weiterfü hrend Andreas Bernhard, Der deutsche Wald in Malerei und Grafik, besonders S. 130–134; Esther Schlichting-Riedemann, Die Eiche in der deutschen Kunst. Eine kurze Übersicht, in: Toni Drexler (Hg.), Ein Baum wie ein Denkmal: Die Eiche, S. 77–96 (hier S. 90–94); Paul Schoenen, Hans Martin von Erfa, Lemma ›Eiche‹, in: Ernst Gall, Ludwig H. Heydenreich (Hg.), Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1958, Sp. 905–921 (hier Sp. 918ff.); Nina Hinrichs, Caspar David Friedrich – ein deutscher Künstler des Nordens. Analyse der Friedrich-Rezeption im 19. Jahrhundert und im Nationalsozialismus, Kiel 2011 (= Schleswig-Holsteinische Schriften zur Kunstgeschichte 20), S. 36–39; ferner Friedrich Mö bius, Die Eichen in Caspar David Friedrichs Gemälde ›Abtei im Eichwald‹ (1810), in: Hannelore Gä rtner (Hg.), Caspar David Friedrich. Leben, Werk, Diskussion, Berlin 1977, S. 163–168. Auf einem Entwurf zum Bild hinterließ Friedrich neben einer skizzierten Waldansicht die Notiz: „Rü stet Euch / heute zum neuen Kampf Teutsche Mä nner / Heil Euren Waffen!“, siehe hierzu Klaus

252

3. Der ›deutsche Wald‹ im Umfeld der Befreiungskriege

die menschlichen Gestalten im Bildgrund; das knorrige Geä st bizarrer Eichengestalten dominiert. Von kargen Umstä nden gezeichnete „Naturwesen“ sah Ludwig Justi in diesen Bä umen: „Wir kö nnen die Stimmungswerte nur durch Vergleiche andeuten: es ist nicht die wohlig perlende Form Mozarts, sondern die schwer aus der Tiefe klagende, gegen Schicksal und Hemmung sich wehrende Seele Beethovens.“78 Friedrich Mö bius greift den Vergleich auf und spricht von „Beethovenschen Baumgestalten“79.

3.2. „Die wilde Jagd und die Deutsche Jagd“ Im Umfeld der sogenannten Befreiungskriege gegen die napoleonische Vorherrschaft wurde das von den (Frü h-)Romantikern etablierte Repertoire poetischer Waldbilder vielfach durch politisch motivierte Autoren wie Theodor Kö rner, Ernst Moritz Arndt und Max von Schenkendorf aufgegriffen, zweckmä ßig angepasst und popularisiert.80 Wie Klaus Lindemann an zahlreichen Beispielen darlegt, diente die Jagdthematik im Verbund mit der des Waldes als gä ngigste „Metapher fü r die lyrische Bewä ltigung des Befreiungskrieges gegen die Franzosen und ihren Kaiser“81. Dabei wurde Napoleon (oder ›der Franzose‹) sowohl mit dem glü cklosen Feldherrn Varus 82 als auch mit dem zu erjagenden Wild identifiziert: „Es ist die schmucke Jä gerschar / Der jungen tapfern Preußen […] Ihr bestes Wild ist ein Tyrann, / Drauf

78

79 80

81 82

Lindemann, „Deutsch Panier, das rauschend wallt“, S. 95–99. Der Bildgehalt kö nnte sich auf das populä re Kampflied (1812) von Ferdinand August beziehen: „Mit Mann und Roß und Wagen / So hat sie Gott geschlagen! / Es irrt durch Schnee und Wald umher / Das große mä cht’ge Franzenheer …“, zitiert nach ebenda, S. 108. Wald vertritt in dieser Allusion an das 2. Buch Mose (Exodus) das verschlingende Meer. Ludwig Justi, Deutsche Malkunst im neunzehnten Jahrhundert. Ein Führer durch die Nationalgalerie, Berlin 1920, S. 349. Bereits Zuccalmaglio gebraucht die „deutsche Prachteiche“ als charakteristisches Sinnbild fü r Beethoven: „Ebenso hat Bö rne gesprochen, als er Mozart mit einem prä chtigen Palmbaume verglich, indessen hat er vergessen, ihm die deutsche Prachteiche Beethoven zur Seite zu setzen, denn in diesen Sinnbildern scheint mir auch die Hö he der beiden Geister, wie ihre Aehnlichkeiten und Gegensä tze sich auszusprechen.“, G[ottschalk] Wedel [= Anton Wilhelm von Zuccalmaglio], Der Besuch beim Meister, in: Neue Zeitschrift fü r Musik 8 (1838), Nr. 1, S. 1–3 (hier S. 2). Friedrich Mö bius, Die Eichen, S. 167. Die „entscheidenden Impulse zu jenem patriotischen lyrischen Wä ldersausen der Jahre 1813–1815“ hatten vor allem Tieck, Friedrich Schlegel und Eichendorff geliefert, Klaus Lindemann, „Deutsch Panier, das rauschend wallt“, S. 113f. und 124. Ebenda, besonders S. 99 und 108–114. Als Beispiel fü r die historische Parallelisierung: „Das teutsche Volk ist in der Geschichte […] immer ein herrliches, mä chtiges und freies Volk geblieben, bis auf die letzten zwanzig Jahre, wo die hinterlistigen Fremden haben seine Herren werden wollen. Vor etwa zweitausend Jahren waren die Rö mer […] das mä chtigste Volk der Welt, […] und versuchten auch an unseren Vorä ltern, ob sie sie zu ihren Knechten machen mö gen; aber es wollte ihnen nicht gelingen. Und es sind jetzt etwa achtzehnhundert Jahre, […] da setzten sie mit unzä hligen Heeren ü ber den Rheinstrom, […] und gedachten die Vö lker zu bezwingen […]. Das gefiel aber Gott nicht, sondern er erweckte den Teutschen einen gewaltigen Kriegsfü rsten […]. Dieser Fü rst […] hieß A r m i n i u s oder H e r m a n n .“, Ernst Moritz Arndt, Vorrede, in: ders., Katechismus für den Teutschen Kriegs- und Wehrmann, worin gelehret wird, wie ein christlicher Wehrmann seyn und mit Gott in den Streit gehen soll, Kö ln 1815, S. IIIf. Siehe weiterhin den Abschnitt „Arminius gegen Napoleon“ bei Volker Losemann, Arminius, S. 103–105.

253

VI. Deutscher Wald

zielen alle Mann fü r Mann“83, heißt es etwa in Schenkendorfs martialischem Jägerlied (1803). Unzä hlige Male wurde der (Eichen-)Wald als Schauplatz dieser ›deutschen Jagd‹, als Ort des Freiheitskampfes und genuin deutscher Uberlegenheit, als Sinnbild des Vaterlands oder kameradschaftlichen Zusammenhalts, kurzum als „getreueste[r] Verbü ndete[r] der deutschen Befreiungskrieger“ (Lindemann84) akklamiert. Die militä rische Konnotation der ›Jä gerei‹ begrü ndete sich ganz konkret in personalen Gegebenheiten: (Feld-)Jä gerverbä nde als militä rische Truppengattung, die sich zunä chst aus Berufsjä gern und Fö rstern rekrutierte und fü r Geplä nkel außerhalb der Schlachtreihe eingesetzt wurde, hatten sich in deutschen Heeren seit dem 17. Jahrhundert etabliert. Zudem bestand im 19. Jahrhundert vielerorts eine Koppelung von militä rischer und forsttechnischer Laufbahn, wie sie etwa Friedrich der Große in Preußen eingefü hrt hatte.85 Die enge Verflechtung von Jagd-, Forst- und Militä rwesen ä ußerte sich nicht zuletzt im Transfer und Bedeutungsaustausch der hier wie dort gebrauchten Hö rnersignale.86 Ihre wohl bekannteste Ausgestaltung fand die Thematik der ›deutschen Jagd‹ in Kö rners Gedicht Lützow’s wilde Jagd, verfasst im April 1813. Die erste der sechs Strophen lautet: Was glä nzt dort vom Walde im Sonnenschein? Hö r’s nä her und nä her brausen. Es zieht sich herunter in dü steren Reihn, Und gellende Hö rner schallen darein, Und erfü llen die Seele mit Grausen. Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt, Das ist Lü tzow’s wilde verwegene Jagd.87

83 84 85

86

87

Zitiert nach Klaus Lindemann, „Deutsch Panier, das rauschend wallt“, S. 111. Ebenda, S. 107. Heinrich Rubner, Deutsche Forstgeschichte 1933–1945. Forstwirtschaft, Jagd und Umwelt im NS-Staat, St. Katharinen 21997, S. 6f. Zur Situation in den franzö sischen Gebieten siehe Gottfried Pagenstert, Forstliche Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau 1961, S. 54. Siehe hierzu Josef Pö schl, Jagdmusik, S. 189. Wenn Carl Maria von Weber darauf hinweist, dass er in seiner Kantate Kampf und Sieg (neben einem Selbstzitat aus Lützow’s wilder Jagd) „die ä cht Preußischen Jä ger-Signale“ benutzt habe, so versteht er darunter explizit die militä rischen, nä mlich „Feind entdeckt, Avantgarde vor, Masse formirt, Angriff etc.“, Carl Maria von Weber, Meine Ansichten bei Composition der Wohlbrückischen Cantate Kampf und Sieg, für meine Freunde niedergeschrieben den 26. Jänner 1816, in Prag, Berlin 1816, zitiert nach WeGA, (Dateiversion vom 14. April 2017). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass Weber postum die Komposition einiger militä rischer Hornsignale des sä chsischen Heeres zugeschrieben wurde. Widerlegt wurde die irrige Annahme (die gleichwohl Rü ckschlü sse auf das Weber-Bild des 19. Jahrhunderts zulä sst) durch Konrad Neefe, Sind die alt-sächsischen Hornsignale von Carl Maria von Weber? Eine kritische Untersuchung, in: Neue Zeitschrift fü r Musik 62 (1895), Nr. 2 (9. Januar), S. 13f.; Nr. 3 (16. Januar), S. 25f. Im Ubrigen enthä lt das Preußische Militair-Liederbuch von 1846 eine eigene Rubrik „Jä gerlieder“ (S. 133–145) mit ü ber zwanzig Beiträ gen, darunter auch Webers ›Waldlied‹ aus Preciosa (Nr. 210). Theodor Kö rner, Lützow’s wilde Jagd, in: ders., Leyer und Schwerdt, S. 66–68 (hier S. 66).

254

3. Der ›deutsche Wald‹ im Umfeld der Befreiungskriege

Kö rner verwob die Selbstinszenierung des Lü tzowschen Freikorps als „schwarze Jä ger“ mit dem sagenhaften Topos der ›Wilden Jagd‹ und schuf so das Bild einer hö heren (Natur-)Gewalt, die jederzeit unvermittelt aus dem „finstern Wald“ hervorzubrechen vermag: „Die wilde Jagd und die Deutsche Jagd / Auf Henkers Blut und Tyrannen.“ 88 Einen essentiellen Beitrag zur Popularisierung des Gedichts leistete Carl Maria von Weber, der es zusammen mit weiteren Texten aus Leyer und Schwerdt fü r Mä nnerchor vertonte (op. 42, Nr. 2) und zu Beginn des Jahres 1815 verö ffentlichte. Webers Satz beruht auf Fanfarenmelodik der im Text genannten „gellende[n] Hö rner“, deren mehrdeutige Idiomatik hier (in Verbindung mit dem 6/8-Takt) einerseits auf die ›chasse à courre‹, andererseits auf die Sphä re militä rischer Signale, sowie ferner auf den betö renden Lä rm der ›Wilden Jagd‹ verweist. Nach Richard Wagners Verstä ndnis focht Weber als „Sä nger der Kö rner’schen Lieder“ gewissermaßen seinen eigenen, ä sthetisch-emanzipatorischen ›Befreiungskrieg‹ aus und wurde erst durch sie kü nstlerisch „auf seine eigenen Fü ße“ gestellt.89 Jedenfalls verschafften ihm die Leyer und Schwerdt-Vertonungen ü berregionales Renommee als „Volkssä nger“90 und – ob gewollt oder ungewollt91 – den vorauseilenden Ruf eines ›national‹ eingestellten Komponisten. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein dü rfte Nils Groschs Einschä tzung zutreffen, wonach Webers Vertonung von Lützow’s wilder Jagd selbst den Freischütz an Popularitä t ü bertroffen habe.92

88 89

90

91

92

Ebenda, S. 68. „Noch We b e r bemü hete sich in seiner frü hesten Jugend vergeblich, in der ›Coloraturarie‹ etwas zu leisten, und es bedurfte des herzlichen Aufschwunges der Jahre der Befreiungs-Kriege, um den Sä nger der Kö rner’schen Lieder nun auf seine eigenen Fü ße zu stellen. […] Das Genie We b e r ’s war es, welches der Oper durch Hinzuziehung des deutschen Mä nnerchorgesanges, dem er durch seine Freiheitkriegs-Lieder einen so herrlichen Aufschwung gegeben hatte, in edle Bahnen des Volksthü mlichen leitete.“, Richard Wagner, Über das Opern-Dichten und Komponiren im Besonderen, in: ders., GSD, Bd. 10, S. 201–228 (hier S. 206 und S. 216). So formuliert es der Musiktheoretiker Marx in einer Besprechung des Klavierauszugs von Silvana: „Durch die Kö rnerschen Kriegs- und Volkslieder wird Weber Volkssä nger und von da stellt sich auch sein dramatischer Karakter fest.“, [Adolf Bernhard] Marx, „Silvana, Oper in drei Aufzü gen, von C. M. v. Weber“, Rubrik ›Beurtheilungen‹, in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung 4 (1827), Nr. 47 (21. November), S. 378. Max Maria von Weber stellt seinen Vater pauschal als apolitischen Menschen dar: „Es hat zu Weber’s wunderlichsten Schicksalen gehö rt, daß man ihm, verleitet durch seine Compositionen von ›Leyer und Schwert‹ und ›Kampf und Sieg‹ in spä tern Lebensjahren und nach seinem Tode fast den Charakter eines politischen Enthusiasten, eines Schwä rmers fü r die Ideen von Freiheit, Vö lkerselbstä ndigkeit u.s.w. angedichtet hat, wä hrend ihm in der That, ein gut Theil in Schlesien eingesogenen Franzosenhasses abgerechnet, jede Betheiligung an der politischen Ideengä hrung damaliger Zeit fern lag […].“, Max Maria von Weber, Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild, Bd. 1, Leipzig 1864, S. 415f. Grosch postuliert dies fü r das „ganze[] 19. Jahrhundert“, Nils Grosch, Carl Maria von Webers verwegene Jagd oder Was ist eigentlich so deutsch am Freischütz?, in: Rebecca Grotjahn (Hg.), Deutsche Frauen, deutscher Sang – Musik in der deutschen Kulturnation. Vorträge der Ringvorlesung am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn, Mü nchen 22010 (= Beiträ ge zur Kulturgeschichte der Musik 1), S. 17–37 (hier S. 29).

255

VI. Deutscher Wald

3.3. Das „deutsche Waldesrauschen“ Mir aber gefä llt doch nichts so sehr, Als das deutsche Waldesrauschen! Joseph von Eichendorff93

Kursierte in der romantischen Lyrik des frü hen 19. Jahrhunderts die poetische Vorstellung, das Rauschen der Bä ume kö nne einer Person oder einem Kreis von Eingeweihten ›wortlose‹ Botschaften ü bermitteln, welche die ›Adressaten‹ dechiffrieren oder erahnen kö nnten, so etablierten sich im Umfeld der Befreiungskriege auch ›nationale Lesarten‹ eines spezifisch „deutsche[n] Waldesrauschen[s]“ (Eichendorff). Rauschende Bä ume sollten verzagenden Patrioten neuen Mut zusprechen oder als ›Zeitzeugen‹ den Nachgeborenen von ruhmreichen Ereignissen kü nden. Uber Die Eichen als „[a]lter Zeiten alte treue Zeugen“ dichtet Theodor Kö rner im Jahr 1811: „Und es ruft mir aus der Zweige Wehen: / Alles Große muß im Tod bestehen!“94 Im Rauschen konnte sich aber auch die Verheißung taciteischer ›Germanorum libertas‹ artikulieren. So fordert Friedrich Schlegel 1807 die Freyheit ermunternd auf: „Rausch’ in deutschem Klange, / Athme Waldes Duft!“95 Eichendorff gemahnt 1810 – Osterreich hatte den Fü nften Koalitionskrieg verloren, Andreas Hofer war exekutiert – an „das alte Recht“, das im Wald die Zeiten ü berdaure und sich rauschend mitteile: „Manche auf sein Rauschen merken, / Und ein neu Geschlecht wird stä rken / Dieser Wald zu deutschen Werken.“96 Im selben Jahr entstand das Gedicht Nachtfeier, in dem „Freiheit, uralt Sehnen, / […] Keck die großen Flü gel dehn[t]“ und sich im Rauschen das „Gesprä ch“ der „guten Alten“ vernehmen lä sst: Und es wollen die Gedanken Mit den guten Alten hausen, Sich in ihr Gesprä ch vermischen Das da kommt in Waldes-Brausen. Manchem fü llt’s die Brust mit Grausen, Mich soll’s laben und erfrischen!97

Vier Jahre spä ter hat sich das Blatt gewendet: Napoleons Niederlage zeichnet sich ab, die ganze Welt scheint „bewegt wie Harfensaiten“ und Tieck wendet sich enthusiastisch An einen Liebenden im Frühling 1814:

93 94 95

96

97

Joseph von Eichendorff, Dichter und ihre Gesellen, S. 339. Theodor Kö rner, Die Eichen, in: ders., Leyer und Schwerdt, S. 4. Friedrich Schlegel, Freyheit, in: Morgenblatt fü r gebildete Stä nde 1 (1807), Nr. 173 (21. Juli), hier S. 689. Joseph von Eichendorff, An die Meisten. 1810, in: ders., Gedichte, S. 160. Bezü glich der Korrespondenzen zwischen Eichendorffs „Formel vom Waldesrauschen“ und der historisch-politischen Wirklichkeit siehe auch Alexander von Bormann, Natura loquitur, S. 116–118. Joseph von Eichendorff, Nachtfeier. 1810, in: ders., Gedichte, S. 147.

256

3. Der ›deutsche Wald‹ im Umfeld der Befreiungskriege

Sieg und Freiheit blü hn die Bä ume, Heil dir Vaterland! Erschallt Jubelnd durch die grü nen Rä ume, Freiheit! braust der Eichenwald.98

Als „metaphorische Mitkä mpfer gegen Napoleon“99 konzelebrieren die Eichbä ume brausend den Sieg ü ber das franzö sische Heer. Wie Lindemann resü miert, ü bermittelt der Wald auch in der patriotischen Literatur der Befreiungskriege „seine Botschaft jenseits wortfixierter Semantik, in die erst der Dichter sie zurü ckü bersetzt, nur dem Eingeweihten vernehmbar“100.

3.4. Wald als Kampfplatz der deutschen Oper War die im 19. Jahrhundert enthusiastisch gefü hrte Debatte ü ber Visionen und (Un-)Mö glichkeiten einer deutschen Nationaloper oftmals durch martialischen Tonfall und militä risches Vokabular geprä gt, so galt dies insbesondere fü r die publizistische Bewertung des Freischütz (1821), dessen Urauffü hrung symbolträ chtig auf den 18. Juni, Jahrestag der Schlacht bei Waterloo (1815) fiel. Uber das Premierenpublikum schreibt rü ckblickend Max Maria von Weber, der Sohn und Biograph des Komponisten: „Das Parterre fü llte […] das patriotische Feuer, die erklä rte Opposition gegen das Auslä ndische: Studenten, junge Gelehrte, Kü nstler, Beamte, Gewerbetreibende, die vor acht Jahren in Waffen geholfen hatten, den Franzmann zu verjagen.“101 Referenzen auf die zurü ckliegenden Befreiungskriege gegen Napoleon durchziehen die zeitgenö ssischen und spä teren Rezeptionsdokumente.102 So vergleicht Friedrich Wilhelm Gubitz in einem Gedicht, das auf der Premierenfeier verlesen und anschließend publiziert wurde, den Komponisten mit dem preußischen Generalfeldmarschall Blü cher.103 Text und Musik der Oper bargen nicht wenig Potential fü r dergleichen Assoziationen: Die Handlung ist in unmittelbarer ›Nachkriegszeit‹ („Kurz nach

98 99 100 101 102

103

Ludwig Tieck, An einen Liebenden im Frühling 1814, in: ders., Gedichte, Bd. 1, S. 51f. Zum tieckschen „Waldpatriotismus“ siehe Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 39–41 (hier S. 40). Klaus Lindemann, „Deutsch Panier, das rauschend wallt“, S. 120f. Max Maria von Weber, Carl Maria von Weber, Bd. 2, S. 312. Als Beispiel die Darstellung bei Jä hns: „Wie Deutschland einst an diesem Tage sich vom Joche der Fremdherrschaft befreite, so entwand sich an ihm, 6 Jahre spä ter, die deutsche Musik, der […] Herrschaft fremdlä ndischer Kunstelemente […].“, Friedr[ich] Wilh[elm] Jä hns, Carl Maria von Weber in seinen Werken, S. 311. Pointiert zusammengefasst: „Die Urauffü hrung des Freischütz am 18. Juni 1821 ist als Kriegsereignis in die Musikgeschichte eingegangen.“, Joachim Reiber, Mit schwarz-rot-goldner Seide. Webers ›Freischütz‹ zwischen Aufbruch und Rückzug, in: Hanspeter Krellmann, Jü rgen Schlä der (Hg.), „Die Wirklichkeit erfinden ist besser“. Opern des 19. Jahrhunderts von Beethoven bis Verdi, Stuttgart 2002, S. 9–16 (hier S. 9). Vgl. ferner Stephen C. Meyer, Carl Maria von Weber, S. 111. „Des Apollo Beistand sicher, / Feierst du auch en avance – / So wie einst der alte Blü cher – / Heut den Tag von Bell’ Alliance.“, zitiert nach Max Maria von Weber, Carl Maria von Weber, Bd. 2, S. 316f. Max Maria von Weber eignet sich den Vergleich an, indem er ü ber seinen Vater schreibt: „Er war im Juni 1821 den Freunden der deutschen Oper das, was Blü cher im Juni 1815 dem deutschen Kä mpfervolke war.“, ebenda, S. 321.

257

VI. Deutscher Wald

Beendigung des dreißigjä hrigen Kriegs“) angesiedelt, Samiel wird im Personenverzeichnis als „der schwarze Jä ger“ gefü hrt (als gehö re er zu Lü tzow’s Truppe), und in der ›Wolfsschlucht‹ braust wie in Kö rners Lied das „wilde Heer“ (II/6). Wenn zudem der Fö rster Cuno ankü ndigt: „Jetzt auf! In Bergen und Klü ften / Tobt morgen der freudige Krieg!“, und der Chor der Jä ger erwidert: „Das Wild in Fluren und Triften, / Der Aar, in Wolken und Lü ften, / Ist unser, und unser der Sieg!“104 (I/2), so verweist das Vokabular deutlich aus der jagdlichen in die militä rische Sphä re. Im Jä gerchor ›Was gleicht wohl auf Erden‹ (III/6) wird dieser Verweis subtil musikalisch vollzogen, indem der melodische Verlauf dem beliebten Kriegslied Malbrough s’en va-t-en guerre nachempfunden ist.105 Jä gerisch verbrä mt, spricht sich der militä rische Bezug schließlich auch in folgendem Gedicht aus, das bei der Urauffü hrung wä hrend des Applauses als anonymes Flugblatt im Theater verteilt wurden: Das Hurrah jauchzet, die Bü chse knallt, Willkommen du Freischü tz im duftenden Wald! […] Du sangest uns Lü tzow’s verwegene Jagd, Da haben wir immer nach dir gefragt. Willkommen, willkommen in unserem Hain, Du sollst uns der trefflichste Jä ger sein! So laß dir’s gefallen in unserm Revier, Hier bleiben, so rufen, so bitten wir. Und wenn es auch keinem Elephanten gilt, Du jagst wohl nach anderem, edleren Wild!106

Urheber dieser Verse war der Historiker Friedrich Fö rster (1791–1868), ehemals Mitglied im Lü tzowschen Freikorps.107 Der Freischütz (respektive dessen Komponist) wird „in unserem Hain“ und „unserm Revier“, gleichsam in den Reihen der Freischä rler, willkommen geheißen und so fü r den vaterlä ndischen Dienst reklamiert. Dabei ist die erste Verszeile wö rtlich aus Kö rners Wilder Jagd ü bernommen, wo sie im Kontext lautet: „Das Hurrah jauchzt, und die Bü chse knallt, / Es fallen die frä nkischen Schergen.“108 Die antifranzö sische Spitze wird sodann vom militä rischen auf das kulturelle Feld ü bertragen: Gegen den „Elephanten“, der in Gaspare Spontinis kurz zuvor uraufgefü hrter Tragé die-lyrique Olympia leibhaftig als Attraktion auf der Bü hne erschienen war, werden die „edleren“ Ambitionen Webers in Stellung gebracht. Weber selbst suchte die Wogen zu glä tten und distanzierte sich in einer

104 105

106 107

108

Solveig Schreiter (Hg.), Der Freischütz, S. 29f. Grosch verweist ferner auf das assoziative Potential, das Weber durch Erö ffnung der Introduktion (I/1) mit Bü chsenknall und „Viktoria!“-Rufen schuf, Nils Grosch, Carl Maria von Webers verwegene Jagd, S. 32–34. Zitiert nach Max Maria von Weber, Carl Maria von Weber, Bd. 2, S. 320. Zu Fö rsters Urheberschaft siehe dessen Brief an Friedrich Wilhelm Jä hns vom 24. Oktober 1864, ediert in WeGA, (Dateiversion vom 15. September 2017). Theodor Kö rner, Lützow’s wilde Jagd, in: ders., Leyer und Schwerdt, S. 66.

258

3. Der ›deutsche Wald‹ im Umfeld der Befreiungskriege

Zeitungserklä rung von dem kompromittierenden „Witzspiel“ gegen seinen Kollegen.109 Der Vorgang gestattet Rü ckschlü sse auf das assoziative Potential, das dem Schauplatz und Sujet der Oper eignete: Der frankophobe Nimbus, der spä testens seit ›Hainbund‹-Zeiten zur Kodierung des ›deutschen Waldes‹ gehö rte, ließ sich im Verbund mit dem Topos der ›deutschen Jagd‹ aus der Lyrik der Befreiungskriege mü helos wachrufen, um den Freischütz in der kulturpolitischen Debatte um eine deutsche Nationaloper zu positionieren. 110 Einmal mehr wird dabei die silvane Sphä re als eigentü mlicher Kampfplatz des ›Deutschen‹ gegen das ›Romanische‹ inszeniert.111

3.5. Exkurs: Die „Kö rner-Eiche“ auf der Opernbü hne Anlä sslich des fü nfzigjä hrigen Jubilä ums der Vö lkerschlacht bei Leipzig wurde der Leyer und Schwerdt-Dichter Kö rner, und mit ihm die rauschende Eiche, durch Louise Otto-Peters112 (Libretto) und Wendelin Weißheimer (Musik) in der „Großen 109

110

111

112

Die Erklä rung vom 19. Juni 1821 erschien in der Vossischen Zeitung und wird zitiert in Max Maria von Weber, Carl Maria von Weber, Bd. 2, S. 320f. Zu Fö rsters Gedicht und den Reaktionen siehe auch Nils Grosch, Carl Maria von Webers verwegene Jagd, S. 29–31. Wie kaum ein anderes Werk der Opernliteratur wurde der Freischütz durch diese ideologisierte Rezeption geprä gt und ü berformt. Begü nstigt wurde die Funktionalisierung durch Webers zeitgenö ssisches Ansehen als ›Volkssä nger‹, aber eben auch durch inhä rente „Elemente der ideellen und ä sthetischen Faktur“, Joachim Reiber, Bewahrung und Bewährung, S. 11–13 und Stephen C. Meyer, Carl Maria von Weber, S. 113f. Zur Freischütz-Urauffü hrung als einer komplexen „text-performance-audience interaction“ siehe den Aufsatz von Margaret King, Opera and the Imagined Nation. Weber’s ›Der Freischütz‹, Schinkel’s Neues Schauspielhaus and the Politics of German National Identity, in: Suzanne M. Lodato u.a. (Hg.), Essays in Honor of Steven Paul Scher and on Cultural Identity and the Musical Stage, Amsterdam 2002 (= Word and Music Studies 4), S. 217–228. Was die Oper in musikalisch-formaler Hinsicht italienischen Vorbildern und zumal der franzö sischen Tradition der Opé ra-comique schuldete, musste in dieser nationalisierten Rezeption freilich ausgeblendet bleiben; diesem Aspekt widmet sich John Warrack, Französische Elemente in Webers Opern, in: Gü nther Stephan, Hans John (Hg.), Carl Maria von Weber und der Gedanke der Nationaloper. 2. Wissenschaftliche Konferenz zum Thema ›Dresdner Operntraditionen‹ 1986, Dresden 1986 (= Schriftenreihe der Hochschule fü r Musik ›Carl Maria von Weber‹ Dresden 10. Sonderheft), S. 277–290. Wie Hein resü miert, hat Webers Freischütz in musikalischer Hinsicht „keineswegs den nationalen Stil ausgebildet, der ihm seitens der zeitgenö ssischen Publizistik wie auch der Musikgeschichtsschreibung bis ins 20. Jahrhundert zugeschrieben wurde“, Stefanie Hein, Richard Wagners Kunstprogramm im nationalkulturellen Kontext. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Wü rzburg 2006 (= Epistemata Reihe Literaturwissenschaft 580), S. 31. Eine rezeptionsgeschichtliche Parallele bildet der Erfolg von Engelbert Humperdincks ›Waldoper‹ Hänsel und Gretel (1893), der von der wilhelminischen Publizistik in ä hnlicher Weise als Abwehrsieg gegen die ›romanische‹ Kultur – in diesem Fall den italienischen ›Verismo‹ eines Mascagni und Leoncavallo – akklamiert wurde. So wartet die musikhistorische Einordnung Walter Niemanns mit einer unterschwelligen Reminiszenz an die ›clades Variana‹ auf: „Da erschien H u m p e r d i n c k s wunderfeines deutsches Mä rchenspiel Hä nsel und Gretel. Mit einem Schlag versank die glü hende italienische, Ehebruch, Mord und Totschlag bestrahlende Sonne hinter die [sic] deutschen rauschenden Tannen, hinter dem Zauber deutscher Waldseligkeit: die letzte italienische Operninvasion war abgeschlagen.“, Walter Niemann, Die Musik der Gegenwart, Berlin 1913, S. 102. Die vor allem fü r ihr politisches Engagement bekannte Otto-Peters forderte 1845 in einem Artikel fü r die Neue Zeitschrift fü r Musik, „der deutschen Bü hne endlich ein Nationaldrama zu geben“ und empfahl dafü r (wie vor ihr bereits Friedrich Theodor Vischer) „den Stoff der Nibelungen“. Sie machte sich selbst an die Erarbeitung eines Nibelungen-Librettos, fü r dessen Komposition sie zunä chst Niels Wilhelm Gade, dann Robert Schumann kontaktierte; das Projekt kam jedoch zu keinem Abschluss,

259

VI. Deutscher Wald

vaterlä ndischen Oper“ Theodor Körner auf die Bü hne gebracht. Vorerst kam es bei den Feierlichkeiten im Oktober 1863 nur zur Auffü hrung des Vorspiels mit dem Titel Des Königs Aufruf; der Rest der Oper harrte noch der Fertigstellung, die sich bis 1867 hinzog. Weißheimer war Schü ler und Protegé Franz Liszts; dadurch kam es 1858 zu einer ersten Begegnung mit Wagner. Fü r eine geplante Auffü hrung der Oper in Mü nchen hoffte Weißheimer auf dessen Fü rsprache bei Kö nig Ludwig II., wurde aber zunä chst hingehalten, am 6. Juni 1868 dann durch einen Brief Cosimas abgewiegelt.113 Weißheimer mied fortan den persö nlichen Umgang mit Wagner. – Am 28. Mai 1872 konnte die vollstä ndige Urauffü hrung der Körner-Oper, welche die letzten Lebensmonate des Dichters behandelt, am Mü nchener Hof- und Nationaltheater stattfinden. Weißheimer fasste die fü nfaktige Handlung des Textbuchs in seiner Partitur zu vier Akten zusammen und arbeitete in die Komposition Zitate aus Carl Maria von Webers Leyer und Schwerdt-Vertonung ein.114 Der letzte Akt der Oper spielt im Wald bei Wö bbelin; ein letztes Mal zieht Kö rner mit dem Freikorps in den Kampf (IV/3). Lü tzows Frau Elise, die das Geschehen aus der Distanz verfolgt, erfä hrt nach beendetem Gefecht (IV/4) durch Friedrich Friesen von Kö rners Tod. Adolf von Lü tzow weist den Leichenzug zu einer „mä chtige[n] Eiche“ im Bü hnenhintergrund: „So grabt ein Grab im Schatten deutscher Eichen“. Da „erhebt sich ein mehr und mehr anwachsender Sturm, der sich durch hö r- und sichtbares Rauschen in den Zweigen verkü ndet“ (Szenenanweisung). Melodisch konturiert durch die erste Oboe, entwickelt sich eine Gewittermusik in c-Moll. Alternierende Tremoli der hohen Streicher und hastige Lä ufe verleihen dem Gesamtklang gerä uschhafte Qualitä t. Das Bassregister bleibt vorerst ausgespart, Amplitude und Lautstä rke schwellen bö ig an und ab. Ehe der Wind weiter an Heftigkeit zunimmt (Anweisung: „Die Eiche wankt im Sturm“), kulminiert das ›Waldesrauschen‹ zunä chst in zwei Interjektionen von Horn und Celli. Der zweite dieser Einwü rfe (siehe Notenbeispiel 4115) veranlasst Elise zu der Frage: „Giebt der Himmel uns ein Zeichen?“ Das anschwellende Rauschen scheint sich zu sprechender Mitteilung zu verdichten, musikalisch ausgedrü ckt durch den prä gnanten Signalcharakter des Hornmotivs.

113

114

115

siehe hierzu Magdalena Gehring, ›Leyer und Schwert oder Theodor Körner‹, eine vaterländische Oper von Wendelin Weißheimer und Louise Otto-Peters, in: Johanna Ludwig u.a. (Hg.), Kunst und KünstlerInnen im Umfeld von Louise Otto-Peters. Berichte vom 20. Louise-Otto-Peters-Tag 2012, Leipzig 2013 (= LOUISEum 33), S. 39–47 (hier S. 40f.). Abgedruckt in Wendelin Weißheimer, Erlebnisse mit Richard Wagner, Franz Liszt und vielen anderen Zeitgenossen nebst deren Briefen, Stuttgart 21989, S. 394–396. Magdalena Gehring, ›Leyer und Schwert oder Theodor Körner‹, S. 46f. Das Textbuch erschien 1867 in Leipzig bei Heinrich Matthes im Druck. Erstellt auf Grundlage des Partiturautographs (Privatbesitz Familie May-Weißheimer). Fü r die freundliche Zurverfü gungstellung von Fotografien der Partitur danke ich Heide Steer und Heiner Thurm von der Leipziger Louise-Otto-Peters-Gesellschaft.

260

4. Wagnersche Eichen

Notenbeispiel 4: Wendelin Weißheimer, Theodor Körner (IV/4), T. 5 (Taktmitte) bis T. 9 nach „Ziemlich bewegt“

Nach dem Vorbild der klopstockschen Frühlingsfeier ist das Gewitter als Theophanie aufgefasst: „Fü hrst Du uns Herr, […] zu der Freiheit Morgenroth?“, wendet sich Lü tzow rezitativisch gen Himmel. Die Antwort: „Es blitzt und man hö rt gewaltiges Donnerrollen“ (tutti-Einsatz), worauf hinter der Bü hne ein Chor anstimmt: „Der Corse wird vergehn und Deutschland neu erstehn. Heil! Heil!“ Nach einem Dutzend Takten schwä cht sich der fortissimo-Paukenwirbel ab, das Streichertremolo und die Figurationen der Flö ten verlagern sich in ä ußerste Hö he, die Harfe schlä gt aufsteigende C-Dur-Akkorde an. Dazu erscheint ein „prä chtiger Regenbogen am Hintergrunde, der sich von der Kö rner-Eiche bis zum fernen Horizonte ausdehnt“.

4. Wagnersche Eichen Richard Wagners frü hes, wenig bekanntes Liedschaffen zeichnet sich durch dendrologische Vielfalt aus: Die Linde als traditioneller Baum der Liebe und heiteren ›Volkskultur‹ erscheint in Bauer unter der Linde, der zweiten seiner Sieben Kompositionen zu Goethes ›Faust‹ (WWV 15, komponiert 1831). Ein gä nzlich anderer Stimmungswert eignet dem Tannenbaum im gleichnamigen Lied (WWV 50, komponiert 1838) nach einem Gedicht Georg Scheurlins: „Der Tannenbaum steht schweigend, / einsam auf grauer Hö h’“ und raunt einem Knaben „in leisen Schauern“ sein dü steres ›Memento mori‹ zu. Solide und harmlos nimmt sich dagegen die große Eiche („grand chê ne“) aus, die in Victor Hugos Attente (WWV 55, komponiert 1839) von einem Eichhö rnchen erklommen wird. – Auf das national konnotierte Bild des mä chtigen 261

VI. Deutscher Wald

Eichenhains rekurriert Wagner erstmals im Tannhäuser-Libretto, wenn er Wolfram von Eschenbach seinen Wettgesang auf der Wartburg (II/4) mit den Versen erö ffnen lä sst: Blick’ ich umher in diesem edlen Kreise, welch’ hoher Anblick macht mein Herz erglü h’n! So viel der Helden, tapfer, deutsch und weise, – ein stolzer Eichwald, herrlich, frisch und grü n.116

Die anwesenden Frauen besingt er hingegen als „lieblicher Blü ten dü ftereichsten Kranz“. Die gleiche Kollokation von mä nnlicher Eiche und weiblichem Blü tenkranz begegnet in der Götterdämmerung wieder, wo vor der Hochzeit in der Gibichungenhalle „S iegf r ied […] einen Eichenkranz, G ud r un e einen Kranz von bunten Blumen auf dem Haupte“ trä gt (II/6). – Wie sein Verhä ltnis zur deutschen Heimat, so unterlag auch Wagners Einstellung zur Eichensymbolik zeitlebens starken Schwankungen. Nachdem er im Sommer 1860 – nach gut zehnjä hrigem Exil teilamnestiert – erstmals wieder deutschen Boden betreten hatte, schrieb er in bitterer Ironie an Franz Liszt, der „Schatten der berü hmten, glorreichen deutschen Eiche“117 habe ihn durchaus unbeeindruckt gelassen: „Glaub’ mir, wir haben kein Vaterland! Und wenn ich ›deutsch‹ bin, so trage ich sicher mein Deutschland in mir“. – Hingegen insistierte Wagner ein Jahrzehnt spä ter darauf, einen kompositorischen Beitrag zu den offiziellen Feierlichkeiten der Reichsgrü ndung (1871) liefern und dadurch seine politische Einstellung bekunden zu kö nnen. Sein wuchtiger Kaisermarsch (WWV 104) erschien noch im selben Jahr im Druck.118 Den Schluss des Marsches unterlegte er mit einem selbstverfassten „Volksgesang“119, der an zentraler Stelle das Nationalemblem der ›deutschen Eiche‹ in Frü hlingsmetaphorik aufgreift: Heil! Heil dem Kaiser! / Kö nig Wilhelm! Aller Deutschen Hort und Freiheitswehr! […] Der neu ergrü nten Eiche gleich 116

117

118

119

Richard Wagner, Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 2, S. 5–52 (hier S. 30). Im Brief aus Paris (wohin Wagner wegen der geplanten Tannhäuser-Auffü hrung zurü ckgekehrt war) vom 13. September 1860: „Mit eigentlichen [sic] Grauen denke ich jetzt nur an Deutschland und meine fü r dort berechneten zukü nftigen Unternehmungen. Verzeihe es mir Gott, aber ich sehe dort nur Kleinliches und Erbä rmliches, […] so dass ich den Pardon de Ploë rmel doch noch am Ende lieber in Paris sehe als dort, im Schatten der berü hmten, glorreichen deutschen Eiche! Auch muss ich Dir gestehen, dass mein Wiederbetreten des deutschen Bodens auf mich nicht den mindesten Eindruck gemacht hat, hö chstens dass ich mich ü ber die Albernheit und Ungezogenheit der Sprache um mich herum verwunderte.“, SBr 12, Nr. 211, S. 256–262 (hier S. 260). Dinorah ou Le pardon de Ploërmel war die aktuelle Oper von Giacomo Meyerbeer (Urauffü hrung: 4. April 1859). Bei C. F. Peters in Leipzig. Wagner dirigierte den Marsch auch anlä sslich der Grundsteinlegung fü r das Bayreuther Festspielhaus im Jahr darauf. So die Angabe in der Partitur; vgl. hierzu Cosimas Tagebucheintrag vom 14. Mä rz 1871: „R. entwirft zu seinem Marsch ein Volkslied, von der Armee zu singen.“, CT I, S. 369f. Und tags darauf: „R. beendigt seinen Kaisermarsch und schickt ihn nach Berlin.“, ebenda, S. 370.

262

4. Wagnersche Eichen

erstand durch Dich das deutsche Reich: Heil seinen Ahnen, seinen Fahnen, die Dich fü hrten, die wir trugen, als mit Dir wir Frankreich schlugen! […]120

Wagners Kaisermarsch nimmt sich gleichsam als musikalisches Gegenstü ck zu den seinerzeit beliebten Pflanzungen von ›Kaisereichen‹ und ›Sedaneichen‹ aus.121 Das Motiv des „neu ergrü nten“ Baumes ist der Barbarossa-Sage entlehnt, wie sie Grimms Deutsche Mythologie referiert: „Auf dem Kifhäuser in Thü ringen schlä ft Friedrich Rothbart: […] bei seinem hervorkommen wird er seinen schild hängen an einen dürren baum, davon wird der baum grünen und eine bessere zeit werden.“122 Zur bildkrä ftigsten und prominentesten Gestaltung gelangte die ›deutsche Eiche‹ in Wagners Schaffen freilich schon im Lohengrin, obgleich der Schauplatz der Oper am Ufer der Schelde bei Antwerpen liegt. Die Erö ffnungsszene ist rechter Hand durch „einige Bä ume“ begrenzt, „[i]m Vordergrunde links sitzt Kö n ig H e i n r ic h unter einer mä chtigen alten Eiche“123, die Herrschaft, Gerichtsbarkeit und nationale Stä rke symbolisiert. Im Schatten des Baumes schwö rt Heinrich die Untertanen im ersten (I/1) wie auch dritten Aufzug (III/3) auf militä rischen Zusammenhalt gegen „des Reiches Feind“ ein: „Fü r deutsches Land das deutsche Schwert! / So sei des Reiches Kraft bewä hrt!“ 124 Wiederum durch Jacob Grimm 125 verbü rgt, fungiert der Eichbaum in Wagners Oper sodann auch als altertü mliche Gerichtsstä tte: Kö nig Heinrich „hä ngt mit Feierlichkeit seinen Schild an der Eiche auf“, um sein Urteil ü ber Elsa zu fä llen. „Wenn die Wurzel der Eiche erkrankt, wenn ihre Sä fte vertrocknen, wie kann sie freudig u. stolz sich erheben im frisch-ergrü nenden Blä tterschmucke?“126 Diese bange Frage richtet Ludwig II. zu Beginn des Jahres 1866 an Cosima von Bü low, in einem Brief, der sicher zu den exaltiertesten Zeugnissen der Beziehung zwischen dem jungen Monarchen und dem Lohengrin-Komponisten gehö rt. Seine Liebe zu Richard Wagner sei „keine vorü bergehende, jugendliche Schwä rmerei“, sondern das „innere Gebot“ seines Lebens: „[Z]u Ihm will ich, […] ja zu Ihm, oder – sterben!“ Dass das Bild der Eiche auf das Szenario der romantischen Oper rekurriert, verdeutlicht ein spä terer Brief des Kö nigs an Wagner: Im Lohengrin, bekennt Ludwig II. dort, „wurzelt 120 121 122 123

124 125

126

Zitiert nach RWSW, Bd. 18/III, S. XLVII, Nr. 162. Zur Eichensymbolik der Reichsgrü ndungszeit siehe Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 129. Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, S. 535–541 (hier S. 537). Richard Wagner, Lohengrin, in: ders., GSD, Bd. 2, S. 85–150 (hier S. 87). Als „charaktervolles urgermanisches Bild“ rü hmt ein zeitgenö ssischer Kommentator die Szenerie, Franz [Carl Friedrich] Mü ller, Lohengrin und die Gral- und Schwan-Sage. Ein Skizzenbild auf Grund der Wort- und Tondichtung Richard Wagner’s, Mü nchen 1867, S. 315. Richard Wagner, Lohengrin, in: ders., GSD, Bd. 2, S. 141. „Auf wiesen und auen, wahrscheinlich auch in den wä ldern bezeichneten bestimmte bä ume die gerichtsstä tte. […] hä ufig sind es eichen.“, Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, Gö ttingen 1828, S. 794–798; an anderer Stelle (S. 851) erlä utert Grimm, dass „zur feierlichen besetzung des alten gerichts […] beim sitze des richters ein schild aufgehängt“ wurde. Ludwig II. an Cosima von Bü low, Brief vom 2. Januar 1866, in: Br Ludwig II, Bd. 1, S. 252f. (hier S. 253).

263

VI. Deutscher Wald

die Eiche meiner treuen Liebe zu Ihnen, deren Wurzeln nichts herauszureißen, deren Stamm kein Gewittersturm zu brechen, deren grü nendes Laub kein Herbst zu bleichen und auszudö rren vermag“127. Auf die prominente Eichensymbolik des Lohengrin nimmt zuvor bereits ein eigentü mliches Rezeptionsdokument aus dem Jahr 1855 Bezug, nä mlich ein lithographiertes ›Ehrenblatt‹ fü r Richard Wagner, das als floral ornamentiertes Ensemble von Bildtafeln gestaltet ist (siehe Abbildung 1).128 Seitlich sind die Titel der Opern Tannhäuser (links) und Lohengrin (rechts) genannt, darü ber Figurinen der jeweiligen Protagonisten, sowie als heraldischer Verweis auf die Handlungsorte links der ›Bunte Lö we‹ der Ludowinger (Thü ringen) und rechts der ›Brabanter Lö we‹. In der unteren Bildhä lfte zeigen Seitentafeln je drei Szenenbilder aus den genannten Opern, wobei in den rechts dargestellten Szenen aus Lohengrin durchwegs die solitä re Eiche im Hintergrund firmiert. Die untere Bildtafel stellt den Sä ngerwettstreit aus Tannhäuser dar. Ganz oben mittig thront waldumsä umt die Wartburg, die freilich in Konstellation mit dem darunter abgebildeten Schwanenritter zugleich auch an die Gralsburg Munsalvaesche als dessen legendä ren Herkunftsort gemahnt. Die zentrale Bildtafel zeigt, in deutlicher Anlehnung an die Lohengrin-Szenerie, anstelle von Kö nig Heinrich den Komponisten selbst auf erhö hter Position vor einem mä chtigen Eichenstamm, umringt von einer bü rgerlich gekleideten Menge, mit der Rechten gestikulierend, in der Linken ein Schriftstü ck. Die Darstellung lä sst eher an einen Demagogen als einen Kapellmeister denken. Der Hintergrund zeigt hier nicht etwa die Auen der Schelde, sondern eine von Nadelwald bestandene, offenbar deut-

127

128

Ludwig II. an Richard Wagner, Brief vom 18. Februar 1871, ebenda, Bd. 2, Nr. 453, S. 314–316 (hier S. 315). Wiedergegeben nach der Abbildung in: Die Musik 12 (1913), Heft 15 („Wagner-Heft“), S. 193 (Beilage: „Richard Wagner-Huldigungsblatt vom Jahre 1855“); Beschreibung ebenda, S. 191: „Das R i c h a r d Wa g n e r - H u l d i g u n g s b l a t t v o m J a h r e 1 8 5 5 darf als Unikum angesprochen werden. Von K. Knittel in Weimar gezeichnet und lithographiert, bei Fr. Krä tzschmer in Leipzig gedruckt, bietet das in großem Format erschienene Blatt außer der Jahreszahl 1855 keinerlei Hinweise, auf welche Veranlassung es zurü ckzufü hren ist. Wir sehen um das Mittelbild, das den Meister in die Pose eines Festund Volksredners kleidet, je vier Szenen aus ›Tannhä user‹ und ›Lohengrin‹, sowie eine Darstellung der Titelhelden beider Opern gruppiert. Am Kopf ist die Wartburg auf waldigen Hö hen abgebildet. Vermutlich hat fü r das Arrangement dem Verfasser das Beethoven-Huldigungsblatt von Lyser vorgeschwebt, das ›Die Musik‹ in Heft 6 des 11. Jahrgangs verö ffentlichte. Erweist sich auch der Kunstwert unseres Bildes nicht als sonderlich bedeutend, so ist es doch immerhin das frü heste seiner Art und zu einer Zeit entstanden, wo der Ruhm Wagners erst aufzublü hen begann.“ Ein Exemplar der Lithographie (56 × 45,5 cm, verzeichnet als „Allegorisches Ehrenblatt auf den Componisten Richard Wagner“ mit „Scenen aus seinem Tannhä user und Lohengrin“, einer „Ansicht der Wartburg“ und einer „Scene aus dem Meistersä nger-Kampfe“) wurde 1855 dem Kunstkabinett der Großherzoglichen Bibliothek durch die Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach Maria Pawlowna ü bergeben und befindet sich heute in SWKK/GNM, Inv. Nr. KGr/00; siehe den Nachweis bei Joachim Berger, Die Medienfürstin. Höfische Repräsentation im ›bürgerlichen‹ Jahrhundert, in: Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen (Hg.), Maria Pawlowna. Zarentochter am Weimarer Hof, Mü nchen 2004, S. 125– 143 (hier S. 141). Ein weiteres (?) Exemplar ist mit der Beschreibung: „K. Knittel (aus Weimar). / Erinnerungsblatt an die Wagner’schen Opern Tannhä user und Lohengrin. Lith. gr. fol. C h i n e s . P a p i e r “, nachgewiesen im Catalog mehrerer meist hinterlassenen Sammlungen von Kupferstichen […] aus dem Nachlasse des gewesenen Güterdirectors Grün in Wien […] und anderer Künstler und Kunstfreunde, Auktion der Kunsthandlung „Rud. Weigel“ vom 26. Juni 1871, Leipzig 1871, Nr. 1156, S. 68.

264

4. Wagnersche Eichen

sche Mittelgebirgslandschaft. Durch ikonographische Identifizierung mit dem uralten Eichbaum wird Wagner als fest in der deutschen Landschaft verwurzelt dargestellt – eine bemerkenswerte Bildaussage angesichts des Umstands, dass jener sich zur Entstehungszeit der Lithographie als Exilant in Zü rich aufhielt. In Anbetracht des Eifers, den das 19. Jahrhundert bei der Pflanzung von Gedenkbä umen bewies, mü sste es fast verwundern, wenn sich nicht auch die ein oder ande-

Abbildung 1: „Richard Wagner-Huldigungsblatt vom Jahre 1855“

265

VI. Deutscher Wald

re Richard-Wagner-Eiche nachweisen ließe.129 Ein Biergarten in Muggendorf (Frä nkische Schweiz) schmü ckt sich derweil mit einer imposanten ›Richard-Wagner-Linde‹, unter welcher der ›Meister‹ im Frü hjahr 1879 gerastet haben soll.130

5. Altdeutsche Wä lder Wichtige neue Impulse erhielten die Imaginationen des deutschen Waldes im 19. Jahrhundert durch die verstä rkte Rezeption literarischer Texte des Mittelalters. So avancierte insbesondere das Nibelungenlied in der ersten Jahrhunderthä lfte zu einem nationalen Epos mit Waldkulisse. Als Zeugnis einer heroischen deutschen Vergangenheit erfreute es sich großer wissenschaftlicher Aufmerksamkeit und einer Popularitä t, die nicht zuletzt dank illustrierter ›Volksausgaben‹ weit ü ber akademische Kreise hinausreichte.131 Neben den (lateinisch bezeugten) germanischen Urwä ldern wuchsen germanistische heran: Altdeutsche Wälder – so der Titel einer Reihe, in der die Gebrü der Grimm von 1813 bis 1816 Materialien aus ihrem „beträ chtlich angewachsenen Vorrath altdeutscher Poesien“132 verö ffentlichten. Mit jeder Auflage dichter und dü sterer wurden die Wä lder in den gleichfalls von ihnen gesammelten und redigierten 129

130

131

132

Beibringen ließ sich jedoch lediglich ein Hinweis auf eine Richard-Wagner-Eiche in der Gegend von Lorsbach im Main-Taunus-Kreis. Eine ›Wagner-Eiche‹ im Chiemgau war hingegen nicht dem Komponisten, sondern dem Gauleiter Adolf Wagner gewidmet; sie teilte das Schicksal zahlloser ›Hitlerbä ume‹ und wurde 1945 mit der Axt ›entnazifiziert‹, siehe hierzu Ulrike Zö ller, Thomas Janscheck, Tassilo-Linde und Wagner-Eiche. Chiemgauer Baumgeschichten [Skript zur Sendung ›Land und Leute‹ vom 31. August 2008 auf ›Bayern 2‹], Mü nchen 2008, S. 7. Gleichwohl weist der Hö rfunkbeitrag darauf hin (ebenda, S. 3), dass man „[s]pä testens in den Opern Richard Wagners […] mit der Nase darauf gestoßen [wird], welch große Bedeutung die Bä ume in der Vorstellung der Germanen hatten. Die Weltesche, die Eiche, der Tann – kaum eine Oper Wagners, in der die heiligen Bä ume der Germanen nicht eine grö ßere Rolle spielen!“ Heute ›Gasthof Kohlmannsgarten‹; ein Bericht ü ber den Baum aus dem Wiesent-Boten (Ebermannstadt) von 1949 wird zitiert auf . Siehe hierzu Klaus von See, Barbar, Germane, Arier, S. 83–134. Elizabeth Magee differenziert zwei intensive, zeitgeschichtlich-politisch beeinflusste Konjunkturen des Nibelungenstoffes in der ersten Jahrhunderthä lfte: Eine erste bis etwa 1820 und eine zweite in den 1840er Jahren, Elizabeth Magee, Richard Wagner and the Nibelungs, S. 3–9. Friedrich Th. Vischer empfahl 1844 die Nibelungensage „als Text zu einer großen heroischen Oper“. In diesem nationalen Stoff atme „die weite und volle Brust unserer eigensten Volksnatur“, und gerade weil sich das „moderne Deutschland“ so sehr „von den Helden der altdeutschen Wä lder und Burgen“ entfremdet habe (S. 404f.), sei der Stoff fü r die Oper, in der „das Rohe und allzu Schroffe sich mildert, […] wie gemacht“, Friederich Theodor Vischer, Vorschlag zu einer Oper, in: ders., Kritische Gänge, Bd. 2, Tü bingen 1844, S. 399–436 (hier S. 409f.). Adolph Giesebrecht unternahm 1837 einen philologischen Versuch, den Cherusker Hermann mit dem Sagenhelden Siegfried gleichzusetzen, dazu Kipper Rainer, Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung, Gö ttingen 2002, S. 262f. und Werner M. Doyé , Arminius, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, S. 596. [Jacob Grimm, Wilhelm Grimm], Vorrede, in: dies. (Hg.), Altdeutsche Wälder, Bd. 1, Cassel 1813, S. I– VI (hier S. I). Der Titel verweist einerseits auf die seit der Antike bestehende Tradition literarischer ›silvae‹-Anthologien (die Sammlung Silva de romances viejos etwa wurde 1815 durch Jacob Grimm herausgegeben), lä sst sich aber auch zu den 1759 von Herder herausgegebenen Kritischen Wäldern oder der zeitgenö ssischen Anthologie Deutscher Dichterwald in Beziehung setzen. Zum (ü brigens auch von Richard Wagner wiederholt gebrauchten) Begriff ›Dichterwald‹ siehe weiterhin Wolfgang

266

5. Altdeutsche Wä lder

Kinder- und Hausmärchen. 133 Die wissenschaftlichen Publikationen der Brü der durchzieht eine Abundanz biologischer Sprachbilder aus Botanik, Agri- und Hortikultur – Pflanzen- und Waldmetaphern allzumal – mithilfe derer sie ›Volk‹ und ›Volkskultur‹ als organisch gewachsene Phä nomene schildern.134 Nicht zuletzt dadurch leisteten sie der „philologische[n] Mystifizierung deutscher Wä lder“135 enormen Vorschub. Ihre Forschungsarbeit gedieh auf fruchtbarem Boden, so dass Jacob Grimm, metaphorisch ganz im Bilde, „das entsprossene reis“ seiner Deutschen Mythologie (1835) bald „schon ins zweite laub liefern“ konnte, „mit desto stä rkerer zuversicht auf sein ungehemmt vorschreitendes wachsthum.“ 136 Siegfried Becker sieht in der Deutschen Mythologie das „Konstrukt einer innigen Verwobenheit deutscher Geschichte mit deutschem Wald“ 137 entworfen. Sie „stand am Beginn einer Publikationsflut von Volkserzä hlungen“, mit deren Gestaltung sich die „prä nationale Ideologie […] jenes Traumland nationaler Einheit“ schuf, das sich in der politischen Realitä t nur zö gerlich abzeichnen wollte. „Dieses Traumland war Waldland; die politische Aufladung der Volkspoesie lä sst sich ganz unmittelbar am Wald ablesen.“138 Gerade aus Sagen und Brauchtü mern mit Wald- und Pflanzenbezug versprach sich die romantisch inspirierte Mythenforschung Rü ckschlü sse auf ein die Jahrhunderte ü berdauerndes, latent persistierendes ›kollektives Gedä chtnis‹ aus vorchristlichen Zeiten.139

133

134

135

136 137 138

139

Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 64 und 83. – Im Zuge seiner eingehenden Beschä ftigung mit dem Nibelungenstoff lieh Wagner am 21. Oktober 1848 die drei Bä nde der Altdeutschen Wälder von der Dresdener Hofbibliothek aus; er dü rfte sich durch einen darin publizierten Aufsatz Jacob Grimms bestä tigt gefü hlt haben, der dahingehend argumentiert, dass die unter Namen wie Eugel, Oberon, Elegast oder auch Alberich bezeugten Zwergengestalten als identisch anzunehmen seien; entsprechend gestaltete auch Wagner seinen Alberich eklektisch aus verschiedenen literarischen Vorlagen, siehe hierzu Elizabeth Magee, Richard Wagner and the Nibelungs, S. 44 und 80–85. Bereits in der Erstausgabe (1812/1815) weist die Hä lfte der knapp 160 Texte einen Waldbezug auf. Im Laufe der Editionsgeschichte kamen nicht nur 33 weitere ›Waldmä rchen‹ hinzu, es nahmen auch die bestehenden „durch kontinuierliche und teils erhebliche Uberarbeitungen immer dichtere, dunklere und grö ßere Formen“ an. Zechner resü miert, dass die in der romantischen Poesie Tiecks und Eichendorffs angelegte „Doppeldeutigkeit des Silvanen zwischen lieblichen und schaurigen Waldlandschaften“ in diesem Zuge weitgehend zugunsten letzterer Gestaltung aufgegeben wurde, Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 93–95. Zum „Waldideal“ der Brü der Grimm siehe Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 83–104 (hier S. 84 und 98). Zur Waldthematik siehe weiterhin Jack David Zipes, The Brothers Grimm. From Enchanted Forests to the Modern World, New York 22002, besonders S. 65–88. Harrison fasst den Wald im Schaffen der Grimms als universelles Symbol ursprü nglicher Einheit auf, Robert P. Harrison, Wälder, S. 197–212 (Zitat S. 197). Jacob Grimm, Vorrede [zur zweiten Auflage], in: ders., Deutsche Mythologie, Bd. 1, Gö ttingen 21844, S. V. Siegfried Becker, Märchenwälder, S. 63. Ebenda, S. 64. Nach dem Scheitern der revolutionä ren Bewegung von 1848/49, die wesentlich vom Konfliktpotential der Jagd- und Waldnutzungsrechte zehrte, konnten Mä rchen- und Sageneditionen „zur Kompensation der enttä uschten Hoffnungen“ dienen, ebenda, S. 68. Vgl. auch Johannes Zechner, Von „deutschen Eichen“ und „ewigen Wäldern“. Der Wald als national-politische Projektionsfläche, in: Ursula Breymayer, Bernd Ulrich (Hg.), Unter Bäumen, S. 231–235 (hier S. 231) und Rudolf Schenda, Mären von Deutschen Sagen, S. 47; eine Liste einschlä giger Publikationen im Untersuchungszeitraum ebenda, S. 28. Albrecht Lehmann, Der deutsche Wald, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, hier S. 188. Unter den Grimm-Nachfolgern ist Wilhelm Mannhardt mit seiner umfangreichen Studie zu Wald- und Feldkulten (1875/77) hervorzuheben. Auch Carl Rosenkranz stellt

267

VI. Deutscher Wald

Auf den Dresdener Hofkapellmeister Wagner, der sich die Deutsche Mythologie wä hrend eines Kuraufenthalts in Teplitz (Juli 1843) vornahm, ü bte die Lektü re einen „wunderbaren Zauber“ aus. Aus den „dü rftigsten Bruchstü cken einer untergegangenen Welt“ fand er durch Grimm „einen wirren Bau ausgefü hrt, der auf den ersten Anblick durchaus nur einem rauhen, von ä rmlichem Gestrü pp durchflochtenen Geklü fte glich.“140 Aus diesem „unbequemen“ philologischen Dickicht aber sprach es „urheimatlich“ zu ihm, alles drä ngte zu „Vorstellungen“ und plastischen „Gestalten“, die ihm lebhaft vor Augen traten: Das grimmsche „laub“ rauschte, und Wagner erfand den Sinn. „Ich kann den Erfolg hiervon auf meine innere Seelenstimmung nicht anders als mit einer vollstä ndigen Neugeburt bezeichnen“, betont er in Mein Leben.141 Das „entsprossene reis“ der alten Mythenwelt, von Grimm gepflanzt, sollte in ihm einen emsigen Baumpfleger finden: „die alte deutsche Weltesche, der wunderbare Nornenbaum sollte aus mir zum mä chtigen Laubgewö lbe ü ber alle fü hlenden Menschenherzen sich ausbreiten“142, wird Wagner spä ter in einem Brief an Kö nig Ludwig II. schreiben.

6. Germanische „Waldfreiheit“ und deutsches „Naturgefü hl“ 6.1. Klima und ›Nationalcharakter‹ Im Februar 1810 erö ffnete Friedrich Schlegel vor ausgewä hltem Wiener Publikum seine Vorlesungsreihe Ueber die neuere Geschichte mit einem Rü ckblick in jenes ferne Zeitalter der „ersten Einfalt, wo der Mensch selbst der Natur noch nä her steht, sie desto tiefer, desto inniger fü hlt.“143 Welch „erhabenen Eindruck“ mussten auf die damaligen Bewohner Deutschlands die „von Menschenhand noch wenig berü hrte[n] Wä lder“ gemacht haben, dieser „Riesentempel der Natur“! Schlegel fü hrt aus: Dieses tiefe und starke Naturgefü hl nun, welches die alten Deutschen auf ihren Bergen und in ihren Wä ldern mit der vaterlä ndischen Luft selbst einatmeten, ist der eigentliche Grundzug des deutschen Charakters, der

140

141 142

143

seiner Untersuchung die These voran, Vö lker „auf der Kinderstufe“ seien in noch engeren „Wechselbeziehungen“ mit der Pflanzenwelt gestanden. „Anklä nge an jene alte Zeit finden sich aber in unserem heutigen Volksleben in viel grö ßerer Menge, als gar mancher glaubt.“ Aufgrund der besonderen „Liebe des Volkes zum Wald“ habe es sich ein – „wenn auch dunkle[s] – Bewußtsein von der Bedeutung desselben fü r seine Existenz“ erhalten, das es zu erforschen gelte, Carl Rosenkranz, Die Pflanzen im Volksaberglauben, S. VII und S. 31. Richard Wagner, Mein Leben, S. 272f. Liegt Wagner mit seiner Datierung des Erstkontakts mit der Deutschen Mythologie richtig, so muss er in Teplitz ein (geliehenes?) Exemplar der ersten Auflage gelesen haben; in seiner Dresdener Bibliothek befand sich die zweibä ndige zweite Auflage, die aber erst 1844 erschien, vgl. hierzu Elizabeth Magee, Richard Wagner and the Nibelungs, S. 28. Richard Wagner, Mein Leben, S. 273. Richard Wagner an Ludwig II. von Bayern, Brief vom 12. Mä rz 1868, in: Br Ludwig, Bd. 2, Nr. 389, S. 213–215 (hier S. 215). Friedrich Schlegel, Über die neuere Geschichte [1810/11], in: Ernst Behler (Hg.), Friedrich Schlegel: Studien zur Geschichte und Politik, Mü nchen 1966 (= Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe 7), hier S. 139.

268

6. Germanische „Waldfreiheit“ und deutsches „Naturgefü hl“

immer geblieben ist, und die deutschen Vö lker durch alle Zeiten und alle Lä nder begleitet hat. […] In allen Hervorbringungen der folgenden gebildetern Zeit wird es seinen herrschenden Einfluß zeigen, und gibt ihm das eigenthü mliche deutsche Geprä ge. Noch lebt es in unsrer Sprache und Dichtkunst, und sollte jemals bei den Deutschen dieses Naturgefü hl ganz erlö schen, so wü rde es nur ein Beweis sein, daß der deutsche Charakter sich vö llig verä ndert habe, oder daß er aufgehö rt habe zu sein.144

Ein besonderes „Naturgefü hl“ sei demnach der deutsche Wesenszug schlechthin und die heimische Waldlandschaft vorzü glicher Garant seiner Aktualisierung. An die historische Darlegung knü pft Schlegel die Mahnung, dass dieser vitalisierende „Einfluß“ der Natur in den „Verhä ltnissen einer kü nstlichen Geselligkeit“145 unweigerlich versiege – ein impliziter Appell zum Waldschutz. Dorothea Schlegel, die im Publikum saß, spü rte im Vortrag ihres Mannes die nostalgische Schwä rmerei fü r das ›goldene Zeitalter‹, von der die Ausfü hrungen durchströ mt waren: Besonders ward die Darstellung dieser Urdeutschen mit solcher Vorliebe ausgefü hrt, er sprach mit einer so sanften beinah wehmü tigen Begeisterung von der entschwundnen HeldenZeit, daß man in Versuchung gerieth auf der Stelle wieder in die alten heiligen Wä lder zurü ck zu laufen.146

Wä lder der Vergangenheit als Orte der Zuflucht – solch eskapistische Sehnsucht zurü ck zu den Wurzeln klingt auch in den Schlussversen von Schlegels Gedicht Im Spesshart an, kurz nach der ö sterreichisch-russischen Niederlage von Austerlitz verfasst: „Dann denk ich wie vor alter Zeit, / Du dunkle Waldesnacht! […] Du warst der Alten Haus und Burg; / Zu diesem grü nen Zelt / Drang keines Feindes Ruf hindurch, / Frei war noch da die Welt.“147 – Die damit ausgesprochene Verlockung des Rü ckzugs in eine vorzeitlich-ideale ›Waldfreiheit‹ sollte spä ter den jungen Karl Marx zu den Worten reizen: „Wodurch unterscheidet sich aber unsere Freiheitsgeschichte von der Freiheitsgeschichte des Ebers, wenn sie nur in den Wä ldern zu finden ist?“148 Der Soziologe Norbert Elias beschreibt einen Wechsel der Blickrichtung, der sich als generelle Tendenz in den meisten europä ischen Lä nder zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert beobachten lasse: Mit zunehmender gesellschaftlicher Bedeutung und politischer Partizipation hä tten die aufsteigenden Mittelklassen ihr vormals im

144 145 146

147

148

Ebenda, S. 140f. Ebenda, S. 132. Dorothea Schlegel an August Wilhelm Schlegel, Brief vom 24. Februar 1810, in: Josef Kö rner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. 2, Bern 21969, S. 114. Friedrich Schlegel, Im Spesshart, in: Rostorf [= Carl von Hardenberg] (Hg.), Dichter-Garten. Erster Gang, Wü rzburg 1807, S. 136f. (hier S. 137). „Gutmü thige Enthusiasten dagegen, Deutschthü mler von Blut und Freisinnige von Reflexion, suchen unsere Geschichte der Freiheit jenseits unserer Geschichte in den teutonischen Urwä ldern. […] Zudem ist es bekannt: Wie man hineinschreit in den Wald, schallt es heraus aus dem Wald. Also Friede den teutonischen Urwä ldern!“, Karl Marx, Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie, in: Arnold Ruge, ders. (Hg.), Deutsch-französische Jahrbücher, Paris 1844, S. 71–85 (hier S. 73).

269

VI. Deutscher Wald

Begriff des Fortschritts symbolisiertes, humanistisches Ideal aufgegeben und stattdessen „ein idealisiertes Bild der eigenen Nation ins Zentrum ihres Selbstbildes, ihrer sozialen Glaubensdoktrinen und ihrer Werteskala“149 gestellt. Was der Aristokratie die genealogische Abstammung, das wurde den fü hrenden Sektionen der bü rgerlichen Mittelklassen ein vergangenheitsbezogenes Bild nationaler Tradition: „Der Blick zurü ck ersetzte als Quelle emotionaler Befriedigung den Blick nach vorn.“150 Ausgehend vom Konzept des ›Nationalcharakters‹ ließ sich in der Kategorie des ›Volks‹ eine Kontinuitä t spezifischer Merkmale in der Diachronie denken: Durch Uberbewertung des vermeintlich ›Natü rlichen‹ gegenü ber dem Soziologisch-Kulturellen entwickelte man die Annahme, ein Deutscher des 19. Jahrhunderts teile mehr Gemeinsamkeiten mit seinen vor Jahrhunderten lebenden ›germanischen Vorfahren‹ als etwa mit einem Zeitgenossen, der franzö sischer Staatsbü rger war.151 Sprachlich drü ckt sich diese Annahme etwa im gehä uften Gebrauch der Formulierung ›noch heute‹ aus.152 Wie das Beispiel Schlegels zeigt, haftete der deutsche „Blick zurü ck“ vornehmlich auf uralten Wä ldern, als den Garanten originä r deutschen ›Naturgefü hls‹ und deutscher ›Waldfreiheit‹. Indem er das spezifisch „deutsche Geprä ge“ auf den „herrschenden Einfluß“ der Umwelt zurü ckfü hrt, steht Schlegel in der Tradition antiker und neuzeitlicher Klimatheorien, die eine enge Interdependenz von lokalklimatischen Faktoren wie Boden, Vegetation und Wetter einerseits und Landesbewohnern andererseits annehmen. Das taciteische Schlagwort einer „Germanorum libertas“153 aufgreifend, hatte der franzö sische Staatstheoretiker Charles-Louis de Montesquieu

149

150

151 152

153

Norbert Elias, Ein Exkurs über Nationalismus, in: Michael Schrö ter (Hg.), Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989, S. 159–222 (hier S. 174–176). Vgl. auch Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde?, S. 30f. Norbert Elias, Ein Exkurs über Nationalismus, S. 175. Heinrich Heines treffende Diagnose: „Die romantische Schule schwamm mit dem Strom der Zeit, nemlich mit dem Strom, der nach seiner Quelle zurü ckströ mte.“, Heinrich Heine, Die romantische Schule, Hamburg 1836, S. 49. Michael Titzmann, Die Konzeption der ›Germanen‹, S. 126. „Noch lebt es in unserer Sprache und Dichtkunst“, doziert Friedrich Schlegel ü ber das „Naturgefü hl“ der „alten Deutschen“, Über die neuere Geschichte, in: Ernst Behler (Hg.), Friedrich Schlegel: Studien zur Geschichte und Politik, S. 141. Einige weitere Beispiele mit Bezug zum Wald [alle Hervorhebungen von GH]: „Die Zeit der heiligen Haine ist lä ngst zwar vorü ber; aber noch heute senkt der stille erhebende Wald jenen Frieden in das Gemü th des einsamen Waldbesuchers, den ihm das Gewü hl der Menschen nicht beut.“, H[einrich] Burckhardt, Säen und Pflanzen nach forstlicher Praxis. Ein Beitrag zur Holzerziehung, Hannover 1855, S. 248. „Noch heute guckt fast aus jeder Ecke und aus jedem Baumstumpf ein Spukgesicht heraus und erschreckt die armen Leute, die dort Leseholz suchen“, Wilhelm Mannhardt, Wald- und Feldkulte, Bd. 1: Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme. Mythologische Untersuchungen, Berlin 1875, S. 43. „Der Wald war schon in den Zeiten der Edda fü r ein germanisches Gemü th geheimnißvoll anmuthend; und so ist es noch heute. […] Noch heute ist jenem [dem Italiener], wie auch dem Franzosen, unser Wald etwas Unheimliches, wie uns Deutschen die […] Felsö den des Mediterrangebietes, […] seine Berge ohne Wald abstoßend sind.“, Hermann Hoffmann, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des deutschen Waldes. Akademische Festrede zur Feier des hohen Geburtsfestes Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs Ludwig III., Gießen 1877, S. 4 und 7. Als jü ngeres Beispiel: Der Deutsche „sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fü hlt sich eins mit den Bä umen.“, Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 51992, S. 195. Cornelius Tactius, De origine et situ Germaniae liber, 37,3.

270

6. Germanische „Waldfreiheit“ und deutsches „Naturgefü hl“

(1689–1755) den englischen Parlamentarismus aus den Nachwirkungen einer urgermanischen ›Waldfreiheit‹ abgeleitet („Ce beau Systeme a é té trouvé dans les bois.“154). Herder inkorporierte diese Deduktion in seine Klimatheorie und machte in der (vormaligen) Waldnatur einen stabilisierenden Faktor deutschen „Nationalcharakter[s]“ und freiheitlichen Gemeinwesens aus. Uber die „Vö lker Deutschlands“ urteilt er 1767: „Mit ihren Wä ldern ist ihre Freyheit ausgehauen; den Winden und fremden Sitten ein Durchzug verschaffet: fü r Sonnenstralen [sic] und fremde Gewä chse Raum gemacht […].“155 Einige Jahre spä ter formuliert er die allgemeinere Gesetzmä ßigkeit: „Europa war vormals ein feuchter Wald und andre jetzt cultivirte Gegenden warens nicht minder, es ist gelichtet, und mit dem Klima haben sich die Einwohner selbst geä ndert.“156 Die Annahme, dass zwischen Mensch und Umwelt „ein gewisses ä hnlichmachendes und wechselseitig einfließendes und bildendes Verhä ltniß“157 bestehe, bildete sodann auch die theoretische Grundlage fü r die Schriften eines der einflussreichsten politischen Publizisten in der ersten Hä lfte des 19. Jahrhunderts, Ernst Moritz Arndt. Anknü pfend bei Herder, mahnt dieser im Jahr 1815: „Denn jetzt wird in vielen Lä ndern Europa’s die Axt, die an den Baum gelegt wird, hä ufig zu einer Axt, die an das ganze Volk gelegt wird.“ 158 Ubermä ßige Entwaldung wü rde in Deutschland „ein anderes Klima und bald auch ein anderes schlechteres und schwä cheres und ungö ttlicheres Volk, als die Teutschen jetzt noch sind“, hervorbringen: „Auch wird das nackte und waldlose Germanien nicht mehr Germanien seyn.“159 Wie Zechner herausstellt, vollzog sich bei Arndt, vorab im Kontext seiner antifranzö sischen Agitation, ein „entscheidender Wandel von der Silvapoesie zur Silvapolitik“, in dessen Folge sich das nationalisierte Denkbild ›deutscher Wald‹ dauerhaft etablieren konnte.160

154 155

156

157

158 159

160

Montesquieu, De l’esprit des loix, Bd. 1, Geneve [1748], Buch 11, Kapitel 6, S. 260. [Johann Gottfried Herder], Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente, als Beilage zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend, Bd. 3, Riga 1767, S. 14. Siehe hierzu auch Klaus von See, Barbar, Germane, Arier, S. 47 und S. 64–66. Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 2, Riga 1785, S. 102f. Auch in der ›Holznot‹-Debatte um 1800 spielten klimatheoretische Argumente eine wichtige Rolle: In der Sorge um den Waldbestand schwang nicht zuletzt die Sorge um klimatische Stabilitä t und damit auch um den Erhalt des (deutschen) Nationalcharakters mit. Als Beispiel aus einem zeitgenö ssischen Lehrbuch: „Wird man in Europa noch fortfahren, die Wä lder ohne Rü cksicht auf die nachtheiligen Folgen, zu vermindern, so muß die Trockenheit der Erde von Jahr zu Jahr ü berhand nehmen, und selbst eine nachtheilige Verä nderung der Klimate nach und nach bewirken.“, Mori[t]z Balthasar Borckhausen, Theoretisch-praktisches Handbuch der Forstbotanik und Forsttechnologie, [Bd. 1], Giessen 1800, S. 265. Ernst Moritz Arndt, Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten, S. 355. Selbst vor der Behauptung, dass „der Teutsche mit seinen Eichen und Buchen […] einige Aehnlichkeit“ (ebenda) aufweise, scheut Arndt nicht zurü ck. Ebenda, S. 375. Ebenda, S. 381f. und S. 402. Arndt leitet aus dieser Dystopie konkrete politische Forderungen ab: „Also weg mit den waldverwü stenden Fabrikanten! […] weg dort mit dem Pflü ger, der alles ausroden […] will!“ (ebenda, S. 392). Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 61–82 (hier S. 82).

271

VI. Deutscher Wald

6.2. Die „Waldideologie“ Wilhelm Heinrich Riehls Fü r die zweite Hä lfte des 19. Jahrhunderts lä sst sich eine Entwicklung skizzieren, die als „Ethnisierung“161 des ›deutschen Waldes‹ beschrieben wurde und letztlich durch Integration sozialdarwinistischer Denkmuster in der Wilhelminischen Zeit zur „racialization of the German forest into the vö lkisch forest“162 fü hrte. Als ein Vordenker und Impulsgeber dieser Richtung wird der Kulturhistoriker, Volkskundler und „Waldideologe“163 Wilhelm Heinrich Riehl angesehen. Trotz seiner in Fachkreisen umstrittenen Methodik, die „selbst erwanderten“ Beobachtungen den Vorrang gegenü ber philologischer „Buchgelehrsamkeit“ einrä umte, gilt er als Wegbereiter der wissenschaftlichen Volkskunde im 19. Jahrhundert.164 Sein breit gefä chertes und umfangreiches Schaffen, das etwa 750 Zeitungsaufsä tze zu diversen Themen, Dutzende Novellen, Musikalische Charakterköpfe und Kompositionen umfasst, fand auch außerhalb akademischer Kreise Beachtung und weite Verbreitung. 165 Eine eigene Studie wä re im Ubrigen dem langjä hrigen, merkwü rdig von Distanzierung und Annä herung, Ablehnung und Ubereinstimmung geprä gten Verhä ltnis zwischen Riehl und seinem zehn Jahre ä lteren Zeitgenossen Richard Wagner zu widmen.166 In eingä ngiger Rhetorik warnt Riehl vor der Auflö sung der stä ndischen Ordnung im „großen Urbrei des eigentlichen Volkes.“167 Die industrialisierte „Maschinenwelt“ bringe einen proletarischen „vierten Stand“ hervor, der das ü berkommene Gruppenund Schichtensystem der Gesellschaft erodiere.168 Wie sein Lehrer Arndt, setzt er diesen modernen Verfallstendenzen die „unü berwindliche conservative Macht“ des Bauernstandes entgegen, der im Mä rz 1848 den „Damm […] gegen das Ueberfluthen der franzö sischen Revolutionsdoctrin“ gebildet habe und die „innere Erfrischung

161

162 163

164

165

166 167 168

Konrad Kö stlin, Der ethnisierte Wald, in: Albrecht Lehmann, Klaus Schriewer (Hg.), Der Wald – ein deutscher Mythos?, S. 53–65. Der Begriff wird aufgegriffen bei Johannes Zechner, Politicized Timber, S. 20f. Michael Imort, A Sylvan People, S. 61. Riehl stehe am „Anfang einer systematisch entwickelten nationalistischen Waldideologie“, schreibt Albrecht Lehmann, Der deutsche Wald, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, S. 189. Eine eingehende Bestandsaufnahme zum Denkbild des ›deutschen Waldes‹ in Riehls Werk bietet wiederum Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 106–126. Zur Biographie: Arndt Brendecke, Lemma ›Riehl, Wilhelm Heinrich v.‹, in: Historische Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Neue Deutsche Biographie, Bd. 21, Berlin 2003, S. 588–590; J. P., Wilhelm Heinrich Riehl †, in: Die Gartenlaube 45 (1897), Heft 49, S. 814; Dennis McCort, Perspectives on Music in German Fiction. The Music-Fiction of Wilhelm Heinrich Riehl, Bern 1974 (= German Studies in America 14), S. 11–13; besonders aber die grundlegende Darstellung von Viktor von Geramb, Wilhelm Heinrich Riehl. Leben und Wirken (1823–1897), Salzburg 1954. Riehls Schriften kö nnen „als sozialgeschichtliche Quellen“ dienen, da sie „im deutschen Bü rgertum des 19. Jahrhunderts massenhaft verbreitet waren“, Jasper von Altenbockum, Wilhelm Heinrich Riehl, S. 3. Einen knappen Uberblick ü ber Riehls journalistische Tä tigkeit gibt Viktor von Geramb, Wilhelm Heinrich Riehl, S. 135ff. Einige Anhaltspunkte hierzu liefert Dennis McCort, Perspectives on Music in German Fiction. Wilhelm Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 1851, S. 268. Ebenda, S. 268.

272

6. Germanische „Waldfreiheit“ und deutsches „Naturgefü hl“

und Verjü ngung unseres Volkslebens“169 fü r die Zukunft garantiere. Nicht im „gleichgeschliffenen Universalismus der Geistesbildung“, sondern in der „natü rlichen Ungleichheit der Menschen“170, wurzle „die hö chste Glorie der Gesellschaft, denn sie ist der Quell ihrer unerschö pflichen Lebensfü lle.“171 Wie Zechner resü miert, war Riehls gesamtes Denken von politisch nutzbaren „Figuren des Organischen“ durchzogen und klimatheoretisch fundiert.172 In der Tradition Herders und Arndts hob er die landschaftliche Varianz der ›Nationalcharaktere‹ gegenü ber allgemeinmenschlichen Konstanten hervor.173 Zwischen 1853 und 1869 erschien Riehls vierbä ndiges Hauptwerk Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Im ersten Teil, der „socialen Ethnographie“ Land und Leute, argumentiert Riehl, dass besagte Varianz wesentlich durch die „ö rtlichen Bedingungen des Landes, in welchem das Volksleben wurzelt“174, geprä gt sei. An erste Stelle setzt er dabei den „Gegensatz von Wald und Feld“, der nicht nur „von grö ßter Wichtigkeit fü r die sociale Ethnographie“175 sei, sondern als unverzichtbares „Lebenselement“ des „deutschen Volksthum[s]“ unbedingten Schutzes bedü rfe: Es ist eine matte Defensive, welche die Fü rsprecher des Waldes ergreifen, wofern sie lediglich aus ö konomischen Grü nden die Erhaltung des gegenwä rtigen mä ßigen Waldumfanges fordern. Die social-politischen Grü nde wiegen mindestens eben so schwer. Haut den Wald nieder und ihr zertrü mmert die historische bü rgerliche Gesellschaft. In der Vernichtung des Gegensatzes von Feld und Wald nehmt ihr dem deutschen Volksthum ein Lebenselement. Der Mensch lebt nicht vom Brode allein. Auch wenn wir keines Holzes mehr bedü rften, wü rden wir doch noch den Wald brauchen. Das deutsche Volk bedarf des Waldes wie der Mensch des Weines bedarf […]. Brauchen wir das dü rre Holz nicht mehr um unsere ä ußeren Menschen zu erwä rmen, dann wird dem Geschlecht das grü ne, in Saft und Trieb stehende zur Erwä rmung seines inwendigen Menschen um so nö thiger seyn.176

169

170

171 172 173

174 175

176

Ebenda, S. 33f. Riehls Stilisierung des Bauernstandes zum sozial-ethischen Vorbild und Stabilisator der Gesellschaft traf den Nerv einer Zeit, in der sozialromantische Bauernromane und „Dorfgeschichten“ florierten, vgl. Jasper von Altenbockum, Wilhelm Heinrich Riehl, S. 39 und Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde?, S. 189f. Angefangen bei der Ungleichheit der Geschlechter, die den Ausgangspunkt fü r Riehls Beschreibung der Familie als „Urgrund aller organischen Gebilde in der Volkspersö nlichkeit“ im dritten Teil der Naturgeschichte des Volkes (Die Familie, 1855) bildet. Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 31. Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 112–115. Jasper von Altenbockum, Wilhelm Heinrich Riehl, S. 54 und Sandra Chaney, Nature of the Miracle Years. Conservation in West Germany, 1945–1975, New York 2008 (= Studies in German History 8), S. 19f. Zur zentralen Bedeutung der Landschaftstheorie fü r den klassischen Konservativismus siehe Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 140–166. Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. [VII]. Ebenda, S. 25. Zentrale Thesen des Kapitels erschienen vorab als W[ilhelm] H[einrich] Riehl, Der Wald. (Eine social-politische Studie.), in: Allgemeine Zeitung, 17. Jan. 1852 (Beilage zu Nr. 17), S. 265–267. Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 30f.

273

VI. Deutscher Wald

Aus diesen „social-politischen Grü nden“ leitet Riehl die Forderung nach einem „Recht der Wildniß“177 ab: Wer diese schü tze, bewahre das deutsche Volk und die idealisierte „historische bü rgerliche Gesellschaft“. In Deutschland gebe es noch „Trü mmer germanischer Waldfreiheit“ 178 – worunter Riehl freilich konkret nicht viel mehr fassen wollte, als das allgemeine Betretungsrecht. Dieser „deutschen Waldfreiheit“ aber schreibt er „bestimmende Einflü sse auf unser hö heres Bildungsleben, und namentlich auf die romantische Stimmung in demselben“ zu. Wie sich Sprachforscher, Rechtshistoriker und Folkloristiker in der Nachfolge Herders den „inneren Wilden“179 Europas zuwandten, so lenkte Riehl den Blick auf den Wald als ›innere Wildnis‹ Deutschlands. Der Kultivierung entzogene Waldwildnis sollte „fü r die lebendige Differenziertheit einer nichtindustriellen Gesellschaft empfä nglich machen“180 und als Jungbrunnen des bedrohten „Volkslebens“ erhalten bleiben: In abgelegenen Walddö rfern seien „die Reste uranfä nglicher Gesittung bewahrt, nicht bloß in ihrer Schattenseite, sondern auch in ihrem naturfrischen Glanze. […] Freuen wir uns, daß es noch so manche Wildniß in Deutschland gibt.“181 Wie Arndt182, sieht auch Riehl in den bä uerlichen Berg- und Waldanwohnern, „deren volle jugendliche Triebkraft noch halb im Schlummer liegt“, regeneratives Potential von nationaler Wichtigkeit veranlagt.183 In enger Anlehnung an Arndt, schreibt Riehl: Ein Volk muß absterben, wenn es nicht mehr zurü ckgreifen kann zu den Hintersassen in den Wä ldern, um sich bei ihnen neue Kraft des natü rlichen, rohen Volksthumes zu holen. […] Wir mü ssen den Wald erhalten, nicht bloß damit uns der Ofen im Winter nicht kalt werde, sondern auch damit die Pulse des Volkslebens warm und frö hlich weiter schlagen, damit Deutschland deutsch bleibe.184

177 178 179

180

181 182

183

184

Ebenda, S. 40. Ebenda, S. 34. Jü rgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Mü nchen 52010, S. 1167f. Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde?, S. 150. Zur Bedeutung von Wildnis im konservativen Landschaftsideal siehe Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 180–184 und Thomas Kirchhoff, Ludwig Trepl, Landschaft, Wildnis, Ökosystem, S. 50. Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 31. Als Beispiel: „Hier oben in den einsamen Bergen und Wä ldern findet man bei den meisten Menschen die altdeutschen Grundzü ge, Einfalt Ehrlichkeit freundliche Gutmü thigkeit und Gastlichkeit, […] welche den einfach lebenden Menschen des deutschen Stammes von den meisten andersartigen Vö lkern auszeichnen […].“, [Ernst Moritz] Arndt, Die Eifel Ritterburgen Ritterleben u.s.w., in: Laurenz Lersch (Hg.), Niederrheinisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst, Bd. 2, Bonn 1844, S. 1–56 (hier S. 9). „Wann die Mittagssonne der Civilisation die Ebenen bereits versengt hat, dann wird von den culturarmen Berg- und Hochlä ndern der Odem eines ungebrochenen naturwü chsigen Volksgeistes wie Waldesduft wieder erfrischend ü ber sie hinwehen.“, Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 222. Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 32. In den „englischen und franzö sischen Provinzen, die gar keinen ä chten Wald mehr habe“, finde man „ein schon halbwegs ausgelebtes Volksthum“ vor, ebenda, S. 28.

274

6. Germanische „Waldfreiheit“ und deutsches „Naturgefü hl“

Riehl beschwö rt damit eine determinierende Interdependenz von Volk und Wald und erhebt Letzteren „zum Hauptkriterium deutscher kollektiver Identitä t“ (Zechner185). Die Vorstellung einer waldfreien Landschaft sei „ganz besonders […] dem germanischen Geiste zuwider.“ 186 Jedoch werde der Fortbestand der Waldwildnis akut durch das „aufstä ndische lä ndliche Proletariat“ 187 bedroht, durch nutzungsrechtliche Zugestä ndnisse aus politischem Kalkü l 188 , industriellen Flä chenverbrauch und die „Zaubernetze der Eisenbahnen“189, durch Meliorationen und fortschreitende Okonomisierung der Land- und Forstwirtschaft: Deutschland hat durch die in neuerer Zeit aus Grü nden der Noth oder kurzblickender Oekonomie immer weiter getriebene kü nstliche Umwandlung der soliden Laubholzhochwaldungen in proletarische Nadelholzwä lder mindestens ebensoviel von seinem eigenthü mlichen Waldcharakter verloren als durch die vö llige Rodung ungeheurer Waldflä chen.190

Damit ü bt Riehl scharfe Kritik an der zeitgenö ssischen Forstwirtschaft, deren Praxis sich in tiefgreifenden Verä nderungen des Landschaftsbildes niederschlage und den „aristokratischen Charakter des Waldes“ zerstö re. Wo maximale Rendite angestrebt werde, verliere der Wald „seinen historischen Charakter, seine ideelle Bedeutung fü r die sociale und ä sthetische Erziehung des Volks, fü r die Individualisirung der Gesellschaft.“191 Dergleichen Vorbringungen fanden Anklang bei reformorientierten Forstlern, die in der zweiten Hä lfte des 19. Jahrhunderts die „Unnatur“ moderner Nadelholzmonokulturen anprangerten, die Forstwissenschaft „aus der niederen Stellung der Holzerzieherin“ 192 heben wollten und sich gegen die ›Reinerträ gler‹ und fü r eine ›idealistische‹ Neuausrichtung des Waldbaus engagierten. Die bislang im Wesentlichen von fachfremden Protagonisten vorangetriebene ideologische Aufladung des Waldes hielt somit Einzug in den forstwissenschaftlichen Diskurs.193 Als Beispiel hierfü r sei kurz ein „populä r-wissenschaftlicher Vortrag“ herangezogen, den der Forstmathematiker Franz Baur 1869 im Stuttgarter Kö nigsbau

185 186 187 188

189 190 191

192 193

Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 115. Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 30. Ebenda, S. 25. „Die Concession des Streulaubes und des allgemeinen Stimmrechts sind ein und derselbe Akt bonapartistischer Staatsklugheit, nur auf verschiedene Volksklassen zielend. Es ist die s o c i a l e Politik, die selbst hinter den Waldbä umen und unter dem rothen raschelnden Laub des letzten Herbstes lauert.“, ebenda, S. 26. Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 37. Ebenda, S. 36. „Fü r gar manchen modernen Oekonomen ist darum der Wald ü berhaupt bereits ein ü berkommener Standpunkt.“, Wilhelm Heinrich Riehl, Alpenwanderung eines Historikers, in: ders., Freie Vorträge, S. S. 106. Emil Adolf Roßmä ßler, Der Wald, S. 5. Hierzu Michael Imort, A Sylvan People, S. 60–63.

275

VI. Deutscher Wald

hielt.194 Baur, der sich vehement gegen die sogenannten „Bodenreinerträ gler“ und die Waldstreunutzung wandte, tä tigt darin Aussagen, die sich mitunter im Wortlaut auf Arndt und Riehl zurü ckfü hren lassen.195 Deren klimatheoretische Argumentation aufgreifend, rü ckt Baur immaterielle Werte der Waldnatur in den Fokus: ein breites Spektrum ›ö kologischer‹, hygienischer, kultureller und ethischer Wirkungen („die reichen geistigen Gaben“196). Das riehlsche Postulat einer „ä sthetische[n] Erziehung des Volks“197 durch den Wald bestä tigend, verweist Baur darauf, dass „insbesondere aus dem deutschen Walde“ zahlreiche Poeten „herausgewachsen“ seien: „Wie kö nnte es auch anders sein, war doch der Waldessinn dem deutschen Volksstamm von alten Zeiten her eigen!“198 Auch habe sich hierzulande „unter den erhebenden Eindrü cken des Waldes“ eine „eigentliche Waldmusik“199 ausgebildet. Unter die „Waldcomponisten“ rechnet Baur „[i]n erster Linie“ Carl Maria von Weber, wobei er auf Freischütz, Euryanthe und Preciosa verweist, außerdem – „nebst vielen andern“ – Conradin Kreutzer (Das Nachtlager in Granada und diverse ›Waldlieder‹), Felix Mendelssohn Bartholdy (Der Jäger Abschied op. 50, Nr. 2), C. M. J. Kiefer 200 , Friedrich Silcher201, Mozart202 (!), sowie Carl Amand Mangold (Waldlied op. 23, Nr. 4). Die Genannten dienen Baur als Zeugen fü r den positiven ›klimatischen‹ Kultureinfluss des Waldes. Ihre musikalische Produktion wird in der forstpolitischen Debatte als Argument fü r den Schutz des Waldes herangezogen.203 Zudem wird ihnen 194

195

196 197 198

199 200

201 202

203

Franz Baur, Der Wald und seine Bodendecke im Haushalte der Natur und der Völker. Ein populär-wissenschaftlicher Vortrag, gehalten im Saale des Königsbaues zu Stuttgart am 13. Februar 1869, in: Monatschrift fü r das Forst- und Jagdwesen 13 (1869), S. 121–147. Zur Biographie siehe Richard Hess, Artikel ›Baur, Franz‹, in: Allgemeine Deutsche Biographie 46 (1902), online-Ausgabe. Die „Zukunft des deutschen Waldes“ sei mit der „des deutschen Volkes […] auf das innigste […] verflochten“, daher sei Waldschutz die „heilige Pflicht jedes Patrioten!“ „Fast alle Lä nder, in welchen man die Wä lder nicht zu schü tzen wußte, sind […] verarmt und verö det. […] Mö chte sich doch die im Kerne noch gesunde deutsche Nation diese und ä hnliche Erfahrungen anderer Vö lker zur Warnung dienen lassen!“. Nur an einer Stelle (ebenda, S. 143) wird „der bekannte Culturhistoriker R i e h l “ namentlich genannt und zitiert. Ebenda, S. 142. Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 36. Ebenda, S. 144. Gerade die Forstleute seien „ein poetisches Vö lklein“ (ebenda, S. 147): „Noch singen die Forstwirthe gelegentlich ihrer Zusammenkü nfte im krä ftigen Chorus ihre alten, frischen und frohen Wald- und Jä gerlieder, und erinnern sich dabei vergangener Zeiten; aber ihre neuen, wenigen poetischen Schö pfungen tragen alle mehr oder weniger die Zeichen der zurü ckschreitenden Waldnatur an sich; es fehlt ihnen Frische, Natur und Wahrheit!“ Ebenda, S. 143f. Dessen seinerzeit populä res und in Kommersbü chern verbreitetes Jägerlied (›Heil dem Manne‹) wartet mit Verszeilen wie „Drum soll uns der Ahnen / Beispiel stets ermahnen, / in den deutschen Forsten / wie der Aar zu horsten“ oder auch „Wenn die Hö rner schallen / und die Bü chsen knallen, / blü ht auf Feindesleichen / Freiheit deutscher Eichen“ auf. Baur nennt die Chorlied-Vertonung Abschied vom Walde (Hoffmann von Fallersleben). Baur nennt „Mozart mit seinem Liede aus der Zauberflö te: ›Seht unsre grü nen Bä ume an‹“. Gemeint ist wohl das Lied vom Reiffen (1780, Incipit: ›Seht meine lieben Bä ume an‹) von Matthias Claudius, welches (gleich dem Lied Üb’ immer Treu und Redlichkeit) frei nach der Melodie der Papageno-Arie Ein Mädchen oder Weibchen gesungen wurde. Zu einem vergleichbaren Befund kommt Ude-Koeller in ihrer Studie zum Harzklub: Zur „kü nstlerischen Legitimierung seiner politisch motivierten Sichtweise von Natur“ habe der Verein in seinem Schrifttum „wiederholt Anleihen bei den Werken der ›besten deutschen Dichter‹“ genommen, anhand derer den Deutschen kollektiv ein besonders inniges Verhä ltnis zum Wald attestiert wurde, Susanne

276

6. Germanische „Waldfreiheit“ und deutsches „Naturgefü hl“

in der eklektischen Rezeption als „Waldcomponisten“ implizit ein besonders ausgeprä gter „Waldessinn“ und somit ein fü r charakteristisch deutsch reklamierter Wesenszug zugesprochen.

6.3. Exkurs: Constantin Frantz und „was er vom Forst sagt“ Darauf, dass der Wald „auf das Klima, auf die Salubritä t der Luft und sogar auf das Gemü thsleben der Menschen“ einwirke, weist auch der politische Publizist Constantin Frantz in seiner umfangreichen Abhandlung ü ber den Föderalismus als das leitende Princip (1879) hin.204 Unter Berufung auf Arndt, erklä rt er das „National-Vegetations-Capital“ zur „zuverlä ssigste[n] Basis einer gesunden Volkswirthschaft“. Da der Mensch seine Umwelt im positiven wie negativen Sinne „gar sehr verä ndern“ kö nne, fordert Frantz „naturae convenienter vivere“ als „erste[n] Grundsatz fü r die wirthschaftliche Behandlung des vaterlä ndischen Bodens“. Die waldbaulichen Fortschritte seiner Zeit erkennt er an, wenngleich „alle Forstwirthschaft […] immer um ein Jahrhundert zu spä t“ komme. Aber wie hat man an dem Walde gefrevelt, bis endlich die daraus entsprungenen Uebelstä nde so arg wurden, daß doch das ö ffentliche Gewissen einigermaßen erwachen mußte, daher jetzt schon sehr allgemein eine bessere Waldpflege und Schutzmaßregeln gegen weitere Devastationen gefordert werden. […] Doch nicht blos roher Frevel und gedankenlose Nachlä ssigkeit haben zur Waldverwü stung gefü hrt, sondern noch mehr vielleicht hat die falsche Wissenschaft geschadet, die den Wald nicht nach seiner Bedeutung fü r die innere Oekonomie der Natur selbst zu betrachten lehrte, vielmehr lediglich nach den Nutzwerthen, die er gewä hrte.205

Fü r besonders problematisch erachtet Frantz den privaten Waldbesitz, da wegen des langsamen „Anwuchs des Holzcapitals“ und entsprechend geringer Verzinsung „die Natur wirklich nicht mit der Industrie concurriren“ kö nne. Bei streng profitorientierter Bewirtschaftung seien daher „alle Privatwaldungen mit dem Untergang bedroht, der nur noch eine Frage der Zeit bleibt.“206 Trotz seiner enormen schriftstellerischen Produktivitä t konnte Constantin Frantz zeitlebens keinen nennenswerten gestaltenden Einfluss auf die praktische

204

205 206

Ude-Koeller, Auf gebahnten Wegen, S. 141. Angefü hrt sei in diesem Zusammenhang auch der Grü ndungsaufruf des Taunus-Club von 1883: „Die Liebe zur Natur ist der charakteristischste Zug der Germanen. Diese tiefe Hinneigung zur Natur findet nicht nur ihren Ausdruck in unseren herrlichen Liedern und Dichtungen, sondern es ist auch das Wandern durch Wald und Flur, ü ber Berg und Tal so in unser Fleisch und Blut ü bergegangen, dass es uns gewissermaßen zur zweiten Natur geworden ist.“, zitiert nach Michael Kohlhammer, Ich bin Deutsche(r). Was heißt das? – Heißt das was?, Ravensburg 1984, S. 24. Constantin Frantz, Der Föderalismus als das leitende Princip für die sociale, staatliche und internationale Organisation, unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, Mainz 1879, S. 67. Ebenda, S. 67–69 und S. 78f. Ebenda, S. 68.

277

VI. Deutscher Wald

Politik geltend machen. 207 Zu seinem treuen Leser- und Freundeskreis zä hlte Richard Wagner, der ihm 1869 die zweite Auflage von Oper und Drama widmete. „R[ichard] sagt, C. Frantz habe einige Ahnlichkeit mit ihm durch das immer wieder Neubilden seines Grundgedankens“208, notiert Cosima am 30. Juni 1879 in ihr Tagebuch. An diesem Tag hatte Wagner mit der Lektü re von Der Föderalismus begonnen „und ist so davon befriedigt“, dass ihm Cosima „abends das erste Kapitel vorlesen soll.“ Besonders zu interessieren schienen ihn dabei die Ausfü hrungen zur klimatisch-volkswirtschaftlichen Bedeutung des Waldes: Immer befriedigter spricht R. von dem Frantz’schen Buche, er mö chte es in die Welt ausposaunen, wie gut es sei, und er teilt mir bei Tisch mit, was er vom Forst sagt; bei dieser Gelegenheit bemerkt er: „Fidi [= Siegfried Wagner] kann Nationalö konom werden, da kann er noch etwas nü tzen.“209

6.4. Wald und Volk Die vorrangig durch Arndt und Riehl popularisierte Engfü hrung von Wald und Volk trug dazu bei, dass der real vorhandene, forstlich eingerichtete (Monokultur-) Wald ab der zweiten Hä lfte des 19. Jahrhunderts zunehmend als Modell fü r die menschlichen Gesellschaft, als ›Erzieher des Volks‹ interpretiert werden konnte.210 Vergleichungen von Wald und Gesellschaft, wie sie in der Zeit zahlreich formuliert wurden211, gewannen sozialpolitisches Gewicht durch einen biologistischen Reduktionismus, fü r den ›die Natur‹ unbedingt gü ltige Gesetze gesellschaftlichen Handelns lieferte. Der Sozialdarwinismus ü bertrug Darwins Theorien, die in Deutschland besonders im Werk des Biologen Ernst Haeckel rezipiert wurden, auf den Gesellschafts- und Geschichtsprozeß und verband sich um die Wende zum 20. Jahrhundert mit der Ideologie des ›deutschen Waldes‹.212 Der Hochwald wurde als Paradigma fü r

207

208 209 210

211

212

Erich Wittenberg, Lemma ›Frantz, Gustav Adolph Constantin‹, in: Historische Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Neue Deutsche Biographie, Bd. 5, Berlin 1961, S. 353– 356 (hier S. 354). CT II, S. 374. Eintrag vom 2. Juli 1879, CT II, S. 375. An einschlä gigen Publikationen sind insbesondere Der Wald als Erzieher (1910) von Rudolf Dü esberg und Ewiger Wald (1922) von Raoul Heinrich Francé zu nennen. Ludwig Steub etwa ließ bereits 1846 in einen seiner Berichte ü ber Tirol einen entsprechenden Vergleich einfließen, demzufolge etwa „unten in dem Waldvolk der mittelstä ndigen Thä ler sich die trefflichsten und brauchbarsten Individualitä ten ausbilden, wie selbst noch unter dem Janhagel der Ebene die stolze Agitatorengestalt der Eiche sich erhebe“, Ludwig Steub, Drei Sommer in Tirol, Mü nchen 1846, S. 589. Roßmä ßler lä dt 1863 seine Leser dazu ein, „die einander ausschließenden geselligen Vereinigungen der Deutschen mit denen der deutschen Pflanzenwelt in Parallele zu stellen“ und spricht vom „sich selbst genü genden, heiteren Buchenwalde, dem niederes Volk schirmenden aristokratischen Eichenwalde oder dem plebejischen Weidendickicht des Flußufers“, Emil Adolf Roßmä ßler, Der Wald, S. 2. Hierzu Ulrich Linse, Der deutsche Wald als Kampfplatz, S. 340f. und Susanne Ude-Koeller, Auf gebahnten Wegen, S. 144–148.

278

6. Germanische „Waldfreiheit“ und deutsches „Naturgefü hl“

Konzepte wie Selektion, Daseinskampf und Hierarchie der Rassen instrumentalisiert.213 Operierte Riehl noch vornehmlich mit dem Negativbild ›waldferner‹ Kulturen aus der Gruppe der europä ischen Konkurrenznationen, so wurde im rassenideologisch geprä gten Umfeld der ›vö lkischen Bewegung‹ seit etwa den 1870er Jahren der „wurzellose Jude“214 oder ›Slawe‹ zur Antithese des ›germanischen‹ Waldbewohners stilisiert.

6.5. ›Deutsch‹ zwischen Waldestiefe und Burghö he Gestern erzä hlte mir R[ichard], wenn er sich so die alten kriegerischen Deutschen vorstellte, immer rastlos und immer kä mpfen, einzig heimisch in den kalten nordischen Wä ldern, so frü ge er sich, wie die Musik da entstanden sei, da sehe er plö tzlich den Mond ü ber dem Wald aufstehen, die Nachtschattenruhe aufsteigen, und eine Melodie wie die des Andante aus der Kreutzer-Sonate erklä nge vor seinen Ohren. Tagebucheintrag Cosima Wagners vom 7. September 1873215

Ob nun bei Herder, Hegel, Schlegel, Arndt, Jacob Grimm, Eichendorff216 oder Riehl: Die eng miteinander verwandten Topoi klimatisch bedingter, spezifisch deutscher 213

214

215 216

Um hierfü r ein sprechendes Beispiel aus der zeitgenö ssischen Belletristik anzufü hren: „Wer das so kö nnte wie der Wald: alles Schwä chliche und Niedrige von sich abstoßen, nur bestehen lassen, was stark ist und gesund – so stolz und aufrecht hinaussteigen ü ber den Schatten der Tiefe und die Helle suchen, die hohen, reinen Lü fte! Wer das so kö nnte!“, Ludwig Ganghofer, Das Schweigen im Walde, Bd. 1, Berlin 1899 (= Grote’sche Sammlung von Werken zeitgenö ssischer Schriftsteller 66), S. 22f. Hierzu Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 132 und Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 157–159. Am 27. Mai 1870 notiert Cosima Wagner in ihrem Tagebuch, dass „in der Zeitung ein Aufsatz ü ber den Wald“ des jü dischen Schriftstellers Berthold Auerbach erschienen sei. Auerbach war durch seine Schwarzwälder Dorfgeschichten (ab 1843) bekannt geworden und zeitweilig mit Richard Wagner befreundet, von dem er sich jedoch aufgrund dessen antisemitischen Einlassungen abwandte; siehe hierzu die knappe Darstellung bei Rosemarie Schuder, Deutsches Stiefmutterland. Wege zu Berthold Auerbach, Teetz 2003 (= Jü dische Memoiren 9), S. 212–216. Der stereotypen Zuschreibung jü discher ›Waldfremdheit‹ folgend, ä ußert Wagner ü ber Auerbachs Zeitungsaufsatz, „er habe ihn vor Ekel ü ber die affektierte Naturwü chsigkeit nicht lesen kö nnen“; Cosima zitiert ihren Mann weiter mit den Worten: „›diese Kerle sind eine wahre Pest‹ (die Juden)“, CT I, S. 235. – Der Okonom Werner Sombart versucht 1911, das „Judenproblem“ mit Verweis auf den Gegensatz von „Saharismus und Silvanismus“ zu erklä ren: Wä hrend die bä uerliche Wirtschaftsform „[a]us dem Walde […] erwachsen“ sei, stamme der Kapitalismus aus der „unendlichen Wü ste, aus der Herdenwirtschaft“, Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911, S. 425. Zum deutschen „Geprä ge“ fü hrt Sombart (ebenda, S. 424) aus: „Wasser und Wald und dampfende Scholle haben ihre Mä rchen, ihre Sagen, ihre Lieder […]. Ich weiß nicht, ob schon eine Doktordissertation vorhanden ist, die das Thema behandelt: Goethe und das Wasser: wenn nicht, so wä re es eine dankenswerte Aufgabe […]. Es wü rde sich zeigen, daß die echtesten Tö ne in den Goetheschen Dichtungen dem eigenartigen Zauber entsprungen sind, den die Dunst- und Nebelstimmung im deutschen Walde ü bt.“ CT I, S. 723. Eine beispielhafte Formulierung: „Ich meyne jene uralte, lebendige Freyheit, die uns in großen Wä ldern wie mit wehmü thigen Erinnerungen anweht, oder bey alten Burgen […], jene frische, ewigjunge Waldesbraut, nach welcher der Jä ger frü hmorgens aus den Dö rfern und Stä dten hinauszieht und sie

279

VI. Deutscher Wald

›Waldgesinnung‹ und ›Waldfreiheit‹, die insbesondere durch „Aufklä rung und Revolution als waldvernichtende Bewegungen“217 akut bedroht oder bereits beeinträ chtigt seien, blieben ü ber Jahrzehnte hinweg als konservative Argumentationsmuster prä sent, zumal im Laufe des 19. Jahrhunderts kulturgeographische Wechselbeziehungen zwischen ›Land und Leuten‹ verstä rkt in den wissenschaftlichen Fokus rü ckten. 218 Flankiert wurde diese Fokusverschiebung durch die romantische Hinwendung zum Popularen als dem ›authentischen‹ Reservat kultureller Erinnerungen. Robert P. Harrison fasst diese Entwicklung und die dabei der Waldlandschaft zukommende Bedeutung folgendermaßen zusammen: Fü r den romantischen Historiker war die Vergangenheit mehr eine Sache des Landes als eine der Hö fe. Diese Verschiebung […] verlieh Wä ldern in der romantischen Phantasie eine neue Art von Bedeutung oder besser Mystik. Dank ihrer eindrucksvollen Gegenwart in Volksü berlieferungen und Sagen betrachtete man Wä lder jetzt als etwas, das in entwicklungsgeschichtlicher wie in symbolischer Verbindung zu Erinnerung, Volkscharakter und alterslosen Formen der Volksweisheit stand.219

Kulturgeschichtliche Relevanz wurde – um ein oppositä res Begriffspaar Richard Wagners zu gebrauchen – zunehmend der „Waldwiese“ anstelle des „Palast[s]“ zugebilligt. 220 Vor dem Hintergrund dieser Verschiebung ist das wiederholt vorgebrachte und natü rlich nicht zuletzt der chauvinistischen Distinktion dienende Postulat eines spezifisch deutschen ›Naturgefü hls‹ einzuordnen, das sich in der Nationalkultur niedergeschlagen habe; konnte doch gerade die Fä higkeit zur Wertschä tzung erhabener Berg- und Waldnatur, die dem „rohen Menschen blos abschreckend“ schien, als Ausweis einer „bey weitem grö ßere[n] Cultur […] der [sic] Erkenntnisvermö gen“ (Kant 221 ) und eines hö heren moralischen Standpunkts geltend gemacht werden.

217

218

219

220 221

mit seinem Horne lockt und ruft, jener reine, kü hle Lebensathem, den die Gebirgsvö lker auf ihren Alpen einsaugen, daß sie nicht anders leben kö nnen, als wie es der Ehre geziemt. – Aber damit ist es nun aus.“, Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, S. 460. Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 57–59. Vgl. zur Thematik der Waldfreiheit Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung, S. 83f. Zur konservativen Opposition von ›alter Freiheit‹ und franzö sischer ›liberté ‹ siehe Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft, S. 164f. War die Legitimation der an politischen Staatengrenzen orientierten historischen Geographie durch die Umwä lzungen des Wiener Kongresses (1814/15) grundlegend infrage gestellt worden, so lenkten Carl Ritter, Alexander von Humboldt und Riehl das Forschungsinteresse auf vorstaatliche Wechselbeziehungen zwischen Landesnatur, Geschichte und Bewohnern, wobei sie Anknü pfungspunkte bei Montesquieus Theorie der klimatischen Kulturrelativitä t und Herders ›geologischer Anthropologie‹ fanden; hierzu Jasper von Altenbockum, Wilhelm Heinrich Riehl, S. 126–129. Robert P. Harrison, Wälder, S. 198. In aphoristischer Weise wurde solcher Zusammenhang bereits von Riehl hergestellt: „[V]on dem Augenblick, wo den Poeten der Wald nicht mehr zu unordentlich erschienen ist, erscheint ihnen auch das derbkrä ftige Volksthum nicht mehr zu unsauber und struppig zur kü nstlerischen Gestaltung.“, Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 33. Vgl. Kapitel VIII.2. „Denn, so wie wir dem, der in der Beurtheilung eines Gegenstandes der Natur, welchen wir schö n finden, gleichgü ltig ist, Mangel des Geschmacks vorwerfen, so sagen wir von dem, der bey dem, was wir erhaben zu seyn urtheilen, unbewegt bleibt, er habe kein Gefühl […].“, Immanuel Kant, Critik der

280

6. Germanische „Waldfreiheit“ und deutsches „Naturgefü hl“

Die politische Polyzentrik der deutschen Kleinstaaten, ihre rural geprä gte Siedlungsstruktur und der relativ hohe Bewaldungsgrad wurden im 19. Jahrhundert zur Garantie fortwä hrenden und besonders intensiven Einflusses der Umgebungsnatur auf die deutsche Bevö lkerung erklä rt.222 Eine verbreitete These lautete kurzum: ›Der Deutsche‹ (und mit ihm seine kulturellen Hervorbringungen) zeichne sich durch vertieftes ›Naturgefü hl‹ aus, da er den relevanten ›klimatischen‹ Eindrü cken in stä rkerem Maße exponiert (gewesen) sei als etwa ›der Romane‹. Demgemä ß leitet auch Ludwig Uhland – unter erneuter Berufung auf Tacitus223 – in einer seit den 1840er Jahren erarbeiteten, aber erst postum verö ffentlichten Abhandlung über die deutschen Volkslieder das „tiefgepflanzte Naturgefü hl“ der Deutschen aus dem Spezifikum des „altgermanische[n] Sonderwohnen[s]“ her: Das altgermanische Sonderwohnen am Quell, im Feld und Holz (Germ. c. 16.), ergab einen tä glichen, trauten Verkehr mit Allem, was im Freien sichtbar und regsam ist; dieses lä ndliche Einzelleben setzte sich im Burgwesen fort, das nur stolzer und weitschauender in Wind und Wolken hinausgebaut war. Von den Einflü ssen dieses Naturverkehrs, von der angestammten Wald- und Feldlust, war nun das deutsche Leben auch in allen geistigen und sittlich-geselligen Richtungen durchdrungen. Laut der frü hesten Kunde vom religiö sen Geiste der Germanen, faßten sie ihre Gö tter

222

223

Urtheilskraft, § 29, S. 108–111. Schon der bü rgerliche Naturkult der Empfindsamkeit zeichnete sich durch einen elitä ren Gestus aus; durch ü berschwä ngliche Schilderungen der eigenen, freien Genussfä higkeit wollte man sich von den Bauern „als nicht ä sthetisch agierende[n] Landschaftsnutzer[n]“ ebenso wie von oberflä chlichen Auslä ndern (Touristen) abheben, Gudrun M. Kö nig, Ausgegrenzt und einverleibt, S. 176 und Helmut J. Schneider, Naturerfahrung und Idylle, S. 300. Vgl. etwa die bereits bei Rousseau artikulierte Abgrenzung von den ›unsensiblen Anderen‹: „Ce lieu solitaire formoit un reduit sauvage & desert; mais plein de ces fortes de beauté s qui ne plaisent qu’aux ames sensibles & paroissent horribles aux autres.“, Jean-Jacques Rousseau, Julie, ou la Nouvelle Héloïse, Bd. 4, lettre 17, hier S. 320. Vom „Glü ck der Rü ckstä ndigkeit“ spricht in diesem Betreff Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 132. Besonders zur Distinktion vom zentralistisch geprä gten Frankreich wurden die genannten Aspekte wiederholt stark gemacht, so etwa in der einflussreichen Darstellung De l’Allemagne der Germaine de Staë l, wo der deutsche Waldreichtum mit intensivem ›Naturgefü hl‹ assoziiert wird (S. 213f.) und als Indikator einer zwar kulturell noch ungefestigten, dafü r aber zukunftsfä higen Zivilisation dient: „Große hä ufige Waldstrecken deuten auf eine noch junge Zivilisation, der lang bewohnte sü dliche Boden [Frankreichs] trä gt wenig Bä ume, kein Schatten schü tzt gegen die senkrechten Strahlen der Sonne dieses durch Menschenhand nackte Erdreich. Deutschland trä gt noch hier und da Spuren einer unbewohnten Natur. Von den Alpen bis zum Meere, zwischen dem Rhein und der Donau, findet man ein mit Eichen und Fichten bewachsenes Land, von majestä tisch-schö nen Flü ssen durchschnitten, von Bergen malerischer Ansicht durchkreuzt.“, Monika Bosse (Hg.), Anne Germaine de Staël: Über Deutschland. Vollständige und neu durchgesehene Fassung der deutschen Erstausgabe von 1814, Frankfurt a.M. 1985 (= Insel-Taschenbuch 623), S. 23. Als zeitgenö ssischer Reprä sentant des englischen Deutschlandbildes kann der Mediziner Bisset Hawkins zu Wort kommen: „At present several extensive forests still stud the traveller’s road […]. The care of these forests […] lends a peculiar trait to German life, and not the only one which originates in its local circumstances. It is in the mountains and forests of Germany that we must wander in search of wild tradition, fairy lore, and still surviving specimens of bold, racy, pastoral character […].“, Bisset Hawkins, Germany. The spirit of her history, literature, social condition, and national economy; illustrated […] by comparison with other countries, London 1838, S. 41. „Nullas Germanorum populis urbes habitari satis notum est, ne pati quidem inter se iunctas sedes. colunt discreti ac diversi, ut fons, ut campus, ut nemus placuit.“, Tacitus, Germania, 16,1.

281

VI. Deutscher Wald

nicht in Bilder und Wä nde, sondern verehrten ein Unsichtbares im Schatten geweihter Haine […]; so verwob sich ihnen das heiligste Geheimniß des ahnenden Geistes mit dem Eindruck der tiefgrü nen Waldesnacht.224

Der tä gliche „Naturverkehr[]“ ist als determinierender Faktor der gesamten deutschen Kulturproduktion angesetzt. Gerade der Waldlandschaft als Projektionsflä che des idealistisch „ahnenden Geistes“ wird maßgeblicher, auf die Erzeugnisse ›abfä rbender‹ Einfluss eingerä umt: Von den Kü nsten ist es nicht bloß die Poesie, die, auf dem Land und umwaldeten Burgen erwachsen, davon ihre grü ne Farbe trä gt; der alten Musik wird es nicht an Nachhallen des Jä gerschreis und Berghirtenrufes fehlen; aber auch diejenigen Kü nste, die innerhalb der stä dtischen oder klö sterlichen Ringmauern groß geworden sind, verlä ugnen nicht das tiefgepflanzte Naturgefü hl […].225

Von gleichen Prä missen ausgehend, beansprucht auch Eichendorff in seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1857) ein besonders „tiefe[s] Na t urg ef ü h l “ fü r die deutsche Poesie, die sich dadurch „noch bis heut […] von der Poesie aller anderen Nationen unterscheidet“226. Die so behauptete Persistenz setzt Stabilitä t der maßgeblichen ›klimatischen‹ Faktoren voraus. Ergä nzt wird das fü r ›germanisch‹ reklamierte, isoliert-innige Naturverhä ltnis durch eine christlichtranszendentale Ausrichtung, die sich bei Uhland im Bild der himmelwä rts ü ber die Bä ume hinaus strebenden Burg ausdrü ckt.227

224

225 226

227

Ludwig Uhland, Abhandlung über die deutschen Volkslieder, in: Franz Pfeiffer (Hg.), Ludwig Uhland: Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder mit Abhandlung und Anmerkungen, Bd. 2, Stuttgart 1866 (= Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage 3), S. 13f. Ebenda, S. 14. „Daher bauten die germanischen Vö lker nur wenige Stä dte, sondern wä hlten ihren Wohnsitz, ohne Rü cksicht auf gemeines Bedü rfniß, am liebsten auf freien Hö hen oder in einsamen Thä lern. Daher das tiefe N a t u r g e f ü h l , das in Deutschland alle Wandelungen der Jahrhunderte ü berlebt hat, und noch bis heut, wie ein erfrischender Waldeshauch, auch unsere Poesie, wenn wir etwa den wesentlich germanischen Shakespeare ausnehmen, von der Poesie aller anderen Nationen unterscheidet.“, Joseph von Eichendorff, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, Bd. 1, S. 28. Die ›Germanizitä t‹ Shakespeares wurde, so wie hier, nicht zuletzt an seinem besonderen ›Naturgefü hl‹ und seiner Fä higkeit zur poetischen Walddarstellung festgemacht. Riehl wü rdigte ihn als Kü nstler, „der des Waldes Herrlichkeit tiefer als Alle poetisch ausgekundet hat“, Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 33. Das Ideal der deutschen Burg, deren Bewohner „[w]enn der Frü hling grü net“ unmittelbar den ›naturpoetischen‹ Eindrü cken des umgebenden Waldes („dumpfe Lieder rauschen“) ausgesetzt sind, im Winter hingegen heimlich zurü ckgezogen „bei frö hlichem Feuer / […] alten Geschichten“ lauschen, findet sich bereits in Friedrich Schlegels Gedicht Bei der Wartburg (1802) ausgeprä gt. Auf dieses Gedicht wiederum bezieht sich Tieck in seiner autobiographisch inspirierten Novelle Eine Sommerreise (1834): „In Eisenach besuchte man die Wartburg und erinnerte sich des Gedichtes von Friedrich Schlegel. Der Deutsche, bemerkte Ferdinand, hat immer noch seine eigenthü mliche Freude an der Herrlichkeit der Wä lder; vor diesen Ausblicken, die uns entzü cken, graut dem Italiä ner und die ü brigen Nationen empfinden doch schwerlich jenes heilige Grauen oder jene feierlich andä chtige Stimmung, die uns in Waldgebirgen oder im einsamen dunkeln Forst ergreift.“, Ludwig Tieck, Eine Sommerreise. Novelle, in: Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1834, Leipzig 1834, S. 73–237 (hier S. 205f.).

282

6. Germanische „Waldfreiheit“ und deutsches „Naturgefü hl“

Richard Wagner, der im Juni 1873 die Lektü re von Uhlands sagenkundlichen Schriften aufgenommen hatte228, knü pft in seinem Essay Was ist deutsch? (1878) bei dieser Imagination des zwischen Waldestiefe und Burghö he verorteten ›Deutschen‹ an: In rauhen Wä ldern, im langen Winter, am wä rmenden Herdfeuer seines hoch in die Lü fte ragenden Burggemaches pflegte er lange Zeit Urvä tererinnerungen, bildet seine heimischen Gö ttermythen in unerschö pflich mannigfaltige Sagen um.229

„[V]oll der fremden Eindrü cke“ kehre ›der Deutsche‹ von Wanderungen heim; in trauter Abgeschiedenheit „am heimischen Herde erzä hlt er, was er draußen sah und erlebte.“ Der rä umlichen Dialektik von Wald und Burg entspricht eine jahreszeitliche: Verweist die winterliche Rauheit der klimatischen Umwelt den Geist „hoch in die Lü fte“, in idealistische Sphä ren der Metaphysik, so holt ihn der Frü hling zurü ck in die irdische Sinnlichkeit des Waldes. In Verse gefasst findet sich eben diese Dialektik zuvor bereits in der Meistersinger-Dichtung ausgefü hrt, indem Walther von Stolzing seiner Lektü re des „alte[n] Buch[s] […] [a]m stillen Herd in Winterszeit, / wenn Burg und Hof mir eingeschnei’t“ 230 , das komplementä re Erlebnis der „Waldespracht“ im Frü hling gegenü berstellt und seine Poesie als subjektive Synthese beider Einflü sse charakterisiert: „Was Winternacht, / was Waldes Pracht, / was Buch und Hain mich wiesen; […] zu eig’nem Wort und eig’ner Weis’ / will einig es mir fließen“231.

QR „Wir sind das innerlichste Volk. Unser Wald ist berü hmt durch forstliche Pflege.“232 – Als lä ge der logische Zusammenhang der beiden Sä tze auf der Hand, reiht der Schriftsteller Friedrich Lienhard sie in einer Kriegsbroschü re von 1915 aneinander. Gleichsam als Erlä uterung schickt er nach: „Wir lieben des Waldes Innerlichkeit und Tiefe; das Waldweben im ›Siegfried‹ und der Karfreitagszauber in desselben deutschen Meisters ›Parsifal‹ sind jedem gebildeten Deutschen bekannt und lieb. […] Deutsches Gemü t und deutsche Natur, obenan der Wald, gehö ren zusammen.“ 233

228

229

230 231 232 233

Cosimas Tagebucheintrag vom 25. Juni 1873: „Abends Geschichte der Sagenpoesie von Uhland, mit großem Interesse begonnen“, CT I, S. 698f. Fortsetzungen der Lektü re sind durch die Tagebü cher bis in den Herbst des Jahres hinein belegt. Richard Wagner, Was ist Deutsch?, in: Bayreuther Blä tter 1 (1878), 2. Stü ck (Februar), S. 29–42 (hier S. 35). Dass „[d]as wahrhaft Eigenthü mliche des Deutschen […] immer provinzial“ bleibe, dieser „Mangel an Centralisation“ aber nicht nur ein Defizit sei, sondern auch „der Grund, daß die Musik bei den Deutschen einen so innigen und wahren Charakter“ besitze, erklä rt Wagner in seiner Schrift Über deutsches Musikwesen (GSD, Bd. 1, S. 185–206, hier S. 190). Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, in: ders., GSD, Bd. 7, Leipzig 1873, S. 237. Ebenda, S. 239f. Zur Synthese von „Buch und Hain“ vgl. weiterhin die Kapitel I.4.4. und VIII.3.2. Friedrich Lienhard, Deutschlands europäische Sendung, Stuttgart 21915, S. 25. Ebenda, S. 25f.

283

VI. Deutscher Wald

Die ›deutsche Trias‹ von Innerlichkeit, Wald und Musik war im frü hen 20. Jahrhundert, auch ü ber das vö lkische Milieu hinaus, als selbstverstä ndlicher Gemeinplatz etabliert. Was bei Lienhard in diskursiver Engfü hrung zusammengedrä ngt ist, reicht freilich mit seinen ideologischen Wurzeln bis weit in das 19. Jahrhundert zurü ck. Frü he Ansä tze zu dieser eigenartigen „Symbiose“, die sich „der rationalen Auflö sung programmatisch widersetzt“, konstatiert Elmar Budde bereits mit Blick auf die Rezeption des Freischütz.234 Als Ausdruckskunst schien die Musik vorzü glich befä higt, den von der Romantik zum Naturraum (außen-)weltabgewandter Innerlichkeit stilisierten und in seiner unergrü ndlichen Tiefe mit dem „tiefen Gemü t“235 des Deutschen verglichenen Wald zum Klingen zu bringen. „Man denke an die Scenen des Waldwebens“, fordert in diesem Sinne Hans von Wolzogen in einem Vortrag ü ber Wagners Siegfried, „und vertiefe sich in die Wunder der Musik, welche diesen innigen Beziehungen des Menschen zur Natur so unvergleichlich wahrhaftigen […] Ausdruck gibt“, um „darin die einzig ü berzeugend wahre, lebendige Antwort auf die […] Frage: was denn nun eigentlich d eutsc h sei?“236, zu erhalten.

7. Ideallandschaft und „Tatsachenpartikel“ Imaginierte Ideallandschaften erfü llen im Kontext des ›nation building‹ eine konstitutive Funktion: In einem diskursiven „process of picturing“ wird „an icon of a place, unpeopled, dehumanized and often unreal“ ausgehandelt, das „grand narratives about national heritage, identity and the natural landscape of a nation“ transportiert und – sofern es gesellschaftliche Akzeptanz findet – zum „reference point“ fü r die tatsä chlich vorhandene Umwelt wird, „as if it is fact.“237 Auf die Herausbildung des Mnemotopos ›deutscher Wald‹ im 19. Jahrhundert lä sst sich dieses von Divya P. Tolia-Kelly beschriebene Schema trefflich anwenden. Mit hö herer Legitimitä t als die geographisch konkretisierten Ideallandschaften ›deutscher Rhein‹ oder ›deutsche Alpen‹ konnte ›deutscher Wald‹ sich als landschaftliche Verortung geteilter Erinnerungen und kollektiver Ideen einer Nation behaupten. 238 Die hinsichtlich ihres genauen Erscheinungsbildes relativ deutungsoffene Projektion des ›deutschen Waldes‹ konnte problemlos zum „reference point“ einer großen Bandbreite der im 234 235

236 237 238

Elmar Budde, Der Wald in der Musik, S. 47. So etwa in einem anonymen Zeitungsaufsatz von 1883, der auf die Frage, warum „der Deutsche am innigsten an seinem Walde hä nge“, wiederum die Antwort gibt: „Weil er am meisten Gemü tsmensch ist“, Die Deutschen und ihr Wald, in: Leitmeritzer Zeitung 13, Nr. 49 (30. Juni 1883), S. 659f. (hier S. 659). Vgl. auch: „So schwierig es ist, den Charakter eines Volkes im Allgemeinen zu bestimmen, so leicht lassen sich einzelne Eigenthü mlichkeiten desselben herausfinden. Von denjenigen, welche bei uns Deutschen in Frage kommen, nimmt die Liebe zum Walde eine hervorragende Stelle ein“, Ferdinand Lindner, Der Hasbruch. Ein deutsches Waldbild, in: Die Gartenlaube 28 (1880), Heft 26, S. 423– 427 (hier S. 423). Hans von Wolzogen, Wagners Siegfried, Leipzig 1879 (= Sammlung musikalischer Vorträ ge 2), S. 70. Divya P. Tolia-Kelly, Landscape and memory, S. 322f. Zur Bedeutung von Wald und Rhein fü r eine „paysage national allemand“ siehe auch François Walter, Allemagne – France, S. 76–81.

284

7. Ideallandschaft und „Tatsachenpartikel“

deutschsprachigen Gebiet vorgefundenen Naturrä ume werden – vom Gebirgsnadelwald bis zum Auwald.239 Als „imagined landscape“ nahm (und nimmt) der ›deutsche Wald‹ eine vermittelnde Position zwischen ideeller Fiktion und empirischer Realitä t ein. Wie Zechner resü miert, bedient sich das Denkbild „einzelne[r] Tatsachenpartikel“, unterscheidet sich demnach von rein nominalistischer Erfindung durch partiellen Tatsachenbezug und Verwirklichungsperspektive.240 Historisch-kulturelle „Tatsachenpartikel“ flossen auch bei der Nutzbarmachung des ›deutschen Waldes‹ zur Distinktion von Frankreich und anderen konkurrierenden Nationen ein: Tatsä chlich hatten hoher militä rischer Ressourcenbedarf, Waldprivatisierungen zur Staatsentschuldung und zeitweiliger Kontrollverlust der ›Administration des Eaux et Forê ts‹ im Umfeld der Revolution zu einem immensen Raubbau an franzö sischen Wä ldern gefü hrt. Diese Faktoren nä hrten, wie Kieko Matteson in einer detaillierten Studie darlegt, die Herausbildung einer „politically useful légende noire of environmental destruction at the hands of an anarchic peasantry during the Revolution.“241 Dass sich das Schreckbild des waldverheerenden Franzosen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, zumal in der konservativen Publizistik, weiter Verbreitung erfreute, braucht somit kaum zu verwundern.242 Auch der ›jungdeutsche‹ Heinrich Laube erlaubt sich in seinem Jagdbrevier (1841) den hä mischen Seitenhieb:

239

240 241

242

Regelmä ßig zu beobachten ist dabei das von Tolia-Kelly beschriebene Ausblenden menschlicher Prä senz und kultivierenden Eingriffs. Bezeichnend ist hierfü r etwa folgende Stelle aus einem Brief, den Johann G. Herder im Juli 1772 aus Bad Pyrmont an seine Braut Caroline Flachsland schrieb: „Ich bin jetzt auf dem Lande, in der schö nsten, kü hnsten, Deutschesten, Romantischsten Gegend von der Welt. Eben das Feld, wo Hermann focht, u. Varus geschlagen ward; noch jetzt ein fü rchterliches kü hnes Romantisches Thal, mit sonderbaren Gebü rgen umgeben – so viel bei Alle dem von der Deutschen Tapferkeit u. dem Klopstockschen Ideal von Sitte u. Grö ße abgehen mö chte – so sehr wird doch die Seele durch die ganze kü hne, sonderbare Haltung dieses Deutschlands in einen Ton gestimmt, daß es eine schö ne, rauhe Deutsche Natur gebe; nicht Traubengebü rge u. Cedernhaine, aber kü hnen Forst, Eichen u. Buchen u. Wü rfe des Erdballs. Nur, wie sehr sind immer die Menschen der Deutschen schö nen Natur unä hnlich.“, zitiert nach Alexander Demandt, Der Baum, S. 280. Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 219f. Kieko Matteson, Forests in Revolutionary France. Conservation, Community, and Conflict, 1669–1848, Cambridge 2015, S. 109. Vgl. auch Joachim Radkau, Holzverknappung und Krisenbewußtsein, S. 537– 539 und Gottfried Pagenstert, Forstliche Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, S. 29. Eindringlich mahnt etwa in den 1840er Jahren der franzö sische Nationalö konom Adolphe Blanqui vor der „funeste tendance“ alpiner Entwaldung, die sich „principalement au commencement de la ré volution française“ manifestiert habe: „[Il] n’y a pas de temps à perdre, ou bien, dans cinquante ans d’ici, le France sera sé paré e du Pié mont, comme l’Egypte de la Syrie, par un dé sert.“, [Adolphe] Blanqui, Rapport sur la situation économique des départements de la frontière des Alpes Isère, Hautes-Alpes, Basses-Alpes et var, in: Mignet (Hg.), Séances et travaux de l’Académie des sciences morales et politiques, Bd. 4, Paris 1843, S. 351–384 (hier S. 363f.). Klaus Lindemann, „Deutsch Panier, das rauschend wallt“, S. 126–128. „Jede Revolution thut dem Wald weh“, mahnt Riehl, auch mit Blick auf die jü ngeren Ereignisse der Jahre 1848/49, Wilhelm Heinrich Riehl, Land und Leute, S. 26. Zum Spannungsfeld von Wald und Revolution bei Riehl siehe auch Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 122–125. Anknü pfend an die etablierte Zuschreibung notiert Cosima Wagner wenige Tage nach der Schlacht von Sedan in ihr Tagebuch: „Die Franzosen verheeren ihre Wä lder, reißen ihre Villen nieder; wie Kinder bezeigen sie ihren Mut im Vandalisieren.“, Eintrag vom 22. September 1870, CT I, S. 287f. (hier S. 288).

285

VI. Deutscher Wald

Wo giebt es wohl noch Jä gerei, Als wie im deutschen Land? Der Franzos’ hat sein Land ü berlichtet, Nichts schonend die Jagd sich vernichtet, Schießt singende Vö gel, der Fant!243

Tendenziell wurde in Frankreich, wie auch in England, der Schutz der Waldungen stä rker als „im deutschen Land“ mit dem Herrschaftsanspruch des ›Ancien Ré gime‹ in Verbindung gebracht und als Ausdruck fü rstlicher Selbstherrlichkeit abgelehnt.244 Hingegen blieb der Wald in deutschen Gebieten noch relativ lange in bä uerliche und unterbä uerliche Nutzungen eingebunden und wurde als ›Nä hrwald‹ geschä tzt. 245 War Großbritannien in Folge der unter kö niglichem Bann stehenden Jagdgebiete (›forests‹) noch bis in 16. Jahrhundert stark bewaldet, so kam es dort in der Folge durch Auflö sung der Allmenden (›Enclosure movement‹) und landwirtschaftliche Intensivierung zu einem rasanten Rü ckgang der Waldbestä nde. Bis 1800 sank deren Anteil auf unter 5% der Landesflä che, was nicht zuletzt durch die negative Einstellung der englischen Landbevö lkerung zum ›aristokratisch‹ besetzten Wald zu erklä ren ist.246 Auch die Situation in England wird von Heinrich Laube karikiert und abfä llig dem „deutsche[n] Jagdgedeihn“ gegenü bergestellt: In Engelland, da ist nichts mehr, Als nur das Huhn zu Haus’, Fabriken klappern und stampfen, Maschinen hä mmern und dampfen, Das hä lt kein Wildpret aus. Die ernste, strenge Jä gerei, Die kennen wir allein, In Wald und Feld zu leben, Vertieft in Ursprungs-Weben Ist deutsches Jagdgedeihn.247

Sein jagdliches Trinklied (Bei der Flasche) beschließt Laube, der ü brigens selbst passionierter ›Sonntagsjä ger‹248 war, mit dem Appell:

243 244 245

246

247 248

Heinrich Laube, Bei der Flasche, in: ders., Jagdbrevier, Leipzig 1841, S. 229f. (hier S. 229). Joachim Radkau, Holzverknappung und Krisenbewußtsein, S. 539f. So erreichte etwa die Waldweidenutzung in den Jahren 1780–1800 einen spä ten Hö hepunkt, Kurt Mantel, Wald und Forst in der Geschichte, S. 94. Siehe auch Hansjö rg Bruland, Wilde Kinder, S. 84. Eine Zusammenfassung der Einstellungen zum Wald in Frankreich und England gibt Hansjö rg Bruland, Wilde Kinder, S. 82–84. Heinrich Laube, Bei der Flasche, in: ders., Jagdbrevier, S. 229f. Wä hrend seines Wienaufenthalts 1861 fand Richard Wagner sich wiederholt „zum Mitgenuß“ am Mittagstisch seines „alten Freund[es] Heinrich Laube“ ein, den dieser „als passionierter Jä ger durch frisches Wildpret zu bereichern wußte“, Richard Wagner, Mein Leben, S. 681.

286

8. Exkurs: „Der Wald in der Musik der Germanen“

Wenn’s gilt das Reich zu wahren, Wir sind in Waffen erfahren, Hoch! tapf’res Jä gerblut!249

8. Exkurs: „Der Wald in der Musik der Germanen“ Ab 1933 wurde der ›deutsche Wald‹ zum mannigfach anschlussfä higen Bestandteil der Partei- und Staatsideologie.250 Wald-Volk-Analogien wurden von den Nationalsozialisten nicht zuletzt deshalb programmatisch vereinnahmt, weil die deutsche Offentlichkeit mit ihnen bereits jahrzehntelang vertraut war.251 Gerade anhand der Bereiche Naturschutz und Forstpolitik lä sst sich aufzeigen, welche Bandbreite heterogener, mitunter konträ rer Standpunkte innerhalb des totalitä ren Systems mö glich war.252 Die ü berkommenen Zutaten vö lkischer Waldideologie fasste Gö ring 1936 in einer Rede unter dem Motto „Ewiger Wald – ewiges Volk“253 zusammen. Zu den wissenschaftspolitischen Anstrengungen, die unternommen wurden, um diese Verbundenheit historiographisch zu fundieren, gehö rte nicht zuletzt der Versuch, die wichtigste Handschrift der taciteischen Germania aus Italien nach Deutschland zu schaffen. Trotz Mussolinis Zusage musste man sich aber letztlich mit einer Fotokopie begnü gen.254 Wo die Forschung nicht das gewü nschte Ergebnis brachte, schritt man zur „Neu-Inszenierung“255. Besonders ambitioniert war die „Filmdichtung“ Ewiger Wald (1936).256 Eine „Ouvertü re“ fü r Orchester und Chor erö ffnet den 249

250 251

252

253

254

255

256

Heinrich Laube, Bei der Flasche, in: ders., Jagdbrevier, S. 230. Die Verse gemahnen an die enge Verbindung, die zwischen dem allgemeinen Jagdrecht und der in der Mä rzrevolution geforderten Volksbewaffnung bestand. Bei Robert Schumann, der diesen und vier weitere Gesänge aus H. Laube’s Jagdbrevier im Revolutionsjahr 1849 fü r Mä nnerchor und Waldhornquartett (op. 137) vertonte, sind die letzten Worte zu „deutsches Jä gerblut“ abgewandelt. Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 161–193. „Since the turn of the century there had been a swelling current of vö lkisch propaganda that used the forest […] as an analogy of the German state and nation. In fact, the Nazis likely adopted the vö lkisch analogy between forest and nation precisely because it was an idea with which the public was quite familiar already.“, Michael Imort, „Eternal Forest – Eternal Volk“. The Rhetoric and Reality of National Socialist Forest Policy, in: Franz-Josef Brü ggemeier u.a. (Hg.), How green were the Nazis? Nature, Environment, and Nation in the Third Reich, Athens 2005, S. 43–72 (hier S. 56). Zu Naturschutz und Forstpolitik im Nationalsozialismus siehe ausfü hrlicher ebenda und Frank Uekö tter, The green and the brown. A history of conservation in Nazi Germany, Cambridge 2006. Zitiert bei Albrecht Lehmann, Der deutsche Wald, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, S. 192. Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 91–97 und Christopher B. Krebs, Ein gefährliches Buch, S. 9–12. Johannes Zechner, Vom Naturideal zur Weltanschauung: Die Politisierung und Ideologisierung des deutschen Waldes zwischen Romantik und Nationalsozialismus, in: Ann-Katrin Thomm (Hg.), Mythos Wald, Mü nster 2009, S. 35–41 (hier S. 39). Schama deutet in seiner Studie an, dass im Dritten Reich auch die Wagner-Rezeption wesentlich an der nationalsozialistischen Waldideologie partizipierte, Simon Schama, Der Traum von der Wildnis, S. 136. Eine Auswahl der relativ ergiebigen Literatur zu diesem Film: Thomas Meder, Die Deutschen als WaldVolk. Der Kulturfilm ›Ewiger Wald‹ (1936), in: Giuli Liebman Parrinello (Hg.), Il bosco nella cultura europea tra realtà e immaginario, S. 105–129, Kerstin Stutterheim, Ute Jung-Kaiser, Addendum: Ewiger Wald (1936). Eine symphonische Filmdichtung, in: Ute Jung-Kaiser (Hg.), Der Wald als romantischer Topos, S. 255–258, sowie Johannes Zechner, Der deutsche Wald, S. 187–191. Ré my Sanvoisin kommt

287

VI. Deutscher Wald

knapp 90-minü tigen Film. Die Musik von Wolfgang Zeller macht Gebrauch „d’une é criture vocale polyphonique é voquant le genre sacré , et parfois celle du choral luthé rien.“257 Montierte Bildü berblendungen verwandeln Baumreihen zu Soldaten in Reih und Glied, lassen die Pfeiler, Gewö lbe und Rosetten eines gotischen Doms mit Baumstä mmen und Wipfeln verschmelzen. Im Herbst 1937 nahm das von der Forschungsgemeinschaft ›SS Ahnenerbe‹ getragene Projekt ›Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kulturgeschichte‹ seine Arbeit auf. Mit mehr als 60 geplanten Monographien bildete es das grö ßte geisteswissenschaftliche Forschungsvorhaben im Dritten Reich.258 Eine erste Ubersicht der zu behandelnden Themen fü hrte an neunter Stelle „Der Wald in der Dichtung und in der Musik der Germanen“ an.259 Offenbar wurde dieser Themenkomplex fü r zu weit gefasst befunden und deshalb auf zwei Bä nde und Bearbeiter aufgeteilt: Dietz Degen, der beim Bä renreiter-Verlag eine Geschichte der Blockflöte in den germanischen Ländern (1937) und diverse Notenausgaben fü r Blockflö te verö ffentlicht hatte, wurde mit dem Thema „Der Wald in der Musik der Germanen“ betraut.260 Wä hrend der Kriegsjahre lief das Projekt auf Sparflamme weiter. Mitte 1944 musste Dietz jedoch dem ›Ahnenerbe‹ mitteilen, dass all seine Unterlagen bei einem Bombenangriff vernichtet worden seien.261

257

258

259 260

261

in einem Aufsatz zu dem Schluss, dass Ewiger Wald nicht nur auf formaler, sondern auch auf inhaltlicher Ebene ä sthetische und philosophische Ansä tze Richard Wagners aufgreife; dabei zeige sich „une forme de transposition de la conception esthé tique de Wagner en une conception politique.“ (S. 11), Ré my Sanvoisin, ›Ewiger Wald‹ et la figure tutélaire de Richard Wagner. Art total et instrumentalisation de la musique sous le nazisme, in: ILCEA 23 (2015), online-Ausgabe, hier besonders S. 9–13. Ré my Sanvoisin, ›Ewiger Wald‹ et la figure tutélaire de Richard Wagner, S. 4. Um die pathostriefenden Verse akustisch verstehen zu kö nnen, mussten Kinobesucher zu einem Libretto greifen, Thomas Meder, Die Deutschen als Wald-Volk, S. 114. Ein lä ngerer Ausschnitt des Films ist im Internet Archive (