Wahrnehmen und Lernen. Die Feldenkrais-Methode und der Pragmatismus Deweys 9783873874480

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Wahrnehmen und Lernen. Die Feldenkrais-Methode und der Pragmatismus Deweys
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GerhardWallner

Wahrnehme undLernen DieFeldenkrais-Methode und der Pragmatismus Deweys

Gerhard Wallner Wahrnehmen und Lernen Die Feldenkrais-Methode und der Pragmatismus Deweys

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Gerhard Wallner

Wahrnehmen und Lernen Die Feldenkrais-Methode und der Pragmatismus Deweys

Junfermann Verlag • Paderborn

2000

© Junfermannsche Verlagsbuchhandlung, Paderborn 2000 Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissen schaft und Kultur in Wien

Alle Rechte vorbehalten . Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberr echtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen , Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: adrupa Paderborn

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Wallner, Gerhard: Wahrnehmen und Lernen: Die Feldenkrais-Methode und der Pragmatismus Deweys / Gerhard Wallner - Paderborn: Junfermann , 2000 ISBN 3-87387-448-2

ISBN 3-87387-448-2

Inhalt

1.

Einleitung.

1.

2. 3. 4. 5. 6. 7.

Die Feldenkrais-Me chode . Ein biographischer Überblick . Funktionale Integration als Individualmethode . Bewußtheit durch Bewegung als Gruppe nmethod e . Kriterien einer guten Bewegung . Korrekte Körperhaltung . Organisches Lernen .

II.

Bewegungsanalyse.

7 7

12 14 19 23 26 34

39 39 41 41 45 48 71

Einleitung. 2. Strukturanalyse der Lektion . a) Bewegungsanalytische Darstellung mit Bildserie b) Darstellung der zeitlich abgestimmten Ab läufe als Chronogramm 2.1 Interpretation der Feldenkraislekcion 3. Zusammenfassung . 1.

III. Lerntheoretische Aspekte der Feldenkrais-Methode 1.

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

John Dewey. Der Einfluß der Umwelt. Dualismus und Kontinuität . Erfahrungen . Wie wir denken . Konkretes und abstraktes Denken . Denken und Handeln . Ziele und die Miccel, um sie zu erreichen Ändere sich die menschliche Natur? .

.

73 73 81 83 85 90 94 95 100 103

6 • Wahrnehmen

und

Le r nen

IV. Subjektive Wahrnehmungen

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Das Selbstbild . . . . . . . . . . . . . Menschliche Gewohnheitsbi ldun g . . . Sinnesorgane und subjektive Innenwelt . Introspektion und Aufmerksamkeit . Incellekcuelles Wissen . Denken . . . Ordn un g . . Unsic herheit .

107 107 113 118 128 130 132 135 138

V.

Zusammenfassung

.

143

.

Bildserie der Feldenkrais lektion .

149 149

VII.

Anmerkungen

162

VIII.

Quellenverzeichnis

1.

VI. Anhang . .. .....

. . .

166

1. Einleitung

1. Die Feldenkrais-Methode

D

as Leben ein~s Mensc~en ist ein k?ntin~ ierlicher Prozeß, und wenn es ~twas zu verbessern gibt, dann m der Qualität dieses Vorgangs - laut Feldenkrais - und 1 nicht in den Veranlagungen oder Eigenschaften, die jemand besitzt. Viele Faktoren beeinflussen diesen Prozeß, und sie sind miteinander so zu kombinieren, daß er fließend und selbstregulierend wird. Je klarer die fundamentalen Grundlagen dieses Prozesses verstanden werden, um so besser wird sein Ergebnis sein. So wie in jedem komplizierten Prozeß Abweichungen genutzt werden, um seinen Verlauf zu korrigieren und zu optimieren, so sollte einer, der den Gebrauch, den er von sich selbst macht, verbessern möchte, seine Fehler und Abweichungen nicht übersehen, unterdrücken oder mit Gewalt überwinden, sondern sie sich zunutze machen, um seine Selbstkorrektur zu lenken. Die Feldenkrais-Methode ist demnach eine Aufforderung, ein Anstoß, eine Einladung, sich selbst kennenzulernen und sich seiner selbst bewußt zu werden. Dieses Bewußtsein ist nicht nötig, um das Leben zu leben, sofern Bewußtsein nur den Zustand des Wachseins meint. Man ist „bei Bewußtsein", wenn man weder tot noch ohnmächtig ist, weder schläft noch träumt. Demnach wäre einer sich bewußt, der bewußt bei Bewußtsein wäre; der sein Bewußtsein wahrnimmt, gewahrt; der sich selbst inne wird, und dieses Bewußtsein wird in weiterer Folge- um vom gängigen Sinn des Worts Bewußtsein zu unterscheiden - ,,Bewußtheit" genannt. Am Lebenden unterscheidet man in der Regel zwei Daseinszustände: den des Wachens und den des Schlafens. Wachsein impliziert nicht, daß jemand auch weiß, was er, während er wach ist, tut. So mag einer z.B. mit vierzig sich dessen bewußt werden, daß eines seiner Beine kürzer ist als das andere; er wird sich dessen bewußt erst nach Rückenschmerzen, Röntgenaufnahmen und einer Diagnose durch den Arzt; er wird sich dessen erst jetzt bewußt, weil der Zustand des Wachens dem des Schlafens ähnlicher zu sein pflegt als dem der Bewußtheit. Er wünscht sich seine Schmerzen weg und merkt, daß wunschvolles Denken die Lösung seines Problems nicht finden kann. Denken kommt aus dem Gedächtnis , und der Gedächtnisinhalt ist immer alt, vergangen. Der Denker, der Intellekt findet die Lösung nicht zu seinem lebendigen Problem, er hat keine Ahnung, was er mit den Schmerzen machen soll.

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• Wahrnehmen

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Lernen

Wachsein besteht nicht nur aus Denken. Der Wachzustand besteht aus vier Komponenten :2 Sinneswahrnehmungen,Gefohle,Denken und Bewegung.Zu den Sinneswahrnehmungengehört, zusätzlich zu den üblichen fünf Sinnen, auch der kinästhetische Sinn einschließlich Schmerz, Orientierung im Raum , Vergehen der Zeit und Rhythmus. Zu den Gefohlengehören - neben Emotionen wie Freude, Gram, Ärger etc. Selbstachtung, Minderwertigkeitsgefühl, Überempfindlichkeit und noch andere bewußte und unbewußte Gefühle, die unser Leben farbig gestalten. Zum Denken gehören alle Funktionen des Intellekts wie die Gegenüberstellung von links und rechts, gut und schlecht, richtig und falsch; zu verstehen und wissen, daß man versteht; klassifizieren, kategorisieren, Regeln erkennen; imaginieren, vorstellen; zu wissen, was wahrgenommen, gefüh lt, empfunden wird, sich an all dies zu erinn ern . Zur Bewegunggehören alle örtlichen und zeitlichen Veränderungen des Körpers und seiner Funktionen wie Atmen, Essen, Sprechen, das Zirk ulieren des Bluts und das Verdauen. Wenn hier auch die vier Komponenten eine nach der anderen aufgezählt werden, so besteht in Wirklichkeit keine der vier für sich allein oder losgelöst auch nur von einer der anderen. Es ist z.B. unmöglich, sich an ein Ereignis zu erinnern, an eine Person oder an eine Landschaft , ohne zumindest einen der Sinne-Sehen, Hören, Schmecken - zu verwenden, verlmüpft mit dem eigenen Selbstbild zu dieser Zeit, das sich aus der Körperhaltung , dem Alter, der Handlung oder einem angenehmen oder unangenehmen Gefüh l zusammensetzt. Das Einfallen eines Details des Erinnerungsbi lds ruft aufgrund dieser Assoziationen das gesamte Bild hervor. Eine Komponente beeinflußt die andere, somit die ganze Person. Die Erinnerung ist nicht getrennt von der Person , sondern die Person ist die Erinnerung. Jede Komponente des Bilds beeinflußt daher die ganze Person. Eine Korrektur des Bilds, eine Korrektur der Person gelingt in der Realität nur durch graduelle schrittweise Veränderung , indem man sich das eine Mal dem einzelnen Detail zuwendet und das andere Mal dem Ganzen . Keiner der vier Bestandteile des Wachseins kann ohne die drei anderen bestehen und jeder wirkt auf die übrigen ein. Die Feldenkrais-Methode wäh lt für die Verbesserung unserer selbst die Bewegung, und dies hat folgende Gründe: 3 l. Bewegungen beschäftigen das Nervensystem mehr als irgend etwas sonst, weil wir nicht wahrnehmen, fühlen , em pfinden oder denken können ohne eine vielseitige und komplizierte Reihe von Tätigkeiten, welche vom Gehirn eingeleitet werden, um den Körper gegen den Zug der Schwerkraft zu halten. Zur selben Zeit müssen wir wissen, wo wir sind und in welcher Haltung . Um die Lage innerhalb des Erdgravitationsfelds in Beziehung zu anderen Objekten zu kennen oder um die Körperstellung zu ändern, muß von den Sinnen Gebrauch gemacht werden, von den Gefühlen und von der Kraft des Denkens. Alle Methoden, um sich selbst kennenzulernen , beziehen aktiv das gesamte Nervensystem mit ein, auch jene, die vorgeben, nur mit einer der vier Komponenten des Wachzustands zu tun zu haben.

Einleitung•

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2. Es ist wesentlich mehr exaktes, physikalisches Wissen vorhanden, wie sich ein Körper gegen den Zug der Schwerkraft organisiert , als es Wissen über die anderen Komponenten gibt. Viel mehr ist über Bewegung bekannt als über Ärger, Liebe, Mißgunst oder die Gedanken. Es ist weit einfacher, die Qualität einer Bewegung erkennen zu lernen als die Qualität der anderen Faktoren. 3. Der eigene Körperbau und die Fähigkeit, sich zu bewegen, haben möglicherweise den größten Anteil am Selbstbild. Es genügt, ein Kind zu beobachten , das eine Unzulänglichkeit an seinem Äußeren gefunden hat, welche es anscheinend unterschiedlich von anderen Kindern macht, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß diese Entdeckung sein Verhalten wesentlich beeinflußt. Wenn z.B. seine Wirbelsäule sich nicht normal entwickelt hat, wird es bei Bewegungen, die einen subtilen Gleichgewichtssinn erfordern, Schwierigkeiten haben. Es wird leicht straucheln und eine ständige bewußte Anstrengung benötigen, um zu erreichen, was andere Kinder ganz natürlich zuwege bringen. Diese Schwierigkeiten, sich zu bewegen, untergraben und verzerren sein Selbstwertgefühl und verführen es zu einem Verhalten, das seine Entwicklung in Richtung seiner natürlichen Neigungen störend beeinflußt. 4. Jedes Tun nimmt seinen Ursprung aus einer Bewegung eines Muskels. Sehen, Sprechen und auch Hören brauchen Muskelaktivitäten. Beim Hören reguliert der Muskel die Spannung des Trommelfells entsprechend der Lautstärke des wahrgenommenen Geräuschs. 5. Von dem, was im Zentralnervensystem vorgeht, bleibt das meiste zunächst dumpf und verborgen. Es bedarf nur einer kurzen Zeit, um Gesichtsmuskeln, Herz oder die Atmungsmuskulatur zu einer Gestalt, zum Ausdruck der inneren Reaktion, basierend auf Gedanken oder Gefühlen, zu organisieren . Diese Vorgänge werden leichter wahrgenommen, sobald man sich der Änderungen bewußt wird, die sich in der Körperhaltung vollzogen haben; denn diese Änderungen in der Körperhaltung sind leichter spürbar als selbst die Änderungen, welche in den Muskeln geschehen sind. Das ganze System ist so angeordnet, daß es den Muskeln Bereitschaft befiehlt , eine Handlung auszuführen; oder es verhindert deren Ausführung. Beim „Pendelversuch" hält eine Versuchsperson mit einer Hand einen Faden, an dem ein Lot hängt, läßt ihren Arm bewegungslos und denkt sich für ein bis zwei Minuten eine Bewegungsrichtung wie z.B. links, rechts, einen Kreis, etc. Währenddessen mag das Pendel beginnen, in genau die gedachte Richtung zu schwingen: Die Person ist sich des Vorgangs nicht bewußt, daß Gedanken mit Muskelreaktionen assoziiert sind. Die ruhig gehaltenen Finger bewegen sich subtil mit, und diese Bewegung bleibt zu klein, als daß sie von einer wenig sensitiven Versuchsperson wahrgenommen werden könnte. Sobald man sich der Mittel bewußt wird, durch die der Muskelausdruck organisiert wird, kann man gelegentlich auch den Reiz erkennen, der den ganzen Vorgang ausge-

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• Wahrne

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löst hat. Mit anderen Worten: Was einen zur Aktion reizt oder seine Reaktion verursacht, erkennt einer, wenn er sich der Organisierung seiner Muskulatur für die betreffende Aktion genügend bewußt gewcrden ist. So können beim „Pendelversuch" die kaum merkbaren Bewegungen der Finger, die das Lot halten, von den zugrundeliegenden Gedanken, die diese Bewegungen und die dadurch in weiterer Folge ausgelösten Pendelschwingungen herbeiführen, dissoziiert werden. Manchmal bedarf es einiger Wiederholungen, um sich gewahr zu werden, was in einem vorgeht. In manchen Fällen wird sich die Erfahrung oft wiederholen müssen, bevor sie einer erkennen kann. Wird sie dadurch vertrauter, so wird die Ursache erkennbar, und mit den Sinnen werden schon die ersten Anzeichen des Vorgangs empfindbar. Letztlich wird sich einer dessen, was in ihm vorgeht, hauptsächlich durch seine Muskulatur bewußt. 6. Bewegungen spiegeln den Zustand des Nervensystems wider. Muskeln kontrahieren sich als ein Resultat einer endlosen Reihe von Impulsen vom Nervensystem; aus diesem Grund zeigen die Struktur des Muskelbilds der aufrechten Haltung sowie der Gesichtsausdruck und die Stimme den Zustand des Nervensystems auf. Offensichtlich können weder Körperhaltung, Gesichtsausdruck noch die Stimme verändert werden ohne Veränderung im Nervensystem, welches die äußeren sichtbaren Veränderungen mobilisiert. Bezieht man sich auf Bewegungen, so meint man genaugenommen jene Impulse des Nervensystems, die die Muskeln aktivieren; denn von sich aus und ohne von Nervenimpulsen gelenkt zu werden, vermögen die Muskeln fast nichts. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß eine Verbesserung in der Qualität der Bewegung sowie in der Qualität einer Handlung auftritt, erst nachdem eine vorausgehende Änderung im Gehirn und im Nervensystem erfolgt ist. Somit reflektiert eine Verbesserung der körperlichen Aktivitäten jene Änderung in dem Kontrollzentrum, das diese Tätigkeiten regiert. Änderungen im Kontrollzentrum sind Änderungen im Nervensystem und als solche nicht sichtbar für das Auge . 7. Auch Atmen ist Bewegung. DieAtmungwird von jeder emotionalen oder körperlichen Anstrengung und von jeder Störung beeinflußt. Jeder starke plötzliche Reiz macht den Atem anhalten.Jeder weiß aus eigener Erfahrung, wie eng die Atmung verbunden ist mit jedem Gefühlswechsel und mit dem Aufkommen eines starken Affekts. Das menschliche Skelett ist so gebaut, daß es fast unmöglich ist, das Atmen richtig zu organisieren, wenn nicht auch das Skelett zweckmäßig gegen das Schwerefeld organisiert ist. Die Atmung kann nur in dem Ausmaß reorganisiert und verbessert werden, wie es indirekt gelingen wird, die Organisation der Skelettmuskulatur dahin zu verbessern, daß dann der Körper besser stehen und sich besser bewegen wird. 8. Das Nervensystem besitzt eine fundamentale Eigenschaft: es kann nicht eine Handlung und ihr Gegenteil zur gleichen Zeit ausführen. In jedem Zeitaugenblick bildet

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daher das ganze System des menschlichen Organismus eine Are Einheit, die der Körper zum Ausdruck bringt. Haltung, Wahrnehmung, Gefühl, Gedanke und auch chemische sowie hormonelle Prozesse bilden diese Einheit, die nicht in ihre Teile zerlegt werden, wenn auch der Intellekt diese Teile benennen und über sie wie über einen zeitlich langsam ablaufenden Vorgang nachdenken kann. Diese Einheit mag sehr komplex und kompliziert sein, aber es stelle das integrierte Ganze zu jedem gegebenen Zeitaugenblick dar. Innerhalb jeder dieser Integrationen können vor allem jene Teile wahrgenommen werden, die mit der Muskulatur und der Körperhülle - der Haue- in Verbindung gebracht werden können. Die Muskeln spielen eine große Rolle bei der Bewußtheit. Es ist unmöglich, daß eine Änderung im Muskelsystem stattfindet ohne eine vorhergehende Änderung im Motorcortex der Großhirnhemisphären. Dicht unterhalb des Gyrus praecentralis des Cortex, wo sich jene Nervenstrukturen bilden, die die Muskeln aktivieren, liegen jene Gehirnschichten, in denen sich die assoziativen Vorgänge abspielen. Alle Gefühle und Sinnesempfindungen, die einer erfahren hat, waren jedes zu seiner Zeit mit den Assoziationsprozessen verbunden . Könnte man theoretisch eine Änderung in der motorischen Region des Cortex auf direktem Weg herbeiführen und dadurch eine Änderung in der Koordination dieser Nervenstrukturen oder in den Strukturen selbst bewirken, so würde sich die Grundlage des Bewußtwerdens in jeder elementaren Integration verändern und auflösen. Wegen der großen Nähe jener Gehirnstrukturen für Denken und Fühlen zur motorischen Region der Großhirnhemisphären un d wegen der Tendenz der Vorgänge in den Gehirnstrukturen, sich auszubreiten und auf benachbarte Gewebe überzugreifen, wird eine drastische Veränderung im Motorcortex parallele Auswirkungen auf das Denken und auf die Gefühle haben. Eine grundlegende Änderung in der motorischen Basis innerhalb jedes einzelnen Integrationsmusters wird den Zusammenhalt des Ganzen aufbrechen und dabei Gedanken und Gefühlen jenes Platzes berauben, an dem sich Verhaltensmusterroutinemäßig ablaufender Gewohnheiten verankern konnten. Unter dieser Bedingung ist es auch einfacher, Veränderungen in den Gedanken und in den Gefühlen herbeizuführen: Die Musku latur , durch die einer sich seines Denkens und Fühlens bewußt wird, hat sich geändert und drücke nun nicht mehr die Ordnungsschemen aus, die ihm bislang geläufig waren. Gewohnheit hat ihre Hauptstütze, die der Muskeln, verloren und wird für Veränderungen leichter zugänglich.

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2. Ein biographischer Überblick Dr. Moshe Feldenkrais wurde im Jahre 1904 in einer kleinen russischen Stadt namens Baranovitz geboren . Im Alter von vierzehn Jahren, während der Balfour Deklaration, wanderte er ohne Begleitung in das damalige britische Protektoratsgebiet Palästina 4 aus. Dort arbeitete er hauptsächlich mit seinen Händen als Konstrukteur. Er war Tutor von Problemkindern, ein exzellenter Fußballspieler (linker Verteidiger), lernte und lehrte J iu Jitsu. 5 Er interessierte sich sehr früh für Hypnose, übersetzte und publizierte Emile Coues Buch über Suggestion und Autosuggestion ins Hebräische. Mit dreiundzwanzig Jahren maturierte er und war anschließend 5 Jahre in der Landvermessung tätig als Mathematiker für die Berechnung von Karten. In den Dreißiger Jahren beendete er sein Doktoratsstudium aus Mechanik und Elektrotechnik an der Sorbonne in Paris und war Assistent im Labor von J uliot-Curie, mit dem er 1938 die erste Kernspaltung in Frankreich durchführte. 6 Während seiner Zeit in Paris errang er den Schwarzen Gurt unter Professor Jigaro Kano, dem Gründer des Judo, und seinen Schülern Kawaishi und Yotazo Sigimura (japanischer Botschafter). Er gründete den ersten Judo-Club Frankreichs. Nach der deutschen Invasion Frankreichs flüchtete er nach England, arbeitete in der britischen Admiralität in ihrer wissenschaftlichen Abteilung als Forsch un gsoffizier für die U-Bootabwehr bis zum Kriegsende und führte währenddessen Versuche in Neuro- und Verhaltensphysio logie fort. In den Jahren 1943/44 hielt er Vorträge vor der „British Association of Scientific Workers" in Fairlie, Schottland, die er 1949 als Buch mit dem Titel „Body and Mature Behaviour. A Study of Anxiecy, Sex, Gravitation and Learning" publizierte. Nach dem Krieg kehrte er schließlich nach Israel zurück, wo er der erste Direktor der Elektronikabteilung der Israelischen Streitkräfte wurde. In jüngeren Jahren beim Fußballspielen verletzte er sein Knie schwer.7 Die Verletzung war schlimm genug, um ihn für Monate lahmzulegen. Das gesunde Bein mußte Überstunden leisten und verlor an Beweglichkeit und Elastizität. Eines Tages, als er mit dem gesunden Bein die Straße entlang hüpfte, rutschte er auf einem Ölfleck aus und renkte sich dessen Knie beinahe aus: Es glitt aber in seine Lage zurück, und er gelangte nach Hause. Dort stieg er noch zwei Stockwerke hoch und legte sich endlich hin. Er spürte, wie sein Bein allm ählich steif wurde und mit Synovialflüssigkeit schwoll. Das andere, verletzte Knie war noch fest einbandagiert und schmerzte zu sehr, als daß er auf seinem Fuß hätte stehen können. Nach etwas Schlaf erwachte er und versuchte, ins Badezimmer zu gelangen. Er war verblüfft, daß er nun auf dem Fuß stehen, den er seit seinem ersten Unfall nicht mehr benutzen konnte; wäre das Bein zuvor schon so gut gewesen, hätte er niemals hüpfen müssen! Wie konnte ein Bein mit einem Knie, dessen verletztes Kreuzband ihn seit Wochen daran hinderte, darauf zu stehen, plötzlich brauchbar und beinahe schmerzfrei werden? Der Oberschenkel war sichtlich dünner, der Quadriceps war verküm-

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mert, wie es bei Meniskusverleczungen zu geschehen pflegt. Die anatomischen Anomalien des verletzten Knies waren deutlich auf den Röntgenbildern zu sehen , und nun schien der Quadriceps genügend Muskelconus bekommen zu haben, um das Körpergewicht zu tragen, zwar nicht so sehr auf den Fersen als eher auf dem Fußballen, wobei das Bein sich nicht ganz durchstrecken ließ. Diese persönliche Entdeckung machte Feldenkrais zur Grundlage seiner Lehre, dessen Erklärung er erst viele Jahre später in dem Buch „A Basis for ehe Theorie ofMedicine " von Dr. Speransky, der nach dem Tod Pawlows Leiter des Pawlow-Inscicucs geworden war, fand. Zunächst blieb es ihm unvorstellbar, daß eine Heilung des Knies innerhalb so kurzer Zeit erfolgen konnte: Das dem gesunden Knie zugefügte Mißgeschick führte dazu, daß das kranke sich verbesserte, weil sich in der Struktur des Gehirns etwas änderte. Inhibition an einem Punkt des Motorcortex kann die angrenzende, symmetrische Stelle verändern bis hin zur Exzitation dieser Stelle, oder zumindest ihre Inhibition verringern. Pawlow behauptete, daß eine erregte Stelle im motorischen Cortex notwendigerweise von einem Hemmungsfeld umgeben sei. Eine Änderung in der anatomischen Struktur der Muskeln kann also herbeigeführt werden, indem sich etwas in der Fu nktion sweise des Gehirns ändert, wozu-verglichen mit einer Änderung im Skelett - nur eine geringfügige Menge Energie vonnöten ist. Diese Knieverletzung wurde während der schlimmen Zeit der deutschen Invasion und ansch ließend, als er auf schlüpfrigen U-Bootdecks arbeitete, wieder akut. Das 8 Knie schwoll , und er konnte nicht mehr gehen. Er konsultierte einen Chirurgen, der ihm einen 50%igen Erfolg für einen operativen Eingriff in Aussicht stellte; daraufhin verzichtete er auf eine chirurgische Operation. Ans Bett gefesselt, experimentierte er stundenlang mit kleinen Bewegungen und verfeinerte sein kinästhetisches Wahrnehmungsvermögen, bis er feine neuromuskuläre Verbindungen zwischen all seinen Körperteilen fühlen konnte. Durch diese Selbsterziehung lernte er für den Rest seines Lebens effizient und schmerzfrei zu gehen. 9 Nach seiner Buchpublikation „Body and Mature Behaviour" traf er häufig Menschen, die meinten, er könne ihnen helfen; sie hatten ihn bewogen, sein veröffentlichtes Wissen praktisch anzuwenden. Um den Bedürfnissen seiner Mitmenschen zu entsprechen, entwickelte er die beiden Techniken FunktionaleIntegrationund Bewußtheit durch Bewegung.

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3. Funktionale Integration als Individualmethode Funktionale Int egration wendet sich an die ältesten Teile des sensoriellen Systems, welche auf Berührung reagieren, auf die Empfindungen von Zug und Druck, auf die Wärme der Hand . Vor allem aber wird bei Funktionaler Integration gezeigt, daß es eine Methode gibt, von uns selbst Gebrauch zu machen, die weit über jene hinausreicht, die dadurch entstanden ist, daß wir die Welt durch unser gewohnheitsmäßiges Raster des Kausalschemas sehen. Die Alternative ist zweckdienlich und bietet oft den leichteren Weg, mit Aufgaben und Problemen fertig zu werden. Sehr oft gibt es Denkweisen, die neue Ausblicke ermög lichen, Undenkbares wirklich und zunächst Unmögliches greifbar werden lassen. Bei Funktionaler Int egration liegt die im wörtlichen Sinn behandelte Person auf einer Liege. Der Zug der Schwerkraft auf das men schliche System wird damit weitgehend ausgeschaltet, die Druckverteilungen an den Gelenksflächen entsprechen dann nicht mehr den alltäglichen, gewohnten. Die Situation erlaubt den Extensoren, den Streckern, dieAufrichtearbeit gegen das Gravitationsfeld weitgehend aufzugeben; alle Muskeln, die normalerweise gegen die Schwerkraft arbeiteten, brauchen nun kein Gewicht zu heben. Liegt die Person dabei auf dem Rücken, so hilft manchmal eine unter beide Kniekehlen geschobene hölzerne Rolle mit einem Durchmesser von ungefähr 10 cm dem Körper, sich der Unterlage anzuvertrau en und sich zu entspa nn en. Durch das Anheben der Knie wird es der Lendenwirbelsäule erlaubt, sich näher zur Unterlage hin zu senken und den Kontakt zu ihr zu spüren, ihre unterstützende Wirkung wahrzunehmen. Auf älrnliche Weise kann der Kopf unterstützt werden, um der Halswirbelsäule zu erlauben, sich zu entspannen. Der Muskeltonus sinkt: Dadurch steigt die Sensitivität, die Wahrnehmungsfähigkeit für kleine Reizunterschiede. Innere Gefühle haben die Neigung, das Optimale vorzuziehen oder es anzustreben . Die Tendenz des Nervensystems zu optima lem Funktionieren hat bei minimaler Reizung freies Spiel. Es empfängt jetzt keine Reize von den Fußsohlen her: In den Fuß -, Knie-, Hüft- und anderen Gelenken besteht nun keine Kompression. Die Sehnen sind nicht gestreckt, der Kopf wird nicht gehalt en und wird auch nicht durch die Vorgänge in der Umgebung orientiert; das Skelett liegt fest getragen da, wie es daliegen würde, wenn es über1 haupt keine Muskeln hätte. o Die Nervenimpulse an die Musku latur werden ruhiger werden. Jener Tei l der Großhirnrinde, von der die absichtlichen Handlungen ausgehen , wird freier sein, neue Handlungsschemen oder -muster zu bilden , wie wenn alles im ganzen System mit irgendeiner Tätigkeit beschäftigt ist, sei sie nun absichtl ich oder automatisch-gewohnheitsmäßig. Um ein weiteres Beschreiben der Technik der Funktionalen Integration sprach lich bequemer zu gestalten, wird ab jetzt der Begriff des „Schülers" verwendet sowie der des ,,Lehrers", wobei jene Person als Schüler bezeichnet wird, welche auf der Liege liegt; die andere ist dann der Lehrer.

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Der Lehrer bewegt nun den Körper des Schülers und wird sich der Eigenart des neuromotorischen Funktionierens des Schülers bewußt. Damit macht er gleichzeitig den Schüler nicht verbal, sondern durch Kommunikation in der kinästhetischen Domäne auf seine Art zu funktionieren aufmerksam. Darüber hinaus zeigt er ihm alternative Wege motorischer Bewegungsfunktionen. Hier werden keine Patienten behandelt; hier werden Lektionen gegeben, um Menschen zu helfen, über sich zu lernen. Lernen stellt sich ein durch die Erfahrung der Manipulation. Es wird nicht geheilt, nicht gelehrt. Diese Art des Lernens bei Funktionaler Integration, diese Art mit Menschen umzugehen besteht darin, für den, der es wünscht, herauszufinden, welche Art von Fertigkeit ihm möglich wäre. Man kann lernen, sich anders zu bewegen, anders zu gehen, anders zu stehen; aber viele haben dies aufgegeben, weil sie meinen, es sei jetzt zu spät, ihr Entwicklungsprozeß sei abgeschlossen, sie könnten nichts Neues mehr erlernen, sie hätten keine Zeit oder es fehlte ihnen das nötige Können. Um gut zu funktionieren, braucht man mit dem Lernen nicht ins Säuglingsstadium zurückzukehren. Man kann zu jedem Zeitpunkt seines Lebens sich umprogrammieren, vorausgesetzt man ist überzeugt, daß nichts endgültig, unabänderlich oder zwangsläufig ist, das aus11 genommen, was der einzelne für sich als endgültig und unabänderlich hält. Der Lehrer bleibt während einer Lektion voll und ganz mit seiner Aufmerksamkeit auf den Schüler gerichtet. Er ist ein Teil der Umgebung des Schülers, der, sofern möglich, davon abläßt, sich mit seinen eigenen störenden Gedanken zu beschäftigen oder sich gar unnötige Sorgen zu machen. Ist die Rückenlage für ihn unangenehm, so kann er es sich auch in der Seitenlage mit angewinkelten Beinen und einer nicht zu weichen Auflage für den Kopf bequem machen.Nun kann der Schüler, befreit von den stereotypen gewohnheitsmäßigen propriozeptiven und exterozeptiven Reizen, jene Bewegungen wahrnehmen, die der Lehrer mit seinen Gliedmaßen und seinem Körper für ihn ausführt, besonders dann, wenn es dem Lehrer gelingt, Situationen und Bewegungen zu ersinnen, die als „neu" oder als „anders" empfunden werden, wenngleich sie auch meistens sehr sanft geschehen. Der Schüler erkennt dann solche „Manipulationen" als informativ und nicht als gestaltend; anders gesagt, Information wird angeboten, und eine Änderung wird nicht zu bewirken versucht. Manchmal führt eine Bewegung, initiiert durch den Lehrer, aber auch dazu, daß der Schüler darin einen Wink versteht, sein gewohntes Bewegungsmuster ablaufen zu lassen. Hier könnte der Lehrer anhalten und die „Manipulation" noch einmal beginnen, diesmal mit etwas weniger Kraft. Der Schüler mag nun den Unterschied im Kraftaufwand erkennen, er mag davon ablassen, stereotyp, gewohnheitsmäßig und unzweckmäßig zu reagieren, und daher beginnen, eine andere Reaktion zu entdecken und zu erlernen. Manchmal mag es dem Lehrer notwendig erscheinen, verbal eine Bemerkung oder eine Erklärung abzugeben, aber das entscheidende Ereignis bleibt in 12 der sensoriellen Domäne. Bekanntermaßen gibt es im Zentralnervensystem des Menschen einige hierarchisch gegliederte Ebenen für neuromotorische Funktionen. Die niedrigste Ebene ist jene der Reflexe, die höchste Ebene ist die bewußte Kontrolle für Willkürhandlungen.

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Handlungen, die einst erlernt wurden und nun automatisch - gewissermaßen ohne nachzudenken - ausgeführt werden können, befinden sich auf einer Kontrollebene zwischen den beiden soeben genannten. Das ausführende Organ für alle Formen von Handlungen oder Bewegungen, seien sie reflektorischer Natur, willkürlich ausgeführt oder unbewußt automatisch, bleibt die Muskulatur, für alle Ebenen einschließlich niedriger Motoneuronen und peripherer Nerven. Zusätzlich gilt, daß jede hierarchisch höhere Kontrollebene, während eine ihrer Handlungen ausgeführt wird, niedrigere Ebenen unterordnet und inhibiert, so daß die Wahrscheinlichkeit abnimmt , daß zugleich ein für eine niedrigere Ebene typisches Bewegungsmuster auftritt . So geschieht das Atmen automatisch, aber man kann sich für einige Zeit entscheiden, willentlich ein- und auszuatmen; dies gilt genausogut fürs Gehen und für Bewegungsfunktionen im allgemeinen; jedenfalls werden hier anstatt der automatisch auftauchenden Bewegungsmuster willentliche Komponenten ausgeführt. Der Lehrer kann nun jedes Bewegungsschema erfühlen , das aus dem Zentralnervensystem des Schülers kommt als Reaktion auf seine „Manipulation", Berührung oder Bewegung. Dadurch wird mit seiner Hilfe die Aufmerksamkeit des Schülers in verstärktem Maß auf einen körperlichen Vorgang gelenkt. Der Schüler kann nun sein Bewegungsschema erkennen, und der Lehrer kann ihm zusätzliche Bewegungsmöglichkeiten zeigen, welche der Schüler, sobald er den Unterschied zwischen ihnen spüren, anschließend in sein Bewegungsrepertoire aufnehmen kann. Er mag nun sein altes Bewegungsmuster aufgeben oder auch beibehalten, er mag ein neues wählen oder ein weiteres aus den hinzugekommenen Bewegungsvarianten kreieren. Solch ein Vorgang einer Neuerschaffung von Bewegungsmustern beim Schüler bedeutet für den Lehrer meist eine non-verbale Folge von Bildern, Bewegungen und sensoriellen Wahrnehmungen. Dennoch sollte er in der Lage sein, wenigstens für sich selbst die Reaktionen und Bewegungsfunktionen des Schülers, wie sie sich ihm durch sein Manipulieren präsentieren, verbal zu beschreiben sowie auch das, was er tut. Der Schüler hingegen mag auf verschiedene Art und Weise zu einer intellektuellen Erklärung kommen . Jeder neuromotorische Vorgang kann auf unterschiedliche Weise beschrieben werden, und daher ist es ratsam , um Verwirrungen zu vermeiden, gleich am Anfang die verschiedenen Verständigungsebenen zu differenzieren. Die im folgenden aufgezählten vertreten nur einige aller möglichen Ebenen, und ihre Benennungen dienen hauptsächlich der Identifikation : 1. Die Ebene der Kinetik: Bewegungen werden beschrieben mit den Ausdrücken Skelett , Gelenke, Muskeln, einwirkende Kräfte (Schwer-, Muskel-, Reibungskraft, elastische Kräfte, Trägheitskraft), Drehmomente u.a. unter Verwendung mechanischer Modelle und Abstraktionen wie Hebel, Gleichgewicht, Stabilität und Starre.

Einleitung•

17

2. Die funktionale Ebene: Hier wird jene biologische Funktion gesehen, die mit einer Handlung assoziiert wird. Mit eingeschlossen werden die höheren intellektuellen Funktionen. Unter einer biologischen Funktion ist z.B. eine der folgenden gemeint: atmen, essen, gehen, im Schwerefeld das Gleichgewicht finden, es sich bequem machen, sich vor (wirklicher oder eingebildeter) Gefahr schützen; Aggression, Orientierung im umgebenden Raum, Kommunikation, persönliches Benehmen. Fragen zur gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Körperstruktur und ihrer Funktion, über Wirkungsgrad oder Wirtschaftlichkeit in bezug auf den Energieaufwand, über jede Art des Lernens, Verbesserns oder Verschlechterns einer Bewegungsfunktion können auf dieser Ebene abgehandelt werden. 3. Die kybernetische Ebene: Hier wird der Informationsfluß betrachtet , der zwischen den verschiedenen Teilen des Zentralnervensystems, dem Körper und den relevanten Bereichen der Umgebung auftritt, diese Teile verbindet, dort verarbeitet, gespeichert wird oder von dort seinen Ursprung nimmt. 4. Die neurophysiologische Ebene: Die Teile des Nervensystems und vor allem jene des Geh irn s werden in bezug auf ihre Funktion, ihre Verbindungen und Lokalisierung betrachtet. Die Aktivität des Systems entsteht dabei durch das Strömen von Nervenimpu lsen zwischen den einzelnen Domänen des Nervensystems. Es besteht ein Zusammenhang zwischen einem lokalisierbaren anatomischen Teil des Gehirns und einer neurophysiologischen Funktion. Bei Verletzungen wird dieser Zusammenhang erkennbar, eine Korrelation von der verletzten Stelle des Gehirns zur Funktionsstörung läßt sich beschreiben. 5. Die neuronale Ebene: Sie ist eine subtilere Betrachtungsweise der neurophysiologischen Ebene . In der Großhirnrinde, im Neocortex, wurden einzelne Zellen erforscht, indem sie über Mikroelektroden stim uliert und ihre Reaktionen gemessen und aufgezeichnet wurden . Mit anderen Methoden sind die Verbindungswege zwischen einzelnen individuellen Neuronen erforscht worden. So entsteht nach und nach W issen über die Funktionen der Gehirnzellen und deren Zellschichten. Unabhängig davon, welche Ebenen der Lehrer für seine Erklärungen benützt und welche Arten der Erklärung der Schüler versteht, die Methode der Funktionalen Integration kann verbale Erklärungen entbehren, ohne dabei unwirksam zu werden. Der wichtigste Aspekt bei Funktionaler Int egration bezieht sich auf das Anfassen, Berühren, Bewegen, Begreifen und Behandeln lebender menschlicher Körper. Diese nicht-verbale Sprache der Hände wird auch von jenen verstanden, die verschiedene Sprachen sprechen , sich also verbal nicht verständigen können. Sinnesreize liegen dem unbewußten, unterbewußten oder autonomen Funktionieren näher als bewußtes, intellektuelles Verste hen. Kommun ikation durch die Sinne erreicht das Unbewußte unmittelbar und ist daher wirksamer und weniger entstellt als solche durch

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Wörter; es gibt kein Wesen , weder Tier noch Mensch , das eine freundliche Berührung von einer feindseligen nicht unterscheiden kann. 13 Eine Berührung, die auch nur im Hintergedanken unfreundlich ist, wird den derart Berührten mehr oder weniger erstarren machen, wird ihn verunsichern und das Schlimmste erwarten lassen, und er wird für solche Berührungen unempfänglich sein. Durch Berührung können zwei Menschen, Berührender und Berührter, ein Gemeinsames werden: Zwei Körper, durch zwei Hände miteinander verbunden, bilden eine neue „Einh eit" . Die Hände spüren und führen zugleich. Berührender und Berührter fühlen, was sie durch die verbindenden Hände spüren, auch wenn sie das, was da geschieht, nicht im gewöhnlichen Sinn erkennen und verstehen . Der Berührte merkt, was der Berührende fühlt, und ändert, auch ohne zu begreifen , sein Verhaltensmuster, um dem zu entsprechen, wovon er spürt , daß es von ihm erwartet wird; dabei wird von ihm nichts gefordert. Der Lehrer spürt - ob es der Schüler weiß oder nicht - was der andere nötig hat und was im Augenblick zu tun ist, damit er sich besser fühlt. Das Berühren, dieses Anfassen mit den Händen , hat keinerlei therapeutischen Wert, keine Heilwirkung, obwoh l es beim Berührten meistens zu Besserungen führt. Was dabei geschieht ist, daß der Berührte lernt. Es handelt sich dabei vielmehr um den Lernprozeß als um eine Technik des Lernens, denn es hat keinerlei Ähnlichkeiten mit irgendeiner Form des schu lischen Unterrichts.

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4. Bewußtheit durch Bewegung als Gruppenmethode Jede Bewegungsfigur aus der historisch zuerst entstandenen Individualtechnik der Funktionalen Integration kann einer Gruppe von Schülern auch üb er verbale Anweisungen mitgeteilt werden. Bei Bewußtheitdurch Bewegungwird nicht „gelehrt ", son dern jedem in der Gruppe wird es ermöglicht zu lernen, so wie es individuelles Verstehen und Lerngeschwindigkeit dem einzelnen erlaub en. Die Zeit ist ein wesentl icher Faktor beim Lernen. Jedem in der Gruppe, ohne Ausnahme, sollte es ermöglicht werden zu lernen, und für jeden sollte genug Zeit vorhanden sein, um die Idee der Bewegung zu assimilieren, sie sich zu eigen zu machen oder von ihr abzulassen . Zeit ist nötig, um sich spüren und organisieren zu können. Ebenso ist Zeit nötig , um eine Bewegung ein paar Mal wiederholen zu können. Wiederholung ist kein gutes Mittel zu grundlegendem Lernen, aber sie ist nützlich, um ein schon Erreichtes vertraut werden zu lassen. 14 Indem man mit einer Handlung vertrauter wird, nimmt die Geschwindig keit der betreffenden Bewegung zu und damit auch ihre Kraft. Das mag nicht selbstverständ lich scheinen, stimmt aber trotzdem. Die Langsamkeit ist nötig, um parasitäre überflüssige Anstrengungen zu entdecken und sie dann schrittweise auszuschal15 ten. Erfo lgreich lernen können wir nur in dem uns eigenen Tempo. Kleinkinder wiederholen jede neue Handlung in ihrem persönlichen Tempo so lange, bis sie genug haben. Genug haben sie dann, wenn eine Absicht und deren Ausführung, wenn Tunwollen und Tun zu einer einzigen Handlung werden, die als bloße Absicht empfun den wird. Bei Bewußtheit durch Bewegungwird jedem alle Zeit gelassen, die er braucht, um seine eigene Lerngeschwindigkeit zu entdecken, um sich das Bild der Bewegung zu eigen zu machen und sich an das Neuartige der Lage zu gewöhnen. Langsame Bewegungen sind allerdings erst dann wirksam, wenn sie auch effizient ausgeführt werden . Wirksamkeit wird erreicht, wenn parasitäre, unnütze Komponenten aus der eigentlichen Handlung eliminiert werden. Feh ler können ausgeschaltet werden, wenn man weiß, was richtig ist. Aber wenn man weiß, was richtig ist, kann man aufs Lernen überhaupt verzichten . Daher ist es unsinnig , eine Bewegung richtig machen zu wollen. Richtig und korrekt ist richtig und korrekt ein für allemal und nimmt einem den Wind aus den Segeln; besser kann noch besser werden. Lernen kann vor allem derjenige , der beim Lernen die Absicht wegläßt, es richtig zu machen. Feh ler lassen sich beim Lernen nicht vermeiden, nicht einmal dann, wenn man sich ausschließlich auf strikte Nachahmung verläßt. Wer keine Feh ler machen kann, kann auch nicht lernen. Wer nachahmen, was als falsche Bewegung verstanden werden kann, der lernt besser als jemand, der nur das Richtige zu tun versucht. Falsch und richtig sind Beurteilungen, mit denen der menschliche Intellekt die Dinge etikettiert. Solange der Intellekt nicht die Fähigkeit besitzt, zu benennen, zu vergleichen, zu beurteilen und in richtig und falsch zu trennen, solange gibt es nichts Richtiges oder Fal-

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sches an einer Bewegung. Das primäre Lernen der Spezies Mensch geschieht dahingehend, daß die für eine Handlung unnützen Bewegungskomponenten eliminiert werden . Ein Kleinkind kann nicht lernen, indem es etwas richtig tut, denn es versteht den Sinn nicht, den ein Erwachsener in eine Handlung hineininterpretieren kann. Lernen heißt: das Unbekannte begreifen. Ein Kleinkind bewegt sich, und wenn etwas Unnötiges, Parasitäres seiner Handlung in die Quere kommt, so hört es auf, dieses Parasitäre 16 zu tun. Es entdeckt, es lernt. So lernt es Gehen. In jedem Stadium ihres Wachstums machen Kleinkinder andere Bewegungen; am Ende haben diese Bewegungen zum Gehen, Stehen und so weiter geführt, aber keine dieser Bewegungen ist ein „Üben " einer Zielbewegung. Es sind Bewegungen, die vom Zustand des Nervensystems, der Muskulatur, des Skeletts und der jeweils gerade möglichen Körperkonfiguration diktiert werden. Lernen muß angenehm sein. Exzessives Streben nach Perfektion ist für das Lernen hinderlich. Es sind gerade jene Schüler, die besonders gut sein wollen, die sich beim Lernen behindern. Nicht das Erlernen einer neu en Bewegungsmöglichkeit ist ausschlaggebend, sondern das Verstehen des Lernprozesses selbst, durch Aufmerksamkeit. Eine neue Bewegung, Handlung, Fertigkeit, ein neues Können ist bloß eine nützliche Belohnung für aufmerksames Lernen. Es wird vom Gefühl begleitet , daß man das Können verdient hat, und dies hilft , Selbstvertrauen aufzubauen. Der Atemrhythmus bleibt während des aufmerksamen Lernprozesses ruhig und einfach, und dies verstärkt das Gefühl des Angenehmen. Normalerweise gilt Lernen als etwas Anstrengendes . Sich zusammenreißen gilt als Tugend beim Lernen. Wer sich anstrengt und bemüht , habe Erfolg; je mehr sich jemand verausgabt , um so mehr leistet er. Aber organisches Lernen geschieht durch das Nervensystem, welches so strukturiert ist, daß es detekti ert und aus den Versuchen und Fehlversuchen die wirksameren auswähle. Ziellose Bewegungen werden eliminiert, bis ein Repertoire an korrekten und für das gesteckte Ziel sinnvollen Handlungskomponenten überbleibt. Dies gilt fürs Erlernen des Radfahrens , des Schwimmens und so weiter; um die guten Bewegungskomponenten selektieren und von den sinn losen ablassen zu können, muß man Unterschiede spüren können. Wer nicht unterscheiden und differenzieren kann, der fährt fort, gute und schlechte Bewegungen in jener Reihenfolge, in der sie zufällig auftreten, weiter zu gebrauchen oder sie möglicherweise zu verschmelzen. Er macht dabei trot z seiner fleißigen Beharrlichkeit keine . Fortsc l1ntte. . 17 o d er nur gennge Alle menschlichen Sinne funktionieren so, daß feine Unterschiede dann besser wahrgenommen werden können, wenn diese Sinne nur wenig gereizt, stimuliert werden. Der Muskelsinn erkenne auch dann einen Unterschied, wenn sich der Stimu lus um nur ungefähr ein Vierzigste! ändert.Trägt jemand eine Last, so muß dieser Last ein Vierzigste! ihres Gewichts hin zugefügt werden, so daß er den Unterschied spüren kann. Für den kinästhetischen Sinn gilt, daß der Muskel zufolge einer adäquaten Reizänderung um so feiner reagiert, je kleiner der ursprüngliche Stimulus und je kleiner daher jene Änderung an Stimuluszunahme oder -abnahme ist, die detektiert, gespürt,

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empfunden werden kann. Je weniger sich jemand anstrengt , um so schneller lernt er daher jede Fertigkeit; der Grad der erreichbaren Perfektion geht Hand in Hand mit der Feinheit, die erzielt werden kann. Eine Verbesserung bleibt aus, wenn vom Orga nismus ein Unterschied im Bewegungsablauf oder im Grad des Kraftaufwands nicht mehr wahrgenommen werden kann. Der Lernprozeß muß langsam und mit verschiedenen Stufen der Anstrengung vor sich gehen, bis parasitäre Komponenten ausgeschaltet sind; anschl ießend stößt man kaum auf Schwierigkeiten, die Bewegungen schnell und kraftvoll zu machen. Bei Bewußtheit durch Bewegungwird am Anfang der Lektion nicht verraten, was während der Lektion gemacht wird. Meistens sind wir so konditioniert, daß wir, sobald wir wissen, was von uns verlangt oder erwartet wird, uns dahingehend entschei den, es zu erreichen, ungeachtet der Anstrengungen, denen wir uns dabei unterziehen. Es gilt nur, nicht das Gesicht zu verlieren, sondern zu gewinnen, der Beste zu sein . Wenn wir nicht wissen, wie wir uns für die Aufgabe mobilisieren können, so reißen wir uns zusammen, halten die Luft an, beißen die Zähne aufeinander und strengen uns um des Erreichens willen an, um nicht das Schlußlicht zu sein. Bei Bewußtheit durch Bewegunggeht es vor allem darum, seine angeborenen Fäh igkeiten bestmöglich zu verwenden und es nicht mehr auf die gewohnte Weise zu tun, sondern auf eine andere oder auf eine bessere. Wird der Drang, das Ziel zu erreichen, minimiert und wird die Aufmerksamkeit darauf gericht et, wie und mit welchen Mitteln das Ziel erreicht werden kann, dann wird Lernen einfach. Steht Erreichen im Vordergrund, so wird Lernen vernachlässigt, und dies bedeutet, daß menschliche Fähigkeiten zu einem geringen Tei l entdeckt und verwendet werden. Wird das Erreichen des Ziels hinausgezögert, dann erlauben die zusätzlichen Fähigkeiten, die eingesetzt werden können, daß ein höheres Ziel erreicht werden kann als anfäng lich vorgegeben. Ist das Ziel bekannt, das erstrebt werden soll, bevor Lernen auftreten kann, so kann nur die Grenze der Unwissenheit erreicht werden; solche Grenzen sind wirklich niedriger als jene, an die man mit der Kenntnis der innewohnenden Fähigkeiten gelangen könnte. Verbesserungen können vor allem dadurch auftr eten, daß man weniger tut als einem möglich wäre. Wer stets sein Bestes gibt, lebt mit dem Gefühl, es nicht besser machen zu können. Auch ist es in Bewußtheit durch Bewegungin höchstem Maße angeraten , Schmerz zu vermeiden. Bewegungen sollten nur in einem Bereich ausgeführt werden , in dem sie sich angenehm und schmerzfrei anfühlen. Wer trotz des Schmerzes weitermacht, dessen Gewebe und Gelenke werden sich dadurch entzünden und in weiterer Folge einen Genesungsprozeß verwirken, der meistens die Bewegungsfreihe it einschränkt. Wer Schmerzen ignoriert , der kann mit dieser Vorgehensweise nur verlieren. 18 Der Mensch ist so konstruiert, daß er den Schmerz zuerst empfindet. In der gesam ten Scruktur von Rückenmark und Wirbelsäule liegen die sensiblen Nerven dorsal und die motorischen Nerven ventral. Die vorderen motorischen und hinteren sensiblen Nerven vereinigen sich zum Spinalnerv, der alle Fasern enthält und zwischen je

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zwei Wirbeln durch das Zwischenwirbelloch austritt. Ein Schmerz führt nun dazu, die Nerventätigkeiten der motorischen Wurzeln zu inhibieren, so daß die schmerzvolle Bewegung nicht mehr ausgeführt und der motorische Teil des Nervs nicht geschädigt werden kann . Wäre es anders, so würde man zuerst die Lähmung haben und dann den Schmerz. Schmerz zeigt die Richtung zur Verbesserung, so daß er für den Rest des Lebens eliminiert werden kann. Wer aufgrund von Schmerzen bei den normalerweise sehr sanften Bewegungsabläufen in Bewußtheit durch Bewegungnicht mitmachen kann, dem ist es dennoch möglich, der Gruppe zuzusehen und die Lektion in Gedanken mitzuvollziehen. Eine willkürliche Bewegung kommt zum Ausdruck, wenn sie zuvor gedacht wird, aber auch eine bloß gedachte Bewegung führt zu einer leichten Innervation der daran beteiligten Muskelgruppen und daher zu einer kleinen Bewegung, die normalerweise noch nicht wahrgenommen wird. Aufgrund dieses Funktionsschemas ist es daher möglich, wie oben bereits erwähnt wurde, ein mit den Fingern gehaltenes Pendel zum Schwingen oder Kreisen zu bringen, ungeachtet des Vorsatzes, den betreffenden Arm völlig ruhig zu halten und die Ausführung der Pendelbewegung nicht zu wollen, sondern sie sich nur zu denken . Wer sich dessen bewußt wird, daß nichts passiert, es sei denn, er denkt sich vorher die Bewegung, der kann die Bewegung vom verursachenden Gedanken trennen und sodann an eine Pendelbewegung denken, ohne daß sie nun zum Ausdruck kommt. Dem Zusammenhang zwischen Denken und Muskelaktivität kommt bei Bewußtheit durchBewegungeine ganz besondere Rolle zu. So werden Lektionen aktiv auf nur einer Körperseite ausgeführt und anschließend lernt die andere Körperseite dadurch, daß die auf der einen Seite durchgeführten Bewegungen gedank lich- nur in der Vorstellung- auf die andere Seite übertragen werden. Letztlich wird die Bewegung wirklich ausgeführt, und das Ergebnis ist meistens verblüffend: Jene Seite, mit der nicht gearbeitet wurde, sondern auf der die Bewegungsabläufe nur in Gedanken ausgeführt wurden, erweist sich als die geschmeidigere, intelligentere, und die Bewegung gelingt einfacher, besser, größer. Gedankliches Lernen erzielt prinzipiell bessere Ergebnisse bei einem Bruchteil der Zeit, welche für das aufmerksame Durchdenken der Bewegungen aufgewendet werden muß . Allerdings entsteht der Gedanke durch vorheriges Tun. Wer sich eine Handlung denken möchte, die ihm zuvor noch niemals gelungen ist, der wird bemerken, wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich dieses Unterfangen ist. Während der Ausführung von Bewegungen auf einer Körperseite merkt sich der Intellekt davon ein Abbild, welches nun gedanklich auf die andere Körperseite übertragen werden kann; dies bedeutet Lernen durch Vorstellen. Der durch die Vorstellung erlernte Bewegungsprozeß läuft letztlich meistens besser ab als der durch aktives Tun erlernte . Der Unterschied ist merklich spürbar, von einem guten Beobachter auch erkennbar. Woran nun sieht man eine gute Bewegung?

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S. Kriterien einer guten Bewegung In jeder koordinierten, gut erlernten Handlung oder Bewegung - wie denken, sprechen, essen, atmen, Probleme lösen, zeichnen oder kämpfen - können wir bestimmte Merkmale unterscheiden und die folgenden Empfindungen wahrnehmen: 19

l. Abwesenheit von Anstrengung: In einer guten Handlung fehlt das Gefühl der Anstrengung unabhängig davon, wieviel Kraft- und Energieaufwand geleistet wird. Die meist en unserer Handlungen sind so armselig, daß diese Annahme völlig grotesk erscheint. Es genügt aber, einen guten Gewichtheber, einen Eislaufmeister, einen erstklassigen Akrobaten, eine große Diva, einen geschickten Lastenträger - in der Tat jeden, der gelernt hat, geistige oder körperliche Handlungen korrekt auszuführen - zu beobachten, um sich selbst davon zu über zeugen , daß das Gefühl von Anstrengung ein subjekt ives Gefü hl vergeudeter Bewegung darstellt. Jede uneffi.ziente Handlung wird von diesem Gefü hl begleitet; es ist ein Zeichen von Unfähigkeit. Bei sorgfältiger Analyse ist es immer möglich, überzeug end zu zeigen, daß die Empfindung von Anstrengung daher kommt, daß andere Bewegungen zusätzlich zur beabsichtigt en Handlung ausgeführt werden . Äußerlich kann das Gefühl von Anstrengung dur ch kaum wahrnehmbare Unterbrechun gen im Atemrhythmus, schlechte Ausführung, Anhalten des Atems, Knicke in der Krümmung der Wirbelsäule und unnötige Starre in den Gelenk en des Skeletts identifiziert werden. 2. Abwesenheit von Widerstand: Das Gefü hl von Widerstand wird von widersp rüchlichen Nervenimpulsen, die an den Skelettmuskeln ankommen, verursacht. Die willentlich e Kontrolle generiert eine Konfiguration von Muskelkontraktionen für die beabsichtigte Handlung, während das Körpergleichgewicht in einer Stellung aufrechterhalt en wird, die sich mit der willentlich ausgeführt en Bewegung nicht verträgt. Ignorieren wir das Gefüh l von Widerstand, dann fahren wir fort, gegen un s selbst zu handeln , wäh rend wir glauben, objektive Schwierigkeiten zu bekämpfen; ohne einer bewußten Wahrnehmung von Widerstand können wir ihn niemals sublimieren, noch bevor wir größeren Katastrophen oder Risiken begegnen; sehen wir andere Personen erfolgreich sein, wo wir versagen, obwohl wir unser Bestes versuche n, dann schrei ben wir un s selbst als Rechtfertigung einen unglücklich en angeborenen Fehler zu und wenden un s von der Tätigkeit ab. Geschieht dies öfters, dann unt ergräbt es unser e Vitalität; es ist dann das Produkt un serer versuch ten Vorstellung und hat mit der objektiven Wirklichkeit wenig zu tun. 3. D ie Anwesenheit von Umkehrbarkeit: Das Hauptmerkmal korrekter Bewegung oder Handlung in allen Vorgä ngen basierend auf oder existierend innerhalb der Bandbreite willkürlicher Tät igkeiten heißt Umkehrbarkeit .

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In jedem Augenblick bzw. an jedem Punkt einer korrekten Handlung kann sie angehalten, kann von ihrer Ausführung abgelassen, kann von ihrer Weiterführung Abstand genommen oder kann sie umgekehrt werden - ohne vorherige Änderung in der mentalen Einstellung und ohne Anstrengung. Während einer Gemütsschwankung, im Zustand der Angst, Ausgelassenheit, Scham oder Schuld- kurz, in allen Fällen emotionaler Spannung von hohem Tonus, in denen unsere Handlungen zwanghaft ausgeführt werden - kann von Umkehrbarkeit keine Rede mehr sein. Die Wichtigkeit von der Umkehrbarkeit einer Handlung liegt darin, daß sie nur dann möglich ist, wenn eine feine Kontrolle über den Fluß der erregenden und hemmenden Nervenimpulse zur Steuerung der Muskelkontraktionen präsent ist, wie auch ein normales An- und Abklingen zwischen dem Sympathicus und dem Parasympathicus des vegetativen Nervensystems. Der Umkehrbarkeitstest gilt für sämtliche menschliche Tätigkeiten, einerlei ob sie nun vom körperlichen oder vom emotionalen Standpunkt aus betrachtet werden. 4. Atmen und unkorrekte Körperhaltung: Wird der Atem angehalren, so ist dies das klarste beobachtbare Zeichen, daß eine Bewegung oder Handlung schlecht ausgeführt wird. Viele von uns halten ihren Atem auf die eine oder andere Weise an. Das Körperbild produziert dann ein vorzubereitendes Tun in der Kehle, im Brustkorb und in der Magengegend, bevor es zum Sprechen oder zu einer anderen Bewegung kommen kann. Bei manchen ist die Störung so groß, daß sie ihren Brustkorb in der aus- oder in der eingeatmeten Stellun g ständig fixiert halten. Die normale Ein- und Ausatmung wird durcheinandergebracht, und dies hat folgenschwere Auswirkungen auf das Säuremilieu des Blues. Bei extremer Alkalinität des Blues kontrahieren die Muskelnwahllos beim kleinsten Stimulus von außen. Bei extremer Azidität, wie z.B. bei Diabetes , kann keine Muskelreaktion ausgelöst werden; Koma tritt ein. Die Alkalinität des Blues kann durch starken Verlust von Kohlendioxid merklich erhöht werden; kräftiges Ausatmen für ungefähr zwei Minuten führt zu einer erhöhten neuromuskulären Erregbarkeit, die sich zuerst in der Region des Mundes und der Finger bemerkbar macht. Es ist kompliz ierter: Wird nämlich in kurzen Stößen durch schnelle Kontraktionen der unteren Bauchmuskeln ausgeatmet, treten selbst nach vielen W iederholungen keine Unannehmlichkeiten auf. In der fernöstlichen Yogalehre kennt man diese Form des Ausatmens seit langem; sie nennt sich Kapälabhäti und stellt eine Atemtechnik, 20 eine Übung aus Pränäyäma dar. Zur Gewohnheit gewordenes, unkorrektes Anhalten des Atems wird üblicherweise von muskulärer Erregbarkeit begleitet und umgekehrt. Wechselseitigkeit scheint für jede Funktion nötig zu sein, die einen kontinuierlichen Prozeß darstelle. Zunächst scheinen die vier Merkmale korrekter Handlung den Erfahrungen aus dem Alltag zu widersprechen und sie nur gelegentlich zu bestätigen. Einige einfache, oft

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vorkommende, gewöhnliche Bewegungen werden tatsächlich ausgeführt, bevor sie ins Bewußtsein gelangen. Auf der anderen Seite rufen viele Handlungen, die eine bewußte Vorbereitung benötigen, psychosomatische Störungen hervor wie Herzklopfen, Atemnot oder Schweißbildung, und die Körperhaltung wirkt zwanghaft. Es ist nicht die anatomische Konfiguration an sich, welche das Wohlbefinden schädlich beeinflussen kann, sondern es ist die Tatsache, daß es die einzige Körperhaltung ist, die eine schlecht koordinierte Person benützt, um die Handlung auszuführen . Von all den Stellungen, die für einen Körper, für ein Skelett mit seiner Muskulatur möglich sind und die von einer gut koordinierten Person willentlich zumindest vorübergehend ohne große Unannehmlichkeiten und schadlos eingenommen werden können, wählt die schlecht koordinierte Person eine Stellung aus und fixiert sich auf diese, nimmt sie zwanghaft immer wieder ein . Es ist daher nicht die schlechte Haltung an sich, die einem Organismus schadet, sondern der Zwang, stets nur diese eine Körperhaltung einzunehmen. Um etwas mehr über das funktionieren des menschlichen Bewegungsapparats zu erfahren, ist es notwendig, nachfolgend einige Punkte bezüglich des menschlichen Skeletts und des Funktionierens der Musku latur zu betrachten.

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6. Korrekte Körperhaltung Betrachtet man das menschliche Skelett, so fällt auf, daß Rumpf und Kopf durch die Wirbelsäule mit den Beckenknochen verbunden sind. Nahe des Beckens befinden sich die größten Wirbel; die anderen Wirbelkörper nehmen nach oben hin an Größe ab. Die letzten zwei-Atlas und Axis - tragen die Schädelbasis, den Kopf. Die Wirbelsäule ähnelt einer Hauptstütze, die von Muskeln gehalten und an der Basis am Becken verankert ist. Die Muskulatur kann aktiv nur eine einzige Funktion ausführen, nämlich die Kontraktion; Muskeln können demnach nur eine Spannung erzeugen. Ein durch Muskeltätigkeit resultierender Zug im mechanischen Sinn, welcher auf die Wirbelsäule einwirkt, muß in jedem Zeitaugenblick durch die Grundfläche der Wirbelsäule hindurchtreten, und die Richtung der Tangentialkomponente der Kraft muß mit der Richtung der Wirbelsäule zusammenfallen. Der resultierende Zug kann nur wenig von der Richtung der Wirbelsäule abweichen, damit die Normalkomponente der Kraft, die die Wirbel zu verschieben beginnt und die Sehnen dehnt , nicht groß genug wird, um Schaden anrichten zu können. Der Brustkorb, die Schultern und die Arme hängen an der Wirbelsäule. Es gibt Muskeln, durch deren Aktivität der Brustkorb geweitet oder ein Arm gehoben werden kann. Jene Muskeln, die zwischen den Rippen angebracht sind, können nur den Brustkorb in seiner Stellung halten oder ihn so verformen, daß sich sein Volumen verkleinert. Der Kopf jongliert auf dem oberen Ende der Wirbelsäule. Sein Schwerpunkt liegt vor seiner Auflagefläche, so daß er, wären die Nackeninuskeln durchtrennt , vornüber nach unten fallen würde, bis das Kinn auf dem Brustbein zu ruhen kommt. Um guten Gebrauch von sich selbst zu machen, ist es nicht nötig , theoretisches Wissen über Knochen und Muskeln zu besitzen, aber dieses Wissen ist dennoch nützlich, wenn man sich besser bewegen lernen will. Bei Tieren mit vier Füßen wie Pferden oder Kühen befindet sich der schwere Kopf am Ende eines horizontal herausragenden Halses. Diese Tiere halten für sehr lange Zeit ihre Köpfe in dieser Horizontal- bzw. Ruheposition ohne ein Zeichen der Ermüdung. Von dieser Ausgangsposition wird der Kopf manchmal höher gehoben und manchmal gesenkt. Diese gesenkte Kopfhaltung benötigt eine geringe re Muskelkontral