Wahrheit im Strafprozess [1 ed.] 9783428581719, 9783428181711

Herrscht im Strafprozess ein oberstes Prinzip der Erforschung »materieller Wahrheit«, oder hat diese Formel eine andere

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Wahrheit im Strafprozess [1 ed.]
 9783428581719, 9783428181711

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 296

Wahrheit im Strafprozess Von

Sebastian Seel

Duncker & Humblot · Berlin

SEBASTIAN SEEL

Wahrheit im Strafprozess

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 296

Wahrheit im Strafprozess Von

Sebastian Seel

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Hans Kudlich, Erlangen. Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-18171-1 (Print) ISBN 978-3-428-58171-9 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit lag dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Januar 2020 als Dissertation vor. Die Disputation fand am 25. Juni 2020 statt. An erster Stelle und sehr herzlich bedanke ich mich bei meinem Doktorvater Professor Hans Kudlich, der meinem in Thematik und Anlage wagemutigen Projekt von Anfang an mit großem Interesse und Vertrauen begegnet ist und der mich während der gesamten Promotionszeit fachlich wie menschlich hervorragend unterstützt hat. Herzlicher Dank gebührt auch Professor Erasmus Mayr für das sorgfältige Zweitgutachten und seine wichtigen Anregungen zur philosophischen Perspektive, die in die Druckfassung Eingang gefunden haben. Sehr zu danken habe ich zudem Christoph Cordes, Moritz Hien und Johannes Stuve, mit denen ich Aufbau und Inhalt einiger Kapitel intensiv diskutieren konnte. Viele andere haben ebenfalls etwas zum Gelingen meines Projekts beigetragen. Hervorheben möchte ich Linus Mührel, der einen erheblichen Teil der Arbeit sehr genau gelesen hat, und meine Freundin Theresia Lehner, die mit scharfem Auge noch kurz vor der Abgabe einige Unebenheiten entdeckt hat. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mir dankenswerterweise mit einem Promotionsstipendium optimale Arbeitsbedingungen ermöglicht. Bei den Herausgebern schließlich bedanke ich mich für die freundliche Aufnahme in die Reihe „Strafrechtliche Abhandlungen. Neue Folge“. Berlin, im Sommer 2020

Sebastian Seel

Inhaltsübersicht A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Der Wahrheitsbegriff in strafrechtswissenschaftlicher Literatur, Gesetzgebung und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangspunkt: Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Gewissheit und Überzeugung in der strafrechtlichen Reformdiskussion des 18. und 19. Jahrhunderts und in der partikularstaatlichen Reformgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Wahrheitsbegriff unter der Reichsstrafprozessordnung bis zum Untergang der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren des „Dritten Reichs“ . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Wahrheitsbegriff in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur nach dem zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien . . . . . . . I. Die Korrespondenztheorie bei Wittgenstein und Russell und der semantische Wahrheitsbegriff Tarskis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Konsensustheorie der Wahrheit (Habermas, Apel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kohärenztheorien der Wahrheit (Bradley, Blanshard, Neurath, Rescher) . . . . . . . IV. Deflationistische Wahrheitstheorien (Frege, Ramsey, Ayer, Strawson, Quine, Horwich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Pragmatische Wahrheitstheorien (James, Dewey) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 27 58 83 106 153 154 228 270 321 352

D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Der Wahrheitsbegriff in strafrechtswissenschaftlicher Literatur, Gesetzgebung und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 I. Ausgangspunkt: Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Gewissheit und Überzeugung in der strafrechtlichen Reformdiskussion des 18. und 19. Jahrhunderts und in der partikularstaatlichen Reformgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Weichenstellungen im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 a) Wichtige strukturelle Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 b) Moralische Gewissheit und Wahrscheinlichkeit als Maßstab im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Gewissheit und Überzeugung in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Entstehung der Reichsstrafprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 a) „Materielle Wahrheit“, ihr Verhältnis zum Untersuchungsgrundsatz und alternative Wahrheitskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 aa) Das aufkommende Verfahrensziel der Erforschung „materieller Wahrheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 bb) Der Begriff der „materiellen Wahrheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 cc) Zur Verbindung von „materieller Wahrheit“ und inquisitorischer Verfahrensstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 dd) Alternative Wahrheitskonzepte für den Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . 36 b) Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 aa) Wahrscheinlichkeit statt Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 bb) Verbindung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs mit dem Wahrheits-, Überzeugungs- und Gewissheitsbegriff sowie mit bestimmten Verfahrensstrukturen und -stadien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 cc) Einschränkungen und Aufgabe des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs . . . . 43 c) Wahrheit, Gewissheit und Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 aa) „Materielle Wahrheit“ und begründete Überzeugung versus „intime conviction“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 bb) Das problematische Verhältnis des Überzeugungs- und Gewissheitsmaßstabs zum Postulat der Wahrheitserforschung . . . . . . . . . . . . . . . . 48 cc) Verbindungslinien zu Kants transzendentalem Idealismus . . . . . . . . . . 52 3. Widerhall der Diskussion in der Reformgesetzgebung seit den 1840er Jahren 54 a) Die Entwicklung in Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

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Inhaltsverzeichnis b) Die Gesetzgebung der anderen deutschen Partikularstaaten . . . . . . . . . . . . 56 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 II. Der Wahrheitsbegriff unter der Reichsstrafprozessordnung bis zum Untergang der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. „Materielle Wahrheit“ als oberstes Verfahrensziel? Der Wahrheitsbegriff in der Entstehungsgeschichte der Reichsstrafprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . 58 a) Ein konturloser Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 b) „Materielle Wahrheit“ als oberstes Ziel des Strafverfahrens? . . . . . . . . . . . 59 c) „Materielle Wahrheit“ als Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 d) Die zeitgenössische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Die weitere Gesetzgebung bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 a) Die Reformentwürfe von 1895, 1909 und 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 b) Die weitere Entwicklung in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Der Wahrheitsbegriff in der Rechtsprechung des Reichsgerichts bis 1933 . . . 68 a) Der Untersuchungsgrundsatz und die Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 b) Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 c) Die Pflicht zur Erforschung der „materiellen Wahrheit“ als Argument . . . 71 4. Alte und neue Ansätze in der Strafrechtswissenschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Wahrheitserforschung als Verfahrensziel, „materielle Wahrheit“ und andere Wahrheitsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 aa) Die uneinheitliche frühe Kommentarliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 bb) Auswüchse: „Materielle Wahrheit“ als reines Schlagwort . . . . . . . . . . 74 cc) Anknüpfung an die ältere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 dd) Neuartige Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 b) Fortwirkender Wahrscheinlichkeitsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 c) Wahrheit und Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 aa) Unverbundenes Nebeneinander von „materieller Wahrheit“ und Überzeugungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 bb) Verbindung von Wahrheits- und Überzeugungsbegriff . . . . . . . . . . . . . 80 cc) Alleiniger Überzeugungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 III. Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren des „Dritten Reichs“ . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Die nationalsozialistische Gesetzgebung zum Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . 84 a) Die Verordnung zur Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933 . . . 84 b) Die gesetzliche Regelung der Pflicht zur Wahrheitserforschung von 1935

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c) Die nationalsozialistischen Reformbestrebungen ab 1936 . . . . . . . . . . . . . 88 d) Die Vereinfachungsverordnungen 1939 und 1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

Inhaltsverzeichnis

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2. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zwischen 1933 und 1945 . . . . . . . . . 92 a) Das Reichsgericht als Gegengewicht zu nationalsozialistischen Eingriffen in das Beweisrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 b) Die Aufgabe des Verbots der Rügeverkümmerung im Jahr 1936 . . . . . . . . 96 c) Die Pflicht zur Wahrheitserforschung als Mittel zur Durchsetzung spezifisch nationalsozialistischer Straftatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 d) Wahrheit, Überzeugung und Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3. Der Wahrheitsbegriff in der strafrechtlichen Literatur von 1933 bis 1945 . . . 100 a) Die Bedeutung der Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ für das nationalsozialistische Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 aa) Einbettung des gesamten Strafverfahrens in die nationalsozialistische Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 bb) Erforschung „materieller Wahrheit“ statt formalisierter Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 cc) Das übergeordnete Ziel der Wahrheitserforschung und die gewandelten Verfahrensrollen von Angeklagtem, Verteidiger und Richter . . . . . . . . 102 b) Irrationalismus und Versiegen der erkenntnistheoretischen Diskussion . . . 104 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 IV. Der Wahrheitsbegriff in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur nach dem zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Die Gesetzgebung zu § 244 Abs. 2 StPO in der jungen Bundesrepublik . . . . 106 a) Der Rahmen: Gesetzesänderungen im Beweisrecht 1950 . . . . . . . . . . . . . . 106 b) Der Wahrheitsbegriff im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 aa) Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 bb) Äußerungen des Bundesjustizministers bei der ersten Lesung . . . . . . . 107 cc) Der Bericht des Rechtsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 dd) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Der Wahrheitsbegriff in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 a) Ein blinder Fleck: Die „materielle Wahrheit“ im nationalsozialistischen Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 aa) Kontinuitäten: Reichsgericht, NS-Justiz und Bundesgerichtshof . . . . . 109 bb) Vergleich mit dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 b) Die Erforschung der Wahrheit als Verfahrensprinzip und Argumentationstopos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 aa) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 (1) Die Erforschung der Wahrheit als oberstes Prinzip und dessen Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 (2) Die Erforschung der Wahrheit als Argumentationstopos ohne erkenntnistheoretischen Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 bb) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 (1) Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

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Inhaltsverzeichnis (2) Eingriffsrechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 (3) Verfassungsdogmatische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 (4) Neuere Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (5) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 c) Erkenntnistheoretisch relevante Elemente in der Rechtsprechung zu Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 aa) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (1) Anklänge an die Korrespondenztheorie und rein objektives Wahrheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (2) Subjektiver Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (3) Tatsachengrundlage und Beweismaß hoher Wahrscheinlichkeit . . 122 (4) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 bb) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 (1) Objektives Wahrheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 (2) Andere Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3. Bestandsaufnahme der strafrechtlichen Literatur nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . 128 a) Der Rechtsprechung folgende und von einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnis ausgehende Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 aa) Die Rechtsprechung zur „materiellen Wahrheit“ aufgreifende Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 bb) Bezugnahme auf einen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff 131 (1) Begründungen für die Verbindung „materieller Wahrheit“ mit einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . 131 (2) Maßgebliche Varianten der Korrespondenztheorie . . . . . . . . . . . . . 132 (3) Verschiedene Wahrheitskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 (4) Korrespondenztheoretischer Wahrheitsbegriff als Maßstab für Kritik am Verfahrensziel „materieller Wahrheit“ und Ausgangspunkt weiterer Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Konsensustheorie, Systemtheorie und verwandte Ansätze . . . . . . . . . . . . . 135 aa) Konsensustheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (1) Allgemein auf den Diskursbegriff Bezug nehmende Konzeptionen 135 (2) Konsensustheoretischer Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 bb) Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 cc) Konsensprinzip und Wahrheitsbegriff bei Weßlau . . . . . . . . . . . . . . . . 137 dd) Dialektische Wahrheitskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 c) Rezeption anderer philosophischer Wahrheitstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . 139 aa) Der semantische Wahrheitsbegriff Tarskis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 bb) Kohärenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 cc) Deflationistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 dd) Pragmatische Wahrheitstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Inhaltsverzeichnis

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d) Mischformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 e) Weitere Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 aa) Verbindung des Wahrheitsbegriffs mit Verfahrenszielen und grundlegenden Verfahrensstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 bb) Soziologische, psychologische, anthropologische und kommunikationswissenschaftliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 cc) „Forensische Wahrheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 dd) „Materielle Wahrheit“ unter Ideologieverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien . . . . . . . 153 I. Die Korrespondenztheorie bei Wittgenstein und Russell und der semantische Wahrheitsbegriff Tarskis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Vorüberlegungen: Ursprünge und Begriff der Korrespondenztheorie . . . . . . . 154 a) Klassische Formulierungen bei Aristoteles und Thomas von Aquin . . . . . 154 b) Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 2. Die philosophischen Ansätze von Wittgenstein, Russell und Tarski . . . . . . . . 157 a) Korrespondenztheoretische Konzeptionen bei Wittgenstein und Russell 157 aa) Die Isomorphietheorie in Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 (1) Das ontologische Grundgerüst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 (2) Die Isomorphietheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 bb) Die Korrespondenztheorie bei Russell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 (1) Der Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 (2) Wahrheit, Wissen und wahrscheinliche Meinung . . . . . . . . . . . . . . 163 b) Der semantische Wahrheitsbegriff Tarskis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 aa) Grundsätzliche Formulierung des Problems bei Tarski und Selbstverortung seines Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 bb) Materielle Adäquatheit, die Äquivalenzen der Form (T) und der semantische Charakter des Wahrheitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 cc) Anforderungen an die formale Korrektheit einer Wahrheitsdefinition 170 (1) Allgemeine Erfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (2) Antinomien und die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache 171 (3) Konsequenzen mit Blick auf die Alltagssprache . . . . . . . . . . . . . . . 173 dd) Der Weg zu einer Wahrheitsdefinition für einzelne Sprachen . . . . . . . 173 3. Übertragung auf den Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 a) Gesetzliche Weichenstellungen zugunsten der Korrespondenztheorie? . . . 174 aa) Strafprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 bb) Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 cc) Ergebnis und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

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Inhaltsverzeichnis b) Wittgensteins Isomorphietheorie und der Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . 178 aa) Übertragbarkeit des Grundgerüsts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 bb) Beschränkung wahrer Sätze auf Sätze der Naturwissenschaften . . . . . 179 cc) Die Analyse zusammengesetzter Sätze und der Vergleich von Elementarsätzen mit der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (1) Schwierigkeiten bei der Übertragung des analytischen Programms auf den Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (2) Offene erkenntnistheoretische Fragen zum Vergleich von Elementarsätzen mit der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 dd) Normative und rechtstatsächliche Hindernisse für ein korrespondenztheoretisches Wahrheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 c) Der Ansatz Russells und der Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 aa) Übertragbarkeit des Grundgerüsts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 bb) Keine Beschränkung des Wahrheitskonzepts auf Sätze der Naturwissenschaft und formalisierte Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 cc) Grundsätzliche Einwände und die Konsequenzen von Russells Wissenskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 d) Tarskis semantischer Wahrheitsbegriff und der Strafprozess . . . . . . . . . . . 188 aa) Welche Sprache ist überhaupt maßgeblich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 bb) Die Sprache der Tatsachenfeststellung gemessen an Tarskis Vorgaben 190 cc) Fazit und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 dd) Geringe Aussagekraft einer weiten korrespondenztheoretischen Tarski-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 e) Einige ergänzende Bemerkungen zum Verhältnis von Wahrheitsbegriff und formaler Logik und zum Stellenwert der formalen Logik im Strafverfahren 194 aa) Formale Logik und Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 bb) Zum Stellenwert der formalen Logik im Strafverfahren . . . . . . . . . . . 195 f) Kritik tatsächlich oder vermeintlich korrespondenztheoretischer Positionen in der strafrechtlichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 aa) Unzureichende Rezeption älterer Ansätze und geringe Aussagekraft dieser Ansätze für das Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 bb) Zweifelhafte Selbstverortung einiger Ansätze als „korrespondenztheoretisch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 cc) Zur Verankerung korrespondenztheoretischer Vorstellungen in der Bevölkerung und in der juristischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 dd) Zur angeblichen Naivität der Korrespondenztheorie und damit zusammenhängenden Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 ee) Weitere zugunsten der Korrespondenztheorie vorgebrachte Argumente 204 4. Diskussion unter philosophischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Diskussion der modernen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 aa) Wittgensteins Isomorphietheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 (1) Problematische ontologische Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Inhaltsverzeichnis

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(2) Die Reichweite der Analyse und die Ebene der Elementarsätze . . 207 (3) Die Prüfung von Elementarsätzen auf ihre Wahrheit . . . . . . . . . . . 210 bb) Russells Wahrheits- und Wissenskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (1) Problematische ontologische Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (2) Einander widerstrebende Elemente in Russells Wissenskonzept

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(3) Der Vergleich von Urteilen und Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 cc) Der semantische Wahrheitsbegriff Tarskis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 (1) Naiver Realismus und metaphysische Rückstände? . . . . . . . . . . . . 214 (2) Zur Einordnung als korrespondenztheoretischer Ansatz . . . . . . . . . 215 b) Zwei Grundprobleme der Korrespondenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 aa) Das Problem des externen Standpunkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 bb) Das Problem des Wahrheitskriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 (1) Schwäche der Korrespondenztheorien auf der Ebene des Wahrheitskriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 (2) Zu den in der strafrechtlichen Literatur vorgeschlagenen Kriterien 223 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 II. Die Konsensustheorie der Wahrheit (Habermas, Apel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 1. Die philosophischen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 a) Die Konsensustheorie bei Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 aa) Die Konsensustheorie in der Fassung der „Wahrheitstheorien“ . . . . . . 228 (1) Das Fundament: Rezeption der Sprechakttheorie, Kritik der Korrespondenztheorie und grundlegende begriffliche Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 (2) Die Pointe der Konsensustheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 (3) „Hintergrundkonsensus“ und „ideale Sprechsituation“ . . . . . . . . . . 230 (4) Zur Reichweite der Konsensustheorie und der Unterscheidung von Wahrheitsbegriff und Wahrheitskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 bb) Weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 b) Die Konsensustheorie in der Fassung von Apel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 aa) Der Zusammenhang von Pragmatismus, Konsensustheorie und Fallibilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 bb) Apels Ansatz als Ergänzung der Konsensustheorie nach Habermas . . 237 2. Übertragung auf den Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 a) Der Ansatz Jahns im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 b) Einordnung des (Straf-)Prozesses bei Habermas und Alexy . . . . . . . . . . . . 239 aa) Von Habermas’ früher Position zur Sonderfallthese Alexys . . . . . . . . . 239 bb) Die Reichweite der Sonderfallthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 cc) Das Verfahrensverständnis in „Faktizität und Geltung“ von Habermas 245 c) Die Merkmale der Konsensustheorie der Wahrheit im Strafverfahren . . . . 247 aa) Fehlender „Hintergrundkonsensus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 bb) „Ideale Sprechsituation“ und Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

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Inhaltsverzeichnis d) Weitere den philosophischen Hintergrund betreffende Einwände gegen den Ansatz Jahns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 e) Zur von Jahn vorgeschlagenen Auslegung des Merkmals „Bedeutung“ in § 244 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 f) Seitenblick: Konsensmaxime ohne konsensustheoretischen Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3. Diskussion unter philosophischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 a) Unklarer Stil und Rezeptionsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 b) Korrespondenztheoretische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 aa) „Tatsachen“, „Wirklichkeit“ und „Gegenstände“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 bb) Die Bedeutung der Erfahrung für Diskurs und Konsens . . . . . . . . . . . . 261 c) Kohärenztheoretische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 d) Begründen versus Überzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 e) Mit der allgemeinen Argumentationsstruktur und der „idealen Sprechsituation“ zusammenhängende Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 III. Kohärenztheorien der Wahrheit (Bradley, Blanshard, Neurath, Rescher) . . . . . . 270 1. Zum Begriff der Kohärenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2. Die philosophischen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 a) Kohärenztheorien des philosophischen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 aa) Bradley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 (1) Denken, Realität und der Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 (2) Kohärenz als Teil des Wahrheitstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 bb) Blanshard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 (1) Kohärenz als Wahrheitskriterium und als Wesen der Wahrheit . . . 275 (2) Der Kohärenzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 b) Die Kohärenztheorie von Neurath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 aa) System und Kohärenz statt Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 bb) Die Rolle der Protokollsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 cc) Die Grenzen der Systematisierung und die Auswahl zwischen mehreren Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 c) Die Kohärenztheorie von Rescher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 aa) Der Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 bb) Kohärenz als Wahrheitskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 (1) Kohärenz als „authorizing criterion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 (2) Die doppelte Rechtfertigung des Kohärenzkriteriums . . . . . . . . . . 284 (3) Der Gehalt des Kohärenzbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 cc) Die wesentlichen Merkmale von Reschers formalisierter Kohärenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 (1) Die Rolle der formalen Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Inhaltsverzeichnis

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(2) Wahrheit als Ziel statt als Ausgangspunkt und das Konzept des Datums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 (3) Maximal konsistente Datensets, P-Konsequenzen und Auswahlkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 (4) Relative, vorläufige Wahrheit und Wahrheitsgrade . . . . . . . . . . . . . 289 3. Übertragung auf den Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 a) Die Kohärenztheorien in der Tatsacheninstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 aa) Die idealistischen Varianten von Bradley und Blanshard . . . . . . . . . . . 290 bb) Neuraths Kohärenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 cc) Die Kohärenztheorie von Rescher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 b) Die revisionsrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 aa) Allgemeine Überlegungen zum Wahrheitsverständnis im Revisionsverfahren vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zur Rügeverkümmerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 bb) Die Beweiskraft des Protokolls aus kohärenztheoretischer Perspektive 304 cc) Die erweiterte Revision aus kohärenztheoretischer Perspektive . . . . . . 305 dd) Konsequenzen einer Rechtsmittelbeschränkung mit Blick auf den Kohärenzgedanken und den Wahrheitsbegriff im Revisionsrecht . . . . . . . 308 ee) Kohärenz nicht nur als Wahrheitskriterium? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 4. Diskussion unter philosophischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 a) Rückgriff auf logische Wahrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 b) Drohende Zirkularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 c) Das Problem mehrerer zugleich möglicher kohärenter Systeme . . . . . . . . . 310 aa) Ältere Formulierungen des Einwands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 bb) Das Regressargument von Walker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 d) Der Bezug zur Welt außerhalb des Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 e) Ein vermeintlich neuer Einwand von Thagard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 f) Unschärfe der Kohärenzkriterien und der kohärenztheoretischen Wahrheitsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 IV. Deflationistische Wahrheitstheorien (Frege, Ramsey, Ayer, Strawson, Quine, Horwich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 1. Zum Begriff des Deflationismus, dem Stellenwert entsprechender Ansätze in der philosophischen Diskussion und der Notwendigkeit einer Auswahl . . . . . 321 2. Die philosophischen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 a) Ursprünge des Deflationismus bei Frege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 b) Die Redundanztheorie bei Ramsey und Ayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 aa) Ramsey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 bb) Ayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 c) Die performative Wahrheitstheorie von Strawson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

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Inhaltsverzeichnis d) Wahrheit und Zitattilgung bei Quine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 aa) Quines Attacken gegen das Konzept von Propositionen als Wahrheitsträger, gegen den Tatsachenbegriff und gegen korrespondenztheoretische Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 bb) Das Wahrheitsprädikat als Mittel der Zitattilgung . . . . . . . . . . . . . . . . 332 e) Die minimalistische Wahrheitstheorie von Horwich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 3. Übertragung auf den Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 a) Bisherige Rezeption und grundsätzliche Übertragbarkeit . . . . . . . . . . . . . . 334 b) Entbehrlichkeit des Wahrheitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 c) Die performative Funktion des Wahrheitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 d) Konsequenzen für das Verhältnis von Wahrheit und Überzeugung im Strafprozess und drohender Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 4. Diskussion unter philosophischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 a) Inkohärenz aller deflationistischen Positionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 b) Bedeutung und Wahrheitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 c) Gerechtfertigte Behauptung statt Wahrheit und der Relativismusvorwurf 343 d) Horwichs deflationistische Interpretation der „Philosophischen Untersuchungen“ von Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 e) Zwei Einwände gegen die Zitattilgungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 V. Pragmatische Wahrheitstheorien (James, Dewey) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2. Die philosophischen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 a) Die pragmatische Wahrheitstheorie in der Fassung von James . . . . . . . . . . 353 aa) Der philosophiegeschichtliche und wissenschaftstheoretische Rahmen 353 bb) Realität, Geist und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 cc) Der Wahrheitsbegriff vor diesem Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 (1) Die pragmatische Deutung der Korrespondenzformel, die dynamische Auffassung von Wahrheit und das Element absoluter Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 (2) Die Notwendigkeit der Suche nach Wahrheit, Wahrheiten im Plural und das Verhältnis von alten und neuen Wahrheiten . . . . . . . . . . . 359 (3) Die Bedeutung des „common sense“ und der Kreditgedanke . . . . 360 b) Der Wahrheitsbegriff bei Dewey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 aa) Der philosophiegeschichtliche und wissenschaftstheoretische Rahmen 361 bb) Denken, Wissen und Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 cc) Der Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 (1) Konkretes versus abstraktes Verständnis und der Zusammenhang von Wahrheit und Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 (2) Die soziale Dimension von Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

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3. Übertragung auf den Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 a) Grundsätzliche Übertragbarkeit der pragmatischen Wahrheitstheorien auf den Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 b) „Materielle Wahrheit“ und pragmatischer Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . . 367 c) Das Verhältnis von Wahrheit, Überzeugung und Untersuchung . . . . . . . . . 369 aa) Ausgangspunkt: Die verschiedenen Wahrheitsbegriffe der Rechtsprechung und das unklare Verhältnis von Wahrheit und Überzeugung . . . 369 bb) Unklare Situation und vorläufige Überzeugung als Ausgangspunkte des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 cc) Wahrheit im Strafprozess als Ergebnis der methodengeleiteten Untersuchung von Überzeugungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 d) Wahrheit im Strafprozess als relative und vorläufige Wahrheit . . . . . . . . . 374 e) Berufung, Revision und Wiederaufnahme im Lichte der pragmatischen Wahrheitstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 aa) Pragmatischer Wahrheitsbegriff statt „materielle Wahrheit“ im Berufungs- und Wiederaufnahmeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 bb) Der prozessuale Wahrheitsbegriff des Revisionsrechts als Unterfall des pragmatischen Wahrheitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 f) Pragmatischer Wahrheitsbegriff und Absprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 g) Das Verhältnis des Gerichts zu tatsächlichen Feststellungen in rechtskräftigen Strafurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 h) Weitere Elemente der pragmatischen Wahrheitstheorien im Strafprozess 379 aa) „common sense“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 bb) Der Kreditgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 cc) Der soziale Aspekt von Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 4. Diskussion unter philosophischen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 a) Russells Angriffe auf die pragmatische Wahrheitstheorie von William James und ihr Widerhall in der deutschen Strafrechtswissenschaft . . . . . . 382 aa) Angebliche Gleichsetzung von Wahrheit und Nützlichkeit und darauf aufbauende Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 bb) Der Einfluss Russells auf die Rezeption der pragmatischen Wahrheitstheorien in der Strafrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 b) Russells Kritik an Deweys erkenntnistheoretischen Positionen . . . . . . . . . 386 aa) Überschneidungen mit der Kritik an James’ Wahrheitstheorie . . . . . . 386 bb) Weitere Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 c) Der Royce-Putnam-Einwand gegen James’ Wahrheitstheorie . . . . . . . . . . 390 d) Die Verbindung von Wahrheitsbegriff und sozialem Fortschritt bei Dewey 391 e) Die pragmatischen Wahrheitstheorien im Vergleich mit den wichtigsten anderen Wahrheitstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442

A. Einleitung „The whole function of philosophy ought to be to find out what definite difference it will make to you and me, at definite instants of our life, if this world-formula or that worldformula be the true one.“1

Dieses Buch stellt eine Reihe verbreiteter Vorstellungen über Wahrheit im Strafprozess in Frage. Es erschöpft sich jedoch nicht in bloßer Kritik. Sein Ziel ist es vielmehr, einen Wahrheitsbegriff und einen Maßstab für Wahrheit zu finden, die sowohl erkenntnistheoretisch tragfähig sind als auch den rechtlichen und tatsächlichen Strukturen des Strafverfahrens gerecht werden. Damit umkreist es im konkreten Kontext des Strafprozesses zwei klassische Probleme der Erkenntnistheorie: Das Problem, was Wahrheit überhaupt ist, und das Problem, wie man Wahrheit erkennen kann. Die philosophische Diskussion darüber ist in 2.500 Jahren nicht an ein Ende gelangt, und sie scheint mit der rauen Wirklichkeit des Strafverfahrens wenig zu tun zu haben. Warum also sollten wir uns als Juristen mit solchen Problemen befassen? Können wir uns nicht einfach wie Bacons scherzender Pilatus2 halb amüsiert, halb resigniert davon abwenden, sie als zu abstrakt den Philosophen überlassen und uns mit einer Handvoll vager Formeln und Alltagsvorstellungen begnügen? Eine solche Einstellung wäre verfehlt, ja sogar gefährlich. Denn die Frage nach Wahrheit im Strafprozess ist eine Frage, wie sie grundlegender kaum sein könnte. Sie betrifft das Maß an Erkenntnissicherheit und Rationalität, das vor Gericht zu erreichen ist, und damit die Berechtigung staatlichen Strafens, das Verfahrensverständnis der Akteure und die Ausgestaltung des Strafverfahrens insgesamt: Gelangt man zu dem Ergebnis, dass es so etwas wie rein objektive, unveränderliche und nur aufzufindende Wahrheit gibt und dass diese im Strafverfahren grundsätzlich zugänglich ist, ruhen schwerste Grundrechtseingriffe wie die Verhängung langjähriger Freiheitsstrafen auf einem stabilen Fundament. Wer als Tatrichter solchen durchaus gängigen, gerade von der Rechtsprechung hochgehaltenen Vorstellungen anhängt, wird im Verfahren anders agieren und andere Urteile fällen als sein gegenüber derartigen Verheißungen skeptischer Kollege. Die obersten Gerichte tendieren, wie zu zeigen sein wird, dazu, unter Berufung auf einen entsprechenden Wahrheitsbegriff die Position des Beschuldigten zu schwächen. Ein Gesetzgeber schließlich, der von objektiver, absoluter Wahrheit als oberstem und erreichbarem Ziel des Strafverfahrens ausgeht, dürfte 1

James, Pragmatism, S. 50. Bacon, Of Truth, in: The Major Works, S. 341: „,WHAT is Truth?‘ said jesting Pilate; and would not stay for an answer.“ 2

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A. Einleitung

allzu rasch bereit sein, diesem Ziel auch wesentliche Beschuldigtenrechte zu opfern.3 Viele philosophische Wahrheitskonzepte legen allerdings übertragen auf den Strafprozess eine deutlich vorsichtigere Haltung nahe. Abgesehen von diesen grundsätzlichen Erwägungen ist auch das Gesetz selbst nicht erkenntnistheoretisch unschuldig. § 244 Abs. 2 StPO stellt mit der Verpflichtung des Gerichts „zur Erforschung der Wahrheit“ einen Bezug zu erkenntnistheoretischen Fragestellungen her. Was diese Verpflichtung bedeutet und wie weit sie reicht, hängt zunächst einmal davon ab, was unter Wahrheit zu verstehen ist und wie man sie erkennen kann. Dogmatische Überlegungen allein führen hier, wie im Verlauf dieser Arbeit deutlich werden wird, nicht weit. Das Verhältnis der Pflicht zur Wahrheitserforschung zum Überzeugungsmaßstab des § 261 StPO ist ebenfalls nur dann aufzuklären, wenn man sich zuvor Gedanken über den Wahrheitsbegriff als solchen macht. Hinzu kommt die bereits angedeutete besondere Rolle, die die Erforschung der „materiellen Wahrheit“ in der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht zu strafprozessualen Grundfragen einnimmt.4 Das gleichnamige Prinzip dient der Rechtsprechung teils als zentrales Argument, obwohl sein erkenntnistheoretischer Gehalt in den entsprechenden Entscheidungen offen bleibt. Das sollte hellhörig machen. Nach alldem ist Wahrheit im Strafprozess ein Untersuchungsgegenstand von grundlegender Bedeutung. Dieser Gegenstand bedarf indes noch einer gewissen Präzisierung: Wenn hier von Wahrheit die Rede ist, ist damit die Wahrheit von Vorstellungen, Sätzen oder Aussagen über Gegenstände der Welt beziehungsweise über Tatsachen gemeint. Bereits mit dieser vorsichtigen Beschreibung begibt man sich aus philosophischer Perspektive auf dünnes Eis. Ob etwa die Welt überhaupt aus Tatsachen und nicht lediglich aus Objekten zusammengesetzt ist und ob hinter Sätzen Propositionen als Wahrheitsträger stehen, ist philosophisch hoch umstritten. Deutlich soll an dieser Stelle nur werden, dass es um den deskriptiven Aspekt des Strafverfahrens geht, juristisch gesprochen also um Wahrheit im Bereich der Tatsachenfeststellung.5 Dieser Untersuchungsgegenstand ist nicht losgelöst von einigen weiteren, damit eng verwandten Gegenständen zu behandeln. So werden logische, wissenschaftstheoretische und sprachphilosophische Fragen im Verlauf der Untersuchung eine wichtige Rolle spielen. Gleiches gilt für spezifisch juristische Konzepte von Wahrscheinlichkeit, Überzeugung und Gewissheit. Psychologische und soziologische Befunde bleiben nicht ganz ausgespart.

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Ähnlich Volk, in: FS Salger, S. 411, 417; s. auch Hassemer, Einführung, S. 153 f. Ausführlich dazu S. 111 ff., 297 ff. 5 Die Tatsachenfeststellung ist im Strafprozess allerdings insofern normativ determiniert, als die relevanten Vorschriften des materiellen Strafrechts in gewissem Umfang den Blickwinkel vorgeben und das Strafprozessrecht weitgehend ihren Ablauf regelt; s. zum ersten Punkt Engisch, Logische Studien, S. 15. 4

A. Einleitung

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Dagegen ist die Wahrheitsfähigkeit von Normen allgemein sowie von Rechtsnormen kein Thema dieser Arbeit, ebenso wenig die Wahrheitsfähigkeit gerichtlicher Entscheidungen als aus präskriptiven und deskriptiven Elementen bestehender Einheit und die Wahrheitsfähigkeit juristischer Interpretationen.6 Dies aus folgenden Gründen: § 244 Abs. 2 StPO bezieht als normativer Ausgangspunkt die richterliche Pflicht zur Erforschung der Wahrheit ausdrücklich auf den tatsächlichen Bereich. Zudem gehen auch die wichtigsten philosophischen Wahrheitstheorien von deskriptiven Sätzen, Urteilen etc. aus. Die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit von Normen und damit verbundene Probleme gehören hingegen weniger zum Bereich der Erkenntnistheorie als zum Bereich der Metaethik. Um sie für das Strafrecht und Strafprozessrecht angemessen beantworten zu können, wäre eine umfassende Auseinandersetzung mit den verschiedenen metaethischen Positionen geboten, die allein ein ganzes Buch erforderte. Diese Arbeit tritt den Beweis der folgenden Thesen an: Unter historischen Aspekten kann man für den Strafprozess bis 1933 nicht von einem allgemein anerkannten obersten Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ sprechen. Der Wahrheitsbegriff selbst ist im strafverfahrensrechtlichen Diskurs vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart erkenntnistheoretisch ohne klare Konturen geblieben. Unklar ist bis heute auch sein Verhältnis zum für den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung zentralen Überzeugungsbegriff. Die Erforschung der „materiellen Wahrheit“ fungiert in der Entstehungsgeschichte der Reichsstrafprozessordnung und in der Rechtsprechung von Reichsgericht, Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht als erkenntnistheoretisch vager und gerade deshalb gefährlich flexibler Argumentationstopos. Entgegen einer verbreiteten Ansicht ist Wahrheit im Strafprozess nicht korrespondenztheoretisch aufzufassen. In erkenntnistheoretischer Hinsicht leiden die verschiedenen Korrespondenztheorien der Wahrheit an schwerwiegenden Mängeln. Tarskis semantischer Wahrheitsbegriff kann nicht dazu beitragen, den Wahrheitsbegriff und den Maßstab für Wahrheit im Strafverfahren zu erhellen. Die Konsensustheorie der Wahrheit gibt für das Strafverfahren nichts her. Gegenteilige Behauptungen finden keinen ausreichenden Rückhalt in den einschlägigen philosophischen Quellen. Erkenntnistheoretisch ist die Konsensustheorie nicht tragfähig. Die Kohärenztheorien der Wahrheit sind mit Blick auf den Wahrheitsbegriff im Strafprozess nicht aussagekräftig. Gewisse Relevanz kommt ihnen für das Revisi6 Letztere fasst Neumann, Wahrheit im Recht, S. 7, unter den Begriff der „rechtlichen Aussagen“, worunter er „Aussagen über das Recht“ (S. 8) versteht. Das ist insofern nicht unproblematisch, als Interpretationen von Rechtsnormen etwas anderes sind als Normbeschreibungen, also wahrheitsfähige, deskriptive Aussagen über das bestehende Recht wie „Nach § 211 StGB gilt, dass der Mörder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft wird“; zum Begriff der Normbeschreibung s. Zoglauer, Einführung, S. 23.

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onsverfahren zu, soweit es dort im Bereich des § 274 StPO und im Rahmen der erweiterten Revision um ein Wahrheitskriterium geht. Unter philosophischen Aspekten überzeugen auch diese Theorien nicht. Die verschiedenen Varianten des Deflationismus sind eine ernstzunehmende Herausforderung für gängige Vorstellungen von Wahrheit im Strafprozess. Auf philosophischer Ebene begegnen sie allerdings gewichtigen Einwänden. Wahrheit im Strafprozess ist im Sinne der pragmatischen Wahrheitstheorien zu verstehen. Sie ist damit keine „materielle“, „objektive“ Wahrheit, die schlicht gefunden wird. Vielmehr entsteht sie durch die Validierung einer Überzeugung in einem von spezifischen Methoden geleiteten Untersuchungsprozess. Die Wahrheit des Strafprozesses ist relative und vorläufige Wahrheit. Mit Relativismus und Subjektivismus hat das nichts zu tun. Erkenntnistheoretisch betrachtet sind die pragmatischen Ansätze den anderen großen Wahrheitstheorien in zentralen Punkten überlegen. Um diese Thesen zu überprüfen, sind umfangreiche dogmengeschichtliche, dogmatische und erkenntnistheoretische Untersuchungen erforderlich. Stellt man zwischen solchen sehr unterschiedlichen Zugängen zum Problemfeld von Wahrheit im Strafprozess keine Verbindung her, droht allerdings eine gewisse Beliebigkeit und Ziellosigkeit. Dieser Arbeit liegt daher insgesamt eine dem philosophischen Pragmatismus verpflichtete Methode zu Grunde: Danach sind erstens alle Theorien und etablierten Prinzipien nicht als abschließende Lösungen, sondern nur als vorläufig gültig und immer wieder überprüfungsbedürftig anzusehen.7 Deshalb hinterfragt diese Arbeit alle bisherigen Erklärungsansätze zu Wahrheit im Strafprozess. Zugleich nimmt sie die bislang nur wenig erschlossenen historischen Grundlagen der strafrechtlichen Diskussion und bisher von der Strafrechtswissenschaft weitgehend unbeachtete oder verkannte philosophische Wahrheitstheorien wie die deflationistischen und pragmatischen Ansätze in den Blick. Zweitens entspricht es der pragmatischen Methode, sämtliche Theorien nicht nur abstrakt, sondern auch und gerade nach ihren konkreten Konsequenzen zu beurteilen.8 Anders formuliert ist die Leistungsfähigkeit der jeweiligen Theorie im von ihr betroffenen Teil der Erfahrungswelt entscheidend. Bezogen auf das Problem von Wahrheit im Strafverfahren bedeutet das, sich nicht mit isolierten erkenntnistheoretischen oder dogmatischen Erwägungen zu begnügen, sondern die jeweiligen philosophischen Konzepte mit den bestehenden rechtlichen (und tatsächlichen) Verfahrensstrukturen in Verbindung zu setzen. Das ist in den meisten bisherigen Arbeiten nicht oder nur unzureichend geschehen. Der Gang der Untersuchung ergibt sich aus den zu überprüfenden Thesen und der skizierten Methode. Der erste Teil der Arbeit zum Wahrheitsbegriff in rechtswis7

S. Dewey, The Problem of Truth, in: The Middle Works VI, S. 12, 38, 46 f.; James, Pragmatism, S. 53 f. 8 Ausführlich dazu ebd., S. 45, 49 f., 52 f.; s. auch ders., Humanism and Truth, in: The Meaning of Truth, S. 51, 52; ders., Some Problems of Philosophy, S. 60, 62.

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senschaftlicher Literatur, Gesetzgebung und Rechtsprechung enthält eine historische Analyse und zugleich eine Bestandsaufnahme der rechtsdogmatischen und sonstigen Bemühungen um den Wahrheitsbegriff. Er beginnt mit einer Untersuchung des Diskurses um Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Gewissheit und Überzeugung im Strafprozess ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und dessen Widerhalls in der Reformgesetzgebung seit den 1840er Jahren. Dieser Diskurs ist bislang kaum erschlossen, obwohl viele Weichenstellungen der Reichsstrafprozessordnung erst vor seinem Hintergrund verständlich werden und viele seiner Elemente bis heute nachwirken. Anschließend stehen Gehalt und Funktion des Wahrheitsbegriffs und damit zusammenhängende Fragen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und strafrechtlicher Literatur des Kaiserreichs und der Weimarer Republik im Blickpunkt, wobei der Entstehungsgeschichte der Reichsstrafprozessordnung besonderes Gewicht zukommt. Ein eigenes Kapitel ist dem Wahrheitsbegriff im Strafverfahrensrecht des „Dritten Reichs“ gewidmet. Es kreist insbesondere um die Frage, wie die erstmalige Normierung der Pflicht zur Erforschung der Wahrheit im Jahr 1935 aufzufassen ist. Der erste Teil schließt mit einem Kapitel zum Wahrheitsbegriff in Gesetzgebung, Rechtsprechung und einschlägiger Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Darin soll vor allem die Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht mit Blick auf den Wahrheitsbegriff und damit verwandte Problemkreise analysiert und die umfangreiche strafrechtliche Literatur auf ihre wichtigsten Erträge hin gesichtet werden. Der zweite Teil der Arbeit verbindet durchgängig eine erkenntnistheoretische Perspektive mit dogmatischen Überlegungen. Er ist deutlich breiter angelegt als alle bisherigen strafrechtlichen Arbeiten zur Wahrheitsproblematik, da nicht nur einzelne, sondern alle großen philosophischen Wahrheitstheorien mit ihren führenden Vertretern herangezogen werden sollen. Seine fünf Kapitel behandeln verschiedene Korrespondenztheorien der Wahrheit und Tarskis semantischen Wahrheitsbegriff, die Konsensustheorie der Wahrheit, unterschiedliche Kohärenztheorien der Wahrheit, eine Reihe deflationistischer Ansätze und die pragmatischen Wahrheitstheorien von James und Dewey. All diese Kapitel folgen einer einheitlichen Grundstruktur, die die oben umrissene pragmatische Methode widerspiegelt. In einem ersten Schritt geht es darum, das jeweilige Wahrheitskonzept anhand der philosophischen Primärtexte herauszuarbeiten. Diesen wichtigen Schritt sparen zahlreiche strafrechtswissenschaftliche Arbeiten zum Wahrheitsbegriff erstaunlicherweise aus. Das hat, wie zu zeigen sein wird, zu teils enormen Verzerrungen und Irrtümern geführt. In einem zweiten Schritt wird untersucht, inwieweit sich die jeweilige Wahrheitstheorie auf den Strafprozess nach der Strafprozessordnung übertragen lässt und was sich aus ihr für das Verständnis von Wahrheit in diesem Kontext ergibt. Nur dann, wenn man die Schnittstelle von philosophischen Ansätzen und gesetzlichen, dogmatischen sowie in der Justizpraxis entstandenen Verfahrensstrukturen in den Mittelpunkt rückt, kann man die verschiedenen Wahrheitstheorien tatsächlich für den Strafprozess fruchtbar machen. In einem dritten Schritt sollen die unterschiedlichen Wahrheitskonzepte auf erkenntnistheoretischer Ebene diskutiert werden.

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Zuletzt ein Wort zur Reichweite dieser Untersuchung: Da die deutsche Strafprozessordnung auch für den zweiten, primär erkenntnistheoretischen Teil den normativen Anknüpfungspunkt bildet, sind dessen Ergebnisse in gewissem Umfang relativ. In vielen Punkten ist die Diskussion jedoch von Besonderheiten des deutschen Strafverfahrens unabhängig. Insofern soll diese Arbeit auch etwas zum Verständnis von Wahrheit im Strafprozess jenseits einzelstaatlicher normativer Vorgaben beitragen.

B. Der Wahrheitsbegriff in strafrechtswissenschaftlicher Literatur, Gesetzgebung und Rechtsprechung I. Ausgangspunkt: Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Gewissheit und Überzeugung in der strafrechtlichen Reformdiskussion des 18. und 19. Jahrhunderts und in der partikularstaatlichen Reformgesetzgebung Den Blick bis zurück ins 18. Jahrhundert zu richten, mag zu Beginn dieser Arbeit überraschen. Immerhin ist die Strafprozessordnung von 1877 mit all ihren späteren Änderungen ihr normativer und die philosophische Diskussion vor allem des 20. und 21. Jahrhunderts ihr erkenntnistheoretischer Bezugspunkt. Dennoch ist es sinnvoll, zunächst eine erweiterte historische Perspektive einzunehmen: Bis heute in Rechtsprechung und Literatur verbreitete Positionen zur „materiellen Wahrheit“ und richterlichen Überzeugung beruhen ebenso wie die einschlägigen zentralen Normen der Strafprozessordnung auf einem ebenso alten wie vielschichtigen Diskurs um Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Gewissheit und Überzeugung im Strafverfahren. Dieser Diskurs hebt im 18. Jahrhundert an, ist von großer Bedeutung für die Reformdiskussion etwa ab 1800 und hat sich in der Reformgesetzgebung seit den 1840er Jahren niedergeschlagen. Er war bei der Entstehung der Reichsstrafprozessordnung weiter präsent und das Reichsgericht hat früh und wiederholt an ihn angeknüpft. Auch die Strafrechtswissenschaft des Kaiserreichs ist in weiten Teilen von ihm geprägt. Über legislatorische, justizielle und rechtswissenschaftliche Traditionslinien haben einige seiner wichtigsten Elemente in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ fortgewirkt – wenngleich mit diversen, teils politisch motivierten Akzentverschiebungen – und schließlich Eingang in die Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft nach 1945 gefunden. Diesen Diskurs gilt es in seiner argumentativen Vielfalt zu beleuchten. Nur so lässt sich Klarheit darüber erlangen, inwieweit man historisch-dogmatisch für den Strafprozess bis zur Entstehung der Reichsstrafprozessordnung überhaupt von einem übergeordneten Ziel der Wahrheitserforschung und einem bestimmten Wahrheitsbegriff sprechen kann. Zugleich geht es um die Frage, wie solide das Fundament einiger noch heute vertretener Positionen zu Wahrheit im Strafverfahren und damit zusammenhängenden Problemen ist.

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B. Der Wahrheitsbegriff

1. Weichenstellungen im 18. Jahrhundert a) Wichtige strukturelle Veränderungen Im 18. Jahrhundert erfährt der Strafprozess grundlegende Umwälzungen: Die Folter wird abgeschafft, allerdings nicht in erster Linie aufgrund ihrer Grausamkeit, sondern aufgrund von Zweifeln an ihrer Zweckmäßigkeit.9 Zugleich wird erstmals eine Verurteilung nur anhand von Indizien möglich, die bis dahin lediglich für die Festlegung von Foltergraden relevant waren oder außerordentliche Strafen rechtfertigen konnten.10 Diese Entwicklungen sind vor dem Hintergrund eines grundsätzlich gewandelten Verfahrensverständnisses zu sehen. Noch in der frühen Neuzeit diente die Verurteilung und Bestrafung des Täters auch dem Ziel, ihn als Sünder mit Gott zu versöhnen und damit sein Seelenheil zu bewahren; dazu war ein Geständnis als Grundlage der Reue unerlässlich.11 Ansatzweise kommt das in Art. 102 der Carolina („Von beichten und vermanen / nach der verurtheylung.“) zum Ausdruck12, der eine Einwirkung auf den zum Tode Verurteilten in der Phase zwischen Urteil und Hinrichtung zum Zweck seiner religiösen Läuterung vorschreibt.13 Im Zeitalter der Aufklärung verlor das Geständnis seine religiöse Bedeutung.14 Bedingt durch den nun allein maßgeblichen weltlichen Verfahrenszweck der Verbrechensbekämpfung erlangte die Überführung anhand von Indizien den gleichen Rang. b) Moralische Gewissheit und Wahrscheinlichkeit als Maßstab im Strafprozess Einige der wichtigsten Strafrechtsdenker des 18. Jahrhunderts wandten sich vor diesem Hintergrund den im Strafverfahren geltenden Maßstäben zu. Sie entwickelten Positionen, die für die weitere Diskussion wegweisend werden sollten. Boehmer unterschied bereits 1732 zwischen mathematischer und moralischer Gewissheit, wobei er die letztere als für den Strafprozess ausreichend erachtete und ihr einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde legte:

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Näher Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 163 ff. Ebd., S. 165 f. 11 Ebd., S. 68 ff., 166. 12 Näher ebd., S. 68 ff. 13 „ITem nach der verurtheylung des armen zuom todt / soll man jn anderweyde beichten lassen / auch zuom wenigsten eynen priester oder zwen am außfüren / oder außschleyffen bei jm sein / die jm zuo der lieb gottes / rechtem glauben vnd vertrawen zuo Gott vnd dem verdienst Christi vnsers seligmachers / auch zuo berewung seiner sünd vermanen / Man mag jm auch inn dem füren für gericht vnd außfüren zuom todt stettigs eyn Crucifix fürtragen.“ 14 Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 166, hebt in diesem Zusammenhang die Vorreiterrolle des „Philosophenkönigs“ Friedrich II. von Preußen bei der Abschaffung der Folter hervor. 10

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„impossibile est, de omnibus rebus mathematicam certitudinem exigere; plerumque moralis sufficit, quae ex summa probilitate deducitur, & in criminalibus ex nexu factae confessionis cum indiciis antecedentibus petenda.“15

Gegen den Maßstab mathematischer, jedes andere Ergebnis ausschließender Wahrheit, den er für die „quanta depravatio judiciorum“ verantwortlich macht, führt er später ein weiteres Argument ins Feld. Im Strafverfahren habe man es mit moralischen Handlungen zu tun, bei denen gerade keine mathematischen Wahrheiten erreichbar seien; die Forderung nach einer das Wesen moralischer Handlungen übersteigenden Gewissheit sei absurd.16 Hinzu kommt eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende17, pragmatisch-utilitaristische Auffassung des Strafrechts, die Boehmer bei der Kommentierung des Kindstötungs-Artikels der Carolina entwickelt. Dass er im Strafprozess lediglich Wahrscheinlichkeit („verisimilitudo“) statt absoluter Wahrheit verlangt, ist danach auch der Nützlichkeit eines solchen Maßstabs geschuldet. Denn nach Boehmer beherrscht der Gedanke des Gemeinwohls die Gerechtigkeit. Die auf das Gemeinwohl bezogene Gerechtigkeit sei das oberste Gesetz in Kriminalangelegenheiten, und es sei frevelhaft, dieses Gesetz zu untergraben.18 Mit anderen Worten: Wer mathematische Wahrheit als Maßstab anlegt, kann niemals zu für eine Verurteilung ausreichender Gewissheit gelangen. Eine effektive Verbrechensbekämpfung ist nur bei abgesenkten Anforderungen möglich. Leyser verfocht im selben Zeitraum eine ganz ähnliche Position19 und ließ die moralische Gewissheit ausdrücklich für den Kern des Strafverfahrens, den Nachweis der Tat als solcher (das „corpus delicti“) genügen: „Ad corpus delicti certitudo moralis, qualis in rebus humanis haberi potest, non mathematica et absoluta, requiritur.“20 Justi, ein Schüler von Leyser21, formulierte im Anschluss daran einen subjektiven Maßstab für das „corpus delicti“. Ausreichend ist danach „die voll-

15 Boehmer, Elementa, Sectio I, Cap. XIII, § 241; in meiner Übersetzung: „es ist unmöglich, in Bezug auf alle Angelegenheiten mathematische Gewissheit einzufordern; meist genügt eine moralische Gewissheit, die aus höchster Wahrscheinlichkeit abgeleitet wird, und die in Strafsachen aus der Verbindung eines abgelegten Geständnisses mit vorangehenden Indizien zu ermitteln ist.“ 16 Boehmer, Observationes, Praefatio, S. VIII f. 17 Treffend weist Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 169, auf die hier aufscheinende grundsätzliche Ablösung des Strafrechts von seinen religiösen Bezügen und den nunmehr ausschließlichen Zweck der Verbrechensbekämpfung hin. 18 Boehmer, Meditationes, Art. CXXXI, § 3 (S. 554). 19 Ob er oder Boehmer zuerst den Maßstab der moralischen Gewissheit vertreten hat, lässt sich kaum aufklären; jedenfalls war der die maßgebliche Stelle enthaltende Band 8 von Leysers „Meditationes ad Pandectas“ 1732, also im Jahr der Erstveröffentlichung von Boehmers „Elementa“, noch nicht erschienen. 20 Leyser, Meditationes ad Pandectas, Spec. DLXI, Med. 4 (S. 375); in meiner Übersetzung: „Zum Nachweis der Tat wird eine moralische Gewissheit gefordert, wie man sie in menschlichen Angelegenheiten haben kann, nicht eine mathematische und absolute.“ 21 S. Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 168.

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kommene Überzeugung des Richters, daß eine Missethat wahrhaftig geschehen sey“.22 Einen ähnlichen Ansatz wie Boehmer23 verfolgte wenige Jahrzehnte später auch der ungemein wirkmächtige Beccaria. Im Strafprozess soll eine moralische Gewissheit, die in bloßer Wahrscheinlichkeit besteht, zur Verurteilung genügen: „Ma svanirà il paradosso per chi considera che rigorosamente la certezza morale non è che una probabilità, ma probabilità tale che è chiamata certezza, perché ogni uomo di buon senso vi acconsente necessariamente per una consuetudine nata dalla necessità di agire, ed anteriore ad ogni speculazione; la certezza che si richiede per accertare un uomo reo è dunque quella che determina ogni uomo nelle operazioni piú importanti della vita.“24

Diese Begründung geht etwas über diejenige Boehmers hinaus. Die moralische Gewissheit Beccarias ist eine solche, die Menschen den wichtigsten Handlungen ihres eigenen Lebens zugrunde legen und auf die sie sich damit auch im für das Leben des Beschuldigten höchst bedeutsamen Strafprozess stützen dürfen. Das ist keine ausgefeilte erkenntnistheoretische Argumentation, sondern beruht auf Alltagsbeobachtungen und dem beim Leser unmittelbar angesprochenen gesunden Menschenverstand. Letzteren hält Beccaria ganz allgemein im Strafverfahren für den brauchbarsten Maßstab und stellt ihn nicht ohne Ironie („un semplice ed ordinario buon senso“) dem viel täuschungsanfälligeren, durch juristische Studien geradezu verbildeten „Sachverstand“ der ständig und gewohnheitsmäßig nach Schuldigen suchenden Richter gegenüber.25 In der Zusammenschau haben Boehmer, Leyser, Justi und Beccaria bereits das Feld weitgehend abgesteckt, auf dem die Diskussion um Ziele und Maßstäbe des Strafverfahrens bis heute stattfindet. Sie haben das Verhältnis von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, den Gehalt beider Begriffe sowie die Berechtigung eines eher subjektiven und abgesenkten Maßstabs thematisiert. Ihre Ansätze haben den weiteren Diskurs zudem in erstaunlichem Umfang geprägt, wie im Laufe der Untersuchung deutlich werden wird.

22 Justi, Anzeigung, S. 354 f.; dass er damit auch die moralische Gewissheit definiert haben soll, erscheint angesichts der Formulierung („Das Corpus delicti ist nichts anders…“) und der angeführten Stelle Leysers zweifelhaft; so aber Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 168. 23 Zu einem möglichen Einfluss Boehmers auf Beccaria vgl. ebd., S. 170. 24 Beccaria, Dei delitti e delle pene, S. 34; in meiner Übersetzung: „Aber das Paradox [dass Wahrscheinlichkeit für den Beweis ausreicht] wird für den verschwinden, der bedenkt, dass die moralische Gewissheit nichts anderes ist als eine Wahrscheinlichkeit, aber eine solche Wahrscheinlichkeit, die Gewissheit genannt wird, weil jeder verständige Mensch sie als Gewohnheit anerkennt, die aus der Notwendigkeit zu handeln entsteht und jeder Spekulation vorhergeht; die Gewissheit, die erforderlich ist, um einen Menschen für schuldig zu erachten, ist dieselbe Gewissheit, die jeden Menschen bei den wichtigsten Handlungen seines Lebens leitet.“ 25 Ebd., S. 35.

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2. Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Gewissheit und Überzeugung in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Entstehung der Reichsstrafprozessordnung Die den eben genannten Denkern nachfolgenden Autoren haben häufig ausführliche systematische Abhandlungen zum Maßstab des Strafverfahrens und zur Beweislehre verfasst. Auf den ersten Blick hat man es mit einer kaum überschaubaren Fülle entsprechender Veröffentlichungen zu tun. Darin lässt sich jedoch eine Reihe wiederkehrender Fragestellungen ausmachen, die bei den partikularstaatlichen Reformen und noch bei Entstehung der Reichsstrafprozessordnung gegenwärtig waren. Mit Blick auf den Wahrheitsbegriff sind nicht nur das aufkommende Verfahrensziel „materieller Wahrheit“, dessen Verhältnis zum Untersuchungsgrundsatz und alternative Wahrheitskonzepte zu behandeln. Aufschlussreich ist auch die Diskussion um einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab im Strafprozess und das Verhältnis der geforderten Wahrheitserforschung zum Überzeugungs- beziehungsweise Gewissheitsmaßstab, der mit dem neuen Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung verknüpft weiter Geltung beanspruchte. a) „Materielle Wahrheit“, ihr Verhältnis zum Untersuchungsgrundsatz und alternative Wahrheitskonzepte aa) Das aufkommende Verfahrensziel der Erforschung „materieller Wahrheit“ Vergegenwärtigt man sich nochmals, was die strafrechtlichen Vordenker des 18. Jahrhunderts als Ziel und Maßstab des Strafverfahrens ansahen, dann zeigt sich, dass der Richter nicht etwa zu Wahrheit gelangen musste. Boehmers und Leysers „certitudo moralis“, Justis „vollkommene Überzeugung“ und Beccarias „certezza morale“ belegen den maßgeblichen Rang einer rational gebildeten Gewissheit beziehungsweise Überzeugung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit verbunden ist. Von einem Prozessziel „materieller Wahrheit“ war nicht die Rede. Einzelne Stimmen behielten dieses Programm bei. So verteidigte Filangieri im Anschluss an Beccaria die Gewissheit als alleinige Grundlage des strafrichterlichen Urteils. Wahrheit oder Falschheit seien absolut und lägen in den Sätzen selbst. Dagegen sei Gewissheit ebenso wie Ungewissheit oder Zweifel eine seelische Haltung des urteilenden Menschen und deshalb relativ.26 Filangieri definiert die richterliche Gewissheit als „Zustand der von der Wahrheit eines Satzes überzeugten Seele“.27 26

Filangieri, System der Gesetzgebung III, S. 218 f., 224; zu Gewissheit und Überzeugung als übergeordnetem Maßstab im Strafverfahren s. zudem Tittmann, Handbuch, § 853 sowie Friedreich, Beiträge zur Gesetzgebung und practischen Jurisprudenz 2 (1828), 2 ff., der einen auf Wahrscheinlichkeit beruhenden subjektiven Überzeugungsmaßstab der im Strafprozess kaum erreichbaren Gewissheit gegenüberstellte. 27 Filangieri, System der Gesetzgebung III, S. 219 (s. auch S. 227).

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Dem standen bereits um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Autoren gegenüber, die die Erforschung der Wahrheit im Strafprozess für entscheidend hielten. So erklärte etwa Soden die Schuld oder Unschuld des Angeklagten offenbarende Wahrheit zum übergeordneten Ziel des Strafverfahrens.28 Das hinderte ihn indes nicht daran, den Beweis als (im besten Falle das Gegenteil ausschließende) Überzeugung des Richters zu definieren29, ohne auf das Verhältnis von Wahrheit und Überzeugung weiter einzugehen. Wahrheit im Sinne Sodens ist wohl nichts anderes als eine Überzeugung höchsten Grades. Kleinschrod verband in ähnlicher Weise die grundsätzliche Ausrichtung des Verfahrens auf die Erforschung der Wahrheit mit dem Maßstab einer allgemein für das menschliche Leben genügenden Gewissheit.30 Einer der einflussreichsten Strafrechtsgelehrten des 19. Jahrhunderts, Feuerbach, hatte den Wahrheitsbegriff zunächst nur im Zusammenhang mit den Begriffen der Gewissheit und des Beweises gebraucht31 und kein eigenständiges Ziel der Wahrheitserforschung verfochten. Das änderte sich mit seinen „Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht“ aus dem Jahre 1813. Mit sehr allgemeinen Erwägungen begründet er dort, warum Wahrheit ein Ziel des Strafverfahrens sein müsse: Die Strafjustiz sei auf umfassende Gerechtigkeit gerichtet; Bedingung eines entsprechenden Willens sei es aber, das Gerechte zu erkennen.32 Wie dieses vage Wahrheitsziel mit der weiterhin maßstabgebenden Gewissheit des Richters33 zusammenhängt, bleibt hier allerdings noch unklar. Später hat Feuerbach seine Position etwas näher ausgeführt. Jedes Gerichtsverfahren hat danach den „Zweck einer gründlichen d. i. wahren, mit dem Rechte und den Thatsachen vollständig übereinstimmenden Entscheidung“.34 Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem französischen Jurysystem erklärt Feuerbach, dass die für Vorurteile, Affekte und Ungenauigkeiten anfällige Überzeugung nicht für ein Urteil ausreichen könne. Der Staat müsse im Rahmen der menschlichen Erkenntniskräfte vielmehr „materielle Wahrheit“ als Grundlage richterlicher Gewissheit anstreben.35 Die Erforschung gerade der „materiellen Wahrheit“ als Ziel des Strafverfahrens fand zahlreiche weitere Anhänger. Jarke etwa bemerkte 1825 polemisch, bei Verzicht darauf sei das Strafverfahren nichts anderes als ein „Loostopf“.36 Bauer hob wie28 Soden, Geist der peinlichen Gesetzgebung Teutschlands, § 542 (s. auch §§ 546 f.); ähnlich Ranfft, Über den Beweis, § 3 (S. 2 f.). 29 Soden, Geist der peinlichen Gesetzgebung Teutschlands, § 554. 30 Kleinschrod, Archiv des Criminalrechts 2, viertes Stück (1800), 1, 15; ders., Archiv des Criminalrechts 4, drittes Stück (1802), § 1 f. (44 ff.), § 4 (50 ff.). 31 Feuerbach, Lehrbuch, § 572 (S. 457), § 594 (S. 471 f.); danach ist der Beweis i. e. S. der „Inbegriff der Gründe für die Wahrheit einer Thatsache, in so ferne durch dieselben eine volle Gewissheit begründet wird“ (ebd., § 594 (S. 471)). 32 Ders., Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, S. 112. 33 S. ebd., S. 131. 34 Ders., Betrachtungen über die Oeffentlichkeit I, S. 235. 35 Ders., Betrachtungen über die Oeffentlichkeit II, S. 455 f. 36 Jarke, Neues Archiv des Criminalrechts 8 (1825), 97, 99.

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derholt den Unterschied zwischen der formalen, vom Willen der Verfahrensbeteiligten abhängigen Wahrheit des Zivilprozesses und der im Strafverfahren zu suchenden „materielle[n]“ beziehungsweise „materiale[n]“ Wahrheit hervor.37 Auch andere traten anhand dieses Vergleichs für das Ziel „materieller Wahrheit“ ein.38 Nach den partikularstaatlichen Reformen der 1840er Jahre, welche die freie richterliche Beweiswürdigung in Gesetzesform gossen, oft aber keine Verpflichtung zur Wahrheitserforschung mit sich brachten, ergibt sich ein ähnliches Bild. Die Gerechtigkeit einer Entscheidung sollte nur bei völliger Klarheit ihrer Tatsachengrundlage und damit bei ihrer „materiellen Wahrheit“ verbürgt sein.39 bb) Der Begriff der „materiellen Wahrheit“ Was ist unter „materieller Wahrheit“ zu verstehen? Angesichts der Fülle von Stimmen, die für ein solches Verfahrensziel eintraten, könnte man eine weitgehend akzeptierte, aussagekräftige Definition oder wenigstens Umschreibung der „materiellen Wahrheit“ erwarten. Beides hat das 19. Jahrhundert indes nicht hervorgebracht. Um welch vage Formel es sich hierbei von Anfang an handelte, offenbaren bereits die Bemühungen des sonst so sprachgewaltigen Feuerbach. Bei der Untersuchung des Jurysystems spricht Feuerbach sich gegen die subjektive Wahrheitsüberzeugung als Kriterium der Wahrheit aus. Das begründet er damit, dass Wahrheit in den Gegenständen selbst liege, während Überzeugung etwas nur Menschliches sei.40 Erkenntnistheoretisch ist das nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Denn Wahrheit in diesem Sinne kommt nicht menschlichen Vorstellungen oder Urteilen zu und ist deshalb auch von deren Verhältnis zu den Gegenständen der Welt unabhängig. Sie ist eher der physikalischen Eigenschaft eines Gegenstands vergleichbar. Dass Feuerbach sich der Problematik dieser von korrespondenztheoretischen Positionen abweichenden Auffassung bewusst war, ist nicht ersichtlich. An anderer Stelle deutet er im Zusammenhang mit dem Parteiverfahren an, dass das „wirkliche und wahre“ Recht unabhängig von der zu seiner Geltung erforderlichen Anerkennung durch den Richter existiere; der Rechtssuchende müsse dafür sorgen, dass das Gericht die „vollständige deutliche Einsicht in die Wahrheit“ der jeweils relevanten Tatsachen erlange.41 Hier schimmert erneut ein Verständnis von Wahrheit als vor jeder menschlichen Erkenntnis bestehender Eigenschaft von Tatsachen (und Rechten) selbst durch. Klarer wird Feuerbach nicht. Wenig aussagekräftig mutet schließlich 37

Bauer, Lehrbuch, § 103 (S. 153); ders., Theorie, S. 4 f., 19, 28. W. Müller, Lehrbuch, § 5 (S. 6 f.), § 75 (S. 143), § 96 (S. 190); Puchta, Der InquisitionsProzeß, S. 11, 13, 150. 39 Ortloff, Das Strafverfahren, § 8 (S. 34); s. auch Vassalli, Betrachtungen, § 1 (S. 12 f.), § 2 (S. 13). 40 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, S. 135. 41 Ders., Betrachtungen über die Oeffentlichkeit I, S. 235. 38

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seine Gleichsetzung von „materielle[r]“ und „wirkliche[r]“ Wahrheit42 an. Dieses Begriffspaar findet sich auch bei anderen Autoren, erfährt jedoch dort ebenfalls keine nähere Erläuterung.43 Manche hielten zudem nach außen am Begriff der „materiellen Wahrheit“ fest, setzten diese jedoch schlicht mit hohen Gewissheitsgraden gleich. So soll die „materielle Wahrheit“ mit der von einer bestimmten Beweisstärke, nämlich dem vollständigen Beweis, abhängigen Gewissheit übereinstimmen44 oder eine der mathematischen Gewissheit nahekommende Gewissheit des Richters bezeichnen45. Andere versuchten, der „materiellen Wahrheit“ zu mehr Gehalt zu verhelfen, indem sie auf ein korrespondenztheoretisches Wahrheitsverständnis zurückgriffen und es um Begriffe aus der Beweislehre ergänzten. Kleinschrod meinte, der Strafprozess habe zum Ziel, „solche Vorstellungen von einem Vorfalle zu erlangen, welche mit dem Gegenstande, worüber untersucht wird, übereinstimmen“.46 Das entspricht herkömmlichen Formulierungen der Korrespondenztheorie. Indes schwächt der zugleich eingeführte Maßstab der für das Alltagsleben genügenden und in der menschlichen Psyche verankerten „gewöhnlichen Gewissheit“47 das korrespondenztheoretische Programm der Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand ab. Jarke griff Feuerbachs Behauptung, Wahrheit liege nur in der Sache, mit dem Argument an, sie lasse sich in den inhaltsleeren Satz „Jede Sache ist, was sie ist“ umformulieren.48 Er definiert seinerseits „materielle Wahrheit“ als „Uebereinstimmung der Ueberzeugung des urtheilenden Subjects mit dem erkannten Objecte“.49 Zugleich meint Jarke aber, die Überzeugung allein könne nicht die Richtigkeit der Entscheidung gewährleisten; dafür seien die Gründe des Urteils erforderlich.50 Inwieweit dieser etwas unvermittelt eingeführte Richtigkeitsmaßstab, der auf Nachvollziehbarkeit der Entscheidung setzt, mit der zuvor geforderten „materiellen Wahrheit“ zusammenstimmt, erklärt er allerdings nicht. Zuletzt ist ein korrespondenztheoretischer Einfluss noch bei Savigny zu erkennen, der von der „Übereinstimmung des Urtheils mit der Wirklichkeit“51 spricht.

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Ders., Betrachtungen über die Offentlichkeit II, S. 469. S. Bauer, Lehrbuch, § 103 (S. 153); ders., Theorie, S. 19, 28; W. Müller, Lehrbuch, § 96 (S. 190); s. auch Puchta, Der Inquisitions-Prozeß, S. 11. 44 Bauer, Theorie, S. 19, 44. 45 Ortloff, Das Strafverfahren, § 8 (S. 34). 46 Kleinschrod, Archiv des Criminalrechts 4, drittes Stück (1802), § 1 (44). 47 Ebd., § 1 (44 f.), § 2 (46 f.). 48 Jarke, Neues Archiv des Criminalrechts 8 (1825), 97, 98 f. 49 Ebd. 50 Ebd., 100. 51 Savigny, GA 6 (1858), 469, 486. 43

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cc) Zur Verbindung von „materieller Wahrheit“ und inquisitorischer Verfahrensstruktur In der Reformdiskussion des 19. Jahrhunderts spielte die Frage eine wichtige Rolle, ob zwischen dem Ziel „materieller“, „objektiver“ Wahrheit und der inquisitorischen Ausgestaltung des Strafverfahrens ein besonderer, vielleicht sogar zwingender Zusammenhang bestehe. Aus den kirchenrechtlichen Ursprüngen des Inquisitionsprozesses ergibt sich ein solcher Zusammenhang nicht: Papst Innocenz III. reagierte um 1200 mit seinen Neuerungen auf krisenhafte Entwicklungen innerhalb der Kirche. Zu Beginn seines Pontifikats sah er sich zunehmender Häresie und zahlreichen Kirchenoberen gegenüber, die sich wie weltliche Herrscher gebärdeten und sogar bei schweren Verfehlungen in aller Regel einer Strafe entgingen. Grund hierfür war einerseits, dass in den seltensten Fällen ein für das Akkusationsverfahren notwendiger geistlicher Ankläger bereit stand, und andererseits die für kriminelle kirchliche Würdenträger bestehende Möglichkeit, sich im Infamieverfahren mit einem simplen Reinigungseid vor weiterer Verfolgung zu schützen.52 Zu dem aus dieser verfahrenen Lage resultierenden Handlungsdruck passt es, dass der Papst sich nicht mit rechtlichen oder erkenntnistheoretischen Feinheiten aufhielt. Er berief sich vielmehr unmittelbar auf die Bibel, statt das ausdifferenzierte römische Recht zu bemühen.53 Damit nutzte er in einer kirchenpolitisch schwierigen Lage pragmatisch seine gesamte theologische Autorität, um ein wirksames Disziplinierungsinstrument einzuführen. Von einer überzeugenden rechtlichen Begründung für das Inquisitionsverfahren kann man bei der bloßen Wiedergabe zweier diesbezüglich wenig aussagekräftiger Bibelstellen54 dagegen nicht sprechen. Auch erkenntnistheoretisch sind diese Stellen und die sonstigen Ausführungen des Papstes unergiebig. Daher lässt sich aus der Entstehung des Inquisitionsverfahrens schwerlich etwas über einen damit verbundenen Wahrheitsbegriff ableiten. Dieser war neben dem entscheidenden Vorgehen von Amts wegen schlicht nicht relevant. Biener, der im 19. Jahrhundert gründliche rechtsgeschichtliche Untersuchungen zu den Ursprüngen des Inquisitionsprozesses angestellt hat, gebraucht denn auch den Begriff der „materiellen“ oder „objektiven Wahrheit“ in diesem Kontext nicht.55 Doch rechtsgeschichtlichen Erwägungen kam in der Diskussion um „materielle Wahrheit“ und Inquisitionsprinzip nur geringes Gewicht zu. Im Mittelpunkt stand die angeblich zivilprozessuale Prägung des Anklageverfahrens. Temme hatte 1841 52 Biener, Beiträge, S. 40 f.; Jerouschek, ZStW 104 (1992), 328, 333 ff.; Trusen, ZRG KA 74 (1988), 168, 184 ff., 203. 53 Näher Oehler, in: GS Hilde Kaufmann, S. 847, 849 ff., der diesen Argumentationsansatz für sonderbar hält; Oehler liefert im Übrigen eine hilfreiche Zusammenstellung und Übersetzung der relevanten Textstellen. 54 Lk 16, 2: „Und er ließ ihn rufen und sprach zu ihm: Was höre ich da von dir? Gib Rechenschaft über deine Verwaltung; denn du kannst hinfort nicht Verwalter sein.“; 1. Mose 18, 21: „Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist, oder ob’s nicht so sei, damit ich’s wisse.“ 55 S. Biener, Beiträge, S. 40 ff.; ders., Ueber die neueren Vorschläge, S. 74 f.

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gegen den fiskalischen Anklageprozess eingewandt, aufgrund dessen zivilprozessualer Struktur und der unparteiischen Position des Richters sei es dort unmöglich, die objektive Wahrheit zu ermitteln; diese lasse sich nur in einem inquisitorisch strukturierten Verfahren erreichen.56 Die selbe Ansicht vertrat Höpfner wenige Jahre später und fügte ihr eine allgemeine Unterscheidung auf rechtlicher Ebene hinzu: „Das Princip des Angeklageverfahrens trägt einen mehr privatrechtlichen Charakter; es bezweckt, wie der Civilproceß, formelles Recht. Der Träger des Untersuchungsverfahrens dagegen ist die höhere Idee der Gerechtigkeit, das materielle Recht.“57 Mehrere Autoren bestritten diese auf unzureichender Grundlage getroffenen Behauptungen. So meinte Mittermaier, eine zwingende Verbindung von „materieller Wahrheit“ und inquisitorischem Verfahren anzunehmen, sei verfehlt; wenn „materielle Wahrheit“ für Menschen überhaupt zugänglich sei, dann ziele auch das Anklageverfahren darauf ab.58 Zachariae führte ein Argument an, das an die historische Rechtsschule erinnert: Es existiere nicht nur eine Möglichkeit, um zur Gewissheit beziehungsweise Wahrheit zu gelangen. Die verschiedenen darauf gerichteten Verfahrensformen verkörperten die im Volk bestehende „Rechtsidee“ und seien damit als Mittel zu ein und demselben Zweck grundsätzlich gleichwertig.59 Schließlich hielt es Planck angesichts der Voreingenommenheit der Beweise sammelnden Untersuchungspersonen für falsch, „materielle Wahrheit“ durch das Untersuchungsprinzip verbürgt zu sehen.60 Diese Befangenheit könne man nicht durch bloße Aufgabenverteilung innerhalb des Gerichts ausgleichen; durch Einführung der Staats- und Rechtsanwaltschaft sei es dagegen möglich, willkürliches Verhalten der Beteiligten zu verhindern.61 Nach alldem bestanden schon in der Literatur des 19. Jahrhunderts erhebliche Zweifel daran, dass ein inquisitorisches Verfahrensmodell „materielle Wahrheit“ garantieren könne. Der erkenntnistheoretische Gehalt der „materiellen Wahrheit“ blieb in der entsprechenden Diskussion dunkel. dd) Alternative Wahrheitskonzepte für den Strafprozess Wie wenig Übereinkunft in Bezug auf das Verfahrensziel der „materiellen Wahrheit“ herrschte, zeigen die alternativen Konzepte von Wahrheit im Strafprozess, die einige Autoren im 19. Jahrhundert entwickelten. Weber unterzog die Versuche, der „materiellen Wahrheit“ ein korrespondenztheoretisches Fundament zu geben, bereits 1825 einer philosophisch fundierten Generalkritik. Er konstatiert, dass die 56

Temme, Zeitschrift für deutsches Strafverfahren 1 (1841), 512, 515, 518. Höpfner, Über den Anklageprocess, S. 6 f.; auf S. 42 nennt er als Ziel das „Streben nach – materieller – Wahrheit“. 58 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 282. 59 Zachariae, Die Gebrechen, S. 27 ff. 60 Planck, Systematische Darstellung, § 60 (S. 153). 61 Ebd. 57

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zeitgenössische Philosophie keine gemeinhin akzeptierte Antwort auf die Fragen, was unter Wahrheit, Gewissheit und Wahrscheinlichkeit zu verstehen ist, hervorgebracht habe.62 Dann führt er schon damals geläufige Einwände gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit an, nämlich dass man weder Dinge in ihrer Beschaffenheit an sich erkennen könne noch einen sicheren Maßstab für Wahrheit habe.63 Statt „transzendentale“ oder „reine“ Wahrheit zu suchen, müsse man sich folglich mit der „empirischen Wahrheit“ begnügen, die in nichts anderem als der auf eine genügende Begründung gestützten persönlichen Gewissheit bestehe.64 Mittermaier fasste wenig später Wahrheit im Strafprozess ebenfalls subjektiv auf. So definiert er zwar zunächst Wahrheit allgemein als „die Uebereinstimmung der Vorstellung von einem Gegenstande mit dem wirklichen Wesen desselben“.65 Das scheint der Korrespondenztheorie zu entsprechen, erhält aber durch die Formulierung „wirkliches Wesen eines Gegenstandes“ eine unklare, möglicherweise auf Hegels Dialektik Bezug nehmende Erweiterung. Dies fällt in Mittermaiers etwas weitschweifiger Argumentation allerdings nicht weiter ins Gewicht, blendet er doch die erkenntnistheoretische Problematik anschließend bewusst aus und legt wie Weber an den Strafprozess den Maßstab der „empirischen Wahrheit“ an.66 Da bei jedem menschlichen Handeln persönliche Merkmale maßgeblichen Einfluss ausübten, müsse jedes Wahrheit betreffende Urteil trotz einiger Regeln der Wahrheitssuche letztlich subjektiv bleiben.67 Das steht im Widerspruch zu Feuerbachs Auffassung von „materieller Wahrheit“ als subjektunabhängiger Eigenschaft von Tatsachen. Leue verband den Maßstab persönlicher Überzeugung dagegen mit einem spezifisch juristischen, formellen Wahrheitsbegriff. Ausgehend vom strafprozessualen Ziel „absolute[r] Wahrheit“, die in vollständiger und exakter Übereinstimmung von Überzeugung und Wirklichkeit bestehen soll, stellt er fest, dass man dafür immer noch kein Kriterium gefunden habe.68 Er verlagert das Wahrheitsproblem – allerdings mit einer weiterhin korrespondenztheoretisch klingenden Formulierung – ins Subjektive: „Wahrheit ist kein Ding außer uns, sondern eine Idee in uns, bezieht sich auf unsere Vorstellungen und bedeutet ihre Übereinstimmung mit ihren Gegenständen, deren treues Abbild sie sein sollen.“69 Die solchermaßen subjektive Wahrheit setze eine hinreichende Begründung voraus; indes sei für den Richter höchstgradige Überzeugung und damit Gewissheit aufgrund seiner stets nur indirekten Kenntnis vom Tatgeschehen eigentlich nicht erreichbar und nurmehr als 62

Weber, Neues Archiv des Criminalrechts 8 (1825), 557, 558. Ebd., 562. 64 Ebd., 560, 563 ff. 65 Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 63 f. 66 Ebd., S. 64 ff.; vgl. zum Alltagsverständnis von Wahrheit auch Reitemeier, Die Wahrheit vor Gericht, S. 3 f. in zivilprozessualem Zusammenhang. 67 Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 67 ff. 68 Leue, Anklage-Prozeß, S. 20 f., 133. 69 Ebd., S. 133. 63

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abstrakte Zielvorgabe zu verstehen.70 Im Urteil kommt nach Leue daher gerade keine „materielle Wahrheit“ zum Ausdruck: „Was der Richter in seinem Erkenntnis als Ergebnis der Beweisführung festsetzt, ist subjektiv (in Beziehung auf sein Gemüth vorgestellt) die richterliche Überzeugung und objektiv betrachtet, die gerichtliche (oder formelle) Wahrheit.“71 Zuletzt finden sich bei mehreren Autoren bemerkenswerte Ansätze zu einem dialektischen Wahrheitsverständnis. Schon 1800 hatte Kleinschrod die Aufgabe des Richters im Anklageprozess so erklärt, dass dieser um des Ziels der „materiellen Wahrheit“ willen „die Wagschale zwischen dem Ankläger und Vertheidiger halten“ müsse.72 Mittermaier sah auch den Verteidiger als zur Wahrheitserforschung beitragenden Verfahrensbeteiligten an73 und beschrieb den Anklageprozess als ein auf dem Kampf der Beteiligten beruhendes Instrument der Wahrheitsfindung74. Zachariae, der ein inquisitorisch strukturiertes Hauptverfahren unter Verweis auf die dann drohende obrigkeitliche Willkür ablehnte und „materielle Wahrheit“ auch im Anklageverfahren für erreichbar hielt, verstand das von ihm bevorzugte akkusatorische Prinzip ebenfalls als ein Mittel synthetischer Wahrheitsfindung. Ankläger und Angeklagter stünden sich als ebenbürtige Verfahrenssubjekte vor dem unparteiischen Richter gegenüber.75 Am Ende des Verfahrens müssten sie sich nicht mit dessen Meinung zufrieden geben; sie hätten vielmehr „ein Recht zu fordern, […] von der (äußern) Rechtmässigkeit des Spruches überzeugt zu werden“.76 Planck schließlich sprach von „unverträglichen Functionen“, die im inquisitorischen Verfahren ein und denselben Personen aufgebürdet würden, und sah die Wahrheitserforschung am ehesten durch die Auseinandersetzung zwischen Staatsanwalt und Verteidiger vor dem Richter gewährleistet.77 Gleichwohl verwendete er wie auch Zachariae den Terminus „materielle Wahrheit“,78 der sich damit einmal mehr als reichlich konturlos erweist. b) Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab aa) Wahrscheinlichkeit statt Wahrheit Steht Wahrheit als Ziel des Strafverfahrens über bloßer Wahrscheinlichkeit, ist sie einem bestimmten Grad von Wahrscheinlichkeit gleichzusetzen oder gilt stets nur ein 70 71 72 73 74 75 76 77 78

Ebd., S. 133 ff. Ebd., S. 135 (Hervorhebungen im Original). Kleinschrod, Archiv des Criminalrechts 2, viertes Stück (1800), 1, 15. Mittermaier, Anleitung, S. 53. Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 32. Zachariae, Die Gebrechen, S. 53 ff. Ebd., S. 60 (Hervorhebung im Original). Planck, Systematische Darstellung, § 60 (S. 153). Ebd.

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eigenständiger Wahrscheinlichkeitsmaßstab? Dieser später vom Reichsgericht aufgegriffene Fragenkomplex war (neben anderen strafprozessualen Problemen) bereits 1783 Gegenstand einer Preisschrift von Globig und Huster; ersterer widmete später dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab eine ganze Monographie. Beide Autoren gingen davon aus, dass der Richter Beweise nach vorgegebenen Regeln suchen müsse und – hier klingt eine berühmte Formulierung Montesquieus an79 – „nur der mechanische Ausüber der klaren Bestimmungen des Gesetzes“ sei.80 Wahrheit indes sei meist nicht zugänglich, allenfalls bei mathematischen Beweisen und eigener sinnlicher Wahrnehmung; Wahrscheinlichkeit hingegen könne ein irrtumsanfälliger, möglicherweise zur Verurteilung Unschuldiger führender Maßstab sein.81 Aus diesem vermeintlichen Dilemma finden Globig und Huster einen eleganten Ausweg. Sie unterscheiden verschiedene Grade von Wahrscheinlichkeit, deren höchster sich als Gewissheit der Wahrheit annähere. Zugleich erklären sie die Gesetzmäßigkeiten der Wahrscheinlichkeit als für den Menschen ebenso natürlich wie andere oberste Prinzipien der Wahrheit.82 Wahrscheinlichkeit ist ihnen zufolge das Ergebnis einer Abwägung und liegt dann vor, wenn bei zwei oder mehr möglichen, nicht zusammenpassenden Sätzen ein bestimmter Satz mehr Anzeichen für Wahrheit als die anderen Sätze aufweist.83 Gewissheit wiederum bemesse sich quantitativ nach der Höhe der Wahrscheinlichkeit.84 Zwar gingen Globig und Huster angesichts der menschlichen Unvollkommenheit und der daraus resultierenden bloß „subjectivistische[n] Wahrscheinlichkeit“ nicht davon aus, einen jede Fehlverurteilung ausschließenden Maßstab gefunden zu haben.85 Sie versuchten aber, alle denkbaren Irrtumsquellen systematisch abzuhandeln.86 Globig führte diesen Ansatz 1806 mit dem umfangreichen Versuch einer auf den Wahrscheinlichkeitsmaßstab gestützten Beweistheorie fort. Er unterscheidet grundsätzlich zwei Beweisarten, nämlich die begrifflich-logische „Demonstration“ und den „Beweis aus wahrscheinlichen Gründen“; dieser könne jedoch nicht zur Wahrheit selbst führen, „sondern den Schleyer nur zum Theil aufdecken, in welchem sich die Natur fast allenthalben verhüllt, oder welchen der Mensch, vermöge seiner Freyheit und unsteten Sittlichkeit, über seine Handlungen zieht.“87 Die streng logische Beweisführung sei auf Mathematik und Metaphysik beschränkt. Für die Beurteilung der wechselnden Naturerscheinungen wie auch der noch unbeständi79 Vom Geist der Gesetze, 11. Buch, 6. Kapitel (S. 225): „Doch die Richter der Nation sind, wie gesagt, lediglich der Mund, der den Wortlaut des Gesetzes spricht, Wesen ohne Seele gleichsam, die weder die Stärke noch die Strenge des Gesetzes mäßigen können.“ 80 Globig/Huster, Abhandlung, S. 31 f. 81 Ebd., S. 259 f. 82 Ebd., S. 260 ff., 273 f., 276. 83 Ebd., S. 273. 84 Ebd., S. 273 f., 276. 85 Ebd., S. 265. 86 Ebd., S. 265 ff. 87 Globig, Versuch, I. § 1 (S. 1 f.).

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geren menschlichen Verhaltensweisen als empirische Gegenstände („deren Beschaffenheit wir nur als Empiriker auf dem schlüpfrigen Wege der Erfahrung errathen können“) bleibe lediglich ein Wahrscheinlichkeitsmaßstab.88 Gestützt auf diese grundsätzlichen Überlegungen entwirft Globig ein komplexes System. Er fächert den Wahrscheinlichkeitsbegriff zunächst nach Gegenständen der Erkenntnis auf und nennt die Kombination aus der naturbezogenen „physischen“ und der auf menschliches Verhalten gerichteten „moralischen“ Wahrscheinlichkeit „historische Wahrscheinlichkeit“. Diese sei wiederum mit der „juristischen Wahrscheinlichkeit“ aufgrund ihres gleichermaßen empirischen Gegenstandes identisch.89 Anknüpfend an sein früheres Werk geht Globig davon aus, dass die Wahrscheinlichkeitsgrade von der bloßen Spekulation bis hin zur „moralische[n] Gewissheit“, einer auf der Wahrscheinlichkeit ihrer Begründung beruhenden Gewissheit, reichen.90 Weiter unterscheidet er die „objektive“, in den Gegenständen selbst und deren Verbindung liegende Wahrscheinlichkeit und die fehlerbehaftete „subjektive Wahrscheinlichkeit“, die sich an ersterer orientieren soll.91 Unter „moralischer Gewissheit“ muss man danach eine zwar letztlich subjektive, aber auf (hoch) wahrscheinliche Gründe gestützte Gewissheit verstehen. Diese ist – hier schwingt die Argumentation Beccarias mit – in Angelegenheiten wie dem Strafprozess erforderlich, in denen irreparabler Schaden droht.92 bb) Verbindung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs mit dem Wahrheits-, Überzeugungs- und Gewissheitsbegriff sowie mit bestimmten Verfahrensstrukturen und -stadien Zahlreiche Strafrechtsgelehrte und Praktiker griffen das von Globig und Huster behandelte Problem des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs im Strafverfahren auf. Einige von ihnen verfolgten einen ähnlichen Ansatz. So differenziert Weber grundsätzlich zwischen Gewissheit, die „zureichende Gründe“ erfordert und die er als „vollständige Ueberzeugung“ beschreibt, und der schwächeren Wahrscheinlichkeit.93 Allerdings unterscheidet er weiter die „absolute“, im Strafprozess kaum erreichbare Gewissheit einerseits und die „empirische“ beziehungsweise „historische Gewissheit“ andererseits; für letztere soll der in der jeweiligen Situation maximal erreichbare Grad an Wahrscheinlichkeit genügen, also das Gegenteil nach aller Erfahrung fernliegen.94 Das entspricht dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab bei Globig 88

Ebd., I. § 1 (S. 2). Ebd., I. § 2 (S. 3 f.). 90 Ebd., I. § 3 (S. 5 ff.); ausführlich zu den Graden der Wahrscheinlichkeit s. Abschnitt VII. (S. 215 ff.). 91 Ebd., I. § 4 (S. 8). 92 Ebd., I. § 6 (S. 10 ff.). 93 Weber, Neues Archiv des Criminalrechts 8 (1825), 557, 566 ff. 94 Ebd., 573 f. 89

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und Huster. Ähnlich ist die Forderung nach einem weitere Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeitsgrad, der im Strafprozess ein Ersatz der nur durch eigene sinnliche Wahrnehmung erreichbaren Gewissheit sein soll.95 Leue, der für das Strafverfahren das Kriterium subjektiver Überzeugung mit einem formellen Wahrheitsbegriff verband,96 nahm ebenfalls auf den Wahrscheinlichkeitsmaßstab Bezug. Für den Richter, der im Strafprozess stets nur indirekt (durch Beweismittel) Kenntnis von historischen Vorgängen haben könne, sei Gewissheit und damit hochgradige Überzeugung eigentlich nicht zu erlangen. Er kann nach Leue über „Glauben und Vertrauen“ nicht hinauskommen; seine Ansicht darüber, was geschehen ist, setze sich lediglich aus Wahrscheinlichkeiten zusammen.97 Damit sind Leues formeller Wahrheitsbegriff und Überzeugungsmaßstab mit einem Wahrscheinlichkeitskriterium verknüpft: „wahr“ ist im Strafverfahren das, wovon der Richter aufgrund wahrscheinlicher Gründe überzeugt ist. Im Zusammenhang mit der preußischen Reform des Strafverfahrens 1846 findet sich in einer Savigny zugeschriebenen98, später anonym veröffentlichten Denkschrift etwas versteckt ebenfalls die Auffassung, dass jede Verurteilung ganz überwiegend auf Wahrscheinlichkeitserwägungen beruhe. So wird zwar das Ziel der Wahrheitsermittlung betont. Zugleich soll aber der Gesetzgeber dem Richter keineswegs eine an wissenschaftlichen Prinzipien ausgerichtete Beweistheorie an die Hand geben, da es sich bei den Gegenständen des Strafprozesses „großentheils um Elemente der Wahrscheinlichkeit handelt, deren Regeln sich nach allen Richtungen hin auf die mannigfaltigste Weise durchkreuzen“.99 Wahrheit und Wahrscheinlichkeit sind demnach keine Gegensätze; vielmehr ist das, was man im Strafprozess Wahrheit nennen kann, das Ergebnis zahlreicher Wahrscheinlichkeitsaussagen. Andere verbanden den Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht nur mit dem Wahrheits-, Gewissheits- oder Überzeugungsbegriff, sondern auch mit einem bestimmten Verfahrenstyp: Planck legte anhand der Reformen der 1840er Jahre dar, dass je nach vorherrschender Prozessmaxime Wahrheit im Strafverfahren unterschiedlich zu verstehen sei. Im (von ihm keineswegs geschätzten) Untersuchungsverfahren dürften die Richter ihr Urteil nur auf solche Tatsachen stützen, von deren Wahrheit sie eine Überzeugung gewonnen hätten.100 Für die Begründung dieser Überzeugung gelte unter dem inquisitorischen Prinzip, dass ein solcher Wahrscheinlichkeitsgrad aus-

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Friedreich, Beiträge zur Gesetzgebung und practischen Jurisprudenz 2 (1828), 2 f. S. dazu S. 37. 97 Leue, Anklage-Prozeß, S. 135. 98 Näher zu dieser in der ersten Fassung gar nicht von Savigny stammenden Denkschrift und dessen nur untergeordneter Rolle im Gesetzgebungsverfahren Ignor, Geschichte des Strafprozesses, S. 273 ff. 99 Savigny, GA 6 (1858), 469, 485. 100 Planck, Systematische Darstellung, § 73 (S. 195). 96

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reiche, den vernünftige Menschen ihrem Handeln als „historische Gewißheit“ zugrunde legten.101 Auf vergleichbare Gedankengänge stößt man bei Zachariae. Bereits 1846 hatte dieser vorgeschlagen, im Hauptverfahren das akkusatorische Prinzip walten zu lassen, hingegen im dem eigentlichen Prozess vorgelagerten (Ermittlungs-)Verfahren, in dem der Angeklagte ebenfalls als Verfahrenssubjekt zu betrachten sei, das inquisitorische Prinzip mit dem Maßstab bloßer Wahrscheinlichkeit.102 Später stellte Zachariae zu diesem Maßstab erkenntnistheoretische Erwägungen an, deren Ursprung im 18. Jahrhundert nicht zu übersehen ist: Er unterscheidet die „mathematische Gewissheit“ von der „empirische[n]“ beziehungsweise „historische[n] Gewissheit“.103 Letztere soll sich nur auf einigermaßen bewährte Erfahrungsregeln und Auffassungen stützen. Da aber der Mensch bei allen tatsächlichen Fragen nicht darüber hinaus gelangen könne, müsse die „historische Gewissheit“ auch in Strafsachen genügen.104 Bei dieser sei das Gegenteil nicht ausgeschlossen; insofern sei die Aussage berechtigt, dass sie „nur ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit sei“.105 Dennoch differenziert Zachariae weiterhin zwischen Gewissheit und Wahrscheinlichkeit und erklärt letztere als eine Konstellation, in der noch nicht abzusehen ist, ob alle im konkreten Fall relevanten Aspekte die Wahrheit einer Annahme stützen.106 Wahrscheinlichkeit soll als Kriterium für die einzelnen Verfahrensschritte ausreichen; erst das die Schuld feststellende Urteil erfordere Gewissheit.107 Bei allen begrifflichen Unschärfen hält auch Zachariae damit an einem Wahrscheinlichkeitsmaßstab für das Strafverfahren fest. Lediglich der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad, der bis zur Gewissheit reichen kann, ist je nach Verfahrensstadium verschieden. Bar schließlich kombinierte den Wahrscheinlichkeitsmaßstab mit einem für das Jahr 1865 sehr modern anmutenden Legitimationsgedanken. Danach ist es notwendig, in der Bevölkerung die Überzeugung herbeizuführen, dass jede Verurteilung zu einer Strafe berechtigt sei.108 Trotz aller Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnis hält Bar daher die Forderung für angemessen, „es müsse ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit wenigstens auch nach der allgemeinen Ueberzeugung der Staatsangehörigen für die Richtigkeit der verurtheilenden Entscheidungen vorhan101

Ebd. Zachariae, Die Gebrechen, S. 73 ff.; das ist dem früheren Vorschlag von E. Hagemeister, Erörterungen, § 13 (S. 56 f.) vergleichbar, für die Generalinquisition Wahrscheinlichkeit ausreichen zu lassen, für die Spezialinquisition hingegen „juristische Gewissheit“ zu verlangen (Hervorhebung im Original). 103 Zachariae, Handbuch, § 137 (S. 397 f.). 104 Ebd., § 137 (S. 398). 105 Ebd.; sehr ähnlich ist der Maßstab in hoher Wahrscheinlichkeit bestehender „subjektive[r]“, „empirische[r] Gewissheit“ bei Martin/Temme, Lehrbuch, § 73 (S. 217 f.). 106 Zachariae, Handbuch, § 137 (S. 398). 107 Ebd., § 137 (S. 398 f.). 108 Bar, Recht und Beweis, § 65 (S. 312). 102

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den sein“.109 Die Berechtigung jedes Strafurteils hängt deshalb maßgeblich von seiner Begründung ab, nicht nur vom Vertrauen in die Richter und von der Einhaltung von Formen; ein „Orakelspruch“ genügt nicht.110 Das Urteil muss, so könnte man es auch formulieren, intersubjektiv vermittelbar sein, was die erkennbar hohe Wahrscheinlichkeit seiner Feststellungen voraussetzt. cc) Einschränkungen und Aufgabe des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs Andere Autoren bestritten, dass Wahrscheinlichkeit im Strafverfahren als übergeordneter Maßstab dienen könne. Ihre um 1800 beginnende Kritik ist auch im Kontext der zeitgenössischen philosophischen Diskussion zu sehen. 1797 hatte Wilhelm Traugott Krug, der im Jahr 1805 Kant auf dessen Lehrstuhl in Königsberg nachfolgte, in einer die philosophische Terminologie Kants aufnehmenden Abhandlung der Wahrscheinlichkeit einen geringen Rang zugewiesen. Wahrscheinlichkeit gehöre danach zum Bereich der Meinungen und Spekulationen aus weder objektiv noch subjektiv genügenden Gründen; sie könne höchstens im Falle ihres Zusammenhangs mit einem solchen Grund eine gewisse Relevanz haben.111 Feuerbach sprach Wahrscheinlichkeitserwägungen zunächst in vergleichbarer Weise nur eine Ergänzungsfunktion zu. In seinem Lehrbuch von 1801 unterscheidet er hinsichtlich der richterlichen Erkenntnisgründe „Indicien“ von „Beweismitteln“, die zur „juridischen Gewissheit“ führten.112 Zudem trifft er eine grundsätzliche erkenntnistheoretische Einteilung, die für alle Gegenstände der Erfahrung gelten soll. Je nachdem ob keine, nicht vollständige oder alle Gründe für das Bestehen einer Tatsache vorlägen, bestehe „Unkenntnis“ beziehungsweise „Unwissenheit“, „Ungewissheit“ oder „Gewissheit“.113 Wahrscheinlichkeit sei ein Fall von „ungewisse[r] Erkenntnis“ und erlaube nur Vermutungen.114 In diese Kategorie gehören für Feuerbach die Indizien, aus denen die Vermutung folge, dass eine für das einschlägige Strafgesetz relevante Tatsache gegeben sei115. Später erklärte er jedoch, dass jede „historische Gewissheit“ lediglich aus Wahrscheinlichkeiten bestehe, und hielt ein Ansteigen der Wahrscheinlichkeit bis hin zur Gewissheit für möglich.116 Daher kann man ihn, auch wenn er das Ziel „materieller Wahrheit“ hervorgehoben hat, nicht als Gegner eines Wahrscheinlichkeitsmaßstabs bezeichnen. Feuerbachs Ansatz ähnlich ist die Auffassung, Gewissheit sei der Wahrscheinlichkeit überzuordnen, bei welcher durchaus noch Anhaltspunkte für die Wahrheit 109 110 111 112 113 114 115 116

Ebd. Ebd., § 65 (S. 312 f.). Krug, Von der Ueberzeugung, S. 18 f. Feuerbach, Lehrbuch, § 571 (S. 456). Ebd., § 572 (S. 457). Ebd., § 573 (S. 457 f.) (Hervorhebung im Original). Ebd., § 574 (S. 458). Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, S. 123 f.

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der entgegengesetzten Annahme bestünden, die Wahrscheinlichkeit könne aber graduell der Gewissheit immer näher kommen.117 Auf diese Annäherungsthese stößt man auch im Zusammenhang mit der Frage, wie der Widerruf eines Geständnisses zu behandeln ist.118 Stübel wollte den Wahrscheinlichkeitsmaßstab ebenfalls nicht ganz aufgeben. Er differenziert zwischen Gewissheit im „engen Sinne“, bei der eine gegenteilige Auffassung ausgeschlossen oder kaum annehmbar erscheine, und der in der Wissenschaft überwiegend und im täglichen Leben vollständig herrschenden Gewissheit im „weiten“ Sinne, deren Gründe eine gewisse Zahl und ein gewisses Gewicht erreichen müssten.119 Bei der Wahrscheinlichkeit sei auch dieses Kriterium nicht erfüllt, weshalb ein entsprechendes Urteil nicht zwingend erscheine.120 Nun müsse aber der Richter, der es stets mit der Erfahrungswelt zu tun habe, nach dem Maßstab der „Gewissheit im weiten Sinne“ oder auch nur nach Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten urteilen.121 Stübel verbindet diese Einschränkungen mit dem Gedanken, dass im Strafprozess angesichts der betroffenen Rechte und der besonderen Rolle des Richters als Vertreter des Staats hohe Anforderungen an die Begründung einer Überzeugung und an den Überzeugungsgrad zu stellen sind.122 Der Wahrheitsbegriff taucht in diesem Zusammenhang nicht auf. Verwandt ist die Haltung, die Mittermaier zunächst eingenommen hatte. Auch Mittermaier unterscheidet die Gewissheit, deren Grundregeln den Maßstab für Wahrheit bildeten, von bloßer Wahrscheinlichkeit.123 Die Wahrscheinlichkeit ermögliche lediglich eine Annäherung an die für Gewissheit erforderliche Überzeugung, da in ihrem Fall eine entgegengesetzte Annahme weiter möglich erscheine.124 Davon ausgehend kritisiert er Globig und Huster, da nur der Verzicht auf „Evidenz“ beziehungsweise „höchste Wahrheit“ erforderlich gewesen sei, die Gewissheit aber als Zustand fehlender berechtigter Zweifel der Wahrscheinlichkeit gegenüberstehe.125 Bei diesem Befund hätte es nahegelegen, den Wahrscheinlichkeitsmaßstab vollständig aus dem Strafprozess zu verbannen. Mittermaier schränkt indes seine Forderung nach Gewissheit als Grundlage des Strafurteils126 mit einem den Beweisschwierigkeiten der Praxis und dem aufkommenden Indizienbeweis Rechnung tragenden Argument ein: Indizien führten zwar allenfalls zu höchster Wahrscheinlichkeit. In Fällen, in denen Gewissheit durch weitere Beweismittel nicht erreichbar 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126

Kleinschrod, Archiv des Criminalrechts 4, drittes Stück (1802), 44, § 5 (53 f.). S. Krause, Skizzen, § 44 (S. 56), § 105 (S. 130). Stübel, Ueber den Thatbestand, § 167 ff. (S. 231 ff.). Ebd., § 171 ff. (S. 235 ff.). Ebd., § 182 (S. 244 f.). Ebd., § 187 (S. 248 f.). Mittermaier, Handbuch II, S. 246, 255, 431 f. (s. auch S. 155, 157). Ebd., S. 255 f., 431 f. Ebd., S. 263. Ebd., S. 246.

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sei, müsse der Gesetzgeber aber die Verurteilungsvoraussetzungen auf das Maß höchster Wahrscheinlichkeit absenken.127 Zwei Jahrzehnte später hat Mittermaier seine Ansicht revidiert. Wahrscheinlichkeit, bei der das Gegenteil einer Annahme nicht ausgeschlossen erscheine, könne aufgrund der dann noch bestehenden Zweifel niemals für ein strafrechtliches Urteil genügen.128 Auch andere Autoren lehnten die Wahrscheinlichkeit als Urteilsmaßstab vehement ab. Im Jahr 1825 hatte Abegg gegen Wahrscheinlichkeit als Grundlage eines Strafurteils vorgebracht, sie trage den „Schein“ und damit einen Gegensatz zur Wahrheit in sich, weshalb bereits sprachlich eine „Theorie der Wahrscheinlichkeit“ unlogisch sei.129 Das ist nicht besonders überzeugend, da Abegg zum einen den Wortbestandteil „wahr“ in „wahrscheinlich“ ausblendet und zum anderen nicht darlegt, warum der „Schein“ angesichts verschiedener semantischer Möglichkeiten gerade auf einen Trugschluss oder Irrtum und nicht etwa auf Wahrheitsähnlichkeit hindeuten soll. Dennoch erfreuten sich derartige Argumente einer gewissen Beliebtheit, wie die Unterscheidung zwischen „historischer Gewissheit“ und Wahrscheinlichkeit aufgrund des angeblichen qualitativen Unterschieds zwischen „Schein“ auf der einen und „Wahrheit“ beziehungsweise „Wirklichkeit“ auf der anderen Seite130 belegt. c) Wahrheit, Gewissheit und Überzeugung aa) „Materielle Wahrheit“ und begründete Überzeugung versus „intime conviction“ In den linksrheinischen Gebieten hatte der französische Code d’instruction criminelle von 1808 das Ende der napoleonischen Herrschaft überdauert. Dessen Artikel 342 enthielt eine Bestimmung zur Beweiswürdigung durch Geschworene, die zum Bezugspunkt zahlreicher deutschsprachiger Stellungnahmen wurde. Diese Vorschrift ging weit über eine bloße Absage an gesetzliche Beweistheorien hinaus. Sie stellte mit dem Maßstab der auf individueller Gewissensprüfung und subjektiven Eindrücken beruhenden „intime conviction“ die Geschworenen ausdrücklich davon frei, ihre Entscheidung im Einzelnen nachvollziehbar zu begründen.131 127

Ebd., S. 486 ff., 490 ff. Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 74 f. 129 Abegg, Grundriss, § 70 (S. 22) Fn. 18. 130 W. Müller, Lehrbuch, § 96 (S. 190 f. Fn. 3). 131 Im Wortlaut: „Avant de commencer la délibération, le chef des jurés leur fera lecture de l’instruction suivante, qui sera, en outre, affichée en gros caractères dans le lieu le plus apparent de leur chambre: ,La loi ne demande pas compte aux jurés des moyens par lesquels ils se sont convaincus: elle ne leur prescrit point de règles desquelles ils doivent faire particulièrement dépendre la plénitude et la suffisance d’une preuve: elle leur prescrit de s’interroger eux-mêmes dans le silence et le recueillement, et de chercher dans la sincérité de leur conscience, quelle impression ont faite sur leur raison les preuves rapportées contre l’accusé, et les moyens de sa défense. 128

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Das Konzept der „intime conviction“ stieß in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft auf heftige Ablehnung. Feuerbach hatte bereits 1813 grundsätzliche Einwände gegen das Jurysystem erhoben. Ein solches erhebe die subjektive Wahrheitsüberzeugung zum Kriterium für Wahrheit und übergehe damit den grundsätzlichen Unterschied zwischen im Gegenstand selbst liegender Wahrheit und nur menschlicher Überzeugung.132 Das führe zur Gleichrangigkeit von Wahrheit und Irrtum.133 Im 1825 erschienen zweiten Band seiner „Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege“ griff Feuerbach das französische Jurysystem scharf an. Bloße Überzeugung, egal wie vieler Personen, bleibe stets von individuellen Beurteilungsmängeln geprägt.134 Ohne eine Beweistheorie, wie Feuerbach sie im englischen Prozesssystem verwirklicht sieht, glichen die dann für Einflussnahmen der öffentlichen Meinung und subjektive Vorurteile besonders anfälligen, auf dem schlichten persönlichen Eindruck beruhenden Juryentscheidungen einer „Wetterfahne“ und ignorierten den in dubio-Grundsatz.135 Trotz dieser harschen Kritik verdammt er das Jurysystem nicht generell, sondern fordert nach dem Muster der englischen Jury Strukturen, die eine „wahre Überzeugung“ sicherstellen sollen.136 Viele Autoren teilten Feuerbachs Bedenken. Graevell etwa begründete seine Kritik am Maßstab der „intime conviction“ mit dem Unterschied zwischen subjektunabhängiger Wahrheit und subjektiver Überzeugung. Wahrheit erfordere ein präzises Vorstellungsbild und könne erkannt werden; für die Überzeugung träfe beides nicht zu.137 Deshalb sei es ausgeschlossen, dass Empfindungen oder Gesamteindrücke für Menschen eine Form von Wahrheit besäßen.138 Puchta wandte sich ebenfalls dagegen, Geschworene nach ihrer bloßen Überzeugung entscheiden zu lassen, da die persönlichen Auffassungen von Wahrheit unbeständig und der Grad an Bildung sowie das Ausmaß an Befangenheit unterschiedlich wären.139 Der „maßlosen individuellen Ueberzeugung der Richter“140 setzte er „materielle Wahrheit“

La loi ne leur dit point: Vous tiendrez pour vrai tout fait attesté par tel ou tel nombre de témoins; elle ne leur dit pas non plus: Vous ne regarderez pas connue suffisamment établie, toute preuve qui ne sera pas formée de tel procès-verbal, de telles pièces, de tant de témoins ou de tant d’indices; elle ne leur fait que cette seule question, qui renferme toute la mesure de leur devoir: Avez-vous une intime conviction? […]‘“ 132 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, S. 135. 133 Ebd., S. 137. 134 Ders., Betrachtungen über die Oeffentlichkeit II, S. 455 f. 135 Ebd., S. 457 ff., 461 f., 466 ff. 136 Ebd., S. 456 ff. 137 Graevell, Prüfung, S. 118 ff. 138 Ebd., S. 121. 139 Puchta, Der Inquisitions-Prozeß, S. 266. 140 Ebd.

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und Gewissheit entgegen,141 ohne aber Gehalt und Verhältnis dieser Begriffe näher zu bestimmen. Keine Einigkeit bestand unter den Gegnern der „intime conviction“ darüber, ob man Geschworenen und Berufsrichtern bestimmte Regeln der Überzeugungsbildung durch Gesetz vorschreiben sollte. Müller sprach sich dagegen aus, dass der Richter im auf Erforschung der „materiellen Wahrheit“ gerichteten Strafprozess nach seiner „blos moralischen, etwa aus dem Totaleindruck der gesammten Verhandlung, geschöpften Ueberzeugung“ urteilen solle; vielmehr habe ihm der Gesetzgeber Regeln vorzugeben.142 Er stellt dem „subjektiven Fürwahrhalten“ die „criminalrechtliche Gewissheit“ gegenüber, die neben der ordnungsgemäßen Beweiserhebung auch das Bewusstsein beziehungsweise die Überzeugung des Richters von den Gründen voraussetzt.143 Dem Vorschlag, die Überzeugungsbildung gesetzlich zu regeln, wurde entgegengehalten, dass Berufsrichter ohne weiteres nach ihrer von Denkgesetzen und Erfahrungsregeln geleiteten Überzeugung urteilen könnten. Nur wenn man weniger geschulte Geschworene anhand ihrer „intime conviction“ entscheiden ließe, drohten Fehlentscheidungen.144 Zachariae schlug eine Brücke zwischen der Forderung nach gesetzlichen Beweisregeln und der scheinbar entgegengesetzten Position, wonach die Regeln richterlicher Überzeugungsbildung als etwas Natürliches nicht durch Gesetz vorgegeben werden könnten. Auch er wandte sich 1846 im Zusammenhang mit den partikularstaatlichen Reformen gegen ein rein subjektives Entscheidungskriterium. Maßgeblich müsse die objektiv bestimmbare „rechtliche Gewißheit“ sein, also eine solche, die auf rechtlichen und damit allgemein anerkannten Gründen basiere. Die von ihm verlangten gesetzlichen Beweisregeln seien indes mit den aus „Vernunft und Erfahrung“ resultierenden Maßstäben identisch.145 Die „materielle Wahrheit“ des Urteils wiederum ergebe sich aus der Objektivität der Begründung.146 Zachariae verband seine Kritik an der subjektiven Überzeugung als Urteilsgrundlage mit prinzipiellen Erwägungen zur Prozessstruktur. Aus dem akkusatorischen Prinzip folgten die Erfordernisse einer Urteilsbegründung und eines Instanzenzugs; so werde der Angeklagte vor der subjektiven Gewissheit des Richters als alleinigem, zu Willkür führenden Maßstab geschützt.147 Mittermaier, der die „intime 141

Ebd., S. 13, 150, 231. W. Müller, Lehrbuch, § 77 (S. 150 f.) (Hervorhebung im Original); s. auch § 75 (S. 143). 143 Ebd., § 96 (S. 191 ff.) (Hervorhebungen im Original). 144 Höpfner, Über den Anklageprocess, S. 168; s. auch Möhl, Zeitschrift für deutsches Strafverfahren 2 (1842), 277, 281 f., der eine gesetzliche Beweistheorie ablehnte, aber im öffentliche Interessen verfolgenden Strafprozess die „Herstellung der höchsten materiellen Gewißheit“ und damit Beweise als objektive Grundlage der richterlichen Überzeugung verlangte. 145 Zachariae, Die Gebrechen, S. 196. 146 Ebd. 147 Ebd., S. 60. 142

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conviction“ ebenfalls ablehnte („ein so unbestimmter, unklarer Zustand, daß darauf nichts gebaut werden kann“148), schrieb den Urteilsgründen in ähnlicher Weise eine Disziplinierungsfunktion zu. Die Pflicht zur Entscheidungsbegründung zwinge die Richter zu einer sorgfältigen Verhandlung.149 Mittermaier warnte daneben allgemein davor, zu geringe Anforderungen an Geschworene zu stellen. Zur Beurteilung von Schuld oder Unschuld seien besondere Erfahrungen und Fähigkeiten unabdingbar; zudem befassten sich Geschworene stets auch mit rechtlichen Fragen.150 Die Savigny zugeschriebene Denkschrift zur Reform des preußischen Strafverfahrens bündelt noch einmal die verschiedenen Diskussionspunkte. Darin wird die „intime conviction“ als Maßstab für ständige Richter verworfen, aber auch einer gesetzlichen Beweistheorie eine Absage erteilt. Berufsrichter müssten ohne gesetzliche Beweistheorie ihre für die Entscheidung maßgebliche „historische Überzeugung“ anhand allgemeiner Denkregeln und Erfahrungssätze bilden.151 Wahrheit sei damit nicht durch die subjektive Überzeugung allein, sondern auch durch die Art der Überzeugungsbildung und -prüfung garantiert.152 Neben Entscheidungsgründen sicherten zudem Rechtsmittel ein sorgfältiges Vorgehen ab.153 bb) Das problematische Verhältnis des Überzeugungs- und Gewissheitsmaßstabs zum Postulat der Wahrheitserforschung Die Gegner der „intime conviction“ verlangten regelmäßig nicht nur eine begründete Überzeugung oder Gewissheit des Richters, sondern führten auch „materielle Wahrheit“ ins Feld. Ihnen fiel es jedoch schwer, deren Verhältnis zum Überzeugungs- beziehungsweise Gewissheitsmaßstab zu klären. Feuerbach etwa stellt mit seiner Forderung nach Vorkehrungen für eine „wahre Überzeugung“ der Jury154 und mit seiner Bemerkung, das englische Jurysystem beruhe auf dem „materiellen Beweis“155, eine Verbindung zur von ihm als Verfahrensziel propagierten Erforschung der „materiellen Wahrheit“ her. Das Erfordernis einer „wahren Überzeugung“ passt allerdings nicht recht zu seinem rein objektiven Wahrheitsbegriff und zu seinem im selben Atemzug getroffenen Postulat, der Staat dürfe sich gerade nicht mit bloßer Überzeugung zufriedengeben, sondern müsse dafür sorgen, „daß der förmlichen Gewißheit materielle Wahrheit zu Grunde liege und das förmliche Recht das wahre wirkliche Recht selbst sey“156. Es scheint, als resultierten diese terminolo148 149 150 151 152 153 154 155 156

Mittermaier, Mündlichkeit, S. 367. Ebd., S. 405 f. Ebd., S. 367, 370. Savigny, GA 6 (1858), 469, 476, 484. Ebd., 476. Ebd., 479. Feuerbach, Betrachtungen über die Oeffentlichkeit II, S. 456 ff. Ebd., S. 457 f. Ebd., S. 455 f.

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gischen Unklarheiten aus der Spannung zwischen ausschließlich in den Gegenständen selbst liegender „materieller Wahrheit“ als Verfahrensziel einerseits, als unzulänglich abzulehnender Überzeugung andererseits und dem dazwischen unterzubringenden Gewissheitsbegriff, dem in Feuerbachs Lehrbuch noch eine maßgebliche Rolle zugekommen war157. Erfolglos blieben auch vergleichbare Bemühungen von Zachariae. Dieser hatte im Kontext der Verfahrensreformen in den 1840er Jahren für das Strafverfahren „rechtliche Gewißheit“ und „materielle Wahrheit“ statt „intime conviction“ gefordert.158 In seinem „Handbuch des deutschen Strafprocesses“ von 1868 stellt er die Gewissheit als Ziel jeglichen Beweisverfahrens in den Mittelpunkt und versieht sie mit dem Zusatz „materiell“. Dieses Ziel soll erreicht sein, „wenn die Annahme der Gewißheit auf anerkannte, für den vernünftigen Menschen maaßgebende Gesetze zurückgeführt werden kann, durch welche die Uebereinstimmung der Vorstellung von einem Gegenstande mit der realen Beschaffenheit desselben bekundet wird“; die Gesetze, von denen Zachariae spricht, sind solche des Erfahrungswissens.159 Die naheliegende Vermutung, „materielle Gewissheit“ habe etwas mit dem früher ausgegebenen Ziel der „materiellen Wahrheit“ zu tun, wird dadurch genährt, dass Zachariae mehrfach „Wahrheit“ und „Gewissheit“ synonym zu verwenden scheint160. Wenig später hebt er allerdings den stets subjektiven Charakter der Gewissheit hervor und unterscheidet diese doch wieder von Wahrheit: „Die Gewißheit ist insofern immer etwas Subjectives, als sie durch die Ueberzeugung des die Wahrheit erkennenden Subjects bedingt wird.“161 Vollends in Verwirrung stürzt den Leser die Bemerkung, dass sich die im Strafprozess notwendige Gewissheit mit Recht auch lediglich als hoher Wahrscheinlichkeitsgrad beschreiben lasse162. Andere Gegner der „intime conviction“ konnten diese Systematisierungsprobleme ebenfalls nicht lösen.163 Weitere Autoren versuchten unabhängig von der Problematik um die „intime conviction“, den Begriff der „materiellen Wahrheit“ mit dem Überzeugungs- oder Gewissheitsmaßstab zu verbinden. Dabei gelangten sie zu sehr unterschiedlichen, 157 S. ders., Lehrbuch, § 571 f. (S. 456 f.); Gewissheit sollte danach dann vorliegen, „wenn uns alle Gründe gegeben sind, welche in unserer Vorstellung die Wirklichkeit und Wahrheit der Thatsache bestimmen“. 158 Zachariae, Die Gebrechen, S. 196. 159 Ders., Handbuch II, § 137 (S. 397 f.). 160 S. ebd. 161 Ebd., § 137 (S. 399). 162 Ebd., § 137 (S. 398). 163 S. W. Müller, Lehrbuch, § 96 (S. 191 ff.), der statt einer „intime conviction“ eine „criminalrechtliche Gewissheit“ vom Richter forderte, die bei Beachtung der (gesetzlichen) Beweisregeln und dem Bewusstsein beziehungsweise der Überzeugung von den gewonnen Gründen vorliegen sollte, aber nicht erläuterte, wie eine solche Kombination formaler und subjektiver Elemente mit dem zugleich behaupteten Verfahrensziel der „materiellen Wahrheit“ zusammenstimmt; s. auch Puchta, Der Inquisitions-Prozeß, S. 13, 150, 231, 266.

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aber erneut nicht besonders stimmigen Ergebnissen: Jarke, der ausdrücklich von einem korrespondenztheoretisch gefärbten Wahrheitsverständnis ausging und das Verfahrensziel der „materiellen Wahrheit“ betonte, hielt zugleich eine (im Urteil) begründete und damit nachvollziehbare Überzeugung für die einzige Garantie der Richtigkeit des Urteils.164 Wie das zusammenpasst, bleibt bei ihm unklar. Bauer hatte zunächst noch zwischen „materieller Wahrheit“, „Gewissheit“ und „Überzeugung“ unterschieden und im auf Erforschung der „materiellen Wahrheit“ gerichteten Strafprozess die Gewissheit als höchste Stufe des Beweises verstanden.165 Später setzte er die „wirkliche Gewissheit“ der „materiellen Wahrheit“ einfach gleich.166 Der Gewissheitsbegriff erhält so vollends einen bereits zuvor angelegten objektiven Charakter. Die Überzeugung bildet in dieser Konzeption schließlich als individuelles Bewusstsein der Beweisgründe das subjektive Pendant zur Gewissheit.167 Martin und Temme unternahmen ähnliche argumentative Anstrengungen. Hatte Temme zuvor noch auf die „Ermittelung der objectiven Wahrheit“ gedrungen, aber ohne jede Erklärung daneben die freie richterliche Überzeugung zur Richtschnur des Strafverfahrens genommen,168 verbanden er und Martin später beide Begriffe mit dem der Gewissheit: „Am gelungensten ist die Aufklärung einer Thatsache, wenn deren Wahrheit ausgemittelt worden, das Gericht, als solches, mithin von ihr überzeugt ist, weil es über sie selbst, oder […] über deren erhebliche Beschaffenheit Gewißheit erlangt hat.“169 Diese Erklärung scheint sich im Kreis zu drehen. Auf ähnliche Unklarheiten stößt man auch später. Ortloff hob 1860 hervor, dass die Freiheit der Beweiswürdigung nicht zu lediglich auf Empfindungen beruhenden Entscheidungen führen dürfe.170 Zwei Jahre früher hatte er dementsprechend die „materielle Wahrheit“ zum Verfahrensziel erklärt und mit einer der mathematischen Gewissheit weitestmöglich angenäherten „historische[n] Gewissheit“ gleichgesetzt.171 Nun aber verstand er unter letzterer nicht nur ein dem Richter kaum erreichbares unmittelbares Wissen, sondern auch – und darin liegt eine deutliche Absenkung der Anforderungen – „wenigstens Fürwahrhalten, Ueberzeugung, das Bewußtsein, daß nach dem Erfahrungswissen ein Faktum nicht wohl anders, als in der vorgelegten Gestalt sich ereignen könne und daß Gründe für die Annahme des Gegentheils in concreto nicht vorliegen“.172 Wie das mit der behaupteten Identität von Gewissheit und „materieller Wahrheit“ vereinbar ist, bleibt im Dunkeln.

164 165 166 167 168 169 170 171 172

S. bereits S. 34. Bauer, Lehrbuch des Strafprocesses, § 96 (S. 141 f.). Ders., Theorie, S. 44. Ebd., S. 3 f. Temme, Zeitschrift für deutsches Strafverfahren 1 (1841), 512, 515, 518, 522. Martin/Temme, Lehrbuch, § 73 (S. 216 f.). Ortloff, Archiv für Preußisches Strafrecht 8 (1860), 461, 473. Ders., Das Strafverfahren, § 8 (S. 34). Ders., Archiv für Preußisches Strafrecht 8 (1860), 461.

I. Ausgangspunkt

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Erfolgversprechender waren solche Versuche einer Verbindung von Wahrheits-, Überzeugungs- und Gewissheitsbegriff, die für den Strafprozess von anderen Wahrheitskonzepten als dem der „materiellen Wahrheit“ ausgingen: Mittermaier hatte bereits in seinem „Handbuch des peinlichen Processes“ in Ansätzen das Verhältnis von Wahrheit, Gewissheit und Überzeugung zu bestimmen versucht. Die subjektive Überzeugung, also ein schlichter Glaubenszustand, genüge als Urteilsgrundlage nicht, aber auch absolute, völlig evidente Wahrheit sei im Strafprozess nicht zu fordern. Dort sei eine begründete Gewissheit erforderlich, also die dem Menschen maximal erreichbare Gewissheit als Resultat einer inneren Auseinandersetzung mit widerstreitenden Argumenten.173 Dem Wahrheitsbegriff kommt daneben keine besondere Bedeutung zu. Wahrheit erscheint nur als Siegel, mit dem der Richter sein Urteil je nach Verlauf der Überzeugungsbildung zu Recht oder zu Unrecht versieht.174 In seiner späteren „Lehre vom Beweise“ ist Mittermaier ähnlich verfahren. Darin stellt er die philosophische Problematik trotz einer korrespondenztheoretisch klingenden Wahrheitsdefinition zurück, befasst sich ausschließlich mit der „empirischen Wahrheit“ und kommt zu dem Ergebnis, jedes Urteil über Wahrheit sei letztlich subjektiv.175 Davon ausgehend definiert er Überzeugung als „Zustand […], in welchem unser Fürwahrhalten auf völlig befriedigenden Gründen beruht, deren wir uns bewusst sind“.176 Gewissheit ist schließlich deren höchster Grad: „Jener Zustand der Ueberzeugung nun, in welchem jemand aus einem Zusammenhang von Gründen, die die Gründe für die Annahme des Gegentheils ausschließen, eine gewisse Thatsache für wahr hält, heisst Gewissheit.“177 Mittermaier ist es damit anders als den zuvor genannten Stimmen gelungen, die Begriffe „Wahrheit“, „Gewissheit“ und „Überzeugung“ in ein Konzept zu integrieren. Von „materieller“ Wahrheit spricht er dabei bezeichnenderweise nicht. Andere Autoren wählten ähnliche Argumentationsstrategien, um den Wahrheitsbegriff mit dem Gewissheits- oder Überzeugungsmaßstab zu verbinden. Weber favorisierte auf dem Boden seiner Kritik am korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnis das Kriterium der im gewöhnlichen Leben genügenden, auf hinreichenden Gründen beruhenden Gewissheit und verknüpfte dieses mit dem Begriff der „empirischen Wahrheit“.178 Leue sah aufgrund erkenntnistheoretischer Erwägungen statt „materieller“ Wahrheit im Urteil nur die richterliche Überzeugung und zugleich eine „gerichtliche (oder formelle) Wahrheit“ verkörpert.179 Zu ähnlichen Befunden gelangte Planck, indem er zwischen verschiedenen Verfahrenstypen differenzierte. Danach sollen in einem reinen Anklageprozess solche Formen bestehen, 173 174 175 176 177 178 179

Mittermaier, Handbuch II, S. 246 ff. S. ebd., S. 247, 249. Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 63 ff. Ebd., S. 70. Ebd., S. 72. S. bereits S. 36. Näher zu Leues Position S. 37.

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B. Der Wahrheitsbegriff

bei deren Einhaltung grundsätzlich die allgemeine Überzeugung von der Wahrheit einer Annahme eintritt. Bei dieser Prozessart müsse indes Überzeugung nicht tatsächlich vorliegen, sondern bei Beachtung der Formvorschriften gelte eine Tatsache als wahr.180 Das ist ein rein formelles Wahrheitsverständnis. Im verbreiteten Untersuchungsprozess greife dagegen der Maßstab einer aus Erfahrungsregeln und Wahrscheinlichkeitserwägungen gebildeten Überzeugung.181 Das impliziert einen eher subjektiven Wahrheitsbegriff. Die verbreiteten Schmähungen der nur anhand ihrer individuellen Überzeugung entscheidenden Geschworenen hält Planck für verfehlt: „Etwas anderes spricht auch das Gericht nicht aus, nur sucht es seine subjective Ueberzeugung durch die Mittheilung der Gründe auch allen übrigen Personen einzuflößen.“182 Warum Planck dennoch den Begriff der „materiellen Wahrheit“ gebraucht183, erschließt sich nicht. Bei Blume findet man schließlich eine pragmatische Argumentationslinie, wonach das Strafverfahren kein Selbstzweck sei, nicht schlimmere Auswirkungen als das eigentliche Verbrechen oder die spätere Strafe haben dürfe und irgendwann zu einem einigermaßen bestandskräftigen Abschluss gelangen müsse.184 Daher soll der Maßstab oft nicht in der „materiellen Wahrheit“, sondern in „blos formaler Gewissheit“ bestehen.185 cc) Verbindungslinien zu Kants transzendentalem Idealismus Die im 18. und 19. Jahrhundert geführte Diskussion um das Verhältnis von Wahrheit, Gewissheit und Überzeugung im Strafprozess hat keinen genuin erkenntnistheoretischen Charakter. Sie knüpft zum Teil an bestehende gesetzliche Regelungen (insbesondere zur „intime conviction“) und an die strafrechtswissenschaftliche Tradition an. Doch das zu Tage getretene Spannungsverhältnis zwischen weitgehend objektiv oder korrespondenztheoretisch verstandener Wahrheit als postuliertem Ziel des Strafprozesses und in erheblichem Maße subjektiver Überzeugung oder Gewissheit als Urteilsgrundlage ist auch in der wirkmächtigsten erkenntnistheoretischen Konzeption des ausgehenden 18. Jahrhunderts angelegt, nämlich in Kants transzendentalem Idealismus. Kant geht in der „Kritik der reinen Vernunft“ von einer zum damaligen Zeitpunkt gängigen, korrespondenztheoretischen Definition von Wahrheit als „Übereinstim180

Planck, Systematische Darstellung, § 73 (S. 195). Ebd. 182 Ebd., § 75 (S. 203). 183 Ebd., § 60 (S. 153). 184 Blume, System, § 99 (S. 71). 185 Ebd.; damit vergleichbar ist die deutlich früher von Kleinschrod, Archiv des Criminalrechts 4, drittes Stück (1802), §§ 1 (44 f.), 2 (46 f.), 4 (50 ff.) vertretene Auffassung, dass trotz des Verfahrenszwecks der Wahrheitserforschung als richterlicher Maßstab die auch im Alltagsleben waltende „gewöhnliche Gewissheit“ gelten soll, da bei höheren Anforderungen keine Strafgerichtsbarkeit mehr möglich sei. 181

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mung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“ aus.186 Zugleich entwickelt er dort Argumente, die sich gegen jede Form von Korrespondenztheorie richten lassen, insbesondere die Unmöglichkeit, auf die Gegenstände der Welt unmittelbar und unabhängig von den Besonderheiten der menschlichen Wahrnehmung zugreifen zu können. Vor diesem Hintergrund kommt dem Anteil des Subjekts am Erkenntnisprozess besondere Bedeutung zu. Das heißt jedoch nicht, dass Wahrheit nun subjektiv zu verstehen ist. Kant trennt klar zwischen Wahrheit und „Fürwahrhalten“, das immer zumindest auch auf subjektiven Gründen beruht. Ein Fürwahrhalten, dass ausschließlich auf die Besonderheiten eines Subjekts zurückzuführen ist, sei bloße „Überredung“. Dagegen sei das Fürwahrhalten eine „Überzeugung“, wenn es auf einem objektiv genügenden Grund beruhe und damit für jeden vernünftigen Menschen Gültigkeit habe.187 Mit diesem Überzeugungsbegriff schlägt Kant eine Brücke zur erwähnten Wahrheitsdefinition: Wenn Wahrheit die Übereinstimmung mit einem Objekt ist, muss das (wahre) Urteil jedes verständigen Menschen in Bezug auf dieses Objekt gleich ausfallen. Ein Indiz für die Wahrheit eines Urteils ist das Vorliegen einer Überzeugung, da diese im Gegensatz zur „Überredung“ intersubjektiven Charakter hat.188 Kant differenziert im Verhältnis von Fürwahrhalten und auch objektiv zu verstehender Überzeugung zwischen „Meinen“, „Glauben“ und „Wissen“. „Meinen“ ist ein subjektiv wie objektiv unzureichendes Fürwahrhalten, „Glauben“ ein lediglich subjektiv für zureichend gehaltenes, „Wissen“ dagegen ein subjektiv und objektiv zureichendes Fürwahrhalten.189 An dieser Stelle zeigt sich allerdings eine begriffliche Schwierigkeit. Denn Kant reduziert nun den zunächst auch als objektiv zureichendes Fürwahrhalten verstandenen Überzeugungsbegriff auf die bloß „subjektive Zulänglichkeit“, während er die objektive Zulänglichkeit als „Gewißheit (für jedermann)“ bezeichnet.190 Man hat es also mit zwei verschiedenen Überzeugungsbegriffen zu tun, von denen der weitere mit dem Wissens- beziehungsweise Gewissheitsbegriff verbunden ist. Auch wenn sich viele Autoren nicht ausdrücklich auf Kant beziehen, stößt man in der strafrechtlichen Debatte immer wieder auf dessen Terminologie und Systematisierungsversuche. In übersteigerter Form kehrt der Gegensatz von Wahrheit und Fürwahrhalten etwa bei Feuerbach wieder, der rein objektiv verstandene „materielle Wahrheit“ der rein subjektiven, als Urteilsgrundlage abzulehnenden Überzeugung gegenüberstellte. Dieser Gegensatz wird aber auch bei anderen Autoren deutlich, die sich gegen den Maßstab der „intime conviction“ aussprachen. Kants Differenzierungen zeigen sich zudem bei Ansätzen, die zwischen nur subjektiver Überzeugung 186 KrV B 82; s. auch B 849; zur Frage, ob man Kant deshalb als Vertreter der Korrespondenztheorie bezeichnen kann, s. Fn. 953. 187 KrV B 848. 188 Ebd., B 848 ff. 189 Ebd., B 851. 190 Ebd.

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B. Der Wahrheitsbegriff

und auf objektiven Gründen beruhender Gewissheit unterscheiden, und bei solchen Positionen, die allgemein eine begründete Überzeugung oder Gewissheit vom Richter verlangen. Auch die in der strafrechtlichen Diskussion auftretenden Probleme, den Überzeugungsbegriff klar vom Gewissheitsbegriff abzugrenzen, dürften ihren Ursprung zum Teil in Kants etwas verwirrender Terminologie haben. Manche Autoren wie etwa der bereits erwähnte Weber bedienten sich der Munition, die Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ für einen Angriff auf jedes korrespondenztheoretische Wahrheitsverständnis geliefert hatte. So soll „reine“ oder „transzendentale“ Wahrheit im Strafprozess unerreichbar sein, da man weder einen allgemeingültigen Maßstab für Wahrheit habe noch ungefiltert auf die Gegenstände der Welt zugreifen könne.191 Besonders aufschlussreich ist schließlich, dass gerade die in der Verbindung von Wahrheits-, Überzeugungs- und Gewissheitsbegriff schlüssigsten strafrechtswissenschaftlichen Ansätze auf einen rein objektiven oder korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff verzichteten. Welche Probleme solche Wahrheitsbegriffe im Hinblick auf die geltende Strafprozessordnung aufwerfen, wird bei der Analyse der Rechtsprechung und vor allem im zweiten Teil dieser Arbeit deutlich werden. 3. Widerhall der Diskussion in der Reformgesetzgebung seit den 1840er Jahren Die intensiven Debatten in der strafrechtlichen Literatur um Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Gewissheit und Überzeugung haben die partikularstaatlichen Reformen des Strafprozesses erheblich beeinflusst. Viele Strafprozessordnungen nahmen Regelungen zur Wahrheitserforschung auf. Die wichtigste Neuerung war allerdings die freie richterliche Beweiswürdigung. a) Die Entwicklung in Preußen An der preußischen Gesetzgebung lässt sich beispielhaft der durch die rechtswissenschaftliche Diskussion der vorangegangenen Jahrzehnte vorbereitete Wandel der strafprozessualen Entscheidungskriterien ablesen. Die Criminal-Ordnung von 1805192 hatte noch die Begriffe „Wahrheit“, „Überzeugung“ und „Gewissheit“ zusammengeführt und in ihrem § 393 die maßgebliche „hinreichende Gewissheit“ des Richters dann für gegeben erklärt, „wenn für die Wahrheit eines Umstandes vollkommen überzeugende Gründe vorhanden sind, und nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge ein bedeutender Grund für das Gegentheil nicht wohl denkbar ist“. Ihr § 396 beschrieb daneben Wahrscheinlichkeit als Folge eines unvollkommenen Beweises. Solche Klassifikationen fanden mit dem „Gesetz, betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden 191 192

Weber, Neues Archiv des Criminalrechts 8 (1825), 557, 560, 562 ff. 1806 in Berlin verlegt von Gottfried Nauck.

I. Ausgangspunkt

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Untersuchungen“ vom 17. Juli 1846193 ein Ende. Der preußische Gesetzgeber brach in dessen § 19 ausdrücklich mit bisherigen positiven Beweisregeln und ordnete sodann an: „Der erkennende Richter hat fortan nach genauer Prüfung aller Beweise, für die Anklage und Vertheidigung, nach seiner freien, aus dem Inbegriff der vor ihm erfolgten Verhandlungen geschöpften Ueberzeugung zu entscheiden: ob der Angeklagte schuldig, oder nicht schuldig, oder ob derselbe von der Anklage zu entbinden sei. Er ist aber verpflichtet, die Gründe, welche ihn dabei geleitet haben, in dem Urtheil anzugeben.“

Damit war zum ersten Mal die freie richterliche Beweiswürdigung zum Maßstab erhoben worden. Doch wie ist diese neue Regelung zu verstehen? Die richterliche Begründungspflicht weist bereits darauf hin, dass unter der geforderten Überzeugung nicht etwa ein allein auf Eindrücken und Empfindungen beruhender, rein subjektiver seelischer Zustand im Sinne der „intime conviction“ zu verstehen ist. Das bestätigt auch die später anonym erschienene, Savigny zugeschriebene Denkschrift zur preußischen Strafprozessreform: Die ständigen Richter sollen danach ihre Überzeugung zwar frei von gesetzlichen Vorgaben, nicht aber von allgemeinen Regeln des Denkens, der Erfahrung und der Menschenkenntnis bilden.194 Eine die solcherart rationale Überzeugungsbildung ergänzende oder gar beherrschende Pflicht des Richters zur Erforschung der („materiellen“) Wahrheit enthält das Gesetz vom 17. Juli 1846 dagegen nicht. Die „Verordnung über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen“ vom 3. Januar 1849195 behielt in § 22 den Maßstab dieses Gesetzes bei. Ein Ziel der Wahrheitserforschung führte auch sie nicht ein. Das die Verordnung von 1849 ändernde und ergänzende Gesetz vom 3. Mai 1852 brachte in dieser Hinsicht keine Neuerung. Ein etwas anderes Bild zeigt die mit Verordnung vom 25. Juni 1867 eingeführte, nur für die neu hinzugekommenen preußischen Landesteile geltende Strafprozessordnung196. Diese sah in § 7 die freie richterliche Beweiswürdigung vor. In ihrem § 3 statuierte sie zugleich die ab der Anklageerhebung für das Gericht bestehende „Verpflichtung, das Sachverhältnis durch alle gesetzlichen Mittel aufzuklären, und nach dem Ergebnisse dieser Untersuchung, was Rechtens ist, zu befinden“. Den Begriff der Wahrheit vermeidet das Gesetz allerdings. Auch zum Verhältnis von Sachverhaltsaufklärung und freier richterlicher Überzeugung gewährt der Gesetzestext bis auf die zeitliche Abfolge von Aufklärung und Überzeugungsbildung keinen Aufschluss.

193 194 195 196

Pr. Gesetz-Sammlung 1846, S. 267 ff. Savigny, GA 6 (1858), 469, 484. Pr. Gesetz-Sammlung 1849, S. 14 ff. Pr. Gesetz-Codex, Supplement 1866 – 1867, S. 198 ff.

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B. Der Wahrheitsbegriff

b) Die Gesetzgebung der anderen deutschen Partikularstaaten Die weiteren deutschen Staaten rezipierten die reichhaltige wissenschaftliche Diskussion uneinheitlich. Schon zum Zeitpunkt ihres Erlasses antiquiert erscheint die schleswig-holsteinische „Verordnung, betr. die Bedingungen und Wirkungen des Anzeigenbeweises in Strafsachen“ vom 27. März 1843197. Diese Verordnung sah zwar in § 1 einen ausschließlichen Überzeugungsmaßstab vor, enthielt aber in § 2 Anweisungen zum Verfahren im Falle des Zusammentreffens mehrerer Indizien und verband diese mit solchen Regeln, die sich aus Verstand und Erfahrung ableiten lassen. Von dieser Ausnahme abgesehen setzte sich die freie richterliche Beweiswürdigung durch. Gleichwohl begegnet man erneut mehreren in der strafrechtlichen Literatur der Zeit vorgezeichneten Problemkreisen: Einmal verwendeten die verschiedenen Staaten schon den Überzeugungsbegriff nicht einheitlich. Während die meisten neuen Gesetze eine regelgeleitete, begründete Stellungnahme forderten, führte Sachsen 1848 ein Kriterium für Geschworenenentscheidungen ein, das sich kaum anders als eine „intime conviction“ nach französischem Vorbild auffassen lässt.198 Hinzu kommt, dass eine Reihe von Staaten nicht nur die freie richterliche Beweiswürdigung gesetzlich verankerte, sondern auch – allerdings mit unterschiedlicher Formulierung und Reichweite – eine Pflicht zur Erforschung der Wahrheit normierte.199 Weder kann den Gesetzestexten aber entnommen werden, in welchem Verhältnis diese Pflicht zur freien richterlichen Beweiswürdigung steht, noch ergibt sich aus ihnen, was überhaupt unter den oft erhaben klingenden Formeln zum Verfahrensziel der Wahrheit zu verstehen ist. Einige andere Staaten beließen es dagegen bei einem Überzeugungsmaßstab, ohne im Gesetz auch nur anzudeuten, dass den Strafrichter zugleich eine Pflicht zur Erforschung der Wahrheit treffe.200 Diese uneinheitliche partikularstaatliche Gesetzgebung spiegelt die sehr unterschiedlichen Positionen wider, die sich in der Strafrechtswissenschaft der vorangegangenen Jahrzehnte ausgebildet hatten. Von einem unumstrittenen Ziel der Erforschung „materieller Wahrheit“, einem scharf umrissenen Wahrheitsbegriff und einer Klärung des Verhältnisses von Wahrheit und Überzeugung kann auch auf gesetzlicher Ebene keine Rede sein. 197 Chronologische Sammlung der im Jahre 1843 ergangenen Verordnungen und Verfügungen für die Herzogthümer Schleswig und Holstein, S. 141 ff. 198 § 36 des sächsischen Gesetzes vom 18. November 1848 lautet: „Die Geschwornen urtheilen einzig und allein nach ihrer innern, aus der vor ihnen Statt gefundenen Verhandlung geschöpften Überzeugung. Sie sind nicht gehalten, Gründe für ihren Ausspruch anzugeben.“ 199 So Art. 141 Bayerisches Gesetz v. 10.11.1848; § 136 StPO Hannover 1850; Art. 293 StPO Großherzogtum Hessen 1867; § 186 StPO Lübeck 1862; Art. 263 StPO Oldenburg 1857; Art. 3 StPO Sachsen 1855 und 1868; Art. 300 StPO Württemberg 1868. 200 So § 6 StPO Baden 1864 (vgl. auch die §§ 71, 270 der badischen StPO von 1845); § 145 StPO Braunschweig 1849; § 133 des Bremer Gesetzes über Geschwornengerichte 1851 (anders die StPO von 1870); § 181 StPO Hamburg 1869; § 36 sächsisches Gesetz 1848 (anders die Strafprozessordnungen von 1855 und 1868).

I. Ausgangspunkt

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4. Zusammenfassung Die Analyse der strafrechtlichen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und der partikularstaatlichen Gesetzgebung hat einiges Licht auf die Gemengelage vor Entstehung der Reichsstrafprozessordnung geworfen. Mehrere Punkte sind im Hinblick auf die weitere Untersuchung nochmals hervorzuheben: Die Erforschung „materieller Wahrheit“ war weder in der strafrechtlichen Literatur noch in der partikularstaatlichen Gesetzgebung ein allgemein anerkanntes oberstes Ziel des Strafprozesses. Den Anhängern eines solchen Prozessziels fiel es schwer, die Frage zu beantworten, was „materielle Wahrheit“ überhaupt ist. Die verschiedenen Interpretationen dieser Formel im 19. Jahrhundert sind kaum miteinander in Einklang zu bringen. Darüber hinaus lässt sich ein zwingender Zusammenhang zwischen „materieller Wahrheit“ und einer inquisitorischen Verfahrensstruktur weder historisch noch über einen Vergleich mit dem Zivilprozess belegen. Gegenteilige Behauptungen stießen bereits im 19. Jahrhundert auf Widerspruch. Zudem brachte die Diskussion weitere Wahrheitsbegriffe wie einen subjektiven, einen formellen und einen in Ansätzen dialektischen Wahrheitsbegriff hervor. Andere Autoren erklärten Wahrheit im Strafprozess für unerreichbar und vertraten mit gewichtigen Argumenten einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Dieser Maßstab taucht selbst bei überzeugten Verfechtern des Verfahrensziels „materieller Wahrheit“ wie Feuerbach noch auf. Wieder andere sahen in Wahrheit und Wahrscheinlichkeit ohnehin keinen Gegensatz, sondern näherten diese Begriffe einander an. Gleiches gilt für Gewissheit und Wahrscheinlichkeit. Viele Stimmen hielten sowohl das Ziel „materieller Wahrheit“ als auch den Maßstab einer begründeten Gewissheit beziehungsweise Überzeugung der „intime conviction“ des französischen Strafprozessrechts entgegen. Das Verhältnis von „materieller Wahrheit“ und Gewissheit oder Überzeugung blieb dabei jedoch unklar. Andere erachteten die Erforschung „materieller Wahrheit“ für unvereinbar mit dem Gewissheits- beziehungsweise Überzeugungsmaßstab und verbanden diesen mit einem subjektiven oder formellen Wahrheitsbegriff. Einig war sich die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft einzig in ihrer entschiedenen Ablehnung der „intime conviction“. In Mittelpunkt der partikularstaatlichen Gesetzgebung stand die freie richterliche Beweiswürdigung. Eine Pflicht zur Erforschung der Wahrheit fand dagegen nicht in alle Gesetzeswerke Eingang. Unklar blieb auch in den eine solche Pflicht normierenden Verfahrensordnungen, was unter der zu erforschenden Wahrheit zu verstehen war und in welchem Verhältnis die Pflicht zur Wahrheitserforschung zur freien richterlichen Beweiswürdigung mit ihrem Überzeugungsmaßstab stand.

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B. Der Wahrheitsbegriff

II. Der Wahrheitsbegriff unter der Reichsstrafprozessordnung bis zum Untergang der Weimarer Republik 1. „Materielle Wahrheit“ als oberstes Verfahrensziel? Der Wahrheitsbegriff in der Entstehungsgeschichte der Reichsstrafprozessordnung Die Reichsstrafprozessordnung201 beseitigte 1877 den zersplitterten Rechtszustand auf dem Gebiet des Strafverfahrens und etablierte in § 260 den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung in einer bis heute bestehenden Fassung. Andere Normen regelten in Ansätzen den Einfluss des Gerichts auf den Umfang der Beweisaufnahme. § 153 RStPO beschränkte im ersten Absatz die Reichweite der Untersuchung und Entscheidung auf die in der Anklage bezeichnete Tat und die darin genannten Beschuldigten. Abs. 2 lautete: „Innerhalb dieser Grenzen sind die Gerichte zu einer selbständigen Thätigkeit berechtigt und verpflichtet; insbesondere sind sie bei Anwendung des Strafgesetzes an die gestellten Anträge nicht gebunden.“ Nach § 243 Abs. 3 RStPO konnte das Gericht „auf Antrag und von Amtswegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen“. Eine dem heutigen § 244 Abs. 2 StPO vergleichbare Norm mit einer richterlichen Verpflichtung zur Erforschung der Wahrheit enthielt die Reichsstrafprozessordnung dagegen weder in den Entwürfen noch in der finalen Fassung. Dessen ungeachtet taucht der Begriff der „materiellen Wahrheit“ und das Verfahrensziel der Wahrheitserforschung wiederholt in den Gesetzesmaterialien auf. Welche Rückschlüsse lassen sich daraus ziehen? a) Ein konturloser Begriff Die strafrechtliche Literatur des 19. Jahrhunderts hat mit dem Begriff der „materiellen Wahrheit“ ganz unterschiedliche, im Einzelnen zudem oft wenig aussagekräftige Konzepte bezeichnet. Das hatte eine erhebliche Unschärfe dieses Begriffs zur Folge. Auch den Vätern der Reichsstrafprozessordnung ist es nicht gelungen, der „materiellen Wahrheit“ deutliche Konturen zu verleihen: Die Motive des Entwurfs zeigen zunächst eine schon zum damaligen Zeitpunkt umstrittene Gleichsetzung von inquisitorischem Verfahren und Erforschung der „materiellen Wahrheit“. Die Gestaltung der Hauptverhandlung nach inquisitorischen Grundsätzen statt nach dem Anklageprinzip bringe die in Gesetzgebung, Wissenschaft und Praxis allgemein anerkannte Ansicht zum Ausdruck, dass im Strafprozess auf keiner Seite disponible Parteirechte stünden, sondern dieser auf „die Ermittelung materieller Wahrheit“ gerichtet sei.202 Vergegenwärtigt man sich die zeitgenössische Diskussion, etwa die Kritik Zachariaes, dann erscheint die angebliche Einstimmigkeit hinsichtlich der Verbindung von inquisitorischer Verfahrensstruktur und 201 202

Reichs-Gesetzblatt 1877, Nr. 8 (S. 253 – 346). Hahn, Materialien, Bd. 3/1, S. 152.

II. Der Wahrheitsbegriff unter der Reichsstrafprozessordnung

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Erforschung „materieller Wahrheit“ als bloße Behauptung. Und selbst wenn man diese Verbindung als gegeben akzeptieren wollte, lässt sich daraus nichts über den Wahrheitsbegriff als solchen ableiten, was weiter reicht als ein bloßes Vorgehen von Amts wegen. In den Motiven stößt man zudem auf Spuren der alten Feuerbachschen Gleichsetzung von „materieller“ und „wirklicher“ Wahrheit in einem ebenfalls vertrauten Kontext, nämlich der Gegenüberstellung von Zivil- und Strafprozess. Die Notwendigkeit einer eigenständigen strafrichterlichen Entscheidung über zivilrechtliche Vorfragen wird so begründet: „Denn vermöge der Aufgabe des Strafprozesses, möglichst die materielle Wahrheit zu erforschen, darf der Strafrichter seiner Entscheidung überall nur solche Thatsachen zu Grunde legen, welche sich wirklich ereignet haben“203. Gewonnen ist mit dieser Koppelung zweier sehr unbestimmter Begriffe eher wenig. Immerhin deutet die Wortwahl („wirklich“, „Tatsachen“) an, dass es sich nicht um einen subjektiven Maßstab handeln kann. In diese Richtung weisen auch Äußerungen mehrerer Kommissionsmitglieder, die in unterschiedlichen Zusammenhängen nicht von „materieller“, sondern von „objektiver Wahrheit“ gesprochen haben.204 Wie das mit dem Überzeugungsmaßstab des späteren § 260 RStPO und der Formulierung in den Motiven des Entwurfs, wonach die Richter zur „Ueberzeugung von der Wahrheit einer Tatsache“ kommen müssten205, übereinstimmt, geht aus den Gesetzesmaterialien indes nicht hervor. Weiteren Aufschluss darüber, was im Gesetzgebungsprozess unter „materieller“ oder „objektiver“ Wahrheit verstanden wurde, gewähren die Gesetzesmaterialien nicht. Die Beteiligten sind mit ihren allgemein gehaltenen Wendungen zum Wahrheitsbegriff somit nicht über den Diskussionsstand der strafrechtlichen Literatur hinausgelangt. b) „Materielle Wahrheit“ als oberstes Ziel des Strafverfahrens? Dennoch belegen die Gesetzesmaterialien, dass zumindest ein Teil der in das Gesetzgebungsverfahren involvierten Personen die Ermittlung „materieller Wahrheit“ als oberstes Ziel des Strafverfahrens angesehen hat. Indirekt geht das schon aus der eben angeführten Stelle in den Motiven des Entwurfs zur Verbindung von Wahrheitserforschung und inquisitorischem Verfahren hervor.206 In den Motiven findet sich auch die äußerst allgemeine Aussage, Wahrheit sei das „Ziel aller 203

Ebd., S. 200. S. ebd., S. 704, 845 f., 860 f., 1054; Bd. 3/2, S. 1316. 205 Ebd., Bd. 3/1, S. 210. 206 Gerade diese Stelle, aber auch die häufige Argumentation mit „materieller Wahrheit“ im Gesetzgebungsverfahren lässt die These von I. Müller, Leviathan 5 (1977), 522, 525 als sehr zweifelhaft erscheinen, wonach die Wahrheitserforschungspflicht aufgrund „einer tiefen Skepsis gegenüber dem Wahrheitsanspruch des Inquisitionsverfahrens, das strukturell eine zutreffende Faktenrekonstruktion eher behinderte als ermöglichte“, nicht Gesetz wurde. 204

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B. Der Wahrheitsbegriff

Rechtspflege“207. Bei der ersten Beratung im Plenum behauptete der württembergische Justiz- und Außenminister Mittnacht im Zusammenhang mit der Frage, welches Prinzip die Hauptverhandlung beherrsche: „Der Satz, daß der Strafprozeß die Herstellung der materiellen Wahrheit als oberstes Ziel sich zu setzen habe, ist im Entwurfe nirgends ausdrücklich ausgesprochen, er beherrscht ihn aber als oberstes Axiom.“208 Mehrere Mitglieder der Kommission äußerten sich nach den Protokollen zur 1. Lesung der Kommission ähnlich. Der Abgeordnete Schwarze, der nach den Gesetzesmaterialien als der eifrigste Verfechter der „materiellen Wahrheit“ erscheint, erklärte die Staatsanwaltschaft hinsichtlich des übergeordneten Zwecks, die „materielle Wahrheit“ zu erforschen, zur Gehilfin des Gerichts.209 Die Abgeordneten Krätzer und Klotz meinten, das akkusatorische Prinzip sei stets dort außer Kraft gesetzt worden, wo dies zur Erforschung der „objektiven Wahrheit“ notwendig gewesen wäre.210 Der Abgeordnete Struckmann sah in § 207 des Entwurfs, der allerdings den Begriff der Wahrheit nicht nannte, sondern nur eine allgemeine Untersuchungsmaxime enthielt, das Prinzip der Erforschung der Wahrheit ausgedrückt.211 Das behauptete der Geheime Oberregierungsrat Hanauer – ergänzt um das Adjektiv „materiell“ – dagegen in Bezug auf § 214 des Entwurfs, der die Verlesung eines früheren Vernehmungsprotokolls betraf, und hob das allgemeine strafprozessuale Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ nochmals im Zusammenhang mit dem Privatklageverfahren hervor212. Der Abgeordnete Bähr schließlich verstand (reichlich pathetisch) gleich jedes juristische Handeln als „Erkennen der Wahrheit“213. Kein anderes Bild zeigen die Protokolle der 2. Lesung der Kommission. Erneut betonte der Abgeordnete Schwarze die Rolle der Staatsanwaltschaft als Erforscherin objektiver Wahrheit.214 Zudem wies er dem Richter nochmals ausdrücklich die Aufgabe zu, die „materielle Wahrheit“ herauszufinden.215 Neben dem Abgeordneten Klotz war Schwarze Berichterstatter im weiteren Verfahren und konnte so dem Bericht der Kommission seinen Stempel aufdrücken. Dort wird dem Strafverfahren ausdrücklich die „Ermittelung der materiellen Wahrheit“ aufgetragen.216 Schwarze war es schließlich auch, der während der zweiten Beratung im Plenum den allgemeinen Grundsatz der Erforschung „materieller Wahrheit“ anführte.217 207

Hahn, Materialien, Bd. 3/1, S. 377. Ebd., S. 500. 209 Ebd., S. 729. 210 Ebd., S. 845. 211 Ebd., S. 849. 212 Ebd., S. 859, 1092. 213 Ebd., S. 922 f. 214 Ebd., Bd. 3/2, S. 1316; s. auch die ähnliche Stellungnahme des Abgeordneten Becker, ebd., S. 1329. 215 Ebd., S. 1370. 216 Ebd., S. 1534 f. 217 Hahn, Materialien, Bd. 3/2, S. 1739. 208

II. Der Wahrheitsbegriff unter der Reichsstrafprozessordnung

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Trotz dieser Stimmen aus dem Gesetzgebungsverfahren ist es zweifelhaft, ob die Erforschung der „materiellen Wahrheit“ als Grundprinzip der Reichsstrafprozessordnung bezeichnet werden kann. Dagegen sprechen die folgenden Erwägungen: Die partikularstaatlichen Gesetzgeber hatten unterschiedliche Ansätze hinsichtlich einer richterlichen Pflicht zur Wahrheitserforschung verfolgt. Während einige Gesetze es bei einem Überzeugungsmaßstab beließen, enthielt eine ganze Reihe von ihnen eine derartige Pflicht. Die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten hätten mit der Reichsstrafprozessordnung ohne weiteres an diese teils seit Jahrzehnten bestehenden, ihnen mit Sicherheit vertrauten Strafverfahrensgesetze anknüpfen können. Dass ein Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ weder Eingang in die Entwürfe noch in den finalen Gesetzestext fand, könnte man allerdings mit seiner Selbstverständlichkeit zu erklären versuchen,218 wie sie im Gesetzgebungsverfahren insbesondere Mittnacht und Schwarze betont haben. Doch diese Selbstverständlichkeit war zum damaligen Zeitpunkt eine bloße Behauptung. Bis zur Entstehung der Reichsstrafprozessordnung war kein oberstes Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft allgemein anerkannt. Eine entsprechende gesetzliche Regelung hätte erhebliche Kontroversen in der Literatur hervorgerufen. Auch sonst gab es gute Gründe, die Erforschung „materieller Wahrheit“ nicht in die Strafprozessordnung aufzunehmen: Der Wahrheitsbegriff als solcher war in der Literatur wie auch im Gesetzgebungsprozess dunkel geblieben. Wenn aber schon unklar und umstritten war, was Wahrheit beziehungsweise „materielle Wahrheit“ im Strafprozess überhaupt ist, dann hätte es wenig Sinn gemacht, deren Erforschung ausdrücklich an die Spitze der strafprozessualen Grundsätze zu stellen. Eine gesetzliche Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ wäre ebenso unbestimmt wie der Wahrheitsbegriff selbst gewesen. Sofern es überhaupt ein allgemein anerkanntes Grundprinzip des Strafverfahrens zum Entstehungszeitpunkt der Reichsstrafprozessordnung gab, dann war das aufgrund ihres Siegeszugs seit 1846 die freie richterliche Beweiswürdigung. Das Verhältnis des damit verbundenen Überzeugungsmaßstabs zum Ziel „materieller Wahrheit“ war indes ebenfalls ungeklärt. Dies hätte bei gleichzeitiger Normierung der freien richterlichen Beweiswürdigung und einer Pflicht zur Wahrheitserforschung zu großen Problemen führen können.219 Nach alldem haben sich die Beteiligten offenbar bewusst dagegen entschieden, die als Grundprinzip des Strafverfahrens, in erkenntnistheoretischer Hinsicht und in ihrem Verhältnis zum Überzeugungsmaßstab umstrittene Erforschung „materieller 218 So Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 45 f., der sich allerdings auf eine nach der hier vorgenommenen Analyse kaum zu haltende Verbindung von inquisitorischer Verfahrensgestaltung und Erforschung „materieller Wahrheit“ stützt; Fezer, FG BGH IV, S. 847 f. meint, der Gesetzgeber sei vom Amtsermittlungsgrundsatz ausgegangen. 219 S. zu einem bei gleichzeitiger Normierung drohenden Widerspruch zwischen freier richterlicher Beweiswürdigung und Pflicht zur Wahrheitserforschung auch Fezer, in: FG BGH IV, S. 847 f.; Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 55.

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Wahrheit“ als obersten Grundsatz in die Strafprozessordnung aufzunehmen. Diese Entscheidung sollte man nicht mit der nachträglichen Annahme eines entsprechenden ungeschriebenen Grundsatzes überspielen, nur weil einige in den Gesetzgebungsprozess involvierte Personen wie Schwarze versucht haben, unter Berufung auf ein angeblich oberstes Ziel „materieller Wahrheit“ ihre eigenen rechtspolitischen Vorstellungen durchzusetzen. Die damit angesprochene Rolle der „materiellen Wahrheit“ als Argumentationstopos im Gesetzgebungsverfahren ist Gegenstand des nächsten Unterkapitels. c) „Materielle Wahrheit“ als Argument Dass sich die beteiligten Personen häufig auf die Erforschung der „materiellen Wahrheit“ berufen haben, ist unter einem Aspekt bemerkenswert, der bisher kaum Beachtung gefunden hat: Diese ein oberstes Prinzip suggerierende Formel diente während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens als universell einsetzbares Argument bei der Diskussion sehr konkreter strafprozessualer Fragen. Dabei zeigt sich nicht nur, wie beliebig eine lediglich auf den vagen Grundsatz der Erforschung „materieller Wahrheit“ gestützte Argumentation regelmäßig ist, sondern auch, wie leicht sie sich nutzen lässt, um autoritäre Verfahrensstrukturen zu etablieren: Zum einen vertraten Kommissionsmitglieder vollkommen gegensätzliche Positionen mit der identischen Begründung, nur so sei das Verfahrensziel „materieller“ beziehungsweise „objektiver“ Wahrheit zu erreichen. Das wird bei der Debatte darüber deutlich, ob die Verlesung des Protokolls über frühere Aussagen von Zeugen und Sachverständigen zulässig sein sollte (§ 214 des Entwurfs). Während der Abgeordnete Puttkamer in einer solchen Verlesung einer Zeugenaussage die „Unterdrückung der objektiven Wahrheit“ erkannte, hielten die Kommissionsmitglieder Hanauer, Bähr, Becker, Krätzer und Wolffson umgekehrt die Verlesung für ein notwendiges Instrument zur Ermittlung der („materiellen“) Wahrheit.220 Ein ähnliches Beispiel bietet die Diskussion der Frage, ob in der Hauptverhandlung ein an den Zeugen gerichteter Vorhalt möglich sein solle. Hier meinten die Abgeordneten Struckmann, Bähr und Schwarze (letzterer ging gar von einer Notsituation des Richters bei der Ergründung „materieller Wahrheit“ aus), dass der Vorhalt als Mittel der Wahrheitserforschung erlaubt sein müsse. Im Gegensatz dazu hielt Beyerle die Erforschung der Wahrheit bei einem bloßen Vorhalt statt vollständiger Verlesung aufgrund der dann entstehenden Intransparenz nicht mehr für gewährleistet.221 Beide Beispiele belegen eine taktische Verwendung des angeblichen Grundsatzes der Erforschung „materieller Wahrheit“. Mit dieser vagen, aber eindrucksvoll klingenden Formel ließen sich offenbar ganz unterschiedliche Positionen stützen, solange man nicht gezwungen war, zu erklären, was damit überhaupt gemeint sein sollte.

220 221

Hahn, Materialien, Bd. 3/1, S. 859 ff. Ebd., Bd. 3/2, S. 1367.

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Zum anderen sind im Gesetzgebungsverfahren Tendenzen zu erkennen, die vorgebliche Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ zum Einfallstor autoritärer Verfahrenselemente zu machen. So setzten sich unter Verweis auf die sonst drohende Gefahr für die Wahrheitsermittlung mehrere Kommissionsmitglieder für die Befugnis ein, den Beschuldigten in bestimmten Verfahrenssituationen, etwa bei der Vernehmung von Kindern, ausschließen zu können.222 Dass dies für die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten nachteilig ist, liegt auf der Hand. Bei der Frage, ob die Anforderungen an die Verwahrung in der Psychiatrie zum Zweck der Begutachtung hinter den Voraussetzungen der Untersuchungshaft zurückbleiben dürften, sollte die Wahrheitserforschung niedrigere Anforderungen rechtfertigen.223 Der wiederholt als Verfechter „materieller Wahrheit“ hervorgetretene Abgeordnete Schwarze wollte dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren ein Antragsrecht auf und innerhalb der Voruntersuchung mit der Begründung versagen, die Staatsanwaltschaft agiere dort nicht als Partei, sondern sei mit der Ermittlung „objektive[r] Wahrheit“ befasst.224 Zuletzt sollte auch die Verteidigung Gericht und Staatsanwaltschaft keine allzu großen Hindernisse durch Verunklaren des Sachverhalts und Störversuche bei der Ermittlung belastender Tatsachen in den Weg legen, sondern als „verständige Verteidigung“ und damit als „willkommener Beistand zur Feststellung der materiellen Wahrheit“ mit beiden an einem Strang ziehen.225 All diese auf der angeblich vorrangigen Ermittlung „materieller Wahrheit“ beruhenden Positionen schränken grundlegende Verteidigungsmöglichkeiten oder die Freiheitssphäre des Beschuldigten ein. Dabei machen sie jedoch stets ein vermeintlich höchstes Prinzip geltend und erscheinen dadurch kaum angreifbar. Die hier nur angedeutete Verknüpfung von „materieller Wahrheit“ und autoritärer Verfahrensstruktur gilt es im Blick zu behalten. Sie sollte für das nationalsozialistische Strafverfahren große Bedeutung erlangen. d) Die zeitgenössische Kritik Die strafrechtswissenschaftliche Kritik an den Entwürfen der Reichsstrafprozessordnung bestätigt die bisherigen Ergebnisse. Dort ist nicht davon die Rede, in den Entwürfen fehle ein oberstes Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“. Diese Formel taucht nur am Rande auf, und dann in der aus dem Gesetzgebungsverfahren vertrauten Funktion als Argumentationstopos: So behandelt Binding im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Schöffen- und Geschworenengerichten ausführlich den Beweis- und Gewissheitsbegriff, während er die „materielle Wahrheit“ lediglich rhetorisch anführt, um seinem Angriff auf das Jurysystem größeres Gewicht zu 222

Ebd., Bd. 3/1, S. 786, 789; Bd. 3/2, S. 1364 f. Ebd., S. 1259; im Gegensatz dazu hatte der Abgeordnete Eysoldt argumentiert (ebd., S. 1258), die Erforschung der Wahrheit habe zum Schutz der bürgerlichen Freiheit Schranken. 224 Ebd., S. 1316; vgl. auch S. 1329. 225 Ebd., S. 1555; s. auch S. 1840 f., 1844, 1850 f. 223

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verleihen.226 Eine Untersuchung von Seel aus dem Jahr 1875 zum Beweis in Strafsachen bleibt, obwohl sie mehrfach auf das laufende Gesetzgebungsverfahren Bezug nimmt, völlig den früheren Positionen Mittermaiers verhaftet. Sie widmet sich vor allem dem Problemkreis um Beweis, Gewissheit und Überzeugung und erwähnt nur im Zusammenhang mit der Beweiskraft von Indizien floskelhaft die „Erforschung der materiellen Wahrheit“ als Kennzeichen des Strafprozesses im Gegensatz zum Zivilprozess.227 Daneben diente die Wahrheitserforschungspflicht auch zur Begründung autoritärer Verfahrensstrukturen im Gewande eines angeblich unpolitischen Strafprozessrechts. Politische Erwägungen sollten unter anderem deshalb keinen Eingang in den Gesetzgebungsprozess finden, „weil es sehr zu beklagen wäre, wenn durch ungegründetes Mißtrauen der Erforschung der Wahrheit hemmende Schranken entgegengesetzt würden“.228 Mehrere Autoren griffen dagegen die im Gesetzgebungsverfahren vertretene Auffassung an, wonach inquisitorisches Prinzip und Wahrheitsermittlung zwei Seiten derselben Medaille wären.229 Sie und andere wandten sich zudem gegen die inquisitorische Ausgestaltung des Verfahrens als solche und die damit verbundene enorme Machtfülle des Richters.230 Auch die der Verteidigung zugedachte Rolle rief die Kritik auf den Plan. Der Verteidiger sollte danach nicht mit dem Richter zusammenarbeiten, sondern durch Beratung des Beschuldigten und Kampf mit dem Staatsanwalt zur Wahrheitserforschung beitragen.231 All diese Kritiker haben schon während des Gesetzgebungsverfahrens die Gefahr einer Begründung autoritärer Verfahrensstrukturen mit der angeblich alles überragenden Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ erkannt und bekämpft. Auch das spricht gegen die Annahme, zum Entstehungszeitpunkt der Reichsstrafprozessordnung habe ein allgemein anerkannter Grundsatz der dem Richter überantworteten Erforschung „materieller Wahrheit“ bestanden.

226

Binding, Grundfragen, S. 39, 88, wonach die formalen Fragen an die Geschworenen „sich aber zu dem Streben unseres Strafprozesses, materielle Wahrheit über Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu erlangen, in schneidendsten Widerspruch stellen müssen“. 227 Seel, Erörterungen, I. § 2 (S. 2 f.), II. 9. § 1 (S. 32). 228 Dreyer, Bemerkungen, S. 78. 229 Gneist, Vier Fragen, S. 100 ff.; H. Meyer, Die Mitwirkung, S. 46 mit Fn. 64; Wahlberg, Kritik, S. 31. 230 Bar, Kritik, S. 35, 57; Gneist, Vier Fragen, S. 100 ff., 112; H. Meyer, Die Mitwirkung, S. 6 ff., 46; Wahlberg, Kritik, S. 31, 72, 81. 231 Heinze, Strafprocessuale Erörterungen, S. 19; Wahlberg, Kritik, S. 72. Hier wird ein Konflikt über die Stellung des Strafverteidigers deutlich, der bis heute anhält. Die gegensätzlichen Positionen kann man grob der „Organtheorie“ (s. nur BGHSt 12, 367, 369; Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren (zu dessen Beschränkung der Organtheorie s. insbesondere S. 183 ff.); vgl. auch § 1 BRAO) und der „Interessentheorie“ (s. insbesondere LR/Lüderssen/ Jahn, Vor § 137 Rn. 33 ff.) zuordnen; zum Ganzen s. auch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 3 ff.

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2. Die weitere Gesetzgebung bis 1933 Ein Prinzip der Erforschung der Wahrheit wurde weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik Gesetz. Dennoch lohnt sich ein Blick auf Entwürfe und Gesetzesänderungen aus dieser Zeit, die das Beweisrecht betreffen, da diese indirekt auch etwas über den Stellenwert von Wahrheit im Strafverfahren und den Wahrheitsbegriff verraten. a) Die Reformentwürfe von 1895, 1909 und 1919 Im Deutschen Reich und in der jungen Weimarer Republik scheiterten mehrere Versuche, die Strafprozessordnung in größerem Umfang zu reformieren. Im Hinblick auf ein etwaiges Prinzip der Wahrheitserforschung in der Reichsstrafprozessordnung sind die entsprechenden Gesetzesentwürfe durchaus bemerkenswert: Der Entwurf 1895232 wies in seinem § 244 unter Aufgabe bisheriger Beschränkungen dem Gericht große Freiheit bei der Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme zu.233 Er gelangte aber insofern nicht über die bestehende Gesetzeslage hinaus, als er es ebenfalls vermied, die Wendung „Erforschung der Wahrheit“ in den Entwurfstext aufzunehmen. § 232 Abs. 1 des Entwurfs 1909234 verfolgte mit der Formulierung eines Ermessenskriteriums („Die Beweisaufnahme ist auf die Tatsachen zu erstrecken, die nach Ermessen des Gerichts für die Entscheidung von Bedeutung sind.“) ein ähnliches Programm. Allerdings führte auch dieser Entwurf nicht den Wahrheitsbegriff im Zusammenhang mit der richterlichen Sachverhaltsaufklärung ein. Sowohl der Entwurf 1895 als auch der Entwurf 1909 belegen demnach eine Tendenz, die richterliche Macht bei der Beweiserhebung auszuweiten. Ihr Wortlaut lässt dagegen nicht den Willen des Gesetzgebers erkennen, die immerhin zum Zeitpunkt beider Entwürfe bereits wiederholt vom Reichsgericht bemühte Pflicht zur Erforschung der „materiellen Wahrheit“ und einen entsprechenden Wahrheitsbegriff gesetzlich festzuschreiben. Im Gegensatz zu diesen Bestrebungen, über einen weit gefassten Amtsermittlungsgrundsatz dem Gericht eine große Machtfülle hinsichtlich der Beweisaufnahme zu verschaffen und damit den autoritären Charakter des Strafverfahrens zu betonen, steht der Entwurf von 1919235. Dieser verfolgte ein liberales, auf Eliminierung der inquisitorischen Verfahrenselemente und Stärkung der Beschuldigtenrechte gerichtetes Programm. Die Gesetzesbegründung nennt als Aufgabe ausdrücklich, „das Strafverfahren von den ihm noch anhaftenden Resten des Inquisitionsprozesses zu 232

Verhandlungen des Reichstags, 9. Legislaturperiode, Session IV 1895/97, Akte Nr. 73. Dessen Absatz 1 lautet: „Das Gericht bestimmt den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein.“ 234 Verhandlungen des Reichstags, 12. Legislaturperiode, Session II 1909/10, Akte Nr. 7. 235 Die Reichsratsvorlage ist abgedruckt in Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 14, Entwurf, S. 13 ff. 233

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B. Der Wahrheitsbegriff

befreien“ und sieht im Entwurf das Recht der „Parteien“ (!) verwirklicht, „in der Hauptverhandlung die Beweisaufnahme selbst in die Hand zu nehmen“.236 Gesetzestechnisch sollte dieses Programm hinsichtlich der Hauptverhandlung einmal durch Abschaffung des Angeklagtenverhörs aufgrund der Akten und Beschränkung der Verlesung von Niederschriften des Vorverfahrens verwirklicht werden. Vor allem aber sah § 240 des Entwurfs das Recht der Parteien vor, die von ihnen benannten Zeugen und Sachverständigen auch ohne übereinstimmenden Antrag von Verteidigung und Staatsanwaltschaft selbst zu vernehmen. Daneben war zwar in § 237 Abs. 1 der Amtsermittlungsgrundsatz in einer jeden Anklang an die „Erforschung materieller Wahrheit“ vermeidenden Formulierung niedergelegt („Die Beweisaufnahme ist von Amts wegen auf alle Tatsachen zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.“). Auch insofern besaß der Angeklagte aber erhebliche Einwirkungsmöglichkeiten, da die Ablehnung von Beweisanträgen in § 237 Abs. 2 stark beschränkt war und eine solche Ablehnung nach § 237 Abs. 3 für bereits herbeigeschaffte Beweismittel nicht mehr möglich sein sollte. Einzig für Verhandlungen, die ausschließlich auf eine Eigenklage angeordnet waren oder nur eine Übertretung betrafen, war der Umfang der Beweisaufnahme in das freie Ermessen des Gerichts gestellt (§ 237 Abs. 4).237 Nach der Gesetzesbegründung und dem Wortlaut des Entwurfs kann nicht angenommen werden, dass zum Zeitpunkt der Reformüberlegungen ein übergeordnetes Prinzip der dem Richter übertragenen Erforschung „materieller Wahrheit“ allgemein anerkannt war. Wenn überhaupt könnte man für den Entwurf 1919 nur von einem dialektischen Wahrheitsverständnis sprechen. b) Die weitere Entwicklung in der Weimarer Republik 1924 sahen sich die Mitwirkungsrechte des Beschuldigten bei der Beweiserhebung einem massiven Angriff ausgesetzt. Die sog. „Emminger Verordnung“238 stellte durch eine umfangreiche Zuständigkeitsverlagerung die Beweisaufnahme für so gut wie alle Fälle vollständig in das Ermessen des Gerichts; der Beweiserhebungsanspruch nach § 244 Abs. 1 StPO griff nur noch bei Verfahren vor dem Schwurgericht 236

S. ebd., Gesetzesbegründung, S. 11. Eine Parallele zum geltenden Recht zu ziehen, drängt sich hier auf: Im Privatklageverfahren bestimmt gem. § 384 Abs. 3 StPO das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne an die Ablehnungsgründe des formellen Beweisantragsrechts gebunden zu sein. Gleiches gilt nach § 420 Abs. 4 StPO im beschleunigten Verfahren, sofern dieses vor dem Strafrichter stattfindet. Diese Einschränkungen sind zwar bedenklich, fallen jedoch schon aus dem Grund nicht besonders ins Gewicht, dass Privatklage- und beschleunigtes Verfahren in der Praxis keine große Rolle spielen. Sehr viel problematischer erscheint angesichts der Häufigkeit des Strafbefehlsverfahrens der Verweis in § 411 Abs. 2 Satz 2 StPO auf § 420 StPO, wonach im Falle eines zulässigen Einspruchs gegen den Strafbefehl in der anschließenden Hauptverhandlung ebenfalls nur eine vereinfachte Beweisaufnahme stattfindet; kritisch hierzu MüKo-StPO/ Eckstein, § 411 Rn. 37; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 68 Rn. 11. 238 Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924, RGBl. 1924, I, S. 15 ff. 237

II. Der Wahrheitsbegriff unter der Reichsstrafprozessordnung

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oder solchen in erster Instanz vor dem Reichsgericht.239 Der Beschuldigte verlor damit in aller Regel gerade das Recht, das am ehesten seine Stellung als Verfahrenssubjekt garantieren konnte. Auf der anderen Seite verfügte das Gericht über eine enorme Machtfülle. Von einer wenigstens teilweise akkusatorischen Verfahrensstruktur kann man kaum mehr sprechen. Der Strafprozess erhielt vielmehr ein autoritäres, durchweg inquisitorisches Gepräge. Dabei sollte es aber zunächst nicht bleiben. Der Gesetzgeber machte die Eingriffe in das Beweisrecht in den Folgejahren wieder rückgängig.240 Der umfangreichste Versuch einer Strafrechtsreform in der Weimarer Republik scheiterte 1930. Auch die geplante Reform hätte jedoch nicht zu einer gesetzlichen Regelung der Pflicht zur Erforschung der Wahrheit geführt: Der Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz von 1930241, der auch zahlreiche Änderungen der Strafprozessordnung enthielt, beließ es in seiner Neufassung des § 244 StPO für den Richter bei der Pflicht, die Beweisaufnahme „von Amts wegen auf alle Tatsachen zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.“ In der von politischer Instabilität, allgemeiner Radikalisierung und raschem Erstarken der NSDAP gekennzeichneten Spätphase der Weimarer Republik rückten schließlich erneut autoritäre Verfahrenselemente in den Vordergrund. Die „Verordnung des Reichspräsidenten gegen politische Ausschreitungen“ vom 14. Juni 1932242 erklärte für bestimmte Straftaten mit politischem Hintergrund das Verfahren nach § 212 StPO für zulässig und stellte damit in diesen Fällen die Beweisaufnahme in das freie Ermessen des Richters. Um das Ziel der Wahrheitserforschung ging es dabei nicht. Insgesamt belegen die Gesetzgebungsaktivitäten auf dem Gebiet des Beweisrechts auch in der Weimarer Republik nicht, dass der Gesetzgeber von einem übergeordneten Prinzip der Erforschung der „materiellen Wahrheit“ ausgegangen ist. Mit Ausnahme des Entwurfs 1919 tritt dagegen die starke Tendenz zu Tage, im akkusatorischen Prinzip angelegte, rechtsstaatlich elementare Mitwirkungsrechte des Beschuldigten zu beschneiden und dem Strafverfahren eine autoritäre Struktur zu verleihen.243 Daran konnten die Nationalsozialisten nach ihrem Wahlsieg 1933 ohne weiteres anknüpfen.244 239

Nach Schatz, Beweisantragsrecht, S. 95, beschränkte sich der Beweiserhebungsanspruch damit auf nurmehr ein Prozent der erstinstanzlichen Verfahren. 240 S. das Gesetz zur Abänderung der Strafprozeßordnung vom 22. Dezember 1925, RGBl. 1925, I, S. 475 sowie das Gesetz zur Abänderung der Strafprozeßordnung vom 27. Dezember 1926, RGBl. 1926, I, S. 529 ff. 241 VeRrhandlungen des Reichstags, 4. Wahlperiode, 1928, Nr. 2070. 242 RGBl. 1932, I, S. 297 ff.; s. zur zeitgenössischen Kritik Schatz, Beweisantragsrecht, S. 102 f. 243 Ähnlich I. Müller, Leviathan 5 (1977), 522, 526. 244 Vgl. dazu auch Rieß, in: FS Reichsjustizamt, S. 373, 382; Schatz, Beweisantragsrecht, S. 104.

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B. Der Wahrheitsbegriff

3. Der Wahrheitsbegriff in der Rechtsprechung des Reichsgerichts bis 1933 Dem Reichsgericht oblag es, die Vorschriften der neuen Reichsstrafprozessordnung zum Beweisrecht mit Leben zu füllen. Wenig überraschend griff es dabei auf Positionen aus der älteren strafprozessualen Literatur und dem Gesetzgebungsverfahren zurück. Seine Rechtsprechung zum Beweisrecht ist janusköpfig: Zwar schuf das Reichsgericht rasch eine umfangreiche Kasuistik. Erheblich schwerer tat es sich aber damit, grundsätzliche Fragen zur wiederholt als Argument in konkreten Fällen herangezogenen „materiellen Wahrheit“ und zum Verhältnis von Wahrheitserforschung und dem für die freie richterliche Beweiswürdigung zentralen Überzeugungsmaßstab zu beantworten. a) Der Untersuchungsgrundsatz und die Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ Bereits in einer der ersten in die amtliche Sammlung aufgenommenen Entscheidungen schlug sich das Reichsgericht auf die Seite derer, die im Gesetzgebungsverfahren inquisitorische Verfahrenselemente favorisiert hatten. Mit markigen Worten behauptete es eine zwingende Verknüpfung zwischen richterlicher Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme und einer funktionierenden Strafjustiz. Danach ist eine solche richterliche Befugnis „so sehr im Wesen einer gesunden Strafrechtspflege begründet, daß es einer ausdrücklichen Aufnahme dieses Grundsatzes in der Strafprozeßordnung gar nicht bedurfte, er ist aber auch als in den §§ 219 und 243 Satz 2 enthalten anzusehen“.245 Nur wenige Jahre später verband das Reichsgericht ohne nähere Begründung mit der Bestimmung des Umfangs der Beweiserhebung das Recht und die Pflicht des Richters, „auch ohne Anträge der Prozeßbeteiligten nach Maßgabe der Anklage die Wahrheit vollständig zu ermitteln“.246 Doch dabei blieb es nicht. Bald erhob das Reichsgericht die Erforschung der „materiellen Wahrheit“ zum Grundprinzip des Strafprozesses.247 Zur Begründung zog es zum einen die Entstehungsgeschichte heran: RGSt 15, 337, 338 verweist auf eine einzige Stelle der Motive zu den Vorschriften über die Anwesenheit des Angeklagten. Zum anderen sah es diesen Grundsatz in den §§ 153 Abs. 2, 243 Abs. 3 RStPO verankert.248 Was ist von dieser Begründung zu halten? Die Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien ist wenig tragfähig. Wie oben dargelegt, hatte im Gesetzgebungsverfahren die Wendung „Erforschung der materiellen Wahrheit“ kaum einen fassbaren Gehalt und diente dazu, unterschiedlichste 245

RGSt 1, 61, 62. RGSt, 6, 135, 136. 247 RGSt 12, 335 spricht von der „auf die Erforschung und Feststellung materieller Wahrheit gerichteten Aufgabe des Strafprozesses“; ähnlich RGSt 15, 337, 338 und RGRspr. 10, 420 f. 248 RGSt 13, 158, 160; 47, 417, 423; 67, 97.; RG JW 1914, 893 Nr. 15; 1916, 1026 Nr. 1; 1930, 3255 f.; RG LZ 1918, Sp. 1001, Nr. 17; RGRspr. 10, 420 f.; RG Recht 1918, Nr. 1640; RG HRR 1932, 2329; BayObLG JW 1931, 3563 f. 246

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Positionen zu untermauern. Doch auch im Wortlaut der §§ 153 Abs. 2, 243 Abs. 3 RStPO findet die Auffassung des Reichsgerichts wenig Rückhalt. Mit keinem Wort ist dort von Wahrheit und deren Erforschung die Rede. Beide Normen enthalten noch nicht einmal einen allgemein formulierten Untersuchungsgrundsatz, wie ihn § 207 des Entwurfs von 1874 vorgesehen hatte. Letztlich bemüht das Reichsgericht ein Argument, das schon vor Entstehung der Reichsstrafprozessordnung unter anderem von Zachariae entkräftet worden war, nämlich die angeblich zwingende Verbindung von inquisitorischem Verfahren und dem Ziel „materieller Wahrheit“. Das erklärt auch, warum die postulierte Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ jenseits einer Beweiserhebung von Amts wegen vage blieb. Das Reichsgericht war von seiner Begründung der Wahrheitserforschungspflicht offenbar selbst nicht voll und ganz überzeugt. Anders ist es kaum zu erklären, dass es in zwei Entscheidungen der amtlichen Sammlung der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger ausdrücklich die Rollen kämpfender Prozessparteien zugewiesen und eine damit einhergehende dialektische Form der Wahrheitsfindung angedeutet hat.249 b) Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Überzeugung Was muss man unter der zu erforschenden „materiellen Wahrheit“ überhaupt verstehen? Und in welchem Verhältnis steht die „materielle Wahrheit“ zu einem Wahrscheinlichkeitsmaßstab und dem für den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung zentralen Überzeugungsbegriff? Diesen Fragen ist das Reichsgericht lange ausgewichen, was angesichts der frühen und häufigen Bezugnahme auf die Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ verwundern muss. So konnte sich auf einem hinsichtlich der Beweislage besonders heiklen Gebiet, nämlich dem der (fehlenden) Kausalität bei Unterlassungsdelikten, schon früh ein Wahrscheinlichkeitsmaßstab etablieren. Danach sollte es genügen, wenn der Richter eine der Gewissheit gleich zu achtende, an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit feststellt.250 Im Jahr 1927 weitete der erste Senat diesen Maßstab aus und versuchte zugleich, das Verhältnis von Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Überzeugung zu bestimmen. Dabei wandelt er auf den Pfaden Boehmers und Beccarias, wenn er meint, absolut sicheres Wissen sei dem Menschen aufgrund der Fehleranfälligkeit seiner Erkenntnis nicht möglich, und hinzufügt: 249 In RGSt 11, 138 heißt es zu den §§ 237, 241, 257, 276, 299 StPO, „daß die hier fraglichen Prozeßbefugnisse der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung nicht auf Grund ihrer behördlichen Stellung, sondern nach den Grundsätzen gleicher Parteirechte in der geltenden deutschen Strafprozeßordnung geregelt worden sind“; RGSt 17, 315 f. führt „das Recht und die Pflicht“ des Verteidigers, „zur objektiven Wahrheitsermittelung, wenn auch nur in der besonderen Richtung auf die Nichtschuld oder die geringere Strafbarkeit des Angeklagten, beizutragen“, auf das öffentliche Recht zurück und zeigt so ein vom Kampf gleichstarker, von Gesetzes wegen einseitiger Parteien geprägtes Verfahrensverständnis; anders aber RGSt 32, 318 f.; vgl. zu den erstgenannten Entscheidungen I. Müller, Leviathan 5 (1977), 522, 525 f. 250 RGSt 15, 151, 153; 51, 127; 58, 130 f.; 63, 211, 214; RG JW 1931, 2576.

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B. Der Wahrheitsbegriff „Wie es allgemein im Verkehr ist, so muss auch der Richter sich mit einem so hohen Grade von Wahrscheinlichkeit begnügen, wie er bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Mittel der Erkenntnis entsteht. Ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit gilt als Wahrheit, und das Bewußtsein des Erkennenden von dem Vorliegen einer so ermittelten hohen Wahrscheinlichkeit als die Überzeugung von der Wahrheit.“251

Das könnte man wohlwollend einen normativen Wahrheitsbegriff nennen. Noch eher kann man hier von einer Wahrheitsfiktion sprechen.252 „Wahrheit“ ist lediglich ein Siegel, das eine staatliche Autorität ihrem Untersuchungsergebnis beilegen darf, wenn sie sorgfältig verfährt und ihre Annahmen einen bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad erreichen. Lässt man dieses Siegel außer Betracht, liegt nur Wahrscheinlichkeit vor. Mit „materieller“, vom Willen der Verfahrensbeteiligten unabhängiger Wahrheit ließ sich diese Auffassung kaum vereinbaren. Allerdings entzündete sich die Kritik innerhalb des Reichsgerichts nicht etwa an der fehlenden Vereinbarkeit dieser Position mit einem objektiven Wahrheitsverständnis, sondern an der Einbeziehung eines Wahrscheinlichkeitsmaßstabs: Der dritte Senat kritisierte in RGSt 66, 163, 164 die vermeintliche Vermischung von Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitsbegriff („begrifflich schief und ungenau“). Statt nun, wie man erwarten könnte, mit der Erforschung der „materiellen Wahrheit“ zu argumentieren, wandte er sich gerade gegen die Ansicht, im Strafprozess werde irgendeine Art von objektiver Wahrheit erforscht. Eine solche sei lediglich theoretisch möglich, der stets subjektiv eingefärbten menschlichen Erkenntnis aber verschlossen. Der vorherigen Annäherung von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit hält der dritte Senat jetzt einen rein subjektiven Wahrheitsbegriff und die Gleichsetzung von Wahrheit und (voller) Überzeugung entgegen: „Auch dem Richter ist deshalb die Findung absoluter Wahrheit verschlossen; auch er vermag sich nur aufgrund der Abwägung des Für und Wider zu einer für sein richterliches Gewissen gültigen, also subjektiven oder relativen Wahrheit, nämlich zur richterlichen Überzeugung durchzuringen.“253

Auch das ist keine neuartige Argumentation, sondern geht auf Überlegungen verschiedener Autoren noch vor Entstehung der Reichsstrafprozessordnung zurück. Das mag zum Teil erklären, warum der Senat sehr allgemeine Behauptungen erkenntnistheoretischer Natur aufstellt (wie die, dass dem Menschen erreichbare Wahrheit immer subjektiv sei), diese aber gar nicht oder nur oberflächlich, etwa mit dem sprachlichen Kniff einer Vermengung von „Subjekt“ und „subjektiv“, begründet. Doch noch mehr als die schwache Begründung der Entscheidung verwundert es, dass sich der Senat nicht mit einer sehr naheliegenden Frage befasst: Wie verhält sich ein solches rein subjektives, vollständig im Überzeugungsbegriff des § 260 RStPO aufgehendes Wahrheitsverständnis zu der so oft behaupteten, vorgeblich in den §§ 153 Abs. 2, 243 Abs. 3 RStPO zum Ausdruck kommenden Pflicht 251 252 253

RGSt 61, 202, 206. S. bereits Herdegen, in: FS Hanack, S. 311, 313. RGSt 66, 163, 164 (Hervorhebung im Original).

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zur Erforschung der „materiellen Wahrheit“? Diese Frage hat das Reichsgericht auch später nicht beantwortet. Das ist umso bedauerlicher, als es sprachlich auf der Hand liegt, dass „materielle“ und rein subjektive Wahrheit nicht dasselbe sind und dass die Pflicht zur Erforschung der „materiellen Wahrheit“ etwas anderes meint als eine Pflicht zur sorgfältigen Überzeugungsbildung. c) Die Pflicht zur Erforschung der „materiellen Wahrheit“ als Argument Unabhängig von dem erst spät formulierten, subjektiven Wahrheitsbegriff wie auch dem nicht viel früher aufgestellten und mit einer Wahrheitsfiktion („gilt als Wahrheit“) verbundenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab zog das Reichsgericht in zahlreichen Entscheidungen die richterliche Pflicht zur Erforschung der („materiellen“) Wahrheit heran. Wenn aber schon darüber keine Klarheit bestand, was unter „materieller Wahrheit“ überhaupt zu verstehen ist (und auch RGSt 61, 202 sowie 66, 163 waren kaum dazu geeignet, hier Abhilfe zu schaffen), welche Zwecke verfolgte das Reichsgericht dann mit diesem Vorgehen? Zum einen lässt die Rechtsprechung von Beginn an ein aus dem Gesetzgebungsverfahren vertrautes Phänomen erkennen. Die zwar inhaltlich vage, aber immerhin an den §§ 153 Abs. 2, 243 Abs. 3 RStPO festgemachte und mit einigem Pathos zum Leitprinzip des Strafverfahrens erhobene Pflicht zur Erforschung der („materiellen“) Wahrheit diente als kaum zu widerlegendes Argument bei der Entscheidung zahlreicher Einzelfragen. Das musste keineswegs dem Angeklagten zum Nachteil gereichen: Eine ganze Reihe von Entscheidungen belegt, dass das Reichsgericht mittels der Wahrheitserforschungspflicht Angeklagte vor drohendem Ungleichgewicht im Prozess und vor übereilten Urteilen schützen wollte, etwa das Verbot einer voreiligen Ablehnung eines Beweisantrags wegen Verschleppungsabsicht,254 die Unzulässigkeit der Verhängung einer höheren Strafe gegen den nach § 232 RStPO abwesenden Angeklagten,255 das Verständnis eines Verteidigungsvorbringens nach seinem Sinn statt nach seinem möglicherweise unklaren Wortlaut,256 die Vernehmung vorgeladener und erschienener Zeugen trotz auf das Gegenteil gerichtetem Einverständnis der Prozessparteien,257 das Recht des Angeklagten, zwischen Abschluss der Beweisaufnahme und Urteilsfällung weitere Anträge zu stellen258 und die weitere Nachforschung bei nach der Vernehmung auftretender Geisteskrankheit eines Zeugen259. Nirgendwo geht die argumentativ in Beschlag genommene Pflicht zur Wahrheitserforschung allerdings über etwas hin-

254 255 256 257 258 259

RGSt 12, 335. RGSt 15, 337, 338. RG LZ 1915, Sp. 556 Nr. 48. RG JW 1893, 9 Nr. 4. RG JW 1896, 508 Nr. 27. RG HRR 1932, 2329.

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aus, was man nicht auch als Pflicht zur gewissenhaften Überzeugungsbildung oder zur sorgfältigen Beweiserhebung beschreiben könnte. Zum anderen stärkte das Reichsgericht, indem es mehr und mehr die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit von der freien richterlichen Beweiswürdigung emanzipierte, seine Position gegenüber dem Tatrichter und später auch gegenüber dem Gesetzgeber. Die Rechtsprechung hatte schon früh die Wahrheitserforschungspflicht als Argument herangezogen, wenn es die Verletzung anderer Formvorschriften prüfte. Nachdem die tatsächlichen Urteilsfeststellungen für das Reichsgericht geraume Zeit unantastbar gewesen waren, griff es zum ersten Mal in RGSt 38, 308 f. direkt in diesen Bereich über. Es begründete seinen Schritt damit, dass es nicht um die Überprüfung konkreter einzelner Tatsachen gehe, sondern um sprach- und denkgesetzliche und damit allgemeine Überlegungen des Tatrichters. Schließlich eröffnete sich das Reichsgericht mit der Anerkennung der Aufklärungsrüge im Jahr 1928260 eine weitere Möglichkeit, die tatrichterliche Beweiswürdigung zu kontrollieren. Das Reichsgericht nutzte die Pflicht zur Wahrheitserforschung aber nicht nur, um in größerem Umfang auf die tatrichterlichen Feststellungen und die Beweiswürdigung zuzugreifen, sondern brachte sie auch gegen gesetzliche Beschränkungen des Beweisantragsrechts in Stellung. Sehr deutlich zeigt das die Entscheidung RGSt 67, 97, deren Wurzeln noch in der Weimarer Republik liegen, die aber am 31. Januar 1933 und damit einen Tag nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler ergangen ist: Die Notverordnung vom 14. Juni 1932 stellte für bestimmte Fallgruppen die Ablehnung von Beweisanträgen in das freie Ermessen des Richters. Das Reichsgericht zog diesem Ermessen Grenzen, indem es eine widersprüchliche oder nicht begründete Ablehnung für stets unzulässig erklärte und zudem die Vorwegnahme des Beweisergebnisses nur erlaubte, „soweit nicht gegen die im § 155 Abs. 2 StPO festgelegte, den ganzen Strafprozeß beherrschende Pflicht zur Wahrheitserforschung verstoßen wird“.261 Diese Begründung erhebt die im Wortlaut des damaligen § 155 Abs. 2 RStPO tatsächlich nicht einmal angedeutete und im Gesetzgebungsverfahren blass gebliebene Pflicht zur Erforschung der Wahrheit in einen Rang, der es erlaubt, unter Verweis auf sie indirekt sogar den Gesetzgeber zu korrigieren. Zugleich bleibt völlig unklar, wie diese Pflicht zum kurz zuvor von RGSt 66, 163 betonten, mit dem Überzeugungsbegriff gleichgesetzten rein subjektiven Wahrheitsbegriff oder zu der ebenfalls in der Rechtsprechung vertretenen Angleichung von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit passt.

260 261

RG JW 1928, 1506 Nr. 22 mit Anm. Alsberg. RGSt 67, 97 f.

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4. Alte und neue Ansätze in der Strafrechtswissenschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik a) Wahrheitserforschung als Verfahrensziel, „materielle Wahrheit“ und andere Wahrheitsbegriffe aa) Die uneinheitliche frühe Kommentarliteratur Noch vor und unmittelbar mit dem Inkrafttreten der Strafprozessordnung 1879 erschien eine Reihe von Kommentaren zum neuen Strafverfahrensrecht. Diese positionierten sich sehr unterschiedlich zu der Frage, welche Prinzipien das Strafverfahren beherrschten. Kaum überraschend blieb Schwarze, der bereits im Gesetzgebungsverfahren wiederholt von einem übergeordneten Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ ausgegangen war, als Kommentator bei seiner Auffassung und verwies sowohl auf eigene Beiträge bei der ersten Lesung der Entwürfe als auch auf die Motive.262 Er erklärt aber weder, was er unter „materieller Wahrheit“ versteht, noch äußert er sich näher zu der immerhin im Gegensatz zur Wahrheitserforschung gesetzlich in § 260 RStPO niedergelegten freien richterlichen Beweiswürdigung mit ihrem Überzeugungskriterium. Auch andere Kommentare behandelten die richterliche Überzeugung nicht oder kaum und sahen zugleich die Pflicht zur Wahrheitserforschung als zentral an. Die Begründungen dafür sind aus der früheren Literatur vertraut: So soll die „materielle“ Wahrheit der „formellen“ des Zivilprozesses gegenüberstehen263 und die Pflicht zur Erforschung „materieller“ Wahrheit mit dem angeblich herrschenden Untersuchungsprinzip zusammenhängen264. Löwe, dessen Kommentar zum Standardwerk avancieren sollte, machte daneben die „absolute Natur der Strafsache“ geltend.265 Was „materielle Wahrheit“ sein soll und in welchem Verhältnis sie zum Überzeugungsmaßstab steht, erklärte jedoch auch er abgesehen von einem Verweis auf die Motive und deren Verbindung von „wahr“ und „wirklich“266 nicht. Andere Kommentatoren standen einem angeblich obersten Grundsatz der Erforschung „materieller Wahrheit“ zurückhaltend gegenüber. Der bereits 1877 zur neuen Strafprozessordnung erschienene Kommentar von Voitus erwähnt den Begriff der „materiellen Wahrheit“ nur einmal kurz, und zwar im Zusammenhang mit der eigenständigen strafrichterlichen Entscheidung über zivilrechtliche Fragen.267 Zu den Entscheidungen der Geschworenen heißt es bei Voitus, dass diese „nicht die objektive Wahrheit feststellen sollen, denselben vielmehr hinsichtlich der Thatfrage nur der Sinn beizulegen ist: daß sie der Ausdruck der Ueberzeugung der erforder262 263 264 265 266 267

Schwarze, StPO, Einl. XXI, § 153; s. auch § 245. Dorendorf, StPO, § 261 Rn. 1. Dalcke, StPO, Einl. 6, §§ 151, 153, 158. Löwe, StPO, § 153 Rn. 4a, b.; vgl. auch Keller, StPO, § 153 Rn. 6 und § 243 Rn. 12. Löwe, StPO, § 261 Rn. 1. Voitus, StPO, § 261, 5.

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lichen Mehrheit der Geschworenen über das Ergebnis der der vor ihnen stattgehabten Beweisaufnahme sind“.268 Zugleich betont Voitus im Gegensatz zu den Autoren, die das Inquisitionsprinzip als leitend ansahen, das nunmehr herrschende Prinzip des Anklageprozesses.269 Dieses Prinzip hielt auch Thilo für maßgeblich und charakterisierte dementsprechend den Strafprozess als Rechtsstreit.270 Als letzter hier zu nennender Kommentator wies schließlich Stenglein auf die Gefahren einer ständigen Argumentation mit vermeintlich übergeordneten Prinzipien hin: Mit solchen „stark verbrauchten Schlagwörtern“ ließen sich allzu leicht in missbräuchlicher Weise einzelne Gesetzespassagen erläutern oder angebliche Lücken schließen, statt die Strafprozessordnung primär als in sich geschlossenes Gesetzeswerk auszulegen und im Umgang mit dem umfangreichen Quellenmaterial Vorsicht walten zu lassen.271 bb) Auswüchse: „Materielle Wahrheit“ als reines Schlagwort Ebenso uneinheitlich wie die ersten Kommentare zur Reichsstrafprozessordnung beantwortete auch die weitere Literatur des Kaiserreichs und der Weimarer Republik die Frage nach „materieller Wahrheit“ als oberstem Ziel des Strafprozesses. Nicht wenige Autoren gebrauchten die Erforschung „materieller Wahrheit“ floskelhaft, teils ohne sie überhaupt als leitenden Verfahrensgrundsatz einzuordnen.272 Das kann nicht überraschen, hat doch bereits das Gesetzgebungsverfahren einen sehr flexiblen argumentativen Einsatz dieser Formel gezeigt. Allerdings kam es nun zu einzelnen Auswüchsen, die die Erforschung der „materiellen Wahrheit“ als bloße Worthülse erscheinen lassen. So erläuterte ein im Kaiserreich verbreiteter Grundriss zur Examensvorbereitung das gleichnamige Prinzip allein mit dem Satz „Der Richter urteilt mit objektiver Gerechtigkeit.“273 Das mag heute als Plattitüde erscheinen. Sätze wie dieser dürften gleichwohl das Rechtsverständnis zahlreicher Juristen geprägt haben. Wie einfach eine inhaltlich so vage Formel wie die der Erforschung „materieller Wahrheit“ politisch missbraucht werden kann, zeigt ein weiteres Beispiel: Während des ersten Weltkriegs bediente sich Haber in einem vor Gehässigkeit gegenüber den Kriegsgegnern Frankreich und England strotzenden Machwerk mit dem bezeichnenden Titel „Nationalcharakter und Strafprozeß“ des Terminus „materielle Wahrheit“, um die angebliche Überlegenheit des Deutschen Reichs darzulegen. Der 268

Ebd., § 309, 3. Ebd., Einl. XXIII f., § 153, 1. 270 Thilo, StPO, § 151 Rn. 1. 271 Stenglein, StPO, Einl. 1. Buch, 105 ff.; vgl. aber seine selbst durchaus schlagwortartige Verwendung der „materiellen Wahrheit“ bei § 153 Rn. 3. 272 S. Binding, Grundriss, § 111 (S. 211); Dochow, Der Reichsstrafprozeß, § 65 (S. 189 f.); Fuchs, in: Holtzendorff (Hrsg.), Handbuch Bd. 1, S. 423, 427; ders., in: Holtzendorff (Hrsg.), Handbuch Bd. 2, S. 1, § 15 (S. 60 f.), § 18 (S. 70), § 26 (S. 84); Kohlrausch, StPO, 20. Aufl., § 244 Rn. 6; s. auch den Widerspruch bei Bennecke/Beling, Lehrbuch, § 3 (S. 9) Fn. 17 gegenüber § 69 (S. 248). 273 E. Meyer, Grundriß, S. 8. 269

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französische und englische Strafprozess setzt sich danach lediglich formelle Wahrheit zum Ziel, was dem im deutschen Nationalcharakter angelegten „Drang nach der Wissenschaftlichkeit, Gründlichkeit und Wahrheit im Prozesse“ nicht genügen kann.274 Vielmehr bilden nach Haber die „deutsche Innerlichkeitskultur und die echt deutsche materielle Wahrheit im Prozesse“ eine Einheit, die es als Ausdruck des überlegenen deutschen Nationalcharakters vor ausländischen Einflüssen zu bewahren gilt.275 Haber feiert denn auch im Jahr der Schlachten an der Somme und um Verdun ganz heraklitisch-hegelianisch den Krieg als einen den wahren Volkscharakter ans Licht bringenden Erzieher in moralischer, sittlicher und rechtlicher Hinsicht.276 cc) Anknüpfung an die ältere Literatur Die meisten Befürworter eines Verfahrensziels „materieller Wahrheit“, die sich überhaupt näher zu diesem Prinzip äußerten, knüpften an die ältere strafrechtliche Literatur an. Manche setzten schlicht „materielle“ Wahrheit mit objektiver oder „wirklicher“ Wahrheit gleich.277 Die Folgefrage, was unter diesen Adjektiven zu verstehen ist, beantworteten sie jedoch nicht. Andere nahmen Anleihen bei der Korrespondenztheorie oder hoben den Charakter der Beweiserhebung als historische Forschung hervor: Birkmeyer definierte die „materielle Wahrheit“ als „die mit dem wirklichen Sachverhalt möglichst zusammenfallende Erkenntnis desselben“.278 Wirklichkeit und Erkenntnis sind danach zwei getrennte Sphären und müssen in ihrer Struktur soweit wie möglich übereinstimmen, um „materielle Wahrheit“ hervorzubringen. Kries hatte dagegen die gerichtliche Tatsachenfeststellung mit der Forschung eines Historikers verglichen und dem Richter als Ziel vorgegeben, „das zu ergründen, was sich wirklich zugetragen hat“.279 Ähnlich betonte Beling den Aspekt der exakten Erforschung des historischen Geschehens.280 Über die ebenso vertraute wie wenig aussagekräftige Gleichung von „wahr“ und „wirklich“281 gelangte allerdings auch er nicht hinaus.

274

Haber, Nationalcharakter und Strafprozeß, S. 166. Ebd., S. 270 f. 276 Ebd., S. 272. 277 Gerland, Strafprozess, § 1 (S. 5), § 56 (S. 168); Merkel, Strafprozeß- und Strafvollzugsrecht, S. 28 f.; Pabst, Einführung, S. 26 f.; Puchelt, StPO, § 93 Rn. 3; Quaritsch, Kompendium, S. 15; Rosenfeld, Deutsches Strafprozessrecht, § 40 (S. 13). 278 Birkmeyer, Strafprozessrecht, § 15 (S. 66); ähnlich Doerr, Grundriss, S. 44, wonach die tatsächlichen Feststellungen des Gerichts und die Wirklichkeit möglichst übereinstimmen sollen. 279 Kries, Lehrbuch, § 37 (S. 263). 280 Beling, Reichsstrafprozeßrecht, § 9 (S. 32 f.), § 58 (S. 281); vgl. auch ders., Die Beweisverbote, S. 1 f.; Dohna, Das Strafprozeßrecht, S. 5 f. 281 Beling, Die Beweisverbote, S. 2; ders., Reichsstrafprozeßrecht, § 58 (S. 281). 275

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Einige Autoren versuchten, dem Wahrheitsbegriff auf anderen Wegen zu mehr Gehalt zu verhelfen. Der prominenteste Vertreter eines dialektischen Wahrheitsbegriffs war Franz von Liszt. Dieser hielt ein solches Wahrheitsverständnis keineswegs aus erkenntnistheoretischen Gründen für zwingend. Vielmehr habe der Gesetzgeber das Strafverfahren durchaus dessen Natur zuwider als Parteiprozess ausgestaltet, um auf diesem Wege die bessere Erforschung der Wahrheit sicherzustellen.282 Nach der de lege lata maßgeblichen Vorstellung des Gesetzgebers werde Wahrheit mittelbar durch den Kampf zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft erreicht.283 Später sah von Liszt durch eine solche Ausgestaltung der Hauptverhandlung allgemein die Prinzipien des modernen Strafverfahrens umgesetzt und trat dafür ein, den Strafprozess in allen Stadien konsequent zum Parteiprozess umzuformen.284 Einen Grundsatz der Erforschung „materieller Wahrheit“ erwähnte er in diesem Zusammenhang nicht. Geyer hingegen, der ebenfalls ein kontradiktorisches Verfahren mit zwei gleichwertigen Parteien vor einem unparteiischen Richter und damit eine dialektische Sachverhaltsermittlung favorisierte, behielt für das Ergebnis einer solchen Verhandlung den Terminus „materielle Wahrheit“ bei. Dieser hat aber bei ihm neben der dialektischen Vorgehensweise keinen weiteren Inhalt, als „daß jede Sache richtig entschieden“ wird.285 Das zeigt, dass auch nach Entstehung der Reichsstrafprozessordnung die Verbindung von Untersuchungsgrundsatz und „materieller Wahrheit“ nicht allgemein anerkannt war, belegt aber auch die fortbestehenden Schwierigkeiten, den Wahrheitsbegriff jenseits von Fragen der Verfahrensgestaltung mit Inhalt zu füllen. Schließlich finden sich auch unter der Reichsstrafprozessordnung Beiträge, die neben dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung keinen leitenden Grundsatz der Erforschung „materieller Wahrheit“ kennen.286 dd) Neuartige Ansätze Die eben behandelten Positionen waren zumindest in ihren Grundzügen bereits aus der älteren Literatur vertraut. Neuartig ist dagegen die Kritik solcher Autoren am Begriff der „materiellen Wahrheit“, die sich auf Fortschritte in Psychologie, Soziologie und Erkenntnistheorie sowie auf politische Veränderungen stützen: Boden entwarf anhand psychologischer Erwägungen einen subjektiven Wahrheitsbegriff. Danach hatte die Wahrheitssuche anfänglich den Zweck, dem Menschen eine Handlungsbasis zu verschaffen; obwohl sie sich im Lauf der Zeit verselbstständigt hat, soll diese grundlegende Funktion daneben fortbestehen, sodass 282

Liszt, DJZ 1901, 179. Ebd., 180. 284 Ders., Die Reform des Strafverfahrens, S. 29, 31, 51. 285 Geyer, Lehrbuch, § 2 (S. 4 f.). 286 S. Dochow, in: Holtzendorff (Hrsg.), Handbuch Bd. 1, S. 103, 130 ff.; Fuhrmann, Strafprozeß, § 6 (S. 40 ff.); Schwarz, Strafprozeßrecht, S. 5 ff. 283

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weiter gilt: „Worauf bei einem etwaigen Handeln wir uns zu verlassen geneigt sind, das nennen wir die Wahrheit.“287 In einigen Bereichen, insbesondere den Naturwissenschaften, sei zwar ein objektives Wahrheitsverständnis angebracht.288 Die dafür erforderliche Nachprüfung sei aber vor Gericht nicht möglich.289 Dennoch ist nicht der bloße Instinkt des Richters ausschlaggebend. Das Urteil bleibt vielmehr durch das Kriterium einer begründeten Überzeugung überprüfbar, und genau aus diesen beiden Komponenten – Überzeugung und deren Begründung – setzt sich auch der subjektive Wahrheitsbegriff Bodens zusammen.290 Der Vorwurf des Relativismus liegt hier nahe: Irgendwie lässt sich schließlich jede Überzeugung begründen, und oft werden sogar die Begründungen verschiedener Ansichten gleich stark erscheinen. Boden entkräftet solche Bedenken jedoch mit einem modern anmutenden Ansatz, wonach es nie um Wahrheit insgesamt, sondern nur um Wahrheit innerhalb eines möglichst großen Systems gehen kann, das für das Strafrecht praktikablerweise der Staat mit seinen Durchsetzungsmechanismen schaffen soll.291 Wenn nun aber innerhalb des Systems „Strafjustiz“ Wahrheit einen begründeten Handlungsentschluss des Richters bedeutet, dann ist die strafprozessuale Wahrheit keine feststehende Größe, sondern kann genau wie ein mehr oder minder gut begründeter sonstiger Entschluss Abstufungen bis hin zur Wahrscheinlichkeit erfahren.292 Bendix wandte sich noch stärker gegen die Vorstellung, im Strafprozess lasse sich objektive Wahrheit erforschen. Mit soziologisch und psychologisch geschärftem Blick konstatiert er, dass die meisten Angeklagten schon aufgrund des Schichtenunterschieds nicht mit einem verständnisvollen Richter rechnen könnten und mancher Richter sogar „aus seiner tugendlichen und staatsautoritativen Gesinnung heraus der Wahrheit zuwider Feststellungen trifft“; daher soll der Angeklagte ein Recht auf einen mit seiner Schicht, dem Verfahrensstoff und der Art der Beweismittel vertrauten Richter erhalten.293 Hinzu kommt ihm zufolge ein allgemeines erkenntnistheoretisches Problem des Strafprozesses: Weise der Angeklagte den Tatvorwurf zurück, könnten die Lücken im Sachverhalt insbesondere hinsichtlich der subjektiven Tatseite nur durch die freie Überzeugung des Richters geschlossen werden, was allerdings zu einer bloßen Sachverhaltskonstruktion unter dem verzerrenden Einfluss richterlicher Persönlichkeitsmerkmale führe.294 Bendix geht so weit, die richterliche Überzeugung als Ersatz längst abgeschaffter Zwangsmethoden zu betrachten: „so ist jetzt an die Stelle der Zwangsmittel die Fiktion getreten, daß die tatsächliche Feststellung des Strafrichters die Wirklichkeit erschöpfend und richtig 287 288 289 290 291 292 293 294

Boden, Archiv für die gesamte Psychologie 31 (1914), 1, 7. Ebd., 9 f. Ebd., 11. S. ebd., 11 f. Ebd., 13 ff. Ebd., 22 f. Bendix, GA 63, 31, 35. Ebd., 36 f.

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wiedergebe“.295 Letztlich müsse der Richter im Strafprozess immer als ganze Persönlichkeit handeln und unter mehreren Interpretationsvarianten wählen; der Glaube an das eine allein richtige Urteil sei eine rationalistische Verirrung.296 In einem Beitrag zum Strafprozessordnungsentwurf 1919 wiederholt und variiert Bendix seine Kritik: Die wichtigsten zeitgenössischen Faktoren, der Sozialismus und die gewandelte Erkenntnistheorie, seien überhaupt nicht berücksichtigt worden; der Entwurf gehe stattdessen weiter von der Fehlvorstellung des Reichsgerichts aus, im Strafprozess werde „materielle Wahrheit“ erforscht.297 Dagegen erhebt Bendix einen grundsätzlichen methodischen Einwand: Die naheliegende Frage, was unter „materieller Wahrheit“ und Objektivität zu verstehen ist und ob es beides überhaupt geben könne, bleibe außer Betracht, obwohl die Wissenschaftstheorie sich damit schon lange intensiv befasse.298 Die Gründe für dieses Versäumnis erblickt er in schlichter Unkenntnis und der fehlerhaften Übertragung einer naturwissenschaftlichen Denkweise auf das Strafverfahren.299 b) Fortwirkender Wahrscheinlichkeitsmaßstab Obwohl insbesondere das Reichsgericht häufig das Verfahrensziel „materieller Wahrheit“ anführte, fanden alternative Konzepte, die aus der früheren Diskussion bekannt waren, weiter regen Zulauf. Neben Boden, der mit einer neuartigen Argumentation an die Stelle der „materiellen Wahrheit“ einen subjektiven Wahrheitsbegriff gesetzt hatte, der auch die bloße Wahrscheinlichkeit umfassen sollte, verfocht eine Reihe von Autoren schon vor der Entscheidung RGSt 61, 202 einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab mit eher traditionellen Begründungen. Wenn etwa Sturm dem mathematischen Beweis, der auf Gewissheit ziele, den juristischen Beweis mit dem Kriterium hoher Wahrscheinlichkeit gegenüberstellt,300 oder Alsberg erklärt, der Richter könne selbst bei größter Vorsicht niemals absolute Gewissheit, sondern nur einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad erreichen,301 dann könnten diese Überlegungen auch aus dem 18. Jahrhundert stammen. Ganz ähnlich meint auch Beling an etwas versteckter Stelle im Zusammenhang mit dem Überzeugungsbegriff, schlichte Wahrscheinlichkeit genüge für die erforderliche Gewissheit des Richters nicht, sondern der höchstmögliche Grad von Wahrscheinlichkeit sei notwendig.302 Bei Beling, aber auch bei anderen Vertretern eines Wahrscheinlichkeitsmaßstabs stößt man auf ein weiteres vertrautes Phänomen. Neben dem Wahrscheinlichkeitskriterium findet sich ohne jede Erklärung eines etwaigen Zusammenhangs auch das 295 296 297 298 299 300 301 302

Ebd., 38. Ebd., 38 f., 41 f. Ders., JW 1920, 267, 268. Ebd. Ebd. Sturm, Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 51 (1913), 119, 120. Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, S. 32. Bennecke/Beling, Lehrbuch, § 92 (S. 376) mit Fn. 4.

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Postulat der Erforschung „materieller Wahrheit“.303 Nur einzelne Stimmen fügten der Debatte neue Argumente hinzu. Hier ist neben Boden Hellwig zu nennen, der aus der Einrichtung eines Instanzenzugs schloss, der Gesetzgeber gehe bei einer Verurteilung stets nur von einer gewissen Wahrscheinlichkeit der Schuld aus und halte einen Irrtum immer für möglich.304 Die hier angeführten Vertreter eines Wahrscheinlichkeitsmaßstabs haben der Entscheidung RGSt 61, 202305 aus dem Jahr 1927 den Weg bereitet. Ihre größtenteils traditionelle, an das 18. Jahrhundert anknüpfende Argumentation zeigt sich auch in diesem Urteil. Der höchstrichterlich vorgegebene Wahrscheinlichkeitsmaßstab stieß allerdings auf erheblichen Widerstand derer, die wie der dritte Strafsenat in der Entscheidung RGSt 66, 163 das Überzeugungskriterium als maßgeblich ansahen. c) Wahrheit und Überzeugung aa) Unverbundenes Nebeneinander von „materieller Wahrheit“ und Überzeugungsmaßstab Die zentrale Regelung in § 260 RStPO zur freien richterlichen Beweiswürdigung stellte die Anhänger der Erforschung „materieller Wahrheit“ vor erhebliche Probleme. Wie ließ sich der gesetzliche Überzeugungsmaßstab mit diesem angeblichen obersten Prinzip vereinbaren? Nicht wenige Autoren wählten einen Ausweg, der durch das Gesetzgebungsverfahren und die Rechtsprechung vorgezeichnet war: Sie hielten an der Erforschung „materieller Wahrheit“ als vager, aber argumentativ vielseitig einsetzbarer Formel fest und stellten ihr unverbunden den Überzeugungsmaßstab an die Seite. So definierte Kries, nachdem er die Erforschung „materieller Wahrheit“ als Ziel des Strafverfahrens propagiert hatte, den Beweis als die „Thätigkeit, durch welche die richterliche Ueberzeugung von erheblichen Thatsachen begründet werden soll“,306 erklärte aber nicht, wie beides zu vereinbaren ist. Bei Beling tritt der in einem solchen Vorgehen liegende Widerspruch noch deutlicher zu Tage. Obwohl „materielle Wahrheit“ Ziel des deutschen Strafprozesses sein soll, gilt bei der richterlichen Überzeugung ein viel bescheidenerer Maßstab: Dort soll die „juristische Gewissheit“ ausreichen, die indes nur auf Wahrscheinlichkeiten beruht und – erkenntnistheoretisch zurückhaltend formuliert – dann vorliegt, „wenn der Richter zu dem Ergebnis gelangt ist, die Thatsache sei wahr, soweit überhaupt in menschlichen Dingen von

303

Ebd., § 69 (S. 248); Geyer, Lehrbuch, § 2 (S. 4), § 199 (S. 692); ders., in: Holtzendorff (Hrsg.), Handbuch Bd. 1, S. 185, § 2 (S. 189 ff.); Glaser, Beiträge, S. 138 f., 342. 304 Hellwig, GerS 88 (1922), 417, 421 f. 305 Deren Maßstab folgte noch fünf Jahre später ohne Einschränkung Fuhrmann, Strafprozeß, § 6 (S. 48). 306 Kries, Lehrbuch, § 37 (S. 263), § 47 (S. 332 f.).

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Gewissheit die Rede sein könne.“307 Auch später ist Beling über diesen Widerspruch zwischen „materieller Wahrheit“ einerseits und subjektivem Fürwahrhalten bei bloßer Wahrscheinlichkeit andererseits nicht hinweggekommen.308 Gleiches gilt für weitere Autoren.309 bb) Verbindung von Wahrheits- und Überzeugungsbegriff Andere versuchten, den Wahrheitsbegriff mit dem der Überzeugung zu vereinigen. Das geschieht meist recht unvermittelt: Birkmeyer etwa sieht das Prinzip der „materiellen Wahrheit“ als leitend an und betont, dass der Richter den „Sachverhalt so wie er wirklich ist“ erkennen und ohne Verfälschung zum Ausgangspunkt des Urteils machen müsse.310 Den hier zum Ausdruck kommenden Objektivitätsanspruch gibt er aber mit der schlichten Erwägung auf, die menschliche Wahrnehmung und der Verstand seien subjektiv und damit auch die Tatsachenerkenntnis.311 Am Ende steht die Identität von „materieller Wahrheit“ und Überzeugung: „Folglich ist auch für den Richter nur das wirklich wahr, was er selbst als wahr erkannt hat, von dessen Wahrheit er selbst überzeugt ist, und das Gesetz muß also, will es vom Richter ein auf materieller Wahrheit ruhendes Urteil haben, ihm auch freie Überzeugung hinsichtlich der Wahrheit oder Unwahrheit des Urteilsstoffes konzedieren.“312 Mit seiner Wortwahl bei der Beschreibung des Prinzips der „materiellen Wahrheit“ ist das kaum in Einklang zu bringen. Noch widersprüchlicher sind die Überlegungen Gerlands. Dieser betont auf der einen Seite den „streng objektiven Charakter eines jeden Strafprozesses“ und versteht unter dem Prinzip der „materiellen Wahrheit“ ausdrücklich die Feststellung der „objektive[n] Wahrheit“.313 Da aber der Richter als Einziger abschließend über das relevante Geschehen entscheidet, soll plötzlich ausschließlich seine „subjektive Ueberzeugung“ maßgeblich sein, das vorher so hoch erhobene Prinzip der Ermittlung „materieller Wahrheit“ also völlig in der freien richterlichen Beweiswürdigung aufgehen.314 Mit dem strengen Objektivitätsanspruch ist das unvereinbar. Das schlüssigste Konzept zum Verhältnis von „materieller Wahrheit“ und richterlicher Überzeugung entwarf Rosenfeld. Das erstgenannte Prinzip ist demnach als Postulat zu verstehen, wonach die Urteilsfeststellungen „unbedingt objektiv richtig sein müssen“; diese Forderung ist aber für den Menschen mit seiner stets nur rela307

Bennecke/Beling, Lehrbuch, § 69 (S. 248), § 92 (S. 376) (Hervorhebung im Original). S. Beling, Reichsstrafprozeßrecht, § 9 (S. 32 f.), § 58 (S. 281, 292). 309 S. Doerr, Grundriss, S. 44 f.; Dohna, Das Strafprozeßrecht, S. 5 f., 93; Geyer, Lehrbuch, § 2 (S. 4), § 199 (S. 692 f.). 310 Birkmeyer, Strafprozessrecht, § 15 (S. 66). 311 Ebd., § 18 (S. 81 f.). 312 Ebd., § 18 (S. 83); vgl. auch Lilienthal, Strafprozessrecht, § 1 (S. 1), § 15 (S. 28), § 24 (S. 37, 39) sowie Stein, Deutsches Strafprozeßrecht, § 8 (S. 11), § 50 (S. 63). 313 Gerland, Strafprozess, § 1 (S. 5), § 56 (S. 168). 314 Ebd., § 56 (S. 169). 308

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tiven Erkenntnisfähigkeit nicht zu erfüllen, weshalb der Richter von jedem gegen den Angeklagten sprechenden Punkt wenigstens voll und ganz überzeugt sein muss.315 Das Prinzip „materieller Wahrheit“ ist danach gleichwohl nicht entbehrlich, da es immerhin als Ideal den Richter davon abhält, in Zweifelsfällen gegen den Angeklagten zu entscheiden. cc) Alleiniger Überzeugungsmaßstab Zuletzt traten mehrere Stimmen für die freie Überzeugung als alleiniges Ziel und Kriterium bei der Tatsachenfeststellung ein. Erneut scheinen hier ältere Konzepte durch. Rupp erklärte, bei den für den Strafprozess relevanten Erfahrungsgegenständen ließen sich keine unveränderlichen Obersätze für streng logische Schlussfolgerungen gewinnen; nicht objektive, sondern nur „subjektive Gewißheit“ und somit die freie Überzeugung könne daher den Maßstab des Strafverfahrens bilden.316 Der Richter müsse sich im Beweisverfahren seine Überzeugung so bilden, wie es ein gewissenhaft handelnder Mensch im Alltag auch tue.317 Die Suche nach „materieller Wahrheit“ taucht in diesen Erwägungen nicht auf. Fast vierzig Jahre später stellte Hellwig vergleichbare Überlegungen an. Auch er hielt eine sichere Gewissheit hinsichtlich der im Strafprozess relevanten Tatsachen für unerreichbar, sah aber in der auf einer genauen Prüfung beruhenden Überzeugung die goldene Mitte zwischen unerreichbarem sicheren Wissen und bloßem Glauben.318 Die Überzeugung des Richters soll eine solche von der Wahrheit, nicht nur von der Wahrscheinlichkeit seiner Feststellungen sein, wobei diese Überzeugung nichts über die tatsächliche Wahrheit aussage.319 Objektiv liege stets nur hohe Wahrscheinlichkeit vor, der im Wege einer Fiktion Wahrheit zugesprochen werde.320 In Teilen hat Hellwig damit die fünf Jahre später ergangene Entscheidung RGSt 61, 202 vorweggenommen, deren Maßstab hier mit dem Begriff der Wahrheitsfiktion verbunden wurde. Allerdings ließ das Reichsgericht anders als Hellwig das Bewusstsein des Richters von der bloßen Wahrscheinlichkeit der Tatsachen für seine Überzeugung ausreichen. Daran wie auch an dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab als solchem übte Scanzoni heftige Kritik.321 Auch wenn er in Teilen polemisch über das Ziel hinausschießt (so vergleicht er das Reichsgericht sogar mit Pontius Pilatus)322, kann er sich im Gegensatz zu zahlreichen Anhängern der „materiellen 315 316 317 318 319 320 321 322

fel!“.

Rosenfeld, Deutsches Strafprozessrecht, § 40 (S. 12 f.). Rupp, Der Beweis, § 3 (S. 26 ff., 36), § 4 (S. 37). Ebd., § 7 (S. 99 f.). Hellwig, GerS 88 (1922), 417, 423 ff. Ebd., 431. Ebd., 431, 442 f. Scanzoni, JW 1928, 2181 ff. Ebd., 2183: „Pontius Pilatus, der Richter, zweifelt und er verurteilt trotz seiner Zwei-

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Wahrheit“ oder auch eines Wahrscheinlichkeitsmaßstabs immerhin auf den damaligen Gesetzeswortlaut berufen. Das Gesetz verlange nicht Wissen, sondern Überzeugung, und bei jedem noch so leisen Zweifel könne man nicht mehr von einer solchen sprechen.323 Zudem übergehe das Reichsgericht den Gesetzeswortlaut („geschöpften“), wenn es den Richter zum Messinstrument degradiere, statt ihm die Überzeugungsbildung als „schöpferischen Akt“ zuzugestehen.324 Notwendig ist danach eine richterliche Wahrheitsüberzeugung, die in Scanzonis Diktion „eine aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpfte, tief innerste Erfülltheit, Durchdrungenheit, ein von der Vorstellungswelt vermittelter Glaube“ ist.325 5. Zusammenfassung Die Entstehungsgeschichte der Reichsstrafprozessordnung spricht eher gegen die Annahme, dass dem Gesetz tatsächlich ein ungeschriebener oberster Grundsatz der Erforschung „materieller Wahrheit“ zugrunde lag. Von der naheliegenden Möglichkeit, an bestehende partikularstaatliche Regelungen zur Wahrheitserforschung anzuknüpfen, machte der Gesetzgeber keinen Gebrauch. Zwar berief sich ein Teil der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten auf ein übergeordnetes Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“. Dieses war aber in der zeitgenössischen Literatur nicht einhellig anerkannt. Auch was unter „materieller Wahrheit“ als solcher zu verstehen ist, war unklar. Das hätte sich auf eine entsprechende gesetzliche Regelung ausgewirkt. Zudem war das Verhältnis des Ziels „materieller Wahrheit“ zum Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung mit seinem Überzeugungsmaßstab umstritten; beides zu normieren, hätte zu großen dogmatischen Problemen führen können. In der zeitgenössischen Kritik der Entwürfe spielte die Erforschung „materieller Wahrheit“ beziehungsweise das Fehlen eines solchen Grundsatzes keine wichtige Rolle. Im Gesetzgebungsverfahren selbst diente dieses angeblich höchste Prinzip schließlich vor allem als inhaltlich vager, aber dafür umso flexibler einsetzbarer Argumentationstopos. Die Reformbestrebungen im Kaiserreich und der Weimarer Republik belegen nicht, dass der jeweilige Gesetzgeber von einem obersten Grundsatz der Erforschung „materieller Wahrheit“ ausgegangen wäre. Die Reformentwürfe von 1895 und 1909, vor allem aber die Notverordnungen von 1924 und 1932 offenbaren dagegen Bestrebungen, den Amtsermittlungsgrundsatz mit einer autoritären Verfahrensstruktur zu verknüpfen. Das Reichsgericht führte ohne ausreichende gesetzliche Grundlage früh und häufig die Erforschung der „materiellen Wahrheit“ als oberstes Prinzip des Strafverfahrens an und machte davon als Argument bei der Entscheidung diverser Einzelfälle Gebrauch, vermied es aber fast fünfzig Jahre, sich zum Wahrheitsbegriff als 323 324 325

Ebd., 2182. Ebd., 2183. Ebd., 2182; zust. Alsberg, JW 1929, 862, 863.

III. Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren des „Dritten Reichs“

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solchem zu äußern. Später vertraten verschiedene Strafsenate nebeneinander einen mit einer Wahrheitsfiktion verbundenen Wahrscheinlichkeitsmaßstab und einen rein subjektiven, mit der richterlichen Überzeugung identischen Wahrheitsbegriff, normativ jeweils an der freien richterlichen Beweiswürdigung des damaligen § 260 StPO festgemacht. Die verschiedenen Senate erklärten aber nicht, wie beides mit der an anderen Normen verankerten, weiter propagierten Erforschung der „materiellen Wahrheit“ zu vereinbaren war. Die frühen Kommentatoren der Reichsstrafprozessordnung gingen nicht alle von einem obersten Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ aus. Dieses Prinzip, der Wahrheitsbegriff als solcher und das Verhältnis von Wahrheitserforschung und Überzeugungsmaßstab blieben in der strafrechtlichen Literatur des Kaiserreichs und der Weimarer Republik umstritten. Die meisten Autoren bewegten sich in den von der älteren Literatur und dem Gesetzgebungsverfahren vorgezeichneten Bahnen. Neuartig waren solche Ansätze, die das angebliche Verfahrensziel der „materiellen Wahrheit“ mit Argumenten aus der zeitgenössischen psychologischen, soziologischen und erkenntnistheoretischen Diskussion angriffen und einen Bezug zu den politischen Verhältnissen herstellten. Insgesamt war die so oft angeführte Erforschung der „materiellen Wahrheit“ weder in der Gesetzgebung noch der Rechtsprechung und Literatur des Kaiserreichs und der Weimarer Republik ein uneingeschränkt anerkannter oberster Grundsatz des Strafverfahrens. Sie blieb eine inhaltlich unscharfe, kaum mit den gleichzeitig vertretenen Überzeugungs- und Wahrscheinlichkeitsmaßstäben vereinbare Formel.

III. Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren des „Dritten Reichs“ Der Gesetzgeber, die Rechtsprechung und die strafrechtliche Literatur haben ab 1933 in Bezug auf das Beweisrecht und den Wahrheitsbegriff keineswegs mit allen bis dahin verbreiteten Positionen gebrochen. Sie haben im Gegenteil an viele frühere Entwicklungen angeknüpft und deren autoritäre Tendenzen auf die Spitze getrieben. Insofern lässt sich eine Parallele zum materiellen Strafrecht ziehen: Dort sind Entwicklungen über mehrere politische Systeme hinweg zu erkennen, die man als „Materialisierung“, „Subjektivierung“ und „sozialrechtliche Tendenz“ beschreiben kann.326 Der Nationalsozialismus bildete dafür einen besonders fruchtbaren Boden.327 326 So die überzeugende Terminologie von Pauli, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts, S. 37 ff., 123 ff., 178 ff., 241 f. 327 Pauli, ebd., S. 242 f. spricht bildlich von einem „Durchlauferhitzer“; näher zur Kontinuitätsdebatte ebd., S. 3 ff.; Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus, S. 7 ff., der sich der Kontinuitäts- und Zuspitzungsthese anschließt (s. S. 9 ff.); Werle, Justiz-Strafrecht, S. 734 konstatiert zumindest, dass es 1933 keinen plötzlichen Bruch mit früheren strafrechtlichen Vorstellungen gab; grundlegend zu Kontinutitäten im Strafrechtsdenken der 1920er und 1930er Jahre Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht.

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Zugleich stößt man im Strafverfahrensrecht des „Dritten Reichs“ ebenso wie im materiellen Strafrecht auf spezifisch nationalsozialistische Inhalte. Vielleicht ist es nicht möglich, die NS-Ideologie erschöpfend und systematisch zu erfassen.328 Dennoch kann man ohne weiteres zentrale Elemente wie den auf Entrechtung und schließlich Vernichtung zielenden Antisemitismus, allgemein rassebiologisches Gedankengut oder die Konzepte von „Entartung“, „Volksgemeinschaft“ und „Führerprinzip“ identifizieren329, die wiederholt auch im Zusammenhang mit dem Wahrheitsbegriff auftreten. 1. Die nationalsozialistische Gesetzgebung zum Beweisrecht Die Gesetzeslage im Jahr 1933 kam den Nationalsozialisten nach ihrem Wahlsieg und der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler entgegen. Insbesondere die Verordnung des Reichspräsidenten vom 14. Juni 1932 stand Pate für die erleichterte Verfolgung politischer Gegner mithilfe des Straf- und Strafverfahrensrechts: a) Die Verordnung zur Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933 Bereits am 28. Februar 1933 hatten die neuen nationalsozialistischen Machthaber den Reichstagsbrand genutzt, um mittels der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“330 den Grundrechtekatalog der Weimarer Reichsverfassung auszuhebeln und die Todesstrafe für eine Reihe von Delikten, darunter Hochverrat, bewaffneten schweren Aufruhr und bewaffneten schweren Landfriedensbruch, einzuführen. Diese Verordnung und die „Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung“ vom 21. März 1933331 sollten im Strafprozess ohne rechtsstaatliche Hindernisse durchgesetzt werden können. Dazu diente die „Verordnung des Reichspräsidenten zur Bildung von Sondergerichten“ vom 21. März 1933332. Diese schrieb in ihren §§ 1 und 2 die Bildung von Sondergerichten in jedem Oberlandesgerichtsbezirk vor, die für die Verfolgung der in den obigen Verordnungen aufgeführten und damit zusammenhängenden Straftaten zuständig werden sollten. Zwar verwies § 6 der Verordnung grundsätzlich auf die Vorschriften der Strafprozessordnung; ihr § 13 stellte die Beweisaufnahme aber fast vollkommen in das Ermessen des Gerichts, indem er die Ablehnung jeder Beweiserhebung lediglich an die Überzeugung des Gerichts koppelte, dass die Beweiserhebung zur Sachaufklärung nicht erforderlich wäre. Der Angeklagte war damit faktisch weitgehend seiner Mitwirkungsmöglichkeiten be328 S. dazu Werle, Justiz-Strafrecht, S. 45 ff.; s. auch Pauli, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts, S. 11. 329 So auch ders., S. 11 f. in Bezug auf das materielle Strafrecht. 330 RGBl. 1933, I, S. 83. 331 RGBl. 1933, I, S. 135. 332 RGBl. 1933, I, S. 136.

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raubt. Dem entspricht es, dass ihm nach § 16 Abs. 1 der Verordnung trotz der drohenden drakonischen Strafen kein Rechtsmittel zu Verfügung stand. Gewiss verschlechterten diese Regelungen die Lage des Angeklagten für eine ganze Reihe von Delikten gravierend. Gleichwohl darf man nicht übersehen, dass sowohl die „Emminger Verordnung“ 1924 als auch die Verordnung vom 14. Juni 1932 eine ähnlich autoritäre Struktur der Beweisaufnahme enthielten. Der nationalsozialistische Gesetzgeber schuf 1933 kein neues Strafverfahren, sondern knüpfte an eine Tradition der autoritären Verfahrensgestaltung an, die sich ohne weiteres auch zur Ausschaltung politischer Gegner nutzen ließ. b) Die gesetzliche Regelung der Pflicht zur Wahrheitserforschung von 1935 Die Änderungen der Strafprozessordung aus dem Jahr 1935 schrieben erstmals die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit fest. Der neue § 244 Abs. 2, im Gesetz unter der Überschrift „Freieres Ermessen des Gerichts bei Beweiserhebungen“ geführt, lautete: „Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist.“333 Wie ist diese Regelung einzuordnen? Vergegenwärtigt man sich die schon im Kaiserreich einsetzende Praxis des Reichsgerichts, einen angeblichen obersten Grundsatz der Erforschung „materieller Wahrheit“ als Argument heranzuziehen, dann könnte man die Neuregelung von 1935 als bloße gesetzliche Bestätigung eines solchen Prinzips ansehen. In der Tat finden sich in der neueren Literatur Stimmen, die die Einführung der Wahrheitserforschungspflicht nicht mit einer spezifisch nationalsozialistischen Auffassung des Strafverfahrens verbinden und sie teils als späte gesetzliche Anerkennung älteren Richterrechts verstehen.334 Manche weisen auch auf die Reformbestrebungen vor 1933 hin.335 Ein solches Verständnis des neugeschaffenen § 244 Abs. 2 StPO überzeugt aber aus mehreren Gründen nicht: Wie die bisherige Analyse gezeigt hat, war das Reichsgericht keineswegs zu der einhelligen Ansicht gelangt, im Strafverfahren herrsche als oberster Grundsatz die Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“. Diese Formel war zwar ein flexibler Argumentationstopos und wurde entsprechend häufig bemüht. In der Weimarer Republik entwickelte das Reichsgericht allerdings zwei ganz andere, mit „materieller“ oder „objektiver“ Wahrheit kaum vereinbare Auffassungen, zum einen den um eine Wahrheitsfiktion ergänzten Wahrscheinlichkeitsmaßstab, zum anderen einen 333 S. Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935, RGBl. 1935, I, S. 844 ff. 334 Schatz, Beweisantragsrecht, S. 112, zitiert in Bezug auf den Amtsermittlungsgrundsatz einen zeitgenössischen Beitrag, der das nahe legt; diesem folgend Fezer, in: FG BGH IV, S. 847, 851 („was wohl nur als Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung verstanden werden konnte“); wohl anders Hamm, Die Revision, Rn. 574 („im Munde des damaligen Gesetzgebers eine bloße Deklamation“). 335 Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 192 f.; s. auch Rieß, in: FS Reichsjustizamt, S. 373, 428 f.

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rein subjektiven, in der freien richterlichen Überzeugung aufgehenden Wahrheitsbegriff. Welchen Stellenwert der Grundsatz der Erforschung „materieller Wahrheit“ daneben haben sollte, ließ es im Dunkeln. Einen inhaltlich fassbaren Begriff der „materiellen Wahrheit“, an den der Gesetzgeber 1935 hätte anknüpfen können, gab es in der Rechtsprechung (und der Literatur) schlichtweg nicht. Auch geht der Verweis auf die früheren Entwürfe ab 1909 fehl. In keinem dieser Entwürfe war von der Erforschung der Wahrheit die Rede. Lediglich der Amtsermittlungsgrundsatz sollte ins Beweisrecht aufgenommen werden. Dass dieser mit einer Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ nicht identisch ist, hatten prominente Autoren wie Zachariae schon im 19. Jahrhundert dargelegt. Vor allem aber ist das Strafverfahrensänderungsgesetz einschließlich der Regelung zur Wahrheitserforschungspflicht Ausdruck einer durch und durch nationalsozialistischen Rechtsauffassung in dem Sinne, dass es frühere autoritäre Tendenzen aufgriff, sie weiter zuspitzte und mit zentralen Elementen der NS-Ideologie verband. Das Reichsrechtsamt der NSDAP veröffentlichte 1935 seine Leitsätze zur Strafrechtsreform. Der neunte Leitsatz lautete: „Im nationalsozialistischen Strafrecht kann es kein formelles Recht oder Unrecht, sondern nur den Gedanken der materiellen Gerechtigkeit geben.“336 Dieser Vorgabe trugen auch die verfahrensrechtlichen Neuerungen Rechnung. Das Strafverfahrensänderungsgesetz verband die Einführung der Wahrheitserforschungspflicht mit der im neuen § 245 StPO niedergelegten Befugnis des Gerichts, in allen Verfahren außer solchen ohne zweite Tatsacheninstanz Beweisanträge bezüglich Zeugen und Urkunden abzulehnen, wenn nach seinem freien Ermessen die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich wäre.337 Für den Sachverständigenbeweis und Augenscheinseinnahmen galt das nach Abs. 1 generell. Damit übernahm es die autoritäre Verfahrensstruktur früherer Verordnungen. Zugleich entfiel die für den Angeklagten höchst bedeutsame Privilegierung präsenter Beweismittel restlos. Daneben führte das Gesetz mit den §§ 170a, 267a Regelungen ein, die eine Bestrafung nicht ausdrücklich für strafbar erklärter Verhaltensweisen nach „gesundem Volksempfinden“ durch analoge Anwendung von Strafgesetzen zu Lasten des Beschuldigten ermöglichen sollten, erklärte die Wahlfeststellung für zulässig und hob das Verbot der reformatio in peius bei nur vom Angeklagten eingelegten Rechtsmitteln auf. Die Regelung zur Erforschung der Wahrheit fügt sich nahtlos in das hier aufscheinende Programm ein. Auch sie diente der rücksichtslosen Bekämpfung politischer Gegner und vermeintlicher „Volksschädlinge“ ohne das Hemmnis liberal-rechtsstaatlicher Formen, die dem Angeklagten Schutz und Mitwirkung garantieren sollten. Diese Einordnung wird durch weitere Verlautbarungen beteiligter Stellen bestätigt. Danach war ein weltanschaulich neutrales Strafrecht undenkbar. Das Straf336

Frank (Hrsg.), Nationalsozialistische Leitsätze für ein neues deutsches Strafrecht, S. 13. Nur für den Zeugen- und Urkundenbeweis in Verfahren ohne zweite Tatsacheninstanz nahm das Gesetz in § 245 Abs. 2 den in der Rechtsprechung des Reichsgerichts ausgebildeten Katalog von Ablehnungsgründen auf. 337

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recht sollte vielmehr, so meinte der damalige Staatssekretär und spätere Präsident des Volksgerichtshofs Freisler 1935, „zum Rüstzeug der Volksgemeinschaft, das dem Reinigungs- und Schutzbedürfnis des Volkes dient“, werden.338 Das zur Durchsetzung des materiellen Strafrechts notwendige Strafverfahrensrecht musste aufgrund dieses völkischen Zwecks „selbstverständlich ebenfalls grundanschauungsbedingt“ ausgestaltet sein.339 Die amtliche Begründung des Strafverfahrensänderungsgesetzes bemerkte in Übereinstimmung hiermit zum neuen § 244 Abs. 2 StPO: „Der Satz soll den Gerichten nicht nur eine selbstständige Aufklärungspflicht auferlegen, sondern er soll sie auch darauf hinweisen, in welchem Geiste und mit welchen Zielen sie Beweisanträge zu behandeln haben.“340 Freisler selbst hat diesen neuen Geist 1935 in aller Deutlichkeit beschrieben: Das nationalsozialistische Strafverfahren ist mit jedem liberalen Verfahrenselement, insbesondere der Vorstellung waffengleicher Parteien, inkompatibel.341 Es zielt nicht mehr auf die Sicherung bürgerlicher Grundrechte. Dieser frühere Schutzgedanke soll nurmehr insofern relevant sein, als er zur zweckmäßigen Ausgestaltung der Wahrheitserforschung beitragen kann, und allgemein durch die „materielle Gerechtigkeitsidee“ ersetzt werden,342 die mit den Bedürfnissen der „Volksgemeinschaft“ übereinstimmt. Darüber hinaus spricht die zeitgenössische Literatur eine klare Sprache.343 Demnach steht die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit nicht etwa aus dem Grund im Zentrum des neuen Strafverfahrens, dass ihr eine solche Rolle schon richterrechtlich in den vergangenen Jahrzehnten zugekommen wäre. Ihre Prominenz beruht vielmehr auf einem spezifisch völkischen Verständnis des Strafverfahrens insgesamt und nunmehr auch des Begriffs der „materiellen Wahrheit“. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Der nationalsozialistische Gesetzgeber ist 1935 ähnlich wie bei Erlass der Sondergerichtsverordnung 1933 verfahren. Er schuf kein vollständig neues Beweisrecht, sondern machte von bereits früher genutzten Regelungstechniken Gebrauch. Zugleich griff er auf die in der Rechtsprechung etablierte, aber vage gebliebene Formel von der Erforschung der („materiellen“) Wahrheit zurück und deutete sie im Sinne der NS-Ideologie um. Die „Wahrheit“ des Strafverfahrensänderungsgesetzes von 1935 ist danach ein ideologischer, den Abbau von Beschuldigtenrechten rechtfertigender Kampfbegriff ohne erkenntnistheoretischen Gehalt. Es verwundert nicht, dass selbst die Richter des Volksgerichtshofs und damit des nationalsozialistischen Gerichts schlechthin ihre Urteile wenigstens der gesetzlichen Regelung zufolge bis zuletzt nach gewissenhafter Erforschung der Wahrheit fällten: Vor dem 1934 geschaffenen, 1936 zum ordentlichen Gericht 338

Freisler, Der Wandel, S. 16. Ebd., S. 19. 340 Die Strafrechtsnovellen v. 28. Juni 1935 und die amtlichen Begründungen zu diesen Gesetzen, S. 54. 341 Freisler, Der Wandel, S. 19 f., 21. 342 Ebd., S. 20 f. 343 S. dazu ausführlich S. 100 ff. 339

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umgestalteten Volksgerichtshof galt mit Ausnahme einiger Sonderbestimmungen das allgemeine Strafverfahrensrecht. Über die Verweisungsnorm in Art. III § 5 Abs. 1 des Gesetzes, mit dem der Volksgerichtshof errichtet wurde344, fand daher auch der neue § 244 Abs. 2 StPO ab 1935 dort Anwendung. c) Die nationalsozialistischen Reformbestrebungen ab 1936 Waren die Änderungen des Strafverfahrensrechts 1935 noch auf dem Boden der alten Strafprozessordnung erfolgt, so unternahm der nationalsozialistische Gesetzgeber in den Folgejahren erhebliche Anstrengungen, um ein völlig neues Strafverfahren zu schaffen. Jede Spur des früheren, als „individualistisch“, „liberal“ oder „liberalistisch“ geschmähten Straf- und Strafverfahrensrechts sollte getilgt werden.345 Der Strafprozess sollte nun durchgängig auf nationalsozialistischem Rechtsdenken beruhen. Der nationalsozialistische Rechtswahrerbund (mit Carl Schmitt als heute prominentestem Ausschussmitglied) beschrieb das Grundprinzip des zu schaffenden Strafverfahrens während der Reformarbeiten im Jahr 1937 so: „Höchstes Ziel der in Angriff genommenen Rechtserneuerung im Strafverfahrensrecht ist die Fällung des dem nationalsozialistischen Rechtsbewußtsein entsprechenden, also des gerechtesten Urteils in kürzester Frist.“346 Im völkischen Rechtsdenken hieß dies, dass sich jedes Strafverfahren am Schutz der „Volksgemeinschaft“ und deren Wunsch nach Sühne auszurichten hatte.347 Der Einzelne war dementsprechend nurmehr als Teil des Volkes, nicht aber mehr als Individuum schützenswert.348 Hans Frank selbst sprach 1939 offen aus, was diese allgemeinen Grundsätze konkret bedeuteten: einen „Ausrottungsfeldzug gegen den Verbrecher 344 Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens v. 24. April 1934, RGBl. 1934, I, S. 341. 345 Neuordnung des Strafverfahrensrechts, Denkschrift des NS.-Rechtswahrerbundes zum Entwurf einer Strafverfahrensordnung, einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes der amtlichen Strafprozeßkommission des Reichsjustizministeriums., S. 10; Begründung des Entwurfs 1939, bei Schubert, Quellen, III./1, S. 372; Frank, Nationalsozialistische Strafrechtspolitik, S. 19; vgl. zum Entwurf 1939 auch Rieß, in: FS Reichsjustizamt, S. 373, 380 f. 346 Neuordnung des Strafverfahrensrechts, Denkschrift des NS.-Rechtswahrerbundes zum Entwurf einer Strafverfahrensordnung, einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes der amtlichen Strafprozeßkommission des Reichsjustizministeriums., S. 15. 347 Ebd., S. 12; Freisler, in: Das kommende deutsche Strafverfahren. Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, S. 11, 13; Begründung des Entwurfs 1939, bei Schubert, Quellen, III./1, S. 372. 348 Freisler, Der Wandel, S. 19 ff. hatte den Sicherheitsgedanken schon 1935 grundsätzlich verabschiedet; dagegen findet sich in der Begründung des Entwurfs 1939, bei Schubert, Quellen, III./1, S. 376, die Behauptung, der Beschuldigte erhalte auch im neuen Strafprozess eine „vernünftig ausgebaute Rechtsstellung“, da sich ein so stark geführter und mit so durchsetzungsstarker Gerichtsbarkeit ausgestatteter Staat wie der nationalsozialistische das erlauben könne, ohne die Wahrheitserforschung zu gefährden.

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als Individuum ebenso wie schon gegen den verbrecherischen Keim als Zersetzungserscheinung unseres Volkskörpers“ anhand der Kategorien „Rasse“ und „Entartung“.349 Auf der Ebene der Verfahrensgestaltung schlug sich dieses Programm in einer Reihe von Strukturprinzipien nieder. Welch herausgehobenen Rang dabei die ideologisch aufgeladene richterliche Pflicht zur Erforschung der Wahrheit einnehmen sollte, zeigt der Entwurf 1936350, der einen entsprechenden Grundsatz gleich dreimal anführt. § 2 des Entwurfs verpflichtet im Interesse der Gerechtigkeit alle Staatsorgane auf die Suche nach Wahrheit und Recht, § 6 Abs. 2 schreibt dem Richter vor, „von Amts wegen die lautere Wahrheit zu erforschen“ und § 65 Abs. 1 formulierte: „Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist.“ Diese Verpflichtung des Gerichts hatte in beiden Lesungen des Entwurfs (nun als § 57) Bestand. Der abschließende Entwurf 1939 enthielt die Wahrheitserforschungspflicht wortgleich in seinem § 64. Dieses Prinzip steht allerdings wie schon im Strafverfahrensänderungsgesetz 1935 nicht für sich. Es hängt vielmehr mit einem weiteren wichtigen Grundsatz des nationalsozialistischen Strafprozesses zusammen, der größtmöglichen Beschleunigung des Verfahrens351 und dem damit verbundenen massiven Abbau von Mitwirkungsrechten des Beschuldigten. Die Kombination von herausgehobener Wahrheitserforschungspflicht und Degradierung des Beschuldigten zum Verfahrensobjekt ist bei der geplanten Neuregelung (oder besser: faktischen Abschaffung) des Beweisantragsrechts besonders augenfällig. Der Entwurf 1936 hatte die Ablehnung von Beweisanträgen in seinem § 65 nur vor dem Amtsrichter und dem Schöffengericht in das pflichtgemäße Ermessen des Richters gestellt, für die übrigen Fälle aber einen Katalog von Ablehnungsgründen vorgesehen. Dieser Katalog überstand die erste Lesung des Entwurfs nicht; stattdessen sollte der Vorsitzende in sämtlichen Fällen jeden Beweisantrag durch bloßen Beschluss ablehnen können. Während der ersten Lesung verteidigte Niethammer diesen für den Beschuldigten schwerwiegenden Verlust schützender Formen damit, dass das Gebot der Wahrheitserforschung alle anderen Verfahrensvorschriften überrage und in seiner Eindeutigkeit und Stärke alle Einzelbestimmungen überflüssig mache.352 Die Begründung des Entwurfs 1939 übernahm diese Argumentation fast wortgleich. Die Wahrheitserforschungspflicht soll als übergeordnetes Prinzip „so einfach und klar“ sein, „dass eine gesetzliche Er349

Frank, Nationalsozialistische Strafrechtspolitik, S. 20, 22, 32. Bei Schubert, Quellen, III./1, S. 20 ff. 351 Für dieses Prinzip wird zum einen die effektive Verbrechensbekämpfung im Interesse der „Volksgemeinschaft“ angeführt, zum anderen die Demonstration von Entschlossenheit, s. Neuordnung des Strafverfahrensrechts, Denkschrift des NS.-Rechtswahrerbundes zum Entwurf einer Strafverfahrensordnung, einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes der amtlichen Strafprozeßkommission des Reichsjustizministeriums., S. 12, 15; Frank, Nationalsozialistische Strafrechtspolitik, S. 29. 352 Bei Schubert, Qellen, III./2, 1. Teil, S. 206; s. auch Niethammer, in: Das kommende deutsche Strafverfahren. Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, S. 168. 350

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läuterung des Umfangs der Beweisaufnahme durch Einzelvorschriften unnötig ist“; sie „ist die erschöpfende Grundlage dieser Regeln und muß auch künftig der Rechtsprechung Leitstern für die Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme sein.“353 Auch in anderem Zusammenhang sollte das Gebot zur Erforschung der Wahrheit den Richter von der „Zwangsjacke“354 schützender Formvorschriften befreien. Freisler setzte sich während der ersten Lesung des Entwurfs dafür ein, die Verlesung der früheren Aussage eines zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen zu erlauben und berief sich dabei auf das übergeordnete Ziel der Wahrheitserforschung.355 Das fand Zustimmung.356 Der Abbau des Beweisantragsrechts fügte sich in die übrige Ausgestaltung des neuen Strafverfahrens ein. Der Parteiprozess sollte mitsamt seinem Postulat der Waffengleichheit vollständig abgeschafft werden.357 Das nationalsozialistische Strafverfahren musste stattdessen – wie alle anderen Lebensbereiche – dem „Führerprinzip“ folgen: Der Vorsitzende verfügte danach „als Unterführer mit einer vom Führer abgeleiteten Legitimation“358 über umfangreiche Befugnisse, hatte aber zugleich ausschließlich im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung zu urteilen359. Selbst der Beschuldigte war als Teil des Volksganzen und zum Wohle der „Volksgemeinschaft“ zumindest moralisch zur Mitwirkung an der Wahrheitsermittlung (allerdings nicht in einem dialektischen Sinne) verpflichtet.360 Der Wahrheitsbegriff der Reformbestrebungen ab 1936 ist damit identisch mit dem des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1935. Das übergeordnete Ziel der „Erforschung der Wahrheit“ soll den massiven Abbau von Beschuldigtenrechten erlauben und gleichzeitig die Autorität des „Führer“-Vorsitzenden stärken. Die starre 353

Bei Schubert, Quellen, III./1, S. 417. Freisler, in: Das kommende deutsche Strafverfahren. Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, S. 15. 355 Bei Schubert, Quellen, III./2., 1. Teil, S. 210 f. 356 Ebd., S. 212. 357 Grundfragen des neuen Strafverfahrensrechts, Denkschrift des Ausschusses für Strafprozeßrecht der Strafrechtsabteilung der Akademie für Deutsches Recht, S. 12, 14; Freisler, in: Das kommende deutsche Strafverfahren. Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, S. 52 ff.; so auch schon ders., Der Wandel, S. 21. 358 Neuordnung des Strafverfahrensrechts, Denkschrift des NS.-Rechtswahrerbundes zum Entwurf einer Strafverfahrensordnung, einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung und eines Gerichtsverfassungsgesetzes der amtlichen Strafprozeßkommission des Reichsjustizministeriums, S. 16 f. 359 Sehr deutlich Frank, Nationalsozialistische Strafrechtspolitik, S. 39 f.: „Im nationalsozialistischen Reich muß sich jeder Richter darüber klar sein, daß er mit seinem Urteil in der Gesamtlinie der nationalsozialistischen Weltanschauung bleiben muß.“; s. auch Grundfragen des neuen Strafverfahrensrechts, Denkschrift des Ausschusses für Strafprozeßrecht der Strafrechtsabteilung der Akademie für Deutsches Recht, S. 6 f. 360 Ebd., S. 15: „Der Beschuldigte hat kein Recht zur Lüge. Ebensowenig aber läßt sich die Pflicht zur Wahrheit zu einer prozessualen ausgestalten.“ 354

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ideologische Bindung des wahrheitssuchenden Vorsitzenden zeigt erneut, dass „wahr“ nur das sein konnte, was im Interesse der „Volksgemeinschaft“ und ihres „Führers“ lag. Dieser ideologische Charakter der „materiellen Wahrheit“ erklärt auch, warum erkenntnistheoretische Erwägungen im Reformverfahren keine Rolle spielten. d) Die Vereinfachungsverordnungen 1939 und 1942 Der mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 beginnende zweite Weltkrieg verhinderte eine umfassende Reform des Strafverfahrens. Dennoch erlangten zahlreiche Einzelpunkte der angedachten Reform auf dem Verordnungswege Geltung. Das gilt auch für das Beweisrecht. § 24 der „Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege“ vom 1. September 1939361 hob frühere Beschränkungen für Verfahren mit nur einer Tatsacheninstanz auf und erlaubte dem Gericht allgemein die Ablehnung von Beweisanträgen, „wenn es nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält“. Die Mitwirkungsmöglichkeiten des Beschuldigten bei der Beweisaufnahme lagen damit faktisch fast völlig in der Hand des Gerichts.362 Die Wahrheitserforschungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO bildete angesichts ihres völkischen Charakters kein Korrektiv des freien Ermessens. Rechtfertigen ließ sich dieser äußerst autoritäre Zuschnitt des Verfahrens jetzt zusätzlich mit dem Schutz der „Wehrkraft“ des deutschen Volkes.363 Schließlich beseitigte die „Verordnung zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege“ vom 13. August 1942364 in ihrem Art. 9 auch das durch das Strafverfahrensänderungsgesetz von 1935 ohnehin bereits weitgehend ausgehöhlte Recht des Angeklagten, selbst Ladungen vorzunehmen. Sie bildet den Endpunkt der Eingriffe, die der nationalsozialistische Gesetzgeber im Beweisrecht vornahm. Der Angeklagte stand nun einem Richter gegenüber, der jeglichen Antrag nach freiem Ermessen bescheiden konnte und der auch bei der ihm aufgetragenen Erforschung der Wahrheit der nationalsozialistischen Weltanschauung und den daraus abgeleiteten Zwecken des Strafverfahrens verpflichtet blieb.

361

RGBl. 1939, I, S. 1658 ff. Ähnlich sieht Rieß, in: FS Reichsjustizamt, S. 373, 429 den Beschuldigten mit dieser Verordnung endgültig zum bloßen Objekt degradiert. 363 So Hinüber/Tegtmeyer, Strafverfahrensrecht seit Kriegsbeginn, S. 5; diese erklärten speziell § 24 VereinfachungsVO damit, dass der Krieg „ein schnelles und von formellen Fesseln möglichst befreites Verfahren“ erfordere (S. 33). 364 RGBl. 1942, I, S. 508 ff. 362

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2. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zwischen 1933 und 1945 Eine einheitliche Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Wahrheitsbegriff gab es 1933 nicht. Der häufig als Argument gebrauchten Erforschung der „materiellen Wahrheit“ standen ein Wahrscheinlichkeitsmaßstab samt Wahrheitsfiktion und ein rein subjektiver Wahrheitsbegriff, der mit der richterlichen Überzeugung übereinstimmte, gegenüber. Zugleich hatte das Reichsgericht schon vor Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft seine Zugriffsmöglichkeiten auf die tatrichterlichen Feststellungen und die Beweiswürdigung erweitert und bereits Ende Januar 1933 die Aufklärungspflicht Beschränkungen des Beweisantragsrechts durch die Verordnung vom 14. Juni 1932 entgegengehalten. Wie ist vor diesem Hintergrund seine Rechtsprechung zum Wahrheitsbegriff im „Dritten Reich“ einzuordnen? a) Das Reichsgericht als Gegengewicht zu nationalsozialistischen Eingriffen in das Beweisrecht? In der neueren Literatur vertreten zahlreiche Autoren die These, dass das Reichsgericht im Bereich des Beweisrechts bewusst Eingriffe des nationalsozialistischen Gesetzgebers unterlaufen und dadurch dem Beschuldigten gesetzlich verlorengegangene Rechte zum Teil erhalten habe.365 Nimmt man die Ursprünge dieser Rechtsprechung, die oft uneinheitlichen Positionen der verschiedenen Senate und ihre schließlich dem Richter weitgehend freie Hand lassende Auslegung der §§ 24, 25 der Vereinfachungsverordnung von 1939 in den Blick, dann ergibt sich ein weniger freundliches Bild. Gegen die Ansicht, das Reichsgericht habe gerade auf nationalsozialistische Beschränkungen des Beweisantragsrechts reagiert, spricht schon die Rechtsprechung zum Beweisrecht vor den ersten nationalsozialistischen Gesetzgebungsakti365 Alsberg/Güntge, Rn. 14: „Was der Gesetzgeber dem Angeklagten durch diese Einschränkungen des Beweisantragsrechts an prozessualen Einflussmöglichkeiten entzog, wurde ihm allerdings dadurch wenigstens teilweise wieder zurückgegeben, dass das Reichsgericht nunmehr auf entsprechende Rüge die Einhaltung der Sachaufklärungspflicht besonders sorgfältig prüfte.“; Fezer, in: FG BGH IV, S. 847, 851 ff.; Foth, in: FS Widmaier, S. 223, 234 f.; Meurer, in: GS Hilde Kaufmann, S. 947, 957: „Der zunehmenden Rechtlosigkeit des Beschuldigten trat das Reichsgericht unter Berufung auf §§ 244 Abs. 2 n. f., § 261 RStPO entgegen.“; Perron, Beweisantragsrecht, S. 138 f.: „Seine Haltung veränderte sich erst, als der Gesetzgeber 1939 das Beweisantragsrecht abschaffte. Das RG transferierte daraufhin den Inhalt der Beweisantragsablehnungsgründe in die Aufklärungspflicht und sicherte so dem Beschuldigten weiterhin – zumindest faktisch – einen mit der Revision durchsetzbaren Anspruch auf Erhebung potentiell erheblicher und geeigneter Beweise.“; Rieß, in: FS Reichsjustizamt, S. 373, 429 zur Vereinfachungsverordnung von 1942: „In dieser unbefriedigenden Situation sprang erneut die Rechtsprechung in die Bresche. Aus dem Amtsaufklärungsgrundsatz entwickelte das Reichsgericht das prozeßrechtliche Institut der Aufklärungsrüge, mit deren Hilfe über einen Umweg der Beweiserhebungsanspruch durchgesetzt werden konnte, allerdings nur dort, wo und solange wie eine Revision möglich war.“; Wenner, Aufklärungspflicht, S. 19; differenzierend dagegen Schatz, Beweisantragsrecht, S. 117 ff., Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 232.

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vitäten. Die Entscheidung RGSt 67, 97, ergangen einen Tag nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, unterwarf das in der Verordnung vom 14. Juni 1932 vorgesehene freie Ermessen bei der Behandlung von Beweisanträgen und damit auch die Vorwegnahme des Beweisergebnisses der Pflicht zur Wahrheitserforschung. Das ist im Kern schon das Programm vieler späterer Entscheidungen. Bereits 1931 hatte das Bayerische Oberste Landesgericht auch bei Bagatellsachen im Sinne des § 245 Abs. 2 StPO den Grundsatz der Wahrheitserforschung für maßgeblich erklärt366 und so der gerichtlichen Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme eine normative Schranke gesetzt. Die Aufklärungsrüge hatte das Reichsgericht gar schon 1928 anerkannt.367 All das, was als Reaktion des Reichsgerichts auf die nationalsozialistische Umgestaltung des Beweisrechts angesehen wird, findet sich damit in Grundzügen schon in der Rechtsprechung bis Januar 1933. Zudem belegt die Judikatur im Anschluss an das Strafverfahrensänderungsgesetz 1935 nicht, dass das Reichsgericht geschlossen den Beschränkungen der Beschuldigtenrechte entgegengetreten wäre. Das freie Ermessen des neuen § 245 Abs. 1 Satz 2 StPO (bezüglich Anträgen auf Sachverständigen- und Augenscheinsbeweis in allen Verfahren) beurteilten die Strafsenate uneinheitlich. Der vierte Senat hob in einer Entscheidung zur fehlerhaften Ablehnung eines Sachverständigen die beherrschende Rolle der Pflicht zur Wahrheitserforschung auch bei der Ermessensausübung hervor: „immer und überall bestimmt die Vorschrift des § 244 Abs. 2 StPO. den Umfang, die Tragweite und die Handhabung der Ermessensfreiheit des § 245 Abs. 1 StPO.“368 Auch wenn die übrigen Strafsenate grundsätzlich bei der Beurteilung von Beweisanträgen auf Zuziehung eines Sachverständigen auf einer Linie lagen und unter Verweis auf die Wahrheitserforschungspflicht die früheren Anforderungen weiter vertraten,369 scherte der dritte Senat bei der Frage der Beweisantizipation aus und erklärte diese ausdrücklich für zulässig. Nur durch die Aufklärungspflicht sollte das Ermessen des Richters beschränkt werden.370 Hinsichtlich der Beweisanträge auf Augenscheinseinnahme kam es zu offenen Differenzen zwischen den verschiedenen Senaten.371 Der dritte Senat hob hervor, dass dem Revisionsgericht aufgrund des freien Ermessens in § 245 Abs. 1 Satz 2 StPO eine Nachprüfung der Ermessensausübung verwehrt bleibe.372 Der vierte Senat untermauerte diese Ansicht mit der sich klar zum Willen des nationalsozialistischen Gesetzgebers bekennenden Begründung, andernfalls werde die Sonderbestimmung 366

BayObLG JW 31, 3563 f. Zumindest missverständlich ist daher die Behauptung von Rieß, in: FS Reichsjustizamt, S. 373, 429, wonach das Reichsgericht in Reaktion auf nationalsozialistische Beschränkungen ausgehend vom Aufklärungsgrundsatz die Aufklärungsrüge entwickelt habe. 368 RGSt 71, 336, 338. 369 S. Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 209 f. mit zahlreichen Nachweisen. 370 RG JW 1937, 3024 Nr. 9. 371 S. hierzu auch Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 211 ff. 372 RG JW 1937, 1360 (Nr. 83); RG JW 1938, 806 Nr. 30. 367

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des § 245 Abs. 1 Satz 2 StPO umgangen, und zog dem Tatrichter lediglich eine Willkürgrenze.373 Der erste Strafsenat sah dagegen die Ermessensfreiheit des Gerichts durch die Wahrheitserforschungspflicht beschränkt und erklärte entsprechende Verstöße für revisibel.374 Auf die weiteren Beschränkungen durch die §§ 24, 25 der Vereinfachungsverordnung 1939, wonach die Ablehnung jedes Beweisantrags zulässig war, wenn das Gericht „nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält“ (§ 24)375, reagierte das Reichsgericht zunächst nicht einheitlich. Der zweite Senat erachtete die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit durch die §§ 24, 25 Vereinfachungsverordnung nicht für berührt und wollte weiter die Ablehnung eines Beweisantrags mittels der Aufklärungsrüge überprüfen.376 Daneben hielt er zunächst am Verbot der Beweisantizipation bei Beweisanträgen auf Zuziehung eines Sachverständigen fest und begründete dies mit der Erwägung, dass die Pflicht zur Wahrheitserforschung auch dann gelte, wenn ein Beweisantrag gerade wegen seiner angeblich fehlenden Erforderlichkeit zur Wahrheitsermittlung nach § 24 Vereinfachungsverordnung abgelehnt werde.377 Nur im ersten Punkt – der grundsätzlichen Fortgeltung der Wahrheitserforschungspflicht und der weiter möglichen Aufklärungsrüge – stimmten die übrigen Senate mit dem zweiten Senat überein.378 Hinsichtlich der Frage der Beweisantizipation traf der erste Senat hingegen eine Grundsatzentscheidung, die mit der seit RGSt 1, 189 bestehenden Linie des Reichsgerichts brach: § 24 der Vereinfachungsverordnung betreffe die Beweiswürdigung und so auch die Frage, ob schon ein zur Überzeugungsbildung ausreichendes Ergebnis vorliege; im Sinne dieser Norm liege auch die Beweisantizipation, sodass bei einer solchen grundsätzlich kein Rechtsverstoß mehr anzunehmen sei.379 Allerdings müsse das Ermessen pflichtgemäß und nicht willkürlich ausgeübt werden und der Ablehnungsbeschluss die leitenden Gesichtspunkte erkennen lassen.380 Die Aufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO gelte fort und begrenze die §§ 24, 25 Vereinfachungsverordnung, stehe aber nicht zu diesen in einem Spannungsverhältnis. Vielmehr regle § 24 Vereinfachungsverordnung eine Einzelfrage der Aufklärungspflicht, weshalb zu dieser kein Widerspruch entstehen

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RG JW 1938, 1588 Nr. 11. RG HRR 1939 Nr. 1393. 375 § 25 der Vereinfachungsverordnung sicherte den neuen Maßstab gegen Revisionen ab, die vor Inkrafttreten der Verordnung ergangene Urteile angriffen. Danach war es unzulässig, eine Revision auf die Ablehnung eines Beweisantrags zu stützen, wenn § 24 der Verordnung diese Ablehnung erlaubt hätte. 376 RG DR 1940, 689 Nr. 19; RG HRR 1940 Nr. 839. 377 RG HRR 1940 Nr. 211. 378 S. für den ersten, vierten und fünften Senat RG HRR 1940 Nr. 406; RG HRR 1940 Nr. 278; RG HRR 1940 Nr. 407. 379 RGSt 74, 147, 148 f. 380 Ebd., 149 f. 374

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könne.381 Der vierte Senat unterstrich daneben das grundsätzlich freie Ermessen des Richters bei der Behandlung von Beweisanträgen und wollte die Aufklärungsrüge auf Fälle rechtsirriger oder missbräuchlicher Ermessensausübung beschränken.382 Es entbehrt nicht der Ironie, dass diese Entwicklung sogar Niethammer zu weit ging, der selbst bis 1937 Richter am Reichsgericht gewesen, 1938 von der „Stoßtruppfakultät“ der Universität Kiel mit dem Ehrendoktortitel ausgezeichnet worden war und der als Mitglied der großen Strafprozesskommission seit 1936 vehement auf die Abschaffung aller angeblich überflüssigen Einzelregelungen zum Umfang der Beweiswürdigung gedrungen hatte. Doch seine auf die vermeintlich alles überragende Wahrheitserforschungspflicht gestützte, mit Zuspruch für den zweiten Senat verbundene Kritik an der Rechtsprechung des ersten und vierten Senats383 blieb folgenlos. Wenig später verwahrte sich der zweite Senat ausdrücklich gegen das Lob Niethammers und schloss sich den anderen Senaten an.384 Von da an stand die Behandlung von Beweisanträgen im freien Ermessen des Tatrichters, nurmehr durch eine erkenntnistheoretisch unbestimmte, aber völkisch determinierte Pflicht zur Erforschung der Wahrheit beschränkt, die jedenfalls eine Beweisantizipation nicht ausschloss. Die bisherige Analyse der Rechtsprechung hat den politischen Hintergrund der Entscheidungen weitgehend ausgeblendet. Doch auch bei dieser gleichsam nur technischen Betrachtung hat sich das Reichsgericht keineswegs als Hort des Widerstandes gegen Eingriffe des nationalsozialistischen Gesetzgebers in das Beweisrecht erwiesen. Gewiss hat es zunächst mithilfe der Wahrheitserforschungspflicht dem richterlichen Ermessen Grenzen gezogen und wiederholt auf die Revisibilität entsprechender Verstöße hingewiesen. Die endgültige Aufgabe des Verbots der Beweisantizipation hatte aber eine verheerende Wirkung, mag auch gelegentlich eine revisionsgerichtliche Kontrolle des solcherart freien richterlichen Ermessens über den Umweg der Wahrheitserforschungspflicht stattgefunden haben385. Das hat erstaunlicherweise der tief in die Rechtsprechung und Strafge381

Ebd., 151 f. RG HRR 1940 Nr. 483; zur Beweisantizipation s. auch RGSt 75, 11 383 Niethammer, in: Hartung/Niethammer, Neues Strafverfahrensrecht, S. 228 ff. 384 RGSt 74, 394, 396. 385 Diejenigen, die dem Reichsgericht unter Hinweis auf den Ausbau der Aufklärungsrüge und die Bedeutung der Aufklärungspflicht eine Kompensation gesetzlicher Eingriffe in größerem Ausmaß zuschreiben, übersehen auch, dass es weder gegen Entscheidungen der Sondergerichte noch des Volksgerichtshofs ein ordentliches Rechtsmittel des Angeklagten gab, und dass diese Gerichte ab 1940 für einen großen Teil der schwereren Delikte zuständig waren, s. die „Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften“ vom 21. Februar 1940, RGBl. 1940, I, S. 405 ff. und insbesondere die dort in § 14 begründete bewegliche Zuständigkeit der Sondergerichte. Zudem war nach § 16 Abs. 2 der Vereinfachungsverordnung von 1939 kein Rechtsmittel gegen Berufungsurteile der Strafkammern mehr zulässig. Die in der eben genannten Verordnung vom 21. Februar 1940 eingeführte „Nichtigkeitsbeschwerde“ konnte das nicht vollständig wett382

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setzgebung des „Dritten Reichs“ verstrickte Niethammer unumwunden eingeräumt, allerdings nicht ohne vorherigen Hinweis auf seine Kritik am Reichsgericht aus dem Jahr 1940: „Der Abfall des Reichsgerichts hatte furchtbare Folgen, die sich aber, da ihm die Zuständigkeit im ersten Rechtszug – abgesehen von den Sonderfällen der §§ 3 und 8 des Gesetzes vom 16.9.1939 – genommen war, nicht in seinem Geschäftsbereich, sondern in dem anderer Gerichte, vornehmlich des Volksgerichtshofs vollzogen. Niemand kann die Menge Menschen ausfinden, denen die vom Obersten Gerichtshof gebilligte Vorwegnahme des Beweisergebnisses zum Verhängnis, zur Ursache einer unverdienten Todesstrafe oder langen und schweren Freiheitsstrafe geworden ist. […] Die Aufklärungspflicht war locker, das Beweisrecht brüchig geworden.“386

b) Die Aufgabe des Verbots der Rügeverkümmerung im Jahr 1936 Zu einem zentralen revisionsrechtlichen Grundsatz, dem bis dahin in der Rechtsprechung des Reichsgerichts unantastbaren Verbot der Rügeverkümmerung, traf der Große Senat für Strafsachen 1936 ohne konkrete gesetzgeberische Vorgaben eine Grundsatzentscheidung.387 Darin verband er Wahrheitsbegriff und Beschleunigungsgedanken in einer für das nationalsozialistische Verfahrensverständnis typischen Art und Weise. Die Vorlagefrage des ersten Strafsenats hatte nur den Fall betroffen, dass eine Verfahrensrüge noch nicht erhoben ist, aber Gericht oder Urkundspersonen amtliche Kenntnis von der ernsthaften Absicht des Angeklagten haben, die Rüge auf den entsprechenden Verfahrensfehler zu stützen. Der Große Senat ging weit darüber hinaus und brach mit sehr knapper Begründung vollständig mit dem Verbot der Rügeverkümmerung. Die bisherige Rechtsprechung sei „mit der Grundauffassung der Aufgaben des Strafverfahrens, die im Dritten Reich Allgemeingut geworden ist, nicht mehr vereinbar“.388 Das gewandelte Grundverständnis erklärt der Senat folgendermaßen: „Heute ist, mehr noch als früher, der Gedanke in den Vordergrund gerückt, daß es Aufgabe des Strafverfahrens ist, mit möglichster Beschleunigung der Wahrheit und der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. Hieraus ergibt sich für die Rechtsprechung die Pflicht, dem Fortgang des Verfahrens keine Hindernisse zu bereiten, die sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergeben.“389

Diese schlagwortartigen Ausführungen liegen auf einer Linie mit dem Programm des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1935, den weiteren Reformbestrebungen ab machen (näher zur Bedeutung der „Nichtigkeitsbeschwerde“ in der Rechtsprechung des Reichsgerichts Pauli, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts, S. 17 ff.). 386 Niethammer, in: FS Sauer, S. 26, 35. 387 RGSt 70, 241; Hamm, NJW 2007, 3166, 3168 f. weist zutreffend auf die erstaunlichen argumentativen Parallelen zwischen dieser Entscheidung und BGHSt 51, 298 und die entsprechend wenig glaubhaften Distanzierungsversuche des Bundesgerichtshofs hin. 388 RGSt 70, 241, 242. 389 Ebd., 242 f.

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1936, den späteren Verordnungen und der strafrechtlichen Literatur der Zeit. Der Wahrheitsbegriff hat auch in der Entscheidung des Großen Senats keinen fassbaren erkenntnistheoretischen Gehalt, sondern ist völkisch grundiert. Er ist mit dem nationalsozialistischen Grundsatz der maximalen Verfahrensbeschleunigung verbunden und soll gemeinsam mit diesem den ungehinderten Zugriff auf den Beschuldigten als Feind der „Volksgemeinschaft“ und bloßes Objekt jenseits verfahrensrechtlicher Schutzmechanismen legitimieren. Im konkreten Fall hieß das, dem Beschuldigten das Hauptverhandlungsprotokoll als verlässliche Grundlage für die Erhebung von Verfahrensrügen zu nehmen. c) Die Pflicht zur Wahrheitserforschung als Mittel zur Durchsetzung spezifisch nationalsozialistischer Straftatbestände Das Reichsgericht hat die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit nicht nur im Zusammenhang mit anderen beweisrechtlichen Vorschriften herangezogen, sondern sie in mehreren „Rassenschande“-Urteilen auch unmittelbar mit den antisemitischen Zielsetzungen des „Blutschutzgesetzes“ von 1935 verbunden: Der erste Senat hob 1936 den Freispruch eines Angeklagten vom Vorwurf der „Blutschande“ auf und begründete dies mit der Pflicht zur umfassenden Erforschung der Wahrheit und der anschließenden Würdigung aller festgestellten Tatsachen, der das Landgericht nicht nachgekommen wäre, indem es vor dem Richter abgelegte Geständnisse unzureichend berücksichtigt hätte.390 Der zweite Senat erblickte eine unzureichende Aufklärung des Sachverhalts darin, dass das Gericht der bloßen Erklärung des Angeklagten, er sei „Arier“, gefolgt war: „Die Deutschblütigkeit des bei der Rassenschande beteiligten Staatsangehörigen muß nachgewiesen sein; der Strafrichter darf sich nicht einfach auf die Erklärung des Angeklagten verlassen, er sei Arier.“391 In nüchternem Duktus erhebt der Senat „arisch“ und „deutschblütig“ zu Rechtsbegriffen, deren Vorliegen nur ein rechtskundiges Gericht nachprüfen könne, um anschließend in denunziatorischem Tonfall eine genaue Prüfung der Abstammung der Mutter („eine geborene Hirsch“) vorzuschreiben.392 Das alles erhält eine zynische Komponente durch die nur auf den ersten Blick beschuldigtenfreundliche Erwägung, der Angeklagte sei, sollte sich seine Mutter als Jüdin herausstellen, als „jüdischer Mischling ersten Grades“ nicht wegen „Blutschande“ strafbar.393 Was die gerichtliche Feststellung, man sei jüdisch, im Deutschland des Jahres 1936 bedeutet hat, dürfte dem zweiten Senat klar gewesen sein, nämlich die vollständige Entrechtung, die für den Angeklagten und dessen Angehörige auf Dauer noch bedrohlicher als seine Bestrafung wegen „Rassenschande“ als „Arier“ sein musste.

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RG HRR 1936 Nr. 1155. RGSt 70, 218. Ebd., 219. S. ebd.

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Der fünfte Senat stellte 1938 allgemein eine Verbindung zwischen den antisemitischen Zwecken des „Blutschutzgesetzes“ und der richterlichen Aufklärungspflicht her. Er hatte zu entscheiden, ob das vor Zeugen (im konkreten Fall einem behandelnden Arzt) gezeigte Schuldbewusstsein des Angeklagten einen Schluss auf den objektiven Tatbestand der „Blutschande“ erlaubt und legte einen relativ strengen Maßstab an, den er in erster Linie aus dem völkischen Gesetzeszweck ableitete. Danach „müssen bei der Bedeutung des Rassenschutzes und wegen der Schwere der angedrohten Strafen die Gerichte die Rassenzugehörigkeit der Beteiligten sorgfältig ermitteln“.394 Der Hinweis auf die hohen Strafen mag bei oberflächlicher Betrachtung als Versuch erscheinen, ein allzu sorgloses Vorgehen der Instanzgerichte zu verhindern. Allerdings steht er an zweiter Stelle und impliziert keineswegs, dass der Senat grundsätzlich etwas an der Verhängung drastischer Strafen nach der geforderten gründlichen Sachverhaltsermittlung auszusetzen hatte. Dagegen betont der Senat von sich aus das antisemitische Programm des „Blutschutzgesetzes“. Die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts und damit auch zur Erforschung der Wahrheit ist ein Werkzeug, um die Instanzgerichte zur sorgfältigen Umsetzung dieses Programms anzuhalten. Der vierte Senat war mit den Anforderungen an den Nachweis der Abstammung in „Rassenschande“-Fällen befasst. Er schreibt den Tatgerichten vor, sich nicht mit Erklärungen der Beteiligten zufrieden zu geben, sondern sogar noch die „Rassenzugehörigkeit“ von deren Großeltern durch Urkunden zu ermitteln; zur Begründung führt er allgemein die Pflicht zur Wahrheitserforschung und den Maßstab im öffentlichen Leben („nachdem sich die Erkenntnis von der Bedeutung der rassischen Abstammung durchgesetzt hat“) an.395 Der Senat weist aber auch darauf hin, dass weibliche Beteiligte aus Angst vor drohenden Nachteilen über ihr Jüdischsein hinwegtäuschen könnten.396 Dann wird er noch deutlicher: „Die völkischen Belange erfordern, daß die Rassenschande mit Entschiedenheit verfolgt wird; dem muß aber die Unanfechtbarkeit der Grundlagen dieses strafrechtlichen Einschreitens entsprechen.“397 Die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit steht auch hier im Dienste des antisemitischen Programms. Sie soll dessen Umsetzung keineswegs hemmen, sondern im Gegenteil befördern und mit dem Mäntelchen des juristisch Einwandfreien versehen.

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RGSt 72, 89, 90. RGSt 72, 161, 162. 396 Ebd., 163; die lapidare Bemerkung des Senats zur möglichen Motivation der ihr Judentum verheimlichenden Frauen („weil sie davon für sich oder Angehörige Nachteile befürchtet“) ist angesichts der Lebensumstände von im März 1938 noch in Deutschland lebenden Juden an Zynismus nicht zu übertreffen. 397 Ebd.; angesichts dieses klaren Bekenntnisses zur NS-Ideologie ist die Auffassung von Wißgott, Beweisantragsrecht, S. 205 abzulehnen, wonach in RGSt 72, 161 „die ambivalente Haltung des Reichsgerichts zu den nationalsozialistischen Rechtsdeformierungen“ zum Ausdruck komme. 395

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All diese Urteile belegen, dass das Reichsgericht die richterliche Pflicht zur Erforschung der Wahrheit auch als Instrument zur justiziellen Durchsetzung des ausschließlich antisemitischen „Blutschutzgesetzes“ und der nationalsozialistischen Rassenideologie insgesamt verstand. Das entspricht auf verfahrensrechtlicher Ebene der ohnehin in diesem Zusammenhang übereifrigen Rolle des Reichsgerichts: Im selben Zeitraum wie die eben angeführten Entscheidungen erging ein Urteil des Großen Senats für Strafsachen, das ohne gesetzliche Grundlage die Geltung des „Blutschutzgesetzes“ mittels einer äußerst weiten, vom nationalsozialistischen Duktus und Geist erfüllten teleologischen Erwägung auf Auslandstaten erstreckte.398 d) Wahrheit, Überzeugung und Wahrscheinlichkeit Die Formel von der Erforschung der („materiellen“) Wahrheit hat sich in der Rechtsprechung des Reichsgerichts ab 1933 erneut als argumentativ vielseitig einsetzbar erwiesen. Es überrascht deshalb nicht, dass das Reichsgericht sich nicht zu ihrem erkenntnistheoretischen Gehalt äußerte. Neben der in verschiedenen Kontexten angeführten „materiellen Wahrheit“ konnten so auch die davon abweichenden Maßstäbe aus der Rechtsprechung vor 1933 fortbestehen: Der dritte Senat behielt den mit der vollen Überzeugung identischen subjektiven Wahrheitsbegriff bei und berief sich auf RGSt 66, 163, 164.399 Der zweite und vor allem der erste Senat hielten dagegen am Wahrscheinlichkeitsmaßstab von RGSt 61, 202, 206 fest.400 Der erste Senat sprach sich 1935 sogar offen gegen die Forderung nach objektiver Wahrheit im Strafprozess aus, ohne aber einen Bezug zum Verfahrensziel der Erforschung „materieller Wahrheit“ herzustellen.401 Dem vierten Senat erschien schließlich hinsichtlich der Kausalität bei Unterlassungsdelikten auch das Kriterium einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu streng. Er ging stattdessen von einer „der allgemeinen Lebenserfahrung entsprechenden hohen Wahrscheinlichkeit“ aus und begründete dies nicht nur mit den Beweisproblemen bei Unterlassungsdelikten und den Erfordernissen einer effektiven Strafrechtspflege, sondern auch mit dem genuin nationalsozialistischen Argument des „gesunden Rechts- und Volksempfindens“.402

398 RGSt 72, 91, 96: „Aber das BlutSchG. ist eines der Grundgesetze des nationalsozialistischen Staates. Es soll die Reinheit des deutschen Blutes als Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes für alle Zukunft sichern. Die Erreichung dieses Zieles würde auf das äußerste gefährdet sein, wenn nicht auch die Möglichkeit bestände, unter bestimmten Voraussetzungen den Täter auch wegen solcher Verbrechen gegen das Gesetz zur Verantwortung zu ziehen, die er außerhalb des Reichsgebietes begangen hat.“ 399 RGSt 72, 155 ff. 400 RG JW 1935, 543 (Nr. 51); RG HRR 1936 Nr. 772; RGSt 75, 49, 50; 75, 372, 374. 401 RG JW 1935, 543 (Nr. 51); danach setzt die Überzeugung nach § 261 StPO „nicht die Feststellung einer objektiven Wahrheit voraus. Ein solcher Beweis ist kaum je zu erbringen“. 402 S. RGSt 75, 324, 326 f.

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B. Der Wahrheitsbegriff

Als alleiniger Wahrheitsbegriff und oberster Maßstab des nationalsozialistischen Strafverfahrens konnte sich die „materielle Wahrheit“ nach alldem trotz der Normierung der Wahrheitserforschungspflicht im Jahr 1935 in der Rechtsprechung des Reichsgerichts nicht durchsetzen. Die Pflicht zur Erforschung der („materiellen“) Wahrheit entfaltete dort ihre größte Wirkung als Argument auf anderen Gebieten, sei es bei gelegentlichen Versuchen, gesetzgeberische Eingriffe zu begrenzen, sei es bei der weiteren Einschränkung von Mitwirkungsmöglichkeiten des Beschuldigten oder bei der Forderung an die Tatgerichte, das „Blutschutzgesetz“ gründlicher umzusetzen. 3. Der Wahrheitsbegriff in der strafrechtlichen Literatur von 1933 bis 1945 In der Strafverfahrensgesetzgebung ab 1933 haben viele Beteiligte den völkischen Charakter der Pflicht zur Erforschung der „materiellen Wahrheit“ hervorgehoben. Auch in der Rechtsprechung des Reichsgerichts finden sich solche Ansätze. Die einschlägige strafprozessuale Literatur des „Dritten Reichs“ war zum allergrößten Teil ebenfalls dem völkischen Denken verhaftet. a) Die Bedeutung der Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ für das nationalsozialistische Strafverfahren aa) Einbettung des gesamten Strafverfahrens in die nationalsozialistische Ideologie 1934 hatte Carl Schmitt die Rolle von Justiz und Juristen im nationalsozialistischen Staat vorgegeben: Die gesamte Rechtspflege müsse „vom nationalsozialistischen Geist getragen sein“, der Wille Hitlers sei Rechtsgrundlage selbst der Verfassung, und die Juristen als „Führer und Träger der deutschen Rechtsentwicklung“ hätten sich „ in eine auf Artgleichheit gegründete Ordnung“ des Volkes einzufügen.403 Das undeutsche römische Recht habe durch „das Einströmen des jüdischen Gastvolkes“ zu einem dem deutschen Juristen an sich fremden normativistischen Rechtsdenken geführt; man müsse nun „diesen normativistischen Turmbau zu Babel abreißen und ein gesundes, konkretes Ordnungsdenken an seine Stelle setzen“.404 Auch im Strafrecht müsse man statt von der abstrakten Strafdrohung vom konkreten Verbrechen ausgehen;405 statt nulla poena sine lege soll nach Schmitt nun „nullum crimen sine poena“ als die „höhere und stärkere Rechtswahrheit“ gelten406.

403 404 405 406

C. Schmitt, DJZ 1934, Sp. 691, 695, 698 (Hervorhebung im Original). Ders. DR 1934, 225, 226 (Hervorhebung im Original). Ebd., 227. Ders., DJZ 1934, Sp. 691.

III. Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren des „Dritten Reichs“

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Das Strafverfahren sollte ebenfalls dem völkischen Programm dienen.407 Viele Stellungnahmen aus der Strafrechtswissenschaft belegen eine völlige Identifikation mit den Vorstellungen des nationalsozialistischen Gesetzgebers: Aufgabe des Strafverfahrens ist es demnach, „in bestmöglicher Weise den höchsten Zwecken des Volkes und Staates, also dem lebendigen Organismus des durch Blut und Boden, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengeschweißten Volkes zu dienen“,408 es wird als „Mittel zur Volkserhaltung“ und als „Volksschutzverfahren“ beschrieben409 oder zur „Schutzordnung des Staates vor den Uebergriffen des Rechtsbrechers“ erklärt410. Doch welche Rolle kommt der „materiellen Wahrheit“ in diesem Verfahren zu? bb) Erforschung „materieller Wahrheit“ statt formalisierter Beweisaufnahme Die Erforschung der „materiellen Wahrheit“ ist nach den zeitgenössischen Stellungnahmen das zentrale Prinzip des nationalsozialistischen Strafverfahrens. Freisler identifizierte das Ziel der „materiellen Wahrheitserforschung“ mit dem „Gerechtigkeitszweck“ des Verfahrens.411 Henkel meinte, das Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ werde „die Bedeutung des tragenden Grundpfeilers“ im völkischen Strafverfahren behalten412 und Stock äußerte sich geradezu hymnisch über diesen Grundsatz: „Unlösbar verbunden mit der nationalsozialistischen Idee ist lediglich der Grundsatz der materiellen Wahrheit; er allein entspricht der Gerechtigkeit, dem nationalsozialistischen Ideal des suum cuique und wird das Palladium jedes Strafprozeßrechts der Zukunft bleiben.“413

Wie in der nationalsozialistischen Gesetzgebung steht auch in der strafrechtlichen Literatur die propagierte „materielle Wahrheit“ in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Abbau von Beschuldigtenrechten. Freisler etwa erklärte, dem Verfahrensziel der Erforschung „materieller Wahrheit“ sei nichts abträglicher „als eine Überfülle formaler Bestimmungen“.414 Schon 1934 hatte Siegert „eine radikale 407 Ausführlich zum nationalsozialistischen Strafverfahren I. Müller, Rechtsstaat, S. 74 ff.; überblicksartig zur Wahrheitsproblematik in der NS-Literatur Stamp, Wahrheit, S. 274 ff. 408 Siegert, ZStW 54 (1934), 14, 16 (Hervorhebung im Original). 409 Finke, Liberalismus und Strafverfahrensrecht, § 5 (S. 24); s. auch L. Kühne, Der Verteidiger, S. 50. 410 Sack, Der Strafverteidiger, S. 51 f. 411 Freisler, DtStR 1935, 228, 236. 412 Henkel, DtStR 1935, 129, 144. 413 Stock, Zur Strafprozesserneuerung, S. 35 (Hervorhebungen im Original). 414 Freisler, DtStR 1935, 228, 236; ähnlich Finke, Liberalismus und Strafverfahrensrecht, § 5 (S. 25 f.): „Daneben hergehen muß die Überwindung des Parteiprozesses im zivilprozessualen Sinn, im Zusammenhang mit der im autoritären Strafprozeß in gesteigertem Maße gegebenen Rechtsidee der materiellen Wahrheitserforschung und einem verschärften Legitimitätsprinzip. Unerbittlich streng und schnell müssen alle wahrhaft Schuldigen von der Strafe

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B. Der Wahrheitsbegriff

Abkehr von jedem Formalismus im Prozeß, von jeder Prinzipienreiterei“ verlangt und gefordert: „Die Zwirnsfäden des Beweisantragsrechtes, die Waffengleichheit, der favor defensionis gehören hinaus aus dem nationalsozialistischen Strafprozeß“.415 Die „Hemmungsapparatur“416 der Beschuldigtenrechte bei der Beweisaufnahme galt auch zahlreichen weiteren Autoren als besonders augenfällige Ausprägung des um jeden Preis zu beseitigenden, mit völkischen Verfahrensvorstellungen unvereinbaren Parteiprozesses mit seinem liberalen Konzept des Schutzes von individuellen Freiheitsrechten.417 Daneben taucht das übergeordnete Ziel der Wahrheitserforschung in offen antisemitischen Argumentationsmustern auf. Lothar Kühne beschrieb das frühere Strafverfahren abschätzig so: „Abstraktheit des Denkens und strenger Formalismus, Präjudizienkult und oberflächliche Breitenentwicklung, grenzenlose Relativität, die als sogenannte Objektivität schmackhaft gemacht wurde, gaben einen geradezu üppigen Nährboden für jüdische Literaten, die ihre verstandesmäßigen Fähigkeiten charakterlos und ohne moralische Bindungen rücksichtslos zum Zerspalten ansetzten …“.418

Dem gegenüber stünden im neuen Strafprozess alle Beteiligten nurmehr „im Dienst am Volk, das heißt im Dienst des Rechts und der Wahrheit“.419 cc) Das übergeordnete Ziel der Wahrheitserforschung und die gewandelten Verfahrensrollen von Angeklagtem, Verteidiger und Richter Das Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ hatte auch für das Verständnis der verschiedenen Verfahrensrollen im nationalsozialistischen Strafprozess erhebliche Bedeutung. Verschwinden sollte nach diversen zeitgenössischen Stellungnahmen das Konzept kämpfender, gleichberechtigter Verfahrensbeteiligter und damit eine dialektische Auffassung von Wahrheit im Strafverfahren.420 Dennoch bezeichneten nur wenige Autoren den Beschuldigten als Objekt der Wahrheitser-

erfaßt werden.“; Sack, Der Strafverteidiger, S. 15: „deren strenge Befolgung im Einzelfall der Findung der materiellen Wahrheit, – der das Prozeßgesetz allein dienen soll, – keineswegs nützt, sondern eher schadet“. 415 Siegert, ZStW 54 (1934), 14, 16. 416 Exner, ZStW 54 (1934), 1, 5. 417 Ebd., 4 f., 11 f.; Finke, Liberalismus und Strafverfahrensrecht, § 5 (S. 18, 25 f.), § 10 (S. 53 f.); Henkel, DtStR 1935, 129, 131; L. Kühne, Der Verteidiger, S. 46 ff., 56; vgl. auch Henkel, Strafrichter, S. 47 f., 63 f.; Klee, Bestimmung, S. 144; Sack, Der Strafverteidiger, S. 51 f.; Schäfer, DJ 1935, 991, 993; Schaffstein, DR 1935, 520, 521; Schwabe, Zulässigkeit, S. 57 f. 418 L. Kühne, Der Verteidiger, S. 47. 419 Ebd., S. 56. 420 Finke, Liberalismus und Strafverfahrensrecht, § 9 (S. 48); Henkel, DtStR 1935, 129, 142; ders., DJZ 1935, Sp. 530, 531; Sack, Der Strafverteidiger, S. 77 ff., 93.

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forschung.421 Über die maßgeblich von Henkel entwickelte Konstruktion der „Gleichrichtung der Verfahrenskräfte“ ließ sich weiter seine Subjektstellung behaupten. Danach ist die Erforschung der Wahrheit gemeinsames Ziel aller Verfahrensbeteiligten; der Angeklagte ist nur noch „das Glied der Volksgesamtheit, das im Auf-sich-nehmen der Strafe sich selbst entsühnt und damit seine Zugehörigkeit zum Ganzen wiederherstellt“.422 Ihm fiel damit die sonderbare Rolle zu, als Repräsentant der völkischen Gemeinschaft an seiner eigenen Verurteilung im Namen der Wahrheitserforschung tatkräftig mitarbeiten zu müssen.423 Einige Stimmen befürworteten aufgrund dieser Verfahrenskonzeption sogar eine rechtliche Wahrheitspflicht des Angeklagten.424 Auch der Verteidiger erscheint in der zeitgenössischen Literatur nicht mehr als Beistand des Angeklagten, sondern als Gehilfe des Gerichts und der Staatsanwaltschaft bei der Wahrheitsfindung.425 Er darf keinesfalls „Handlanger asozialer Schädlinge werden“, sondern muss „für die rücksichtslose Ausmerzung des Schuldigen eintreten“, was ihm nur möglich ist, „wenn er ausschließlich der Wahrheit dient“.426 Für den Vorsitzenden schließlich sollte nach einhelliger Ansicht in Übereinstimmung mit den Bestrebungen des Gesetzgebers das „Führerprinzip“ gelten.427 Der so mit gesteigerter Autorität ausgestattete Führer-Vorsitzende, aber auch die Beisitzer galten weiterhin als unabhängig.428 Diese Unabhängigkeit bestand jedoch nur 421 So aber Freisler, DtStR 1935, 228, 233; Peters, ZStW 56 (1936), 34, 38; Siegert, ZStW 54 (1934), 14, 24 („als Untersuchungsobjekt mit seinen Interessen denen der Allgemeinheit unterzuordnen“). 422 Henkel, DtStR 1935, 129, 142 f.; s. auch ders., DJZ 1935, Sp. 530, 531; ähnlich Stock, Zur Strafprozesserneuerung, S. 13, der von der „Zusammenarbeit im gemeinsamen Kampf um die Wahrheit“ spricht und vom Angeklagten fordert, „daß er zu seinen Taten steht, daß er sich zu ihnen bekennt, daß er sie nicht feige ableugnet, sondern sie heldisch bekennt und entschlossen die Folgen auf sich nimmt“. 423 Hegler, Zur Strafprozeßerneuerung, S. 17, begründete dies nicht nur völkisch, sondern auch hegelianisch: „Autoritäres Einheitsprinzip und individualistische Entgegensetzung werden hier in dem dreifachen Hegelschen Sinne ,aufgehoben‘ in der höheren Synthese des Gemeinschaftsgedankens, der gemeinschaftsgebundenen ,Freiheit‘.“; s. auch Sack, Der Strafverteidiger, S. 51 f. 424 Hegler, Zur Strafprozeßerneuerung, S. 40 f.; Henkel, DJZ 1935, Sp. 530, 536 ff.; Stock, Zur Strafprozesserneuerung, S. 13, 17, schlug zudem für bestimmte Fälle den Gebrauch von Zwangsmitteln zur Aussageerzwingung vor. 425 L. Kühne, Der Verteidiger, S. 48, 59; Sack, Der Strafverteidiger, S. 54, 77 ff., 93. 426 L. Kühne, Der Verteidiger, S. 59, 77. 427 Freisler, in: Freisler et al., Der Volksrichter in der neuen deutschen Strafrechtspflege, S. 151, 152 ff.; ders., Schutz des Volkes, S. 2: „Unterführer des Gesetzgebers“; H. Hagemeister, DR 1934, 490 ff.; Henkel, DJZ 1935, Sp. 530, 532; Sack, Der Strafverteidiger, S. 68 ff.; Schwarz, in: Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch, S. 1466; Stock, Zur Strafprozesserneuerung, S. 24 ff.; vgl. zur Staatsanwaltschaft Finke, Liberalismus und Strafverfahrensrecht, § 9 (S. 46). 428 Exner, ZStW 54 (1934), 1, 3: „der unabhängige Wahrheits- und Rechtssucher“.

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innerhalb der Grenzen der nationalsozialistischen Weltanschauung.429 Daher konnte die vom Vorsitzenden geleitete, vorgeblich gemeinschaftliche Erforschung der „materiellen Wahrheit“ von vornherein stets nur auf solche Ziele ausgerichtet sein, die den völkischen Zwecken des Strafverfahrens entsprachen. b) Irrationalismus und Versiegen der erkenntnistheoretischen Diskussion Hatte der Wahrheitsbegriff in der strafrechtlichen Literatur von 1933 bis 1945 auch einen erkenntnistheoretischen Gehalt? Dagegen spricht der ideologische Überbau des gesamten Strafverfahrens. Der nationalsozialistische Strafprozess hatte eine deutlich antirationale Tendenz,430 die in schwülstigen und zugleich ideologisch aufgeladenen Beschreibungen der Wahrheitssuche deutlich wird431. Freisler erklärte, wie der Richter zu verfahren hatte: „Das beste Erkenntnismittel ist das Sichversenken in die Seele und das Gewissen des Volkes selbst als den Urquell des Rechts. Im nationalsozialistischen Staat ist das gleichbedeutend mit dem Sichversenken in den Willen des Führers.“432 Hier ist nicht einmal mehr der Ansatz einer erkenntnistheoretischen Argumentation sichtbar. Jenseits dieser völkischen Rhetorik blieb der Wahrheitsbegriff blass.433 Die neuartigen Ansätze einiger Autoren im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik fanden keine Beachtung mehr. Auch sonst war das theoretische Niveau dürftig. Bemerkenswert ist lediglich der sich deutlich von den stark ideologisch gefärbten Beiträgen seiner Zeitgenossen abhebende Versuch Anraths aus dem Jahr 1934, über die grundsätzliche Struktur des menschlichen Denkens den Strafprozess 429

Finke, Liberalismus und Strafverfahrensrecht, § 10 (S. 51): „Unabhängigkeit des Richters um des Rechtes willen, das dem Schutze des Volkes dient“; Freisler, DJ 1939, 1537, 1544: „Wahrung des Lebensrechtes des Volkes in gerecht eingliedernder und wertender Beurteilung des Volksgenossen ins Ganze durch den frei von Formalfesseln diese Aufgabe erfüllenden, Führer und Volk unlöslich verpflichteten Richter“; Henkel, DtStR 1935, 129, 142: Der Richter sei in seiner Unabhängigkeit „an die Grundsätze des völkischen Führerstaats“ gebunden. 430 Näher I. Müller, Rechtsstaat, S. 186 f. 431 S. nur Hedemann, in: FS Deinhardt, S. 7 ff. (etwa S. 8: „Aber auch unten, wo der Alltag fließt, ist Wahrheit ohne Bekennen fast ein Widerspruch in sich selbst, auch in diesen Regionen ist Wahrheit oft genug zugleich ein Kampf, und Kampf setzt Schärfe voraus. Es geht bei diesem Kampf um hohe Güter, so nüchtern und alltäglich die Atmosphäre sein möge. Denn Wahrheit ist verbunden mit dem Empfinden der Heiligkeit.“ (Hervorhebung im Original); S. 10: „Die Zeitalter sind verschieden in ihrem Verhältnis zur Wahrheit, in ihrem Drange zur Wahrheit und in ihrer Nähe zur Wahrheit. Und damit auch in ihrer Haltung zu einem solchen ewigen, alle Menschen zu Brüdern machenden Naturrecht. Heute wollen uns die ,Allgemeinen Menschenrechte‘ von damals wie Nebelbilder und Traumgedichte anmuten. Volkhaft bedingt, zeitbedingt sehen wir Wahrheit und Gesetze vor uns.“). 432 Freisler, Schutz des Volkes, S. 23. 433 Ein augenscheinliches Beispiel hierfür bietet die ebenso pathetische wie inhaltsleere Kommentierung des § 261 StPO von Niethammer, in: Hartung/Niethammer, Neues Strafverfahrensrecht.

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als kontradiktorisches Verfahren zweier kämpfender Parteien zu verstehen.434 Daneben stößt man auf die alte Gleichsetzung von „wahr“ und „wirklich“,435 die Parallele zur historischen Forschung sowie den Hinweis auf das begrenzte menschliche Erkenntnisvermögen und den daraus folgenden Überzeugungsmaßstab436. Vereinzelt wird auch ein Wahrscheinlichkeitsmaßstab vertreten437 oder es klingen korrespondenztheoretische Vorstellungen an438. All diese Ansätze blieben aber sehr oberflächlich. Die strafrechtliche Literatur liegt damit auf einer Linie mit dem nationalsozialistischen Gesetzgeber. Die Erforschung der „materiellen Wahrheit“ war auch für sie eine ideologisch geprägte Formel, um nationalsozialistische Verfahrensvorstellungen durchzusetzen. Erkenntnistheoretische Fragen spielten dagegen so gut wie keine Rolle. 4. Zusammenfassung Die Erforschung der „materiellen Wahrheit“ war ein für das nationalsozialistische Strafverfahren zentraler Grundsatz. Der Gesetzgeber rechtfertigte damit den fortwährenden Abbau von Mitwirkungsrechten des Beschuldigten und die weitere Ausgestaltung des Verfahrens entsprechend zentralen Elementen der nationalsozialistischen Ideologie. Der Wahrheitsbegriff war bei allen gesetzgeberischen Aktivitäten ideologisch gefärbt und hatte keinen erkenntnistheoretischen Gehalt. Die Rechtsprechung berief sich teilweise auf die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit, um gesetzgeberische Eingriffe in das Beweisrecht zu begrenzen. Dem Reichsgericht kann aber keineswegs eine in größerem Umfang widerständische Rolle zugeschrieben werden. All das, was als Reaktion gerade auf die NS-Gesetzgebung erscheinen könnte, findet sich grundsätzlich bereits in der Rechtsprechung zur Zeit der Weimarer Republik. Die verschiedenen Strafsenate des Reichsgerichts vertraten überdies ab 1935 unterschiedliche, teils dem nationalsozialistischen Gesetzgeber sekundierende Auffassungen zur Reichweite und Nachprüfbarkeit des richterlichen Ermessens bei der Behandlung von Beweisanträgen und zur Zulässigkeit der Beweisantizipation. Im Zuge der Vereinfachungsverordnung von 1939 ließen alle Senate ausdrücklich eine umfassende Beweisantizipation zu und erklärten sie mit § 244 Abs. 2 StPO vereinbar. Das Reichsgericht zog zudem die im Sinne der 434

Anraths, Gestaltung des Strafverfahrens, S. 10 ff. Schwarz, StPO, 4. Aufl., Grundbegriffe 9; ders., StPO, 11. Aufl., Grundbegriffe 10. 436 Kohlrausch, StPO, 24. Aufl., Vor. §§ 244 – 256; Olczewski, Strafverfahren, S. 53, 57; s. auch die Gleichsetzung von Wahrheit und Überzeugung bei Hegler, Zur Strafprozeßerneuerung, S. 24 f. Fn. 20. sowie den Überzeugungsmaßstab bei Hippel, Strafprozess, § 59 (S. 377 f.). 437 Gleispach, Deutsches Strafverfahrensrecht, § 89 (S. 136). 438 Henkel, Das deutsche Strafverfahren, § 26 (S. 144): „ein der Wirklichkeit entsprechendes Bild des Verbrechensvorganges“; Schneickert, Verheimlichte Tatbestände, S. 20: „die mit dem wirklichen Sachverhalt möglichst zusammenfallende Erkenntnis desselben“. 435

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NS-Ideologie verstandene Pflicht zur Wahrheitserforschung heran, um das Verbot der Rügeverkümmerung aufzugeben, und verknüpfte diese Pflicht in einer Reihe von „Rassenschande“-Fällen mit den antisemitischen Zwecken des „Blutschutzgesetzes“. Die Strafrechtswissenschaft hat in zahlreichen Beiträgen der „materiellen Wahrheit“ in Übereinstimmung mit dem Gesetzgeber einen rein völkischen Inhalt zugesprochen. Die übergeordnete Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ war der Gegenentwurf zu einem formalisierten, dem Beschuldigten gewissen Schutz und gewisse Mitwirkungsmöglichkeiten bietenden Beweisrecht. Sie war auch mit einem genuin nationalsozialistischen Verständnis der verschiedenen Verfahrensrollen und einem grundsätzlichen Irrationalismus verbunden. Die bis 1933 reichhaltige erkenntnistheoretische Diskussion fand dagegen ein jähes Ende. Insgesamt besaß die „materielle Wahrheit“ im Strafverfahren des „Dritten Reichs“ keinen erkenntnistheoretisch relevanten Gehalt. Sie war ein ideologischer Kampfbegriff, untrennbar verbunden mit den nationalsozialistischen Zwecken des Strafverfahrens. Terminologisch konnten die Nationalsozialisten allerdings an die Rechtsprechung und Literatur zur „materiellen Wahrheit“ vor 1933 anknüpfen. Sie mussten nurmehr einem seit jeher vagen Grundsatz einen spezifisch nationalsozialistischen Inhalt geben.

IV. Der Wahrheitsbegriff in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur nach dem zweiten Weltkrieg 1. Die Gesetzgebung zu § 244 Abs. 2 StPO in der jungen Bundesrepublik a) Der Rahmen: Gesetzesänderungen im Beweisrecht 1950 Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts“ vom 12. September 1950439 trat der Gesetzgeber der Rechtszersplitterung in den drei westlichen Besatzungszonen entgegen. Die strafprozessualen Regelungen zum Beweisrecht orientierten sich vor allem am Rechtszustand vor 1933. § 244 StPO erhielt einen umfangreichen Katalog von Ablehnungsgründen für Beweisanträge und erlaubte die Ablehnung nur noch durch Gerichtsbeschluss. § 245 StPO führte die Privilegierung präsenter Beweismittel wieder ein. Daneben hielt der Gesetzgeber auch an der erst 1935 Gesetz gewordenen Pflicht zur Erforschung der Wahrheit fest. Die neue Fassung des § 244 Abs. 2 StPO brachte mit dem Merkmal der Entscheidungsrelevanz eine gewisse Beschränkung gegenüber der sehr

439

BGBl. I, 1950, S. 455 ff.

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allgemein formulierten Wahrheitserforschungspflicht des Strafverfahrensänderungsgesetzes von 1935.440 b) Der Wahrheitsbegriff im Gesetzgebungsverfahren aa) Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung Die Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zur Änderung der Strafprozessordnung gab als wichtigstes Ziel an, den spezifisch nationalsozialistischen Normbestand zu beseitigen. Maßgeblich sollte dabei im Einzelfall sein, welches Gedankengut der jeweiligen Norm zugrunde lag: „Soweit dies nicht bereits in den einzelnen Zonen und Ländern geschehen ist, werden die während der Zeit des ,Dritten Reiches‘ ergangenen Gesetze und Verordnungen aufgehoben. Eine Ausnahme wird für diejenigen Vorschriften gemacht, die inhaltlich nicht auf nationalsozialistischen Gedankengängen beruhen, sondern aus dem Gefüge des früheren Rechts heraus das Strafverfahrensrecht (hauptsächlich nach der technischen Seite hin) weiterentwickelt haben.“441

Die 1935 gesetzlich verankerte Pflicht zur Erforschung der Wahrheit sollte – offenbar als eine solche Ausnahme – vollkommen unverändert fortbestehen. Dazu heißt es in der Begründung lapidar, der Entwurf übernehme „den 1935 in die Strafprozeßordnung eingeführten, aber von jeher geltenden und früher aus § 155 Abs. 2 abgeleiteten Grundsatz“ der Wahrheitserforschungspflicht.442 Mit keinem Wort geht die Begründung auf die zentrale Rolle der Erforschung „materieller Wahrheit“ bei der Umgestaltung des Strafverfahrens im nationalsozialistischen Sinne ein, wie sie in den Verlautbarungen der beteiligten Stellen klar zu Tage getreten ist. Ebenso wenig findet Erwähnung, dass die große Mehrheit der Strafrechtswissenschaftler ab 1933 – sei es aus nationalsozialistischer Überzeugung, sei es aus Opportunismus – die „materielle Wahrheit“ ganz im Sinne des damaligen Gesetzgebers ebenfalls als völkischen Kampfbegriff gebraucht hat. bb) Äußerungen des Bundesjustizministers bei der ersten Lesung Im Einklang mit dem Gesetzesentwurf stehen die Äußerungen des Bundesjustizministers Dehler bei der ersten Lesung des Rechtsvereinheitlichungsgesetzes im Bundestag. Dehler betonte das Ziel der Wiederherstellung der Rechtseinheit und daneben die Notwendigkeit, nationalsozialistisches Verfahrensrecht zu beseitigen.443 Als Beispiele für letzteres nannte er das Führerprinzip in der Gerichtsverfassung und

440 441 442 443

S. dazu näher S. 253 ff. BT-Drs. 1/530, Anlage Ia, S. 33. Ebd., S. 47. BT-Prot., 1. Wahlperiode, S. 1433.

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den Abbau von Rechtsbehelfen.444 Zum Problemkreis um Wahrheit im Strafprozess behauptete er dagegen forsch, das deutsche Strafverfahren habe gegenüber dem Verfahren anglo-amerikanischer Prägung „zweifellos den Vorzug, daß es der Wahrheitsforschung im stärkeren Maße dient“.445 Das zeigt nicht nur die fehlende Bereitschaft des Justizministers, sich mit dem völkischen Charakter der „materiellen Wahrheit“ im nationalsozialistischen Strafprozess zu befassen.446 Darin kommt zugleich das alte, schon von Zachariae bestrittene Vorurteil zum Ausdruck, Wahrheit lasse sich nur unter der Herrschaft des inquisitorischen Prinzips – das der nationalsozialistische Strafprozess im Übrigen auf die Spitze getrieben hatte – erreichen. cc) Der Bericht des Rechtsausschusses Schließlich ignorierte auch der Rechtsausschuss des Bundestags den nationalsozialistischen Hintergrund der Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ völlig. Im mündlichen Bericht des Abgeordneten Greve ist nur davon die Rede, die bislang sehr allgemein formulierte Wahrheitserforschungspflicht ausdrücklich auf die für die Entscheidung bedeutsamen Tatsachen und Beweismittel beschränken zu wollen.447 In seiner Argumentation klingt zwar ein gewisses Misstrauen gegenüber einer weiterreichenden Wahrheitsermittlung an. Nirgends ist aber eine Auseinandersetzung mit der wenige Jahre zuvor noch eindeutig völkischen Prägung dieses Verfahrensziels zu erkennen. dd) Schlussfolgerung Kann es sich bei alldem um bloße Nachlässigkeit handeln? Die überragende Bedeutung der „materiellen Wahrheit“ in der Gesetzgebung und Strafrechtswissenschaft des „Dritten Reichs“ lässt nur den gegenteiligen Schluss zu: Die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Stellen haben die nationalsozialistischen Bezüge der Pflicht zur Wahrheitserforschung geflissentlich übersehen.448 Das entsprach dem 444

Ebd. Ebd. 446 Vgl. dazu auch I. Müller, Rechtsstaat, S. 187, der zutreffend auf die völlige Ausblendung des nationalsozialistischen Hintergrunds der Wahrheitserforschungspflicht in der Stellungnahme Dehlers hinweist. 447 BT-Prot., 1. Legislaturperiode, S. 2884; I. Müller, Rechtsstaat, S. 187 mit Fn. 102 meint, dass der Rechtsausschuss versucht habe, das Gericht nicht mehr auf die Erforschung „materieller Wahrheit“, sondern nurmehr auf die Erhebung aller entscheidungserheblichen Beweise zu verpflichten. Dabei übersieht er aber, dass der Rechtsausschuss mit seinem erfolgreichen Änderungsvorschlag ausdrücklich an der Wahrheitserforschungspflicht festgehalten hat. 448 Keineswegs waren aber alle Abgeordneten bereit, das schöngefärbte Bild von Justiz und Strafrechtswissenschaft im Nationalsozialismus insgesamt zu akzeptieren; das zeigt deutlich die erbitterte Debatte über die Rolle der Richter nach 1933, die sich bei der ersten Beratung des Rechtsvereinheitlichungsgesetzes im Anschluss an einige Äußerungen des Justizministers Dehler entspann, s. BT-Prot., 1. Legislaturperiode, S. 1436 ff. 445

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allgemeinen Klima des Verdrängens, Totschweigens und Schönfärbens der nationalsozialistischen Vergangenheit in der jungen Bundesrepublik. Im Bereich des Strafrechts kommt eine ausgeprägte personelle Kontinuität in Justiz und Wissenschaft hinzu449, auf die bei der folgenden Analyse der Rechtsprechung näher einzugehen sein wird. 2. Der Wahrheitsbegriff in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts Die Rechtsprechung zum Wahrheitsbegriff im Strafprozess und zu damit verbundenen Fragen nach 1945 weist viele Kontinuitäten zur Rechtsprechung des Reichsgerichts vor und nach 1933 auf, aber auch manche aufschlussreiche Brüche. Sowohl der Bundesgerichtshof als auch das Bundesverfassungsgericht haben der Erforschung der („materiellen“) Wahrheit weiter große Bedeutung zugesprochen und zugleich den Wahrscheinlichkeits- sowie den Überzeugungsmaßstab aus der reichsgerichtlichen Rechtsprechung aufgegriffen. Argumentativ haben die Gerichte jedoch verschiedene Schwerpunkte gesetzt. Die nun folgende Untersuchung nimmt zunächst die möglichen Hintergründe des anfangs durchaus unterschiedlichen Umgangs mit dem Begriff der „materiellen Wahrheit“ in den Blick, um dann das Verfahrensziel der Wahrheitserforschung und dessen Rolle als Argumentationstopos zu beleuchten. Anschließend sollen die erkenntnistheoretisch relevanten Elemente in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Wahrheitsbegriff analysiert und systematisiert werden, um die Basis für eine Kritik unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten im zweiten Teil der Arbeit zu schaffen. a) Ein blinder Fleck: Die „materielle Wahrheit“ im nationalsozialistischen Strafverfahren Die „materielle Wahrheit“ war zwischen 1933 und 1945 ein für das nationalsozialistische Strafverfahren zentraler, ausschließlich ideologisch bestimmter Begriff. Doch ähnlich wie in der Gesetzgebung der jungen Bundesrepublik blieb auch in der Rechtsprechung jede Auseinandersetzung mit diesem Hintergrund aus. aa) Kontinuitäten: Reichsgericht, NS-Justiz und Bundesgerichtshof Was den Bundesgerichtshof angeht, dürfte die offenkundige Ignoranz gegenüber den ideologischen Facetten der Wahrheitserforschungspflicht bis in die 1960er Jahre hinein maßgeblich mit politisch gewollten institutionellen und personellen Kontinuitäten zu tun gehabt haben: Justiz-Staatssekretär Strauß äußerte bei einer Feierstunde zum 75. Geburtstag des Reichsgerichts im Jahr 1954, am 1. Oktober 1950 sei 449 Zur ebenfalls sehr hohen personellen Kontinuität im Bundesministerium der Justiz s. Görtemaker/Safferling, Die Akte Rosenburg.

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„das Reichsgericht wiedereröffnet“ worden; der Bundesgerichtshof sei nicht als Nachfolger des Reichsgerichts anzusehen, sondern mit diesem identisch.450 Der erste Präsident des Bundesgerichtshofs Weinkauff beschönigte bei diesem Anlass die nationalsozialistisch determinierte Rechtsprechung des Reichsgerichts als eine angeblich erst durch den Rechtspositivismus ermöglichte, temporäre Verirrung („Das RG war damals nicht mehr es selbst“), wies aber ansonsten dem Reichsgericht eine Vorbildfunktion für den Bundesgerichtshof zu.451 Auf personeller Ebene scheiterte eine umfassende Weiterbeschäftigung von Reichsgerichtsmitgliedern zwar an diversen Todesfällen in sowjetischer Haft und Überalterung; immerhin gelangten aber elf frühere Reichsgerichtsräte und Reichsanwälte an den Bundesgerichtshof.452 Überwältigend ist dagegen die personelle Kontinuität zwischen Bundesgerichtshof und der NS-Justiz insgesamt: Von den im Jahr 1950 an den Bundesgerichtshof berufenen Richtern waren 68 Prozent bereits im höheren Justizdienst des „Dritten Reichs“ tätig gewesen.453 Im Jahr 1956 war die Zahl solcher Richter auf 88 (von 112) und damit auf 79 Prozent gestiegen.454 All diesen Richtern muss der ideologische Hintergrund der „materiellen Wahrheit“ geläufig gewesen sein. Hinzu kommt, dass Strafsenatsvorsitzende wie Baldus, früherer Mitarbeiter in der „Präsidialkanzlei des Führers“, oder Kanter, in Dänemark als Chefrichter der Wehrmacht an wenigstens 103 Todesurteilen beteiligt, persönlich tief in das nationalsozialistische Herrschaftsund Unterdrückungssystem verstrickt waren.455 Diese Umstände legen nahe, dass die Strafrichter des Bundesgerichtshofs kein Interesse an einer näheren Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Leitprinzipien des Strafverfahrens hatten, drohte damit doch das schöngefärbte Bild des Reichsgerichts und der eigenen Rolle nach 1933 ins Wanken zu geraten. Vor diesem Hintergrund wird auch die große Zurückhaltung verständlich, die der Bundesgerichtshof zunächst gegenüber dem ideologisch kontaminierten Begriff der „materiellen Wahrheit“ walten ließ.456 Doch obwohl zumindest die Hemmnisse aufgrund persönlicher Verstrickung längst weggefallen sind, ist der Bundesgerichtshof bis heute mit keiner Silbe auf die ideologischen Altlasten des mittlerweile wieder häufig angeführten gleichnamigen Prinzips eingegangen.

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S. den Bericht in der JZ 1954, 680; näher zur gewünschten institutionellen Kontinuität I. Müller, Furchtbare Juristen, S. 264 f.; Pauli, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts, S. 32 ff. 451 S. JZ 1954, 680. 452 Pauli, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts, S. 32. 453 Rottleuthner, Karrieren und Kontinuitäten, S. 84 f. 454 Ebd. 455 Näher zu diesen Senatsvorsitzenden I. Müller, Furchtbare Juristen, S. 267 f., 274 f. 456 Dieser Terminus findet sich in frühen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs soweit ersichtlich nicht; floskelhaft etwa in BGHSt 17, 388, 390.

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bb) Vergleich mit dem Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht hat sich damit ebenso wenig befasst. Das kann aber – anders als bei den Richtern des Bundesgerichtshofs – zumindest anfangs kaum persönliche Gründe gehabt haben. Im Jahr 1953 waren lediglich drei von 23 Richtern schon vor 1945 Teil der Justiz gewesen.457 Obwohl der Anteil an Verfassungsrichtern, die der NS-Justiz entstammten, im Jahr 1964 auf 50 Prozent gestiegen war458, verwendete das Bundesverfassungsgericht in der Folge unbefangen den Begriff der „materiellen Wahrheit“459. Dabei dürfte seine Stellung im Rechtssystem der Bundesrepublik eine Rolle gespielt haben: Das Bundesverfassungsgericht war im Umgang mit diesem Terminus kaum auf die frühere, teils nationalsozialistisch gefärbte Rechtsprechung des Reichsgerichts angewiesen, sondern konnte ihm davon unbelastet ein neues verfassungsrechtliches Fundament geben. b) Die Erforschung der Wahrheit als Verfahrensprinzip und Argumentationstopos aa) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (1) Die Erforschung der Wahrheit als oberstes Prinzip und dessen Konkretisierung Bereits in einer der ersten Entscheidungen der amtlichen Sammlung griff der Bundesgerichtshof die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1933 zur Bedeutung der Wahrheitserforschung im Strafverfahren auf und erklärte § 244 Abs. 2 StPO zum beherrschenden Grundsatz für alle Verfahrensvorschriften, der auch bei einem ansonsten verfahrensrechtlich ordnungsgemäßen Vorgehen verletzt sein könne.460 Diesen hohen Rang hat er wiederholt hervorgehoben.461 Weniger klar waren hingegen die konkreten Anforderungen, die sich aus § 244 Abs. 2 StPO ergeben sollten. Zur Reichweite der Wahrheitserforschungspflicht haben sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs mehrere voneinander abweichende Formeln herausgebildet, die gleichwohl bis heute nebeneinander und teils auch kombiniert Verwendung finden: Nach BGHSt 3, 169, 175 soll § 244 Abs. 2 StPO erst dann verletzt sein, „wenn der Tatrichter die Pflicht zur Wahrheitserforschung verkannt oder ihr zuwidergehandelt hat, obwohl der ihm bekannte Sachverhalt zur Benutzung weiterer Beweismittel drängte oder diese mindestens nahelegte“. Diese Wendung findet sich in zahlreichen späteren Entscheidungen.462 Der Bundesgerichtshof formulierte allerdings in NJW 1951, 283 den 457

Rottleuthner, Karrieren und Kontinuitäten, S. 85 f. Ebd. 459 S. die nachfolgenden Ausführungen zur Wahrheitserforschungspflicht als Argumentationstopos. 460 BGHSt 1, 94, 96. 461 BGHSt 10, 116, 118; 17, 388, 390; 23, 176, 187 f.; 32, 115, 122 f. 462 BGHSt 10, 116, 119; 23, 176, 188; 36, 159, 165 f.; 46, 73, 79; 56, 6, 11; BGH NJW 1967, 299; 1978, 113, 114; 1989, 3294; BGH bei Holtz MDR 1981, 455; 458

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Maßstab für den Fall einer bereits gewonnenen Überzeugung etwas anders. Danach greift die Aufklärungspflicht schon dann ein, „wenn dargetan ist, daß dem Gericht noch Umstände oder Möglichkeiten bekannt waren, die bei verständiger Würdigung der Sachlage begründete Zweifel an der Richtigkeit dieser Überzeugung hätten wecken müssen“. Diese Formel wendet gerade die neuere Rechtsprechung vermehrt an.463 Am weitesten geht die zunächst vom dritten Strafsenat geprägte, mit einigem Pathos („im Ringen um die Wahrheit“) versehene Auffassung, wonach der Richter die Beweismittel ausschöpfen muss, „wenn auch nur die entfernte Möglichkeit einer Änderung der durch die vollzogene Beweisaufnahme begründeten Vorstellung von dem zu beurteilenden Sachverhalt in Betracht kommt“464. Dieser letzte Ansatz ist auch innerhalb der Rechtsprechung auf Kritik gestoßen. So soll keine Pflicht zu „ausufernder Aufklärung“ bestehen, die Wahrheit also nur hinsichtlich rechtlich erheblicher Tatsachen und damit beschränkt auf die zu beurteilende Tat erforscht werden.465 Dieser und andere Restriktionsversuche466 ändern im Ergebnis aber nichts daran, dass alle drei Formeln zum Umfang der Wahrheitserforschungspflicht im konkreten Fall einen erheblichen Interpretationsspielraum lassen. Das kommt indes nicht dem Tatrichter zugute: Nach ständiger Rechtsprechung ist für den Umfang der Aufklärungspflicht nicht dessen Sicht, sondern die des Rechtsmittelgerichts maßgeblich.467 (2) Die Erforschung der Wahrheit als Argumentationstopos ohne erkenntnistheoretischen Gehalt Der Bundesgerichtshof erläutert nirgendwo den Gehalt des Wahrheitsbegriffs, obwohl er häufig die Erforschung der („materiellen“) Wahrheit als Argument anführt. Überzeugend ist das nicht: Wer immer wieder auf einen in der Erkenntnistheorie ebenso zentralen wie umstrittenen Begriff wie den der Wahrheit Bezug nimmt, sollte klar sagen, was er darunter überhaupt versteht. Doch gerade ihre erkenntnistheoretische Unbestimmtheit lässt die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit in Verbindung mit den zu ihrem Umfang geprägten, ebenfalls reichlich offenen Formeln zu einem flexiblen Argumentationstopos werden. Darauf gestützt hat der Bundesgerichtshof über zahlreiche Einzelfragen der Beweiserhebung entschieden BGH MDR 1991, 1024 f.; BGH NStZ 1983, 210; 1990, 384; 1997, 294; BGH bei Becker NStZ-RR 2006, 2, 3; BGH StV 1981, 164, 165; 1983, 90; 1987, 4; 1991, 245; 1993, 114. 463 S. etwa BGH NStZ 2017, 96, 97; BGH NJW 2005, 1381, 1832; so auch schon BGH NStZ 1985, 324, 325; BGH NStZ-RR 1996, 299. 464 BGHSt 23, 176, 187 f.; dieser Maßstab findet sich auch in BGHSt 30, 131, 140; BGH bei Holtz MDR 1981, 455; BGH NStZ 1983, 210; 1990, 394; BGH StV 1981, 164, 165. 465 BGH NStZ 1994, 247, 248 mit Anm. Widmaier; s. auch BGH NStZ 1985, 324, 325. 466 S. BGHSt 30, 131, 140; BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 23; BGH NJW 2005, 1381, 1382; BGH NStZ 1998, 50 f.; 2005, 44, 45; 2017, 96, 97; BGH NStZ-RR 2002, 68; 2013, 725; BGH StV 1996, 249, 250. 467 BGH NJW 2005, 1381, 1382; BGH NStZ 1985, 324, 325; 1998, 209, 210; BGH NStZRR 1996, 299; BGH StV 1983, 90; 1996, 581, 582.

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und etwa zur Heranziehung medizinischer und psychologischer Sachverständiger468 und zur Vernehmung von V-Männern und verdeckten Ermittlern469 eine umfangreiche Kasuistik geschaffen. Wie weit die Korrektur der tatrichterlichen Beweiserhebung anhand der Aufklärungspflicht gehen kann, zeigt exemplarisch der Fall Weinhold. In der den Freispruch des Angeklagten aufhebenden Entscheidung beschrieb der Bundesgerichtshof sehr detailliert, welche Vernehmungen sich dem Schwurgericht aus welchen Gründen hätten aufdrängen müssen.470 Dieser Detailreichtum bei der Betrachtung der Beweislage im konkreten Fall steht in starkem Kontrast zum in dieser und anderen Entscheidungen inhaltlich offengelassenen Wahrheitsbegriff. Diese Unbestimmtheit hat es dem Bundesgerichtshof auch erlaubt, das Pendel in einem bis dahin revisionsrechtlich sakrosankten Bereich in die autoritäre Richtung ausschlagen zu lassen: Als der Große Senat auf den Vorlagebeschluss des 1. Strafsenats471 hin das Verbot der Rügeverkümmerung kippte, stützte er sich maßgeblich auf die nicht weiter begründete Erwägung, auch die Revisionsgerichte seien „der Wahrheit verpflichtet“, weshalb bezüglich prozessual erheblicher Tatsachen aus der Hauptverhandlung „grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen hat, maßgeblich sein“ müsse. Wenig später heißt es ähnlich apodiktisch: „Der Wahrheitspflicht würde nicht dadurch Genüge getan, dass die Wahrheit in eine ,materielle‘ und eine ,formelle‘ bzw. ,prozessuale Wahrheit‘ aufzuspalten wäre. Die Beweisregel des § 274 StPO schafft keinen von der (objektiven) Wahrheit abweichenden Wahrheitsbegriff […]. Die Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO verändert nicht die Tatsachen, macht nicht aus Unwahrheit Wahrheit“.472 Wie problematisch es ist, die Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ als Argumentationstopos bei grundlegenden Fragen heranzuziehen, wird hier sehr deutlich.473 Das argumentative Gewicht der „materiellen Wahrheit“ steht in scharfem Gegensatz zu ihrer inhaltlichen Unklarheit. Die Gleichsetzung von „materieller“ und „objektiver“ Wahrheit ohne jegliche Erklärung, was mit letzterer gemeint ist und warum diese im Strafprozess erreichbar sein soll, muss aus erkenntnistheoretischer Perspektive zusätzliches Befremden auslösen. Das Bundesverfassungsgericht hat gleichwohl die Entscheidung des Großen Senats gebilligt.474

468 469 470 471 472 473 474

S. BGHSt 23, 8, 12; 23, 176; BGH NJW 1967, 299; BGH StV 1991, 245; 1996, 4. S. BGHSt 32, 115, 122 ff.; 36, 159; BGH NJW 1989, 3294; BGH NStZ 1997, 294. S. BGH NJW 1978, 113, 114. NJW 2006, 3582 mit Anm. Widmaier. BGHSt 51, 298, 309 f. (Rn. 42 ff.). Ausführlich zu dieser Entscheidung s. S. 297 ff. BVerfGE 122, 248 ff.

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bb) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Verfahren mit strafrechtlichem Hintergrund spielt die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit eine wichtige Rolle als verfahrensrechtliches Grundprinzip und Argumentationstopos. Dabei lassen sich mehrere, teils kombiniert auftretende verfassungsdogmatische Argumentationslinien unterscheiden, die sich grob nach den Polen Grundrechtsschutz und Eingriffsrechtfertigung ausrichten.475 (1) Grundrechtsschutz Bei der Prüfung von Eingriffen in das Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) entfaltet die Pflicht zur Wahrheitserforschung als Konsequenz des Rechts auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG eine freiheitsschützende Wirkung. Der Richter muss danach den Sachverhalt in einer die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts wahrenden Weise aufklären und seine Entscheidung auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage treffen.476 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Begründungslinie teils um sehr allgemeine Erwägungen ergänzt und etwa die „Idee der Gerechtigkeit“, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Menschenwürde herangezogen.477 Die grundrechtsfreundlichen Aspekte sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Erforschung der „materiellen Wahrheit“ allerdings nicht zentral. (2) Eingriffsrechtfertigung In eine entgegengesetzte Richtung weisen diverse Entscheidungen, die „das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafprozeß“ als Verfassungsgut478 zum Ausgangspunkt der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen machen. Auch das Bundesverfassungsgericht lässt dabei offen, was es unter Wahrheit überhaupt versteht und wie man zu ihr gelangen kann. Der angeführte Maßstab ist deshalb und aufgrund des vagen Begriffs „öffentliches Interesse“ äußerst weit gefasst und sichert dem Bundesverfassungsgericht einen erheblichen Spielraum. Darauf gestützt hat es in einer Reihe von Fällen, die sehr konkrete Fragen des Strafverfahrens betrafen, im Ergebnis zu Lasten der betroffenen Grundrechtspositionen entschieden, etwa bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Beschlagnahme von ärztlichen Karteikarten479, des Zeugnisverweigerungs475 S. dazu die ausführliche Analyse bei Stuckenberg, GA 2016, 689, 690 ff.; dessen Einteilung ist auch Ausgangspunkt der hier unternommenen Analyse. 476 BVerfGE 58, 208, 222; 70, 297, 308; 86, 288, 319; 109, 133, 162; 117, 71, 105; BVerfGK 1, 145, 150; näher Stuckenberg, GA 2016, 689, 690; s. zur Strafvollstreckung die Entscheidungen BVerfG NStZ 2017, 111 f. sowie BVerfG StV 2013, 574. 477 S. Stuckenberg, GA 2016, 689, 690. 478 Zur Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip und der Idee der Gerechtigkeit s. BVerfGE 33, 367, 383. 479 BVerfGE 32, 373, 381.

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rechts für Sozialarbeiter480, der Verwertung heimlicher privater Tonbandaufnahmen481, des Verwertungsverbots der §§ 49 Abs. 1, 61 BZRG482 und der Verwertbarkeit tagebuchartiger Aufzeichnungen des Beschuldigten483. Ihre autoritärste Ausprägung dürfte diese Argumentationslinie in der Entscheidung BVerfGE 77, 65 erreicht haben, die die Beschlagnahme selbst recherchierten Pressematerials für zulässig erklärte und der Strafprozessordnung eine „prinzipielle […] Verpflichtung für jeden Staatsbürger“ entnehmen wollte, „zur Wahrheitsermittlung im Strafverfahren beizutragen und die im Gesetz vorgesehenen Ermittlungshandlungen zu dulden“484. Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote sind bei einer solchen Lesart keine liberal-rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeiten, sondern nurmehr „Ausnahmen von der Pflicht zur umfassenden Aufklärung der materiellen Wahrheit“, die stets die Gefahr bergen, „daß die Gerichte ihre Entscheidungen auf mangelhafter Tatsachengrundlage treffen“.485 Die Pflicht zur Wahrheitserforschung ist damit eher gegen den Beschuldigten gerichtet und geht seinen Rechtspositionen und denen weiterer Betroffener grundsätzlich vor. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Die Begründung und Erweiterung solcher Rechte bedarf daher stets einer Legitimation, die vor dem Rechtsstaatsprinzip Bestand hat“.486 (3) Verfassungsdogmatische Entwicklung Mit der Entscheidung BVerfGE 57, 250 erhielt die Pflicht zur Wahrheitserforschung einen weiteren, etwas verwinkelten verfassungsrechtlichen Unterbau. Nach BVerfGE 57, 250, 274 f. hat der Beschuldigte aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG einen Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Strafverfahren, der weiter im Grundrecht auf Freiheit der Person sowie in der Menschenwürde wurzeln soll. Der Strafprozess habe – hier verwendet das Bundesverfassungsgericht erstmals eine im strafprozessualen Zusammenhang überraschende, civilistische Terminologie – die justizförmige Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und den Grundrechtsschutz des Beschuldigten zum Ziel und müsse das aus der Menschenwürde folgende Schuldprinzip wahren. An dieser Stelle greift die Aufklärungspflicht ein: „Als zentrales Anliegen des Strafprozesses erweist sich daher die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann.“487 Die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit hat damit einen doppelten verfassungsrechtlichen Anker – Recht auf ein faires Verfahren und Schuldprinzip – erhalten. Welchen argumentativen Gebrauch macht 480 481 482 483 484 485 486 487

BVerfGE 33, 367, 383. BVerfGE 34, 238, 248 f. BVerfGE 36, 173, 186. BVerfGE 80, 367, 375. BVerfGE 77, 65, 75. Ebd., 76; so nun auch wieder BVerfG NStZ 2019, 159, 162. BVerfGE 77, 65, 76; BVerfG NStZ 2019, 159, 162. BVerfGE 57, 250, 275 (Hervorhebung im Original).

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das Bundesverfassungsgericht von der so begründeten, aber erkenntnistheoretisch weiterhin vagen Wahrheitserforschungspflicht? Der beschuldigtenfreundliche, individualschützende Aspekt ist erneut die Ausnahme. So soll die Aufklärungspflicht auch angesichts des in der Strafe liegenden besonders schweren Grundrechtseingriffs bei der Strafzumessung durch das Revisionsgericht gem. § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO einen strengeren Maßstab für die Sachverhaltserforschung und -darstellung begründen.488 Häufig zieht das Bundesverfassungsgericht dagegen die nun auch im Schuldprinzip verankerte Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ heran, um Eingriffe in Rechte des Beschuldigten zu rechtfertigen und dessen Verteidigungsmöglichkeiten zu beschränken.489 Das steht in einem Spannungsverhältnis zur Begründung der Wahrheitserforschungspflicht als Konsequenz des individualschützenden Rechts auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, das wiederum mit der Menschenwürde und dem Grundrecht auf Freiheit der Person verbunden ist. Die beiden Begründungsansätze kollidieren insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der Menschenwürde: Diese ist seit jeher der archimedische Punkt im Verfassungsrecht, wenn es um den Schutz der Rechtspositionen des Beschuldigten im Verfahren und allgemein um dessen Subjektstellung geht,490 so auch beim Recht auf ein faires Verfahren. Wenn aber die Pflicht zur Erforschung der „materiellen Wahrheit“ als Bestandteil des Schuldprinzips Grundrechtseingriffe rechtfertigen soll, wird das klassische Menschenwürdeargument in Teilen auf den Kopf gestellt: Es ist dann gerade die hinter dem Schuldprinzip stehende Menschenwürde, die einen autoritäreren Verfahrenszuschnitt und damit Einschränkungen der Subjektstellung des Beschuldigten verlangt. Diese Unstimmigkeiten sind dadurch nicht weniger geworden, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Absprachenurteil aus dem Jahr 2013491 die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit nicht einmal mehr zum Teil aus dem Recht auf ein faires Verfahren, sondern ausschließlich aus dem Schuldprinzip abgeleitet hat492. Denn die problematische Verknüpfung von Menschenwürde und tendenziell die Position des Beschuldigten einschränkender, autoritärer Verfahrensgestaltung bleibt bei dieser Begründung erhalten. All dies lässt die Annahme Stuckenbergs plausibel 488

BVerfGE 118, 212, 230 f. S. BVerfGE 57, 250, 275; 77, 65, 75 f.; 80, 367; 122, 248, 270 ff.; 130, 1, 26 ff.; BVerfG MDR 1984, 284; s. auch BVerfG NJW 2010, 592, 593. 490 S. etwa BVerfGE 56, 37, 41 f., 49; 133, 168, 201 (Rn. 60). 491 Eine aufschlussreiche Analyse des Zusammenhangs zwischen diesem Urteil und wissenschaftlichen Stellungnahmen des Verfassungsrichters (und Berichterstatters im Absprachenurteil) Landau findet sich bei Jahn, GA 2014, 588, 593 ff. 492 S. dazu Stuckenberg, GA 2016, 689, 693, der auf die entscheidende Passage BVerfGE 133, 168, 233 (Rn. 115) hinweist; auf das Schuldprinzip stützen die Wahrheitserforschungspflicht auch BVerfGE 140, 317, 342 f. (Rn. 52), 344 f. (Rn. 56 f.) und BVerfG StV 2017, 361, 362, während BVerfG NStZ 2019, 159, 162 nun wieder „das öffentliche Interesse an vollständiger Wahrheitsermittlung im Strafverfahren“ bemüht. 489

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erscheinen, wonach es dem Gericht eigentlich nicht um einen individualschützenden Schuldgrundsatz, sondern „der Sache nach […] um ein verfassungsrechtliches Gebot der (Schuld-)Vergeltung“ geht493. Das Bundesverfassungsgericht geht solchen Fragen allerdings aus dem Weg. Die zusätzliche verfassungsrechtliche Herleitung der Wahrheitserforschungspflicht aus dem Rechtsstaatsprinzip und der allgemeine Gedanke einer möglichst umfassenden Aufklärung im öffentlichen Interesse bilden im Verbund mit einem sehr inquisitorischen Verfahrensverständnis oft den eigentlichen argumentativen Schwerpunkt einschlägiger Entscheidungen.494 (4) Neuere Beispiele Drei neuere Urteile verdeutlichen die Weiterentwicklung und den variablen Gebrauch des Argumentationstopos der Pflicht zur Wahrheitserforschung: Das Bundesverfassungsgericht hat die geänderte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Rügeverkümmerung gebilligt. Dabei hat es sich nicht nur auf die im Schuldprinzip wurzelnde Pflicht zur Ermittlung des „wahren Sachverhalts“ gestützt, sondern auch die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und damit der „Idee der Gerechtigkeit“ ergebenden Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und „das verfassungsrechtlich abgesicherte öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafprozess“ herangezogen.495 Die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten mussten dahinter zurückstehen. Hinsichtlich der Verwertbarkeit von rechtswidrig erhobenen personenbezogenen Informationen hat es die Abwägungslösung des Bundesgerichtshofs bestätigt und damit die Stellung des Beschuldigten weiter geschwächt. Nach einer Gesamtschau, die die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, die im Schuldprinzip angelegte Pflicht zur „Ermittlung des wahren Sachverhalts“ und den im öffentlichen Interesse an vollständiger Wahrheitsermittlung bestehenden Beschleunigungsgrundsatz berücksichtigt, müssten Beweisverwertungsverbote von Verfassungs wegen eine rechtfertigungsbedürftige Ausnahme bleiben. Denn durch die Beschränkung der Beweismöglichkeiten werde die „Findung einer materiell richtigen und gerechten Entscheidung beeinträchtigt“.496 In seiner Grundsatzentscheidung zu Absprachen im Strafverfahren hat das Bundesverfassungsgericht schließlich zwar die Pflicht zur Erforschung der „materiellen Wahrheit“ allein aus dem Schuldprinzip abgeleitet, sie jedoch erneut mit der rhetorisch überhöhten („ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann“) Gewährleistung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege verbun-

493

Stuckenberg, GA 2016, 689, 693 f. S. BVerfGE 57, 250, 278 ff.; 63, 45, 61 ff.; 77, 65, 75 ff.; 80, 367, 373 ff.; 115, 166, 192; 122, 248, 270 ff.; BVerfG NStZ 2019, 159, 162 f. 495 S. BVerfGE 122, 248, 270 ff. 496 BVerfGE 130, 1, 26 ff. 494

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den.497 Trotz aller grundsätzlichen Erwägungen hat das Gericht dem Gesetzgeber und den Instanzgerichten aber nur unscharfe Grenzen gezogen. (5) Fazit In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nimmt die verfassungsrechtlich uneinheitlich begründete Pflicht zur Erforschung der („materiellen“) Wahrheit einen ähnlich prominenten Rang und eine vergleichbare argumentative Funktion ein wie in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Sie gilt ebenfalls als Grundprinzip des Strafverfahrens. Zudem bleibt in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung der Wahrheitsbegriff als solcher erkenntnistheoretisch ebenso vage wie in den einschlägigen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Daher ist die „materielle Wahrheit“ auch dort kein erkenntnistheoretisch fundiertes Verfahrensziel, sondern ein mit besonderen verfassungsrechtlichen Weihen (Schuldprinzip und Menschenwürde) versehener Argumentationstopos. Das Bundesverfassungsgericht verwendet diesen Topos sehr formelhaft und in der Art einer strafverfassungsrechtlichen invocatio dei. Durch die dahinterstehenden höchstrangigen Verfassungsgüter erscheinen die entsprechenden Argumentationsmuster als nahezu immun gegen methodische Einwände. Unverkennbar ist daneben eine mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur „materiellen Wahrheit“ einhergehende autoritäre Tendenz: Wenn „materielle“ oder „objektive“ Wahrheit – so unklar diese Terminologie selbst auch sein mag – als erreichbares Ziel des Strafprozesses gilt, dann sind tiefe Eingriffe in Grundrechte des Beschuldigten und anderer Betroffener sowie Beschränkungen der Verteidigungsmöglichkeiten viel eher zu legitimieren als unter einem bescheideneren (und vielleicht auch erkenntnistheoretisch überzeugenderen) Konzept von Wahrheit im Strafprozess. c) Erkenntnistheoretisch relevante Elemente in der Rechtsprechung zu Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Überzeugung In der bisherigen Analyse ist deutlich geworden, dass die Rechtsprechung mit der Pflicht zur Erforschung der („materiellen“) Wahrheit kaum auf einen bestimmten erkenntnistheoretischen Maßstab Bezug nimmt, sondern diese Pflicht vor allem als flexibel einsetzbaren Argumentationstopos gebraucht. Bis heute ist der Wahrheitsbegriff als solcher in der Rechtsprechung dunkel geblieben. Allerdings finden sich in zahlreichen Entscheidungen zur Amtsaufklärungspflicht und zur freien richterlichen Beweiswürdigung Formulierungen, die Rückschlüsse auf erkenntnistheoretische Annahmen der obersten Gerichte gestatten.

497

BVerfGE 133, 168, 199, 226 f., 233.

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aa) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (1) Anklänge an die Korrespondenztheorie und rein objektives Wahrheitsverständnis Der Bundesgerichtshof verwendet in seiner Rechtsprechung zum Umfang der Aufklärungspflicht eine Wendung, die an ältere Fassungen der Korrespondenztheorie erinnert: Der Richter müsse „die Beweismittel erschöpfen, wenn auch nur die entfernte Möglichkeit einer Änderung der durch die vollzogene Beweisaufnahme begründeten Vorstellung von dem zu beurteilenden Sachverhalt in Betracht kommt“498. Danach stehen sich subjektive Vorstellung und objektiver Sachverhalt gegenüber und müssen durch den Prozess der Beweisaufnahme in Beziehung zueinander gesetzt werden. Wahrheit könnte man damit korrespondenztheoretisch als Übereinstimmung oder wenigstens Annäherung von Vorstellung und Sachverhalt verstehen. Allerdings kann man den Bundesgerichtshof kaum auf ein solches Wahrheitsverständnis festlegen. Denn seine Rechtsprechung zeigt auch eine Feuerbachs Verständnis „materieller Wahrheit“ ähnliche Tendenz, Wahrheit im Strafprozess rein objektiv zu verstehen. Ausgangspunkt ist danach nicht eine individuelle Vorstellung des Richters, die erst mit einem Sachverhalt in Verbindung gesetzt werden muss. Einschlägige Entscheidungen formulieren es gerade umgekehrt: Der Richter muss nurmehr einen bereits bestehenden „wahren Sachverhalt“ erforschen.499 Dieser Sprachgebrauch legt ein subjektunabhängiges Verständnis von Wahrheit nahe. Wahrheit oder Falschheit ist danach keine Eigenschaft von richterlichen Aussagen über Sachverhalte, sondern eine Eigenschaft von Sachverhalten selbst. Mit einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff, der im Kern stets auf einer Relation von menschlichen Urteilen, Aussagen etc. einerseits und Objekten oder Sachverhalten andererseits beruht, ist diese Objektivierung kaum zu vereinbaren. (2) Subjektiver Wahrheitsbegriff Zahlreiche Entscheidungen des Bundesgerichtshofs schlagen indes einen anderen Weg ein. Schon die verschiedenen Formeln zum Umfang der Aufklärungspflicht, sei es der Maßstab des Sich-Aufdrängens weiterer Beweiserhebungen, sei es derjenige der nur entfernten Möglichkeit einer Änderung schon gewonnener Vorstellungen oder derjenige begründeter Zweifel, haben die Überzeugung des Tatrichters zum Bezugspunkt.500 Die ersten Entscheidungen des Bundesgerichtshof zum im Strafverfahren geltenden Maßstab stellen nicht etwa die „materielle Wahrheit“ in den Mittelpunkt, sondern führen die bis auf Boehmer und Beccaria zurückgehende Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Überzeugungsmaßstab fort. Der dritte 498

S. nur BGHSt 23, 176, 187 f.; 30, 131, 142 f. S. bereits BGHSt 23, 8, 12, wo die Annahme eines unabhängig vom Urteilenden existierenden „wahren Sachverhalts“ klar zu Tage tritt; deutlich auch BGH NStZ 2016, 489 unter Bezugnahme auf das Bundesverfassungsgericht: „Aus dem Schuldprinzip folgt die Verpflichtung der Strafgerichte, von Amts wegen den wahren Sachverhalt zu erforschen“. 500 S. nur BGHSt 36, 159, 164 ff.; BGH NStZ 1983, 210; 2017, 96, 97. 499

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Senat ergänzte die frühere Rechtsprechung um ein Argument, das Beccarias Begründung des Gewissheitsmaßstabs moralisch auflädt und den Richter, der trotz der grundsätzlichen menschlichen Unzulänglichkeit Entscheidungen trifft, zum Hüter der Gerechtigkeit selbst erklärt: „Angesichts der durchgängigen Mehrheit dieser Sachverhalte und der beschränkten Mittel menschlichen Erkennens ist ein absolut sicheres Wissen über sie kaum je erlangbar und die abstrakte Möglichkeit des Irrtums so gut wie immer vorhanden. So wenig aber der Mensch überhaupt sich durch diese abstrakte Irrtumsmöglichkeit vom praktischen Handeln abhalten lassen kann, wenn er nicht untergehen will, so wenig darf sich auch der Richter, wenn nicht die Gerechtigkeit Schaden leiden soll, auf die Unmöglichkeit einer absoluten Wahrheitserkenntnis zurückziehen“.501

Der zweite Senat ging ebenfalls vom Kriterium der nach der Lebenserfahrung genügenden Gewissheit aus. Er stützte sich aber nicht etwa auf allgemeine Erwägungen zum Wesen menschlichen Handelns, Erkennens und zur Gerechtigkeit selbst, sondern beschrieb die erforderliche richterliche Gewissheit mit einer nicht eben naheliegenden Unterscheidung: „Sie beruht, der Eigenart geisteswissenschaftlichen Erkennens gemäß, anders als das Ergebnis exakter, naturwissenschaftlicher Forschung nicht auf einem unmittelbar einsichtigen Denken, sondern auf dem Gewicht eines die Gründe klar abwägenden Urteils über den Gesamtzusammenhang eines Geschehens. Für sie ist es erforderlich, aber auch genügend, daß ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit besteht, dem gegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr laut werden können.“502

Die nur „abstrakte“ oder „theoretische“ Möglichkeit eines abweichenden Geschehens darf demnach den Richter nicht an der Verurteilung hindern.503 Diese Entscheidung des zweiten Senats fordert trotz der Formulierung eines bis heute gängigen Maßstabs in zweifacher Hinsicht Widerspruch heraus. Schon die Behauptung, das richterliche Urteil sei ein Fall „geisteswissenschaftlichen Erkennens“, ist weder begründet noch nachvollziehbar.504 Zudem versucht der Senat, die offen zu Tage getretenen Brüche innerhalb des Reichsgerichts zu verdecken, indem er die einander entgegengesetzten Entscheidungen RGSt 61, 202 und 66, 163 gewaltsam zusammenspannt und behauptet, auch in der Rechtsprechung des Reichsgerichts sei stets seine Auffassung von der Natur der richterlichen Überzeugung verfochten worden.505 501

BGH NJW 1951, 83. BGH NJW 1951, 122. 503 Ebd. 504 Kritisch auch Herdegen, in: FS Hanack, S. 311, 315: „im Grunde nichtssagend, in wissenschaftstheoretischer Sicht nicht mehr als Gerede“. 505 BGH NJW 1951, 122; s. auch BGH GA 1954, 152, 153; darin folgt dem Senat Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 60 ff., dessen Behauptung, das Reichsgericht sei einheitlich von einem Überzeugungsmaßstab ausgegangen und Wahrscheinlichkeitserwägungen hätten ihm „vollkommen fern“ gelegen (S. 63), vor einer Analyse der reichsgerichtlichen Rechtsprechung keinen Bestand hat; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 150 f. unterstellt, die 502

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Trotz dieser argumentativen Schwächen verschoben nachfolgende Entscheidungen den Maßstab immer weiter in den subjektiven Bereich. BGH NJW 1953, 283 nahm auf die reichsgerichtliche Rechtsprechung Bezug und erklärte, der Richter verletze seine Aufklärungspflicht nicht, wenn er bereits die feste Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Tatsache gewonnen habe. Wahrheitserforschung und Überzeugungsbildung sind schon hier kaum mehr auseinanderzuhalten. BGH NJW 1951, 325 lehnte jegliches Beweismaß außerhalb der richterlichen Überzeugung ab und sah als einzige Grenze eine „denkgesetzlich unmögliche Grundlage“ an.506 Die Entscheidung BGH GA 1954, 152 formulierte ebenfalls einen rein subjektiven Maßstab: „Für die Verurteilung ist notwendig, aber auch genügend, daß der Sachverhalt für den Tatrichter zweifelsfrei feststeht; diese persönliche Gewißheit ist allein entscheidend“.507 Sie wandte sich zugleich deutlich gegen das in RGSt 61, 202, 206 etablierte Wahrscheinlichkeitskriterium und stellte sich auf die Seite des dritten Senats des Reichsgerichts, der dem ersten Senat in RGSt 66, 163 entgegengetreten sei.508 In der Sache, wenn auch nicht ausdrücklich, war damit bereits der rein subjektive Wahrheitsbegriff von RGSt 66, 163, 164 erreicht.509 Ihren rhetorischen Feinschliff erhielt diese Position schließlich mit der Entscheidung BGHSt 10, 208,510 die die richterliche Überzeugung zum alleinigen Maßstab erklärte: „Freie Beweiswürdigung bedeutet, daß es für die Beantwortung der Schuldfrage allein darauf ankommt, ob der Tatrichter die Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt erlangt hat oder nicht; diese persönliche Gewißheit ist für die Verurteilung notwendig, aber auch genügend. Der Begriff der Überzeugung schließt die Möglichkeit eines anderen, auch gegenteiligen Sachverhalts nicht aus; vielmehr gehört es gerade zu ihrem Wesen, daß sie sehr häufig dem objektiv möglichen Zweifel ausgesetzt bleibt. Denn im Bereich der vom Rechtsprechung habe sich mit dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab nur missverständlich ausgedrückt; ebenso Stamp, Wahrheit, S. 166; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 201 mit Fn. 229 macht in den Reichsgerichtsentscheidungen nur „gewisse Widersprüche“ aus; anders zurecht Herdegen, in: FS Hanack, S. 311 ff., 315. 506 „Die richterliche Überzeugung von der Schuld des Angeklagten braucht nicht das Ergebnis zwingender Schlüsse aus den einzelnen Beweistatsachen zu sein. Auch Erwägungen, die denkgesetzlich oder nach der allgemeinen Lebenserfahrung nur möglich sind, vermögen die richterliche Überzeugung vom Tathergang zu stützen; denn es gibt keine Norm dafür, welche Überzeugung der Richter bei einem bestimmten objektiven Beweisergebnis haben müsse oder dürfe oder nicht haben dürfe. Nur auf eine denkgesetzlich unmögliche Grundlage darf das Gericht seine Überzeugung nicht stützen.“ 507 Hervorhebungen im Original. 508 BGH GA 1954, 152, 153; dabei wird jedoch dem ersten Strafsenat des Reichsgerichts unterstellt, eigentlich keine abweichende Position vertreten, sondern dem rein subjektiven Maßstab lediglich „eine bedenkliche und mißverständliche Fassung“ gegeben zu haben. Mit dem Wortlaut von RGSt 61, 202, 206 ist diese Behauptung nicht zu vereinbaren. 509 Anders als der dritte Strafsenat des Reichsgerichts spricht der Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung nicht offen von einer mit der Überzeugung identischen „subjektiven“ oder „relativen“ Wahrheit. 510 Herdegen, in: FS Hanack, S. 311, 320 nennt diese Entscheidung „die stärkste Stütze der subjektivistischen Beweiswürdigungstheorie“ und macht ihre „verführerische Rhetorik“ dafür verantwortlich, dass die Rechtsprechung weiter an ihrem Maßstab festhält.

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B. Der Wahrheitsbegriff

Tatrichter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit ein absolut sicheres Wissen über den Tathergang, demgegenüber andere Möglichkeiten seines Ablaufs unter allen Umständen ausscheiden müßten, verschlossen.“511

Die Entscheidung erneuert die Kritik am ersten Strafsenat des Reichsgerichts, der den Grundsatz des § 261 StPO nicht richtig wiedergegeben habe, und beruft sich dabei ebenfalls auf die gegenläufige Entscheidung RGSt 66, 163, 164.512 Auch hier ist nicht ausdrücklich von einem subjektiven Wahrheitsbegriff die Rede. Doch der Bundesgerichtshof erwähnt weder § 244 Abs. 2 StPO noch die „materielle Wahrheit“, erklärt allein das Vorstellungsbild des Richters zum Maßstab und schließt sich dem dritten Strafsenat des Reichsgerichts an, der tatrichterliche Überzeugung und „subjektive“ beziehungsweise „relative“ Wahrheit schlicht gleichgesetzt hatte. All das spricht dafür, dass gerade ein solcher rein subjektiver Wahrheitsbegriff etabliert werden sollte. Zahlreiche Entscheidungen folgen diesem Maßstab bis heute.513 Einige Entscheidungen kombinieren den subjektivistischen Ansatz mit Angriffen auf den Wahrscheinlichkeitsmaßstab. So heißt es in BGHSt 36, 386, 390 pejorativ, „daß aus bloßen [Hervorhebung hier] Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten keine Gewißheit begründet werden kann“; eine frühere Entscheidung hatte das Wahrscheinlichkeitskriterium sogar pauschal dem Bereich des Zweifels zugewiesen514. Der streng subjektive Maßstab führt schließlich dazu, dass sogar lebensfremde515 oder angesichts der Beweislage eher unwahrscheinliche516 Annahmen des Tatrichters unbeanstandet bleiben. (3) Tatsachengrundlage und Beweismaß hoher Wahrscheinlichkeit Selbst der äußerst subjektive Ansatz von BGHSt 10, 208 zieht der freien Beweiswürdigung gewisse Grenzen. Demnach ist der Tatrichter „den Gesetzen des Denkens und der Erfahrung unterstellt“; zudem ende die Überzeugungsbildung „naturgemäß“ dann, wenn eine Tatsache nach wissenschaftlichen Erkenntnissen

511

BGHSt 10, 208, 209 (Hervorhebungen im Original). Ebd., 209 f. 513 S. nur BGHSt 25, 365, 367; 26, 56, 63; 29, 18, 20; BGH NStZ 1983, 277, 278; 2004, 35; 2013, 180; 2015, 343; BGH NStZ-RR 2013, 75, 77; 89, 90; 2015, 148; 2016, 54 f.; 117; 222; 2017, 318, 319; BGH StV 2005, 19. 514 BGH bei Dallinger MDR 1969, 154: „Aus der Summe mehrerer Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten, also aus lauter Zweifeln, darf nicht eine Gewißheit konstruiert werden“. 515 BGH NStZ 1984, 180; 2004, 35; BGH NStZ-RR 2003, 371; 2005, 147; 2006, 4 Nr. 13; 2007, 86; 2011, 50. 516 Aus der neueren Rechtsprechung etwa BGH NStZ 2017, 104 f.: Die tatrichterliche Überzeugungsbildung sei „sogar dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise näherliegend gewesen wäre“; solche Aussagen finden sich unter anderem auch in BGH NStZ 2015, 714, 715; BGH NStZ-RR 2013, 75, 77; 89, 90; 2015, 178; 2016, 47 ff.; 54 f.; 2017, 303, 304. 512

IV. Der Wahrheitsbegriff nach dem zweiten Weltkrieg

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feststehe.517 Der Richter darf zudem seine Befugnisse nicht willkürlich ausüben und die Beweiswürdigung muss frei von Widersprüchen, Unklarheiten und Lücken sein.518 All diese Erfordernisse bringen aber keine grundsätzliche Objektivierung des Überzeugungsmaßstabs mit sich, sondern stehen oft etwas unverbunden neben diesem; sie haben die Funktion, irrationale und intransparente Entscheidungsprozesse, die in einem solchen Maßstab durchaus angelegt sind, in einem zweiten Schritt zu begrenzen. Aus revisionsrechtlicher Sicht handelt es sich um auf die Sachrüge hin überprüfbare Anforderungen an die Darstellung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung im Urteil. Demgegenüber haben neuere Entscheidungen der persönlichen Gewissheit ein weiteres Kriterium hinzugefügt. Neben der persönlichen Überzeugung des Richters müssen die Urteilsgründe belegen, dass die Beweiswürdigung auf einer „festen“ beziehungsweise „tragfähigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsachengrundlage“ beruht; ansonsten handle es sich um bloße Annahmen oder lediglich verdachtsbegründende Vermutungen.519 Die Wortwahl deutet bereits an, dass es dem Bundesgerichtshof vor allem um Darstellungs- und Argumentationsanforderungen geht. Andere Entscheidungen sprechen deutlicher davon, dem Revisionsgericht solle eine Prüfung „nach den Maßstäben rationaler Argumentation ermöglicht“ werden.520 Dadurch wird der Tatrichter an eine etwas kürzere Leine genommen. Ihm ist es nach diesem Maßstab verwehrt, unter Berufung auf seine vorhandene persönliche Gewissheit intransparent oder offen irrational Feststellungen zu treffen. Allerdings ist ihm damit noch kein bestimmtes objektives Beweismaß vorgegeben. Ein solches hat jedoch eine weitere Strömung in der Rechtsprechung zu etablieren versucht. Der zweite Strafsenat des Bundesgerichtshofs trat in den 1980er Jahren dem verbreiteten subjektivistischen Ansatz entgegen und nahm das Wahrscheinlichkeitskriterium von RGSt 61, 202, 206 wieder auf. Seine Rechtsprechung zur Beweiswürdigung geht maßgeblich auf wissenschaftliche Beiträge seines Senatsvorsitzenden Gerhard Herdegen521 zurück, der sich wiederholt zum kritischen Rationalismus Poppers bekannte und in der reichsgerichtlichen Rechtsprechung zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab damit verwandte Gedankengänge erblickte.522 Die klassische Formulierung dieses Maßstabs findet sich in der ausdrücklich auf Herdegen Bezug nehmenden Senatsentscheidung NStZ 1988, 236, 237, dort allerdings 517

BGHSt 10, 208, 211; s. auch BGHSt 25, 365, 367; 26, 56, 63; zur Bindung an wissenschaftliche Erkenntnisse s. schon BGHSt 5, 34, 35 f. 518 S. nur BGHSt 25, 365, 367; 26, 56, 63; 29, 18, 20; BGH NStZ 2004, 35; 2013, 180; 2015, 343. 519 BGH NJW 2002, 2190, 2191; 2014, 2132, 2133; NStZ 1990, 501; BGH bei Kusch NStZ 1997, 377; BGH NStZ 2015, 343; BGH NStZ-RR 1996, 202; 1997, 42, 43; 1999, 139; 2013, 352; 2015, 87 f.; 2016, 144 ff.; 222; 378; 490, 491; BGH StV 1992, 261, 262; 1993, 510. 520 BGH NJW 2014, 2132, 2133; BGH NStZ-RR 2016, 378. 521 Vorsitzender von 1985 bis 1991. 522 S. Herdegen, NStZ 1987, 193, 197 ff.; ders., in: FS Hanack, S. 311 f., 323 ff.; vgl. auch ders., NJW 1996, 26, 27.

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noch unter dem Aspekt der Übereinstimmung von belastender Zeugenaussage und tatsächlichem Geschehen: „Der Angekl. darf nicht verurteilt werden, wenn Umstände vorliegen oder (als nicht widerlegbar) zu seinen Gunsten angenommen werden müssen, die aus rationalen (intersubjektiv vermittelbaren und einsichtigen) Gründen nicht den Schluß gestatten, daß die Übereinstimmung von Zeugenaussage und dem tatsächlichen Geschehen in hohem Maße wahrscheinlich ist“. Dieses mit erhöhten argumentativen Anforderungen verbundene objektive Beweismaß ergänzt der Senat um das ebenfalls dem rein subjektiven Bereich entzogene, von der argumentativen Kraft der Entscheidung abhängige Negativkriterium des „vernünftigen Zweifels“: „Der ,vernünftige Zweifel‘ hat seine Grundlage in rationaler Argumentation, welche die Indizien, die zugunsten des Angekl. sprechen, vollständig und in ihren sachverhaltsbedeutsamen Aspekten erfaßt. Wo er Platz greift, ist das für eine Verurteilung erforderliche Beweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit nicht zu erreichen.“523

Von der Erforschung „materieller Wahrheit“ ist in der Entscheidung nicht die Rede. Herdegen selbst hat sich später ausdrücklich gegen die Wahrheits- und Wahrheitsüberzeugungsfiktion der sonst von ihm so geschätzten Reichsgerichtsentscheidung RGSt 61, 202, 206 gewandt.524 Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab liegt nicht nur zahlreichen Entscheidungen des zweiten Strafsenats bis heute zugrunde, sondern findet auch in anderen Senaten Anwendung.525 Der zweite Senat formuliert ihn nun allgemein und fordert, dass die tatrichterliche Überzeugung in den Feststellungen und der Beweiswürdigung eine ausreichende Grundlage haben muss; diese Grundlage müsse „den Schluss erlauben, dass das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt“.526 Auf den ersten Blick könnte man darin ein korrespondenztheoretisches Wahrheitsverständnis angelegt sehen. Immerhin geht es dem Senat um die Übereinstimmung von (tatrichterlicher) Aussage und Wirklichkeit. Allerdings vermeidet er es – und mit ihm auch die anderen Senate – in all seinen Entscheidungen zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab einen Bezug zur Wahrheitserforschungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO und zum Terminus „materielle Wahrheit“ herzustellen. Aufschlussreich ist wiederum der wissenschaftliche Beitrag des damaligen Senatsvorsitzenden Herdegen aus dem Jahr 1987, der dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab argumentativ den Weg gebahnt hat. Herdegen lehnt dort unter Verweis auf Popper die 523

BGH NStZ 1988, 236, 237. Herdegen, in: FS Hanack, S. 311, 313: „Ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit kann nicht als Wahrheit gelten und die Meinung des Richters, daß seine Gründe diesem Beweismaß genügen, kann nicht mit Wahrheitsbewußtsein gleichgesetzt werden. Die beiden Fiktionen sind ebenso unnötig wie unhaltbar.“ 525 S. BGH NJW 1990, 2073, 2074; 1992, 921, 923; 1999, 1562, 1564; BGH NStZ 1990, 402; bei Kusch NStZ 1997, 377; 2017, 486, 487; BGH StV 1990, 533, 534; 1993, 510, 511; 1995, 453, 2015, 740. 526 BGH StV 2015, 740; vgl. auch BGH NStZ 2017, 486, 487. 524

IV. Der Wahrheitsbegriff nach dem zweiten Weltkrieg

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Vorstellung einer erreichbaren absoluten Wahrheit ab.527 Auf der Ebene des naiven Realismus sei im Rahmen strafprozessualer Beweisführung der Idealfall der adaequatio rei et intellectus nicht ganz undenkbar und in solchen Konstellationen Wahrheit im korrespondenztheoretischen Sinne erreicht; in aller Regel sei jedoch nur eine Annäherung an die Wahrheit möglich und die tatrichterlichen Erkenntnisse seien bloße Wahrscheinlichkeitsurteile.528 Ein korrespondenztheoretischer Wahrheitsbegriff lässt sich nach alldem der Rechtsprechung zum Beweismaß hoher Wahrscheinlichkeit allenfalls ansatzweise entnehmen. Deutlich zeigt sich darin dagegen die Auffassung, im Strafprozess gehe es regelmäßig überhaupt nicht um Wahrheit, sondern nur um Wahrscheinlichkeit. (4) Ergebnis Einen einheitlichen Wahrheitsbegriff gibt es in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht. Nebeneinander stößt man auf korrespondenztheoretische Spuren, ein rein objektives Verständnis von Wahrheit (Erforschung des „wahren Sachverhalts“), einen verbreiteten, nicht als solchen deklarierten rein subjektiven Wahrheitsbegriff, der auf die reichsgerichtliche Entscheidung RGSt 66, 163, 164 zurückgeht und einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die beiden letztgenannten Ansätze haben § 261 StPO zur gesetzlichen Grundlage. Ihr Verhältnis zu der regelmäßig an § 244 Abs. 2 StPO festgemachten „materiellen Wahrheit“ hat der Bundesgerichtshof nicht erläutert. bb) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1) Objektives Wahrheitsverständnis Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ist unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten deutlich unergiebiger als die des Bundesgerichtshofs. In ihr überwiegt ein objektives Wahrheitsverständnis: Wiederholt ist vom öffentlichen Interesse „an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafprozeß“ die Rede.529 Im Zusammenhang mit einem Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter hat das Bundesverfassungsgericht auch von einer durch die Amtsaufklärungspflicht garantierten „Findung einer materiell richtigen und gerechten Entscheidung“ gesprochen.530 Schließlich betonen viele Entscheidungen bis heute, für den Strafprozess sei die „Ermittlung des wahren Sachverhalts“ zentral.531 Zwar hat sich das Bundesverfassungsgericht mit keiner dieser Formulierungen ausdrücklich auf einen be527

Herdegen, NStZ 1987, 193, 198. Ebd. 529 BVerfGE 33, 367, 383; 34, 238, 248 f.; 36, 173, 186; 77, 65, 76; 80, 367, 375; 122, 248, 273; 130, 1, 26 f. 530 BVerfGE 33, 367, 383. 531 BVerfGE 57, 250, 275; 63, 45, 61; 118, 212, 231; 122, 248, 270; 130, 1, 26; 133, 168, 199. 528

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stimmten Wahrheitsbegriff festgelegt. Seine Wortwahl impliziert aber, dass Wahrheit nichts ist, was auf einer Relation zwischen der Aussage eines Subjekts und einem Objekt oder Sachverhalt beruht (das ist der Kern jeder Form von Korrespondenztheorie), was ein Subjekt herstellt oder was in einem dialektischen Prozess entsteht. Wahrheit ist danach vielmehr als eine von vornherein feststehende, nurmehr aufzufindende oder eben zu ermittelnde Eigenschaft von Sachverhalten selbst anzusehen. In Übereinstimmung hiermit sieht das Bundesverfassungsgericht die Erforschung der Wahrheit unter der Strafprozessordnung durch ein ausgeprägt inquisitorisches Modell gesichert, in dem der Vorsitzende eine starke Stellung einnimmt und die Staatsanwaltschaft keineswegs als Partei zu verorten ist, sondern objektiv auf die Wahrheitsfindung hinarbeitet; die Mitwirkungsrechte des Beschuldigten haben demgegenüber nur eine die Wahrheitsermittlung unterstützende Funktion.532 (2) Andere Ansätze Manche Entscheidungen enthalten dagegen Spuren eines subjektiven Wahrheitsverständnisses. Die ältere Rechtsprechung verbindet gelegentlich das Interesse an möglichst vollständiger Wahrheitsermittlung ohne nähere Erklärung unmittelbar mit der richterlichen Überzeugungsbildung.533 In diese Richtung weist auch die Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Verständigungsgesetzes. Dort meint das Gericht, der Gesetzgeber habe das Fortbestehen der Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ insbesondere durch § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO verdeutlicht534, um dann die Grenze zwischen Sachverhaltsaufklärung beziehungsweise Wahrheitserforschung und Überzeugungsbildung mit einer in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerten Formulierung zu verwischen: „Der Wortlaut von § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO ist eindeutig; die Norm schließt jede Disposition über Gegenstand und Umfang der dem Gericht von Amts wegen obliegenden Pflicht zur Aufklärung des mit der Anklage vorgeworfenen Geschehens aus. Damit wird hervorgehoben, dass eine Verständigung niemals als solche die Grundlage eines Urteils bilden kann, sondern weiterhin allein und ausschließlich die – ausreichend fundierte – Überzeugung des Gerichts von dem von ihm festzustellenden Sachverhalt maßgeblich bleibt.“535

Unklar bleibt hier schon, welche Grenzen der individuellen richterlichen Überzeugung mit dem vagen Hinweis auf das ausreichende Fundament gezogen werden; unklar bleibt aber auch ganz allgemein, ob sich die wenige Seiten zuvor betonte „Ermittlung des wahren Sachverhalts“ und „Erforschung der materiellen Wahrheit“ im Zustandekommen einer subjektiven tatrichterlichen Überzeugung erschöpfen. In diesem Fall hätte man es bei aller rhetorischen Überhöhung der „materiellen Wahrheit“ mit einem rein subjektiven Wahrheitsbegriff zu tun. Der zweite Satz der 532 533 534 535

S. BVerfGE 57, 250, 279 f.; 63, 45, 63; BVerfG NStZ 1987, 419; BVerfG StV 1997, 1, 2. S. BVerfGE 36, 173, 186; 74, 358, 372 f.; 86, 288, 318; vgl. auch BVerfGE 64, 135, 148. BVerfGE 133, 168, 204, 207. Ebd., 207 f.

IV. Der Wahrheitsbegriff nach dem zweiten Weltkrieg

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angeführten Stelle erscheint in Verbindung mit den genannten Formeln geradezu paradox: Warum soll man sich noch eine Überzeugung von etwas bilden, wenn man es pflichtgemäß bereits festgestellt, also diesbezüglich bereits die „materielle Wahrheit“ erforscht hat? Auch die folgenden Passagen bringen keine Klarheit in das Verhältnis von Wahrheitserforschungspflicht und freier richterlicher Überzeugungsbildung, zeigen aber ebenfalls eine Annäherung dieser Prinzipien.536 Das Bundesverfassungsgericht hat sich in einer Kammerentscheidung auch mit dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab des zweiten Strafsenats befasst. In einem Fall, in dem sich das Tatgericht unzureichend mit einem möglichen Alternativtäter auseinandergesetzt hatte, hat es aus dem Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip Anforderungen an die Aufklärungspflicht und Beweiswürdigung abgeleitet.537 Beide Prinzipien stünden „in vielfacher Verschränkung“; § 244 Abs. 2 StPO ziele auf die vollständige Erhebung aller bekannten Beweismittel, § 261 StPO auf die vollständige Beweiswürdigung als Urteilsgrundlage.538 Die folgenden Ausführungen zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind allerdings unzutreffend: Die Kammer suggeriert, die frühere Rechtsprechung, wonach tatrichterliche Schlussfolgerungen nur möglich sein mussten, sei vollständig aufgegeben; „nunmehr“ werde „vorausgesetzt, dass der Schuldspruch auf einer tragfähigen Beweisgrundlage aufbaut, die die objektiv hohe Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit des Beweisergebnisses ergibt“.539 Gleichwohl hat sie diesen Maßstab akzeptiert und insoweit auf verfassungsrechtlicher Ebene fruchtbar gemacht, als sie von der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Tatrichters spricht, „in Wahrung der Unschuldsvermutung […] auch die Gründe, die gegen die mögliche Täterschaft sprechen, wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen“ und dann einzuschreiten, wenn „der rationale Charakter der Entscheidung verloren gegangen scheint und sie keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Freiheitsentziehung sein kann“.540 (3) Ergebnis In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bildet ein rein objektives Wahrheitsverständnis den Schwerpunkt. Allerdings nähert das Gericht das Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ und die richterliche Überzeugungsbildung teils so sehr an, dass sich daraus auch Hinweise auf eine weitgehend subjektive Auffassung von Wahrheit im Strafprozess ergeben. Darüber hinaus hat der objektive Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie ihn insbesondere der zweite Strafsenat des Bundesgerichtshofs geprägt hat, ebenfalls Billigung gefunden. Auch für das Bundesverfassungsgericht kann man aus diesen Gründen in Bezug auf den Strafprozess nicht 536 537 538 539 540

S. BVerfGE 133, 168, 209, 210, 226 f. BVerfG NJW 2003, 2444, 2445 f. Ebd., 2445. Ebd., 2445. Ebd., 2446.

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von einem einheitlichen Wahrheitsbegriff und einem einheitlichen Maßstab sprechen. 3. Bestandsaufnahme der strafrechtlichen Literatur nach 1945 Das folgende Kapitel beschließt den ersten Teil der Arbeit mit einer Bestandsaufnahme der direkt oder indirekt die Wahrheitsproblematik behandelnden strafrechtlichen Literatur nach 1945. Zum einen geht es darum, die zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen knapp nach übergeordneten Gesichtspunkten zu ordnen und dabei insbesondere zu klären, welche philosophischen Wahrheitstheorien die deutsche Strafrechtswissenschaft überhaupt rezipiert hat und welches Gewicht die einzelnen Theorien in der Diskussion einnehmen. Zum anderen soll zu Ansätzen, die im weiteren Verlauf nicht oder nur am Rande thematisiert werden, kurz Stellung genommen werden. Eine ausführliche Diskussion solcher Positionen, die auf einzelne philosophische Wahrheitstheorien Bezug nehmen, erfolgt im zweiten Teil dieser Arbeit. a) Der Rechtsprechung folgende und von einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnis ausgehende Ansätze aa) Die Rechtsprechung zur „materiellen Wahrheit“ aufgreifende Positionen Ein erheblicher Anteil der Literatur folgt den in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts etablierten Formeln zum Verfahrensziel „materieller Wahrheit“ beziehungsweise der Erforschung des „wahren Sachverhalts“, ohne dabei einen Bezug zu philosophischen, insbesondere korrespondenztheoretischen Ansätzen herzustellen.541 Manche Autoren sehen einen „materiellen“ Wahrheitsbegriff in der Verfassung verankert542 oder berufen sich dafür auf implizite Voraussetzungen des einfachen Rechts543. Sie führen allerdings nicht näher aus, inwieweit man nur anhand der gängigen Ausle541

LR/Becker, § 244 Rn. 39; KMR/Eschelbach/Kett-Straub, Einl. Rn. 19 f.; KK/Fischer, Einl. Rn. 3, 12; HK-StPO/Lemke, Einl. Rn. 8, 38, 54; KK/Krehl, § 244 Rn. 28; Meyer-Goßner/ Schmitt, § 244 Rn. 11 (vgl. aber auch § 261 Rn. 1); Pfeiffer, Einl. Rn. 6, § 244 Rn. 1, 8; AKStPO/Schöch, § 244 Rn. 26; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 3 Rn. 1, § 18 Rn. 15 sowie die in den nachfolgenden Fußnoten angeführten Autoren; vgl. auch Kindhäuser/Schumann, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 9 ff.; Peters, Strafprozeß, S. 82. 542 Landau NStZ 2011, 537, 540 f. führt das Schuldprinzip an; Willms, in: FS Dreher, S. 137 f. sieht die richterliche Wahrheitsfindung in Art. 92 und Art. 19 Abs. 4 verankert; hinsichtlich eines nicht unbedingt mit einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff identischen „materiellen“ Wahrheitsbegriffs nimmt auch Radtke, in: FS Schreiber, S. 375, 378 sowie (zurückhaltender) ders., GA 2012, 187, 190 grundgesetzliche Weichenstellungen durch das Rechtsstaats- und Schuldprinzip an. 543 Vgl. Rieß, JR 2006, 269, 273 mit Fn. 32, dessen Formulierung „die Feststellung des wahren, also mit der Wirklichkeit übereinstimmenden Entscheidungssachverhalts“ zudem in Richtung der Korrespondenztheorie weist.

IV. Der Wahrheitsbegriff nach dem zweiten Weltkrieg

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gungsmethoden zu einem bestimmten Wahrheitsbegriff gelangen kann. Heikel ist insbesondere die Argumentation mit äußerst allgemeinen Verfassungsprinzipien, die zwar Autorität suggerieren, aber eigentlich keinerlei erkenntnistheoretisch relevante Schlussfolgerungen erlauben. Andere verweisen auf einen angeblichen Zusammenhang mit dem Inquisitionsprinzip544, den Gegensatz zur formellen Wahrheit des Zivilprozesses545 und auf die Entstehungsgeschichte der Reichsstrafprozessordnung546. Nach den Ergebnissen der hier unternommenen historischen Analyse ist all das sehr zweifelhaft. Mangels eines erkenntnistheoretischen Fundaments bleibt der Begriff der „materiellen Wahrheit“ naturgemäß dunkel. Wenige Autoren treten gewissermaßen die Flucht nach vorn an und lehnen die Auseinandersetzung mit philosophischen Wahrheitstheorien offen und pauschal unter Verweis auf die angeblich allein relevante Praxis ab.547 Eine solche Haltung ist gefährlich: Angesichts dessen, was im Strafprozess auf dem Spiel steht, ist es mehr als angemessen, grundsätzliche Überlegungen zur menschlichen Erkenntnisfähigkeit anzustellen und sie mit der besonderen Struktur des Strafverfahrens zu verknüpfen. Wer das unterlässt, droht Illusionen über die Sicherheit zu erliegen, mit der ein vergangenes Geschehen als Urteilsgrundlage festgestellt werden kann. Abgesehen davon ist der Stand der Wissenschaft allgemein im Strafprozess zu beachten, etwa bei der Erstellung psychiatrischer und psychologischer Gutachten. Weshalb dann der übergeordnete Maßstab unabhängig vom Stand der Erkenntnistheorie zu bestimmen sein soll, erschließt sich nicht.

544

Fezer, NStZ 2010, 177; gegen eine solche angeblich zwingende Verbindung Volk, in: FS Schüler-Springorum, S. 505, 508 f. 545 SSW-StPO/Beulke, Einl. Rn. 54 f.; ders./Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 21; Tenckhoff, Wahrunterstellung, S. 97; gegen das Begriffspaar „materiell“ – „formell“ Volk, in: FS Salger, S. 411, 412. 546 Fezer NStZ 2010, 177 f.; so auch Ignor, in: Strauda-FS, S. 321, 329, der aber meint, der Beschuldigte könne in beschränktem Maße über die Anwendung des zu seinen Gunsten bestehenden Prinzips der Erforschung „materieller Wahrheit“ disponieren (ebd., S. 329 f.). 547 Nach Döhring, Erforschung, S. 6 ff., dessen Ausführungen sich insbesondere gegen Bendix richten, sollen erkenntnistheoretische Bedenken auszuklammern sein, da durch solche rein akademische Zweifel der richterliche Aufklärungswille gelähmt und sein Unternehmungsgeist geschwächt werde; dem „Ergebnis, das zur unmittelbaren Wirklichkeit hindurchdringt“, stünden abzubauende prozessuale Schranken und Mitwirkungsrechte entgegen. Sehr polemisch äußert sich Herzog, GA 2014, 688, 691 unter Verweis auf Weßlau: Das Strafverfahren sei „kein erkenntnistheoretisches Oberseminar“ und der Wahrheitsbegriff als solcher daher dort irrelevant; man habe es mit der „Praxis der Wahrheitsfindung“ zu tun, die in der förmlichen Annäherung der Feststellungen an die Wahrheit bestehe. Damit vertritt er allerdings bereits selbst einen bestimmten Wahrheitsbegriff. Zum polemischen Grundton passt es, dass Herzog ohne weiteres von „verheerenden Wirkungen“ des Relativismus und Konstruktivismus auf die Wissenschaft ausgeht und abschätzig von der „sog. Postmoderne“ spricht (693).

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B. Der Wahrheitsbegriff

Andere bemühen den Gedanken der Rekonstruktion eines historischen Geschehens548 oder den Vergleich mit der Tätigkeit des Historikers549. Hilfreich sind solche vagen, im Fall des theoretisch über unbegrenzte Zeit und eine große Auswahl an Methoden verfügenden Historikers auch unpassende Parallelen nicht. Landau, der Berichterstatter der grundlegenden Absprachenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, zieht hingegen einen Schluss, der angesichts der verfassungsgerichtlichen Redeweise vom „wahren Sachverhalt“ naheliegt, und versteht unter „materieller“ Wahrheit ausdrücklich „objektive“ Wahrheit.550 Damit vertritt er zumindest implizit einen Wahrheitsbegriff, der viel näher bei Feuerbach als bei der Korrespondenztheorie liegt. Was aber genauer unter „objektiver Wahrheit“ zu verstehen ist, bleibt bei ihm ebenso unklar. Andere Versuche, die Formeln der Rechtsprechung zu präzisieren oder zu erweitern, haben ebenfalls mehr Schatten als Licht gebracht.551 Manche Ansätze nehmen diese Formeln zum Ausgangspunkt, gelangen aber zu einem Wahrscheinlichkeits- oder Überzeugungsmaßstab, der mit der zuvor angeführten „materiellen Wahrheit“ kaum vereinbar erscheint.552 Wiederholt wird auch der bloße Annäherungscharakter der Erforschung „materieller Wahrheit“ betont.553 Bemerkenswert ist zuletzt die Erwägung, dieses Prinzip nurmehr als Negativkriterium im Strafprozess einzuordnen554, und seine Betrachtung unter dem Aspekt seiner sozialen Funktion555.

548 Fezer, StV 1995, 95, 96; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 180, 391; s. auch Radtke, GA 2012, 187, 191; SK-StPO/Velten, Vor § 261 Rn. 13. 549 A. Gutmann, JuS 1962, 369, 370 zitiert Ranke („Wie es eigentlich gewesen ist“). 550 Landau, NStZ 2011, 537, 540 f.; unklar Tenckhoff, Wahrunterstellung, S. 97 f., der mit Glaser die zu erforschende Wahrheit als „empirisch-historische und als materiell-objektive“ versteht, diesem Ideal aber das „reale […] Zwischenziel“ der ausschließlich subjektiven Überzeugung des erkennenden Gerichts („nur Eindruck des jeweiligen Richters“) gegenüberstellt (Hervorhebung im Original). 551 S. Schulenburg, Verbot, S. 53 („ein der Wahrheit entsprechendes tatsächliches Geschehen zu rekonstruieren, um ein der Sach- und Rechtslage gerecht werdendes Urteil fällen zu können“); Tenckhoff, Wahrunterstellung, S. 96 mit einer Mittermaier aufgreifenden Formulierung („[…] es soll Wirklichkeit der menschlichen Erkenntnis zugänglich gemacht werden. Stimmt dabei die Erkenntnis mit dem wirklichen Wesen überein, so kommt dem Erkenntnisgegenstand die Eigenschaft ,wahr‘ zu.“); hoffnungslos verklausuliert Van der Ven, in: FS Peters, S. 463, 467 („Das Recht sucht die Wahrheit zur Wirklichkeit um der Gerechtigkeit willen.“). 552 S. A. Gutmann, JuS 1962, 369, 370; Rönnau, Die Absprache, S. 60; Tenckhoff, Wahrunterstellung, S. 97 f.; vgl. auch Volk/Engländer, § 29 Rn. 3 (nur bei subjektiver Überzeugung und dem objektiven Fundament hoher Wahrscheinlichkeit lasse sich von Feststellung der Wahrheit sprechen). 553 S. Rönnau, Die Absprache, S. 60; B. Schmitt, Beweiswürdigung, S. 177, 391, 407; Schulenburg, Verbot, S. 54; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 152. 554 Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 182 f. 555 Ders., ZStW 113 (2001), 271, 277, 303 f.

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bb) Bezugnahme auf einen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff (1) Begründungen für die Verbindung „materieller Wahrheit“ mit einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff Zahlreiche Stimmen verbinden die „materielle Wahrheit“ ausdrücklich oder implizit mit einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnis.556 Die Begründungen dafür sind vielfältig und treten teils kombiniert auf. Einige Autor_innen betonen auch hier den Rekonstruktionsgedanken oder ziehen eine Parallele zur Tätigkeit des Historikers.557 Manche entnehmen dem einfachen Recht die unausgesprochene Annahme, es existierten subjektunabhängige, „feststellbare“ Sachverhalte558 oder erklären gar die Leugnung einer „subjektunabhängigen Realität“ für mit dem geltenden Strafverfahrensrecht unvereinbar559. Radtke verlagert die Frage nach dem Wahrheitsbegriff dagegen auf die Ebene der Übertragbarkeit philosophischer Theorien auf den Strafprozess und gelangt so im Ausschlussverfahren zur Korrespondenztheorie: Diese sei aufgrund von „unüberwindbaren Zweifeln an dem Vorliegen der für andere, vor allem prozedurale Wahrheitsverständnisse notwendigen Vorbedingungen im Strafprozess“ vorzugswürdig.560 In eine vergleichbare Richtung geht ein viel häufiger angeführtes Argument. Danach sei im Strafprozess ein korrespondenztheoretischer Wahrheitsbegriff zugrunde zu legen, weil nur dieser dem Alltagsverständnis von Wahrheit, unserer Lebenswelt und der juristischen Praxis entspreche.561 Volk hat dieses Argument 556

Ausführlich zu den verschiedenen Korrespondenztheorien im Strafprozess S. 174 ff. S. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 5 ff.; Hamm, Die Revision, Rn. 549; Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 26; Käßer, Wahrheitserforschung, S. 68 f., 73; Radtke, GA 2012, 187, 191; Stamp, Wahrheit, S. 67 ff.; vgl. auch Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 542 f., 546, 552; Kunert, GA 1979, 401; dagegen Volk, in: FS Salger, S. 411, 412 f. 558 Rieß, JR 2006, 269, 273 mit Fn. 32: „Dass dem geltenden Prozessrecht, weil es sonst seine Aufgaben nicht erfüllen könnte, die Vorstellung von der Existenz eines objektiven und prinzipiell feststellbaren Geschehens zugrunde liegt, halte ich für kaum bezweifelbar“. 559 So Gössel, Ermittlung, S. 18 (Hervorhebung im Original), der sich zuvor über Seiten hinweg nur auf populärwissenschaftliche Werke Stephen Hawkings gestützt an einem Solipsismus Fichtescher Prägung abarbeitet, den wohl kein Philosoph von Rang im 20. und 21. Jahrhundert überhaupt vertreten hat. Sämtliche modernen philosophischen Wahrheitstheorien neben der Korrespondenztheorie bleiben unerwähnt; zudem verlässt Gössel selbst den Boden der Korrespondenztheorie, wenn er im selben Atemzug mit der „subjektunabhängigen Realität“ von der „subjektunabhängigen Wahrheit“ und (S. 19) vom „real existierenden wahren Sachverhalt“ spricht (Hervorhebungen im Original). 560 Radtke, GA 2012, 187, 190; „verfassungsrechtliche Dignität“ soll dieser Präferenz aber nicht zukommen; s. auch Radtke/Hohmann/Radtke, Einl. Rn. 8, 44. 561 Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 6: „unserem schlichten volkstümlichen und auch dem Alltagsjuristen wie selbstverständlich vorschwebenden Wahrheitsbegriff“; Greco, Strafprozesstheorie, S. 173; Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 175, 178, 184; Stamp, Wahrheit, S. 31, 43, 49; Stuckenberg, in: Schroeder/Kudratov (Hrsg.), Die strafprozessuale Hauptverhandlung, S. 39, 40 f., 42 f. (s. aber auch S. 44 f. zu den diversen Einschränkungen der Wahrheitssuche im 557

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zugespitzt: Da das Strafrecht Instrument der sozialen Kontrolle sei, müsse es aus pragmatischen Gründen auch die gesellschaftlich verbreitete einfache Alltagstheorie von Wahrheit übernehmen.562 (2) Maßgebliche Varianten der Korrespondenztheorie Welche Spielart der Korrespondenztheorie soll nun dem Strafprozess zugrunde liegen? Die meisten Autor_innen führen die von Thomas verbreitete Formel „adaequatio rei et intellectus“ an, ohne auf neuere korrespondenztheoretische Ansätze einzugehen.563 Manche von ihnen versuchen, die klassische Formulierung mit Blick auf den Strafprozess zu präzisieren, zu erweitern oder mit dem Sprachgebrauch der Rechtsprechung zu verbinden. Dabei geraten sie allerdings in Gefahr, allzu unbekümmert erkenntnistheoretisch und ontologisch umstrittene Begriffe zu verwenden564 oder den korrespondenztheoretischen Rahmen ganz zu verlassen565. Die Bildtheorie von Wittgensteins „Tractatus“ wird so gut wie vollständig übergangen.566 Russells moderne Variante der Korrespondenztheorie spielt in der Diskussion ebenfalls keine Rolle. Die fehlende Rezeption dieser komplexen Ansätze mag erklären, warum einige Stimmen die Korrespondenztheorie mit einem grundsätzlich naiven Verständnis von Wahrheit im Strafprozess in Verbindung bringen oder ihr gleich insgesamt erkenntnistheoretische Naivität zuschreiben.567

Strafprozess) ; so jetzt auch Schünemann, StraFo 2015, 177, 179; vgl. zudem Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 17 f. 562 Volk, Wahrheit, S. 7. 563 Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 5 f.; Gössel, Ermittlung, S. 13 f.; Schlüchter, in: FS Spendel, S. 737; dies., Wahrunterstellung, S. 6; vgl. auch Käßer, Wahrheitserforschung, S. 9 ff.; Spendel, JuS 1964, 465 sowie die in den vorhergehenden und folgenden Fußnoten angeführten Autor_innen; kritisch zu einem solchen korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnis im Zusammenhang mit der Fehlurteilsproblematik Kotsoglou, JZ 2017, 123, 127. 564 S. die ohne Problembewusstsein mit den philosophisch äußerst gehaltvollen Begriffen „Beschreibung“, „Wirklichkeit“ und „Tatsache“ jonglierende Definition „materieller Wahrheit“ bei Greco, Strafprozesstheorie, S. 168: „eine sich mit der Wirklichkeit deckende Beschreibung der für die Subsumtion unter eine materiellstrafrechtliche Vorschrift relevanten Tatsachen, also […] eine Beschreibung, die sich unabhängig vom Verfahren, insbesondere vom Willen der Parteien bestimmen lässt“ (Hervorhebung im Original). 565 Gössel, Ermittlung, S. 13 f., 19, will einen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff verfechten, spricht dann aber vom „real existierenden wahren Sachverhalt“ und setzt diesen mit der „materiellen Wahrheit“ gleich (Hervorhebung im Original). 566 Sehr knapp zum „Tractatus“ Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 72; Kotsoglou, der seine begründungstheoretische Arbeit insbesondere auf den späten Wittgenstein stützt, geht auf dessen frühen „Tractatus logico-philosophicus“ nur am Rande ein (s. ders., Forensische Erkenntnistheorie, S. 45, 82, 204); eine Erwähnung von Wittgensteins Sprachgebrauch findet sich bei Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 175, 178. 567 S. LR/Kühne, Einl. H Rn. 25; Radtke, in: FS Schreiber, S. 375, 378; Stamp, Wahrheit, S. 47; Volk, Wahrheit, S. 7; s. auch Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 544 f.

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(3) Verschiedene Wahrheitskriterien Auch unter dem Dach der angeblich klassischen Konzeption herrscht keine Einigkeit über das Wahrheitskriterium. Ein Konzept „empirischer Wahrheit“ hat Käßer vorgelegt.568 Aufbauend auf seinem Verständnis der korrespondenztheoretischen „adaequatio“ als „Entsprechung, Analogizität“ und Carnaps (angeblicher) These, die Diskussion philosophischer Theorien sei für die Erfahrungsebene irrelevant,569 definiert er empirische Wirklichkeit als „Wirklichkeit allein in ihrer gegenwärtigen menschlichen Erfahrbarkeit“ und damit relativ570. Ein Urteil ist empirisch wahr, „wenn es eine Wirklichkeit trifft (wenn es einer Wirklichkeit analog ist), wie sie zur Zeit des Urteils unter Ausschöpfung sämtlicher Erkenntnismittel aller verfügbaren Wissenschaften erfahrbar ist“.571 Um reine, irrationale Subjektivität zu vermeiden, lässt er subjektives Evidenzerleben nicht genügen, sondern verlangt auch „Wahrhaftigkeit“ des Urteilenden und „Intersubjektivität.“572 Andere stellen die allein erreichbare „empirische Wahrheit“ im Sinne Käßers dem „Idealbild“ der „materiellen Wahrheit“ gegenüber573 oder bezweifeln gestützt auf ein empiristisches Wahrheitskriterium, dass im Strafprozess überhaupt ein Verfahrensziel der Wahrheitsermittlung bestehen kann574. Einige Autor_innen verknüpfen hingegen den korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff mit einem Kohärenzkriterium.575 Manche überschreiten dabei die Trennlinie zur Kohärenztheorie der Wahrheit: Hörnle meint, das etablierte Modell im Strafverfahren setze sich aus der Korrespondenztheorie als Wahrheitsdefinition und der Kohärenztheorie des Wiener Kreises als Wahrheitskriterium zusammen.576 Schlüchter will dagegen negative „Konvergenz“ (gemeint ist offenbar Korrespondenz), also das Fehlen von Anhaltspunkten für Widersprüche zwischen Aussage und Wirklichkeit, mit dem positiven Kriterium der Kohärenz kombinieren.577

568 Ein früherer Verfechter von Erfahrung als Wahrheitskriterium ist Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 5 f. 569 Käßer, Wahrheitserforschung, S. 9 ff., 13 f. 570 Ebd., S. 15 f. 571 Ebd., S. 16. 572 Ebd., S. 21 ff., 25 ff. 573 Wenner, Aufklärungspflicht, S. 29. 574 Cuypers, Revisibilität, S. 40 ff., 92 ff. 575 Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 175, 177 ff.; Jung, JZ 2009, 1129, 1130; mit irreführender Terminologie (Thomas von Aquin habe die „Konvergenztheorie“ vertreten) Schlüchter, Wahrunterstellung, S. 6, 8 ff. sowie dies., in: FS Spendel, S. 737 ff.; s. auch Nida-Rümelin, StraFo 2015, 309, 313 f.; unklar Herzog, GA 2014, 688, 694. 576 Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 175, 179. 577 Schlüchter, Wahrunterstellung, S. 9 f.; dies., in: FS Spendel, S. 737, 738 f.; ähnlich J. Schulz, Sachverhaltsfeststellung, S. 245 ff.

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(4) Korrespondenztheoretischer Wahrheitsbegriff als Maßstab für Kritik am Verfahrensziel „materieller Wahrheit“ und Ausgangspunkt weiterer Positionen Eine Reihe von Stellungnahmen nimmt den Wahrheitsbegriff der Korrespondenztheorie zum Prüfstein für das Verfahrensziel „materieller Wahrheit“. Danach ist im Strafverfahren bestenfalls eine Annäherung an Wahrheit möglich, die korrespondenztheoretische „adaequatio“ aber unerreichbar.578 Dieses kritische Potential des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs hat zu sehr unterschiedlichen Positionen geführt. Herdegen gelangt über die Korrespondenztheorie zu einem Wahrscheinlichkeitsmaßstab.579 Andere vertreten einen an Teile der höchstrichterlichen Rechtsprechung angelehnten Überzeugungsmaßstab.580 Volk meint, dass am korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff gemessen im Strafverfahren nur „Teilwahrheiten“ und „Pseudowahrheiten“ zu finden seien; erst die richterliche Überzeugung als „moralische Arbeit“ könne die Verhängung von Strafen legitimieren.581 Schließlich hat Spendel ausgehend von der adaequatio-Formel und dem Problem, ein Wahrheitskriterium zu finden, ein hegelianisches Modell dialektischer Wahrheitsfindung vorgeschlagen. Danach stellen Verteidiger und Staatsanwalt These und Antithese auf, woraus sich Wahrheit in Form der richterlichen Synthese ergibt.582 578 Freund, Normative Probleme, S. 1 f., 53 f. („Die grundsätzliche Bindung des Strafprozesses an das materiellrechtliche Programm verbietet es geradezu, die – rational unerreichbare – materielle Wahrheit als Endziel des Strafprozesses anzusehen.“); Spendel, JuS 1964, 465 f.; Wenner, Aufklärungspflicht, S. 24 f.; so wohl auch Stamp, Wahrheit, S. 156 („daß eine weitestmögliche Annäherung an die Wahrheit im Sinne einer „adaequatio rei et intellectus“ anzustreben ist“); s. auch Duttge ZStW 115 (2003), 539, 545, der Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie allgemein für „niemals erreichbar, geschweige denn für Menschen mit der nötigen definitiven Sicherheit verifizierbar“ erklärt; dennoch hält er am Ziel „zutreffender Rekonstruktion des ,wahren‘ Geschehens“ fest (ebd., 552, s. auch 569); vgl. zudem Leitmeier HRRS 2013, 362; H.-H. Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1. 579 Herdegen, NStZ 1987, 193, 198; NJW 1996, 26, 27; vgl. auch Cuypers, Revisibilität, S. 92 f.; Ignor, in: Strauda-FS, S. 321, 330. 580 Stamp, Wahrheit, S. 20, 169 f., 186 lässt nicht die bloße Existenz einer Überzeugung genügen, sondern hält daneben eine rationale Beweiswürdigung für erforderlich; weitergehend Wenner, Aufklärungspflicht, S. 37: „Als Ergebnis ist somit festzustellen, daß es um die (materielle) Wahrheit geht, von welcher der Richter (subjektiv) überzeugt sein muß: Ist der Richter davon überzeugt, daß es so war, so gilt es als wahr.“, vgl. aber auch S. 242; s. auch Leitmeier, HRRS 2013, 362 ff., der die „materielle Wahrheit“ für unerreichbar, aber dennoch als Verfahrensziel unverzichtbar erklärt, um dann unvermittelt über den Gedanken einer erst im Verfahren zu konstruierenden Wahrheit unter Verweis auf § 261 StPO Wahrheit und richterliche Überzeugung in eins zu setzen. 581 Volk, Wahrheit, S. 8, 10, 12; zustimmend Stamp, Wahrheit, S. 169 f.; später noch kritischer Volk, in: FS Salger, S. 411, 413 ff.: Jedem Sprechen über Realität liege die sehr zweifelhafte Annahme zugrunde, es bestehe ein Bezug zu Fakten; tatsächlich hänge unsere Einordnung von Aussagen als wahr und wirklich von einer plausiblen Erzählstruktur ab, die wiederum von gesellschaftlichen und juristischen Gegebenheiten vorgeformt sei. 582 Spendel, JuS 1964, 465 ff.; dialektische Ansätze finden sich auch bei Käßer, Wahrheitserforschung, S. 26 ff.

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b) Konsensustheorie, Systemtheorie und verwandte Ansätze aa) Konsensustheorie Die Frage, ob und wie die diskursethische Konzeption von Habermas im Strafverfahren nach der Strafprozessordnung Geltung beanspruchen kann, beschäftigt die Strafrechtswissenschaft seit Jahrzehnten. Zum einen geht es dabei um ein allgemeines Struktur- und Übertragungsproblem. Zum anderen kreist die Diskussion um ein konsensustheoretisches Verständnis des Wahrheitsbegriffs. Sie ist in neuerer Zeit durch einige Veröffentlichungen Jahns, Gesetzgebungsaktivitäten auf dem Gebiet der Absprachen im Strafverfahren und damit zusammenhängende Gerichtsentscheidungen nochmals befeuert worden. (1) Allgemein auf den Diskursbegriff Bezug nehmende Konzeptionen Manche Autoren haben diskursethische Elemente unabhängig von der Frage nach dem Wahrheitsbegriff im Rahmen verfahrensrechtlicher Überlegungen herangezogen. So hat Frohn die Wahrheit der Prämissen des klassischen Justizsyllogismus für entbehrlich gehalten; ausreichend sei ein entsprechender Konsens und weiter die Einhaltung aller allgemeinen und juristischen Diskursregeln.583 Lüderssen hat zwar vor einer schlichten Übertragung des Habermasschen Konsensbegriffs auf den Strafprozess gewarnt, aber aus Gründen der Legitimation des Strafverfahrens ein in erheblichem Umfang konsensuales Verfahrensmodell verfochten, das sich dem bestehenden „Kontinuum von Konsensstrukturen“ entnehmen lassen soll.584 Unabhängig von der Frage des Wahrheitsbegriffs ist schließlich auch das Verständnis des Beweisantragsrechts als Mittel, einen „formenstrengen Diskurs zwischen Gericht und Antragsteller“ in Gang zu setzen.585 Problematisch an solchen Ansätzen ist ihr Umgang mit dem Diskurs- und Konsensbegriff. Bei Habermas haben beide Begriffe noch einen (relativ) klar bestimmten Gehalt. Verlässt man dessen Theoriegebäude, droht dieser rasch verloren zu gehen. „Diskurs“ und „Konsens“ werden so zu wachsweichen Begriffen, die man mit allen möglichen Verfahrensstrukturen in Verbindung bringen kann, ohne dass sich daraus viel für deren Verständnis ergibt. (2) Konsensustheoretischer Wahrheitsbegriff Ein konsensustheoretischer Wahrheitsbegriff im Strafprozess fand seit den 1970er Jahren einige Anhänger. Die Begründungen für einen solchen Ansatz sind sehr unterschiedlich: So soll die Konsensustheorie der Wahrheit unter pragmatischen Gesichtspunkten anderen Wahrheitstheorien überlegen sein und damit rechtstheo-

583 584 585

S. 14.

Frohn, Rechtliches Gehör, S. 136. Lüderssen, StV 1990, 415, 417 ff. Börner, StraFo 2014, 133 f.; ähnlich Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht,

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retische Probleme vermeiden können586, aufgrund der Kommunikationsstruktur jeglicher Erkenntnis theoretisch zwingend sein587 oder sich nur, aber in diesem Bereich am besten für die Beurteilung der Wahrheit einzelner theoretischer Aussagen eignen588. Ein ausgefeilteres Modell eines konsensualen Wahrheitsverständnisses im Strafprozess hat Jahn vorgelegt.589 Er verbindet allgemeine Überlegungen zu den verschiedenen Varianten der Diskurstheorie und ihrer Übertragbarkeit auf den Strafprozess mit einer neuartigen Auslegung des Tatbestandsmerkmals „zur Bedeutung“ in § 244 Abs. 2 StPO und verfassungsrechtlichen Argumenten.590 Jahns Vorschlag hat nur geringe Zustimmung erfahren.591 Die Gegner eines konsensustheoretischen Wahrheitsbegriffs im Strafprozess sind seit jeher in der Überzahl. Die Leitlinie hat dabei Hassemer vorgegeben, der einem solchen Wahrheitsverständnis keine genuin philosophischen Einwände entgegengehalten, sondern mit der rechtlichen und tatsächlichen Struktur des Strafprozesses argumentiert hat.592 An diesem Argumentationsschwerpunkt hat sich bis heute nichts geändert, wie die Kritik an Jahns Ansatz zeigt. Vermittelnde Positionen sind selten. Dazu gehört die Differenzierung Kühls zwischen Aussagen über Sinneswahrnehmungen und unmittelbarem Wissen von eigenen Zuständen einerseits und der Konsensustheorie offenstehenden theoretischen Aussagen andererseits.593 Neumann greift diskurstheoretische Elemente insofern auf, als er die Einhaltung aller grundlegenden Verfahrensregeln als „notwendige“, jedoch nicht „hinreichende Bedingung“ einer gerechten Entscheidung ansieht.594

586

Schmidt, JuS 1973, 204, 206 f. So Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 47, 67 ff. im Zusammenhang mit dem Sachverständigenbeweis. 588 Kühl, Prozeßgegenstand, S. 223 ff., 236 ff. 589 Ausführlich dazu S. 238 ff. 590 Jahn, GA 2004, 272, 275 ff.; ders., ZStW 118 (2006), 427, 439 ff.; ders., Gutachten DJT 2008, C 24; ders., in: FS Kirchhof II, § 128 Rn. 8, 19, 25; ders., GA 2014, 588, 595; ders./ Müller, NJW 2009, 2625, 2631; vgl. auch Jahn, „Konfliktverteidigung“ und Inquisitionsmaxime, S. 191 f. 591 S. etwa M. Müller, Probleme, S. 395 f.; differenzierend MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 172 ff.; ders., Gutachten DJT 2010, C 61 ff.; vgl. auch ders., NStZ 2013, 379, 380; zur Kritik an Jahns Ansatz s. S. 239 ff. 592 Hassemer, Einführung, S. 130 ff.; ders., JuS 1980, 890, 894; differenzierend Hamm/ Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, S. 11 (Konsenskriterium „eigentlich zwingend“, aber kein herrschaftsfreier Diskurs im Strafverfahren). 593 Kühl, Prozeßgegenstand, S. 223 ff., 236 ff. 594 Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 69 f. 587

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bb) Systemtheorie Auch wenn Luhmanns Systemtheorie keine philosophische Wahrheitstheorie ist, hat sie doch in der Diskussion um die Ziele gerichtlicher Verfahren eine erhebliche Rolle gespielt. Ein großer Teil der Literatur lehnt die Verfahrenskonzeption Luhmanns ab; die Positionen reichen von moderater Kritik bis zum harschen Vorwurf der Demokratiefeindlichkeit und zynischen Technokratie.595 Dem wird zurecht das Argument entgegengehalten, dass es Luhmann um eine soziologische Beschreibung des Gerichtsverfahrens, nicht aber um eine normative, moralische oder politische Aussage ging.596 Hinsichtlich des Wahrheitsbegriffs hat die hitzig geführte Auseinandersetzung kaum zu aussagekräftigen Ergebnissen geführt. Eine Ausnahme bildet insofern der Ansatz Theiles, Systemtheorie und Konsensustheorie zu verbinden. Theile, der seine Position anhand des Verständigungsgesetzes entwickelt, geht von der Systemtheorie als Rahmen aus; da der stärker differenzierten Gesellschaft die Vorstellung eines Subordinationsverhältnisses nicht mehr gerecht werde, könne aber Wahrheit im Strafprozess nurmehr konsensual im Sinne wenigstens einer Annäherung an die Kriterien der Konsensustheorie verstanden werden.597 cc) Konsensprinzip und Wahrheitsbegriff bei Weßlau Hervorzuheben sind Edda Weßlaus Überlegungen zum Konsensprinzip und Wahrheitsbegriff im Strafverfahren. Weßlau hat gerade nicht einen diskursethischen Ansatz im Sinn, sondern versteht das Konsensprinzip weiter als jede Durchbrechung des Prinzips der „materiellen Wahrheit“, die auch „Zustimmung oder gar bloßes Hinnehmen im Sinne einer Unterwerfung“ umfasst.598 Aus seinem Anwendungsbereich fielen jedoch alle Verfahrensbeendigungen durch alleinige, eigenverantwortliche Entscheidungen des Richters; zu solchen gehörten auch Urteile nach Absprachen.599 Ein Konsens im Sinne Weßlaus liegt dagegen etwa bei Einstellungen

595 S. Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 548 f.; Hassemer, Einführung, S. 92 ff.; Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 41 f. (die „fast schon zynische Beliebigkeit, mit der Luhmann Wahrheit und Macht behandelt“ zeige, „daß er um den Begriff der Wahrheit gar nicht aufrichtig bemüht ist, sondern sich mit pseudorationalen Entlastungen auf die Position eines Systemhygienikers zurückzieht.“); Krauß, in: FS Schaffstein, S. 411, 420 ff.; H.-H. Kühne, GA 2008, 361, 362; ders., Strafprozessrecht, Rn. 1; LR/ders., Einl. B Rn. 22 f.; Mikinovic/Stangl, Strafprozeß und Herrschaft, S. 30 („zutiefst antidemokratisch“); Rottleuthner, KJ 1971, 60, 69 ff. („neue Ideologie der Fellachisierung“); Stamp, Wahrheit, S. 196 ff.; s. auch Tenckhoff, Wahrunterstellung, S. 93; Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, S. 183 f.; in zivilprozessualem Zusammenhang Gilles, in: FS Schiedermair, 183, 186 ff. 596 S. Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 72 f.; Schünemann, StraFo 2015, 177, 178. 597 Theile, NStZ 2012, 666, 667 f., 670. 598 Weßlau, Konsensprinzip, S. 30 ff. 599 Ebd., S. 33 f.; dies., StraFo 2007, 1, 4.

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nach § 153a StPO vor.600 Diesem weiten Konsensprinzip entspricht es, dass Weßlau einen konsensustheoretischen Wahrheitsbegriff unter Verweis auf die Gegebenheiten im Strafprozess ablehnt.601 Maßgeblich soll weiter das Prinzip der „materiellen Wahrheit“ sein, das sie allerdings nur als Beachtung aller verfahrensrechtlichen Gebote zur Annäherung an die letztlich nicht erreichbare Wahrheit versteht.602 Einbußen am Umfang der Wahrheitsermittlung ließen sich durch Einflussmöglichkeiten der Verfahrensbeteiligten legitimieren.603 Am Beispiel des Strafbefehlsverfahrens demonstriert Weßlau ein zweistufiges Modell: Zunächst erwachsen aus dem Richtigkeitsanspruch („materielle Wahrheit“) Anforderungen an eine möglichst vollständige Informationsbasis; ob diese Anforderungen gewahrt sind, richtet sich aber nicht nach der Entscheidung des Richters, sondern nach dem Einverständnis der Verfahrensbeteiligten.604 Zuzustimmen ist Weßlau in ihrer Haltung, erkenntnistheoretische Vorgaben (wie die der Konsensustheorie) an den rechtlichen und tatsächlichen Verfahrensstrukturen zu überprüfen. Was den Wahrheitsbegriff selbst angeht, kommt sie allerdings im Anschluss an Joachim Schulz605 zu einem befremdlichen Ergebnis. Demnach soll Wahrheit im Strafverfahren nichts mit der Welt selbst zu tun haben: „als Bezugspunkte der Wahrheit im Sinne eines (straf-)prozessualen Wahrheitsbegriffs kommen nur sprachliche Gebilde und Konventionen in Betracht, nicht reale Sachverhalte im ontologischen Sinn. Ziel der Wahrheitsfindung im Prozeß ist (nur) die Übereinstimmung der getroffenen Feststellungen mit den sprachlichen Konventionen, die z. B. auch in den Gesetzen und deren Konkretisierungen zum Ausdruck kommen. Der Wahrheitsanspruch richtet sich nicht auf das, was durch die jeweiligen Sachverhaltsfeststellungen oder allgemein durch die Konvention über eine dahinter liegende Wirklichkeit behauptet wird.“606

Nimmt man Weßlau beim Wort, wäre die „Wahrheit“ vor Gericht schnell gefunden. Wahr wäre alles, was dem Gesetz subsumierbar ist, zur einschlägigen Rechtsprechung passt und nicht gegen die Regeln der Grammatik verstößt. Das Gericht müsste einfach nur eine entsprechende Geschichte erzählen. Das kann nicht richtig sein. dd) Dialektische Wahrheitskonzepte Nurmehr von historischem Interesse ist die dialektische Wahrheitskonzeption Meyers, die sich auf einige sehr allgemeine, nicht weiter begründete Erwägungen stützt. Danach bestünden im Strafprozess latente Spannungen, die Dialektik sei im 600 601 602 603 604 605 606

Dies., Konsensprinzip, S. 35 ff. S. ebd., S. 92 ff., 147 ff. Ebd., S. 184 f., 188 f. Ebd., S. 198 f. Ebd., S. 199 ff. S. J. Schulz, Sachverhaltsfeststellung, S. 177, 179 ff. Weßlau, Konsensprinzip, S. 21 f. (ähnlich S. 159; s. auch S. 168).

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menschlichen Denken angelegt und überhaupt sei die „Vielgestaltigkeit des Seienden“ oft nur der Dialektik zugänglich.607 Das erkenntnistheoretische Resultat ist dürftig: Der Strafprozess sei dialektisch, aber nicht als Kampf angelegt, und einheitlich auf Wahrheit und Gerechtigkeit ausgerichtet.608 Auch später stößt man auf dialektische Ansätze. Schild hat sich unmittelbar auf Hegel berufen und versteht den Schuldspruch als das durch prozessordnungsgemäße Rede und Gegenrede (die bei einem schweigenden Angeklagten der Verteidiger vollständig übernimmt) entstandene „gemeinsame Zuschreibungsprodukt von Richter und Angeklagtem“.609 Ingo Müller hat dagegen eine historische Perspektive eingenommen. Ein dialektisches Wahrheitsverständnis sieht er in der liberalen Tradition der Reichsstrafprozessordnung angelegt und durch Autoren wie Franz von Liszt bestätigt.610 c) Rezeption anderer philosophischer Wahrheitstheorien Andere Wahrheitstheorien des 20. und 21. Jahrhunderts fristen in der strafrechtlichen Literatur zum Wahrheitsbegriff im Vergleich zur Korrespondenz- und Konsensustheorie ein Schattendasein. Den Stand der philosophischen Diskussion spiegelt das nicht wider. aa) Der semantische Wahrheitsbegriff Tarskis Tarskis semantischen Wahrheitsbegriff behandeln nur wenige Autor_innen, und dies in aller Regel sehr knapp.611 Näher mit Tarskis Ansatz hat sich dagegen Kotsoglou befasst, dessen „Forensische Erkenntnistheorie“ vor allem auf Wittgensteins „Über Gewißheit“ und Michael Williams’ Rechtfertigungstheorie aufbaut. Die Frage des Wahrheitsbegriffs erklärt Kotsoglou jedoch für irrelevant, da im Prozess stets unter Unsicherheit argumentiert werde und allgemein seit Tarski der Versuch einer allgemeinen Wahrheitsdefinition als unsinnig angesehen werden müsse.612 Er analysiert die Gesetzessprache anhand von Tarskis Maßstäben und kommt zu dem Ergebnis, dass für sie keine Wahrheitsdefinition möglich ist.613 Große Bedeutung hat Tarskis semantischer Wahrheitsbegriff für das Konzept von Paulus. Dieser geht von der „aristotelisch-scholastische[n]“ Fassung der Korrespondenztheorie aus und verwirft sowohl objektive Wahrscheinlichkeit als auch 607

J. Meyer, Dialektik im Strafprozeß, §§ 44 ff., 60, 63 ff. Ebd., § 68. 609 Schild, Strafrichter, S. 74 ff. 610 I. Müller, Rechtsstaat, 183; ders., KJ 1977, 11, 26; ders., Leviathan 1977, 522, 525 f. 611 S. Adomeit, JuS 1972, 628, 629; Greco, Strafprozesstheorie, S. 172; Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 57 f.; Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 175, 178; Stamp, Wahrheit, S. 36 f. 612 Kotsoglou, Forensische Erkenntnistheorie, S. 23; zum Programm seiner Arbeit s. S. 25. 613 Ebd., S. 85 ff. 608

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subjektive Gewissheit als Wahrheitskriterium.614 Zentral sei der Begriff der Überzeugung in § 261 StPO; § 244 Abs. 2 StPO sei im Jahr 1935 angesichts des subjektiven Wahrheitsbegriffs in der Rechtsprechung des Reichsgerichts eine gesetzgeberische Fehlleistung gewesen und die Wendung „zur Erforschung der Wahrheit“ schlicht als Anweisung zur Überzeugungsbildung zu verstehen.615 Ein ontologisches Verständnis von Wahrheit komme nicht in Betracht.616 Die korrespondenztheoretische „adaequatio“ soll stattdessen semantisch aufzufassen sein: „In der formalen Wahrheitsdefinition als adaequatio (Übereinstimmung) intellectus (Vorstellung bzw. Aussage) et rei (rechtsrelevanter Sachverhalt) bedarf die adaequatio im ,prozessualen Raum‘ der meta-sprachlichen Kategorie, einer normativ geforderten ,Überzeugung‘, in der eine ,Tatsache‘ als rechtlich existent und damit über sie als wahr ausgesagt wird.“617

Eine beliebige Überzeugung genüge allerdings nicht. § 261 StPO verlange vielmehr eine hinreichende, rationale Begründung.618 bb) Kohärenztheorien Die verschiedenen Kohärenztheorien der Wahrheit haben in der Diskussion um Wahrheit im Strafprozess nur geringen Einfluss erlangt.619 Sie spielen vor allem dann eine Rolle, wenn es um ein Wahrheitskriterium im Rahmen einer korrespondenztheoretischen Auffassung von Wahrheit im Strafprozess geht.620 Doch auch in dieser Hinsicht kann man nicht von einer umfassenden Rezeption der jeweiligen Theorien sprechen. Wenig Beachtung hat insbesondere die auf ein formallogisches Gerüst gestützte Kohärenztheorie von Nicholas Rescher gefunden, obwohl Rescher den Wert seiner Theorie für polizeiliche Ermittlungen und Gerichtsverfahren eigens hervorgehoben hat621.

614

Paulus, in: FS Spendel, S. 687 f., 690 ff.; ders., in: FS Fezer, S. 243, 248. Ders., in: FS Spendel, S. 687, 689 f.; ders., in: FS Fezer, S. 243, 249 f. 616 Ders., in: FS Spendel, S. 687, 696, 704; ders., in: FS Fezer, S. 243, 249 f. 617 Ebd., S. 243, 250 (Hervorhebungen im Original); s. auch ders., in: FS Spendel, S. 687, 696 f.; KMR/ders., § 244 Rn. 6, 19 ff.; ausdrücklich auf Tarski nimmt Paulus aber nur andernorts Bezug (s. ders., in: FS Krause, S. 53, 65 f.). 618 Ders., in: FS Spendel, S. 687, 697 ff., 702, 704 ff. 619 S. die sehr oberflächlichen Stellungnahmen bei Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 62 f., Salas, Kritik, S. 330 f. und J. Schulz, Sachverhaltsfeststellung, S. 248 ff.; bezeichnenderweise schreibt letzterer Nicholas Rescher, den vielleicht wichtigsten Vertreter der Kohärenztheorie, wiederholt im Text und selbst im Literaturverzeichnis falsch („Reescher“); ausführlich zu Bradley, Blanshard und Neurath, aber ohne Bezug zu den rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten im Strafprozess dagegen Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 470 ff. 620 S. Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 175, 179; Schlüchter, Wahrunterstellung, S. 9 f.; dies., in: FS Spendel, S. 737, 738 f. 621 S. Rescher, The Coherence Theory of Truth, S. 300 f. 615

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cc) Deflationistische Theorien Die verschiedenen deflationistischen Wahrheitstheorien sind trotz ihres immensen Einflusses in der philosophischen Diskussion für die Strafrechtswissenschaft weitgehend eine terra incognita geblieben. Die wenigen Autoren, die sich überhaupt diesen Ansätzen zuwenden, belassen es in aller Regel bei ablehnenden Randbemerkungen, die der philosophischen Komplexität nicht gerecht werden.622 Aufgeschlossen steht dem Deflationismus lediglich Kotsoglou gegenüber, der sich maßgeblich auf Michael Williams stützt. Allerdings behandelt auch Kotsoglou den Deflationismus aufgrund der begründungstheoretischen Konzeption seiner Arbeit nur sehr kurz.623 dd) Pragmatische Wahrheitstheorien Eine Handvoll Autor_innen hat sich – wiederum meist sehr knapp624 – mit Wahrheitskonzepten des Pragmatismus befasst. Terminologisch bestehen einige Unklarheiten: Teils soll der pragmatische Wahrheitsbegriff von James ein Unterfall der Korrespondenztheorie sein625, teils die Konsensustheorie von Habermas eine pragmatische Wahrheitstheorie626. Ungeachtet solcher Zuordnungsfragen schlägt einem pragmatischen Wahrheitsverständnis Ablehnung entgegen. Ihm wird Relativismus vorgehalten627, es wird ohne Begründung als für das Strafverfahren irrelevant bezeichnet628, polemisch mit „juristischer Kurzsichtigkeit“ verbunden629 oder soll gleich für das „Ende des Rechts“ stehen630. Verhaltene Zustimmung631 ist eine seltene Ausnahme. Ob dieses überwiegend negative Bild der pragmatischen Wahrheitstheorien gerechtfertigt ist, wird der zweite Teil dieser Arbeit zeigen.

622 S. Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 59, 61 f.; Schmidt, JuS 1973, 204, 205; diesem zustimmend Stamp, Wahrheit, S. 39; auch Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 447 ff., widmet diesen Ansätzen gerade einmal zwei Seiten, während er anderen Wahrheitstheorien deutlich mehr Aufmerksamkeit zukommen lässt. 623 S. Kotsoglou, Forensische Erkenntnistheorie, S. 96 f. 624 Eine Ausnahme bildet Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, S. 416 ff. 625 Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 52. 626 Schmidt, JuS 1973, 204, 206. 627 Hörnle, Rechtstheorie 35 (2004), 175, 180 f. 628 Stamp, Wahrheit, S. 39 f.; so auch Schmidt, JuS 1973, 204, 206 zur Wahrheitstheorie von William James. 629 Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 551. 630 Käßer, Wahrheitserforschung, S. 24 f. 631 S. Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 52 ff.

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d) Mischformen In der strafrechtswissenschaftlichen Literatur stößt man auf Ansätze, die Elemente verschiedener bislang genannter Theorien kombinieren. Hingewiesen wurde bereits auf die gelegentliche Verbindung von Korrespondenz- und Kohärenztheorien. Gewagt erscheinen angesichts der tiefen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Gräben zwischen Popper und Habermas die Überlegungen von Duttge zu Wahrheit als Ziel des Strafprozesses. Duttge verknüpft Poppers Gedanken der Annäherung an die Wahrheit mit dem von Habermas und Alexy stammenden Erfordernis einer Rechtfertigung, die sich am Ideal des rationalen Diskurses orientiert. Damit will er ein letztlich wohl immer noch korrespondenztheoretischen Vorstellungen verhaftetes Programm absichern, das auf die weitestmöglich mit der Realität übereinstimmende Rekonstruktion des relevanten Geschehens zielt.632 Dagegen hat Grasnick ausgehend von der Sprachspielkonzeption des späten Wittgenstein eine „handlungstheoretisch orientierte Wahrheitstheorie“ vertreten.633 Maßgebliche Bedeutung hat in diesem Ansatz aber erneut auch der Diskursgedanke, da der Konsens der Verfahrensbeteiligten die Korrespondenz von Aussagen und Tatsachen ersetzen soll.634 Andere verbinden Gedanken aus Luhmanns Systemtheorie mit Hassemers Konzept einer durch Formen geregelten Verarbeitung von Konflikten635 oder mit der Konsensustheorie der Wahrheit636. Solche Ansätze, die Elemente mehrerer Theorien kombinieren, laufen Gefahr, am Ende kein einziges Konzept mit der gebotenen Sorgfalt zu rezipieren. Wie sich im 632 S. Duttge, ZStW 115 (2003), 539, 544 ff., 552 f.; ähnliche Kombinationen finden sich in Arthur Kaufmanns allerdings auf das Problem der Richtigkeit beziehungsweise Wahrheit von Normen bezogener Konvergenztheorie (s. Kaufmann, ARSP 72 (1986), 425 ff.). Kaufmann hat anhand sehr allgemeiner Erwägungen dem angeblich im Gefolge eines rationalistischen Wissenschaftsbegriffs überbewerteten analytischen Verstand die Vernunft als Garant einheitlichen Wissens vorangestellt. Dabei stützt er sich primär auf Hegel (ebd., 428 ff.). Aus dem so gewonnenen „Vernunftprinzip“ sollen „die drei tragenden Säulen des Diskurses: das Argumentationsprinzip, das Konsens- bzw. Konvergenzprinzip und das Fallibilitätsprinzip“ folgen (ebd., 429). Diese nur vage mit den eigentlichen Ansätzen von Peirce, Apel, Habermas und Popper verbundenen Elemente vereinigt er unter dem Dach der Konvergenztheorie. Unter Konvergenz als Wahrheitskriterium versteht er dabei die „Ineinssetzung verschiedener, von verschiedenen Subjekten herrührender und untereinander unabhängiger Erkenntnisse von demselben Seienden“ (ebd., 441). 633 Grasnick, in: FS Pötz, S. 55, 59 ff.; scharfe Kritik an Grasnick (dessen Positionen im Übrigen schwanken) übt Stübinger, Das „idealisierte“ Strafverfahren, S. 541 ff. (s. etwa S. 541: „Die permanente Berufung auf philosophische Autoritäten kann freilich eine differenzierte Argumentation nicht ersetzen; wer meint, große Freunde zu haben, sollte sich immer wieder vergewissern, ob sie tatsächlich hinter ihm stehen.“). Diese Kritik ist berechtigt, weil Grasnick sich tatsächlich nicht die Mühe macht, die von ihm schlagwortartig genannten, aber oft sehr komplexen Theorien sorgfältig zu rezipieren. 634 Grasnick, in: FS Pötz, S. 66 ff., 74 f. 635 Veen, Beweisumfang, S. 207 ff., 213 ff., 228, 230. 636 Theile, NStZ 2012, 666, 667 f., 670.

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zweiten Teil dieser Arbeit zeigen wird, bleiben dabei regelmäßig wesentliche Voraussetzungen und immanente Beschränkungen der einzelnen Theorien außer Betracht. Gleiches gilt für zentrale Argumente aus der philosophischen Diskussion. Komplexe philosophische (und soziologische) Modelle drohen so zu Steinbrüchen zu werden, aus denen man sich bei Gelegenheit einige Schlagworte („adaequatio“; „Diskurs“; „Kohärenz“; „Komplexitätsreduktion“) holt. e) Weitere Ansätze aa) Verbindung des Wahrheitsbegriffs mit Verfahrenszielen und grundlegenden Verfahrensstrukturen Mehrere Autoren haben versucht, den Wahrheitsbegriff ausgehend vom Ziel des Strafverfahrens zu bestimmen. Die angenommenen Verfahrensziele sind jedoch verschieden. Das hat Auswirkungen auf das jeweilige Wahrheitsverständnis: Rödig hat dem zivil-, verwaltungs- und strafrechtlichen Gerichtsverfahren dieselbe legitimierende Funktion zugesprochen. In jedem Prozess geht es danach um die „Vorbereitung des Einsatzes staatlichen Zwanges zur Durchsetzung des auf seine Durchsetzbarkeit auch angewiesenen Rechts“.637 Ein absoluter oder naturwissenschaftlicher Wahrheitsbegriff mit seinen hohen Anforderungen sei dafür nicht brauchbar; stattdessen soll eine relative, „prozessuale“ Wahrheit Maßstab sein, die Rödig mit der religiösen Wahrheit Averroes vergleicht.638 Diese „prozessuale“ Wahrheit setzt sich aus zwei Elementen zusammen, dem „Kommensurabilitätsprinzip“ („die Wahrheit der gerichtlichen Entscheidung kann gemessen werden, und zwar gemessen an dem Ausmaß, in welchem irgendwelche menschliche Interessen in Erfüllung gehen“) und der je nach Verfahrensgegenstand anders zu ziehenden „Opfergrenze“.639 Müller-Dietz ist dagegen davon ausgegangen, dass das Ziel des Strafprozesses ein gerechtes Urteil sei.640 Der Gerechtigkeitsanspruch sei insofern beschränkt, als man es im Strafrecht nur mit relativer Gerechtigkeit zu tun habe und dieses den Rechtsgüterschutz verfolgen müsse.641 Hegels „Phänomenologie des Geistes“ und moderne kriminalpolitische Vorstellungen gehen bei Müller-Dietz eine unerwartete Verbindung ein: Wahrheit im Prozess sei immer nur vorläufig; der Täter solle nicht ein für allemal abgestempelt werden, sondern die Tat solle als in der Lebensgeschichte verwurzeltes Ereignis verstanden werden; schließlich müsse man sich im Dialog mit ihm „um die Ermittlung geeigneter Grundlagen für eine kriminalpolitisch

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Rödig, Theorie, § 26. Ebd., §§ 26, 41.4, 42.0. Ebd., §§ 42.1 ff. (Hervorhebungen im Original). Müller-Dietz, ZfEvEth 1971, 257, 264. Ebd., 265.

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sinnvolle Behandlung“ bemühen.642 Um das zu erleichtern, solle ein Schuldinterlokut eingeführt werden.643 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Krauß auf etwas anderem Weg. Dieser greift soziologische Einwände gegen das Verfahrensziel „materieller“ Wahrheit auf und schreibt in Luhmannscher Terminologie dem materiellen Strafrecht und dem Strafprozessrecht primär die Funktion der Komplexitätsreduktion zu.644 Ganz will er den Wahrheitsbegriff jedoch nicht aus dem Strafverfahren verbannen und kritisiert, Luhmann habe zu einseitig den Effizienzgedanken verfolgt.645 Müller-Dietz zustimmend sieht er die Verfahrensstruktur durch das materielle Strafrecht und damit den Wahrheitsbegriff durch die dort herrschende Straftheorie determiniert.646 Dogmatisch durch das Schuldprinzip abgesichert stünde noch immer der Vergeltungsgedanke im Vordergrund und habe eine ideologisch motivierte Charakterisierung der Straftat als Übeltat eines angeblich selbstverantwortlichen Täters zur Folge.647 Das schlage sich zwangsläufig im Verfahrensrecht nieder.648 Ein gewisser Ausgleich dazu soll in der stärkeren Berücksichtigung spezialpräventiver Aspekte im Verfahrensrecht und der Einführung eines Schuldinterlokuts bestehen.649 Marxen hat dagegen verfassungsrechtliche Garantien zum Schutz des Beschuldigten hervorgehoben und dem von „Erkenntnisgewißheit“ geprägten Verfahrensverständnis der gängigen Straftatlehre einen „konstitutiven“ Straftatbegriff entgegengehalten.650 Das begründet er mit verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben: Die Unschuldsvermutung erfordere es, die Straftat nicht als gegebenes, nurmehr im Prozess abzubildendes Ereignis anzusehen, sondern sie als Produkt des Prozesses selbst zu verstehen.651 Zudem verlange Art. 103 Abs. 1 GG nicht nur die Beteiligung des Beschuldigten an der Tatsachenermittlung, sondern auch an der relevanten Rechtskonzeption, weil diese die Strafbarkeitsgrenzen ziehe.652 Hinzu tritt ein rechtspolitisches Argument. Da das positive Recht insbesondere durch Generalklauseln an Genauigkeit verliere und eine verfassungsrechtliche Nachprüfung im Wege der Verfassungsbeschwerde für den Beschuldigten regelmäßig unergiebig sei, müsse dieser in einem möglichst frühen Stadium an der „Fixierung der

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Ebd., 267, 271. Ebd., 271 f. Krauß, in: FS Schaffstein, S. 411, 413 ff. Ebd., S. 422. Ebd., S. 423. Ebd., S. 424 ff. Ebd., S. 426 f. Ebd., S. 430. Marxen, Straftatsystem und Strafprozeß, S. 364 f. Ebd. Ebd., S. 365.

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rechtlichen Grenzen der Straftat“ beteiligt werden.653 Seine Konzeption bringt Marxen auf die griffige Formel „Nullum crimen sine reo audito“.654 Alle hier genannten Ansätze enthalten einen zutreffenden Grundgedanken: Was unter Wahrheit im Strafprozess zu verstehen ist, kann man nicht allein von einer erkenntnistheoretischen Warte aus festsetzen. Verfahrensziele und -strukturen können der Übertragung einer philosophischen Wahrheitstheorie (wie überzeugend diese abstrakt auch sein mag) auf den Strafprozess im Wege stehen und sogar einen eigenständigen Wahrheitsbegriff erfordern. Umgekehrt kann eine philosophische Wahrheitstheorie besonders kompatibel mit den rechtlichen Vorgaben des Strafverfahrens und zugleich erkenntnistheoretisch höchst zweifelhaft sein. Die Struktur aller Kapitel im zweiten Teil dieser Arbeit trägt diesen Überlegungen Rechnung. bb) Soziologische, psychologische, anthropologische und kommunikationswissenschaftliche Aspekte In der Diskussion um den Wahrheitsbegriff haben keineswegs nur juristische und philosophische Erwägungen eine Rolle gespielt. Zahlreiche Einwände gegen einen „materiellen“ Wahrheitsbegriff im Strafverfahren entstammen anderen Wissenschaftszweigen. Insbesondere rechtssoziologische und psychologische Forschungsansätze haben das Bild eines unvoreingenommenen, „objektive“ beziehungsweise „materielle Wahrheit“ ermittelnden Richters erschüttert. Mikinovic und Stangl haben einige rechtssoziologische Argumente vorgebracht, um ihr Verdikt zu belegen, dass die Vorstellung einer vom Richter gefundenen „materiellen Wahrheit“ lediglich „ideologisch“ sei655. Sie konstatieren mit Blick auf Verfahrensstruktur sowie Ausbildung und Herkunft von Richtern und Angeklagten ein erhebliches Macht- und Kompetenzgefälle. Der Angeklagte, der meist anders als der Richter nicht der Mittelschicht entstammt, könne aufgrund fehlender (insbesondere sprachlicher) Fähigkeiten dessen verborgene Erwartungen kaum erfüllen.656 Der Richter wiederum trete ihm mit den typischen Wertvorstellungen der Mittelschicht gegenüber und sei rechtlich „Herr des Verfahrens“.657 Hinzu kämen der große Druck zur Verfahrenserledigung auch über mehrere Gerichtsebenen hinweg, der obergerichtliche Einfluss auf die Karriere von Richtern und damit verbunden der Maßstab revisionsfester Urteile, die Zusammenarbeit von Richtern und Staatsanwälten und der Charakter von Gerichten als „geschlossene Gemeinschaft“, die auch den Verteidiger und bestimmte Presseangehörige einschließe.658 Der Strafprozess

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Ebd., S. 367 f. Ebd., S. 368. Mikinovic/Stangl, Strafprozeß und Herrschaft, S. 29. Ebd., S. 21, 23 ff., 27 f. Ebd., S. 23. Ebd., S. 31 ff.

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müsse nach alldem im Sinne des labeling-approach konstitutiv verstanden werden;659 die Richter arbeiteten im Interesse sozialer Kontrolle typifizierend660. Noch schärfer hat sich Rottleuthner gegen gängige Vorstellungen eines unvoreingenommenen, wahrheitsermittelnden Richters gewandt. Er spricht vom Strafverfahren allgemein als einem „pathologischen Prozeß“; krankhaft sei aber nicht nur die Situation, sondern auch die Rolle des Richters als eines für Andere unangenehmen, autoritären Beobachters.661 Dieser Rolle müssten Familie und Juristenausbildung den Boden bereiten.662 Sie stelle zwei „judizielle Qualitäten“ sicher: Zum einen die „Fähigkeit, andere ins Unrecht zu versetzen, ohne sie kommunikativ zu überzeugen“; die damit einhergehende „Erstarrung“ sei nur erträglich, weil sie in Verbindung mit der Machtausübung im Verfahren narzisstische und sadistische Bedürfnisse stille.663 Zum anderen garantiere die Beobachterrolle die „hermeneutische Fertigkeit, Äußerungen anderer zu verstehen, ohne sie als verbindlich zu behandeln“.664 Diese sehr polemischen Behauptungen begründet Rottleuthner allerdings nicht näher. Noch gewichtiger sind solche Einwände gegen ein „materielles“ Wahrheitsverständnis, die auf psychologischen Forschungsergebnissen beruhen. Relativ alt ist bereits der Befund, dass jeder Richter unbewusst zahlreiche Alltagstheorien anwende, die nicht dem kriminologischen Forschungsstand zu Kriminalitätsursachen und Wirkungen der Strafe standhielten.665 Diese juristischen Alltagstheorien hätten nur die Berufs- und Lebenserfahrung zur Grundlage und seien aufgrund der fehlenden Faktenbasis äußerst unzuverlässig.666 Andere Einwände betreffen das noch immer wichtigste Beweismittel im Strafprozess, die Zeugenaussage (§§ 48 ff. StPO). Das Bild eines zuverlässig die Wirklichkeit „an sich“ wahrnehmenden, erinnernden und aussagenden Zeugen ist empirisch nicht zu halten. Bereits die individuelle Wahrnehmung ist unter anderem von vorhandenen Kapazitäten, Vorerfahrungen, Vorurteilen, persönlicher Motivation und Konformitätsdruck geprägt; gleiches gilt für die Weiterverarbeitung von Information.667 Bei der Weitervermittlung an Vernehmungspersonen kann sich durch Suggestion und das jeweilige sprachliche Verständnis die Information erneut verändern.668 659

Ebd., S. 38 ff., 49 ff. Ebd., S. 52 f. 661 Rottleuthner, KJ 1973, 60, 83 ff. (Hervorhebung im Original). 662 Ebd., 84. 663 Ebd., 85 (Hervorhebung im Original). 664 Ebd. (Hervorhebung im Original). 665 Opp, KJ 1970, 383, 384 ff., 391 f. mit einer Rekonstruktion der in einem realen Fall angewandten Alltagstheorien; s. auch Mikinovic/Stangl, Strafprozeß und Herrschaft, S. 52 ff. 666 Opp, KJ 1970, 383, 395 f. 667 H.-H. Kühne, NStZ 1985, 252, 252 ff.; Schünemann, ARSP Beiheft 22 (1985), 68, 70 ff.; ders., in: FS Pfeiffer, S. 461, 475 ff.; s. auch Fischer, in: FS Widmaier, S. 191, 199 f. 668 H.-H. Kühne, NStZ 1985, 252, 255. 660

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Der Richter selbst unterliegt mehreren psychischen Mechanismen, die einer unvoreingenommenen, streng rationalen Urteilsfindung im Wege stehen: Der inertiaoder Urteils-Perseveranzeffekt lässt ihn an einmal gewonnenen Überzeugungen regelmäßig auch in der Hauptverhandlung festhalten.669 Das ist insbesondere aufgrund des umfassenden Zugangs zu Ermittlungsakten heikel. Daneben greift der psychologisch, aber auch soziologisch zu erklärende sogenannte „Schulterschlusseffekt“.670 Richter und Staatsanwalt stehen danach als justizielle Quasi-Einheit Angeklagtem und Verteidiger gegenüber. Besonders problematisch ist der Umgang mit Wahrscheinlichkeitsgraden. Hier kommt es regelmäßig zu gravierenden Fehleinschätzungen, da Richtern die einschlägigen statistischen Theoreme und Basisraten nicht bekannt oder sie mit deren Anwendung überfordert sind.671 Weiter ist der während einer Vernehmung auftretende sog. Pygmalioneffekt zu nennen.672 Der Richter drängt unbewusst die Aussageperson in eine bestimmte Richtung, sodass sich seine Vorannahmen mehr und mehr bestärken; letztlich erhält er genau die Aussage, die er von Anfang an erhalten wollte. All diese Faktoren haben Schünemann, der entscheidend zur Rezeption psychologischer Erkenntnisse beigetragen hat, von der „Chimäre der materiellen Wahrheit“ sprechen lassen.673 Schließlich haben mehrere Studien für den Bereich der Strafzumessung einen großen Einfluss sachfremder, zufälliger Faktoren auf die Entscheidungen von Richtern belegt.674 Ersichtlich hat niemand ein Konzept von Wahrheit im Strafverfahren grundsätzlich auf anthropologische Überlegungen gestützt. Solche spielen aber gelegentlich in eklektizistischen Ansätzen eine Rolle: So überträgt Lampe, nachdem er zuvor über arabische Philosophie im Allgemeinen und Schopenhauers Willensphilosophie zu einer durch und durch hegelianischen (!) Definition der richterlichen Überzeugung gelangt ist675, die Ansicht des Zoologen Rupert Riedl, wonach die starke Umweltorientiertheit des Menschen es ermögliche, sich im „Lebenskampf“ zu 669 Schünemann, ARSP Beiheft 22 (1985), 68, 73 ff.; ders., in: FS Pfeiffer, S. 461, 475; ders., StV 1993, 607, 608; ders., in: FS Kühne, S. 361, 362 f.; ders., StraFo 2015, 177, 180. 670 Ders., StV 1993, 607, 608; ders., in: FS Kühne, S. 361, 362 f.; ders., StraFo 2015, 177, 181; s. auch H.-H. Kühne, GA 2008, 361, 369. 671 S. dazu Schünemann, ARSP Beiheft 22 (1985), 68, 80 (die Überschätzung von Wahrscheinlichkeiten sei „das grundlegende, richterspezifische formale Basis-Stereotyp“); ders., in: FS Pfeiffer, S. 461, 475; ders., in: FS Kühne, S. 361; näher zum Bayes-Theorem Bender/Nack/ Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, S. 170 ff. 672 Näher dazu ebd., S. 25 f., 297 f.; s. auch Schünemann, in: FS Pfeiffer, S. 461, 475. 673 Schünemann, in: FS Pfeiffer, S. 461, 481; etwas zurückhaltender ders., ZStW 114 (2002), 1, 61 f. mit Fn. 180; neuerdings aber anders („Materielle Wahrheit als Fels in der Brandung“), s. ders., StraFo 2015, 177, 179. 674 S. zum Ankereffekt bei der Strafzumessung Englich/Mussweiler/Strack, Personality and Social Psychology Bulletin 32 (2), 188 ff. 675 S. Lampe, in: FS Pfeiffer, S. 353, 358 f., 366 (die richterliche Überzeugung bestehe „in der Aufhebung der doppelten Differenz zwischen erstens normativen und subjektiven Regelungsintentionen und zweitens objektivem Regelungsbedarf und normativem Regelungsangebot, m. a. W. in der Konkretion der Rechtsnorm zur normativ-subjektiven Regelung der normativ-objektiven Wirklichkeit“ (Hervorhebung im Original)).

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behaupten, ohne weiteres auf das Strafverfahren. Diese Orientierung erlaube es auch dem Richter, „sich im Kampf der Parteien durchzusetzen und ihnen gegenüber jene überragende Stellung einzunehmen, die ihn zum Richterspruch autorisiert“.676 Daher sei in der Überzeugung des Richters ein erheblicher Teil der für Menschen erreichbaren Wahrheit enthalten.677 Mit diesem anthropologisch gefärbten Blick geht eine Überhöhung des Richters einher, die im befremdlich anmutenden Gedanken der richterlichen Überzeugung als Bestandteil der kulturellen Vorstellungen des Volkes insgesamt und einer Quasi-Identität von Richter und Volk gipfelt.678 Deutlich zurückhaltender ist dagegen die Erwägung, nach evolutionstheoretischen und weiteren biologischen Erkenntnissen könne man Denken und Außenwelt nicht trennscharf abgrenzen, weshalb im Strafverfahren nicht eine präzise Rekonstruktion angestrebt werde, sondern ein „Abbild, eine Neuschöpfung, eine MetaWahrheit von jenem Geschehen“.679 Die biologischen Gegebenheiten und der eher zeremonielle als methodische Charakter des Strafprozesses ließen sich nur durch bestmöglichen Diskurs im Verfahren und damit strenger Einhaltung der Beschuldigtenrechte sowie durch bestimmte Darstellungsanforderungen für das richterliche Urteil abfedern.680 Theorien und Forschungsergebnisse der Linguistik und Kommunikationswissenschaft haben nur rudimentär Eingang in die Debatte gefunden.681 Eine Ausnahme bildet Kühnes Versuch, das Strafverfahren grundsätzlich unter deren Blickwinkel zu betrachten. Ausgangspunkt ist dabei das normativ vorgegebene Ziel der Wahrheitsermittlung; der Richter müsse dafür kommunikative Situationen gewährleisten und angemessen strukturieren.682 Kühne rezipiert unter anderem die (ethnolinguistische) Sapir-Whorf-Hypothese, die Zeichentheorie von Peirce, Chomskys generative Grammatik, Bühlers Sprachtheorie und linguistische Forschungsergebnisse zum „restringierten“ und „elaborierten“ Code.683 Das führt jedoch nicht zu einem grundsätzlich neuen Verständnis des Wahrheits- oder Überzeugungsbegriffs. Die richterliche Überzeugungsbildung sei so komplex, dass man sie nicht durch Analyse 676

Ebd., S. 377. Ebd. 678 Ebd.: Der nach Wahrheit forschende Richter sei „jener weise Richter, der aus der Kultur keines Volkes wegzudenken ist […]. Seine Überzeugung ist ein Teil der kulturellen Überzeugung eines Volkes, aber auch ein Teil derjenigen Überzeugung, die ein Volk von sich selbst, als Kulturvolk, hat. Wer deshalb einmal als Richter ins Recht gesetzt wurde, findet da nicht wieder heraus, es sei denn, er löste sich von sich selbst und von seinem Volk.“ (Hervorhebung im Original). 679 Kempf, in: DAV-Schriftenreihe Bd. 6, S. 21, 22 ff. 680 Ebd., S. 25 ff. 681 Vgl. Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 65 f.; Veen, Beweisumfang, S. 216 f.; AK-StPO/ Wassermann, Einl. II Rn. 7 ff. 682 H.-H. Kühne, Strafverfahrensrecht, S. 65 f.; LR/ders., Einl. B. Rn. 13. 683 Ders., Strafverfahrensrecht, S. 116 f., 120 f., 124 ff., 126 ff., 202 ff.; s. auch LR/ders., Einl. B Rn. 16 ff. 677

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vollkommen nachvollziehen könne; das belege § 261 StPO, wonach die Überzeugung „als letzte nicht mehr hinterfragbare Instanz“ gelte.684 Insbesondere die Forschungsergebnisse aus Soziologie und Psychologie sollte man mit Blick auf das Problem von Wahrheit im Strafverfahren keinesfalls ignorieren. Insofern gilt ähnliches wie für die Ansätze, die den Wahrheitsbegriff mit den Zielen und rechtlichen Strukturen des Strafverfahrens in Verbindung bringen: Erkenntnistheoretische Positionen müssen auch mit den rechtstatsächlichen Gegebenheiten vereinbar sein, um jenseits eines bloßen Ideals oder nur abstrakt überzeugenden Modells Relevanz für das Verständnis von Wahrheit im Strafprozess beanspruchen zu können. Im zweiten Teil dieser Arbeit wird an einigen Stellen darauf zurückzukommen sein. cc) „Forensische Wahrheit“ Hassemer hat sein Konzept „forensischer Wahrheit“ ausgehend von einem hermeneutischen und von der Psychoanalyse beeinflussten Verfahrensverständnis in Auseinandersetzung mit der Konsensustheorie entwickelt. Im Strafverfahren habe man es stets nur mit einem sehr kleinen Teil der Welt zu tun und sei bereits gesetzlich von besonders hilfreichen Erkenntnisquellen abgeschnitten.685 Die Verfahrensbeteiligten brächten zudem ihr sozial und individuell geprägtes Vorverständnis in den Prozess ein.686 Hassemer erweitert den auf Texte ausgerichteten hermeneutischen Ansatz um den psychoanalytischen Begriff des „szenischen Verstehens“, um so den durch Handlung, Interaktion und Darstellung geprägten Strafprozess zu erfassen.687 Die szenisch verstandene Verhandlung verlaufe aber nicht entsprechend der Anforderungen der Diskursethik; vielmehr gehe es gerade darum, anhand bestimmter Regeln einen Dissens in den Griff zu bekommen.688 Einen hohen Stellenwert nehmen dabei für Hassemer die strafprozessualen Förmlichkeiten ein, die „Wegweiser […] sowohl für Handeln als auch für Erkennen“ bei der Herstellung „forensischer“ Wahrheit seien.689 Hinsichtlich der Auffassung, dass ein Wahrheitsbegriff für das Strafverfahren nicht zu bestimmen ist, ohne auch bestehende normative Vorgaben in den Blick zu nehmen, ist Hassemer beizupflichten. Eher willkürlich mutet es dagegen an, auf in ihrem wissenschaftlichen Gehalt zweifelhafte Interaktionskonzepte der Psycho684

Ders., Strafverfahrensrecht, S. 214. Hassemer, in: FS Volk, S. 207, 214 f. 686 Ders., Einführung, S. 84 ff.; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, S. 13 f. 687 Ders., Einführung, S. 122 ff.; s. auch ders., in: FS StA Schleswig-Holstein, 529, 533. 688 Ders., Einführung, S. 130 ff.; ders., JuS 1980, 890, 894; Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, S. 11. 689 S. Hassemer, Einführung, 148 ff.; ders., FS StA Schleswig-Holstein, S. 529, 533 f.; ders., in: FS Volk, S. 207, 211 f., 216 ff.; dagegen hebt Hassemer in StV 2006, 321, 327 den Aspekt der Rekonstruktion der Vergangenheit hervor. 685

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B. Der Wahrheitsbegriff

analyse zurückzugreifen, um Aussagen über das Strafverfahren insgesamt zu treffen. Wenig zwingend erscheint zudem die Bezugnahme auf die Hermeneutik, die mit der Interpretation von (überdies zunächst religiösen und literarischen) Texten grundsätzlich einen ganz anderen Lebensbereich als den der Tatsachenfeststellung vor Gericht betrifft. dd) „Materielle Wahrheit“ unter Ideologieverdacht Das Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ sieht sich schließlich nicht selten dem Verdacht ausgesetzt, als dogmatisches Deckmäntelchen handfester ideologischer Einflussnahmen zu dienen. Die Begründungen dafür sind verschieden. Ingo Müller hat – und das ist ein großes Verdienst – früh und wiederholt auf den Stellenwert der „materiellen Wahrheit“ im nationalsozialistischen Strafverfahren hingewiesen. Seine Kritik an diesem Verfahrensziel beruht aber auf einer umfassenderen historischen Perspektive. Danach konnte sich das deutsche Strafverfahren zu keinem Zeitpunkt ganz von einer obrigkeitsstaatlichen, inquisitorischen Struktur lösen.690 Herrschten bei Entstehung der Reichsstrafprozessordnung und in der frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts noch liberale Vorstellungen eines Parteiverfahrens, hätten antiliberales und antiparlamentarisches Gedankengut sowie autoritäre Ansätze in Justiz und Wissenschaft nach dem ersten Weltkrieg die Oberhand gewonnen.691 In diesen Zusammenhang stellt Müller den völkisch-autoritären Begriff der „materiellen Wahrheit“ nach 1933.692 Nach dem zweiten Weltkrieg hätten Gesetzgeber und Strafrechtswissenschaft den nationalsozialistischen Gehalt dieses Prinzips unter den Tisch gekehrt und zugleich unter vehementer Ablehnung angelsächsischer Verfahrensmodelle an autoritären Verfahrensstrukturen festgehalten.693 „Materielle Wahrheit“ wird so zum Leitbild einer antiliberalen Prozessideologie, die mehrere politische Systeme überdauert hat: „Der vorgeblich hohe Wert der ,materiellen Wahrheit‘ legitimiert, so gering ihn auch die Justiz als Leitlinie eigener Tätigkeit schätzt, noch jede Beseitigung individueller Rechte im Strafverfahren und degradiert den Beschuldigten so zum Objekt staatlicher Verbrechensbekämpfung.“694

In historischer Hinsicht treffen viele der von Müller eher allgemein erhobenen Behauptungen nach der hier unternommenen Analyse zu. Was den Blick auf Gesetzgeber und Justiz nach 1945 angeht, erscheint seine Kritik dagegen etwas ein690 691 692

526 f. 693

527 f.

I. Müller, Leviathan 1977, 522, 523. Ders., Rechtsstaat, S. 183 f.; ders., Leviathan 1977, 522, 525 f. Ders., Rechtsstaat, S. 185 f.; ders., KJ 1977, 11, 14 ff.; ders., Leviathan 1977, 522, Ders., Rechtsstaat, S. 186 ff.; ders., KJ 1977, 11, 17 f.; ders., Leviathan 1977, 522,

694 Ders., Leviathan 1977, 522, 532; s. auch ders., KJ 1977, 11, 25; ders., Rechtsstaat, S. 189.

IV. Der Wahrheitsbegriff nach dem zweiten Weltkrieg

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seitig. Allerdings sind mit dem Begriff der „materiellen Wahrheit“ verbundene autoritäre Tendenzen insbesondere in der Rechtsprechung nicht zu übersehen. Der Einwand, hinter dem Ziel der Erforschung „materieller Wahrheit“ verberge sich eine autoritäre Verfahrensideologie, wird auch auf anderem Wege begründet. So soll der Wahrheitsbegriff des § 244 Abs. 2 StPO unter zunehmendem Druck eines polizeilichen Verfahrensverständnisses stehen, das den Einzelnen nicht als Individuum, sondern nur noch als möglichen Störer berücksichtige.695 Entscheidungszwang aufgrund von zeitlichem Druck, Überlastung und finanziellen Beschränkungen, Vergesslichkeit, Verzerrungen und Kommunikationsschwierigkeiten sowie dogmatisch grobe Filter ließen den klassischen Wahrheitsbegriff der Korrespondenztheorie als überhöht erscheinen; tatsächlich herrsche „der juristische, systemfunktionale Wahrheitsbegriff mit einem begrenzten Gerechtigkeitsziel“.696 Andere Stimmen stützen ihre Kritik stärker auf erkenntnistheoretische Erwägungen: Ein korrespondenztheoretisches Verständnis von („materieller“) Wahrheit im Strafprozess täusche darüber hinweg, dass es kein Wahrheitskriterium anzubieten habe, und wirke durch ständige Wiederholung bereits ideologisch.697 Wenn der rein subjektive Maßstab der Wahrheitsüberzeugung gegen das objektive Wahrscheinlichkeitskriterium in Stellung gebracht werde, stünden dahinter „justizideologisch-pädagogische Intentionen“, die erkenntnistheoretische Befunde schlicht ignorierten.698 Solche Vorwürfe decken sich mit dem hier gewonnenen Ergebnis, dass die Erforschung „materieller Wahrheit“ gerade in der Rechtsprechung primär als Argumentationstopos zu Lasten der Beschuldigtenposition fungiert und dass ihr Verhältnis insbesondere zu einem unausgesprochen weiter vertretenen, rein subjektiven Wahrheitsbegriff unklar geblieben ist. Die philosophischen Überlegungen im zweiten Teil dieser Arbeit werden derartige Kritikpunkte erkenntnistheoretisch untermauern. 4. Zusammenfassung Der Gesetzgeber hat 1950 am Verfahrensziel der Erforschung der Wahrheit festgehalten und die entsprechende Pflicht mit einer Beschränkung auf entscheidungsrelevante Tatsachen und Beweismittel versehen. Der überragende Stellenwert der „materiellen Wahrheit“ im nationalsozialistischen Strafverfahren hat im Gesetzgebungsverfahren keine Rolle gespielt. Das lässt sich nicht mit einem bloßen Versehen erklären, sondern zeigt, wie wenig die beteiligten Stellen gewillt waren, sich mit der jüngsten (Justiz-)Vergangenheit zu befassen. Zugleich wird der Wille deutlich, an ein im Kaiserreich und in der Weimarer Republik verbreitetes Verfahrensverständnis anzuknüpfen, wonach die nun nicht mehr im Sinne der NS-Ideologie 695

Preuß, KJ 1981, 109, 111 ff. Ostendorf, ZIS 2013, 172, 174 f. 697 Stuckenberg, GA 2016, 689, 700 f. 698 Schöneborn, Strafprozessuale Wiederaufnahmeproblematik, S. 89 f. (s. auch S. 198); vgl. Salas, Kritik, S. 331 f. 696

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B. Der Wahrheitsbegriff

aufgefasste Erforschung „materieller Wahrheit“ nur in einem inquisitorisch strukturierten Verfahren zu gewährleisten sei. Die ausgeprägten personellen Kontinuitäten zwischen NS-Justiz und der ersten Richtergeneration am Bundesgerichtshof bieten einen Erklärungsansatz dafür, dass der ideologisch kontaminierte Begriff der „materielle Wahrheit“ in den frühen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs nicht auftaucht. Das Bundesverfassungsgericht ist mit diesem Terminus unbefangener umgegangen. Mittlerweile hat er in der Rechtsprechung beider Gerichte einen bedeutenden Rang als Argumentationstopos erlangt. Sein erkenntnistheoretischer Gehalt ist dabei unklar geblieben. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung stößt man auf Spuren mehrerer erkenntnistheoretischer Ansätze, die in Teilen auf das Reichsgericht zurückgehen: Vereinzelte korrespondenztheoretisch klingende Formulierungen stehen einem mit der „materiellen Wahrheit“ verbundenen objektiven Wahrheitsverständnis und einem rein subjektiven Wahrheitsbegriff gegenüber. Hinzu kommt der Maßstab hoher objektiver Wahrscheinlichkeit. Das Verhältnis dieser an unterschiedlichen Normen (§ 244 Abs. 2 und § 261 StPO) verankerten Wahrheitsbegriffe und Maßstäbe ist in der Rechtsprechung ungeklärt. Die Strafrechtswissenschaft ist in großen Teilen den Formeln der Rechtsprechung gefolgt. Von den wichtigsten philosophischen Wahrheitstheorien hat sie die Korrespondenztheorie (wenngleich fast ausschließlich in einer auf die adaequatio-Formel reduzierten Variante) und die Konsensustheorie in größerem Umfang aufgegriffen. Andere bedeutende Wahrheitstheorien haben in der Diskussion nur geringe oder überhaupt keine Bedeutung erlangt. Manche Autoren haben verschiedene Theorien kombiniert. Hinzu kommen Ansätze, die das Verhältnis des Wahrheitsbegriffs zu den Zielen des Strafprozesses und seinen grundlegenden rechtlichen Strukturen in den Blick nehmen, und Ansätze, die sich auf Erkenntnisse aus Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Linguistik und Kommunikationswissenschaft stützen. Gemeinsam ist den meisten derartigen Positionen die Skepsis gegenüber dem Verfahrensziel „materieller Wahrheit“. Wiederholt ist zudem der Vorwurf laut geworfen, hinter diesem Ziel stehe eine autoritäre Verfahrensideologie.

C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien Die Analyse der Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert, der Rechtsprechung von Reichsgericht, Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht sowie der strafrechtlichen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart haben kein allgemein akzeptiertes Verständnis von Wahrheit im Strafverfahren zu Tage gefördert. Vielmehr sieht man sich einem Kaleidoskop von teils widersprüchlichen gesetzgeberischen und justiziellen Traditionen und unterschiedlichsten, auch diverse andere Wissenschaftszweige aufgreifenden Positionen der Literatur gegenüber. Eines ist deutlich geworden: Rein dogmatische Ansätze zum Problem von Wahrheit im Strafprozess stoßen rasch an Grenzen. Das hat aber bislang nicht zu einer umfassenden Berücksichtigung der erkenntnistheoretischen Diskussion geführt. Die nach 1945 zu diesem Thema erschienenen Beiträge spiegeln dies mit ihrem in aller Regel eklektizistischen Charakter wider. Sie versuchen sich an einem Spagat zwischen herkömmlichen dogmatischen Überlegungen und der Rezeption einzelner Ansätze aus Philosophie und anderen Wissenschaftsgebieten. Dabei sind bereits die dogmatischen Erträge dürftig geblieben. So sind insbesondere die historischen und genetischen Aspekte des § 244 Abs. 2 StPO, die angesichts des kargen Wortlauts für das Verständnis des Wahrheitsbegriffs erhebliche Bedeutung haben, bislang allenfalls gestreift worden. Dem sollte der erste Teil dieser Arbeit abhelfen. Doch auch der philosophischen Komplexität des Themas wird es nicht gerecht, wenn ohne Begründung nur ein oder zwei Wahrheitstheorien herangezogen werden und selbst diesen oft lediglich die undankbare Rolle bleibt, einige philosophische Versatzstücke zu im Ergebnis eher diffusen Konzeptionen zu liefern. Selbst die noch am ehesten angeführte Korrespondenztheorie der Wahrheit wird regelmäßig nur mit einer von Thomas von Aquin verbreiteten Formel bemüht, während Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein mit ihren ausgefeilten Konzepten überhaupt nicht erwähnt werden, von der weitgehenden Ausblendung anderer philosophischer Wahrheitstheorien ganz zu schweigen. Hier wird ein anderer Weg eingeschlagen. Im Zentrum des zweiten Teils steht die Frage, welchen Beitrag die verschiedenen philosophischen Wahrheitstheorien zum Verständnis von Wahrheit im Strafprozess leisten können. Dabei sollen nicht nur einzelne, sondern möglichst alle wichtigen Wahrheitstheorien insbesondere des 20. und 21. Jahrhunderts mit ihren bedeutendsten Vertretern herangezogen werden. Diese Vorgehensweise gewährt zugleich Maßstäbe, um solche Positionen zu beurteilen, die sich (wie die höchstrichterliche Rechtsprechung und ein großer Teil der einen „materiellen“ Wahrheitsbegriff propagierenden Literatur) kaum mit der er-

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

kenntnistheoretischen Dimension des Wahrheitsproblems befassen. Zudem erlaubt sie es, die bisherige Rezeption einzelner philosophischer Ansätze auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen.

I. Die Korrespondenztheorie bei Wittgenstein und Russell und der semantische Wahrheitsbegriff Tarskis 1. Vorüberlegungen: Ursprünge und Begriff der Korrespondenztheorie Von den drei in der Kapitelüberschrift genannten Philosophen hat sich lediglich Bertrand Russell klar zu einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff bekannt. Der Wittgenstein des „Tractatus“ und Tarski werden zwar häufig als Vertreter der Korrespondenztheorie genannt. Im Fall von Wittgenstein ist ein solches Wahrheitsverständnis aber keineswegs unumstritten und bei Tarski sogar höchst zweifelhaft.699 In der strafrechtlichen Literatur wird der Begriff der Korrespondenztheorie oft lediglich als Schlagwort oder im Sinne einer nur auszugsweise rezipierten mittelalterlichen Wahrheitskonzeption gebraucht, ohne dass dies problematisiert würde. Die philosophischen Zuordnungsfragen und der Sprachgebrauch der juristischen Literatur lassen sich aber erst dann genauer beurteilen, wenn klar ist, was überhaupt unter einer Korrespondenztheorie zu verstehen ist. Möglicherweise erlauben es einige Textstellen bei Aristoteles und Thomas von Aquin, die häufig als Ursprünge der Korrespondenztheorie angesehen werden,700 einen theoretischen Rahmen für die weitere Untersuchung zu konstruieren. a) Klassische Formulierungen bei Aristoteles und Thomas von Aquin Eine entscheidende Passage bei Aristoteles findet sich im vierten Buch seiner „Metaphysik“: „Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr. Wer also ein Sein oder ein Nicht-Sein prädiziert, muß Wahres oder Falsches aussprechen.“701

Hier versucht Aristoteles nicht, eine ganze Theorie der Wahrheit aufzustellen. Die Stelle steht vielmehr im Zusammenhang mit dem indirekten Beweis zweier oberster Axiome der Wissenschaft, die noch heute jeder zweiwertigen Logik zugrunde liegen, nämlich des Satzes vom Widerspruch (Aussagen können nicht zugleich wahr und falsch sein) und des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten (eine Aussage ist entweder

699 700

S. 28. 701

S. dazu S. 160 sowie S. 215 ff. S. nur Fernández Moreno, Wahrheit und Korrespondenz, S. 37 f.; Zoglauer, Einführung, Metaphysik, 1011 b.

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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wahr oder falsch; einen weiteren Wahrheitswert gibt es nicht).702 Ähnlich heißt es im neunten Buch der „Metaphysik“ zur Verbindung von Ontologie und Logik: „daß der die Wahrheit sagt, der vom Getrennten urteilt, es sei getrennt, von dem Zusammengesetzten, es sei zusammengesetzt, der dagegen im Irrtum ist, welcher anders denkt als die Dinge sich verhalten“.703 In der „Lehre vom Satz“ (dem zweiten Teil des „Organon“) erklärt Aristoteles schließlich bei der Untersuchung der logischen Kontradiktion, dass „die Behauptungen in derselben Weise wahr sind wie die Dinge“.704 Von einer Korrespondenztheorie der Wahrheit bei Aristoteles kann man angesichts des Kontexts all dieser Passagen nicht sprechen.705 Die aristotelische Erklärung von Wahrheit beinhaltet aber mehrere Punkte, die sich noch in modernen korrespondenztheoretischen und damit verwandten Ansätzen finden: Auf der einen Seite stehen Aussagen (beziehungsweise Behauptungen) einer urteilenden Person über Existenz und Struktur von Gegenständen der Welt. Nach der zitierten Stelle im neunten Buch der „Metaphysik“ trennt Aristoteles nicht scharf zwischen Aussagen und Gedanken. Gedanken, so könnte man ihn angesichts der Parallele von „sagen“, „urteilen“ und „denken“ verstehen, sind noch nicht ausgesprochene Urteile über die Welt. Auf der anderen Seite steht die Welt mit ihrer Struktur, die unabhängig von jeder Aussage ist. Insbesondere sind die Gegenstände der Welt selbst nicht wahr oder falsch; sie existieren vielmehr (in bestimmter Art und Weise) oder existieren nicht. Die Wahrheit oder Falschheit von Aussagen lässt sich nun aber nicht einfach mit dem Begriff der Übereinstimmung von Aussagen und Gegenständen der Welt erfassen. Diesen Begriff verwendet Aristoteles an keiner Stelle.706 Seine Formulierungen, die das Sprechen über die Gegenstände hervorheben und Behauptungen als „in derselben Weise wahr […] wie die Dinge“ erklären, weisen eher in die Richtung einer Strukturgleichheit von Aussage und Gegenstand. Wahre Aussagen sind danach solche, die in ihrer sprachlichen Struktur die Existenz und Beschaffenheit der Gegenstände widerspiegeln, auf die sie Bezug nehmen. Aristoteles Auffassung ist damit modernen korrespondenztheoretischen Ansätzen, die auf der Isomorphie von Sätzen beziehungsweise Urteilen und Sachverhalten beruhen, näher als das spätere Konzept der „adaequatio“.707 Anders als bei Aristoteles ist die Definition von Wahrheit bei Thomas von Aquin Teil einer ganzen Wahrheitstheorie. Thomas gelangt zu ihr unter anderem in Auseinandersetzung mit Aristoteles und Augustinus. Er geht mit Aristoteles davon aus, 702

S. ebd., 1005 a ff. Ebd., 1051 b. 704 Lehre vom Satz, 19 a. 705 Ähnlich Kotsoglou, Forensische Erkenntnistheorie, S. 78; ausführlich zu den Wahrheitskonzeptionen im philosophischen Werk von Aristoteles und Platon Szaif, Plato and Aristotle on Truth and Falsehood, in: Glanzberg (Hrsg.), Truth-Handbook, S. 9 ff. 706 Szaif, ebd., S. 45 meint aber: „the Aristotelian definition of truth […] has a way of expressing the idea of word-to-world agreement without actually using a term like ,agreement‘“ (Hervorhebung im Original). 707 Ebd., S. 46. 703

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

dass das Erkenntnisvermögen („vis cognitiva“) in der menschlichen Seele angelegt ist.708 Jede Erkenntnis erfolge im Wege einer Annäherung: „Omnis autem cognitio perficitur per assimilationem cognoscentis ad rem cognitam, ita quod assimilatio dicta est causa cognitionis“.709 Thomas beschreibt das Verhältnis von Seiendem und erkennendem Verstand („comparatio entis ad intellectum“) als ein solches, das auf Harmonie beziehungsweise Übereinstimmung („concordia“) zwischen beiden Ebenen gerichtet ist.710 Dem folgt die bekannte, meist ohne diese Zusammenhänge angeführte Formulierung: „quae quidem concordia adaequatio intellectus et rei dicitur, et in hoc formaliter ratio veri perficitur“.711

Dieser Ansatz unterscheidet sich in wichtigen Punkten von den Überlegungen des Aristoteles. Zunächst steht dem Gegenstand nicht eine bestimmte Aussage gegenüber, sondern der erkennende Verstand. Der Struktur sprachlicher Gebilde kommt damit keine besondere Bedeutung zu. Zudem ist Wahrheit nicht die Folge einer schlicht bestehenden Strukturgleichheit von gedanklichen Inhalten und Gegenständen der Welt, sondern steht am Ende einer Annäherung. Dementsprechend ist auch die Unterscheidung von gedanklicher und gegenständlicher Ebene weniger strikt als die von Aussagen und Gegenständen bei Aristoteles. b) Schlussfolgerungen Bereits die beiden klassischen Konzeptionen, die als Grundlage korrespondenztheoretischer Ansätze gelten, unterscheiden sich in mehreren grundlegenden Punkten. Das sollte zur Mahnung dienen, nicht einfach von „der Korrespondenztheorie“ zu sprechen, wenn eigentlich nur ein ganz bestimmter Ansatz oder sogar nur Teile eines solchen gemeint sind. Zugleich lässt sich aus den angeführten Textstellen ein weiter Begriff der Korrespondenztheorie ableiten. Im Folgenden werden solche philosophischen Konzeptionen als Korrespondenztheorien bezeichnet, die grundsätzlich zwischen Aussagen, Urteilen oder gedanklichen Inhalten auf der einen Seite und Gegenständen beziehungsweise Sachverhalten der Welt auf der anderen Seite unterscheiden und Wahrheit auf eine Relation zwischen beiden Seiten zurückführen, wobei diese Relation als Strukturgleichheit, Annäherung oder auch Übereinstimmung verstanden werden kann. 708

De Veritate, q. 1, a. 1 (S. 6). Ebd. (S. 8); in meiner Übersetzung: „Jede Erkenntnis wird aber durch die Angleichung des Erkennenden an die erkannte Sache bewirkt, sodass die Angleichung als Grund der Erkenntnis bezeichnet wird.“ 710 Ebd. 711 Ebd.; in meiner Übersetzung: „diese Harmonie freilich wird Angleichung von erkennendem Verstand und Gegenstand genannt, und dadurch wird förmlich die Begründung des Wahren bewirkt“. Wie Thomas einige Zeilen weiter deutlich macht, hat er die Definition von Wahrheit als „adaequatio rei et intellectus“ von Isaak Israeli übernommen. 709

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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2. Die philosophischen Ansätze von Wittgenstein, Russell und Tarski a) Korrespondenztheoretische Konzeptionen bei Wittgenstein und Russell aa) Die Isomorphietheorie in Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ Der „Tractatus“712 aus dem Jahr 1918 ist ein Hauptwerk des logischen Atomismus. Wittgenstein verbindet dort in äußerst konzentrierter Form ontologische, erkenntnistheoretische, logische und sprachphilosophische Erwägungen. Die gedrängte Art der Darstellung, aber auch die häufigen, oft nicht ausdrücklichen Bezugnahmen auf Werke Freges713 und Russells bilden hohe Hürden für die Interpreten. An dieser Stelle können keine grundsätzlichen Ausführungen zu den verschiedenen Interpretationsschulen zum „Tractatus“ erfolgen. Die hier mit Fokus auf den Wahrheitsbegriff unternommene Analyse steht aber in der Tradition solcher Interpretationen, die den „Tractatus“ nicht ausschließlich unter dem Vorzeichen der dort am Ende behaupteten Unsinnigkeit der vorangehenden Überlegungen (s. TLP 6.54) lesen.714 (1) Das ontologische Grundgerüst Der ersten beiden Hauptsätze des „Tractatus“ und die sie erläuternden Sätze enthalten eine Art ontologischer Inventur der Welt. Wittgenstein verwendet dabei philosophische und alltagssprachliche Begriffe in völlig eigener Art und Weise, so bereits im ersten Satz: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ (TLP 1). Der Begriff „Fall“ wird mit dem der „Tatsache“ verbunden (TLP 1.1, 2), der im Zentrum der ontologischen Konzeption steht. Denn die Welt ist nach Wittgenstein nicht die Gesamtheit der Dinge, sondern der Tatsachen und zerfällt auch nur in letztere (TLP 1.1, 1.2). Der Unterschied zwischen Tatsachen und Dingen besteht grundsätzlich darin, dass Dinge einfach (TLP 2.02), Tatsachen dagegen das „Bestehen von Sachverhalten“ und damit „eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen)“ sind (TLP 2, 2.01). Die Begriffe „Form“ und „Substanz“ erklärt Wittgenstein im Zusammenhang mit dem Begriff des Dinges beziehungsweise Gegenstands. In jedem Gegenstand ist es danach angelegt, als Bestandteil eines Sachverhalts auftreten zu können (TLP 2.011). Die Selbstständigkeit eines Dinges erschöpft sich darin, in allen möglichen Sachverhalten vorkommen zu können (TLP 2.0122); Kenntnis eines Gegenstandes heißt dementsprechend, all diese Möglichkeiten zu kennen (TLP 2.0123), die Wittgenstein auch die „internen Eigenschaften“ des Gegenstandes (TLP 2.01231) nennt. Die Form des Gegenstands ist nichts anderes als die „Möglichkeit seines Vorkommens in 712

Nachfolgend mit „TLP“ abgekürzt. Ausführlich hierzu Kienzler, Wittgenstein and Frege, in: Kuusela/McGinn (Hrsg.), Wittgenstein-Handbook, S. 79 ff. 714 Zur Gegenposition der sogenannten resoluten Lesart s. den Aufsatz von Cora Diamond mit dem aussagekräftigen Titel „Throwing Away the Ladder“, Philosophy 63 (1988), 5 ff. 713

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

Sachverhalten“ (TLP 2.0141). Die Substanz der Welt wird von den (nicht zusammengesetzten) Gegenständen gebildet (TLP 2.021); sie besteht unabhängig von Tatsachen (TLP 2.024) und ist „Form und Inhalt“ (TLP 2.025). Während die Gegenstände „das Feste, Bestehende“ sind, ist der Sachverhalt eine unbeständige „Konfiguration“ von Gegenständen (TLP 2.027, 2.0271, 2.0272). Welcher Art ist aber die Verbindung von Gegenständen in einem Sachverhalt? Wittgenstein vergleicht sie mit Kettengliedern (TLP 2.03). Die Gegenstände sind nie beliebig, sondern immer in bestimmter Art und Weise verbunden; diese bestimmte Verbindung nennt er die „Struktur des Sachverhalts“ und die in den Gegenständen vorhandene Form die „Möglichkeit der Struktur“ (TLP 2.031, 2.032, 2.033). Ausgehend vom Begriff des Sachverhalts trifft er eine Unterscheidung zwischen „Welt“ und „Wirklichkeit“: Die Welt ist die „Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte“ (TLP 2.04), die Wirklichkeit dagegen das „Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten“, wofür er auch den Begriff der positiven und negativen Tatsache gebraucht (TLP 2.05). Auffällig ist der hohe Rang, den logische Erwägungen bereits in diesem ontologischen Teil des „Tractatus“ einnehmen. So sind nicht die Tatsachen im physikalischen, sondern im „logischen Raum“ die Welt (TLP 1.13); die Wesenseigenschaft jedes Dinges, Bestandteil eines Sachverhalts sein zu können, wird damit begründet, dass es in der Logik keine Zufälle gebe (TLP 2.012); schließlich findet sich das analytische Kernprogramm des logischen Atomismus recht unterwartet unter den Erläuterungen zur Einfachheit der Gegenstände715. (2) Die Isomorphietheorie Zentral für das Wahrheitskonzept im „Tractatus“ ist zunächst der Begriff des Bildes. Was meint Wittgenstein damit, dass man sich „Bilder der Tatsachen“ mache (TLP 2.1)? Ein Bild in diesem Sinne ist weder alltagssprachlich als einfache Wiedergabe der Realität noch psychologisch aufzufassen. Es ist „ein Modell der Wirklichkeit“ (TLP 2.12), eine Vorstellung vom „Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten“ im logisch strukturierten Raum (TLP 2.11). Die einzelnen Elemente des Bildes stehen zu den einzelnen Gegenständen des Sachverhalts in einem Entsprechungsverhältnis (TLP 2.13, 2.131). Das Bild (selbst eine Tatsache, TLP 2.141) ist aber kein zufälliges Sammelsurium von Elementen; seine Elemente stehen immer in einem ganz bestimmten Verhältnis. Damit gibt ein Bild vor, dass die entsprechenden Gegenstände der Welt genau so geordnet sind wie seine Bestandteile (TLP 2.14, 2.15). Um überhaupt etwas abbilden zu können, muss ein Bild irgendeine Gemeinsamkeit mit dem Abgebildeten haben (2.16, 2.161), und das ist die „logische Form der Abbildung“, die mit der „Form der Wirklichkeit“ identisch ist (TLP 2.17, 2.18, 715 TLP 2.0201: „Jede Aussage über Komplexe läßt sich in eine Aussage über deren Bestandteile und in diejenigen Sätze zerlegen, welche die Komplexe vollständig beschreiben.“

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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2.2); jedes Bild ist daher immer auch ein logisches Bild (TLP 2.182). Diese Gemeinsamkeit garantiert aber noch nicht, dass das Bild die Wirklichkeit korrekt abbildet. Sie ist überhaupt erst Voraussetzung jeder sowohl richtigen als auch falschen Abbildung der Wirklichkeit (TLP 2.17, 2.18).716 Das, was das Bild durch seine Form darstellt, ist sein „Sinn“, der nichts über seine Wahrheit oder Falschheit aussagt (TLP 2.22, 2.221).717 Ob es wahr oder falsch ist, richtet sich vielmehr nach „der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seines Sinnes mit der Wirklichkeit“ (TLP 2.222), die sich immer nur durch einen Vergleich von Bild und Wirklichkeit ermitteln lässt (TLP 2.223).718 Das Wahrheitskonzept des „Tractatus“ ist aber damit nur angedeutet. Sein volles Verständnis setzt eine Betrachtung der nachfolgenden Hauptsätze und deren Erläuterungen voraus. Der dritte Hauptsatz führt den Begriff des Gedankens ein und beschreibt ihn als das „logische Bild der Tatsachen“. Der sinnlich wahrnehmbare Ausdruck des Gedankens ist der „Satz“ (TLP 3.1). Wie auch das Bild ist dieser durch eine bestimmte Anordnung seiner Elemente (der darin vorkommenden Wörter) gekennzeichnet (TLP 3.14); er ist „kein Wörtergemisch“, sondern „artikuliert“ (TLP 3.141, 3.251).719 Und wie im Verhältnis von Bild und Wirklichkeit kann der Gedanke im Satz „so ausgedrückt sein, daß den Gegenständen des Gedankens Elemente des Satzzeichens entsprechen.“ (TLP 3.2). Der Satz lässt sich in seine Elemente, die Wittgenstein „einfache Zeichen“ nennt, zerlegen und ist dann „vollständig analysiert“ (TLP 3.201). Diese einfachen Zeichen sind nach Wittgenstein „Namen“ (TLP 3.202), die als „Urzeichen“ nicht weiter definiert werden können (TLP 3.26). In der Terminologie Freges weist er jedem Namen eine Bedeutung zu, die darin besteht, dass der Name auf einen bestimmten Gegenstand der Welt referiert (TLP 3.203, 3.22). Allerdings haben Namen nicht für sich allein Bedeutung, sondern nur im Satzzusammenhang (TLP 3.3). Wittgenstein unterscheidet sinnvolle Sätze (TLP 4: „Der Gedanke ist der sinnvolle Satz.“) von unsinnigen. Letztere, zu denen er auch die meisten philosophischen Sätze und Fragen zählt, können nicht wahr oder falsch sein; Aufgabe der Philosophie ist es daher, schlicht ihre Unsinnigkeit festzustellen (TLP 4.003, 4.0031). Was aber macht einen Satz zu einem sinnvollen Satz? Ein Satz hat nach Wittgenstein Sinn, wenn er (als „Bild“ beziehungsweise „Modell der Wirklichkeit“, TLP 4.01) eine bestimmte Gegenstandsverbindung darstellt (TLP 4.031, 4.022). Jede solche Darstellung setzt wiederum die logische Gliederung des Satzes voraus, die er mit dem dargestellten Sachverhalt gemein hat (TLP 4.21, 4.013, 4.015, 4.023, 4.032, 4.121). 716

Vgl. auch Wittgenstein, Tagebücher 1914 – 1916, Eintrag vom 3. Oktober 1914 (S. 96). Unausgesprochen folgt Wittgenstein damit Freges Unterscheidung (Über Sinn und Bedeutung, in: Funktion, Begriff, Bedeutung, S. 23, 24 f.), wonach der Sinn eines Zeichens „die Art des Gegebenseins“ ist, während seine Bedeutung in einem realen Gegenstand liegt. 718 Das Bild allein lasse seine Wahrheit oder Falschheit nicht erkennen; von vornherein wahre Bilder existierten nicht (TLP 2.224, 2.225). 719 S. auch Wittgenstein, Tagebücher 1914 – 1916, Eintrag vom 29. September 1914 (S. 94): „Im Satz wird eine Welt probeweise zusammengestellt.“ 717

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

So wird verständlich, warum TLP 4.2 den Sinn eines Satzes als „seine Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung mit den Möglichkeiten des Bestehens und Nichtbestehens der Sachverhalte“ erklärt: Ob seine Darstellung des Sachverhalts zutrifft, ist zunächst irrelevant; ein Satz muss eine logische Struktur haben, um überhaupt wahr oder falsch sein zu können. Jeder Satz ist in einfachste Sätze, die „Elementarsätze“ zerlegbar, die ihrerseits nurmehr aus miteinander verbundenen Namen zusammengesetzt sind (TLP 4.21, 4.22, 4.221). Jeder Elementarsatz „behauptet das Bestehen eines Sachverhaltes“ (TLP 4.21). Seine Wahrheit hängt von seiner Relation zur Wirklichkeit ab: „Ist der Elementarsatz wahr, so besteht der Sachverhalt; ist der Elementarsatz falsch, so besteht der Sachverhalt nicht.“ (TLP 4.25). Der von ihm behauptete Sachverhalt muss zudem genau mit der Struktur bestehen, die auch der Satz aufweist.720 Nach dem hier vorgeschlagenen weiten Begriff der Korrespondenztheorie ist das eine korrespondenztheoretische Auffassung von Wahrheit, die näher bei Aristoteles als bei Thomas von Aquin liegt.721 Wie aber lässt sich die Strukturgleichheit von Satz und Sachverhalt feststellen? Wittgenstein zufolge ist ein Vergleich von Satz und Wirklichkeit erforderlich (TLP 4.05). Wie dieser Vergleich genau abläuft, erklärt er nicht. Jedenfalls beruht er auf einer Analyse von Sätzen, deren Resultat die nicht mehr zerlegbaren Elementarsätze sind (s. TLP 4.221, 4.2211, 4.26).722 Die „truthmaker“ der Elementarsätze sind aber nicht die Gegenstände, auf die deren Namen referieren, sondern die aus diesen Gegenständen zusammengesetzten Sachverhalte, deren Bestehen die Elementarsätze behaupten. Wahrheit oder Falschheit ist damit auch von logischen Gegebenheiten (Sachverhalte haben stets eine logische Form) abhängig.723 Ausgehend von den Wahrheitswerten der Elementarsätze lässt sich die Wahrheit oder Falschheit weiterer Sätze ermitteln: „Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze.“ (TLP 5). So ist zum Beispiel die Konjunktion p ^ q genau dann wahr, wenn die Elementarsätze p und q jeweils wahr sind. Sind p oder q oder beide Elementarsätze falsch, ist auch die Konjunktion p ^ q falsch. Die Implikation p ! q ist falsch, wenn p wahr und q falsch ist; in allen anderen Fällen ist sie wahr. Auch die Wahrheit oder Falschheit viel komplexerer Sätze kann man auf diese Weise aus den Wahrheitswerten ihrer Elementarsätze schließen.

720

Vgl. hierzu Travis, The Proposition’s Progress, in: Kuusela/McGinn (Hrsg.), Wittgenstein-Handbook, S. 183, 184. 721 Zu einer deflationistischen Lesart vgl. Johnston, Assertion, Saying and Propositional Complexity in Wittgenstein’s Tractatus, in: Kuusela/McGinn (Hrsg.), Wittgenstein-Handbook, S. 60, 71. 722 Vgl. Kuusela, The Development of Wittgenstein’s Philosophy, in: ders./McGinn (Hrsg.), Wittgenstein-Handbook, S. 597, 602. 723 S. hierzu Mulligan/Simons/Smith, Wahrmacher, in: Puntel (Hrsg.), Wahrheitsbegriff, S. 210, 240 f.

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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bb) Die Korrespondenztheorie bei Russell Bertrand Russell hat zu Beginn seiner Vorlesungsreihe aus dem Jahr 1918 mit dem Titel „The Philosophy of Logical Atomism“ auf die große Bedeutung seines einstigen Schülers Wittgenstein für seine eigene philosophische Entwicklung hingewiesen.724 Charakteristisch ist für beide Denker die ständige Auseinandersetzung mit ihren eigenen Ansichten. Doch während Wittgenstein seine frühen Positionen zu Ontologie, Logik, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie im „Tractatus“ (seiner einzigen Veröffentlichung zu Lebzeiten) gebündelt hat, steht man bei Russell vor einer Reihe von Aufsätzen, Büchern, veröffentlichten Vorlesungen und anderen Beiträgen, in denen er seine Auffassung permanent weiterentwickelt hat. Daher erscheint es sinnvoll, sich auf einen bestimmten Zeitraum und bestimmte zusammenhängende Werke zu beschränken. Hier bilden zwei zentrale Aufsätze von Russell zum Wahrheits- und Wissensbegriff, sein in erheblichem Umfang darauf zurückgreifendes Werk „The Problems of Philosophy“ von 1912 und ergänzend seine Vorlesungsreihe zum logischen Atomismus die Grundlage der Analyse. (1) Der Wahrheitsbegriff Russell hat betont, dass die Frage nach der Bedeutung von „wahr“ und „falsch“ von der Frage zu trennen ist, wie wir wissen können, dass etwas wahr oder falsch ist,725 mit anderen Worten zwischen Wahrheitstheorie beziehungsweise Wahrheitsbegriff einerseits und Wahrheitskriterium andererseits unterschieden. Für jede Wahrheitstheorie stellt er drei unbedingt zu erfüllende Bedingungen auf: Sie muss erstens auch den Begriff der Falschheit umfassen, zweitens Vorstellungen, Behauptungen und Urteile einbeziehen und drittens Wahrheit oder Falschheit stets von etwas außerhalb der Vorstellungen etc. selbst abhängig machen.726 Ohne die erste Bedingung laufe eine Wahrheitstheorie darauf hinaus, das gesamte Denken für wahr zu erklären.727 Zur zweiten merkt Russell an, in einer nur aus Tatsachen bestehenden Welt könne es keine Wahrheit und Falschheit geben, da diese sich ausschließlich auf menschliche Vorstellungen und Urteile bezögen.728 Die dritte Bedingung erklärt er schlicht für evident („plain“).729 Wie aber sieht die Relation von urteilendem Geist und Welt im Detail aus? Russell wendet sich gegen die Ansicht Meinongs, jedes Urteil beziehe sich nur auf ein einzelnes Objekt, und diese Objekte der Urteile seien selbst wahr oder falsch. Dann 724

S. Russell, The Philosophy of Logical Atomism, S. 1. Russell, On the Nature of Truth and Falsehood, in: Philosophical Essays, S. 170, 172; ders., The Problems of Philosophy, S. 187. 726 Ebd., S. 188 f. 727 Ebd., S. 188. 728 Ebd.; s. auch ders., On the Nature of Truth and Falsehood, in: Philosophical Essays, S. 170, 173. 729 Ebd., S. 173; vgl. auch ders., The Philosophy of Logical Atomism, S. 6. 725

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

wäre ein Urteil wahr, wenn ihm in der Welt ein einzelnes wahres Objekt entspräche, und falsch, wenn ihm ein einzelnes falsches Objekt entspräche. Zumindest bei falschen Urteilen, so Russell, ist die Annahme korrespondierender Einzelobjekte nicht plausibel.730 Andernfalls müsste es in der Welt „objective falsehoods“ unabhängig von einem urteilenden menschlichen Geist geben731 – eine Annahme, die der oben genannten zweiten Grundbedingung jeder Wahrheitstheorie widerspricht, wonach lediglich Vorstellungen und Urteile wahr oder falsch sein können. Nur wahren Urteilen korrespondierende wahre Einzelobjekte zuzuschreiben, kommt nach Russell ebenfalls nicht in Betracht. Denn dann bezögen sich falsche Urteile anders als wahre auf überhaupt nichts, und man müsste für erstere die Annahme aufgeben, Urteile seien eine Verbindung von Geist und Objekt. Außerdem würde damit die Falschheit eines Urteils aus nichts anderem als dem Urteil selbst folgen.732 An die Stelle solcher Vorstellungen setzt Russell ein Verständnis von Urteilen als komplexen Relationen: „What is called belief or judgment is nothing but this relation of believing or judging, which relates a mind to several things other than itself“.733 Dazu ein Beispiel: Der Satz „A hat B mit einer Pistole bedroht.“ ist nicht eine Verbindung von urteilendem Ich und dem Bedrohungsgeschehen als einem einheitlichen Objekt der Welt. Die Urteilsrelation im Sinne Russells sieht vielmehr so aus: {„(urteilendendes) Ich“ und „A“ und „B“ und „bedrohen“ und „mit einer Pistole“}. Die Bestandteile eines Urteils könnte man auch anders kombinieren, im Beispiel etwa A und B vertauschen. Russell geht indes davon aus, dass jedes Urteil eine ganz bestimmte Struktur hat, die er mit den Begriffen „sense“, „direction“ und „order“ beschreibt.734 Damit kann er sein korrespondenztheoretisches Wahrheitsverständnis so formulieren: „Thus a belief is true, when it corresponds to a certain associated complex, and false when it does not. […] Judging or believing is a certain complex unity of which a mind is a constituent; if the remaining constituents, taken in the order which they have in the belief, form a complex unity, then the belief is true; if not, it is false.“735

Vorstellungen können zwar Russell zufolge nicht ohne menschlichen Geist existieren. Zugleich ist ihre Wahrheit aber von diesem unabhängig und hängt nur von der Struktur der Welt ab.736 Was die Bestandteile der Korrespondenzbeziehung an730

Ders., On the Nature of Truth and Falsehood, in: Philosophical Essays, S. 170, 173, 175. Ebd., S. 176. 732 Ebd., S. 176 f.; s. auch The Problems of Philosophy, S. 193 f. 733 The Problems of Philosophy, S. 197; s. auch S. 194 ff.; ders., On the Nature of Truth and Falsehood, in: Philosophical Essays, S. 170, 178, 180; ausführlich zur Entwicklung von Russells Position Sullivan/Johnston, Judgments, Facts, and Propositions, in: Glanzberg (Hrsg.), Truth-Handbook, S. 150, 152 ff. 734 Russell, On the Nature of Truth and Falsehood, in: Philosophical Essays, S. 170, 183 f.; ders., The Problems of Philosophy, S. 197 f. 735 Ebd., S. 201. 736 Ebd., S. 202. 731

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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geht, weist sein Ansatz eine Besonderheit auf. Danach steht auf der einen Seite ein Komplex aus Objekten der Realität, für den Russell den gängigen Begriff „fact“ wählt.737 Diesem steht in den „Problems of Philosophy“ aber nicht, wie man erwarten würde, der Begriff der Proposition gegenüber, sondern der der Vorstellung („belief“). Unter Propositionen versteht Russell dagegen dort eine in ihrem Wahrheitswert feststehende geistige Entität, die verschiedene Beschreibungen gleichermaßen ausdrücken können.738 Wenige Jahre später hat er jedoch in „The Philosophy of Logical Atomism“ beschränkt auf den Bereich der Logik Propositionen zum Gegenstück von Fakten erklärt.739 Hier sind Propositionen allerdings keine eigenständigen Entitäten mehr, die erst durch Sätze ausgedrückt werden müssen, sondern behauptende Sätze im Indikativ.740 (2) Wahrheit, Wissen und wahrscheinliche Meinung Anders als Wittgenstein in seinem „Tractatus“ befasst sich Russell auch näher mit der Frage, wie wir wissen können, welche unserer Vorstellungen und Urteile wahr und welche falsch sind. Er verwendet den Begriff der Handelsmarke, um den Unterschied zwischen der Bedeutung von „wahr“ und einem Wahrheitskriterium zu verdeutlichen, und meint, die Frage nach letzterem sei nicht abschließend und allgemein zu beantworten.741 Dennoch befasst er sich insbesondere in den „Problems of Philosophy“ ausführlich mit diesem Problemkreis und stützt sich dabei auf ein differenziertes Wissenskonzept. Russell grenzt wahre Vorstellungen beziehungsweise Meinungen („beliefs“) von Wissen mit der Erwägung ab, dass erstere auch das Ergebnis falscher Schlüsse sein könnten.742 Er unterscheidet grundsätzlich zwei Arten von Wissen, „knowledge of truths“ und „knowledge of things“, die er unter anderem mit dem deutschen Verbpaar „wissen“ und „kennen“ charakterisiert.743 Beide Wissensformen fächert er weiter auf; zudem stellt er einige Querverbindungen her. Zunächst zur zweiten Wissensform, dem „knowledge of things“: Dieses unterteilt Russell in unmittelbares Wissen („knowledge by acquaintance“) und Beschreibungswissen („knowledge by description“). „Knowledge by acquaintance“ erklärt er folgendermaßen: „I say that I am acquainted with an object when I have a direct cognitive relation to that object, i. e. when I am directly aware of the object itself.“744 737

Ebd. Ebd., S. 84, 89. 739 S. ders., The Philosophy of Logical Atomism, S. 10. 740 S. ebd. 741 Ders., On the Nature of Truth and Falsehood, in: Philosophical Essays, S. 171, 172 f.; ders., The Problems of Philosophy, S. 187. 742 Ebd., S. 205 f. 743 Ebd., S. 69 f., 72. 744 Ders., Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, Proceedings of the Aristotelian Society 11 (1910-1911), 108 (Hervorhebung im Original); s. auch ders., The Problems of Philosophy, S. 73. 738

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

Diese Beziehung ist nicht eine solche, wie sie bei Urteilen besteht, sondern eine der Präsentation.745 Man sagt also nichts über ein Objekt aus, sondern hat unmittelbaren Zugang zu ihm. Was aber fällt alles unter unmittelbares Wissen? Solches Wissen umfasst zum einen eigene Sinnesdaten, eigene mentale Zustände, Gegenstände der Erinnerung und (Russell legt sich hier nicht fest) möglicherweise auch das eigene Ich.746 Diese Objekte gehören in Russells Ontologie zu den Partikularien („particulars“).747 Zum anderen können wir nach Russell unmittelbares Wissen von Universalien („universals“) haben.748 Das sind bei Russell nichts anderes als Platons Ideen in leicht veränderter Gestalt, nämlich durch Abstraktion erkennbare allgemeine Konzepte. Russell fasst darunter unter anderem sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften (wie „Weißsein“), räumliche und zeitliche Relationen (wie „nördlich von“) und Konzepte wie Gerechtigkeit oder Ähnlichkeit.749 Universalien sind ihm zufolge nicht mental und existieren nicht materiell, sondern bestehen unabhängig von unserem Geist und außerhalb von Raum und Zeit („the world of being“).750 Keine unmittelbare Kenntnis ist laut Russell dagegen hinsichtlich körperlicher Gegenstände selbst und dem Geist anderer Menschen möglich. Solche Objekte können nur durch Beschreibungen Teil unseres Wissens werden („knowledge by description“).751 Eine Beschreibung ist nach Russell jeder Satz der Form „a so-andso“ oder „the so-and-so“.752 Letztere Sätze, die bestimmten Beschreibungen, stehen im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Wir haben danach allgemein von einem Objekt Wissen durch eine bestimmte Beschreibung, wenn wir wissen, dass es ein einziges Objekt gibt, das eine bestimmte Eigenschaft hat, und wenn wir dieses Objekt nicht unmittelbar kennen.753 Beschreibungen stünden auch hinter vielen gewöhnlichen

745

Ders., Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, Proceedings of the Aristotelian Society 11 (1910-1911), 108. 746 Ebd., 109 f. ; ders., The Problems of Philosophy, S. 73, 75 ff., 171. 747 S. ebd., S. 171; ders., Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, Proceedings of the Aristotelian Society 11 (1910-1911), 108, 111; Russell versteht darunter „all existents, and all complexes of which one or more constituents are existents“ (ebd., S. 112). 748 Ebd., S. 112; ders., The Problems of Philosophy, S. 81, 158 ff., 171. 749 Ebd., S. 81, 142 f., 145, 152 f., 158 ff. 750 Ebd., S. 152 ff. 751 Ders., Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, Proceedings of the Aristotelian Society 11 (1910-1911), 108, 112; ders., The Problems of Philosophy, S. 74 f., 81; ausführlich zu Russells Theorie der Beschreibungen Bostock, Russell’s Logical Atomism, S. 31 ff. 752 Russell, Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, Proceedings of the Aristotelian Society 11 (1910-1911), 108, 112. 753 Ebd., 113; Russell führt als Beispiel den „Mann mit der eisernen Maske“ an; s. auch ders., The Problems of Philosophy, S. 82 f.

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

165

Wörtern und vermeintlich echten Namen (die auf ein bestimmtes Objekt unmittelbar referieren müssten).754 In welchem Verhältnis stehen die beiden Arten von Wissen? Russells Theorie der Beschreibungen enthält ein fundamentales Prinzip der Analyse von beschreibenden Sätzen in solche Bestandteile, die wir unmittelbar kennen: „Every proposition we can understand must be composed wholly of constituents with which we are acquainted.“755 Entscheidend ist dabei der Rückgang auf das unmittelbare Wissen jedes Einzelnen. Dementsprechend zielt die Analyse beschreibender Sätze nicht auf die Bedeutung („denotation“) des Satzes im Sinne Freges, also seine Referenz auf ein bestimmtes Objekt der Welt, das wir als Einzelne wahrscheinlich nicht unmittelbar kennen. Solche Referenz ist für Russell (außer ein Satz enthält echte Namen) kein Bestandteil von Sätzen; diese haben durch ihre Zusammensetzung aber Sinn („meaning“) und sagen so etwas über die Welt aus.756 Als entscheidendes Argument für die Richtigkeit seines Analyseprinzips führt Russell an, man könne schwerlich über etwas urteilen oder etwas annehmen, ohne zu wissen, was der Gegenstand des Urteils oder der Annahme überhaupt ist. Außerdem könne man Wörter nicht verwenden, ohne ihnen irgendeine Bedeutung beizulegen, und diese Bedeutung könne wiederum nur in etwas bestehen, das man unmittelbar kennt.757 Dieses analytische Programm ist der Vorbote einer in weiten Teilen mit dem „Tractatus“ Wittgensteins übereinstimmenden Konzeption, die Russell wenige Jahre später in „The Philosophy of Logical Atomism“ ausgebreitet hat. Danach ist die Welt aus Tatsachen („facts“) und Einzeldingen („particulars“) zusammengesetzt, beschreiben Sätze Tatsachen, bedeuten Namen einzelne Dinge und sind komplexe Sätze Wahrheitsfunktionen nicht weiter zerlegbarer Atomsätze, deren Wahrheitswerte sie wahr oder falsch machen.758 Auch wenn Russell allgemein Beschreibungswissen auf unmittelbares Wissen („knowledge by acquaintance“) zurückführt, spricht er ihm doch eine sehr wichtige Funktion zu. Gäbe es nur unmittelbares Wissen, könnten wir demnach nichts wissen, was unsere eigene unmittelbare Erfahrung überschreitet. Durch Beschreibungen ist es uns dagegen möglich, auch Wissen über Gegenstände zu erlangen, mit denen kein 754 Ders., Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, Proceedings of the Aristotelian Society 11 (1910-1911), 108, 114; ders., The Philosophy of Logical Atomism, S. 29. 755 Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, Proceedings of the Aristotelian Society 11 (1910-1911), 108, 117 (Hervorhebung im Original); in The Philosophy of Logical Atomism, S. 85 verwendet Russell zudem die prägnante Formulierung „the description is broken up and disappears“; näher zum „linguistic atomism“ bei Wittgenstein und Russell Proops, Logical Atomism in Russell and Wittgenstein, in: Kuusela/McGinn (Hrsg.), Wittgenstein-Handbook, S. 214, 218, 220. 756 Russell, Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, Proceedings of the Aristotelian Society 11 (1910-1911), 108, 120 ff. 757 Ebd., 117; ders., The Problems of Philosophy, S. 91. 758 Ders., The Philosophy of Logical Atomism, S. 6 ff., 12 ff., 15 f., 19, 26 f., 37 ff., 111; ders., Logical Atomism, S. 141, 143, 148 ff.

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

Berührungspunkt in unserer eigenen Erfahrung besteht.759 Ein Beispiel dafür ist das Leben historischer Persönlichkeiten. Worin aber besteht Russells „knowledge of truths“, das er dem in Beschreibungswissen und unmittelbare Kenntnis zerfallenden „knowledge of things“ gegenüberstellt? Diese weitere Form des Wissens betrifft unsere Urteile.760 Es setzt sich aus intituitivem („intuitive knowledge“) und abgeleitetem Wissen („derivative knowledge“) zusammen. Intuitives Wissen beinhaltet nach Russell zum einen erfahrungsunabhängige, selbstevidente logische Prinzipien wie den Satz vom Widerspruch und weitere Schlussformen wie das Induktionsprinzip. Zum anderen – hier treffen Wahrheits- und Wissensbegriff unvermittelt aufeinander – erfasst es unmittelbar aus eigener sinnlicher Wahrnehmung folgende, selbstevidente Wahrheiten („truths of perception“) samt den sie ausdrückenden Urteilen und Urteile über unmittelbare Gegenstände der Erinnerung.761 Abgeleitetes Wissen ist hingegen das, was man aus selbstevidenten Wahrheiten deduktiv schließt oder zumindest schließen kann.762 Die verschiedenen Grundformen von Wissen überschneiden sich bei Russell zum Teil. So kommt in seinem Konzept zwar unmittelbares Wissen („knowledge by acquaintance“) völlig ohne „knowledge of truths“ aus. Das gilt aber nicht für Beschreibungswissen, das immer auf selbstevidente Wahrheiten (etwa ein bestimmtes Schlussprinzip) angewiesen ist.763 Wie bereits in der Formulierung „knowledge of truths“ deutlich wird, besteht bei Russell auch ein enger Zusammenhang zwischen Wahrheits- und Wissensbegriff. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Konzepte von unmittelbarer Kenntnis („acquaintance“) und Selbstevidenz: Wahrheit ist danach in höchstem Maße selbstevident, wenn wir unmittelbares Wissen von den jeweils maßgeblichen Gegenständen besitzen. In Bezug auf mentale Zustände und Sinnesdaten ist eine derart hohe Selbstevidenz immer nur für eine einzige Person möglich, in Bezug auf Universalien hingegen auch für mehrere Personen.764 Doch obwohl Russell „knowledge by acquaintance“ für einen absoluten Garanten von Wahrheit hält, können ihm zufolge Urteile über unmittelbar bekannte Gegenstände nicht dieselbe Sicherheit beanspruchen. Denn beim Übergang von der reinen Wahrnehmung zum Urteilen könnten Fehler unterlaufen, da Urteile eine Analyse zusammengesetzter Fakten erforderten.765 Wissen, das nicht auf unmittelbarer eigener Wahrnehmung beruht, kann nach Russell eine andere, nicht absolute Form von Selbstevidenz aufweisen, 759

S. ders., The Problems of Philosophy, S. 92. Ebd., S. 69. 761 Ebd., S. 171, 175 ff., 180; nach Russell hat Selbstevidenz Grade (ebd., S. 183 f.). 762 Ebd., S. 171 f., 207 ff. 763 Ebd., S. 72 ff. 764 Ebd., S. 212 f. 765 Ebd., S. 213 f.; ders., On the Nature of Truth and Falsehood, in: Philosophical Essays, S. 170, 181 f. 760

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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deren Grad stark variiert.766 Um von solchem abgeleiteten Wissen sprechen zu können, müssen die einer Vorstellung zugrunde liegenden Prämissen gewisse Selbstevidenz besitzen und durch mehr oder weniger selbstevidente, deduktive Schlüsse mit der Vorstellung verbunden sein.767 Insgesamt ist damit für jede Form des Wissens Selbstevidenz notwendig, wenn auch in unterschiedlichem Umfang. Das unterscheidet Wissen von wahren Meinungen.768 Russell gelangt schließlich zu einer etwas verklausulierten Wissens- und Irrtumsdefinition: „What we firmly believe, if it is true, is called knowledge, provided it is either intuitive or inferred (logically or psychologically) from intuitive knowledge from which it follows logically. What we firmly believe, if it is not true, is called error.“769

Zwischen Wissen und Irrtum steht für Russell die wahrscheinliche Ansicht („probable opinion“), die einen großen Teil dessen ausmache, was wir gewöhnlich als Wissen bezeichnen. Wahrscheinliche Ansichten umfassen ihm zufolge alles, was wir zwar (vielleicht auch zweifelnd) annehmen, was aber nicht ein Höchstmaß an Selbstevidenz erreicht oder nicht aus etwas hochgradig Selbstevidentem folgt.770 In diesem Bereich, zu dem bei Russell immerhin auch wissenschaftliche und philosophische Hypothesen gehören, soll Kohärenz als Kriterium eine wichtige Rolle spielen. Ein Kohärenztest kann demnach zwar nicht absolute Sicherheit ergeben (außer solche Sicherheiten sind bereits im jeweiligen System enthalten), erlaubt aber ein Urteil über die Wahrscheinlichkeit einer Ansicht.771

766

Ders., The Problems of Philosophy, S. 214 f. Ebd., S. 216. 768 Bostock, Russell’s Logical Atomism, S. 135 weist darauf hin, dass Russell der von Platon im „Menon“ entwickelten Ansicht folgt, Wissen sei die gerechtfertigte wahre Meinung; Platon lässt dort Sokrates mit einem Gleichnis zu den scheinbar fliegenden Skulpturen des Daidalos (der aufgrund seiner herausragenden künstlerischen Fähigkeiten als erster Skulpturen mit Armen und Beinen ohne zusätzliche Befestigung am Torso geschaffen haben soll) den Unterschied zwischen Wissen und wahren Meinungen erklären: „Denn auch mit den wahren Meinungen hat es keine Not, solange sie ausharren, und ihre Wirkungen sind durchweg gut. Aber lange Zeit auszuharren ist nicht ihre Sache, sondern sie entweichen aus der Seele des Menschen; sie haben also keinen rechten Wert, den sie erst dann bekommen, wenn man sie festbindet durch denkende Erkenntnis des Grundes. Das aber ist, Freund Menon, die Wiedererinnerung, worüber wir früher übereingekommen sind. Wenn sie aber befestigt sind, so werden aus ihnen erstens sichere Erkenntnisse und zweitens erhalten sie dadurch die Kraft des Beharrens. Und darum ist denn das Wissen von höherem Wert als die richtige Meinung und das befestigende Band ist es, was die Wissenschaft von der wahren Meinung unterscheidet.“ (Menon, 98a). 769 Russell, The Problems of Philosophy, S. 217 (Hervorhebungen im Original). 770 Ebd. 771 Ebd., S. 217 ff.; als Grundlage einer Wahrheitstheorie lehnt Russell Kohärenz dagegen ab (s. ebd., S. 190 ff., 217 f.). 767

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

b) Der semantische Wahrheitsbegriff Tarskis Der philosophische Ansatz Tarskis ist stark von Techniken der modernen Logik geprägt. Doch das allein unterscheidet ihn kaum von Wahrheitskonzepten des logischen Atomismus wie Wittgensteins Isomorphietheorie. Das revolutionäre Element bei Tarski besteht vielmehr darin, das Wahrheitsproblem auf der Ebene der Semantik anzugehen. Zugleich beschränkt Tarski seine Lösung auf bestimmte formalisierte Sprachen und erteilt einer umfassenden, auch die Alltagssprache umfassenden Wahrheitsdefinition eine Absage. aa) Grundsätzliche Formulierung des Problems bei Tarski und Selbstverortung seines Ansatzes Tarski hat in zwei grundlegenden Texten seine Fragestellung mit großer Präzision formuliert. Danach geht es ihm nicht um die Ausarbeitung einer Wahrheitstheorie, sondern um eine befriedigende Wahrheitsdefinition.772 Er will den Begriff „wahr“ nicht auf in ihrem Gehalt umstrittene Propositionen, sondern nur auf Sätze („sentences“) anwenden.773 Zudem meint er, dass sich eine Wahrheitsdefinition immer nur für eine bestimmte Sprache aufstellen lässt, eine allgemeine Definition dagegen gar nicht möglich ist.774 Eine Wahrheitsdefinition soll schließlich dann zufriedenstellend sein, wenn sie in materieller Hinsicht adäquat und formal korrekt ist.775 Tarski selbst hat einige Verbindungen zu den (möglichen) Ursprüngen der Korrespondenztheorie und deren verschiedenen Fassungen hergestellt. So äußert er, sein Ziel sei es, die „Intentionen zu erfassen, welche in der sog. ,klassischen‘ Auffassung der Wahrheit enthalten sind (,wahr – mit der Wirklichkeit übereinstimmend‘)“776. An anderer Stelle schreibt er, mit seiner Definition die Grundgedanken („intuitions“) der aristotelischen Wahrheitskonzeption in der „Metaphysik“ treffen zu wollen, die er für präziser als ihre späteren philosophischen Verwandten (mit der Terminologie „Übereinstimmung“, „Korrespondenz“ oder „Bezeichnung“) hält.777 Hinzu kommt, dass Tarski philosophiegeschichtlich der sogenannten Lemberg-Warschauer Schule entstammt, deren Gründer Twardowski ein Verfechter der Korrespondenztheorie war und dessen Schüler Łukasiewicz, Les´niewski und Kotarbin´ski ihn stark beeinflusst 772 Tarski, Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 264; ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341. 773 Ebd., 342. 774 Ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 265 f.; ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 342. 775 Ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 264; ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341. 776 Ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 265. 777 Ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 342 f.; ausführlich zur Selbstverortung Tarskis in verschiedenen Werken und zu dessen nicht einheitlichem Sprachgebrauch Fernández Moreno, Wahrheit und Korrespondenz, S. 32 ff.

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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haben.778 Diese Umstände erlauben es, ihn im Zusammenhang mit Vertretern der Korrespondenztheorie zu behandeln. Bei der Diskussion seines Ansatzes unter philosophischen Gesichtspunkten und im weiteren Verlauf der Arbeit werden allerdings die Zweifel daran wachsen, dass er selbst eine Form der Korrespondenztheorie vertreten hat. bb) Materielle Adäquatheit, die Äquivalenzen der Form (T) und der semantische Charakter des Wahrheitsbegriffs Die Bedingung materieller Adäquatheit verlangt nach Tarski, dass eine Wahrheitsdefinition der bereits erwähnten „klassischen“, aber einer Präzisierung bedürftigen Konzeption von Wahrheit genügt.779 Wie aber lässt sich ein Kriterium dafür angeben? Tarski verwendet für seine Lösung ein einfaches Beispiel, den Satz „Schnee ist weiß“.780 Folgt man der „klassischen“ Auffassung, dann ergibt sich die folgende Äquivalenz: „Schnee ist weiß“ ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist.781

Auf der rechten Seite dieser Äquivalenz steht der Satz selbst, auf der linken Seite (erkennbar an den Anführungszeichen) der Name dieses Satzes.782 Darin kommt eine Auffassung zum Vorschein, die sich nach Tarski alltagssprachlich so beschreiben lässt: „eine wahre Aussage ist eine Aussage, welche besagt, dass die Sachen sich so und so verhalten, und die Sachen verhalten sich eben so und so.“783 Für solche Äquivalenzen bildet Tarski eine allgemeine Form, die sogenannte Form (T): X ist wahr dann und nur dann, wenn p.784

Hier steht p für einen beliebigen Satz und X für den Namen dieses Satzes. Setzt man für p einen bestimmten Satz ein, erhält man eine Äquivalenz der Form (T). Solche Äquivalenzen bilden aber noch keine allgemeine Wahrheitsdefinition für alle Sätze einer bestimmten Sprache. Vielmehr ist jede Äquivalenz der Form (T) eine spezielle Wahrheitsdefinition für den in das angegebene Schema eingesetzten Satz.785 778

S. die aufschlussreiche Darstellung ebd., S. 39 ff. S. Tarski, The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 342 ff. 780 Ebd., 343; vgl. auch ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 269 mit dem Beispiel „Es schneit“. 781 S. ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 343; hier wird das Beispiel ins Deutsche übersetzt und in seiner Struktur an die deutschen alltagssprachlichen Beschreibungen logischer Symbole angepasst. 782 Ebd., 343. 783 Ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 268. 784 S. ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 344. 785 Ebd. 779

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

Das in den Äquivalenzen der Form (T) und in dem entsprechenden Schema aufscheinende Wahrheitskonzept hat nach Tarski semantischen Charakter.786 Unter Semantik versteht er die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Beziehung zwischen sprachlichen Ausdrücken und den von diesen in Bezug genommenen Objekten befasst; typische semantische Konzepte sind für ihn die der Bezeichnung, Erfüllung und Definition.787 Auch der Wahrheitsbegriff soll ein semantischer Begriff sein. Zum einen wird das bereits in den Äquivalenzen der Form (T) deutlich, die eine Beziehung zwischen einem Namen und einem von dem Namen bezeichneten Satz herstellen, so wie die Korrespondenztheorie allgemein auf einer Beziehung von Aussagen und von den Aussagen in Bezug genommenen Gegenständen beziehungsweise Sachverhalten beruht.788 Zum anderen lässt sich Tarski zufolge eine exakte Definition von Wahrheit am einfachsten über einen anderen semantischen Begriff, nämlich den der Erfüllung, gewinnen.789 Das begründet er allerdings nicht weiter. cc) Anforderungen an die formale Korrektheit einer Wahrheitsdefinition (1) Allgemeine Erfordernisse Um dem Erfordernis formaler Korrektheit zu genügen, muss die Wahrheitsdefinition in einer Sprache mit genau bestimmter Struktur erfolgen; nur so lassen sich Mehrdeutigkeiten und Antinomien vermeiden.790 Von einer exakt bestimmten Struktur einer Sprache kann man nach Tarski unter folgenden Voraussetzungen sprechen: Die Klasse aller Wörter und Ausdrücke, die für sinnvoll erachtet werden, muss in eindeutiger Weise angegeben werden (insbesondere müssen alle Wörter angegeben werden, die undefiniert gebraucht werden sollen, und die Definitionsregeln, um neue definierte Terme einzuführen); Kriterien müssen aufgestellt werden, um innerhalb der Klasse von Ausdrücken die Ausdrücke zu identifizieren, die als Sätze gelten; schließlich müssen die Bedingungen formuliert werden, unter denen ein Satz behauptet werden kann (dafür müssen alle Axiome und Ableitungs- beziehungsweise Beweisregeln mitgeteilt werden).791 Von einer formalisierten Sprache

786

Ebd., 345. Ebd.; näher Fernández Moreno, Wahrheit und Korrespondenz, S. 7. 788 In diese Richtung auch ebd., S. 7. 789 Tarski, The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 345; s. auch ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 267 f. 790 Ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 346. 791 Ebd., 346; s. auch ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 279 f. 787

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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kann man dann sprechen, wenn bei der Bestimmung ihrer Struktur ausschließlich die Form der gebrauchten Ausdrücke maßgeblich ist.792 (2) Antinomien und die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache Diese allgemeinen Bedingungen genügen aber noch nicht, um eine Wahrheitsdefinition gegen auftretende Antinomien abzusichern. Solche Antinomien sind bereits seit der Antike bekannt, insbesondere die Lügner-Paradoxien. Man stelle sich eine Hauptverhandlung mit einem aussagebereiten Angeklagten (§ 243 Abs. 5 Satz 2 StPO) vor, der seiner Aussage den Satz „Ich lüge jetzt.“ voranstellt. Ist dieser Satz wahr, dann lügt der Angeklagte tatsächlich. Wenn er aber tatsächlich lügt, dann auch mit dem Satz „Ich lüge jetzt.“ Also sagt der Angeklagte die Wahrheit. Wenn er aber die Wahrheit sagt, dann lügt er etc. Aus diesem circulus vitiosus gibt es auf den ersten Blick für das Gericht kein Entkommen. Es wäre verfehlt – so meint Tarski ganz richtig – das als harmlose intellektuelle Spielerei anzusehen; immerhin werden wir durch Antinomien dazu gebracht, einen falschen Satz zu behaupten.793 Um das Problem zu lösen, stellt Tarski die Antinomie des Lügners in einer auf Łukasiewicz zurückgehenden Form dar794, die hier aus Gründen der Anschaulichkeit rekonstruiert werden soll: „s“ sei das Symbol für folgenden Satz: Der auf S. 171, Zeile 19 dieser Arbeit gedruckte Satz ist nicht wahr. Eine Äquivalenz der Form (T) ergibt: (1) „s“ ist wahr dann und nur dann, wenn der auf S. 171, Zeile 19 dieser Arbeit gedruckte Satz nicht wahr ist. Empirisch (durch Lesen dieser Seite) lässt sich feststellen: (2) „s“ ist mit dem auf S. 171, Zeile 19 dieser Arbeit gedruckten Satz identisch. Daher lässt sich in (1) „der auf S. 171, Zeile 19 dieser Arbeit gedruckte Satz“ durch „s“ ersetzen, und es ergibt sich: (3) „s“ ist wahr dann und nur dann, wenn „s“ nicht wahr ist.

Tarski beobachtet, dass dieser Antinomie zwei unausgesprochene, wesentliche Annahmen zugrunde liegen. Zum einen die Annahme, dass die Sprache, in der die Antinomie gebildet wird, neben ihren Ausdrücken auch die Namen dieser Ausdrücke und semantische Begriffe wie „wahr“ enthält, die sich auf Sätze dieser Sprache 792 Ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 346; vgl. auch ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 279 f. 793 S. ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 348. 794 S. ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 270 f.; ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 347 f.; ausführlich zum Begriff der Antinomie und Tarskis Lösung Stegmüller, Wahrheitsproblem, S. 23 ff.

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

beziehen, und dass alle Sätze, die die richtige Verwendung von „wahr“ bestimmen, in dieser Sprache behauptet werden können; eine solche Sprache nennt Tarski semantisch geschlossen („semantically closed“).795 Zum anderen wird angenommen, dass in dieser Sprache die gewöhnlichen Gesetze der Logik gelten.796 Gäbe man die zweite Annahme auf, wären die Folgen unübersehbar. Daher muss die erste Annahme zurückgewiesen werden.797 Eine Wahrheitsdefinition darf damit nicht in einer semantisch geschlossenen Sprache erfolgen. Vielmehr sind zwei Ebenen zu unterscheiden: Die Objektsprache ist die Sprache, über die gesprochen wird und auf deren Sätze sich die Wahrheitsdefinition bezieht; die Metasprache ist dagegen die Sprache, mit der man über die Objektsprache spricht und in der die Wahrheitsdefinition für Sätze der Objektsprache erfolgen soll.798 Dabei ist zu beachten, dass auch eine Wahrheitsdefinition für Sätze der Metasprache in einer weiteren Sprache, der MetaMetasprache angegeben werden kann.799 Die Wahrheitsdefinition und alle von dieser implizierten Äquivalenzen der Form (T) müssen in der Metasprache formuliert werden; daher muss die Metasprache die gesamte Objektsprache als einen Teil enthalten800 (die rechte Seite jeder in der Metasprache formulierten Äquivalenz enthält einen ursprünglich objektsprachlichen Satz). Zudem muss die Metasprache Namen für jeden Satz der Objektsprache bereitstellen und allgemeine logische Begriffe beinhalten.801 Diese Anforderungen lassen sich an einem Beispiel zeigen. In der folgenden Äquivalenz der Form (T) „Gras ist grün“ ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn Gras grün ist.

ist der in Anführungszeichen stehende Satz ein metasprachlicher Name, der Satz auf der rechten Seite eine metasprachliche Übersetzung eines objektsprachlichen Satzes, „wahre Aussage“ ein semantischer Begriff der Metasprache und die Formel „dann und nur dann, wenn“ ein metasprachlicher logischer Ausdruck. Neben die für Objekt- und Metasprache einzeln geltenden Erfordernisse tritt schließlich die Bedingung, dass die Metasprache wesentlich reichhaltiger („essentially richer“) als die Objektsprache sein, also logische Variablen eines höheren Typus als diese enthalten muss.802 Ansonsten lässt sich die metasprachliche Wahr795 Tarski, The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 348. 796 Ebd. 797 Ebd., 349; vgl. Stegmüller, Wahrheitsproblem, S. 38 f. 798 Tarski, The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 349 f.; ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 281 f.; ausführlich dazu Stegmüller, Wahrheitsproblem, S. 38 ff. 799 Tarski, The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 350. 800 Ebd. 801 Ebd. 802 Ebd., 351.

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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heitsdefinition in die Objektsprache übersetzen und die Antinomie des Lügners erneut konstruieren.803 (3) Konsequenzen mit Blick auf die Alltagssprache Die Alltags- beziehungsweise Umgangssprache genügt Tarski zufolge bereits nicht der allgemeinen formalen Bedingung einer exakt bestimmten Struktur.804 In ihr muss der Begriff „Wahrheit“ und die damit zusammenhängende Problematik deshalb immer in gewissem Umfang vage bleiben.805 Allerdings lässt sich die Unmöglichkeit einer alltagssprachlichen Wahrheitsdefinition nicht einfach damit begründen, dass die Alltagssprache semantisch geschlossen ist. Denn wir können, so Tarski, mangels einer exakt bestimmten Struktur noch nicht einmal sagen, welche Ausdrücke der Alltagssprache überhaupt Sätze sind und noch weniger, welche Sätze in ihr behauptet werden können.806 Die Alltagssprache hat indes eine Tendenz zum „Universalismus“: Jedes Wort und jeder Ausdruck einer anderen Sprache, insbesondere auch Namen und semantische Ausdrücke, müssen sich danach in sie übersetzen lassen; damit ist der Boden für Antinomien wie die Antinomie des Lügners bereitet.807 Eine materiell angemessene und formal einwandfreie Wahrheitsdefinition im Sinne Tarskis ist daher in der Alltagssprache grundsätzlich nicht möglich. dd) Der Weg zu einer Wahrheitsdefinition für einzelne Sprachen Sofern alle genannten Anforderungen eingehalten werden, kann man mithilfe logischer Verfahren eine Wahrheitsdefinition für die jeweilige Sprache über den semantischen Begriff der Erfüllung konstruieren. Tarski schlägt vor, alle Objekte zu bezeichnen, welche die grundlegendsten Funktionen erfüllen, und davon ausgehend die Bedingungen für die Erfüllung einer zusammengesetzten Funktion anzugeben; dieses Verfahren ist automatisch auch auf Sätze, also Satzfunktionen ohne freie Variable, anwendbar.808 Sätze würden entweder von allen gegebenen Objekten erfüllt oder von keinen, und dementsprechend gilt: „a sentence is true if it is satisfied by all objects, and false otherwise“.809 Damit ist allerdings nur ein grobes Konstruktions-

803

Ebd., 351 f. Ebd., 347, 349; s. zum Problem einer alltagssprachlichen Wahrheitsdefinition bei Tarski s. auch Stegmüller, Wahrheitsproblem, S. 15, 23, 26, 41. 805 Tarski, The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 347. 806 Ebd., 349. 807 Ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 278 f. 808 Ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 353. 809 Ebd. (Hervorhebung im Original); vgl. hierzu Soames, Was ist eine Theorie der Wahrheit?, in: Puntel (Hrsg.), Wahrheitsbegriff, S. 256, 263. 804

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muster vorgegeben. Die Wahrheitsdefinition für eine bestimmte Sprache anzugeben, erfordert einen erheblichen logischen Apparat.810 3. Übertragung auf den Strafprozess a) Gesetzliche Weichenstellungen zugunsten der Korrespondenztheorie? Der Frage, inwieweit sich die verschiedenen Varianten der Korrespondenztheorie und Tarskis semantischer Wahrheitsbegriff auf den Strafprozess nach der Strafprozessordnung übertragen lassen, geht eine weitere, grundsätzliche Frage voraus: Positionieren sich die Strafprozessordnung oder das Grundgesetz erkenntnistheoretisch zugunsten eines korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnisses? In diesem Fall müssten Überlegungen zur Übertragung weiterer Wahrheitstheorien auf das Strafverfahren als Glasperlenspiel erscheinen. aa) Strafprozessordnung Der Wortlaut des § 244 Abs. 2 StPO ist in erkenntnistheoretischer Hinsicht unergiebig. Schon die grammatikalische Struktur, wonach die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit den primär angesprochenen Untersuchungsgrundsatz ergänzt, spricht dagegen, der Norm eine grundsätzliche erkenntnistheoretische Positionierung zuzuschreiben. Die Formulierung „zur Erforschung der Wahrheit“ selbst ist erkenntnistheoretisch neutral: Mit der Vorgabe von Wahrheit als Ziel ist noch nichts über den Wahrheitsbegriff als solchen ausgesagt. Der Begriff „Erforschung“ evoziert eine Vorstellung von Wissenschaftlichkeit, die dem auf eine einigermaßen rasche, abschließende Entscheidung konkreter Fälle gerichteten Charakter des Strafprozesses von vornherein nicht gerecht wird.811 Eine bestimmte erkenntnistheoretische Vorgabe lässt sich auch aus ihm nicht ableiten. Die Gesetzessystematik legt es nicht eben nahe, den Wahrheitsbegriff korrespondenztheoretisch aufzufassen: Die Strafprozessordnung enthält zahlreiche grundund menschenrechtlich fundierte Beweisverbote, die einen umfassenden Zugriff auf den Sachverhalt und die Erhebung und Verwertung bestimmter Aussagen darüber gerade verhindern sollen. Ein korrespondenztheoretisches Programm wäre ganz abgesehen von aller erkenntnistheoretischen Problematik damit von vornherein nur rudimentär umzusetzen. Sonderbar erscheint ein korrespondenztheoretisches Wahrheitsverständnis zudem angesichts der herausgehobenen Rolle, die die freie richterliche Überzeugung einnimmt. Immerhin entscheidet nach § 261 StPO das Gericht letztlich nicht anhand der erforschten Wahrheit, sondern nach seiner 810

S. die Konstruktionshinweise für das mathematische Klassenkalkül bei Tarski, Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 279 ff. 811 S. auch MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 7, der zurecht hervorhebt, dass der Strafprozess „kein historisches Forschungsvorhaben ist“.

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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Überzeugung. Diese Anordnung wäre merkwürdig, wenn die Richter zuvor Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorien festgestellt, also mit dem tatsächlichen Geschehen vollkommen übereinstimmende oder strukturgleiche Aussagen getroffen haben müssten. Denn die Überzeugung wäre dann auf eine bloß ergänzende und eigentlich überflüssige subjektive Zustimmungshaltung gegenüber diesen Aussagen reduziert, was ihrem Rang als Entscheidungsmaßstab nicht entspricht. Zu diesem Rang passt eher ein subjektiver Wahrheitsbegriff, wie ihn RGSt 66, 163, BGHSt 10, 208 und viele weitere Entscheidungen bis heute vertreten, oder ein philosophischer Ansatz, der Überzeugung, Untersuchung und den Wahrheitsbegriff schlüssiger als die Korrespondenztheorien verbindet. Die historischen und genetischen Aspekte812 sind bereits im ersten Teil der Arbeit ausführlich behandelt worden. Hier seien nur einige wichtige Punkte nochmals genannt: Die Materialien zur Reichsstrafprozessordnung belegen zwar einen häufigen Einsatz der Erforschung „materieller Wahrheit“ als Argumentationstopos, aber keinen bestimmten erkenntnistheoretischen Gehalt dieser Formel. Der nationalsozialistische Gesetzgeber, der die „Erforschung der Wahrheit“ 1935 gesetzlich verankerte, begriff die „materielle Wahrheit“ nicht korrespondenztheoretisch, sondern stellte sie als völkischen Kampfbegriff einem liberal-rechtsstaatlichen Verfahrensverständnis gegenüber; damit verbunden war der Mystizismus des „Führerwillens“ als höchste Erkenntnisquelle. Das Gesetzgebungsverfahren zum Rechtsvereinheitlichungsgesetz von 1950 zeigt schließlich nur den Willen des Gesetzgebers, den etwas umgestalteten § 244 Abs. 2 StPO nicht als nationalsozialistische Vorschrift einzuordnen, aber kein korrespondenztheoretisches Verständnis dieser Norm. Ein solches ergibt sich auch nicht aus dem Gesetzgebungsverfahren zum Verständigungsgesetz, in dem Amtsaufklärungspflicht und „materielle Wahrheit“ eine wichtige Rolle gespielt haben: Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung erklärt die Entscheidung BGHSt 45, 193 zu strafprozessualen Verständigungen, die auch auf die Erforschung der „materiellen Wahrheit“ Bezug nimmt, für weiterhin maßstabsetzend.813 Die Verständigung soll mit den bestehenden Grundsätzen des Strafverfahrens, insbesondere dem zentralen Grundsatz der Wahrheitsermittlung, vereinbar sein; daher werde keine eigenständige, die Pflicht zur Erforschung „materieller Wahrheit“ aufgebende Form einer konsensualen Verfahrenserledigung eingeführt.814 Dieses Versprechen kann der Entwurf aber nicht einlösen. Während er Gericht und Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit einräumen will, sich „über den weiteren Fortgang und das Ergebnis [!] des Verfahrens zu verständigen“ und die Verständigung mit dem Begriff des „Einvernehmens“ erklärt, behauptet er zugleich, eine Verständigung als solche könne „niemals die Grundlage eines Urteils bilden“.815 Die 812 Zur sinnvollen, aber oft unterlassenen Abgrenzung s. Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 369 f.; MüKo-StPO/Kudlich, Einl. Rn. 588. 813 BT-Drs. 16/12310, S. 7. 814 Ebd., S. 8; s. auch S. 13. 815 Ebd., S. 13.

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Begründung laviert in dieser Art und Weise durchgehend zwischen der Einführung einer konsensualen Verfahrenserledigung und dem plakativen Bekenntnis zu Amtsaufklärungsgrundsatz und Erforschung der „materiellen Wahrheit“.816 Bezeichnenderweise findet sich dort keine Spur eines korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnisses, hätte sich doch ein ausdrückliches Festhalten am von den Verfahrensbeteiligten gerade nicht beeinflussbaren tatsächlichen Geschehen als Prüfstein der Wahrheit gerichtlicher Tatsachenfeststellungen mit der bezweckten einvernehmlichen, unkomplizierten und schnellen Verfahrenserledigung kaum in Einklang bringen lassen. Korrespondenztheoretisch formuliert holt das Gericht im Fall einer Absprache nur wenige Aussagen zum relevanten Sachverhalt ein und vergleicht diese Aussagen nicht mit der „Wirklichkeit“, sondern akzeptiert sie einfach. Die Begründung des Entwurfs rückt § 244 Abs. 2 StPO eher in die Nähe des im Überzeugungsbegriff aufgehenden subjektiven Wahrheitsbegriffs von RGSt 66, 163 und BGHSt 10, 208, wenn sie zu § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO meint: „Satz 2 stellt klar, dass auch dann, wenn der Verfahrensweg einer Verständigung beschritten wird, die Pflicht des Gerichtes zur Aufklärung des Sachverhaltes (§ 244 Absatz 2) unberührt bleibt. Eine Verständigung als solche kann niemals die Grundlage eines Urteils bilden. Es ist weiterhin die Überzeugung des Gerichts von dem von ihm festzustellenden Sachverhalt erforderlich.“817

Selbst wenn man schließlich – methodisch zweifelhaft – objektiv-teleologischen Erwägungen, wie sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wenigstens programmatisch den Schwerpunkt der Auslegung bilden818, den Vorzug geben wollte,819 könnte man § 244 Abs. 2 StPO schwerlich ein korrespondenztheoretisches Programm unterstellen. Zu wenig geben Wortlaut und Systematik als auch bei einer solchen Auslegung erforderliche Anhaltspunkte für einen entsprechenden „objektivierten Willen des Gesetzgebers“ her. Nebenbei bemerkt: Die Auslegung nach Wortlaut und Systematik verstärkt auch die Zweifel an einem das gesamte Strafverfahren beherrschenden Grundsatz der Erforschung „materieller Wahrheit“, die im Zuge der historischen Analyse aufge816 Ganz ähnlich bereits Kudlich, Gutachten DJT 2010, C 60; s. auch Jahn/Müller, NJW 2009, 2625, 2631. 817 BT-Drs. 16/12310, S. 13; s. auch S. 8 („Überzeugung des Gerichts vom festgestellten Sachverhalt“). 818 S. BVerfGE 1, 299, 312; 6, 55, 75; 10, 234, 244; 11, 126, 130; diesem folgend BGHSt 17, 21, 23; 20, 104, 107; näher zur Methodik des Bundesverfassungsgerichts Müller/ Christensen, Juristische Methodik I, S. 46 ff. 819 S. zum Streit zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Theorie Larenz, Methodenlehre, S. 316 ff.; ders./Canaris, Methodenlehre, S. 137 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 17 ff.; zutreffende Kritik am vermeintlich eigenständigen teleologischen Auslegungselement üben Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 383 („keine Methode, sondern bereits ein Ergebnis“); s. auch die grundsätzliche Kritik von Heck, AcP 112 (1914), 1 ff. an der „objektiven“ Theorie und die berechtigte Warnung von Kudlich, in: FS Stöckel, S. 93, 113 sowie MüKo-StPO/ders., Einl. Rn. 590 vor der teleologisch verbrämten Ausweitung von Straftatbeständen und strafprozessualen Eingriffsbefugnissen.

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kommen sind. Ein solcher Grundsatz ist nirgendwo in der Strafprozessordnung eigens normiert. Der dafür in Beschlag genommene § 244 Abs. 2 StPO enthält das entscheidende Adjektiv „materiell“ nicht und stellt anders als die ursprüngliche Regelung von 1935 nicht die Erforschung der Wahrheit, sondern den Untersuchungsgrundsatz in den Mittelpunkt. Diese Norm gehört zudem zum 6. Abschnitt des 2. Buchs der Strafprozessordnung, der zunächst nur die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug betrifft. Die Aufklärungsmaxime samt Wahrheitserforschungspflicht steht darüber hinaus nicht am Beginn des 6. Abschnitts, wie es dem angeblich überragenden Ziel der „materiellen Wahrheit“ entspräche, ja noch nicht einmal am Beginn des § 244 StPO. Wer im Übrigen der Rechtsprechung folgend „materielle Wahrheit“ zur „objektiven“, absoluten Wahrheit überhöht, müsste erklären, wie ein entsprechendes oberstes Verfahrensziel mit den diversen Beweisverboten der Strafprozessordnung zu vereinbaren ist. bb) Grundgesetz Noch unergiebiger ist eine den gängigen Canones folgende Auslegung des Grundgesetzes. Der Wortlaut der Art. 20 Abs. 3, 2 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 1, die das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Begründungslinien zur „materiellen Wahrheit“ herangezogen hat, ist unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten völlig neutral. Aus den Gesetzesmaterialien wird deutlich, dass in den Beratungen des vom Parlamentarischen Rat gebildeten Ausschusses für Grundsatzfragen, der sich auch mit dem Rechtsstaatsprinzip befasste, ein strafprozessuales Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ keine Rolle gespielt hat.820 Das bestätigt die Ansicht Jahns821, wonach es auf eine Fiktion hinausliefe, dem Parlamentarischen Rat zu unterstellen, er habe mit dem Rechtsstaatsprinzip unausgesprochen eine auf „materielle Wahrheit“ fixierte „communis opinio“ zum strafprozessualen Wahrheitsbegriff verbunden. Weiter noch: Eine solche communis opinio hat vor 1933 zu keinem Zeitpunkt bestanden und war im „Dritten Reich“ rein ideologisch bestimmt. Der völlige Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems machte es auch für die zahlreichen NS-Justizjuristen und -Strafrechtswissenschaftler, die ihre Karrieren nach 1945 bruchlos fortsetzen konnten, wenigstens äußerlich unmöglich, am alten ideologischen Gehalt des Wahrheitsbegriffs festzuhalten. Damit war aber die zersplitterte Diskussion in Kaiserreich und Weimarer Republik der einzig mögliche Anknüpfungspunkt. Eine communis opinio zum Wahrheitsbegriff, die sich der Parlamentarische Rat hätte zu eigen machen können, lässt sich daraus nicht ableiten. Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes stützt daher noch nicht einmal die Annahme, dem Strafverfahren liege ein „materieller“ Wahrheitsbegriff zugrunde, geschweige denn eine korrespondenztheoretische Deutung von Wahrheit im Strafprozess. 820 821

S. Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/I, S. 288 ff. S. Jahn, in: FS Kirchhof II, § 128 Rn. 25; ders., GA 2014, 588, 595.

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Nach alldem kann es nicht überzeugen, wenn Landau unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht meint, es bestehe ein „untrennbare[r] Zusammenhang von materiellem Schuldprinzip und der Pflicht des hoheitlich tätig werdenden Staates zur Erforschung der objektiven Wahrheit“.822 Dieser These fehlt ein ausreichendes Fundament in Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte. Daher ist sie auch teleologisch nicht als objektivierter Wille des Gesetzgebers zu rechtfertigen, sondern erscheint als bloße verfassungsrichterliche Unterstellung. Im Übrigen ist mit der Annahme eines vagen Ziels „materieller“ beziehungsweise „objektiver“ Wahrheit noch wenig über dessen erkenntnistheoretischen Gehalt gesagt. cc) Ergebnis und Konsequenzen Weder die Strafprozessordnung noch das Grundgesetz stellen nach den herkömmlichen Auslegungsmethoden die Weichen zugunsten eines korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnisses.823 Abgesehen davon hat die Auslegung die Zweifel an einer tragfähigen einfach- und verfassungsrechtlichen Grundlage für ein übergeordnetes Prinzip der Erforschung „materieller Wahrheit“ verstärkt. Für die weitere Untersuchung ist festzuhalten, dass jeder Versuch, den Wahrheitsbegriff der Strafprozessordnung mit einer philosophischen Wahrheitstheorie aufzuhellen, vor dem Gesetz zunächst als grundsätzlich zulässig erscheint, aber in zweifacher Hinsicht einer Nachprüfung standhalten muss. Zum einen geht es hierbei um die Frage der Übertragbarkeit der jeweiligen philosophischen Theorie und damit um die Schnittstelle rechtlicher Strukturen, philosophischer Konzepte und tatsächlicher Gegebenheiten. Zum anderen – und das ist von der Übertragungsproblematik unabhängig – ist jeder philosophische Ansatz auch auf seine Überzeugungskraft unter spezifisch erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten zu prüfen. Diese beiden Punkte werden zum Nachteil der argumentativen Präzision oft nicht klar unterschieden. b) Wittgensteins Isomorphietheorie und der Strafprozess aa) Übertragbarkeit des Grundgerüsts Das ontologische und erkenntnistheoretische Grundgerüst des „Tractatus“ ist auf den ersten Blick mit den Regelungen der Strafprozessordnung zur Wahrheitserforschung und richterlichen Überzeugung durchaus vereinbar. Zur Veranschaulichung der folgenden Überlegungen soll ein Beispiel dienen: A wird nach einem Banküberfall angeklagt. Er soll vermummt den Bankangestellten B mit einer Schusswaffe bedroht und schließlich einen Schuss in die Decke abgegeben haben, um ihn zur Herausgabe von Geldern zu bringen. Die zufällig anwesenden Kunden C und D haben das Geschehen beobachtet. Bei A wird eine Pistole gefunden, die von dem Schuss822 Landau, NStZ 2011, 537, 540; auf 540 f. setzt dieser „objektive“ und „materielle“ Wahrheit gleich. 823 Für das Grundgesetz erkennt das auch Radtke, GA 2012, 187, 190 an.

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waffenexperten E als Sachverständigem untersucht und als Waffe, mit der in der Bank geschossen wurde, identifiziert wird. Die Bekannte F des A sagt in der Hauptverhandlung aus, A habe davon gesprochen, seine Geldprobleme mit einem Überfall lösen zu wollen. A selbst schweigt.

Da dem Gericht nach § 261 StPO aufgetragen ist, zu einer Überzeugung zu gelangen, muss es sich in der Sprache des „Tractatus“ Bilder der urteilsrelevanten Tatsachen machen. Die Vorstellungen, die das Gericht anhand der Beweismittel Zeugen, Sachverständige, Urkunden und Augenschein gewinnt, könnte man als Modelle der Realität im Sinne des „Tractatus“ verstehen. Diese Bilder müssten die logische Struktur der Realität teilen, um überhaupt Sinn zu haben und damit wahr oder falsch sein zu können. Sie müssten eine genau bestimmte Anordnung einzelner Elemente enthalten, die nach Auffassung des Gerichts der Struktur des betreffenden Sachverhalts entspricht. Beispiele dafür wären zu verschiedenen Zeitpunkten der Hauptverhandlung gewonnene Annahmen wie „A hat die Bank betreten und den Bankangestellten B mit einer Pistole bedroht.“ oder „Nicht A, sondern ein unbekannter X hat die Bank betreten…“. Das Gericht wird im Laufe einer Verhandlung nicht starr an einem einmal gefassten Bild festhalten, sondern es durch Erhebung diverser Beweise – im Beispiel durch Vernehmung von B, C, D und F als Zeugen und von E als Sachverständigem sowie durch Inaugenscheinnahme der Schusswaffe – immer wieder verändern. Sobald Richter oder andere Verfahrensbeteiligte ihre logisch geordneten Gedanken zum tatsächlichen Geschehen mündlich oder schriftlich ausdrücken, äußern sie sinnvolle Sätze im Sinne des „Tractatus“, treffen also wahre oder falsche Aussagen zu Sachverhalten. Am Ende der Hauptverhandlung muss das Gericht solche Aussagen treffen und sie nach § 267 StPO in den Urteilsgründen wiedergeben. Die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit aus § 244 Abs. 2 StPO wäre mit Wittgenstein so zu verstehen, dass das Gericht sich nicht aufgrund persönlicher Gewissheitserlebnisse auf eine bestimmte Überzeugung und damit auf ein bestimmtes Bild der Wirklichkeit festlegen und dieses als wahr hinstellen darf. Vielmehr muss es alle eigenen und alle von anderen Beteiligten artikulierten Vorstellungen zum Sachverhalt mit der Wirklichkeit vergleichen. Entsprechen diese Sätze und/oder die einzelnen Sätze des Urteils (primär die Sätze der Feststellungen zur Sache) in ihrer Struktur exakt den jeweiligen Sachverhalten der Welt, sind sie nach Wittgensteins Ansatz wahr. Ein wahres Urteil muss demnach in jedem Detail den relevanten Sachverhalt korrekt abbilden. bb) Beschränkung wahrer Sätze auf Sätze der Naturwissenschaften Der Strafprozess ist nach seinen Zwecken und seiner Ausgestaltung weit von der Präzision naturwissenschaftlichen Vorgehens entfernt. Das muss aus dem Blickwinkel des „Tractatus“ stutzig machen. Denn TLP 4.11 sagt insofern sehr klar: „Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit

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der Naturwissenschaften).“824 Diese Beschränkung ist die Folge einer metaphysikund sprachkritischen Haltung. Auch die Philosophie kann danach zu keinen weiteren wahren Sätzen führen. Ihr bleibt als Aufgabe nur „die logische Klärung der Gedanken“ (TLP 4.112, s. auch 6.53). Ethische Sätze anzugeben, soll sogar vollständig unmöglich sein (TLP 6.42, 6.421). Naturwissenschaftliche Sätze können dagegen aus dem Grund wahr sein, dass sie sich auf Tatsachen und damit auf etwas in der Welt richten und ihre Wahrheit davon abhängt, dass sie mit ihren Elementen und ihrer Struktur einer abgebildeten Tatsache entsprechen. Was bedeutet das für den Strafprozess? Man könnte mit den angeführten Textstellen großzügig umgehen und so zu der Auffassung gelangen, auch im Strafverfahren sei es nach dem Maßstab des „Tractatus“ möglich, wahre Aussagen über das Tatgeschehen und über andere tatsächliche Umstände zu treffen. Die Sätze, die Gericht und weitere Verfahrensbeteiligte im Rahmen der Tatsachenfeststellung äußern, sind zwar – mit Ausnahme einiger Aussagen von Sachverständigen – keine naturwissenschaftlichen Sätze im engeren Sinne. Sie zielen aber, so könnte man argumentieren, ebenfalls darauf ab, ein vergangenes tatsächliches Geschehen zutreffend abzubilden. Wenn das gelingt, wären sie als wahr anzusehen. Dieses Ergebnis hat jedoch einen schalen Beigeschmack. Wittgenstein schreibt gerade nicht, dass alle Sätze, die in irgendeiner Form auf die Beschreibung von Tatsachen gerichtet sind, wahr sein können. Er erläutert nicht näher, warum er innerhalb der Menge aller Sätze, die Tatsachen beschreiben, nochmals eine Einschränkung vornimmt. Möglicherweise hängt diese Einschränkung mit seinem Misstrauen gegenüber der mehrdeutigen und dadurch Irrtümer verursachenden Alltagssprache zusammen, der gegenüber er eine eindeutige logische Zeichensprache favorisiert (s. TLP 3.323, 3.324, 3.325). Naturwissenschaftliche Sätze kann man in größerem Umfang als alltagssprachliche Tatsachenbeschreibungen in einer solchen Sprache darstellen. Die Naturwissenschaften enthalten allerdings nicht nur in einer eindeutigen Zeichensprache ausgedrückte Gesetzmäßigkeiten, sondern erfordern zu deren Überprüfung auch zahlreiche Beobachtungssätze. Insofern scheint doch eine gewisse Verwandtschaft zum Strafverfahren zu bestehen, in dem das Gericht sich seine Überzeugung primär anhand von (deskriptiven) Zeugenaussagen bildet. Wissenschaftliche Beobachtungssätze unterscheiden sich aber von anderen deskriptiven Sätzen, wie sie etwa Zeugen oder Gerichte im Strafverfahren äußern, dadurch, dass sie im unmittelbaren Anschluss an eine gezielte eigene Wahrnehmung in einer relativ strikt geregelten Form aufgenommen werden. Damit geht eine erhöhte Präzision einher. Alltagssprachliche deskriptive Sätze über längere Zeit zurückliegende, teils nicht selbst beobachtete Geschehnisse, wie sie für den Strafprozess typisch sind, erscheinen deutlich weniger exakt. Nach dem Maßstab des „Tractatus“ können solche Sätze wohl von vornherein nicht mehr als eine gewisse Plausibilität erreichen. 824 S. auch TLP 6.53 („Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft […]“).

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Wahrheit im Sinne der Isomorphietheorie kann man den tatsächlichen Feststellungen eines Strafgerichts daher kaum zuschreiben. cc) Die Analyse zusammengesetzter Sätze und der Vergleich von Elementarsätzen mit der Wirklichkeit Wenn man über die eben genannte Beschränkung im „Tractatus“ hinwegsieht, ergeben sich bei der erforderlichen Prüfung deskriptiver Sätze auf ihre Wahrheit weitere Schwierigkeiten, die in Details von Wittgensteins Konzept angelegt sind. Zunächst müsste das Gericht alle eigenen und fremden Aussagen zu komplexen Sachverhalten, sei es zum Tatgeschehen, sei es zu strafzumessungsrelevanten oder sonst bedeutsamen Umständen, in ihre Bestandteile auflösen (TLP 2.0201: „Jede Aussage über Komplexe läßt sich in eine Aussage über deren Bestandteile und in diejenigen Sätze zerlegen, welche die Komplexe vollständig beschreiben.“). Gelangte es schließlich zu nicht mehr weiter zerlegbaren, aus Namen zusammengesetzten Elementarsätzen, die das Bestehen einfacher Sachverhalte behaupten, müsste es die Wahrheit oder Falschheit dieser Elementarsätze durch einen Vergleich mit der Wirklichkeit ermitteln. Die Wahrheit oder Falschheit komplexer Aussagen, zum Beispiel der gesamten Feststellungen zur Sache, ließe sich dann aus den Wahrheitswerten der Elementarsätze ableiten. (1) Schwierigkeiten bei der Übertragung des analytischen Programms auf den Strafprozess Bereits beim ersten Schritt, der Analyse komplexer Sätze in Elementarsätze, zeigen sich große Probleme. So ist schon zweifelhaft, inwieweit man das gesamte Urteil oder wenigstens seine großen Bestandteile wie die Feststellungen zur Sache, die Beweiswürdigung etc. als eine einzige logische Konjunktion ansehen kann, deren Wahrheit insgesamt von den Wahrheitswerten ihrer einzelnen Bestandteile abhängt. In unserem Beispielsfall könnte das Gericht zur Sache etwa feststellen: „A war in existenzbedrohender Weise verschuldet. Um sich von seinen Schulden zu befreien, beschloss er, eine Bank zu überfallen, machte diesbezüglich gegenüber einer Bekannten Andeutungen und beschaffte sich schließlich eine Pistole. Am 1.10.2018 betrat er die Bank in Y, bedrohte den Angestellten B mit der Waffe und gab einen Schuss in die Decke ab, um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen. B händigte A infolgedessen die vorhandenen Gelder aus, woraufhin A die Bank eilig in unbekannte Richtung verließ.“

Diese äußerst einfache Schilderung müsste man aus der Perspektive des „Tractatus“ als Konjunktion diverser Aussagen auffassen und würde sie formalisiert so darstellen: Es sei p das Symbol für die Aussage „A hatte Schulden“, q für die Aussage „Die Schulden des Awaren existenzbedrohend“, r für die Aussage „A beschloss, eine Bank zu überfallen“ etc. Die Feststellungen zur Sache hätten dann die folgende

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Gestalt: p ^ q ^ r etc. Ihre Wahrheit insgesamt hätte zur Voraussetzung, dass jeder einzelne Bestandteil wahr ist.825 Ein solches formallogisches Verständnis hat allerdings befremdliche Folgen: Sobald auch nur ein einziger Elementarsatz falsch wäre, müsste man den gesamten Urteilskomplex (etwa die Feststellungen zur Sache) oder sogar das vollständige Urteil als falsch ansehen, selbst wenn der falsche Elementarsatz lediglich einen ganz unbedeutenden Punkt beträfe. Kaum ein Urteil wäre damit vor dem Verdikt „insgesamt falsch“ sicher – ein Ergebnis, das die gerichtliche Durchsetzung des materiellen Strafrechts sofort delegitimieren müsste. Im angeführten Beispiel müsste man die Feststellungen für insgesamt unwahr erklären, auch wenn etwa nur der Halbsatz des Gerichts zu den Andeutungen des Angeklagten gegenüber seiner Bekannten falsch wäre. Nach der Strafprozessordnung besteht indes kein Anlass, die in strafgerichtlichen Urteilen enthaltenen Aussagen zum Sachverhalt mit großem Aufwand in ein logisches Korsett zu zwängen, das dem analytischen Programm des „Tractatus“ entspricht. Das Beruhenserfordernis des § 337 Abs. 1 StPO legt einen großzügigeren Maßstab nahe: Danach sollen die Urteilsfeststellungen auch dann Bestand haben, wenn sie einzelne falsche Sätze enthalten, solange sich diese falschen Sätze nicht auf das Ergebnis ausgewirkt haben. In solchen Fällen kann man deshalb kaum von insgesamt falschen Feststellungen sprechen, wie es bei einem formallogischen Verständnis des Urteils als Konjunktion geboten wäre. Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass sich schwer bestimmen lässt, wann der Prozess der Analyse komplexer Sätze abgeschlossen und die Ebene der Elementarsätze erreicht ist. Dieses Problem hängt mit Interpretationsschwierigkeiten zusammen, die Wittgensteins Namens- und Gegenstandsbegriff auslösen. Die Elementarsätze behaupten nach Wittgenstein wie auch die komplexen Sätze das Bestehen von Sachverhalten, sind jedoch anders als diese nurmehr aus Namen für Gegenstände zusammengesetzt (vgl. TLP 4.21, 4.22, 4.221). Der „Tractatus“ gewährt allerdings wenig Aufschluss darüber, wann man es mit einem Namen zu tun hat. Er erklärt Namen lediglich zu nicht weiter definierbaren „Urzeichen“ (TLP 3.26) und weist ihnen innerhalb eines sinnvollen Satzes Bedeutung im Sinne Freges zu, also Referenz auf einzelne Gegenstände der Welt (TLP 3.202, 3.203). Beide Merkmale – Undefinierbarkeit und Referenz – können aber im konkreten Fall schwer zu erkennen sein und ziehen eine Reihe sprachphilosophischer Fragen nach sich. Hinzu kommt das schwierige und bei der anschließenden Diskussion unter philosophischen Gesichtspunkten aufzugreifende Problem, was überhaupt unter den Gegenstandsbegriff des „Tractatus“ fällt. Auch bei fortschreitender Analyse zusammengesetzter Sätze muss es ohne eine vorherige Antwort auf all diese Fragen unklar bleiben, ob die gewonnenen Teilsätze bereits eine Verbindung von Namen für Gegenstände bilden oder ob sie nicht selbst wieder komplexe Sachverhalte beschreiben. Diese Schwierigkeiten sind auch in unserem Beispiel zu erkennen: 825 Wie sich aus der Wahrheitstafel der Konjunktion ergibt; vgl. zu Wahrheitstafeln auch Wittgenstein, TLP 4.31, 4.442, 5.101.

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Ob durch Analyse erreichte Sätze wie „A hatte Schulden“ oder „A bedrohte den Bankangestellten B mit einer Pistole“ als nurmehr aus Namen für Gegenstände bestehende Elementarsätze in Wittgensteins Sinne anzusehen sind, hängt davon ab, ob man neben Einzeldingen auch Universalien unter den Gegenstandsbegriff des „Tractatus“ fasst. Denn Begriffe wie „Schulden“ und „Bankangestellter“ referieren nicht auf einen bestimmten körperlichen Gegenstand oder eine bestimmte Person, sondern sind abstrakte Konzepte. Bedeutung im Sinne von Referenz auf einen einzelnen körperlichen Gegenstand oder eine einzelne Person könnten solche Begriffe allenfalls dann erhalten, wenn man sie ausspräche und zugleich auf die Dinge und Personen zeigte, die sie in einer bestimmten Situation benennen sollen. Wie das aber etwa bei psychiatrischen Konzepten oder Naturgesetzen, die von Sachverständigen herangezogen werden, funktionieren soll, ist unklar. Auch wenn sich die mit Wittgensteins Namens- und Gegenstandsbegriff verbundenen Fragen im Rahmen dieser Arbeit nicht abschließend beantworten lassen, wird doch eines deutlich: Wittgensteins Isomorphietheorie als elaborierte Variante der Korrespondenztheorie wäre erst dann für das Strafverfahren wirklich fruchtbar zu machen, wenn einige große, in der philosophischen Konzeption selbst angelegte Interpretationsprobleme überwunden wären. Das sollte all denen zu denken geben, die leichthin Wahrheit im Strafverfahren „korrespondenztheoretisch“ verstehen wollen. (2) Offene erkenntnistheoretische Fragen zum Vergleich von Elementarsätzen mit der Wirklichkeit Selbst wenn die Analyse komplexer Sätze in Elementarsätze gelingen sollte, wäre damit noch nichts über die Wahrheit oder Falschheit von im Strafprozess geäußerten Sätzen festgestellt. Das Gericht müsste nach Wittgensteins Ansatz jeden einzelnen Elementarsatz auf seine strukturelle Übereinstimmung mit dem in Bezug genommenen Sachverhalt überprüfen, um die Wahrheit oder Falschheit komplexer Sätze beurteilen zu können (s. TLP 5). Gerade an diesem entscheidenden Punkt lässt der „Tractatus“ seine Leser jedoch mit dem vagen Hinweis auf einen Vergleich von Wirklichkeit und Satz (TLP 4.05) im Stich. Hier zeigt sich sehr konkret ein Grundproblem jeder Form von Korrespondenztheorie, das bei der Diskussion unter philosophischen Gesichtspunkten noch wichtige Rolle spielen wird. Die Richter müssten einen Standpunkt außerhalb der Untersuchungssituation einnehmen und unmittelbar auf die Tatsachen zugreifen können, um Sätze und Tatsachen vergleichen zu können. Aber wie ist das möglich? Sie sind aktiv in die Untersuchung involviert, und diese Untersuchung ist gerade aus dem Grund notwendig, dass das Gericht den aufzuklärenden Sachverhalt nicht unmittelbar wahrgenommen hat und niemals unmittelbar wahrnehmen kann. Wäre eine solche unmittelbare Wahrnehmung möglich, müsste das Gericht auch keine Aussagen anderer Personen zum relevanten Geschehen mehr einholen. Der von Witt-

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genstein geforderte Vergleich von Elementarsätzen und Wirklichkeit scheint auf einer sehr fragwürdigen Konstruktion zu beruhen. Ein zweites Grundproblem aller Korrespondenztheorien ist hier ebenfalls bereits zu erkennen. Typischerweise beschreiben diese Theorien zwar abstrakt, was Wahrheit ausmacht. Sie stellen jedoch kein aussagekräftiges Kriterium für die Wahrheit von Sätzen, Urteilen etc. bereit. Das gilt auch für Wittgensteins Konzept. Für Institutionen wie den Strafprozess ist das fatal. Denn dort geht es gerade darum, wie man erkennen kann, dass bestimmte Aussagen über ein vergangenes Geschehen zutreffen. § 244 Abs. 2 StPO verlangt Beweiserhebung und „Erforschung“ statt Spekulation, und das Tatgericht muss seine Überzeugung mündlich wie schriftlich gem. §§ 267, 268 Abs. 2 StPO begründen. dd) Normative und rechtstatsächliche Hindernisse für ein korrespondenztheoretisches Wahrheitsverständnis Einem umfassenden, ungehinderten Vergleich von Sätzen mit der Wirklichkeit, wie ihn Wittgenstein (neben anderen Vertretern der Korrespondenztheorie) verlangt, steht jenseits aller erkenntnistheoretischen Problematik auch das geltende Recht entgegen. Das Grundgesetz, die Strafprozessordnung und weitere Gesetzeswerke wie die Europäische Menschenrechtskonvention errichten zahlreiche Hindernisse, um eine vollständige und rücksichtslose Aufklärung des Geschehens zu verhindern: Das Gericht muss sich hinsichtlich der Schuld- und Rechtsfolgenfrage im Strengbeweisverfahren an den numerus clausus der Beweismittel halten. Zahlreiche Beweisverbote schützen individuelle Rechte, beschränken dadurch aber zugleich den Umfang der Untersuchung.826 Daneben zieht das Beschleunigungsgebot (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK)827 der Aufklärung zeitliche Grenzen. Korrespondenztheoretisch formuliert soll das Gericht also weder uneingeschränkten Zugang zum Sachverhalt haben noch jede mögliche Aussage darüber aufnehmen und nachprüfen. Aus rechtstatsächlicher Perspektive kann im Strafprozess Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorien ohnehin nur als unerreichbares, vages Ideal erscheinen. Gerade im Bereich des Strafverfahrens untermauern empirische Befunde die grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Zweifel an der Konstruktion der Korrespondenztheorien, nach der ein objektiver, unverzerrter Blick auf die jeweiligen Aussagen und ein objektiver, unmittelbarer Zugang zu den Sachverhalten oder Gegenständen der Welt selbst erforderlich ist. Psychologische und soziologische Untersuchungen haben eine Reihe von Problemen aufgedeckt, die in der Struktur des Strafprozesses und der Strafjustiz insgesamt angelegt sind und die zu kognitiven

826 S. dazu BVerfG JZ 2011, 249, 250 und BGHSt 14, 358, 365; 52, 11, 17, wonach die Strafprozessordnung keine „Wahrheitserforschung um jeden Preis“ kennt. 827 Zur verfassungsdogmatischen Herleitung s. nur BVerfG NJW 2001, 2707.

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Verzerrungen führen828 : Richter unterliegen häufig dem inertia- und dem Pygmalioneffekt, verharren also bei einem einmal gewonnenen Bild des Geschehens und beeinflussen Zeugen unbewusst dahingehend, eine vorgefasste Ansicht zu bestätigen. Auch neigen Richter dazu, sich auf Alltagstheorien zu stützen, die sie nur aus ihrer Lebens- und Berufserfahrung geschöpft haben, die aber wissenschaftlichen Maßstäben auf den jeweiligen Gebieten nicht entsprechen. Relevante statistische Basisraten bleiben häufig unberücksichtigt, was zu groben Fehleinschätzungen führt. Zudem bedrohen starke Ankereffekte die Rationalität der Entscheidungsfindung. Darüber hinaus besteht im Strafprozess ein erhebliches Macht- und Kompetenzgefälle zwischen Gericht und Angeklagtem, das aus rechtlichen Vorgaben, aber auch aus der meist unterschiedlichen Schichtzugehörigkeit resultiert. Verzerrungen zulasten des Angeklagten sind umso wahrscheinlicher, als der in der Justiz wenigstens mancherorts gängige Wechsel zwischen Richteramt und staatsanwaltlicher Tätigkeit immer wieder zum sogenannten Schulterschlusseffekt führt. Zuletzt hängen Karriereverläufe in der Justiz auch von der raschen und „revisionsfesten“ Erledigung zahlreicher Fälle ab. Ein streng objektiver, umfassender Vergleich von Aussagen und Wirklichkeit, wie ihn Wittgenstein und andere Korrespondenztheoretiker voraussetzen, ist nach alldem im Strafprozess illusionär. c) Der Ansatz Russells und der Strafprozess aa) Übertragbarkeit des Grundgerüsts Russells Wahrheitskonzept kann man in seinen Grundzügen ohne weiteres auf das Strafverfahren übertragen. Annahmen, die die Verfahrensbeteiligten zu Sachverhalten entwickeln und äußern, und die dem abschließenden Gerichtsurteil zugrunde liegende Überzeugung des Gerichts lassen sich als komplexe Relationen zwischen dem Geist der urteilenden Personen und mehreren Gegenständen der Außenwelt beschreiben. Wenn das Gericht in dem Banküberfall-Beispiel etwa zu dem Urteil „A betrat die Bank und bedrohte B mit einer Pistole.“ gelangt, könnte man die entsprechende Relation mit Russell so darstellen: {Richterlicher Verstand, A, B, Bank, Pistole, betreten, bedrohen}. In der exakt bestimmten Struktur der einzelnen Terme dieser Relation liegt ihr Sinn („sense“). Wahr ist das Urteil, wenn seine Bestandteile mit diesem Sinn einer bestimmten komplexen Einheit der Welt (einer Tatsache) entsprechen. Steht einem Bestandteil des Urteils tatsächlich kein Gegenstand gegenüber oder entspricht der Sinn des Urteils nicht der tatsächlichen Anordnung der Gegenstände, so ist das Urteil falsch. Wie auch im „Tractatus“ liegt der Prüfstein der Wahrheit damit außerhalb des Urteils selbst. § 244 Abs. 2 StPO trägt dem Gericht auf, seine Urteile und die Urteile weiterer Beteiligter an der Außenwelt überprüfen.

828

S. zum Nachfolgenden S. 145 ff. mit zahlreichen Nachweisen.

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bb) Keine Beschränkung des Wahrheitskonzepts auf Sätze der Naturwissenschaft und formalisierte Sprachen Beim Versuch, Wittgensteins Isomorphietheorie jenseits ihres bloßen Gerüsts auf den Strafprozess anzuwenden, haben sich große Schwierigkeiten aus der Beschränkung wahrer Sätze auf naturwissenschaftliche Sätze ergeben. Russells Wahrheitskonzept enthält hingegen keine derartige Einschränkung. Zudem ist Russells Blick auf die Alltagssprache freundlicher. Zwar spielen in seiner Theorie der Beschreibungen und in seinen Vorlesungen zum logischen Atomismus die logische Analyse und der Gebrauch formaler Sprachen eine zentrale Rolle. Russell konstatiert ebenso wie Wittgenstein (s. TLP 3.323) und Tarski, dass die Alltagssprache von Mehrdeutigkeit geprägt ist. Daraus folgt für ihn aber nicht, dass diese Sprache logischen Kunstsprachen unterlegen ist. Eine logisch perfekte Sprache wäre, so Russell, eine Sprache, in der fast jedes einzelne in einem Satz vorkommende Wort einem bestimmten Bestandteil des korrespondierenden Sachverhalts entspräche; für jedes einfache Objekt gäbe es exakt ein Wort, und alle zusammengesetzten Sachverhalte würden mit aus solchen Wörtern abgeleiteten Ausdrücken erfasst.829 Eine solche Sprache wäre ihm zufolge nicht nur für das tägliche Leben vollkommen nutzlos, sondern auch eine Bedrohung jeder menschlichen Kommunikation.830 Denn der Sinn eines Wortes hänge für jeden einzelnen Sprecher von den Objekten ab, die ihm unmittelbar bekannt seien; da aber jedem Menschen andere Objekte unmittelbar bekannt seien, lege jeder Sprecher einem Wort auch einen anderen Sinn bei.831 Eine überindividuelle eindeutige Sprache ist daher jenseits logischer Sprachen nicht möglich. Das Eindeutigkeitserfordernis führte nur zu einer Reihe privater Sprachen.832 Erst die Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit der Wörter der Alltagssprache ermöglicht danach Kommunikation im täglichen Leben. Dementsprechend hat Russell seinen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff anders als Wittgenstein nicht mit einem engen formallogischen Korsett verbunden. Die mit einer solchen formallogischen Sichtweise einhergehenden Probleme wirft sein Ansatz im Kontext des Strafverfahrens deshalb nicht auf. cc) Grundsätzliche Einwände und die Konsequenzen von Russells Wissenskonzept Im Kontext des Strafverfahrens begegnet Russells Ansatz allerdings den meisten der grundsätzlichen Bedenken, die schon gegen Wittgensteins Isomorphietheorie aufgekommen sind.833 Nach dem Grundgerüst von Russells Theorie sind Urteile wahr, wenn ihnen in der Welt Tatsachen entsprechen. Danach wäre ebenfalls ein Standpunkt des Gerichts außerhalb der Untersuchung und der nach Russells eigener 829 830 831 832 833

Russell, The Philosophy of Logical Atomism, S. 25. S. ebd., S. 22 f., 25 f.; ders., Logical Atomism, S. 144. Ders., The Philosophy of Logical Atomism, S. 22 f., 25 f. Ebd. S. dazu S. 183 ff.

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Auffassung gerade nicht mögliche unmittelbare Zugriff auf die relevanten Tatsachen notwendig, um die Korrespondenzbeziehung zu überprüfen. Russells Konzept stößt bei der Übertragung auf den Strafprozess zudem auf dieselben normativen und rechtstatsächlichen Hindernisse wie jede Form von Korrespondenztheorie. In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich sein Ansatz jedoch von dem Wittgensteins: Anders als dieser ist Russell dem Problem der Erkennbarkeit von Wahrheit nicht ausgewichen und hat darauf, obwohl er die Existenz eines allgemeingültigen Wahrheitskriteriums bestritten hat, mit seinem Wissenskonzept reagiert. Was ergibt sich daraus für den Strafprozess? Zunächst ist festzuhalten, dass logische Prinzipien und abstrakte Konzepte, von denen wir nach Russell intuitives beziehungsweise unmittelbares Wissen haben, auch im Strafprozess notwendige Bestandteile von Urteilen und Beschreibungen sind. Der Strafprozess ist aber letztlich auf Urteile über konkrete Ereignisse gerichtet. Die Wahrheit solcher Urteile hängt nach Russell von ihrer Verbindung zu unmittelbarem Wissen („knowledge by acquaintance“) bezüglich eigener Sinnesdaten, mentaler Zustände und Erinnerungen ab. Doch ausgerechnet diese Wissensform führt im Strafprozess nicht besonders weit: Die Richter haben naturgemäß keine eigenen Sinnesdaten oder Erinnerungen bezüglich des aufzuklärenden konkreten Geschehens. Möglicherweise hatten Zeugen, der Beschuldigte und das mutmaßliche Opfer derartige Sinnesdaten. Zum Zeitpunkt des Verfahrens sind diese Sinnesdaten jedoch nicht mehr als solche vorhanden, sondern nur noch Erinnerungen daran. Deren Zuverlässigkeit ist nach Russell insbesondere eine Frage des zeitlichen Abstands zum Geschehen. Während Erinnerungen an unmittelbar Zurückliegendes genauso wie die unmittelbare Kenntnis eigener Sinnesdaten ein Höchstmaß an Selbstevidenz aufweisen sollen, nehme die Selbstevidenz später mehr und mehr ab.834 Strafverfahren beginnen häufig erst lange Zeit nach der mutmaßlichen Tat. Deshalb müsste man dort mit Russell Erinnerungen eher geringe Zuverlässigkeit zuschreiben. Urteile der Zeugen und anderer Beteiligter über ihre Erinnerungen gehören in seiner Terminologie aufgrund des dann geringeren Grades an Selbstevidenz nicht mehr zum Bereich des „knowledge of truths“, sondern sind als wahrscheinliche Ansichten anzusehen. Das muss sich auch auf das finale Urteil des Gerichts auswirken. Selbst im Idealfall eines Strafverfahrens, das unmittelbar nach dem relevanten Geschehen stattfindet und in dem Zeugen zur Verfügung stehen, die das Geschehen tatsächlich beobachtet und unmittelbare Erinnerungen daran haben, ergibt sich nach Russells Maßstäben wohl kein anderes Ergebnis. Denn der Strafprozess ist durchgängig auf Kommunikation angewiesen. Die Verfahrensbeteiligten bringen Annahmen zu Sachverhalten vor, das Gericht befasst sich damit und bildet ebenfalls solche Annahmen, und schließlich muss es zu einem Urteil über den relevanten Sachverhalt gelangen und dieses Urteil gem. §§ 267, 268 Abs. 2 StPO mündlich und schriftlich gegenüber einem weiteren Personenkreis äußern. Es ist daher im Straf834

Russell, The Problems of Philosophy, S. 181 ff.

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verfahren nicht möglich, bei individuellem unmittelbaren Wissen stehenzubleiben. Alle Beteiligten müssen auch Urteile über solches Wissen abgeben. Und gerade der Übergang von unmittelbarem Wissen zu entsprechenden Urteilen, mag dieses Wissen als solches auch in höchstem Maße selbstevident sein wie bei unmittelbaren Erinnerungen und eigenen Sinndesdaten, ist nach Russell immer fehleranfällig. Sobald wie im Strafprozess mehrere Personen interagieren, potenziert sich dieses Fehlerpotential. Insofern geht es nicht nur um Aussagen von Zeugen und Sachverständigen, sondern auch um Urteile, die die Richter selbst über ihre eigenen Sinnesdaten, Erinnerungen und mentale Zustände in Bezug auf diese Aussagen und auf weitere Beweismittel abgeben. Zudem können die Richter, da ihnen ein unmittelbarer Zugriff auf die relevanten Fakten sowie die Sinnesdaten und Erinnerungen anderer Personen nicht möglich ist, niemals sicher wissen, ob Zeugen und andere Beteiligte überhaupt Urteile über Gegenstände abgeben, von denen sie tatsächlich unmittelbares Wissen haben. Das abschließende Urteil des Gerichts, das im Anschluss an die Beratung durch Abstimmung zustande kommt (§§ 192 ff. GVG, § 263 StPO), kann im Übrigen nicht als aus unmittelbarem Wissen aller Richter abgeleitetes Urteil angesehen werden, da das Wissen der überstimmten Personen schlicht irrelevant ist. Auch unter den skizzierten Idealbedingungen kann aus diesen Gründen am Ende eines Strafverfahrens regelmäßig nicht ein mit Sicherheit wahres, sondern nur ein Wahrscheinlichkeitsurteil stehen. Alles andere wäre im Hinblick auf Russells Auffassung, wonach selbst (bestätigte) wissenschaftliche Hypothesen keinen höheren Grad an Gewissheit beanspruchen können, auch verwunderlich. d) Tarskis semantischer Wahrheitsbegriff und der Strafprozess Tarskis Wahrheitskonzeption baut auf der Unterscheidung von Alltagssprache und formalisierten Sprachen auf. Eine Definition von Wahrheit soll nur für letztere möglich sein. Für den Strafprozess könnte man demnach nur dann eine Wahrheitsdefinition bilden, wenn die Sprache, in der die Tatsachenfeststellung erfolgt, eine formalisierte Sprache im Sinne Tarskis ist.835 aa) Welche Sprache ist überhaupt maßgeblich? Man könnte annehmen, die im Strafprozess auch für die Tatsachenfeststellung maßgebliche Sprache sei die des Gesetzes, da es insgesamt um die Durchsetzung des materiellen Strafrechts in einem von der Strafprozessordnung und dem Gerichts-

835 Wenig aussagekräftig sind mangels einer solchen Präzisierung die Ausführungen zu Tarski bei Hetzer, Wahrheitsfindung, S. 57 f. und Stamp, Wahrheit, S. 36 f. Wenn im Folgenden von „Tatsachenfeststellung“ die Rede ist, folge ich damit schlicht dem gängigen juristischen Sprachgebrauch; eine ontologische Festlegung ist damit nicht verbunden.

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verfassungsgesetz vorgegebenen Verfahren geht.836 Allerdings ist diese Sprache gerade nicht die Sprache, in der im Strafprozess Aussagen zu konkreten Sachverhalten getroffen werden. Die vom Gericht im Urteil wiederzugebenden Feststellungen zur Sache, die Beweiswürdigung und die Schilderung der für die Strafzumessung und die Verhängung von Maßregeln relevanten Umstände (§ 267 StPO) bestehen nicht darin, den Normtext zu zitieren. Die unterschiedlichen Ebenen werden deutlich, wenn man das – gewiss vereinfachende – Modell des Justizsyllogismus zugrunde legt. In der Terminologie der scholastischen Logik handelt es sich dabei um den Modus Barbara mit dem gesetzlichen Sollenssatz (im Strafverfahren vor allem einem Straftatbestand) als praemissa maior, dem Sachverhalt und der Subsumtion als praemissa minor und der Entscheidung des Einzelfalls als conclusio.837 Das Problem der Wahrheit von Aussagen über Sachverhalte gehört danach zur praemissa minor.838 Die Sprache, in der der Sachverhalt vor Gericht und schließlich im Urteil vorgestellt und in der die Wahrheit der Sachverhaltsschilderung begründet wird, mithin die Sprache der Feststellungen zur Sache, der Beweiswürdigung und der Darlegung weiterer bedeutsamer Umstände, ist zunächst und vor allem die Alltagssprache. Indes treffen das Gericht und andere Verfahrensbeteiligte Aussagen zum Sachverhalt nicht im luftleeren Raum, sondern immer schon mit Blick auf die in Betracht kommenden Straftatbestände und andere für das Urteil relevante Normen. Engisch hat das als „ständige Wechselwirkung, ein Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt“ beschrieben.839 Die im Strafprozess alltagssprachlich formulierten Sätze zu Sachverhalten sind daher in ihrer Struktur durch die Sprache der anzuwendenden Gesetze beeinflusst. In der Praxis wird dieser Einfluss daran deutlich, dass die Tatgerichte in den Feststellungen zur Sache und der Beweiswürdigung zwar meist nicht den Normtext selbst erwähnen, aber auf seine Konkretisierungen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung zurückgreifen und so die spätere, oft äußerst knappe Subsumtion im Rahmen der rechtlichen Würdigung vorbereiten. Daher ist die Sprache, in der im Strafprozess Aussagen zu Sachverhalten getroffen werden, keine reine Alltagssprache, sondern durch Normtexte in gewissem Umfang vorstrukturiert und von höchstrichterlichen Normkonkretisierungen durchsetzt.

836 So untersucht Kotsoglou, Forensische Erkenntnistheorie, S. 85 ff. im Zusammenhang mit Tarskis Wahrheitsbegriff ohne weitere Begründung die Rechtssprache (im Sinne der Sprache des Gesetzes) auf ihre Übereinstimmung mit den Voraussetzungen formaler Sprachen. 837 S. dazu Engisch, Logische Studien, S. 8 f.; Klug, Juristische Logik, S. 48 f. (s. dort auch die Darstellung mit den Mitteln moderner Logik auf S. 52 ff.). 838 Engisch, Logische Studien, S. 18. 839 Ebd., S. 15.

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bb) Die Sprache der Tatsachenfeststellung gemessen an Tarskis Vorgaben Erlauben es ihre rechtssprachlichen Bestandteile, die Sprache der Tatsachenfeststellung als formalisierte Sprache im Sinne Tarskis anzusehen? Zwar folgt die Tatsachenfeststellung im Prozess wie auch im Urteil in ihrer Struktur teilweise rechtssprachlichen Vorgaben und enthält rechtssprachliche Elemente. Insgesamt ist sie aber ganz überwiegend durch den Gebrauch der Alltagssprache gekennzeichnet. Die Sprache der Tatsachenfeststellung ist schon aus diesem Grund vor Mehrdeutigkeiten nicht gefeit. Damit verstößt sie gegen eine zentrale Forderung Tarskis an formalisierte Sprachen, wonach „der Sinn jedes Ausdrucks durch seine Gestalt eindeutig bestimmt“ sein muss840. Nicht einmal die maßgeblichen Gesetze selbst erfüllen Tarskis Voraussetzungen für formalisierte Sprachen. Auch sie genügen bereits dem Erfordernis der Eindeutigkeit nicht. Dafür lassen sich rasch Beispiele finden. Im Strafgesetzbuch verwendet der Gesetzgeber den Begriff „nachstellen“ einmal in § 238 im Sinne von „Stalking“, ein andermal in § 292, um damit die Jagdtätigkeit zu beschreiben. „Sache“ und „Gegenstand“ bezeichnen in der Strafprozessordnung zum einen das für das jeweilige Strafverfahren relevante tatsächliche Geschehen als Inhalt der Zeugenvernehmung (§ 69 Abs. 1), zum anderen körperliche Dinge (s. §§ 94 ff., 111b ff.). Mehrdeutigkeiten bestehen zudem zwischen verschiedenen Gesetzeswerken.841 Auch die weiteren wesentlichen Voraussetzungen, die Tarski für formalisierte Sprachen aufgestellt hat, nämlich Angabe aller Zeichen, aus denen die Ausdrücke der Sprache gebildet sind, Angabe der Ausdrücke der Sprache, die „Sätze“ genannt werden, Angabe eines Axiomensystems und sämtlicher für die Sprache geltender Schlussregeln,842 liegen im Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung offensichtlich nicht vor. Die Normkonkretisierungen der Obergerichte und der Rechtswissenschaft bleiben augenscheinlich ebenfalls hinter den Anforderungen Tarskis zurück. cc) Fazit und Konsequenzen Die Sprache, in der im Strafprozess Aussagen zu Sachverhalten getroffen werden, ist keine formalisierte Sprache im Sinne Tarskis, sondern eine modifizierte Alltagssprache. Sie ist nicht durchgängig eindeutig, weist keine exakt bestimmte Struktur auf und tendiert wie alle Alltagssprachen zum Universalismus. Daher können in ihr Antinomien wie die Antinomie des Lügners auftreten. Hier sei noch 840 Tarski, Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 279 f.; dabei versteht Tarski unter „Sinn“ nicht dasselbe wie Frege, Wittgenstein und Russell, sondern meint damit einen bestimmten Inhalt beziehungsweise eine bestimmte Bedeutung sprachlicher Zeichen (s. S. 281). 841 Kotsoglou, Forensische Erkenntnistheorie, S. 87 f. führt als Beispiel den Begriff „Ladung“ in § 232 StPO und der Straßenverkehrsordnung an. 842 Tarski, Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 280.

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einmal der aussagebereite Angeklagte erwähnt, der seiner Aussage den Satz „Ich lüge jetzt.“ vorausschickt. Damit erscheint eine Wahrheitsdefinition im Sinne Tarskis, die man in der Sprache der Tatsachenfeststellung trifft, ausgeschlossen. Jedoch wäre es verfehlt, ohne weiteres auch die Unmöglichkeit einer Wahrheitsdefinition für diese Sprache anzunehmen. Tarski selbst hat in seinen grundlegenden Werken zum Wahrheitsbegriff einen Ausweg für natürliche Sprachen skizziert, der zwar nicht immer möglich und in seiner Umsetzung schwierig sei, aber unter Umständen eine annähernd zufriedenstellende843 Wahrheitsdefinition liefern könne. Dafür soll es erforderlich sein, die Struktur der betreffenden natürlichen Sprache zu präzisieren, sämtliche Mehrdeutigkeiten ihrer Begriffe auszuschließen und sie in mehrere immer reichhaltigere Sprachen zu spalten, die untereinander jeweils im Verhältnis von Objekt- und Metasprache stehen.844 Ob sich dieses Verfahren für die Sprache durchführen lässt, mit der im Strafprozess über die Welt gesprochen und geschrieben wird, ist zweifelhaft. Zunächst müsste es möglich sein, sämtliche Aussagen von Gericht und Verfahrensbeteiligten in Äquivalenzen der Form (T) zu überführen. In unserem Banküberfall-Beispiel sähe das etwa so aus: „Averschaffte sich eine Pistole“ ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn A sich eine Pistole verschaffte.

Auf der linken Seite der Äquivalenz steht der metasprachliche Name eines objektsprachlichen Ausdrucks (erkennbar an den Anführungszeichen); auf der rechten Seite die metasprachliche Übersetzung des objektsprachlichen Ausdrucks. Die durch Abspaltung aus der Alltagssprache der Tatsachenfeststellung gewonnene Metasprache müsste sämtliche Ausdrücke der im Strafprozess verwendeten Objektsprache enthalten, um zur Vermeidung von Antinomien diese Ausdrücke in Metasprache übersetzen und auf diese Weise Äquivalenzen der Form (T) bilden zu können. Semantische Ausdrücke wie „wahr“ oder „Aussage“ müssten ausschließlich der neu gebildeten Metasprache vorbehalten bleiben. Diese Metasprache müsste die Bedeutung jedes einzelnen ihrer Begriffe (und damit auch sämtlicher in ihr enthaltenen objektsprachlichen Begriffe) eindeutig festlegen und bestimmen, wann überhaupt Aussagen vorliegen. Doch die rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten im Strafprozess lassen die Umsetzung dieses Programms als unmöglich erscheinen: Zwar ergibt sich aus den Straftatbeständen des Strafgesetzbuchs und des Nebenstrafrechts ein gewisser, wenn auch grober Fokus auf solche Sachverhalte, die 843

Tarski, The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 347: „For all other languages – thus, for all natural, ,spoken‘ languages – the meaning of the problem is more or less vague, and its solution can have only an approximate character“. 844 Ders., Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 393; s. auch ders., The Semantic Conception of Truth, Philosophy and Phenomenological Research 4 (1944), 341, 347.

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möglicherweise die jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllen. Doch schon bei der Prüfung der einzelnen Voraussetzungen der Strafbarkeit kann nahezu jeder Ausschnitt der Welt relevant werden. So ist die Frage nach Vorsatz oder Fahrlässigkeit oder nach dem Vorliegen eines Eingangsmerkmals von § 20 StGB oft nur durch eine Beweiserhebung zu Lebenssachverhalten zu beantworten, die mit den im gesetzlichen Tatbestand beschriebenen Verhaltensweisen und Erfolgen nur sehr indirekt verbunden sind. Erst recht können nach § 267 StPO und den Vorschriften des StGB zur Strafzumessung (insbesondere § 46) sowie zur Verhängung von Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht von vornherein bestimmte Lebensbereiche als für die Tatsachenfeststellung irrelevant ausgeklammert werden. Wenn aber unterschiedlichste Bereiche der Welt im Strafprozess Bedeutung erlangen können, ist es unmöglich, exakt zu bestimmen, welcher Teil der Alltagssprache für eine Präzisierung im Sinne Tarskis von der gesamten Alltagssprache abzuspalten ist. Ohne eine solche exakte Abtrennung muss wiederum unklar bleiben, welche Begriffe überhaupt Teil der aufzubauenden Metasprache (die auch alle Begriffe der jeweiligen Objektsprache enthalten muss) sein sollen. Und ohne abschließende Bestimmung des Umfangs der Metasprache kann man nicht beginnen, deren Begriffe auf jeweils nur eine einzige Bedeutung festzulegen und die Ausdrücke zu bezeichnen, die zur Kategorie der Aussagen gehören sollen.845 Schließlich stünde die von Tarski skizzierte Lösung in einem groben Widerspruch zu den Vorschriften der Strafprozessordnung, die – aussagepsychologisch sinnvoll – bei der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen zwischen Bericht und Verhör unterscheiden und ersterem Priorität einräumen (§§ 69 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, 72 StPO). Denn die Umsetzung des geschilderten Programms hätte einen Sprachgebrauch im Strafprozess zur Folge, der sich dem Gebrauch einer formalisierten Sprache weitgehend annähert.846 Zeugen und Sachverständige dürften dann nur ein exakt begrenztes, jede Mehrdeutigkeit ausschließendes Vokabular nach ganz bestimmten Regeln benutzen. Die unbefangene Wiedergabe der vom Vernehmungsgegenstand bekannten Umstände im Zusammenhang (§ 69 Abs. 1 Satz 1 StPO) wäre bei einem solch starren Gerüst nicht möglich. Aus diesen Gründen muss Tarskis Ansatz all diejenigen enttäuschen, die sich von ihm eine brauchbare Definition von Wahrheit im Strafprozess erhoffen. Gemessen an Tarskis Maßstäben ist dort eine solche Definition überhaupt nicht möglich.

845

Diese Überlegungen stehen dem von Paulus, in: FS Spendel, S. 687, 696 ff., sowie ders., in: FS Fezer, S. 243, 249 ff. vorgeschlagenen Verständnis der Überzeugung (§ 261 StPO) als metasprachlicher, semantischer Quasi-Definition von Wahrheit im Strafprozess entgegen; ein solches Verständnis wäre auch allgemein mit dem Ansatz Tarskis nicht vereinbar, da Tarskis Wahrheitsdefinition es nicht zulässt, den Begriff „Wahrheit“ einfach durch einen anderen Begriff zu ersetzen. 846 Tarski, Der Wahrheitsbegriff, Studia Philosophica 1 (1935), 261, 393 meint selbst, dass die von ihm für die Alltagssprache vorgeschlagene, annäherungsweise Lösung des Wahrheitsproblems wohl die Alltagssprache in eine formalisierte Sprache umformen würde.

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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dd) Geringe Aussagekraft einer weiten korrespondenztheoretischen Tarski-Interpretation Popper hat, wie die Diskussion unter philosophischen Gesichtspunkten zeigen wird, in fragwürdiger Weise zentrale Textstellen bei Tarski ignoriert oder abgewandelt. Nur so konnte er Tarski als Streiter für einen allgemeinen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff ausgeben.847 Doch selbst dann, wenn man Poppers wenig überzeugender Interpretation folgen wollte, gibt Tarkis Ansatz für den Strafprozess wenig her. Da in der modifizierten Alltagssprache, die der Tatsachenfeststellung zugrunde liegt, keine rekursive Wahrheitsdefinition wie in einer formalen Sprache möglich ist, könnte man über bloße Äquivalenzen der Form (T) nicht hinausgelangen. Alles, was man im Strafprozess über Wahrheit sagen könnte, wären damit einzelne Sätze wie „A hat B mit einer Pistole bedroht“ ist wahr genau dann, wenn A B mit einer Pistole bedroht hat.

Solche Sätze haben jedoch nur geringe Aussagekraft. Sie lassen offen, wie das Verhältnis von Sprache und Welt beschaffen ist, insbesondere wie der metasprachliche Satz auf der rechten Seite der Äquivalenz auf Gegenstände der Welt referiert.848 Mit Strawson, der einer Ausweitung von Tarskis Konzept zu einer allgemeinen Korrespondenztheorie für nichtformalisierte Sprachen entschieden entgegengetreten ist849, könnte man sogar zu der Ansicht kommen, dass Äquivalenzen in Tarskis Sinne semantisch wertlos sind. Denn die Bedeutung eines Satzes kann man nicht erklären, indem man den Satz wiederholt, sondern nur mithilfe eines anderen Satzes. Abgesehen davon hat sich Tarski auf eine Definition von Wahrheit konzentriert. Das Problem, ein Wahrheitskriterium anzugeben, spielt in seinem Ansatz keine Rolle. Woran aber soll man erkennen, ob die rechte Seite einer Äquivalenz eine bestimmte Struktur von Gegenständen der Welt zutreffend beschreibt, ob also im Beispiel A den B tatsächlich mit einer Pistole bedroht hat? Für den Strafprozess, in dem es vor allem um die Feststellung von vergangenen Ereignissen im Wege der Beweisaufnahme geht, ist gerade das die entscheidende Frage. Mit Tarski wird man darauf keine Antwort finden.

847

Ausführlich dazu S. 215 ff.; Greco, Strafprozesstheorie, S. 172, stellt mit Blick auf einen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff im Strafverfahren unter Berufung auf Popper Tarski als Erneuerer der Korrespondenztheorie hin. Überzeugen kann das nicht. Denn Greco setzt sich weder mit Tarskis Ansatz als solchem und den darin enthaltenen Restriktionen auseinander, die einer Übertragung auf den Strafprozess im Wege stehen, noch mit der philosophischen Debatte um die Einordnung Tarskis, in der Poppers Interpretation vielfach auf Ablehnung gestoßen ist. Eine allzu unkritische Einordnung von Tarski als Korrespondenztheoretiker findet sich auch bei Löffelmann, Die normativen Grenzen, S. 24 Fn. 114. 848 S. dazu die Diskussion von Tarskis Ansatz unter philosophischen Gesichtspunkten. 849 Näher dazu und zu Strawsons performativer Wahrheitstheorie S. 327 ff.

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

e) Einige ergänzende Bemerkungen zum Verhältnis von Wahrheitsbegriff und formaler Logik und zum Stellenwert der formalen Logik im Strafverfahren Wittgenstein und Tarski haben der formalen Logik im Zusammenhang mit dem Wahrheitsbegriff einen hohen Rang eingeräumt. Die bisherige Untersuchung hat dementsprechend den Problemkreis um Wahrheitsbegriff, formale Logik und Strafverfahren bereits mehrfach berührt. Daher besteht Anlass zu einigen ergänzenden Überlegungen. aa) Formale Logik und Wahrheitsbegriff Die Ansätze von Wittgenstein und Tarski könnten zu der Annahme verleiten, zwischen formaler Logik und korrespondenztheoretischem beziehungsweise aristotelischem Wahrheitsbegriff bestünde ein besonderer, vielleicht gar zwingender Zusammenhang. Eine solche Annahme wäre indes verfehlt. Die Sätze der formalen Logik als Regeln des richtigen Schließens gehören zum Bereich der Syntax.850 Sie abstrahieren von der Bedeutung der in ihnen verwendeten Zeichen (die Gegenstand der Semantik ist) wie auch von dem pragmatischen Zusammenhang, in dem diese Zeichen gebraucht werden. Wittgenstein hat die Logik daher treffend so charakterisiert, dass ihre Sätze nichts sagten.851 Logische Gesetze sind Tautologien, also unabhängig davon wahr, mit welchen Wahrheitswerten ihre Variablen besetzt werden.852 Wie man zu diesen Wahrheitswerten gelangt, ist für die Logik selbst irrelevant. Sie ist gegenüber philosophischen und sonstigen Wahrheitstheorien neutral, solange (zumindest gilt das für jede zweiwertige Logik) diese Wahrheitstheorien gewisse Grundregeln wie den Satz vom ausgeschlossenen Dritten und den Satz vom Widerspruch nicht in Frage stellen.853 Die Wahl des Wahrheitsbegriffs hängt auch von der Zielsetzung der jeweiligen Logik ab: „In der Logik spielt die Wahrheit eher die Rolle einer dem Aussagesatz zugeordneten Charakteristik, mit der nach gewissen formalen Regeln – gleichsam wie mit einer Spielmarke – operiert werden kann. Der Logiker definiert den Begriff der Wahrheit in der Weise, wie es für den Aufbau seiner Systeme adäquat erscheint“.854 850

Näher zur Verortung der formalen Logik Zoglauer, Einführung, S. 9 ff. S. TLP 5. 43; ganz ähnlich Russell, The Philosophy of Logical Atomism, S. 9: „That is one of the characteristics of logical propositions, that they mention nothing.“ 852 S. allgemein Wittgenstein, TLP 6.1; näher zum tautologischen Charakter der Gesetze der Aussagenlogik Weinberger, Rechtslogik, S. 132 ff.; Zoglauer, Einführung, S. 47 ff. 853 Unter anderem mit einem solchen Spannungsverhältnis begründet Russell, The Problems of Philosophy, S. 192 f. seine Kritik an der Kohärenztheorie der Wahrheit. 854 Weinberger, Rechtslogik, S. 72; anders Klug, Juristische Logik, S. 22 („Der Ausdruck wahr […] kann in der Logik als undefinierter Grundbegriff übernommen werden. Seine nähere Erörterung ist Angelegenheit der Erkenntnistheorie.“); vgl. auch Engisch, Logische Studien, S. 58 ff., der für eine bewusst naive Auffassung im Rahmen der Subsumtion plädiert, die davon ausgeht, durch Wahrnehmung und Erfahrung sei der Zugriff auf die Realität und die Dinge „an sich“ möglich. 851

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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Auch im Strafprozess gilt, dass der Einsatz formallogischer Verfahren keinen bestimmten philosophischen Wahrheitsbegriff impliziert und dass der dort verwendete Wahrheitsbegriff auch von einer spezifisch strafrechtlichen Zielsetzung her bestimmt werden könnte. bb) Zum Stellenwert der formalen Logik im Strafverfahren Die formale Logik, wie wir sie heute kennen, verdankt ihre Entstehung in erheblichem Maße dem Misstrauen gegenüber der Alltagssprache. Überlegungen, deren Mehrdeutigkeiten und Unklarheiten zu entkommen und Wissenschaft mit präzisen Kunstsprachen zu betreiben, hat bereits Leibniz angestellt. Ein Kalkül soll danach die formalen Schlussregeln vorgeben und eine „characteristica universalis“ alle in sämtlichen Wissenschaften verwendeten Begriffe zusammenstellen.855 Die moderne Logik hat zur Bildung von Kalkülen für bestimmte Gebiete geführt. Frühe Beispiele sind Freges Begriffsschrift und die von Russell in den „Principia Mathematica“ ausgearbeitete Kunstsprache, die dieser später nicht ohne Selbstironie als eine Sprache bezeichnet hat, die logisch perfekt wäre, wenn sie denn neben syntaktischen Regeln auch irgendein Vokabular aufwiese856. Frege hat das Spannungsverhältnis zwischen natürlicher, in ständigem Wandel begriffener Sprache und auf Präzision angewiesenem wissenschaftlichen Denken in seinem programmatischen Text „Über die wissenschaftliche Berechtigung einer Begriffsschrift“ dargestellt. Demnach ist die „Unvollkommenheit der Sprache“ für Missverständnisse und Denkfehler in der Wissenschaft verantwortlich; Grund dafür seien die Mehrdeutigkeiten der Alltagssprache, die sich verdeckt auch auf logische Schlussverfahren auswirkten, stillschweigend angenommene Voraussetzungen und das Fehlen eines abschließenden Katalogs zulässiger Schlussformen.857 Zugleich erkennt Frege an, dass die zu diesen Mängeln führende Flexibilität und Veränderlichkeit die Alltagssprache entwicklungsfähig und vielfältig verwendbar macht.858 Im Bereich der Wissenschaft hält er eine von der Alltagssprache gänzlich verschiedene Zeichensprache für notwendig: „Wir bedürfen eines Ganzen von Zeichen, aus dem jede Vieldeutigkeit verbannt ist, dessen strenger logischer Form der Inhalt nicht entschlüpfen kann.“859 Doch welchen Stellenwert hat die dieses Programm umsetzende moderne Logik im Strafverfahren, in das zwar verschiedene Wissenschaften ein855

S. Leibniz, Brief an Gabriel Wagner, in: Philosophische Schriften Bd. 4, S. 1 ff.; ders., Anfangsgründe einer allgemeinen Charakteristik, in: Philosophische Schriften Bd. 4, S. 39 ff.; ders., Elemente eines Kalküls, in: Philosophische Schriften Bd. 4, S. 67 ff.; s. dazu Weinberger, Rechtslogik, S. 35; s. auch Viehweg, Topik, S. 77 ff. zu Leibniz frühem Versuch, Topik und mathematische „ars combinatoria“ zu verbinden. 856 S. Russell, The Philosophy of Logical Atomism, S. 25. 857 Frege, Über die wissenschaftliche Berechtigung einer Begriffsschrift, in: Funktion, Begriff, Bedeutung, S. 70 ff. 858 Ebd., S. 72 f. 859 Ebd., S. 73; s. auch S. 74.

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C. Wahrheit im Strafprozess im Lichte philosophischer Wahrheitstheorien

fließen, das aber insgesamt betrachtet keine wissenschaftliche, sondern eine durchaus praktische Angelegenheit ist? Auf Schopenhauer geht eine bis in die jüngere Vergangenheit anzutreffende Beschreibung des gesamten Strafprozesses als Anwendungsfall des scholastischen Modus Barbara mit Gesetz und Sachverhalt als Prämissen und der Gerichtsentscheidung als Konklusion zurück.860 Dieses grobe Schema kann man auch mit modernen logischen Mitteln konstruieren.861 Doch damit ist für das Problem der Anwendung der formalen Logik auf Aussagen über Sachverhalte nichts gewonnen, betreffen diese doch fast ausschließlich die praemissa minor des klassischen Justizsyllogismus.862 In diesem Bereich – der indes den Schwerpunkt der meisten Strafverfahren bildet – stößt der Versuch einer umfassenden logischen Formalisierung rasch an Grenzen. Das ist bereits bei der Untersuchung der Konzeption Tarskis angeklungen, gilt aber auch dann, wenn für das Strafverfahren keine eigene logisch perfekte Kunstsprache gebildet, sondern die gängige Aussagen- oder Prädikatenlogik angewendet wird. Bereits die Darstellung einer einfachen alltagssprachlichen Sachverhaltsschilderung mit den Mitteln moderner Logik ist mit erheblichem Aufwand verbunden. Noch einmal dient unser Banküberfall-Beispiel zur Illustration: Erforderlich wäre es zunächst, eine Reihe von Abkürzungen festzulegen. Das könnte so aussehen: p = A hatte existenzbedrohende Schulden; q = A hat mit F über seine Pläne gesprochen; r = A bedrohte B mit einer Pistole; s = A verschaffte sich eine Pistole ; t = A betrat die Bank ; u = A gab einen Schuss in die Decke ab; v = B händigte A die vorhandenen Gelder aus. Der Sachverhalt „A hatte existenzbedrohende Schulden und äußerte gegenüber seiner Bekannten F, er wolle seine Probleme mit einem Überfall lösen. Er verschaffte sich eine Pistole, betrat die Bank in X, bedrohte den Bankangestellten B mit der Waffe und gab einen Schuss in die Decke ab. Daraufhin händigte ihm B die vorhandenen Gelder aus.“ hätte die Gestalt einer Konjunktion: p^q^r^s^t^u^v

Eine solche Formalisierung für die gesamten Feststellungen zur Sache durchzuführen, wäre, wie das Beispiel zeigt, selbst in sehr einfachen Fällen äußerst umständlich. Wie zweifelhaft es ist, die Urteilsfeststellungen insgesamt als Konjunktion 860

Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Erstes Buch, Kapitel 10 (S. 129): „Hingegen liefert den förmlichsten und großartigsten Syllogismus, und zwar in der ersten Figur, jeder gerichtliche Proceß. Die Civil- oder Kriminal-Uebertretung, wegen welcher geklagt wird, ist die Minor: sie wird vom Kläger festgestellt. Das Gesetz für solchen Fall ist die Major. Das Urtheil ist die Konklusion, welche daher, als ein Nothwendiges, vom Richter bloß ,erkannt‘ wird.“; Schopenhauer folgt Engisch, Logische Studien, S. 7 ff.; s. auch Klug, Juristische Logik, S. 48 ff. 861 S. die Darstellung mit den Mitteln der Prädikatenlogik bei Klug, Juristische Logik, S. 50 ff. 862 Vgl. S. 189.

I. Die Korrespondenztheorie und der semantische Wahrheitsbegriff

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im logischen Sinne anzusehen, ist bereits im Zusammenhang mit Wittgensteins Isomorphietheorie deutlich geworden.863 Und was wäre mit einer derartigen Formalisierung der Feststellungen überhaupt gewonnen? Einem gewissen Zuwachs an Eindeutigkeit stünde die völlige Unverständlichkeit des Urteils für all diejenigen gegenüber, die mit der entsprechenden Formalisierung nicht vertraut sind. Man könnte weiter daran denken, die formale Logik im Verhältnis von Beweisaufnahme und Beweiswürdigung einerseits sowie den Feststellungen zur Sache andererseits heranzuziehen. Aber auch hier ist Vorsicht geboten. Ein Verständnis dieses Zusammenspiels als Implikation, in unserem Beispiel also etwa in der Form B (Beweismittel) 1 ^ B 2 ^ B 3 ! p ^ q ^ r ^ s ^ t ^ u ^ v

wäre irreführend. Denn aus den verschiedenen erhobenen Beweisen und den sie betreffenden Aussagen folgt nicht notwendig, dass das Geschehen auch genauso abgelaufen ist, wie es das Gericht festgestellt hat. Die Beweiswürdigung selbst und ihr Verhältnis zu den Feststellungen zur Sache ist in weiten Teilen von Plausibilitätsund Wahrscheinlichkeitserwägungen und nicht von deduktiven Schlüssen geprägt. Abgesehen davon können auch logisch korrekte Schlüsse zu unsinnigen Ergebnissen führen. So wäre die folgende Erwägung eines Gerichts logisch einwandfrei: „Alle Menschen mit blauen Augen überfallen Banken. A hat blaue Augen. Also überfällt er Banken.“ Das Problem liegt auf der Ebene der Prämissen. Über deren Wahrheit kann die Logik indes nicht entscheiden. All dies sollte zur Warnung davor dienen, in der Anwendung formallogischer Verfahren auf deskriptive Aussagen im Strafprozess eine Garantie für die Wahrheit oder Richtigkeit des Urteils insgesamt zu erblicken. Dennoch hat die Kenntnis und Anwendung der modernen Logik im Strafverfahren erheblichen Wert. Logische Techniken – oft in Verbindung mit semantischen Überlegungen – erlauben es, sprachliche Ungenauigkeiten und daraus resultierende fehlerhafte Schlüsse aufzudecken.864 Ein Beispiel hierfür ist das in der Alltagssprache mehrdeutige „oder“, das in der formalen Logik als Disjunktion (v, einschließendes „oder“) beziehungsweise Kontravalenz (>–