Wahrheit: Die Architektur der Welt 3770552067, 9783770552061

Was ist Wahrheit? Wann immer unser Denken versucht, die Wirklichkeit vollständig zu begreifen, verwickelt es sich in Ant

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Wahrheit: Die Architektur der Welt
 3770552067, 9783770552061

Table of contents :
Inhalt
1. Die Antinomie des Seins. Vom Widerwillen gegen Architektur
2. Vom Turmbau der Wissenschaft
3. Der Teufel als Baumeister und Philosoph
4. Sackgassen und Holzwege
5. Grenzen der Wissenschaft
6. Von Laputa Lernen
7. Ein- und ausräumendes Bauen
8. Zurück zur Erde
9. Astronoetik
10. Der Spruch der Schlange
Bibliographie

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Karsten Harries WAHRHEIT

Karsten Harries

WAHRHEIT Die Architektur der Welt

Wilhelm Fink

Umschlagabbildung: Shukov radio tower, lizensiert unter Creative Commons, Foto: Arssenev

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2012 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5206-1

INHALT

1. Die Antinomie des Seins. Vom Widerwillen gegen Architektur ............................................................................ 1.1 Die Antinomie des Seins ................................................. 1.2 Wort und Ding................................................................. 1.3 Vom Widerwillen gegen die Sprache.............................. 1.4 Wahrheit und Ding an sich .............................................. 1.5 Die Antinomie der Wahrheit ...........................................

9 10 11 15 18 23

2. Vom Turmbau der Wissenschaft ........................................... 2.1 Spinne und Biene ............................................................ 2.2 Mutter und Vater unserer Begriffe .................................. 2.3 Nietzsche und Kant ......................................................... 2.4 Der Turmbau der Wissenschaft .......................................

27 27 31 33 38

3. Der Teufel als Baumeister und Philosoph ............................. 3.1 Die Kathedrale in Flammen ............................................ 3.2 Ruinen ............................................................................. 3.3 Das Wissen um das Wissen............................................. 3.4 Der Mann ohne Schatten ................................................. 3.5 Der Teufel als Philosoph ................................................. 3.6 Wissen und Glauben ....................................................... 3.7 Die Philosophen spinnen ................................................. 3.8 Der Teufel und die Kunst ................................................ 3.9 Unterwegs zur modernen Kunst ...................................... 3.10 Schlussbetrachtung ........................................................

41 41 45 47 51 52 54 57 59 62 64

4. Sackgassen und Holzwege .................................................... 4.1 Fernweh und Heimweh ................................................... 4.2 Schiffbruch der Metaphysik ............................................ 4.3 Kann etwas zugleich wahr und falsch sein? .................... 4.4 Von der doppelten Wahrheit ........................................... 4.5 Physik und Lebenswelt ...................................................

69 69 70 75 78 83

5. Grenzen der Wissenschaft ..................................................... 87 5.1 Die Sinnlosigkeit der Welt .............................................. 87 5.2 „Nur gesetzmäßige Zusammenhänge sind denkbar“…… 88

6

INHALT

5.3 Bilder und Modelle ......................................................... 5.4 Kants Grundlegung der Naturwissenschaft.....................

92 94

6. Von Laputa Lernen................................................................ 6.1 Metaphysik und Denken ................................................. 6.2 Die Zeit des Weltbildes ................................................... 6.3 Die Göttin Vernunft ........................................................ 6.4 Die Liebe zur Geometrie ................................................. 6.5 Die Hure Babylon ........................................................... 6.6 Das doppelte Antlitz der Neugier....................................

103 103 108 112 116 120 122

7. Ein- und ausräumendes Bauen .............................................. 7.1 Die Antinomie des Raums .............................................. 7.2 Ausräumendes Bauen...................................................... 7.3 Einräumendes Bauen ...................................................... 7.4 Geometrie und Fantasie .................................................. 7.5 Verrückte Architektur ..................................................... 7.6 Negative und positive Freiheit ........................................

127 127 130 132 135 142 144

8. Zurück zur Erde..................................................................... 8.1 Der Schrecken der Zeit ................................................... 8.2 Der Schrecken des Raums............................................... 8.3 20. Juli 1969 .................................................................... 8.4 „Kolonie liebt der Geist“................................................. 8.5 Der Blick auf die Sterne .................................................. 8.6 Entzauberte Welt.............................................................

149 149 151 152 155 157 160

9. Astronoetik ............................................................................ 9.1 Hans Blumenberg............................................................ 9.2 Was ist Astronoetik? ....................................................... 9.3 Daheimgebliebene der Astronautik ................................. 9.4 Post-postmoderne Geozentrik .........................................

165 165 166 169 172

10. Der Spruch der Schlange ..................................................... 10.1 Eine alte Geschichte ...................................................... 10.2 Rückkehr des Mythos im Zeitalter der Technik? .......... 10.3 Vom Unbehagen an der Technik .................................. 10.4 Objektivierung der Wirklichkeit ................................... 10.5 „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen“ ...................................... 10.6 Vom Kunstwerk der Zukunft ........................................

177 177 178 180 184 189 193

INHALT

7

10.7 Der Künstler als Führer ................................................. 195 10.8 Der Spruch der Schlange ............................................... 196 Bibliographie ............................................................................. 199

1. Die Antinomie des Seins. Vom Widerwillen gegen Architektur Der Titel dieses einführenden Kapitels bedarf einer Erklärung: Wie ist der Titel „Die Antinomie des Seins“ zu verstehen? Was soll der Untertitel: „Vom Widerwillen gegen Architektur“? Was haben Titel und Untertitel miteinander zu tun? Zuerst eine kurze Antwort auf die letzte Frage: in diesem ersten Kapitel werde ich zu zeigen versuchen, dass was ich den „Widerwillen gegen Architektur“ nenne seinen tiefsten Grund in dem was ich unter der „Antinomie des Seins“ verstehe besitzt; und, weiter, dass dieser Widerwille uns helfen kann, die Bedeutung dieser Antinomie besser zu verstehen. Die Antinomie des Seins wiederum wirft Licht auf den Widerwillen gegen Architektur, der alle Architektur, besonders auch die von Philosophen errichteten Gedankenarchitekturen, von Anfang an wie ein Schatten begleitet. So ist es Kain, der die erste Stadt erbaut haben soll und das erste Werk der Architektur das die Bibel erwähnt ist der babylonische Turm. Aber was soll das Reden von einer „Antinomie des Seins“? Im dritten Kapitel werde ich zu dieser Frage zurückkehren – hier eine erste Antwort. Das Wort „Antinomie“ lässt an Kants vier Antinomien denken und an was seine Antinomien beweisen sollen: die Notwendigkeit ein jedes Ding in zweierlei Bedeutung zu verstehen, als Erscheinung und als Ding an sich. Im vierten Kapitel werde ich mich eingehender mit Kants Antinomien beschäftigen und zu zeigen versuchen, dass sie uns auch heute noch einen Weg zur Überwindung des Nihilismus eröffnen. Und es ist das Nihilismusproblem das im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht. Aber wenn ich von einer Antinomie des Seins spreche denke ich nicht nur, nicht einmal zuerst an Kant, sondern an Heidegger. Nicht, dass Heidegger von einer Antinomie des Seins spräche! Aber sein Seinsdenken verwickelt ihn und uns in eine solche Antinomie. In ihr hat Heideggers viel besprochene Kehre ihren Grund. Doch geht es mir hier nicht um Heideggers Denkweg oder Seinsdenken. Ich werde versuchen zu zeigen, dass sich unser Denken unumgänglich in irgendeine Variante dieser Antinomie verwickeln muss, wenn immer es versucht, die Wirklichkeit erschöpfend zu begreifen. Ein jedes solches Begreifen greift zu kurz. So verste-

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1. DIE ANTINOMIE DES SEINS

he ich diese Untersuchungen auch als Beitrag zu jener Theorie der Unbegrifflichkeit die Hans Blumenberg immer wieder beschäftigte.1 Auch diese verstehe ich als Beitrag zum Nihilismusproblem.

1.1 Die Antinomie des Seins Einen ersten Einblick in die Antinomie des Seins geben uns ein paar Sätze aus Heideggers Sein und Zeit: Dass Realität ontologisch im Sein des Daseins gründet, kann nicht bedeuten, dass Reales nur sein könnte als das, was es an ihm selbst ist, wenn und solange Dasein existiert. […] Die gekennzeichnete Abhängigkeit des Seins, nicht des Seienden, von Seinsverständnis, das heißt die Abhängigkeit der Realität, nicht des Realen von der Sorge, sichert die weitere Analytik des Daseins vor einer unkritischen, aber immer wieder sich eindrängenden Interpretation des Daseins am Leitfaden der Idee von Realität.2

Heidegger spricht hier von der Abhängigkeit des Seins, nicht des Seienden, vom verstehenden, menschlichen Dasein. Aber gibt es Seiendes ohne Sein? Konstituiert nicht Sein Seiendes? Was sonst soll das Wort „Sein“ sagen? Wie kann Heidegger dann die Abhängigkeit des Seienden von Dasein bestreiten? Widerspricht er nicht hier sich selbst? Dieser scheinbare Widerspruch ist Ausdruck der Antinomie des Seins. Ihn gilt es zu verstehen. Im Humanismusbrief kommt Heidegger auf das eben Zitierte erklärend zurück: Aber ist nicht in „S. u. Z.“ (S. 212), wo das „es gibt“ zur Sprache kommt, gesagt: Nur solange Dasein ist, „gibt es Sein“? Allerdings. Das bedeutet: nur solange die Lichtung des Seins sich ereignet, ereignet sich Sein dem Menschen. Dass aber das Da, die Lichtung als Wahrheit des Seins selbst, sich ereignet, ist die Schickung des Seins selbst.3

1

2

3

Vgl. Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, Hg. Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2007. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Gesamtausgabe, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 281. Heidegger, „Brief über den Humanismus“. Gesamtausgabe. Bd. 9, Frankfurt a. M. 1976, S. 336.

1. DIE ANTINOMIE DES SEINS

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Aber das Sein das es nur gibt solange es menschliches Dasein gibt ist schwer zu verstehen als das Sein dessen Schickung menschliches Dasein, d.h. die Lichtung als Wahrheit des Seins, ist. Im Anschluss an Kant können wir hier einen transzendentalen von einem transzendenten Seinsbegriff unterscheiden, wobei Heidegger, Hölderlin folgend, Sein, transzendent verstanden, zuweilen als „Seyn“ schreibt oder es durchkreuzt. Sein und Seyn: das sind die zwei Seiten unserer Antinomie.4

1.2 Wort und Ding Immer wieder kommt Heidegger auf diese Antinomie zurück, so in Das Wesen der Sprache.5 Heidegger kommentiert hier Stefan Georges Gedicht Das Wort (1919): Wunder von ferne oder traum Bracht ich an meines landes saum Und harrte bis die graue norn Den Namen fand in ihrem born — Drauf konnt ichs greifen dicht und stark Nun blüht und glänzt es durch die mark ... Einst langt ich an nach guter fahrt Mit einem kleinod reich und zart

4

5

Vgl. dazu Karl Löwith: Heidegger. Denker in dürftiger Zeit. 2. erweiterte Auflage, Göttingen 1960, S. 40: „Ein Widerspruch ist aber weder durch eine perspektivische Differenz des Hinblicks noch durch dialektische Entsprechung aufzulösen. Im Nachwort zur vierten Auflage von “Was ist Metaphysik?“ heißt es bezüglich der Wahrheit des Seins, dass das Sein wohl wese ohne das Seiende, dass niemals „aber“ ein Seiendes sei ohne das Sein. In der sechs Jahre später erschienenen fünften Auflage ist das „aber“, also die Betonung eines Gegensatzes, weggelassen und das „wohl“ durch ein „nie“ ersetzt, das heißt der ganze Sinn des Satzes wird in sein Gegenteil verkehrt, und zwar ohne dass diese Veränderung erkenntlich gemacht wird.“ Was in diesem Widerspruch zum Ausdruck kommt ist in der Tat, wie Löwith bemerkt, die „Zweideutigkeit der ontisch-ontologischen Differenz“ (S. 42-43). Diese Zweideutigkeit ist nicht zu beheben. Sie gründet in der Antinomie des Seins. Martin Heidegger: Das Wesen der Sprache: Unterwegs zur Sprache, Gesamtausgabe, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1985, S. 145-204.

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1. DIE ANTINOMIE DES SEINS

Sie suchte lang und gab mir kund: „So schläft hier nichts auf tiefem grund“ Worauf es meiner hand entrann Und nie mein land den schatz gewann ... So lernt ich traurig den verzicht: Kein ding sei wo das wort gebricht.

Die letzten zwei Zeilen legen eine transzendentale Deutung der Sprache nahe: Ohne Sprache keine Dinge. Erst die Sprache gibt den Dingen den Raum, der sie sein lässt. Kein Ding ist, wo das Wort. d. h. der Name fehlt. Das Wort verschafft dem Ding erst das Sein. Doch wie kann ein bloßes Wort dies leisten, dass es etwas dahin bringt zu sein? Der wahre Sachverhalt liegt doch umgekehrt. Siehe den Sputnik. Dieses Ding, wenn es ein solches ist, ist doch unabhängig von diesem Namen, der ihm nachträglich angehängt wurde.6

Der Einwand ist schwer abzuweisen. Und so spricht Heidegger, wie wir sahen, in Sein und Zeit von der Unabhängigkeit des Seienden, aber nicht des Seins, vom menschlichen Dasein, und d.h. für ihn auch, von der Sprache, die er mit einer architektonischen Metapher als das Haus des Seins denkt. Um für uns zu sein, müssen die Dinge im Haus des Seins, d. h. in der Sprache ihren Platz finden. Die Metapher weiter denkend, können wir fragen: Aber ist das Sein in diesem Haus wirklich zuhause? Es ist nicht leicht, diese Frage einfach zu bejahen, ist Sprache doch ein Produkt des Menschen und menschliches Dasein nur eine kurze Episode in der Geschichte des Weltalls. Ich erinnere an die Fabel von der Bedeutungslosigkeit des Menschen, die Nietzsche an den Anfang von Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne stellt: In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte“: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mussten sterben. – So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben,

6

Ebd., S. 154.

1. DIE ANTINOMIE DES SEINS

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wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt.7

Wer könnte was Nietzsche hier, Kant und Schopenhauer folgend, über die objektive Bedeutungslosigkeit des menschlichen Daseins zu sagen hat leugnen? Aber wie ist das Sein dieses in „zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls“ zu verstehen? Lässt dieses Sein sich verstehen ohne Bezug auf ein Verstehen. Esse est percipi, sagte Berkeley, alles Sein auf einen Verstand beziehend. Man ist versucht, mit Samuel Johnson, Berkeley mit einem Fußtritt auf einen Stein widerlegen zu wollen. Stößt unser Fuß nicht auf Wirkliches? Aber auch das bleibt eine Wahrnehmung. Und so geht, philosophisch gesehen, dieser Tritt ins Leere. Wenn Heidegger schreibt, es gäbe kein Sein ohne Dasein so rückt ihn dies in die Nachbarschaft von Berkeley. Und so lesen wir in Sein und Zeit: Besagt der Titel Idealismus so viel wie Verständnis dessen, dass Sein nie durch Seiendes erklärbar, sondern für jedes Seiende je schon das „Tranzendentale“ ist, dann liegt im Idealismus die einzige und rechte Möglichkeit philosophischer Problematik. Dann war Aristoteles nicht weniger Idealist als Kant.8

Aber das soll nun nicht sagen, dass alles Seiende auf ein menschliches Subjekt oder Bewusstsein zurückgeführt werden könnte. Hier steht Heidegger auf der Seite des Realismus. Die Gegenüberstellung von Realismus und Idealismus spiegelt die Antinomie des Seins.9 Unsere Erfahrung der Wirklichkeit, der Dinglichkeit der Dinge, als das idealistisch verstandene Sein übersteigend, ist eine Erfahrung von Transzendenz. Aber eine solche Erfahrung lässt 7

8 9

Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1. Hg. G. Colli und M. Montinari, München/ Berlin/ New York 1980, S. 875. Heidegger: Sein und Zeit. Gesamtausgabe, Bd 2. S. 276. Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Frankfurt a. M. 1993. Par. 7: „So sehen wir einerseits notwendig das Dasein der ganzen Welt abhängig vom ersten erkennenden Wesen, ein so unvollkommenes dieses immer auch sein mag; andererseits ebenso notwendig dieses erste erkennende Tier völlig abhängig von einer langen ihm vorhergegangenen Kette von Ursachen und Wirkungen, in die es selbst als ein kleines Glied eintritt. Diese zwei widersprechenden Ansichten auf jede von welchen wir in der Tat mit gleicher Notwendigkeit geführt werden, könnte man allerdings wieder eine Antinomie in unserem Erkenntnisvermögen nennen […]“

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1. DIE ANTINOMIE DES SEINS

sich nicht begreifen. Wir stoßen hier an die Grenze unserer Sprache und d.h. auch der Begrifflichkeit. Kehren wir noch einmal zu dem Gedicht von Stefan George zurück, zu den letzten zwei Zeilen: So lernt ich traurig den verzicht: Kein ding sei wo das wort gebricht.

Auf was muss der Dichter verzichten? Auf ein wortloses Verstehen des Seins der Dinge? Aber warum nennt er das Lernen um diesen Verzicht traurig? Das Gedicht spricht von einem Kleinod reich und zart, so zart, dass es sich nicht greifen lässt, und des Dichters Hand entrinnt. Ist das wahre Sein der Dinge dieses Kleinod? Heidegger hätte Georges Gedicht schon in Sein und Zeit zitieren können. Schon hier versteht er die Rede als eine der „fundamentalen Existenzialien, die das Sein des Da“, das heißt menschliches Dasein konstituieren.10 Mit „Rede“ übersetzt Heidegger das griechische Wort Logos. Als das zoon logon echon, das animal rationale, ist der Mensch das Seiende in dem die Natur sich selbst bewusst wird, sich lichtet. Und so nennt Heidegger den Menschen die Lichtung des Seins. Um für uns zu sein muss Seiendes seinen Ort in diesem offenen Raum finden. Aber solche Ortung setzt so etwas wie Koordinaten voraus. So spricht Wittgenstein in seinem Tractatus vom logischen Raum in dem alle möglichen Dinge ihren Ort finden. Jede wohlgeformte Aussage bestimmt einen Ort in diesem Raum. Die Koordinaten dieses Raumes sind unsere Begriffe. In seiner Dissertation und Habilitationsschrift sprach der junge Heidegger eine ähnliche Sprache. Aber ganz wie Wittgenstein, musste auch Heidegger erkennen, dass, wie schon Vico und Herder wussten, es nicht eine abstrakte Logik, sondern unsere Sprache ist, die uns unsere Welt zunächst und zumeist eröffnet. Und so heißt es in Sein und Zeit: Rede ist existenzial Sprache, weil das Seiende, dessen Erschlossenheit sie bedeutungsmäßig artikuliert, die Seinsart des geworfenen, auf die ‚Welt‘ angewiesenen In-der-Welt-seins hat.11

Ohne Sprache kann nichts sein: „Kein Ding sei, wo das Wort gebricht.“

10 11

Sein und Zeit, Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 213. Sein und Zeit, Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 214.

1. DIE ANTINOMIE DES SEINS

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Warum stimmt den Dichter das Wissen um die Notwendigkeit dieses Verzichts traurig? Voraussetzung hier ist der Traum von einem unmittelbaren, von keiner Sprache vermittelten Zugang zu den Dingen. So spricht, können wir sagen, Georges Gedicht von einem Widerwillen gegen die Sprache, gegen dieses Haus des Seins. Die architektonische Metapher will bedacht sein. Widerwille gegen Architektur und Widerwille gegen Sprache gehören zusammen. Beide weigern sich auf ihre Art auf das im Gedicht genannte Kleinod zu verzichten.

1.3 Vom Widerwillen gegen die Sprache Schon bei Platon begegnen wir diesem Verdacht, dass unsere Sprache die Dinge nicht nur entdeckt, sondern zugleich auch verdeckt, dass Worte versagen, wenn wir versuchen dem transzendenten Sein der Dinge gerecht zu werden. Dass solches Versagen gerade in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Gedichten und Gedachtem immer wieder zur Sprache kam gibt zu denken. Bei Wittgenstein und Heidegger, bei George und Hofmannsthal begegnen wir dem Gefühl, unsere Wirklichkeit habe ihre Wirklichkeit verloren, dem Verlangen, einen unmittelbareren Zugang zu den Dingen zu gewinnen. In Hofmannsthals Chandos Brief findet dieses Gefühl einen unübertroffen klaren Ausdruck. Der Fall von Hofmannsthals erdichtetem elizabethanischen Lord ist einfach genug. In ihm erkennen wir das Bild des österreichischen Dichters, der schon als Gymnasiast als Meister der deutschen Sprache gefeiert wurde nur um bald die Sprache als ein Gefängnis zu erfahren, das uns den Zugang zur Wirklichkeit verwehrt. Hofmannsthals junger Lord, postmodern schon am Anfang der Moderne, schreibt seinem wohlmeinenden älteren Freund, dem Wissenschaftler und Philosophen Sir Francis Bacon, einen Brief, in dem er versucht diesem Architekten unserer modernen Welt seinen Entschluss zu erklären, jede literarische Tätigkeit aufzugeben. In diesem Brief geht es um den Sprache und Wirklichkeit trennenden Abgrund, den des jungen Dichters bisheriges ästhetisches Wortspiel nicht so sehr verdeckt, wie eröffnet hat. Mein Fall ist in Kürze dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.

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1. DIE ANTINOMIE DES SEINS

Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte 'Geist', 'Seele' oder 'Körper' nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwas aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.12

Wie ein sich immer weiter fressender Rost breitet sich dieser gegen die Abstraktheit unserer Begriffe gerichtete Widerwille aus und erfasst alles Sprechen. Zunächst ist er nur gegen hochtrabende Worte gerichtet, Worte, die ihren Bezug auf was sie eigentlich sagen sollten verloren haben, Worte wie Geist, Seele, Körper, oder Held, Tugend, Tapferkeit, Worte die zu oft gebraucht und abgegriffen, nun leer laufen. Aber verallgemeinern nicht alle unsere Worte und verdecken so die Einzigartigkeit alles Wirklichen? Ist unser Sprechen nicht, wie Heidegger meint, zunächst und zumeist bloßes Gerede? Wir sagen was man in einer gewissen Situation eben sagt. Lügen nicht alle unsere Worte? So argumentierte der junge Nietzsche in Über Wahrheit und Lüge. Und nicht sehr anders versteht Hofmannsthals Lord die Unzulänglichkeit der Sprache: Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furche und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich wie Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muss; Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.13

12

13

Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. Ausgewählte Werke, Bd. 2., Frankfurt a. M. 1961, S. 341-342. Ebd., S. 342.

1. DIE ANTINOMIE DES SEINS

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Und doch beraubt dieser Sinnverfall die Dinge nicht jeden Sinns. Gerade dadurch, dass unser Sprechen eine gewisse Autonomie erlangt, die jeden Bezug auf eine vorgegebene Wirklichkeit zu verlieren droht und Worte ihren gewohnten Sinn verlieren lässt, die das Gerede des Alltags in die Nachbarschaft eines sprachlosen Schweigens überführt, eröffnet sich ein ganz anderer Bezug zur Wirklichkeit. Der Zerfall der Sprache lässt Worte zu im Schweigen schwimmenden Wirbeln werden. Dieses Schweigen macht Dinge gegenwärtiger. Es wird mir nicht leicht, Ihnen anzudeuten, worin diese guten Augenblicke bestehen; die Worte lassen mich wiederum im Stich. Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes, und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Leben wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet. Ich kann nicht erwarten, dass Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muss Sie um Nachsicht für die Kläglichkeit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweg gleitet, kann für mich plötzlich in irgend einem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.14

Im Geringsten spürt der junge Lord das Unendliche: Denn was hätte es mit Mitleid zu tun, was mit begreiflicher menschlicher Gedankenverknüpfung, wenn ich an einem anderen Abend unter einem Nussbaum eine halbvolle Gießkanne finde, die ein Gärtnerbursche dort vergessen hat, und wenn mich diese Gießkanne, und das Wasser in ihr, das vom Schatten des Baumes finster ist, und ein Schwimmkäfer der auf dem Spiegel dieses Wassers von einem dunklen Ufer zum andern rudert, wenn diese Zusammensetzung von Nichtigkeiten mich mit einer solchen Gegenwart des Unendlichen durchschauert, von den Wurzeln der Haare bis ins Mark der Fersen mich durchschauert, dass ich in Worte ausbrechen möchte, von denen ich weiß, fände ich sie, so würden sie jene Cherubim, an die ich nicht glaube, niederzwingen, und dass ich dann von jener Stelle schweigend mich wegkehre, und nun nach Wochen, wenn ich dieses Nussbaums ansichtig werde, mit scheuem seitlichen Blick 14

Ebd., S. 343.

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1. DIE ANTINOMIE DES SEINS

daran vorübergehe, weil ich das Nachgefühl des Wundervollen, das dort um den Stamm weht, nicht verscheuchen will, nicht vertreiben die mehr als irdischen Schauer die um das Buschwerk in jener Nähe immer noch nachwogen.15

In der Tat: die Worte, die der Lord ersehnt, würden die Cherubim niederzwingen. Denn diese Worte müssten den Ding und Wort trennenden Abstand überwinden. Die Worte dieser Sprache wären nicht anderes als die benannten Dinge. Das aber heißt: sie wären die Schöpferworte jenes Gottes, an den weder der Lord noch der junge Hofmannsthal glauben können. Und doch gibt die Idee dieser göttlichen Sprache unserem Sprechen das Maß, ein Maß allerdings, dem unser Sprechen prinzipiell nicht genügen kann. So verurteilt es den, der sich weigert, die Idee dieser göttlichen Sprache zu verunreinigen, zum Schweigen.

1.4 Wahrheit und Ding an sich Lügen nicht alle unsere Worte? – so fragt der junge Nietzsche in Über Wahrheit und Lüge. Es ist dies eine Frage die der Postmodernismus in verschiedenen Variationen immer wieder wiederholt hat. Aber was versteht Nietzsche unter Wahrheit? „Über Wahrheit und Lüge“ gibt darauf eine klare Antwort: Die verschiedenen Sprachen, nebeneinander gestellt, zeigen, dass es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen. Das „Ding an sich“ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswert.16

Die Idee der reinen Wahrheit und die Idee des Dinges an sich sind, so der junge Nietzsche, ein und dieselbe Idee. So verstanden, und hier müsste Kant Nietzsche beistimmen, ist die Wahrheit uns Menschen versagt. Wenn Nietzsche hier Wahrheit und Ding an sich gleichsetzt, bewegt er sich ganz in den Bahnen des traditionellen Wahrheitsbegriffes, der in dem Buch De veritate des Thomas von Aquin seinen klassischen Ausdruck fand. Veritas est adaequatio rei et intellec15 16

Ebd., S. 345. Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge, S. 879.

1. DIE ANTINOMIE DES SEINS

19

tus.17 Die Wahrheit ist die Angleichung des Dinges und des Verstandes. Ähnlich wie bei Heidegger, so heißt es schon bei Thomas von Aquin: ohne Verstehen keine Wahrheit. Heidegger allerdings spricht von der Abhängigkeit der Wahrheit vom menschlichen Dasein. Gibt es denn ein anderes Verstehen? Ist es nicht Unsinn, von ewigen Wahrheiten zu sprechen? Aber steckt nicht ein Ewigkeitsanspruch in jeder Aussage die Wahrheit beansprucht? Wenn ich z.B., wenn es gerade regnet, sage, „heute regnet es“, so gilt das Ausgesagte doch nicht nur hier und jetzt. Vorausgesetzt, alle relevanten Relativitäten sind gebührend beachtet worden, wird der Satz, dass es heute um diese Zeit hier geregnet hat, immer wahr bleiben. Aber setzt diese Wahrheit nicht so etwas wie ein zeitloses, göttliches Verstehen voraus? Gibt dieses Verstehen nicht unserem Verstehen das Maß? Hier ist zu bemerken, dass der Satz: veritas est adaequatio rei et intellectus, an unsere Antinomie erinnernd, zwei Lesarten erlaubt: veritas est adaequatio intellectus ad rem, „die Wahrheit ist die Angleichung des Verstandes an das Ding“ und veritas est adaequatio rei ad intellectum, „die Wahrheit ist die Angleichung des Dinges an den Verstand.“ Und setzt die zweite Lesart nicht die erste, die Wahrheit unserer Aussagen nicht die Wahrheit der Dinge voraus? Sollen wir die Wahrheit unserer Aussagen den Dingen angleichen, an den Dingen messen, dann doch an den Dingen wie sie wirklich, wir können auch sagen, wie sie in Wahrheit sind. Aber wie ist „Wahrheit“ nun zu verstehen? Kaum als Angemessenheit der Dinge an unseren endlichen, immer durch verschiedene Perspektiven gebundenen Verstand. Eine durch den Glauben gebundene Philosophie könnte sagen: Alles Seiende entspricht einer göttlichen Idee. So verstanden ist alles Seiende wesentlich wahr: ens est verum. Die Wahrheit der Dinge, verstanden als adaequatio rei (creandae) ad intellectum (divinum) ist hier Voraussetzung der Wahrheit der Dinge, verstanden als adaequatio intellectus (humani) ad rem (creatam)18 Menschliches Wissen besitzt sein Maß in Gottes schöpferischen Wissen.

17

18

Thomas Aquinas: Questiones disputatae de veritate, qu. 1, art. 1. Vgl. Martin Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, (WS 1923/24), Gesamtausgabe, Bd. 17, Frankfurt a. M. 1994, S. 162-194. Siehe Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1976, S. 178-182.

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1. DIE ANTINOMIE DES SEINS

Das Wesen der Wahrheit als Angemessenheit der Dinge an den Verstand zu bestimmen, mag aufs Erste gesucht erscheinen. Und doch hat es seinen guten Platz in unserer Alltagssprache. Wenn wir, z. B., etwas von uns Gezeichnetes einen wahren Kreis nennen, dann meinen wir, dass das Gezeichnete unserer Idee eines Kreises entspricht. Hier verstehen wir Wahrheit als adaequatio rei (creandae) ad intellectum (humanum). Aber was berechtigt uns zu meinen, wir könnten den Abgrund, der unser endliches Verstehen von den Dingen an sich trennt, überbrücken. Nietzsche kennt keine solche Brücke. Erinnern wir uns noch einmal an die des jungen Nietzsche durchaus der Tradition verpflichtete Bestimmung der Wahrheit als Kongruenz unserer Bezeichnungen und der Dinge. Dass die so verstandene Wahrheit sich uns verweigert, hätte auch Kant zugegeben. Nietzsche spricht allerdings eine andere Sprache: Das „Ding an sich“ (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswert. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hilfe. Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedes Mal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.19

Hier stellt sich die Frage: Ist Nietzsches „Metapher“ nicht selbst eine Metapher. Nietzsche versteht hier Naturprozesse im Bilde der Rhetorik – ist dies berechtigt? So viel müssen wir zugeben: Das Ding an sich bleibt uns unbekannt und unverständlich. Was uns begegnet, was wir erkennen, sind immer nur sprachlich vermittelte Erscheinungen. Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse er wissen, was die Menschen den „Ton“ nennen. So geht es uns allen mit der Sprache. Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. Wie der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das rätselhafte X des Dings an sich einmal als 19

Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge, S. 879.

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Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus. Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material, worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkuckucksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.20

Aber wo hat die Idee dieses sich unserem Sprechen grundsätzlich entziehenden Dinges an sich seinen Ursprung? Das Wort „Erscheinung“ gibt uns einen Wink. Setzt jede durch irgendwelche Perspektiven gebundene Erscheinung nicht eine erscheinende Wirklichkeit voraus? Kant gibt uns das Beispiel des Planeten Saturn, den wir, wie Kant sagt, als ein Objekt mit Henkeln sehen,21 aber dabei doch wissen, dass dies nur die subjektive Erscheinung eines von Ringen umgebenen kugelförmigen Dinges ist, das wir, so wie es ist, zwar nie sehen, dem wir uns aber doch in immer objektiveren, und das heißt immer weniger perspektiv-gebundenen Rekonstruktionen unendlich annähern können. So weist die Idee dieses transzendentalen Objekts = X der Naturwissenschaft die Richtung und gibt ihr das Maß. Auch hier bedeutet Wahrheit erst einmal: adaequatio rei (creandae) ad intellectum (humanum). Die res (creanda) ist hier die Aussage; sie hat ihr Maß in der ebenfalls menschlichen Idee des transzendentalen Objekts. Dieses, entzieht es sich auch wesentlich jeder Wahrnehmung, darf jedoch nicht mit dem Ding an sich verwechselt werden. Das transzendentale Objekt gibt unserer Naturerkenntnis das Maß; dieses Maß ist Voraussetzung jeder Erfahrung. Aber hier bewegen wir uns immer noch in dem logischen Raum in dem die Dinge ihren Platz finden müssen um überhaupt für uns zu sein. Das Ding an sich, das sich uns so zeigt, findet in diesem Raum keinen Platz und ist doch Voraussetzung jeder Erscheinung. Im folgenden Paragraphen kommt Nietzsche auf den durch die wesentliche Allgemeinheit all unserer Begriffe bedingten Wirklichkeitsverlust zu sprechen. Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe. Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, dass heißt streng genommen 20 21

Ebd. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Riga 1787, B70.

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niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiss nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das „Blatt“ wäre etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so dass kein Exemplar korrekt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre.22

Nietzsche hat natürlich recht, wenn er darauf besteht, dass wir Begriffe nicht verdinglichen und zu Ursachen machen sollten. Aber beruht die Genese unserer Begriffe wirklich auf einer willkürlichen Abstraktion? Die Art, wie Nietzsche sich hier auf Schopenhauers qualitas occulta bezieht, lädt zu Fragen ein: Wir nennen einen Menschen „ehrlich“. Warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlichkeit! Das heißt wieder: das Blatt ist die Ursache der Blätter. Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die „die Ehrlichkeit“ hieße, wohl aber von zahlreichen individualisierten, somit ungleichen Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlungen bezeichnen; zuletzt formulieren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: „die Ehrlichkeit“. Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff, wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X. Denn auch unser Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen wagen, dass er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegenteil.23

Wir kehren hier zu einem Problem zurück, das schon Platon in seinem Kratylos behandelte. Muss die Art in der wir Dinge unter einen Nenner bringen nicht Ihren Grund im Wesen dieser Dinge haben? Entdecken wir nicht so ewas wie eidos in physis? Dass wir Elefanten und Giraffen verschiedenen Gattungen zuordnen ist doch 22 23

Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge“, S. 879-880. Ebd., S. 879.

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nicht willkürlich. Nicht, dass wir die Dinge nicht auch in eine andere Ordnung, anderen Interessen und Erfahrungen entsprechend, hätten bringen können. Aber irgendwie hat Schopenhauer mit seiner qualitas occulta doch recht. Und setzt nicht auch Nietzsche eine solche Erfahrung des verschiedenen Dingen Gemeinsamen voraus? Wie kämen wir sonst dazu, von Blättern, Elefanten und Menschen zu sprechen? Es muss, neben unserer Wahrnehmung von Einzeldingen, so etwas wie ein Sehen von Familienähnlichkeiten geben, ein Begriff den Wittgenstein Schopenhauer verdankt.24 Ohne eine solche Erfahrung käme es zu keiner Begriffsbildung. Und weiter müssen wir Menschen solche Familienähnlichkeiten ähnlich erfahren, sonst bliebe der Ursprung der Sprache unverständlich.

1.5 Die Antinomie der Wahrheit Damit kehren wir zur Wahrheitsfrage zurück: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.25

Dies lässt an jene Stelle in der Kritik der reinen Vernunft denken (A58/B83), wo Kant die Frage: Was ist Wahrheit? „Die alte und berühmte Frage“ nennt, „womit man die Logiker in die Enge zu treiben vermeinte“, und antwortet, „Die Namenerklärung der Wahrheit, dass sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier „geschenkt und vorausgesetzt.“ Aber Kant versteht diese Definition nun transzendental: Wahrheit, wie sie die Wissenschaft sucht, versteht Kant als Ange24

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Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, par. 17: “Diese letztere [die Morphologie] führt uns unzählige, unendlich mannigfaltige und doch durch eine unverkennbare Familienähnlichkeit verwandte Gestalten vor, für uns Vorstellungen, die auf diesem Wege uns ewig fremd bleiben und, wenn bloß so betrachtet, gleich unverstandenen Hieroglyphen vor uns stehn.“ Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge, S. 880-881.

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messenheit unserer Vorstellungen, nicht an die Dinge an sich, sondern an die Objekte wie sie ein ideales Subjekt verstehen würde. Ein anthropozentrischer Wahrheitsbegriff tritt an die Stelle des theozentrischen. Aber wird damit nicht Wahrheit zur Lüge? Kehren wir zum Schluss von Nietzsches Zitat zurück: „Metaphern die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“ Metaphern die „abgenutzt und sinnlich kraftlos“ geworden sind haben ihre metaphorische Kraft verloren: wir erfahren nicht mehr das Zusammenspiel von verschiedenen Bildern, erfahren überhaupt kein Bild mehr. Was nun allein noch zählt ist ihr messbares Gewicht. Aber solche „Kraftlosigkeit des Sinnlichen“ ist Voraussetzung der Wahrheit wie Kant, und mit ihm die Naturwissenschaft, und mit ihr unsere moderne Welt sie versteht. So ist es die so verstandene Wahrheit, die den Widerwillen gegen die uns von Philosophie und Wissenschaft gebaute Gedankenarchitektur hervorruft. Ihrem Wahrheitsanspruch entsprechend ist die Sprache des Naturwissenschaft wesentlich „entfärbt“, „kühler“, als die Sprache des Alltags. Und fordert dieser Anspruch nicht auch Objektivität und d. h. auch, dass wir uns aller Metaphern, so weit wie möglich, entledigen? Diese Gerichtetheit auf eine, um mit Nietzsche zu sprechen, farblose Sprache, hat ihren Grund im Wesen der so verstandenen Wahrheitsforderung. Aber Farblosigkeit darf hier nicht so ohne Weiteres als „Abnutzung“ verstanden werden. Anstatt „sinnlich kraftlos“, hieße es nicht besser „geistig kraftvoll“? Ist es nicht Aufgabe des Geistes alles Sinnliche zu vermenschlichen? Der zweite Teil des Satzes ist schwerer zu verstehen. Geld unterwirft Verschiedenartiges einem einzigen Maß. Und liegt eine ähnliche Vereinheitlichung nicht in aller Begrifflichkeit? Wie aber haben wir „Münzen, die ihr Bild verloren haben“ zu verstehen? Und was war es, das man vor diesem Verlust dafür einhandeln konnte? Traumbilder? Der Verlust des Bildes auf der Münze entspricht dem was ich über die Farblosigkeit des wissenschaftlichen Diskurses zu sagen hatte. Aber was soll „Metall“ hier sagen? Es muss etwas mit Geist zu tun haben. Nietzsches Metall, so möchte ich meinen, nennt hier jenes völlig heterogene Gedankenmaterial von dem Schopenhauer spricht: Das Medium der Allgemeinheit. Dieses bleibt in der Tat leer ohne Bezug auf Sinnliches. Wie Kant sagte, „Gedanken ohne

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Inhalte sind leer.“26 Das aber heißt, die von Philosophie und Wissenschaft gesuchte Wahrheit wird der Wahrheit der Dinge nicht gerecht. Der Antinomie des Seins entspricht eine Antinomie der Wahrheit.

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Kant, Kritik der reinen Vernunft, A51/B75.

2. Vom Turmbau der Wissenschaft Der Widerwille gegen Architektur, so sagte ich am Anfang des einführenden Kapitels, kann uns helfen, die Bedeutung der Antinomie des Seins, wie ich sie nannte, besser zu verstehen. Dieser Widerwille zeigt sich in den architektonischen Metaphern die in Nietzsches Über Wahrheit und Lüge unser uns von Wissenschaft und Vernunft geschaffenes Weltbild beschreiben: Turmbau (wir denken an Babel) – Zwingburg (wir denken an Herrschaft, die uns verweigert, was wir zutiefst ersehnen) – Kolumbarium (wir denken an zu Asche verbranntes Leben).

2.1 Spinne und Biene Besonders vielsagend ist Nietzsches nicht unbedingt zu Gunsten des Menschen ausfallender Vergleich der Menschen mit Bienen: Wie die Römer und Etrusker sich den Himmel durch starre mathematische Linien zerschnitten und in einen solchermaßen abgegrenzten Raum, als in ein templum, einen Gott bannten, so hat jedes Volk über sich einen solchen mathematisch zerteilten Begriffshimmel und versteht nun unter der Forderung der Wahrheit, dass jeder Begriffsgott nur in seiner Sphäre gesucht werde. Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fließendem Wasser das Auftürmen eines unendlich komplizierten Begriffsdomes gelingt: – freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muß es ein Bau wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von jedem Winde auseinandergeblasen zu werden. Als Baugenie erhebt sich solchermaßen der Mensch weit über die Biene: diese baut aus Wachs, das sie aus der Natur zusammenholt, er aus dem weit zarteren Stoffe der Begriffe, die er erst aus sich fabrizieren muß. Er ist hier sehr zu bewundern – aber nur nicht wegen seines Triebes zur Wahrheit, zum reinen Erkennen der Dinge.1

Das erinnert an das Stück Wachs mit dem Descartes in seiner zweiten Meditation zu zeigen versucht, dass sich das Wesen eines 1

Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Hg. G. Colli und M. Montinari, München/ Berlin/ New York 1980, Bd 1, S. 882.

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solchen Dinges nur im Denken ergreifen lässt. Alles was unsere Sinne erfassen gehört nicht zu diesem Wesen. Und so verliert das in seinem Wesen klar und deutlich erfasste Wachs was übrig blieb vom Geschmack des Honigs, vom Duft der Blumen, verliert Farbe, Geruch und Gestalt. So verstanden ist die klar und deutlich begriffene Wirklichkeit eine Gedankenkonstruktion, die zwar auf Erfahrung angewiesen bleibt, diese aber verarbeiten und übersteigen muss. Und gilt das nicht auch für das Weltbild das unsere Naturwissenschaft voraussetzt? Sind die Elementarteilchen, die wir als die Bausteine der Natur verstehen, nicht eben solche Konstruktionen? Nietzsche sieht den Grund eines solchen Erkennens nicht im Trieb zur Wahrheit, sondern in dem Bestreben auf dem fließenden Wasser der Erfahrung eine dauernde Architektur zu errichten in der wir uns geistig zuhause fühlen können. Nicht sehr anders heißt es bei Kant, „Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System, und verstattet daher auch nur solche Prinzipien, die eine vorhabende Erkenntnis wenigstens nicht unfähig machen, in irgend einem System mit anderen zusammen zu stehen.“2 Voraussetzung einer solchen Architektur ist Baumaterial das dieser Forderung genügt und ein fester Baugrund. Aber wie kann Nietzsche sagen, das Errichten einer solchen Architektur entspringe nicht dem „Trieb zur Wahrheit, zum reinen Erkennen der Dinge“? Dient die Wahrheitsforderung nicht eben diesem Bestreben der Erfahrung eine solche Architektur abzuringen? So dachte Descartes und wurde damit zum Begründer des Rationalismus und unserer Naturwissenschaft: Überall habe ich in meinen Schriften beteuert, ich ahmte den Architekten darin nach, dass sie, um feste Gebäude aufzuführen, an Stellen, wo der Fels oder der Mergel oder irgendein anderer fester Boden, von einer sandigen Oberschicht bedeckt ist, zuerst Gräben ausheben und allen Sand und alles andere, was auf dem Sande steht oder mit ihm vermischt ist, aus ihnen zu entfernen, um sodann auf festen Boden die Fundamente zu legen. So habe ich alles Zweifelhafte, wie Sand, zuerst beseitigt, und dann, als ich merkte, dass man wenigstens daran nicht zweifeln könne, dass eine zweifelnde oder

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Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 474/B502.

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denkende Substanz existiert, die Gewissheit gewissermaßen als Fels benutzt, um darauf die Fundamente meiner Philosophie zu legen.3

Descartes, zuversichtlicher als Kant, will die Wirklichkeit begreifen. Greifen aber lässt sich nur was hart genug ist und was nicht sofort wieder in unseren Händen zerrinnt. So zwingt uns der Anspruch, die Wirklichkeit zu begreifen, Sein gegen Zeit zu denken. Dieser Anspruch entspringt dem Trieb, die Wirklichkeit zu meistern, ein Trieb den Nietzsche nicht mit dem Trieb die Dinge rein zu erkennen verwechselt wissen will. Aber ist ein solches „reines Erkennen“ nicht eine Unmöglichkeit? Wie kommt es überhaupt zu der Forderung, die Dinge rein zu erkennen? Hofmannsthals Chandos Brief gab uns hier einen Fingerzeig – ich werde darauf zurückkommen müssen. Nietzsche lässt die Frage erst einmal im Dunklen. Wir wissen immer noch nicht, woher der Trieb zur Wahrheit stammt: denn bis jetzt haben wir nur von der Verpflichtung gehört, die die Gesellschaft, um zu existieren, stellt: wahrhaft zu sein, das heißt die usuellen Metaphern zu brauchen, also moralisch ausgedrückt: von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen. Nun vergisst freilich der Mensch, dass es so mit ihm steht; er lügt also in der bezeichneten Weise unbewusst und nach hundertjährigen Gewöhnungen – und kommt eben durch diese Unbewusstheit, eben durch dies Vergessen zum Gefühl der Wahrheit.4

Was hier Gefühl der Wahrheit genannt wird beruht demnach auf einer Lüge. Voraussetzung dieses Sprechens von Lüge ist des jungen Nietzsche immer noch der Tradition verpflichtetes, auf Transzendenz bezogenes Wahrheitsverständnis, wobei es klar sein sollte, dass wir innerhalb der so verstandenen Lüge, wiederum zwischen lügen und die Wahrheit sagen unterscheiden müssen, wobei nun Wahrheit auf die Objekte, wie Kant sie versteht, nicht auf die Dinge an sich bezogen werden muss. So verdoppelt sich unser Wahrheitsbegriff. Das erinnert an die im Mittelalter von Averroisten wie Siger von Brabant vertretene Lehre der doppelten Wahrheit, wonach Philo3

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René Descartes: Siebente Einwände mit Anmerkungen des Verfassers, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hg. und übersetzt von Artur Buchenau. Hamburg 1965, S. 470. Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge“, S. 881.

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sophie und Theologie beide einen Anspruch auf Wahrheit erheben können, mögen sie sich auch widersprechen.5 Bei Nietzsche sind es hier der Descartes verpflichtete Wahrheitsbegriff unserer Naturwissenschaft und sein immer noch der Theologie verpflichteter Begriff der Wahrheit als der Koinzidenz von Denken und Sein, der uns Menschen den Besitz der Wahrheit verweigern muss. An dem Gefühl verpflichtet zu sein, ein Ding als „rot“, ein anderes als „kalt“, ein drittes als „stumm“ zu bezeichnen, erwacht eine moralische auf Wahrheit sich beziehende Regung: aus dem Gegensatz des Lügners, dem niemand traut, den alle ausschließen, demonstriert sich der Mensch das Ehrwürdige, Zutrauliche und Nützliche der Wahrheit. Er stellt jetzt sein Handeln als „vernünftiges“ Wesen unter die Herrschaft der Abstraktionen; er leidet es nicht mehr, durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden, er verallgemeinert alle diese Eindrücke erst zu entfärbteren, kühleren Begriffen, um an sie das Fahrzeug seines Lebens und Handelns anzuknüpfen. Alles, was den Menschen gegen das Tier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen. Im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Grenzbestimmungen zu schaffen, die nun der andern anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulierende und Imperativische.6

Die Übertragung des Besonderen und Individuellen in die Allgemeinheit des Begrifflichen baut dem Menschen ein Haus in dem es sich wohnen lässt, das Haus des Seins. Erst diese Übertragung lässt die Dinge für uns sein, lässt uns Wahrheit und Irrtum, wie wir sie gewöhnlich verstehen, unterscheiden. Das ist die eine Seite meiner Antinomie. Aber was soll dann noch die andere? Was kümmert uns denn die reine Wahrheit?

5

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Vgl. Karsten Harries: Infinity and Perspective. Cambridge (Mass.), 2001, S. 130-131. Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge, S. 881-882.

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2.2 Mutter und Vater unserer Begriffe Einen ersten Hinweis gibt uns Nietzsches Vergleich dieser Gedankenarchitektur mit einem Spinnennetz: Sammelt die Biene Honig in ihren Waben, so bringt das Spinnennetz Lebendigem den Tod. Nietzsche konnte die Metapher bei Schopenhauer finden, der damit auf Fichte zielte, dem er vorwarf mit seiner Begriffsarchitektur das Nicht-Ich aus dem Ich hervorgehen zu lassen, „wie aus der Spinne ihr Gewebe.“7 Aber ist das Sein der Vorstellung auch ein Sein für das vorstellende Subjekt, so darf dieses darum nicht als der zureichende Grund dieses Seins verstanden werden. Das würde Wirklichkeit in einen Traum verwandeln, dieser Gedanke selber ein böser Traum, den Descartes mit seinem Gottesbeweis zu bannen versuchte. Nach Schopenhauer hat dieser böse Traum seinen Grund in einer unberechtigten Ausweitung des Satzes vom zureichenden Grund, wir können sagen: vom Seienden auf das Sein. Am konsequentesten verfuhr hier Spinoza, indem er die vergöttlichte Natur oder den vernatürlichten Gott, deus sive natura, als causa sui, damit Sein als Seiendes verstand und damit dem Satz vom Grund unterwarf. So verstanden muss Gott existieren, wie es der ontologische Gottesbeweis besagt. Aber diese unberechtigte Ausweitung des Satzes vom zureichenden Grund ist, folgen wir Schopenhauer, kein einfacher Irrtum einiger dem Rationalismus verpflichteter Philosophen, sondern entspringt unserer Unfähigkeit den Umstand, dass der Mensch nicht causa sui, nicht Gott, nicht Grund seines Seins ist, einfach zu akzeptieren. Sartre lässt diese Unfähigkeit das Wesen des Menschen bestimmen. Mag es auch ein wesentlich unmögliches Bemühen sein, so versuchen wir Menschen doch immer wieder wie Gott, Grund unseres Seins zu werden. Aber: Quis sicut Deus? Wer ist wie Gott? Sartre würde antworten: Niemand und Nichts! Und ganz und gar nicht der Gott dessen Existenz Philosophen zu beweisen und damit in ihrer Gedankenarchitektur unterzubringen versuchen. Gott verstanden als causa sui ist ein hölzernes Eisen und jedes Bemühen wie dieser Gott zu werden muss den Menschen sich selbst und der Wirklichkeit entfremden, droht Leben in Asche zu verwandeln. Und doch wird uns dieses unerfüllbare Verlangen immer wieder verführen. 7

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Bd., Wiesbaden 1965, S. 100.

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In dieselbe Richtung wie die Metapher des Lebendigen den Tod bringenden Spinnennetzes weist Nietzsches Metapher eines römischen die Asche der Verstorbenen bergenden Kolumbariums: Während jede Anschauungsmetapher individuell und ohne ihresgleichen ist und deshalb allem Rubrizieren immer zu entfliehen weiß, zeigt der große Bau der Begriffe die starre Regelmäßigkeit eines römischen Kolumbariums und atmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist. Wer von dieser Kühle angehaucht wird, wird es kaum glauben, dass auch der Begriff, knöchern und achteckig wie ein Würfel und versetzbar wie jener, doch nur als das Residuum einer Metapher übrig bleibt, und dass die Illusion der künstlerischen Übertragung eines Nervenreizes in Bilder, wenn nicht die Mutter, so doch die Großmutter eines jeden Begriffs ist.8

Uns an die vorausgehende Diskussion erinnernd, können wir fragen: ist die Großmutter jedes Begriffes die Übertragung eines Nervenreizes in ein Bild (Anschauungsmetapher) und die Mutter die Übertragung von Bildern in Worte (Urdichtung), wer ist dann der Vater, wer der Großvater? Der Vater stünde hier für was es uns Menschen erlaubt, Sinneseindrücke zu verallgemeinern, für das, was jedes Wort, so Nietzsche, unmittelbar in einen Begriff verwandelt. Kant spricht hier von Verstand, Schopenhauer von Vernunft, Heidegger von Rede, wobei, wie schon bemerkt, er das Wort als Übersetzung des griechischen Logos versteht. Der väterliche Logos, so können wir sagen, baut dem Menschen das Haus des Seins. Die Materie aus der diese Begriffsarchitektur errichtet wird ist nicht die Materie die dieses Gedankengebäude trägt. Ich erinnere an den Gegensatz von fließendem Wasser und dem darauf aufgetürmten Begriffsdom, fest genug, um nicht von jedem Winde auseinandergeblasen zu werden. Ist dieses Produkt des erkennenden Subjekts, lässt die Metapher des Wassers an den heraklitischen Fluss, nun gedacht als Strom von Wahrnehmungen, denken. Schon für den Kant der Kritik der reinen Vernunft war der Verstand der Ursprung unserer Begriffe und der Naturgesetze. Ursprung, um bei unserer Metapher zu bleiben, will hier als Vaterschaft verstanden werden. Der junge Nietzsche versteht diese Vaterschaft als Anthropomorphismus.

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Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge, S. 882.

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Wenn ich die Definition des Säugethiers mache und dann erkläre, nach Besichtigung eines Kamels: Siehe, ein Säugethier, so wird damit eine Wahrheit zwar ans Licht gebracht, aber sie ist von begrenztem Werthe, ich meine, sie ist durch und durch anthropomorphisch und enthält keinen einzigen Punct, der „wahr an sich“, wirklich und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen, wäre. Der Forscher nach solchen Wahrheiten sucht im Grunde nur die Metamorphose der Welt in den Menschen; er ringt nach einem Verstehen der Welt als eines menschenartigen Dinges und erkämpft sich besten Falls das Gefühl einer Assimilation.9

Wir sollten fragen, wie „anthropomorphisch“ und d. h. anthropos, der Mensch, hier verstanden werden. Ist es wirklich die auf Allgemeines gerichtete Vernunft, die das Wesen des Menschen ausmacht? Ist es nicht der Herabstieg der Vernunft ins Besondere, das Geheimnis der Inkarnation, das erst den Menschen zum Menschen macht? Aber ohne Mutter keine Inkarnation.

2.3 Nietzsche und Kant Dass Nietzsches Forscher, der im Grunde nur die Metamorphose der Welt in den Menschen sucht, damit dem ganzen Menschen nicht gerecht wird, weiß Nietzsche: Ähnlich wie der Astrolog die Sterne im Dienste der Menschen und im Zusammenhange mit ihrem Glück und Leide betrachtete, so betrachtet ein solcher Forscher die ganze Welt als geknüpft an den Menschen, als den unendlich gebrochenen Widerklang eines Urklanges, des Menschen, als das vervielfältigte Abbild des einen Urbildes, des Menschen. Sein Verfahren ist, den Menschen als Maß an alle Dinge zu halten.10

Auch Nietzsches Forscher sucht hier das Wesen des Menschen in der Ratio, versteht sich als res cogitans. Und das „eine Urbild des Menschen“ muss hier so umfassend gedacht werden, dass es jedes Verstehen umschließt, d.h. als transzendentales Subjekt. Der Schluss dieses Paragraphen fordert unsere besondere Aufmerksamkeit: wobei er aber von dem Irrtum ausgeht, zu glauben, er habe diese Dinge unmittelbar, als reine Objekte vor sich. Er vergisst also die 9 10

Ebd., S. 883. Ebd.

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2. VOM TURMBAU DER WISSENSCHAFT

originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst.

Zweierlei muss hier auseinandergehalten werden: 1. Die Metamorphose der Dinge in Wahrnehmungen. Diese Metamorphose ist gemeint, wenn Nietzsche von den originalen Anschauungsmetaphern spricht. Aber inwiefern kann diese Metamorphose als Werk des Menschen betrachtet werden? Und würde unsere Naturwissenschaft hier Nietzsche nicht prinzipiell recht geben, weiß sie doch sehr gut, dass wir die Dinge nicht unmittelbar, als reine Objekte vor uns haben? Alle sinnliche Erfahrung der Dinge ist perspektivisch gebrochen. Eben diese Einsicht zwang Descartes die Wahrheit in einer Übersteigung dieser Erfahrung zu suchen. 2. Die Metamorphose dieser Metaphern in Worte und Begriffe. An dieser zweiten Metamorphose ist der Mensch ganz anders beteiligt. Sie, können wir sagen, ist Werk der Einbildungskraft und der Vernunft. Die Heterogenität dieser zwei „Metaphern“ ist offenkundig: Sie verhalten sich wie Mutter und Vater. Nietzsche denkt hier vor allem an die mütterlichen Wahrnehmungsmetaphern. Und er hat recht: hier lässt sich keine Wahrheit finden. So etwas wie eine korrekte Wahrnehmung gibt es nicht. Wie wäre eine solche auch zu verstehen? Überhaupt aber scheint mir „die richtige Perception“ – das würde heissen: der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt – ein widerspruchsvolles Unding: denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt, giebt es keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache: wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf. Das Wort „Erscheinung“ enthält viele Verführungen, weshalb ich es möglichst vermeide: denn es ist nicht wahr, dass das Wesen der Dinge in der empirischen Welt erscheint.11

Aber auch die Metamorphose der Wahrnehmungsmetaphern in Worte oder Begriffe ist schwer zu verstehen, können wir doch auch hier von zwei absolut verschiedenen Sphären sprechen. Wie soll der sie trennende Abgrund überbrückt werden? Und doch muss es eine solche Brücke geben, soll Sprache, soll Erfahrung, 11

Ebd,, S. 884.

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soll der Mensch möglich sein. Dies erinnert an das Schematismuskapitel in der Kritik der reinen Vernunft, in dem Kant darauf besteht, dass es etwas geben muss, das zwischen dem Verstand mit seinen Kategorien und Begriffen und dem sinnlich Gegebenen vermittelt. Kant versteht das Schema als das geforderte, vermittelnde Dritte, Schema verstanden als Produkt eines Verfahrens der Einbildungskraft „einem Begriff sein Bild zu verschaffen.“ Aber dieses Verfahren entzieht sich unserem Begreifen. Das Schema soll den Abgrund der Begriff und Wahrnehmung trennt überbrücken, wobei Kant in der Kritik der reinen Vernunft das Werk der Einbildungskraft der reinen Vernunft, d. h. dem väterlichen Logos unterordnet. Aber der Logos vermag es nicht, die geforderte Brücke zu bauen. Problematisch sind hier nicht so sehr die reinen, sondern die empirischen Schemata: wie haben wir den Ursprung vom Begriffen wir „Rose“ oder „Linde“, d.h. von Sprache zu verstehen? Dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft der Bedeutung der Einbildungskraft nicht gerecht wird, wird er selbst in der Kritik der Urteilskraft zeigen. Nietzsche kennt keine solche Brücke, „höchstens ein ästhetisches Verhalten, eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache.“ Und so lässt er uns Kants „Erscheinung“ als bloßen Schein verstehen. Meint der junge Nietzsche, Kant hier wirksam kritisiert zu haben? Am Ende ist es nicht ganz leicht zu sagen, was Nietzsches Begriff der Naturwissenschaft, und d.h. sein Wirklichkeitsverständnis, von Kants grundsätzlich unterscheidet. Ein Unterschied scheint erst einmal evident: Nietzsche wendet Kants transzendentale Betrachtungen ins Anthropologische oder Psychologische, eine Wendung, die den Unterschied von transzendentalem Objekt und Ding an sich zu verwischen droht: wenn aber eben dasselbe Bild Millionen Mal hervorgebracht und durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt ist, ja zuletzt bei der gesamten Menschheit jedesmal infolge desselben Anlasses erscheint, so bekommt es endlich für den Menschen dieselbe Bedeutung, als ob es das einzig notwendige Bild sei und als ob jenes Verhältnis des ursprünglichen Nervenreizes zu dem hergebrachten Bilde ein strenges Causalitätsverhältnis sei; wie ein Traum, ewig wiederholt, durchaus als Wirklichkeit empfunden und beurtheilt werden würde. Aber das Hart- und Starr-Werden einer Metapher verbürgt

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durchaus nichts für die Notwendigkeit und ausschliessliche Berechtigung dieser Metapher.12

Nietzsche weiß sehr wohl, dass ein solcher physiologisch fundierter und zwangsläufig den Wahrheitsanspruch relativierender Idealismus sich nur schwer mit unserem Glauben an unsere Naturwissenschaft verträgt, ein Glaube den unser Umgang mit den Dingen täglich zu rechtfertigen scheint. Und doch setzt ein solcher Idealismus, der das unseren Alltag und unsere Naturwissenschaft regierende Wahrheitsverständnis in Frage stellen will, das auf diesem beruhende Weltbild voraus, haben wir uns doch eine Welt zu denken, in der „dasselbe Bild millionenmal hervorgebracht und durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt“ wird. Diese Welt wird unbefragt vorausgesetzt. Nietzsche scheint dies auch zu sehen. Es hat gewiss jeder Mensch, der in solchen Betrachtungen heimisch ist, gegen jeden derartigen Idealismus ein tiefes Misstrauen empfunden, so oft er sich einmal recht deutlich von der ewigen Konsequenz, Allgegenwärtigkeit und Unfehlbarkeit der Naturgesetze überzeugte; er hat den Schluss. gemacht: hier ist alles, soweit wir dringen, nach der Höhe der teleskopischen und nach der Tiefe der mikroskopischen Welt, so sicher, ausgebaut, endlos, gesetzmäßig und ohne Lücken; die Wissenschaft wird ewig in diesen Schachten mit Erfolg zu graben haben, und alles Gefundene wird zusammenstimmen und sich nicht widersprechen. Wie wenig gleicht dies einem Phantasieerzeugnis: denn wenn es dies wäre, müsste es doch irgendwo den Schein und die Unrealität erraten lassen.13

Aber die Rhetorik entspricht hier nicht Nietzsches Überzeugung: er ist ja bemüht zu zeigen, dass die so verstandene Welt nicht mit der Welt verwechselt werden darf. Und so versuchen die folgenden Sätze das eben Gesagte entkräften. Dagegen ist einmal zu sagen: hätten wir noch, jeder für sich, eine verschiedenartige Sinnesempfindung, könnten wir selbst nur bald als Vogel, bald als Wurm, bald als Pflanze perzipieren, oder sähe der eine von uns denselben Reiz als rot, der andere als blau, hörte ein dritter ihn sogar als Ton, so würde niemand von einer solchen Gesetzmäßigkeit der Natur reden, sondern sie nur als ein höchst

12 13

Ebd., S. 884. Ebd., S. 885.

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subjektives Gebilde begreifen. Sodann: was ist für uns überhaupt ein Naturgesetz?14

Solche Überlegungen setzen aber was in Frage gestellt werden soll, d.h. die Objektivität der Natur voraus. Denn was hier gegen die Zuversicht der Wissenschaft die Natur immer besser zu verstehen gesagt wird ist nur sinnvoll wenn wir subjektive Gebilde von der objektiven, perzipierten Natur unterscheiden können. Und so ist es kaum überraschend, dass Nietzsche zu einer Position zurückkehrt, die sich recht gut mit Kants transzendentalem Idealismus verträgt, wenn auch die wiederkehrende Metapher der Spinne ihren Schatten auf diese Rückkehr wirft: Alles Wunderbare aber, das wir gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert und uns zum Misstrauen gegen den Idealismus verführen könnte, liegt gerade und ganz allein nur in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeitund Raum-Vorstellungen. Diese aber produciren wir in uns und aus uns mit jener Nothwendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind, alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr wunderbar, dass wir an allen Dingen eigentlich nur eben diese Formen begreifen: denn sie alle müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen, und die Zahl gerade ist das Erstaunlichste in den Dingen.15

D. h. für uns behalten Kants Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft ihre Richtigkeit. Voraussetzung all unserer Metaphern sind Raum und Zeit, verstanden mit Kant und Schopenhauer als reine Formen der Anschauung. Alle Gesetzmäßigkeit, die uns im Sternenlauf und im chemischen Prozeß so imponirt, fällt im Grunde mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbringen, so dass wir damit uns selber imponiren. Dabei ergiebt sich allerdings, dass jene künstlerische Metapherbildung, mit der in uns jede Empfindung beginnt, bereits jene Formen voraussetzt, also in ihnen vollzogen wird; nur aus dem festen Verharren dieser Urformen erklärt sich die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein Bau der Begriffe constituirt werden konnte. Dieser ist nämlich eine Nachahmung der Zeit-, Raum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern.16

14 15 16

Ebd., S. 385-386. Ebd., S. 885-886. Ebd., S. 886.

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Aus der Sphäre unserer Zeit- und Raum-Vorstellungen können wir nicht heraustreten; und damit auch nicht aus der Vorstellung der Welt als Gesamtheit der Tatsachen, die so sind wie sie eben sind, was auch immer wir Menschen denken mögen.

2.4 Der Turmbau der Wissenschaft Aber Nietzsche geht es in Wahrheit und Lüge nicht darum, die Arbeit unserer Naturwissenschaft in Frage zu stellen. Erkenntnistheorie oder Metaphysik sind nicht was den jungen Nietzsche hier bewegt. Ich erinnere noch einmal an die Metaphern Spinnennetz und Kolumbarium. Worum es ihm geht ist zu zeigen, wie die Gedankenarbeit, der wir unser modernes Weltbild verdanken, den Wert des Lebens aus den Augen verlieren muss. An dem Bau der Begriffe arbeitet ursprünglich, wie wir sahen, die Sprache, in späteren Zeiten die Wissenschaft. Wie die Biene zugleich an den Zellen baut und die Zellen mit Honig füllt, so arbeitet die Wissenschaft unaufhaltsam an jenem großen Columbarium der Begriffe, der Begräbnisstätte der Anschauungen, baut immer neue und höhere Stockwerke, stützt, reinigt, erneut die alten Zellen und ist vor allem bemüht, jenes ins Ungeheure aufgetürmte Fachwerk zu füllen und die ganze empirische Welt, das heißt die anthropomorphische Welt, hineinzuordnen.17

Nietzsche versteht hier den Begriff als Asche der lebendigen Anschauung. Der vom Pathos der Wahrheit ergriffene Mensch mag versuchen, Lebendiges zu begreifen, aber das Feuer des Wissenwollens verwandelt Leben in Asche. Neben das Bild eines römischen Kolumbariums stellt Nietzsche ein weiteres architektonisches Bild: die Arbeit der Naturwissenschaft wird zum Turmbau von Babel. Wenn schon der handelnde Mensch sein Leben an die Vernunft und ihre Begriffe bindet, um nicht fortgeschwemmt zu werden und sich nicht selbst zu verlieren, so baut der Forscher seine Hütte dicht an den Turmbau der Wissenschaft, um an ihm mithelfen zu können und selbst Schutz unter dem vorhandenen Bollwerk zu finden. Und Schutz braucht er: denn es giebt furchtbare Mächte, die fortwährend auf ihn eindringen, und die der wissenschaftlichen „Wahrheit“ ganz

17

Ebd.

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anders geartete „Wahrheiten“ mit den verschiedenartigsten Schildzeichen entgegenhalten.18

Nietzsches Worte lassen an Brueghels Turmbau zu Babel (1563) im Wiener Kunsthistorischen Museum denken. Was in diesem Bild sofort auffällt ist der Kontrast zwischen dem ungeheuren in die Wolken reichenden immer noch unvollendeten Turm, buchstäblich ein Wolkenkratzer, und zahllosen sehr viel bescheideneren Bauten: nicht nur die Häuser der vom Turm beherrschten Stadt, sondern auch Bauernhäuser, Stadtmauern, Brücken, nicht zu vergessen die wie Schwalbennester am Turm klebenden Schuppen oder Behausungen, notdürftig errichtet vermutlich von den am Turme beschäftigten Schutz bedürftigen Arbeitern. Am Turm wird weiter gebaut, aber in ihm lässt sich nicht wohnen. Und schon verwandelt sich diese Architektur, wird zur Ruine, zu einer Art Landschaft, die ganz anderen, alltäglichen und lebensnäheren Bedürfnissen dienende Bauten trägt. Dem Kontrast zwischen der himmelstürmenden Architektur des Turmes und den alltäglichen Bedürfnissen dienenden Hütten entspricht der Kontrast zwischen dem Turmbau der Wissenschaft und dem Haus das uns unser Alltag baut. Wie also ist der Unterschied zwischen dem Diskurs der Naturwissenschaft und der Sprache des Alltags zu verstehen? Nietzsche folgt hier Schopenhauer, der diesen Unterschied in der systematischen Darstellungsform der wissenschaftlichen Arbeit sucht: Einzelwahrheiten werden unter immer umfassendere Prinzipien gebracht, wobei die Mathematik dieser Arbeit die Richtung weist. Die Wissenschaft versucht das auf Erkenntnis ausgerichtete Werk der Sprache zu vollenden. Aber dieses Werk lässt sich nicht vollenden. Der Abgrund, der Wirklichkeit und die Begriffsarchitektur der Vernunft trennt, lässt sich nicht überbrücken. In der Antinomie des Seins zeigt sich uns die Grenze unserer Vernunft. Und so feiert Nietzsche in der Geburt der Tragödie Kant und Schopenhauer als Denker, deren Tapferkeit und Weisheit der schwerste Sieg gelang, „der Sieg über den im Wesen der Logik verborgenen Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist.“19

18 19

Ebd. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 1. Hg. G. Colli und M. Montinari, München/ Berlin/ New York 1980, S. 118.

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Hegel verstand den Fortschritt der Geschichte als eine wachsende Vergeistigung, und Nietzsche kann dem zustimmen und zugeben, dass dieser Prozess unsere moderne Welt geprägt hat. Hegel verstand diese Geschichte als Schädelstätte. Unzählige, allzu oft grausam geschlachtete Tote wiegen kaum für den Denker, dem sich die Wirklichkeit in die in Begriffen aufgehobene Wirklichkeit verwandelt hat. Ein Geisterreich ist ihm nun zur Wirklichkeit geworden. Ein solches Denken nimmt dem Tod seinen Stachel. Wie es das nur leicht umgeformte Schiller Zitat, das Hegel an den Schluss seiner Phänomenologie stellt, sagt: „Aus dem Kelche dieses Geisterreiches, schäumt ihm seine Unendlichkeit.“ Nietzsche kann dieses Geisterreich so wenig trösten, wie vor ihm Kierkegaard. Er sieht den schrecklichen Preis um den dieser Fortschritt erkauft wird: eben die Verwandlung unserer Wirklichkeit in ein Geisterreich der Begriffe: ein Kolumbarium. Der Honig des Lebens wird zu Asche. So helfen uns Nietzsches Bilder von Spinnennetz und Kolumbarium, von Babels Turm und Zwingburg, den Widerwillen gegen Architektur besser zu verstehen.

3. Der Teufel als Baumeister und Philosoph Von Anfang begleitet alle Architektur ein gegen sie gerichteter Widerwille wie ein Schatten. Soll nicht Kain die erste Stadt gebaut haben? Und steht hinter diesem Bauen nicht der Teufel? Gerade in unserer Zeit, die den Dekonstruktivismus zur akademischen Mode werden ließ, einer Mode, die sich von der Philosophie schnell auf die Geisteswissenschaften und überraschenderwiese sogar auf die Architektur ausbreitete, begegnen wir diesem Widerwillen immer wieder. Wie ist er zu verstehen?

3.1 Die Kathedrale in Flammen Als Beispiel hier der Umschlag von Denis Holliers Against Architecture: The Writings of Georges Bataille.1 Das Bild zeigt eines der bewunderten Meisterwerke der abendländischen Architektur, die Kathedrale von Reims, in Flammen, Opfer einer erfolglosen deutschen Offensive im 1. Weltkrieg. Aber die zerstörende Macht der Flammen wird hier nicht beklagt: das Bild will nicht als Aufruf gegen den Krieg verstanden werden. Im Gegenteil: die Flammen sind hier Ausdruck einer erhabenen Freiheit, die sich weigert irgendeine vorgegebene geistige Ordnung, sei sie ethisch, moralisch, religiös, oder architektonisch, anzuerkennen. Das erinnert an Dostojewskis Untergrundmensch, der sich weigert den Anspruch von zwei-mal-zwei-macht-vier anzuerkennen. In zwei-mal-zweimacht-fünf findet eine Freiheit, die jede Autorität, die sie binden möchte, auch die der Vernunft, zurückweist, eine letzte Zuflucht. Zwei-mal-zwei-macht-vier und die Herrschaft jeder uns den Platz anweisenden Architektur gehören zusammen. Und zusammen gehören zwei-mal-zwei-macht-fünf, Ruinen, Architekturen, die das uns von der Vernunft Eingeräumte aufreißen, um der Freiheit ein Fenster zu öffnen. In dem Verlangen nach Freiheit hat der Widerwille gegen Architektur seinen tiefsten Grund. Was wir auf diesem Umschlag sehen ist natürlich nur eine oft reproduzierte Fotografie. Der zeitliche, bildliche, und auch akademische Abstand lässt die einst allzu wirkliche dargestellte Zerstö1

Denis Hollier: Against Architecture: The Writings of Georges Bataille, Cambridge (Mass.) und London 1989.

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rung unwirklich werden, wie auch der gegen Architekturen aller Art gerichtete Jargon, der sich zwischen den Buchdeckeln finden lässt, im akademischen Kontext nur noch als geistreiche, nicht ganz ernst zu nehmende Provokation erscheint. Nun leiden auch, wie so manche Künstler, viele Geisteswissenschaftler an dem Abstand von der Wirklichkeit, mit dem sie ihre Freiheit erkauft haben: Ist es nicht Zeit, diesen Abstand aufzuheben, die Welt einzuladen in verstaubte Museen und Elfenbeintürme, die Künstlern und Denkern Zuflucht gewähren, doch um den Preis der Relevanz? Nicht nur Kinder, auch Akademiker, spielen gerne mit Feuer. Das hilft das Bild auf dem Umschlag und das wieder erwachte Interesse an dem einst schon fast vergessenen Surrealisten Georges Bataille zu erklären. Bataille steht keineswegs allein, wie ein gegen die „90grädigen Ecken von Wien“ gerichteten Ausstellungs-Pamphlet des 2000 verstorbenen Wiener Malers und bald auch Architekten Hundertwasser zeigt: Dass man 1920 das Trottoir und die Hauswände glatt macht, war notwendig, doch 1957 ist es Wahnsinn, den ich nicht begreife. Die Bombenwürfe von 1943 waren perfekte automatische Formenlehre, die gerade Linie und deren leere Gebilde sollten zerpetscht und zermörsert werden, wurden es auch. Im Anschluß daran hätte nomalerweise ein Transautomatismus einsetzen sollen. […] Doch man baut Würfel, Würfel! Wo bleibt das Gewissen.2

In dieser, zugegeben, rhetorisch übertriebenen und verspielten Bejahung der Zerstörung von Architektur durch die Bomben des 2. Weltkriegs ist der Widerwille gegen Architektur, besonders gegen die funktionale Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, offenkundig. Hier noch ein paar Sätze aus dem Verschimmelungs-Manifest die Hundertwasser 1958 in der Abtei Seckau sprach: Wenn sich an einer Rasierklinge der Rost festsetzt, wenn eine Wand zu schimmeln beginnt, wenn in einer Zimmerdecke das Moos wächst und die geometrischen Winkel abrundet, so soll man sich doch freuen, dass mit den Mikroben und Schwämmen das Leben in das Haus einzieht und wir so mehr bewußt als jemals zuvor Zeugen

2

Hundertwasser: Verschimmelungs-Manifest gegen den Rationalismus in der Architektur, Ulrich Conrads, Programme und Manifeste der Architektur des 20. Jahrhunderts, Berlin, Frankfurt a. M./ Wien 1964, S. 149.

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von architektonischen Veränderungen werden, von denen wir viel zu lernen haben. 3

Der Fortschritt der Technik, der uns immer wieder bislang unbekannte Möglichkeiten eröffnet und unnatürliches Verlangen weckt, wird hier in Frage gestellt. Hat der Fortschritt der Vernunft nicht uns Menschen uns selbst entfremdet? Was Hundertwasser die geistige Unbewohnbarkeit einer allzu vernünftigen Architektur nennt, macht die romantische Verliebtheit in Ruinen verständlich: Leben und Freiheit erheben hier gegen Architektur Einspruch. Dass dies keine alleinstehenden Beispiele sind zeigte die Ausstellung Deconstructivist Architecture, kuratiert von Mark Wigley und Philipp Johnson, die das Museum of Modern Art in New York 1988 veranstaltete.4 Der Katalog sprach vom „Aufkommen einer neuen Gesinnung, fasziniert von Möglichkeiten, Architektur zu infizieren, zu unterbrechen, zu vergewaltigen, zu untergraben.“ Dieser Gesinnung entspricht eine gegen die überkommene Architektur gerichtete Architektur, eine Anti-Architektur, die in der heutigen Architekturwelt, in Theorie und Praxis, durchaus eine beachtliche Rolle spielt, so z. B. im Werk von Frank Gehry, Zaha Hadid, Peter Eisenman, Daniel Libeskind, Rem Kohlhaas, und CoOp Himmelblau, den in dieser Ausstellung gefeierten Architekten. Das Werk von dem sich selbst so bezeichnenden Anarchitekten Lebbeus Woods vertritt beispielhaft eine solche Gesinnung. Woods ist ein Schöpfer von Raumfantasien, welche die uns vertraute Architektur angreifen, indem sie, z. B., fantastische Gebilde in sie eindringen oder polypenartig umarmen lassen. So war ich nicht überrascht zu hören, dass Woods beim Besuch des Carnegie Museums in Pittsburgh, in dem er eine Ausstellung seiner Arbeiten zu besorgen hatte und für deren Katalog ich einen Beitrag schreiben sollte,5 die hierarchische Organisation und herrische Sprache der an und für sich ziemlich anspruchslosen Räume hervorhob. Heute ist eine solche Reaktion längst nicht mehr unerwartet: hat Bataille uns nicht gelehrt, Architektur mit den befehlenden Stimmen von Menschen die uns unseren Platz anweisen zu verbinden, mit Stim3 4

5

Ebd. Philip Johnson und Mark Wigley: Deconstructivist Architecture. Museum of Modern Art New York, 1988. Karsten Harries: „Journeys into the Wilderness of Artifice“. In: Lebbeus Woods, Tracy Myers, Karsten Harries: Lebbeus Woods: Experimental Architecture, Pittsburgh, Carnegie Museum of Art 2004.

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men von Priestern, Königen, Bürgern, Kapitalisten, und Polizisten? Hat er nicht guten Grund, hinter jeder herrschaftlichen Architektur ein Gefängnis zu wittern? Und nicht unerwartet ist eine solche Reaktion, denken wir an neue Technologien und die damit verbundenen Möglichkeiten Räume und Welten zu schaffen, die ganz anders unseren dauernd sich ändernden Nöten und Verlangen entsprechen als die allzu fest eingeräumte Umwelt, die unser Erbe ist. Die Utopien, die solche Möglichkeiten versprechen, müssen den Ruf nach einer Architektur die das Primat der dem Körper und somit der Schwere unterworfenen Lebenswelt protestlos anerkennt als unerträglich rückwärtsblickend ablehnen, als zu bereit kaum gewonnene Freiheiten wieder aufzugeben, zu bereit sich mit leblosen Imitationen der Platz- und Ort-stiftenden Architektur einer nicht zu wiederholenden Vergangenheit zu begnügen. Und weiter war solche Reaktion auf den vorgegebenen Raum gerade bei diesem Architekten nicht unerwartet, hatte Woods doch der vielversprechenden Karriere, die ihm seine Mitarbeit mit Eero Saarinen eröffnet hatte, den Rücken gekehrt, um sich als Anarchitekt zu betätigen, sich ein Wort aneignend, das wir zuerst bei dem englischen Architekten Robin Evans finden, ein Wort in dem auch das Wort „Anarchie“ mitklingt, ein Wort in dessen Namen dann Gordon Matta-Clark, der einst, wie mit einem Beil, ein verwahrlostes Haus aufspaltete, 1973 in New York eine Künstlergruppe um sich versammelte. In Pittsburgh entschloss sich Lebbeus Woods die vorgegebene Architektur durch die Einführung von in verschiedenen Winkeln in den Raum stoßenden Sperrholzplatten, die seine Zeichnungen und Modelle tragen sollten, und von den Raum durchspinnenden gebogenen Metallstangen, so zu verwandeln und zu verwirren, dass der verunsicherte Besucher nicht mehr wissen würde, wie er sich zu benehmen hätte. Uns stellt sich die Frage: warum findet gerade heute dieses Verlangen Architektur zu dekonstruieren, zu zerstören, sie auszuräumen, beunruhigende Räumlichkeiten zu schaffen, sie in eine von Menschen geschaffene Wildnis zu verwandeln, so viel Anklang? Wie erklärt sich die Anziehungskraft des von Menschen geschaffenen unheimlich Erhabenen? Ist es der Fortschritt der Technik, der früheren Zeiten unbekannte Möglichkeiten eröffnet und ein Verlangen geweckt hat, das keine Platz anweisende, erbauliche

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Architektur mehr erfüllen kann? Oder ist es, umgekehrt, eben diese Technik, die unsere Lebenswelt so fest umarmt, dass sie uns zu ersticken droht? Wie haben wir den heute wieder so verführerischen Anspruch des Labyrinths, übersetzt in eine neue Sprache, zu verstehen? Aber es wäre verfehlt hier nur zu betonen, was einen KünstlerArchitekten wie Lebbeus Woods so zeitgemäß macht; wie sich sein Werk mit einer Welt auseinandersetzt die uns, immer mehr außer Atem, den neuesten Entwicklungen nachlaufen lässt; vielleicht träumend, dass sich mit Hilfe der Technik, besonders der Elektronik, Descartes’ Versprechen einer Wissenschaft, die uns zum Meister und Besitzer der Natur, auch unserer eigenen Natur, machen würde, einlösen ließe, dass jenes globale Dorf das uns Marshall McLuhan verhieß,6 und das wir in Entwürfen von Lebbeus Woods, wie ein Geschöpf einer anderen Welt, in Städte wie Zagreb, Berlin, oder Wien eindringen sehen, die uns vertraute Welt auf ungeahnte Weise verwandeln wird. Aber diese Entwürfe erschrecken auch: Ist dies nicht ein Prozess, in dem wir alle mehr oder weniger verfangen sind wie arme Fliegen im Netz der Spinne, ist unsere Technik nicht so kompliziert geworden, dass sie, die doch ein uns befreiendes Werkzeug sein sollte, heute anfängt, die Menschen zu meistern? Kann der virtuelle Raum uns den Raum, können virtuelle Menschen und Dinge uns die Wirklichkeit ersetzen?

3.2 Ruinen Aber gehört auch das Werk von Lebbeus Woods in die heutige Welt und will es auch als kritische Auseinandersetzung mit ihr und mit unserer Architektur verstanden werden, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass ein Widerwille gegen Architektur, wie ich im ersten Kapitel zu zeigen versuchte, die Architektur von Anfang an begleitet hat. Dass die Bibel Kain, verurteilt „unstet und flüchtig“ zu sein „auf Erden“ (1. Mose 4,12), die erste Stadt (1. Mose 4,17) bauen lässt, gibt zu denken, wie auch der buchstäblich als Wolkenkratzer beschriebene babylonische Turm, der seinen Schatten auf ungezählte 6

Marshall McLuhan und Bruce R. Powers: The Global Village: Transformations in World, Life, and Media in the 21st Century, New York 1989.

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Nachfolger wirft. Zugegeben, öfter noch zeigt die Bibel uns Architektur in einem positiven Licht: so fand Jahrhunderte lang sakrale Architektur im Salomonischen Tempel ihren Maßstab, und auch das himmlische Jerusalem ist eine Stadt. Aber in beiden Fällen ist der Architekt nicht der Mensch, der sich mit solcher Architektur ein geistiges Zuhause bauen will, sondern Gott. Das soll sagen: nicht Menschenwerk sondern nur Gotteswerk gibt nicht nur dem Körper, sondern auch der Seele wirklich Obdach, lässt uns Menschen wirklich wohnen. Versucht der Mensch, nur sich und seiner Vernunft vertrauend, ein Heim zu bauen, kann dies zu keinem guten Ende führen. In dieser dem Tode verfallenen Welt baut dem Menschen keine von ihm geschaffene Architektur eine bleibende Statt. So kann es nicht überraschen, dass Maler wie Hans Baldung Grien oder Albrecht Altdorfer die Geburt des Erlösers nicht in einem einfachen Stall, sondern in einer Ruine stattfinden lassen. Ruinen waren ja schon längst als „Trophäen der Zeit“ verstanden worden, galten als Hinweis auf die Vergänglichkeit des Menschen und all seiner Werke. Kehren wir noch einmal zum Turmbau zu Babel zurück, wie ihn uns Brueghel zeigt. Der riesige Turm, der bis in den Himmel reichen sollte und genau wegen dieser Frevelhaftigkeit ein ruinöses Fragment bleiben musste, kontrastiert, wie wir sahen, mit den bescheidenen Häuschen, die ihn umgeben. Und immer wieder begegnen wir diesem Kontrast in der Kunst, beispielhaft in Piranesis Vedute di Roma. Anders als die sie überragenden Ruinen, sprechen bescheidene aber Obdach gewährende Bauten von einer entgegengesetzten, lebensnäheren Auffassung von Bauen und von Wohnen, entsprechen einem anderen Umgang mit der Zeit. In diesem Zusammenhang verdienen auch die künstlichen Ruinen Erwähnung, die besonders im 18. Jahrhundert so beliebt wurden. Ein frühes deutsches Beispiel ist die Magdalenenklause, die sich der alternde, von schlechtem Gewissen bedrängte bayerische Kurfürst Max Emanuel 1725-28 im Schloßpark von Nymphenburg errichten ließ.7 Wie die Anarchitektur der letzen Jahrzehnte, so ist auch die künstliche Ruine Architektur, die die Architektur und ihren Anspruch Körper und Seele Obdach zu bieten in Frage stellen will. 7

Karsten Harries: Die Bayerische Rokokokirche. Das Irrationale und das Sakrale. Dorfen 2009, S. 259-260.

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Aber widerspricht eine Ruine bauen nicht dem Wesen der Architektur? Zeit und Natur scheinen hier über die Baukunst zu triumphieren. In seiner Magdalenenklause konnte der Kurfürst der allzu geordneten auch ihm seinen Platz anweisenden Welt des Hofes mit seiner Etikette und seinem Zeremoniell wenigstens für ein paar Stunden entrinnen. Die Ruine lockt hier den alternden Aristokraten, der seiner privilegierten, standesgebundenen Existenz überdrüssig geworden ist, mit einem natürlicheren Leben. Maria Magdalena ist ja nicht nur die heilige Büßerin, sondern auch Patronin der Gärtner und der Wasserträger. Deshalb wurde die Magdalenenklause mit einem mit Kanalwasser gespeisten Brunnen in einem „jardin sauvage“, einem wilden, unordentlichen Garten errichtet, der die allzu künstliche geometrische Ordnung des französischen Parks vermied und statt dessen die Genüsse eines Serpentinenpfades bot, jenen natürlichen Anschein, der für den englischen Park kennzeichnend werden sollte.

3.3 Das Wissen um das Wissen Dem Widerwillen gegen Architektur und ihre geometrische Ordnung entspricht der Widerwille gegen ein Philosophieren more geometrico. In Adelbert von Chamissos 1813 geschriebenen Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte erscheint so dem unglücklichen Peter der Teufel in Gestalt eines solchen Philosophen. Das fordert eine Erklärung: gewöhnlich stellen wir uns den Teufel nicht als Philosophen vor, nennt das Johannesevangelium doch den Teufel den Vater der Lüge (Johannes 8:44). Der Philosoph aber, so wenigstens sagt uns das Wort, liebt die Weisheit und somit auch die Wahrheit. Warum dann zeigt uns Chamisso den Teufel ausgerechnet in der Gestalt eines Philosophen? Der Teufel als Verführer, als Lügner! Aber als Jünger der Wahrheit? Aber ist der Teufel nicht Luzifer, der Lichtbringer, der Morgenstern, der in den Himmel steigen, dem Allerhöchsten gleich sein wollte? (Jesaja 14: 12-14) Und antwortet die Wahrheitsliebe des Philosophen, der Pathos der Wahrheit von dem der junge Nietzsche spricht,8 nicht dem Versprechen der Schlange: „Eritis sicut 8

Friedrich Nietzsche: Über das Pathos der Wahrheit. Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 1. München, Berlin, New York 1980, S. 755-760.

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Deus, scientes bonum et malum,“ ihr „werdet sein wie Gott, und wissen, was gut und böse ist“ (Genesis 3:5). In der Gestalt Fausts schreibt Goethes Mephistopheles diese Worte in das Stammbuch des wissbegierigen Schülers, der gern was auf Erden und Himmel ist, Wissenschaft und Natur, erfassen würde.9 Und stehen wir Menschen nicht alle, und ganz besonders wir Philosophen, im Banne dieses Spruchs der Schlange? Ist Metaphysik nicht wesentlich der Versuch mit Gedankenarchitekturen die Schöpfung Gottes nachzuvollziehen? Denken wir an Spinoza, Fichte oder Hegel. Und selbst Sartre, mag er auch die Gottesidee als ein hölzernes Eisen abtun, meint in „L'être et le néant“ das Bestreben Gott zu sein beherrsche den Menschen: „Ce qui rend le mieux concevable le projet fondamental de la réalité humaine, c'est que l'homme est l'être qui projette d'être Dieu.“10 Chamisso beschäftigte das Faustthema schon lange, ehe er es mit seiner Märchenerzählung vom Mann ohne Schatten wieder aufgriff, wie es eine Minitragödie zeigt, die er 1804 in dem von ihm zusammen mit E. A. Varnhagen herausgegebenen und finanzierten „Musenalmanach“ veröffentlichte.11 Chamisso nannte den bescheidenen Einakter einen „fast knabenhaften metaphysischpoetischen Versuch.“12 Aber dieser Versuch war doch so gehaltvoll, dass er die Aufmerksamkeit des Philosophen Johann Gottlieb Fichtes auf sich zog, der Chamisso „seiner väterlichen Freundschaft würdigte.“13 Ein böser und ein guter Geist ringen hier um Faust. Der böse Geist verspricht Wissen, der gute Geist ermahnt Faust, dem Spruch der Schlange nicht zu folgen, sondern zu glauben, bleibt ihm auch die geforderte Erkenntnis verwehrt. Aber Faust will wissen, will nicht glauben. Um den Preis seiner Seele verspricht der böse Geist Faust was er fordert: „Wahrheit und Erkenntnis“:

9 10 11

12

13

Johann Wolfgang von Goethe: Faust, Erster Teil, 2048 Jean-Paul Sartre: L'être et le néant. Paris 1943, S. 626. Adelbert von Chamisso: Faust. Eine Tragödie in einem Akt. Ein Versuch, Musenalmanach auf das Jahr 1804, Hg. L. A. v. Chamisso und E. A. Varnhagen. Leipzig 1804, S. 193-215. Adelbert von Chamisso, Sämtliche Werke. Bd. 1, München 1975, S. 500-511. Adelbert von Chamisso: Reise um die Welt mit der Romanzoffischen Entdeckungs-Expedition in den Jahren 1815-1818 auf der Brigg Rurik, Kapitain Otto von Kotzebue, Leipzig 1836, Einleitung Ebd.

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Und öffnen will ich dir der Wahrheit Schätze, Und was der Mensch vermag, sollst du erkennen.

Aber was vermag der Mensch zu erkennen? Dass sein Wissen nicht genügt, den Sinn des Lebens zu eruieren? Des Glaubens Blume blühte kindlich dir, Du hast sie stolz zertreten, forderst Wahrheit. Wohl! schreckend ruf ich dir die Wahrheit zu: Aus deiner Weisen Widersprüchen strahlte Sie dir entgegen, die geahndete: Der Zweifel ist menschlichen Wissens Grenze, Es kann der Staubumhüllte nichts erkennen, Dem Blindgebornen kann kein Licht erscheinen. So wie die Sprache, wie des Wortes Schall Dir Mittler des Gedankens ist und Zeichen; So ist des Sinns Empfinden, der Gedanke selbst Dir Sprache bloß und eitles leeres Zeichen Der ewig dir verhüllten Wirklichkeit. Du kannst nur denken durch den Mittler Sprache, Nur mit dem Sinne schauen die Natur, Nur nach Gesetzen der Vernunft sie denken. Und hättest hundert Sinne du und tausend, Du kargbegabter, und erhöbe freier Sich dein Gedanke ins vielseitiger – Befühlte All; so würdest immer du, Getrennt, vereint mit ihm durch Körpers Bande, Nur eigne Schatten schaun und nichts erkennen.

Die Einsicht mit der der böse Geist sein Versprechen einlöst ist die Einsicht in die Grenzen unserer Vernunft. Die Wahrheit versagt sich uns. Versteht Heidegger die Sprache als Haus des Seins so wird Chamissos Faust dieses Haus zum Gefängnis aus dem er verzweifelt auszubrechen versucht. Der böse Geist zeigt Faust, dass sein Wissenwollen die Mauern dieses Gefängnisses nur fester baut. Wir spüren in diesem Entwurf die Nähe zu Fichtes Die Bestimmung des Menschen (1800). Der böse Geist, den Chamissos Faust herbeischwört, erinnert an den Geist, der das Ich im zweiten Buch, „Wissen“, von der Wahrheit des transzendentalen Idealismus überzeugt, belehrt, dass alles was wir erfahren nur unsere Vorstellung ist: Die Realität, die du schon erblickt zu haben glaubtest, eine unabhängig von dir vorhandene Sinnenwelt, deren Sklav du zu werden fürchtetest, ist dir verschwunden; denn diese ganze Sinnenwelt ent-

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steht nur durch das Wissen, und ist selbst unser Wissen; aber Wissen ist nicht Realität, eben darum, weil es Wissen ist. Du hast die Täuschung eingesehen, und kannst, ohne deine bessere Einsicht zu verläugnen, dich nie derselben wieder hingeben. Und dies ist denn das einige Verdienst, das ich an dem Systeme, das wir soeben mit einander gefunden, rühme: es zerstört und vernichtet den Irrthum. Wahrheit geben kann es nicht; denn es ist in sich selbst absolut leer. Nun suchst du denn doch etwas, ausser dem bloßen Bilde liegendes Reelles – mit deinem guten Rechte, wie ich wohl weiss – und eine andere Realität, als die soeben vernichtete, wie ich gleichfalls weiss. Aber du würdest dich vergebens bemühen, sie durch dein Wissen, und aus deinem Wissen zu erschaffen, und mit deiner Erkenntniss zu umfassen. Hast du kein anderes Organ, sie zu ergreifen, so wirst du sie nimmer finden14

Chamissos guter Geist beschwört Faust dieses andere Organ zu ergreifen, spricht mit der Stimme des Dritten Buchs der Bestimmung des Menschen, der Stimme des „Glaubens.“ Aber Chamissos Faust will nicht glauben. Er will Wahrheit. Und die Wahrheit mit der der böse Geist sein Versprechen einlöst ist das Fausts Hoffen vernichtende Wissen um das Wissen, das Fichtes Wissenschaftslehre vermittelt: Du wolltest wissen von deinem Wissen. Wunderst du dich, dass du auf diesem Wege auch nichts weiter erfuhrst, als – wovon du wissen wolltest, von deinem Wissen selbst; und möchtest du, dass es anders sey? Was durch das Wissen, und aus dem Wissen entsteht, ist nur ein Wissen. Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. Diese Forderung kann durch kein Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist nothwendig ein System bloßer Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck. Hast du etwas Anderes erwartet? Willst du das innere Wesen deines Geistes ändern, und deinem Wissen anmuthen mehr zu seyn, denn ein Wissen?15

Hier trägt der Teufel das Gesicht von Fichtes Wissenschaftslehre, verstanden als Vollendung des Wissens um das Wissen.

14

15

Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, Bd. 2. Berlin 1845/1846, S. 246247. Ebd., S. 246.

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3.4 Der Mann ohne Schatten Auch die Erzählung vom Mann ohne Schatten ist ein Versuch, das Faustthema noch einmal anzupacken, hier gekleidet in die anspruchslose Form einer an Kinder gerichteten Erzählung. Die Geschichte nimmt ihren Anfang im Zeichen des Frühkapitalismus, d. h. auch, im Zeitalter der Aufklärung, der Vernunft, mit einem Gartenfest in der säulenreichen Villa eines neureichen Engländers. Er kann sich die vielen Säulen leisten und zeigt damit der Welt was er ist. Ihm ist Geld zum alleinigen Wertmaßstab geworden und so nennt dieser Thomas John jeden, der nicht wenigstens eine Million besitzt, einen armen Schuft, eine Bemerkung der unser Peter gedankenlos zustimmt. Hat nicht alles seinen Preis? Lehren uns das nicht die Utilitarier? Wichtig hier ist die homogenisierende Macht des Geldes. Alles wird hier über einen Kamm geschoren. Ist es solche Gedankenlosigkeit die unseren Helden auf diesem Fest einen kleinen grauen Mann treffen lässt, der die wunderbare, gottähnliche Gabe besitzt, aus dem Nichts was immer gerade gewünscht wird herbeizuzaubern. Dieser Mann nun macht unserem Helden einen merkwürdigen Vorschlag: Für einen immer vollen Geldbeutel möchte er ihm seinen Schatten abkaufen. Es kann nicht überraschen, dass Peter Schlemihl auf den Handel eingeht. Was nützt uns denn so ein Schatten? Uns stellen sich die Fragen: Wie haben wir den Verlust des Schattens zu verstehen? Wie hängen Geld und dieser Verlust zusammen – und immer wieder kommt Chamissos Teufel auf diesen Punkt zurück: Du hast mein Geld, ich habe Deinen Schatten. Später in der Geschichte wird der Teufel Peter Schlemihl seinen verlorenen Schatten borgen lassen und es wird sich zeigen, dass die Schatten von vielen reichen Menschen nur geborgt sind und eigentlich dem Teufel gehören. Ich lade den Leser ein, die Geschichte in unsere Zeit zu übersetzen. Es dauert nicht lange bis Peter lernen muss, wie schwer es ist ohne Schatten leben zu müssen. Ungeachtet seines nun ungeheuren Reichtums, wird ein Leben mit anderen Menschen unmöglich. So bedeutet der Verlust des Schattens auch den Verlust der menschlichen Mitwelt. Der arme Peter wagt es kaum noch nach draußen zu gehen aus Angst Andere würden den fehlenden Schatten bemerken. Ein Mann ohne Schatten darf sich nicht der Sonne aussetzen, braucht ein indirektes Licht, ein Licht das keine Schatten wirft. Innenräume müssen ihm die freie Natur ersetzen. So verwandelt,

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trotz des nie ausgehenden Geldes, der verlorene Schatten sein Haus in ein Gefängnis. Was hülfen Flügel dem in eisernen Ketten fest Angeschmiedeten? Er müßte dennoch, und schrecklicher, verzweifeln. Ich lag, wie Faffner bei seinem Hort, fern von jedem menschlichen Zuspruch, bei meinem Golde darbend, aber ich hatte nicht das Herz nach ihm, sondern ich fluchte ihm, um dessentwillen ich mich von allem Leben abgeschnitten sah.16

Es überrascht nicht, dass er auch seine geliebte Minna verliert. Ohne einen Schatten werfenden Körper lässt sich schlecht lieben. Der Verlust des Schattens wirft unseren Helden in sich selbst zurück. Seine Beziehungen zu Anderen werden asymmetrisch. Bald versucht Peter Schlemihl den Handel rückgängig zu machen. Und wenn er dem kleinen grauen Mann noch einmal begegnet, ist dieser in der Tat bereit ihm seinen Schatten zurückzugeben, nun um den Preis seiner Seele. Aber dieser Preis ist unserem Peter zu hoch. Den Handel bereuend, wirft er den ihm nur Unglück bringenden Geldbeutel von sich und befreit sich damit von dem Bösen. Doch bleibt ihm der Schatten verloren. Aber wenigstens rettet er seine Seele.

3.5 Der Teufel als Philosoph Später in der Geschichte zeigt sich der Teufel unserem Helden wieder, diesmal in der Gestalt eines Philosophen, beschrieben als eine Art Architekt, Schöpfer einer Begriffsarchitektur in der alles nur Denkbare seinen gehörigen Platz findet. Er entfaltete seine Ansichten von dem Leben und der Welt, und kam sehr bald auf die Metaphysik, an die die Forderung ergieng, das Wort aufzufinden, das aller Räthsel Lösung sei. Er setzte die Aufgabe mit vieler Klarheit aus einander und schritt fürder zu deren Beantwortung.17

Zum Mann ohne Schatten gehört eine schattenlose Architektur: Nun schien mir dieser Redekünstler mit großem Talent ein fest gefügtes Gebäude aufzuführen, das in sich selbst begründet sich emportrug, und wie durch eine innere Notwendigkeit bestand. Nur 16 17

Adelbert von Chamisso: Sämtliche Werke, Band 1. München 1975, S. 29. Ebd., S. 56.

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vermißt ich ganz in ihm, was ich eben darin hätte suchen wollen, und so ward es mir zu einem bloßen Kunstwerk, dessen zierliche Geschlossenheit und Vollendung dem Auge allein zur Ergötzung diente; aber ich hörte dem wohlberedten Manne gerne zu, der meine Aufmerksamkeit von meinen Leiden auf sich selbst abgelenkt, und ich hätte mich ihm willig ergeben, wenn er meine Seele wie meinen Verstand in Anspruch genommen hätte.18

Chamissos Teufel zeigt sich unserem Helden als Philosoph und zwar als ein Philosoph dessen auf einem sich scheinbar selbst tragenden Fundament ruhende, von einer inneren Notwendigkeit zusammengehalte Begriffsarchitektur der Wirklichkeit in der wir leben und leiden müssen, den Rücken kehrt und dennoch den Anspruch erhebt, ihrem Wesen gerecht zu werden. Ein apriorisches Denken baut diese Architektur, in der alles Seiende seinen Platz haben sollte. Alles hier ist streng begründet. Dies ist ein Denken also, das meint, die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit dem Satz vom Grund unterwerfen zu können. Diese Architektur ruht, so lernen wir, auf einem sich scheinbar selbst tragendes Fundament. Ein solches Fundament gibt uns Gott, gedacht als causa sui, und Spinozas Philosophie ist vielleicht die konsequenteste Ausarbeitung, der von Chamissos Teufel vertretenen Philosophie. Der Hinweis auf Spinoza ist hier nicht so ganz abwegig, stand er doch im Mittelpunkt des 1813 noch nicht vergessenen Pantheismusstreits, in den auch Kant hineingezogen wurde und der Spinoza zu einer neuen Aktualität verhelfen sollte. Angefacht wurde dieser Streit durch die Veröffentlichung von Friedrich Heinrich Jacobis Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785). Am Anfang der Briefe berichtet Jacobi über seinen ersten Besuch bei Lessing in Wolfenbüttel. Lessing hätte ihm gesagt: „Es gibt keine andere Philosophie, als die Philosophie des Spinoza.“19 Das musste den Lessing Verehrer Mendelssohn erschrecken, hielt man doch das System Spinozas allgemein für atheistisch. Sollte das nicht für die Philosophie insgesamt gelten, musste man Lessings Bemerkung zurückweisen oder einschränken. Aber Jacobi gibt Lessing recht: auch für ihn gibt es im Grunde keine andere Philosophie als die des Spinoza. Für den Gottgläubigen Jacobi folgt daraus, dass was die Philosophen Wahrheit nennen der Wahrheit nicht genügt: 18 19

Ebd. Jacobis Spinoza-Büchlein nebst Replik und Duplik. München 1912, S. 67.

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Die ganze Sache besteht darin, dass ich aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fatalismus, und gegen alles, was mit ihm verknüpft ist, schließe. – Wenn es lauter wirkende und keine Endursachen gibt, so hat das denkende Vermögen in der ganzen Natur bloß das Zusehen; sein einziges Geschäft ist, den Mechanismus der wirkenden Kräfte zu begleiten. […] Wir glauben nur, dass wir aus Zorn, Liebe, Großmut, oder aus vernünftigem Entschlusse handeln. Lauter Wahn! In allen diesen Fällen ist im Grunde das, was uns bewegt, ein Etwas, das von allem dem nichts weiß, und das, insofern, von Empfindung und Gedanke schlechterdings entblößt ist. […]Wer nun dieses annehmen kann, dessen Meinung weiß ich nicht zu widerlegen. Wer es aber nicht annehmen kann, der muss der Antipode von Spinoza werden.20

Jacobi gibt zu: ein konsequenter Rationalismus führt zu Spinoza. Aber ein solcher Rationalismus ist existenziell unerträglich. Also ist auch eine solche Vernunftgläubigkeit unerträglich, bedeutet sie doch Materialismus und Atheismus. So reagiert auch Peter Schlemihl auf die Worte des philosophierenden Teufels. Helfen könne hier nur die Abkehr von jedem Versuch die Wirklichkeit unserer Vernunft und d. h. dem Satz vom Grund unterwerfen zu wollen. Davon wollten Jacobis Zeitgenossen nichts hören und so wurde er als Feind der Vernunft und verkappter Jesuit lächerlich gemacht. Im folgenden Kapitel werde ich zu Jacobi, dem Pantheismusstreit und zu Kants Antwort auf Spinoza und Jacobi zurückkehren, eine Antwort die uns immer noch den einzig gangbaren, aus dem Nihilismus herausführenden Weg weist.

3.6 Wissen und Glauben Fast bruchlos folgte dem Pantheismusstreit der Atheismusstreit, wobei Johannn Gottlieb Fichte nun an die Stelle Spinozas trat, sein absolutes Ich an die Stelle Gottes. Fichte erkannte selber was sein von Kants Transzendentalphilosophie bestimmtes Denken in die Nähe Spinozas rückte: Was ihn [Spinoza] auf sein System trieb, lässt sich wohl aufzeigen: nämlich das notwendige Streben, die höchste Einheit in der menschlichen Erkenntnis hervorzubringen. Diese Einheit ist in seinem System; und der Fehler ist bloß darin, dass er aus theoretischen Vernunftgründen zu schliessen glaubte, wo er doch bloß durch ein prak20

Ebd., S. 69-70.

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tisches Bedürfnis getrieben wurde: dass er etwas wirklich Gegebenes aufzustellen glaubte, da er doch bloß ein vorgestecktes, aber nie zu erreichendes Ideal aufstellte. Seine höchste Einheit werden wir in der Wissenschaftslehre wieder finden; aber nicht als etwas, das ist, sondern als etwas, das durch uns hervorgebracht werden soll, aber nicht kann.21

Kant nannte die Vernunft in ihrem Wesen architektonisch.22 Sie versucht jeder Erkenntnis ihren Platz in einem systematischen Ganzen anzuweisen. Aber dieses Ganze lässt sich nicht, wie Spinoza meinte, theoretisch als gegeben feststellen. Doch kann die praktische Vernunft nicht umhin, dieses Ideal aufzustellen und dessen Verwirklichung dem Menschen zur Aufgabe zu machen, ist eine solche Verwirklichung ihm auch verwehrt. Wie schon Descartes versucht Fichte seiner Begriffsarchitektur im Ich, das sich reflektierend selbst übersteigt und sich in der Idee des unendlichen oder absoluten, alles Wirkliche umgreifenden Ichs sein Maß gibt, einen festen Grund zu geben. Dieses Ideal, nicht sehr verschieden von Sartres projet fondamental, ist Voraussetzung unseres Strebens nach Wahrheit und, wichtiger noch, unseres Pflichtbewusstseins, wobei Fichte, Kant folgend, der praktischen Vernunft den Vorrang vor der theoretischen gibt. Dieses doppelte Streben bestimme alles vernünftige Leben und rechtfertige den zuversichtlichen Glauben an eine natürliche und moralische Weltordnung, die zu ergreifen und zu verwirklichen unsere Bestimmung ist. Diesen Glauben zu rechtfertigen bedarf es keiner Berufung auf einen persönlichen Gott oder sonst irgendeine transzendente Wirklichkeit. Er hat seinen zureichenden Grund in dem sich seiner Bestimmung gewissen Menschen. Was ich tun soll, muss ich auch können. Meiner Bestimmung gewiss, weiß ich auch dass mein Handeln nicht völlig vergeblich sein kann. Solche Gewissheit ist Voraussetzung unserer Wissenschaft. Sie ist auch Voraussetzung unserer Moral. In diesem Kontext begegnen wir zum ersten Mal dem Wort „Nihilismus.“23 Friedrich Heinrich Jacobi nennt so eine Weltan21

22 23

Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794). Hamburg 1956, S. 21. Kritik der reinen Vernunft, A 474/B 502. Friedrich Heinrich Jacobi, Brief an Fichte in Jena vom 3-21.3.1799. In: Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob. Stuttgart/Bad Cannstatt 1964ff, Bd. III.3, S. 226.

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schauung, die die Wissenschaft die Wirklichkeit umschreiben lässt. Die Wissenschaft versucht was ist zu begreifen. „Wir begreifen aber einen Gegenstand, wenn wir uns seine Bedingungen der Reihe nach vorstellen.“24 Der Satz vom zureichenden Grund regiert diesen Versuch. Diesem Leitfaden folgend konstruiert die Vernunft dem Sein sein Haus. So führt der Rationalismus zu einem Naturbild in dem prinzipiell alles was der Fall ist seinen zureichenden Grund im Vorausgehenden besitzt. In der so verstandenen Natur hat, wie Spinoza so klar erkannte, die Freiheit keinen Platz. Was wir Mensch nennen ist, so verstanden, prinzipiell nicht von einem Roboter mit einem komplizierten Computer Gehirn zu unterscheiden. Und sie hat auch keinen Platz für so etwas wie Werte, Götter oder Gott. Auch ein Subjekt lässt sich in der so verstandenen Welt nicht finden; es ist aus dieser Welt herausgefallen, steht vor dieser Welt wie wir vor einem Bild – in diesem Sinne nennt Heidegger unsere Zeit die Zeit des Weltbildes. Das so aus der Welt herausgefallene Subjekt wirft auch keinen Schatten. Kein Licht fällt aus dieser Welt auf ein solches Subjekt. Aber Vernunftkonstruktionen dürfen nicht mit Wirklichkeit verwechselt werden. Jakobi hatte guten Grund, mit seinem Salto Mortale25 diese Vernunft überspringen zu wollen. Nun betont ja Fichte selber die „absolute Leere“ des reinen Wissens. Mit gutem Recht, so meint er, suchen wir etwas außer der Begriffsarchitektur, die uns unsere Vernunft baut.26 So lässt er in der Bestimmung des Menschen das dritte Buch „Glauben“ auf das zweite Buch „Wissen“ folgen. Aber dieser Glaube hat seinen Grund im Verlangen wie Gott zu sein: Es ist in mir ein Trieb zu absoluter, unabhängiger Selbstthätigkeit. Nichts ist mir unausstehlicher, als nur an einem anderen, für ein anderes, und durch ein anderes zu seyn: ich will für und durch mich selbst etwas seyn und werden. Diesen Trieb fühle ich, sowie ich nur mich selbst wahrnehme; er ist unzertrennlich vereinigt mit dem Bewusstseyn meiner selbst.27

Nun ist uns Menschen ein solches autonomes Dasein versagt. Aber es weist unserem Tun, und auch Denken ist ein Tun, die Richtung. Und wir glauben, dass unser Bemühen nicht umsonst ist. Aber 24 25 26 27

Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, Bd 2. Berlin 1845/1846, S. 231. Jacobis Spinoza-Büchlein nebst Replik und Duplik. München 1912, S. 69. Fichtes sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 247. Ebd., S. 249

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lassen sich theoretische und praktische Vernunft wirklich so zusammen binden? Bleibt Fichtes System nicht eine in der Luft schwebende Begriffsarchitektur? Verträgt sich nicht der Trieb zu absoluter, unabhängiger Selbsttätigkeit mit dem extremsten Egoismus? Ist so ein Egoist unvernünftig? Jacobi hatte einen solchen Egoisten schon in seinem Roman „Allwill“ (1793) beschrieben, und so kann es nicht überraschen, dass er sich, bei aller Bewunderung – stellte er doch Fichte jetzt noch über Spinoza – in der Begriffsarchitektur dieses Messias der Vernunft, wie er ihn nennen sollte,28 nicht zuhause fühlen konnte. Ist „Messias der Vernunft“ nicht eine der Masken des Teufels? Fichte allerdings versuchte sich gegen den Atheismusvorwurf, dem ihn die Veröffentlichung von Friedrich Karl Forbergs „Entwicklung des Begriffs der Religion“ in dem von ihm mit Friedrich Immanuel Niethammer herausgegebenen Philosophischen Journal (1798), begleitet von seinem Vorwort, „Über die Gründe unseres Glaubens an eine göttliche Regierung des Universums,“ eingetragen hatte, zu verteidigen. Vergebens. Der Atheismusstreit kostete ihm seine Professur in Jena. 1800 zog er nach Berlin, wo er Chamisso ein väterlicher Freund werden sollte. Wie Schlemihl, der von sich sagt, dass er „zur philosophischen Spekulation keineswegs berufen“ wäre und dass er sich „dieses Feld völlig abgesprochen habe,“ so hatte auch Chamisso 1813 seinen knabenhaften metaphysischen Eifer hinter sich gelassen, sich entschlossen „vieles auf sich beruhen zu lassen“ und auf den Anspruch „vieles zu wissen und zu begreifen Verzicht geleistet.“29

3.7 Die Philosophen spinnen Kehren wir noch einmal zu Peter Schlemihls Vergleich des eine scheinbar im Nichts schwebende Begriffsarchitektur bauenden Teufels mit einem Künstler zurückkommen. Das lässt an die Metapher des Spinnennetzes denken, die uns Nietzsche in Über Wahrheit und Lüge zum Verständnis der Arbeit der Naturwissenschaft gibt.

28

29

Jacobi an Fichte. Hamburg 1799. Auch als „Über die Unzertrennlichkeit der Freiheit und Vorsehung von dem Begriffe der Vernunft“ in Werke II, 1815. Adelbert von Chamisso: Sämtliche Werke, Bd. 1., München 1975, S. 53.

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Die Metapher der Spinne konnte Nietzsche bei Schopenhauer finden. Mit ihr zielte Schopenhauer auf Johann Gottlieb Fichte. Wie Fichte Kant verpflichtet, ist auch Schopenhauer transzendentaler Idealist: das Sein der Vorstellungen ist Sein für das vorstellende Subjekt, was aber keineswegs heißt, dass dieses Subjekt die Vorstellungen auf irgendeine Weise erzeugt. Das würde Wirklichkeit in einen Traum verwandeln, dieser Gedanke selbst ein böser Traum, den Descartes mit seinem Gottesbeweis zu bannen versucht. Folgen wir Schopenhauer so hat dieser böse Traum seinen Grund in einer falschen Anwendung des Satzes vom zureichenden Grund, der, so Schopenhauer, zwar das Sein unserer Vorstellungen bestimmt, aber nicht auf das vorstellende Subjekt ausgeweitet werden darf. Das Subjekt ist nicht der zureichende Grund seiner Vorstellungen; noch sind diese Vorstellungen Grund des Subjekts. Der Bezug von Vorstellung und Subjekt und d.h. das Wesen der Vorstellung entzieht sich unserem Begreifen. So kommt es, wie bei Heidegger, auch bei Schopenhauer zu einer Verdoppelung des Seins. Mit Wille und Vorstellung versucht Schopenhauer, im Anschluss an Kants Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung, die Antinomie des Seins zu denken. Fichte wird vorgeworfen diese Antinomie aus den Augen verloren zu haben. So wird ihm die Welt zu einer Begriffsarchitektur, die den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat. Aber diese falsche Anwendung des Satzes vom zureichenden Grund, die seine Grenzen nicht anerkennen will, wurzelt in dem Unbehagen, nicht causa sui, nicht Gott, nicht Grund unseres eigenen Daseins zu sein. Und verstehen wir mit Sartre das Verlangen Gott zu sein als Grundzug des menschlichen Daseins, gehört der Mensch als solcher zur Partei des Teufels. Aber noch einmal: Quis sicut Deus? Wer ist wie Gott? Sartre würde antworten: Nichts! Nicht einmal Gott! Die Gottesidee, d. h. die Idee einer causa sui widerspricht sich selbst. Was wir zutiefst ersehnen ist etwas Unmögliches. Zunächst und zumeist finden wir uns in einer Welt die wir weder gewählt noch gewollt haben. Und keine Vernunft vermag es dem Gefühl unserer Nichtigkeit seinen Stachel zu nehmen. Aber was der Mensch vermag ist der Wirklichkeit, in der er zu leben und zu sterben hat, eine zweite, von ihm geschaffene Wirklichkeit entgegenzustellen, die erste in diese zweite so gut wie

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möglich zu verwandeln, in eine Wirklichkeit, in der alles so ist wie sein Wille es fordert.

3.8 Der Teufel und die Kunst Chamisso vergleicht die Begriffsarchitektur seines philosophierenden Teufels mit einem Kunstwerk, das sich selbst genügt und in seiner Vollendung uns einlädt, die Wirklichkeit und all ihre Schatten zu vergessen. Der Vergleich ist nicht aus der Luft gegriffen. Wir begegnen ihm schon in Alexander Gottlieb Baumgartens Dissertation von 1735, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, die der Ästhetik ihren Namen geben sollte und sie begründet.30 Eine schon typisch moderne Auffassung der Kunst findet hier ihren ersten klaren Ausdruck. In Baumgartens Dissertation allerdings geht der Vergleich in die umgekehrte Richtung: Baumgarten vergleicht den Künstler mit Gott, das in sich vollendete Kunstwerk mit der Welt, wie sie uns die Philosophie darstellt. So verstanden erfüllen Künstler und Kunstwerk das Versprechen der Schlange. „Welt“ meint hier mehr als die Gesamtheit der Tatsachen. Mit Leibniz und Wolff versteht Baumgarten die Welt als ein vollkommenes Ganzes. Der so verstandenen Welt fehlt nichts und nichts in ihr ist überflüssig – und wie könnte auch ein allmächtiger, allweiser, allgütiger Gott eine unvollkommene Welt geschaffen haben? Die Welt ist so wie sie sein soll. In diesem Sinne sollte auch das Kunstwerk ein vollkommenes, sich selbst genügendes Ganzes sein. So verstanden gleicht das Kunstwerk der Begriffsarchitektur der Philosophen. Nur sind Begriffe das Baumaterial der Metaphysik; die Kunst dagegen muss sich mit sinnlich wahrnehmbarer Materie begnügen. Der Vergleich bleibt aufschlussreich, auch wenn uns heute eine solche Darstellung der Welt als eines in sich vollendeten Ganzen nicht mehr überzeugen kann. Er lädt uns heute ein, den Ursprung solcher Gedankenarchitekturen nicht im Trieb zur Wahrheit zu

30

Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Lateinisch-Deutsch; übersetzt und mit einer Einleitung, hg. von Heinz Paetzold. Hamburg 1983.

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suchen, sondern im Verlangen die Welt so zu verstehen, dass sie unserem Wollen entspricht. Der Vergleich des Künstlers mit Gott hat eine lange Vorgeschichte. Wir begegnen ihm schon in Platons Politeia, hier im Rahmen seiner Kunstkritik die dem Künstler vorwirft, nicht der Wahrheit zu dienen; und er kehrt wieder, aber nun in einem sehr viel positiveren Licht, in der Renaissance, zuerst in Alberti’s Della pittura, wo ihn die Aussage begleitet, Narziss sei der Urheber der Malerei gewesen. Die scheinbar beiläufig hingeworfene Bemerkung gibt zu denken: dem in die eigene Schönheit verliebten Narziss, kostete diese Liebe das Leben. Auch hier bedeutet Kunst einen Wirklichkeitsverlust, den uns aber der schöne Schein vergessen lässt. Schon Aristoteles verstand die gelungene Tragödie als ein fest gefügtes Ganzes und Baumgarten steht in dieser Tradition wenn er sich die im 18. Jahrhundert so geläufige Definition des Schönen als sinnlich erfahrene Vollkommenheit zu eigen macht. Das echte Kunstwerk gibt sich uns als ein in sich vollkommenes Ganzes. Das aber heißt: ein solches Kunstwerk will nicht Anderes bedeuten, will nicht erbaulich oder wahr sein, will in seiner Schönheit nur selig in sich selbst scheinen. Nichts in einem solchen Werk scheint uns zufällig oder willkürlich. Hingegeben an ein solches Werk, stehen wir nicht mehr vor verschiedenen Möglichkeiten, und das heißt auch, sorgen wir uns nicht mehr um Zukünftiges. Und so nimmt das Kunstwerk der Zeit ihren Stachel, bietet uns, wenn auch nur für kurze Zeit, so etwas wie Erlösung von jenem Widerwillen gegen die Zeit, den Nietzsche als den Geist der Rache und als den tiefsten Grund unserer Selbstentfremdung verstand. Und so bietet sich uns, die wir an Erlösung nicht mehr glauben können, die Kunst als eine Ersatzerlösung. Aber der Preis dieser Erlösung ist der Verlust der Wirklichkeit. Wichtig ist mir hier nicht Baumgarten, sondern ein ästhetisches Verstehen des Schönen, das in Kants Kritik der Urteilskraft ihre tiefste Deutung, aber auch eine immer noch bedenkenswerte Kritik, und in Schopenhauer ihren wohl einflussreichsten Deuter fand. Wenn ich hier von einem ästhetischen Verstehen des Schönen spreche, so will ich damit das Ästhetische vom Schönen unterscheiden. Es gibt ein sehr viel älteres, ontologisches Verstehen der Schönheit als die Wirklichkeit nicht so sehr ersetzend sondern entbergend, nicht als schöner Schein, sondern als Erscheinung der

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Wahrheit. Platons Gastmahl ist der maßgebliche Text. Aber auch Heideggers Denken geht immer noch oder wieder in diese jede Ästhetik in Frage stellende Richtung. Andererseits lässt sich ästhetisches Erfahren nicht auf ein Erfahren des Schönen einschränken, hat das Wort Schönheit, bezogen auf die Kunstproduktion der letzten Jahrzehnte, doch einen antiquierten Klang: welcher Künstler dient heute noch der Schönheit? Kennzeichnet die postmoderne Kunst nicht gerade die Absage an Vollkommenheit, Fülle, Selbstgenügsamkeit, Gegenwärtigkeit? Zwar konnte ein so bedeutender Kritiker wie Michael Fried 1967, mit Bezug auf damals aktuelle Künstler wie Kenneth Noland und Jules Olitiski, noch schreiben, „Presentness is grace“, „Gegenwärtigkeit ist Gnade.“31 Auch Fried ließ hier den Künstler an die Stelle Gottes treten. Damit stand er noch ganz im Banne eines Kant verpflichteten, wenn auch Kant nur oberflächlich rezipierenden, ästhetischen Verständnisses der Kunst, wie es damals in den Schriften von Clement Greenberg seinen scheinbar definitiven Ausdruck gewann. Heute gehört dieser Satz, wie auch die abstrakte Kunst der 50er und frühen 60er Jahre zu einer Vergangenheit, die ihre Aktualität verloren hat. Bedeutet uns heute das Spiel mit vieldeutigen Möglichkeiten nicht mehr als die so verstandene Schönheit? So verdrängt heute das Interessante das Schöne. Aber das bedeutet keinen Bruch mit der ästhetischen Einstellung. Ästhetische Objekte brauchen nicht schön, sie können z. B. auch hässlich, aber gerade in ihrer herausfordernden Hässlichkeit interessant oder vielleicht auch erhaben sein. Wesentlich ist allein, dass das ästhetische Objekt eine Empfindung erzeugt, die wir genießen. Alles ästhetische Genießen ist letzten Endes Selbstgenuss, rechtfertigt so sich selbst und kehrt der Wirklichkeit den Rücken. Kants Sprechen von einem „interesselosen Wohlgefallen“ impliziert diese Abkehr. Albertis scheinbar leichtfertig hingeworfener Spruch vom narzisstischen Ursprung der Kunst trifft das Wesen einer Kunstauffassung, die ihm entscheidende Impulse verdanken sollte.

31

Michael Fried: Art and Objecthood. Minimal Art: A Critical Anthology, Hg. Gregory Battcock, New York 1968, S. 147.

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3.9 Unterwegs zur modernen Kunst Die Begriffsarchitekturen von Philosophen wie Leibniz, Spinoza oder Fichte entsprechen dem Verlangen wie Gott zu sein auf ihre Art, wobei wir auch an die Stelle der Gottesidee Fichtes absolutes Ich setzen können. Hegel und Kierkegaard32 fanden hier den Schlüssel zum Verständnis einer typisch modernen Kunstauffassung. Was nun den näheren Zusammenhang Fichtescher Sätze mit der einen Richtung der Ironie angeht, so brauchen wir in dieser Beziehung nur den folgenden Punkt herauszuheben, dass Fichte zum absoluten Prinzip alles Wissens, aller Vernunft und Erkenntnis das Ich feststellt, und zwar das durchaus abstrakt und formell bleibende Ich. Dieses Ich ist nun dadurch zweitens schlechthin in sich einfach, und einerseits [ist] jede Besonderheit, Bestimmtheit, jeder Inhalt in demselben negiert – denn alle Sache geht in diese abstrakte Freiheit und Einheit unter – , andererseits ist jeder Inhalt, der dem Ich gelten soll, nur als durch das Ich gesetzt und anerkannt. Was ist, ist nur durch das Ich, und was durch mich ist, kann ich ebensosehr auch wieder vernichten.33

Hegel betont hier die absolute Formalität dieses Ichs. Es ist kein Ding, ist nicht etwas, in diesem Sinne nichts, eine unendliche abstrakte Einheit und Freiheit. Schon Descartes’ cogito weist in diese Richtung. Im Denken dieses absoluten Ichs steigt unser Ich über sich selbst hinaus, über das konkrete, sterbliche, der Welt und dem Tod gehörende Ich. Das Ich, das auf der Erde, unter der Sonne stehend, einen Schatten wirft, wird zu einem Ich, dem prinzipiell kein Du begegnen kann. Eben darum darf dieses reine Ich nicht mit dem Ich das wir sind verwechselt werden. Und doch ist es uns möglich, wie Fichte wusste, uns nicht nur denkend, sondern auch in unserem konkreten Benehmen und Tun diesem Ich anzunähern. Hegel denkt hier besonders an Friedrich Schlegel. Wenn nun bei diesen ganz leeren Formen, welche aus der Absolutheit des abstrakten Ich ihren Ursprung nehmen, stehengeblieben wird, so ist nichts an und für sich und in sich selbst wertvoll betrachtet, sondern nur als durch die Subjektivität des Ich hervorge32

33

Vgl. Karsten Harries: Between Nihilism and Faith: A Commentary on Either/Or, Berlin and New York 2010, S. 89-98. Georg Wilhelm Friedrich Hegel Jubiläumsausgabe in 20 Bde. Hg. von Herrmann Glockner: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 12-14. Stuttgart 1937. Bd. 12, S. 100.

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bracht. Dann aber kann auch das Ich Herr und Meister über alles bleiben, und in keiner Sphäre der Sittlichkeit, Rechtlichkeit, des Menschlichen und Göttlichen, Profanen und Heiligen gibt es etwas, das nicht durch Ich erst zu setzen wäre und deshalb von Ich ebensosehr könnte zunichte gemacht werden. Dadurch ist alles Anundfürsichseiende nur ein Schein, nicht seiner selbst wegen und durch sich selbst wahrhaft und wirklich, sondern ein bloßes Scheinen durch das Ich, in dessen Gewalt und Willkür es zu freiem Schalten bleibt. Das Geltenlassen und Aufheben steht rein im Belieben des in sich selbst als Ich schon absoluten Ich.34

Wichtig ist hier wieder das Wort „Schein“. Wir sahen im vorigen Kapitel, wie in der Geburt der Tragödie Nietzsche Kants „Erscheinung“ als bloßen „Schein“ versteht. Friedrich Schlegel wird hier nicht erwähnt. Aber der Rückblick auf Schlegel bietet sich an. In dem Maße in dem ich zu diesem Ich werde wird mir die Wirklichkeit zum bloßen Schein. Dies ist das ästhetische Leben das Kierkegaard uns im ersten Teil von „Entweder/Oder“ vorstellt. Alles was einem solchen Ästheten begegnet ist nur Anstoß, Material zu dem Kunstwerk in das sich sein Leben verwandeln soll. Jedes wirklich symmetrische Verhältnis zu einem anderen Menschen wird hier ausgeschlossen. Für einen solchen Ästheten darf es kein Du geben, das einen vielleicht verpflichtenden Anspruch erheben könnte. Hegel unterstreicht den mangelnden Ernst eines solchen Lebens. Als Künstler aber, diesem Prinzip gemäß, lebe ich, wenn all mein Handeln und Äußern überhaupt, insoweit es irgendeinen Inhalt betrifft, nur ein Schein für mich bleibt und eine Gestalt annimmt, die ganz in meiner Macht steht. Dann ist es mir weder mit diesem Inhalt noch seiner Äußerung und Verwirklichung überhaupt wahrhafter Ernst. Denn wahrhafter Ernst kommt nur durch ein substantielles Interesse, eine in sich selbst gehaltvolle Sache, Wahrheit, Sittlichkeit usf. herein,, durch einen Inhalt, der mir als solcher schon als wesentlich gilt, so dass ich mir für mich selber nur wesentlich werde, insofern ich in solchen Gehalt mich versenkt habe und ihm in meinem ganzen Wissen und Handeln gemäß geworden bin. Auf dem Standpunkte, auf welchem das alles aus sich setzende und auflösende Ich der Künstler ist, dem kein Inhalt das Bewußtsein als absolut und an und für sich, sondern als selbstgemachter zernichtbarer

34

Ebd., S. 100-101.

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Schein erscheint, kann solcher Ernst keine Stätte finden, da nur dem Formalismus des Ich Gültigkeit zugeschrieben ist.35

So wie Peter Schlemihl des Teufels Begriffsarchitektur mit einem Kunstwerk vergleicht, so verwandelt Hegel Fichtes Begriffsarchitektur in ein uns gut bekanntes, typisch modernes Kunstwerk: Auf dem Standpunkte, auf welchem das alles aus sich setzende und auflösende Ich der Künstler ist, dem kein Inhalt das Bewußtsein als absolut und an und für sich, sondern als selbstgemachter zernichtbarer Schein erscheint, kann solcher Ernst keine Stätte finden, da nur dem Formalismus des Ich Gültigkeit zugeschrieben ist. – Für andere zwar kann meine Erscheinung, in welcher ich mich ihnen gebe, ein Ernst sein, indem sie mich so nehmen, als sei es mir in der Tat um die Sache zu tun, — aber sie sind damit nur getäuscht, pauvre bornierte Subjekte, ohne Organ und Fähigkeit, die Höhe meines Standpunktes zu erfassen und zu erreichen. Dadurch zeigt es sich mir, dass nicht jeder so frei (d. i. formell frei) ist, in allem, was dem Menschen sonst noch Wert, Würde und Heiligkeit hat, nur ein Produkt seiner eigenen Macht des Beliebens zu sehen, in welcher er dergleichen gelten, sich dadurch bestimmen und erfüllen lassen kann oder auch nicht.36

Was immer so ein Künstler erfährt hat an sich keine Bedeutung. Alles Bedeutsame ist Konstrukt des sich als einen zweiten Gott erfahrenden Künstlers. Schon in Leon Battista Albertis Della pittura fanden wir diese Selbsteinschätzung des Künstlers.

3.10 Schlussbetrachtung Aber kehren wir zum Schluss noch einmal zu unserer Geschichte zurück. Wer ist dieser Peter Schlemihl? Einen Hinweis gibt uns Chamissos vielleicht bekanntestes Gedicht, „Das Schloss Boncourt,“ in dem er des von der französischen Revolution zerstörten Stammschlosses gedenkt, und das er zuerst im Anhang der zweiten Auflage (1827) von Peter Schlemihls wundersame Geschichte veröffentlichte. Als Kind musste der Dichter, geboren Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt, mit seiner Familie erst das Schloss, dann Frankreich verlassen. So entwurzelt, konnte er sich in dem Preussen, in dem die Familie Obdach fand und dem 35 36

Ebd., S. 101-102. Ebd., 102.

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er eine Zeit lang als Offizier diente, nie wirklich zuhause fühlen. Als Franzose blieb er ein Außenseiter. Wie sein Held, verstand sich auch Chamisso als ein Mensch ohne wirkliche Heimat. Die Welt die dem Kind einst Heimat war hatte die französische Revolution zerstört.37 Aber diese Zerstörung war auch nur Ausdruck einer umfassenderen Zerstörung die das Zeitalter der Vernunft wie ein böser Geist begleitete. Der Verlust des Schattens kann so als Folge einer Entwurzelung verstanden werden, die die Befreiung von religiösen und gesellschaftlichen Fesseln mit sich bringen muss. Einen Schatten besitzen heißt, einen Fleck dieser Erde Heimat nennen zu können. Der Verlust der Heimat hatte aber auch ein gute Seite: er machte Chamisso beweglicher, brachte ihm eine neue Freiheit. Wissenschaft aber fordert ein freies Verhältnis zu Erde. Wie den fiktiven Peter Schlemihl, so machte solche Freiheit auch den heimatlosen Chamisso zu einem geachteten, auch heute noch nicht vergessenen, Wissenschaftler, wie es die Pflanzen, Tiere und Landschaften die seinen Namen tragen bezeugen. So umsegelte er als Teilnehmer an einer russischen Forschungsexpedition von 1815 bis 1818 die Welt. Wichtig ist hier jedoch nicht die Biographie sondern die Metapher des verlorenen Schattens. Und wie haben wir das Angebot des Teufels Peter seinen Schatten um den Preis seiner Seele zurückzugeben zu verstehen? Dieses Angebot setzt den Verlust des Schattens, d.h. die Selbsterhöhung des Menschen, die ihn in ein abstraktes Subjekt verwandelt, voraus. Ein solches Subjekt hat den immer an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gebundenen und damit bestimmten Perspektiven unterworfenen Menschen unter sich gelassen. Und fordert die Wahrheitssuche nicht eine solche Selbstaufstufung des Geistes? Aber damit vergeistigt sich unsere Existenz. Der Köper verliert an Wichtigkeit. Schatten wurden schon lange verstanden als Zeichen eines vollen Körperdaseins. Geister werfen bekanntlich keine Schatten. So ist Hugo von Hofmannsthals Frau ohne Schatten Tochter des Geisterkönigs Keikobad und ohne Schatten bleibt ihre Schönheit unfruchtbar, diese unfruchtbare Schönheit wiederum das Leben ihres die Tochter des Geisterkönigs liebenden Mannes bedrohend. Men37

Adelbert von Chamisso: Reise um die Welt, Einleitung.

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schen ohne Schatten haben etwas Gespensterhaftes. Erst unsere Schatten lassen uns Menschen der Erde gehören. Werfen wir einen Schatten, wenn wir vor unserem Computer sitzen? Der Teufel will uns unsere Schatten nehmen, möchte uns von was uns an die Erde bindet befreien, verspricht ein freieres, bindungsloses Leben. Um einen Schatten zu werfen, muss der Mensch im Licht stehen, das, wie so oft, auch in unserer Geschichte für das göttliche Licht steht. Das Angebot des Teufels verspricht somit eine Existenz, die kein Licht außer dem Licht der eigenen Vernunft nötig hat, weil nicht mehr an die Erde gebunden. Technik ersetzt Natur. Und ist die Natur deren Bild uns unsere Naturwissenschaft liefert nicht auch Artefakt, ein bloßes Kunstprodukt. Das Licht des Computer Screens, so versucht uns der Teufel, ist Licht genug. Aber es bleibt die Frage: wie ist das Angebot des Teufels zu verstehen, Peter seinen Schatten und damit sein volles Körperdasein zurück zu geben, aber um den Preis seiner Seele? Weil die Selbsterhöhung des Geistes, die dem Menschen den Schatten kostet, den Körper entseelt. So kommt es bei Descartes zur Gegenüberstellung von schattenloser res cogitans und schattenwerfender, aber nun seelenloser, res extensa. Die so verstandene Natur hat keinen Platz mehr für so etwas wie Seele. Sich nur als eine solche res extensa verstehen, hieße das, was den Menschen zum Menschen macht, verlieren. Dieser Preis ist unserem Peter zu hoch. Nachdem er das Angebot des Teufels, ihm den Schatten um den Preis seiner Seele zurückzugeben, ausgeschlagen hat, muss sich der arme Peter mit seinem schattenlosen Dasein abfinden. Er muss lernen, dass er immer ein Außenseiter bleiben wird. Aber – und hier zeigt sich eine unerwartet positive Seite seines so leichtfertig eingegangenen Handels – als Kompensation für den verlorenen Schatten findet er ein paar Siebenmeilenstiefel. Der Verlust des Schattens führt so zu einem veränderten Raumverständnis. Entfernungen verlieren ihre einstige Bedeutung. Wir mögen dabei daran denken, wie Wissenschaft und Technik unser Raumgefühl verändert haben. Viele Menschen sind uns jetzt näher als es ohne solch technische Errungenschaften wie Automobil, Flugzeug, Telefon, oder Computer möglich gewesen wäre. Aber solche Nähe beschattet eine Distanz, die wirkliche Intimität verbietet. Schattenlose Geister begegnen hier schattenlosen Geistern. Jeder Liebende wird sich weigern, sich mit einer solchen geisterhaften Nähe zufrieden zu geben. Anders als Chamisso, hat unser Peter seine Chance, mit

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der Geliebten ein Heim zu schaffen, verpasst. Und so verbringt er den Rest seines Lebens, wie die Eremiten von einst, in einer ägyptischen Höhle, aber als moderner Mensch nicht in religiöse Meditationen versunken, sondern guten Gebrauch von seinen Siebenmeilenstiefeln machend, als ein auf den vielfältigen Anspruch der Natur hörender Naturforscher, die Erde beobachtend und erforschend.

4. Sackgassen und Holzwege

4.1 Fernweh und Heimweh Im ersten Kapitel erwähnte ich Kants Antinomien und bezog mich auf Heideggers antinomisches Seinsdenken. Im zweiten Kapitel sprach ich von dem in der Antinomie des Seins wurzelnden Widerwillen gegen die Gedankenarchitekturen der Metaphysiker die immer wieder drohen, unsere Lebenswelt in ein Geisterreich zu verwandeln. Im dritten Kapitel zeigte uns Adelbert von Chamisso den Teufel als einen solchen philosophischen Baumeister. Der Verlust des Schattens entspricht einer Selbsterhebung des Geistes, die in den scheinbar sich selbst tragenden, a priori konstruierten Begriffsarchitekturen eines Spinoza oder eines Fichte ihren philosophischen Ausdruck findet. Doch jeder Versuch die Wirklichkeit in das Gestell solcher Konstruktionen zu zwängen scheitert an der Wirklichkeit. Aber weiß auch der Naturwissenschaftler um die Unmöglichkeit die Wirklichkeit a priori zu konstruieren, weiß er auch um die Notwendigkeit auf den vielfältigen Anspruch der Natur zu hören, so setzt sein Bemühen, die Natur zu begreifen, doch, wie wir sehen werden, eine Metaphysik der Natur und somit ein Übersteigen der Lebenswelt voraus. So verbindet den zum weltreisenden Naturwissenschaftler gewordenen Peter Schlemihl, auch nachdem er den Teufel zur Hölle geschickt und damit seine Seele gerettet hat, mit dem Teufel doch ein unlösbares Band. Auch hier geht es im Grunde um jenen Gegensatz von Leichtigkeit und Schwere den Milan Kundera in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins den geheimnisvollsten und zweideutigsten von allen nennt. Dieser Gegensatz zeigt sich in gegenseitig in Frage stellenden Zukunftsvisionen. Uns locken Weltreisen, Träume von Freiheit, von Tanzen und Fliegen. Uns lockt aber auch eine sehr andere Zukunft, lockt die Heimat, gedacht vielleicht mit Kundera im Bilde des alten Prags mit seiner von Heiligen beschützten Moldaubrücke, dessen genius loci unserem Leben ein ganz anderes Gewicht verspricht. Die Spannung dieses Gegensatzes, von Fernweh und Heimweh, lässt sich nicht ausschalten. Und in diesem

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4. SACKGASSEN UND HOLZWEGE

Gegensatz, in dieser Antinomie unserer Existenz, spiegelt sich die Antinomie des Seins.

4.2 Schiffbruch der Metaphysik Lassen Sie mich hier kurz zu dieser Antinomie und zu Heideggers Sein und Zeit zurückkehren. Das Buch blieb bekannter Weise Fragment. Nur ein Drittel des geplanten zweibändigen Werkes sah das Licht der Welt. Und dies hatte seinen Grund nicht so sehr in dem Zeitdruck unter dem Heidegger damals stand, sondern in der zu denkenden Sache: im Wesen des Seins. In seinem Ansatz gehört Sein und Zeit immer noch zu einer Kant verpflichteten, transzendental verstandenen Metaphysik, wie Heidegger es selbst betont.1 Setzt nicht unsere Erfahrung alles Seienden immer schon ein Verstehen von ihrem Sein voraus. So bestimmt Descartes das Sein der Natur als res extensa. Und diesem Ansatz folgend, bestimmt Kant in seinen Metaphysichen Anfangsgründen der Naturwissenschaft das Sein der Naturdinge a priori, als Erscheinungen, wie sie die Kritik der reinen Vernunft verstand, die Form dieser Erscheinungen durch die reinen Anschauungen Raum und Zeit und durch die reinen Begriffe, die Kategorien, vorgeschrieben. Das so verstandene Sein der Erscheinungen, als in Zeit und Raum seiender Objekte, hat seinen Grund im denkenden Subjekt. Alle wahre Metaphysik ist aus dem Wesen des Denkungsvermögens selbst genommen, und keineswegs darum erdichtet, weil sie nicht von der Erfahrung entlehnt ist, sondern enthält die reinen Handlungen des Denkens, mithin Begriffe und Grundsätze a priori, welche das Mannigfaltige empirischer Vorstellungen allererst in die gesetzmäßige Verbindung bringt, dadurch es empirisches Erkenntnis, d.i. Erfahrung, werden kann.2

Aber wie es das Wort „Erscheinung“, das auf etwas Erscheinendes verweist, nahelegt, muss das volle Sein der Dinge sich einem solchen Zugriff verweigern. So zeigt sich uns hier die Antinomie des Seins im Unterschied von Erscheinung und Ding an sich. Und auch 1

2

Martin Heidegger: Brief über den Humanismus. Wegmarken (1919-1958), Gesamtausgabe, Bd. 9. Frankfurt a. M. 1976, S. 337. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Riga 1786, S. XIII.

4. SACKGASSEN UND HOLZWEGE

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in Sein und Zeit zwingt, wie es sich im ersten Kapitel zeigte, das zu denkende Sein Heideggers, das Sein das es nicht gibt ohne menschliches Dasein von dem Sein dessen Schickung wir Menschen unser Dasein verdanken zu unterscheiden. Aber ein solches transzendentes Sein entzieht sich, wie auch Kant wusste, dem Zugriff des Denkens. Der fragmentarische Charakter von „Sein und Zeit“ hat seinen tiefsten Grund in dem unmöglichen Ziel das Heidegger sich hier gesetzt hatte. Das Projekt das Sein zu begreifen musste an der Antinomie des Seins scheitern. Im Humanismusbrief lesen wir: „Man meint allenthalben, der Versuch in ‚Sein und Zeit‘ sei in eine Sackgasse geraten.“ Heidegger widerspricht dem eigentlich nicht: „Lassen wir diese Meinung auf sich beruhen. Über ‚Sein und Zeit‘ ist das Denken, das in der so betitelten Abhandlung einige Schritte versucht, auch heute nicht hinausgekommen. Vielleicht ist es aber inzwischen um einiges eher in seine Sache hineingekommen.“3 Mag sein, dass das Denken hier wirklich in eine Sackgasse geraten ist, aber wenn dem so sein sollte, dann gilt dies nicht nur vom Denken von Sein und Zeit, nicht nur von Heideggers Denken, sondern von der Philosophie überhaupt. In ihrem Bemühen das Sein zu begreifen muss sie an der Antinomie des Seins scheitern. Hier noch einmal der Schluss des Zitats: „Vielleicht ist es [das Denken] aber inzwischen um einiges eher in seine Sache hineingekommen.“ Diese weitere Bewegung ließ Heidegger seinen Denkweg anders bestimmen, nicht mehr als Sackgasse, sondern als Holzweg.4 Und in diesem Sinne gab er seiner ersten und immer noch bedeutendsten Aufsatzsammlung den Titel Holzwege.5 Aber wo liegt hier der Unterschied? In eine Sackgasse geraten oder auf dem Holzweg sein, bedeutet nicht beides: auf dem falschen Weg sein, nicht weiter können, endigt auch eine Sackgasse gewöhnlich zwischen Mauern, ein Holzweg im Wald? Aber der Tonwechsel von der Stadt zur Natur gibt zu denken: ist die Natur eine bessere Metapher für das zu Denkende, für das Sein, als die Stadt? Spüren wir hier schon so etwas wie einen Widerwillen, nicht nur gegen die Begriffsarchitekturen der Philosophen, sondern auch gegen unsere gebaute Umwelt, die meist wenig mit Heideggers Schwarzwaldhof 3 4

5

Brief über den Humanismus, S. 343. Aus der Erfahrung des Denkens. Gesamtausgabe, Bd. 13. Frankfurt a. M. 1983, S. 91. Holzwege. Gesamtausgabe, Bd. 5, 1977.

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4. SACKGASSEN UND HOLZWEGE

gemein hat? Aber hören wir auf die erklärenden Worte, die Heidegger dieser Aufsatzsammlung vorausschickt. Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege. Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Of scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch dass scheint nur so. Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.6

Holzwege erlauben es den Holzmachern und Waldhütern die gefällten Bäume aus dem Wald zu bringen. Wo Bäume waren gibt es nun einen vielleicht mit Himbeeren überwachsenen offenen Raum. So endet ein Holzweg oft in einer Lichtung. Für den Wanderer mit einem bestimmten Ziel bedeutet das in eine solche Lichtung Treten, dass er seinen Weg verloren hat. Aber ist ein solcher Wegverlust, was die Griechen aporia nannten, nicht der Anfang eigentlichen Denkens? Solch einem Denken muss das Gedankengebäude an dem Philosophen seit den Griechen gearbeitet haben fragwürdig bleiben. Nicht zu trennen von der Aporie, in die uns Heideggers Denkweg führt, ist die im Nexus Dasein, Sprache und Sein verborgene Antinomie: Der Mensch ist aber nicht nur ein Lebewesen, das neben anderen Fähigkeiten auch die Sprache besitzt. Vielmehr ist die Sprache das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch existiert. Indem er der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehört.7

Die Metapher „Haus des Seins“ ist zweideutig. Erst einmal kann sie so verstanden werden: die Grenzen der Sprache sind die Grenzen der Welt. Alle möglichen Welten müssen in unserem Sprachraum ihren Platz finden. So heißt es in Wittgensteins Tractatus: „5.6. Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Ich erinnere an Stefan Georges „Kein ding sei wo das wort gebricht“.8Wir können hier von einem transzendentalen Begriff der Sprache sprechen: um überhaupt zu sein, müssen die Dinge ihren Ort in einem Sprachraum finden. Im Tractatus denkt Wittgenstein diesen Raum als von der Logik bestimmt, spricht vom logischen 6 7 8

Ebda.,S. iv. Brief über den Humanismus, S. 333. Heidegger: Das Wesen der Sprache. Unterwegs zur Sprache, Gesamtausgabe, Band 12. Frankfurt a. M. 1985, S. 207-225.

4. SACKGASSEN UND HOLZWEGE

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Raum und von logischen Orten. Jeder sinnvolle Satz bestimmt einen solchen logischen Ort. Unsere Begriffe sind die diesen Ort bestimmenden Koordinaten. Bald musste Wittgenstein, wie auch der junge Heidegger, allerdings einsehen, dass die Sprache nicht so eingeengt werden darf. Aber bleiben nicht beide Denker im Grunde auch später einer transzendentalen Auffassung der Sprache verpflichtet?9 Wie anders sollen wir Wittgensteins Sprachspiele oder Heideggers Haus des Seins verstehen? Konstituiert unsere Sprache nicht was immer wir denken oder erfahren können? Aber ist nicht jede Sprache ein Phänomen in der Welt, also Seiendes, und somit Teil der Welt und kann als solcher erforscht werden? Und zwingt uns dies nicht von Dingen, und d.h. von Seiendem, und, d. h. auch vom Sein zu sprechen als etwas das die Sprache wesentlich übersteigt? Man kann diese Behauptung, dass die Wirklichkeit die Sprache übersteigt mit dem Hinweis stützen, dass alles verantwortungsvolle Sprechen Dingen antworten oder entsprechen muss, die ein von den Menschen und ihrer Sprache unabhängiges Sein besitzen. Fordert dies nicht der Anspruch auf Wahrheit? Aber wieder stellt sich die Gegenfrage: Wie ist das angeblich unabhängige Sein der Dinge zu denken? Haben die Dinge ein Sein für uns auch ohne Sprache? Nie wird unser Begreifen der Wirklichkeit gerecht, ja, zur Erfahrung des Wirklichen der Wirklichkeit gehört ein Wissen, dass, was immer auch sich begrifflich fassen lässt, der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Kant würde sagen, dass, was immer wir begrifflich erfahren, nur Phänomen, nur Erscheinung und nicht das Ding an sich sei. Kant verstand die Antinomien der reinen Vernunft als Beweis dieser Unterscheidung, wobei die These jeder seiner vier Antinomien auf der Idee des Vollständigkeit eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung besteht und die menschliche Vernunft die Wirklichkeit umschreiben lässt, die Antithese solche Vollständigkeit bestreitet und auf Transzendenz verweist. Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkentnisse als gehörig zu einem möglichen System und verstattet daher auch nur solche Prinzipien, die eine vorha9

Vgl. Karsten Harries: Two Conflicting Interpretations of Language in Wittgenstein's Investigations. In Kantstudien, 59, 4, 1968, S. 397- 409 und „Wittgenstein and Heidegger: The Relationship of the Philosopher to Language“. In: The Journal of Value Inquiry, II, 4, 1968, S. 281-291

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bende Erkentnis wenigstens nicht unfähig machen, in irgend einem System mit anderen zusammen zu stehen. Die Sätze der Antithesis sind aber von der Art, dass sie die Vollendung eines Gebäudes von Erkentnissen gänzlich unmöglich machen. Nach ihnen gibt es über einen Zustand der Welt immer einen noch älteren, in jedem Teile immer noch andere, wiederum teilbare, vor jeder Begebenheit eine andere, die wiederum eben so wohl anderweitig erzeugt war, und im Dasein überhaupt alles immer nur bedingt, ohne irgend ein unbedingtes und erstes Dasein anzuerkennen. Da also die Antithesis nirgend ein Erstes einräumt und keinen Anfang, der schlechthin zum Grunde des Baues dienen könnte, so ist ein vollständiges Gebäude der Erkentniß bei dergleichen Voraussetzungen gänzlich unmöglich. Daher führt das architektonische Interesse der Vernunft (welches nicht empirische, sondern reine Vernunfteinheit a priori fordert) eine natürliche Empfehlung für die Behauptungen der Thesis bey sich. Könnte sich aber ein Mensch von allem Interesse lossagen und die Behauptungen der Vernunft, gleichgültig gegen alle Folgen, bloß nach dem Gehalte ihrer Gründe in Betrachtung ziehen: so würde ein solcher, gesezt dass er keinen Ausweg wüsste, anders aus dem Gedränge zu kommen, als dass er sich zu einer oder andern der streitigen Lehren bekennte, in einem unaufhörlich schwankenden Zustande sein. Heute würde es ihm überzeugend vorkommen, der menschliche Wille sei frei; morgen, wenn er die unauflösliche Naturkette in Betrachtung zöge, würde er dafür halten, die Freiheit sei nichts als Selbsttäuschung, und alles sei bloß Natur. Wenn es nun aber zum Tun und Handeln käme, so würde dieses Spiel der bloß spekulativen Vernunft wie Schattenbilder eines Traums verschwinden, und er würde seine Prinzipien bloss nach dem praktischen Interesse wählen. Weil es aber doch einem nachdenkenden und forschenden Wesen anständig ist, gewisse Zeiten lediglich der Prüfung seiner eigenen Vernunft zu widmen, hiebei aber alle Parteilichkeit gänzlich auszuziehen und so seine Bemerkungen anderen zur Beurteilung öffentlich mitzuteilen: so kann es niemanden verargt, noch weniger verwehrt werden, die Sätze und Gegensätze, so wie sie sich, durch keine Drohung geschreckt, vor Geschworenen von seinem eigenen Stande (nämlich dem Stande schwacher Menschen) verteidigen können, auftreten zu lassen.10

10

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A474-476/ B502-504.

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4.3 Kann etwas zugleich wahr und falsch sein? Um diese Antinomie in ein zeitgemäßeres Gewand zu kleiden, möchte ich einen Blick auf eine bislang noch unveröffentlichte Arbeit von Drew McDermott, Professor im Computer Science Department der Yale University werfen. Sie trägt den provozierenden Titel: „How Moral Absolutism Can Be True and False at the Same Time; Or: Non-Phenomenological Existentialism.“ „Wie ein moralischer Absolutismus zugleich wahr und falsch sein kann; oder: nicht-phänomenologischer Existenzialismus.“ Hier seine Zusammenfassung der Arbeit: Wir betrachten Ethik vom Standpunkt der Cognitive Science. Die Wissenschaft verpflichtet einen zu einer Ansicht, in der Ethik nur ein zufälliger Aspekt der Kultur ist und die Erforschung der Kulturen wertfrei, so dass der Relativismus axiomatisch zu folgen scheint. Aber wer vernünftig handelt kann diesen Standpunkt der reinen Wissenschaft nicht einnehmen, weil gewisse, in uns eingebaute, Überzeugungen ihm widersprechen. Zu diesen unausweichlichen Rahmenillusionen [inescapable framework illusions (IFI’s)] gehören der Glaube an einen freien Willen, an die zeitliche Fortdauer des Ichs, und, unter Menschen, an die allgemeine Gültigkeit ethischer Aussagen. (1)11

Auch McDermott konfrontiert uns moderne Menschen mit so etwas wie einer Antinomie. Als denkend Handelnde sind wir gezwungen, Dinge für wahr zu halten, von denen wir dennoch wissen, dass sie objektiv, d. h. vom Standpunkt der reinen Wissenschaft aus gesehen, falsch sind. Aber ist es uns wirklich möglich etwas, wie z. B. die Existenz des freien Willens, die zeitliche Fortdauer des Ichs, und, die allgemeine Gültigkeit ethischer Aussagen, für wahr und zugleich falsch zu halten, wie es McDermott fordert? Das erinnert an Kant und Fichte, die beide zugeben würden, dass im Haus der Naturwissenschaft für so etwas wie Freiheit oder ein fortdauerndes Ich oder Werte kein Platz ist. Aber sie hätten sich geweigert, zuzugeben, dass was uns die praktische Vernunft zu glauben zwingt, von der theoretischen Vernunft falsch genannt werden muss. Dass ein moralischer Absolutismus zugleich wahr und falsch sein kann, hätten sie abgelehnt. 11

Drew McDermott: How Moral Absolutism Can Be True and False at the Same Time; Or: Non-Phenomenological Existentialism. Draft, Abstract

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Im 13. Jahrhundert gab es Philosophen, wie Siger von Brabant, die, wenigstens in der Öffentlichkeit, von solch einer doppelten Wahrheit sprachen.12 Damals war es die damals neu importierte Naturphilosophie des Heiden Aristoteles, die weder der menschlichen noch der göttlichen Freiheit genügend Raum ließ und somit nicht mit der christlichen Weltanschauung in Einklang zu bringen war. In diesem Kampf zwischen aristotelischer Naturphilosophie und christlicher Theologie blieb Letztere erst einmal Sieger, ein Sieg den die Condemnatio von 1277 besiegelte.13 Als moderner Wissenschaftler hat McDermott keine theologischen Erwägungen zu berücksichtigen. Und so spricht er von gewissen uns eingebauten, unausweichlichen Rahmenillusionen, wobei die Worte „eingebaut“ [built in] und „Rahmenillusionen“ [framework illusions] uns fragen lassen, ob es ihm wirklich mit der in seinem Titel angekündigten doppelten Wahrheit ernst ist, ob er nicht doch die Naturwissenschaft zum eigentlichen und einzigen Hüter der Wahrheit macht. Es gibt so manches hier, dem ich zustimmen muss, so z. B. der behaupteten Wertfreiheit der Naturwissenschaft. McDermott beruft sich auf ein Prinzip, das er David Humes „Enquiry Concerning the Principles of Morals“ verdankt: „No statement about the way things ought to be can be derived from any set of statements about the way things are.“14 „Keine Aussage wie die Dinge sein sollten, folgt aus irgendeiner Anzahl von Sätzen, wie die Dinge sind.“ Uns stellt sich die Frage: wie haben wir „the way things are,“ „wie die Dinge sind“ zu verstehen? Gibt uns die Naturwissenschaft den Schlüssel zum Sein der Dinge? McDermotts Antwort wäre ein klares Ja. Und so kommt er, Hume folgend, zu diesem Schluss: Weil die Wissenschaft nur wie die Dinge sind angeht, gibt es nichts in der Wissenschaft, das irgendetwas mit der Frage, ob ein Moralsystem besser wäre als ein anders, oder ob es vielleicht irgendein übergeordnetes System, das all die anderen einschlösse, gäbe, zu tun hätte. „Die Wissenschaft nimmt nicht den geringsten

12

13

14

Vgl. Karsten Harries: Infinity and Perspective, Cambridge (Mass.) 2001, S. 128-147. P. Mandonnet, Siger de Brabant et l’averroisme latin aux XIIIme siécle, 2me partie, textes inédites. Louvain 1908., S. 175-191 und Roland Hissette, Enquète sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277, Philosophes médiévaux, 12. Louvain 1977. McDermott, Draft, S. 2.

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Anteil an was uns bewegt.“15 Und weiter, „Vom rein wissenschaftlichen Standpunkt, existiert das Selbst überhaupt nicht; was wir allein in Erfahrung bringen können sind handelnde Wesen, die meinen, ein Selbst zu sein.“16 Kant könnte dem zustimmen, mit der Einschränkung, dass die Dinge an sich sich dem Zugriff der Wissenschaft entziehen. Aber McDermott kennt keine Antinomie die den Anspruch der theoretischen Vernunft die Welt erschöpfend begreifen zu können zurückweist. Und dies rückt ihn in die Nähe des Teufels, der Peter Schlemihl seinen Schatten zurückgeben will, aber um den Preis seiner Seele. McDermott will von so etwas wie Seele nichts wissen. Um es noch einmal zu wiederholen: wir müssen McDermott recht geben: die reine Wissenschaft weiß nichts von Freiheit, Personen, oder Werten. Nicht, dass ich daraus folgern würde, dass für die so verstandene Wissenschaft der Relativismus axiomatisch wahr wäre: wenn die Wissenschaft prinzipiell nichts von Werten wissen kann, kann sie auch nicht behaupten, sie wären relativ oder absolut, zeitgebunden oder zeitlos. Was sie sagen kann ist, dass es im Laufe der Zeit hier alle möglichen Ansichten gegeben hat. In diesem Sinne könnte man Werte relativ nennen. Aber das genügt nicht, zu zeigen, dass Werte tatsächlich relativ sind, wie ja auch die Tatsache, dass die Quadratur des Kreises lange für möglich gehalten wurde, deren Unmöglichkeit keineswegs in Frage stellt. Fragen der Wahrheit und der Gültigkeit lassen sich nicht mit Hinweisen auf was Menschen eben denken beantworten. So geht McDermott meiner Ansicht nach zu weit wenn er, den Wertrelativismus, vorausgesetzt den hier eingenommenen wissenschaftlichen Standpunkt, „fast axiomatisch wahr“ nennt.17 Vorsichtiger ist eine etwas spätere Formulierung: „Inescapable framework illusions (IFI’s) sind Illusionen, indem sie entweder falsch oder sinnlos sind.“18 „Sinnlos“ scheint mir hier das treffendere Wort. Wenn wir die Wissenschaft, wie McDermott sie versteht, zur alleinigen Hüterin der Wahrheit machen, dann führt sie uns zwangsläufig zum Nihilismus. Wie schon gesagt, mit dem was McDermott über Humes Grundsatz zu sagen hat stimme ich überein, wenigstens wenn wir das 15 16 17 18

Ebd., S. 3. Ebda., S. 10. Ebd., S. 5. Ebd., S. 8.

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Gesagte auf die Naturwissenschaft beschränken. Aber seinen zweiten Grundsatz, „Die Welt, die die Wissenschaft entdeckt (und noch zu entdecken) hat, ist die Welt),19 möchte ich in Frage stellen. McDermott nennt diesen Grundsatz „Neurath’s Principle“ – sich hier auf Otto Neuraths „Foundations of the Unity of Science: Toward an International Encyclopedia of Unified Science“(1971) berufend. Wissenschaft heißt hier nicht nur Naturwissenschaft, sondern im Grunde Physik: Die Welt, die die Physik entdeckt, ist bizarr und uns fremd. Aber es ist die einzige Welt die es gibt. Alle anderen Wissenschaften lassen sich auf eine uns jetzt wohlbekannte Art auf die Physik reduzieren. Nichts, das in der Chemie geschieht, kann nicht von der Physik erklärt werden; nichts, das in der Biologie geschieht, kann nicht von der Chemie erklärt werden; usw.20

Das heißt, wir brauchen nur einen Naturbegriff: die Physik gibt uns den Schlüssel zum wahren Sein der Naturdinge. Ich möchte diesen zweiten Grundsatz in Frage stellen. Nun würde auch ich sagen: „Die Welt die die Wissenschaft entdeckt (und noch zu entdecken) hat ist die Welt.“ Aber wie haben wir das Sein der so entdeckten (und noch zu entdeckenden) Welt zu verstehen? Was rechtfertigt die Gleichsetzung der Welt oder der Natur mit der wie McDermott sie zurecht nennt, bizarren und uns fremden Welt, die uns die Physik entdeckt. Wie steht es mit der Welt die uns ein Künstler oder Gläubiger entdeckt? Ist es klar dass sie sich einfach irren, sollten sie einen Anspruch auf Wahrheit erheben?

4.4 Von der doppelten Wahrheit Noch einmal die Frage: Was rechtfertigt die Gleichsetzung der Welt mit der bizarren Welt die uns unsere Physik heute entdeckt? Gemessen an unserer Lebenswelt ist diese Welt in der Tat bizarr: die kleinsten Bausteine der Materie, wie uns unsere Physik diese heute vorstellt, diese Quarks, Leptonen und Bosonen, sind nicht nur unsichtbar; sie entziehen sich grundsätzlich jeder Anschauung. Sie haben ihren Platz in der experimentell bestätigten, mathemati19 20

Ebd., S. 2. Ebd., S. 3.

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schen Rekonstruktion der Wirklichkeit an der die Physik weiter arbeitet. Aber noch einmal die Frage: sind wir berechtigt eine solche Rekonstruktion mit der Welt wie sie in Wahrheit ist gleichzusetzen? Eine erste Antwort: Fordert unser Begriff der Wahrheit als Angleichung unserer Gedanken und Aussagen an die Dinge, ein Begriff den Kant für so unumstößlich hält, dass er in der Kritik der reinen Vernunft sagen kann, er wird „geschenkt und vorausgesetzt“,21 nicht diese Gleichsetzung? Dazu eine vielsagende Anmerkung mit der Kant den Satz, „Es wäre meine eigene Schuld, wenn ich aus dem was ich zur Erscheinung zählen sollte, bloßen Schein machte“, begleitet: Die Prädikate der Erscheinung können dem Objekte selbst beigelegt werden, in Verhältnis auf unseren Sinn, z.B. der Rose die rote Farbe, oder der Geruch; aber der Schein kann niemals als Prädikat dem Gegenstande beigelegt werden, eben darum, weil er, was diesem nur in Verhältnis auf die Sinne, oder überhaupt aufs Subjekt zukommt, dem Objekt für sich beilegt, z.B. die zwei Henkel, die man anfänglich dem Saturn beilegte. Was gar nicht am Objekte an sich selbst, jederzeit aber in Verhältnisse desselben zum Subjekt anzutreffen und von der Vorstellung des ersteren unzertrennlich ist, ist Erscheinung, und so werden die Prädikate des Raumes und der Zeit mit Recht den Gegenständen der Sinne, als solchen, beigelegt, und hierin ist kein Schein. Dagegen, wenn ich der Rose an sich die Röte, dem Saturn die Henkel, oder allen äußeren Gegenständen die Ausdehnung an sich beilege, ohne auf ein bestimmtes Verhältnis dieser Gegenstände zum Subjekt zu sehen und mein Urteil darauf einzuschränken: alsdenn allererst entspringt der Schein.22

Wenn wir der Rose die rote Farbe oder den Geruch zuschreiben, sind wir uns der Perspektivgebundenheit oder der Subjektivität unserer Aussagen bewusst. Wir wissen, dass wir die Dinge nicht so beschreiben, wie sie wirklich sind. Um sie so zu ergreifen, dürfen wir uns nicht mit dem was uns unsere Sinne zeigen zufrieden geben; wir müssen einen objektiven, nicht mehr an bestimmte Perspektiven gebundenen Zugang zu den Dingen finden.23 So verstehen wir was wir zunächst als ein rundes Ding mit Henkeln sehen 21 22 23

Kritik der reinen Vernunft, A58/B82. Kritik der reinen Vernunft, B71 Anmerkung. Vgl. Harries: Infinity and Perspective, S. 309-317; Harries, Art Matters: A Critical Commentary on Heidegger’s „The Origin of the Work of Art“, New York 2009, S. 125-138.

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als subjektive Erscheinung eines kugelförmigen, von Ringen umgebenen Objekts. Ein solches Verstehen übersetzt das Gesehene ins Begriffliche. Solche Objekte versucht die Wissenschaft zu beschreiben. Verstehen wir Wahrheit mit Kant als Angleichung unserer Gedanken und Aussagen an die Dinge, so muss die von der Naturwissenschaft gesuchte Wahrheit als Angleichung an die „Objekte an sich“ verstanden werden. So verstanden entzieht sich die Wahrheit prinzipiell der sinnlichen Wahrnehmung. Sie wird uns nicht geschenkt, sondern muss erarbeitet werden. Aber was so erarbeitet wird ist immer nur eine auf Erfahrung beruhende, begriffliche Rekonstruktion des Objekts, welche als regulative Idee der Naturwissenschaft die Richtung weist. Und solche Rekonstruktionen müssen sich einer Sprache bedienen, die sich so weit wie möglich von jeder Perspektivgebundenheit befreit hat. Das erklärt die Hinwendung der Wissenschaft zur Mathematik. Aber Kant will die Objekte die der Naturwissenschaft die Richtung weisen nicht mit den Dingen an sich verwechselt wissen. Die Objekte die die Naturwissenschaft zu begreifen versucht bleiben an die Erfahrung gebundene Erscheinungen, zwar nicht mehr sinnlich erfahrbar, aber doch noch auf Raum und Zeit als die reinen Anschauungen, die jede Erfahrung voraussetzt, bezogen. Nun mag man einwenden, dass Relativitätstheorie und Elementarphysik Kant und seine Auffassung von Zeit und Raum als reine Anschauungen immer weiter hinter sich gelassen haben, bedeutet Raum doch für Kant immer noch den in der reinen Anschauung gegeben drei-dimensionalen euklidischen Raum, während die Physik uns den Raum immer entschiedener als nicht unmittelbar gegeben sondern als etwas dessen Struktur erst in der mathematischen Rekonstruktion der Wirklichkeit erarbeitet werden muss verstehen lässt. So muss die Physik der Elementarteilchen auch mit mehrdimensionalen Räumen rechnen. Damit aber verstärkt sich nur die Unanschaulichkeit der Wirklichkeit die die Naturwissenschaft zu begreifen sucht. Unsere Einbildungskraft hilft uns hier nicht weiter. So nennt McDermott diese Wirklichkeit zurecht bizarr. Dass es weiter die Erfahrung ist, die über den Wahrheitsanspruch solcher Rekonstruktionen entscheidet, ändert daran nichts. Aber ist die Welt die die Physik uns entdeckt die einzige Welt, die wir wirklich verstehen? Dass unser Bestreben die Natur zu begreifen uns zwangsläufig zu solchen mathematischen Rekonstruktionen führt muss zugegeben werden. Aber was heißt: etwas

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wirklich verstehen? Vermag es unsere Vernunft, die Wirklichkeit auszuloten? Kants Antinomien stellen die Kommensurabilität unserer Vernunft und der Wirklichkeit die Neuraths Grundsatz voraussetzt nicht nur in Frage, sondern beweisen ihre Unhaltbarkeit. Die Antinomie des Seins zwingt uns Neuraths Grundsatz aufzugeben und damit erübrigt sich auch McDermotts Versuch eine zeitgemäße Variante der doppelten Wahrheit plausibel zu machen. Und doch gibt es sehr viel, wobei ich McDermott zustimmen muss. Auch ich finde es unmöglich, nicht an der Wahrheit von was McDermott unausweichliche Rahmenillusionen nennt festzuhalten, nur scheint mir das Wort „Illusion“ nicht gerechtfertigt. Auch ich würde hier, wie McDermott, und wie auch schon Kant, unter anderem den Glauben an einen freien Willen und dass wir Zeit unseres Lebens dieselben bleiben nennen. McDermotts inescapable framework illusions erinnern an Kants Vernunftideen. Aber obwohl die Naturwissenschaft mit diesen Ideen nichts anzufangen weiß, sind sie darum falsch? Nach McDermott zwingt uns unsere Natur, gewisse Grundansichten für wahr zu halten, die aber objektiv betrachtet falsch sind.24 Die Freiheit des Willens ist, so McDermott, ein solcher Irrtum, obwohl sie subjektiv wahr ist. Die Frage ist: wie kann ich etwas für wahr halten, von dem ich weiß, dass es falsch ist. Hat Thomas von Aquin nicht recht, wenn er meint, die Wahrheit binde die Freiheit. Dostojewskis Untergrundmensch mag 2+2=5 2+2=4 vorziehen. Aber darum ist ihm diese Aussage doch nicht wahr. Nun sagen wir, wir stehen auf festem Boden, und wissen doch, dass die Erde sich bewegt. Aber hier ist der Widerspruch nur scheinbar, denn wir wissen um die verschiedenen Perspektiven die diese Aussagen voraussetzen. Können wir Analoges auch von unserer Freiheit sagen? Das Merkwürdige bei diesem Freiheit des Willens Irrtum ist, dass es uns unmöglich ist, ihn zu korrigieren, wenigstens wenn es um ein Betrachten unserer eigenen Entschlüsse geht. Das hat seinen Grund darin, dass unsere Gehirne so gestaltet [„wired“] sind, dass wir eine Entscheidung, wenn wir sie gerade treffen, als nicht durch das Kausalgesetz gebunden verstehen müssen. […] Es wäre völlig sinnlos für ein Gehirn, kausales Denken, zum Beispiel Simulation oder irgendeine andere „Modeling Technique“ benutzen zu wollen, um vo24

McDermott, Draft, S. 30.

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rauszusagen, was es tun wird, denn was es tun wird wird von der Berechnung abhängen in deren Mitte es sich gerade befindet. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass ein jeder solcher Versuch durch den „hard-wired“ Glauben blockiert wird, dass die Entscheidung, die wir gerade jetzt erwägen, nicht kausal determiniert ist. Es ist dieser „hard-wired“ Glaube, den wir introspektiv als Freiheit erfahren.25

Auch den Glauben an eine absolute ethische Wahrheit hält McDermott für eine solche inescapable framework illusion. Und so schließt er seinen Essay mit der Forderung religiöser Toleranz. Diese hält er für einen absoluten ethischen Grundsatz: Vor dem Aufkommen verschiedener evangelisierender Monotheismen auf der Weltbühne war dieser Grundsatz zumeist unnötig und die Europäer brauchten mehrere Jahrhunderte bis sie sich bewusst wurden, dass ohne diesen Grundsatz zu viele Menschen im Diesseits ihr Leben verlieren würden, ohne die Frage entscheiden zu können, wer das Jenseits regiert. Dann breitete sich die europäische Kultur über den größten Teil der Welt aus, aber es gibt immer noch Regionen, die von der Idee dieser Toleranz unberührt geblieben sind. Und ich hoffe sehr, dass wir mit dieser Idee durchdringen, ohne zu vielen Menschen das Leben zu kosten. Denn das Toleranzprinzip ist, fragen Sie mich, eine absolute ethische Wahrheit.26

Hier aber stellt sich die Frage, wenn die „Wahrheit“ dieser Idee, wie McDermott hier zugibt, erst als Folge der europäischen Aufklärung als solche erkannt wurde, wie kann er diese Idee dann als unumstößliche, weil hard-wired, framework illusion verstehen? Aber diese subjektiv erfahrene absolute Wahrheit – auch darauf besteht McDermott – bleibt objektiv gesehen ein Irrtum. Und so stimmt er J. L. Mackie zu, wenn dieser in „Ethics, Inventing Right and Wrong“ (1977) schreibt, „Moralisches Denken ist unumgänglich mit grundsätzlichen Irrtümern durchdrungen.“27 Der Glaube an Freiheit, an ein fortdauerndes Ich, an absolute Werte seien solche Irrtümer. McDermott ist Materialist und meint die Naturwissenschaft im Besitz des Schlüssels zu allem Seienden. Er sieht aber auch die Unglaubwürdigkeit eines solchen Materialismus. Unglaubwürdigkeit jedoch dürfe nicht mit Falschheit verwechselt werden.28 Aber 25 26 27 28

Ebd., S. 7. Ebd., S. 32. Ebd., S. 5. Ebd., S. 13.

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können wir wirklich sagen: ich weiß, X ist falsch, aber nichtsdestoweniger glaube ich X, halte es sogar für eine absolute Wahrheit? Ich sehe hier eine Antinomie und mit Kant sehe ich die Auflösung solcher Antinomien im Hinweis auf eine Wirklichkeit, die unsere Erkenntnis übersteigt. McDermott will uns einen anderen Weg aus dieser Antinomie zeigen: „Aber wenn der Materialismus eine Erklärung seiner eigenen Unglaubwürdigkeit geben kann, eine Erklärung die ich oben skizziert habe, dann verliert der Schluss von seiner Unglaubwürdigkeit auf seine Falschheit was auch immer Plausibilität er einmal besessen haben mag.“ Heidegger, so meint McDermott, gäbe uns eine überzeugende Darstellung unserer inescapable framework intuitions und könne sie so wahr nennen, aber Wahrheit bliebe hier an den Standpunkt der ersten Person gebunden. Der Standpunkt der Naturwissenschaft ist der der dritten Person. Das Weltverständnis der ersten Person sei ein Glaubenssystem das Gehirne bewohnen, ein Netz von inescapable framework intuitions, das es mit sich bringt, dass wir nie die Wahrheit der Naturwissenschaft als die ganze Wahrheit werden anerkennen können. Keinem denkbaren, bewusst Handelnden, sei es ein Organismus oder eine Maschine, ist es möglich, allen inescapable framework intuitions zu entrinnen. Und ich gebe zu, so oder ähnlich, muss die Naturwissenschaft menschliches Handeln verstehen. McDermott meint, dass der Fortschritt der Naturwissenschaft, den Bereich der inescapable framework intuitions eingeengt habe. Sie ganz zu eliminieren sei ihr unmöglich; und doch müssen die Naturwissenschaftler auf ihrer Falschheit bestehen.

4.5 Physik und Lebenswelt Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Theorie der doppelten Wahrheit. Was heißt hier „Wahrheit“? McDermott gibt zu, dass zunächst und zumeist wir die Dinge unserer Umwelt anders verstehen als der die Wahrheit suchende Naturwissenschaftler, der Objektivität fordern muss. So lässt unser Naturforscher das Verstehen des Alltags hinter oder unter sich. Wie aber verstehen wir die Dinge, zunächst und zumeist? Und da McDermott sich auf Heidegger beruft, als Antwort hier ein Zitat aus Sein und Zeit:

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4. SACKGASSEN UND HOLZWEGE

Die Griechen hatten einen angemessenen Terminus für die ‚Dinge‘: pragmata, d. i. das, womit man es im besorgenden Umgang (praxis) zu tun hat. Sie ließen aber ontologisch gerade den spezifisch ‚pragmatischen‘ Charakter der pragmata im Dunkeln und bestimmten sie ‚zunächst‘ als ‚bloße Dinge‘. Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug. Im Umgang sind vorfindlich Schreibzeug, Nähzeug, Werk-, Fahr-, Meßzeug. Die Seinsart von Zeug ist herauszustellen. Das geschieht am Leitfaden der vorherigen Umgrenzung dessen, was ein Zeug zu Zeug macht, der Zeughaftigkeit.29

Hier haben wir den Schlüssel zu Heideggers Nähe zum Pragmatismus.30 Aber wenn wir die Dinge zunächst und zumeist so verstehen, warum dann hat die Philosophie die Dinge anders verstanden, nicht als Zeug, sondern als Dinge, die einfach da sind für ein den täglichen Umgang mit den Dingen hinter sich lassendes Sehen und Verstehen? Die Antwort gibt uns die Geschichte vom Brunnensturz des zu den Sternen aufblickenden Astronomen und ersten Philosophen Thales. Wer mitten im Leben steht, hat keine Zeit für Philosophie. Der Pathos der Wahrheit fordert Abstand vom Alltag mit seinen Sorgen. In dieser Welt ist der Philosophie nicht so recht zuhause. In den Philosophischen Untersuchungen schreibt Ludwig Wittgenstein philosophische Probleme hätten die Form: ich kenne mich nicht aus. Dieser Wegverlust ist Voraussetzung unserer Naturwissenschaft. Zunächst und zumeist erfahren wir die Dinge nicht als einfach Vorhandenes. Zwei Naturbegriffe stehen sich hier gegenüber. Natur darf aber hier nicht als das nur noch Vorhandene verstanden werden – auch nicht als Naturmacht. Der Wald ist Forst, der Berg Steinbruch, der Fluß Wasserkraft, der Wind ist Wind ‚in den Segeln‘. Mit der entdeckten ‚Umwelt‘ begegnet die so entdeckte ‚Natur‘. Von deren Seinsart als zuhandener kann abgesehen, sie selbst lediglich in ihrer puren Vorhandenheit entdeckt und bestimmt werden. Diesem Naturentdecken bleibt aber auch die Natur als das, was ‚webt und strebt‘, uns überfällt, als Landschaft gefangen nimmt, verborgen. Die Pflanzen des Botanikers sind nicht Blumen am Rain, das geographisch fixierte „Entspringen“ eines Flusses ist nicht die „Quelle im Grund“.31

29

30

31

Martin Heidegger: Sein und Zeit, Gesamtausgabe, Bd 2, Frankfurt a. M., 1976, S. 92. Vgl. Mark Okrent: Heidegger's Pragmatism: Understanding, Being, and the Critique of Metaphysics. Ithaca 1988. Sein und Zeit, S. 95.

4. SACKGASSEN UND HOLZWEGE

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Ganz ähnlich stellt McDermott dem unpersönlichen Standpunkt der dritten Person, der die Wahrheitssuche der Naturwissenschaft regiert, den Standpunkt der ersten Person entgegen. Als Naturwissenschaftler privilegiert McDermott den Standpunkt der dritten Person, als Phänomenologe privilegiert Heidegger hier den Standpunkt der Lebenswelt und d. h. der ersten Person, allerdings im Plural. Aber stehen sich in diesem Zitat nur zwei Naturbegriffe gegenüber? Ist die als Quelle von Rohmaterial gesehene Natur auch die Natur, die webt und strebt und die wir als Quelle im Grund erfahren? Was ist ihr Sein? Weder der Naturbegriff der Wissenschaft, noch Heideggers pragmatischer Naturbegriff genügen hier. Ein dritter Naturbegriff ist vonnöten. Erst im Kunstwerkaufsatz wird Heidegger das hier nur kurz Angedeutete thematisieren. Und warum drei. Warum nicht weitere hinzufügen wie z. B. den Naturbegriff der Religion? Heidegger warnt uns, den Naturbegriff der Wissenschaft nicht zu privilegieren. Wenn wir z. B. die Zuhandenheit eines Hammers erfahren, gibt uns das nicht ein wirklichkeitsnäheres Verständnis des Dinges in unserer Hand? Der je auf das Zeug zugeschnittene Umgang, darin es sich einzig genuin in seinem Sein zeigen kann, z. B. das Hämmern mit dem Hammer, erfaßt weder dieses Seiende thematisch als vorkommendes Ding, noch weiß etwa gar das Gebrauchen um die Zeugstruktur als solche. Das Hämmern hat nicht lediglich noch ein Wissen um den Zeugcharakter des Hammers, sondern es hat sich dieses Zeug so zugeeignet, wie es angemessener nicht möglich ist.32

Zunächst und zumeist erfahren wir die Dinge in ihrer Zuhandenheit. Das muss zugegeben werden und auch Mc Dermott könnte dem ohne Weiteres zustimmen. Aber bedeutet zeitliche auch ontologische Priorität? Gibt uns unser alltäglicher Umgang mit den Dingen einen angemesseneren Zugang zu ihrem Sein? McDermott würde das leugnen: den angemessensten Zugang zur Wahrheit, würde er sagen, gibt uns die Naturwissenschaft. Aber was heißt hier „angemessen“? Wo findet solche Angemessenheit ihr Maß?

32

Ebd, S. 32.

5. Grenzen der Wissenschaft

5.1 Die Sinnlosigkeit der Welt Wir sahen wie McDermott die Unglaubwürdigkeit des wissenschaftlichen Weltbildes betont, ohne jedoch deswegen dessen Richtigkeit in Frage zu stellen. Auch er sieht, dass dieses Weltbild keinen Raum hat für Freiheit, Werte oder Gott. So verstanden ist das wissenschaftliche Weltbild wesentlich nihilistisch. Und mit dieser Ansicht kann sich McDermott auf eine lange Tradition berufen, zu der auch Jacobi, Fichte, Schopenhauer, Nietzsche und Wittgenstein gehören. Hier ein paar Sätze aus Wittgensteins Tractatus1: 6.41 Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muss er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und SoSein ist zufällig. Was es nichtzufällig macht, kann nicht in der Welt liegen, denn sonst wäre dies wieder zufällig. Es muss außerhalb der Welt liegen.

Der erste Satz des Tractatus definiert Welt als „alles, was der Fall ist.“ Vgl. auch 1.13: „Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt.“ Warum die Tatsachen so sind wie sie es eben sind lässt sich im Grunde nicht erklären. Die Welt könnte auch ganz anders oder überhaupt nicht sein. Achten müssen wir auf wie Wittgenstein Sinn hier versteht: Wir erfahren etwas als sinnvoll wenn wir es als nicht zufällig erfahren, wie z. B. ein gelungenes Kunstwerk. So hätte die Welt einen Sinn, wenn wir sie als eine Welt, die ihren zureichenden Grund in Gott hat, erfahren könnten. So lässt uns die Religion und so lassen uns Leibniz und Spinoza die Welt verstehen. Aber die vorausgesetzte Gottesidee ist selber grundlos. So bleibt die so 1

Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, London, 1922.

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5. GRENZEN DER WISSENSCHAFT

verstandene Welt eine ästhetische Konstruktion, die die Welt überspringt. Gedanken versteht Wittgenstein als logische Bilder der Tatsachen. 3.1 Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus.

Ob ein sinnvoller Satz wahr oder falsch ist, entscheiden die Tatsachen. Aber die Sätze der Ethik können sich nicht auf irgendwelche Tatsachen berufen. Sie sind also sinnlos. 6.42 Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.

Aber was heißt hier „höher“? Höher wäre was uns die Welt als nicht zufällig erfahren lässt. In der Liebe oder der Religion oder der Kunst begegnen wir so dem Höheren. Aber dieses Höhere lässt sich nicht begreifen. Ich erinnere an Hofmannsthals in verschiedener Hinsicht verwandten Chandos Brief: Was höher ist kann nicht gesagt werden. 6.421 Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen lässt. Die Ethik ist transzendental. (Ethik und Ästhetik sind Eins.)

Aber lässt sich „etwas aussprechen“ auf das reduzieren, was Wittgenstein im Tractatus unter sinnvollem Sprechen versteht. Dass dies verfehlt ist, musste Wittgenstein bald einsehen. So stellt er in den Philosophischen Untersuchungen unser alltägliches Sprechen zwischen die logisch korrekte, und eben darum prinzipiell übersetzbare Sprache, die der Naturwissenschaft als Ideal vorschwebt, und der unübersetzbaren Sprache der Dichtung. Die Dichtung gelingt es zuweilen das Höhere zu sagen aber ohne Anspruch auf Wahrheit, wie sie die Naturwissenschaft fordert.

5.2 „Nur gesetzmäßige Zusammenhänge sind denkbar“ Wie versteht Wittgenstein die Naturwissenschaft? Zur Erklärung dient ihm ein Bild: 6.341 Die Newtonsche Mechanik z.B. bringt die Weltbeschreibung auf eine einheitliche Form. Denken wir uns eine weiße Fläche, auf

5. GRENZEN DER WISSENSCHAFT

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der unregelmäßige schwarze Flecken wären. Wir sagen nun: Was für ein Bild immer hierdurch entsteht, immer kann ich seiner Beschreibung beliebig nahe kommen, indem ich die Fläche mit einem entsprechend feinen quadratischen Netzwerk bedecke und nun von jedem Quadrat sage, dass es weiß oder schwarz ist. Ich werde auf diese Weise die Beschreibung der Fläche auf eine einheitliche Form gebracht haben. Diese Form ist beliebig, denn ich hätte mit dem gleichen Erfolg ein Netz aus dreieckigen oder sechseckigen Maschen verwenden können. Es kann sein, dass die Beschreibung mit Hilfe eines Dreiecks-Netzes einfacher geworden wäre; das heißt, dass wir die Fläche mit einem gröberen Dreiecks-Netz genauer beschreiben könnten als mit einem feineren quadratischen (oder umgekehrt) usw. Den verschiedenen Netzen entsprechen verschiedene Systeme der Weltbeschreibung. Die Mechanik bestimmt eine Form der Weltbeschreibung, indem sie sagt: Alle Sätze der Weltbeschreibung müssen aus einer Anzahl gegebener Sätze – den mechanischen Axiomen – auf eine gegebene Art und Weise erhalten werden. Hierdurch liefert sie die Bausteine zum Bau des wissenschaftlichen Gebäudes und sagt: Welches Gebäude immer du aufführen willst, jedes musst du irgendwie mit diesen und nur diesen Bausteinen zusammenbringen.

Die leere Seite steht hier für den Raum alles Möglichen. Nur ein Teil dieses Raumes ist besetzt: die Flecken stehen für das Wirkliche. Sie könnten auch anders sein. Es gibt unendlich viele mögliche Welten. Die Wissenschaft versucht das Wirkliche in seiner Gesamtheit darzustellen mittels geeigneter Darstellungsformen. Entscheidend ist hier der Anspruch, ein Gesamtbild zu liefern, der Anspruch auf Systematik. Die Darstellungsform der Mechanik basiert so auf einer kleinen Zahl von Axiomen. Um ihrer Aufgabe zu genügen, müssen diese Axiome dem Wesen der Natur irgendwie entsprechen. Sie gründen also in einer Bestimmung des Wesens der Natur. Jede Naturwissenschaft setzt so etwas wie eine Metaphysik der Natur voraus, mag sie auch das Wort ablehnen und meinen, von allen metaphysischen Fragen nichts wissen zu wollen. Ein gutes Beispiel eines solchen Axioms ist das in Platons Timaios erstmals aufgestellte Axiom, dass die Bewegung der Himmelskörper kreisförmig und uniform oder aus solchen Bewegungen zusammengesetzt sein müsse. Erst Kepler erwies die Falschheit dieses Axioms. Damit wurde eine neue Grundlegung der Naturwissenschaft nötig. Daran arbeiteten Philosophen von Kepler bis Newton. Wittgenstein weiß, dass solch Axiome, obgleich immer einer vermeintlichen Einsicht in das Wesen der Natur entsprechend, nur

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5. GRENZEN DER WISSENSCHAFT

menschliche Konstruktionen sind, die keinen Anspruch auf Endgültigkeit erheben können. Für solche Axiome gibt es keine Begründungen a priori. Was in der Wissenschaft a priori ist, ist nach Wittgenstein allein was alle möglichen Darstellungsformen konstituiert: ihre logische, mathematische Form. 6.342 Und nun sehen wir die gegenseitige Stellung von Logik und Mechanik. (Man könnte das Netz auch aus verschiedenartigen Figuren etwa aus Dreiecken und Sechsecken bestehen lassen.) Dass sich ein Bild, wie das vorhin erwähnte, durch ein Netz von gegebener Form beschreiben lässt, sagt über das Bild nichts aus. (Denn dies gilt für jedes Bild dieser Art.) Das aber charakterisiert das Bild, dass es sich durch ein bestimmtes Netz von bestimmter Feinheit vollständig beschreiben lässt. So auch sagt es nichts über die Welt aus, dass sie sich durch die Newtonsche Mechanik beschreiben lässt; wohl aber, dass sie sich so durch jene beschreiben lässt, wie dies eben der Fall ist. Auch das sagt etwas über die Welt, dass sie sich durch die eine Mechanik einfacher beschreiben lässt als durch die andere.

Besonders der Satz „Das aber charakterisiert das Bild, dass es sich durch ein bestimmtes Netz von bestimmter Feinheit vollständig beschreiben lässt“ lädt zu Fragen ein: Lassen sich die Flecken im Bild je adäquat mit Hilfe eines quadratischen Netzes beschreiben? Dann müssten die Flecken eine quadratische Form haben. Nehmen wir aber an, der Fleck im Bild sei ein Kreis. Eine vollständige Beschreibung würde die Quadratur des Kreises bedeuten. Deren Unmöglichkeit ist heute bewiesen worden: π ist eine irrationale Zahl. Interessant ist dabei, dass sich das Verhältnis vom Durchmesser zum Umkreis ohne weiteres sehen lässt. Das zeigt, dass unser Sehen die Vernunft oder Ratio, die das gesehene Verhältnis als Verhältnis zweier ganzer Zahlen darstellen möchte, übersteigt. Erst 1768 konnte Johann Heinrich Lambert die Irrationalität von π beweisen. Aber das Verhältnis lässt sich auch nicht mit solch algebraischen Operationen wie Addition, Quadrierung und Wurzeln erfassen. π lässt sich auch nicht geometrisch konstruieren. So nennen wir π nicht nur, wie die Wurzel von 2, eine irrationale, sondern auch eine transzendente Zahl. Schon die Griechen bestürzte die Irrationalität der Welt. So soll Pythagoras seine Entdeckung der Irrationalität der Wurzel von 2 zutiefst beunruhigt haben. Zuerst soll man versucht haben, diese traurige Entdeckung geheim zu

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halten und der unglückliche Mensch, der dieses Geheimnis dann doch verriet, soll im Meer ertrunken sein. Aber kehren wir zu Wittgenstein zurück: 6.343 Die Mechanik ist ein Versuch, alle wahren Sätze, die wir zur Weltbeschreibung brauchen, nach Einem Plane zu konstruieren. 6.3431 Durch den ganzen logischen Apparat hindurch sprechen die physikalischen Gesetze doch von den Gegenständen der Welt. Gesetze, wie der Satz vom Grunde, etc., handeln vom Netz, nicht von dem, was das Netz beschreibt.

Demnach ist der Satz vom Grund a priori gegeben und bestimmt: etwas das die Vernunft, in ihrem Versuch, die Natur zu verstehen, ohne sich irgendwie auf Erfahrung zu stützen, immer schon mitbringt. Die Frage ist nun: wie haben wir die ontologische Bedeutung dieses Satzes zu verstehen? Gehört er zum Wesen des Seins? 6.36 Wenn es ein Kausalitätsgesetz gäbe, so könnte es lauten: ‚Es gibt Naturgesetze‘. Aber freilich kann man das nicht sagen: es zeigt sich.

Es zeigt sich in der Arbeitsweise der Wissenschaft. Aber, dass die Natur uns dieses Gesetz zeigt, ist doch mehr als nur ein glücklicher Zufall; es ist die notwendige Voraussetzung unserer Fähigkeit überhaupt die Natur denken und erforschen zu können. 6.361 In der Ausdrucksweise Hertz’s könnte man sagen: Nur gesetzmäßige Zusammenhänge sind denkbar.

Wittgenstein versteht hier den Satz vom Grund als Voraussetzung alles Denkbaren, „denkbar“ verstanden als was klar und deutlich gedacht und das heißt wahr oder falsch sein kann – wobei ich an Descartes denke. Aber was erlaubt uns zu meinen, dass ein solches klar und deutliches Denken der Natur im Ganzen gerecht wird? Stellt das Bild das Wittgenstein uns gibt nicht solche Zuversicht in Frage? Was in den abgebildeten Flecken, um bei seinem Bild zu bleiben, entspricht den Winkeln der Drei-, Vier- und Sechsecke, die seine Netze formen? Wie beziehen sich Wittgensteins Sätze auf die abgebildeten Tatsachen? Im Tractatus kommt es hier zu einer gewissen Unklarheit in der sich die Antinomie des Seins spiegelt. Das Bild,

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5. GRENZEN DER WISSENSCHAFT

das er uns in 6.341 gibt, lädt uns ein, die abgebildete Natur als jede Abbildung, die uns die Naturwissenschaft geben kann, übersteigend zu denken. Verallgemeinernd: die Wirklichkeit übersteigt die Reichweite der Logik und im Tractatus heißt das auch, der Sprache. Die Natur übersteigt den Bereich der Ratio. Aber auch dies gilt, um es noch einmal zu wiederholen: alles was uns irgendetwas bedeuten kann, muss sich sagen lassen. Und gilt das nicht auch von der Wirklichkeit? „Kein Ding sei wo das Wort gebricht.“ Die Ratio baut dem Sein das Haus. So verstanden übersteigen Logik und Sprache die Wirklichkeit. Die Antinomie des Seins gehört zum Wesen des Seins. Das war es, was schon die Pythagoreer so bestürzte.

5.3 Bilder und Modelle Wittgenstein nennt kaum Namen im Tractatus. Im Vorwort lesen wir, es sei ihm gleich, ob Ähnliches schon vor ihm gedacht wurde. Frege und Russell werden erwähnt – sonst fast niemand. Das macht den oben zitierten Bezug auf Heinrich Hertz umso bemerkenswerter. Ihm verdankte Wittgenstein mehr als nur sein Bild der Mechanik. Hertz bot ihm eine mustergültige Formulierung der naturwissenschaftlichen Arbeitsweise. Hertz meinte mit nur drei Grundbegriffen, Raum, Zeit, und Masse, und einem einzigen Grundgesetz auskommen zu können. Hier ein paar Sätze aus der Einleitung seiner Prinzipien der Mechanik: Es ist die nächste und in gewissem Sinne wichtigste Aufgabe unserer bewußten Naturerkenntnis, dass sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Voraussicht unser gegenwärtiges Handeln einrichten zu können. Als Grundlage für die Lösung jener Aufgabe der Erkenntnis benutzen wir unter allen Umständen vorangegangene Erfahrungen, gewonnen durch zufällige Beobachtungen oder durch absichtlichen Versuch. Das Verfahren aber, dessen wir uns zur Ableitung des Zukünftigen aus dem Vergangenen bedienen, ist dieses: Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, dass die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. Damit diese Forderung überhaupt erfüllbar sei, müssen gewisse Übereinstimmungen vorhanden sein zwischen der Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung lehrt uns, dass die

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Forderung erfüllbar ist und dass also solche Übereinstimmungen in der Tat bestehen. Ist es uns einmal geglückt, aus der angesammelten Erfahrung Bilder von der verlangten Eigenschaft abzuleiten, so können wir an ihnen, wie an Modellen, in kurzer Zeit die Folgen entwickeln, welche in der äußeren Welt erst in längerer Zeit oder als Folge unseres Eingreifens auftreten werden; wir vermögen so den Tatsachen vorauszueilen und können nach der gewonnenen Einsicht unsere gegenwärtigen Entschlüsse richten. – Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Übereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten Forderung liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, dass sie irgend eine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben. In der Tat wissen wir auch nicht und haben auch kein Mittel zu erfahren, ob unsere Vorstellungen von den Dingen mit jenen in irgendetwas anderem übereinstimmen als allein in eben jener einen fundamentalen Beziehung.2

Die Konformität der Natur und unserer Gedanken bestätigt unsere Erfahrung, nicht irgendwelche bestimmten Erfahrungen, sondern das Wesen der Erfahrung. Ohne eine solche Konformität wäre Erfahrung unmöglich. Diese Konformität ist also a priori gegeben. Wenn wir uns nun Bilder der Natur machen wollen, welche Form der Darstellung sollten wir hier wählen. Hier stellt Hertz drei Forderungen: 1. Sie dürfen unseren Denkgesetzen nicht widersprechen. Die Logik muss sie erlauben. Sie müssen zulässig sein. 2. Sie müssen richtig sein, d.h. mit unseren Erfahrungen der Wirklichkeit übereinstimmen. 3. Sie müssen angemessen sein: ein Bild ist angemessener als ein anderes wenn es die wesentlichen Beziehungen vollständiger abbildet, d. h. wenn es deutlicher ist. Und von zwei gleich deutlichen Bildern ist das angemessener, das mit Weniger auskommt, weniger Überflüssiges enthält, das einfacher ist. Hertz versteht die Mechanik als angemessene Darstellung der Natur und seine Darstellung der Mechanik, weil einfacher und eleganter, als angemessener, braucht er doch nur seine drei Grundbegriffe und ein einziges Axiom. 2

Heinrich Hertz: Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt. Unveränderter fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1894 (=Gesammelte Werke, Band III). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963.

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Mit seinem Versuch mit nur drei Grundbegriffen, Raum, Zeit und Masse auszukommen, erinnert Hertz an Schopenhauer. Auch ihm verdankte der junge Wittgenstein Wesentliches. Schopenhauer bestritt jedoch die Möglichkeit, alle Sätze, die wir für eine Beschreibung der Welt brauchen, nach einem einzigen Plan (6. 343) zu bilden. Wäre dies möglich, gäbe es im Grunde nur eine Wissenschaft, nur eine Art der Erklärung. Für McDermott, und nicht nur für ihn, ist dies die Physik. Immer wieder begegnen wir der Hoffnung alle Darstellungen der Welt auf die Mechanik, oder besser noch, wie schon Pythagoras hoffte, auf die Mathematik zu reduzieren. Letzteres lässt sich allerdings mit einem a priori Argument widerlegen. Alles auf die Mathematik reduzieren, hieße die Wirklichkeit aus den Augen verlieren: Wir könnten nicht mehr das von uns konstruierte Bild vom Abgebildeten unterscheiden. Damit verlöre das Bild seinen Bildcharakter. Aber die Reduktion aller Wissenschaften auf die Mechanik, d. h. die Physik, lässt sich nicht ähnlich zurückweisen. Im Gegenteil: Fordert das logische Wesen der Sprache, so wie es Wittgenstein im Tractatus versteht, nicht eine solche Reduktion?

5.4 Kants Grundlegung der Naturwissenschaft Nicht nur Wittgenstein dachte so. Ähnlich dachte schon Kant. Sein Verstehen der Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft ist aufschlussreich: Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewissheit apodiktisch ist; Erkenntnis, die bloß empirische Gewissheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen. Dasjenige Ganze der Erkenntnis, was systematisch ist, kann schon darum Wissenschaft heißen, und, wenn die Verknüpfung der Erkenntnis in diesem System ein Zusammenhang von Gründen und Folgen ist, sogar rationale Wissenschaft. Wenn aber diese Gründe oder Prinzipien in ihr, wie z. B. in der Chemie, doch zuletzt bloß empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebene Facta durch die Vernunft erklärt werden, bloß Erfahrungsgesetze sind, so führen sie kein Bewusstsein ihrer Notwendigkeit bei sich (sind nicht apodiktisch-gewiß), und alsdenn verdient das Ganze in strengem

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Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft, und Chymie sollte daher eher systematische Kunst, als Wissenschaft heißen.3

Wie haben wir den ersten Satz zu verstehen? Würde das nicht bedeuten, dass nur die Mathematik den Anspruch eigentliche Wissenschaft zu sein erheben darf, spielt doch bei allen anderen Wissenschaften die Erfahrung eine entscheidende Rolle. Darf der Wissenschaftsbegriff so eingeengt werden? Genügt nicht allein die von der Erfahrung bestätigte systematische Darstellung der Natur, wie wir sie z. B. in der Systema Naturæ des von Rousseau und Goethe so bewunderten Botanikers Carolus Linnaeus finden, von Wissenschaft zu sprechen? Kant räumt dies ein. Von eine „rationalen Wissenschaft“ allerdings fordert er mehr: sie muss uns ein System von Gründen und Folgen liefern, d.h. sie muss Kausalgesetze aufstellen. Die Naturwissenschaft des Aristoteles kann so eine rationale Wissenschaft genannt werden. Sie kennt durchaus Kausalgesetze. Und doch fehlt hier etwas Entscheidendes: dadurch z.B., dass Aristoteles seine Tafel der vier Elemente aus den Eigenschaften heiß und kalt, trocken und nass aufbaut und damit die Organisation der menschlichen Sinne voraussetzt, verliert seine Physik den Anspruch auf Objektivität, einen Anspruch den was Kant „eigentliche Wissenschaft“ nennt erheben muss. „Eigentliche Wissenschaft“ kann nur eine Disziplin genannt werden, deren Gesetze nicht bloß Erfahrungsgesetze sind. Das heißt nicht, dass sie ihren Inhalt nicht auch der Erfahrung entnehmen muss, aber die Form dieser Gesetze muss a priori begründbar sein. Sie muss also nach Kant ihren Grund in einer Metaphysik der Natur besitzen, die sich a priori begründen lässt. Eine rationale Naturlehre verdient also den Namen einer Naturwissenschaft nur alsdenn, wenn die Naturgesetze, die in ihr zum Grunde liegen, a priori erkannt werden, und nicht bloße Erfahrungsgesetze sind. Man nennt eine Naturerkenntnis von der ersteren Art rein; die von der zweiten Art aber wird angewandte Vernunfterkenntnis genannt. Da das Wort Natur schon den Begriff von Gesetzen bei sich führt, dieser aber den Begriff der Notwendigkeit aller Bestimmungen eines Dinges, die zu seinem Dasein gehören, bei sich führt, so sieht man leicht, warum Naturwissenschaft die Rechtmäßigkeit dieser Benennung nur von einem reinen Teil derselben, der nämlich die Prinzipien a priori aller übrigen Naturerklärungen enthält, ablei3

Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Riga 1786, S. v.

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ten müsse und nur kraft dieses reinen Teils eigentliche Wissenschaft sei, imgleichen dass, nach Forderungen der Vernunft, jede Naturlehre zuletzt auf Naturwissenschaft hinausgehen und darin sich endigen müsse, weil jene Notwendigkeit der Gesetze dem Begriffe der Natur unzertrennlich anhängt und daher durchaus eingesehen sein will; daher die vollständigste Erklärung gewisser Erscheinungen aus chymischen Prinzipien noch immer eine Unzufriedenheit zurücklässt, weil man von diesen, als zufälligen Gesetzen, die bloß Erfahrung gelehrt hat, keine Gründe a priori anführen kann.4

Um den Namen einer Wissenschaft wirklich zu verdienen, muss sich eine Disziplin nach Kant auf Prinzipien stützen können, die ihr a priori gegeben sind. Die Logik, wie sie Wittgenstein versteht, greift da, folgen wir Kant, zu kurz, denn sie kennt keine Kausalgesetze. Voraussetzung jeder Naturwissenschaft ist in der Tat, wie schon gesagt, eine Metaphysik, ob so genannt, ist hier unwichtig. Allerdings zeigt die Geschichte der Naturwissenschaft, dass es viele solche Metaphysiker gegeben hat und das heißt auch, dass eine solche Metaphysik der Natur sich nicht a priori begründen lässt. Was sich so begründen lässt, was Kant eine wahre Metaphysik nennt, ist bestenfalls die Form einer solchen Metaphysik. Alle wahre Metaphysik ist aus dem Wesen des Denkungsvermögens selbst genommen, und keinesweges darum erdichtet, weil sie nicht von der Erfahrung entlehnt ist, sondern enthält die reinen Handlungen des Denkens, mithin Begriffe und Grundsätze a priori, welche das Mannigfaltige empirischer Vorstellungen allererst in die gesetzmäßige Verbindung bringt, dadurch es empirisches Erkenntnis, d. i. Erfahrung, werden kann. So konnten also jene mathematischen Physiker metaphysischer Prinzipien gar nicht entbehren, und unter diesen auch nicht solcher, welche den Begriff ihres eigentlichen Gegenstandes, nämlich der Materie, a priori zur Anwendung auf äußere Erfahrung tauglich machen, als des Begriffs der Bewegung, der Erfüllung des Raums, der Trägheit, u.s.w. Darüber aber bloß empirische Grundsätze gelten zu lassen, hielten sie mit Recht der apodiktischen Gewißheit, die sie ihren Naturgesetzen geben wollten, gar nicht gemäß, daher sie solche lieber postulierten, ohne nach ihren Quellen a priori zu forschen. 5

Etwa erfahren heißt hier: etwas empirisch wissen. Erfahrung, so verstanden, ist grundsätzlich auf Wahrheit ausgerichtet.

4 5

Ebd., S. vi. Ebd., S. xiii.

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Was sind nun die Bedingungen, die ein solches Wissen und nicht nur Denken ermöglichen? Die geforderte Metaphysik wird von Kant transzendental begründet. Der Schritt zu Hertz und Wittgenstein ist dabei nicht groß. Denken wir an die Art wie Hertz, ohne Bezug auf den Kraftbegriff, in der Entwicklung seiner Mechanik nur mit den Grundbegriffen Raum, Zeit und Masse auskommen will. Diese werden vorausgesetzt. Voraussetzung dieser Mechanik ist somit eine Metaphysik der Natur. Diese Metaphysik kann sich auf Kants Grundlegung der Naturwissenschaft stützen. Raum und Zeit versteht Kant als die von jeder Erfahrung immer schon vorausgesetzten reinen Anschauungen, Materie als „das Bewegliche im Raume.“6 Im Zusammendenken von Raum und Zeit ist dieser Begriff der Materie gegeben. Kant unterscheidet nun einen transzendentalen von einem besonderen Teil der Metaphysik: Daher setzt eigentliche Naturwissenschaft Metaphysik der Natur voraus. Diese muß nun zwar jederzeit lauter Prinzipien, die nicht empirisch sind, enthalten (denn darum führt sie eben den Namen einer Metaphysik), aber sie kann doch entweder sogar ohne Beziehung auf irgend ein bestimmtes Erfahrungsobjekt, mithin unbestimmt in Ansehung der Natur dieses oder jenes Dinges der Sinnenwelt, von den Gesetzen, die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen, handeln, und alsdenn ist es der transszendentale Teil der Metaphysik der Natur: oder sie beschäftigt sich mit einer besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, dass außer dem, was in diesem Begriffe liegt, kein anderes empirisches Prinzip zur Erkenntnis derselben gebraucht wird (z. B. sie legt den empirischen Begriff einer Materie, oder eines denkenden Wesens, zum Grunde, und sucht den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese Gegenstände a priori fähig ist) und da muss eine solche Wissenschaft noch immer eine Metaphysik der Natur, nämlich der körperlichen oder denkenden Natur, heißen, aber es ist alsdenn keine allgemeine, sondern besondere metaphysische Naturwissenschaft (Physik und Psychologie), in der jene transzendentale Prinzipien auf die zwei Gattungen der Gegenstände unserer Sinne angewandt werden.7

Die besondere Metaphysik hat also eine empirische Komponente. Die Frage stellt sich nun: was hat dieser besondere Teil der Metaphysik mit dem rein transzendentalen zu tun? Im Grunde ist dies 6 7

Ebd., S. 1. Ebd., S. vii-viii.

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die Frage: inwiefern bestimmt die Mathematik die Form der Darstellung einer Wissenschaft? Denn eine reine Wissenschaft, und eben das unterscheidet sie von der Logik, muss ihren Inhalt dem was a priori gegeben ist entnehmen. Aber a priori gegeben sind für Kant nur die reinen Anschauungen, Raum und Zeit. Den Raum versteht Kant „als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist,“8 die Zeit als „die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt.“9 In beiden gründen apodiktisch synthetische Sätze, in der reinen Anschauung des Raumes die Sätze der Geometrie, in der reinen Anschauung der Zeit die Sätze der Arithmetik. Und da alle Naturerkenntnis Raum und Zeit voraussetzt, zeigt sich die mathematische Darstellungsform dem Wissenschaftler als die allein eigentlich wissenschaftliche. Der Wissenschaftler sucht was „für jeden menschlichen Sinn überhaupt gilt“ und lässt was „nur auf eine besondere Stellung oder Organisation dieses oder jenes Sinnes gültig ist“ zurück.10 Das heißt, der Wissenschaftler muss was sich seinen Sinnen zeigt mit einer mathematischen Rekonstruktion ersetzen. Die von der Wissenschaft geforderte Objektivität fordert die Mathematisierung der Natur. Aber die Chemie seiner Zeit, meinte Kant, ganz zu schweigen von der Psychologie, sei wissenschaftlich noch nicht genügend entwickelt um ihre Mathematisierung zu erlauben und könne darum kaum den Titel einer wahren Wissenschaft in Anspruch nehmen. Ich behaupte aber, dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist. Denn nach dem Vorhergehenden erfordert eigentliche Wissenschaft, vornehmlich der Natur, einen reinen Teil, der dem empirischen zum Grunde liegt und der auf Erkenntnis der Naturdinge a priori beruht. Nun heißt etwas a priori erkennen, es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen. Die Möglichkeit bestimmter Naturdinge, kann aber nicht aus ihren bloßen Begriffen erkannt werden; denn aus diesen kann zwar die Möglichkeit des Gedankens, (dass er sich selbst nicht widerspreche), aber nicht des Objekts, als Naturdinges erkannt werden, welches außer dem Gedanken (als existierend) gegeben werden kann. Also wird, um die Möglichkeit bestimmter Naturdinge, mithin um diese a priori zu erkennen, noch 8

Kritik der reinen Vernunft, A26/B42. Ebd, A34/B50. 10 Ebd, A45/B62 9

5. GRENZEN DER WISSENSCHAFT

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erfordert, dass die dem Begriffe korrespondierende Anschauung a priori gegeben werde, d. i. dass der Begriff konstruiert werde. Nun ist die Vernunfterkenntnis durch Konstruktion der Begriffe mathematisch. Also mag zwar eine reine Philosophie der Natur überhaupt, d. i. diejenige, die nur das, was den Begriff einer Natur im Allgemeinen ausmacht, untersucht, auch ohne Mathematik möglich sein, aber eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) ist nur vermittelst der Mathematik möglich, und, da in jeder Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntnis a priori befindet, so wird Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann.11

Kants Metaphysik der Natur verspricht also so etwas wie eine Grundlegung der von Neurath geforderten alles umfassenden Wissenschaft: Es kann noch zu einem zweiten Anpreisungsgrunde dieses Verfahrens dienen: dass in Allem, was Metaphysik heißt, die absolute Vollständigkeit der Wissenschaften gehofft werden kann, dergleichen man sich in keiner anderen Art von Erkenntnissen versprechen darf, mithin eben so, wie in der Metaphysik der Natur überhaupt, also auch hier die Vollständigkeit der Metaphysik der körperlichen Natur zuversichtlich erwartet werden kann.12

Die in der Kritik der reinen Vernunft dargestellten Bedingungen der Möglichkeit jeder Erfahrung genügen für eine Grundlegung der Physik als der eigentlichen Wissenschaft. Diese Grundlegung ist zugleich auch „die Grenzbestimmung des ganzen reinen Vernunftvermögens, mithin auch aller Metaphysik.“13 Aber jede solche Grenzziehung lässt uns zwangsläufig an was jenseits der gezogenen Grenze liegt denken, sei uns auch der Zugang zu diesem Jenseits verwehrt. Von besonderer Bedeutung ist hier eine Passage gegen Ende der Vorrede: Denn, wenn es erlaubt ist, die Grenzen einer Wissenschaft nicht bloß nach der Beschaffenheit des Objekts und der spezifischen Erkenntnisart desselben, sondern auch nach dem Zwecke, den man mit der Wissenschaft selbst zum anderweitigen Gebrauche vor Augen hat, zu zeichnen, und findet, dass Metaphysik so viel Köpfe bisher nicht darum beschäftigt hat und sie ferner beschäftigen wird, um Naturkenntnisse dadurch zu erweitern, (welches viel leichter und si11

Kant, Metaphysische Anfangsgründe, S. viii-ix. Ebd., S. xiv. 13 Ebda., S. xv, Anmerkung 12

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cherer durch Beobachtung, Experiment und Anwendung der Mathematik auf äußere Erscheinungen geschieht,) sondern um zur Erkenntnis dessen, was gänzlich über alle Grenzen der Erfahrung hinausliegt, von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu gelangen: so gewinnt man in Beförderung dieser Absicht, wenn man sie von einem zwar aus ihrer Wurzel sprossenden, aber doch ihrem regelmäßigen Wuchse nur hinderlichen, Sprösslinge befreiet, diesen besonders pflanzt, ohne dennoch dessen Abstammung aus jener zu verkennen und sein völliges Gewächs aus dem System der allgemeinen Metaphysik wegzulassen.14

Von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit kann die Naturwissenschaft nichts wissen. Und das gilt auch von Werten. Und sie sollte sich auch nicht mit solchen Fragen belasten! Hier muss ich Kants Grundlegung der Naturwissenschaft beistimmen. Ich kann einen Philosophen nicht ernst nehmen der, wie der christliche Philosoph Alvin Plantinga meint, dass die „christliche akademische und wissenschafliche Gemeinschaft, die Wissenschaft auf ihre Art zu praktizieren hätte, mit dem anfangend und voraussetzend, was wir als Christen wissen.“15 Einen solchen Anfang verbietet wissenschaftliches Denken. Ich möchte dieses Kapitel mit dem oben schon zitierten Paragraphen aus Wittgensteins Tractatus schließen: 6.41 Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muss er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und SoSein ist zufällig. Was es nicht-zufällig macht, kann nicht in der Welt liegen; denn sonst wäre dies wieder zufällig. Es muss außerhalb der Welt liegen.

Der Naturbegriff, der Voraussetzung unserer Naturwissenschaft ist, zwingt uns, dem zuzustimmen. Kant und Wittgenstein stimmen hier überein. Aber Kant, obgleich er die Metaphysik von jenem Teil, der sich über die Grenzen aller Naturwissenschaft hinauswagt 14 15

Ebda., S. xxi-2xxii. Alvin Plantinga: „Methodological Naturalism?“ Philosophical Analysis, Origins & Design, 18: 1, http://www.arn.org/docs/odesign/od181/methnat181.htm.

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und ein Wissen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit beansprucht, befreien will, nennt diesen Teil eine Pflanze, die wir an einem anderen Ort einpflanzen sollten. Dies aber setzt voraus, dass diese Pflanze es wert ist, gerettet zu werden, und dass es einen Ort gibt, wo sie gedeihen kann. Das aber heißt, dass der Naturbegriff unserer Naturwissenschaft die Natur nicht erschöpft, dass diese einen eingeengten Begriff der Erfahrung voraussetzt, der sich nicht mit all dem deckt, was wir Erfahrung nennen, machen wir doch Erfahrungen mit anderen Personen, mit dem Schönen, dem Guten, und vielleicht auch dem Göttlichen. Und entziehen sich solche Erfahrungen auch unserem Begreifen, so sind sie doch unserem Alltag nicht fremd. Hier müssen wir den Boden suchen, in dem der von der Metaphysik befreite Sprössling vielleicht gedeihen kann.

6. Von Laputa lernen

6.1 Metaphysik und Denken Mit Recht bemerkt Kant, „dass Metaphysik so viel Köpfe bisher nicht darum beschäftigt hat und sie ferner beschäftigen wird, um Naturkenntnisse dadurch zu erweitern, (welches viel leichter und sicherer durch Beobachtung, Experiment und Anwendung der Mathematik auf äußere Erscheinungen geschieht,) sondern um zur Erkenntnis dessen, was gänzlich über alle Grenzen der Erfahrung hinausliegt, von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu gelangen.“ Das Anliegen der so verstandenen Metaphysik ist nicht Naturerkenntnis sondern Sinngebung. Ein Beispiel gibt uns die Theodizee von Leibniz. Aber gerade eine solche Rechtfertigung Gottes kann nicht überzeugen, angesichts des so offenkundigen Bösen in der Welt. Schon Voltaire machte sich zurecht darüber lustig: Gott entzieht sich dem Zugriff unserer Vernunft. Auf was kann sich ein solches Denken stützen? So verdrängt heute die Naturwissenschaft immer entschiedener die Metaphysik. Das reine Denken verliert zwangsläufig jeden Inhalt und muss sich mit Tautologien begnügen, die zwar, im Gegensatz zu Kontradiktionen, die immer falsch sind, immer wahr sind, aber eben deshalb ohne Sinn, wenn auch nicht, wie Wittgenstein bemerkt, darum unsinnig: 4.462 Tautologie und Kontradiktion sind aber nicht unsinnig; sie gehören zum Symbolismus, und zwar ähnlich wie die „0“ zum Symbolismus der Arithmetik.

Sie zeigen uns die unseren Weltbildern zugrunde liegende Logik: 6.22 Die Logik der Welt, die die Sätze der Logik in den Tautologien zeigen, zeigt die Mathematik in den Gleichungen.

Damit stehen diese Gleichungen und Tautologien aber noch nicht in einer darstellenden Beziehung zur Wirklichkeit. Nun kann ein Metaphysiker, sich auf Kant berufend, einwenden, dass selbst die Mathematik sich nicht so begrenzen lässt. Schon hier kommt es zu synthetischen Urteilen, die auf den reinen Anschauungen Raum und Zeit beruhen und somit nicht gänzlich ohne Inhalt oder Sinn sind. Und erlauben solch reine Anschauungen, die

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eine jede mögliche Erfahrung voraussetzen muss, es uns nicht der Metaphysik eine transzendentale Wendung zu geben und ihr so zu neuem Leben zu verhelfen? Aber sollte es auch möglich sein, metaphysische Aussagen auf solche Anschauungen zu stützen, über die möglichem Aufgaben oder Pflichten des Menschen hätte eine solche Metaphysik prinzipiell nichts zu sagen, eben weil sie ihren Grund in etwas zu finden vorgibt, das Voraussetzung jeder möglichen Erfahrung sein soll, wie z. B. für Kant die reinen Anschauungen Raum und Zeit. Trifft das aber zu, dann ist es uns Menschen prinzipiell unmöglich etwas zu erfahren oder zu tun was den so verstandenen transzendentalen Bedingungen nicht genügen würde. Einen Beitrag zur Ethik oder Sinngebung des Lebens kann eine sich transzendental verstehende Metaphysik prinzipiell nicht leisten. Wenn es also ein Denken geben sollte, das etwas über Freiheit und Pflicht, Gott und Werte zu sagen hat, dann muss dies ein Denken sein, das keine metaphysische Grundlegung nötig hat. So nennt Kant mit Recht ein solches Denken einen der Wurzel der Metaphysik entsprungenen Sprössling, den wir nun von dieser Wurzel lösen und in einen anderen Boden pflanzen müssen, ohne seinen Ursprung in was einst Metaphysik hieß zu verkennen. Wo finden wir diesen Boden? Eine erste Antwort gab uns Drew McDemott mit seinem Versuch zu zeigen, „Wie ein moralischer Absolutismus zugleich wahr und falsch sein kann.“ Damit kehren wir zu Theorie der doppelten Wahrheit zurück. Auf der einen Seite steht, folgen wir McDermott, die Wahrheit, die die Naturwissenschaft in Anspruch nimmt. Ihr Standpunkt ist der der dritten Person. Dazu gehört ein gewisser Abstand des Subjekts von dem zu denkenden Objekt und vom eigenen Begehren, auch vom Alltag und seinen Wahrheiten. Wissenschaftliches Denken fordert Objektivität. Wenn wir uns frei fühlen, uns als ein fortdauerndes Ich erfahren, oder an uns verpflichtende absolute Werte glauben, kann von solcher Objektivität keine Rede sein. Und doch sind wir, so McDermott, vom Standpunkt der ersten Person zu Recht von der Wahrheit des hier Geglaubten überzeugt. Die Wissenschaft weiß allerdings mit solcher „Wahrheit“ nichts anzufangen. Ich nehme an, das ist der Grund warum McDemott von einem nichtphänomenologischen Existenzialismus spricht. Phänomenologie, wie McDermott sie hier, mit Edmund Husserl, versteht, erhebt Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Aber diesem Anspruch kann

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ein Denken, wie z.B. das von Heidegger, nicht genügen. Zunehmend versteht so Heidegger sein Denken nicht mehr als Philosophie, geschweige als Metaphysik, sondern spricht von einem anderen Denken. Und doch findet McDermott in Sein und Zeit eine überzeugende Darstellung unseres In-der-Welt-seins. Den Standpunkt der ersten Person, d. h. des in der Welt handelnden Menschen vorausgesetzt, kann diese Darstellung „Wahrheit“ beanspruchen. Wahrheit und „Wahrheit“ stehen sich hier also gegenüber. Fichtes an Kant anschließende Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft geht in dieselbe Richtung. Wie schon Kant, sieht auch Fichte, dass eine rein theoretische Vernunft von Freiheit, Werten, oder Gott nichts wissen kann. Eine solche Vernunft führt, wie Jacobi richtig erkannte, zum Nihilismus. Aber dem Nihilismus widerspricht wie wir die Welt zunächst und zumeist erfahren, in ihr handeln und uns verpflichtet fühlen. Nicht bloßes Wissen, sondern nach deinem Wissen Tun ist deine Bestimmung: so ertönt es laut im Innersten meiner Seele, sobald ich nur einen Augenblick mich sammle und auf mich selbst merke. Nicht zum müssigen Beschauen und Betrachten deiner selbst, oder zum Brüten über andächtigen Empfindungen, – nein, zum Handeln bist du da; dein Handeln und allein dein Handeln bestimmt deinen Wert.1

Nur unsere praktische Vernunft erfährt so etwas wie Sinn. Und ist diese praktische Vernunft nicht fundamentaler, weil Voraussetzung der theoretischen Vernunft? Würde ein Mensch sich wissenschaftlich betätigen, wenn er nicht überzeugt wäre vom Sinn seiner Arbeit, überzeugt, dass sein Tun nicht umsonst ist – Hertz würde sagen, dass unserer Geist mit der Natur übereinstimmt und dass die Wahrheitssuche sich selbst rechtfertigt? Dieser Glaube ist Voraussetzung der wissenschaftlichen Arbeit. Aber theoretisch lässt er sich nicht begründen. Er bewährt sich in der wissenschaftlichen Praxis. Wenn ich handeln werde, so werde ich ohne Zweifel wissen, dass ich handle, und wie ich handle; aber dieses Wissen wird nicht das Handeln selbst sein, sondern ihm nur zusehen. – Diese Stimme also

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Fichte: Die Bestimmung des Menschen, Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, Bd. 2, Berlin 1845/1846, S. 249.

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kündigt mir gerade das an, was ich suchte; ein ausser dem Wissen Liegendes, und seinem Sein nach von ihm völlig Unabhängiges.2

Auch hier widerspricht dem rein theoretischen Verhalten eine innere Stimme. Reine Theorie weiß mit einer solchen Stimme nichts anzufangen, ist doch ihr Standpunkt der der dritten Person. So bekommt sie weder ein Ich, noch ein Inneres, geschweige eine innere Stimme zu Gesicht. Und doch bleibt auch die reinste Theorie eine Praxis und als solche setzt sie einen Glauben an eine transzendente Wirklichkeit voraus, d. h. hört eine Stimme, die von etwas von unserem Sein völlig Unabhängigen spricht. Soll ich jener inneren Stimme den Gehorsam versagen? – Ich will es nicht tun. Ich will jene Bestimmung mir freiwillig geben, die der Trieb mir anmutet; und will in diesem Entschlusse zugleich den Gedanken an seine Realität und Wahrhaftigkeit, und an die Realität alles dessen, was er voraussetzt, ergreifen. Ich will in dem Standpuncte des natürlichen Denkens mich halten, auf welchen dieser Trieb mich versetzt, und aller jener Grübeleien und Klügeleien mich entschlagen, welche nur seine Wahrhaftigkeit mir zweifelhaft machen könnten.3

In dieser Gegenüberstellung von theoretischer und praktischer Vernunft spiegelt sich die Antinomie des Seins. Doch lässt sich die theoretische Vernunft nicht so leicht der praktischen Vernunft unterordnen. Ließen sich die Bereiche der theoretischen und der praktischen Vernunft so trennen, dass beide Wahrheiten nebeneinander bestehen könnten, führten sie zu keiner Antinomie. Aber unser konkretes In-der-Welt-sein erlaubt keine solche Trennung. Immer wieder stellen die Wahrheiten der theoretischen Vernunft die „Wahrheiten“ der praktischen in Frage. In der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft kommt Kant auf die Notwendigkeit über den hier sich öffnenden Abgrund eine Brücke zu schlagen zu sprechen: Ob nun zwar eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen, befestigt ist, so dass von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann: so soll doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen 2 3

Ebd. Ebd., S. 253.

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Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muss folglich auch so gedacht werden können, dass die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme. – Also muss es doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben, wovon der Begriff, wenn er gleich weder theoretisch noch praktisch zu einem Erkenntnisse desselben gelangt, mithin kein eigentümliches Gebiet hat, dennoch den Übergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen, zu der nach Prinzipien der anderen, möglich macht.4

Dass der Naturbegriff der Wissenschaft sich nicht einfach von den Forderungen des Freiheitsbegriffes trennen lässt, oder, dass McDermott es sich zu leicht macht, wenn er meint, an seinem Glauben an die Freiheit des Willens, an ein fortdauerndes Ich und an absolute Werte festhalten zu können, obwohl er als Naturwissenschaftler ihre Falschheit erkannt hat, zeigt seine Bemerkung, dass der Fortschritt der Naturwissenschaft den Bereich solcher für den Standpunkt der ersten Person unabdingbaren Grundanschauungen eingeengt habe, wenn es auch unmöglich sei, sie ganz zu eliminieren. Dass seine solche Einengung überhaupt möglich ist zeigt, dass wir theoretische und praktische Vernunft nicht so trennen können, dass die eine sich dann nicht mehr um die andere zu kümmern hätte. Und dass eine solche Einengung in der Tat stattgefunden hat lässt sich nicht leugnen. In den entwickelten Ländern glaubt heute die Mehrzahl der Menschen nicht mehr an Gott. Die Vereinigten Staaten sind hier, wenn wir den Umfragen Glauben schenken dürfen, die große Ausnahme. 80% der Bevölkerung glaubt hier noch an Gott. Aber die Statistik lässt einen auch fragen, wie robust ist dieser Glaube? Und welchen Inhalt hat hier das Wort „Gott“? Und auch McDermotts Glauben an absolute Werte hat der Fortschritt der Vernunft immer entschiedener in Frage gestellt. Die Worte die Nietzsche den tollen Menschen über den Tod Gottes sprechen lässt, lassen sich nicht leicht abweisen: Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen 4

Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Axix-xx/Bxix.xx.

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Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?5

Weder Fichtes praktische Vernunft, noch McDermotts „inescapable framework illusions“, versprechen solchen Trost. Und wie steht es mit absoluten Werten? Wie mit unserer Freiheit?

6.2 Die Zeit des Weltbildes Nietzsches toller Mensch fragt: „Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung?“ Die Geschichte der letzten hundert Jahre lässt uns diese Frage positiv beantworten: Wir leben im Zeitalter der verwesenden Gottes. Dass es heute vielen leichter fällt an unbestimmt Göttliches oder die Gottheit zu glauben, ist ein Zeichen dafür, dass Gott sein Wesen verliert. An diesem Vorgang hat unsere Naturwissenschaft einen wesentlichen Anteil. Unsere Lebenswelt lässt sich nicht einfach von dem Naturbild unserer Naturwissenschaft absondern. Denn zum Wesen unserer Naturwissenschaft gehört die Technik und damit eine auf bestimmten Voraussetzungen beruhende Praxis. Sie bestimmt das moderne Weltbild und trägt den unsere Naturwissenschaft notwendig begleitenden Nihilismus in unsere Lebenswelt. Verloren geht hier nicht nur der Bezug zu Gott, sondern auch der Bezug zur Erde als mehr als ein an sich bedeutungsloses Material für unser Tun. Das gilt auch für unseren Körper. Denn der Mensch ist in die Ichheit des ego cogito aufgestanden. Mit diesem Aufstand wird alles Seiende zum Gegenstand. Das Seiende wird als das Objektive in die Immanenz der Subjektivität hinein getrunken. Der Horizont leuchtet nicht mehr von sich aus. Er ist nur 5

Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, 125, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Hrg. G. Colli und M. Montinari. München/ Berlin/ New York 1980, Bd. 3, S. 480-481.

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noch der in den Wertsetzungen des Willens zur Macht gesetzte Gesichtspunkt.6

Der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr spricht vom Tod des Lichtes und denkt dabei an Adalbert Stifters Beschreibung einer totalen Sonnenfinsternis, die ihm zur Metapher eines sich verfinsternden Zeitalters wird: der Mensch verfremdet sich, wird zum Gespenst.7 Stifters Metapher der erlöschenden Sonne entspricht Chamissos Metapher des verlorenen Schattens. Ein verwandter Verlust kennzeichnet Heideggers Bestimmung unseres Zeitalters als Die Zeit des Weltbildes.8 Das Wort „Weltbild“ gibt zu denken. Ein Bild stellt etwas vor. Es lädt uns ein, durch das Bild wie durch ein Fenster auf das im Bild Vorgestellte zu sehen, dem nichts Wirkliches zu entsprechen braucht. Ein solches Bild bezieht sich wesentlich auf ein sehendes Subjekt. Im Bild lässt sich dieses Subjekt nicht finden. Um das Bild überhaupt zu sehen, muss das Subjekt Abstand von ihm halten. Die Metapher des Fensters finden wir bei Alberti und in der Tat lässt Heideggers Verstehen des modernen Weltbildes an Albertis Bildauffassung denken. Wie später Descartes, der Heidegger den Schlüssel zum modernen Weltbild gibt, findet schon Alberti in Della pittura seinen Ariadnefaden in der Mathematik. Unter Annahme eines bestimmten Standpunkts, erlaubt es die, die Kunst der Perspektive begründende, mathematische Form der Darstellung dem Maler, die ihm erscheinende Wirklichkeit täuschend ähnlich wiederzugeben und sie in diesem Sinne zu meistern. Die Vernunft bestimmt jetzt die Darstellungsform der sich die Einbildungskraft zu fügen hat. Alberti geht es hier allerdings nicht, wie Descartes, um ein Verstehen der Dinge. Ihm geht es nicht um Naturerkenntnis, sondern um die Fertigkeit, an einen bestimmten Standpunkt gebundene Erscheinungen täuschend ähnlich wiederzugeben, wobei wir den mit solcher Wiedergabe verbundenen Wirklichkeitsverlust nicht aus den Augen verlieren dürfen. Um seine Konstruktion möglichst einfach zu halten, setzt Alberti so eine flache Erde und ein einziges, ruhendes Auge voraus. Unter dieser Voraussetzung lässt sich 6

7

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Martin Heidegger: Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘, Holzwege, Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1977, S. 261. Hans Sedlmayr: Der Tod des Lichtes. In: Der Tod des Lichtes. Salzburg 1964, S. 9-17. Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. Holzwege, S. 75-113.

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die Korrektheit seiner Konstruktion leicht beweisen. Unter den richtigen Bedingungen sollen die vom Maler geschaffenen kunstvollen Illusionen uns ihren Scheincharakter vergessen lassen, eine zweite Wirklichkeit vortäuschen. Der Künstler wird zum zweiten Gott, der das von ihm geschaffene Bild an die Stelle von Gottes Schöpfung treten lässt. Trennen auch 200 Jahre Alberti und Descartes, so hat dessen Methode doch ihren Vorläufer in der perspectiva artificialis der Renaissance und bringt einen analogen Wirklichkeitsverlust mit sich. Alberti versprach nicht, den Menschen zum Meister und Besitzer der Natur zu machen. Bescheidener, versprach er nur den Maler zum Meister und Besitzer ihrer Erscheinungen zu machen. Auch hier macht die Methode den Meister. Und hier schon unterwirft die Methode die Erscheinungen einem menschlichen Maß, das wiederum der Forderung nach leicht nachzuvollziehender Darstellung gehorcht. Dieser Forderung entspricht die mathematische Form der perspectiva artificialis. In ihr gründet eine Praxis, die Menschen und Dinge so überzeugend darzustellen wusste, dass die Zeitgenossen an Zauberei dachten. Ganz ähnlich unterwirft auch die Methode des Descartes, und ihm folgend unsere Naturwissenshaft, die Natur einem menschlichen Mass, das wiederum der Forderung nach leicht nachzuvollziehender Darstellung entspricht. Die Naturwissenschaft vollendet sich in der Technik. Auch hier zielt die Methode auf eine Praxis, die verspricht die Dinge der Welt, zum Beispiel ein menschliches Herz, so überzeugend darzustellen, dass es eines Tags möglich werden sollte, es mit einem künstlichen Herz zu ersetzen. Setzt Albertis Form der Darstellung ein einziges vor das Bild gestelltes, ruhendes Auge voraus, so stellt auch das cartesische Weltbild das Subjekt vor die Welt, lässt es somit aus dieser Welt herausfallen. Dem Tod des Lichts entspricht das Verschwinden des Subjekts. So wie der Zuschauer im geschauten Bild keinen Platz hat, so hat auch die cartesische res cogitans, hat der Mensch keinen Platz in der Natur, deren Wesen Descartes als res extensa bestimmt. Und so weiß unsere Naturwissenschaft auch heute nichts von einem solchen Subjekt. Zwar kennt sie Gehirnprozesse und Computer-simulierte Intelligenz, aber von Achtung gebietenden Personen als solchen kann sie nichts wissen. Sie haben keinen Platz im wissenschaftlichen Weltbild und fordern ein anderes

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Wirklichkeitsverständnis. Wie Wittgenstein von sich selbst schreibt: 5.631 Wenn ich ein Buch schriebe, „Die Welt, wie ich sie vorfand“, so wäre darin auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen und welche nicht etc., dies ist nämlich eine Methode, das Subjekt zu isolieren, oder vielmehr zu zeigen, dass es in einem wichtigen Sinne kein Subjekt gibt: Von ihm allein nämlich könnte in diesem Buche nicht die Rede sein. – 5. 632 Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.

Aber diese Grenze muss in die Welt zurückgeholt werden, sollen wir den Weg zum Menschen finden. Dass auch Wittgenstein vom Weltbild (2.19) spricht, kann nicht überraschen. Aus diesem Weltbild ist das Subjekt, ist die Person immer schon herausgefallen. Und dieses Weltbild bleibt Voraussetzung unserer Objektivität fordernden Naturwissenschaft. In diesem Sinne weiß auch das Laboratorium nichts vom Menschen als unsere Achtung fordernde Personen, was natürlich nicht heißt, das gerade der Mensch unserem Experimentieren unendliches Material bietet.9 Aber ohne die Erfahrung der sich in der Welt zeigenden Freiheit, d. h. ohne die Erfahrung von so verstandenen Menschen, ohne die Du-Erfahrung, die Erfahrung der zweiten Person, verliert jede Ethik ihren Boden. Dieser Boden lässt sich nur finden, wenn sich im modernen Weltbild ein Fenster auf Anderes auftut, auf etwas das uns anspricht, das Ansprüche an uns stellt. Mit seiner Methode versprach Descartes den Menschen zum Meister und Besitzer der Natur zu machen. Voraussetzung dieses Versprechens ist ein Verstehen der Natur als stumme Materie, der erst menschliche Praxis einen Wert verleiht. Wie der Maler vor seinem Bild, steht der Naturforscher vor der Natur. Damit droht aber nicht nur der Denker, nicht nur der Naturforscher, sondern auch der Mensch aus der Natur zu fallen. Ist schon der Versuch uns zu Meistern und Besitzern der Natur zu machen beängstigend, beängstigender noch ist der Versuch uns 9

Vgl. Karsten Harries: Weltbild und Welttheater: Staunen, Schauen, Wissen. In: Kunstkammer, Laboratorium, Bühne Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Hg. Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig. Berlin/ New York 2003, S. 521-540.

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zu Herren und Meistern unserer eigenen Natur zu machen. Heute ist die Möglichkeit mit Hilfe der Medizin ein Anderer zu werden mehr als ein eitler Traum. Ist nicht auch die eigene Natur Material geworden das wir mit Hilfe der Technik nach Belieben umformen können? Aber wer ist es, der sich hier bemüht, mit Hilfe der Technik ein Anderer zu werden? Wo findet solch Bemühen Maß und Richtung? Wo ist hier der Mensch? Dass ein zu einem solchen Subjekt gewordener Mensch seinen Schatten verloren hat, bedarf keiner Erörterung.

6.3 Die Göttin der Vernunft Noch einmal möchte ich zu Peter Schlemihl zurückkehren. Chamisso lässt seinen schattenlosen und, dank seiner Siebenmeilenstiefel zum Naturforscher gewordenen Helden in einer ägyptischen Höhle so etwas wie ein Heim finden. Versuchen wir die Geschichte in unsere Zeit zu übersetzen! Was würde heute an die Stelle dieser Höhle treten? Irgendeine abgelegene dunkle Dachkammer, aber mit Fernsehern und Computern vollgestopft, die ihm die Welt in seine Einsamkeit hineintragen würden? Aber wäre ein die Erde umkreisender Satellit nicht ein noch passenderes Heim? Ein solcher Satellit würde den nötigen Abstand von den Menschen gewährleisten und es gleichzeitig unserem nun schattenlosen Naturforscher erlauben, Himmel und Erde zu beobachten. Nun gab es im Jahre 1814 keine Satelliten. Aber es gab doch schon eine fiktive Raumstation, nämlich die fliegende Insel Laputa im dritten Buch von Jonathan Swifts Gulliver’s Travels. Mit seiner Beschreibung dieser fliegenden Insel gab uns Swift eine prophetische Karikatur unserer modernen Welt, 1726 noch in ihren ersten Anfängen. Zwar wackelte auch damals schon die alte Welt, aber noch stand sie. Und doch erkannte Swift das langsam aufziehende Gewitter, das sich in der französischen Revolution zum ersten Mal entladen und am 11. November 1793 eine hübsche junge Balletteuse als Göttin Vernunft auf den Altar von Notre Dame setzen sollte. Die Kirche mag in ihr die Hure Babylon gesehen haben. Auch die Laputier sind Jünger dieser Gottheit. Ihr verdanken sie ihre fliegende Insel. Deren Voraussetzung ist ja eine Technik, die alles damals Mögliche weit hinter sich lässt. Voraussetzung einer solchen Technik wiederum ist eine außerordentlich hoch entwi-

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ckelte Naturwissenschaft. Laputa gibt uns somit ein Bild einer beweglichen Gesellschaft, die, dank ihrer Vernunft, sich nicht nur über die Erde sondern auch über den Körper erhoben hat und nun Gefahr läuft, den Bezug zur Erde zu verlieren. Die Geschichte von Gullivers Besuch dieser fliegenden Insel fängt mit einem Piratenüberfall an. Ausgesetzt in einem kleinen Boot erreicht Gulliver nach ein paar Tagen eine felsige Insel. Auf den Felsen spazierend sieht er plötzlich einen Riesenschatten. Ich drehte mich um und erblickte einen großen dunklen Körper zwischen mir und der Sonne, der mir aus einer festen Substanz zu bestehen schien und sich auf die Insel zu bewegte; er schien ungefähr zwei Meilen in der Höhe zu betragen und verbarg die Sonne sechs bis sieben Minuten. Ich bemerkte jedoch nicht, daß die Luft kälter oder der Himmel dunkler wurde, als hätte ich unter dem Schatten eines Berges gestanden. Nachdem der Gegenstand dem Orte, wo ich stand, näher gekommen war, erkannte ich ihn als eine feste Substanz mit flachem und glattem Boden, der durch den Reflex der See einen sehr hellen Schein warf. Ich stand auf einer Höhe, ungefähr zweihundert Ellen vom Ufer entfernt, und sah, wie dieser ungeheure Körper beinahe in paralleler Richtung mit meinem Standpunkte dahinfuhr und kaum eine halbe Stunde hoch über mir schwebte. Deshalb nahm ich mein Taschenperspektiv zur Hand und konnte deutlich sehen, wie eine Menge Leute an den Seiten, die schräg abzufallen schienen, sich auf und ab bewegten; was diese Leute machten, konnte ich jedoch nicht erkennen.10

Es gelingt Gulliver diese Luftschiffer auf seine verzweifelte Situation aufmerksam zu machen. Ein an einer Kette befestigter Stuhl senkt sich zum ihm herab und wie einst Sokrates in Aristophanes’ Wolken in einem Korb emporgezogen wurde, in eine Höhe, die es ihm erlaubte, sich mit himmlischen Dingen zu beschäftigen und sich mit seinen Geistesgefährten, den Wolken zu unterhalten, umgeben von seinen bewundernden, Astronomie und Geometrie treibenden Schülern, so nun Gulliver. Und auch Gulliver erwartet eine Welt in der die Liebe zu diesen Disziplinen mit einem gestörten Verhältnis zur Welt des Alltags einhergeht. So lädt uns Swift ein, Laputa und damit auch unsere moderne Welt, im Bilde der von

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Jonathan Swift: Gullivers Reisen (Travels into Several Remote Nations of the World in four Parts by Lemuel Gulliver, first a Surgeon and then a Captain of Several Ships) Erstdruck: London (Benjamin Motte) 1726 (2 Bde). Hier in der Übers. v. Franz Kottenkamp.,Leipzig, o. Jahr, S. 171.

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Aristophanes in den Wolken karikierten sokratischen Denkerbude zu sehen. In der Geburt der Tragödie sollte Nietzsche die aristophanische Karikatur aufgreifen und in ihr einen Schlüssel zum Wesen unserer modernen Welt finden – dass auch Nietzsche sich zu der Zeit für die Laputier interessierte, wissen wir.11 Sokrates verdanken wir, so Nietzsche, unseren Glauben an die Vernunft und damit an die Wissenschaft. Mit ihm kam „eine tiefsinnige Wahnvorstellung“ zur Welt: „jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Kausalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu korrigieren imstande sei.“12 Dieser Glaube setzte einst die Vernunft auf den Altar von Notre Dame und diesem Glauben verdankt auch noch unsere heutige Welt ihre Gestalt. Swifts Karikatur antizipiert wesentliche Züge. So las Sedlmayr Swifts Beschreibung der Laputier,13 wobei er unsere Aufmerksamkeit besonders auf das platonische ästhetische Empfinden lenkt, dass die Lebenswelt der Laputier durchgehend bestimmt. Es kann nicht überraschen, dass die Bewohner Laputas ein merkwürdiges Aussehen haben und sich ähnlich merkwürdig kleiden: Als ich angelangt war, wurde ich sogleich von einem Menschenhaufen umringt, wovon die Nächststehenden von höherem Stande zu sein schienen. Alle besahen mich mit Zeichen des Staunens, und hierin blieb ich ihnen nichts schuldig, denn nie sah ich Leute mit so sonderbaren Kleidern und Gewohnheiten. Ihre Köpfe waren sämtlich entweder zur Rechten oder Linken geneigt; das eine Auge war nach unten, das andere gerade auf den Zenit gerichtet. Die äußeren Kleider waren mit den Gestalten von Sonnen, Monden und Sternen geschmückt; diese Figuren waren mit denen von Flöten, Harfen, Fiedeln, Trompeten, Gitarren und anderen Instrumenten vermischt, die in Europa gänzlich unbekannt sind.14

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Friedrich Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher, Kritische Studienausgabe, Band. 1, 420-21. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie 15, Kritische Studienausgabe, Band. 1. 99. Hans Sedlmayr: Die Revolution der modernen Kunst. Hamburg 1955, 35, 102. Sedlmayr, „Das große Reale und das große Abstrakte,“ Der Tod des Lichtes, Salzburg 1964. 123. Gullivers Reisen, S. 173.

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Wie Sokrates in Aristophanes’ Wolken, haben die Laputier kein Interesse für den Alltag; stattdessen, heben sie, an Thales erinnernd, ein Auge auf zum Himmel. Aber wir dürfen das andere nach Innen gerichtete Auge nicht vergessen. Wie uns Descartes zeigt, reine Theorie und Introversion gehören zusammen: dass unsere moderne Philosophie ihren Anfang, nicht im Sonnenlicht, sondern in einer kleinen dunklen Kammer bei Neuburg an der Donau haben sollte, gibt zu denken. Architektur will im Bilde des menschlichen Körpers, der menschliche Körper im Bilde von Architektur gesehen werden. So lädt Swifts Beschreibung der Laputier, das eine Auge nach innen, das andere auf den Zenit gerichtet, uns ein, uns das dieser Beschreibung entsprechende Bauwerk zu denken. In der Architekturgeschichte lässt sich eine extrovertierte von einer introvertierten Architektur unterscheiden. Das Parthenon dient der einen, das Pantheon der anderen Einstellung als Vorbild. So richtet auch das Pantheon ein großes Auge senkrecht nach oben, und öffnet sich so dem Firmament. Aber dieses große Auge ist auch das Licht des geometrisch geordneten Inneren mit seinen Sicherheit und Ruhe versprechenden zeitlosen Kreisen. Dieser Raum will nichts von dem lebendigen Alltag draußen wissen, von der Welt in der wir arbeiten, lieben, und sterben müssen. Es ist die diese Architektur ordnende, in sie eingeschriebene und unseren zerbrechlichen Köper nicht achtende Sphäre, die sich uns als erhabenes Symbol der grenzenlosen Freiheit und Unsterblichkeit des menschlichen Geistes bietet, der Fichte mit seinem absoluten Ich Ausdruck verlieh. In dieser Architektur findet eine Selbsterhebung, die den Körper und damit den sterblichen Menschen tief unter sich lässt, ihren Ausdruck. So kann es nicht überraschen, dass gerade das Pantheon den Architekten der Aufklärung immer wieder zum Vorbild werden sollte. Besonders vielsagend ist Claude Nicolas Ledouxs utopisches „Haus des Gärtners“. Geistig, aber auch zeitlich gehört dieses Kugelhaus zu den ersten Ballonflügen. Wir spüren hier etwas von demselben Enthusiasmus der diese begrüßte, versprach solche Luftschifffahrt doch den Menschen von seiner Gebundenheit an einen bestimmten Ort zu befreien, alte Grenzen zu überfliegen, die falschen uns von unseren Mitmenschen trennenden Mauern zu zerbrechen, Bote einer freieren, und eben deshalb wahrhaft menschlichen Welt. „Die Luftbälle sind“, so Helmut Reinicke, „die

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erste Erfindung, an die sich der Begriff einer Weltrevolution knüpft. Der Ballon fährt in den Himmel, – als Zeichen, dass die Vernunft auf der Erde um sich greift. Eine solche Revolution [...] hat dieses Subjektive, dass die Menschen sich finden, sich selber ein menschliches Gepräge geben wollen; diese Subjektivität ist das Göttliche der Religionen. Der Angriff auf diese ist die größte Vermessenheit und dadurch Befreiung. Das Luftschiff ist eine derart praktische Vermessenheit: der Mensch hat gezeigt, dass er über Grenzen schreiten kann. Er hat damit die Allmacht der Götterwelt eingeholt.“15 Auch Ledouxs sphärisches Haus ist eine solche total unpraktische Vermessenheit, Ausdruck einer geistigen Revolution, die zu unserem nicht ganz geheuren Erbe gehört und uns von uns selbst zu befreien verspricht. Eritis sicut Deus! Dass solche Ideen die architektonische Praxis der Moderne mitbestimmen sollten zeigt Theo Van Doesburgs Manifest, „Auf dem Weg zu einer gestaltenden Architektur“, das von der Architektur eine bislang unbekannte Offenheit fordert: „Dadurch erhält die Architektur (soweit es konstruktiv möglich ist – Aufgabe der Ingenieure!) einen mehr oder weniger schwebenden Aspekt der gewissermassen die natürliche Schwerkraft aufhebt.“16 Und so vergleicht Corbusier die Schönheit eines Flugzeugs mit dem Parthenon.17 Auch hier wird ein künstliches, geistiges Aussehen gefordert. Mit seinen suprematistischen Bildern wollte Kasimir Malewitsch einer uns modernen, von allen Platz anweisenden Architekturen endlich befreiten Menschen gemäßen Geisteshaltung Ausdruck geben.

6.4 Die Liebe zur Geometrie Kehren wir zurück zu unserer Geschichte! Später, beim Essen, überrascht Gulliver, dass eine Hammelschulter als gleichseitiges Dreieck serviert wird, ein Stück Rindfleisch als Rhomboid, ein Pudding als Zykloid. Und wie das Essen der Herrschaft der Geometrie unterworfen wird, so versucht auch diese logozentrische

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Helmut Reinicke: Aufstieg und Revolution, Berlin 1961, S. 76-77. Theo van Doesburg, „Auf dem Weg zu einer gestaltenden Architektur“ in Mondrian und De Stijl, Köln 1967, S. 191. Le Corbusier, Towards a New Architecture, New York und Washington 1970, S. 119.

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Gesellschaft more geometrico zu denken und zu leben. Die unmittelbare Anschauung bedeutet den Laputiern wenig. Die Ideen jener Leute bilden sich stets nach philosophischen Begriffen, mathematischen Linien und Figuren. Wollen sie z.B. die Schönheit einer Frau oder eines andern Tieres rühmen, so beginnen sie mit der Idee des Absolut-Schönen, und bestimmen jene alsdann näher durch Rhomboiden, Zirkel, Parallelogramme, Ellipsen und andere geometrische Begriffe, und endlich durch die Terminologie der bildenden Künste und der Musik, die ich hier wohl nicht zu wiederholen brauche. In der Küche des Königs bemerkte ich alle Arten mathematischer und musikalischer Instrumente, und nach den Figuren derselben wurde alles Fleisch zugeschnitten, das man auf die Tafel brachte.18

Hans Sedlmayr sollte diese platonische Auffassung der Schönheit einen Schlüssel zum Wesen der modernen Kunst geben. In der Tat lässt die mit Hilfe von Kreisen, Parallelogrammen und Ellipsen beschrieben Schönheit einer zum Tier erniedrigten Frau an Bilder von Picasso denken. Dass die vernachlässigten Frauen von Laputa sich für solche Geringschätzung zu entschädigen wussten war zu erwarten. Den Laputiern wird die Geometrie zum Idol.19 Ihr unterwerfen sie Kunst, Kleidung, Essen. Nicht allzu viele Jahre später sollte solche Liebe zur Geometrie die unsere moderne Architektur vorwegnehmende Revolutionsarchitektur Frankreichs bestimmen, mit ihrer Vorliebe für einfache geometrische Formen, Vorspiel einer Kunstauffassung die im 20. Jahrhundert unsere gebaute Umwelt entscheidend formen sollte.20 Dass Ledouxs Entwurf seines Kugelhauses sich zu der Zeit kaum verwirklichen ließ entspricht dem Geiste Laputas: Die Häuser sind schlecht gebaut, die Mauern schräg, und in den Zimmern bemerkt man kaum einen rechten Winkel. Dieser Mangel ergibt sich aus der Verachtung, welche die Laputier gegen angewandte Geometrie hegen, die sie als gemein und handwerksmäßig betrachten. Ihr Volksunterricht ist nämlich für den Verstand gewöhnlicher Arbeitsleute zu sehr verfeinert. Somit sind Versehen an der Tagesordnung. Obgleich nun alle auf dem Papiere in der An18 19 20

Gullivers Reisen, S. 178. Sedlmayr: Der Tod des Lichtes, S. 122. Emil Kaufmann: Von Ledoux bis Le Corbusier: Ursprung und Entwicklung der Autonomen Architektur (1931), Stuttgart 1985 und Architecture in the Age of Reason; Baroque and Post-baroque in England, Italy, and Franc, Hamden 1966.

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wendung des Lineals, des Bleistifts und des Kreisteilers sehr gewandt sind, habe ich dennoch nie ein tölpischeres, unbeholfeneres und plumperes Volk bei allen Gelegenheiten gesehen, mit Ausnahme der Musik und Mathematik.21

More geometrico beschafft sich die Vernunft hier die ihr gemäße, wenn auch unpraktische Architektur. Mich lassen solche Worte an Frank Gehrys viel bewundertes Stata Center im Cambridge, Mass. denken, wo eine sich von tradierten Erwartungen befreite, der Geometrie und dem Computer verpflichtete Ästhetik, von einer ähnlichen Verachtung des Gemeinen und Handwerklichen zeugt, Verachtung die zu Mängeln führen sollte, die den Auftraggeber, MIT, später Architekten und Bauunternehmer verklagen ließ. Und doch spricht eine solche Architektur uns an, spricht in aufregender Weise von einer nicht mehr an die Erde gebundenen Freiheit. Man könnte sich Schlemihls Teufel als ihren Baumeister denken. Steht seit Platons Timaios geometrische Ordnung nicht für die Herrschaft der Vernunft über eine Materie an die wir Menschen leider gebunden bleiben, die aber unserem Anspruch auf Autonomie nicht gerecht wird und die sich heute, dank fortschrittlicher Technologien, uns immer entschiedener unterwerfen muss? Forderte Le Corbusier einst eine vernünftige und eben deshalb wahrhaft menschliche Ästhetik, so lässt sich heute dieser Forderung viel leichter entsprechen. Eine solche Ästhetik wendet sich gegen den Anspruch der Erde und gegen das was uns Menschen an die Erde bindet. Von unseren zerbrechlichen Körpern will solche Schönheit nichts wissen. Platons Sokrates fand für die so verstandene Schönheit diese uns immer noch herausfordernden Worte: Freilich ist wohl nicht sogleich deutlich was ich meine, man muß aber versuchen es deutlich zu machen. Ich versuche also als Schönheit der Gestalten dir nicht, was wohl die meisten glauben möchten, zu erklären, etwa die der lebenden Körper oder die gewisser Gemälde; sondern ich nenne etwas grade, sagt meine Erklärung, und etwas rund und aus diesen wiederum die Flächen und Körper, welche gedreht werden, oder durch Regel und Winkelmaß bestimmt, wenn du mich verstehst. Denn diese, sage ich, sind nicht in Beziehung auf etwas schön wie anderes, sondern immer an und für sich sind sie ihrer Natur nach schön, und haben eine eigentümliche Lust, die nichts mit der des Kitzels zu schaffen hat; und so auch Farben

21

Gullivers Reisen, S. 178-179.

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sind nach dieser selbigen Weise schön und haben ihre Lust. Aber verstehen wir es auch, oder wie?22

Ja, wir verstehen es! Aber wie verstehen auch was hier verloren geht: das Lebendige, Einzigartige, das jedem Menschen seine besondere Aura gibt. Erinnern wir uns an was Peter Schlemihl zu der ihm vom Teufel erbauten geistigen Architektur zu sagen hatte: er hätte sich ihr gerne hingegeben, wenn sie nur seine Seele angesprochen hätte. Der kalte reine Geist erscheint hier als Widersacher der Seele. Solche Reinheit lässt der Liebe keinen Raum. Liebe braucht die Aura des Besonderen und Einzigartigen um atmen zu können. Im Zeitalter der mechanischen Reproduzierbarkeit, nicht nur der Kunst sondern zunehmend auch der Wirklichkeit, muss sie sterben. Was die Liebe zur Geometrie mit Schlemihls Verlust seines Schattens und mit was Walter Benjamin den Verlust der Aura im Zeitalter der Reproduzierbarkeit, nicht nur des Kunstwerks, sondern zunehmend auch der Natur, nennt, verdient eine eingehendere Betrachtung. Schon im Leben der Laputier findet diese Geisteshaltung ihren Ausdruck. So nimmt es nicht Wunder, dass es diesen introvertierten Gehirnmenschen schwer fällt, auf Andere zu hören. Sie haben kein Ohr für das Du. Die ihnen gemäße Rede ist der Monolog. Das macht sich auch in ihrem Verhalten bemerkbar: Hin und wieder bemerkte ich andere Leute in der Kleidung von Dienern, die aufgeblasene Schweinsblasen wie Dreschflegel an einem Stocke in der Hand trugen. In jeder Blase befand sich eine Quantität getrockneter Erbsen oder kleiner Kiesel, wie ich nachher erfuhr. Mit diesen Blasen rasselten sie mitunter vor den Ohren der Nahestehenden, ein Verfahren, dessen Sinn ich damals noch nicht verstehen konnte. Wie es scheint, sind diese Leute so sehr zu Spekulationen geneigt, dass sie weder sprechen noch auf die Rede anderer hören können, wenn ihre Sprech- und Hörorgane nicht durch irgendeine äußerliche Berührung aufgeweckt werden; deshalb halten alle, die nur einiges Vermögen besitzen, Klapperer (das Originalwort ist Climenole) in ihrem Haushalt sowie auch einen Bedienten; sie verlassen ohne beide niemals ihre Wohnungen.23

Der Denker erkauft sich hier seine Freiheit um den Preis einer gewissen Selbstabwesenheit – ich erinnere noch einmal an den Brunnensturz des ersten Philosophen und Naturwissenschaftlers Thales. 22 23

Platon: Philebos 51c-d in der Übers. v. Friedrich Schleiermacher. Gullivers Reisen, S. 173-174.

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Dabei geht auch der normale Bezug zu Anderen verloren. Thales hätte einen solchen Klapperer gut gebrauchen können: Das Geschäft dieses Beamten besteht darin, dass er, wenn zwei, drei oder mehrere Personen sich in Gesellschaft befinden, mit der Blase den Mund desjenigen, welcher sprechen, und das rechte Ohr des Andern, welcher hören soll, berührt. Dieser Klapperer begleitet ferner seinen Herrn auf Spaziergängen, um ihm bei Gelegenheit einen sanften Klapp auf die Augen zu geben. Der Herr ist nämlich stets in so tiefes Nachdenken versunken, dass er in fortwährender Gefahr schwebt, in einen Abgrund zu stürzen, oder an jeden Balken mit dem Kopf zu rennen; oder in den Straßen die Umhergehenden zu stoßen, oder selbst in den Rinnstein gestoßen zu werden.

Nietzsche ließen diese Worte an die Philosophen denken, die einst „in so tiefes Nachdenken verloren“ waren, dass sie „in fortwährender Gefahr schwebten, mit dem Kopf an jede Balken zu rennen,“ jetzt aber in der Form von Naturwissenschaftlern und Historikern die Ihnen so nötigen Klapperer bekommen hätten, die sie wieder in die Wirklichkeit zurückrufen.24

6.5 Die Hure Babylon Gulliver macht sich Gedanken über die Etymologie des Namens dieser fliegenden Insel? Hilft der Name uns ihre philosophierenden Bewohner besser zu verstehen? Was sagt uns der Name „Laputa“? Das Wort, das ich durch „fliegende“ oder „schwebende“ Insel übersetzte, heißt im Original Laputa. Die richtige Ableitung habe ich aber nie erfahren können. „Lap“ bedeutet in der veralteten Sprache hoch und ‚untuh‘ Gouverneur. So ist durch verderbte Aussprache Laputa aus Lapuntuh entstanden. Mir aber gefällt diese Ableitung nicht, denn sie scheint mir gezwungen. Ich war so kühn, den Gelehrten des Landes eine von mir gemachte Konjektur anzubieten, Laputa sei quasi „lap utet“; „lap“ bedeutet nämlich das Flimmern der Sonnenstrahlen im Meer und „utet“ einen Flügel; mit dieser Auslegung will ich mich jedoch nicht aufdrängen, sondern sie dem Urteile des verständigen Lesers überlassen.25

Beide Ableitungen verdienen Beachtung. Obwohl weltfremd, verstehen es die Laputier doch sehr gut mit ihrer Riesenflugmaschine, 24

25

Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 42021. Gullivers Reisen, S. 176-177.

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die auf der Erde buchstäblich unter ihnen wohnenden Untertanen zu beherrschen. Sollte diese Erdbewohner sich erkühnen, ihren hohen Herrschern Widerstand zu leisten, so brauchen diese nur die fliegende Insel so zu bewegen, dass sie den Aufrührern Sonnenschein und Regen wegnimmt. Sollte das nicht helfen, kann man von oben große Steine auf die Unzufriedenen herabregnen lassen; und im Notfall, lässt sich die Insel so auf die Erde senken, dass sie Häuser und Menschen einfach zerpeitscht. „Hoher Gouverneur“ wäre also kein schlechter Name für diese fliegende Insel. Die zweite Etymologie lässt an Ikaros denken, an den Traum des Menschen sich Flügel zu geben, den dann das Flugzeug erfüllen sollte, wobei von Anfang an die militärische Anwendung die gewonnene Freiheit beschattet. Aber Gulliver können diese gelehrten Ableitungen nicht so recht überzeugen. Warum also trägt dieses fliegende Heim einer Gesellschaft von Logozentrikern gerade den Namen „Laputa“? Von Gulliver lernen wir, dass die Sprache der Laputier ihn an das Italienische erinnere. Im Spanischen und Portugiesischen ist „La puta“ die Hure. Nun spricht die Bibel von der Hure Babylon. Babylon meint hier die von Gott abgekehrte Stadt oder Gemeinde und von Gott ist auf Laputa keine Rede. Die Laputier haben ihre Vernunft. Es ist diese Vernunft die sie die Gott gegebene Erde mit einer gigantischen Flugmaschine ersetzen ließ. Laputa gibt uns ein Bild des uns von unserer Vernunft gebauten, in der Luft schwebenden Babylons. Nicht, dass ihre Vernunft den Laputiern ein Gefühl der Sicherheit geben könnte. Als weitblickende Astronomen wissen sie sehr gut, dass das Leben auf dieser Erde früher oder später ein Ende haben wird. Könnte ein nahe vorbeiziehender Komet nicht die Erde in Asche verwandeln? Und wird uns die Sonne immer so scheinen wie jetzt? So lässt ihre Vernunft die Laputier nicht zuversichtlich in die Zukunft blicken. Im Gegenteil. Sie wissen, dass ihre Vernunft nicht ausreichen würde, die sie ängstigenden Katastrophen abzuwenden. So treibt sie eine Unruhe, die sich nicht gut schlafen lässt. Aber gerade das Denken an immer wieder neu auftauchende mögliche Katastrophen unterhält sie und gibt ihrem Leben einen Inhalt. So vergleicht sie Gullliver mit Kindern, die mit größtem Vergnügen den schrecklichsten Geschichten von Geistern

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und Gespenstern zuhören „um aus Furcht nicht zu Bett gehen zu können.“26 Ich sagte, die Laputier hätten Kontakt mit ihren Körpern und der Erde verloren. Aber warum nicht sagen: sie hätten sich über ihre Erd-gebundenes Dasein erhoben? Und ist eine solche Selbsterhebung nicht Voraussetzung wirklicher Freiheit und wissenschaftlicher Objektivität? Was braucht es da noch Gott? Ist Nietzsches toller Mensch nicht toll gerade weil er sich an etwas klammert, das uns nichts mehr bedeuten kann? Vom Verwesen Gottes kann nur einer sprechen, der vom einstigen Leben Gottes weiß und mit dem Verlorenen zu kämpfen hat. Eine wirklich aufgeklärte Menschheit wird mit solchen Worten nichts anfangen können.

6.6 Das doppelte Antlitz der Neugier Wir sollten den mit der Gedankenarbeit der Laputier verbundenen Wirklichkeitsverlust nicht überbetonen. So wie wir nicht nur vom Brunnensturz des geistesabwesenden Thales hören, sondern auch von seiner Vorhersage einer reichen Olivenernte, die ihn für nur wenig Geld die Ölmühlen in Milet und Chios pachten ließ, an denen er dann gut verdient haben soll, damit zeigend, dass ein Philosoph durchaus praktisch sein kann, so sind auch Swifts Laputier nicht nur in sich selbst gekehrte Philosophen, sondern auch sie zeigen, dass sie gelernt haben ihren Willen durchzusetzen und die Natur und ihre an die Erde gebundenen Mitmenschen zu meistern. Nicht, dass es solche Meisterschaft wäre, die sie am meisten interessiert, wie ja auch Thales, wie uns Aristoteles erzählt, der finanzielle Erfolg wenig bedeutete. Der Laputier Liebe zu Geometrie und Astronomie ist rein. Sie wollen wissen nur um zu wissen. Sie treibt eine letzten Endes nicht zu befriedigende Neugier. Das erklärt was Gulliver sich nicht erklären kann: Am meisten habe ich mich aber über den mir unerklärlichen Umstand gewundert, dass sie eine leidenschaftliche Neigung zur Politik und zu Neuigkeiten hegen, Staatsangelegenheiten fortwährend untersuchen und jeden Punkt einer Parteimeinung streitig machen. Dieselbe Neigung habe ich auch in Europa bei Mathematikern bemerkt, obgleich ich keine Ähnlichkeit von Mathematik und Politik entdecken konnte. Vielleicht sind diese Leute der Meinung, ebenso 26

Ebd., S.180-181.

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wie der kleinste Kreis dieselben Grade habe wie der größte, so verlange auch das Ordnen der Welt keine größere Fähigkeit als die Gewandtheit, mit einem Globus umzugehen. Jedoch möchte ich den Grund dieser Eigenschaft vielmehr in einer allgemeinen menschlichen Schwäche suchen, infolge deren wir am meisten für solche Dinge interessiert sind, die uns nichts angehen und für die wir uns nach unserer Vorbildung und unseren Geistesfähigkeiten durchaus nicht eignen.27

Was gehen die Laputier die Sterne an? Was kümmerten sie Thales? Wie haben wir das unersättliche und doch meist im Grunde unbeteiligte Interesse für traurige Geschehnisse und schreckliche Neuigkeiten zu verstehen, dem Zeitungen und Fernsehen ihre Existenz verdanken? Schon Augustinus wusste um und beklagte solche Neugier: Was gibt es denn für ein Vergnügen, einen zerfleischten Leichnam zu sehen, vor dem man zurückschaudert; und doch laufen sie da, wo er liegt, zusammen, um ihn zu beklagen und sich zu fürchten. Sie fürchten, es im Schlafe zu sehen, gerade als hätte sie jemand gezwungen, es wachend zu sehen oder als hätte sie irgendein Ruf besonderer Schönheit dazu verführt. […] Von da aus geht man weiter, die Geheimnisse der Natur, die außer uns liegt, zu ergründen, was zu wissen nichts nützt und nichts anderes ist als Neugier der Leute.28

War es nicht die Neugier die einst Adam und Eva das Paradies verlieren ließ? Immer wieder wird uns unsere Neugier irgendein Paradies verlieren lassen, ist es doch unsere Vernunft, der Anspruch auf Wahrheit und Autonomie, der sich im Spruch der Schlange „ihr werdet sein wie Gott“ verbirgt und uns zu dem immer schon aus der Ordnung der Natur herausgefallenen, wesentlich mit sich selbst unzufriedenen, ruhelosen Tier macht? Warum unsere Neugier als Augenlust verdammen? Ist es nicht eben der Verlust des Paradieses der den Menschen aus seiner Befangenheit in der Natur befreit und so erst wirklich zum Menschen werden lässt? So verstand Aristoteles dieses Verlangen zu sehen nur um zu sehen und stellte es an den Anfang seiner Metaphysik als Ursprung aller Philosophie und Wissenschaft. In seinem 1951 als Beitrag zum 2. Darmstädter Gespräch gehaltenen Vortrag, Der Mythus des Menschen hinter der Technik, ver27 28

Ebd., S. 179. Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus X, 35, in der Übers. v. Otto F. Lachmann. Leipzig 1888.

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glich Ortega y Gasset solche Unzufriedenheit mit einer Liebe ohne Geliebte, mit einem „Schmerz, den wir in Gliedern fühlen, die wir niemals gehabt haben“29 Es war dies dieselbe Architektentagung auf der auch Heidegger seinen ganz anders gerichteten Vortrag Bauen Wohnen Denken hielt und die anwesenden Architekten aufforderte, von einem Schwarzwaldhof zu lernen, was für ein Bauen einmal ein eigentliches Wohnen erlaubte, als ob vor der Aufklärung die Menschen in ihrer Welt wirklich zuhause und mit sich selbst und der Welt zufrieden gewesen wären. Ortega wenigstens wollte von einer solchen Zufriedenheit nichts wissen; und so nennt er die Unzufriedenheit „das Höchste, was der Mensch hat, eben weil es sich um eine Unzufriedenheit handelt, weil er Dinge haben will, die er niemals gehabt hat“.30 Und gehört nicht das immer noch mehr Wollen, das Streben nach Höherem, zu unserem Wesen, nicht zu trennen von unserer Vernunft, die alles Wirkliche in den logischen Raum des Möglichen stellen muss und uns die uns aufgegebene Lebenswelt mit möglichen Welten vergleichen lässt, deren Lockungen und Versprechen die uns vertraute Welt nicht genügt? Solcher Unzufriedenheit entspringt die Technik, die uns eine neue Welt schaffen soll „weil die eigentliche Welt für uns nicht passt, weil wir an dieser Welt krank geworden sind. Diese neue Welt der Technik ist für uns wie ein riesiger orthopädischer Apparat, den Sie [Ortega wandte sich hier an seine Zuhörer, die anwesenden Architekten] schaffen wollen, und die ganze Technik hat diese wunderbare, aber – wie alles beim Menschen – dramatische Bewegung und Qualität, eine fabelhafte, große Orthopädie zu sein“.31 Heidegger mag bei diesen Worten nicht nur an seinen Schwarzwaldhof gedacht haben sondern auch an Augustinus’ Verurteilung der Neugier und daran, dass das Buch Genesis die Erfindung der Technik dem Geschlechte Kains zuschreibt – als ob uns Architektur und Technik das verlorene Paradies zurückerstatten könnten. So wie sich Ortega und Heidegger in diesem Darmstädter Gespräch gegenseitig in Frage stellten, so stellen sich Fernweh und Heimweh, unserer immer wieder offene Horizonte fordernde Freiheit und das Verlangen nach Geborgenheit gegenseitig in Frage. 29

30 31

Darmstädter Gespräch Mensch und Raum, Hg, Otto Bartning. Darmstadt 1952, S. 116. Ebd., S. 117. Ebd.

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Ich möchte mit ein paar von Heidegger mehrmals zitierten32 Versen Hölderlins schließen: nemlich zu Hauß ist der Geist nicht am Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath. Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist.

Der Geist muss die Heimat verlassen um sich zu finden, muss in der Fremde heimisch werden. So nennt Heidegger in seiner Auslegung von Hölderlins Hymne Der Ister das Gesetz des Unheimischseins das Gesetz des Heimischwerdens.33 Und doch „zehret die Heimat“, lässt ihn nicht los. Und so bleibt dem Auswanderer der Stachel der Heimat, lässt ihn in der Fremde die Heimat suchen. Ist dies nicht im Grund dieselbe Einsicht, die Ortega y Gasset die Technik mit einer „fabelhaften, großen Orthopädie“ vergleichen und auch von den Architekten orthopädische Apparate fordern ließ? Orthopädie setzt ja nicht nur die von Ortega betonte Unzufriedenheit mit den Unzulänglichkeiten des Körpers voraus, sie weiß auch um dessen Unabdingbarkeit. Und ähnlich weiß der Geist um Unzulänglichkeit und Unabdingbarkeit der Heimat, weiß um beides. Darum liebt er im Fremden die Heimat, liebt Kolonie, die wiederholte Heimat, liebt aber auch das Unerwartete und Neue das in der Fremde an ihn herantritt, weiß dass das Hängen an der Heimat dieser Liebe entgegensteht, liebt darum auch tapfer Vergessen. In diesem Sinne sagt Heidegger, es sei die verlassene Heimat, die uns doch nicht loslässt, die die Sterblichen in ihr Wohnen ruft. Zentrifugale und zentripetale Tendenzen kreuzen sich im Menschen, in seinem Wohnen. Der Mensch verlöre sich selbst, bliebe er nicht unterwegs zur Heimat.

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33

Vgl. Martin Heidegger, „Andenken“, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1981, S. 89-90; Hölderlins Hymne „Andenken“, Gesamtausgabe, Bd. 52, Frankfurt a. M. 1982, S. 189-191; Hölderlins Hymne „Der Ister“, Gesamtausgabe, Band 54, Frankfurt a. M. 1984, S. 156-170. Hölderlins Hymne „Der Ister“, S. 166.

7. Ein- und ausräumendes Bauen

7.1 Die Antinomie des Raums Ein wirklich freies Denken duldet keine unüberschreitbaren Grenzen oder Mauern. So erfuhr Giordano Bruno (1548 –1600) den endlichen Kosmos der Antike und des Mittelalters als Gefängnis. Sein jüngerer Zeitgenosse Johannes Kepler (1571 –1630) dagegen hielt die Annahme eines unendlichen Kosmos für unvereinbar mit dem Anspruch auf Wahrheit. In den entgegengesetzten Überzeugungen dieser beiden unser modernes Weltbild mitbegründenden Denker spiegelt sich Kants erste Antinomie. Die Thesis dieser Antinomie behauptet: „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen.“ Darauf bestand Kepler. Die Antithesis entgegnet: „Die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, wie des Raumes, unendlich.“1 Darauf bestand Bruno. Die Thesis stützt die Überlegung, dass um etwas wirklich zu begreifen wir es als ein Ganzes, und somit als begrenzt, denken müssen. Etwas wirklich begreifen heißt, es in Gedanken konstruieren können. So konstruieren aber lässt sich nur Endliches. Die Welt als ein so konstruiertes Ganzes denken können wir nur wenn wir sie als ein aus den sie konstituierenden räumlichen Elementen gebildetes Ganzes verstehen. Aber jedes so konstruierte Ganze präsentiert sich uns unumgänglich als eine vor den Hintergrund des leeren Raumes gestellte Figur. Dieser Raum lässt sich nicht begreifen. Er ist kein Seiendes, in diesem Sinne nichts. Die Welt als begrenztes Ganzes denken heißt eine Grenze denken. Der Gedanke einer Grenze der Welt ist der Gedanke an eine Mauer. Aber in seiner Freiheit überspringt unser Denken zwangsläufig eine jede solche Mauer. Weder eine endliche noch eine unendliche Welt lässt sich wirklich begreifen. Eben das sollte Kants Antinomie beweisen. Was uns unsere Naturwissenschaft begreifen lässt ist immer nur ihre Erscheinung, eine Erscheinung deren Form

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Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 427/B 455.

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7. EIN- UND AUSRÄUMENDES BAUEN

der von der Naturwissenschaft erhobene Anspruch auf Wahrheit bestimmt. Im Grunde ist dieser Gedanke an die Unbegreifbarkeit der Wirklichkeit so alt wie die Trugschlüsse Zenons oder Platons Timaios. Und er begleitet immer noch die neuesten kosmologischen Modelle. Eng verwandt ist die Unbegreifbarkeit des Raumes und der Zeit. Ein jeder Versuch den Raum zu begreifen ist ein Konstruieren und eine jede solche Konstruktion führt uns in eine Antinomie. Schon das Sprechen von einer Konstruktion des Raumes deutet auf eine solche Antinomie, in dem es uns einlädt den Raum einmal als etwas Konstruiertes, aber auch als etwas uns unmittelbar Gegenwärtiges zu verstehen. Mit Kant sollten wir vielleicht vom Raum als einer von jeder Konstruktion des Raumes immer schon vorausgesetzten reinen Anschauung des Raumes sprechen. Aber was heißt: den Raum konstruieren? Kant denkt dabei an die Art wie die Dinge unserer Welt sich uns in einer bestimmten räumlichen Ordnung präsentieren. Das ist hier und hat eben diese Gestalt, das da drüben hat eine ganz andere Gestalt. Geometrische Konstruktion bestimmt die Form dieser Ordnung. Denken wir uns einen Linie, einen Punkt auf dieser Linie, eine zweite Linie senkrecht zur ersten, durch eben diesen Punkt, und nun eine dritte, senkrecht zu beiden. So konstruieren wir den drei-dimensionalen euklidischen Raum. Nun können wir Dinge in diesen Raum stellen. Der so verstandene Raum ist Voraussetzung der Albetischen Perspektivkonstruktion. Aber setzt nicht ein jeder so konstruierter Raum, und es braucht nicht der euklidische Raum zu sein, eine vorbegriffliche Anschauung des Raumes voraus? Kant spricht von einer reinen Anschauung, aber auch „reine Anschauung“ ist eine Metapher, als solche eine Konstruktion, die das zu Denkende zu verdunkeln droht, setzt doch jedes Anschauen den Raum immer schon voraus. Das Angeschaute und das anschauende Auge trennt wesentlich ein Abstand. Das Adjektiv „rein“ soll nun was unsere Anschauung des Raumes von unserer Anschauung der Dinge trennt unterstreichen: „Ich nenne alle Vorstellungen rein (im transzendentalen Verstande), in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird.“2 Aber wie „Anschauung“, setzt auch „Vorstellung“ den Raum 2

Ebd., A 20/B 34.

7. EIN- UND AUSRÄUMENDES BAUEN

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schon voraus, lässt das Wort uns doch an ein vor uns gestelltes Ding denken. So ist Kants Bestimmung des Raumes als einer reinen Anschauung oder Vorstellung selber nicht rein sondern eine weitere den Raum verdinglichende metaphorische Konstruktion, die versucht was sich letztlich nicht domestizieren lässt, zu domestizieren. Aber wie sonst sollen wir den Raum begreifen? Und müssen wir den Raum nicht domestizieren um uns in dieser Welt zuhause zu fühlen. Ebenso domestiziert der Demiurg in Platons Timaios den Raum mit seiner Konstruktion der Welt im Bilde der Geometrie. Das aristotelische Bild des Kosmos als einer immensen aber doch endlichen Kugel ist Produkt einer vergleichbaren Domestizierung des Raumes; und Gleiches gilt vom anheimelnden, als Weltgebäude gedachten Kosmos des Mittelalters. Aber jede solche Konstruktion begleitet der vorausgesetzte unheimliche Raum, der sich jeder Domestizierung widersetzt. Was geschieht wenn wir in Gedanken die Grenze der Welt erreichen und das Firmament durchstoßen? – und, wie es uns Märchen lehren können, etwas zieht uns zu dem dahinterliegenden Raum. Wie es in Robert Frosts Gedicht Mending Wall heißt: Something there is that doesn't love a wall, That wants it down

Mauern wollen niedergerissen, geschlossene Türen wollen geöffnet werden. So können wir Kants erster Antinomie einen ethischen Ausdruck geben: in uns Menschen begegnen sich letztlich unversöhnlich ein Verlangen nach Geborgenheit und der Anspruch des unendlich offenen Raumes. Dem Vorbild Aristoteles folgend, rufen Phänomenologen wie Heidegger uns zurück zur Lebenswelt und bestehen auf dem Vorrang des endlichen vor dem unendlichen Raum, der das Naturbild der Neuzeit bestimmen sollte. Und entspricht dieser Vorrang des endlichen Raumes nicht unserem alltäglichen In-der-Welt sein? Hat uns nicht unser Körper immer schon an einen bestimmten Ort gesellt, hier und jetzt, auf diese Erde, unter diesen Himmel? Untrennbar verbunden damit ist eine bestimmte Orientierung: Rechts und links, oben und unten, vorne und hinten haben Bedeutungen denen die Dimensionen des euklidischen Raumes nicht gerecht werden. In unserem Körper hat unsere Welt ihre natürliche, wenn auch bewegliche Mitte.

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7. EIN- UND AUSRÄUMENDES BAUEN

Aber nicht nur unser Körper hat uns immer schon an einen bestimmten Ort gestellt. Gleiches gilt auch von unserer geistigen Situation: eine bestimmte Geschichte hat die Möglichkeiten die sich uns bieten immer schon geordnet, hat uns die Maße gegeben, mit denen wir zunächst über Wert und Unwert entscheiden. Aber solche Orientierung begleitet unsere wesentliche und immer noch zunehmende Beweglichkeit, wobei ich nicht nur an die Möglichkeit denke, buchstäblich unseren Ort zu wechseln, sondern mehr noch an unsere geistige Beweglichkeit. Die Gedanken sind frei. Und solcher Freiheit entspricht der unendliche Raum. So ist das Problem des Raumes auch ein Problem der Freiheit. Freiheit fordert den grenzenlosen Raum. Aber diese Forderung begleitet die Angst, uns in diesem Raum zu verlieren und ziellos in ihm zu treiben. Unser Wille muss sich binden, soll er nicht in Willkür umschlagen; und das macht es nötig, dem unendlichen Raum eine platzanweisende Ordnung abzuringen. In dieser Not hat Architektur – gebaute Architektur, aber auch die Gedankenarchitekturen der Philosophen – ihren Ursprung, einen Ursprung der Schutz verspricht aber gleichzeitig die Wirklichkeit mit einer menschlichen Konstruktion zu verdecken droht. Das gibt dem babylonischen Turm seine dauernde Bedeutung als Metapher eines Unbehagens das alle Architektur von Anfang an begleitet. Etwas in uns will die uns von unserem Bauen eingeräumte Welt ausräumen. Der Dekonstruktivismus antwortet solchem Begehren. Auch er träumt von einem ausräumenden Bauen.

7.2 Ausräumendes Bauen Aber was sollen die Ausdrücke: aus- und einräumendes Bauen oder aus- und einräumendes Denken? Ausräumen schafft oder besser noch befreit Räume, dadurch vielleicht, dass jemand Möbel aus einem Zimmer herausträgt oder ein Dieb ein Schaufenster einschlägt und es dann ausräumt. Ein Arzt mag es für nötig halten, Darm oder Magen auszuräumen. Kanalarbeiter nennen wir manchmal Ausräumer. Wir sprechen auch vom Ausräumen von Missverständnissen oder Zweifeln; solch Ausräumen erlaubt ein aufgeschlosseneres Miteinandersein. Und ist solche Offenheit nicht Voraussetzung jeder eigentlichen Begegnung und auch der Wahrheitssuche? Wahrheit fordert Freiheit.

7. EIN- UND AUSRÄUMENDES BAUEN

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Aber was hat das mit Bauen und verantwortungsvollem Denken zu tun? Meint Kant nicht zurecht, „die menschliche Vernunft“ sei „ihrer Natur nach architektonisch“? Die Vernunft will, wie wir es auch bei Nietzsche lasen, bauen. Aber Bauen will den Raum doch gerade nicht befreien, sondern ihn eingrenzen, einrichten, so dass wir was immer uns begegnen mag, richtig einordnen können. Ist es nicht Aufgabe der Architektur, den Menschen Räume und Plätze zu schenken, Bauten in denen sie sich zuhause fühlen können, die sie den in seinem Wesen unheimlichen Raum vergessen und sie so wohnen lassen? Analoges gilt auch von der Begriffsarchitektur, die uns unsere Vernunft baut. Hat alles Bauen nicht diesem unheimlichen Raum wohnliche Räume abzuringen? Was soll dann „ausräumendes Bauen“ sagen? Ist das nicht ein hölzernes Eisen? Voraussetzung jedes Ausräumens ist ein irgendwie immer schon eingeräumter Raum; sonst gäbe es ja nichts auszuräumen. Aber alles Einräumen setzt immer schon den einzuräumenden Raum voraus. Zwei Bedeutungen von Raum spielen hier durcheinander. So verstehen wir unter Raum erst einmal die Weite oder Ausdehnung, die Voraussetzung jeder Körpererfahrung ist, auch jedes Einund Ausräumens. Ist es nicht dieser Raum, dessen Wesen Galilei, Descartes, Newton, Kant oder Einstein philosophisch, mathematisch und physikalisch zu begreifen versuchten? Solch ein Begreifen kann allerdings diesen Raum nicht ergreifen, sondern ersetzt ihn mit einer von uns verfügten und verfügbaren Konstruktion. In diesem Sinne räumt es ihn ein. Müssen wir nicht den grenzenlosen Raum, zusammen mit der Zeit, als den immer schon irgendwie mitanwesenden, doch sich unserem Begreifen letztlich entziehenden Hintergrund alles Geschehens, und das heißt auch, alles Räumens und alles Bauens, verstehen? Das Wort ausräumen, jedoch, lässt uns Raum erst einmal anders verstehen: als Sammelwort für etwas, meist durch bauen Begrenztes: ein Zimmer, z.B., oder ein Haus, oder ein Platz. Aber auch Lichtungen und Landschaften, wie das Nördlinger Ries, sind Räume. Solche Räume können ausgeräumt werden. Aber wenn ich hier von einem den Raum befreienden, ausräumenden Bauen spreche, denke ich Raum als grenzenlose Weite die uns jede Heimat verweigert, denke also ein Bauen, das das Gebaute diesem unheimlichen, unbegriffenen und unbegreifbaren Raum öffnet. Aber heißt das nicht der eigentlichen Aufgabe der Architektur, uns nicht nur physisch sondern auch geistig Obdach zu schaf-

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fen, uns ein Heim zu geben, zu widersprechen? Wäre eine solche ausräumende Architektur nicht eine gegen Architektur gerichtete Architektur, eine Anti-Architektur also? Was soll eine solche Architektur? Die Tatsache, dass solche Anti-Architektur in Theorie und Praxis heute eine große Rolle spielt, wie ja auch das Unheimliche und das Erhabene, gibt zu denken. Joseph Addisons Satz „ein offener Horizont ist ein Bild der Freiheit“3 gibt uns hier einen Fingerzeig. Vereinfachend gesagt: Ausräumendes Bauen will das Erhabene, einräumendes Bauen das Schöne. Das Erhabene aber ist Bild der Freiheit. Ausräumendes Bauen sucht solche Bilder.

7.3 Einräumendes Bauen Befremdet der Ausdruck ausräumendes Bauen erst einmal, so sagt einräumendes Bauen schon mehr. Das Einräumen einer Wohnung macht sie wohnlich. Einräumendes Denken oder Bauen wäre dann ein Denken oder Bauen, das uns die Welt einräumt und sie so wohnlicher oder heimeliger macht. Etwas einräumen heißt auch jemand etwas zugestehen, ihm entgegenkommen, aber so, dass wir ihm seinen Raum lassen. Solch Zugeständnis baut Brücken zu unseren Mitmenschen, stiftet Gemeinschaft. Auch so verstanden macht das Einräumen die Welt wohnlicher. Besonders viel wird das Wort „einräumen“ denen sagen, die ihm in Heideggers Sein und Zeit, Bauen Wohnen Denken oder Kunst und Raum begegnet sind. Nach Heidegger geschieht das Einräumen „in der zwiefachen Weise des Zulassens und des Einrichtens“: Einmal gibt das Einräumen etwas zu. Es lässt Offenes walten, das unter anderem das Erscheinen anwesender Dinge zulässt, an die menschliches Wohnen sich verwiesen sieht. Zum anderen bereitet das Einräumen den Dingen die Möglichkeit, an ihr jeweiliges Wohin und aus diesem her zueinander zu gehören.4

So verstanden schafft das Einräumen erst den Raum, der Dinge für uns sein lässt. Sehr ähnlich versteht Heidegger das Wesen der 3 4

Joseph Addison: Spectator, Nr. 412. Martin Heidegger: Die Kunst und der Raum. Aus der Erfahrung des Denkens, 1910–1976, Gesamtausgabe, Bd. 13. Frankfurt a. M.1993, S. 207.

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Sprache. Sprache und Bauen nennen beide den Ursprung, der Seiendes sein lässt. Mit Sprechen und Bauen fängt die Geschichte des Menschen an. Einräumen nennt nach Heidegger den Grundcharakter alles Räumens. Räumen „meint: Roden, die Wildnis freimachen. Das Räumen erbringt das Freie, das Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen“.5 Räumen, gedacht als „Freigabe“ oder „Gewähren“ von Orten und Dingen gibt Menschen den nötigen Raum. Raum, Rum heißt freigemachter Platz für Siedlung und Lager. Ein Raum ist etwas eingeräumtes, Freigegebenes, nämlich in eine Grenze, griechisch péras. Diese Grenze ist nicht das wo etwas aufhört, sondern wie die Griechen erkannten, von woher etwas sein Wesen beginnt. Darum ist der Begriff horismos, d. h. Grenze. Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelassene. Das Eingeräumte wird jeweils gestattet und so gefügt, d. h. versammelt durch einen Ort, d. h. durch ein Ding von der Art der Brücke.6

Das Bauwerk, hier in Bauen Wohnen Denken eine Brücke, gibt Raum. Ganz ähnlich heißt es in Kunst und Raum von einer Plastik, sie wäre „die Verkörperung von Orten, die, eine Gegend öffnend und sie verwahrend, ein Freies um sich versammelt halten, das ein Verweilen gewährt den jeweiligen Dingen und ein Wohnen dem Menschen inmitten der Dinge.“7 So verstanden ist Raum wesentlich wohnlich. In ihm sind wir immer schon irgendwie zuhause. Aber diesen Raum Geben ist schwer zu verstehen. „Raum“, so will es scheinen, kann hier nicht mehr verstanden werden als Voraussetzung von all den Dingen und Orten die uns begegnen können, setzt das Bauen einer Brücke oder das Aufstellen einer Plastik doch immer schon einen geeigneten Raum voraus. Wie kann es dann heißen: erst das freigebende Einräumen gibt Raum: „Der Ort befindet sich nicht im vorgegebenen Raum nach Art des physikalisch-technischen Raumes. Dieser entfaltet sich erst aus dem Walten von Orten einer Gegend.“8 Aber die Brücke die Raum gibt wurde doch von Menschen gebaut, die auch schon in ihrer Welt zuhause waren. Das wiederum setzt ein Raumverständnis voraus. Jedes Raum gebende Einräumen setzt somit einen anders verstan5 6

7 8

Ebd., S. 206. Martin Heidegger, „Bauen Wohnen Denken“, Vorträge und Aufsätze, Gesamtausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. 2000, S. 56. „Die Kunst und der Raum,“ S. 208. Ebd.

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denen Raum voraus. Und mögen die Brückenbauer auch diesen Raum einem vorhergehenden Einräumen verdanken, jedes solches Einräumen setzt immer schon einen anders verstandenen Raum voraus. Zwei Raumbegriffe stoßen hier aufeinander: Der eine gründet in der Raumerfahrung unseres alltäglichen In-der-Welt-Seins. Was uns Raum erschließt ist unser Umgang mit Menschen und Dingen. So verstanden, lässt uns jeder Raum immer schon irgendwohin gehören; erst einmal sind wir in unserer Welt zuhause. Zunächst und zumeist ist Welt Umwelt, Raum Umraum, der uns Handlungsmöglichkeiten eröffnet, umschreibt und begrenzt. Und so versteht Heidegger Einräumen als ein das Wesen des Menschen bestimmendes Existenzial: Raum hat sich uns immer schon irgendwie erschlossen, aber zunächst nicht als freie Weite, sondern als immer schon irgendwie eingeräumt, und das heißt Menschen und Dingen ihre verschiedenen Plätze anweisend, sie immer schon irgendwie bindend.9 Erst „auf dem Boden der so entdeckten Räumlichkeit,“ meint Heidegger, „wird der Raum selbst für das Erkennen zugänglich.“10 „Der Raum selbst“: damit sind wir bei dem anderen Raumbegriff. Der Weg, der uns von dem einen zum anderen Raumbegriff führt, ist ein Weg der immer entschiedeneren Befreiung von dem Platz und den Perspektiven die unser Körper-gebundenes, und das heißt auch Ort- und Zeit-gebundenes, Natur- und Gesellschaftsgebundenes, aber auch Vernunft-gebundenes Sehen und Verstehen zunächst bedingen. Tätigkeiten wie Hausbau und Landesvermessung sind hier ein erster Schritt: Mit dieser noch vorwiegend unsichtigen Thematisierung der Umwelträumlichkeit kommt der Raum an ihm selbst schon in gewisser Weise in den Blick. Dem so sich zeigenden Raum kann das reine Hinsehen nachgehen unter Preisgabe der vordem einzigen Zugangsmöglichkeit zum Raum, der umsichtigen Berechnung. Die „formale Anschauung des Raumes entdeckt die reinen Möglichkeiten räumlicher Beziehungen11

Aber ist eine solche Befreiung von allem was unser Sehen und Verstehen verunreinigen könnte, nicht Forderung der Wahrheitssu9

10 11

Martin Heidegger: Sein und Zeit, Gesamtausgabe, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1976, S. 148. Siehe §§ 22, 24, 70. Ebd., S. 149. Ebd., S. 149.

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che? Schon das reine Hinsehen, das Sehen will, nur um zu sehen, macht uns freier. Schon hier geht der Mensch nicht mehr „in der besorgten Welt auf.“ Nicht mehr an die Werkwelt gebunden, wird unsere Umsicht frei. Den so befreiten Menschen zieht es jetzt in die Ferne. Das Fernweh, die Neugier, die Lust zu sehen nur um zu sehen, zu verstehen nur um zu verstehen, die Aristoteles als Anfang aller Theorie und Wissenschaft verstand, gibt Flügel, lässt den Menschen seine Umwelt überfliegen, lässt ihn von anderen Welten träumen. Neugier, Freiheit und Verlust von Heim und Heimat gehören zusammen. Und so steht hinter den Worten „Aus- und einräumendes Bauen“ der Zwiespalt von Fernweh und Heimweh. Jeder Versuch, den Raum zu begreifen, wird ihn irgendwie einräumen. Ich erinnere noch einmal an die eben zitierten Sätze: Ein Raum ist etwas eingeräumtes, Freigegebenes, nämlich in eine Grenze, griechisch péras. Diese Grenze ist nicht das wo etwas aufhört, sondern wie die Griechen erkannten, von woher etwas sein Wesen beginnt. Darum ist der Begriff horismos, d. h. Grenze.

Der Begriff räumt ein. Jeder begriffene Raum ist immer schon ein irgendwie eingeräumter Raum und setzt als solcher den unbegriffenen Raum voraus.

7.4 Geometrie und Fantasie Ausräumende Architektur, so sagte ich, sei eine gegen Architektur gerichtete Architektur, eine Anti-Architektur also. Als solche spielt sie auch in der heutigen Architekturwelt, in Theorie und Praxis, eine Rolle. Dabei denke ich unter Anderem auch an zwei Einladungen die ich erhielt, mich mit Beiträgen an Katalogen zu Ausstellungen in Barcelona und Bilbao und in Pittsburgh zu beteiligen. Beide Ausstellungen zeigten ausräumende Architekturen, die jedes einräumende Bauen in Frage stellen. Auf letztere, dem Werk von Lebbeus Woods gewidmet, kam ich im vierten Kapitel zu sprechen. Die Ausstellung in Barcelona und Bilbao, mit dem Titel „Die Stadt die es niemals gab – Fantastische Architekturen in der Kunst des Abendlandes“, zeigte Werke aus zwei Jahrtausenden, von pompejanischen Fresken zu Werken der letzten Jahre, diese hauptsächlich von iberischen und englischen Künstlern. Aber nicht unerwartet standen Maler des Manierismus und des Barocks im Mittelpunkt, wie z. B. der Architekt, Dekorateur und Maler Hans Vre-

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deman de Vries (1526-1606), dessen stilbildende Meisterschaft in der Kunst der Perspektive es ihm nicht nur erlaubte, fantastische Architekturen zu malen als Bilder einer utopischen Freiheit, aber auch zu zeigen, wie Raum in Gebautes eindringen kann, es aushöhlend oder ausräumend. Und hier ist bemerkenswert, wie leicht sich bei Vries ein Bild der Freiheit in ein Bild des Schreckens verwandelt. „Fantastische Architekturen“ – darin steckt eine gewisse Spannung. „Architektur“ nennt erst einmal die Baukunst, aber auch das dieser Kunst gemäß errichtete Werk. Im übertragenen Sinn nennt es alles was auf festem Grund ruht und gut gebaut ist. So lieben, wie wir sahen, besonders Philosophen der Architektur entlehnte Metaphern, und keiner mehr so als der mit de Vries vertraute, etwas jüngere Descartes, der seine Methode gerne mit der von Architekten verglich. Die Wissenschaft und Technik, die unsere moderne Welt gestaltet haben, haben ihren Ursprung in der geistigen Architektur, die er bauen half. „Fantasie“ dagegen entzieht sich der Vernunft. Hier herrscht die Einbildungskraft, sie wiederum getrieben von Lust und Ekel, Verlangen und Furcht. Was ihr entspringt ist nicht fest Gebautes, sondern Erdichtetes, Traumvisionen, ungebeten sich aufdrängende Erscheinungen. „Fantastische Architekturen“ – das erinnert ein wenig an die immer wieder vergeblich versuchte Quadratur des Kreises, durch Jahrhunderte Metapher des ebenso vergeblichen Versuches das unendliche Wesen Gottes zu begreifen. So bieten uns auch fantastische Architekturen immer wieder Bilder eines glückseligen Wohnens, in dem weder Vernunft noch Lustverlangen, weder Ordnung noch Freiheit, weder Geist noch Körper zu kurz kommen. Utopie erscheint hier als Eutopie, mit Thomas More verstanden als ein imaginäres Reich in dem Vernunft, Freiheit, und Zufriedenheit alles Widrige vertrieben haben. Nun hat Utopie, dieses imaginäre und nirgendwo existierende Reich, nicht nur diesen positiven Beiklang: Auch Babel, Labyrinth und Hölle sind Utopien, beschatten Jerusalem, Paradies und Himmel. So beschattet die Dystopie die Eutopie. Dieser Schatten liegt auch auf den festlichen ausräumenden Architekturen, die in den Architekturphantasien des Manierismus eine so große Rolle spielen. Ich erwähnte Hans Vredeman de Vries. Seine Kunst erlaubt es mir zu präzisieren, was ich unter einem ausräumenden Bauen ver-

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stehe und was solch ein Bauen zugleich anziehend und zutiefst fragwürdig macht. De Vries ist ein von der Kunst der Perspektive besessener Künstler. Nun kann das auch von vielen anderen Künstlern dieser Zeit gesagt werden, wie z. B. Desiderio Monsú, Dirck van Delen oder Francisco Gutiérrez. Warum also gerade de Vries hier besonders hervorheben? Eine erste Antwort: der holländische Meister ging den Anderen voraus, wies ihnen den Weg und half die Architekturfantasie als Genre zu etablieren.12 Aber was mich hier interessiert ist Anderes: seine Bilder helfen uns die geistige Bedeutung der Perspektive, des Raumes und eines ausräumenden Bauens besser zu verstehen. Vasari sagte einmal von Uccello, dass seine maßlose Begeisterung für die Perspektive drohte, alles Leben aus seinen Bildern zu saugen, dass seine Meisterschaft dieser Kunst ihn daran hinderte, ein besserer Maler zu werden. Das erinnert an Nietzsches Sprechen von dem Kolumbarium, das uns unsere Wissenschaft baut. Und gilt Ähnliches nicht auch von de Vries? Dass er so oft die Menschen in seinen Bildern nicht selber malte, dass sie in diesen Bildern nur eine ornamentale Funktion besitzen, entbehrliche Zugabe zum Wesentlichen, der dargestellten Architektur, gibt zu denken. In zwei Bildern im Kunsthistorischen Museum in Wien, Palastarchitektur mit Spaziergängern (1596) und Palastarchitektur mit Musizierenden (1596), sind die Figuren von dem jungen van Ravesteyn. Und inwiefern der Sohn des Künstlers Paul für die Ausführung der Inventionen seines Vaters verantwortlich war, ist ungewiss.13 Aber die erfinderische Einbildungskraft des Vaters wurde höher geschätzt als die Übersetzung seiner Entwürfe in Bilder. So ist es nicht überraschend, dass heute der Ruhm dieses Architekten, Malers, und vielbeschäftigten Stechers14 weniger seinen Gemälden verdankt als seinen vielen Veröffentlichungen: Lehrbücher, die mit ihren Illustrationen Architekten, Malern, Gärtnern, und Dekorationskünstlern Methode und Anregung boten, aber oft auch fantastisch, auf eine Art, die uns die ursprüngliche Absicht vergessen lässt. Methode befreit hier die Einbildungskraft.

12 13

14

Hans Jantzen: Das niederländische Architekturbild. Leipzig 1910. Thomas DaCosta Kaufmannn, The School of Prague. Painting at the Court of Rudolf II, Chicago und London 1985, S. 287-288, Abb. 25.1 und 25.2. Siehe Hans Mielke: Hans Vredeman de Vries, Verzeichnis der Stichwerke und Beschreibung seines Stils, Dissertation, Berlin 1967.

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Das Verlangen nach Methoden und Leitfäden steht am Eingang unseres modernen Weltgebäudes. In den Regulae präsentiert uns Descartes so seine Methode als einen Ariadnefaden, der uns aus dem Labyrinth der Welt in das offene und schön geordnete Land der Vernunft führen soll. Den Schlüssel bietet hier die Logik der Perspektive. Wer diese Logik verstanden hat, wird sich nicht mehr von perspektivgebundenen Erscheinungen täuschen lassen, wird den Weg zu einem wahrhaft objektiven Wissen finden.15 Aber das Land der Wahrheit, das ein solches Wissen erschließt kennt keine Farben, keine Menschen, die Schatten werfen. Wie sich zeigen wird, besteht eine enge Verwandtschaft zwischen den Methoden von Descartes und de Vries. Aber dem Künstler wird die Perspektive zu einem Ariadnefaden, der nicht so sehr aus dem Labyrinth herausführt, sondern zurück ins Labyrinth. Die Beherrschung der Perspektive befreit hier die Einbildungskraft, eröffnet bisher ungeahnte Möglichkeiten, die Natur und ihre Ordnung umzustürzen. De Vries lässt uns nicht vergessen, dass das Labyrinth, Werk des mit Kain zu vergleichenden Daidalos, dessen Kunstfertigkeit es der kretischen Königin Pasiphae erlaubte ihr unnatürliches Verlangen nach einem Stiere zu befriedigen, die geistige Architektur durchspukt, die Descartes, schön geordnet, auf festen Grund stellen wollte. Wir wissen, dass Descartes’ Versprechen einer Methode, die uns zu Meistern und Besitzern der Natur machen würde, kein eitles Sich-versprechen war. Aber wo findet solche Meisterschaft Richtung und Maß? Gibt sie dieselbe Vernunft, der Descartes seinen Ariadne Faden verdankte? Versprach auch dessen Methode die schmutzigen, zusammengewürfelten Städte der Zeit, mit herrlichen, nur der Vernunft gehorchenden, befreienden, utopischen Architekturen zu ersetzen, von denen die Architekturfantasien der Zeit uns ein erstes Bild geben können, so regt sich doch etwas in uns, das dieser cartesischen Architektur, die das Aussehen unserer modernen Welt immer mehr bestimmen sollte, zu entfliehen sucht. Wie Nietzsche in Morgenröte schrieb: „Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) – so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene und uns wirklich ansprechende Musik lässt es

15

Siehe Karsten Harries, Infinity and Perspective. Cambridge, Mass. 2001, S. 104-124.

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schon errathen.“16 Oder auch, wie es in einem nachgelassenen Fragment heißt, Es gibt Fälle wo es eines Ariadne-Fadens bedarf ins Labyrinth hinein […] Für den, der die Aufgabe auf sich hat, den grossen Krieg, den Krieg gegen die Tugendhaften (– die Guten und Gerechten heißt sie Zarathustra, auch „letzte Menschen“ auch „Anfang vom Ende“ –) heraufzubeschwören, sind einige Erfahrungen beinahe um jeden Preis einzukaufen: der Preis könnte sogar die Gefahr sein, sich selbst zu verlieren.17

So war de Vries berühmt als Entwerfer von Gartenlabyrinthen, die natürlich auch als Labyrinthe der Liebe gedacht waren, in denen die Vernunft ihren Weg verliert. Die bekannteste von de Vries’ vielen Publikationen ist seine Perspective (1604, 1605), eine weitere Demonstration der Kunst der Perspektive in der Tradition von Alberti, Dürer, und Serlio. Was die Methode betrifft, war de Vries kein Erneuerer. Dem was Alberti in Della Pittura zu sagen hatte, hatte er wenig hinzuzufügen. Auch de Vries lässt den Maler erst einmal ein lineares Gerüst konstruieren, als perspektivische Projektion eines dreidimensionalen euklidischen Gitterwerks. Den darzustellenden Dingen wird dann ihr Platz in diesem Gerüst angewiesen. Die fantastischen Architekturen in seinen Gemälden erfahren wir so als Verkörperung einer geometrischen, geistigen Architektur, die, obwohl unsichtbar, doch die Seele dieser Architektur ist. Und Voraussetzung dieser geistigen Architektur wiederum ist das euklidische Gitterwerk, das den unendlichen Raum der damals gerade entstehenden modernen Naturwissenschaft begrifflich einräumt. Werden solche Darstellungen des Raumes more geometrico dem Raum unserer Lebenswelt gerecht? Natürlich nicht! Da gibt es erstens, die Annahme eines monokularen Sehens; zweitens, eines unbeweglichen Auges; drittens, einer flachen Erde. Dass die Künstlichkeit dieser Kunst der Perspektive der natürlichen Perspektive unserer Erfahrung Gewalt antut, wussten die Zeitgenossen sehr wohl, wie z. B. Leonardo und Kepler. Und so trug auch das erste 1505 gedruckte Buch über die Kunst der Perspektive den Titel De artificiali perspectiva.18 Solche Künstlichkeit war ein Op16

17 18

Friedrich Nietzsche: Morgenröthe, 169; Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe,. München, Berlin und New York 1980, Bd. 3, S. 152. Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 14, S. 497. Viator: De artificiali perspectiva. Toul, 1505.

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fer, das man gerne der Möglichkeit brachte, die Erscheinungen der Welt täuschend ähnlich wiederzugeben, versprach die Kunst der Perspektive doch den Maler in die Nachbarschaft der Magier zu rücken. Und so versteht das 17. Jahrhundert die Perspektive gerne als Teil der Thaumaturgie, dieser zwischen Zauber und Wissenschaft schwankenden Wissenschaft der Wunder. Aber wir dürfen nicht vergessen, wie problematisch eine Kunst ist, die die Lebenswelt ihrem idealisierten und rationalisierten Bilde opfert, die den verkörperten, in der Welt handelnden, umsichtigen Menschen mit einem ruhenden Auge ersetzt, ein Handel, der den schwerer wiegenden Handel vorwegnimmt, mit dem die neue, von Galilei und Descartes inaugurierte Wissenschaft, an die Stelle der Lebenswelt ihr idealisiertes Bild treten ließ, ein Weltbild, das die Natur in eine mathematisch begreifbare res extensa verwandelte, den Raum homogenisierte und als bloße extensio verstand, den Menschen zu einer vergeistigten, körper- und deshalb schattenlosen res cogitans werden ließ. Die Methode Descartes’ hat ihren Vorläufer in Albertis Perspektive. Schon in Della pittura zeichnen sich die Konturen unseres modernen Weltbildes ab. In den fantastischen Architekturen die wir de Vries verdanken verbinden sich geometrische an die Vernunft gebundene Methode und Fantasie auf eine Art, die uns seine Paläste als fast surrealistische Konstruktionen erfahren lässt, wobei ein solcher Eindruck von der Strenge mit der hier den Gesetzen der perspectiva artificialis gehorcht wird nicht zu trennen ist. Solcher Gehorsam bedingt einen Wirklichkeitsverlust, entrückt die Architektur im Bild der Lebenswelt. Werfen wir noch einmal einen Blick auf die zwei Bilder, die de Vries für Kaiser Rudolf den Zweiten malte. Beide ziehen unser Auge durch einen Tunnel zum Fluchtpunkt, ehe es ihm erlaubt wird, die luftige Architektur zur Linken zu durchwandern. Auffallend ist wie Säulen, und nicht Wände, diese Palastarchitektur bestimmen. Innen und außen fließen ineinander. Vor Wetter oder Feinden braucht man sich in dieser Welt nicht zu schützen. Dies ist eine Architektur für sorgenfreie Spaziergänger und Musikanten, für erotische Spiele; eine Festarchitektur für Menschen, die sich von den Pflichten, Sorgen, und Lasten des Alltags befreit haben; eine Architektur die Nietzsches Geist der Schwere scheinbar verbannt hat. Solche Architektur weckt die Freiheit. Aber es ist nicht nur die Luftigkeit dieser Architektur, die das Auge einlädt, den verführerischen Diagonalen zu folgen, hinter

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dem im Bilde sichtbare Räume aufzusuchen, in denen vielleicht ein ungeahntes Glück zu finden wäre. Das Offene solcher Säulenarchitektur unterstreicht nur was wichtiger ist: Die Art, wie der Maler hier die Architektur dem unsichtbaren Gitterwerk der Perspektive unterwirft, entrückt sie der Lebenswelt, rückt sie in den unendlichen Raum der euklidischen Geometrie. Diese Öffnung zum Unendlichen gibt ihr eine Leichtigkeit die sich nur schwer mit unserer erdgebundenen Existenz vereinbaren lässt. Mit seinem Fluchtpunkt scheint das Bild das Unendliche zu berühren. Ihm entspricht die Fiktion eines der Zeit enthobenen Auges, schwebend in jenem unendlichen Raum, der den anfangs erwähnten Giordano Bruno zur selben Zeit so begeisterte. Wie de Vries, suchte auch er die Gunst Rudolf des Zweiten in Prag. Bruno spürte in diesem Raum den Anspruch einer Freiheit, die die Menschheit nicht nur aus dem geozentrischen Kosmos des Ptolemäus führen sollte als wäre dieser ein Gefängnis. Auch der doch immer noch endliche heliozentrische Kosmos des Kopernikus konnte diese Freiheit nicht befriedigen. Der von Hans Sedlmayr beklagte Verlust der Mitte begegnet uns hier als Forderung der Freiheit. Solche Freiheit will keine Raum stiftende, bindende Mitte, will Beweglichkeit, will alles Eingeräumte ausräumen, sucht das Offene; und so versucht sie auch alle Architekturen, seien sie gebaut, gemalt, oder nur gedacht, die den Geist binden wollen, dem befreienden unendlichen Raum zu öffnen. Der Sog des Unendlichen gibt dem Geist Flügel, verspricht Glück das man kaum zu denken wagt. Die Architekturbilder von de Vries sind Träume einer solchen utopischen Freiheit. Solche Freiheit versprach auch die in denselben Jahren ihren Weg findende Naturwissenschaft. Wissenschaftliche Arbeit fordert Objektivität. Aber Objektivität verträgt sich schlecht mit dem Weltbild des Mittelalters. Und so finden wir auch hier die Bereitschaft, an die Stelle des eingeräumten Raums des Aristoteles den offenen Raum der Neuzeit treten zu lassen. Bruno erfuhr den geozentrischen Kosmos der Alten als Höhle, als Gefängnis. Ein freier Geist wird immer wieder von einer nicht mehr erd- und körpergebundenen Existenz träumen, von einem beweglichen Subjekt das endlich frei und fähig ist, nicht nur unsere Erde, sondern auch den Körper als Mittel zur Befriedigung natürlicher und unnatürlicher Begierden zu gebrauchen: Daedalus redivivus.

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7.5 Verrückte Architektur Autonomie meint, wie es schon das Wort sagt, ein Binden der Freiheit, nicht durch fremde Autorität, sondern durch unsere eigene Vernunft: Traum also einer Versöhnung von ausräumenden und einräumenden Bauen. Aber der Traum fällt auseinander. Immer wieder bestreiten Freiheit und Verlangen die Herrschaft der Vernunft. Kant suchte in diesem Aufruhr die Wurzel des Bösen. Doch eine solche Bestimmung lässt dessen Anspruch nicht verstummen; und so weigert sich Dostojewskis Untergrundmensch, den Anspruch von zwei-mal-zwei-macht-vier anzuerkennen. In zwei-malzwei-macht-fünf findet eine Freiheit, die sich jede Autorität, die sie binden möchte, auch die der Vernunft, zurückweist, eine letzte Zuflucht. Zwei-mal-zwei-macht-vier, die Herrschaft der Perspektive und jede uns von der Vernunft geschenkte einräumende Architektur gehören zusammen. Und zusammen gehören zwei-malzwei-macht-fünf, Ruinen und ausräumende Architekturen, die das uns von der Vernunft Eingeräumte aufreißen, um der Freiheit ein Fenster zu öffnen. In der Geschichte der Architekturfantasien wird ein solches Aufreißen zum Bild im Capriccio, das dem Ruinenbild verwandt, gerne Architekturen zur Natur zurückkehren lässt. Als Beispiel hier ein Blatt des Augsburger Stechers Johann Esaias Nilson, dessen Neues Caffehaus (1756) als verspielte Variation von Hogarths „Falscher Perspektive“ verstanden werden kann, letztere gemeint als satirisches Titelbild für ein Buch über Perspektive.19 Hogarth will die Künstler zu einer korrekten, d. h. vernünftigen Malweise zurückrufen. Aber Nilson, der übrigens Hogarth einlud, korrespondierendes Mitglied der Augsburger Kaiserlich-Franziszischen Akademie der Freien Künste zu werden, ein Angebot, das der Engländer gerne annahm, kehrt diese Satire in leichtherziges, doch subversives Spiel. Thema seines neuen Caffehauses ist eine damals aufkommende Mode, hinter der gute Bürger alle möglichen Laster witterten. Aber wichtiger als dieses fragwürdige Etablissement ist das aus dem Rahmen herauswachsende Rocaille-Ornament, das in das Bild eindringt, das Haus, es fast erstickend, wie Efeu umschlingt. Und dieses Ornament richtet sich nicht nur gegen das Haus, sondern auch gegen die Regeln der Perspektive, denen da19

Karsten Harries: Die bayerische Rokokokirche. Dorfen 2009, S. 317-318, Abb. 76.

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mals jedes vernunftgerechte Bild zu folgen hatte. Das Entsetzen der Aufklärer, die doch hofften das ruinöse Haus der Religion mit einem uns von der Vernunft eingeräumten Haus zu ersetzen, ist leicht zu verstehen. Das nur scheinbar unschuldige Spiel des Ornaments ist Metapher des anarchischen Spiels der Fantasie und der Natur. Dionysische Mächte drohen dem uns von der Vernunft gebauten Schiff den Untergang. Die Einbildungskraft des Künstlers überspielt die Regeln der Vernunft, deren Schiff, wie in einem Stich von Jacques de la Joue, das Riff des Ornaments scheitern lässt. Aber etwas in uns will solchen Schiffbruch. Das Ziel von dem der Ornamentstich des 18. Jahrhunderts träumt entspricht solchem Wollen: Cythera. Wie das Paradies, so braucht auch diese glückliche Insel der Venus keine einräumende Architektur. Nicht das Träume von Cythera dem Reich der Venus gerecht werden: in ihrem Reich sind Geburt und Tod, Schönheit und Verwesung Geschwister: inter faeces et urinam nascimur. Es ist diese dunkle, chthonische Unterseite des scheinbar so leichtfertigen Rokokos, die die Aufklärer herausspürten, nicht nur den Umsturz der Vernunft bemängelnd, die der Fantasie den ihr gebührenden, doch sehr bescheidenen Platz einzuräumen hat, sonder auch wie leicht dieser Umsturz zum Ekligen und Monströsen führt. So lassen sich die Ornamentstiche des Rokokos auch als verspielter Vorgriff der Wendung zum Abjekten verstehen, der in der Kunst der letzten Jahre eine so große Rolle spielte und Venus immer wieder mit Kot bedeckte. Nun ist es heute nicht so sehr die Natur, die dem uns von der Vernunft gebauten Schiff den Untergang droht sondern die ins Unübersehbare auswuchernde künstliche Welt der Technik, sie selber ein Werk der Vernunft. Die Technik die uns Macht über die Natur gibt, wächst hier so, dass das auswuchernde Künstliche zur unheimlichen zweiten Natur wird, komplex wie die erste, so komplex, dass all unsere Versuche sie in den Griff zu bekommen versagen. Endlose Neuerungen rufen uns mit ihrem Versprechen, wecken neues Verlangen und immer neue Erfindungen, solches Verlangen zu stillen. So gebiert der Fortschritt der Technik Traumbilder von nicht mehr Ort- und Zeit-gebundenen Individuen, von Menschen, die die Freiheit haben, sich immer wieder selbst zu erfinden und nicht zu achten was auch immer für Plätze Regierungen, Götter, oder die Natur den Menschen anweisen wollen: eine

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Vision von Cyberbabel als der schrecklich-erhabenen Heimat der wahren Freiheit. Doch die Freiheit muss sich binden, soll sie nicht zur Willkür werden. Wo aber findet diese alles ausräumende Freiheit, was sie binden könnte? In der Vernunft? Menschen die den Glauben an die Vernunft verloren haben, werden die Hinwendung der Kunst der letzten Jahre zum Dunklen, Schweren und Abjekten fast beruhigend finden als ein erstes Geständnis, dass jede wirkliche Selbstbejahung die Rückkehr aus der Wildnis fordert, in die uns Freiheit und Vernunft geführt haben: die Rückkehr zum sterblichen Menschen und zur Erde. Wir sind Amphibien, gehören der Erde und dem Licht. So fordert die eine Seite unseres Wesens Freiheit, währende die andere von Geborgenheit träumt. Die eine will Heimat, die andere Reisen ins Unbekannte. Die eine sucht das Schöne, die andere das Erhabene. Die eine will Raum einräumen, die andere Räume ausräumen. Als solche Amphibien träumen wir auch von dem was diesen Zwiespalt heilen könnte. Aber nur ein Bauen und nur ein Denken das diesen Zwiespalt aushält und austrägt ermöglicht ein menschliches Wohnen.

7.6 Negative und positive Freiheit Der Antinomie des Seins entspricht die Antinomie der Freiheit. Wir sprechen von negativer und positiver Freiheit. Die den liberalen Staat tragende Freiheit ist erst einmal negativ, eine immer noch wachsende Freiheit von natürlichen oder sozialen Bindungen. So verstanden bedeutet Freiheit eine geistige Verrückung. Diese Freiheit lässt uns unseren Wohnort als zufälligen Aufenthalt erfahren; unser Geschlecht als zufällige unser Wesen nicht berührende Tatsache. Und das Gleiche gilt für all unsere körperlichen Eigenschaften, auch für Herkunft und Sprache. Warum solche Tatsachen nicht ändern, sollte dies mein Belieben und in meiner Macht sein? Aber wo oder was ist dann das Ich, dem all dies beliebt? So verstanden wird Freiheit zur Verrücktheit. Was für eine Architektur würde der Forderung nach einer solchen Befreiung entsprechen? Eine verrückte Architektur, möchte ich meinen. Das sich eine solche Freiheit mit so etwas wie Heimat schlecht verträgt ist offensichtlich. Ein wirkliches Zuhause kennt

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eine solche Freiheit nicht. Zuhause ist diese Freiheit in einem geistigen Reich dem keine gebaute Architektur, kein genius loci gerecht werden kann. Sicher, unsere Körper brauchen ein Obdach, aber einem im diesen Sinne freien Menschen wird dieses Obdach nicht zum Heim, zur Heimat. Alle Architektur die die Menschen binden will, die Heimat verspricht, wird ihm zum Gefängnis. Angenommen es wäre Aufgabe eines Architekten einem solchen Menschen ein Haus zu bauen: Wie würde es aussehen? Es würde in seinem Aussehen die Bindung des Gebauten an die Erde verleugnen. Die Architektur der Aufklärung gibt uns erste Hinweise. So erinnert Ledouxs sphärisches „Haus der Flurwächter“ an einen rollen wollenden Ball. Oder nehmen wir Vaudoyer's „Haus eines Kosmopoliten“, auch dieses vielsagendes Symbol der Epochenschwelle. Dies ist in der Tat ein Haus für jemand der überall und nirgends zuhause ist. Solche Architekturfantasien lassen, wie ich schon erwähnte, an den Enthusiasmus denken mit dem die Aufklärung die ersten Ballonflüge begrüßte als Zeichen des Anbruchs eines freieren Zeitalters – Vaudoyers Haus ist nur zwei Jahre später als Montgolfiers erster Ballonflug. Ganz anders als der Giebel, der vielen Menschen heute noch Haus bedeutet, gibt sich uns die sehr viel weniger praktische aber rationalere Kugel als Symbol des Sieges des Geistes über die Schwerkraft. Der Mensch macht sich hier auf den Weg nach Laputa. Das Ja zum ganzen Menschen fordert eine gebundene und eben darum positive Freiheit. Freiheit kann nicht heißen, das tun zu dürfen und zu können was einem eben einfällt. So verstanden wird Freiheit zur Willkür, zu einem zufälligen Geschehen, und schlägt um in ihr Gegenteil, totale Unfreiheit. Freiheit bleibt Freiheit nur so lange sie gebunden bleibt an Gründe für unser Tun und Handeln. Soll aber Autonomie gewahrt werden, muss nicht jeder was die Freiheit binden soll im eigenen Selbst finden? Die Aufklärung suchte so in der Vernunft Bindungen, die dem Einzelnen so etwas wie eine geistige Heimat schenken, und die Menschen in eine nun nicht mehr an Landschaft oder Geschichte gebundene Gemeinschaft sammeln würden. So verstanden gehört die bergende Aura mittelalterlicher Städte mit ihren Erkern und Linden-überschatteten Brunnen ins finstere Mittelalter oder ins Spitzwegdeutschland. In der Architekturgeschichte dürfte es kaum einen besseren Ausdruck für diesen, einen ganz anderen Menschen fordernden,

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Ethos geben als Boullées utopischen Entwurf für ein Grabmal für Newton. Wie der Architekt uns seinen Entwurf erklärt, versuchte er Newton, dieses erhabene Genie, mit seinem größten Werk, den verstanden Kosmos, hier dargestellt als Riesenkugel, zu umhüllen. Newton ehrend, ehrt dieses utopische Monument auch die Vernunft, die es vermag, wie es Newton Boullée bewies, selbst das unendliche Universum zu meistern. Wie schon die Kathedralen des Mittelalters so möchte auch dieses Monument eine Gemeinschaft stiften, aber nun eine, nicht mehr an eine bestimmte Religion, an eine bestimmte Landschaft, an die Erde gebundene, sondern nur noch in der Vernunft gründende Gemeinschaft. Dass eine solche Architektur die Architektur des menschlichen Körper und den damit verbundene Maßstab missachtet, ist nur zu erwarten. Aber sucht Boullée auch mit seiner erhabenen Kugel das Ungeheure, so entlarvt das weiße Schweigen des diesen Entwurf tragenden Papiers doch den Zauber des bestirnten Himmels im KugelInneren, dieser Darstellung des von der Vernunft gemeisterten Universums, als bloßes Theater. Dahinter droht und lockt weiter das mysterium tremendum et fascinans des Unendlichen, die Kehrseite unserer Endlichkeit, unserer erdgebunden Sterblichkeit, die die Aufklärung mir ihrem Glauben an die Macht der Vernunft zu überspringen suchte. Kein Obdach bietend, lässt uns eine solche erhabene Architektur frierend und allein. Selbstbejahung, wie schon gesagt, fordert Bindung der Freiheit. Aber was die Freiheit zunächst und zumeist immer schon bindet ist unser Schatten werfender Körper. Ohne die Vermittlung des Körpers bleibt der Anspruch der Vernunft leer und kraftlos. Denken wir, z. B., an die geistige Architektur die uns Kant mit seiner Ethik geschenkt hat. Angeblich nur in der praktischen Vernunft gründend, fordert sein kategorischer Imperativ, alle vernünftigen Wesen nicht „bloß als Mittel“ zu gebrauchen, sondern als „Zweck an sich selbst“ zu achten. Dies aber setzt voraus, dass wir unsere Mitmenschen auch als Personen erfahren. Dies ist nun eine Plattitüde, aber sie genügt zu zeigen, dass jeder Begriff der Erfahrung, der den erfahrenden Menschen auf ein denkendes Subjekt reduziert, dem eine stumme Wirklichkeit begegnet, die ist wie sie eben ist und ohne Sinn bleibt bis dieses Subjekt ihr Sinn verleiht, unserer Erfahrung von Menschen und Dingen nicht gerecht wird. Aber eine solche Reduktion ist Voraussetzung unserer Naturwissenschaft und Technik. Unserem mit unserem Körper untrennbar ver-

7. EIN- UND AUSRÄUMENDES BAUEN

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knüpften, sich um Welt und Selbst sorgenden Dasein geben sich Personen und Dinge als immer schon sinnvoll. In jedem Menschen erfahren wir Fleisch gewordenen Sinn als lebende Wirklichkeit. Ohne solche Erfahrungen wäre unser Leben sinnlos und Kants kategorischer Imperativ bliebe ohne Anwendung. Mögen auch die reinen Formen der Geometrie dem körperlosen Geist, mögen auch Dach und vier Wände der Notdurft des Menschen entsprechen, nur eine Architektur die Verkörperungen von Sinn repräsentiert entspricht dem ganzen Menschen. Und in jeder solcher Verkörperung erfahren wir den Riss in unserem Wesen, der uns selbst zum Rätsel werden lässt.

8. Zurück zur Erde

8.1 Der Schrecken der Zeit In Rilkes Die Tagebücher des Malte Laurids Brigge lesen wir von einem merkwürdigen Menschen der meint noch viel Zeit zu haben und sich eben darum für sehr reich hält.1 Sagen wir nicht: Zeit ist kostbar! Dieser Nikolaj Kusmitsch wenigstens rechnet mit der Zeit wie mit Geld, das man nicht unbedacht ausgeben sollte. Und rechnen wir nicht ähnlich mit der Zeit wenn wir meinen, wir hätten genug oder zu wenig Zeit, als wäre die Zeit so etwas wie ein Material von dem wir genug oder zu wenig haben können? Verliere nicht so viel Zeit! Du hast nur noch eine halbe Stunde! Und wir machen Pläne für die uns voraussichtlich verbleibende Zeit. Kusmitsch meint noch etwa 50 Jahre zu haben. Umgerechnet in Sekunden ergibt dies eine ungeheure Summe. Und ist nicht Zeit Geld! So hält sich Nikolaj Kusmitsch für reich. Geld aber kann man verschwenden oder verlieren; und gilt Gleiches nicht auch von der Zeit? So versucht dieser Kusmitsch auf die ihm gehörende Zeit zu achten, immer mehr Zeit zu sparen, nur um bemerken zu müssen, dass am Sonntag nichts Erspartes da war. So fühlte er sich betrogen. Dieser Mensch versteht die Zeit als wäre sie ein nur begrenzt vorhandener Rohstoff mit dem man sparsam umzugehen hat. Aber kann der Mensch so Abstand von der Zeit nehmen ohne Abstand von sich selbst zu nehmen? Gehört die Zeit nicht so wesentlich zu uns, dass es uns eigentlich unmöglich ist, Zeit zu sparen, zu verschwenden oder gar zu verlieren? So sagt Heidegger in Sein und Zeit, es bliebe „die Auszeichnung der Zeitlichkeit eigentlicher Existenz, dass sie in der Entschlossenheit nie Zeit verliert und ‚immer Zeit hat‘“.2 Das Wort „Auszeichnung“ weist darauf hin, dass die uneigentliche Existenz die Zeit anders versteht, mit ihr rechnet. Zunächst und zumeist rechnen wir mit der Zeit: d. h. wir 1

2

Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Werke in 3 Bänden, Band 3. Frankfurt a. M. 1966, S. 265-270. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Gesamtausgabe, Bd 2, Frankfurt am Main 1977, S. 542.

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8. ZURÜCK ZUR ERDE

zählen Jahre, Tage, Stunden, Minuten oder Sekunden und unterwerfen so die Zeit der Vernunft. Die Zeit die wir sparen, verlieren oder verschwenden können ist eine immer schon uns zugemessene Zeit. Der so verstandenen, unseren alltäglichen Umgang mit Menschen und Dingen bestimmenden, immer schon irgendwie gemessenen Zeit stellt Heidegger die ursprünglicher erfahrene, eigentliche Zeit entgegen. Diese Zeit lässt sich nicht messen. Zwei Zeitbegriffe stoßen hier aufeinander. Zu diesem Zusammenstoß kommt es schon in den ersten, unser Zeitverstehen immer noch bestimmenden Definitionen der Zeit, die uns die Philosophie geschenkt hat. So versteht Platon in seinem Timaios die Zeit als das numerisch geordnete, sich fortbewegende Abbild der in der Einheit beharrenden Ewigkeit. Die so definierte Zeit ist die der Zahlenordnung unterworfene, gemessene, d.h. eingeräumte Zeit.3 Aber diese Definition setzt Zeit anders verstanden, als Medium das ein solches Abbilden erlaubt, voraus. Ähnlich definiert Aristoteles die Zeit als „die Zahl der Bewegung hinsichtlich des ‚davor‘ und ‚danach‘“4 Auch diese Definition verräumlicht die Zeit und unterwirft sie der Zahl. Zunächst und zumeist verstehen wir Zeit als gemessene Zeit. Was es uns erlaubt die Zeit zu messen sind die gleichmäßigen Veränderungen die wir beobachten, wie der Gang der Sonne den uns eine Sonnenuhr anzeigt. Uhren geben uns Bilder der aristotelischen Definition. Mit der so verräumlichten Zeit kann man rechnen. Aber Voraussetzung eines solchen Rechnens mit der Zeit ist die anders und ursprünglicher verstandene Zeit. Sich an ein solches Rechnen mit der Zeit verlierend, verwechselt Niklaj Kusmitsch Zeit mit Geld. Bald muss er allerdings merken, dass man so der Zeit nicht gerecht wird: „Ich habe mich mit den Zahlen eingelassen […] Und dann war da diese kleine Verwechslung vorgefallen, aus purer Zerstreutheit: Zeit und Geld, als ob sich das nicht auseinanderhalten ließe.“5 Mit der Zeit lässt sich nicht rechnen wir mit Geld. Zeit lässt sich nicht sparen. Unsere Lebenszeit ist endlich. Die Zeit geht aber damit nicht zu Ende; sie ist unendlich und lässt sich nicht zählen. Niklaj Kusmitsch hat sich, wie er sagt, auf Zahlen eingelassen. Voraussetzung des Rechnens mit der Zeit ist ein Abstand von der Zeit, dem eine gewisse Selbst3 4 5

Platon: Timaios 37 c-e. Aristoteles, Physik 219 b. Aufzeichnungen, S. 268.

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entfremdung entspricht. Das eigentliche Selbst kann aber nicht so von der Zeit Abstand nehmen: das Rechnen mit der Zeit bedeutet ein uneigentliches Existieren. Und so gelingt es Kusmitsch nicht, nach dem er aus purer Zerstreutheit, wie er sagt, Zeit mit Geld verwechselt hat, seine Verwechslung einfach abzuschütteln: zu sehr hat er sich an ein Zählen der Zeit gewöhnt. Wie ein Windzug weht ihn die wirkliche Zeit plötzlich an, zieht an ihm vorüber. „Er erkannte sie förmlich, alle diese Sekündchen, gleich lau, eine wie die andere, aber schnell, aber schnell. Weiß der Himmel was sie noch vorhatten.“6 Voraussetzung dieses verständnislosen förmlichen Erkennens der schnell vorüberziehenden Sekündchen ist so etwas wie ein Herausfallen des Ichs aus der Zeit, die ihm damit zu einem erschreckenden, nicht zu packenden Anderen wird, spürt er doch, das uns Menschen ein Heraustreten aus der Zeit versagt bleibt und dass es mit uns ein Ende haben muss. Da hilft kein Rechnen.

8.2 Der Schrecken des Raums Dem Schrecken der unendlichen Zeit entspricht der Schrecken des unendlichen Raums. Dem Windzug der Zeit entspricht der Windzug des Raums der jeden vermeintlich festen Standpunkt ins Schwanken und Gleiten bringt. So macht unser Nikolaj Kusmitsch sogleich folgende ihn entsetzende Erfahrung: Er sprang auf, aber die Überraschungen waren noch nicht zu Ende. Auch unter seinen Füßen war etwas wie eine Bewegung, nicht nur eine, mehrere, merkwürdig durcheinanderschwankende Bewegungen. Er erstarrte vor Entsetzen: konnte das die Erde sein? Gewiss, das war die Erde. Sie bewegte sich ja doch. In der Schule war davon gesprochen worden, man war etwas eilig darüber weggegangen, und später wurde es gern vertuscht; es galt nicht für passend, davon zu sprechen. Aber nun, da er einmal empfindlich geworden war, bekam er auch das zu fühlen. Ob die anderen es fühlten? Vielleicht, aber sie zeigten es nicht. Wahrscheinlich machte es ihnen nichts aus, diesen Seeleuten.7

Dass die Erde sich bewegt ist seit Kopernikus eine allbekannte, kaum mehr erwähnenswerte Tatsache. Aber wir wissen auch, dass 6 7

Ebd. S. 269. Ebd.

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wir die Erde nicht so erfahren. Zunächst und zumeist ist uns unsere Erde immer noch fester Grund; immer noch gehen Sonne und Mond auf und unter. Das geozentrische Weltbild des Altertums und Mittelalters entspricht unserer alltäglichen Erfahrung besser als unser modernes Weltbild. Dass die Erde sich bewegt, heißt also nicht, dass wir diese Bewegung erleben. Dass Rilkes Nikolaj Kusmitsch sie erfährt, lässt uns diesen Menschen für leicht verrückt halten. Wieder ist es sein rechnender Verstand der ihn aus seiner Lebenswelt herausfallen ließ. Uns normalen Menschen steht die Erde immer noch fest im Mittelpunkt unserer Welt. Aber bleibt unser Leben wirklich unberührt von unserem Wissen, dass sich die Erde bewegt? Hat dieses Wissen keine Bedeutung für unseren Umgang mit der Erde, für unser heutiges Wohnen und Bauen? Haben wir dieses Wissen, dass wir nicht auf festem Grund stehen verdeckt, wobei uns der Verlust dieser Mitte zur Metapher anderer und vielleicht schwerer wiegenden Verluste geworden ist? Oder müssen wir auch hier so etwas wie eine doppelte Wahrheit anerkennen, wobei in unserem täglichen Umgang mit Menschen und Dingen die subjektive Wahrheit ihren Vorrang behält, wissen wir auch, dass diese subjektive Wahrheit, die unsere Lebenswelt immer noch bestimmt, objektiv betrachtet Lüge ist, bewegt sich doch die Erde. Aber haben wir moderne Menschen es wirklich gelernt uns mit der Beweglichkeit von was uns einmal Mitte und Fundament war abzufinden? Ist unsere Erde nicht ein im unermesslichen Raum ziellos schwimmendes Raumschiff? Die Metapher der Seefahrt für unser Leben ist uns vertraut, wie auch die Metapher des Schiffs für unsere Welt.8 Sind wir im Grunde heute nicht alle Seeleute? Aber macht uns dies wirklich nichts aus?

8.3 20. Juli 1969 Als Pendant zum Rilkezitat hier noch ein Vorschlag, den im Frühjahr 1998 Al Gore, damals Vizepräsident der Vereinigten Staaten, machte. Gore schlug vor, einen Satelliten in den Raum zu schicken, der uns fortwährend Bilder unserer Erde zurücksenden sollte. Dabei berief er sich auf Sokrates, der, so Gore, schon vor 2500 8

Vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt a. M. 1979.

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Jahren gesagt hätte, der Mensch müsse sich über die Erde erheben, um die Erde auf der er lebt, wirklich zu verstehen.9 Ich weiß nun nicht, wo oder wann Sokrates so etwas gesagt hat, aber als Metapher verstanden trifft es doch den Kern der Ideenlehre des platonischen Sokrates. Aber vielleicht dachte Gore auch an die Wolken des Aristophanes, wo Sokrates in seinem Korb, hochgezogen von seinen Jüngern, von oben auf die Erde herabschaut. Was mir hier wichtig ist, ist nicht die Berufung auf Sokrates, sondern der Vorschlag, dass wir die Erde verlassen, uns über sie erheben müssen, um dann, einsichtiger, wieder zu ihr zurückzukehren. Auch dies kann als Metapher verstanden werden, die das Wesen jedes menschenwürdigen Lebens trifft. Müssen wir uns nicht über uns selbst, über unser erdgebundenes Körperdasein erheben, dem Ruf der rechnenden Vernunft folgen, um dann aber zu diesem zurückzukehren, nun mit offeneren, sehenderen Augen? Erst die Astronautik hat uns die Möglichkeit geschaffen, die Erde wirklich zu verlassen, sie von oben, von außerhalb, z.B. vom Mond aus, zu besehen. Es war im Jahre 1957, dass die Russen ihren Sputnik um die Erde kreisen ließen. Sein fröhliches Gepiepe jagte dem Westen einen Schreck ein, hatte der Fortschritt der russischen Astronautik uns doch buchstäblich im irdischen Staub zurück gelassen.10 Nur vier Jahre später, 1961, wurde Juri Gagarin der erste Mensch, die Erde in einem Satelliten zu umrunden und sie von oben zu betrachten. Nun, so ein Forschungsrückstand musste natürlich aufgeholt werden. Und schon weniger als ein Jahr später umkreiste John Glenn, als erster Amerikaner die Erde. Ist es ein Zufall, dass im selben Jahr Rachel Carson, mit der Veröffentlichung von Silent Spring, der Welt zeigte, wie unachtsam wir Menschen mit unserer Erde umgegangen sind, wie schutzbedürftig doch unser Planet ist. Dass Al Gore Satellitentechnik und Umweltschutz in einem Atem nannte, kann nicht überraschen. Und doch gehen sie in entgegengesetzte Richtungen, die eine zentrifugal, die Mitte fliehend, die andere zentripetal, die Mitte suchend. 1969 landeten Neil Armstrong und Buzz Aldrin als erste Menschen auf dem Mond. Drei Jahre später folgte die sechste und einstweilen immer noch letzte Mondlandung. Warum keine weiteren Mondflüge, von möglichen Marsbesuchen ganz zu schweigen? 9 10

New York Times 14. März 1998, A7 Vgl. Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1997, S. 547-548.

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War die Ernte an Mondgestein, die man nach Hause brachte, die Mühe nicht wert gewesen? Haben sich unsere Mondfahrten gelohnt? Was haben uns unsere Mondbesuche wirklich gebracht? Hat die Astronautik unser Wissen, unser Kosmosverständnis, grundlegend geändert? Wenn ja, wie? Ich kann mich noch sehr gut an den lauen Sommerabend erinnern, an dem das Fernsehen die ersten Bilder der ersten Mondlandung brachte. Es war der 20. Juli 1969. Wir waren damals mit der Familie bei meinen Eltern in Maine. Wir weckten die kurz zuvor eingeschlafenen Kinder. Dieses Epoche machende Ereignis sollten sie miterleben. Leider waren sie zu verschlafen, um an dem Gezeigten Anteil zu nehmen. Nur mein damals siebenjähriger Sohn starrte auf das damals noch schwarz-weiße Fernsehbild und nach einer Weile rief er: „Schau! All die grünen Leute!“ Wir schickten ihn zurück in sein Bett. Was wir zu sehen bekamen war natürlich weit weniger interessant. Hatte dieser Beweis, dass die Amerikaner den beklagten Forschungsrückstand nicht nur aufgeholt, sondern die Russen überholt hatten, mehr Bedeutung als eine gigantische Militärübung, die der Welt die neuesten Waffen zeigt, in der Absicht, Feinde einzuschüchtern und Freunden die Überlegenheit, nicht nur der amerikanischen Waffen, sondern des amerikanischen „way of life“ zu beweisen. Vergleiche des gerade Geschehenen mit der Entdeckung Amerikas konnten nicht überzeugen. Armstrong war kein zweiter Kolumbus. Trotz seiner immer wieder wiederholten Worte: die Menschheit tat hier keinen Riesensprung. Was Armstrong und Aldrin zu erzählen hatten, war nicht annähernd so interessant wie die Geschichten die einst ein Kolumbus nach Hause brachte; nicht einmal so interessant wie die Berichte der Entdecker des damals immer noch dunklen Kontinents im 19. Jahrhundert, die mich als Kind begeisterten. Ich denke hier besonders an Gustav Nachtigal. Nicht nur fanden die Astronauten keinen Gott da draußen, wie es ein russischer Astronaut triumphierend verkündete. Sie fanden nicht einmal kleine grüne Leute, nichts was auf Geist oder Leben schließen ließ, nur stumme Materie: mehr konnten sie nicht nach Hause bringen. Mit der Mondlandung verlor der Weltraum noch einmal etwas von der Aura, die er so lang besaß und, wenn auch stark geschwächt, immer noch besitzt – so in Stanley Kubricks Film 2001: Space Odyssey, der ein Jahr vor der ersten Mondlandung zum ersten Mal gezeigt wurde. Wie dieser Film noch einmal zeigen konnte, von Anfang an nährte ein widersprüch-

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liches Begehren diese Aura: auf der einen Seite, die Sehnsucht nach dem Erhabenen, das gnostische Verlangen nach etwas ganz Anderem, nach einer Wirklichkeit, die uns unsere allzu vertraute enge Welt vergessen lassen würde; auf der anderen Seite die Sehnsucht nach dem Schönen, das Verlangen da draußen doch irgendwie Vertrautes zu finden, Wesen zu begegnen, die vernünftig wie wir, aber hoffentlich weiser und gütiger, irgendwie göttlicher, es uns erlauben würden, uns in diesem nun ins Ungeheure gewachsenen Weltall nicht ganz verlassen und allein zu fühlen. Weder das eine, noch das andere Verlangen fand Befriedigung. Ich erwähnte, dass Ballon und Flugzeug umgehend als Freiheitssymbole verstanden wurden. Die körperbedingte Ortsgebundenheit des Menschen hatte mit diesen Flugmaschinen viel von seiner einstigen Macht eingebüßt. Auf einmal waren nicht nur unsere Gedanken frei – wie es im Volkslied heißt. Wie einst Daidalos, gab die neue Technik den Menschen Flügel. Nun gehört zur Geschichte von Daidolos auch der Sturz des Ikaros und von Anfang an ist die Geschichte der Luftschifffahrt auch eine Geschichte von Unglück und Absturz. Die alte Geschichte wiederholt sich: Hochmut kommt vor dem Fall. Ist das das Schicksal, das auch uns unsere Freiheit bestimmt? Ist das Raumschiff ein noch überzeugenderes Freiheitssymbol als die Luftschiffe von gestern? So könnte man fragen: wie soll das Bauen freier Menschen im Zeitalter der Astronautik aussehen? Man kann sich gut vorstellen, wie Le Corbusier, der das Parthenon mit einem Flugzeug verglich, diese Frage beantwortet hätte. Mit seinen Architekturbildern gibt Lebbeus Woods uns eine zeitgemäßere Antwort. Aber seine fantastischen Architekturen bleiben unbewohnbar. Zeitgemäßer noch sind Gedanken an den virtuellen Raum den uns das Internet geschaffen hat. Aber hier lässt die Architektur des Internets alles eigentliche Bauen weit zurück.

8.4 „Kolonie liebt der Geist“ Im Wesentlichen hat uns die Astronautik zuhause gelassen, hier auf der Erde, und das gilt auch für die Astronauten. Keine neue Welt wurde entdeckt, keine Kolonie im Weltraum gegründet. Sollten wir diese Tatsache bedauern? „Kolonie liebt der Geist.“ In diesem Hölderlinwort begegnen wir wieder dem widersprüchlichen

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8. ZURÜCK ZUR ERDE

Verlangen in der Fremde doch die Heimat wiederzufinden. Träume, die alte Heimat zu verlassen, den uns von Natur und Gesellschaft angewiesenen Ort hinter uns zu lassen, den Weg zu einer neuen, menschenwürdigeren, wunderbaren Wirklichkeit, einer neuen Heimat zu finden, sind so alt wie Träume von Freiheit. Müssen wir nicht erst einmal heimatlos werden, um unsere wahre Heimat zu finden. Aber die ersehnte Heimat trägt dann doch immer wieder das Gesicht der alten vertrauten. Die Kehrseite solcher utopischen Träume an irgendein wiedergewonnenes Paradies, das doch die Züge des verlorenen alten trägt, ist das gnostische Zerrbild der uns vertrauten Welt als nur scheinbar Heimat, in Wirklichkeit ein Gefängnis, das uns verweigert, was wir zutiefst ersehnen. Und erlaubt unsere Technik uns nicht, wie es die mythischen Flügel des Daidalos taten, diesem Labyrinth, diesem Gefängnis, zu entfliehen? Dem gnostischen Zerrbild, und es lässt sich heute von einem postmodernen Gnostizismus sprechen, antwortet der Traum von einer Erlösung von der Welt, einer Heimkehr zum ganz Anderen. Und lässt sich dieses ganz Andere nicht vielleicht doch noch irgendwo da draußen, vielleicht im Schweife eines Kometen, finden, wie es sich vor nicht allzu vielen Jahren eine amerikanische UFO-gläubige Sekte mit dem schönen Namen „Heaven's Gate“ erhoffte, bereit ihr Leben diesem Wahn zu opfern? Am 26. März 1997, als der Komet Hale Bopp am hellsten war, begingen 39 Mitglieder dieser Sekte Selbstmord. Lange bevor die Astronautik Wirklichkeit wurde, als sie wenig mehr war als ein Traum der Astronoetiker,11 jener zuhause bleibenden Träumer, die nur Vernunft und Einbildungskraft durch den Weltraum tragen, hatte der Fortschritt der Astronomie und allgemeiner der der Naturwissenschaft die Erde ihrer einstigen Aura als Mitte unseres Lebens beraubt. Der Verlust findet Ausdruck in Nietzsches fragender Klage: Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin – er ist Thier geworden, Thier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott (‚Kind Gottes‘, ‚Gottmensch‘) 11

Ich verdanken das Wort Hans Blumenbergs Die Vollzähligkeit der Sterne. Siehe das folgende Kapitel.

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war [...] Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins ‚durchbohrende Gefühl seines Nichts‘?12

Der Verlust von Mitte und Heimat beschattet die moderne Welt. Gibt es nach Kopernikus noch einen Ort, der uns den Platz anweist wo wir wirklich hingehören? Aber ist der von Hans Sedlmayr beklagte Verlust der Mitte nur Verlust? Ist er nicht auch und vielleicht sogar mehr noch Gewinn? Was für eine Heimkehr täte unserem Freiheitsverlangen genügen?

8.5 Der Blick auf die Sterne In Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen lesen wir: philosophische Probleme habe die Form: ich kenne mich nicht aus. Ich habe meinen Weg verloren. Ein solcher Wegverlust, ein solches sich nicht Auskennen, steht in der Tat am Anfang der Philosophie. Wegverlust übersetzt hier das griechische Aporia. So sucht Aristoteles in der staunende Verwunderung auslösenden Aporie den Ursprung der Philosophie; und ist ein solcher Wegverlust nicht auch Voraussetzung jeder wirklich freien Entscheidung. Bin ich meines Weges sicher brauche ich mich nicht zu entscheiden. Wegverlust und Geistesfreiheit sind Voraussetzung philosophischer Arbeit. Das bezeugt die Geschichte vom Brunnensturz des zu den Sternen aufblickenden Thales – Hans Blumenberg nennt sie die „Urgeschichte der Theorie“.13 Verlachte ihn nicht zu recht jene hübsche thrakische Magd für die der sterntrunkene Philosoph keine Augen hatte? Was hoffte Thales da oben zu finden? Was gingen ihn die Sterne an? Was gehen sie uns an? Vitruv mag auch an diese Geschichte gedacht haben, als er in seiner Beschreibung des Ursprungs der Architektur auf das, was seine immer noch tierischen Urmenschen von solch bauenden Tieren wie Ameisen und Bienen, Schwalben und Dachsen unterscheidet, zu sprechen kommt: An erster Stelle nennt er weder die außer12

13

Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, III, 25, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Hg. Giorgio Colli and Mazzino Montinari, Bd. 5. München, Berlin und New York 1980, S. 404. Hans Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin: Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt am Main 1987.

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ordentliche Fähigkeit des Menschen, seine Hände zu gebrauchen, noch die Fähigkeit, Andere nachzuahmen, von Ihnen zu lernen, sondern die vertikale, aufrechte Statur des Menschen, die es ihm erlaubt, sich von der horizontalen Erde, an die die Tiere gebunden blieben, zu erheben, aufzublicken zu Herrlichkeit des bestirnten Firmaments.14 Weckte dieser Anblick den in Vitruvs Urmenschen noch schlafenden Geist, wie das Versprechen der Schlange, „Ihr werdet sein wie Gott“, Adam und Eva die Augen öffnete und sie von der paradiesischen Ordnung befreite? Weckte der Blick auf die zeitlose Ordnung über ihnen auch in ihnen ein Wissen um ihre Sterblichkeit? Ließ der Anblick dieser Ordnung sie auch von einem sicheren, nicht mehr dem Stachel der Zeit ausgesetzten Wohnen träumen? Vitruvs Bild seiner zum Himmel aufblickenden Urmenschen bleibt der antiken Bestimmung des Menschen als zoon logon echon, als animal rationale verpflichtet. Als das vernünftige Tier ist der Mensch Kreuz von horizontaler Zeitlichkeit und einer Vertikale, die aus dem Zeitlichen zum Ewigen hinaufsteigt. Die auf der Erde wohnenden erecti homines bindet nicht mehr der Ort, an dem sie sich gerade befinden. Das unterscheidet sie von den prona animalia. Sich erhebend, aufstehend, die ewige Ordnung des Himmels bewundernd, überfliegt ihr Geist den Ort an den sie ihr Körper bindet, lässt sie, wenigstens in Gedanken, andere Orte aufsuchen. In seinem Phaidros gibt Platon darum der Seele Flügel. Und unsere beflügelte Seele gebiert Träume, in denen sie diese Erde tief unter sich lässt, diesem Gefängnis, wie Ikaros entkommend. Von Anfang an fand so der Mensch in Flugmaschinen Symbole einer Freiheit, die immer wieder als ein Freisein von unserer Erdgebundenheit gedacht wurde. So werden der Seele oft, wie den Engeln, Flügel gegeben. Vitruvs Urmenschen erinnern an Adam und Eva. Hat Gott die Menschen nicht in seinem Bilde geschaffen, fähig, zu ihm empor zu schauen und in diesem Bild ihr Maß zu finden. Wie wir bei Zwingli lesen: „Denn dass der mensch sin ufsehen hat uf Gott und sin wort, zeigt er klarlich an, dass er nach siner natur etwas Gott näher anerborn, etwas mee nachschlägt, etwas zuzugs zu jm hat, das alles on zwyfel darus flüsst, dass er nach dem bildnus Gottes

14

Marcus Vitruvius Pollio: Zehn Bücher Architektur: De Architectura Libri Decem, Wiesbaden 2009, zweites Buch, erstes Kapitel

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geschaffen ist.“15 Zu Gott aufschauend, übersteigt der Mensch sein horizontales, tierisches Dasein, findet sein Maß im Worte Gottes, d. h. in einem zeitlosen Logos. Jeder Versuch, die Wahrheit zu sagen, bezeugt dieses Maß, denn der Anspruch auf Wahrheit ist ein Anspruch der, wie wir sahen, jede körperbedingte Bindung an einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, übersteigt. Nun begleitet von Anfang an diesen Anspruch der Verdacht, dass, wie Aristoteles den Dichter Simonides sagen lässt,16 die so verstandene Wahrheit Vorrecht der Götter ist. Wir armen Menschen müssen uns mit weniger begnügen. Aristoteles allerdings weist den Einwand des Dichters zurück: Die Götter, so meint er, seien nicht neidisch. Ist die Wahrheitssuche des Philosophen nicht der angemessenste Gottesdienst? Und sollte Simonides auch recht behalten und der Besitz der Wahrheit uns versagt bleiben, der bloße Versuch, die Wahrheit zu sagen, zeigt, dass wir uns an einem zeitlosen Logos messen, der niemand oder allen gehört. Ein solcher Logos ist weder ort- noch zeitgebunden und braucht keine natürliche Sprache als ein ihn bergendes Haus. Ich verwies auf die Bibel die uns den Menschen als im Bilde Gottes geschaffen denken heißt. Aber diesen Verweis begleitet eine Warnung: verführte das Versprechen der Schlange, Ihr werdet sein, wie Gott, nicht den Menschen und brachte ihm den Verlust des ihm den Platz anweisenden und so ihn bergenden Paradieses? Seitdem sucht menschliches Bauen Ersatz für das Verlorene. Der Spruch der Schlange – ich werde zu ihm in meinem Schlusskapitel zurückkehren – lässt uns die in der Vertikalität des Menschen schlummernde Gefahr bedenken, dass, wie schon Simonides befürchtete, die Selbstaufstufung des Menschen ihn sein irdisches Zuhause kosten wird. Bedenken wir noch einmal das Schicksal des Ikaros, der von der Herrlichkeit des Sonnenlichtes verführt, höher und höher flog, bis die Sonnenglut das Wachs seiner Schwingen schmolz und er ins Meer herabstürzte. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel variiert im Grunde das gleiche Thema.

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16

Zwingli, Von klarheit und gewüsse des worts Gottes (Deutsche Schriften I, 58), zitiert in Heidegger, Sein und Zeit, Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 66. Aristoteles: Metaphysik. I, 2, 982 b.

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8.6 Entzauberte Welt Der Fortschritt der Naturwissenschaft, und ganz besonders der Fortschritt der Astronomie, der die Erde zu einem Raumschiff werden ließ, ziellos in dem ungeheuren Weltraum treibend, lässt diese immer weniger einem festgegründeten Haus ähneln, in dem alles seinen gebührenden Platz hat. Wir begegnen diesem neuen Weltverständnis schon in Kants Kritik der praktischen Vernunft: Der erste Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurück geben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen.17

Schopenhauer unterstreicht diese Einsicht in die Verlorenheit des Menschen in einer ins Unübersehbare gewachsenen Welt und beginnt damit den zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung. Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede, von welchen etwa ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt. Jedoch ist es für ein denkendes Wesen eine missliche Lage, auf einer jener zahllosen im grenzenlosen Raum frei schwebenden Kugeln zu stehn, ohne zu wissen woher noch wohin, und nur Eines zu sein von unzählbaren ähnlichen Wesen, die sich drängen, treiben, quälen, rastlos und schnell entstehend und vergehend, in anfangs- und endloser Zeit.

Das Schopenhauersche Zitat leicht abwandelnd, stellt der junge Nietzsche es, wie wir gesehen haben, an den Anfang von Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn. Und lässt sich diese „empirische Wahrheit“ bestreiten. Die Welt die uns unsere Naturwissenschaft entdeckt kümmert sich nicht um uns. Diese Himmel rühmen nicht des Ewigen Ehre. Forscher wie Drew McDermott haben recht: von Werten, Gott, oder Freiheit kann die Naturwissenschaft nichts wissen. Für solches hat ihr logischer Raum keinen Platz. Wie schon Friedrich Heinrich Jacobi wusste, jeder Versuch alles Seiende wirklich zu begreifen muss zum Nihilismus führen, wobei dieser Nihilismus nicht unbedingt zu auch 17

Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 289.

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typisch modernen Versuchen führen muss, die verlorene Mitte doch irgendwie wieder zu gewinnen – dabei denke ich besonders an das Bemühen, die Kunst an den nun leer gewordenen Platz zu stellen, den einst die Religion besetzte, aber auch an jene zweite Religiosität, wie Oswald Spengler sie nannte, die heute wieder versucht, die von der Naturwissenschaft scheinbar überholte Religion neu zu beleben.18 Eine andere Antwort auf den Nihilismus gibt die existentialistische oder auch die postmoderne Bejahung dieses Verlusts der Mitte, verspricht dieser doch eine bislang unbekannte Freiheit. Aber was erlaubt es uns aus dem wissenschaftlich bedingten und immer wieder wiederholten Verlust von Mitten und vermeintlichen Fundamenten zu folgern, der Mensch könne oder dürfe nicht selbst Mitte seines Interesses sein. Ist nicht der Mensch das Maß aller Dinge? Die Wiederentdeckung der Tiefe dieses Spruchs des Protagoras steht am Anfang des Humanismus.19 Es gibt keinen logischen Zusammenhang zwischen Geozentrik und Anthropozentrik und darum auch keinen logischen Zusammenhang zwischen dem wissenschaftlich bedingten Verlust der kosmischen Mitte und dem existenziellen Verlust der menschlichen Mitte. Zugegeben, eine ganze Reihe von kopernikanischen Revolutionen hat den Ort des Menschen in Nähe einer ontologischen Mitte in Frage gestellt. Hierbei denke ich nicht so sehr an Kants kopernikanische Wende, die uns ein Erkennen der Dinge an sich absprach, als an die Darwinsche Revolution, die uns den Menschen, statt im Bilde Gottes, im Bilde eines Affen verstehen ließ. Oder auch an die Freudsche, die uns unser stolzes Bewusstsein erst einmal als Knecht unbewusster Triebe verstehen lässt, die uns daran hindern, Herr im eigenen Hause zu sein. Aber haben diese Revolutionen uns unserer geistigen Heimat beraubt? Zugegeben, nicht nur die Astronautik, die heutige Naturwissenschaft hat den Menschen zurück gelassen, so weit zurück, dass sie den ganzen Menschen, die Person, überhaupt nicht mehr sehen kann. Aber unsere Lebenswelt, wenn auch zunehmend von der Technik geformt, lässt sich nicht als das technische Weltbild verstehen, das Heidegger so gerne und immer wieder beschwört. Die Zeit des Weltbildes bleibt eine Wesentliches 18

19

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes, 2. Band, München 1923, S. 280-281. Siehe Karsten Harries: Infinity and Perspective, Cambridge (Mass.) 2001, S. 184-199.

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treffende Karikatur, aber eben doch nur eine Karikatur. So lässt sich von Astronautik und Naturwissenschaft auch sagen, dass sie uns zwar zurück, aber dabei doch zuhause gelassen haben, dass sie uns unser Zuhause gelassen haben. Menschen die von Reisen in irgendein Erhabenes Jenseits der Erde träumen oder sich eine technologische Utopie erhoffen, mag dies enttäuschen. Der Fortschritt von Astronomie und Astronautik hat in der Tat die Welt entzaubert. Auf die Sterne aufblickend, erfuhren Vitruvs erste Menschen sich selbst als auf einen überirdischen Logos bezogen, dem sie mit ihrem Bauen hier auf Erden zu entsprechen suchten. Nicht so sehr anders erlebte noch der mittelalterliche Mensch den Himmel über ihm. Erfahren wir heute immer noch Ähnliches, wenn wir die Sterne betrachten? Was sagen uns noch die als Folge von künstlicher Lichtflut und Luftverschmutzung immer weniger und seltener zu sehenden Sterne? Ist das künstliche Licht, das es uns erlaubt Nacht in Tag zu verwandeln, nicht Licht genug? Und gilt das nicht auch von dem Licht unserer Vernunft, diesem lumen naturale, das uns unsere Naturwissenshaft nicht so sehr als Geschenk sondern als Zufallsprodukt verstehen lässt? Was braucht es da Gott? Und dennoch, das Bedürfnis, nicht allein in der Welt zu sein, einen transzendenten Geist zu erfahren, überlebte das Ende des geozentrischen Weltbilds, überlebte auch den von der Naturwissenschaft erwirkten Tod Gottes. Und fordert unsere Naturwissenschaft nicht die Existenz extraterrestrischer Wesen. So alt wie das moderne Weltbild, das uns die Erde als ein durchaus nicht einzigartiges Gestirn verstehen lässt, ist die Zuversicht, früher oder später außerirdischen intelligenten Wesen zu begegnen. So spielte schon Nicolaus Cusanus, der noch im 15. Jahrhundert als erster den hausähnlichen Kosmos der Antike und des Mittelalters seiner irdischen Mitte beraubte und an dessen Stelle den unendlichen Kosmos der Neuzeit stellte, mit dem Gedanken intelligenter Bewohner anderer Gestirne, z.B. des Mondes, ein Gedanke der immer wieder kehren sollte, so bei Bruno, Kepler und auch noch bei dem doch so aufgeklärten Kant, der meinte, höhere Wesen, vielleicht wiedergeborene, vergeistigte Menschen, bewohnten die äußeren Planeten.20 Und wurden auch solche Erwartungen immer wieder enttäuscht, recht20

Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt, A185.

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fertigt sie nicht unsere Naturwissenschaft, zwingt diese uns doch intelligentes Leben als Produkt natürlicher Prozesse zu verstehen, mögen diese auch einstweilen in ihren Einzelheiten undurchsichtig bleiben? Von Anfang an musste die Natur Geist gebären. Angesichts dieses quasiunendlichen Weltalls, ist es nicht nur ein weiteres anthropozentrisches Vorurteil, zu meinen, dass sich intelligentes Leben nur einmal, eben auf dieser Erde entwickelt hätte? Die Wissenschaft hat für Einzigartiges keinen Platz. Prinzipiell ist alles der Wissenschaft Bekannte wiederholbar. Nun erwies sich leider unser Planetensystem, mit Ausnahme eben dieser Erde, als äußerst unwirtlich. Es ist schon viel, dass man jetzt auf Mond und Mars Spuren von Eis entdeckt hat – aber von Bewohnern keine Spur. Und reichen auch unsere Astronomen mit ihren Teleskopen immer tiefer und d.h. auch immer weiter zurück in die Geschichte des Kosmos, die erhofften oder vielleicht auch gefürchteten außerirdischen Wesen haben immer noch nichts von sich hören lassen. Und mit jedem astronomischen und astronautischen Fortschritt wächst die Überzeugung, dass wir, praktisch gesehen, allein sind. Sollte es auch, irgendwo da droben, intelligente Wessen geben, neugierig, vielleicht auch mitleidig genug, oder auch dumm genug, um den Kontakt mit uns zu suchen, die kosmischen Entfernungen machen es immer unwahrscheinlicher, dass wir je in der Lage sein werden, mit diesen unbekannten Wesen, die wir zugleich fürchten und doch irgendwie ersehnen, in ein Gespräch zu kommen. Es fehlt uns die nötige Zeit. Und so kann es nicht überraschen, dass der Liebesgruß, den wir mit der Raumsonde Voyager 2 an unbekannte Adresse am 20. August 1977 in den Raum schossen, in der Form einer Kupferschallplatte, vollgestopft mit repräsentativer Musik, Informationen über das Leben auf unserer Erde, Grüßen in 60 Sprachen, einschließlich Latein, auch mit Plattenspieler, Nadel, und leicht zu folgender Gebrauchsanweisung, dass diese Botschaft, ungeachtet all des Aufwandes, unbeantwortet blieb. 1989 flog sie am Neptun vorbei.21 Und sollte es auch einmal eine Antwort geben, uns wird sie nicht mehr erreichen. Wir sind allein. – Lohnte sich der Aufwand? Warum haben wir den Mond besucht? Nur weil er nun einmal da war, schon so lange auf die Erde herabschaute und es uns plötzlich möglich wurde diesem nächtlichen Gefährten einen Besuch 21

Siehe Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne, S. 501-504.

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abzustatten? Aus jener Neugier, der Lust etwas zu wissen, nur um es eben zu wissen, die Aristoteles als wesentliche Bestimmung des Menschen verstand, und die Augustinus als Lust der Augen, als concupiscentia, verdammte? Gehört dieses Verlangen etwas zu wissen, nur um es zu wissen, wirklich zum Wesen des Menschen, dann wird seine Neugier den Menschen immer wieder über das Vertraute und die damit verbundenen Perspektiven hinausrufen, weg von was ihm einst Heimat war in die Ferne, ins Unbekannte und eben deshalb Faszinierende, wenngleich vielleicht Unheil drohend. Aber fasziniert nicht gerade die Möglichkeit drohenden Unheils? Immer wieder wird menschliche Neugier den Verlust des Paradieses wiederholen. Die Wahrheitssuche fordert Objektivität; Objektivität wiederum fordert, dass wir unsere Welt, diese Welt die uns zunächst und zumeist doch immer noch so etwas wie Heimat ist, in die Welt verwandeln, eine Welt die kein Zuhause kennt, und deren Zeit die Zeit unseres Lebens zu einem Nichts schrumpfen lässt.

9. Astronoetik

9.1 Hans Blumenberg Im vorausgehenden Kapitel erwähnte ich kurz Astronoetiker – was meinte ich damit? Was ist „Astronoetik“? Das Wort fordert eine Erklärung. Ich fand es in Hans Blumenbergs „Die Vollzähligkeit der Sterne“, dieser posthum veröffentlichten Sammlung von im Laufe von fast drei Jahrzehnten geschriebenen Überlegungen, die alle irgendwie den Theoriebegriff umkreisen. Seit einem ersten Bekanntwerden mit Blumenbergs „Legitimität der Neuzeit“ in den späten 60er Jahren begleitet sein Denken meine eigene Arbeit wie ein guter Geist, ein Geist der zwar keinen klaren Weg weist, aber mir doch immer wieder hilft, meinen eigenen Weg zu gehen. Ich habe Blumenberg nie persönlich kennen gelernt. Zwar versuchte ich als Chairman unseres Philosophy Departments ihn, zunächst nur für ein Jahr oder wenigstens ein Semester, zu uns an die Yale Universität nach New Haven zu holen. Hier war eine Stimme, meinte ich, die auch in Amerika gehört werden sollte. Zuerst lief alles wie gewünscht: Blumenberg erhielt eine Einladung von unserem Department; bald darauf erhielten wir eine erste Zusage. Aber als der Tag an dem er Deutschland verlassen sollte näher rückte und mit jeder Woche die Möglichkeit, die Heimat zu verlassen immer insistenter Wirklichkeit zu werden drohte, wurden seine kurzen Nachrichten zunehmend ungewisser. Und am Ende kam er dann überhaupt nicht. Waren es Gesundheitsprobleme, die den Amerikabesuch verhinderten? Ich weiß es nicht. Aber irgendwie passten erst die Zusage, dann das darauf folgende Zögern und zum Schluss die endgültige Absage zu dem Bild, das ich mir beim Lesen seiner vielseitigen Werke gemacht hatte: erst die Anziehungskraft des Fremden, Fernen, das Verlangen von Münster und Deutschland einmal Abstand zu nehmen, dann immer wachsende Bedenken, und am Ende der Entschluss, sich mit Gedanken an solche Reisen zu begnügen und zuhause zu bleiben. Auch in ihm kämpfte zentrifugales mit zentripetalem Begehren. Am Ende war Letzteres stärker. Und Ähnliches gilt auch von seinem Denken. Hyperbolisch gesagt: Blumenberg war nie willens, Astronoetik für

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9. ASTRONEOTIK

Astronautik zu tauschen. Er hing zu sehr an seinem Schatten. Und damit scheint er mir im Grunde recht zu haben.

9.2 Was ist Astronoetik? Aber „Was ist Astronoetik?“ Das allerletzte Kapitel der „Vollzähligkeit der Sterne“ trägt diesen Titel. Der Titel eines vorausgehenden Kapitels – „Auch Lichtenberg ein Astronoetiker“ – gab dem Leser eine erste Idee, was ihn erwartet. In diesem Kapitel zitiert Blumenberg Lichtenbergs Version der immer wieder erzählten Geschichte von Newton und seinem Apfel. Die Geschichte ist die: Warum der Mond ohne Nagel und Strick da oben hängt, ohne uns auf die Köpfe zu fallen, wenn wir darunter weggehen, hat ein alter Inspektor bei der Münze zu London erraten, als ihm einmal ein Apfel, der nicht größer als eine Faust war, von einem Baume auf die Nase fiel.1

Der Geschichte nach gab der Fall des Apfels Newton den Anstoß, der ihn seine Gesetze formulieren ließ. Es ist nicht Newton, den Naturwissenschaftler, sondern Lichtenberg, den Geschichten-erzählenden, Astronomie-besessenen Satiriker, bedenkend, wie ein an sich bedeutungsloser Zufall etwas Außerordentliches auslösen kann, den Blumenberg auch einen Astronoetiker nennt. Und es ist mit Lichtenberg, dass Blumenberg sich vergleicht, wenn er im letzten Kapitel des Buches die Gründung der Astronoetik für sich in Anspruch nimmt, wenn auch, wie schon der Hinweis auf Lichtenberg zeigt, es schon vor ihm Astronoetiker gegeben hat. Blumenberg beginnt dieses letzte Kapitel mit der Bemerkung, fehlte ihm nicht jeder Sinn für Widmungen, hätte er dieses Buch Wolfgang Bargmann gewidmet, einem hochverdienten Gehirnanatomen und rührigen Geschaftlhuber, besonders erfolgreich im Verfassen von Forschungsanträgen, der seine Kieler Kollegen ermunterte, ihm gleich zu tun. Das war im Jahre 1958, dem Jahr also in dem, wie schon erwähnt, die Russen ihren Sputnik um die Erde kreisen ließen und im Westen Gelder locker wurden, um den untragbaren Forschungsrückstand aufzuholen. Bargmann tat sein 1

Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, 2. Auflage, Frankfurt a. M., 1997, S. 66.

9. ASTRONEOTIK

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Bestes die Kollegen zu überzeugen, mit Forschungsanträgen das Ihrige zu tun. Blumenberg wusste natürlich, dass Philosophieren eine brotlose Kunst ist, ungeachtet einer anderen Geschichte von Thales, der, eine gute Olivenernte voraussehend, sich die Ölpressen gesichert und damit viel verdient haben soll, eine Geschichte, die wohl der Geschichte vom Brunnensturz entgegenwirken und zeigen sollte, dass Philosophen, wenn sie nur wollen, durchaus praktisch und weltnah denken können, dass sich ihr zunächst so weltfremdes Denken an Himmlisches durchaus lohnen kann. Blumenberg folgte diesem Vorbild allerdings nicht und handelte anders, als auch er aufgefordert wurde mit einem ordentlichen Forschungsantrag das Seine zu tun. Er tat es auf seine Weise, mochte das Resultat auch dem, was Bargmann sich erhoffte, kaum entsprochen haben. Blumenberg beantragte finanzielle Unterstützung in unbestimmter Größe für die Erforschung der damals immer noch unbesuchten und unsichtbaren Rückseite des Mondes durch reines Denken allein. Die Resultate sollten in einer Zeitschrift Current Topics on Astronoetics veröffentlicht werden. So erhielt die Astronoetik ihren Namen. Ihre Vorgeschichte allerdings reicht bis zu Thales zurück. Philosophie und Astronoetik haben denselben Ursprung, nur fehlt der Astronoetik der wissenschaftliche Ernst. 1958 vermutete wohl kaum jemand, dass man in nicht allzu vielen Jahren die Rückseite des Mondes nicht nur fotografieren, sondern den Mond sogar besuchen würde. Hat dieser Fortschritt der Astronomie der Astronoetik nicht jede Relevanz genommen, wie ja auch der Fortschritt der Naturwissenschaft die ältere Schwester der Astronoetik, nämlich die Philosophie, zunehmend irrelevant erscheinen lässt. Lange nahm die Philosophie die weißen Flecken auf der uns von der Naturwissenschaft gelieferten Weltkarte in Anspruch, fand in deren Weiße eine schwer zu wiederstehende Einladung, der Vernunft Flügel zu geben. Doch gibt es immer weniger weiße Flecken. Aber „Astronoetik“ nennt hier nicht einfach eine Alternative zur Astronautik, die sich in der Erforschung der Welt aprioristisch mit reinem Denken begnügt statt etwas wirklich zu erforschen. Die Richtung des Denkens hat sich geändert. Es geht der Astronoetik nicht so sehr darum, unser Wissen zu erweitern, sondern Wesen und Wert solcher Forschertätigkeit zu bedenken. „‚Astronoetik‘ soll nicht als Alternative zur ‚Astronautik‘ so heißen: zu denken statt hinzufahren. ‚Astronoetik‘ tituliert auch das Bedenken selbst,

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ob und gegebenenfalls welchen Sinn es hatte hinzufahren. Es könnte sein, dass sich auch nach Hin- und Rückfahrt nicht entscheiden ließe, ob es den Aufwand gerechtfertigt habe.“2 So verstanden geht die Astronoetik der Astronautik nicht nur voraus, sondern begleitet sie, nicht ohne Humor. In Blumenbergs Astronoetik treffen sich zentrifugale Neugier und zentripetale Sorge für den Menschen und diese Erde. Und so verstanden, mag die Astronoetik durchaus öffentliche Unterstützung verdienen: Der Astronoetiker, der ab und zu kaltes Wasser auf fragwürdige Projekte gießt, deren Verwirklichung Milliarden kosten können, dient auf seine Art der Menschheit. Wie Lichtenberg, war Blumenberg „auch ein Astronoetiker“. Aber nicht nur einer von vielen, sondern, wie es sein Anspruch dieser Disziplin als ihr Gründer ihren Namen gegeben zu haben bezeugt, war er der führende Astronoetiker unserer Zeit, Lichtenberg auch als Satiriker vergleichbar. Aber, um die Frage zu wiederholen: Brauchen wir im Zeitalter der Astronautik die Astronoetik? Astronautik kann hier auch, allgemeiner, für die Technik stehen. Um die Frage umgewandelt zu wiederholen: Brauchen wir im Zeitalter der Technik überhaupt noch Philosophie? Angesichts der scheinbar fraglosen Bedeutung wissenschaftlicher Arbeit und technischen Fortschritts, ist diese sich selbst nicht ganz Ernst nehmende brotlose Kunst reinen Denkens nicht im Grunde überflüssig? Um noch einmal Blumenberg zu zitieren: „Je nach Friedlichkeit oder polemischer Ader war das Bestehen auf der Brotlosigkeit des reinen Denkens Übermut oder Trotz, von beiden Seiten mit Humor genommen.“3 Aber so ganz ohne Bedeutung ist die Astronoetik doch nicht. Ist es nicht ihre Aufgabe den Anspruch der Naturwissenschaft in den ihr geziemenden Schranken zu halten? „Was blieb den Daheimgebliebenen der Astronautik?“4 Blumenberg verstand sich als ein von der Astronautik und d.h. auch von der Technik zuhause gelassener. Und er lädt uns ein, uns ähnlich zu verstehen: als von Astronautik und Technik Zuhausegelassene. Zuhausegelassen: Das kann heißen, den Anschluss an den Fortschritt der Technik verpasst haben. Das kann aber auch heißen, die Technik hat uns unser Zuhause gelassen, hat es nicht zerstört.

2 3 4

Ebd,, S. 320. Ebd., S. 547. Ebd., S. 548.

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9.3 Daheimgebliebene der Astronautik Denken wir noch einmal an Ikaros, der verführt von der strahlenden Sonne, hoch über die Erde flog, nur um dann abzustürzen: cadet impostor dum super astra vehit lesen wir unter dem Ikaros Emblem in dem 1531 in Augsburg erschienen Emblematum Liber des Alciatus. Es trägt den Titel, „In Astrologos“, „Wider die Sterngucker“. Das Emblem hätte sich gut auf dem Umschlag der von Blumenberg erdachten Zeitschrift, Current Topics on Astronoetics gemacht. Wäre eine mögliche Übersetzung von In Astrologos auch „Wider die Astronoetiker“? Aber der Astronoetiker will ja gerade nicht, wie Ikaros, hoch über die Erde fliegen, obwohl er gerne mit Gedanken an solche Flüge spielt und, geborgen in seinen vier Wänden, Berichte über solche Forschungsreisen liest, mögen sie auch mit einem Sturz ins Meer enden. Aber solche Berichte locken ihn nicht, die Erde zu verlassen. Im Gegenteil, sie machen ihm die Erde liebenswerter, heimischer, wie ein draußen tobender Wintersturm uns unser warmes Wohnzimmer noch mehr schätzen lehrt. Daheimgebliebene der Astronautik! In den Worten spüren wir auch so etwas wie ein Bedauern. Was für Abenteuer bleiben uns Daheimgebliebenen versagt. Wir bewundern die großen Entdecker neuer Welten, sehen uns gerne, mit Nietzsche, im Bilde des Kolumbus. Wie es in einem von Heidegger mehrmals zitierten5 Entwurf zu Hölderlins Elegie Brod und Wein heißt: nemlich zu Hauß ist der Geist nicht am Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath. Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist.

„Kolonie liebt der Geist“! Aber, wie es in Hölderlins Gedicht Die Wanderung heißt, und mit diesem Zitat schließt Heidegger seinen Kunstwerk-Aufsatz: „Schwer verlässt/ Was nahe dem Ursprung wohnet den Ort.“ Heimat erfahren wir nur wo ein uns vertrauter Geist uns sichtbar erscheint. Nur wenn wir unsre Umwelt als Inkarnation von Geist erfahren fühlen wir uns zuhause. Geist da draußen muss unserem 5

Vgl. Martin Heidegger: „Andenken“ Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1981, S. 89-94; Hölderlins Hymne „Andenken“, Gesamtausgabe, Bd. 52, Frankfurt/ M. 1982, S. 189-191; Hölderlins Hymne „Der Ister“, Gesamtausgabe, Bd. 54, Frankfurt a. M. 1984, S. 156-170.

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Geist antworten. Das ist Voraussetzung alles wirklichen Wohnens. Und so lässt Vitruv seine Urmenschen ihre Hütten im Bilde der in den Sternen sichtbaren geistigen Ordnung bauen, damit nicht nur dem Körper sondern der Seele Obdach gebend. Ein Echo dieser Korrespondenz von Menschenwerk hier unten und göttlicher Ordnung über uns finden wir in ein paar Versen von Hans Carossa, die Hans Blumenberg an den Anfang der Vollzähligkeit der Sterne stellt: Finsternisse fallen dichter Auf Gebirge, Stadt und Tal. Doch schon flimmern kleine Lichter Tief aus Fenstern ohne Zahl. Immer klarer, immer milder, Längs des Stroms gebognen Lauf, Blinken irdische Sternenbilder Nun zu himmlischen herauf.6

Die Sternbilder, die bei wachsender Dunkelheit immer sichtbarer Berg, Stadt und Tal überwölben, antworten den künstlichen Lichtern menschlicher Behausungen. Aber hat dieses Bild überhaupt noch Platz in unserer modernen Welt. Und so fragt Blumenberg: In welcher Provinz werden die leben, die Hans Carossas Verse auf eigene Anschauung beziehen können? […] Vielleicht wollte der Dichter schon von etwas sprechen, was sich nicht von selbst verstand, weil es einem Weltvertrauen Ausdruck gab, durch das es dem verspäteten Leser zum dunklen Text, zum Unverstandenen im Verdacht unerlaubter Behaglichkeit wurde.7

Und so ersetzt Blumenberg Carossas Bild mit einem anderen, zeitgemäßeren: Doch ist auch daran festzuhalten, dass der Dichter den Trost nicht kannte und nicht erwartete, der den wenig Späteren durch den Anblick der Erde aus dem Weltall zuteil werden sollte – der Eigenplanet vor der reinen Schwärze des Himmels.8

So heißt es in der „Genesis der kopernikanischen Welt“: „Die kosmischen Oase, auf der der Mensch lebt, dieses Wunder von Ausnahme, der blaue Eigenplanet inmitten der enttäuschenden

6 7 8

Vollzähligkeit, S. 33. Ebd. Ebd.

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Himmelswüste, ist nicht mehr ‚auch ein Stern’, sondern der einzige, der diesen Namen zu verdienen scheint.“9 Zwischen diesen beiden Erfahrungen, der des Dichters und der des Astronoetikers, liegt die Astronautik, liegt ihr Versprechen, irgendwo, irgendwann, da draußen doch einmal so etwas wie Leben, intelligentes Leben sogar, zu finden, liegt auch, und für den Astronoetiker Blumenberg von größerem Interesse, die Enttäuschung nichts dergleichen gefunden zu haben, die Entzauberung des Weltraums, die sie uns brachte. Dieser Entzauberung antwortet eine neue Geozentrik und eine neue Anthropozentrik. So gesehen scheint es in der Tat mehr als ein bloßer Zufall dass das Wort Umweltschutz und die erste Mondlandung in dasselbe Jahr gehören.10 Die Erfolge von Astronomie und Astronautik und die Ernüchterung die ihnen folgte, die immer noch wachsende Einsicht in die Einzigartigkeit der Erde, das Wissen, dass wir Menschen, ob wir es wollen oder nicht, an diese Heimat gebunden bleiben, nähren eine neue Verantwortlichkeit: „Nur als Erfahrung einer Rückwendung wird akzeptiert werden, dass es für den Menschen keine Alternative zur Erde gibt wie keine Alternative der Vernunft zur menschlichen.“11 Und diese Heimat haben uns Astronomie und Astronautik gelassen. Blumenberg hat Recht mit seiner Behauptung, für uns Menschen gäbe es keine Alternative zur Erde und auch keine Alternative zur menschlichen Vernunft. Aber wie sieht dann eine Philosophie aus, die sich diese doppelte Einsicht des Astronoetikers wirklich aneignet? Es wäre unnötig zu behaupten, dass es keine Alternative zur menschlichen Vernunft gibt, träumten die Menschen nicht immer wieder und träumen immer noch, wie es die Arbeit von einem Naturwissenschaftler wie McDermott zeigt, von einer unsere menschlichen Vernunft übersteigenden Vernunft, einer Vernunft, die die Dinge begreift wie sie an sich sind, die weder unsere Alltagsprache noch die damit verbundenen Metaphern, Perspektiven und Einseitigkeiten verunreinigen. Und sie träumen nicht nur davon, sondern versuchen diesen Traum in Wirklichkeit umzusetzen. Solch Träume nährt die Hoffnung, dass der Aufstieg zu einer so gereinigten Vernunft uns zu Herren der Natur und auch 9

10 11

Hans Blumenberg: Die Genesis der koperikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1975, S793-794. Vollzähligkeit, S. 439. Genesis, S. 794.

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unserer Natur machen würde, Herrschaft die die Heimkehr zu unserem wahren Selbst bedeuten würde. Und es ist dies kein eitler Traum. Blumenberg wusste sehr gut, dass Descartes’ Versprechen einer praktischen Philosophie, die uns zu Meistern und Besitzern der Natur machen würde, kein leeres Versprechen war. Dieses Versprechen und der wissenschaftliche und technische Fortschritt den es brachte zeigt, dass unsere menschliche Vernunft fähig ist, sich selbst zu übersteigen: dem Raumverständnis, das mich in die körperbedingte Mitte meiner Welt stellt, den unendlichen Weltraum entgegenzusetzen; der begrenzten Zeit unseres Lebens, die grenzenlose Weltzeit; aber auch unserer Sprache, der Sprache, in die wir unsere Gedanken kleiden, die Idee einer reinen Sprache, einer Sprache die noch nie ein Mensch gesprochen hat; dem Schatten werfenden, immer an eine bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit gebundenen Subjekt, die Idee eines absoluten, weder zeit- noch ortsgebundenen Subjekts, das die Dinge so versteht wie sie wirklich, d.h. an sich sind. Jeder Versuch, was diese Selbstaufstufung unseres Geistes verspricht, zu verwirklichen, muss unsere Wirklichkeit, die Wirklichkeit in der wir zunächst und zumeist zuhause sind, zurücklassen. Aber fordert die Wahrheit nicht eben diesen Versuch? Als das vernünftige Tier, ist der Mensch nicht auch das Tier, das sich selbst übersteigen muss. Und verspricht dieses Selbstüberstieg nicht auch den Aufstieg zu wahren Wirklichkeit?

9.4 Post-postmoderne Geozentrik Francis Bacon und Descartes meinten beide, die neue Wissenschaft würde uns das Paradies, das uns Adams Apfelbiss kostete, zurückerstatten. Und sie waren nicht die Einzigen die so dachten. Das Verlassen der Heimat begleitet die Hoffnung, dass uns unsere Vernunft in unsere wahre Heimat, in irgendeine Variante des platonischen Landes der Wahrheit geleiten wird. Aber wie haben wir uns diese wahre Heimat zu denken? Die Hoffnung auf eine solche Heimkehr scheitert an der Antinomie des Seins. Es war schon immer leichter Metaphern für den Verlust der Heimat zu finden, die Voraussetzung solcher Träume ist. Eine solche Metapher, der Blumenberg eingehend nachgegangen ist, ist

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die des Schiffs auf hoher See, ungewisser Herkunft und mit unbekanntem Ziel. So wird uns dieses Schiff zur Ersatzheimat. In diesem Zusammenhang zitiert Blumenberg Paul Lorenzen, der unsere Alltagssprache mit einem solchen Schiff vergleicht. Wenn es kein erreichbares Festland gibt, muss das Schiff schon auf hoher See erbaut sein; nicht von uns aber von unseren Vorfahren. Diese konnten also schwimmen und haben sich – irgendwie aus etwas herumtreibenden Holz – wohl zunächst ein Floß gezimmert, dieses dann immer weiter verbessert, bis es heute ein so komfortables Schiff geworden ist, dass wir gar nicht mehr den Mut haben, ins Wasser zu springen und noch einmal von vorn anzufangen.12

Aber macht der Komfort, den das Schiff bietet, einen solchen Sprung unmöglich? Sagt es, dass wir einen solchen Sprung nicht mehr nötig haben, dass unser Schiff, wenn auch in Vielem unvollkommen, uns genügt? Wenigstens uns genügen sollte? Dass es dumm wäre, den Sprung zu wagen? Wie Blumenberg bemerkt, macht Lorenzens Gleichnis es uns nicht ganz leicht zu verstehen, was Menschen, die sich an das komfortable Leben auf ihrem Schiff gewöhnt haben, überhaupt bewegen könnte, es zu verlassen und irgendwoanders, vielleicht auf einem neu gebauten, besseren Schiff, vielleicht sogar auf festem Land, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Aber die Aussicht auf festes Land verweigert uns die Antinomie des Seins und dem Neubau fehlt das nötige Material. Blumenberg spricht auch für sich selbst, wenn er meint, die Metapher bestärkt die Neigung, auf jenem komfortablen Schiff wiederum zum Zuschauer derer zu werden, die den Mut haben und ausbreiten möchten, ins Wasser zu springen und noch einnmal von vorn anzufangen – womöglich im Vertrauen auf die Rückkehr zum unversehrten Schiff als dem Reservat einer verachteten Geschichte.13

Wir spüren hier was den Astronoetiker Blumenberg von Denkern trennt, die, Descartes’ Beispiel folgend, das Schiff auf dem wir uns eben befinden mit einem besseren das uns unsere Vernunft bauen soll ersetzen wollen. Descartes allerdings warnt uns, nicht in unserem demiurgischen Eifer uns eine neue Welt zu bauen das alte Haus, in dem es sich doch ganz gut leben ließ, abzureißen, ehe das 12

13

Paul Lorenzen: Methodisches Denken. Frankfurt a. M. 1968. Zitiert in Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt a. M. 1979, S. 73-74. Ebd., S. 74

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neue fertig ist. Es ist dies ein Rat den Blumenberg energisch unterstreicht. Auch bei Blumenberg spüren wir etwas vom einem postmodernen Widerwillen gegen cartesische Vernunftarchitekturen. Aber wir spüren auch den Abstand, der ihn von einem Denker wie Heidegger trennt, der sich keine bergende Architektur von der Vernunft erwartet, aber uns dennoch einlädt unser doch recht bequemes Schiff zu verlassen, ein anderes Denken fordernd, den Bau oder vielmehr eher die Ankunft, den Advent eines neuen besseren Schiffs erhoffend, aber ohne guten Grund für solche Hoffnung. Blumenbergs Lesen des Gleichnisses zeigt aber auch den Abstand von jenen postmodernen Denkern, die zu recht bei ihm Verwandtes spüren. Die Erhabenheit des Meeres lässt Blumenberg nicht die bescheidene Schönheit des Schiffes vergessen. Und so weigert er sich, ihrem Ruf zu folgen und ins Wasser zu springen, nicht um ein neues Schiff zu bauen, sondern um die Freiheit des Schwimmers zu genießen, allerdings nur als Denker, wohl wissend das ihnen als Menschen die beschränkte Sicherheit des Schiffs bleibt, zu dem sie, des denkenden Schwimmens müde geworden, zurückkehren können. Blumenberg ist kein solcher Schwimmer. Aber was bewegt uns Menschen unser doch recht komfortables Schiff immer wieder zu verlassen? Um die Frage noch einmal zu wiederholen: warum besuchten wir den Mond? Genügt der Hinweis auf jenes Wissenwollen das nach Aristoteles das Wesen der Menschen bestimmt? Immer wieder wird solches Wissenwollen den Verlust des Paradieses wiederholen, denn Wahrheit fordert Objektivität. Aber solche Objektivität muss, wie auch Blumenberg, Nietzsche und Wittgenstein folgend, bemerkt, alles was uns die Welt bedeutsam macht und uns Interesse an ihr nehmen lässt ausklammern, muss unsere Welt in die Welt und somit in eine „Sphäre der Gleichgültigkeit gegen alle“ verwandeln.14 Dieser Indifferenz der Welt entspricht der Verlust der Individualität des wissenden Subjekts, entspricht die Entkörperung, der Verlust des Schattens. Beide haben ihren Grund in der zu unserem Menschsein gehörenden Fähigkeit der Selbsterhebung. Das mundane Subjekt vollendet sich, indem es das schwerste aller Zugetändnisse macht, die ihm zugemutet werden können: seine Welt die Welt werden zu lassen, seine Lebenszeit im Verbund der 14

Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M. 1986, S. 306.

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Lebenszeiten zu der Weltzeit sich entfremdet zu sehen. Da geschieht nichts, was vermieden werden könnte, weil es schmerzhaft ist, vermieden werden dürfte, um dem Subjekt seine Subjektivität ungetrübt zu erhalten. Es ist der Verzicht darauf, das Maß aller Dinge zu sein, was das Subjekt den Sinn seiner Existenz entdecken lässt: In seiner Kontingenz von der Welt zwar im Stich gelassen und mißachtet zu werden, zugleich aber diese Welt als das zu wissen und zu entdecken, was ohne seinen Verzicht und den aller auf deren Subjektvitäten nicht sein könnte.15

In dem Maße in dem diese ideale Welt in unsere Lebenswelt eindringt, sie gestaltet und verändert, wird diese zunehmend ungemütlich, ein Grund warum wir gerade heute Blumenbergs Astronoetik brauchen, stellt sie doch dem zentrifugalen Begehren der Astronauten das zentripetale Begehren Heimzukehren entgegen, ein Begehren, das um den Wert der Gemütlichkeit weiß. In diesem Zusammenhang erinnert uns Blumenberg noch einmal an was schon Kant, Schopenhauer und Nietzsche wussten, dass unsere Erde, die einst als vermeintlicher Mittelpunk einer wohlgeordneten Weltarchitektur uns Menschen unseren Platz nahe der kosmischen Mitte anwies, ein Platz der es dem Menschen erlaubte im Buche der Natur alles Wesentliche zu lesen und zu bedenken, ihre Einzigartigkeit verloren hat und nun ein Gestirn unter zahllos anderen geworden ist. Und doch ist dies nicht das letzte Wort über die Erde und ihre Einzigartigkeit: Man muß bei diesen Überlegungen die Namen und Daten faktischer Körper und Verhältnisse einfach vergessen, um sich die eigentümliche Kontingenz zu vergegenwärtigen, dass die durch ihre Weltstellung so diskriminierte Erde – die einmal vor Kopernikus als ausgezeichneter Platz für die theoria der Welt gegolten hatte, an dem einem ‚nichts entgehen‘ konnte – durch die Technik der Raumfahrt unerwartet eine gnädig anmutende Eigenschaft ‚gezeigt‘ hat: die der möglichen Heimkehr zu ihr, wenn man so neugierig oder geltungssüchtig gewesen ist, sie zu verlassen. Odysseus – nochmals und gewandet in den Raumanzug einer Menschheitsfigur: Nach Ithaka heimzukehren, dabei ist es geblieben, erfordert und verlohnt den weitesten Umweg.16

15 16

Ebd. Vollzähligkeit, 383.

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9. ASTRONEOTIK

Im Zeitalter der Astronautik eröffnet uns die Astronetik einen Weg zu einer neuen postkopernikanischen, post-postmodernen Geozentrik.

10. Der Spruch der Schlange

10.1 Eine alte Geschichte Ich möchte dieses Schlusskapitel mit einer Geschichte aus dem Umkreis des alten Testaments beginnen. Professor Friedrich Weinreb, dieser unvergessliche Erzähler und Deuter alter Geschichten die sich um das Buch Genesis ranken, erzählte sie vor nun mehr als dreißig Jahren einer Gruppe, die sich in Zürich zu einem Gespräch zum Thema „Technik und Wirklichkeit“ getroffen hatte. Im Grunde ist es immer noch das gleiche Thema um das auch diese Überlegungen kreisen. Professor Weinreb sprach von Adam; er sprach von Kain, der, wie schon erwähnt, die erste Stadt gebaut haben soll, der er den Namen seines Sohnes Henoch gab (Genesis 4, 17) wobei man sich fragen muss, wo die Bewohner dieser ersten Stadt her kamen; Weinreb sprach vom Geschlechte Kains, von Lamech, von dem gesagt wird, dass er das erste Lied sang, von seinen zwei Frauen, Ada, die ihm Kinder gebären sollte, und Zilla, die, um sich ihre Schönheit zu erhalten, kinderlos bleiben sollte, dann aber Lamech doch ein Kind gebar, den Tubalkain, von dem man sagt er wäre der erste gewesen Kupfer und Eisen in Werkzeug und Waffen zu schmieden. Von Tubalkain wird weiter erzählt, dass er den im Alter erblindeten Lamech auf der Jagd begleitete, ihm die fehlenden Augen ersetzte, dem Blinden zeigend wo sich das Wild verbarg. Und so lenkte Tubalkain eines Tags den Pfeil des Vaters auf was er für ein Tier hielt. Aber es war kein Tier das der Vater erlegte, sondern der gehörnte Kain den Gott so gezeichnet hatte. Und der blinde Lamech, des prophetischen Spruchs wohl bewusst, dass der Mord Abels in der siebenten Generation gerächt würde, außer sich vor Schmerz und dem Wissen, dass er es war, der die Prophezeiung erfüllte, erschlug in seinem blinden Rasen, ohne es zu wollen, den Sohn der den todbringenden Pfeil gelenkt hatte. So vollendete sich das Geschlecht Kains in der siebenten Generation. Aber was hat diese Geschichte mit dem Thema dieses Buchs zu tun? Ich werde nicht versuchen hier eine Interpretation der biblischen Geschichte zu geben. Dazu fehlt mir das nötige Wissen; und

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10. DER SPRUCH DER SCHLANGE

irgendwie scheint es mir auch verkehrt solch vieldeutige Geschichten, die immer wieder anders erzählt und gedeutet werden wollen, in das Gewand einer Interpretation zu zwängen. Aber ich möchte doch etwas das mich in dieser Geschichte ansprach als Anstoß nehmen, etwas mir Wesentliches zusammen zu fassen. Dass ich damit der Geschichte nicht gerecht werde, weiß ich, denn was ich in diese Geschichte hinein hörte ist ein Problem das in unsere Zeit gehört. Aber gehört es nicht zum Wesen solcher Geschichten, dass sie uns Metaphern liefern, uns anregen den Weg auf dem wir uns befinden noch einmal zu bedenken und warnende Zeichen zu deuten. Ich erwähnte Kain schon mehrmals in den vorausgehenden Kapiteln. So wird es den Leser nicht überraschen, dass ich den die erste Stadt bauenden Kain mit dem Architekten Daidalos verbinde, auch er ein Mörder, nicht seines Bruders, sonders seines begabteren Neffen Perdix, den man ihm zur Erziehung anvertraut hatte, und auch er verurteilt, wie Kain, ein unstetes Leben zu führen. Der Verlust der Heimat lässt beide zu Architekten werden. Und so kann es nicht verwundern, dass es der unstet über die Erde wandernde Kain ist, der als erster Architekt die erste Stadt gebaut haben soll, und dass wir, so lesen wir in Genesis, dem Geschlechte Kains Kunst und Technik verdanken, in denen wir seit dem Verlust des Paradieses ruhelosen Menschen Ersatz für das Verlorene suchen. Das Werk des Werkzeug und Waffen schmiedenden Tubalkain kann dann als Fortsetzung und Potenzierung der Arbeit verstanden werden, die mit der ersten Stadt ihren Anfang nahm.

10.2 Rückkehr des Mythos im Zeitalter der Technik? Aber was hat uns ein solcher Vergleich zu lehren? Kleidet er nicht nur schon Bekanntes in ein mythologisches Gewand? Unsere geistige Situation bestimmt eine stolze Selbstbehauptung, ein Anspruch auf Autonomie, beschattet von einem Unbehagen das die Überzeugungen, die einst unser aufgeklärtes Weltbild so sicher zu tragen schienen, die geistige Architektur in der wir immer noch leben, wenn auch nicht sicher wohnen, immer wieder in Frage stellt. Im Widerwillen gegen Architekturen aller Art findet diese Unbehagen einen Ausdruck. In der Antinomie des Seins hat es seinen Grund.

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Mit was Nietzsche den Tod Gottes nannte verlor diese Architektur Gründer und Fundament. So zeigten und zeigen sich in diesem Kulturgebäude immer mehr Risse und Brüche, wie es in der doppelten Wahrheit, zu der sich ein Naturwissenschaftler wie McDermott genötigt sieht, so klar zum Ausdruck kommt. Immer wieder begegnen wir dem Verdacht, dass wir Weg und Richtung verloren haben und so treiben wir in ein neues Jahrtausend, getragen von einer Technik, die sich uns immer weniger wie ein Werkzeug zeigt, das wir fest in der Hand haben. Wohin treiben wir? Einer Selbstzerstörung entgegen, die am Ende auch die Zerstörung unserer technischen Welt bedeuten würde? Die immer noch wachsende und zunehmend labyrinthische Macht die uns Technik und Wissenschaft gegeben haben stellen uns vor kaum zu lösende Probleme und Fragen. Das Umweltproblem ist nur eines von vielen. Wie die Geschichte von Kain und seinem Geschlecht zeigt, von Anfang an beschattete Architektur, Kunst und Technik der Verdacht, dass der Versuch auf Vernunft und menschliche Schöpferkraft zu bauen, das verlorene Paradies mit Menschenwerk zu ersetzen, nicht in einer triumphierenden Selbstbehauptung, sondern in einer Selbstzerstörung enden wird. So hat es immer wieder Versuche gegeben die Hegemonie von Naturwissenschaft und Technik in Frage zu stellen, der objektivierenden Vernunft ein besinnliches Denken entgegen zu stellen. Immer wieder begegnen wir Träumen von einer Rückkehr zum Mythos, von Geschichten und Bildern, mächtig genug einen neuen Ethos zu stiften. Aber solch Gerede berührt kaum die Macht die es in Frage stellen möchte. Allzu oft verliert es sich in anregend geistreichen, aber im Grunde doch folgenlosen Spielereien. Hermann Hesse sprach in diesem Zusammenhang von einem Glasperlenspiel, und ich fürchte, dass er mit dieser Voraussage eines ästhetisch-geistreichen Spiels mit ererbten Kulturwerten, das uns im dritten Jahrtausend zunehmend Kunst, Philosophie und Religion ersetzen soll, nicht so unrecht haben wird. So manches was heute Kunst heißt, aber auch was uns in den Geisteswissenschaften begegnet, lässt sich als eine solche Glasperlenspielerei verstehen. Hesse bestand darauf, dass trotz seiner unleugbaren ästhetischen Qualitäten, trotz seiner Schönheit, solch Spiel unfruchtbar bleibt. Wie ist solche Unfruchtbarkeit zu verstehen? Solche Fragen ließen mich aufhören als Weinreb die Geschichte von Zilla erzählte, die, schön wie ein Bild, um sich ihre Schönheit

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zu erhalten, kinderlos bleiben sollte. Und doch umarmte sie Lamech und gebar ihm den Tubalkain, und diese Umarmung sollte das Geschlecht Kains in seinem Ursprung zerstören, war es doch Tubalkain, der den Pfeil seines blinden Vaters auf den gehörnten Kain lenkte. Das Thema jenes Zürcher Gesprächs, „Technik und Wirklichkeit“, ließ mich damals die Geschichte so hören: Zilla, die, um sich ihre Schönheit zu erhalten, Abstand von der verabscheuten technischen Welt halten soll für die Kain und sein Geschlecht stehen, umarmt sie dennoch. Und diese Umarmung von Technik und Schönheit führt zur Potenzierung des bösen Schicksals, das das Geschlecht Kains beschattet. Aber wie haben wir uns diese Umarmung zu denken? Von Anfang an bestand die von Baumgarten begründete moderne Ästhetik auf dem Abstand, den das Ästhetische, das Reich der Schönheit, von der Wirklichkeit, und hier hat die Technik ihren Ort, halten soll. Und doch begleitet das Bestehen auf dieser Distanz ein Unbehagen an eben dieser Distanz, die den Künstler auffordert, sich mit dem schönen Schein einer bloßen Fiktion zu begnügen, Schönheit um den Preis der Wirklichkeit zu erkaufen. Dieser Wirklichkeitsverlust reizt zum Widerspruch: warum sollte die Kunst nicht zur Wirklichkeit zurückkehren und etwas von der weltbildenden Kraft die einst der Mythos besaß zurückgewinnen. Ist es nicht Aufgabe der Kunst die Wirklichkeit zu umarmen, sie zu verklären statt Abstand von ihr zu halten? Und gilt dies nicht besonders heute wo Film und Fernsehen, Computer und Videotechnik dem Künstler neue, vor nur wenigen Jahren noch ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Anstatt dass die Kunst der technischen Welt den Rücken kehrt, sollte sie diese nicht umarmen und verwandeln? Zur modernen Welt gehört dieser gefährliche Traum einer Umarmung von Schönheit und Technik, Traum einer Rückkehr des Mythos im Zeitalter der Technik. Im Folgenden möchte ich diesem Traum etwas nachgehen.

10.3 Vom Unbehagen an der Technik Ich sprach von einem weit verbreiteten Unbehagen an der Herrschaft der Technik über unsere Lebenswelt. Solch Unbehagen findet Ausdruck in Heideggers rhetorischer Frage: „Gibt es noch je-

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nes ruhige Wohnen des Menschen zwischen Erde und Himmel? Waltet noch der sinnende Geist über dem Land? Gibt es noch wurzelkräftige Heimat, in deren Boden der Mensch ständig steht, d.h. boden-ständig ist?“1 Solch fragendes kitschiges Klagen reizt zum Widerspruch. Was brauchen wir Wurzeln? Wir sind doch keine Pflanzen die ihre Wurzeln fest im Boden verankern? Was können wir heute noch mit Heideggers nostalgischer Beschwörung von Schwarzwaldhof, Feldweg und Glockenturm anfangen, wissen wir doch alle, dass die Technik unsere Lebenswelt bestimmt? Zugegeben, auch mich beunruhigt wie wir die Erde vernachlässigen oder, schlimmer noch, mit unserer Technik zerstören und die damit verbundene Wurzellosigkeit unseres modernen Lebens. Ich verstehe Heideggers Klage, All das, womit die modernen technischen Nachrichteninstrumente den Menschen stündlich reizen, überfallen, umtreiben – all dies ist dem Menschen heute bereits viel näher als das eigene Ackerfeld rings um den Hof, näher als der Himmel überm Land, näher als der Stundengang von Tag und Nacht, näher als Brauch und Sitte im Dorf, näher als die Überlieferung der heimatlichen Welt.2

Aber ich weiß auch, dass solche Sätze in unsere heutige Welt nicht so recht passen wollen: wer lebt schon noch auf einem Bauernhof, umgeben von Feldern und Wiesen. Unsere Lebenswelt hat die Technik geformt. Computer und Fernseher, Auto und Flugzeug sind den meisten von uns heute in der Tat weit näher als „das eigene Ackerfeld rings um den Hof, näher als der Himmel überm Land“. Solche Nähe hat uns eine Freiheit geschenkt die Heideggers Bauer auf seinem Hof nicht kannte. Und wäre es nicht unverantwortlich solche Freiheit aufzugeben, wissen wir doch, dass wir in unserer heutigen Welt heimatlos würden, versuchten wir ernsthaft von der Technik Abstand zu halten? Müssen wir die Technik nicht bejahen, wollen wir den Boden finden auf dem wir heute allein stehen können? Ist es nicht gerade das nostalgische Verlangen nach von der Technik noch unberührten Oasen, das uns heute heimatlos werden lässt? Nun will ja auch Heidegger was er unter Gelassenheit versteht nicht einfach als eine Abkehr von der Technik verstanden wissen, 1

2

Martin Heidegger: Gelassenheit, Gesamtausgabe, Bd. 16, Frankfurt a. M. 2000, S. 521. Ebd., S. 521-522.

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sondern als eine „Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein zur technischen Welt“.3 Er spricht von einem „Wandel im menschlichen Verhältnis zur Natur und zur Welt“ dem wir uns nicht entziehen können und dessen Sinn dunkel bleibt. Die Gefahr die dieser Wandel birgt ist, dass die Technik uns so „fesseln, behexen, blenden und verblenden könnte, dass eines Tages das rechnende Denken als das einzige in Geltung und Übung bliebe“.4 Damit würde mein Reden von der Antinomie des Seins zum bloßen Gerede. Und damit hätte in der Tat, wie Heidegger meint, der Mensch sein Eigenstes, „dass er nämlich ein nachdenkendes Wesen ist, verleugnet und weggeworfen“.5 So muss ich Heideggers Bestehen auf einer von der Technik Abstand haltendenden Lebensweise zustimmen. Und so träumen wir vielleicht alle zuweilen von einem solchen Leben und versuchen von Zeit zu Zeit, z.B. in den Ferien, solch Träume in Wirklichkeit umzusetzen. Aber wir dürfen nicht vergessen was wir der Technik verdanken. Denken wir an Landwirtschaft und Medizin, an sich immer noch rasant entwickelnde Kommunikationsmittel die die Ortsgebundenheit früherer Generationen in Frage gestellt haben. Und denken wir an den damit verbundenen Gewinn an Freiheit. Was können wir denn mit Heideggers Spruch anfangen: „die Bodenständigkeit des heutigen Menschen ist im Innersten bedroht“?6 Kann die Technik uns nicht eine neue Heimat, eine ganz andere Art der Verwurzelung schenken? Denken wir an die vielen jungen Menschen, die mit dem Computer groß geworden sind. Werden sie Heideggers Satz „dass sich hier mit den Mitteln der Technik ein Angriff auf das Leben und das Wesen des Menschen vorbereitet, mit dem verglichen die Explosion der Wasserstoffbombe wenig bedeutet“ nicht einfach zurückweisen?7 Brauchen wir überhaupt Wurzeln? Sind Menschen wie Rüben, die im Boden stecken? Heidegger verbindet wirkliches Wohnen mit einem Retten der Erde das sie weder ausbeuten, noch beherrschen will, mit einem Empfangen des Himmels das die Nacht Nacht, den Tag Tag sein lässt. Auch mich stört die immer noch steigende Flut künstlichen Lichts, die den Bewohner einer heutigen 3 4 5 6 7

Ebd., S. 527. Ebd., S. 528. Ebd., S. 529. Ebd., S. 522. Ebd., S. 525.

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Großstadt kaum noch die Sterne sehen lässt.8 Aber eine gewisse Wurzellosigkeit und der Fortschritt der Technik gehören zusammen. Je vollkommener Naturwissenschaft und Technik das cartesische Versprechen uns zu Herren und Besitzern der Natur zu machen einlösen, desto weniger werden wir die Natur als eine Macht erfahren, die uns unseren Platz anweist. Beängstigender ist der Versuch uns zu Herren und Meistern unserer eigenen Natur zu machen, wie es uns die französische Künstlerin Saint Orlan vorexerziert, die versucht mit Hilfe von Chirurgie und Psychoanalyse eine juristisch andere Person zu werden. Heute ist die Möglichkeit mit Hilfe der Medizin ein Anderer zu werden mehr als ein eitler Traum. Ist nicht auch die eigene Natur Material geworden, das wir mit Hilfe der Technik nach Belieben umformen können? Aber wer ist es, der sich hier bemüht mit Hilfe der Technik ein Anderer zu werden? Wo findet solch Bemühen Maß und Richtung? In solchen Fragen findet unser Unbehagen an unserer technischen Welt ihren Ausdruck. Aber in solches Unbehagen mischt sich oft ein ästhetisches Genießen des beklagten Verlusts. Man nimmt Abstand von den Mächten die die „die Bodenständigkeit des heutigen Menschen im Innersten“ bedrohen, aber macht keinen ernsthaften Versuch, diesen Mächten zu steuern. Man beklagt die Wurzellosigkeit unseres Existierens, die wachsende Einförmigkeit unserer von der Technik immer fester umarmten Welt, beschwört Visionen vergangener, angeblich humanerer Zeiten oder hofft in der Weisheit anderer Kulturen wegweisende Impulse zu entdecken. Der Verdacht, dass wir unseren Weg verloren haben beschattet unser technisches Zeitalter. Der junge Nietzsche sprach in der Geburt der Tragödie von dem „im Schosse der theoretischen Kultur schlummernden Unheil“9 Heute mag solch Gerede sogar etwas Tröstliches haben: das schlummernde Unheil lässt uns noch etwas Zeit, Zeit genug vielleicht, Mittel zu finden, das vorausgesagte Unheil abzuwenden. Aber es ist nicht leicht, an solche Mittel zu glauben. Heideggers Versuch der instrumentalen Vernunft mit einem besinnlichen Denken zu begegnen, verspricht wenig mehr als intellektuelle Ferien von der Welt in der wir zu leben haben. Er 8

9

Vgl. Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne. Frankfurt a. M. 1997, S. 33. Friedrich Nietzsche: Geburt der Tragödie, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Hg. G. Colli und M. Montinari, München/ Berlin/ New York 1980, Bd. 1, S. 117.

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lädt uns zu einer Art innerer Emigration ein, die der technischen Welt den Rücken kehrt, sie teleologisch suspendiert – wie Kierkegaard es gesagt haben könnte – es dieser Welt erlaubt in unseren Alltag einzutreten, ihn zu erleichtern, aber dennoch geistig Abstand hält, um das Wesen eigentlichen Existierens zu retten. Es fragt sich nur ob wir uns eine solche Rettung leisten können. Heideggers gebrochenes „Ja“ und „Nein“ führt zu einer unfruchtbaren, eben weil nur ästhetischen Abkehr von der Wirklichkeit. Wir hören heute viel von der illegitimen Hegemonie unserer rechnenden, objektivierenden Vernunft. Aber wie haben wir zwischen illegitimer und legitimer Herrschaft zu unterscheiden? Mancher versucht heute, der in der Naturwissenschaft herrschenden Vernunft mit der dichtenden Einbildungskraft, die in Geschichten und Bildern spricht und uns zu lang verschütteten aber Sinn versprechenden Ebenen der Wirklichkeit Zugang geben soll, zu begegnen. Aber können solche Versuche uns moderne Menschen überzeugen? Verbietet dies nicht die Gestalt unserer Welt? Sicher: wir müssen Sorge tragen es unserer Naturwissenschaft und Technik nicht zu erlauben unser Leben zu umschreiben. Das würde uns unseren Schatten kosten. So hat ein gewisser Widerwille gegen die uns von der rechnenden Vernunft gebaute Architektur seine Berechtigung. Aber wir müssen auch Sorge tragen, dass solche Versuche uns nicht verleiten die einzige uns bekannte Wirklichkeit für eine nur eingebildete einzuhandeln. Verurteilt nicht die Vernunft, der wir unsere Naturwissenschaft und Technik verdanken, ein Denken, das in Geschichten und Bildern Zuflucht findet, zur Ohnmacht? Um wirklich der objektivierenden, rechnenden Vernunft Grenzen zu ziehen, müssen wir erst, mit Kant und auch mit Blumenberg, den Grund ihrer Legitimität verstehen. Erst dann können wir versuchen, die Grenzen ihres Herrschaftsbereichs zu bestimmen und vielleicht, außerhalb dieser Grenzen, einen Raum zu eröffnen der es Geschichten und Bildern erlaubt etwas von ihrer verlorenen mythischen Kraft zurückzugewinnen.

10.4 Objektivierung der Wirklichkeit Es wäre ein Fehler, die von Heidegger beklagte Wurzellosigkeit unseres Existierens einfach als Funktion oder Folge der Technik zu verstehen. Die Entwicklung der Technik trägt nur eine Entwurze-

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lung in unseren Alltag, die Voraussetzung des unsere Wissenschaft bestimmenden Wirklichkeitsverständnisses ist. Dieses Wirklichkeitsverständnis ist Resultat einer zweifachen Reduktion der Wirklichkeit in der wir uns zuerst und zumeist immer noch bewegen. Eine erste Reduktion – an Heideggers Essay Die Zeit des Weltbildes erinnernd, können wir von einer Verbildlichung der Wirklichkeit sprechen – lässt den Menschen zum nur noch beobachtenden Subjekt werden, das nun vor der Welt wie vor einem Bild steht. Eine Voraussetzung der Naturwissenschaft ist die Überzeugung, dass sich die Natur sich nur dem wirklich entdeckt, der seine allzu menschlichen Interessen und Sorgen ausklammert. Ein solches Ausklammern lässt uns Seiendes als Objekt einer reinen Sicht verstehen. Denken wir noch einmal an die Gründungsgeschichte von Naturwissenschaft und Technik, an Thales und das Vergnügen das ihm das Betrachten des Nachthimmels bereitete, ein Vergnügen das ihn die Belange des Alltags vergessen und in den Brunnen stürzen ließ. Aber eine Voraussetzung des unsere Wissenschaft bestimmenden Wirklichkeitsverständnisses ist auch eine zweite Reduktion: statt von einer Verbildlichung können wir hier von eine Objektivierung der Wirklichkeit sprechen. Die vorausgehenden Betrachtungen sollten verdeutlicht haben, wie ich diese Objektivierung verstehe. Aber um das Wesentliche noch einmal kurz zusammenzufassen: Wie sich die Dinge uns zeigen, Heidegger wurde sagen ihr Sein, hängt von unserer Situation ab, von dem Ort den Natur und Gesellschaft, Körper und Sprache, Raum und Zeit uns angewiesen haben. Oft bleiben wir in diesen Perspektiven so verfangen, dass diese unbefragt bleiben; aber sobald wir eine Perspektive als eine solche verstehen sind wir, in Gedanken wenigstens, über die Grenzen die diese uns setzt hinaus. Die Gedanken sind frei. Diese Freiheit erlaubt es uns nicht, uns an bestimmte Standpunkte zu binden. Heideggers Seinsfrage ist Ausdruck dieser Freiheit. Diese Freiheit kennt keine Wurzeln, überspringt jede Mauer die sie einsperren will und führt zu der immer wieder wiederholten Forderung weniger perspektivgebundener und d.h. objektiverer Darstellungsformen. Was es uns erlaubt unsere Naturwissenschaft über ihren aristotelischen Vorgänger zu stellen ist zuerst die Tatsache, dass sie dieser Forderung besser entspricht. Dieser höhere Rang muss eine Herabsetzung des bildhaften Denkens, und eine Heraufsetzung des rechnenden mit sich bringen. Dinge in einer bestimm-

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ten Perspektive sehen heißt nicht, sie so sehen wie sie sind. Solches Denken an die Weise wie Perspektiven unsere Sicht beschränken führt unumgänglich zu der Idee eines Subjekts das, frei von allen Perspektiven, die Dinge so sieht wie sie wirklich oder an sich sind. Diese Idee erniedrigt die Wirklichkeit die unsere Sinne uns entbergen zur subjektiven Erscheinung einer objektiven Wirklichkeit, die kein Auge je sehen, kein Sinn je erfahren wird, der wir uns allein in den Rekonstruktionen unseres Geistes annähern können. Die Architektur der Welt, die unsere Naturwissenschaft und Technik voraussetzen, hat seinen Grund in der zum regulativen Ideal erhobenen Idee dieses reinen Subjekts. Der Einwand ist erhoben worden, so z. B. von Heidegger in Sein und Zeit, dass diese Idee auf einer unkritischen Säkularisierung des christlichen Gottesbegriffes beruht. Nach Heidegger haben wir es hier mit einem Überbleibsel christlicher Theologie innerhalb der Philosophie zu tun, für das ein strenges philosophisches Denken heute keinen Platz mehr haben sollte.10 Dass es hier in der Tat einen geschichtlichen Zusammenhang gibt ist leicht zu zeigen. Die Theologie des Mittelalters gehört in die Vorgeschichte der Naturwissenschaft. Aber diese nicht zu leugnende Abhängigkeit deligitimiert nicht die Idee eines reinen Subjekts und die damit verbundene Idee einer objektiven Wirklichkeit. Vielmehr sollten wir fragen: wie war es Menschen überhaupt möglich göttliches Wissen als von keiner Perspektive gebunden zu denken? Voraussetzung eines solchen Denkens ist die menschliche Fähigkeit, das eigene Körper- und damit perspektivgebundene Selbst zu übersteigen, eine Macht der Selbsttranszendierung, die von unserer Freiheit nicht zu trennen ist. Und nicht zu trennen von der Objektivierung der Wirklichkeit ist der Abgrund der sich nun auftut zwischen dem Wirklichen und dem Sichtbaren. Nicht nur zwingen uns solche Überlegungen was sich unseren Sinnen zeigt als Erscheinung einer unsichtbar bleibenden Wirklichkeit zu denken; aber was uns sinnlich erscheint ist nur der winzigste Teil der Wirklichkeit. Die endliche Lichtgeschwindigkeit genügt das zu beweisen. Diese wesentliche Unsichtbarkeit des Wirklichen hilft uns Hegels Spruch zu verstehen, dass uns Modernen die Kunst nicht mehr das sein kann, was sie einst war: ihre einst höchste Bestimmung, der Wahrheit zu dienen, hat 10

Martin Heidegger: Sein und Zeit, Gesamtausgabe, Bd. 2., Frankfurt a. M 1977, S. 229.

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sie verloren. Das eben skizzierte Wirklichkeitsverständnis verbietet solchen Dienst. Diesem Verständnis werden bildhaftes und dichtendes Denken nicht gerecht. Die Kehrseite dieser Objektivierung der Wirklichkeit ist aber unsere oft beklagte Wurzellosigkeit. Denn der so verstandenen Wirklichkeit entspricht die Idee eines reinen Subjekts. Im Denken dieser Idee transzendiert oder übersteigt der Mensch die Situation, die ihn an einen bestimmten Ort, eine bestimmet Zeit bindet, wird zum rein denkenden Subjekt. Solch ein Subjekt kennt keine Wurzeln. Descartes’ Meditationen, die uns das Wesen des Menschen als res cogitans deuten, helfen uns die wesentliche Heimatlosigkeit des modernen Menschen zu verstehen. Nicht dass der konkret existierende Mensch sich je als eine solche res cogitans erfährt. Aber immer wieder messen wir unser konkretes in-der-Welt-sein an der Idee eines Subjekts das die Dinge so versteht wie sie eben sind. Diese Idee lässt uns unser eigenes Existieren als nur zufällig verstehen. Wie Kain leben wir auf diese Erde sub specie possibilitatis, ohne Rast, ohne Ruh. Und diese Ruhelosigkeit gründet in einer Selbstbehauptung, die die einst Gott vorbehaltene Wahrheit für den Menschen in Anspruch nimmt. Eines darf hier nicht übersehen werden: Die Idee eines absoluten Subjekts mag unserem Verstehen das Maß geben, aber unsere Anschauung wird diesem Maß nicht gerecht. Wir sehen nicht wie Gott. All unsere Erfahrungen bleiben an bestimmte Situationen, an bestimmte Perspektiven gebunden. Unsere Anschauung kann wesentlich dem was die Wahrheit fordert nicht gerecht werden; unsere Ansicht der Wirklichkeit gibt uns noch keinen Einsicht in ihr Wesen; solche Einsicht, ist sie uns überhaupt möglich, müssen wir uns erst erarbeiten. Nur in unseren Rekonstruktionen, in den von uns errichteten Gedankenarchitekturen enthüllt die Natur ihre Geheimnisse. Nun lässt sich einwenden die Wirklichkeit dürfe nicht mit einer menschlichen Gedankenarchitektur verwechselt werden. Ist dies nicht die Einsicht die uns die Antinomie des Seins aufzwingt? Muss die eben skizzierte Reduktion uns nicht den Zugang zu unserer Lebenswelt verweigern und damit auch jeden Kontakt mit was allein verdient Wirklichkeit genannt zu werden? Und können wir die Hegemonie der Naturwissenschaft nicht dadurch brechen, dass wir ihren Kunstcharakter herausstellen? So wagte es Nietzsche, Kants Kritik der reinen Vernunft überhöhend und zugleich unter-

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grabend, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens“.11 So verstanden ist auch der Naturwissenschaftler ein Architekt, d. h. ein Künstler, muss er auch dieses vergessen um sich selbst als Diener der Wahrheit zu verstehen. In seine Begriffsarchitektur versucht er die Einbildungskraft einzusperren, aber die Einbildungskraft lässt sich nicht einsperren. So wendet sich der menschliche Trieb, Metaphern zu bilden, anderen Bereichen zu, zum Mythos und zur Kunst.12 Nietzsche fordert hier die Befreiung der dichtenden Einbildungskraft. Seine Kritik der Wissenschaft und ihres Wahrheitsanspruchs will solch einer Befreiung dienen. Sich auf was sich vor nicht allzu vielen Jahren die „new philosophy of science“ nannte berufend, trösten sich so manche Geisteswissenschaftler immer noch mit einer Relativierung der Wissenschaft, die den wesentlichen Unterschied zwischen Wissenschaft und Mythos, Wissenschaft und Kunst in Frage stellen möchte. Angesichts einer Technik, die keine Grenzen zu kennen scheint, die den Menschen mit ihrer Umarmung zu erdrücken droht, mag es beruhigend sein, zu hören, dass die Naturwissenschaft die Wirklichkeit nicht so begreift wie sie wirklich ist, dass auch sie sich auf Metaphern stützt die keine Endgültigkeit beanspruchen können. Verbietet die Besinnung darauf, dass auch die Naturwissenschaft ihren ihr eigenen Standpunkt voraussetzt, nicht jede Absolutisierung dieses Standpunkts? Ist dies nicht eine Folge die wir aus der Antinomie des Seins ziehen müssen? Die Zuversicht, dass die oben eben skizzierte zweifache Reduktion der lebensweltlichen Wirklichkeit uns den Schlüssel zu den Geheimnissen der Natur gibt, muss zurückgewiesen werden. Und doch bestimmt dieser Glaube weitgehend unser Wirklichkeitsverständnis. Nietzsches Kritik vermochte es nicht, diesen Glauben ernsthaft zu erschüttern. Und das gilt auch von seinen vielen Nachfolgern. Wir werden der Naturwissenschaft nicht gerecht, wenn wir sie als wenig mehr als ein weiteres, der genannten zweifachen Reduktion unterworfenes Gedankenspiel verstehen. Descartes’ Versprechen einer praktischen Philosophie die uns die Vorgehensweise der Natur so verstehen lassen würde, wie wir die verschiedenen Vorgehensweisen unserer Handwerker verstehen, 11

12

Nietzsche: Versuch einer Selbstkritik. Geburt der Tragödie, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 14. Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn. Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 887.

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war kein eitles Versprechen. Etwas wirklich verstehen heißt hier, wissen wie es gemacht ist. Was wir wirklich verstehen können wir prinzipiell auch herstellen. Erst in der Technik vollendet sich die so verstanden Wissenschaft. Die moderne Naturwissenschaft gibt sich nicht mit der zweifachen Reduktion der lebensweltlichen Wirklichkeit zufrieden. Als Technik kehrt sie zur Lebenswelt zurück und verwandelt sie. Die moderne Naturwissenschaft ist nicht das staunende Weltbetrachten der griechischen Naturphilosophen, sondern Arbeit. Vorbild ist nicht der untätige Gott des Aristoteles, sondern der Schöpfergott der Bibel.

10.5 „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen“ Ich habe versucht zu zeigen, dass unser Wirklichkeitsverständnis auf einer zweifachen Reduktion unserer Lebenswelt beruht. Erst die zweite Reduktion, die Objektivierung der Wirklichkeit, lässt sinnliche und d.h. auch subjektive Erscheinung und objektive Wirklichkeit auseinandertreten und untergräbt damit den Wahrheitsanspruch alles bildhaften Denkens. Die erste Reduktion dagegen, lässt den Betrachter aus der Welt herausfallen, stellt ihn vor die Welt, als wäre sie ein Bild. Eine solche Verbildlichung der Welt ist Voraussetzung der Albertischen Perspektivkonstruktion und einer Kunst die sich dieser unterwirft. Albertis Methode verspricht den Maler zum Meister und Besitzer, nicht der Natur, wie es Descartes mit seiner Methode versprach, sondern ihrer optischen Erscheinung zu machen. Wie schon Platon bemerkte, darf solch eine Erscheinung nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden. Um Anspruch auf Wahrheit zu erheben, muss unser Denken solche Oberflächlichkeit zurücklassen, muss versuchen, die Wirklichkeit die hier erscheint in ihrem Wesen zu begreifen. Die zweite Reduktion von der ich sprach antwortet auf diese offensichtliche Unzulänglichkeit aller bloßen Bilder. Aber der Erfolg der Albertischen Methode, der sich kaum ein Maler entziehen konnte, ihrer Unzulänglichkeit wohl bewusst, gibt zu denken. Schon die erste Reduktion schafft Distanz von den lebensweltlichen Dingen die uns zunächst und zumeist immer schon irgendwie in Anspruch nehmen, uns etwas sagen. Sie werden zu bildhaften

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Objekten. Dieser Verbildlichung der Welt entspricht das Heraustreten des Betrachters aus eben dieser Welt. Ein solches Heraustreten bestimmt auch das moderne Subjekt. Mit gutem Grund nannte Heidegger so unsere Zeit die Zeit des Weltbildes, Aber bei Alberti bleibt dieses Subjekt erst einmal ein sehendes Subjekt, ein Auge, und als ein solches an einen bestimmten Körper, ein bestimmten Hier und Jetzt gebunden. Die Position dieses Auges, sein Standpunkt, bestimmt die Art und Weise wie sich die Welt ihm zu zeigen hat. So bestimmt der vom Maler gewählte Standpunkt die Darstellungsform des Bildes. Der Versuch diese Darstellungsform zu meistern führte zur Entwicklung der Kunst der Perspektive. Die Theorie des perspektivischen Sehens und, grundsätzlicher, unserer perspektivischen Erfahrung, ist eine Logik der Erscheinung, so verstanden eine Phänomenologie, und es war in diesem Sinne dass Kants großer und von ihm bewunderter Zeitgenosse, der zu Unrecht heute so ziemlich vergessene Johann Heinrich Lambert, das Wort verstand. Die so verstandene Phänomenologie lehrt uns das menschliche Subjekt als Maß der von ihm erfahrenen Welt zu verstehen, die damit zur bildhaften Erscheinung wird. Denken wir noch einmal an Albertis Della pittura. Schon mit diesem Buch stehen wir auf der Schwelle unserer modernen Welt. Die Art in der der Kunst hier eine neue Richtung gewiesen wird ist Folge einer Überlegung die den Menschen zum Maß der ihm begegnenden Welt macht. Wie sein Zeitgenosse Nicolaus Cusanus, den er wohl auch persönlich gekannt haben muss, beruft sich auch Alberti auf den Spruch des Protagoras, als unsinnig abgetan von Platon und Aristoteles, der Mensch sei das Maß aller Dinge.13 Dieses Maß ist gegenwärtig in jeder perspektivisch korrekten Darstellung. Beherrschung dieser Darstellungsform erlaubt es dem Maler nicht nur die ihm erscheinende Natur so überzeugend darzustellen, dass sich uns zuweilen die Wirklichkeit und Illusion trennende Grenze verwischt, sondern auch noch nie Gesehenes, d.h. eine zweite Natur zu schaffen. Und so meint Alberti, des Malers Meisterschaft der Perspektive ließe ihn zu einem zweiten Gott werden. Der Spruch der Schlange, ihr werdet sein wie Gott, findet hier so etwas wie seine Verwirklichung.

13

Leon Battista Alberti: On Painting, übersetzt von John R.Spencer. New Haven and London 1956, S. 55.

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Zugegeben: der Maler erkauft hier seinen Erfolg mit dem Verlust der Wirklichkeit. Alberti scheint das nicht zu kümmern; er ist zu beeindruckt von der an Zauberei grenzenden Fähigkeit dieser Bilder uns mit ihren Illusionen in andere Welten zu versetzen um den Verlust überhaupt als einen Verlust zu verstehen. Und doch sollten wir aufhorchen, wenn Alberti, nachdem er den Künstler lobend einen zweiten Gott genannt hat, ihn mit der Geschichte des Narziss, verbindet.14 Narziss, so erzählt es Alberti gerne seinen Freunden, wobei wir, seine Leser, in diesen scheinbar intimen Kreis eingeführt werden, war der Erfinder der Malkunst. Wir alle kennen die Geschichte: Verliebt in die im Wasser gespiegelte eigene Schönheit verliert Narziss Wirklichkeit und Leben. Ist es wirklich hier, dass wir den Ursprung der Malkunst zu suchen haben? Oder wirft diese Geschichte ein Licht nur auf ein ausgesprochen neuzeitliches Verständnis der Kunst, die sie Abstand von der Wirklichkeit und vom Leben halten lässt? Indem er die Kunst auf diese Art dem Standpunkt des Betrachters und seiner Perspektive unterwirft, lässt Alberti sie was Friedrich Ohly ihre „spirituelle Perspektive“ nennt verlieren. Diese spirituelle Perspektive findet ihr Maß nicht im Menschen sondern in Gott. „Sie relativiert nicht durch einen irdischen Blickpunkt, sondern richtet auf das Absolute aus, macht das Geschaffene auf das Ewige hin transparent.“15 Das Mittelalter verstand so das Kunstwerk als Zeichen von etwas Transzendentem. Ohly spricht von „P e r spektive im wahrsten Sinne, indem sie durch das Sichtbare auf das Unsichtbare, durch das Significans auf das Significatum hindurchschaut.“16 In Albertis Della pittura begegnen wir einem ganz anderen Verstehen der Kunst. Unserer menschlichen Perspektive unterworfen, weisen Bilder nicht mehr auf eine höhere Wirklichkeit, sind nicht mehr Metaphern des Transzendenten. Der fortschreitende Verlust der Transzendenz ist die Kehrseite des Fortschritts der nachmittelalterlichen Malerei, die uns für diesen Verlust mit einer Ästhetisierung der Malerei und allgemeiner der Kunst kompensiert. Etwas ästhetisieren heißt es den von der Ästhetik aufgestellten Maßstäben unterwerfen. „Ästhetik“ ist hier nicht einfach ein anderer Name für die Philosophie des Schönen oder der Kunst. Voraus14 15

16

Ebd., S. 64. Friedrich Ohly: Schriften Darmstadt 1977, S. 15. Ebd.

zur

mittelalterlichen

Bedeutungsforschung,

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setzung der Ästhetik, wie ich sie hier verstehe, ist eine ganz bestimmte Auffassung des Schönen und der Kunst. Baumgartens bereits erwähnte Dissertation Meditationes philosophiae de nonnullis ad poema pertinentibus von 1735 hilft diese Auffassung zu präzisieren. Dieser Dissertation verdanken wir nicht nur das Wort „ästhetisch“, sondern auch die erste konsequente Ausarbeitung einer philosophischen Ästhetik. 17 Wie schon Alberti und lange vor ihm Platon in der Politeia, so nennt auch Baumgarten den Künstler, hier den Dichter, einen zweiten Gott. Diese Analogie lässt ihn fordern, ein Gedicht solle in sich vollendet wie Gottes Schöpfung sein. Wie die Schöpfung, so gibt sich uns auch das gelungene Kunstwerk als ein wohl geordnetes, sich selbst genügendes, vollkommenes Ganzes. Aufgabe des so verstandenen Kunstwerks ist es nicht einer außerhalb des Kunstwerks liegenden Wirklichkeit zu dienen. Dass das so verstanden Werk erst seinen symbolischen oder allegorischen, dann seinen darstellenden Charakter verlieren sollte, entspricht nur der von der Ästhetik geforderten Vollkommenheit. Und es war zu erwarten, dass das Kunstwerk am Ende überhaupt nichts mehr bedeuten, sondern nur noch wie ein Naturding, eine schöne Blume oder ein Kristall, einfach sein sollte. Der Selbstgenügsamkeit des Kunstwerks entspricht die Selbstgenügsamkeit der ästhetischen Erfahrung. Die so verstandene Kunst dient keinem anderen Zweck. Sie hilft nicht eine bessere Zukunft vorzubereiten, kann so nicht gerechtfertigt werden, hat eine solche Rechtfertigung aber auch nicht nötig, rechtfertigt sie doch sich selbst und eben dadurch erlöst sie uns, wenigstens für eine kurze Zeit, von der Forderung nach Sinn und Bedeutung. Die Kunst lässt uns die Sorgen und Geschäfte des Alltags vergessen: Ars gratia artis. So verstanden öffnet die Kunst der Wirklichkeit keine Fenster. Vielmehr hält sie Abstand und eben auf diesem Abstand beruht ihr Zauber. So verstanden bietet sie uns Ersatz für das verlorene Paradies. Ihre Schönheit ist die Schönheit der um ihrer Schönheit willen unfruchtbar bleiben sollenden Zilla, die ich an den Anfang dieses Schlusskapitels stellte. In Nietzsches Nachlass der achtziger Jahre findet sich der bekannte Spruch: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehn.“18 Schon in der Geburt der Tragödie 17

18

Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophiae de nonnullis ad poema pertinentibus. Halle 1735, LXVIII. Kritische Studienausgabe, Bd. 13, S. 500.

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begegnen wir der Ansicht, dass die Menschen ohne den die Wirklichkeit verkleidenden schönen Schein diese Wirklichkeit nicht ertragen könnten. Die Kunst erlöst uns von der Wahrheit, dass unser Leben ohne höheren Sinn ist.

10.6 Vom Kunstwerk der Zukunft Ich sprach ganz ähnlich über die der Ästhetik verpflichtete Kunst der Moderne. Aber Erlösung brachte hier eine Abkehr von der Wirklichkeit. Nietzsche aber fordert eine Kunst die die Wirklichkeit umarmt, wie einst Zilla den Lamech umarmte, und mit dieser Umarmung ihr einen Sinn gibt. Nur wenn so in ein ästhetisches Phänomen verwandelt erscheint uns unser Leben in dieser Welt gerechtfertigt.19 Erst die Kunst gibt unserem Dasein Würde und Sinn. Nietzsche weiß sehr wohl, dass unser aufgeklärtes Zeitalter einer solchen einen Ethos stiftenden Kunst keinen Platz einräumt. Eben darum ist dies die Zeit des immer noch wachsenden Nihilismus. Wie wir gesehen haben, die Macht über die Natur, auch über unsere eigene Natur, die uns Naturwissenschaft und Technik gebracht haben, setzen ein Wirklichkeitsverständnis voraus, wir könne auch sagen, eine Ontologie, die zwar der Kunst ihre Schönheit lässt, aber ihr den Zugang zur Wirklichkeit verweigert. Die Kunstschätze, die uns die Religion vererbt hat, sind uns zu Gegenständen eines nur noch ästhetischen Interesses geworden. Soll die Kunst, wie Nietzsche und auf seine Art auch Heidegger es fordern und erhoffen, noch einmal zum Mythos werden, sollen Geschichten und Bilder noch einmal ihre ethische Potenz zurückgewinnen, muss erst die Hegemonie des rechnenden Vernunftdenkens gebrochen werden. Um dies zu erreichen, versucht der junge Nietzsche der Wissenschaft ihren Anspruch auf Wahrheit zu nehmen. Hier noch einmal seine schon im ersten Kapitel zitierte Bestimmung der Wahrheit: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die 19

Kritische Studienausgabe, Band 1, S. 17.

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Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind.“ Wie gut das klingt! Die Naturwissenschaft wird hier in die Nachbarschaft zur Kunst gezogen, nur ist sie ärmer, muss sie doch sinnlich kraftvolle Bilder mit blassen Begriffen ersetzen; auch ist sie weniger ehrlich, vergisst die Naturwissenschaft doch, um ihr Unwissen nicht wissend, dass auch ihre Wirklichkeit Produkt eines künstlerischen Tuns ist. Unter der Vorherrschaft der Naturwissenschaft leidende Humanisten mögen in solchen Worten etwas wie Tröstung finden, Worten, die zu zeigen scheinen, dass, wenn wir die kopernikanische Revolution, die den geozentrischen Kosmos als eine anthropozentrische Illusion entlarvte, auf höherer Ebene noch einmal wiederholen, wir erkennen müssen, dass auch die auf Kopernikus folgende Naturwissenschaft einer anthropozentrischen Illusion verfallen bleibt. So kann auch was ich die Antinomie des Seins nenne verstanden werden. Sollte solche Einsicht in das anthropozentrische Vorurteil der Naturwissenshaft ihren Herrschaftsanspruch nicht untergraben? In diesem Sine haben sich postmoderne Denker immer wieder auf Nietzsche berufen. Aber dies ist falscher Trost, ohnmächtig die sich immer weiter ausdehnende Herrschaft von Naturwissenschaft und Technik einzudämmen, bleiben doch Ursprung und Wesen dieser Herrschaft unverstanden. Der junge Nietzsche suchte den Ursprung dieser Herrschaft in dem Glauben, „dass das Denken, an dem Leitfaden der Kausalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei.“20 Der Schritt zurück zu der noch mythischen Kunst der griechischen Tragödie und zu ihrem Wirklichkeitsverständnis sollte der Kunst jene ethische Funktion die der platonische Sokrates ihr genommen hatte zurückerstatten und so zum Schritt vorwärts werden, zum Schritt zum heilenden, rettenden Kunstwerk der Zukunft, dass die geisterhafte Wirklichkeit unserer Wissenschaft mit einer nun wieder farbenfrohen, lebendigen Wirklichkeit ersetzen würde, einer berauschenden dionysischen Wirklichkeit, von der Nietzsche sich eine neue Gesundheit erwartete. Wie Nietzsche es allzu bald sehen musste, solch Wagnerhöriges Gerede vom Kunstwerk der Zukunft kann nur die Dürftigkeit der Zeit die es gebar ästhetisch verdecken. Eine ungeduldige 20

Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 99.

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Hoffnung führt hier zu übereilten Formulierungen die der als zu leicht empfundenen Wirklichkeit ihr Gewicht nicht zurückgeben können. Die Dürftigkeit der Zeit verleiht diesem Denken einen verführerischen Zauber. Wir genießen heute Die Geburt der Tragödie etwa so wie ein Gedicht oder eine musikalische Aufführung, vielleicht wie wir die „Götterdämmerung“ genießen. Aber jedes nur ästhetische Genießen bleibt unfruchtbar. Nietzsches viele Jahre später geschriebenes selbst-kritisches Nachwort zur Geburt der Tragödie hat uns heute vielleicht mehr zu sagen als das Buch selbst. In diesem Buch versucht ein ästhetisches Denken die Wissenschaft zu umarmen. Aber was sich als Angriff ausgibt ist, wie alles Ästhetisieren, in Wirklichkeit eine Flucht. Mir geht es hier nicht um Die Geburt der Tragödie sondern um den Typ den das Buch so eindrucksvoll repräsentiert. Immer wieder entlarvten sich solche Träume einer Umarmung der Wirklichkeit durch die Kunst als eben dies: nur Träume.

10.7 Der Künstler als Führer Aber muss das so sein? Erkannte Lamech nicht die schöne Zilla und sie gebar ihm den Tubalkain? Können wir uns nicht ein Ästhetisieren dieser technischen Welt denken, dass dem wurzellosen modernen Menschen erneut seinen Platz anweist und so die verlorene Heimat zurückgibt? Nur sollten wir ein solches Werk nicht von Malern, Dichtern, oder Tonkünstlern erwarten. Auch nicht von Philosophen. Eher schon von Architekten. Um nur ein Beispiel zu geben – und wieder ist es nicht das Beispiel, sondern der Typ den es repräsentiert, der hier wichtig ist: Walter Gropius gründete 1919 das Bauhaus um der Architektur ihre verlorene ethische Funktion zurück zu geben. Bauen sollte wieder auch erbauen. Lyonel Feiningers Holzschnitt auf der Titelseite des ersten Bauhausprogramms zeigte so eine gotische Kathedrale in modernen kubistischen Formen. Die Architektur sollte die verschiedenen Künste wieder aus ihrer sich selbst genügenden Vereinzelung zurück zu einer Einheit führen, die die verschiedenen Künste zusammen führen und zugleich den Abstand der Kunst von der alltäglichen Wirklichkeit überwinden würde. Wie einst im Mittelalter würde die Kunst die Wirklichkeit umarmen und sie verwandelnd überhöhen. Der Architekt würde Raum und Zeit so gestalten, dass die von der

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modernen Welt zersplitterten und vereinzelten Menschen, wieder zu ihrem wahren Selbst und zueinander geführt würden, Platz und Bestimmung in einer neuen Ordnung findend. Diese Vision einer nunmehr nicht mehr nur ästhetischen sondern Gemeinschaft bauenden Ordnung ruft die Erwartungen zurück, die einst Wagner und Nietzsche hegten. In beiden Fällen blieb das Erhoffte unerfüllt. Ich möchte sagen, konnte zum Glück nicht erfüllt werden. Denn sollte ein solches Werk Wirklichkeit werden, würde es dem Einzelnen so seinen Platz so anweisen, dass er selbst zum Teil des ästhetischen Ganzen werden müsste. Um aber zu einem solchen Teil zu werden müsste er seine Freiheit und damit sein Wesen verleugnen. Was diese Vision zum Alptraum werden lässt, ist die Macht einer Technik, die es Menschen erlaubt, Menschen so zu manipulierbarem Material zu erniedrigen, dass von einem autonomen Subjekt keine Rede mehr sein kann. Wir können uns einen Künstler vorstellen, der in den Kommunikationsmitteln die uns die Technik bereitstellt, ein weit umgreifenderes und tiefer in unser Leben eingreifendes Mittel findet, als es Gropius je die Architektur war, ein Künstler, dem Menschen das nötige Material bieten. In einer solchen Kunst würden sich Technik und Ästhetik wirklich umarmen. Der Versuch, die Lebenswelt zu ästhetisieren lässt den Künstler zum Politiker werden. So verstand Heidegger einst, in der Nachfolge von Platon und Aristoteles, den Staat als Kunstwerk und verstand was er die „innere Wahrheit und Grösse“ des Nationalsozialismus nannte als Wiederholung des Kunstwerks der griechischen Polis im Zeitalter der Technik. Auch hier soll der zum Politiker gewordene Architekt die Wirklichkeit so meistern, dass wir diese wieder als eine uns unseren Platz anweisende Ordnung verstehen können.21 Chaos soll sich noch einmal in Kosmos verwandeln.

10.8 Der Spruch der Schlange „Ihr werdet sein wie Gott.“ Die moderne Wissenschaft und die moderne Kunst entsprechen diesem Versprechen, jede auf ihre Art. Beide drohen die Wirklichkeit mit einer zweiten vom Menschen 21

Vgl. Karsten Harries: Art Matters: A Critical Commentary on Heidegger´s The Origin of the Work of Art, New York 2009, S. 17-52.

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geschaffenen Wirklichkeit zu verdecken. Beide laden uns ein, den Schöpfer dieser Wirklichkeit als einen zweiten Gott zu verstehen. Die Wissenschaft sucht die Wirklichkeit zu verstehen um sie zu meistern. Aber dies erweist sich als eine unendliche Aufgabe. Nie wird sich das Versprechen des Descartes, uns zu Meistern und Besitzern der Natur zu machen, ganz erfüllen. Das hat seinen tiefsten Grund in der Antinomie des Seins, und d.h. in der Inkommensurabilität des Satzes vom Grund und der Wirklichkeit. Nie wird es uns gelingen, Grund unseres eigenen Daseins oder Grund der Natur zu werden. So kennt der Fortschritt der Naturwissenschaft keine Grenzen. Und so bleiben Naturwissenschaft und Technik wesentlich auf eine unser Begreifen übersteigende Natur bezogen. Nie wird das Bild der Natur das uns unsere Wissenschaft gibt die Natur völlig verdecken. Eine ästhetisierende Kunst hat mehr Erfolg mit ihrem Bemühen, wenigstens kurzfristig, die Wirklichkeit zu verdecken, auch, und vielleicht sogar besonders, wenn sie ihre Themen der Wirklichkeit entnimmt, gibt diese Wirklichkeit einem solchen Künstler doch nur noch Material, das im Kunstwerk seine Unabhängigkeit verliert. So verwandelt wird solches zum Gegenstand eines, wie Kant es sagt, interesselosen, d.h. ästhetischen Wohlgefallens, das von der Wirklichkeit Abstand nimmt. Weniger unschuldig ist das heute in den Geisteswissenschaften verbreitete Ästhetisieren der Wissenschaft, das sie zu einem oft geistreichen Spiel werden lässt. Denn gerade heute, wo Naturwissenschaft und Technik uns lang ungeahnte Möglichkeiten die Natur, auch unsere eigene Natur, zu manipulieren und zu beherrschen, eröffnet haben, dürfen wir uns der Aufgabe Ort und Weg, Richtung und Ziel zu bedenken, nicht entziehen. Die Ästhetisierung des Denkens entzieht sich dieser Aufgabe, Gefährlicher noch ist der Versuch die Wirklichkeit zu ästhetisieren, unser Leben und die Welt in der wir leben in ein Kunstwerk zu verwandeln, besonders gefährlich wenn solch ein Versuch die fortgeschrittenste Technik als Mittel benutzt ihr Ziel zu erreichen. Sollte solch ein Versuch Erfolg haben würde er in der Tat unsere technische Kultur in ihrem Ursprung zerstören, wie es die Geschichte von Zilla und ihrem Sohn Tubalkain erzählt. Die Ästhetisierung der Wirklichkeit bedeutet immer auch einen Wirklichkeitsverlust.

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Was den Menschen auf den Spruch der Schlange hören lässt ist der Schrecken der Zeit. Nie wird die Wirklichkeit unserem Sicherheitsbedürfnis gerecht. In diesem Sinne könnte man mit Schopenhauer vom wesentlichen Mangel der Wirklichkeit sprechen. Aber jeder Versuch diesen Mangel denkend oder handelnd zu beheben, macht uns taub für ihren Anspruch, verbaut uns den Zugang zu ihrer Transzendenz in der alles was unserem Leben Sinn gibt seinen Grund besitzt, ein Grund der sich seinem Wesen nach nicht begreifen oder meistern lässt. Um diesem Grund in der uns von unserer Naturwissenschaft errichteten Welt Türen und Fenster zu öffnen, müssen wir lernen, die Hoffnung, dem Satz vom Grund vertrauend, die Wirklichkeit in unsere Begriffsarchitektur einzusperren, die Natur wirklich zu meistern und zu besitzen, in diesem Sinne wie Gott zu sein, aufzugeben. Nur solch ein Verzicht macht uns offen für den Anspruch unserer Mitmenschen und der Natur, gibt uns zu verstehen, dass wir nicht uns selbst gehören, dass wir was unserem Leben Maß und Richtung geben kann nicht erfinden sondern empfangen und entdecken müssen. Es gab und es gibt immer noch Kunst die einer solchen Verantwortlichkeit entspringt. Und es gab und gibt immer noch ein ähnlich verantwortungsvolles Denken. Was heute Not tut und die besondere Aufgabe der Kunst und der Geisteswissenschaften ist nicht das uns von unserer Vernunft gebaute Haus abzubauen oder zu dekonstruieren. Nur in diesem Haus lässt sich verantwortungsvoll leben. Aber was Not tut ist auch nicht dieses Haus ästhetisch zu verkleiden. Was Not tut ist in diesem Haus Fenster und Türen zu öffnen. Nur so erhält unser Leben einen Sinn.

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