Vorlesungen und Reden zu Ursprung und Gegenwart 37721400186

Vorlesungen und Reden zu Ursprung und Gegenwart. Dies ist Teil I des V. Bandes der Gesamtausgabe. Band V/II ist Verfall

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Vorlesungen und Reden zu Ursprung und Gegenwart
 37721400186

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Table of contents :
Titelseite
Schmutztitel
Impressum
Inhaltsübersicht
1. Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist: Zehn Vorlesungen
2. Die neue Weltsicht: Zwei Vorlesungen
3. Kulturphilosophie als Methode und Wagnis
4. Die Probleme in der Kunst
5. Die Renaissance als europäisches Bildungserlebnis
6. Die Verwandlung unserer Wirklichkeit
7. Notwendigkeit und Móglichkeit einer neuen Weltsicht
8. Natürliche und geschichtliche Grundlagen einer neuen Weltsicht
9. Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht
10. Strukturwandel europäischen Geistes
11. Die Möglichkeiten Europas und die Technik
12. Mensch oder Apparat im modernen Staat
13. Auflösung oder Überwindung der Persönlichkeit
14. Die Welt ohne Gegenüber
15. Forderungen unserer Zeit
Namenregister
Sachregister
Bibliographische Hinweise

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Jean Gebser

Vorlesungen und Reden zu

»Ursprung und Gegenwart« NOVALIS

JEAN GEBSER

GESAMTAUSGABE BAND

४/7

Vorlesungen und Reden zu «Ursprung und Gegenwart»

NOVALIS

©

1976 NOVALIS VERLAG AG SCHAFFHAUSEN Alle Rechte vorbehalten, insbesondere auch des photomechanischen Nachdrucks und der Photokopie jeder Art.

Printed in Switzerland by Meier + Cie AG Schaffhausen Offset Buchdruck

ISBN 3 7214 0018.6

INHALTSÜBERSICHT

1. Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist 10 Vorlesungen .................. 2. Die neue Weltsicht 2 Vorlesungen

........-...-.:......

Ww

. Kulturphilosophie als Methode und Wagnis

.............

A

. Die Probleme in der Kunst

......

5. Die Renaissance als europäisches Bildungserlebnis . . . . . . . .

Ον

. Die Verwandlung unserer Wirklichkeit.

7. Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Weltsicht . 8. Natürliche und geschichtliche Grundlagen einer neuen Weltsicht.

ज ΕΞ

9. Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht ιο. Strukturwandel europäischen Geistes.

a . .

. . . . . च . . .

11. Die Möglichkeiten Europas und die Technik 12. Mensch oder Apparat im modernen Staat.

. . . . . . . . . . . . +

13. Auflösung oder Überwindung der Persönlichkeit

. . . .

14. Die Welt ohne Gegenüber

. . . . ..

. . . . . . . .

15. Forderungen unserer Zeit.

.

^ . . . . . . .

Namenregister Sachregister

Bibliographie

- . . .

. ...................-.-. . . ^ च च च EEE

rn

. ...............-.....

1. ZUR

GESCHICHTE DER VORSTELLUNGEN VON SEELE UND GEIST Zehn Vorlesungen I

Wir werden weder über die Seele noch über den Geist auch nur etwas annähernd Gültiges aussagen kônnen, wenn wir uns nicht davon Rechenschaft ablegen, von welchem Standpunkte aus wir an diese

Fragen herantreten wollen. Die Schwierigkeit, diesen zu fixieren, liegt

darin, daß es sich bei beiden Begriffen um solche äußerst komplexer, ja widerspruchsvoller Art handelt. Es genügt durchaus nicht, daß wir uns mit den heutigen Vorstellungen von diesen Begriffen beschäftigen, deren verschiedenste Aspekte Sie ja in den hiesigen Kur-

sen kennenlernten. Was heute alles unter dem Begriff Psychologie verstanden wird, umfaßt ja nicht nur Lehren von den Eigenschaften und dem Wesen der Seele, sondern inkluiert noch Randgebiete, die wohl vor allem deshalb als psychologische Regionen anerkannt sind, weil es sich bei ihnen um nicht-materielle Phänomene

handelt: um

Trieblehren, Verhaltenslehren, charakterologische Untersuchungen

und was derartiger Dinge mehr sind. Jedenfalls ließe sich leicht eine Liste sogenannter Psychologien aufstellen, die einige zwanzig oder dreißig Bemühungen um einerseits psychologische, andererseits psychische Phänomene zählen würde. Beispiele sind Ihnen dafür unmit-

telbar präsent: ich nenne nur die Gestalt-Psychologie, die VerkaufsPsychologie, die Sport-Psychologie, die Struktur-Psychologie oder die Psycho-Hygiene, im Gegensatz zur Psychoanalyse, Individual-

Psychologie und der Tiefen-Psychologie bzw. komplexen Psychologie. Sie sehen, es herrscht auf diesem Gebiete nicht nur eine Vielfalt der Bemühungen, sondern bereits das, was man einen Wirrwarr

zu nennen versucht sein könnte. Und ich sage Ihnen ganz ehrlich, daß mir dieser Wirrwarr, besonders aber seine Herkunft einiges Kopf-

zerbrechen bereitet hat. Die Vielfalt und Vielschichtigkeit des Matetials, das zu sichten war, unterstrich die Bedeutung des Themas, die,

wenn wir es ernst nehmen, eine Existenzfrage ist; eine Frage nach den Grundlagen unseres menschlichen Seins, welche Grundlagen, je weiter wir zurückgehen, an Konkretheit und Faßbarkeit zu verlieren drohen. Wenn es mir, wie ich hoffe, trotzdem vielleicht gelungen ist und dies zu beurteilen steht nicht mir an, sondern Ihnen -, einige

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Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

Ordnung in das Meer der Begriffe und Vorstellungen zu bringen, die

sich um die inhaltsschweren Wörter «Seele» und «Geist» ranken, so verdanke ich das dem Umstand, daß eine gewisse Grundkonzeption

mir dort zur Stiitze wurde, wo die Flutungen und Brandungen der

widersprechendsten Definitionen und Inhalte leicht einen Schiff bruch

meiner Bemühungen hätten herbeiführen können. Welcher Art diese Grundkonzeption ist, das wird im Verlaufe meiner Ausführungen deutlich werden. Zu ihr möchte ich jetzt lediglich bemerken, daß es sich dabei um keine vorgefaBte Meinung oder These handelt, auf Grund deren ich das vorliegende, gesammelte Material aussiebte und

arrangierte, um auf diese Weise eine bei einem derartigen Vorgehen dann notwendigerweise tendenziöse Darstellung geben zu können. Die Grundkonzeption, von der ich sprach, hat in diesem Sinne nichts

mit einer vorgefaBten Meinung zu tun, welche nun, koste es, was es wolle, mit mehr oder weniger groBem intellektuellem oder sophisti-

schem Geschick durchgepaukt und bewiesen werden muß. Das Ge-

genteil ist der Fall. Diese Grundkonzeption entspringt nicht einer Theorie,

sondern dem

Sein bzw.

dem

Leben.

Sie ist ein Versuch,

wahrhaftig zu sein gegen sich selbst; das aber besagt nur, daß sie

Ausdruck dessen sei, was existentiell und essenziell die Grundstruk-

tur des Einzelnen ausmacht; und ihre unmittelbare Konsequenz ist

die Überzeugung von der Sinnhaftigkeit des Lebens. Auf unser Thema

angewandt,

bedeutet

das,

daß

in dem

widersprüchlichen

Spannungsfeld der Seele ein Prinzip, das geistige Prinzip, sinngebend

wirkt.

Nach diesen einleitenden Worten wollen wir uns nun dem Thema

als solchem zuwenden.

Unsere Untersuchung soll der «Geschichte

der Vorstellungen von Seele und Geist» gelten. Aus dem Programm haben Sie bereits ersehen, daß wir uns nicht Hals über Kopf auf den Seelenbegriff als solchen stürzen werden; ich kann Ihnen aus eigenster Erfahrung sagen, daB es besser ist, dies nicht zu tun, und ich denke, Sie werden im Laufe unserer Unterhaltung noch Gelegenheit haben, zu sehen, warum dem so ist. Wenn wir nun an unser Thema

herantreten, so begegnen wir sofort einer grundsätzlichen Schwierig-

keit. Diese besteht darin, daß wir über das Werden zweier Vorstel-

lungswelten oder zweier Begriffe etwas aussagen sollen, wobei unser Ausgangspunkt notgedrungen durch jene Konfigurationen bestimmt wird, welche wir heute mit den Begriffen «Seele» und «Geist» verbinden. Wir laufen also Gefahr, wenn wir frühere Inhalte dieser Be-

griffe betrachten oder wenn wir womöglich, wie es hier geschehen

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

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soll, ihrem Zustandekommen nachgehen, daB wir diese Begriffe durch

unseren heutigen retrospektiven

Standpunkt

nicht nur verfärben,

sondern grundlegend verfälschen. Andererseits ist es uns, in unserer Bewußtseinslage und bei unserer spezifisch rationalen Formation, nicht ohne weiteres möglich, uns im Denkerischen und Fühlenden

auf frühere Bewußtseinsstufen zurückzuschrauben, um von ihnen aus

einen prospektiven Blick auf die Entwicklung der genannten Be-

griffe werfen zu können. In diesem Dilemma bleibt uns nichts anderes übrig, als die abgelaufene Zeit, innerhalb welcher wir von der Bildung eines Seelen- und Geist-Begriffes sprechen können, einer kurzen Betrachtung zu unterziehen. Und damit wären wir bei dem angelangt, was man Geschichte nennt. Wir werden also heute zuerst einen Blick darauf zu werfen haben,

wie man geistes- und seelengeschichtlich den Begriff «Geschichte» fassen kann. Diese Untersuchung ist insofern nicht abwegig, als wir

feststellen werden, daß der Begriff «Geschichte», betrachten wir sie nicht als bloße Historie, aufs engste mit den Begriffen «Seele» und «Geist» zusammenhängt. Wir werden dann über den Seelenbegriff selbst, das heißt über die Symbolik der Seele, zu sprechen haben, da

sich in dieser Symbolik die mannigfaltigen Vorstellungen spiegeln, welche die frühesten bis spätesten Zeiten der Menschheit mit diesem Begriff verbanden. Nach diesem Versuch einer Abklärung dessen,

welcher Art die Vorstellungen über die Seele waren und sind, werden wir uns dann mit dem Geist-Begriff beschäftigen können, um schließlich zu versuchen, Spuren des geistigen Prinzips im Ausdruck unserer Zeit nachzuweisen. Ich spreche vorsichtigerweise nur von «Spu-

ren des geistigen Prinzips»; diese aber glaube ich, werde ich aufzuzeigen vermögen, und das dürfte in einer Zeit wie der unsrigen sicher insofern nicht ganz ohne Aktualitätscharakter sein, weil die herrschenden Negativa: das des psychischen Chaos und das der Atomzertrümmerung, wegen ihrer größeren Sichtbarkeit unserer Zeit das entscheidende Gepräge zu geben drohen.

Wenden wir uns nun dem Begriffe «Geschichte» zu. Da müssen wir zuerst einmal nach der Bedeutung des Wortes «Geschichte» fragen, denn es ist immer gut, wenn man sich über den tatsächlichen

Sinn eines Wortes und Begriffes klar zu werden versucht. Ein Weg dafür ist die Etymologie. In unserer Zeit des Begriffswirrwarrs und vor allem der unverantwortlichen und unverantwortenden Ausdrucksweise ist diese Besinnung doppelt nötig. Wenn wir nun auf die Etymologie des Wortes «Geschichte» einen Blick werfen, so zeigt

το

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

sich, daB wir den verschiedensten Ableitungen begegnen. Eine Vulgärableitung spielt mit der Vorstellung, Geschichte sei etwas Geschichtetes. Theodor Lessing fiihrt das Wort in seinem wenig genannten, aber oft ausgepliinderten Werke « Geschichte als Sinngebung

des Sinnlosen» auf geschehen zuriick. Diese Ableitung ist zweifelsohne

nicht falsch, macht aber bereits bei einem Entwicklungsstadium die-

ses Wortes Halt, das nur kurze Zeit zurückliegt. Die Brüder Grimm geben eine viel weiter zurückgreifende Ableitung in ihrem «Deut-

schen Wörterbuch» (Band IV, 1, 2, Sp. 3857ff.). Der betreffende Passus lautet: «Geschichte, ahd. und mhd. gesciht, was soviel wie:

schickung, zufall, ereignis bedeutet und ein verstärktes schiht ist, das

eine ableitung von ahd. scehan darstellt, welches «durch hôhere schikkung sich ereignen» bedeutet; dieses «scehan» ist das stammverb von

geschehen, das noch im mhd. und md. erhalten ist.» Es handelt sich

also deutlich um die verstärkte Form eines Partizipiums des Stamm-

wortes «geschehen», worin Theodor Lessing recht hat. Aber diese

Lautverstärkung inkluiert auch eine Simaverstarkung, das will sagen, es handelt sich nicht um irgendein Geschehen, sondern um ein be-

sonderes Geschehen, und diese Sinnverstärkung verweist uns auf eine beachtenswerte Tatsache: daß nämlich ein religiöser Unterton in dem ursprünglichen Wortinhalte enthalten war, jedenfalls aber eine numinose Vorstellung, nämlich jene von der Mächtigkeit des «Ganzanderen», deren Ausfluß das Geschehen ist, welches wir, wie wir hin-

zufügen müssen, erinnern können. Wir wollen aus dieser letzten Feststellung vor allem zwei Tatsachen

festhalten: erstens der Begriff «Geschichte» geht ursprünglich auf eine numinose Vorstellung zurück und zweitens: wir verdanken

seine Existenz der Kraft der Erinnerung, wobei selbst die absolute Fülle gerade dieser Kraft selbst wieder als Numen aufgefaßt wurde, was sehr eindeutig und klar aus einem Satz des Arcipreste de Hita hervorgeht, einem der frühesten und größten spanischen Dichter, der um 1350 ein großes Gedicht schrieb, dem man später den Namen «Libro del buon amor» gab. In der Prosaeinleitung zu diesem Werk schrieb er: «ca tener todas las cosas en la memoria, et non olvidar algo,

mas es de la Divinidad que de la humanidad». (Zu deutsch: «Denn alle Dinge in der Erinnerung zu halten und nichts zu vergessen, ist mehr der Gottheit als der Menschheit gegeben.») Und noch der sehr viel spätere, als Dichter um nichts weniger große Garcilaso de la Vega schreibt in einem seiner Sonette, das bezeichnenderweise kein Ge-

ringerer als der Ihnen durch Schopenhauers Übersetzung bekannte

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

Gracian in seiner (nebenbei

dem

ersten stilkritischen Werke

Abendlandes) «Agudeza y Arte de Ingenio»

zitiert:

τι

des

«Oh dulces prendas por mi mal halladas!

dulces y alegres quando Dios querria, juntas estais en la memoria mia, y con ella en mi muerte conjuradas»,

welche Zeilen ich wie folgt übersetzen möchte: «Ihr schönen Dinge, die ich schlecht verstand,

die heitre sind und schöne, wenn es Gott gebot,

ihr seid vereinigt mir ein Unterpfand

in der Erinnerung und seid durch sie teilhaftige in meinem Tod.» Es wird Sie vielleicht verwundern, welchen etwas ungewohnten Beziehungen des Wortes «Geschichte» ich hier nachgehe. Es sind, ich gebe es gerne zu, bisher nicht besonders berücksichtigte Aspekte dieses Begriffes. Aber gerade diese Aspekte stehen in einem innigen Konnex zu jenen zwei anderen Begriffen unseres Themas, denen der «Seele» und des «Geistes». Wir werden später sehen, daß das Numi-

nose, d.h. die Mächtigkeit und Heiligkeit des «Ganz-Anderen», um teilweise eine Definition zu gebrauchen, welche durch Rudolf Otto Gültigkeit erhielt, die Wurzel

dessen darstellt, was

als Seele- und

Geist-Begriff allmählich ins Bewußtsein drang. Und schließlich wollen wir auch den soeben als letzten genannten Begriff noch festhalten:

jenen des Bewußtseins, da der Ablauf der Bewußtwerdung und die Konstituierung des Bewußtseins unser nächstes Thema sein soll.

Hier aber, jetzt, müssen wir noch einen Blick auf die beiden angeführten Zitate werfen, weil sie Zusammenhänge erkennen lassen, die für die konstruktive Verfolgung unseres Themas äußerst aufschlußreich sind.

Wir gingen von der Etymologie des Wortes Geschichte aus und sahen sehr bald, daß es anfänglich einen numinosen Hintergrund hat.

Wir dürfen sagen, daß Geschichte als solche inexistent ist. Existent wird sie durch unsere Erinnerung. Da die Vorfälle und Ereignisse dessen, was wir Geschichte nennen, oft kausal unerklärlich sind und

sich unserem Verständnis entziehen, konnte sie, zudem begünstigt

durch die religiöse Haltung unserer Vorfahren, für diese den Aspekt des

«Ganz-Anderen», eben den des Numinosen, annehmen. Dadurch,

daß man aber in der Erinnerung die Geschehensfolge oder die verschiedenen Schickungen festzuhalten imstande ist, wird auf den Akt

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Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

des Erinnerns selbst, zumindest aber auf die Erinnerungsfähigkeit des Menschen, ein Teil des Numinosen tibertragen, wobei freilich zufolge des Integrierungsaktes das «Geschehene» oder «Geschickte» teilweise seines numinosen Charakters entkleidet wird. Wir diirfen hier nicht vergessen, daß jeder Erzzzerungsakt ein Integrieren äußerer Vorgänge ist, ein — wie es das Wort bereits zum Ausdruck bringt nach /nnennehmen des zuvor

«Ganz-Anderen», wodurch er zu einem

Bewußtwerdungs-Akte werden kann. Aus dem Satz des Arcipreste de Hita, den ich vorhin zitierte, geht der numinose Charakter der Erinnerung noch deutlicher hervor: er spricht nicht von Gott, dessen wir ja — christlich gesprochen - teilhaftig sind, sondern er spricht von

der Gottheit, nicht von Dios, sondern von der Divinidad, also nicht von dem bloß auch Anderen, sondern von dem «Ganz-Anderen»,

welches, im Gegensatz zur Menschheit, die ganze numinose Fülle der Erinnerung, die ganze Mächtigkeit des Allwissens habe. Aber auch die zitierten Verse von Garcilaso de la Vega enthalten einen deutlichen Hinweis auf den numinosen Charakter der Erinnerung. Dabei müssen wir festhalten, daß die Erinnerung insofern ein seelischer Akt ist, als sie unbewußte Zusammenhänge nicht nur des

Objekt-Charakters entkleidet und in eine Beziehung zum denkenden und ordnenden Ich setzt, sondern daß sie, als Voraussetzung zu dieser Entobjektivierung, dem Bewußtsein zuvor unbewußte Zusammenhänge bewußt werden läßt. Das Zitat Garcilasos deutet dabei eine

Intensität des Bewußtseinsvermögens an, die überraschend ist: die

zuvor «schlecht verstandenen Dinge» -- und ein Ding ist das im Außen Lebende und somit Andersgeartete — werden in der Erinnerung geeinigt und dank der Erinnerung wieder in jenen Bereich hineingetragen, der par excellence der Bereich des Numinosen, des «Ganz-Anderen» ist: in den Tod. In diesem Zitat ergibt sich auf eine einzigartige Weise ein Kreislauf des numinosen Charakters der Erinnerung: Integrierung, Einigung und Bewußtwerdung der an sich numinosen Dinge in der Person und darauf folgend ein Herübernehmen dieser Dinge, die durch die Einsehung ihrer Numinosität entkleidet wurden, in die numinosen Regionen des Todes. Da wir noch sehen werden, daß «Seele» und «Tod» ursprünglich dem gleichen

Vorstellungs- oder Erfahrungskomplex angehören, sind dieses Zitat und die Rückschlüsse, die es zuläßt, besonders interessant.

Wenn wir nun festhalten, welchen Begriffen und Inhalten wir bei der Analyse des Geschichtsbegriffes begegneten, so können wir folgendes feststellen: der Grundcharakter des Begriffes Geschichte wur-

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

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zelt im Numinosen, es ist das «durch hôhere Schickung sich Ereignende», das seiner Ganz-Andersartigkeit wegen als numinose Macht Anerkannte; dies sein ursprünglicher und vor allem objektiver Aspekt. In dem Moment, da sich Geschichte konstituiert, geschieht

dies durch die uns innewohnende Kraft oder Macht der Erinnerung; dies sein subjektiver Aspekt. Und ich môchte Sie bitten, diesen Sach-

verhalt in der Erinnerung zu behalten, da wir ganz zum Schlusse unseres Kurses auf die sehr wichtige Rolle der Mnemosyne, der Er-

innerung, als einem seelischen Vermôgen und als einem gewissermaßen seelischen Knotenpunkt zurückkommen werden müssen, dann

nämlich, wenn wir versuchen werden, festzustellen, ob das geistige

Prinzip in einer neuen Ausdrucksform in unserer heutigen Zeit nachweisbar ist oder nicht.

Hinsichtlich des Sinngehaltes des Wortes Geschichte halten wir

nach dem bisher Gesagten weiterhin fest, daß sie, weil sie in dem

seelischen Akte der Erinnerung wurzelt, ursprünglich einen starken Bezug zur Seele und damit zu deren Bewußtwerdungstendenz hat,

wobei dieser Kreis der Begriffsverwandtschaft sich auch noch auf eine andere Weise schließt, da nicht nur der Geschichtsbegriff, sondern

vor allem der Seelen- und Geistbegriff im Numinosen wurzelt.

Und schließlich enthält das Zitat Garcilasos noch einen bedeut-

samen Hinweis, der, wenn wir eine Verschiebung der Bewußtseins-

ebene vornehmen, sehr fruchtbar für unsere Untersuchung werden

kann. Denn hier enthüllt sich der Zukunftsaspekt der Geschichte. Garcilaso spricht von den «cosas juntas en la memoria mia», von den

«in meiner Erinnerung vereinigten Dingen». Diese machen, was wit

hervorheben müssen, die persönliche Geschichte des Einzelnen aus,

jenen Teil von ihr, der durch die Erinnerung konstituiert, bewußt

wurde, der von dem intelligiblen Vermögen der Seele, sowohl inhalt-

lich als formal, erarbeitet wurde. Dank dieser Erinnerung sind die

integrierten Geschehnisse und Dinge soweit unverlierbarer Teil des Einzelnen geworden, daß er sie noch in das Nachher, den Tod, der für Garcilaso noch Zukunftscharakter trägt, hinübernimmt; mit ande-

ren Worten: das Erinnerte wird konstituierender Teil unserer ganzen

Person und als solcher ist er, wie Garcilaso sagt, an seinem Tode

teilhaftig: die erinnerten Dinge werden dank der Erinnerung mit dem Tode verknüpft: als Befreiung der Dinge aus ihrem Totsein einer-

seits, als Wirksamkeit dieser befreiten Dinge in der Seele andererseits, an deren Unsterblichkeit Garcilaso als gläubiger Katholik natürlich glaubt. Denn wir dürfen dies nicht vergessen: Garcilaso denkt und

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Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

dichtet als Mann seiner Zeit, des 16. Jahrhunderts. Er ist noch ganz in die religiös gebundene Welt der spanischen Blütezeit eingeflochten. Jenes Wort: «mi muerte», jenes «mein Tod», inkluiert die Vorstellung vom Heimgang in das GanzheitsbewuBtsein und in die Ganz-

heits-Erinnerung Gottes, von welcher schon der Arcipreste de Hita sprach. An diesem Punkte angekommen, miissen wir nun vorausnehmend

eine Behauptung wagen, die Ihnen wahrscheinlich unerwartet kom-

men wird und deren Stichhaltigkeit, wie ich hoffe, sich im Verlaufe

meiner Ausfiihrungen herausstellen wird: heute hat jener Zukunftsaspekt der Geschichte, die vom Menschen aus gesehen ein Akt der Erinnerung ist, nichts mehr von dem Nachher-Charakter an sich, den

der Tod noch fiir Garcilaso hatte. Was im 16. Jahrhundert noch ein

zukiinftiges Nachher war, hat heute Gegenwartscharakter: die in der

letzten Generation tatsächlich bewältigte Integrierung des Todes, d.h. seine Hereinnahme

ins Leben, welche

Tatsache

Sie bitte nicht als

makabre, lebensfeindliche Abtötung des Lebens, sondern als Bereicherung desselben auffassen wollen, gibt uns die Möglichkeit, Geschichte nicht nur als etwas Gewordenes und Zukiinftiges zu sehen, sondern als etwas Gegenwärtiges. Wenn

das, was aus seiner BewuBtseinslage heraus ein Garcilaso

noch als ein Nachher auffassen konnte und muBte, der Tod, bereits

ein Gegenwärtiges sein kann, wie ich behaupte, so dürfte es evident sein, daß wir ein Vergangenes desgleichen als etwas Gegenwärtiges

betrachten können. Sehen wir davon ab, daß Erinnerung stets auch

ein Vergegenwärtigen von Vergangenem ist, so steht jetzt jene späte

historisierende Geschichtsauffassung zur Diskussion, welche bis in unsere Tage wissenschaftliche Gültigkeit hat. Diese Auffassung betrachtet Geschichte als Folge, und zwar als zeitliche Folge mit konstruierbarem Kausal-Zusammenhang, der eine teleologische, also eine zweck-

und zielhafte Gerichtetheit wenn

vermuten läßt.

nicht erkennen,

so doch

Geschichte aber ist noch etwas anderes, und ich glaube, Sie werden

meine Überlegungen nun akzeptieren können: Geschichte ist nicht

nur Folge und Ziel, sondern sie ist Existenz und Essenz und als solche

von steter substanzieller Gegenwärtigkeit. Anders ausgedrückt: die Summe dessen, was geschah, und dessen, was geschehen wird, bin ich. Wir wollen also diesen essentiellen und existentiellen Geschichts-

begriff unserer Untersuchung zugrunde legen, wobei zu betonen ist, daß es mit einer bloß existentiellen Auffassung nicht getan wäre, weil

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

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ohne das Essentielle für die konkrete Anschauung alles in den Nihilismus abgleitet. Um es also noch einmal zu sagen: wir wollen den essentiellen und existentiellen Geschichtsbegriff unserer Untersuchung zugrunde legen und nicht den historisierenden, spekulativ-kausalen. Dazu ist allerdings eines nötig: daß wir uns zumindest in großen Zügen über das «Geschehene» klar werden, d.h. daß wir uns von der allmählichen Entfaltung des Bewußtseins, welche in der Quintessenz die wahre Geschichte der Menschheit darstellt, Rechenschaft

ablegen, um dabei zu realisieren, daß jeder Einzelne von uns in seinem psychischen und vielleicht auch geistigen Aufbau gewissermaßen die Präsenz en miniature der gesamten Menschheitsentwicklung und Menschheitszwkunft nicht nur darstellt, sondern auch in jedem Augenblick seines Lebens 757. Um

diese Präsenz aber tatsächlich und bewußt

sein zu können,

müssen wir uns jenen Weg in die Erinnerung zurückrufen, den diese

Bewußtwerdung nahm. Haben wir das getan, dann werden wir an die Behandlung unseres Themas über die Vorstellungen von «Seele» und «Geist» nicht nur von dem jetzigen Bewußtseinsvermögen, das vorwiegend rationalisierend ist, herantreten können, sondern gewis-

sermaßen mit allen Schichten unseres Seins; wir werden dann statt

eine bloß retrospektive Betrachtung eine ganzheitliche anwenden

können, die uns ohne Zweifel weitere Gebiete erschließen kann als

eine nur einseitig zurückblickende. Denn wir wollen nicht vergessen, daß, was auch immer wir tun, unser Tun nach Möglichkeit auch im Bewußtsein den Kontakt mit dem Ganzen wahren sollte. In diesem Sinne wollen wir an dies Problem der Bewußtwerdung und seines strukturellen Aufbaus herantreten.

II

Wenn wir es jetzt unternehmen, in den Fluß des Geschehenen, in das, was man sich angewóhnt hat, die Entwicklung der Menschheit zu nennen, eine gewisse Ordnung hineinzubringen, so wollen wir uns bewuft bleiben, daB dies lediglich ein Versuch ist, Geschehenes zu strukturieren, damit wir es übersehen kónnen. Und wir wollen

dabei verfälschende Begriffe wie «Entwicklung» und «Fortschritt» nach Möglichkeit ausschalten: die gemáchliche Vorstellung von einer

fortschreitenden kontinuierlichen Entwicklung ist eine antiquierte Denk weise; sie wat etwa zweihundert Jahre lang Mode, seit der 1725

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Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

erfolgten Publikation von Giambattista Vicos «Principi di scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni». Dieser Entwicklungsgedanke war vielleicht eine gute Arbeitshypothese, die aber leider mit der Zeit als Realität genommen wurde und als solche, postuliert im biologisierenden Spenglerismus, die heute sichtbaren Konsequenzen zeitigte. Kein Prozeß von wirklicher Entscheidung, kein Prozeß also, der mehr ist als ein bloBes hier- und dorthin tastendes,

fast spielerisches Geschehen mit seinen Vor- und Rückläufigkeiten,

kein Prozeß, der wirklich entscheidend ist, verläuft kontinuierlich,

sondern stets quantenmäßig — oder wenn Sie es biologisch ausgedrückt haben wollen: er verläuft sprunghaft. Was uns als Kontinuität erscheint, sind die von uns in den Geschehensablauf nachträglich

statt physikalisch mutierend, d.h. nichts anderes als hineinkonstruier-

ten Übergänge, vermittels deren wir dem Geschehenen einen logischen, kausalen, uns beruhigenden Charakter verleihen.

Blicken wir in diesem Sinne auf die Mutationen des menschlichen Bewußtseins zurück, so möchte ich vier Bewußtseinslagen unterscheiden: die archaische, die magische, die mythische und die rationale Bewußtseinslage. Wenn es uns gelingt, die Inhalte, Denkformen und Lebenshaltungen dieser vier Ebenen so klar herauszuarbeiten,

daß wir auch jederzeit imstande sind, festzustellen, in welchem Maße die eine oder die andere in uns selber nicht nur vorwiegend ist, sondern aktiv unser eigenes Verhalten zur Welt bestimmt, so haben wir

uns zwei Möglichkeiten erarbeitet: erstens eine Grundlage dafür, die Bildung des Seelen- und Geist-Begriffes realisieren zu können, wie sie sich in Zeiten herauskristallisierte, welche ungemein frühe und von

uns fast vergessene Zeiten sind. Zweitens können wir dann, ohne die Gefahr, Altes mit Neuem zu vermischen, unter Umständen den Ver-

such wagen, die neue fünfte Ebene, die wir einmal als die aperspekti-

vische Ebene bezeichnen wollen, zu betrachten.

Werfen wir nun einen Blick auf die vier Ebenen: Da nannten wir als erste die archaische. Sie ist die ur-menschliche. Zeitlich gesehen

ist sie die Frühzeit und Kindheit der heutigen Menschheit. Sie ist die

Stufe, die dem paradiesischen Urzustande am nächsten ist, auf der die

ersten Anzeichen eines möglichen Bewußtseins sich im Trieb und in der Instinkt-Entwicklung äußern. Es ist die Zeit, da die Seele noch

schläft, und demzufolge ist sie die traumlose Zeit, jene, die wohl Dschuang Dsi meint, wenn er sagt: «Die wahrhaften Menschen frü-

herer Zeiten schliefen traumlos», denn in bezug auf seine eigene Zeit (370 v.Chr.) meint er, «pflegt die Seele im Schlafe Verkehr» und

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

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«erzeugt so», wie der Übersetzer Richard Wilhelm auf Grund alter Kommentare ergänzt, «die Träume.» Für die BewuBtseinslage dieser Ebene, ja man ist versucht, vom heutigen Standpunkt aus gesehen

von einer Unbewußtseinslage zu sprechen, ist vielleicht noch ein klei-

ner Hinweis aufschlußreich, der sich bei dem soeben genannten Richard Wilhelm in dessen «Geschichte der chinesischen Kultur» findet. In einer Anmerkung zu seiner Darstellung der Farbensymbolik der chinesischen Frühzeit schreibt er nämlich: «Blau und Grün sind in jener Zeit noch nicht entschieden; das gemeinsame Wort ist T’sing, das ebensowohl die Farbe des Himmels wie die Farbe der sprossenden Pflanze bedeutet.» Wenn aus irgendeiner der äußerst spärlichen Mitteilungen über diese Frühzeit der Menschheit das Un-

geschiedensein, ja das Ununterschiedensein des frühen Menschen von

der Natur hervorgeht, ein Unerwachtsein, dank dessen er noch ein

fragloser Teil des Ganzen ist, so dürfte dies bei den beiden zitierten

Äußerungen der Fall sein. Traumlosigkeit bedeutet ohne jeden Zweifel problemlosen Einklang von Innen und Außen, also Einklang des Mikrokosmos; Gleichheit der Farbe von Erde und Himmel bedeutet

problemlosen Einklang des Makrokosmos; beides zusammen dürfte wahrscheinlich nichts anderes sein als problemloser Einklang von Mensch und Welt. Auf diese nur-naturhafte archaische Ebene folgt dann jener erste

entscheidende Schritt zu einem dämmernden Bewußtwerden, der die

magische Ebene einleitet. Magie, Machen und Macht sind Wörter des

gleichen Stammes. Auf dieser Ebene löst sich der Mensch zum ersten Male aus der vollständigen Naturverhaftung, löst sich aus dem Einklang, und Einzelne lösen sich um ein Geringes aus dem Clan: der

Mensch stellt sich gegen die Natur, er versucht sie zu bannen, zu

lenken, er versucht unabhängig von ihr zu werden, Zauber und Be-

schwórung, Totem und Tabu sind die naturhaften Mittel, dank deren er sich von ihr zu befreien sucht, dank deren die Seele in ihm sich zu verwirklichen, sich ihrer selbst bewußt zu werden versucht. Aus der

Bewußtseinslage dieser Ebene heraus entstehen die ersten Entäuße-

rungen tischen deutlich kennen

innerer Kräfte, beispielsweise die Ihnen bekannten prähistoFels- und Höhlenzeichnungen. Diese lassen teilweise noch eine weitgehende Ungeteiltheit von Mensch und Natur ersowie jene magische Hellsichtigkeit, die sich in dem wie

traumwandlerischen Verwobensein des Hauptes mit seinem Umraum

manifestiert, das hin und wieder auf derartigen Zeichnungen zum Ausdruck kommt. Sie finden dies auf vorgeschichtlichen Felszeich-

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Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

nungen australischer Stämme, auf Zeichnungen der griechischen Frühzeit, ja selbst noch auf irischen Buchillustrationen des ο. nachchristlichen Jahrhunderts. Die Abbildungen,! die Ich Ihnen zeige und die ich den Werken von J. Winthuis, «Das Zweigeschlechter-

wesen», Roschers «Ausführlichem Lexikon der griechischen und römischen Mythologie» sowie Ο. E. Saunders Monographie über die «Englische Buchmalerei» entnahm, zeigen Ihnen deutlich das magi-

sche Antlitz. An ihm sind, wie mir scheint, zwei Dinge wichtig und

aufschlußreich,

welche

bisher

übersehen

wurden:

erstens

der das

Haupt umgebende, sichtbar angedeutete Ausstrahlungsring, zweitens

die betonte Mundlosigkeit dieser Antlitze. Die innere Kraft entäußert

sich hier noch nicht im Wort, d.h. im Mythos. Gerade diese Mundlosigkeit, die eine Wortlosigkeit inkluiert, ist wichtig. Wo kein aussagender Mund ist, da ist auch noch kein Mythos. Mund und Mythos gehören zusammen. Dies geht auch aus einer etymologischen Ableitung hervor, die Harrison in ihrer «Themis», einer «Study of the social origins of Greek religion» suggeriert, wenn er (l.c.S.328) auf die Verwandtschaft des englischen Wortes für

«Mund» = «mouth»

mit dem griechischen Wort « μῦθος», das ja ursprünglich «Rede, Wort,

Bericht» bedeutet, hinweist. Diesem

magischen Antlitz entströmt

also die innere Kraft, die sich entäußern muß, noch wortlos in dem,

wie wir feststellten, sichtbar angedeuteten Ausstrahlungsring, der das Haupt umgibt. Und es ist nur natürlich, daß gegenüber dem austra-

lischen und dem irischen Antlitz das griechische der Muse bereits nicht mehr ganz mundlos ist, welcher Mund durch eine Minderung oder Abschwächung des Ausstrahlungskranzes kompensiert wird. Ich könnte es gut verstehen, wenn Sie diese Zeichnungen mit einem gewissen Skeptizismus hinsichtlich dessen, was ich zu ihnen bemerkte, betrachten würden. Die plötzliche Umstellung aus der Ihnen geläufigen seelischen Betrachtungsweise läßt sich sicher nicht leicht vollziehen. Vielleicht macht eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache den ganzen Sachverhalt leichter verständlich. Diese hat zudem noch den Vorteil, Sie daran zu erinnern, daß in jedem von uns magische Restbestände teils latent vorhanden, teils sogar noch wirksam sind. Die drei Zeichnungen zeigen Ihnen, daß der magische Mensch der Frühzeit noch jene Kraftausstrahlung des Menschen sah, welche man hin und wieder als Aura bezeichnet hat. Der Umstand,

1 Siehe «Ursprung und Gegenwart», Gesamtausgabe Novalis, Bd. II, Tafel 4,

sowie Abb, ıı, S. 102.

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

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daß wir diese heute nicht mehr sehen, besagt noch nicht, daß sie nicht mehr vorhanden sei, sondern nur, daB unser Erkenntnis-und Wahrneh-

mungsvermögen im Visuellen nicht mehr die einstmalige Stärke hat; andere Kräfte sind an seine Stelle getreten: beispielsweise die Kraft

des Gedankens und die des Wortes. Die wissenschaftliche Tatsache nun, von der ich Ihnen zu sprechen begann, besteht darin, daß es einem englischen Arzt gelungen ist, die menschliche Aura, die jeder Mensch besitzt, zu photographieren.

Ich möchte meine Ausführungen über die magische Ebene nicht

abschließen,

ohne Ihnen

noch

anhand

weiteren

Bildmaterials

eine

anschauliche Vorstellung von jenem In-die-Natur-Verflochten-Sein des magischen Menschen zu geben, welches für jene Bewußtseinslage so charakteristisch ist. Schr schön kommt dies zum Ausdruck auf der Reproduktion eines mineischen Freskos aus Kreta, welches also vorgriechisch ist: auf ihm sehen Sie die menschliche Gestalt des dar-

gestellten Jiinglings? noch wie eingebettet und umhüllt von dem

natürlichen Wachstum der Pflanzen, was dieser Gestalt selbst etwas

durchaus Blumen- oder Pflanzenhaftes gibt. Die andere Abbildung entnehme ich den

«Deutschen Schriften» von Creuzer, und zwar den

seine «Symbolik und Mythologie der alten Völker» ergänzenden

«Studien».? Auf diesen sehr frühen Vasenmalereien erkennen Sie ein

Detail, welches später nie wieder auftritt; ich spreche von jenem Girlandenband, das in bereits stilisierter

Form die magische Verbun-

denheit von Mensch zu Mensch und von Mensch zu Ding nicht nur

symbolisiert, sondern zu greifbarem Ausdruck bringt; es ist, um es kraß auszudrücken, die noch undurchschnittene Nabelschnur, welche

den Menschen mit der ganzen Welt verbindet. Diese Zeichnungen

oder Malereien stellen aber bereits eine späte Form für die magische

Ebene dar. Die Kraft des leise und noch wie traumhaft tagenden Be-

wußtseins ist in ihnen insofern bereits sichtbar, als auf ihnen gefühlte Zusammenhänge schon bildlich entäußert sind. Angesichts ihrer stehen wir bereits an der Schwelle der folgenden Ebene.

Diese ist die mythische Ebene. Mythos ist in einem gewissen Sinne der wortgewordene Kollektivtraum der Völker. Und solange er nicht in dichterischer Form dargestellt wird, ist er ein unbewußter Vorgang, der sich in der dem Traume und der Seele arteigenen RaumZeitlosigkeit abspielt. Im geformten Mythos aber erschließt sich das 2 Siehe 3 Siehe

S. 109.

«Ursprung und Gegenwart», Gesamtausgabe Novalis, Bd. II, Tafel 7. «Ursprung und Gegenwart», Gesamtausgabe Novalis, Bd. II, Abb. 20,

20

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

BewuBtsein die Seele und mit ihr ein unsichtbares und zugleich auch weiteres Gebiet der Natur, den Kosmos - also alles das, was Materie

wurde und sich nun in den bildhaften seelischen Vorgängen als Mythos darstellt und dank seiner Formwerdung bewußt wird. Kaum jedoch, daß die Seele dem Menschen

sichtbar wird, beginnen auch

allmählich diejenigen Mythologeme Gestalt anzunehmen, die, wo wir ihnen begegnen, das sichtbarste Zeichen einer Bewußtwerdung sind, welche stets mit der Ich-Werdung Hand in Hand geht. Wir begegnen den Sonnenmythologemen, denn wo sie auftreten, wird es tatsächlich Licht, wird das Bewußtsein hell; und wir begegnen den Meerfahrtmythologemen, denn jede Meerfahrt ist bereits Ausdruck dessen,

daß der Mensch eine gewisse Herrschaft über die Seele erreichte, da

Seele und Wasser, noch bei Heraklit, Entsprechungen sind. So kann beispielsweise, wie die 17. «Rune» der «Kalewala» berichtet, der große Sänger Wäinämöinen sein Boot nicht fertigstellen, ehe er nicht noch einige Worte weiß, die er nicht finden kann: erst als er sie von

dem Ur-Riesen Wipunen erfahren hat, erst als er fähig ist, alle Urphänomene auszudrücken, was aber einem Realisierungsprozeß, einem Bewußtwerdungsvorgange gleichkommt, ist er imstande, den

Bau des Bootes zu vollenden und die Meerfahrt, welche die 18. Rune schildert, anzutreten. Dann, nach Durchmessung der eigenen Seele,

nach dieser Meerfahrt, die wir als Symbol für eine Bewußtwerdung

auffassen dürfen, findet der mythologische Mensch den anderen Men-

schen, findet den Partner als Einzelnen, vielmehr: er findet die Ein-

zelne, die ihm persönlich Bestimmte: auf dem Umweg über das Er-

wachen zu sich selber erwacht das Du, erwacht im Du die ganze Welt, der er auf der magischen Ebene noch eingeflochten war. Wäinä-

möinen findet am anderen Strande jenes Nordmeeres, welches er über-quert, Annikki; Theseus nach Durchquerung des Myrthischen

Meeres findet Ariadne; die Griechen nach langem Segeln finden Helena wieder in Troja, Tristan nach Überstehung vieler Meeresstürme findet Isolde. Sie sehen, diesem Thema begegnen wir in allen Kulturkreisen:

dem

nordischen,

dem

griechischen,

dem

germani-

schen; und wir begegnen ihm in jedem Kulturkreis zu seiner Zeit;

ja selbst im persischen treffen wir auf dieses Erlebnis einer Bewußtwerdung. Ich erinnere Sie an eines der Märchen aus der persisch-

indischen Märchensammlung «Tuti-Nameh», welche bei uns in der

Übersetzung als «Das Papageienbuch» bekannt ist. In einer dieser

mythologisierenden Märchenerzählungen, welche den Titel trägt: «Wie der Kaiser von China die schöne Königstochter von Medinet-

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

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el-Ukr heimführte», wird beschrieben, wie dieser Kaiser, von dem

weisen Alten (seinem ersten Vezir) begleitet, ans Meer gelangt; dann heißt es wörtlich: «Und am Meeresufer bestiegen sie ein Schiff und

fuhren damit vier Tage und Nächte, bis sie an einer fruchtbaren Küste landeten.» Das aber war das Land der Königstochter, die der Kaiser

von China heimführte. Doch damit genug von den Meerfahrt-Mythologemen, die ich an-

führte, um Ihnen ein Bild davon zu geben, wie im Mythos der Bewußtwerdungsprozeß Ausdruck erlangt. Auf die tiefe Bedeutung der

Wassersymbolik für die Seele werden wir später noch zurückkom-

men. Hier sei nur noch im Hinblick auf sie des Mythos von Narziß gedacht, der desgleichen eine mythologische Aussage über die Bewußtwerdung darstellt: Narziß, der seiner im Spiegel des Wassers ansichtig wird: er, der gewissermaßen in die Seele schaut, schaut sich

selber und wird sich damit seiner eigenen Existenz bewußt. Es ist

dies wahrlich ein erschütterndes Ereignis, und seine Bildstärke enthält selbst noch für uns jene ihrerseits bildende Kraft, die aus irgendeinem Menschen diesen einen Menschen namens Narziß machte.

Was nun aber die vorhin erwähnten Sonnenmythologeme anbetrifft, so können wir feststellen, daß sie in Ost und West um die gleiche Zeit ihre Formung erhalten, und im Augenblick ihrer Formung in die Wortaussage ihre wirkende Verwirklichung, da, wie Seneca, wohl

im Anschluß an Platons Ausführungen im «Timaios»

(45 ?), über

die Traumerinnerung nach dem Erwachen sagt, nur der Wache könne

über seine Träume berichten, daß also nur er sie zu richten, zu be-

urteilen vermag. (Welch eine Rolle in diesem Prozeß des Innewerdens die Erinnerung, das Gedächtnis, spielt, die durch die Muse, die Mnemosyne, symbolisiert wurde, das habe ich heute bereits angedeu-

tet und werde darauf am Ende unseres Kurses noch ausführlich zurückkommen.) Im Osten, in China, finden sich erste Anzeichen eines solchen Sonnenmythologems, in dem nur ganz bruchstückhaft erhaltenen «Kouei Tsang», welche uns das « Hiho»-Mythologem überliefert. Sie finden Hinweise auf dieses vor allem bei dem großen fran-

zösischen Sinologen Granet, und zwar sowohl in seiner «Pensée chinoise» als auch im Band I seiner «Danses et légendes dans la Chine ancienne». In Griechenland ist es in der «Ilias», wo wir zum

ersten Male dem Helios-Mythologem begegnen. «Kouei Tsang» aber

und die «Ilias» entstanden beide um

800 v.Chr. Dabei ist anzumer-

ken, daß die fast 1500 Jahre frühere ägyptische Horus-Symbolik noch durchaus Natursymbolik ist und damit im Ausklang dessen steht,

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Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

was wir als die magische Zeit bezeichneten. Und in Ost und West finden wir Hand in Hand mit diesen Mythologemen gehend den Ausbruch des Zornes, jener Kraft, die das Gemeinschafts- und das ClanGefühl insofern sprengt, als sie sich im Einzelnen, dem «Helden»,

manifestiert und ihn immer weiter in die Vereinzelung, in die Ich-

Werdung und Selbst-Behauptung treibt; an anderer Stelle wies ich bereits auf die Gleichzeitigkeit der entscheidenden Rolle hin, die der Zorn in der Bhagawadgita und in der Ilias spielt. Bei Homer führt er dann in der Odyssee (Neunter Gesang, Vers 17) gradlinig zu jenen erschütternden Worten des Odysseus, in denen die ganze Größe des

Griechentums aufleuchtet und die den Grundton des abendländischen Charakters enthalten. Er führt zu jenem stolzen: «eim Odysseus»,

dem «Ich bin Odysseus»; und zu der schmerzlichen Fortführung:

«... des Laertes Sohn, der viele Leiden erduldete.» Er war ein Dul-

der, der aus Leid, aus Kampf und Gefahr sich sein Ich gebar. Dies machte ihn fähig, wie gleich eingangs in der Odyssee Homer berichtet, auf der Heimfahrt von Troja seiner Gefährten «Psyche» zu retten (Vers 9). «Psyche» aber ist seitdem selbst noch bei Heraklit und Plato, ja noch im Johannes-Evangelium gleichbedeutend für Leben und Seele!! Warum dies der Fall ist, darüber werden wir das nächste-

mal zu sprechen haben, wenn wir der Entstehung und der Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist nachgehen werden, für deren Verständnis uns die heutigen Ausführungen eine gewisse Grundlage

vermitteln. Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, so können wir sagen: Brachte die magische Haltung die Entdeckung der Natur, so brachte die mythische jene der Seele, und gleichzeitig hebt auf ihr der Kampf

um die Überwindung der Natur an, die ihren sichtbarsten Ausdruck

in den Läuterungen der Orphischen Mysterien, in den Entäußerun-

gen der Dionysien und in den eleusinischen Einweïhungsriten fand, in denen, wie Creuzer sagt, der «Geist» (sprich «Seele») das BloßNatürliche überwinden sollte und in welchen der Myste gradweise

als Kollektivwesen stirbt, um als Einzelner wiedergeboren zu werden; denn daß in den Mysterien ein Sterben stattfand und eine Wiedergeburt, wissen wir, und daß diese Wandlung einer Ichgewinnung und seelischen «Entwicklung» entsprach, liegt in der Natur der Sache beschlossen.

Kaum aber, daß die mythische Haltung mit diesen Mysterien ihren

Höhepunkt erreicht, setzt auch bereits ein neuer Entwicklungsschub ein: es zeigen sich, in der ionischen Schule (um 500 v. Chr.) mit

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

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den Pythagoräern die ersten Ansätze zu einer noch stärkeren Beherrschung der Natur und zu einer Beherrschung und Lenkung der Seele

durch das Denken. Parmenides schreibt jenen Satz, der in seiner extremen Fassung der beredte Ausdruck eines überwältigenden Fundes, der ein Jubelschrei tiber diesen Fund ist: «Noein esti estin»: «Denken ist Sein.» So wie auf der mythischen Ebene Seele und Leben

gleichgesetzt werden, so wird zum Beginn der vierten, der mentalen

Ebene, Denken und Sein gleichgesetzt. Und seit jener Zeit ist es die Ratio, welche vorhertscht; es entsteht die Wissenschaft, der Mythos

wird, um eine gliickliche Formulierung Nestles zu gebrauchen, zum

Logos und klingt in rationalisierter Form in der Religion, der Le-

gende, dem Marchen und der Sage ab. Kult und Sakrament treten allsonntäglich an Stelle der vormals ununterbrochenen «participation mystique», womit wir einen Ausdruck von Lévy-Bruhl gebrauchen, der die von uns beschriebene Allverbundenheit besonders des magi-

schen Menschen antônt und den C. G. Jung in den zutreflenderen Ausdruck «participation inconsciente» verbessert hat.

Jetzt, auf dieser rationalen Ebene, wird der mythologische Be-

wußtseinsträger «Helios» zum «sol invictus», dem Attribut spätrömischer Cäsaren, bis er in dieser rationalisierten Form auf Christus

übertragen wird. Diese Entwicklung ist sowohl von Hermann Usener in seiner Studiensammlung «Das Weihnachtsfest» als auch von Paul Schmitt im Eranos-Jahrbuch 1943 in ihren gleichnamigen Arbeiten

über den «sol invictus» dargestellt worden. Christus aber ist vor dem Zurückgleiten, vor dem Untergang in die Seele bereits ganz gefeit, denn er übersteht den Schiffbruch. Ihn trägt das Meer nicht an das Land, wie es einst Odysseus an das Ufer der Phäaken warf. Odysseus fand sich, aus dem Schlafe erwachend, am rettenden Ufer. Und erst nach diesem Sich-Finden, nachdem das Meer, die große heraklitische Seele,

ihn entlassen hat, konnte er, selber erschüttert, jene uns noch erschütternden Worte des «Ich bin» finden. Christus aber übersteht

den Schiffbruch: er vermag auf dem Wasser zu gehen; er überwindet

damit das Grundchaos und darf nicht nur sagen: «Ich bin Christus», sondern: «Ich bin das Licht der Welt.» Die erste große Helligkeit ist

in der Menschheit zum Durchbruch gekommen, jene Helligkeit, die es erstmals auszusprechen wagen darf, daß sie das Dunkle, das Leid der Welt auf sich zu nehmen wage: Hier trennen sich in der Menschheitsentwicklung vorerst Ost und West. Im Buddhismus ist die Aufhebung des Ichs und seine verwandelte Zurückführung in den Anfang des unmateriellen Nichts das Ziel, im Christentum dagegen die

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Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

Akzeptierung, das Ertragen des Ichs. Im Buddhismus ist die Auf-

hebung des Leidens das Ziel, im Christentum dagegen seine Akzep-

tierung dank der Liebe. Der gefahrliche Weg, den das Abendland

gehen wird, ist vorgezeichnet. Und durch unsägliche Mühsal geht es

ihn. Da die mittelmeerische Kraft erlahmt, verlegt sich das entwicklungsfôrdernde Schwergewicht weiter nach Nordwesten; so wie es einst vom Zweistromland auf die griechischen Inseln und von ihnen nach Italien übersprang, springt es jetzt nach Franken hinüber, und die mittelmeerischen Keime der griechischen Philosophie, der jüdischen Heilslehre und des neuen rômischen Staatswesens (welches Clan und Volksiiberwindung kernhaft enthält) erwachen im eigentlichen Europa zu neuer Bliite und Weiterentwicklung. Noch einmal wiederholt sich hier in Zentraleuropa in wenigen Jahrtausenden die

Durchmessung der vier Ebenen, und schon das 13. Jahrhundert löst sich aus der Welt der «participation mystique», die ja trotz aller In-

dividualisierungsansätze und trotz sublimsten, bereits objektivierten Kôrpergefühls die Welt der Antike war, und vollzieht den entscheidenden Durchbruch zur Ratio in dem Moment, da mit der Auswer-

tung der Perspektive durch Leonardo die rationale, intellektuelle BewuBtseinshaltung ihrem Höhepunkt zustreben kann. Aus dem «Erkenne dich selbst» des Sokrates wird das «Cogito, ergo sum» des

Descartes. Die Mythologeme rationalisieren sich zu Philosophemen. Der Verstand soll die Befreiung bringen. Immer stärker realisiert

sich im Außen das innere Vermögen des Menschen: Er wird fähig, sich gewisser Kräfte zu entledigen und sie zu seiner Verfügung zu halten. Auf der magischen Ebene mußte, wie es noch heute in Tibet geschieht, der ganze Körper, der ganze Mensch gestimmt werden, um durch eine tiefe Einordnung in die naturgegebenen Kräfte sich der Natur bedienen zu können, wie es beispielsweise bei jenen Vorgängern

geschieht,

die den Tibetern, Raum

und

Zeit überwinden

lassend, das Fernsehen ermöglichen. Heute, in unserer europäischen

Welt, ist nicht mehr der Mensch selber das Instrument, sondern er

fertigte ein Instrument, den Fernsehapparat, der ihm diese Raumund Zeit-Überwindung ermöglicht, ohne daß er eigenste Kräfte für sie aufzubieten braucht. Diese werden frei für eine andere Verwen-

dung: die magische Komponente ist weitgehend entäußert, und um

sie so zu überwinden, wie das Nur-Naturhafte auf der rationalen

Ebene überwunden wurde, wird es nötig sein, die heutige Über-

betonung des Ichs, die immer auch einen Machtanspruch, also letzt-

lich einen magischen Anspruch enthält, zu überwinden.

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

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In dieser Schilderung der vier bisherigen Ebenen hätten wir, wie Sie aus der Tatsache ersehen konnten, daß wir den Schwerpunkt

immer auf die Bewußtseinswerdung legten, jene Geschichte der Bewußtwerdung skizziert, von der ich eingangs gesprochen habe. Nun hoffe ich, daß Sie neben dem rein zeitlich ablaufenden Aspekt des Geschichtlichen auch jenen anderen aus meiner Darstellungsweise

entnehmen konnten, den strukturellen Aspekt, den sowohl essentiellen als auch existentiellen Aspekt; denn wenn wir nur genügend tief in uns hineinhören, dann finden wir nämlich, daß auch die drei ersten

geschilderten Bewußtseinslagen noch heute bis zu einem gewissen

Grade in uns nicht nur latent vorhanden, sondern, wie ich bereits

früher sagte, akut wirksam sind. Und es ist durchaus nicht uninter-

essant, zu beobachten, wann wir, die wir uns auf unsere Ratio so viel

zugute halten, in unserem täglichen Leben gar nicht aus dieser rationalen Bewußtseinslage heraus reagieren, sondern aus der mythischen, magischen, ja selbst archaischen heraus handeln, und nicht nur han-

deln, sondern manchmal sogar urteilen. Jedenfalls dürfte eines klar sein: so wie Sie auf wirklich entscheidende, Ihr persönliches Leben betreffende Ereignisse mit Ihrer ganzen Person antworten, so antworten

Sie auf die wirklich entschei-

dende Grundfrage nach Ihrer Existenz desgleichen mit Ihrem ganzen Sein. Und je nach Ihrer inneren Struktur wird das archaische, magische, mythische oder rationale Element bei Ihrer Einstellung und bei Ihrer Antwort die ausschlaggebende Rolle spielen. Was uns interessiert, ist die Tatsache, daß wir zur Beurteilung grundsätzlicher Fragestellungen, wie deren eine zum Beispiel unsere Frage nach der Seele und dem Geist ist, sehr wohl mit allen Aspekten oder allen Elementen unserer Existenz antworten und somit auch in Vorstellungen

eindringen können, die uns, legten wir nur unsere durchschnittliche Alltagswachheit zugrunde, nicht erreichbar wären. Daran, daß jenes, was war, st; daran, daß jenes, was war — und

wäre es vor einer Million Jahre gewesen -, heute noch und hier, in diesem Raume um Sie und in den merkwürdigen Räumen in uns,

immer noch, uns konstituierend, 22, daran wollen wir denken, wenn

wir der Entstehung und der Geschichte des Seelenbegriffes nachgehen werden.

26

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

ΠῚ

Ehe wir in unserer Betrachtung fortfahren, môchte ich in wenigen Sätzen das zusammenfassen, was wir uns erarbeitet haben. Wir gin-

gen den verschiedenen Aspekten des Geschichtsbegriffes nach und den Beziehungen, welche die Aspektierung dieses Begriffes mit sich

brachte. Wir sahen, daB seine Grundkomponente numinosen Charakters ist und daß er aufs engste mit der Erinnerung und mit dem Bewufisein zusammenhängt. Wir unterschieden dann historisierende, kausal-spekulative Geschichtsauffassung von einer durchaus anderen von uns in Vorschlag gebrachten: von einer strukturellen Geschichtsauffassung, die sowohl essentiellen als existentiellen Charakter hat, die Sie aber mit der Hegelschen Geschichtsauffassung insofern nicht gleichsetzen dürfen, als Hegel, im Unterschied zu uns, die Wirksamkeit früherer Epochen im heutigen Menschen ablehnt. Wir versuchten dann, von dieser strukturellen Geschichtsauffas-

sung ausgehend, einen geschichtlichen Abriß der Bewußtwerdung zu geben und unterschieden im Sinne einer Arbeitshypothese vier Ebenen, die wir als die archaische, magische, mythische und mentale

definierten und darstellten. Dabei blieben wir uns der Tatsache bewußt, daß diese geschichtlichen Ebenen durchaus nicht nur einen Vergangenheitscharakter haben, sondern in mehr oder minder latenter oder akuter Form heute noch in jedem von uns vorhanden sind.

Nur dank Herausarbeitung dieses bisher übersehenen Tatbestandes wird uns, im Gegensatz zu Hegel, eine ganzheitliche Betrachtung ermöglicht, welche beispielsweise auch dann nicht durchführbar wäre, legten wir unseren Betrachtungen die berühmte und selbst heute noch viel vertretene Drei-Stadien-Theorie von Auguste Comte zu-

grunde, derzufolge alle Wissenschaften und Weltanschauungen durch das theologische, metaphysische und positive Entwicklungsstadium

hindurchzugehen haben, wobei ganz naiv angenommen wird, daß nach der Überwindung der Theologie und der Metaphysik durch den Positivismus nun kein theologisches und metaphysisches Denken mehr statthaben könne. Wir stellen also gegen diese bloße Evolutionstheorie nicht nur unsere Mutationstheorie der Bewußtwerdung, sondern beziehen darüber hinaus die Zukunft als bereits vorhanden,

weil latent in uns existierend, in unsere Betrachtung ein, lassen also

die Möglichkeit einer neuen Bewußtseins-Mutation offen, welche wir

am Schluß unserer Ausführungen behandeln werden. Wir sind also

nicht wie die Positivisten der Überzeugung, daß das heutige posi-

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

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tivistische Stadium bzw. daB die rationale Ebene das Nonplusultra der Menschheits-Werdung darstelle und sind im Gegensatz sowohl zu Hegel als zu Comte von der noch heutigen Wirksamkeit der frii-

heren Ebenen in uns überzeugt. Diese Uberzeugung oder Ansicht,

falls wir uns mit ihr zu befreunden vermögen, kann uns für die heu-

tigen Uberlegungen von Nutzen sein, da wir uns jener frühesten

Zeiten entsinnen wollen, in denen jene Vorstellungen zu entstehen begannen, die wir heute sehr komplex mit den Wörtern «Seele» und «Geist» bezeichnen.

Wenn wir jetzt zu den Anfangen zurückgehen, in denen wir jene

Hinweise zu finden hoffen, die uns ein Verständnis für das Zustande-

kommen der genannten Begriffe ermöglichen soll, so gibt uns das bereits Gesagte den entscheidenden Anknüpfungspunkt. Dieser An-

kniipfungspunkt ist die Vorstellung vom Numinosen.

Halten wir zuerst fest, was unter diesem Begriff zu verstehen ist,

vor allem auch: wie er entdeckt wurde: er geht auf den Herrnhuter Pietisten Zinzendorf zurück, der in seinem Aufsatz «Naturelle Gedan-

ken vom Religions-Wesen», welchen er 1745 verfaBte, erstmals den

Begriff «sensus numinis» gebrauchte. Dieser wurde 1917 unabhängig von ihm durch Rudolf Otto in seiner epochemachenden Schrift « Das Heilige» neu formuliert und in seiner darauffolgenden Arbeit « Das

Gefühl des Uberweltlichen (sensus numinis)» von ihm vertieft. Diese letz-

tere Arbeit ist zugleich eine Auseinandersetzung erstens mit der positivistischen Religions-Theorie Wilhelm Wundts, wie sie dieser in seiner großen «Vélker-Psychologie» gab, zweitens mit dem von Tylor (1875)

inaugurierten Animismus und mit dem von C. Marett (1909) formu-

lierten Práanimismus. «Numinos», das sich vom lateinischen «numen» = «Macht oder Walten der Gottheit» ableitet, ist ein Aus-

druck für die irrationalen Bestandteile der religiósen Kategorie «hei-

lig», wobei nur der Erlebnisinhalt, aber kein Wertinhalt, also auch

kein sittlicher Inhalt, berücksichtigt wird. Dieser Ausdruck umschreibt eine ganz bestimmte Erlebnissphäre: die des religiôsen

Schauders, des «tremendum», die des religiôsen Erschauerns und Ergriffenseins durch das, was dem Menschen als das «Ganz-Andere» entgegentritt.

Es handelt sich also bei diesem Begriff um die FaBbarmachung und Bezeichnung eines Ur-Erlebnisses. Der Begtiff des Numinosen bringt jenen Grundsachverhalt zum Ausdruck, daB die Reaktion des urtümlichen Menschen auf Ereignisse, die er nicht begreift oder nicht versteht, eine gefühlsmäßige,

emotionale ist. In sublimierter Form

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Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

besteht das numinose Erlebnis auch noch in unserem Kulturkreis als Gefiihlsreaktion, von der beispielsweise jeder gläubige Katholik oder Protestant eine gültige Aussage machen kann, wenn er an seine religiôse Ergriffenheit zurückdenkt, an den «frommen Schauder», welcher ihn während der sakramentalen Handlung erfaßte. Und schließlich finden Sie in der modernen Psychologie, in jener von C. G. Jung, die Anerkennung dieses numinosen Erlebnisses, da er als einziger der modernen Psychologen die religiöse Komponente in der Psyche des heutigen Menschen anerkennt und auch dieser religiösen Komponente neben der von Freud nachgewiesenen Triebkomponente einen persönlichkeitsformenden und persönlichkeitsbestimmenden Wirkungscharakter zuschreibt. Doch wir dürfen uns vorerst noch nicht bei den Psychologen aufhalten, wenn wir der Entstehung des Seelenbegriffes nachgehen wollen. Nicht Psychologen, selbst nicht Theologen oder Religionshistoriker wie Rudolf Otto und G. van der Leeuw sind es gewesen, die Licht in jenes Dunkel warfen, sondern es waren Ethnographen, die uns das Schlüsselwort in die Hand spielten, welches auch die Formulierung des Begriffes «numinos» erst ermöglichte. Dieses Schlüsselwort heißt «Mana». Mana ist ein melanesischpolynesisches Wort, welches zum erstenmal in einem Briefe von R. H. Codrington erwähnt wird, den Max Müller, der große Oxforder Indologe, 1878 veröffentlichte. Codrington selbst definierte es in seinem Briefe und in seinem 1891 erschienenen Werke «The Melanesians» wie folgt: «Es ist eine Macht oder eine Einwirkung, nicht physisch und in gewissem Sinne übernatürlich; es offenbart sich aber in körperlicher Kraft oder in jeder Art Kraft und Fähigkeit, die ein Mensch besitzt. Dieses Mana ist nicht an einen Gegenstand gebunden, kann aber von fast jedem Gegenstand übertragen werden. Gei-

ster ... haben es und können es mitteilen... Die ganze melanesische Religion besteht faktisch darin, daB man dieses Mana für sich selbst erwirbt oder macht, daß es zum eigenen Vorteil angewandt wird» («The Melanesians»,

S.118, Ai)

Diese aufschluBreiche Definition

kommentiert G. van der Leeuw in seiner hervorragenden < Phanomenologie der Religion» (Mohr, Tübingen, 1933, 2.Α., S. 5) auf Grund weiteren parallelen Materials aus anderen Kulturkreisen als dem melane-

sischen mit der Feststellung: «Überall, wo sich etwas Ungewöhn-

liches, Großes, Wirksames, Erfolgreiches zeigt, spricht man von Mana.» Was «natürlich», d.h. zu erwarten ist, gibt nie Anlaß zur Erkenntnis des Mana. «Ein Ding ist Mana, wenn es wirkt;

es ist nicht

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

20

Mana, wenn es nicht wirkt», sagt ein Einwohner der Insel Hocart... Es (das Mana) bedeutet ebensowohl Glück, veine, wie Macht.» Schlie-

Ben wir an diese Definition noch an, was hinsichtlich der

«Macht»

Rudolf Otto in «Das Gefühl des Uberweltlichen (sensus numinis)»

(1932, S. 55) sagt: «Das, was als die «Macht» erfaßt wird, wird gleich-

falls als ein Tremendum erfaßt. Sie macht ihre Objekte «tabu», so schließt sich die bisher gegebene Begriffskette von numinos, tabu (= das Heilige) und mana (= die Macht) in dem Sinn, daB in der religionshistorischen Interpretation tabu das Numinose als solches, mana dessen dynamischen Charakter bedeutet.» Die

Urerlebnisse

des

frühen

Menschen,

diese

Erlebnisse

des

Numinosen, welche ihm eingaben, jenen Dingen, Ereignissen oder

Handlungen, die er numinos aufnahm, Mana-Charakter zuzusprechen, liegen dem Seelenbegriff zugrunde. Dies muß betont werden,

weil der verdienstvolle Æ.B. Tylor in seinem 1872 veröffentlichten Werke: « Primitive Culture», das 1873 bereits auch deutsch unter dem Titel «Die Anfänge der Cultur» erschien, jene Theorie aufstellte,

welche unter dem Namen «Animismus» (= Beseelung) noch heute eine gewisse Giiltigkeit hat; diese Gültigkeit müssen wir allerdings

heute psychologisch gesprochen dahin einschränken, daß der Animis-

mus, wie wir meinen, nur noch als das aufzufassen wäre, was wir mit seelischer Projektion bezeichnen. Die Einwände, die gegen die Richtigkeit des Animismus vorzubringen sind, wurden vor allem von

J. G. Frager in seinem großen Werke «The Golden Bough» seit 1900 formuliert und dann von R.R. Marett in seinem «The Threshold of Religion» seit 1909, der dem Animismus einen Präanimismus, auch Animatismus (= Belebung) genannt, gegenüberstellte; diesen Theorien gegenüber stellte Lévy-Bruhl 1910 in seinem Werke «Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures» jene Partizipationstheorie auf,

die besonders der neueren Psychologie eine gute Arbeitshypothese

an die Hand gab, vor allem, seitdem C.G. Jung den entscheidenden

Begriff von Lévy-Bruhl, den der «participation mystique», in «parti-

cipation inconsciente» umformulierte. Diese drei Ursprungsthesen für das seelisch-religiöse Erwachen der Menschheit: Animismus, Prä-

animismus oder Animatismus, sowie die Partizipationstheorie erhielten eine weitere Abklärung durch N. Söderblom in dessen Werk < Das

Werden des Gottesglaubens», das 1915 auf schwedisch, 1916 auf deutsch erschien, und schlieBlich seit 1917 durch die bereits zitierten Schriften von Rudolf Otto. Die zwei letzten großen Arbeiten, welche die

Ergebnisse

all dieser Forschungen

und

Thesen

zusammenfassen,

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Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

sind dann vom religionshistorischen Standpunkt aus die bereits erwähnte «Phänomenologie der Religion» von G. van der Leeuw, vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus die Arbeit von Her-

mann Schmalenbach aber « Die Entstehung des Seelenbegriffes», welche in «Logos» Bd. XVI, 1927, S.311-355, erschien. Religionshistorisch

nimmt sie die Ergebnisse von Rudolf Otto auf, psychologisch-philo-

sophisch steht sie noch deutlich im Cartesianismus, dessen Gleich-

setzung von Seele und Bewußtsein auf Grund der neuesten psychischen Forschung nicht mehr haltbar sein diirfte, worauf wir noch

zurückkommen werden. Vorher wollen wir noch untersuchen — um

nach diesen mehr theoretischen Ausführungen ins Konkretere einzutreten —, was alles AnlaB des numinosen Erlebens sein kônnte. Wir

folgen dabei der Zusammenstellung H.Schmalenbachs, welche fast

alle ethnographischen und religionshistorischen Befunde beriicksichtigt: Er schreibt (l.c. S.318fl.):

«Gegenstand des numinosen Erle-

bens kann alles sein, doch hat manches besondere Eignung dazu. Wie das Erleben als solches eine Entrückung aus dem Gewohnten ist (den Charakter des «Ganz-Anderen» hat), so wird es seine Gegen-

stände mit Vorzug außerhalb der Alltäglichkeit finden. Anderseits ist einiges durch seine inhaltliche Beschaffenheit gesteigert qualifiziert, numinos das Gemüt zu erregen. So das quellende und gerinnende, rauschende und riechende Blut; Herzschlag und Atem von Schlafenden.

Die Schatten in der Mittagssonne,

am Abend, in der

Nacht. Dann der Tote, der starr daliegende Leichnam und der Phallus. Die ganze Sphäre des Phallischen. Traumbilder und Namen.

Auch der metallische Leib von Eidechsen und Schlangen und das urweltliche Auge des Rindes. Nachttiere wie Eulen und Fledermäuse.

Überhaupt das Tierische vor dem Menschlichen, der Tod vor dem

Lebenden. Dazugehörig die Scheibe oder die Sichel des Mondes und sein unheimliches Licht. Phosphoreszierende Baumstrünke. Die irren Flämmchen über Sümpfen. Und manche Geräusche, zumal das des

Schwirrholzes... Trommeln, Becken und Pfeifen... Schlechthin alles

(kann) Gegenstand des numinosen Erlebens werden... Auch das Alltäglichste und dem einfachsten Gebrauch Dienende. Etwa der Stein vor meiner Türe, den ich bei jedem Ausgang trete, der mir aus

langer Gewohnheit vertraut ist und der weiter keine Bedeutung zu

haben scheint, als eine den Weg ebnende Platte vor meiner Schwelle zu sein: Eines Tages in der Mittagssonne ist ein geheimes Sichregen

in ihm, blinzelt er mich auf eine seltsame, verborgene Weise zugleich gefährlich und verlockend an; der Schauder faßt mich, und vielleicht

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

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werde ich mit sich sträubenden Haaren verjagt; siegt darüber die andere Seite des doch ebenfalls in mir lebenden Angezogenwerdens

und kehre ich, ohne jedoch die «Scheu» ganz zu verlieren, zurück ... so nehme ich wohl den Gegenstand an mich, in der Meinung, daran einen kostbaren Schatz zu besitzen, der wunderbare Kräfte enthält

und mich als seinen Eigentümer ihrer ebenfalls teilhaftig macht.» Dank den religionshistorischen Untersuchungen (vor allem dank

Söderbloms und van der Leeuws sichtenden Arbeiten) wissen wir

heute, daß alle jene frühen Begriffe, die man bis vor nicht zu langer

Zeit mit Seele, Geist und Gott übersetzte, durch die Vorstellung

von der Macht, Mana, eine bessere Erklärung finden. Bei allen diesen Begriffen, handele es sich nun um das ägyptische «ba», «ka» und

«iachw», um die alt-iranischen «/rawaschi», um die mexikanischen

« muitsix, um die zahllosen sogenannten Seelenbezeichnungen der verschiedensten frühen Kulturen oder um die Fülle numinoser Be-

zeichnungen selbst noch bei Homer, wo nicht nur ψυχή Seelencharakter hat, sondern auch ἦτορ, κῆρ, νυός, ϑυμός, βουλή, μένος, μῆτις -bei allen diesen Begriffen sehen wir uns primar numinosen Gebilden gegenüber. Ihre Ausdeutung geht in verschiedenen Richtungen: sie können

Seelen werden

oder

Geister oder Dämonen

oder

Götter;

können — wie das u.a. beim «ka» und «frawaschi» der Fall gewesen

zu sein scheint, Wesen, d.h. Mächtigkeiten, sein, die erst nach dem

Tode des Menschen eine Rolle spielen: dann ist es die von ihnen gegangene Lebenskraft oder Lebensmacht. Und diese Verbindung des

Numinosen mit der Lebensmacht, welche Verbindung auch die Dyna-

mik des Numinosen unterstreicht, ist außerordentlich wichtig. Schon

Söderblom (l.c. S.81) weist auf diesen Umstand hin, wenn er sagt: «Wie nah Kraft und Seele zusammengehôren, zeigt auch das hebräische «refeschr, das Wort für Seele, für das Lebensgebende im Men-

schen...»

Wie sich nun aus dem Dschungel der vielfältigen «Seelenvorstel-

lungen» die Seele herauslöste, das zu übersehen oder zu verfolgen ist

bisher noch kaum geglückt. Einen systematisierenden Versuch, den eindringlichsten, der bis heute vorgenommen wurde, unternahm van der Leeuw. Er brachte einige Ordnung in die erdrückende Vielfalt der numinosen Vorstellungen, deren Wirrnis fast undurchdringbar scheint. Was Sie allein bei Frazer an numinosen Spielarten finden,

übersteigt das seelische Fassungsvermögen des Durchschnittsmen-

schen: Nicht nur, daß einzelne frühe Stämme dem Menschen bis zu

dreißig Seelen zuordnen, daß in den Pyramidentexten der tote und

32

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

darum desto mächtigere König bis 14 «kas» besitzt — es gibt nicht

nut Namenseelen, Blut-, Atem- und Schattenseelen; es gibt solche, die den Leib erst im Tode verlassen, andere, die ihn schon im

Leben verlassen, wieder andere,

die ihn voriibergehend verlassen,

und es gibt solche, die nach der Trennung vom Körper ein Sonderleben annehmen oder womöglich überhaupt ein Sonderleben haben; es gibt

menschliche,

tierische, pflanzliche

Bergen, Höhlen, Gewässern und Dingen.

Seelen

und

solche

von

Diese Aufzählung vermittelt Ihnen vielleicht eine Vorstellung von

der Dynamik, Mächtigkeit und Vitalität, die, kaum gezügelt, die von

keinem intelligiblen Vermögen geordnet, die Welt des sogenannten

Primitiven bzw. des magischen Menschen in Bann und Bewegung erhält.

Nur dann, wenn man sich in der gedrängten Form, wie wir es

hier unternahmen,

mit der Machtfülle der numinosen Inhalte kon-

frontiert, vermag man zu ermessen, welch ein ungeheurer Schritt an Distanzierung

und

Entäußerung

psychischer

Energetik

geleistet

werden mußte, bis um das Jahr 500 v.Chr. ein erstes intelligibles Vermögen durchaus sprunghaft in Erscheinung treten konnte: jenes

γοεῖν εστι εστιν (jenes «Denken ist Sein») des Parmenides, das wir bereits erwähnten. Dieses «Noein», dieses Denken, stellte sich der

«Psyche» gegenüber, welche noch für Homer sowohl Seele als Leben bedeutete. Jetzt erkennen wir den Zusammenklang dieser beiden Begriffe. Ja selbst in der Seelenlehre des Aristoteles hat die

Seele als Lebensseele vor allem noch die Akzentuierung von Lebenskraft, trotzdem gerade er das der Seele innewohnende dynamische

Prinzip, jenes «Autokineton», das sich selbst Bewegende, vergeblich

zu bekämpfen suchte. Dieser Kampf spiegelt sich deutlich in seiner Schrift

«Über die Seele»; dem

3.Kapitel des I. Buches

(4062-407),

wo er seine «Bedenken gegen die Bewegung der Seele» vorträgt, folgt dann im z. Kapitel des II. Buches (413b) jene Definition: «...daß die Seele durch vier Vermögen bestimmt wird: durch die Erinnerung, die Wahrnehmung, die Denkkraft, und die Bewe-

gung» (zitiert nach der Meiner-Ausgabe). Wir sehen also, daß selbst noch in den rationalistischen Anfängen der abendländischen Philosophie der ursprüngliche, numinos-dynamische Charakter dieses Be-

griffes durchscheint. Wie aber, so werden wir fragen, ist denn das Verhältnis der Seele zum Geist? Dazu müssen wir feststellen, daß es ursprünglich so

wenig einen Geist-Begriff als einen Seelen-Begriff gab. Aus den numi-

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

33

nosen, manabehafteten Vorstellungen lösten sich allmählich nicht de Seele oder der Geist, sondern Seelen und Geister. Der erste uns wirk-

lich faBbare Seelenbegriff ist die griechische «Psyche». Der erste an den Begriff «Geist» streifende Geistbegriff ist der griechische «nous» der Vorsokratiker; zwischen ihnen beiden steht das Pneuma, das noch

deutliche Spuren einer «Hauch- oder Atem-Seele» trägt, das von

manchen wie von H. Leisegang als «Geist» aufgefaBt wird, diesen Geist-Charakter aber erst durch das «Hagion» (= Heilig) des Neuen

Testamentes erhalten haben diirfte.

Halten wir hier in unserer Darstellung, bevor wir uns mit dem

Geistbegriff beschäftigen, inne. Vergegenwärtigen wir uns dagegen, inwiefern Mana und Seele gleichsetzbar sind. Da ist nun auf einen wichtigen Umstand hinzuweisen: die Manavorstellungen zeigen schon sehr früh einen gewissen Doppelcharakter, denn wir kônnen,

ja müssen auf Grund des unerhört reichen vorliegenden ethnographischen Materials zwischen dem Mana des Lebenden und dem Mana des Toten, also zwischen Lebens- und Toten-Seelen unterscheiden.

Wie fundamental dieser Unterschied von Lebens- und Toten-Seele ursprünglich ist, das wird Ihnen deutlich, wenn Sie beispielsweise unter diesem Gesichtspunkt einmal Erwin Rohdes Werk «Psyche», das von dem «Seelencult und Unsterblichkeitsglauben der Griechen» handelt, lesen, in dem er vornehmlich dem Wesen der Totenseele

und den damit verbundenen Vorstellungen von der Unsterblichkeit und der Seelenwanderung nachgeht. In der Vorstellungswelt des magischen Menschen nun ist es das Mana der Toten, das beispielsweise wirksam ist, wenn der Tote, er also, der doch starb, ihm im Traume begegnet; und das Mana des Toten ist wirksam, wenn ihm

der Tote in der Erinnerung wiedererscheint; vor allem aber ist das Mana

des Toten, oder seine Seele, weiterwirkend und damit eben

auch weiterlebend, vorhanden in dem Überleben seines Namens, in dem

gehörten,

erinnerten,

geträumten,

Namens. Gerade dem Namen wohnt Charakter inne; nicht zuletzt ist in allem dem magischen Menschen die träger und Namen eigen. Bei dieser

halluzinierten

Hall

seines

ja besonders stark numinoser ausgesprochenster Weise vor Identifizierung von NamensGelegenheit sei auch auf die,

wie mir scheint, sehr wahrscheinliche Verwandtschaft der Wörter

Numen, nomen und Namen hingewiesen.

In der Tatsache, daß Lebens- und Totenseele ursprünglich getrennt voneinander waren, kommt unseres Dafürhaltens nach ein ausgesprochen tragisches Moment, das bisher gänzlich übersehen wurde, in das

34

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

Weltbild des Menschen dieser Struktur hinein. Denn Mana ist nicht nut «Macht», wie man

es bisher definierte, sondern zugleich auch

«Ohnmacht». Das Mana des Lebenden ist Macht gegenüber dem

Leben, ja dies Leben selbst; aber es ist Ohnmacht angesichts des

Mana des Toten! Zweifelsohne hat der Mensch danach getastet, diese

Spannung zu lösen; und diese Anstrengung machte ihn zu dem, was wit den magischen Menschen nannten. Seine Antwort auf das numinose Erlebnis des «Ganz-Anderen» war der Versuch, jenes «GanzAndere» in seine Macht, unter sein eigenes Mana zu zwingen. Derart zwang er den Regen durch den sogenannten Regenzauber in seinen Bann, derart zwang er die Vitalkräfte, eben das Mana oder die Seele, seines Feindes in seinen Bann; oder er schiitzte sich gegen das fremde Mana durch Abwehr- und Schutzzauber und Rituale; im

Zauber- oder Bann- oder Schutzkreis der alten und neuen Alchemisten, im magischen Kreis und in dem Spannungsfeld des magischen Quadrates lebt ja diese Abwehrmächtigkeit bis in unsere Tage hinein fort. Was nun zum Erstaunlichsten gehôrt, das ist die Tatsache, daB es dem frühen Menschen, môglicherweise aber erst dem mythischen Menschen gelang, eine Verbindung zwischen der Lebensseele und der Totenseele herzustellen. Wie diese Verbindung zustande kam, darüber kônnen wir rational nur Vermutungen aufstellen. Für den

frühen Menschen, der das diskursive Denken nicht besitzt, der nicht

logisch oder kausal folgert, mag sich eine Verbindung der beiden Manahaftigkeiten angesichts des Sterbenden ergeben haben. Akzeptieren wir diese von Schmalenbach (l.c. 5. 327) und anderen Autoren

dargestellte Möglichkeit, so können wir uns gut vorstellen, daß dies

unmittelbarste Erlebnis angesichts eines Sterbens, dieser Ubergang

von eben noch atmendem und klopfendem Leben in die Todesstarre

und deren neues numinoses Gesicht, eine Verbindung von Lebens-

und Todesseele zeitigt; in diesem Ubergang des Sterbens hat offenbar das «gleiche Mana» oder die «selbe Seele» ihre einen Augen-

blick vorher noch wirkende und auch da schon numinose Lebens-

macht verloren; dafiir aber hat die andere, zugleich verminderte, zugleich jedoch erhöhte «Seele» gesteigert numinose Todesmacht gewonnen. In diesem frühen Sichgegenüberstehen von Lebens- und Todes-

seele liegt ein Charakteristikum der Seele als solche verborgen, des-

sen weitreichende Bedeutung bisher immer übersehen wurde: ihr noch heute vorhandener Ambivalenzcharakter. Dabei ist es wichtig,

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

35

von einer ausgesprochenen Ambivalenz zu sprechen, welche wir be-

reits mit der Macht-Ohnmacht-Konfiguration, die dem Manabegriff

innewohnt, andeuteten. Keinesfalls darf diese Ambivalenz als Dua-

lismus gedeutet werden; damit wiirden wir in die Verflochtenheit

des frühen menschlichen Weltbildes eine rationale Interpretation hineintragen. Auf diesen Ambivalenzcharakter alles Seelischen werden wir zu sprechen kommen, wenn wir uns mit der späteren sowohl mytho-

logischen als philosophischen

als auch

mit der

psychologischen

Symbolik und Spekulation von und über Seele und Geist beschäfti-

gen werden. Denn ehe wir daran gehen kônnen, müssen wir noch

einige andere Fragen abklären.

IV

Ehe wir uns nun den Vorstellungen vom Geist zuwenden und dann seine Symbolik mit der von der Seele vergleichen, wollen wir noch

einmal das bisher Gesagte zusammenfassen. Wenn wir an all das zurückdenken, was im Verein mit den Begriffen: Geschichte, Seele und Geist bisher gesagt wurde, so ist es vor allem ein zentraler Begriff, dem wir dauernd wieder begegneten und der sich hinter allen Schlüsselwörtern verbirgt, die wir zur Aufhellung

unseres

Themas

heranziehen

muBten.

Er

steht hinter

dem

Worte «Numinos» genauso wie hinter dem Worte «Mana» oder hinter dem Worte «Magie». Sie wissen schon, worauf es herauskommt: auf die «Macht». Diese Macht miissen wir zuerst noch einmal etwas näher be-

trachten. Erlauben Sie mir dazu eine kleine Abschweifung; Als ich fest-

stellte, in welchem Maße unser Thema mit diesem Grundbegriff verkniipft ist, war ich zuerst tiberrascht und offen gestanden auch etwas beschämt, daß mein Thema mich gewissermaßen mitten in sie hineinführte.

Nun kônnte man den ganzen Sachverhalt mildern, indem man sagt, es handle sich bei allen diesen Begriffen und Wörtern nicht so sehr um Macht oder Mächte, sondern um Mächtigkeiten. Aber ich glaube,

wenn wir dies tun, schlagen wir nur einen sophistischen Purzelbaum. Vielleicht können wir den vorliegenden Sachverhalt akzeptieren, wenn wir die ganze Frage von einem konkreten, gewissermaßen

36

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

handfesten und alltäglichen Standpunkte

aus ansehen.

Und dazu

braucht man sich nur zu fragen: Warum interessiere ich mich fiir

Psychologie und andere ihr verwandte Dinge? Ich glaube, die Ant-

wort ist nicht schwer zu finden. Sie lautet ganz einfach: Weil ich, bewußt

oder unbewuBt,

glaube,

daß

mir

die Kenntnisse

und

die

Erkenntnisse der Psychologie nicht nur durch ein Mehrwissen Macht verleihen, sondern mir überhaupt Macht geben.

So weit ist dies alles noch durchaus akzeptabel, und wire es auch nicht akzeptabel, so würde es uns unser «common sense» lehren, es

zu akzeptieren. Aber wir müssen noch einen Schritt weitergehen als nur bis zu der Festellung, daB wir uns mit psychologischen Fragen und Problemen deshalb abgehen, damit wir Macht gewinnen. Und dieser Schritt weiter läßt sich sehr einfach in die Frage zusammen-

fassen: warum wollen wir Macht gewinnen? Bei der Beantwortung dieser Frage trennen sich aber grundlegend die Wege. Denn es gibt zwei Antworten auf diese Frage, von denen die eine akzeptabel, die andere, meinem persönlichen Dafürhalten nach, inakzeptabel ist. Die eine Antwort lautet: Ich will Macht gewinnen, um die anderen zu

beherrschen; mit anderen Worten: Ich gebe mich mit Psychologie

ab, um Mittel und Wege kennenzulernen, wie ich zu meinem persön-

lichen Vorteil mit meinen Mitmenschen am besten umgehe. Diese Antwort, besser: diese Einstellung, scheint mir inakzeptabel. Die

andere Antwort lautet: Ich will Macht gewinnen, um meiner selbst

mächtig zu werden, um mich selber beherrschen zu können. Diese Antwort oder Einstellung scheint mir vertretbar, ja sie dürfte sogar

mehr als dies sein: sie ist notwendig, denn nur so kommen wir zu dem, was der bloßen Macht entgegenwirken kann: zum Bewußtsein des Rechten. Lassen Sie mich einen Moment bei diesem Begriff verweilen.

Ich sagte: Bewußtsein des Rechten. Das ist eigentlich dasselbe, als spräche ich von einem weißen Schimmel. Warum? Das Wort: Recht

hängt aufs engste mit rechts zusammen: ein Zusammenhang, der bisher übersehen wurde! Das Recht und damit das Rechte ist also im

Gegensatz zum Linken die bewußte Sphäre par excellence. Und es ist zugleich nicht nur das Gerechte und das Richtige, sondern auch das Gerichtete. Dies ist es nicht bloß im Deutschen;

ich erinnere Sie an

die parallelen Bedeutungen von Recht und rechts in anderen euro-

päischen Sprachen: an das französische le droit und à la droite; an das spanische el derecho und a la derecha, usw. Wenn wir uns unserer uns innewohnenden Macht bewußt wer-

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

37

den — und dies vor allem heißt Psychologie treiben —, so bedeutet

dies, daß wir vor allem nicht Mächtige werden sollen, sondern Gerechte. Die Seele ist Macht; sie ist schlafende Macht, solange sie

unbewußt

ist, was aber ihre von uns unkontrollierte Wirksamkeit

nicht ausschließt. Die Bewußtwerdung dieser Macht sollte richtend

wirken. Und da wären wir von neuem bei einem Begriffe angelangt, den wir schon des öfteren gebrauchten und den wir jetzt kurz abklären müssen. Es handelt sich um das Bewußtsein. Bewußtsein ist auf die verschiedenste Weise definiert worden. Die

rationalste Definition, die cartesische, habe ich bereits früher erwähnt:

ihr zufolge ist Bewußtsein mit Seele gleichbedeutend. Die neue Psychologie, vor allem die Tiefenpsychologie, wies nach, daß diese Gleichsetzung unhaltbar ist. Bewußtsein wurde von anderer Seite mit den Wissensinhalten gleichgesetzt. Man sprach in diesem Sinne von einem historischen Bewußtsein,

einem

sittlichen Bewußtsein

Bewußtsein

ist mehr

usw.

und meinte damit

die wissensmäßige Präsenz historischer oder sittlicher Dinge oder Werte. Aber auch diese Definition scheint uns unhaltbar zu sein. als Wissen,

mehr

als bloße

Kenntnis

Erkenntnis-Befähigung, zufolge derer man etwas machen kann. Bewußtsein

ist, das müssen

oder

wir festhalten, postulierbar nur auf

Grund der Annahme eines Unbewußtseins. Insofern — nämlich seiner

Abhängigkeit vom Unbewußtsein wegen -- ist Bewußtsein eine see-

lische Funktion.

Oder besser: es ist auch eine seelische Funktion.

Es konstituiert sich durch das denkende Ich und durch das Noëma,

womit ich die einer bloßen Erkenntnis

überzuordnende

Zinsicht

bezeichnen möchte. Insofern nun das Denken an der Konstituierung

des Bewußtseins beteiligt ist, hat das Bewußtsein noch psychischen Charakter; insofern aber das Noëma, die Einsicht, bei seiner Konsti-

tuierung und Wirksamkeit eine Rolle spielt, ist es schon mehr als nur psychisch. In dem Augenblicke nämlich, da an der Konstituierung und Wirksamkeit des Bewußtseins das No&ma Anteil erhält, welches

Wort soviel wie geistiges Wahrnehmen oder geistige Einsicht bedeutet, ist die psychische Komponente des Bewußtseins, welche durch

das denkerische bzw. das rational-noétische Prinzip gebildet wird,

weitgehend überwunden. Dieses Noëma ist eine durchaus neue, sich erst in allerjüngster Zeit herausbildende Fähigkeit des Menschen, worüber wir noch zu sprechen haben werden. Hinsichtlich seiner sei jetzt nur angemerkt, daß es insofern eine gewissermaßen extra-

psychische, eine meta-psychische oder außer-seelische Fähigkeit ist,

38

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

als es, dieses Noéma,

diese Einsicht, einerseits ein, wie es das Wort

schon sagt, Hineinsehen ist; und wir dürfen ergänzen: ein Hineinsehen in die Seele; und andererseits ist es auch ein Einig-Sehen, ein

In-eins-Sehen, also ein Zusammen-Sehen der einzelnen Teile: also ein

Akt des Integrierens und des Richtens. Wir müssen uns grundsatzlich darüber klar sein: BewuBtsein haben erschöpft sich nicht bloß im formalen Wissen, ja selbst nicht im verarbeiteten Wissen. Bewußtsein erhellt sich durch die Einsicht, welche

nicht nur insofern psychisch komponiert ist, als sie nur auf Grund von tatsächlich verarbeitetem Wissen zustande kommt, sondern die, um

jenes Mehr sein zu können, welches das Bewußtsein zu einem richtenden Bewußtsein erhebt, teil hat an jener Komponente, die als richtende, normgebende der bloß seelischen Macht nicht nur gegenübersteht, sondern eben diese Macht einsichtig richtet. Als diese normgebende, normative, richtende Komponente müssen wir das Geistige ansprechen. Wir nehmen damit eine spätere Schlußfolgerung voraus. Es scheint aber nötig, dies hier zu tun, denn es geht nicht an, daß wir Stunde um Stunde uns hier lediglich mit dem Machtaspekt unseres Themas beschäftigen, bis uns womöglich

die Übermächtigkeit desselben bedrohlich und verwirrend wird. Es

war deshalb absolut notwendig, daB wir der bisher ungebändigten

Fülle der Macht, die sich vor uns ausbreitet, das normative Element

entgegenstellten, um uns wenigstens darauf besinnen zu können, daß es in diesem Gewebe seelischer Mächtigkeiten ein strukturelles Element gibt oder geben könnte, welches einen Sinn, einen «sens»,

gewissermaßen eine Richtung in dasselbe hineinbringt.

Freilich hätten wir das auch einfacher haben können; dann näm-

lich, wenn wir vom religiösen Standpunkt aus an diese Frage herangetreten wären. Dann nämlich beinhaltet bereits der Begriff des Theologen Rudolf Otto vom Numinosen eine überweltliche Macht, eine gottheitliche, welcher sich der Mensch gläubig unterwirft. Diese für einen Theologen mögliche Vorgabe, daß die Macht, das Mana, nicht einfach bloß Macht oder Mächtigkeit sei, die im numinosen Erlebnis manifest wird, sondern daß sie göttliche und waltende Macht sei, können wir nicht einräumen, solange wir rein phänomenologisch den Erscheinungsformen und Werdeformen der Seele nachgehen. Trotzdem müssen wir jetzt versuchen, die Hintergründe des Numinosen zu erhellen. Ob wir heute, ganz allgemein gesprochen, schon so

wach

sind,

dies

tun

zu

können,

darf

man

bezweifeln.

Das

Numinose wurde mit bestem Grund als ein Ur-Erlebnis bezeichnet.

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

20

Ein solches ist es vom Menschen aus gesehen. Aber was ist es vom

Numinosen selbst aus gesehen? Ist es als solches eine Selbstauslösung? ein In-Erscheinung-Treten objektiver Mächte?, oder ist es tatsächlich nichts anderes als das, was man psychologisierend eine Projektion nennt? nämlich die Aufladung der Dinge, Ereignisse oder Handlungen des Außens durch die dem Menschen unbewuBt innewohnende psychische Energetik? Vielleicht gelangen wir zu einer teilweisen Beantwortung, wenn

wir zwei ergänzende Überlegungen anstellen. Die eine besteht darin,

daß die Fähigkeit für das numinose Erlebnis in dem Maße auslösende Faktoren verliert, in welchem die BewuBtwerdung fortschreitet: je bewußter der Mensch ist, desto weniger Handlungen, Ereignisse und Dinge kann er numinos erleben. Ein Gewitter beispielsweise hat für den frühen Menschen, ja hat noch für das heutige Kind numinosen Charakter;

es ist eine Macht, ja es ist Ausdruck einer

Macht des Ganz-Anderen; das rationale Wissen um die physikalischen Zusammenhänge dieser Naturerscheinung entkleidet es dieses numi-

nosen Charakters. Aber nun können wir etwas äußerst Merkwürdiges feststellen: in

dem Maße, in dem sich die Möglichkeiten der numinosen Erlebnisse

in der Natur vermindern, vermehren sie sich in der vom Menschen

geschaffenen Kunst: die Erschütterung, welche das Requiem Mozarts oder ein Gedicht Hölderlins auszulösen vermag, steht wahrscheinlich in nichts der urtümlichen Erschütterung eines naturhaften numinosen Erlebnisses nach! Und auch die freilich selteneren Fälle, daß ein Mensch durch einen philosophischen Gedanken erschüttert wird, wären hier zu nennen.

Dies wäre die erste Überlegung, die wir anstellen wollten: das

numinose Erleben vermindert sich einerseits mit der fortschreitenden Bewußtwerdung, verlagert sich aber dabei aus dem bloß Naturhaften in die Kunst.

Die andere Überlegung, die wir noch anstellen müssen, betrifft

das Numinose insofern, als es die Sehfähigkeit des frühen Menschen angeht. Alle Ethnographen, alle, die bisher über das Numinose oder über das Mana geschrieben haben, haben niemals berücksichtigt, daß

ja der frühe Mensch

ganz anders und ganz Anderes sah, als wir

heute sehen! Und zwar nicht nur im numinosen Erlebnis, sondern

ganz generell gesprochen.

Als ich Ihnen die Aura-Zeichnungen zeigte, gab ich Ihnen für das Sehvermögen des sogenannten Primitiven bereits ein Beispiel. Aus

40

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

ihm ging hervor, daß er teils mehr, teils weniger sah, als wir heute sehen. Jedenfalls sah er Kraftausstrahlungen, sah er die sich bewegende Kraft, sah er einen Teil des Mana einer Person. In diesem Sinne ist sein numinoses Erlebnis sehr viel realistischer und hand-

greiflicher, als es das unsrige hinsichtlich einer Komposition von

Mozart, eines Gedichtes von Hôlderlin oder einer Formulierung von Leibniz ist. Diese realistischere Sehweise kommt aber noch anderen-

otts zum Ausdruck. Wenn Sie einmal Gelegenheit haben, einen Blick

in jene Farbendrucke zu werfen, die im 16./17. Jahrhundert in China gemacht wurden, so werden Sie, bei genauer Betrachtung derselben,

bemerken, daB trotz klarer Konturierung der dargestellten Zweige, Bliiten, Steine usw. diese Dinge wie von einer von ihnen ausgehenden Ausstrómung umwoben sind. Wenn Sie die von Jan Tschichold herausgegebenen «Farbendrucke aus der Zehnbambushalle» oder jene aus dem «Lehrbuch des Senfkorngartens» ansehen, werden

Sie dies ohne weiteres feststellen kônnen, denn es handelt sich dabei nicht um ein malerisches Phanomen etwa der Art, wie es als Farb-

verbindung oder Farbenübergang von einem Gegenstand zum andern im Impressionismus zu beobachten ist. Es ist einfach so, daB der natürliche Mensch die den Dingen entstrômende Kraft noch sieht. Dasselbe gilt von den Edelsteinen und deren Kraft, um derentwillen

sie als Amulette dienten und dienen: der frühe und vor allem der

magische Mensch

spiirte diese Kraft der Steine noch.

Und

wenn

Ihnen dies unglaublich, womöglich wie eine Aufwarmung alten Aberglaubens erscheinen mag, so muß ich Sie auf die harmonikalen Untersuchungen der Edelsteine verweisen, die Hans Kayser in seinem Buche: «Akroasis» (S. 40) streift und anderenorts genauer ausführte. Jedenfalls erbrachte Kayser den Nachweis, daB, ich zitiere: «psy-

chische Resonanzen vom Menschen zur Materie», in diesem Falle zu

der psychischen Macht der Edelsteine, «bestehen». Um die Feststellung dieser psychischen Resonanz ging es mir. Sie

bringt uns

ein gutes Stiick weiter; denn hinter dieser Resonanz

steht ein dem Menschen und der Materie Gemeinsames, das Kepler und Thimus sowie anschlieBend an sie Kayser das «harmonikale

Gesetz» nennen, das wir, den Sinn der «Syneidesis» des groBen von Monakow ausweitend, als «Welt-Syneidesis» bezeichnen dürfen oder in unserer Sprache als das Richtende, als die Norm oder als das

geistige Prinzip ansprechen können. Dieses normative Prinizp hat

aber nichts mit Platons Ideen zu tun, welche

assoziieren könnten, da das Wort

«Norm»

Sie in dem Moment

fällt. Die Ideen Platons

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

41

sind Bilder, also durchaus seelische, psychische Mächte, denen die Abbilder im Materiellen entsprechen. Doch dies nur nebenbei.

Nehmen wir den Faden unserer Untersuchung jetzt dort wieder

auf, wo wir anlässlich zweier Überlegungen gewissermaßen zwei

neue Wege einschlagen mußten, die uns einerseits die Verlagerung des numinosen Erlebnisses, andererseits die Feststellung von der, Mensch und Materie gemeinsamen, psychischen Resonanz, welcher das geistige Prinzip zugrunde liegt, einbrachten. Diese beiden Resultate unserer Seitenwege erhellen nämlich auf eine glückliche Weise unsere ursprüngliche Frage nach dem Hintergrund des Numinosen. Wir konnten uns, weil wir mehr Wert auf das Ein-

sehen als auf den Glauben legen, nicht mit der religiösen Komponente des Numinosen, die es bei Rudolf Otto hat, zufriedengeben. So mußten wir fragen, inwiefern sich das Numinose als solches

konstituiert, anders ausgedrückt: ist es eine Selbstauslösung objek-

tiver Mächte oder nur eine Projektion menschlicher, psychischer Energetik in Dinge, Erscheinungen oder Handlungen, die von dieser Energetik psychisch geladen werden?

Ich glaube, wir können jetzt diese Frage teilweise zu beantworten wagen. In jedem Falle bleibt die Antwort ein Wagnis. Wenn wir die Wandlungsfähigkeit und damit die Konstanz des numinosen Anlasses, beispielsweise seine Verlegung von einem Gewitter in ein Gedicht, in Betracht ziehen; -- wenn wir andererseits die psychische Reso-

nanz, und das will sagen die Resonanz des Mana für Mensch und Materie, nachgewiesen fanden, eine Resonanz, der ein Gemeinsames,

Normatives,

Gesetzmäßiges,

Syneidesisches,

kurz

ein

Geistiges

zugrunde liegt, so geht aus diesen zwei Befunden möglicherweise folgendes hervor: Das Numinose ist psychologisch gesehen eine

Projektion, psychisch gesehen eine Resonanz; solange es ein nichteingesehener Vorgang ist, ist es eine Entsprechung von Innen und Außen, von Mensch und Welt, von Seele und Macht;

insofern es ein

eingesehener Vorgang ist, scheint durch ihn jenes Grundprinzip hindurch, welches wir das geistige Prinzip nennen wollen und durch welches die uns innewohnende Macht, die Seele, und die den Dingen innewohnende Macht, das Numinose, sich einerseits als Entsprechung aufheben und sich andererseits gegenseitig einsehen, so daß die Grundstruktur

der Welt,

also

die Grundstruktur

des

Waltenden,

unserer Einsicht zugänglich wird. Und noch etwas ist in diesem Zusammenhange zu sagen: Träger

dieser Einsicht, dieses Noëma, ist unser Bewußtsein und hat damit

42

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

teil am Geistigen; denn nicht der seelisch bedingte Denkakt, denn nicht irgendeine Schaukraft, überhaupt keine Kraft oder Macht

konstituiert von sich aus allein das BewuBtsein, das, nur insofern es

ein intelligibles Vermôgen des Menschen ist, einen psychischen Machtcharakter trägt, sondern das Bewußtsein ist zwar nicht der Geist, aber Trager und Funktion des Geistigen. Das BewuBtsein ist als

solches,

wie

wit

meinen,

eine

regulative

Funktion

zwischen

Intellekt oder Ratio einerseits und zwischen Seele mit ihrem Kôrper andererseits; mit anderen Worten: das BewuBtsein ist eine regulative Funktion zwischen Bewußtem und UnbewuBtem, zwischen Erkann-

tem und Triebhaft-Emotionalem Geistigkeit ist das noématische

usw. Dank Bewußtsein

seiner funktionalen gewissermaßen die

menschliche Antwort auf die Welt-Syneidesis, ist die im Menschen

sich manifestierende allgemeine, nämlich allen gemeine, Norm. Wo es nicht vermittelnd und richtend eingreift, entzweit sich das Leben, entweder in nackte Ratio und nackten, unlebendigen Intellekt, durch welchen das Leben ad absurdum geführt wird; oder das Leben tôtet

sich selbst durch einseitiges Uberhandnehmen der psychischen unkontrollierten Mächte, indem es zu einem Amoklauf wird, der — wie

die neueste Geschichte zeigt — stets in den Abgrund führt. Möglicherweise zielt die ganze Bewußtwerdungsmutation, welche wir zu schildern versuchten, auf die Herausarbeitung dieses von uns

formulierten Bewußtseins, das ein einsehendes und richtendes Bewußtsein ist, ab. Doch müssen wir hinsichtlich dieses Schlusses

eine große Vorsicht walten lassen: wir überschauen,

wenn

über-

haupt, nur einige Sprünge. Wir wissen nichts von dem noch Möglichen. Wir stehen mitten darin und können nur eine approximative, durchaus hypothetische Prognose wagen, da wir den ganzen Ablauf nicht zu übersehen vermögen.

Und nicht nur diese Vorsicht in der Beurteilung des Möglichen ist nötig. Wir müssen noch einen weiteren Vorbehalt hinsichtlich der Bewußtwerdung einfügen. Wir dürfen keinesfalls in den Fehler

verfallen, dem Bewußtsein alles überantworten zu wollen. Es handelt sich nicht darum, das Bewußtsein aufzublähen, es immer mehr

zu erweitern, sondern möglicherweise handelt es sich darum, sein Integrierungsvermögen zu intensivieren. Wir dürfen nicht vergessen, daß fast alle unsere wirklich entscheidenden Handlungen und

Reaktionen nicht vom Bewußtsein gesteuert oder gerichtet werden.

Die

Berufswahl,

die

Liebeswahl,

die

Krankheitswahlen,

um

nur

einige Stichwörter zu geben, erfolgen nicht aus bewußten Über-

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

42

Vegungen heraus; das aber will besagen, sie erfolgen nicht aus einer Situation heraus, die Zber ein vermutlich direktes Wissen die Reflexion

logt, sondern sie erfolgen spontan: es ist die Macht in uns, also Psychisches vor allem, das die Gestaltung unseres Lebens ausschlaggebend bewirkt. Aber es ist wichtig, dabei festzuhalten, daß Gestaltung aus psychischer Quelle heraus bewirkt werden kann; aus

dieser Tatsache spricht, daB etwas Normhaftes auch direkt sich durch

die Seele hindurch zu äußern vermag. In dem Maße, in dem ein Le-

ben, als Ganzes gesehen, mehr oder weniger gestaltet ist, dürfen wir

auf eine mehr oder weniger starke Beteiligung oder Manifestwer-

dung des normhaften, geistigen Prinzipes schließen. Ist dieses Prinzip sehr stark, so werden nachträglich die Grundkomponenten, denen zufolge die eine oder andere Wahl gerade so erfolgte, wie sie dann sich verwirklichte, auch bewußt werden:

das Bewußtsein bolt

meistens nach und klärt damit Zusammenhänge auf, die vorher uneingesehene waren. Außerdem trägt es dazu bei, uns jene Reaktionen zu erleichtern, welche für uns die richtigen sind. Ich möchte Ihnen kurz

ein Beispiel dafür geben, was ich, grosso modo, damit meine. Wenn wir uns bewußt wurden, daß wir auf gewisse Dinge mit einem spezifisch uns eigenen Affekt reagieren, indem sich unsere Reaktion

gewissermaßen mit zu viel psychischer Macht oder Energetik auf-

lädt, dann

wird

das, was

als Echo

zu uns zurückkommt,

unserer

zu starken Reaktion entsprechend disproportioniert, ja überproportioniert sein; dies Echo, das wir durch ein ungemäßes Verhalten auslösen, sind die auf uns zurückschlagenden sogenannten Schicksals-

schläge, Unglücke, Fehltritte, Mißgeschicke usw.: wir wurden, zu-

mindest vorübergehend,

aus der Bahn,

ja wir wurden aus unserer

wirklichen Richtung geworfen. Die Ausbalancierung unserer derartigen Reaktionen durch das Bewußtsein, die Einsicht in die Zusammenhänge der psychischen Mächtigkeiten in und außer uns, die Einsicht in das Numinose dank unseres Bewußtseins befähigt uns, jenem richtenden Prinzip, von dem wir oben sprachen, zum Durchbruch zu verhelfen.

Dieses Beispiel, falls wir es so nennen können, zeigt uns zweierlei:

die immanente und die realisierte Existenz des Normhaften ; mit ande-

ren Worten: sie zeigt uns die psychische und geistige Komponente

des BewuBtseins, von welcher wir vorhin sprachen. Wir werden noch

sehen, daß die Vorstellungen, die sich um den Geistbegriff ranken, diese Schlußfolgerungen zu bestätigen vermögen.

Bevor ich nun für heute schließe, möchte ich Sie noch bitten, auf

44

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

einen nicht unwesentlichen Grundaspekt all dessen, was bisher gesagt

wurde, Ihre Aufmerksamkeit richten zu wollen, zumal ich Ihnen ver-

sprechen kann, daß die nächsten, der Seelensymbolik gewidmeten Stunden, verglichen mit den heutigen, direkt vergniigliche sein werden. Was nun den erwähnten Grundaspekt unserer Ausführungen

anbetrifft, so darf ich daran erinnern, daß bisher des öfteren die

Rede von existentieller und essentieller Geschichtsauffassung war.

Ich versuchte sie an meiner Vier-Ebenen-Struktur zu veranschau-

lichen, und ich legte Wert darauf, von existentieller und essentieller

Auffassung zu sprechen. Es schien mir dies nötig, weil es heutzutage Mode

ist, vom

bloßen

Existentialismus

zu reden.

Soweit

dabei

Kierkegaard in Frage steht, ist dieser Existentialismus, wie mir scheint, noch durchaus akzaptabel. Wir können natürlich, und philosophisch gesehen ist dies ein grandioser, wenn auch einseitiger Ver-

such, alles auf die Feststellung reduzieren, daß nichts als unsere eigene Existenz für uns evident, unreduzierbar und einzigste Gewißheit sei; Kierkegaard bewahrte sich trotzdem die christliche Rückverbindung, d.h. die christliche Religio. Aber schon Heidegger, von den Gnostikern herkommend und diese leider einseitig in die bloße formalistische Begriffssphäre fortsetzend, endete beim Nichts; und hinter

Sartre steht bereits deutlich der negative Aspekt dieses Nichts: der höllische Abgrund des Ekels, die absolute Isolation des Einzelnen, die Kontaktlosigkeit, die Bezugslosigkeit. Nebenbei sei angemerkt,

welche Tragik hinter dem französischen «existencialisme» steht: Heidegger, in einem gewissen Sinne der Philosoph des deutschen Nihilismus, siegt über den «esprit français»; mit anderen Worten: der Sieger, Frankreich, wird vom Besiegten besiegt! Doch wie gesagt:

dies nur nebenbei. Worauf hinzuweisen es mir ankommt, das ist die Tatsache, daß aus allem, was wir bisher sagten, eines hervorgeht: die

Welt der Seele und des Geistes, die ich Ihnen zu schildern unternommen habe, ist der Welt des Existentialismus nicht nur entgegen-

gesetzt, sondern spielt auf einer anderen Ebene, sie hat gewissermaßen ein anderes Koordinationssystem. Sie ist, im Gegensatz zur Welt des Existentialismus, eine Welt des Kontaktes und der Bezüge. Sie ist sogar mehr als bloß diese Welt des Kontaktes und der Bezüge! Wäre sie das nicht, so wäre sie nur das Gegenteil zur Unwelt des

Existentialismus mit den entsprechenden, umgekehrten Gefahren. Unsere Welt der Seele und des Geistes ist darüber hinaus eine Welt der Gestalt und der Norm.

Ich glaubte dies noch erwähnen zu sollen; und ich hoffe, daB die

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

45

Vorausnahmen über das geistige Prinzip sowie dieser kurze Hinweis

auf den neuen Begriff des Noéma Ihnen den Charakter dieser Welt

der Seele und des Geistes deutlich machen konnten. Denn bisher haben wir vor allem eine Welt der Beziige kennengelernt, eine Welt des sich gegenseitig Bedingenden. Ich schilderte Ihnen das Bezogen-

sein von Vergangenem und Zukiinftigem anhand der Zitate des Arcipreste de Hita und des Garcilaso de la Vega: wir stellten die Präsenz der Geschichte fest sowie ihren numinosen Charakter, d.h.

ihre Macht und Wirksamkeit;

und wir stellten unser Bezogensein

auf sie fest, das sich in der Erinnerung manifestiert. Dann schilderte ich Ihnen das, was ich als die Mutationen der Bewußtwerdung bezeichnete, schilderte sie Ihnen durch die Herausarbeitung von vier Ebenen und unterstrich deren noch heutige Wirksamkeit in uns: jede Wirksamkeit ist aber ein Wechselspiel von Beziehungen, dem in unserem Falle die Struktur des Gewordenen als noch präsent uns

innewohnende Struktur zugrunde liegt. Danach gingen wir der Bildung des Seelenbegriffes nach, der uns das Spannungsfeld -- und wo Spannung ist, ist auch Bezogensein — des Numinosen, des Mana erschloB, wobei uns der Nachweis einer gewissen Polarität zwischen Lebens- und Todesseele die Mächtigkeit dieses Spannungsfeldes besonders eindrücklich vor Augen führte.

Schließlich gingen wir daran, in diese Schilderungen und Ausbrei-

tungen psychischer Mächtigkeiten jenes Element einzuführen, das ihre

Macht in Recht, ihr blindes Wirken in gerichtetes Wirken wandelt. Wir sprachen von der einsehenden, richtenden noëmatischen Funktion des Bewußtseins und fanden, daß durch dieses No&ma,

dieser

Einsicht, in den Gegebenheiten und Wirksamkeiten des Seelischen eine Komponente durchscheint und wirksam zu werden beginnt, welche wir als das normative geistige Prinzip zu bezeichnen wagten. Damit

traten wir aus der bloßen

Statik, der bloßen

Existenz

des

Ichs, aus seiner Isolation und auch aus der bloßen Dynamik der Seele, aus ihrem Nichts-als-verwoben-Sein heraus in jenen Bereich,

der sie beide umfassend zusammenhält, wir traten in den Bereich der ausser-seelischen, noëmatischen Norm.

Mit dem Hinweis auf die Präsenz der verschiedenen Mächte in uns, deren Ausdruck wir in den vier Strukturen fanden und die

wir in ans wiederfanden, können wir jetzt vielleicht ergänzend sagen, daß diese Mächte nur dem Uneinsichtigen blinde Mächte sind. Hinter

oder über diesen Mächten — auf die Lokalisierung kommt es hier

nicht an -- steht ein klares, auch uns richtendes, ein uns Richtung

46

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

gebendes,

ein uns

ins Rechte,

ins Bewußtsein

führendes

Prinzip,

welches wir uns entschlossen, das geistige Prinzip zu nennen. Die Mächtigkeit der Seele, die uns erschüttern kann und die uns damit vielleicht ins Erwachen treibt, diese Mächtigkeit der Seele wird gebannt durch die Klarheit des Geistigen. Und dieser Klarheit wollen wir nachzugehen versuchen. Und wollen es mit jener Behutsamkeit tun, die einzig und allein diesem Thema

gegenüber

sich

ziemt, mit jener Behutsamkeit, die diesem Thema gemäß ist; so kön-

nen wir vielleicht hoffen, daß wir ihm gerecht werden. V

Nachdem wir uns bisher vor allem mit der Abklärung des Bewußtseinsbegriffes abgegeben haben, möchte ich heute den Ariadnefaden unserer Untersuchung dort wieder aufnehmen, wo wir ihn das letztemal, am

Schluß

der ersten Stunde, liegen ließen. Und

ich glaube,

es ist gut, dies zu tun, ohne einen allzu langen Unterbruch

ein-

treten zu lassen; es könnte sein, daß das gerade um ein geringes aufgelichtete Dunkel des seelischen Labyrinthes schneller wieder

eindunkelte, als uns lieb wäre. Erinnern wir uns also daran, bis an welche Stelle wir in der Ver-

folgung unseres Themas gelangten. Wir hielten inne in dem Moment,

da wir auf die erste begriffliche Formulierung des Numinosen stie-

Ben: auf die griechische Psyche. Und wir führten daran anschließend

aus, daß dieser Psyche ein Doppelcharakter innewohne, da sich von allem Utsprung an neben einer Todesseele eine Lebensseele nach-

weisen läßt. Dieser ambivalente Charakter des Psychischen ist es, der uns nun vor allem interessiert. Soweit ich die psychologische Literatur übersehe, wird in ihr wohl hin und wieder von einer Ambivalenz

der Seele gesprochen, aber das Wieso oder Warum

dieser Ambi-

valenz, scheint mir, wurde bisher nicht erkannt. Meine Vermutung,

ihr läge der oben genannte ursprüngliche Doppelaspekt zugrunde,

dürfte hier vielleicht aufschlußreich sein. Dieser Ambivalenz alles Seelischen sind Sie in Ihren psychologischen Studien ja des öfteren

begegnet: Ich erinnere Sie lediglich an den ambivalenten Charakter

des Traumes; jeder Traum ist, objektiv betrachtet, stets ambivalent deutbar, also eo ipso nicht nur zweideutig, sondern auch zweiwertig;

das gleiche gilt vom Mythos und damit von jeder mythologischen Interpretation. In dieser Ambivalenz, die durchaus nicht als eine

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

47

Wertminderung aufzufassen ist, kommt der Einheitscharakter des Psychischen auf seine ihm eigene dynamische Weise zum Ausdruck; daB unsere Ratio schwer mit ihm zu Rande kommt, ist nicht weiter

verwunderlich, seitdem wir wissen, welche Mächtigkeiten im Psychi-

schen liegen bzw. von welcher Mächtigkeit das Psychische ist. Ich würde Ihnen jetzt gerne eine vielleicht nicht ganz harmlose Untersuchung ersparen. Aber wir können ihrer nicht entbehren, wenn wir jener Klarheit des Geistigen auf die Spur kommen wollen, von

der ich Ihnen das letztemal abschließend sprach. Glauben Sie bitte

nicht, daß ich mich oder das zu Sagende durch diese Apostrophierung interessant machen wolle. Es ist mir bitter ernst mit dieser Feststellung: nicht alle, die sich auf das Meer der Seele hinauswagten, kamen zurück; nicht alle, die sich dem Flug der Seele anvertrauten,

kehrten wieder. Das Schicksal Stifters und das Hölderlins dürften

Beweises genug dafür sein. Wir stehen dem Abgrund viel näher, als

ein jeder von uns es wahrhaben will. Aber es ist gut, einzusehen, daß wir selbst dieser Abgrund sind; und vor allem: einmal muß ein jeder von uns ihn einsehen und damit überwinden, spätestens in seiner Stunde

des Sterbens, die dann freilich, wenn

es erst in ihr

geschieht, eine angstvoll-bittere sein wird. Halten wir die soeben erwähnte Konfiguration fest, denn sie enthält die Stichwörter, auf die es ankommt: das Meer und den Flug; anders ausgedrückt: das Wasser und die Luft.

In der bildlichen die Pyramidentexte für die Seele auf außer in bildlichen allem

Symbolik, zu der wir in gewissem Sinne selbst rechnen dürfen, ist vor allem die Luft-Symbolik uns gekommen, während die Wasser-Symbolik Andeutungen einen sprachlichen Ausdruck vor

bei Heraklit fand,

da wir bei ihm

von

einer

definierenden

Symbolik oder, wenn Sie wollen, von einer symbolischen Definition

sprechen können.

Um es jedoch gleich zu sagen: wenn ich Ihnen jetzt diese Symbolik schildern werde, so liegt dieser meiner Schilderung nicht irgendeine

gewollte Auswahl zugrunde, sondern diese Auswahl ergibt sich auf

die natürlichste Weise aus dem oft erwähnten Doppelaspekt der Seelenvorstellungen. Das ungemein reichhaltige Material — es ist so reichhaltig, daß einem darüber die Luft ausgehen bzw. daß man in

ihm ertrinken könnte -, dieses reichhaltige Material erlaubt es uns

und bestätigt es von sich aus, daß wir jene Charakteristika, die ich heute herausarbeiten werde, betonen dürfen, da die Unzahl der ande-

ren Charakteristika durchaus als Spielarten der von mir hervorzu-

48

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

hebenden anzusprechen sind. Diese beiden Charakteristika sind symbolische Zuordnungen für die Todesseele einerseits, für die Lebens-

seele andererseits. Sie sind so widersprüchlicher Art, daB nur diese Zuordnung sie erklärbar macht. Dabei will ich das Wasser, dessen

Prädikat stets vornehmlich «lebendig» war, der Lebensseele, die Luft aber, die als Hauch oder Vogel oder irgend etwas Fliegendes anschaulich gemacht wurde, der Todesseele zuordnen.

Betrachten wir zuerst die Symbolik der Todes- oder Totenseele.

Die Forschungen der Agyptologen wie Lepsius, Maspero, Breadsted, Naville, Ermann und Sethe sowie das große, aufschlußreiche Werk

«The book of the dead», das «Agyptische Totenbuch» von Budge,

erschlossen uns jene Pyramidentexte, aus welchen hervorgeht, daß

das «ba» der Ägypter, welches wir bereits erwähnten, ein beschwing-

tes Wesen war, ein Seelenvogel, der den Menschen im Augenblick

des Sterbens verläßt und der später die Mumie des Toten besucht. Die griechische Mythologie übernahm diese Vorstellung des Seelen-

vogels. Er wurde später, dabei durchaus menschliche Gestalt annehmend, zum Engel. Den ägyptischen Urtyp erkennen wir deutlich in den

griechischen

Harpyien

wieder;

diese sind zusammen

mit

den harpyienfüßigen Sirenen Gegenbilder der Musen, von denen

wir bei anderer Gelegenheit

sehen werden,

daß sie den anderen

Seelenaspekt, den Wasseraspekt der Seele, zam Ausdruck bringen. Hier sei im Vorübergehen noch auf einen Zusammenhang hingewiesen, der unser heutiges Thema als Ganzes erhellen kann und dessen Hintergrund bisher nicht beachtet wurde. Ich spiele auf den Ihnen aus der griechischen Mythologie bekannten Kampf der Musen mit den Sirenen an. Nach dem soeben Gesagten dürfte es deutlich sein, daß in diesem Kampf die Auseinandersetzung des mythischen Griechen mit jenen zwei Seelen zum Ausdruck kommt, von deren Formulierung wir letztlich erst seit einigen Jahrzehnten auf Grund der Forschungen jener Gelehrten wissen, deren Namen ich Ihnen

nannte. Von diesen zwei Seelen, von diesen zwei Mächtigkeiten in

uns, spricht Goethe in seinen Ihnen aus dem «Faust» bekannten Versen; ich will sie Ihnen zitieren, und

Sie werden

ohne weiteres

die von uns hervorgehobenen Aspekte derselben in jenen Versen wiedererkennen: «Du bist dir nur des einen Triebs bewußt; O lerne nie den andern kennen! Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,

Zut Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

49

die eine will sich von der andern trennen; die eine halt, in derber Liebeslust, sich an die Welt, mit klammernden Organen;

die andre hebt gewaltsam sich vom Dust

zu den Gefilden hoher Ahnen.»

Und anschließend an diese Verse möchte ich Sie auf eine wissenschaftlich empiristisch erarbeitete Formulierung unserer Tage hin-

weisen,

die, wie mir scheinen will, sobald

sie in den soeben auf-

gezeigten Zusammenhang gestellt wird, jene Tiefe und GrôBe erhält, welche ihr innewohnt, welche man ihr aber von vielen Seiten immer

noch nicht zugestehen will. Ich spreche von der Formulierung Sigmund

Freuds,

daB

dem

Menschen,

wie er es nannte,

sowohl

ein

« Lebenstrieb» als auch ein «Todestrieb» innewohne. Ich glaubte, eine Erklärung dieser

Formulierung erübrigt sich, denn es ist nach allem,

was wir bisher über den Mana-Charakter der Seele und der ihr eigenen vitalen Dynamik sagten, offensichtlich, daß der Freudsche Aus-

druck «Trieb» sich genau mit jenen Charakteristika deckt.

Doch kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück: Die Vor-

stellung von der Seele als einem beschwingten Wesen treffen Sie

auf zahlreichen griechischen Darstellungen, vornehmlich der Vasen-

malerei: so wird sie oft als Schmetterling dargestellt und ist uns,

auch textlich in einer Schrift des Varro, als in der Biene symbolisiert

überliefert. Hinzu kommt jene späte, schon fast allegorische Darstellung, die auch das Wort Psyche selbst ins Bild umsetzt: ich meine jene geflügelte Psyche, die Ihnen allen bekannt sein dürfte und die Sie oft auf den griechischen Darstellungen von Sterbeszenen sehen, wo sie dem Munde des Sterbenden entfliegt. Hinsichtlich des Wortes «Psyche» muß ich noch, das Gesagte ergänzend, nachtragen, daß es sich von dem Verbum «psychein» ableitet, welches «hauchen» bedeutet. Wir müssen nun hier unsere Darstellung der Todes-

seele und ihrer Symbolik abbrechen. Doch möchte ich es nicht tun, ohne Sie auf jene weit ausgedehnten Vorstellungskreise hinzuweisen, die sich um die geschilderte Symbolik der Seele als eines Hauchoder Luftwesens rankt: denn an diese knüpft sich, wie Sie ohne weiteres verstehen werden, jene unendliche Reihe von Vorstellungen

an, welche die Unsterblichkeit der Seele zum Gegenstand haben, und in diese hinwiederum flechten sich die unzähligen, vielschich-

tigen Vorstellungen ein, welche der Vorstellung der Seelenwanderung zugrundeliegen; hier hinein spielen ferner die uralten Vorstellungen

so

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

astraler Art von der Seelenhaftigkeit der Gestirne, also jene astrologischen Vorstellungen, denen die Manahaftigkeit vor allem der Planeten zugrunde liegt und über welche kein Geringerer als Platon

im AnschluB an pythagoreische Lehren und eingedenk seiner Einweihung in die ägyptischen Geheimlehren ausführliche Theorien hinterließ.

Auf eine besondere Vorstellung dagegen, die dem Manakreis der Todesseele angehört, möchte ich noch kurz eingehen, weil uns diese später, wenn wir uns mit den Vorstellungen vom Geist beschäftigen werden, sehr hilfreich sein wird. Diese Vorstellung betrifft die Verwandtschaft der Todesseele mit dem Monde. Dem lunaren Charakter der Seele begegnen wir bereits in der vedischen Literatur. So lesen wir

in den

Upanishads:

«Alle,

die

aus

dieser

Welt

ausscheiden,

gehen sämtlich zum Monde; durch ihr Leben wird seine zunehmende

Seite angeschwellt, und vermöge seiner abnehmenden Hälfte beför-

dert er sie zu einer abermaligen Geburt. Aber der Mond ist auch die Pforte der Himmelswelt; und wer ihm auf seine Fragen antworten kann, den läßt er über sich hinaus gelangen. Hingegen, wer ihm

nicht antworten kann, den läßt er, zu Regen geworden, herabregnen. Der wird hienieden, sei es als Wurm, oder als Fliege, oder als Vogel, oder als Löwe, oder als Eber, oder als Beißtier, oder als

Tiger, oder als Mensch, oder als sonst etwas, an diesem oder jenem Orte,

wiederum

geboren,

je nach

seinem

einer

Stelle aus

der Mythologischen

Werke,

je nach

seinem

Wissen. Nämlich, wenn einer zum Monde kommt, so fragt dieser ihn: Wer bist du? Dann soll er antworten: Du bin ich. Wenn er so spricht, so läßt er ihn über sich hinausgelangen.» (Ich zitiere nach Bibliothek

8,

1916,

Anhang

51/52, von C.Fries, welche der Basler Islamist Fritz Meyer in seiner

Arbeit über das «Mysterium der Ka’ba» und die Louis Massignon in seiner Studie «Die Auferstehung im Islam», Eranos-Jahrbuch

1944, 89.100, bzw. 1939, S.116, anführen.) Zu dieser UpanishadStelle möchte ich Ihnen noch kurz eine andere vorlegen, die die

soeben zitierte ergänzt und die sich im Briha daranyd ka — Upanishad, und zwar in der dritten Adhyaya, zweites Brahmanam, findet und von Paul Deussen in den «Sechzig Upanishads des Veda» (9. 433) wie folgt übersetzt wurde:

«— Yäjüavalkya -, so sprach er (der Sohn des Ritabhoga), wenn

nach dem Tode dieses Menschen seine Rede in das Feuer eingeht,

sein Odem in den Wind, sein Auge in die Sonne, sein Manas in den

Mond, sein Ohr in die Pole, sein Leib in die Erde, sein Atman in den

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

51

Akaca (Weltraum), seine Leibhaare in die Kräuter, sein Haupthaar

in die Baume, sein Blut und Samen in das Wasser — wo bleibt dann

der Mensch?»

Ich legte Ihnen diesen Text vor, weil er für die numinosen Entsprechungen, fiir jene Tatsache, die wir als psychische Resonanz kennenlernten, aufschlußreich ist und weil die Zuordnung der Lebensmana-tragenden Kräfte des Blutes und des Samens an das Wasser erfolgt, wahrend dem Monde die dem Todes-Mana verhaftete Manas entspricht. Dieses Sanskrit-Wort «Manas» hat nichts mit dem Worte «Mana» zu tun. Es wird ungemein vieldeutig tibersetzt: mit «innerer Sinn», «Geist», «Verstand», «Seele» usw. Ich vermute, daf es mit

dem griechischen μην bzw. unvoc, das Monat und Mond bedeutet,

sowie mit dem ebenfalls griechischen μενος, das u.a. Trieb, Drang, Kraft bedeutet, zusammenhängt. Auch erinnere ich Sie daran, daB

wir diesem Worte «menos» bereits gestern begegneten, und zwar

gelegentlich der Aufzählung jener Mana-tragenden oder Mana-ausdriickenden Wörter, die noch bei Homer den Kreis der sogenannten Seelenbegriffe bildeten; im Lateinischen lebt es übrigens als «mens», der Verstand, weiter.

Aber nicht nur in den Upanishaden steht die Todesseele mit dem

Monde in engster Verbindung. Auch das «Agyptische Totenbuch»,

worauf bereits Nork in seiner freilich sehr spekulativen Schrift der «Mystagoge» (1830, S. 62) hinweist, welche Schrift sich vor allem

auf das zehnbandige Werk von Dupuis « Origine de tous les cultes ou religion universelle» (erste Ausgabe 1792) und auf die groBe «Symbolik» von Friedrich Creuzer (erste Auflage

1810) stützt — dieses

«Ägyptische Totenbuch» enthält zahlreiche Stellen, die besagen, daß die Seele aus dem Monde auf die Erde komme. Ich will Ihnen jetzt nicht noch das ungeheuer reichhaltige Material unterbreiten, das ich

für diesen Sachverhalt aus der griechischen Mythologie herausschälen konnte. Nur daran möchte ich Sie erinnern, daß von dieser lunaten Herkunft der Seele auch bei den australischen, amerikanischen und afrikanischen Stämmen die Rede ist, worüber Sie Ausführ-

liches nicht nur bei Frazer, sondern auch in der «Kulturgeschichte

Afrikas» von Frobenius finden. Und erst ganz kürzlich hat einer unserer Dichter, Hermann Hesse, von dieser Überlieferung Gebrauch

gemacht, als er jene Medizinmann-Novelle schrieb, die mit zwei andeten

Erzählungen

sein «Glasperlen-Spiel»

beschließt,

perlen-Spiel», bei dem ganz offensichtlich die

ser nicht nur bloß Taufpate stand.

jenes

«Glas-

«Harmonik» von Kay-

«2

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

Wahrend ich an diesen ganzen Komplex des lunaren Charakters

der Seele denke, fallen mir noch zwei kleine Tatsachen ein, die ich Thnen nicht vorenthalten will, weil sie von der die Zeiten überdauern-

den Mächtigkeit dieser im Mondaspekt beinhalteten Mana-Resonanz

Zeugnis ablegen. Die eine betrifft eine Allegorie, die andere wiederum Goethe. Erinnern Sie sich bitte der mittelalterlichen allegorisierenden Darstellungen des Todes, und denken Sie dabei daran, daß jede Allegorie eine Art rationalisiertes, verstandesmäßig verkümmertes Symbol ist, gleichsam ein erfrorenes Symbol. Ich habe mich oft gefragt, warum in den mittelalterlichen allegorischen Darstellungen der Tod eine Sense trägt: die rationale Allegorie: sie schneide das lebensspendende Korn, und die Gleichsetzung desselben mit der Vitalkraft des Menschen, zu deren Schnitter der Tod allegorisiert wird, scheint ihrer rationalen Konstruiertheit wegen irgendwie leer und flach. Diese Leerheit des allegorischen Begriffes füllte sich jedoch für mich in dem Augenblick mit psychischer Mächtigkeit, da ich realisierte, daB die Sense ja nichts anderes ist als die Sichel des Mondes. Und, erlauben Sie mir noch eine Abschweifung, die uns zum Emblem der materialistischsten Bewegung unserer Zeit führt. Was finden wir da? Hammer und Sichel im fünfzackigen Stern! Hammer

als Ausdruck der aktiven, tätigen Lebensseele, Sichel, wie wir jetzt

erkennen, als Ausdruck der Todesseele: das Miteinander von Lebens-

und Todestrieben, die Quintessenz eines ganzheitlichen Lebens im Zeichen der Universalität: denn nichts anderes als diese Universalität

der Erde kommt in dem fünfzackigen Stern zum Ausdruck, der die

Integrierung der fünf Erdteile symbolisiert und der nach alter Tradition als Pentagramm das Integrationssymbol für den gangen Menschen ist. Ein Materialist, ja jeder Positivist und natürlich jeder exakte Naturwissenschaftler wird freilich über diese unsere symbolisierende Interpretation

dessen,

was

doch

etwas

Bestimmtes

darstellen

soll,

lachen. Wir können darauf nur antworten: es ist eine nicht ungefährliche Sache, so seiner eigenen «Seele» (und ich setze dies Wort sogar noch in Anführungszeichen!) zu lachen! Sie läßt sich weder weglachen noch wegspötteln, noch wegrationalisieren; sie ist mächtiger als Spott und Ratio, und dieser ihrer Mächtigkeit entgeht auf die Dauer keiner, es sei denn, er sähe sie ein und würde dadurch, wie wir es in des Wortes weitestem Sinne nannten: er würde ihrer gerecht.

Aber auch die Schwärmer und Idealisten sollte man warnen, die, die

handgreifliche, ja materielle Mächtigkeit der Seele unterschätzend, in ihr herumplanschen, bis sie eines Tages Grund und Boden unter den

Zut Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

53

FüBen verlieren. Die Seele ist kein Planschbecken, zu dem sie vieler-

otts von Anempfindern, assoziativen Denkern, Gefiihls- und Empfindungsmenschen gemacht wird. Und wer sie als solche maltritiert, der soll sich nicht wundern, wenn, ganz am Schluß seines Lebens,

dann möglicherweise einige recht unangenehme Stunden kommen. Idealisten und Materialisten kommen mir immer vor wie zwei Kinder auf der Wippe. Seit 2000 Jahren wippen sie nun schon; bald schreit der

eine Viva, weil er oben ist, und der andere nimmt alle Kraft und alles Gewicht zusammen, um seinerseits nach oben zu kommen; so geht

das Spiel auf und ab. Und beide denken, es wire ihr Gewicht und ihre Kraft; und keiner denkt daran, daB ohne jenen Balken in der Mitte,

der aus seiner Ruhe heraus all diese Bewegung erlaubt, ihr ganzes Spiel nicht einmal möglich wäre. Doch genug davon. Lediglich noch jene Zeilen Goethes seien erwähnt, von denen ich vorhin sprach. Sie sind Ihnen allen bekannt: es ist jenes Gedicht, das eines der Verzweiflung ist, des romantischen Weltschmerzes, der Klage um Mißgeschick in der Liebe, da der Fluß,

und wir wissen ja jetzt, daB dieser, insofern er Wassersymbol ist,

«Leben»

bedeutet, an ihm vorbei-rauscht. Es handelt sich um

Gedicht «An den Mond», das mit den Versen beginnt:

sein

«Hüllest wieder Busch und Tal

still in Nebelglanz,

lösest endlich auch einmal

meine Seele ganz.»

Ja, es ist schon so. In der Sterbenstraurigkeit bricht die Macht, das

Mana des Mondes durch, welches die Seele aus dem Leben löst.

Wenn ich Ihnen nun im nachfolgenden den Lebensaspekt der

Seele, der, wie ich schon vorausschickte, auch durch das Wasser sym-

bolisiert ist (dies neben der Blutsymbolik und vor allem der Phallus-

Symbolik), darstelle, so muß ich Sie um eines bitten: Vergessen Sie

dabei bitte nicht, daß dieses Vorgehen weder dem Material noch der

mythischen Bewußtseinslage, welcher es entstammt, ganz gemäß ist;

denn unsere Darstellungsweise ist eine schon deshalb rationalisierende, weil sie ordnend und konstruierend vorgehen muß; sie ist eine Konstruktion, insofern sie aus der sich bietenden Auswahl ihrerseits

noch auswählen muß. Es ist unbedingt wichtig, daß Sie nicht aus

dem Auge verlieren, in wie gar keiner Weise die Aspektierung, die

ich Ihnen schildere, es uns erlaubt, von einem Dualismus zu spre-

54

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

chen! Ich wiederhole diesen Hinweis, denn wenn wir schon diskursiv

und rational an ein ausgesprochen irrationales Material herantreten, so sollen wir uns der Begrenztheit unseres Vorgehens bewußt bleiben. Halten wir deshalb fest, daB wir den Ambivalenzcharakter des

Psychischen mit Mitteln, die diesem Tatbestande gegenüber inadäquat sind, herausarbeiten wollen. Adäquat wäre hier einzig die mythi-

sche Haltung, mit anderen Worten aber heißt das, daß wir dann hier

nicht einen Vortrag zu halten hätten, sondern gewissermaßen einen Vortraum ablaufen lassen müßten. Sie sehen, ich kann Ihnen nicht gut, statt Ihnen etwas vorzutragen, etwas vorträumen.

Im Vortrag, im

überlegten Wort, wird das, was in der mythischen Sphäre oder in der Traum-Sphäre ambivalent ist, dualistisch. Ich erinnere Sie nur an den Dualismus, der in Griechenland in dem Moment geboren wird, da die Philosophie einsetzt, da dem mythischen Griechen der rationale Grieche gewissermaßen entspringt, da aus Heraklits Dunkelheit der Sprung in die Gedankenwachheit des Sokrates erfolgt. Halten wir also fest, daß uns der Ambivalenz-Charakter der Seele selbst dann

noch präsent ist und präsent bleiben muß, wenn wir einem scheinbaren Dualismus das Wort reden. Diskursiv, das wird jetzt deutlich geworden sein, können wir gar nicht anders vorgehen; ja wir müssen uns sogar hüten, auf jene Tatsachen einzugehen, welche die erwähnte Ambivalenz unterstreichen, die aber gerade wegen ihrer abgrundtiefen Ambivalenz unser rationales Fassungsvermögen und rationales Ausdrucksvermögen übersteigen; und wenn nicht übersteigen, so doch wenigstens verwirren. Trotzdem sei auf diesen äußerst verwir-

renden Ausdruck hingewiesen. Sie können ihn in seiner Ganzheit er-

fassen, wenn Sie daran denken, daß ja jene mythische Schicht in Ihnen noch vorhanden ist, wobei ich allerdings nicht der Ansicht bin, daß es gut sei, diese zu stark zu aktivieren. Das ist sogar schädlich. Was nun den, wie wir es nannten, abgrundtiefen Ambivalenz-

charakter alles Psychischen ausmacht, so erschöpft sich dieser durch-

aus nicht in der an einen Dualismus anklingenden Polarisierung von ursprünglicher Lebens- und Todesseele sowie auch nicht in deren symbolischer Ausformung, für deren Nachweis wir bisher die LuftSymbolik heranzogen. Diese Ambivalenz liegt noch tiefer! Ich werde Ihnen andeutungsweise wenigstens noch zwei Tatsachen nennen, denn ein Zuviel — und dieses Zuviel ist unübersehbar weit — würde,

schilderte ich es ausführlich, statt der Begriffsklärung nur eine Begriffsverwirrung mit sich bringen. Die erwähnte Ambivalenz nun

liegt insofern noch tiefer, als ihrerseits sowohl die Lebensseele als

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

55

auch die Todesseele ambivalent aspektiert sind! Diese profunde Ambivalenz spricht beispielsweise aus dem Umstand, daß neben den verhältnismäßig klaren Bildentsprechungen bzw. Symbolen, die wir bereits für die Todesseele fanden und die wir für die Lebensseele in der folgenden Stunde nachweisen werden, daß neben diesen Symbolen noch andere Symbolisierungen bestehen, mit welchen zum Beispiel einem vornehmlich als Totenseele charakterisierten Sinnbild plötzlich Attribute der Lebensseele zugeordnet werden. So gibt es Darstellungen der Todesseele als Seelenvogel, zum Beispiel die Sirenen, die Attribute des Wassers, nämlich Fischunterleiber und ägyptische Wasserkrüge, also Attribute der Lebensseele, aufweisen; oder denken Sie an die bereits erwähnte Biene, die wir als geflügeltes Wesen der Totenseele zuordneten; sie aber erscheint als Attribut der Musen, die,

insofern sie das Wasser griechischen Vergessens!

Wassernymphen sind, der Lebensseele näherstehen; ja selbst hat auch den Todesaspekt, vornehmlich in dem Mythologemen von Lethos und dem Lethestrom des Lassen wir es bei diesen Hinweisen bewenden, die wohl

genügen dürften, um die Ambivalenz alles Psychischen, wie sie in

Bild, Mythos und Traum sichtbar wird, evident zu machen. Doch ehe wir nun in das Meer der Seele tauchen, glaube ich, wird es ganz angenehm sein, ein wenig Luft zu schöpfen. Sie sehen, wir bleiben im Bilde, sogar wenn wir die Pause ankündigen wollen; was

hiermit getan sei.

VI Was nun die Wassersymbolik anbetrifft, von der wir sagten, daß sie vornehmlich der Lebensseele zuzuordnen sei, so kônnen wir uns hin-

sichtlich ihrer heute etwas kürzer fassen, da wir auf einen wichtigen Aspekt derselben später noch zu sprechen kommen werden, wenn wir die das BewuBtsein konstituierende Erinnerung, die Mneme oder Mnemosyne, wie ich schon anfangs andeutete, besprechen werden.

Ich hoffe also, heute im groBen ganzen wenigstens «die Geschichte der Vorstellungen von der Seele» abschlieBen zu kônnen und anschlieBend daran später jene vom Geist. Was nun den Wasseraspekt der Seele anbetrifft, so stehen wir ihm jeweils in dem Moment, da wir das Wort «Seele» aussprechen, gegenüber. Hören wir, was die Brüder Grimm in ihrem Deutschen Wörter-

buch (Band 9, Sp. 2851-2926) zur Etymologie dieses Wortes zu

56

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

sagen haben: «Seele, ... ein gemeingermanisches Wort (Grundform saiwalô, auch saiwlö?) von noch nicht abgeklärter Herkunft und Vertwandtschaft. Früher stellte man es gewôhnlich mit see (urg. saiwiz) zusammen, was lautlich sehr gut stimmt, riicksichtlich der Bedeutung

sich aber nur durch künstliche, wenig einleuchtende Konstruktionen

vermitteln läßt.» Die neueste Forschung nun hat erwiesen, daß diese Ableitung,

die den Briidern Grimm

nicht lautlich, aber inhaltlich,

anzweifelbar schien, durchaus richtig ist. Ich erinnere Sie an die Gleichsetzung des Unbewußten mit dem Meer, welche C. G. Jung auf Grund seiner empiristischen Forschung von neuem postulieren konnte.

Im Vorbeigehen môchte ich hier aber noch auf einen ungemein wichtigen Sachverhalt verweisen, der gerade in der Ableitung von «Seele» aus dem Bilde vom «See» seine zumindest entsprechungs-

mäßige Deutung findet und bisher übergangen wurde. Dieser Sach-

verhalt stellt sich in der Tatsache dar, daß dem See das Spiegelmoment

immanent ist. Das Seelische ist, so dürfen wir entsprechend schließen,

vom Physischen aus gesehen eine Spiegelung und umgekehrt. Derart betrachtet, könnte Ihnen die Vorstellung von der Körper-Seele-Ein-

heit akzeptierbar werden. Deshalb kam ich darauf zu sprechen. Diesem Gedankengang jedoch jetzt weiter nachzugehen, zumal er noch andere Schlüsse zuläßt, ist hier nicht der Ort. Einiges davon habe ich ja bereits an anderer Stelle insofern angedeutet und etwas ausgeführt,

als der sprachliche Ausdruck des Spiegelhaften das Paradoxon ist. Jedenfalls ist dieser Aspekt des Psychischen auch deshalb interessant, weil er nicht nur den betont psychischen Charakter des Religiösen erschließt, dessen konzentrierteste Aussage stets die paradoxale ist, sondern weil er einmal vollauf eingesehen über das Spekulative hinausführt: denn «speculatio» leitet sich von «speculum», der Spiegel,

ab und findet sich selbst in einem der Begriffe wieder, der, wie ich

glaube nachgewiesen zu haben, einer der zentralsten unserer Zivilisation war: ich spreche von dem Begriff «Perspektive». Doch ich wollte hier nicht von dieser Perspektive sprechen, sondern Ihnen nur die Perspektiven andeuten, welche dieses Spiegelmoment enthält und erschließt. Die Frage, die man sich stellen kann, ob nämlich die vorhin erwähnte Ableitung des Wortes «Seele» auf den See oder die See zurückgeführt werden müsse, ist sekundären Charakters. Interessant

an ihr ist lediglich die Tatsache, daß wir in ihr jenem Ambivalenzcharakter der Lebensseele wieder begegnen, von dem wir am Schluß

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

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der vorigen Stunde sprachen. Denn ist es die See, so ist es sich bewegendes, lebendiges Wasser; ist es der See, so ist es stehendes, totes Wasser, jenes, von dem Maurice de Guérin in seinem Tagebuch unter dem 6. Marz 1833 schreibt: «Il y a au fond de moi je ne sais quelles eaux mortes et mortelles comme cet étang profond où périt Sténio le poète.»

Dieses Zitat ruft uns eines der mannigfaltigen Fragmente des Heraklit in die Erinnerung: ψυχῆισιν Ὁάνατος ὕδορ γενέσϑαι: «Für Seelen ist es Tod, Wasser zu werden.» (Es sei angemerkt, daB ich die Heraklit-Fragmente nach Diels-Kranz, «Die Fragmente der Vorsokratiker»,

Bd. I, zitiere [22 B 36]). Diese Vorstellung

muß

un-

gemein stark in den tieferen Schichten unserer Psyche verankert sein. Denken Sie daran, daß noch heute die Schiffbrüchigen nicht etwa S.O.L.

=

«save

our lives», sondern

S.O.S.

=

«save our souls»

morsen. Angesichts des Ertrinkens, angesichts also eines entscheidenden Ereignisses, kommt,

wie das ja stets im Leben

so zu sein

pflegt, bei dem vor die Entscheidung Gestellten eine ursprüngliche,

seine eigenen Tiefen aufreiBende Reaktions- und Formulierungsweise zustande. In diesem «save our souls» klingt außerdem noch deutlich die urgriechische Gleichsetzung von Leben und Seele nach, die, wie Sie hörten, dem Worte «Psyche» innewohnt. Und noch ein anderes Zitat möchte ich Ihnen zur Illustrierung des soeben erwähnten Heraklit-Fragmentes anführen. Montesquieu schreibt in seinen «Cahiers» (vgl. Edition Grasset, 1941, p. 217): «Enfin, l’opinion des Anciens, que l’âme de ceux qui se noyaient dans la mer, périssoit parce que l'eau en éteignoit le feu, étoit très propre à degoüter de la navigation. Il y avoit des gens qui, dans ce danger de naufrage, se tuoient d'un coup d'épée.» In einer Anmerkung zu dieser Tagebucheintragung — und jede Anmerkung ist ein Apostrophieren — vermerkt Montesquieu: «Je crois que cela se trouve dans Pétrone.»

Wie aber, werden Sie fragen, komme ich dazu, Ihnen das Heraklit-

Zitat in diesem Zusammenhang vorzulegen. «Für Seelen ist es Tod,

Wasser zu werden»,

dies, so scheint es auf den ersten Blick, ist ja

gerade das Gegenteil dessen, was ich behaupte, daß nämlich die Wassersymbolik den Lebensaspekt der Seele zum Ausdruck bringe. Sie werden sogleich sehen, daß wir hier wieder vor einer Ambivalenz stehen. Denn ein anderes Fragment des Heraklit lautet: «ἔκ γῆς δὲ ὕδωρ γῦνεται, € ὕδατος δὲ ψυχή»: «Aus Erde aber wird Wasser und aus Wasser Seele.» Damit hebt sich die Ambivalenz auf: Wenn aus dem Wasser die Seele geboren wird, so darf sie natürlich in ihm

58

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

nicht ertrinken, denn das bedeutet ein Zurückfallen in ihr Ungeborensein, in den Tod.

Denn dies miissen wir vor allem festhalten: in allen urspriinglichen Vorstellungen, und die zitierten Fragmente Heraklits dürften eine ihrer ersten präzisen Formulierungen im sprachlichen Ausdruck darstellen — ich sage: in allen ursprünglichen Vorstellungen ist das Wasser das ursprüngliche Element. Selbst rational ist dies begreifbar, denn wir wissen, daß in einem frühesten Stadium die Erde, wie

schon der Mosaische Schöpfungsbericht es aussagt, ganz von Was-

ser bedeckt war; das erste Leben, die ersten Lebewesen waren im

Wasser, und alles lebendig Organisierte ging aus dem Wasser hervor.

Marcel

Proust,

anknüpfend

an wissenschaftliche

Nachweise

seiner Zeit, der Zeit des Ersten Weltkrieges, durfte daher in seinem

monumentalen Werk: «A la recherche du temps perdu», und zwar

im zweiten Bande von

«Sodome et Gomorrhe», sehr wohl den Satz

schreiben: «On prétend que le liquide salé qu'est notre sang n'est que la survivance intérieure de l'élément marin primitif.» Hier und

in diesem Zusammenhang móchte ich noch auf die geniale Studie

von Sigmund Freud, «Das ozeanische Gefühl», verweisen, in wel-

cher er die Tatsache festhält, daB jene Erinnerung an das Ur-Meer

und damit an die Ur-Seele sich in dem, was er so zutreffend als das

«ozeanische Gefühl» bezeichnete, des öfteren bei seinen Analysanden

als Grundbewegung ihrer Träume manifestierte. In welchem Maße diese Vorstellungen und Empfindungen, von denen ich Ihnen sprach, einer Ur-Tatsache entsprechen, die den Unbewußten stets präsent war und ist, geht aus einer zusammenfassenden Bemerkung Bachofens in seinem «Mutterrecht» hervor. Er spricht dort von dem Vokal Α und führt, ihn deutend, aus, da er der Vokal des Wassers

sei, denn er regiert sowohl das lateinische «aqua», das Sanskrit-Wort

für Wasser

«Apa»

sagt, daß dieses

sowie das deutsche Wort

«Wasser»

selbst; ja et

A der Laut der Geburt aus dem Wasser

sei, eine

«materia prima» und der Anfang des Weltgedichtes, sowie der Laut, der in der tibetischen Mystik die Seelenruhe zum Ausdruck bringt. Hier dürfen wir vielleicht unsererseits ergänzend anfügen, daß selbst noch in manchen Bezeichnungen für «Blut», wie im englischen «blood», im franzósischen «sang», im spanischen «sangre» usw. jenes À nachklingt, was, wenn wir an den Satz von Proust denken,

nicht weiter überraschend ist. Wie recht jedenfalls Bachofen mit seiner Deutung hat, wird ersichtlich, wenn Sie beispielsweise den

Anfang (ja tatsächlich den Anfang) des neuen «Schweizer Lexikons»

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

59

aufschlagen. Was finden Sie da als erstes Stichwort? Ich will es Ihnen zitieren: «Aa (geschrieben: groBes À, kleines a), Aach, Ach, Ache,

(ahd, aha = Wasser), Name vieler Flüsse in der Schweiz und anderen Ländern: Engelberger, Sarner, Waggitaler, Livländische Aa. Auch in Namen von an Fliissen gelegenen Orten (Aarau, Achen u.a.).»

Um dieses Anfangs- und Lebenselement, das im A des Wassers zutage tritt, noch zu veranschaulichen, môchte ich Sie an die Wirkung

eines Gedichtes erinnern, das Ihnen sicher vertraut ist. Es steht im

Anfang von Rilkes «Stundenbuch», und ich bitte Sie, auf den AKlang in ihm zu achten, der nicht nur innerhalb der Zeilen zum Ausdruck kommt, sondern der seine Akzentuierung noch besonders dadurch erhält, daß alle vier Reimwörter diesen Laut ganz besonders betonen, da sie dazu noch sogenannte männliche Reime sind, das heißt, mit einer betonten

Silbe enden. Die Anfangsstrophe dieses

Anfangsgedichtes par excellence lautet:

«Da neigt sich die Stunde und rührt mich an mit klarem, metallenem Schlag: mir zittern die Sinne, ich fühle: ich kann -

und ich fasse den plastischen Tag.»

Da ich Ihnen aus dem Bildmaterial zur Wassersymbolik nicht Beispiele vorlegen kann -- es sind zwar derartige Wasserdarstellungen

auf uns gekommen, und zwar nicht nur innerhalb des Kreises der

Taufsymbolik, welche eigentlich auch hierher gehört —, möchte ich

Ihnen wenigstens noch ein drittes Heraklit-Fragment in die Erinnerung rufen, für welches sich bei Goethe eine schöne Parallele findet:

«Seelen (aber) dünsten aus dem Feuchten hervor», sagt Heraklit, und die Zeilen aus dem «Faust», auf die ich anspiele, muten uns

direkt wie ein Kommentar zu diesem Fragment an; sie lauten: «Und steigt vor meinem Blick der reine Mond Besänftigend herüber, schweben mir Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch

Der Vorwelt silberne Gestalten auf -

Und lindern der Betrachtung strenge Lust.»

In Anbetracht

dessen, daß wir, wie ich Ihnen schon sagte, später

noch einmal auf den Wasseraspekt des Seelischen zu sprechen kommen müssen, möchte ich jetzt diesen Teil meiner Untersuchung

6o

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

abbrechen. Wir hätten nun im groBen ganzen jene Untersuchung zum Abschluß gebracht, welche der Ambivalenz des Seelischen galt. Wir lernten die Aspektierung der Todesseele kennen, als wir in der vorigen Stunde die Luft-, Vogel- und Mond-Symbolik betrachteten, und jetzt hôrten wir von der sie ergänzenden Wassersymbolik der Lebens-

seele. Eine ungemein schône, durch ihre Schlichtheit fesselnde bild-

liche Darstellung dieses Ambivalenzcharakters der Seele fand ich bei

Creuzer. Sie faßt das von uns Gesagte auf eine bildstarke Weise so

gliicklich zusammen, daB ich sie Ihnen zeigen will. Es handelt sich

um den Abdruck einer frühchristlichen Gemme, welche der Bischof Minter, der selber einige Werke über christliche Symbolik verfaBte,

für seinen Freund Creuzer machte.* Creuzer publizierte diesen Gemmen-Abdruck sowohl in der ersten Auflage (1810) als auch in der zweiten Auflage (1819) seiner

«Symbolik». Die synkretistische Dar-

stellung ist für jene frühchristliche

Zeit charakteristisch:

neben

dem Totenkopf, der bereits in Agypten Todessymbol war und dies

nicht erst in christlicher Zeit wurde, was bereits Bôttiger in seinen 1850 erschienenen «Ideen zur Kunst-Mythologie» (Π., 419) nachwies, sehen Sie auf diesem Gemmen-Abdruck die beiden Symbole

des Lebens und des Todes:

den griechischen Schmetterling und

den ägyptischen Wasserkrug. Hier kommt unmittelbar zum Ausdruck

und zur Anschauung, wofiir wir mit unserem diskursiven Denken Stunden benötigten. Und da ich den unmittelbaren Ausdruck bei weitem meinen eigenen Ausführungen vorziehe, so môchte ich Sie bitten, mir zu gestatten, Sie nochmals an ein Gedicht Goethes erinnern zu diirfen, in welchem, zweifelsohne von Heraklit geweckt,

sich die ganze Thematik unserer heutigen bisherigen Darstellung auf eine dichterische Weise äußert, die nunmehr keiner Interpretation mehr bedarf. Ich meine jenen «Gesang der Geister über den Wassern», dessen Anfangs- und Endstrophen wie folgt lauten: «Des Menschen Seele Gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es,

Zum Himmel steigt es,

Und wieder nieder Zur Erde muB es,

Ewig wechselnd.

4 Siehe «Ursprung und Gegenwart», Gesamtausgabe Novalis, Bd. II, S. 327.

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

61

Wind ist der Welle Lieblicher Buhler; Wind mischt von Grund aus

Schäumende Wogen. Seele des Menschen,

Wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen,

Wie gleichst du dem Wind!» Dieses Gedicht von der in sich einigen Lebens- und Todesseele ist überschrieben: «Gesang der Geister über den Wassern». Wir finden damit eine Konstellation wieder, jene der urspriinglichen Zusammengehörigkeit und Ununterschiedenheit von Geist und Seele, besser gesagt: von Geistern und Seelen, eine Konfiguration, die wir friiher erwähnten. Da sagten wir im Anschluß an unsere Darstellung des Numinosen und des Mana, daß es ursprünglich so wenig einen Geist-

Begriff als einen Seelen-Begriff gegeben habe. Aus den numinosen,

Mana-behafteten Vorstellungen lösten sich allmählich nicht die Seele oder der Geist, sondern Seelen und Geister. Wenn wir der Geschichte

dieser Vorstellungen weiter nachgehen, so finden wir dann jene all-

mählich sich zeigende Aufspaltung des Seelenbegriffes, die ihren Ausdruck in der Ambivalierung in Lebens- und Todesseele findet. Von der Todesseele aus führt uns eine zerbrechliche Vorstellungsbriicke zu den Totengeistern. In ihnen, den zu Damonen gewordenen Totenseelen, nimmt die Vorstellung von Geistern Begriffscharakter an. Sie sind gewissermaBen negativ wirkendes Mana. Und alles Spukhafte,

Geisternde,

Gespenstische,

diesen Begriff, der aber auch

Koboldhafte

rankt sich um

seine positiven Aspekte

hat:

den

Schutzgeist oder Schutzengel, der, wie ich vermute, nichts anderes ist als, psychologisch gesehen, eine Projektion der inneren GewiB-

heit des Einzelnen nach außen; die Sichtbarwerdung dieser inneren Gewißheit, die unbewußt ist und wie aus einem direkten unbewuß-

ten Wissen heraus wirkt, diese Sichtbarwerdung einer in uns ruhenden inneren Sicherheit, wie sie sich in der nachträglichen Erkenntnis von der Richtigkeit unserer jeweiligen Reaktion manifestiert, verführt ja noch heute dazu, daß wir diese uns innewohnende Macht, die dem Verstande als Übermächtigkeit erscheint, in eine außenstehende Macht zu projizieren geneigt sind, zu deren Personifikation eben der Schutzengel wurde. Aber nicht nur diese unein-

62

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

gesehene Macht brachte den frühen Menschen dazu, an geisterhafte Wesenheiten zu glauben. Hier hinein spielt auch die Mana-Trächtigkeit der Dinge, die in den Elementargeistern Gestalt annahm. Hierher gehôren die Mana-geladenen Geräusche, die nicht immer, wie heute zufolge der parapsychologischen Forschung feststeht, ihre sogenannten Ursachen in physikalischen Vorgängen zu haben brauchen.

Es steckt sehr viel mehr Wahres, als ein heutiger Materialist einräumen würde, in jenem Satze von Otto Weininger, der sich in seinem Taschenbuch findet:

«Das Knacken

wußt gewordenes inneres Zerbrechen.»

des Zimmers ist unbe-

Doch halten wir uns nicht bei den Vorstellungen von Geistern

auf, schon gar nicht bei der Frage, ob sie tatsächlich existieren. Halten wir lediglich fest, daß es sich bei ihnen — und dies kann dem Nachdenklichen eine ganze Reihe sogenannter okkulter Phänomene erklärlich machen -, halten wir fest, daß es sich bei ihnen um

psychische Mächtigkeiten handelt, die sich manifestieren können und die sich, ist die psychische Mächtigkeit der betreflenden Person

stark, auch tatsächlich manifestieren. Dafür gibt es Beweise, mehr als

dem Ruhebedürfnis des Durchschnittsmenschen lieb sein mag. Hier

kommt es uns nicht auf die okkulte Seite dieser Manifestationen an,

sondern darauf, daß jener Begriff Geist ursprünglich, wie wir deut-

lich zu machen versuchten, mit der Manahaftigkeit des Seelischen

zusammengehört. Bis sehr spät in unser Mittelalter herein ist das meiste, was mit Geist angesprochen oder bezeichnet wird, nichts anderes als das, was es ursprünglich war: nämlich Mana-geladenes Psychisches.

Ein sicheres Kriterium dafür, ob Geist sogenanntes Geistiges sei oder nur Psychisches, haben wir uns in den letzten Stunden erarbeitet. Dieses Kriterium, demzufolge wir jetzt unverhältnismäßig viel schneller und leichter den Geistbegriff abklären können, als es für den Seelenbegriff der Fall war, besteht in dem, wie wir hoffen, von uns erbrachten Nachweis für die Ambivalenz alles Seelischen. Wir können nach dem, was bisher ausgeführt wurde, mit bestem Recht sagen,

daß überall dort, wo wir ambivalente Züge an einem Geistbegriff

feststellen können, nicht die Rede von dem ist, was wir unter Geist

verstehen wollen, sondern daß es sich dann noch um vornehmlich Psychisches handelt. Es wäre nun hier der Punkt, wo wir ohne weiteres zu der Abhand-

lung des Geistbegriffes übergehen könnten. Wenn wir es nicht tun, so hat dies zwei Gründe: erstens möchte ich auf die Behandlung

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

63

dieser schwerwiegenden Frage in der uns heute noch verbleibenden Zeit nicht eintreten, denn die Größe

des Themas

und die Verant-

wortung, die dieses Thema für den Vortragenden beinhaltet, nôtigen zu einer ausführlichen Darstellung des ganzen Komplexes. Der andere Grund, warum ich darauf verzichte, bereits heute auf dieses Thema

einzugehen, besteht darin, daB ich Ihnen für die Ambivalenz

des

Seelischen gern noch ein Beispiel geben môchte, welches sich nicht im Bildmäßigen bewegt, sondern sich der Ausdrucksweise bedient, wel-

che sich unserem wissenschaftlichen Zeitalter zu entsprechen bemüht. Ich möchte deshalb kurz auf jenen durch C.G.Jung formulierten

Vorstellungskomplex zu sprechen kommen, den er mit den Begriffen «Animus» und «Anima» umschrieben hat. Dieser ist Ihnen durch die Vortrige von Frau Dr. Jacobi und durch deren Arbeit über dieses Problem im Novemberheft 1946 der schweizerischen Monatsschrift «Du» ja bekannt. Ich glaube nicht zu weit zu gehen, wenn ich in diesem Begriffspaar «Animus» und «Anima» eine rationale Fixierung dessen sehe, was ich Ihnen heute als den grundlegenden Ambivalenzcharakter der Seele, wie sie sich in deren Symbolisierung als Lebensund Todesseele darstellte, ausgedriickt habe. Der Begriff «Animus» und «Anima» taucht meines Wissens zum erstenmal bei Lucrez auf,

und zwar in dessen philosophischem Lehrgedicht: «De Rerum Natura», dessen zweitausendstes Entstehungsjahr im letzten Jahre besonders

in Rußland

gefeiert wurde.

Rein

biologisch

gesehen,

begegenen wir diesem Begriffspaar bei Otto Weininger, und zwar hat er dasselbe in seinem groBen Werke «Geschlecht und Charakter» zwar nicht mit diesen Namen

bezeichnet, aber die Grundvor-

stellungen, die ihn leiteten, dürften die gleichen sein, die Lucrez vor zweitausend Jahren bei der Niederschrift seines materialistischen Lehrgedichtes und Jung bei der Formulierung der von ihm wieder entdeckten psychischen Gegebenheit die Feder führten. Um Ihnen evident zu machen, inwiefern ich mich berechtigt glaube,

den Animus-Anima-Begriff mit der von mir dargestellten Lebensund Todesseelensymbolik wenn auch nicht gleichzusetzen, so doch dieselben in einen gewissen Zusammenhang zu bringen, môchte ich Thnen ein Dokument vorlegen, das nicht nur in seinem Ursprungslande, in Spanien, sondern vor allem bei uns sehr unbekannt ist, trotzdem es einer der Marksteine der Ausdrucksweise und der Ausdrucksméglichkeiten unserer Zivilisation darstellt. Es handelt sich um das erste europäische Drama, und zwar um «La Celestina», welches Fernando de Rojas zugeschrieben wird. Es ist um 1492

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Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

geschrieben worden und behandelt zuerst in Form einer Komödie,

die nachher in eine Tragôdie umschlagt, die Liebe des Calisto und der Melibea. In diesem Drama begegnen wir einem so starken Bei-

spiel der Animus-Anima-Konfiguration, wie sie nirgends, selbst nicht in der frühgriechischen Novelle von Hero und Leander, wie sie auch nicht einmal in der altitalienischen Novelle von Romeo und Julia zum Ausdruck gebracht worden ist. In der Celestina kommt das zum Ausdruck und zu tôdlichem AbschluB, was ungefähr gleichzeitig, in Italien, Michelangelo in dem 59. seiner Sonette sagte, das

an die Liebe, besser an den von ihm geliebten Menschen, gerichtet

ist. Dort schreibt er:

«In me la morte, in te la vita mia.»

Diese Zeile zeigt uns eine bedingungslose Projektion der Lebensseele in die Geliebte, wodurch dem Liebenden nur noch das Todes-

mana bleibt. Calisto nun sagt etwas Ahnliches. Und vor allem: er

sagt es nicht nur, sondern erlebt es bis zu der daraus resultierenden tragischen Konsequenz. Gleich im ersten Bilde des Dramas Celestina begegnet er durch Zufall Melibea, in die er sich -- was gegenseitig ist - Hals über Kopf verliebt. Den damaligen gesellschaftlichen Regeln Spaniens entsprechend, kann er mit der Geliebten nicht sprechen, sondern es bedarf vieler Intrigen, die im Verlauf der folgenden Bilder dargestellt werden, um die Liebenden zusammenzufiihren. Nachdem nun Calisto ganz kurz Melibea gesehen hat und in durchaus verändertem Zustande zu seinem Bedienten und Vertrauten

Sempronio zuriickkehrt, spricht er einige äuBerst ungereimte und unchristlich klingende Sätze, welche zur Folge haben, daB Sempronio ihn fragt: «Tu no eres cristiano? — Bist du kein Christ?», worauf Calisto ihm antwortet: «Yo? Melibeo so é 4 Melibea adoro é en Melibea creo é 4 Melibea amo.» — Ich? Ich bin Melibeo, und Meli-

bea verehre ich, und an Melibea glaube ich, und Ich denke, ein Kommentar zu dieser Stelle ist merkt sei lediglich, daB in einem späteren Bilde bea u.a. sagt, sie sei die «vivificaciön de su vida,

Melibea liebe ich. überflüssig. AngeCalisto von Meliresurreciön de su

muerte», mit andern Worten, sie sei die Belebung seines Lebens und

die Auferstehung seines Todes. Das Ende dieses Dramas bewahr-

heitet diese Worte

des Calisto, denn im sechzehnten und letzten

Bilde, welches die erste und letzte Vereinigung der Liebenden darstellt, stirbt nicht nur gleich nach dieser Vereinigung Calisto, sondern auch Melibea. Sie werden mich nun gewiß fragen, warum ich Ihnen

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

65

zum Abschluß unserer heutigen Unterhaltung über den Ambivalenzcharakter des Seelischen dieses Beispiel brachte. Es geschah dies aus zwei Gründen: erstens ist es ein ungemein illustratives Beispiel fiir die Anima-Projektion des Mannes. Zweitens aber ist es gewissermaßen eine Warnung, daß man sich niemals bis zum Exzeß den psychischen Mächtigkeiten ausliefern darf, ohne das Leben zu verlieren. Ich darf Sie vielleicht in diesem Zusammenhang an das erinnern, was ich schon früher ausführte, daß wir das Leben nur

dann bestehen und ertragen können, wenn es uns gelingt, die ambivalente Mächtigkeit und die Macht der Seele durch die richtende Kraft des Geistigen auszubalancieren. Und über diese richtende Kraft, über dieses Noëma,

das nächstemal unterhalten.

über den Geist also, wollen wir uns

VII Bevor wir uns heute der Symbolik des Geistes zuwenden, wollen wir einen kurzen Blick zuriickwerfen auf das, was wir uns in den

bisherigen Stunden erarbeitet haben. Eine solche Zusammenfassung ist vielleicht insofern ganz aufschluBreich, weil wir uns nunmehr

den Schlußfolgerungen nähern, die wir aus alledem, was bisher hier

vorgetragen wurde, ziehen miissen. Unser Thema

lautet, wie Sie wissen: «Zur Geschichte der Vor-

stellungen von Seele und Geist». Diese Themastellung brachte es mit sich, daß wir uns in der ersten Vorlesung vor allem mit dem Begriff Geschichte auseinanderzusetzen hatten. Wir klärten diesen Geschichtsbegriff ab; ich erinnere Sie dabei an die Zitate des Arcipreste de Hita und des Garcilaso de la Vega. Wir stellten fest, auch anhand der Etymologie dieses Begriffes, daß er im Numinosen wurzelt, und andererseits, daß eine Geschichte der Seelen- und

Geistbegriffe naturwendig die Geschichte der Bewußtwerdung ist. Daran anschließend legten wir Wert darauf, festzustellen, daß wir nicht von einer kausalen Geschichtsauffassung ausgehen dürften, son-

dern daß wir die in der Geschichte zutage tretenden Bewußtseinsveränderungen als Bewußtseinsmutationen betrachten wollten. Unter diesem Gesichtspunkte entwickelten wir dann unsere Arbeitshypothese der Vier- bzw. Fünf-Ebenen-Theorie, die wir deutlich gegen die rein positivistische Drei-Stadien-Theorie von Auguste Comte ab-

66

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

grenzten. Im Sinne unserer Fünf-Ebenen-Theorie unterschieden wir dann die archaische, die magische, die mythische und die rationale Ebene, für welche vier ersteren Ebenen ich Ihnen je eine Schilderung zu geben versuchte. Nachholend möchte ich heute dazu noch bemerken, daß ich persönlich in der Aufeinanderfolge dieser Ebenen nicht einen Wertmaßstab sehen möchte dergestalt, daß man zum Beispiel eine frühe Ebene, wie die archaische, als minderwertig gegenüber den späteren auffaßt. Ich glaube, daß dieser Hinweis vielleicht nicht unwichtig ist, weil wir aus einem rationalen Dünkel heraus heutzutage leicht geneigt sind, frühere psychische Strukturen oder

deren Ausdrucksweise als primitivere abzutun. DaB dem durchaus nicht zu sein braucht, glaube ich, darf man vermuten, ohne damit den wissenschaftlichen Errungenschaften unserer Tage zu nahe zu treten. In jedem Falle will es mir scheinen, als ob in früheren Zeiten mehr

Weisheit in der Welt war als heute, wo statt der Weisheit fast nur noch

die Aufgespaltenheit bloßen rationalen Wissens zu finden ist. Doch

dies nur nebenbei. Was nun die fünfte Ebene anbetrifft, welche wir

als die Noëmatische bzw. aperspektivische bezeichneten, so werden

wir auf diese noch in der nächsten Stunde zu sprechen kommen, da

sie dem zugehört, was wir als die präsente Zukunft der Geschichte

bezeichneten. Bei dieser Gelegenheit, da ich von dem Begriff «Aper-

spektive» spreche, wollen Sie mir bitte gestatten, auf verschiedene Anfragen aus Ihrem Kreise zu antworten. Sie betreffen die Frage, ob diese Vorlesungen publiziert würden. Dies ist der Fall. Was ich in diesem Kurse Ihnen hier vorzutragen Gelegenheit habe, stellt den

Inhalt von zwei Kapiteln meines neuen Buches dar, welches unter

dem Titel «Die aperspektivische Welt» voraussichtlich noch dieses Jahr erscheinen wird. Und eine andere Anfrage beantwortend, möchte

ich darauf hinweisen, daß zum

Teil ergänzende,

zum

Teil voraus-

nehmende Ausführungen zu dem, was ich Ihnen in diesem Kurs

unterbreite, sich in verschiedenen meiner Publikationen finden. Ich

will mich mit einigen kurzen Hinweisen begnügen. In der «Abendländischen Wandlung» finden Sie u.a. Ausführungen über den Zu-

sammenhang zwischen Paradoxon und Religio; dort auch, sowie in

der kleinen Broschüre, die den Titel «Der grammatische Spiegel» trägt, und in der Studie «Rilke und Spanien» finden Sie Hinweise auf die Aperspektive. Ferner versuchte ich, das Meerfahrt-Mythologem

in einem etwas umfangreichen Gedicht zu gestalten, das unter dem Titel: «Das Ariadne-Gedicht» veröffentlicht wurde. Und schließlich

findet sich einiges des Materiales, welches ich Ihnen das nächstemal

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

67

vorlegen werde, in einem Aufsatz, der unter dem Titel: «Über das Wesen des Dichterischen» in der Schweizer Zeitschrift für Psychologie, Band III, Heft 3, Bern 1944, publiziert wurde.

Nach dieser Abschweifung wollen wir uns nun noch kurz daran

erinnern, daB wir als den Ausgangspunkt fiir die Bildung sowohl des

Seelen- als des Geist-Begriffes das Numinose betrachten müssen. In

diesem Zusammenhange sprachen wir dann zuerst von der Manahaftigkeit der Psyche, aus der sich ihr Machtcharakter ergab. Daran anschlieBend kamen wir dann auf den richtenden Charakter des geistigen Prinzips zu sprechen und formulierten dafür den Begriff Noéma bzw. Einsicht. Danach widmeten wir uns der Symbolik der

Seele, indem wir ihren Doppelaspekt zu veranschaulichen suchten. Wir stellten dabei den Ambivalenzcharakter der Seele fest und unter-

schieden, wie ich ausdrücklich betonen môchte, im Sinne einer rationalisierenden Arbeitshypothese anhand der sich ergänzenden Sym-

bolisierungen, einerseits die Todes-, andererseits die Lebensseele. Die Todesseele fanden wir symbolisiert in der Luftsymbolik, zu welcher wir auch die Hauch- und Vogelsymbolik zählten und dabei des weiteren die Mondsymbolik streiften, die man natiirlich auch noch fir andere Symbolisierungen mit dem gleichen Recht, wie wir es für die Todessymbolik taten, heranziehen kann. Die Lebensseele dagegen

fanden wir durch die Wassersymbolik dargestellt, wofür wir Ihnen desgleichen einiges Material vorlegen konnten. Noch einmal, grade bei der Erwähnung der Wassersymbolik, môchte ich darauf hinweisen, daß wir dieselbe durchaus auch zur Symbolisierung der Todesseele hätten heranziehen können. In dieser Tatsache, die ich am Schluß

der letzten Stunde besonders unterstrich, fanden wir nochmals

das

wieder, was wir als Hauptcharakteristikum alles Psychischen uns erarbeitet hatten, nämlich die Ambivalenz der Seele. Ehe wir uns nun der Geistsymbolik zuwenden, möchte ich noch

ein paar Worte zu dieser Ambivalenz sagen. Wir werden sehen, daß auch die Geistsymbolik ambivalent ist, und dieses darf uns nicht wundernehmen,

denn wir diirfen behaupten, daB wir dort, wo wit

einer symbolischen Ausdrucksweise begegnen, wir es immer mit ambivalenten Gegebenheiten zu tun haben. Das Symbol nämlich ist stets eine Zusammenballung zweier sich ergänzender Teile, ist also immer zweiwertig und damit zweideutig in dem Moment, wo wir nur einen seiner Werte ins Auge fassen. Wir dürfen nicht vergessen, daß sich das Wort Symbol von dem griechischen Verbum συμβάλλω ableitet, welches Zusammenballen, Zusammenfügen, Vereinigen be-

68

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

deutet. In jedem Symbol schlummern stets zwei grundlegende Méglichkeiten, die, rational gesehen, einander widersprechen und nur psychisch gesehen eine Einheit bilden, von welcher Einheit wir allerdings sagen müssen, daß sie eben nur eine psychische und deshalb immet ambivalent bleibende Einheit darstellt. So betrachtet, dürfte

wahrscheinlich das Ihnen sicher bekannte chinesische T’ai-Ki, das

älteste Symbol ältester Kultur, als eine der vollkommensten Darstellungen der Psyche, als solche verständlich werden. Dort finden Sie, graphisch abstrakt ausgedrückt, was Heraklit zum Ausdruck bringt, wenn

er in einem

seiner Fragmente

sagt:

«ὠυτὸς

δὲ 'Aíónc καὶ

Διόνυσος»: «Derselbe aber ist Hades und Dionysos.» Von diesem Worte wie von so vielen anderen des Heraklit hat man immer gesagt, daß sie dunkel seien. Rational betrachtet, sind sie es gewiß. Wenn Sie aber an das T’ai-Ki-Zeichen denken, in dem Sie Licht und Schatten,

Leben und Tod, Dionysos und Hades als Psyche zusammengefaßt dargestellt sehen, wo also die Zweiwertigkeit auf eine ungemein ein-

leuchtende Art anschaulich wird, wird Ihnen dieses Wort des Hera-

klit gewiß nicht mehr dunkel erscheinen. Anschließend an diese Überlegung möchte ich noch einen Schritt weitergehen, nämlich insofern,

als ich zu sagen wage, was ich Ihnen bereits gelegentlich der Schilde-

rung der mythischen Ebene andeutete, daß die olympische Welt und die Hadeswelt der griechischen Mythologie weniger den griechischen Geist, sondern durchaus die ganze griechische See/e zum Ausdruck

bringen; ins Christliche übertragen, finden Sie dieselbe Konstellation wieder in der sogenannten Engelswelt, welche durch die Welt des Teufels erst zu einer psychischen Einheit gestaltet wird. Vielleicht haben Sie bereits gemerkt, daß wir mit diesen letzten Ausführungen zu einem Kardinalpunkt unserer Untersuchung gelangt sind. Denn in dem Moment, wo es uns gelingt, die Seele, nachdem wir ihre Zwiespältigkeit, ihre Zweideutigkeit und Zweiwertigkeit, kurz gesagt: ihre Ambivalenz, als Einheit zu sehen vermögen, drängt sich uns die Frage auf, ob nicht möglicherweise diese Einheit das Geistige wäre. Die Verführung dazu, dies zu denken, ist außerordentlich groß, und ohne es zu wissen, sind viele dieser Versuchung erlegen. Um Ihnen kurz zu sagen, was meines Dafürhaltens dazu zu bemerken ist, möchte ich etwas aussprechen,

was ich Ihnen nachher zu erklären mich bemühen werde. Ich bin

der Ansicht, daß diese Einheit der Seele #icht das Geistige darstellt, sondern lediglich die Grundvoraussetzung des Noëma, d.h. der geistigen Einsicht, ist. Solange wir von den Flutungen und

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

69

Widersprüchlichkeiten der Seele hin und her geworfen werden, kann

von einem bewußten Noéma nicht die Rede sein. Ich hoffe, ich konnte

Thnen in den letzten Stunden und in der heutigen wenigstens den ambivalenten Einheitscharakter der Seele anschaulich machen. Aber gestatten Sie mir die Bemerkung, daß diese rationale Darstellung irrationaler Sachverhalte,

daß dieses Anschaulichmachen

dem

Ein-

zelnen durchaus nicht genügen kann, noch genügen wird. Die Einheit der Seele läßt sich nicht begreifen, sondern läßt sich nur erfahren. Sie können das beinah wörtlich nehmen;

denn in dem Worte «er-

fahren» und «Erfahrung» klingt Ihnen ein Seelenaspekt auf, mit dem wir uns bereits vertraut gemacht haben: der Wasseraspekt der Seele. Nur eine Fahrt durch die Lebens- und Todeszonen der eigenen Seele, nur diese buchstäbliche Erfahrung kann vielleicht den Einzelnen instand setzen, das, was wir rational als Einheit der Seele schilderten,

lebendig zu wissen. Was nun dieses lebendige Wissen um die Einheit der Seele anbetrifft, so haben zu allen Zeiten und in allen Zonen die verschieden-

sten Wege zu ihm geführt. Jakob Böhme, der große deutsche Mystiker, wurde sich ihrer intuitiv bewußt, als er, wie so viele Male zuvor,

in der nächtlichen Schusterwerkstatt die lichtdurchschienene Glaskugel betrachtete. Im Zen-Buddhismus, wie ihn Suzuki beschreibt, finden Sie die östliche Erfahrung hinsichtlich der Seele wiedergegeben. Innerhalb unseres Kulturkreises stoßen wir auf verschiedene Formen dieser Erfahrung, und dabei liegt dann der Akzent besonders stark auf der Erfahrung des Dunklen oder des Todes-Teiles der Seele. Dem rationalen Menschen erscheint, nebenbei gesagt durchaus unberechtigterweise, das, was im Lichte steht, und wären

es auch nur seine guten Eigenschaften, klar und einer weiteren Erfahrung nicht bedürftig. Ja schon im ägyptischen Kulturkreis finden wir diese Konstellation, denn es sind uns mehr Dokumente aus ihm

erhalten geblieben, die sich mit der dunkeln Seite der Seele befassen als mit der hellen. Die große Totenbuch-Literatur ist die erfolgreiche Bemühung, innerhalb einer esoterischen Haltung, um den Todesbereich der Seele. In der griechischen Mythologie dann sind es die Nekyia-Darstellungen, die bildhaft das zum Ausdruck bringen, worum sich zum Beispiel die heutige Psychologie, vor allem die von C. G. Jung, bemüht. Es sind uns verschiedene Nekyia-Beschreibungen, d.h. Beschreibungen von Hadesfahrten, überliefert worden. Ich will sie Ihnen jetzt hier nicht alle aufzählen, nur kurz erwähnen, daß Sie dieselben u.a. bei Homer, Vergil und Plutarch finden, und Bruch-

70

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

stiicke einiger in dem Werk von Dieterich: «Nekyia». All diesen Darstellungen jedoch haftet bereits ein diskursiver Zug an, d.h. es sind eben Beschreibungen. Die tatsächliche Erfahrung, was das griechische Altertum anbelangt, wurde den Griechen in den orphischen Mysterien der Friihzeit erlebbar. Diesen orphischen Mysterien lag zweifelsohne die kultische Erfahrung des Demeter-Persephone-Mythologems zugrunde. In ihm finden Sie bildlich und dem Bildablauf entsprechend weitschweifig dargestellt, was Heraklit in den knappen Satz: «Derselbe aber ist Hades und Dionysos» zusammenfaBte. Nur unterstrichen die Mysterien den weiblichen Aspekt, während Heraklit, schon der patriarchalischen Zeit angehôrend,

den männlichen

Aspekt betonte. Dieser matriarchalische Zug kommt in den Myste-

rien insofern zum Ausdruck, als dort die Tochter Demeters, Perse-

phone, zur Unterweltsgöttin wird. Aber allein schon in der Tatsache, daß Persephone als Tochter Demeters dargestellt wurde, erschließt sich Ihnen der Einheitsaspekt der Seele. Sie wissen ja, daß in der

Mythologie die Söhne oder die Töchter jeweils nichts anderes darstellen, als den zum Bewußtsein, jedenfalls zu einem BildbewuBtsein,

gelangten Aspekt eines Elternteiles. Wenn also Demeter, die Frucht-

barkeits- und Lebensgöttin, Mutter der Persephone ist, die zur Unter-

weltsgöttin wird, so drückt sich darin die Entfaltung der Seele in ihre ambivalenten Teile aus. Die Mysterienhandlung, soviel wissen wir heute, endete mit der Wiedervereinigung, wenn auch nur auf kurze Zeit, von Mutter und Tochter, nachdem den Mysten in kulti-

scher Handlung das gesamte Mythologem dargestellt worden war, einer Handlung, an der sie selber teilnahmen und dadurch an ihr teilhatten. Daß in diesen Mysterien eine Art zumindest bildmäßigen Bewußtwerdens des Hadesaspektes der Seele geschah, dürfte nach dem Gesagten deutlich geworden sein. Und in welchem Maße die Erfahrung dieser dunklen Seite der Seele ein Bewußtwerdungsvorgang und damit bis zu einem gewissen Grade ein Integrationsprozeß des Unbewußten war, geht aus einem kleinen Zuge hervor, welchen

dieses Mythologem aufweist. Er wurde mir selber klar im Anschluß an das, was ich Ihnen über das Narziß-Mythologem ausführte: ich sagte, daß dieses Narziß-Mythologem neben den Meerfahrt-Mytho-

logemen und den Sonnen-Mythologemen eine Bewußtwerdung par excellence zum Ausdruck bringt. Narziß nannten die Griechen jenen,

der sich seiner selbst, im Spiegel des Wassers, also der Seele, ansichtig wurde. Und Narzissen sind es, welche Persephone, von Eros dazu verführt, pflückt, welches Pflücken sie an die Unterwelt ausliefert.

Zut Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

71

Aber diese Auslieferung an die Unterwelt ist eben fiir Persephone gleichbedeutend mit der Erfahrung der Unterwelt..

Mit diesen Hinweisen möchte ich keinesfalls beanspruchen, dieses

Mythologem oder diese Mysterien dargestellt zu haben, noch weniger

behaupte ich, daß ich alle in ihnen enthaltenen Züge erwähnte. Grundsätzlich ist zu bemerken, daß jedes Mythologem, sowie später auch fast jedes Symbol, alles enthält, jedenfalls alles, was sich auf die Psyche bezieht. Und was in ihnen verschwiegen scheint, ist wie die Rück-

seite eines Teppichs, an dessen negatives Bild wir meistens nicht denken, wenn

wir die uns zugewandte,

für uns gewobene

Seite an-

schauen. Ich habe nur einige Fäden, und vielleicht nicht einmal die wichtigsten, aus diesem großen Teppich herausgezupft. Doch das nur nebenbei. Und nebenbei sei des weiteren noch angemerkt, daß dieser

Hades, dieses Reich der Persephone, die die Hüterin der goldenen

Äpfel ist, daB dieses Reich des Dunkels in uns noch im dritten Jahr-

hundert nach Christi auch als das Reich des Chaos aufgefaßt wurde. Auf den letzten Seiten der «Pistis Sophia», einem koptisch-gnosti-

schen Text, den Carl Schmidt 1925 auf deutsch editierte, findet sich

der ungemein aufschlußreiche Satz: «Danach führen sie (die Dämo-

nen) sie (die Seele) zum Chaos vor Persephone.»

Doch bleiben wir nicht beim Chaos stehen, das wir streifen muß-

ten, da wir von der Einheit der Seele sprachen. Und wenn wir Einheit der Seele sagen, so sehen Sie jetzt, daß sich dieser Ausdruck durchaus

mit dem verträgt, was wir als Hauptcharakteristikum der Seele bezeichneten, nämlich mit ihrer Ambivalenz. Alle die Bemühungen, die ich Ihnen schilderte, galten ja der Integrierung dieser Ambivalenz, damit dem Einzelnen aus der Ambivalenz heraus die Einheit der Seele bewußt würde. Um

diese Einheit der Seele bemühte sich, wie

alle Philosophen seit Anaximander, auch Scotus Eriugena, der Früh-

scholastiker des neunten nachchristlichen Jahrhunderts, wenn er die

Seele gewissermaßen zweigesichtig darstellt, indem er ihr eine der Erkenntnis zugeneigte Komponente zuspricht und ihre andere als

leibbildend und leiberhaltend auffaßt. Mit dieser Auffassung drückt Johannes Scotus jene Wahrheit aus, um welche sich heute, mit viel Einzelwissen belastet, die Gestaltpsychologie einerseits, die psychophysischen Lehren andererseits bemühen. Doch nicht über diesen Aspekt

der Psyche haben wir zu sprechen, sondern unser Thema will zu Ende geführt sein, und dazu müssen wir versuchen, darauf hinzuweisen, daß auch in unseren Tagen auf Mittel und Wege gesonnen wird,

wie dem rationalisierten Europäer die Integrierung seines dunklen

72

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

und meist verleugneten Seelenteiles gelingen möge. Innerhalb der Wissenschaften zeigte C. G. Jung dafür einen Weg auf, mit dem, was er, psychologisch betrachtet, als die Integrierung des Schattens bezeichnete, welche den «Individuationsprozeß» zum Abschluß bringt. Und bei Jung finden Sie auch den sehr wichtigen Hinweis, daß sich dieser Integrierungsprozeß vornehmlich in der Lebensmitte abspielt, also um das vierzigste Lebensjahr herum, wenn das Leben, biologisch

gesehen, seinen Höhepunkt erreicht hat, um absteigend auf den Tod hinzugehen. Diese Erkenntnis von der Wichtigkeit der Lebensmitte spricht auch aus einem Gesetz, das bei den höheren Mönchsorden des Bud-

dhismus noch heute in Gültigkeit steht und welches vorschreibt, daß kein Novize in den Orden vor Ablauf seines zweiundvierzigsten Lebensjahres aufgenommen werden darf.

Mit diesen Ausführungen möchte ich nun endgültig unsere Be-

trachtungen über das Zustandekommen des Seelenbegriffes einerseits

und über deren Symbolik und Charakteristik andererseits abschließen. Das nächste Mal werden wir uns noch mit der Geistsymbolik zu be-

schäftigen haben und werden dort, ich glaube, ziemlich rasch zu einem klaren Resultat gelangen können, weil die bisher erreichten Abklärungen uns für die Erklärung des Geistbegrifles sehr zustatten kom-

men werden. Doch möchte ich nicht schließen, ohne nochmals ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß die Einheit der Seele, welche durch

den Einzelnen bewußt gemacht werden kann, an sich keineswegs etwa das Geistige als solches darstellt, sondern lediglich als die Grundvoraussetzung des Noëma, d.h. der geistigen Einsicht, angesprochen werden darf. Solange wir das nicht einsehen, bleiben wir trotz aller psychischen Erfahrung und trotz aller möglichen Bewußtwerdung in der Psyche stecken. Wir verfallen dann naturnotwendig in den Fehler, ja man könnte fast sagen: in das Laster, nur immer zu psychologisieren. Andererseits muß auch vor einer sogenannten Spiritualisie-

rung gewarnt werden, weil sie in der Überzahl der Fälle nichts ande-

res ist als eine angeblich sublimierte, meistens aber geleugnete Psychologisierung. In beiden Fällen bleibt jedenfalls die Gefahr bestehen, daß wir mit Hilfe psychologischer Terminologien glauben, den chaotischen Aspekt der Seele zu beherrschen, während sich diese das Ver-

gnügen leistet, uns immer tiefer in ihren zuweilen eben auch irr-

lichternden Bann zu ziehen. Denn damit, daß wir es lernten, gewisse psychische Phänomene mit einem Namen zu nennen, ist noch nichts getan. Jedenfalls sind sie durch diese Art modernen Besprechens

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

73

nicht gebannt. Im Gegenteil: ohne daB wir es merkten, sind wir in die magische Ebene zurückgerutscht, in welcher es erlaubt war, bannende Zauberformeln durch Namengebung und Namenverschweigung zu gebrauchen.

Doch ich môchte nicht wieder vom Chaos zu sprechen beginnen, das ich ja heute einige Male erwähnen mußte. Oder wenn das schon der Fall sein muß, dann soll es in dem Sinne geschehen, daß sich uns

eine Möglichkeit zur Überwindung desselben zeigt. So wie die Welt

heute ist, da nicht nur psychische, sondern auch physisch-physikalische Untiefen aufgerissen werden und das Unterweltliche auf immer breitere Schichten beginnt Einfluß auszuüben, dürfte die soeben genannte Einstellung vielleicht nicht ganz abwegig sein. Für die Fas-

zination, die dieses aufbrechende Chaos auf die heutige Menschheit ausübt, möchte ich Ihnen ein kleines Beispiel geben, das mir dieser Tage die Post in Form eines Briefes ins Haus trug. Da schreibt mir

nämlich ein Mathematiker,

der an einem weltbekannten

Atomfor-

schungs-Institut der Vereinigten Staaten kürzlich seine Arbeit auf-

nahm, folgende Sätze: «Natürlich ist die Arbeit ziemlich aufreibend,

und abends glaube ich oft, der Kopf müsse mir zerspringen, was nicht nur an der Schwierigkeit des Gebietes liegt, welches ich mathematisch

bearbeite, sondern vor allem auch daran, daß man da Einblicke in die

geheimsten Herzkammern der Natur bekommt — Einblicke von so

überwältigender Neuheit und Großartigkeit, daß man oft die dunkle Frage in sich aufsteigen fühlt, ob all das denn überhaupt gut für uns Menschenwürmlein sei und ob wir auch die Berechtigung hätten, so ganz tief zu den «Müttern», den Atomkernen, hinabzusteigen. Wie uns das alles bekommen wird, weiß ich nicht; aber jedenfalls haben

wir diese Straße nun beschritten und werden wohl nicht mehr aufhören können, sie weiterzugehen - sie ist zu verlockend, der Reiz, den all das ausstrahlt, ist ungeheuer. Aber ungeheuer und ungeheuerlich sind sehr nah verwandte Worte!» Ich glaube, ein Kommentar zu dieser Briefstelle dürfte sich erübrigen. Aber sie kann uns die Notwendigkeit einer Besinnung evident machen. Denn wenn wir die Katastrophe, die sich bereits deutlich abzuzeichnen beginnt, in irgendeiner Form überstehen wollen, so

wird es nötig sein, Kräfte zu wecken, die uns ein derartiges Über-

stehen ermöglichen können. Und dies ist einer der Gründe, warum wir uns in den nächsten Stunden nicht nur mit dem Geistbegriff beschäftigen wollen, sondern kurz noch einmal das streifen werden, was

wir als das No&ma bezeichneten.

74

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist VIII

Werfen wir nunmehr einen Blick auf die frühen Begriffe, mit welchen wir heute eine Vorstellung vom

Geist verbinden.

Da wire

zuerst das hebräische Wort «ruach» zu nennen, das ein Femininum ist und welches im Alten Testament meist mit «Geist», manchmal

mit «Wind» übersetzt wurde. Eine ausführliche etymologische Untersuchung dieses wohl frühesten Geistbegriffs unseres Kulturkreises,

welchen

die Hebräer bereits als ein der «nefesch»,

der Seele, ent-

gegenstehendes Prinzip empfanden, finden Sie in dem Buche «Die Schrift und ihre Verdeutschung» von Martin Buber und Franz Rosenzweig (Berlin 1936, S. 160-162). «Ruach» hat die gleiche Grundbedeutung wie andere Geistbegriffe auch; es bedeutet sowohl «pneuma», «Wind», als auch «Atem» und «Hauch» ; die gleiche Vorstellungswelt

ist im

griechischen

«logos» enthalten, welches, mit

«Wort» übersetzt, gewissermaßen «Klang gewordener Hauch» ist; das lateinische «spiritus» seinerseits bedeutet ursprünglich «Lufthauch»,

«Luft»,

«Wind»,

«Atem»;

dann

«Lebensluft»,

«Lebens-

hauch», «Leben» ; später neben «anima», das die gleichen Bedeutungen hat, bezeichnet es wie diese «Seele» und erst sehr spät im Gegensatz zu ihr «Geist» ; alle diese Vorstellungen nun sind noch in den heutigen Ableitungen von diesem lateinischen Worte «spiritus» enthalten; sie tönen überall durch, sowohl im englischen «spirit» wie im französischen «esprit», wie im spanischen «espirito» usw. Und das deutsche Wort «Geist» wurde im Anschluß an Wilhelm von Humboldts Aus-

führungen im Nachwort zu seinem Fragment «Über den Geist der Menschheit» durch Rudolf Hildebrand in seinem großen, überreichen

Artikel «Geist» im Grimmschen Wörterbuch (Bd. 4, 1, 2; Sp. 2623 / 2741), der 1926 auch als Separatdruck erschien, auf die Grundbedeutung «Atem», «Hauch», «Wind» zurückgeführt; diese Rück-

führung blieb aber nicht unwidersprochen; Trübner führt das Wort in seinem «Deutschen Wörterbuch» (1937) auf das indogermanische «gheizd»

zurück,

dessen Verbalwurzel

ghei

=

lebhaft bewegen,

heißt; so gesehen, kann man seine Grundbedeutung auch als «Lebenskraft» schlechthin angeben. Ermüden wir uns nicht weiter mit philologischen Untersuchungen, zumal aus dem bisher Gesagten deutlich hervorgeht, daß die Wörter, denen wir heute im Gegensatz zum Seelencharakter einen Geistcharakter zusprechen, alle dem seelischen, besser dem ManaBereich entwachsen

sind; dabei müssen wir noch nachtragen,

daß

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

75

auch das lateinische Wort «mens», vom griechischen «menos» abgeleitet, dem wir ja bereits begegnet sind, in diese Begriffsgruppe

gehört. Wir können sagen: ursprünglich besteht kein Unterschied zwi-

schen den Inhalten der Wörter «Seele» und «Geist» ; ja, sie sind dasselbe. Eine deutliche Unterscheidung tritt erst mit dem Beginn des Denkvermögens ein; in Griechenland mit Anaxagoras und Par-

menides; ich erinnere Sie an das früher zitierte Wort: «Denken ist

Sein.» Dieses Denkvermögen entsprang einer der Bewußtseinsmuta-

tionen,

die ich Ihnen

an dem

Entwurf der Vier-Ebenen-Struktur

darstellte und derzufolge dieses geistige Prinzip in eine begrifflich

unterscheidbare Formulierung gezwungen wurde. Interessant ist nun, daß damals dem neu gewonnenen und damit höchsten Vermögen des Menschen Geistcharakter zugesprochen wurde: dieses

Vermögen ist eben das Denken, das «noëin», der «nous». Wir wissen, daß es ein seelisches Vermögen ist, auf der rationalen Ebene

das höchste seelische Vermögen, das sich im Verlauf der weiteren

Bewußtwerdung immer stärker emanzipiert; so nimmt es nicht wunder, wenn schließlich sogar die Ratio als Geist angesprochen wird. Denken Sie an Klages: «Der Geist als Widersacher der Seele.» So nimmt es andererseits auch nicht wunder, wenn die philosophische und religiöse, vor allem die christliche Spekulation dieses neue Vermögen, sei es in den Kosmos projiziert oder hineingespiegelt, sei es dort tatsächlich eine diesem neuen menschlichen Vermögen, eine dieser neuen menschlichen Mächtigkeit entsprechende Mächtigkeit, wiederzufinden glaubt: da haben Sie die Geburt des «pneuma hagion», des « Heiligen Geistes» des

die der

«mens

divina»,

die des

«spiritus

«Neuen Testamentes»,

sacer»,

und

die

des

«animus divinus», den «göttlichen Weltgeist» des Cicero, welcher nicht nur von

Seneca übernommen

wurde,

sondern auch von den

Kirchenvätern, und unter ihnen vor allem von Augustin.

Halten wir hier einen Augenblick inne, um etwas Grundsätzliches

festzustellen. Ich meine, wir können

die Existenz eines geistigen

Prinzips selbst für die Frühzeit nicht in Frage stellen. Die Tatsache, daß es in ihr nicht begrifflich gesondert faBbar ist, spricht nicht gegen seine Existenz. Es ist zweifelsohne immer schon vorhanden. Ja es sucht nach Ausdruck in einer eigenen symbolischen Bilder-

sprache, die bei der Naturverflochtenheit des frühen Menschen zu-

erst eine Natursymbolik ist und erst später, mehr als nur dies seiend, in den Sonnenmythologemen um Ausdruck ringt. Denn sehr früh,

76

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

die Absonderung des Geistigen vom Seelischen gewissermaBen einleitend, schält sich, gleichsam ein Ausdruck der Vorbereitung zu einem neuen Bewußtseinssprung, jene Symbolik für das geistige Prinzip heraus, die seine Sonderstellung veranschaulicht: die Feuerund Lichtsymbolik, für welche das bekannteste Beispiel die Feuererscheinung bei der Ausgießung des Heiligen Geistes am Pfingsttag (vgl. Apostelgeschichte 2,3) darstellt. Diese Geistsymbolik hat ein Charakteristikum: soweit sie tatsächlich das geistige Prinzip ver-

sinnbildlicht, ist sie univalent, im Gegensatz zur Ambivalenz des Seelischen; insofern sie aber Symbolik ist, ist sie wie alles Seelische

ambivalent; selbst im Pfingsterlebnis kommt dies zum Ausdruck, nämlich insofern, als der Geist «ausgegossen» wird; ausgießen aber läßt sich eigentlich nur Flüssiges, vornehmlich Wasser, bildlich natürlich, also seelisch betont und nicht geistig betont, auch der Geist. Das tagende, erwachende Bewußtsein spiegelt sich in dieser Symbolik wider. Und trotz der aller Symbolik innewohnenden Ambivalenz ist die Geistsymbolik insofern univalent, als sie im Augenblick, da der Mensch sich bewußt etwas von der Natur abzulösen beginnt, zum

erhaltenden und haltenden Prinzip wird; dies im Gegensatz zum bewegenden, dynamischen Prinzip des Seelischen, das Wechsel ist, Zu- und Abnahme, und darin dem Monde gleich. In der Zuordnung des Mondes zur Seele drückt sich naturhaft ihr Verhältnis zum Geistigen aus, das durch die Sonne (die nur im Deutschen ein Femininum ist) symbolisiert wurde: das Geistige wirkt nur schwach und indirekt, nämlich als indirektes Licht durch die mondhafte Seele: diese

Seele ist, wie

Sie sehen,

nicht nur

Spiegel

des Narziß,

des

erwachenden Menschen; sie ist auch Spiegel des durch die Sonne symbolisierten Geistes. Aus dieser Sonnensymbolik für das geistige Prinzip ergibt sich auch dessen Dynamik, die ihm besonders in der katholischen Lehre noch heute zugestanden wird; auch hierin kommt seine mehr psychische Betontheit zum Ausdruck. Andererseits wurde der «Heilige Geist» aber auch entdynamisiert: so faßt die protestantische Theologie selbst den Heiligen Geist als Person auf: in dieser Erstarrung spiegelt sich, ins Makrokosmische übertragen,

die Erstarrung des Denkens in der begrifflichen Ratio. Anders verhält es sich dagegen mit dem Nachweis von C. G. Jung in seiner Arbeit «Zur Psychologie des Geistes», daß, psychologisch gesehen, sich der Geist im seelischen Geschehen als bildhafter Archetyp in den Gestalten des Vaters, des Weisen und anderer derartiger Aspektierungen mehr manifestiere. Ich persönlich wäre nun geneigt zu sagen,

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

77

daß dies weniger eine Manifestation sei, sondern eine Spiegelung,

eine «speculatio animae». Und sieht Jung vornehmlich diese Erscheinungsform, zu welchem Sehen ihn sein ungeheures Erfahrungsmaterial berechtigt, so müssen wir noch auf einen anderen entgegen-

gesetzten Vorstellungskreis verweisen, der sowohl in der Kabbala herrscht (vgl. dazu besonders Windischmann) wie auch im Manichäismus und in der Gnostik (vgl. dazu sowohl Usener wie

Neander, Menendez-Pelayo, Leisegang, Reitzenstein u.a.m.); in die-

sen religiôsen Systemen bzw. Geheimlehren, ja selbst in einem apokryphen Christuswort, das uns Origines in seinem Johannes-Kommentar überliefert hat, wird der Heilige Geist als weiblich aufgefaBt; und Usener vermutet, diese Vorstellung sei auf die Tatsache zurückzuführen,

daß «ruach» im Hebräischen Femininum ist.

Er gibt damit aber nur eine philologische Erklärung, die unzulänglich sein diirfte. Jedenfalls erklart sie durchaus noch nicht die Tatsache, daß der Geist auch durch die Taube, also durch ein weibliches

Tier, symbolisiert wird. In jedem Falle düfte diese Symbolisierung in engem Zusammenhange stehen mit den letzten Sätzen Goethes im Faust, wo er unter der Gloriole der himmlischen Heerscharen von

dem «Ewig-Weiblichen», das uns hinanzieht, spricht. Dies diirften die wichtigsten Aspekte, Symbolisierungen und Spekulationen sein, unter welchen der Geist betrachtet wurde. Es kann

hier nicht unsere Aufgabe sein, nun auch noch die gesamte mittelalterliche und neuzeitliche, einerseits religidse, andererseits philosophische. Unzahl an Definitionen der Begriffe «Seele» und «Geist» zu erwähnen; das würde mit einem AbriB der Geschichte, der Religion und der Philosophie gleichbedeutend sein. Halten wir lediglich fest, daB am Ende der philosophischen Definitionen jene von Hegel

steht, der, den Geist aus allem Lebendigen fortspekulierend, ihn als «absoluten Geist» hinstellte, über den dann die Existentialisten

neuster Prigung ihren Formalismus ausbreiten konnten. Solange das Denken noch ein lebendiges war, also bis zu Leibniz und Goethe, lebte das geistige Prinzip noch, es wurde wenigstens gedacht; seit der zunehmenden Erstarrung der Begriffe mit der zunehmenden Intellektualisierung und Rationalisierung ist dieses geistige Prinzip, für welches das Denken leistete, was es leisten konnte, ohne neue Echomöglichkeit im Menschen verborgen; aus manchen spricht es noch im Traum, aus manchen in Form der Schauung oder in der Form verspäteter mystischer Versenkung. In der Wachheit

finden wir es kaum mehr, seit das Denken sich in der Ratio zutode lief.

78

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

Früher, in der frühesten Zeit, «fühlte» (und ich setze auch dieses

Wort in Anführungszeichen) der Mensch etwas Geistiges durch die Manahaftigkeiten hindurch, aber es steht zu vermuten, daß er es damals noch nicht vom bloB Seelischen unterscheiden konnte. Dann,

auf der mythischen Ebene, bildete es sich in jener univalent betonten

Symbolik heraus, zu der auch die Sonnensymbolik zu rechnen ist,

die wir vorhin erwähnten. Dann, am Anfang der mentalen Struktur, als das Denken einsetzte, begann der Mensch dieses Prinzip dank der denkenden Seele zu formulieren: ihm ging gewissermaßen ein Licht auf -- nun nicht mehr bloß bildlich im Außen, sondern jetzt schon bildlich und formal im Innern. Inzwischen hat sich der abendländische Mensch 2000 Jahre um die Klarmachung und Läuterung dieses Begriffes bemüht - schließlich hat er ihn so zerdacht, daß von ihm nichts mehr übrigblieb. Besteht die Möglichkeit, daß er diese jetzt eingetretene offensichtliche Lücke -- überspringt? Wir können

es nicht wissen, höchstens nach Anzeichen

suchen,

die eine bejahende Antwort zulassen könnten. Ich meine, daß es derartiger Anzeichen und Hinweise sehr viele gibt; überall! Um aber cine Beantwortung dieser anspruchsvollen Frage zu ermöglichen,

müssen wir noch einmal auf das bisher Gesagte zurückschauen: Fassen wir es in wenigen Sätzen zusammen, so ist das Resultat unserer Bemühungen, daß wir «die Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist» mehr oder weniger zum Abschluß brachten. Aber nur insoweit diese Geschichte Vergangenheitscharakter hat, der in uns, dank der latenten und effektiven Erinnerung psychisch, dank der körperlichen Struktur, vor allem des Nervensystems, physische Präsenz besitzt. Uns bleibt noch - streben wir, wie es heute nötig ist, eine, sagen wir: ganzheitliche Auffassung an — den Blick auf das zu werfen, was wir den Zukunftsaspekt der Geschichte

nannten. Auch diesen können wir betrachten, und zwar ohne daß wir

deshalb Prophezeiungen oder auch nur Prognosen aufstellen müßten. Denn die Zukunft ist als Latenz bereits eine Präsenz! Sie liegt als

solche allen Äußerungen jedweder Epoche zugrunde und läßt sich

einsehen, dann, wenn man die Schichtungen, die sie überlagern, einsieht. Ich hoffe, daB dies jetzt, nachdem wir die Vier-Ebenen-

Struktur an zahlreichen Beispielen auch indirekt exemplifiziert haben, móglich sein wird. Nachdem wir am Beispiel der Symbolik für die Lebens- und Todesseele die Charakteristika des Psychischen festgestellt haben: 1. seine Ambivalenz, 2. seine Dynamik, 3. seinen lunaren, spiegelhaften Cha-

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

79

rakter, stellten wir auch die Charakteristika des geistigen Prinzips

fest: 1. seine Univalenz, 2. seine Konstanz, 3. seinen Lichtcharakter.

Wir dürfen von einer Konstanz des geistigen Prinzips insofern spre-

chen, als es das, wie wir sagten: haltende Prinzip ist, das Sie auch als ethaltendes oder zusammenhaltendes apostrophieren können, vor

allem aber als richtendes Prinzip ansprechen diirfen, was ich Ihnen ja in meinen Ausführungen darlegte. Ich versuchte,

das BewuBtsein

zu definieren,

und

fügte diesem

Begriff insofern Neues hinzu, als ich nicht nur von einem richtenden, sondern von einem einsehenden, einem noématischen Bewußtsein

sprach. Ich sagte Ihnen, daB ich mit dieser Definition meinen Ausführungen vorausgriffe. Ich bin Ihnen also noch Rechenschaft über das Wagnis schuldig, diese Definition postuliert zu haben. Da wir mehr oder weniger die Bewußtseinsmutationen in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen gestellt haben, konnten wir vorhin die Erhellungen desselben ziemlich rasch zusammenfassend überblicken: diese Erhellungen sind gleichbedeutend mit einem immer stärkeren Durchscheinen des geistigen Prinzips. Erschien es auf der magischen Ebene noch wie hineinverflochten in das urwaldund dschungelmäßige Verflochtensein der Manahaftigkeiten, die im numinosen Erlebnis psychische Gestalt annehmen, so wurde auf der mythischen Ebene dieses Prinzip, zwar immer noch verquickt mit

dem Psychischen, insofern sichtbarer, als es in der ihm eigen gewordenen Symbolik Bildcharakter annahm. Auf der rationalen Ebene dann, an deren Ende wir vermutlich stehen, geschah jener ungeheuere Sprung aus dem Bildhaften in das diskursive Denken: dem Bewußtsein ging gewissermaßen ein neues Licht auf. Die Erstarrung des Denkens

im

Intellekt

seit

etwa

vier

Generationen,

seit

etwa

1820/1830, machte uns dann darauf aufmerksam, daß diese Bewußt-

seinsfähigkeit ihre Rolle ausgespielt haben könnte, daß das geistige Prinzip, welches sich in ihr manifestierte, alle seine Manifestationsmöglichkeiten vermittels der bloßen Denkfähigkeit oder in der Denkfähigkeit erschöpft habe. Demnach wäre die Situation heute so, daß dieses Prinzip einer neuen menschlichen Fähigkeit bedürfte, um sich manifestieren zu können. Es dürfte klar sein, daß es eine neue Fähigkeit sein muß;

das bloße Erlebnis numinosen Charakters, das bloße Schauen, sei es

mythische Bildträchtigkeit oder Bildaussage, sei es mystische Ver-

sunkenheit im Seelischen, aber auch das bloße Denken - sie alle blei-

ben freilich nach wie vor, wenn auch reduzierte Möglichkeiten für

80

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

die Annaherung an das geistige Prinzip, aber sie allein sind nach den

erfolgten Bewußtseinsmutationen nicht mehr ausreichend kräftige

Träger desselben, sind der erreichten Bewußtseinslage nicht mehr adäquat.

Wenn

neuen

Sie nun fragen würden, in welcher Fähigkeit ich diesen

Träger

des geistigen Prinzips

Erlebnis, das Schauen und das Denken

vermute

— wobei

dann

das

nur noch Hilfsdienste, aber

immerhin solche von ausschlaggebender Wichtigkeit, leisten würden -- wäre meine Antwort: das neue Vermögen, zu welchem hin der Mensch gewissermaßen auf dem Sprunge ist — deshalb wird ja heute so viel Abgründiges sichtbar - ist das Vermögen der Einsicht, das Noéma.

Ich definierte Ihnen dieses Wort bereits: es ist gleichzeitig ein

< Hineinsehen» und ein «Einigsehen»

; es hat integrierenden Charak-

ter. Vermittels ihrer erlebt der Mensch nicht nur die Manahaftigkeit

der numinosen Welt, schaut er nicht nur die Ambivalenz alles Bild-

lichen, denkt er nicht nur die dualistische Polarität des Denkbaren,

sondern vermittels ihrer sieht er die Entsprechungen ein und, was wichtig ist, über sie hinaus! Ich deutete schon an, daß es sehr viele Anzeichen und Hinweise

dafür gäbe, daß sich heute eine neue Bewußtseinsmutation abspiele, daß, anders ausgedrückt, der Mensch sich anschicke, eine neue Ebene zu gewinnen, eine fünfte, die ich bereits in der allerersten Stunde

erwähnte

und

die

ich

unverpflichtend

vorerst

einmal

als

die

aperspektivische bezeichnete. Aperspektivisch insofern, als sie über die

unperspektivische Welt des Bildhaft-Seelischen und über die perspektivische der rationalen Denkpunkte hinausgeht; aperspektivisch, weil sie nicht nur spekulativ, welcher Begriff sich ja in Perspektive verbirgt, weil sie nicht mehr nur spiegelhaft ist, sondern alle Spiegelaspekte, die subjektiven und die vermutlich auch existenten objektiven Spiegelaspekte integrierend zusammensieht; damit stellt sich diese aperspektivische Ebene gewissermaßen über das nur Unperspektivische und über das nur Perspektivische. Ich bin mir durchaus der Verantwortung bewußt, welche meine Behauptung einschließt, daß sich eine neue Fähigkeit der menschlichen Rezeptivität herauszubilden beginne, und daß sich überall Anzeichen für eine neue Einstellung zur Welt, welche sich auf das Vermögen der Einsicht gründet, zeigen. Sie finden tatsächlich überall

Anzeichen dafür: nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch in

allen Künsten, ja selbst in den Äußerungen und Formen des täg-

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

81

lichen Lebens. Im Rahmen unserer Untersuchungen kann ich Ihnen

nicht darlegen, inwiefern dies äberal] der Fall ist, denn anders säßen

wir möglicherweise Ende dieses Monats noch hier. Ich muß also ein Gebiet herausgreifen, um Ihnen das Behauptete zu veranschaulichen.

Ich werde dafür das Gebiet der Sprache, enger gefaßt, Dichtung, heranziehen und werde dabei darauf verzichten die eventuellen Ergebnisse, die wir erzielen, durch parallele nisse, die sich aus einer entsprechenden Darstellung anderer

das der müssen, ErgebGebiete

ergeben würden, zu stützen. Kurzum, ich muß Sie bitten, nicht voll-

gültige, handfeste Beweise erwarten zu wollen, sondern eher Andeutungen, die von jener Behutsamkeit sind, zu welcher uns dieses Thema doch wohl verpflichtet; alles andere wäre, um es in der Ihnen bekannten Symbolik auszudrücken, ein unverantwortliches Spiel mit dem Feuer. Dieses unverantwortliche Spiel mit dem Feuer wollen wir der Atomphysik überlassen, um das nächstemal angesichts dieses verdorbenen und verderbenden Feuers den möglichen neuen Aus-

drucksformen des letztlich unsichtbaren Feuers oder, besser gesagt:

des unsichtbaren Lichtes nachzuspüren. Denn es steht zu befürchten, daß, finden wir es nicht und wird es nicht in uns dank seiner Bewußt-

werdung wirksam, daß wir dann tatsächlich eines Tages buchstäblich verbrennen.

IX

Nachdem wir das letztemal unsere Ausführungen zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist zum Abschluß gebracht haben, insofern diese die bisherigen Vorstellungen betraf, bleibt uns nunmehr noch übrig, einen Blick auf das zu werfen, was sich hinsichtlich des Geistes oder, wie wir es nannten: des Noëma, in unseren Tagen herauszukristallisieren beginnt. Ich sagte Ihnen, daß sich eine neue Fähigkeit der menschlichen Rezeptivität herauszubilden beginne und

daß sich überall Anzeichen für eine neue Einstellung zur Welt zei-

gen, welche sich auf das Vermögen des Noëma oder der Einsicht

gründet. Ob dieses No&ma, objektiv betrachtet, etwas Neues ist, steht

hier nicht zur Diskussion. So viel jedoch können wir vielleicht sagen, daß nämlich die Art der Kontaktung mit ihm neu ist, insofern sie

durch eine neue Bewußtseinslage, welche wir die aperspektivische oder noëmatische nannten, ermöglicht wird. Um Ihnen nun dieses

82

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

Noéma, wenn auch nicht darzustellen, so doch anzudeuten, sagte

ich Ihnen, daß ich dazu ein bestimmtes Gebiet der menschlichen Ausdrucksweise heranziehen würde, in welchem sich diese neue Ein-

stellung vorerst freilich nur keimhaft und kaum sichtbar ablesen läßt. Ich entschloß mich, das Gebiet des Sprachlichen, das der Dichtung

für diese Andeutungen heranzuziehen, weil sie das aufschlußreichste

Gebiet ist. Ich stehe, wie ich letzthin entdeckte, mit meiner Ansicht

nicht vereinzelt da. Whitehead,

einer der größten gegenwärtigen

angelsächsischen Philosophen, der Bergsonianer ist, formulierte diese

Ansicht in seinem Buche: «Science And Modern World» mit den Worten: «It is in literature that the concrete outlook of humanity receives its expression. Accordingly, it is to literature that we must

look, particularly in its more concrete forms, namely in poetry and drama, if we hope to discover the inward thoughts of a generation.» («In der Literatur erhält der konkrete Ausblick auf die Menschheit

seinen Ausdruck. Entsprechend ist es die Literatur, die wir betrachten

müssen, besonders ihre konkretere Form, nämlich die Poesie und das Drama, wenn wir die inneren Gedanken einer Generation zu ent-

decken wünschen.»)

Doch nur die beutige Dichtung zu betrachten würde für unser Unterfangen nicht ausreichen. Wir müssen den Bogen weiter spannen. Unser diskursives Denken zwingt uns zu vergleichen, wenn wir

neue Resultate erhalten wollen. In unserem Falle handelt es sich darum, festzustellen, inwiefern sich heute im dichterischen Ausdruck

Ansätze zu einer neuen Bewußtseinslage erkennen lassen. Dazu ist es nötig, daß wir uns über das Wesen des Dichterischen als solches Klarheit zu verschaffen suchen.

Über das Wesen des Dichterischen oder über das Mysterium der

Dichtung etwas auszusagen, scheint ein nutzloses Unterfangen zu sein, vergleichbar einer Bemühung, das Geheimnis zu lüften, das hinter aller Formwerdung steht und das durch verstandesmäßige Mittel nicht erschlossen werden kann. Sowenig wir sagen können, was das Wesen einer Blume sei, sowenig können wir sagen, was das Dichterische ist. Die einzig wirklich gültige, die unmittelbare Aus-

sage über beide ist ganz einfach ihr geheimes und doch offenbares

Dasein. Wir können höchstens versuchen, auf eine mittelbare Weise dieses Geheimnis etwas zu lüften. Wir können versuchen, dieser

geheimnisvollen Existenz dadurch auf die Spur zu kommen, daß wir einerseits nach ihrer Entstehung, nach ihrer Quelle fragen, andererseits nach ihrer Wirkung, hoffend, ein solches Vorgehen werfe ein

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

83

wenig Licht, wenn schon nicht auf das Gedicht als solches, so doch auf das werdende Gedicht und auf das wirkende Gedicht.

Dieser Doppelaspekt: die Frage nach der Quelle und die nach der Wirkung, wird also gewissermaßen das Rückgrat unserer Untersuchung bilden. Die Tatsache aber, daß wir heute eine fast dreitausendjährige dichterische Bemühung des Abendlandes überschauen, bringt noch ein drittes Moment in unsere Betrachtung hinein, welches sehr aufschlußreich sein dürfte: das Moment, welcher Art die Wandlungen sind, die das Dichterische in diesen hundert

Generationen

durch-

machte. Um Ihnen sogleich eine Idee davon zu geben, was damit gemeint ist, und um Ihnen gleich eingangs zu zeigen, welch eine erstaunliche Spannweite nicht nur zwischen der Quelle und der Wirkung der Dichtung besteht, sondern auch hinsichtlich ihrer Entwicklung, möchte ich die mir als frühest bekannte Aussage über das Dichterische einerseits und daran anschließend zwei der «modernsten» andererseits anführen. Platon hat uns in seinem Jugenddialog, dem «Ion», den er als wohl Zwanzigjähriger schrieb, nachdem er seine eigenen Dichtungen verbrannt hatte und Schüler des Sokrates geworden war, einiges über die griechische Auffassung des Dichterischen übermittelt. Er schreibt

(ich zitiere nach der Übersetzung von Susemihl):

«Und gerade wie die Bacchantinnen nur im Zustande der Verzückung aus den Strömen Milch und Honig schöpfen, nicht aber, wenn sie ihres Bewußtseins mächtig sind, so vermag auch die Seele

des Liederdichters nur in Begeisterung und Verzückung ein Ähn-

liches zu tun, wie sie auch selbst behaupten... Denn ein Dichter ist ... nicht eher imstande zu dichten, als bis er in Begeisterung gekommen und außer sich geraten ist und die klare Vernunft nicht mehr in ihm wohnt; solange er aber diese klare Besinnung noch besitzt, ist jeder Mensch unfähig, zu dichten und zu weissagen... Ein jeder (aber vermag) das schön zu dichten, wozu die Muse ihn antrieb, der eine bloße Dithyramben, der andere Loblieder... Und zwar hängt der eine Dichter an dieser der andere an jener Muse; wir nennen das zwar «er ist von ihr ergriffen», aber dies läuft ja auch

ziemlich auf dasselbe hinaus, denn er wird doch eben auch von ihr

festgehalten... Wenn aber jemand eine Weise von diesem (oder jenem) Dichter ertönen läßt (so bist du) sogleich wach und deine Seele jubelt.»

Der gleichen Auffassung über das Dichterische und den Dichter

84

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

begegnen Sie auch noch bei Cicero in dessen Schrift: «De natura deorum». Die andere Aussage findet sich in einem der Aufsätze des groBen englischen Dichters ΤῸ 9. Eliot und ist im Jahre 1917 geschrieben worden. Sie lautet: «There is a gread deal, in the writing of poetry, which must be conscious and deliberate. In fact, the bad poet is usually unconscious, where he ought to be conscious, and conscious, where he ought to be unconscious. Both errors tend to make him «personals» Poetry is not a turning loose of emotion, but an escape from emotion; it is not the expression of personality, but an escape from personality. But, of course, only those who have personality and emotions know what it means to want to escape from these things.» («Beim Dichten ist ein gut Teil, der bewußt und wohl erwogen sein muß. In der Tat, der schlechte Dichter ist gewöhnlich dort unbewuBt, wo er bewuBt sein sollte, und bewußt, wo er unbewuBt

sein sollte. Beide Irrtümer zielen darauf ab, ihm eine «persönliche Note» zu geben. Dichtung ist nicht ein Andrehen des Gefühls, sondern ein Entkommen

nicht der Ausdruck

[ein Gerettetwerden] vor dem Gefühl; sie ist

der Persónlichkeit,

sondern

ein Entkommen

«ein Gerettetwerden» vor der Persónlichkeit. Jedoch nur jene, die sowohl Persónlichkeit als Gefühl besitzen, wissen, was es bedeutet,

vot diesen Dingen entkommen [oder gerettet werden] zu wollen.») Diese Auffassung T.S.Eliots kónnen wir noch durch eine fast parallel laufende von Paul Valéry ergänzen, der schreibt: «J'aimerais mieux écrire en toute conscience et dans une entière lucidité quelque chose de faible, que d'enfanter à la faveur d'une transe et hors de moi-même un chef-d’œuvre d’entre les plus beaux.»

Ich bitte Sie, aus dieser Gegenüberstellung vor allem ein Merkmal im Auge behalten zu wollen: für Platon steht fest, daB der Dichter, solange er ein klares Bewußtsein besitzt, unfähig sei, zu dichten; für Eliot und Valéry dagegen ist die BewuBtheit der ausschlaggebende Faktor.

Wir werden noch verschiedentlich Gelegenheit haben, auf diese Zitate zurückzukommen. Sie mógen unserer Untersuchung als der Hintergrund dienen, auf dem die Frage nach der Quelle und der Wirkung des Gedichtes eine lebendige Kontur erhält. Mit diesen einleitenden Ausführungen wäre, wie ich hoffe, die Struktur

und

der

Rahmen

unserer

Untersuchung

gegeben.

Die

erste Frage, die wir nun zu beantworten hätten, ware die Frage nach

der

Quelle

des

Dichterischen.

Und

da

sehen

wir,

daB,

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

85

als der erste europäische Dichter zu singen beginnt, gleich seine ersten Worte diese Quelle nennen: es ist die Muse. Beginnt doch die Ilias mit jenem: « Mijvi» ἄειδε ϑεά...», «Den Zorn singe, Göttin...». Und die Odyssee: 42000 μοι ἔννιπε Μοῦσα», «Den Mann nenne mir, Muse...» Und eine groBe Anzahl der «Homerischen

Hymnen», jene an Hermes, an Aphrodite, an Pan, an Selene, jene an die Dioskuren und an die Mutter der Gôtter, heben ebenfalls mit

der Aufforderung an die Muse an, daß sie singen möge. Auch später noch begegnen wir immer wieder dieser Anrufung: außer bei Hesiod in seiner Theogonie, deren erste 150 Verse ausschließlich den Musen gewidmet sind, bei Pindar zu Beginn der ersten und der vierten pythischen Siegesode, dann bei Vergil, ja selbst noch bei Dante, im Anfang des Purgatorio, wenn er sagt: «O sante Muse, poi che vostro sono...», «O heil’ge Musen, der ich euer bin, / helft mir in jenem Ton mein Lied zu wagen.»

Was nun bedeutet es, daß diese Dichter die Muse anrufen, damit

sie singe? Wer ist diese Muse? Jacobi führt in seinem «Handwörterbuch der griechischen und römischen Mythologie» (Leipzig, 1847) mehrere Belege dafür an, daß sie «Mütter der Sänger» genannt werden. Diese Bestimmung ist jedoch so allgemeiner Art, daß es nötig scheint, zu sehen, ob uns die antiken Quellen nicht noch etwas mehr über die Muse verraten. Wir wollen aber hier nicht das ganze, ziemlich umfangreiche Material untersuchen, das ich zu diesem Zwecke zusammentrug, noch uns in mythologische Spekulationen verlieren. Ich will mich darauf beschränken, die kürzesten und

wesentlichsten Aussagen zu nennen. In seinem Artikel über die Musen in Roschers Lexikon bezeichnet O. Bie jene Muse, die Homer anruft, sehr treffend als die « Urmuse».

Diese Urmuse,

die Mutter der Musen

Plutarch in seinen «Tischreden»

(welche Musen, wie

berichtet, an einigen

Orten

den

gemeinschaftlichen Namen Mneiä führten), ist Mnemosyne. Was aber heißt sowohl Mneiä als Mnemosyne? Eine gute Definition finden wir in Preller-Roberts «Griechischer Mythologie»: «Mnemosyne,

d.i. Gedächtnis,

Erinnerung,

eine Göttin

der titanischen

Weltordnung, war als Mutter der Musen allgemein bekannt und gefeiert... (Sie) ist wesentlich Erinnerung an die große Tatsache (der Begründung einer neuen Weltordnung durch den Kampf der Titanen) und die »atürliche Begeisterung, welche von der Schönheit

und Harmonie der Welt ausgeht. Später ist daraus eine Göttin der Erinnerung und des Gedankenausdruckes und der Namengebung

86

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

überhaupt geworden. Mnemosyne pflegte mit den Musen zusammen

verehrt und abgebildet zu werden.» Und Rudolf Otto weist darauf hin, daß Mnemosyne das alte Sanskritwort «manana» enthält, welches «heiliges Sinnen» und «Versenkung» bedeutet. Zudem erinnere ich daran, daß der dem heutigen Englisch noch sehr geläufige Ausdruck «to muse» fiir «sinnen, nachdenken, versonnen sein» gebraucht wird und daB «the muser» der Sinnende, der Träumer bedeutet.

Halten wir also fest: die Urmuse, die Mnemosyne, ist Erinnerung,

d.h. sie ist der Vorgang oder das Vermôgen, sich eines Geschehens

oder Sachverhaltes zanezuwerden; sie ist Gedächtnis, ist die Fähigkeit

des Gedankens, sie ist also letztlich Dank, da der Stamm von «denken» «danken» ist; denken aber und danken sind die subtilsten

Qualitäten der Seele, sind Vorgänge à fleur d’eau, sind Vorgänge à

fleur d’äme. Was aber wird erzzzert, was wird verdankt? Und man

kann hinzufügen: was wird diktiert?, da «dichten» sich ja von «dictare» ableitet. Auch diese Frage wird sich am besten aus den alten Quellen selbst beantworten lassen: in einer der «Orphischen Hymnen»,

in jener, die an die Musen

gerichtet ist, werden sie die

«Vielgestaltigen» genannt und «Nährerinnen der Seele». Sie sehen, wir sind mitten in unserem Thema. Und zufolge dem, was wir kiirzlich tiber die «Seele» ausfiihrten, liegt jetzt die Frage nahe, ob die Musen, diese

«Nährerinnen der Seele», in der antiken Mythologie

nicht mit dem Wasser in Beziehung gesetzt worden sind. Dafür aber gibt es nun, wenn man den «Quellen» sorgsam nachgeht, eine groBe Zahl von Anhaltspunkten und Belegstellen. Die Musen sind ursprünglich Wassernymphen, Quellnymphen, worauf sowohl Usener in seinen «Sintflutsagen» als Friedrich Creuzer in seiner «Symbolik» und in seinen «Deutschen

Schriften»,

sich dabei auf Ciceros «De

naturam Deorum» (IIT, 21) stützend, hinweisen, während sowohl bei Jacobi als auch in Hastings «Encyclopaedia of Religion and Ethics» und auch bei Roscher verschiedene Belegstellen genannt werden,

die diesen Nymphencharakter der Musen bezeugen. Da nimmt es denn nicht wunder, daß außer einigen Bergen es vor allem Quellen sind, die ihnen heilig waren:

So die Quelle Hippokrene und, wie

E. Peterich in seiner «Kleinen Mythologie» schreibt: «jene Kastalia bei Delphi, von der rómische Schriftsteller sagen, daf) ein Trunk ihres Wassers die Dichter zu Gesängen mitreife»; so zwei weitere, die Karl Philipp Moritz in seiner «Götterlehre» erwähnt: die Quellen

Aganippe

und

die

in immerwährender

Pimplea, welchen vier Quellen

Fülle

sich

ergieBende

Jacobi noch in Korinth die von

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

87

Peirene hinzuzufügen vermag. Darüber hinaus sagt Hesiod in seiner Theogonie (Vers 6), daß ihnen auch ein Fluß, der auf dem Helikon entspringende Olmeios, heilig war. Und in Athen, wo sie, wie Polemon berichtet, verehrt wurden, teilten sie den Kult mit ihrer Mutter,

wobei ihnen Opfergaben, bestehend aus Wasser oder aus Milch und Honig ohne Wein, dargebracht wurden. Eine andere Spur der Verehrung der Mnemosyne findet sich bei dem Orakel des Trophonios

in Lebadeia, welches Frau Dr. Philippson aus seiner Landschaft heraus darstellte und in welchem, wie Pausanias berichtet, der

Orakelbefragende zuerst vom Wasser der Lethe trinken mußte, um alles zu vergessen, was er bisher gedacht, und dann vom Wasser der Mnemosyne, um sich all dessen zu erinnern, was er drinnen (in der Orakelhöhle) gesehen und gehört hatte.

Fügen wir diesen Überlieferungen noch jene hinzu, die auch

R. von Scheliha erwähnt, daß Homer

gottes, des Melas,

gewesen

sei,

selbst der Sohn eines Fluß-

«während für Aristoteles,

der die

Überlieferung ehrt, der Vater des Dichters ein Musengeist» («δαίμων

τῶν συγχορετῶν ταῖς Μούσαις») war, so rundet sich das Bild, das

wir aus der mythischen Überlieferung erhalten. Und wir können jetzt

versuchen, es klar zu umreißen:

Die Musen sind ein Bild für die durch das Wasser symbolisierte

Lebensseele, und zugleich, in dem Moment, da der Dichter sie anruft,

die Erinnerung an alle Kräfte dieser Lebensseele und die Versenkung

in sie. Die

Muse

ist das latente

Gedächtnis der Welt, zu dem

der

Dichter Zutritt erlangt und aus dem er jene mythischen Bilder schöpft, welche die Wirkung der antiken Dichtung ausmachen. Wir können diese Deutung aber auch weniger allgemein ausdrücken, indem

wir sie einerseits mythologisch,

andererseits psychologisch

fassen: Mythologisch, indem wir sagen: der Dichter, der von der Lebensseele «ergriffen» wird, wie Platon im «Ion» es bezeichnet, bildet in mythischen Bildern die Vorgänge des Gewordenen ab und reißt es an die Schwelle des Bewußtseins: er schöpft den Mythos. Allein schon dies Wort: das «Schöpferische», verweist uns auf den

ur-gegebenen Zusammenhang dieses Vorganges mit dem Wasser, also mit den Tiefen der Seele; was in ihnen wie vergessen, weil nicht

erinnert, schläft, das schöpft der Dichter. So gesehen, ist es nicht

zufällig, wenn, wie Pausanias berichtet, den Musen «in Trözen, ...

zusammen mit dem Schlafgotte Hypnos geopfert (wurde)». Wollen wir jedoch das Ergebnis psychologisch fassen, so können

wir bereits bei Aristoteles anknüpfen, der in seiner «Poetik», etwa

88

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

40 Jahre nach der noch durchaus mythisch gehaltenen Deutung des Dichterischen durch Platon, bereits eine stark rationale Erklärung von dem Ursprung der Dichtung gibt, wenn er schreibt: «Im allgemeinen scheinen es zwei, und zwar natürliche Ursachen gewesen zu sein, die die Dichtkunst hervorgebracht haben. Denn der Nach-

ahmungstrieb», und hier müssen wir einschaltend fragen: was wird nachgeahmt?, wohl doch nur die «natürliche Ursache»! — «denn der Nachahmungstrieb ist dem Menschen von Kindheit an angeboten... Da uns nun der Nachahmungstrieb und der Sinn für Harmonie und Rhythmus -- denn die Versmaße sind offenbar nur Auswirkung des Rhythmus - angeboren sind, so haben Menschen, die von Haus aus

dazu besondere natürliche Begabung hatten, die Dichtkunst hervorgebracht, indem sie aus bloBer Improvisation diese höher entwickelten.» Zu diesen Sätzen des Aristoteles ist eines zu bemerken: daß auf das Adjektiv «natürlich» besonderes Gewicht gelegt werden muß. Ich habe an anderem Orte auf die in der antiken Philosophie herrschende Adjektivlosigkeit der Sprache hingewiesen; um so gewichtiger ist es, wenn einmal ein Adjektiv gebraucht wird, das sich im vorliegenden Falle ja durchaus mit den mythos-deutenden Aussagen neuerer Mythologen deckt. Ich verweise hinsichtlich dieses Zusammenhanges von Mythos und Natur außer auf Adalbert Kuhns «Die

Herabkunft des Feuers» (Berlin, 1859) vor allem auf Heinrich Zimmers «Maya, der indische Mythos» (Berlin, 1936), sowie auf die

Schriften von Karl Kerényi, besonders aber auf jene, die C.G. Jung in Verbindung mit Kerényi veröffentlichte. Eine jedoch ganz ausgesprochen, ja modern anmutende psycho-

logische Beurteilung dessen, was mythischer Vorgang sei, finden wir

bei Plutarch, der in seinem «Erotikos» schreibt: «Chrysippos ... leitet nämlich den Namen (des Gottes) Ares von anhairein ab, das heißt töten, und gibt dadurch denen eine Handhabe, welche meinen,

daß das Kampflüsterne in unserer Natur und Streitsüchtige und Jähzornige Ares genannt werde... «Wie nun», nahm mein Vater das

Wort,

«den Ares, hältst du für einen Gott oder für einen unserer

Aflekte?, Darauf erwiderte Pemptides, seiner Meinung nach sei Ares ein Gott, der die zürnende und männliche Komponente unserer Natur ausmache!»

In diesen Sätzen des Plutarch steckt das, was wir, psychologisch gesehen, «Projektion» des eigenen Mana ins Numinose nannten und was harmonikal betrachtet als «psychische Resonanz» bezeichnet wird.

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

89

Ziehen wir nun noch die Ausführungen von C.G. Jung «Uber die

Psychologie des Unbewußten» in Betracht, so dürfen wir ohne Zweifel wie folgt formulieren: Die Muse, die Mnemosyne anrufen, besagt: die Erinnerung an «archetypische» Gegebenheiten wachrufen, die im «kollektiven Unbewußten» schlummern, das, wie wir bereits wissen,

eben jenes Meer der Seele ist, von dem wir so oft sprachen. Das

nächstemal

werden

wir, wie

ich hoffe,

wenigstens

andeu-

tungsweise sehen, inwiefern der heutige Dichter der Vorläufer eines neuen Vermögens des Bewußtseins ist, mit dessen Hilfe er sich gegen das «Ergriffensein» wehrt — ich erinnere Sie an die eingangs zitierten Sätze Valérys und Eliots. Vielleicht, daß dieser neuen Dichtergeneration bei ihrer Meerfahrt, falls es noch eine Meerfahrt ist, wenn nicht neue Strände, so doch neue Sichten winken.

X Halten wir zuerst kurz fest, welchen Schluß wir aus dem, was wir ausführten, ziehen konnten.

Wir sprachen über die Quelle des Dichterischen und erkannten, daß diese die Erinnerung ist, welche durch die Muse symbolisiert

wurde. Das, was für die Allgemeinheit im Unbewußten ruht (letzthin ist es die ganze Geschichte der Menschheit, diein diesem Unbewußten ruht), welches ein latentes Gedächtnis ist, das holt der Dichter her-

auf, das schöpft er. Und seine Wirkung gründet sich in der Echtheit der Aussage über das, was er dort unten fand. Denken Sie an die Wirkung der verschiedenen Verse Goethes, die ich Ihnen zitierte, sie bringen im Hörer Vergessenes, also in ihm latent Ruhendes, zum Klingen. Oder anders, nämlich begrifflich formuliert: Wenn wir das Dichterische einmal vom Dichter aus ansehen, da es sich als Prozeß ja dank seiner manifestiert, sich seiner bedient, dann ist diese Erinne-

rung das Vermögen, die in der Seele sich spiegelnde naturhafte Weltwerdung im Mythos symbolisch und kollektiv gültig sichtbar werden zu lassen. Damit hätten wir einen wesentlichen Begriff für das

Dichterische schlechthin gewonnen: Seine Quelle ist die intuitive, akut gewordene Erinnerung. Intuitiv leitet sich ab von dem lateinischen «intueor», das sich aus dem «in» = «hinein» = und dem «tueor» oder «tuor» = «ansehen, anschauen, betrachten, im Herzen bewah-

ren» zusammensetzt. Intuition ist, von der Seele her gesehen, Ausbruch

unbewußter

Inhalte in das fühlende

Bewußtsein;

ist, vom

go

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

Dichter aus gesehen, der ergriffene Einblick in die seelischen Zusammenhänge, die sich als kollektive mythologische Seins- und Sinnbilder im Dichter und in dessen Werke spiegeln. Diese intuitive Erinnerung ist die Grundquelle des Dichterischen — bis auf den heutigen Tag. DaB, wie ich es durch die eingangs zitierten Worte Eliots und Valérys andeutete, neuerdings (etwa seit 1820) noch eine andere « Quelle» hinzuzukommen scheint, davon wird nachher zu sprechen

sein. Vorher müssen wir uns lediglich noch etwas genauer über die

Wirkung des Dichterischen klar werden. Das Stichwort fiir sie wurde bereits gegeben: es ist das Ergriffensein. Denn nicht nur wird der Dichter ergriffen, sondern dank der Bildhaftmachung kollektiver seelischer Inhalte ergreift er hinwiederum seine Zuhörer und Leser. Diese Wirkung verdankt der Dichter seiner inneren seelischen Spannweite: denn der Fähigkeit, Zugang zu der auch chaotischen Naturseele zu haben, entspricht eine andere geheimnisvolle Fähigkeit: daß

das Geschaute sich -- unabhängig von der Formkraft des BewuBtseins — in den rhythmischen, geformten Bildbericht umzusetzen

vermag. Dabei kann nicht stark genug betont werden, daß die Rolle

des bewußten Gestaltens, der bewußten Formung und auch der bewuBten Realisierung der ausgesagten Inhalte durch den Dichter ungemein geringfügig ist (es handle sich denn um intellektuelle Gedankenlyrik); schon Leibniz hat dies erkannt, und jeder Dichter wird es seinerseits bestätigen können: das Bewußtsein, dieses richtende Prinzip, spielt als formgestaltendes Prinzip im dichterischen

Prozeß eine sekundäre Rolle; denn Bewußtsein ist bereits Reflexion, wenn auch gestaltende Reflexion, es ist, wie wir sagten: nachholend -

während die dichterische Formfähigkeit genuin ist, vorwiegend unreflexionierte, unmittelbare Gestaltung, die ihre teils rhythmische, teils melodische Kraft den natürlichen Gegebenheiten und Inhalten entnimmt. Die geheimnisvolle Fähigkeit des Dichters aber, das Geschaute oder das Geschöpfte in die gestaltete dichterische Aussage umsetzen zu können, möchte ich als Formzwang bezeichnen. In diesem Begriff «Formzwang» erkennen Sie ohne weiteres das

Beteiligtsein des «geistigen Prinzips» wieder, von welchem wir ja ausführten, daß es gestaltende, richtende, normative Qualitäten

besitze! Dieser

«Formzwang»,

gewicht zur Intuition:

Rhythmus

er ist gewissermaßen

ohne diesen Zwang

das Gegen-

auch den naturhaften

der Dinge sogleich in die Sprache umsetzen zu müssen,

wäre der Dichter, eben seiner stärkeren Annäherung an das «kollektive Unbewußte» wegen, stets mit dem Verschlungenwerden bedroht,

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

οι

vor welchem ihn nur diese Disziplin des Rhythmischen, dieser Zwang zur Form, rettet. Denn die Uferlosigkeit der Seele ist eine Gefahr,

um

die schon Heraklit wuBte,

wenn er sagte: «Der

Seele

Grenzen kannst du im Gehen nicht ausfindig machen, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Sinn hat sie.» In dem gleichen

Maße nun, in dem ein chaotisches Gestammel oder ein bloBes Evo-

zieren niederreiBend wirkt, wirkt die geformte Bildwelt der antiken Dichtung aufbauend. Sie bringt in der Seele des Zuhôrers, in jener Seele, «die jubelt», wie Platon sagt, allgemein gültige menschheitlichnaturhafte Grundgegebenheiten zum Tônen, sie wendet sich durchaus an das Gefühl und wirkt durch die Gesamtkonstellation, durch

den Gesamtablauf einer symbolhaft dargestellten Urerfahrung, die

latent in jedem Menschen

schlummert.

Das Wesen

des Dichteri-

schen, sowohl in der Antike als selbst noch heute, liegt in der Allgemeingiiltigkeit und Echtheit, mit der ganze Ur-Situationen dargestellt werden, wie, um nur einige Beispiele zu nennen, die Hadesfahrt des Odysseus, der Zornausbruch des Achilleus, der Abschied des Hektor, die siebentorige (planetare) Stadt bei Dante. Das Erzieherische dagegen, der sittliche Wert des Dichterischen, um den sich schon Plutarch in einer seiner

«moralischen Abhandlungen» bemiiht,

ist so oft abgehandelt worden, daß ich hier darauf nicht noch einzugehen brauche; nur sollte man nicht aus dem Auge verlieren, daß dieser Einfluß für die Bewußtwerdung oder die BewußtseinsEmanzipation ungemein wichtig war. Denn hier finden wir, wenn

wir tiefer blicken, hinter der bloß moralischen Einflußnahme jene

Folge der dichterischen Einwirkung, die Katharsis, die Aristoteles in seinem berühmten 6. Buch der «Poetik» freilich nur der Tragödie zubilligen will, die aber in den frühmittelalterlichen Oster- und Mysterienspielen genauso stark sich auswirkte, wie sie heute durch ein Schauspiel wie Hofmannsthals «Turm» oder T.S. Eliots «The Family Reunion», wie sie sogar durch Romane, ich denke u.a. an Thornton Wilders «The Bridge of San Luis Rey», ausgelöst werden kann. Auch die Dichtung hat, wenn auch weniger verborgen als die ursprünglichen Mysterien, ihren ihr eigenen Mysteriencharakter, auch sie kann (aber es ist freilich einer der «direct ways») eine Initiation

durch die Katharsis auslösen. Doch da diese schon wieder Wirkung einer Wirkung, weil Auswirkung des ursprünglichen Ergriffenseins, ist, will ich diesem Thema

hier nicht weiter Raum

geben. Diese

Wirkung jedoch hier wenigstens gestreift zu haben war insofern

wichtig, weil sie mit die auslösende Kraft gewesen sein mag, die

92

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

einen wesentlichen Entwicklungsvorgang in der Seele des abendländischen Menschen bewirkte. Ich meine die Auslösung des IchbewuBtseins, die uns in der Dichtung zum ersten Male um die Wende des 13. Jahrhunderts entgegenklingt. Daß

die Antike bereits Ansätze zu ihr aufweist, so die lyrische

Ichform der Sappho,

vor allem aber in dem erschiitternden: εἰμ

Οδυσσεις (Odyssee, IX, 20), davon war ja bereits die Rede. — Wer je

Gelegenheit hatte, nach den Sonnengesängen eines Franz von Assisi die Gedichte Cavalcantis aufzuschlagen, oder nach dem «Cid» die persônlichen Marienlieder des Berceo, oder nach dem «Chanson de Roland»

die Sonette eines Charles d’Orléans, der wird nicht ohne

Betroffenheit vor der persönlichen Innigkeit dieser drei Dichter gestanden haben, die in einer noch durchaus kollektiv fühlenden,

in den Goldgrund der Sieneser Meister eingebetteten Welt, bereits ihr persönliches Empfinden, ihr persönliches Leid, ihre persönliche Freude zu singen wagten und jenes Wort gebrauchten, das uns heute bereits zum überselbstverständlichsten wurde: das Wort «ich». Seit jener Zeit beschränkt sich der Inhalt eines Gedichtes nicht mehr auf die Evokation kollektiver, unbewußter Inhalte, sondern ihr gesellt sich die bereits halb-bewußte Aussage über Stimmungen und Erfahrungen zu, die, soweit sie von allgemein-menschlicher Gültigkeit sind, ihr Echo sowohl im Gefühl als in dem verstandesmäßigen Verstehen des Hörers oder Lesers haben:

seit jener Zeit also gibt

es das, was man das lyrische Gedicht nennt. Dieses schließt natürlich nicht aus, daß die sogenannte «große Dichtung» sich bis auf den heutigen Tag aus der gleichen Quelle nährt, aus der schon ein Homer schöpfte.

Unnötig ist es, dafür Beispiele anzuführen.

Aber

selbst

dort, wo man auf den ersten Blick hin vielleicht keiner Anrufung der Musen mehr gewahr wird, werden sie in verschleierter Form doch

noch angerufen. Ich will mich auf ein Beispiel beschränken: auf den

ergreifenden Anfang des «Hyperion» Hölderlins: «Der liebe Vaterlandsboden gibt mir wieder Freude und Leid. Ich bin jetzt alle Morgen auf den Höhn

des Korinthischen Isthmus, und, wie die Biene

unter Blumen, fliegt meine Seele oft hin und her zwischen den Mee-

ren, die zur Rechten und zur Linken meinen glühenden Bergen die

Füße kühlen.» - Es ist ein urtümliches Bild. Und wir erinnern uns jetzt, daß die Musen schon in der Antike mit der Biene in Beziehung gesetzt wurden: in Athen gehörte, wie wir durch Polemon erfuhren, auBer Wasser auch Honig zu den Opfergaben, die ihnen dargebracht wurden. Und bei dem so zu Unrecht vergessenen F. Nork, in seinem

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

93

Werk: «Andeutungen eines Systems der Mythologie» (Leipzig, 1850), finden wir die Bemerkung: «Varro nennt die Bienen Vôgel der Musen.» Und in einem anderen Werk, der

«Mythologie der Volks-

sagen und Volksmärchen» (Stuttgart, 1848), zitiert der gleiche Nork Pausanias, demzufolge es Bienen waren, die Pindar im Schlafe mit Honig ernahrten. Auch Rilke wuBte oder ahnte um diese symbolhaften Zusammenhänge, wenn er in einem seiner bedeutendsten Briefe (einem der Hulewicz-Briefe über die «Elegien») schreibt: «Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Nous butinons éperdument le miel du visible, pour l’accumuler dans la grande ruche d’or de l’Invisible.» (Daß Rilke, nebenbei bemerkt, mit diesen Sätzen an eine alte Symbol-

Tradition anknüpft, geht aus einem antiken Zitat hervor, das Robert Eisler in «Orpheus, the Fisher» erwähnt, demzufolge es Bienen sind, die den unsichtbaren Tempel Gottes bauen.) Und da wir gerade von Rilke sprechen, möchte ich darauf hinweisen, daß auch er die «Musen» anruft, insofern, als er — und dies

ist der einzige mir bekannte derartige Fall, der zudem symptomatisch fiir unsere Zeit ist --, indem er ihr Gegenbild beschwôrt! Erinnern Sie sich bitte des Anfangs der ersten «Duineser Elegie»: «Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel

Ordnungen? und gesetzt selbst, es nahme einer mich plôtzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein...»

Dieser Engel ist nicht Ausdruck der Lebensseele, wie es bei den

Musen der Fall ist, sondern er steht für die Todesseele oder für die

Todesmacht.

Er ist jener ägyptische

schreck-gestalteten

Harpyien

zum

Seelenvogel,

rächenden

der über

Todesengel

die

wurde.

Ihnen scheint dies vielleicht zu konstruiert? Hören Sie den Anfang der «Zweiten Elegie» : «Jeder Engel ist schrecklich. Und dennoch, weh mir, ansing ich euch, fast tödliche Vögel der Seele,

wissend um euch...»

Darüber aber, wie schicksalshaft die ägyptische Konfiguration in Rilkes Leben nefasten Charakter hat, eine Konfiguration, die nicht nur die soeben zitierten Zeilen noch weiterhin erhellt, darüber kann

ich Ihnen in diesem Zusammenhange jetzt nichts weiteres ausführen.

94

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

Halten wir wenigstens fest, daB Rilke, der wie kein anderer Dichter

ein Dichter des Todes war, die Zodesmächte anruft, um das Jebendige

Lied, das sein Abschiedslied war, zu singen. In dieser Tatsache ver-

anschaulicht sich auf extremste Weise jener Sachverhalt, von dem ich Ihnen gelegentlich der Verse des Garcilaso de La Vega sprach: daß

der Tod, seit etwa einer Generation, ins Leben hineingezogen, daß er integriert wird. Ihn, den Tod einsehen aber — und dieses Einsehen

kündet sich in der modernen Physik und Biologie genauso an wie in der heutigen Malerei und in der heutigen Dichtung -, was bedeutet es?

Nichts weniger als die Ganzheit verwirklichen, und zwar nicht auf magische Weise, indem sie, die Ganzheit, im Numinosen erlebt wird,

nicht auf mythische Weise, indem sie in der bildhaften Ambivalenz

geschaut wird, auch nicht auf rationale Weise, indem sie dualistisch

gedacht wird, sondern es besagt, daß sie, die Ganzheit, auf aperspektivische Weise verwirklicht, also als Entsprechung eingesehen wird.

Ich muß Ihnen weitere Beweise für diese Tatsache, die man wohl als

Ausdruck eines neuen Vermögens werten darf, hier schuldig bleiben; aber ich hoffe, es an anderem Orte nachholen zu können.

Kehren wir jetzt zu den Quellen des Dichterischen zurück, so finden wir, daß keiner der wirklich großen Dichter selbst der letzten

Generationen der mythischen Stofle enträt: weder Goethe, noch die

englischen Romantiker. Hölderlin formt sie neu; Mallarmé übersetzt,

durchaus nicht zufällig, das mythologische Werk von C.G.Cox aus

dem Englischen und versieht diese Übersetzung mit eigenen erklärenden Randbemerkungen, wie beispielsweise:

«L’on peut dire des

... mythes grecs ... que ce sont des personnifications vivant de phé-

nomènes

Poème

naturels»,

worauf

C.Roulet,

in

seiner

«Elucidation

du

de Stéphane Mallarmé» (Neuchatel 1943) hinweist, der für

jenes, wie ich es bezeichnen möchte: geistigste Gedicht unserer Zeit: «Un Coup de Dès jamais n’abolira le Hasard», neben Mallarmés Auseinandersetzung mit dem Mythos auch jene mit dem Christentum andeutet, wobei ich betonen muß, daß es sich dabei vornehmlicher-

und durchaus nicht zufälligerweise um das Johannes-Evangelium handelt. Was die mythischen Grundstoffe in der neueren Dichtung anbetrifft, so darf in diesem Zusammenhange auch an die großen Flußhymnen Hölderlins erinnert werden. Das Wasser zog stets die Dichter an; wir wissen, warum. Und erst kürzlich erwähnte G. Schaefiner,

wie nicht nur Pissaro, Sisley, Renoir und Monet fort und fort ans

Wasser getrieben wurden, sondern auch Mallarmé, der, als er endlich

Zut Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

ος

an der Rhone lebte, schrieb: «En effet, je ne fais plus un poéme sans qu’il y coule une rêverie aquatique.»

Nun aber können wir hinsichtlich des Wassers etwas Bedeutsames feststellen. Hatte bereits für einen Franz von Assisi dieses den Aspekt

der Keuschheit angenommen: er nennt es: «sor aqua ... casta», so vermögen wir uns das Abblassen des nur begeisternden Aspektes, den es im Altertum ausschlieBlich hatte, auf Grund der asketischen

Lebenshaltung zu erklären, die eine Abtôtung des Natiirlichen, im franziskanischen Sinne eine Läuterung des Nur-Natiirlichen erstrebte, wie sie dem Christentum gemäß ist. Seitdem aber Spinoza diese Abtötung des Fleisches zugleich reduzierte und übersteigerte mit seiner Forderung: «Exeundum est de statu naturae», finden wir schon bei Hölderlin, der ja Spinoza in seinen Briefen stets (und zwar

gegen Fichte) verteidigte, eine Wendung, die nur von einem geistigen Gesichtspunkt

aus verstanden

werden

kann,

von einem Ge-

sichtspunkt, der außer — welche Vermessenheit! — der durch das Denken gezahmten naturhaft-seelischen Ebene, der auBer der später

(um 1200) erwachten Ich-Ebene auch eine neue Ebene zulaBt, die

gleichzeitig eine Uberwindung der intellektuell-rationalen darstellt. Und diese Ebene ist im Gegensatz zu jener der mythisch-seelischnaturhaften Trunkenheit und im Gegensatz zu jener des ergriffenen, spiegelhaften Denkens

die aperspektivische Ebene der niichternen

Einsicht. Hölderlin nennt als erster das Wasser «heilig nüchtern». Hier, mit diesen Worten, ist ein Sprung geschehen: das Wasser ist zwar noch «heilig», also numinos und manahaltig, aber diese Manahaftigkeit ist nicht mehr «ergreifend», also vergewaltigend, sondern «nüchtern». Mit einem Schlage spielt das «begeisternde», das mythi-

sche, das ergreifende Moment nicht mehr die ausschlaggebende, jedenfalls nicht mehr die alleinige Rolle. Es sind nicht mehr Geister,

die beschworen oder gebannt werden; es ist der Geist, der sich aus-

sagt. Jener Geist, den Hölderlin in seinem Thaliafragment besingt: «Der reine Geist befaBt

Sich mit dem Stoffe nicht, ist aber auch Sich keines Dings bewußt,

Für ihn ist keine Welt, denn außer ihm

Ist nichts.»

Später, in seiner großen Hymne «Patmos», sehen wir Hölderlin über die Abgründe der Seele und der Natur und über die Einengungen des Ichs hinwegschreiten:

96

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

Im Finstern wohnen Die Adler, und furchtlos gehn

Die Sôhne der Alpen über den Abgrund weg

Auf leichtgebauten Brücken. Darum, da gehäuft sind rings Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf

Getrenntesten Bergen, So gib unschuldig Wasser,

O Fittiche gib uns, treuesten Sinns

Hinüberzugehn und wiederzukehren.» Man kann vielleicht sagen, daß seit jenem Gedicht ein neues mensch-

liches Vermôgen erstmalig zum Durchbruch kommt: die nüchterne

Einsicht, das noëmatische Vermögen. Die einseitig gefühlsmäßige, emotionale Wirkung der Dichtung verblaßt: einen Beweis mag man

darin sehen, daß weder die Spätgedichte Hölderlins, noch die Gedichte Mallarmés, noch die Elegien Rilkes, noch die bewußt mytho-

logisches Material vergeistigenden Gedichte T.S. Eliots und Valérys die weibliche Seele, die Frau im allgemeinen so anzusprechen vermögen, wie sie etwa von den Versen Verlaines oder den noch magisch geladenen frühen Gedichten eines Rilke ergriffen wird. Und hier nun müssen wir nochmals auf die eingangs zitierten Worte Eliots und Valérys zurückkommen, daß Dichtung nicht ein Andrehen des Gefühls (oder der Erregung) sei, sondern ein Fortgehen, ein Entkommen,

ein Gerettetwerden von diesem Gefühl. --

Und wir können eine parallele Äußerung Rilkes hinzufügen, die sich

in einem seiner Briefe findet: «Aber, ach, mit Gefühlen ist so wenig getan!», und der in den «Sonetten an Orpheus» sich von dem bloß emotionalen Charakter des Wassers — also der Seele und der Natur deutlich distanziert, wenn er schreibt:

«Quellen, sie münden herauf, Heiter und heilig.»

Und auch Stefan George, das sei abschließend noch angemerkt, griff diese Hölderlinsche Formulierung «heilig-nüchtern» auf. Fassen wir diese kurzen Andeutungen zusammen, so können wir

vielleicht sagen, daß zu der Rückwendung

in die Seele, zu jener

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

97

intuitiven Erinnerung, sich neuerdings eine, wie ich es bezeichnen möchte, stärkere Hinwendung

zu Geistigem kundgibt, welche ich

mit dem Begriff Inspiration umschreiben möchte. Definierten wir die Intuition bzw. die intuitive Erinnerung von der Seele her gesehen als einen Ausbruch unbewußter Inhalte in das fühlende Bewußtsein,

vom Dichter aus gesehen als den ergriffenen Einblick in die seelischen Zusammenhänge, die sich als kollektive mythische Seinsbilder im Dichter und in seinem Werke spiegeln -- so können wir jetzt das Wesen der «Inspiration» definieren: vom Geistigen her gesehen als einen Einbruch äberbewußter Inhalte in das einsehende Bewußtsein,

vom Dichter aus gesehen als die nüchterne Teilhaftigkeit an den geistigen Zusammenhängen, als eine Einsicht, in der außer-natürliche, womöglich außer-kosmische, jedenfalls aber außer-planetarische, geistige Qualitäten sich in der dichterischen Aussage manifestieren, wobei ein Faktum entscheidend ist: denn sie manifestieren

sich, trotzdem, nein: wei/ der heutige Dichter bewußt, «en toute conscience», wie Valéry sagt, von der bloß seelischen Quelle abrückt.

Ich will Ihnen aus vielen anderen Belegen, die ich für diesen Sach-

verhalt zusammentrug, wenigstens einen vorlegen. Derselbe Valery schreibt in seinem Gedicht «Le rameur» einige Zeilen, die in der

Übertragung Rilkes wie folgt lauten:

«Vergebens sucht der Arm, der riesig immerzu

flutenden Nymphe meine müde Kraft zu ändern; ich zerre langsam mich aus ihren kalten Bändern, und ihre nackte Macht bezwingt nicht, was ich tu.» Was besagt das? Wenn Sie daran denken, wofür in diesen Zeilen die Nymphe steht, dann dürfen wir folgern: dank des Vermögens des

heutigen Dichters, jenes gestaltende, formtragende Prinzip, das wir

das geistige Prinzip nannten, nicht nur als Formzwang zu percibieren, sondern zufolge einer stärkeren Rezeptivität des jetzt einsehenden Bewußtseins, ist es dem heutigen Dichter möglich sich der stets auch vergewaltigenden Mächtigkeit der Seele zu entziehen. Auf eine rektere Weise manifestiert sich das geistige Prinzip in ihm und durch ihn. Eine neue Klarheit, die in exakter Entsprechung zu der heute aufbrechenden Stärke der abgrundtiefen Dunkelheit steht — eine neue Klarheit, so scheint es, will im Menschen zum Durchbruch kommen.

Ich bin mir durchaus bewußt, hiermit erst Andeutungen gegeben zu haben. Sie auszuführen wird einer größeren Arbeit vorbehalten

98

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist

sein. Aber ich möchte diese Andeutungen doch noch an einem Beispiel aus Mallarmé erhellen. In einem seiner bekanntesten Sonette,

«Tombeau»,

das zugleich eines seiner letzten war, findet sich die

Wendung: «... Pastre mûri des lendemains», in der ich nicht zögere, jene Hinwendung zu einer bereits wirkenden Zukunft zu einem bereits stärker als früher wirkenden zukünftigen geistigen Vermögen zu erblicken, zu jenem, von dem ich soeben sprach. Denn wenn sich auch das Leben aus den Quellen nährt, so wird das Sein doch von der Zukunft her geformt. Und ich glaube, Sie werden diese Formulierung akzeptieren können, wenn Sie an das denken, was wir hin-

sichtlich des Zukunftsaspektes der Geschichte sagten. Das

soeben zitierte Wort Mallarmés

verlangt jedoch noch eine

ergänzende Bemerkung. H. Mondor hat uns in seinem Buche « L’amitié de Verlaine et Mallarmé» (Paris, 1939, 5. 264) die erste Fassung

jenes Sonetts überliefert. Dort lautet die oben zitierte Wendung noch: Im Kapitel τα, S. 259ff., kommen wir noch ausführlich auf das Webersche

Konzept des «Vierten Menschen» zurück.

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

203

noch zu wenig klar erkannt wurde. Und gerade um die Klärung der wenigen, zukunftsträchtigen Anzeichen muß man sich bemühen.

Aus dem soeben Gesagten geht zweierlei hervor, was man kurz als

die Doppeldeutigkeit unserer Epoche, die als solche stets auch eine Ungewißheit ist, bezeichnen kann. Wir leben in einer ambivalenten Epoche. Und dies in mehrfacher Hinsicht. Denn wo etwas zu Ende geht, ist immer auch ein Anfang. Jeder Abschied ist zugleich auch Aufbruch. Manche nun sehen nur die Tatsachen des Endes. Ja, vielen ist nicht einmal dieses Ende bewußt, da sie gar nicht wünschen, von dieser

unbequemen Tatsache Kenntnis zu nehmen. Und damit ist gegeben,

daß sie auch den anderen Aspekt unserer Epoche nicht erkennen, der

ein schwerer, aber verheißungsvoller und beglückender Anfang ist. Diese Tatsache, daß unsere Epoche zugleich Ende und Anfang ist, macht sie so doppeldeutig und verwirrlich. Einerseits finden wir alle

Symptome, die darauf hinweisen, daß beispielsweise das, was heute geschieht und gedacht wird, nur die Pendelbewegung auf das ist, was in der oder den vorangegangenen Generationen geschehen ist oder gedacht wurde. Ein Beispiel dafür ist die heute herrschende Anthropologie und der bereits zur Denkmaxime erhobene Nihilismus. Denn

wir können das heutige Vorherrschen der Anthropologie — der Natur-

wissenschaften — ohne weiteres als Reaktion auf die frühere Vorherrschaft der Theologie werten. Seit Hegel die Totsagung Gottes voll-

zog, verlagerte sich das Schwergewicht endgültig auf den Menschen. Die heutige Lehre vom Menschen (die Anthropologie) ist die Antwort auf die Totsagung jeder Lehre von Gott (der Theologie). Der Mensch des vorigen Jahrhunderts, der bereits drohte seiner mensch-

lichen Werte verlustig zu gehen, der, die Maschine erfindend, selbst

zum Objekt wurde, stürzte sich auf diese neue Lehre. Mit ihr konnte der Mensch des 19. Jahrhunderts versuchen, die Verluste an Mensch-

sein, denen er durch die Maschine ausgesetzt war, gedanklich, mental zu begegnen. Der seit Mitte des vorigen Jahrhunderts blühende « Positivismus» war ein geschicktes Konzept, das dem Niedergang des Individuums die Stacheln nehmen sollte. Aber, da es nur ein Konzept

der Abwehr war, hatte es keinen Bestand. Die Tatsachen, denen es

begegnen sollte, waren stärker. Das Resultat des Positivismus war der heute in den verschiedensten Formen wuchernde Nihilismus, der im

Existentialismus eines Sartre oder im standardisierten Massenmenschen östlicher Prägung konsequenterweise zur Totsagung des Menschen führte. Das ist ein Ende. Hier läuft sich ein ganzes Zeitalter zu

Tode. In diesen natürlichen Reaktionen der Anthropologie auf die

204

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

Theologie, des Nihilismus auf den Positivismus spielt sich eine der groBen und beherrschenden Strômungen unserer Epoche ab. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß infolge ihrer in nächster Zukunft Ereignisse eintreten, die sich bereits überdeutlich abzeichnen und die als Konsequenz der heutigen psychischen Situation fast mathematisch

beweisbar sind. Sie werden auf héchst unwillkommene Weise das «Ende der Neuzeit» offensichtlich machen. Diese Feststellung ist nicht Pessimismus. Sie hat nichts mit der Stimmung eines « Unterganges des Abendlandes» zu tun. Im Gegenteil. Wenn wir diese Feststellung nüchtern und frei von jeder Angst machen, so nur deshalb, weil heute schon die Gewißheit eines Anfangs

besteht. Bestünde sie nicht, so hätten wir diese doch eher beunruhi-

gende Feststellung vom Ende der Neuzeit nicht vorgebracht. Dieses

Ende ist aber nur der eine Aspekt, ist nur die eine Strömung unserer

Epoche. Sie mit der nötigen Distanz und ohne Illusionen zu sehen, ermöglicht es uns auch, die andere zu erkennen. Diese andere aber ist es, die uns vor allem beschäftigt. Vergessen wir niemals, daß sowohl

das Leben als der Geist sich durch zweierlei auszeichnen: durch Wand-

lungsfähigkeit und durch Unzerstörbarkeit. Das aber bedeutet wie-

derum zweierlei: erstens, daß grundlegende Wandlungen beziehungsweise Bewußtseinsmutationen möglich sind und somit nicht immer alles gleichförmig weitergeht; zweitens, daß aus der Fülle und Unzerstörbarkeit des Lebens und des Geistes gerade dort, wo wir glauben, an einem Ende zu stehen, Neues entsteht. Wer weder gegen die Tiefe des Lebens noch gegen den Geist schuldig wird, wer liebend Leben und Geist zu verbinden sich bemüht, der steht im Schutze des

Lebens und des Geistes und damit selber in dem von ihnen bewirkten

neuen Anfang, ohne Angst davor, daß Überfälliges zu Ende geht. Wer in der vollen Wirklichkeit lebt, hat Mut und Demut.

Darauf

kommt es an. Nicht Angst vor dem Leben zu haben, sondern Mut zum Leben; nicht Überheblichkeit gegenüber dem Geistigen, sondern Demut zum Geistigen. Wer so lebt, denkt und handelt, der steht schon in dem größeren Zusammenhange von Leben und Geist und über den blinden Wechselfällen der äußeren Umstände. Die Berechtigung, von einer neuen oder, besser: einer neuartigen Weltsicht* zu sprechen, dürfte durch die vorangegangenen Hinweise

deutlich geworden sein. Desgleichen, welcher Art eine Haltung sein könnte, die uns, ganz allgemein gesprochen, einerseits vor den ver* Siehe dazu auch Kapitel 14, S. 267.

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

205

heerenden Folgen bewahrt, welche das Ende der Neuzeit mit sich bringt, und uns andererseits befahigt, die neue Wirklichkeit zu bestehen. Gestiitzt und gesichert kann diese Haltung hinsichtlich des Neuen aber erst dadurch werden, daß wir uns über dessen Grund-

komponenten klar werden. Mit anderen Worten: dadurch, daß wir

die der neuen Wirklichkeit inhärente neue Weltsicht realisieren. Das wesentlichste Merkmal für diese neue Weltsicht scheint dimen-

sionaler Art zu sein. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn die Art, wie der Mensch die Welt erlebt, erfährt, sich vorstellt oder sieht,

hängt von der jeweiligen Struktur seines Bewußtseins ab. Die Art

und der Umfang jeder bewußtseinsmäßigen Realisationsform bestimmen unser jeweiliges Verhältnis zu Raum und Zeit. Denn Raum

und Zeit sind Modalitäten unseres Bewußtseins. Ändert sich ihre Wertung in unserem Bewußtsein, so ändert sich damit auch die Art unseres Bewußtseins selbst und infolgedessen das Bild, die Vorstellung, die Schau oder Sicht von der Welt, die wir, sei es haben,

sei es uns machen. Nun war die Auffassung von der Welt bis vor kurzer Zeit drei-

dimensionaler Art, denn unser Bewußtsein orientierte sich fast nur

noch an der räumlich vorgestellten Wirklichkeit. Unser Denken war ein Vorstellen, ein Akt, der Gedachtes räumlich vor uns hinstellte.

Die drei Raumdimensionen prägten unsere mental-rationale Weltvor-

stellung. Trotz weniger, seit der Renaissance gelegentlich auftreten-

der, seit der Französischen Revolution sich verstärkender Zweifel,

blieb diese dreidimensionale Vorstellung von der Welt bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts gültig und im besten Sinne des Wortes maßgebend. Doch dann, in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts, geschah das grundsätzlich Umgestaltende: die «Zeit» wurde als vierte

Dimension in unsere Begriffswelt eingeführt. Dieses zunächst nur

physikalisch-geometrische Konzept «Zeit» hat unter dem Namen

«vierte Dimension» Außerordentliches geleistet und bewirkt. Aber

es hat zugleich auch unglaubliche Verwirrung gestiftet. Versuchen wir nun, uns dieses höchst verwirrliche Konzept deutlich zu machen. Es wird sich zeigen, daß wir diese «vierte Dimension» tatsächlich in gewissem Sinne als ein Charakteristikum der neuen Wirklichkeit betrachten können. Sie erscheint nicht nur als ein integrierendes, sondern als das integrale Element der neuen Weltsicht. Das Wichtigste, was nun zu sagen ist, ist zugleich etwas, was zu-

nächst widerspruchsvoll und befremdend wirken muß. Genau ge-

206

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

nommen ist die « Zeit an sich» überhaupt keine Dimension. Nur die Uhrenzeit, als gemessene Zeit, darf physikalisch-geometrisch als Dimension bezeichnet werden.5 Und auch dann bleibt sie als Zeitdimension noch wesensverschieden von den Raumdimensionen. Nicolai Hartmann hat in seinem letzten Werke seinerseits auf diesen Tatbestand hingewiesen.® In ihm widmet er den ganzen ersten Teil den «Dimensionalen Kategorien» und gelangt zu der Feststellung, daß die «Zeit» eine «heterogene Dimension» des Raumes ist, die gewissermaßen «quer» zu den «senkrecht auf ihr stehenden Raumdimensio-

nen» liegt. Versuchen wir nun nicht, uns dies vorzustellen. Hartmann kann es sowenig, wie wir es können, ja, er verweist ausdrücklich auf

diesen, für unser dreidimensional begrenztes Vorstellen hôchst un-

liebsamen Sachverhalt, so wie ja auch seitens der modernen Physik auf die prinzipielle Unanschaulichkeit und Unvorstellbarkeit der vier-

dimensionalen Gegebenheiten mit allem Nachdruck hingewiesen wird.

Diese Tatsache sollte uns jedoch nicht verwirren. Sie ist eigentlich im höchsten Maße natürlich und konsequent. Wir wissen ja, daß jede Vorstellung an den Raum gebunden ist. Damit ist aber gegeben, daß

wir nur Wirklichkeiten, die sich dreidimensional, also geräumlicht denken und darstellen lassen, mit unserer Vorstellung erfassen können. Bricht in diese dreidimensionale Vorstellungswelt nun ein Element ein, das den Raumdimensionen heterogen ist, das, wie die Zeit, eben keine Raumdimension ist, so wird diese neue vierdimensionale

Raum-Zeit-Welt unvorstellbar. Das ist ein letztlich ganz natürlicher Sachverhalt, der auch durch die von der modernen Biologie (Portmann) so stark betonte strukturelle Begrenztheit des Aufnahmeapparates unseres Gehirns bedingt ist.

Halten wir zunächst zwei wichtige Resultate fest, die sich aus dem

soeben Gesagten ergeben. Erstens: die «vierte Dimension» ist eine

«Dimension sui generis». Sie ist, exakt ausgedrückt, keine

«Di-men-

sion», also eine einteilende Maßgröße, sondern eine A-mension, also

ein von Maß und Messen befreites Element. Oder (um eine Formulie-

rung aus Kapitel 7 nochmals zu gebrauchen): die Zeit in ihrer ganzen Komplexität ist als «vierte Dimension» ein «Grundphänomen, das

keinen Raumcharakter hat». Das bedeutet, daß sie eine Qualität ist,

während die Meßbarkeit der Raumdimensionen diese Raumdimensio5 Siehe hierzu und

dem

Folgenden

ausführlich

Jean

Gebser,

Ursprung

und

Gegenwart, Bd. III, Kap. IV, 2. ° Siehe Nicolai Hartmann, Philosophie der Natur; de Gruyter, Berlin, 1950;

S. 219.

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

207

nen vornehmlich als Quantitäten erscheinen läßt. Sie ist hinsichtlich der

Extensitäten

des

Räumlichen

eine Intensität,

ist «qualitative,

nichtráumliche, nichtdimensionale Innerlichkeit» (Portmann?). Sie ist

keine kategoriale und damit vorstellbare GróDe, sondern sie erscheint uns als ein akategoriales Element, das systematisch, also räumlich nicht zu erfassen, sondern nur systatisch wahrnehmbar ist.

Damit aber ist auch das zweite Resultat gegeben: daß wir dort, wo wir diese «vierte Dimension» akzeptieren, unser Vorstellungsvermógen eigentlich überschreiten, weil wir uns mit einem überdeterminierten Strukturgefüge befassen. Dieses neue Strukturgefüge ist hinsichtlich des nur dreidimensionalen auch insofern überdeterminiert,

als die vierte Dimension nicht meßbarer und somit nicht quantitativer Art, sondern qualitativer Art ist. Was jedoch unmeßbar ist, entzieht

sich einer kategorialen Bestimmung; es ist damit akategorial. In diesem Sinne ist die vierte Dimension akategorial, eben weil sie qualitati-

ver Art ist und weil Qualitatives sich nie ausreichend durch Quantita-

tives definieren läßt. Wo aber dieses qualitative Element anerkannt

wird, da wird die Welt der Systeme zu einer der Systasen. Das will be-

sagen, daß nicht mehr die MeBbarkeit und lich Gültigkeit haben, die im System ihren daB die Systase, die eine Zusammenfügung drückt, Geltung erhält. Jedes System ist,

Vorstellbarkeit ausschlieBAusdruck finden, sondern der Teile zum Ganzen ausda es aus Teilen besteht,

quantitativ. Die Systase, da sie das Ganze sichtbar macht, ist qualitativ

und

Ausdruck

der

überdeterminierenden

Wirkung

der

vierten

Dimension.® Diese Feststellungen sind komplexer Natur, aber sie sind heute von

fundamentaler Bedeutung. Ihre Neuartigkeit läßt sie zunächst so schwer

verständlich

erscheinen,

daß

einzelne

Gefahr

laufen

mö-

gen, deswegen den ganzen Fragenkomplex mit den Worten «Das verstehe ich sowieso nicht» abzutun. Aber damit wäre selbstverständlich gar nichts erreicht. Wir schlössen uns höchstens selber aus, während die Wissenschaft sich doch in die neuen Konzeptionen eingewöhnt

und unsere Welt buchstäblich auf neue Fundamente stellt.

Versuchen wir, die Schwierigkeiten, die diese Überlegungen in sich

bergen, von einer ganz anderen Seite zu meistern. Es wird dann auf 7 Siehe Adolf Portmann, «Die Wandlungen im biologischen Denken»; in Die

Neue Weltschau, Bd. I; Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1952, S. 78 ff.; siehe

auch Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. II, 5. 231{. 8 Siehe zu den Konzepten

«Systase» (sowie «Synairese»)

sprung und Gegenwart, Bd. III, S. 419f.

Jean Gebser, Ur-

208

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

neue Weise verständlich werden, daB die bloBe rationale Vorstellung zur Realisation der Vierdimensionalitat nicht ausreichen kann. Leopold

Infeld? schreibt in einem Aufsatz über «Einsteins neue Theorie»: 0 «Die Gesamtheit aller möglichen Ereignisse bildet eine vierdimen-

sionale Welt.» In diesem Satze kommt erstens zum Ausdruck, daß wir uns die vierdimensionale Welt nicht vorstellen können, denn die

«Gesamtheit aller möglichen Ereignisse» ist unserem bloßen Verstehen nicht realisierbar. Weiter aber sagt dieser Satz etwas aus, das uns schon eher anzusprechen vermag, denn er billigt implicite dieser vierdimensionalen Welt auch Qualitäts-Charakter zu; in der

Formulie-

rung: «Gesamtheit aller möglichen Ereignisse» kommt die Potentialität des Ganzen zum Ausdruck. Das «Mögliche» ist Potenz beziehungsweise latente Intensität und somit eine Qualität unserer Erfahrung oder Wahrnehmung. In ähnlicher Weise bezeichnete übrigens Adolf Portmann die «Innerlichkeit» als etwas Qualitatives, das uns zugänglich ist und bezieht «das Ganze» - und nicht etwa nur eine mental erfaßbare Ganzheit (!) - in die neue Sehweise ein,11 während Max Brod von der Notwendigkeit, das «Weltganze» zu erkennen, spricht.!2 All das aber ist nur möglich, wenn wir «vierdimensional» wahrnehmen. Solange wir die Welt dreidimensional denken und vorstellen, berücksichtigen wir lediglich die räumlichen MeBbarkeiten und Greif barkeiten. Erst die vierte Dimension als nicht meßbare Qualität, ihre, wie Adolf Portmann es formuliert, «unräumliche Tiefe», macht die Welt zum Ganzen, wie es die neue Weltsicht fordert.

Der Satz Infelds kann uns die vierdimensionale Welt vertrauter machen, obwohl sie bis zu einem gewissen Grade immer unvorstellbar bleiben wird, so wie ja auch «das Ganze»

letztlich unvorstellbar

ist. Aber die unserer Epoche entsprechende Betonung der qualitativen Komponente auch seitens der Physik macht uns diese neue Art, die Welt zu sehen, doch schon etwas zugänglicher. Vor einem jedoch

muß wohl gewarnt werden: das qualitative Element ist nicht ein Erlebnis- oder Gefühlswert. Früher mag es vornehmlich in der Gefühlssphäre «erlebt» worden sein. Heute wird das Qualitative in der Vier9 Albert Einstein/Leopold Infeld, Physik als Abenteuer der Erkenntnis; Sijthoff, Leiden, 1935; jetzt auch in Rowohlts deutscher Enzyklopädie, Nr. 12. 10 Siehe Leopold Infeld, Einsteins neue Theorie; in: 6. Heft Nr. 40, S. 528. 11 Siehe Adolf Portmann, a.a. O.

«Merkur», V. Jg. 1951,

12 Siehe Max Brod, «Auf der Suche nach einem neuen Sinn unseres Daseins»;

in Die Neue Weltschau, Bd. 1; Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1952; S.215 ff.

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

209

dimensionalität wahrnehmbar. Es ist ein transparenter, integraler Wert. Er ist transparent, weil er nicht vorstellbar ist; er ist integral,

weil er nicht räumlich meBbar und teilbar, also desintegrierbar ist,

sondern im Gegenteil das Integrum, das Ganze wahrnehmbar werden läßt. Halten wir hier einen Moment inne. Versuchen wir zusammenzufassen, gewissermaßen eine Zwischenbilanz zu ziehen. Halten wir

zuerst fest, wie die «vierte Dimension» bisher definiert worden ist.

Erinnern wir uns daran, daß wir uns diese «Dimension» eigentlich niemals vorstellen, ja daB wir sie kaum definieren kônnen. Definieren heißt abgrenzen. Die Fülle und Qualität der vierten Dimension, ihre UnmeBbarkeit, ihre Unraumlichkeit machen es aber unmôglich, sie zu begrenzen, da dieses Begrenzen ja bereits ein Abmessen ist.

Nur physikalisch-geometrisch gesehen ist die vierte Dimension

primar die «Zeit», und zwar nicht etwa die Zeit schlechthin, son-

dern nur ihr meßbarer Aspekt, die Uhrenzeit. Auch Max Bense spricht in diesem Sinne von einer «abstrakten Zeit».1? Als solche ist sie eine Dimension. Als solche ist sie die Sichtbarwerdung jenes

«Einbruches

der Zeit in unser Bewußtsein»,

von dem

bereits die

Rede war.14 Ist demnach die vierte Dimension physikalisch und geometrisch gesprochen in erster Linie die Uhrenzeit, beziehungsweise der Begriff Zeit, so ist sie allgemeiner betrachtet noch mehr. Sie ist qualitativer,

integraler, letztlich transparenter Natur, enthebt uns der räumlichen

Vorstellungswelt dreidimensionaler Art und erschließt uns auf arationale Weise das Ganze. Das wäre immerhin schon ein Resultat. Vor einem müssen wir aber bei der Interpretation dieser Wesensbestimmung der vierten Dimension auf der Hut sein: Sie wird durch diese Bestimmungen durchaus nicht zu einem irrationalen Wert degradiert, nur weil sie rational nicht faßbar ist. Sie ist hinsichtlich des Rationalen das überdeterminierende Element und als solches arationaler Natur. Implicite weisen sowohl

Adolf Portmann als auch Alexander Mitscherlich auf diesen Wesenszug der vierten Dimension hin. Adolf Portmann, indem er die «Innerlichkeit» mit aller Deutlichkeit von dem vitalistischen Prinzip der «Lebenskraft» abhebt, das ein ausgesprochen irrationales, ja ein prä13 Siehe Max Bense, Konturen einer Geistesgeschichte der Mathematik (Bd.I:

Die Mathematik und die Wissenschaften); S. 92.

Claaßen & Goverts, Hamburg, 21948,

14 Siehe vorn Kapitel 6 und 7, S. 170 und 179, sowie im Kapitel τι, 5. 239.

210

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

rationales 151,15 Alexander Mitscherlich, indem er seinerseits von den

«schôpferischen Gestaltleistungen» spricht, welche sich deutlich von

der Irrationalität unterscheiden, die ihrerseits keine Gestaltleistungen kennt.!6 Das gleiche Bemerkungen von Walther Tritsch, der in minologie von jenen «Strukturen» spricht,

nur gilt der die

Bildvorgänge, aber hinsichtlich einiger soziologischen Ter«Zusammenhänge»

sind, welche wesentlich Zeit und Raum als konzrollierbare Wirklichkeit

umfassen.!7 Damit erfolgt desgleichen eine betonte Abhebung der neuen soziologischen Konzepte von dem stets unkontrollierbar bleibenden Irrationalen. Auch die mathematischen beziehungsweise atoma-

ren Strukturen der Physik, wie sie beispielsweise Arthur March schil-

dert,18 sind vierdimensionaler Art, haben aber deswegen nichts mit dem Irrationalen zu tun. Wenn wir nun hier von Arationalität sprechen, so dürfte deutlich

geworden sein, daB diese zu Rationalität in einem ähnlichen Verhältnis

steht wie die Rationalität zur Irrationalität. Jede ist hinsichtlich der

anderen überdeterminiert, oder, anders ausgedrückt: jede hat gegen-

über der voraufgegangenen eine Dimension mehr. Das Irrationale ist

zweidimensional, ist räumlich und vorstellungsmáDig nicht fixierbar. Das Rationale ist dreidimensional, also räumlich und fixierbar;

es ver-

mittelt uns nicht unperspektivische Bilder (oder Mythen) von der Welt, sondern perspektivische Ausschnitte, die wir mit unserer Vorstellung erfassen können. Ist nun das Irrationale noch nicht rational, also perspektivisch fixierbar und vorstellbar, so ist das Arationale nicht mehr cational, sondern ist aperspektivisch wahrnehmbar. Das Irratio-

nale können wir unperspektivisch bildmäfig schauen; das Rationale können wir uns perspektivisch räumlich vorstellen; das Arationale können wir nur noch aperspektivisch raumzeitlich und damit letztlich raumzeitfrei wahrnehmen. Damit ist zugleich gesagt, daß alle drei genannten Realisationswei-

sen, also sowohl die irrationale als auch die rationale und die aratio15 Zum Konzept der «Innerlichkeit» siehe die oben, 5. 171, Fußnote 6, zitierte

Arbeit von Adolf Portmann sowie sein Werk «Neue Wege der Biologie»; Sammlung Piper, München, 1960; dort besonders Kap. Ill. 16 Siehe Alexander Mitscherlich, «Die Wandlung des Leib-Seele-Problems in der modernen Medizin»; in Die Neue Weltschau, Bd. I; Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1952, S. 94ff.

17 Siehe Walther Tritsch,

«Die Wandlungen der menschlichen Beziehungen»;

in Die Neue Weltschau, Bd. I, ebenda, S. 143 fl.

18 Siehe Arthur March, «Die Neuorientierung der Physik»; in Die Neue Welt-

schau, Bd. I; a.a.O., S. 224.

Die vierte Dimension αἷς Zeichen der neuen Weltsicht

211

nale, eine jede in ihrem Bereiche Geltung haben und behalten. Die rationale wird also nicht etwa durch die arationale diskriminiert, wohl

aber wird ihr bisheriger AusschlieBlichkeitsanspruch, daß nämlich nur sie Gültigkeit habe, eingeschränkt. SchlieBen wir hier unsere Zwischenbilanz über das Wesen der vierten Dimension ab. Nach all den bisher erfolgten Einschrinkungen

und bloßen Zuschreibungen können wir jetzt sagen, was diese vierte Dimension ist; daß sie in letzter Konsequenz Zeitfreiheit ist. Dieses Konzept der Zeitfreiheit dürfte uns noch weiter führen. Vor allem: was bedeutet hier Zeitfreiheit? Es bedeutet Freiheit von der Zeit. Und es bedeutet damit auch Freiheit vom Raum, da ja das eine ohne das andere nicht denkbar ist.19 Gerade auch die Naturwissenschaften, wie Physik und Biologie, sind es, die uns dieses Konzept aufdringen. Darüber hinaus handhabt heutzutage jeder von uns, und dies Tag fiir Tag, diese neue Wirklichkeit der Raumzeitfreiheit.

Bevor wir uns der wissenschaftlichen Begriindung dieses Konzeptes zuwenden, wollen wir seinen Ausdruck im Alltag betrachten. Es bieten sich da eine Reihe Beispiele an. Sie sind alle handgreiflicher, oft

recht derber Natur. Wahlen wir ein besonders vereinfachendes. Es ist das Radio; und vergessen wir dabei nicht, daß das Radio eine Er-

findung auf Grund der neuen vierdimensionalen Physik ist. Das Radio aber ist gewissermaßen eine Befreiung von Raum und Zeit. Ein Konzett, das jetzt in Bombay, auf der anderen Seite der Welt, erklingt, können wir jetzt und hier hören, so, als ob es keinen Raum und keine Zeit gabe, die uns nach wie vor von Bombay trennen. Und wie steht es mit den wissenschaftlichen Hinweisen auf diese Zeitfreiheit? Diese ist eine Konsequenz, die sich aus verschiedenen neuen Sachverhalten ergibt, welche in den neuen wissenschaftlichen

Forschungsergebnissen zum Ausdruck kommen. Werfen wir jetzt noch einen Blick auf diese verschiedenen Sachverhalte. Sie ergänzen sich auf eine geradezu erstaunliche Weise und bestatigen sich gegenseitig. Das ist nicht weiter verwunderlich, liegt ihnen allen doch eine letztlich vierdimensionale Weltsicht zugrunde.

So hat C. F. v. Weizsäcker in astrophysikalischen Ausführungen deutlich gemacht, daß wir heute ganz konkret von einem «Alter der Welt» sprechen können. Mit anderen Worten: daß einmal Raum und 19 Siehe dazu ausführlich Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. III, Kap. I, ı u.ö., sowie vorn Kapitel 6, S. 167 und 174, ferner Kapitel 14 und :5,

9. 271 und 275.

212

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

Zeit begonnen haben. «Vor diesem Zeitpunkt», so führt er aus,

«muß

die Welt, wenn sie überhaupt existierte, in einem Zustand gewesen

sein, der vollkommen verschieden war vom heutigen und den wir

uns nicht ausmalen kônnen, da selbst die Anwendbarkeit eines Be-

griffes wie Zeit für ihn nicht besteht.»20 Dieser Zustand oder diese Zustandslosigkeit ist sowohl unräumlich wie unzeitlich; anders ausgedriickt: er ist vor-raumhaft und vor-zeithaft; dieser Zustand ist Grundlage und Ursprung von Raum und Zeit und als solcher offenbar vor dem an Raum und Zeit gebundenen Wachbewußtsein. Jn dem Moment aber, da uns dieser schöpferische Zustand (der Raumzeitlosigkeit ) bewußt wird, wandelt er sich für unser Bewußtsein in die Raumzeitfreibeit. Mit anderen Worten und um damit diesen wesentlichen Sachverhalt zu betonen: Raumzeitfreiheit ist bewußt und damit verfügbar gewordene Raumzeitlosigkeit, welche ihrerseits der Wurzelgrund aller Wahrnehmbarkeiten ist. Dabei ist zu beachten, daß wir es hier, was die Raumzeit-

losigkeit anbetrifft, mit einem kaum mehr beschreibbaren und ununterscheidbaren Urphänomen zu tun haben, da die Urkonstellation

«vor Zeit und vor Raum» im menschlichen Schlafbewußtsein sich zu dem verdichtet, was wir als Raumzeitlosigkeit bezeichnen, eine Raumzeitstruktur, welche ihrerseits (in der Negation, die nur die unbewußte Konfiguration meint), latent und potentiell alle Raumzeithaftigkeit bereits enthält, so wie die «vor Raum und Zeit» liegende Urstruktur ihrerseits beides, also sowohl Raumzeitlosigkeit als auch Raumzeithaftigkeit in sich trägt. Dieser vor Raum und Zeit liegende «Zustand», den uns hier die Astrophysik bewußt macht, ist ohne Zweifel

der

«unräumlichen

Tiefe»

verwandt,

von

welcher

Adolf

Portmann spricht; sie ist für unser Bewußtsein nicht nur ein vor Raum und Zeit liegender Zustand, sondern Ausdruck unserer Realisierung dieses Zustandes; sie ist, so paradox es klingen mag, jeder-

zeit und überall vorhanden und, ins Bewußtsein gehoben, die Raum-

zeitfreiheit, welche die «Gesamtheit aller möglichen Ereignisse» umfaßt, die Infeld als «vierdimensionale Welt» schildert. Auch in dem neuen Konzept der Akausalität — auch Indeterminis-

mus oder Unstetigkeit genannt — das aufgrund des Planckschen «Wir-

kungsquantums» in die Physik aufgenommen werden mußte, deutet sich potentiell die Zeitfreiheit an. Wo die rationale Kausalkette nicht

mehr voll und allein wirkend ist, da zerbricht unsere Vorstellungs20 Siehe C, F. v. Weizsäcker, «Das Weltschau, Bd. I; a.a.O., S. 69.

neue

Bild

vom

Weltall»;

in Die

Neue

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

213

welt, da lösen wir uns aus dem raumgewordenen materiellen Zwang und werden damit frei von den raumzeitlichen Abläufen. Das 19. Jahrhundert dachte noch ausschlieBlich kausal; sein Determinismus war

zugleich Unfreiheit. Die neue Physik zwingt uns, auch akausale, indeterminierte Vollziige anzuerkennen: das aber bedeutet auch Freiheit. Dabei ist es äußerst wichtig, darauf hinzuweisen, daß der Begriff akausal keineswegs mit dem Begriff unkausal (oder nicht-kausal) gleichgesetzt werden sollte. Akausal ist die Wahrnehmungsweise derGrundbefindlichkeit des von jeder Form der Kausalität freien Ganzen; sie ist die Wahrnehmungsweise, die frei (das Präfix «a» sei hier also wiederum als Alpha privativum und nicht als Alpha negativum gewertet) über die verschiedenen Formen der Kausalität zu verfügen und präkausale, unkausale und kausale Vorgänge oder aus ihnen resultierende «Zustände» bewußtseinsmäßig zu durchschauen vermag.?! Erst wo

die (akausale) Raumzeitfreiheit realisiert ist, wird «das Ganze» wahrnehmbar; sie ist gewissermaßen die bewußt gewordene Transparenz «des Ganzen». Die bewußte Zeitfreiheit ist im Sinne und in der Fülle der vierten Dimension der fortwirkende, integrierende Ursprung aller möglichen Ereignisse. Sie ist gewissermaßen

Gegenwart gewordener Ur-

sprung. Als solchem eignet der Zeitfreiheit all das, was vorhin ausgeführt wurde: Intensität, Potentialität, Qualität, die sich in den Manifestationen dann allerdings in Quantitatives umsetzen. Dieses Quanti-

tative können wir uns rational und systematisch, also dreidimensional vorstellen. Das Qualitative aber — also auch jedes Schöpferische —, das in der vierdimensionalen Welt lebt, können wir nur vierdimensional

wahrnehmen. Es ist kein Zufall, daß die neue Weltsicht, wie sie auch aus den geschilderten Forschungsergebnissen hervorgeht, sich immer deutlicher von dem entfernt, was Walther Tritsch die «falschen Alternativen»

genannt hat.22 Dies ist gleichbedeutend mit der Überwindung des rationalen Dualismus. Arthur March hat im Anschluß an die grundlegenden Erkenntnisse von Werner Heisenberg auf die prinzipielle Untrennbarkeit von Subjekt und Objekt in der Physik hingewiesen.?? 21 Über die vier Formen der Kausalität und über die Akausalität (im Sinne

einer Nicht-Kausalität) siehe Werner Heisenberg, «Atomphysik und Kausalgesetz»; in Die Neue Weltschau, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1953; Bd.II, S. 119-133. Siehe dazu des weiteren neuerdings die Ausführungen über die neue «Quantenlogik» in Werner Heisenberg, Physik und Philosophie; Hirzel, Stuttgart, 1959; auch als Ullstein Buch Nr. 249 erschienen. 22 Siehe Walther Tritsch, a.a.O., S. 143 ff.

23 Siehe Arthur March, a.a.O., S. 32.

214

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

Der Dualismus Energie: Materie ist durch Einstein aufgehoben worden; der von Korpuskel und Welle als Erscheinungsformen der Ma-

terie durch die neue Wellenmechanik eines Schrôdinger; ein anderer

Dualismus, jener von Seele und Kôrper, durch die psychosomatische Forschung; und der philosophische von Essenz: Existenz stellt sich als unhaltbar heraus. Begnügen wir uns mit diesen Beispielen. Sie sprechen eine mehr als beredte Sprache. Sie zeigen uns, in welchem

Grade die Welt nicht mehr nur ein räumlich faßbares Gegenüber für uns ist, das wir perspektivisch fixieren können. Sie verweisen uns darauf, daß das nur Perspektivische nicht nur in der Malerei, wie G. F.

Hartlaub nachgewiesen hat, am Ende angelangt ist,24 sondern in allen

unseren Ausdrucksformen,

selbst in denen wissenschaftlicher Art.

Wir sind nicht mehr in derselben Weise an den Raum gebunden und

damit perspektivisch fixiert, wie es für frühere Zeiten der Fall war; wir haben uns von der Perspektive, durch die wir das räumliche

Gegenüber darstellen konnten, gelöst und befreit: in diesem Sinne

sind wir aperspektivisch geworden. Und nur aperspektivisch ist das Ganze wahrnehmbar. Perspektivisch sehend schneidet unsere Vorstellung stets nur einen Teil der Wirklichkeit aus dem Ganzen heraus,

weil wir derart nur dreidimensional, nur räumlich sehen. Das Ganze

aber ist mehr als nur Raum; ja es ist mehr als nur Raum plus Zeit; es ist, bewußtseinsmäßig ausgedrückt, Raumzeitfreiheit und deshalb

perspektivisch dreidimensional nicht zu erfassen. So überschreitet das Ganze immer die rationale Vorstellung und intensiviert sie zur arationalen Wahrnehmbarkeit. Oder anders ausgedrückt: Aus der perspektivisch erfaßbaren Raumwelt wird eine aperspektivische Welt raum-

zeitfreier Art. Ein arationales, aperspektivisches Gepräge trägt auch der Hinweis Portmanns auf das

«Gegenwärtigsein», da nämlich in den «Lebens-

formen ... eine lange Vergangenheit von Formwandlungen volle Ge-

genwart ist und ... zukünftige Gestaltungen bereits durch einen un-

faßbaren Schatz von Bildungspotenzen mitten unter uns leben und

wirken».25 Diese Sehweise ist nicht mehr perspektivisch, indem sie

entweder die Vergangenheit oder die Zukunft von einem Augenblick aus fixiert; sie ist in unserem Sinne aperspektivisch, weil sie Vergangenheit und Zukunft als Gegenwart wahrnimmt. Das gleiche gilt von 24 Siehe G. F. Hartlaub,

schau, Bd. I, a.a.O., S. 180ff.

«Abstraktion

25 Siehe Adolf Portmann, a.a. O., S. 91.

und

Invention»;

in Die Neue

Welt-

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

215

Ausführungen Max Brods, der die «Freïheit vom kausalen Zwang» betont und vor allem, im Anschluß an ein in seiner Art einzigartiges Wort Hôlderlins, auf das «Gegenwärtigsein der Vollendung» verweist,26 die ja stets wahrnehmbar wird, wenn wir das Ganze raumzeitfrei realisieren, wie es Hölderlin geglückt ist, den wir als den ersten

groBen Verwirklicher der Aperspektivität dargestellt haben.27

Eines dürfte nun deutlich geworden sein: Wir sind berechtigt, von

einer neuen Weltsicht zu sprechen, die auch in den neuen Gegeben-

heiten der Natur- und Geisteswissenschaften gründet. Auf einige der

neuen Gegebenheiten haben wir hinzuweisen versucht. Sie machen die Vierdimensionalität und Arationalitát des neuen aperspektivischen

Zeitalters sichtbar. Dieses neue Zeitalter ist eine Überwindung der

vergehenden rationalen Epoche, die zudem stark antireligiös gefärbt war, und es ist zugleich die Gegenströmung zu dem unchristlichen

Nihilismus unserer Tage. Damit ist auch gesagt, daß dieses Zeitalter nicht mehr antireligiös sein kann noch sein wird. Nur das rationale Denken ist antireligiös; das arationale wird, schon seiner Transparenz

wegen, ein neues, gestärktes Verhältnis zur Religion gewinnen. Vergessen wir nicht, daß der christliche Verklärungsgedanke transparenter, raumzeitfreier Art ist! Das neue Zeitalter, die neue Wirklichkeit

werden sich voraussichtlich auch durch eine religiöse Steigerung zutiefst christlicher Art auszeichnen. Ihre Religiosität wird dabei aber weniger gefühlsbetont sein; es wird eine einsichtige Religiosität sein, derjene großen Inhalte transparenter Art des Evangeliums wahrnehmbar werden wird, welche bei der heutigen noch vorwiegend mentalrationalen Betrachtungs- und Interpretationsweise dem bloßen Vorstellungsvermögen überhaupt noch nicht sichtbar werden konnten, Möglicherweise wird sich dann der bisherige Glaubens-Charakter der Religion in den Evidenz-Charakter dessen verwandeln, was dann nicht mehr nur Religion, also bloß Rück-Bindung, sondern Präligion,?? also immer gegenwärtige, evidente und bewußte Bindung

zum gottheitlich Ganzen, sein kónnte. Auch so geschen ist also die neue Weltsicht ein zukunftsreiches Zeichen der Wandlungsfahigkeit und Unzerstörbarkeit des Lebens und des schópferischen Geistes. 26 Siehe Max Brod, ebenda, S. 221f.

27 Siehe J. Gebser, Ursprung und Gegenwart, II, 171f., III, 645 ff.

28 Zu dem Konzept der Práligion, womit eine Intensivierung christlicher Art des Religiósen ausgedrückt werden soll, siehe Jean Gebser, Ursprung und Gegenwatt, Bd. II, S. 220, 370f., Bd. III, S. 672, 689f.

216

Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht

Lehrten einst Sokrates und dann, an der athenischen Akademie, ein

Platon ihre Zeitgenossen das mentale Denken, das dann erstmals durch Aristoteles rationale Akzente erhielt, und befreiten sie dadurch

ihre Mitbürger von der Gebundenheit an die irrationale Geister-,

Götter- und Dämonenwelt, so will es heute scheinen, als ob wir nun

unsererseits, abermals an der Wende einer Zeit, das arationale Wahr-

nehmen erlernen müßten, nachdem wir gezwungen worden sind, einzusehen, daß wir die Welt mit den Mitteln des nur rationalen Vor-

stellens nicht mehr ganz erfassen können. Diese Erkenntnis hatte

etwas Niederschmetterndes. Auch sie bedingte die Wirrnis, Ratlosig-

keit und Ungewißheit, welche ganz allgemein die Stimmung unserer Weltstunde beherrschen. Um so ermutigender ist es, feststellen zu können, daß es auf einem wesentlichen Gebiet, dem geistigen, das wesensbestimmend sein dürfte, gelungen ist, diese Wirrnis, Ratlosigkeit und Ungewißheit etwas zu zerstreuen. Daß es gelungen ist, eine Weltsicht aufzuzeigen, die, auch wissenschaftlich fundiert, neuen umfassenderen Bereichen zustrebt, als es die bisherigen taten. Eine Fülle

von Aufgaben wartet unser. Eine beglückende Fülle sinnvollster

Arbeit auf allen Gebieten. Möglichkeiten tun sich auf, die noch vor fünfzig Jahren niemand auch nur zu ahnen gewagt hätte. Nur wahre-

res Leben, wahreres Fühlen, wahreres Denken können den Nihilis-

mus und die Anthropozentrik überwinden, sind Gewähr dafür, daß

eine neue Weltsicht realisiert und damit die scheinbare Sinnlosigkeit des heutigen Geschehens überwunden wird.

ιο.

STRUKTURWANDEL

EUROPAISCHEN

GEISTES

Gegenstand dieses Hinweises soll jener Strukturwandel des europä-

ischen Geistes sein, der sich mit aller nur wünschbaren Deutlichkeit

an den verschiedenartigsten Äußerungen unserer Zeit ablesen läßt. Um dem Thema gerecht zu werden, haben wir zunächst danach zu fragen, was unter europäischem Geist zu verstehen sei. Da anschlieBend an diese Frage über einen heute sich vollzichenden Strukturwandel eben dieses europäischen Geistes gesprochen werden soll, können wit die erste Frage sogar noch präziser formulieren: Wir dürfen nach der Struktur dessen fragen, was wir seit den Tagen Homers,

der ionischen Naturphilosophie, des platonischen Dialoges, vor allem

aber seit dem Wirken Christi als abendländischen beziehungsweise europäischen Geist bezeichnen. Die Grundlagen unseres abendländischen Bewußtseins oder, enger

gefaßt: die Grundlagen des europäischen Geistes wurden, wie schon einige Male erwáhnt,! in Griechenland etwa um 500 v.Chr. gelegt.? Damals vollzog sich dort ein die Wirklichkeits-Erfassung des Menschen umgestaltender Vorgang: die Ablösung der Vorherrschaft des mythischen Denkens durch das logisch-begriffliche, durch welches Philosophie und Wissenschaft ermöglicht wurden. Diese neuen Fähigkeiten waren das Resultat eines BewuBtwerdungs-Vorganges, des Erwachens des Menschen zu sich selbst, zu jenem Ich-Bewußtsein, das bereits aus den Worten spricht, die Homer seinem Helden in den 1 Siehe vorn in den Kapiteln 6, 7, 8 und 9, 5. 165, 186, 193 und 201. 2 Auf die globale Bedeutung dieser Zeit machte, wie es scheint, erstmals Lasaulx aufmerksam (siehe Lasaulx, Neue Versuche einer Philosophie der Geschichte; München, 1856, 5. 115); Viktor von Strauss widmet ihr den ganzen § 23 der Einleitung zu seiner von ihm kommentierten Übersetzung von Lao Tses Tao Te King (Leipzig, 1870, 2. Aufl. 1924; in der Neuauflage -- Manesse Verlag, Zürich (1953) — ist die Einleitung stark zusammengestrichen worden, wobei auch dieser wichtige Paragraph der Kürzung zum Opfer fiel). Von der Bedeutung dieser Zeit handeln das Kap. 2 in Jean Gebser, Abendländische Wandlung;

Ge-

samtausgabe, Bd. I. Karl Jaspers gab dieser Zeit in Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (Artemis Verlag, Zürich, 1949) den Namen «Axenzeit». Dagegen be-

zeichnet sie Erwin Rousselle im Nachwort zu seiner Übersetzung Lau Dse, Füh-

rung

und

Kraft aus der Ewigkeit

(einer Neuübersetzung

Insel-Bücherei, Bd. 253, 1952, S. 57, als

«Übergangszeit».

des Tao

Te

King),

218

Strukturwandel europäischen Geistes

Mund legt: «Eim’ Odysseus», «Ich bin Odysseus». Denn logisch

denken heißt nicht nur richtig, sondern auch gerichtet denken. Voraussetzung dafür ist ein Bewußtsein des Menschen seiner selbst als eines bewußten Ich, das sein Denken auf etwas richten kann, das ihm

gegenübersteht: die Welt als Objekt. Solange der Mensch im mythischen Bereich lebte, war er in die symbolisch ausgedrückten Abläufe des naturhaften Geschehens eingeschlossen. Erst als er zum Ich erwachte, stand er der Welt gegenüber, erst da begann er sie, sei es intellektuell, sei es materiell, mit Hilfe der Philosophie und der Wissenschaft zu erforschen.

Und hierin, daß es der Mensch war, der sich Aussagen über die Welt anmaßte, hierin liegt das dritte Charakteristikum unserer europäischen Zivilisation: die Anthropozentrik, die bereits Protagoras zum Ausdruck brachte:

«Der Mensch ist das Maß aller Dinge.»

Logisches Denken ist also vor allem auch eine betont anthropozentrische Realisationsweise: Der Mensch und die Erde bilden das

Zentrum des Bezugsystems, in dem er sich selber realisiert. Oder bes-

ser: so einseitig, so nichts als diesseitig wäre dieses Weltbild, hätte

nicht Christus dieser diesseitigen Struktur eine Komponente

ein-

gefügt, die entscheidend war: das Bewußtsein von der Kraft und der Notwendigkeit der Liebe. Sie vertiefte die Ichwerdung des Menschen,

denn lieben, verantwortungsvoll christlich lieben, kann nur ein Mensch, der das Du erkennt — und um dieses Gegenüber zu erkennen,

muß er selber zu einem Ich geworden sein.

Es ist heute müßig, darüber zu argumentieren, ob jene Entdeckung

des Menschen, die etwa um 500 v.Chr. offensichtlich wurde und ihm

das Ich und das logische Denken und damit Philosophie und Wissenschaft brachte, gegenüber der mythischen Haltung ein Gewinn oder ein Verlust war. Sie war wahrscheinlich beides: Verlust an Geborgenheit, aber Gewinn an Ich-Sicherheit.

Was infolge dieses Ichbewußtseins auf die Dauer durch den Euro-

päer geleistet wurde, wissen wir. Nicht nur philosophische Erkennt-

nisse, sondern vor allem die zivilisatorischen Ausstrahlungen des disziplinierten Denkens, des sachlichen Folgerns und damit des plan-

mäßigen Arbeitens wurden durch dieses Ichbewußtsein ermöglicht. Denn nur der auf eine gesunde Weise ichbewußt denkende Mensch ist fähig, verantwortungsvoll und verbindlich zu handeln. Dies gibt

ihm die Überlegenheit über Vertreter jener Kulturkreise, die noch

nicht zum Individualismus erwacht sind. Aber dieser Individualis-

mus, wird er hypertrophiert, enthält zwei tödliche Gefahren. Die eine

Strukturwandel europäischen Geistes

219

besteht darin, daß das hypertrophierte Ich zur vollständigen Isolation des Einzelnen führt, ihn also von der Welt abspaltet; die andere wird dort sichtbar, wo der Einzelne, vereinsamt, sein Ich dadurch aufgibt,

daß er in das Kollektiv absinkt, das heißt in die defiziente Form der einstigen Gemeinde oder des einstigen Gruppen- oder Familienverbandes. Dieser Gefahr ist der Europäer keineswegs entgangen. In den letz-

ten 160 Jahren vollzog sich dieser Niedergang. Das lebendige, men-

tale Denken wurde mehr und mehr zu einem nichts-als-rationalen

Denken, das heißt zu einem teilenden. Die Mechanisierung setzte ein, eine Quantifizierung, also eine Entwertung einst effizienter Kräfte. Die Technik, die durch Leonardo da Vincis Verwirklichung der Per-

spektive und durch die Wissenschaft ermôglicht wurde, verdrängte das individuelle Handwerk. Aber das Handwerk, die Leistung des Einzelnen, war die Grundlage der Kultur gewesen. Wahrend sich dies auf dem materiellen Plane vollzog, ereignete sich auf dem spirituellen ein Parallelvorgang. Der Absetzung und Beseitigung des Indivi-

duums entspricht die von Hegel im Jahre 1807 (in seiner «Phänomenologie des Geistes») postulierte Absetzung Gottes. Was bis zur

Aufklärung durch die christliche Religion zusammengehalten war, die Polarität Mensch—Welt, das zerfällt in einen heillosen Dualismus.

Dieser Dualismus, durch Descartes in aller Schärfe und Einseitigkeit formuliert,

durch

rationalistische

Thesen

fortlaufend untermauert,

führte schlieBlich zu jenen Lehren, die heute vordergründig der

abendländisch-atlantischen Zivilisation das Gepräge zu geben schei-

nen: zu bloBer Diesseitigkeit, wie sie sich im Materialismus, Pragmatismus und Existentialismus manifestiert. Wir dürfen diese Lehren und Ideologien durchaus als Endlehren bezeichnen. Sie fihren zu dem

heute weitherum herrschenden negativen Skeptizismus und Nihilismus, der sich da und dort ein fadenscheinig positives Mäntelchen bei-

spielsweise ontologischer Observanz umhängt. Dieser Nihilismus ist

eine Konsequenz der Totsagung Gottes, von der soeben gesprochen

wurde: Diese Totsagung Gottes führte zu der heute von den erwähnten Kreisen implicite vollzogenen Totsagung des Menschen. Dies ist die eine Seite unserer europäischen Wirklichkeit. Sie macht

deutlich, daß etwas stirbt, zugrunde geht, sich selbst ad absurdum führt. Und gerade dieses Symptom ist Garant dafür, daß gleichzeitig

etwas anderes entstehen müßte, falls Europa oder, besser: falls der

europäische Geist noch in irgendeiner Form lebenskräftig sind. Und dies ist der Fall.

220

Strukturwandel europäischen Geistes

Es ist das eine gewichtige, folgenschwere Behauptung, für deren Richtigkeit der Beweis zu erbringen ist. Diesen Beweis zu führen ist an sich nicht schwer; wir glauben ihn anderen Ortes in aller Ausführlichkeit erbracht zu haben. Und ich darf dabei auf einen nicht unbedeutenden Umstand verweisen: ich habe diesen Beweis nicht ge-

sucht, er ergab sich. Mit anderen Worten: Es handelt sich nicht um eine Theorie, es handelt sich schon gar nicht um die weltentrückte Blässe von Studierzimmergedanken, wohl aber um die Ablesung konkreter Tatsachen, Phänomene und Zusammenhänge, die einen sich vollziehenden Strukturwandel des europäischen Geistes wahrnehmbar machen. Ein

Geisteswissenschaftler,

besonders

wenn

er

reine

Geistes-

geschichte betreibt, begegnet heute hinsichtlich seiner Schlüsse einer leider nur zu berechtigten Reserviertheit seitens der Mitwelt, einer Reserviertheit, mit welcher der Naturwissenschaftler nicht bedacht

wird. Der Naturwissenschaftler kann, was er sagt, an Hand von Experimenten beweisen. Er kann einen bestimmten Sachverhalt tausend- und

abertausendmal

experimentell wiederholen

und unter-

suchen. Ganz anders der Geisteswissenschaftler. Jeder von ihm beobachtete Sachverhalt ist einmalig und vor allem: er ist nie wieder-

holbar. Er ist bestenfalls mit anderen Sachverhalten, Tatbeständen

oder Vorgängen vergleichbar. Wir können im streng wissenschaft-

lichen Sinn nicht so sehr etwas beweisen;

aber wir können etwas

evident machen. Ein Tatbestand dürfte evident sein: die vordergründige, aber negative Gestimmtheit unserer Epoche, die in den Endlehren offensichtlich wird. Ein anderer Tatbestand, über den man sich merkwürdigerweise noch nicht Rechenschaft abgelegt zu haben scheint, besteht in jener immerhin ermutigenden Tatsache, daß während der letzten Generationen all das, was unsere europäische Wirklichkeit und die der Welt grundlegend bestimmte und auch veränderte, von Europa ausgegangen ist. Die neuen Konzepte der Physik, Biologie und Psychologie,

eine grundlegend veränderte Auffassung der Geschichte - denken wir nut an Arnold Toynbee, vor allem aber an J.R. von Salis? —, die neuen Ausdrucksformen der Dichtung und anderer Künste, neuartige wissenschaftliche Disziplinen wie beispielsweise die Quantentheorie, die 3 Betreffend die Geschichtsschreibung siehe J.-R. von Salis, «Geschichte als Form und Kraft» (in: Die Welt in neuer Sicht, Bd. I; O. W. Barth, München-

Planegg, 1957; S. 66-87).

Strukturwandel europäischen Geistes

221

Quantenbiologie und die Psychosomatik: sie entstanden alle in Europa, zum mindesten sind ihre Urheber Europäer -- mitunter auch

emigrierte Europäer -- gewesen. Der Gefahren, die manchen dieser neuartigen Forschungsergebnisse, vor allem den atomphysikalischen, innewohnen, sind wir uns alle bewuBt. Weniger ins Allgemein-BewuBtsein eingedrungen ist ein anderer Tatbestand, welcher der bloß physikalisch-materialistischen

Gefahr übergeordnet ist. Er ist geistiger Art. Wird er bewußt, so dürfte er Gewähr dafür sein, daß die möglichen negativen Auswirkungen der neuen Konzepte, vor allem jener der Atomphysik, ge-

bannt werden.

Um diesen Tatbestand aufzuzeigen und um die vielleicht lebensentscheidende Wichtigkeit desselben deutlich machen zu können, muß illustrationshalber auf ein brennendes Problem unserer Epoche

eingegangen werden.

Immer wieder ertönt, aus der Angst vor dem Osten, der Ruf, man

solle nun endlich etwas finden, und zwar eine Idee oder Ideologie, die

man der marxistisch-leninistischen entgegenhalten könne. Es ist nun symptomatisch genug, daß bisher keine derartige, sogenannt zün-

dende Ideologie gefunden worden ist. Überraschenderweise dürfen

wir dies als ein positives Zeichen bewerten. Der Ideologieverdacht des europäischen Menschen entspringt nicht nur dem Skeptizismus; ihm

liegt ein fundamentales Geschehen, nämlich eine noch nicht realisierte Strukturveränderung seiner Realisationsweise und damit seiner Wirklichkeit zugrunde. Diese Witterung des abendländischen Menschen,

daß es unnütz sei, einer Ideologie wie der marxistisch-leninistischen eine andere gegenüberzustellen, ist kein Verzicht, ist kein Unvermögen. Im Gegenteil: sie ist ein Zeichen der Kraft. Nur muß diese Kraft bewußt und damit handhabbar werden. Sie muß zu einer bewußten

Haltung werden. Jede Ideologie ist Absicht und strebt ein Ziel an. Jede echte Haltung ist Einsicht und Substanzsicherheit; sie trägt das

Ziel in sich selber. Wer einem Ziel nachlaufen muß, ist diesem Ziel verfallen; daß er ihm nachläuft, macht nur deutlich, daß das Ziel oder

die erstrebten Dinge vor ihm davonlaufen. Wer das Ziel in sich trägt, dem wenden sich die Dinge und Geschehnisse zu; seine Haltung gibt auch den Dingen und Geschehnissen Halt. Eine Haltung dieser Art beginnt sich heute allenthalben in Europa

abzuzeichnen. Sie ist strukturell anders, und zwar umfassender als irgendeine der

bisherigen Ideologien oder Theorien. Sie überdeterminiert das nur

222

Strukturwandel europäischen Geistes

ideologische Denken.

Jede Überdeterminierung

ist aber Kraftzu-

wachs, ist substantielle Überlegenheit dort, wo sie nicht zu Machtzwecken mißbraucht, sondern verantwortet wird.

Mit dieser Feststellung wäre die oben aufgestellte Behauptung, daß der europäische Geist lebenskräftig, ja schöpferisch sei, in einem we-

sentlichen Punkt konkretisiert und beschrieben. Versuchen wir es nun, die Berechtigung dieser Behauptung evident zu machen.

Greifen wir dazu auf das bereits angeführte Beispiel der marxistischleninistischen Doktrin zurück und untersuchen wir ganz kurz ihre Struktur. Diese Ideologie ist das negative Endprodukt einer Denkund Realisationsart, die seit den Griechen zuerst eine unermeßliche

Bereicherung der menschlichen Wirklichkeit mit sich brachte, die aber

seit der Renaissance, vor allem seit der Französischen Revolution ins

Extrem, in die Einseitigkeit getrieben, sich selber den TodesstoB ver-

setzte. Sie stützt sich auf eine Dialogik, die zur bloßen Dialektik herabsank; sie stützt sich auf einen extremen Dualismus primitivster Art, auf jenen von Ausbeutern und Ausgebeuteten, und fordert die Aus-

tilgung der sogenannten Ausbeuter, der abzuschaffenden höheren Instanz, nachdem sie bereits die allerhöchste Instanz, Gott, glaubte ab-

geschafft zu haben. Wohin das führt, zeigt uns die Welt hinter dem

Eisernen Vorhang, der selbst nur eine konsequente Allegorie des zer-

spaltenden dualistischen Denkens ist sowie als Ausdruck der allgemein

akut werdenden Schizoidität unserer Epoche gewertet werden darf.

Diese marxistisch-leninistische Ideologie stützt sich auf eine schichtstheoretische Maxime konstruiert folgerichtiger Art, auf angeblich zwangsmäßiges Nacheinander der Geschehnisse. Sie hält also alle Charakteristika des europäischen Geistes, wie er

geein entsich

noch vor hundert Jahren darstellte: chronologisches und damit zielfixiertes Denken und das diesem Denken inhärente, dualistische Prin-

zip; aber: sie enthält diese beiden Komponenten in der negativen Form. |

Dabei ist zu beachten, daß nicht nur diese Doktrin diese negativen

Merkmale aufweist. Die Überzahl aller jener Theorien und Vorstellun-

gen, die wir mit einem «Ismus» versehen kônnen, sind der gleichen negativen Art. Das aber bedeutet, daB diese bis etwa zur Jahrhundertwende auch in den Wissenschaften herrschende Denkart erschôpft ist oder doch

nur noch für engumrissene Gebiete unserer Wirklichkeit effizienten Charakter tragt, namlich für jene, wo wir experimentieren, kalkulieren, wo wir ein sauberes mentales und ordnendes Denken walten lassen.

Strukturwandel europäischen Geistes

223

Wie aber steht es mit der neuen Haltung? Wir haben gesehen, in

welchem ausschlaggebenden MaBe das dualistische Prinzip die bis-

herige europäische Denkhaltung sowohl positiv als negativ prägte

und bestimmte. Es war, und es bleibt in seiner echten Form, ein Merkmal und ein Mittel, um gewisser Aspekte der Wirklichkeit habhaft zu

werden. Aber — und das ist das Entscheidende ~ die beinahe an AusschlieBlichkeit grenzende Gültigkeit dieser Grundkonzeption ist durch die neue Haltung überdeterminiert worden. Sie anerkennt die bloBen Dualismen nicht mehr. Der einstige Dualismus Energie: Masse bzw. Materie wurde durch Einstein aufgehoben. Der einstige Gegensatz Körper: Seele wurde durch die Psychosomatik überwunden. Der Dualismus Anorganisch: Organisch wurde durch die Quantenbiologie weitgehend eliminiert. Der Dualismus Subjekt: Objekt wurde einerseits durch jene neue Philosophie, die den bloßen Existentialismus bereits hinter sich ließ, in Frage gestellt, andererseits durch Schlußfolgerungen, welche angesehenste Physiker aus Beobachtungen atomarer Kernprozesse gezogen haben. Sowohl die Quantentheorie Plancks, die Wellenmechanik Schrödingers und de Broglies, das Komplementaritätsprinzip Bohrs, die Unbestimmtheitsrelation Heisenbergs enthalten Denk- und Realisationsmomente, welche mit dem dualistischen Prinzip kaum mehr etwas zu schaffen haben.4 Beschrän-

ken wir uns hier auf diese Andeutungen. Halten wir lediglich als nach-

weisbaren Tatbestand fest: das dualistische Prinzip, also das Gegen-

satzdenken und die Vorstellung der Welt als Gegenüber haben weitgehend ihre Gültigkeit verloren. Es zeigt sich immer deutlicher, daß jene Dualismen das sind, was der Soziologe Walther Tritsch als «falsche Alternativen» bezeichnet hat. Die Erkenntnis dieser «falschen Alternativen», wie zum Beispiel des falsch betonten Gegensatzpaares Subjekt: Objekt, kann gerade auch für die Soziologie und damit für die Wirtschaft von Bedeutung werden. An die Stelle der so oft zu beobachtenden rein voluntaristischen Frontalhaltung zur Welt, die auf Eroberung des Objektes ausgeht und ihre Energien unökonomisch verwendet, könnte das Ver-

stehen der Mitwelt, ein Im-Einklang-Sein mit ihr, treten — ein viel-

leicht etwas langsamerer, aber gewiß ergebnisreicherer Prozeß. Keh-

ren wir jedoch zu der Überwindung des Dualismus durch die Natur-

wissenschaften zurück; sie hat sehr weitgehende Folgen gehabt. Diese

Folgen spiegeln sich vor allem in einem verwandelten Verhältnis zur 4 Siehe Kapitel 9, S. 213f., sowie Kapitel 11 und 14, S. 241 f. und 27of.

224

Strukturwandel europäischen Geistes

Zeit; sie spiegeln sich in einer strukturell neuartigen Wertung dessen, was man Zeit nannte. Ja, es hat den Anschein, als ob das Zeitproblem als solches heute die ausschlaggebende Rolle spiele. Dies hängt insofern mit der Dualismus-Uberwindung zusammen, als bislang gewisse Aspekte der chronologischen Zeit auch als Gegensätze aufgefaßt wurden: Vergangenheit und Zukunft, deren eine das bezeichnet, was schon geschah, deren andere das bezeichnet, was noch nicht geschah.

Welcher Art ist aber nun die neue Auffassung von dem, was man bisher Zeit genannt hat? Dem bisherigen dualistischen Denken war sie ein chronologisch geordneter Ablauf. Der neuen Haltung, die aus dem Strukturwandel erwächst, welche sich im europäischen Geiste

volizieht, ist sie ein ganzer Vollzug; klarer ausgedrückt: Zeit ist nicht nur eine Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, also

geteilte Zeit, sondern ein Ineinanderspielen der drei Teile als Inbegriff des vorgegebenen Ganzen. Der Ausdruck «vorgegeben» enthält jedoch, worauf nachdrücklichst hingewiesen sei, weder ein deterministisches noch ein fatalistisches Element; im Gegenteil: er soll ein potentielles Element zum Ausdruck bringen, nämlich die Forderung und die Möglichkeit des Einzelnen, der vorgegebenen Struktur gemäß handeln zu können, jener Struktur, die er als ihm vorgegebenen Lebens-Entwurf zu realisieren hat. Andererseits hat der Ausdruck «das Ganze» nichts mit einer Art Neo-Monismus noch gar eines Holismus (Haldane) zu

tun.

Vielleicht erscheint, was soeben ausgeführt wurde, bei einem ersten

Lesen reichlich abstrakt. Man könnte möglicherweise geneigt sein,

dem Schreibenden den Vorwurf zu machen, er stelle weltentrückte,

eigentlich nutzlose Überlegungen an, die vielleicht Wissen schaffen, mit

denen man aber kein Wissen leben kann. Und dieser Vorwurf, sollte er

berechtigt sein, ist das Ärgste für jemanden, der es sich zur Aufgabe

gemacht hat, dem Leben durch Konkretion des Gedachten und Er-

forschten zu dienen, statt das Leben durch Abstraktionen zu schwä-

chen. Es darf vielleicht in diesem Zusammenhange an einen bedeut-

samen, aber zumeist übersehenen Sachverhalt erinnert werden. Er be-

steht darin, daß unser Leben bis in den Alltag hinein und damit unsere Einstellung zur Wirklichkeit von gewissen gedanklich klar formulier-

ten Grundkonzepten abhängen. Diese Grundkonzepte sind es, welche unsere gesamte Wirklichkeit gestalten. Grundkonzepte wie das des

platonischen Dialogs, also das logische Denken, wie das der christ-

lichen Verantwortung, wie die von Galilei postulierte Maxime über

Strukturwandel europäischen Geistes

225

das MeBbarmachen$ sowie seit einigen Jahrzehnten das Konzept der

Indeterminiertheit — sie alle sind für unser Verhalten, die Welt zu sehen und sie zu gestalten, bestimmend, jede unserer Äußerungen, jede Beziehung, bewirken herrschende soziologische Struktur und damit selbst

für sie die die

unsere Art, beeinflussen jeweils votArt unseres

wirtschaftlichen Denkens. Einige Aussagen verschiedenster Herkunft der letzten dreißig Jahre können ein in dieser Hinsicht entscheidendes Grundkonzept unserer Epoche deutlich machen; es handelt sich dabei um den vorhin angeführten Sachverhalt, daß Zeit nicht nur Folge, sondern das vorgegebene Ganze sei. Es gibt Hunderte von Hinweisen auf diesen

neuen Sachverhalt. Wir begegnen diesen Hinweisen heute auf allen

Gebieten unseres Wissens: in der Physik, der Biologie, der Psychologie; in der Philosophie und in sämtlichen Arten der Soziologie, von der religiös betonten über die kulturelle bis zur betriebswirtschaftlichen Soziologie; in der neuen Rechtsprechung und Gesetzgebung; in den Doppelwissenschaften wie der Quantenbiologie und der Psychosomatik; in den Künsten, sei es der Architektur, der Musik,

der Malerei, der Dichtung; ja im Alltag selbst. Doch nun die Aussagen. Die hier zitierten habe ich zusammen mit zahlreichen anderen, parallel-sinnigen aus den verschiedensten Kulturbereichen in meiner

Schrift «Der unsichtbare Ursprung» behandelt, da sie als Schlüsselsätze für das zum Durchbruch kommende neue, integrale BewuBt-

sein gewertet werden dürfen.

Zuerst die eines Physikers, die nicht vereinzelt ist. Hier müssen wir

uns auf diese beschränken. Sie stammt von A. S. Eddington; sie wurde bereits erwähnt® und lautet: «Die Ereignisse kommen nicht; sie sind da, und wir begegnen ihnen auf unserem Wege. Die «Formalitit» des Stattfindens ist ganz einfach der Hinweis darauf, daß der Beobachter an dem in Frage stehenden Ereignis vorübergekommen ist, und diese «Formalität> ist nicht von Wichtigkeit.» Auf den ersten

Blick hat dieser Satz für das herkömmliche Denken nicht nur etwas

Unverständliches an sich, sondern sogar etwas Erschreckendes. Sehen wir davon ab, daß er eine Konsequenz der Einsteinschen Konzeption

des vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums ist und durch die in den letzten Jahren gemachten Entdeckungen über die Raum-Zeit-

Struktur der atomaren Elementar-Vorgänge bestätigt wird, wie sie 5 Siehe Kapitel 6, 5. 166. 6 Siehe Kapitel 6, S. 167.

226

Strukturwandel europäischen Geistes

zum Beispiel von Heisenberg formuliert worden sind. Übersetzen wir ihn in unsere Alltags-Sprache. Dann bedeutet dieser Satz Eddingtons: die Zukunft ist immer da.

In fast dem gleichen Jahre, um 1923/24, da Eddington diesen Satz

schrieb, formulierte ein beriihmter deutscher Dichter den gleichen

Gedanken auf seine Weise, indem er sagte: «Die Wiinsche sind die Erinnerungen,

die aus unserer Zukunft

kommen.»

Madame

Lou

Albert-Lasar, die uns vor wenigen Jahren diesen Ausspruch Rainer Maria Rilkes erstmals iibermittelt hat, kommentiert ihn mit den Wor-

ten Rilkes, der ihr erklärend sagte: daß «gewissermaßen die Zukunft schon in der Gegenwart enthalten sei, daß das, was wir Zukunft

nennen, ebenso wirke, wie das, was wir Vergangenheit nennen. Beide

in uns vereint bilden die volle Gegenwart». Eine erste Andeutung dessen, dies darf hier nicht unerwähnt bleiben, daß die Zukunft Mitgestalterin der Gegenwart sein könne, findet sich bei Nietzsche. Einige Jahre später begegnen wir bei Stéphane

Mallarmé dem Verse: «l’astre mûrit des lendemains» («der Stern reift

aus dem Morgen her»). Und kurz darauf, zu Beginn unseres Jahrhunderts, entdeckte die Tiefenpsychologie die môgliche Präsenz des Zukünftigen im Traumgeschehen. So überraschend die Koinzidenz der Sätze Eddingtons und Rilkes

ist — sie kônnte zufällig sein. Selbst die Vorformulierung dieses Gedankens durch Nietzsche, Mallarmé und C.G. Jung kann ein zusätzlicher Zufall sein. Aber warum formulieren dann, unabhängig voneinander, etwa im Jahre 1939, der wohl größte spanische Dichter

unserer Zeit und der größte englische Dichter den gleichen Gedanken auf ihre Weise? Jorge Guillén schreibt: «Un dia / Solo profundizado

en la memoria, / A su eterno presente se confia», was unter Einschluß

des Kontextes und dem Sinn nach übersetzt etwa folgendes aussagt:

Die Geschehnisse: «wo sind sie, wann geschehen sie? Es gab ein

Glühen, und das glüht noch. Ein einziger, tief ins Erinnern eingedrungener Tag vertraut sich der unvergänglichen Gegenwart an.» Und der Satz des großen Englanders T.S.Eliot? Er lautet “... the things that are going to happen / Have already happened” («... die Dinge, die geschehen werden / sind schon geschehen...»).7 Was spricht aus diesen Aussagen, die bei Nietzsche reflektorischer

Gedanke, die bei C.G. Jung Ausdruck empirischer Erfahrung, die

7 Das Zitat von Jorge Guillén ist dessen Cántico, Editorial Sudamericano, Buenos Aires, 1950, pág. 199, entnommen.

Strukturwandel europäischen Geistes

227

beispielsweise hinsichtlich der Heisenbergschen Formulierung über die atomare Raum-Zeit-Struktur nuancierte SchluBfolgerungen des beobachtenden Naturwissenschaftlers

sind, die sich jedoch in den

Seismographen unserer Epoche, in Dichtern von dem Format eines

Mallarmé, Rilke, Guillén, Eliot -- und vielen andern mehr — genuin,

schôpferisch, spontan formen? Angesichts nur dieser wenigen hier zitierbaren Aussagen dürfte es

deutlich geworden sein, daß in uns als Europäern eine neue, umfas-

sendere Art der Wirklichkeitserfassung zum Durchbruch gekommen

ist. Sie bezieht das Ganze in ihr Blickfeld ein und nicht nur ein « Ziel»,

wie es die erwähnten Ideologien auf dualistische Weise tun. Damit ist aber die neue Haltung den alten Ideologien innerlich und geistig überlegen; sie ist starker als diese Ideologien. Es hängt von uns ab, ob wir diese Stärkung unserer geistigen Position zu nützen wissen oder nicht. Denn die geistige — und nicht etwa nur eine intellektuelle — Position

bleibt die fundamentale, die gestaltende, die ausschlaggebende. Mit dem verwandelten Verhältnis zur Zeit ist ein grundlegender Strukturwandel des europäischen Geistes Wirklichkeit geworden. Wie

weittragend und kräftigend er ist, kann ein konsequentes Weiterden-

ken dieser neuen Haltung zeigen. Dort nämlich, wo «Zeit» nicht mehr bloB als Ablauf, sondern als das vorgegebene Ganze realisiert wird, finden die groBe Angst, die Verzweiflung und der Nihilismus unserer Epoche ihre Lösung. Das Leben ist dann kein «Sein zum Tode» mehr;

es ist nicht ein bloBer Ablauf auf eine nihilistische Zukunft hin. Der

Mensch fällt nicht mehr aus der Welt hinaus in die Leere, in ein «nich-

tendes Nichts». Im Gegenteil: die Sinnfülle und Lebensgewißheit, ja eine durchaus neue Form der Lebensgeborgenheit und der Entängstigung beginnen. Wer, wie die genannten Physiker, Psychologen und

Dichter, es vermag, sein eigenstes Leben und Sein als Ganzes und im Ganzen zu sehen, wer auf ihre Weise die Zukunft als gegenwärtig akzeptiert, der akzeptiert damit sein Schicksal. Akzeptierung unseres Schicksals aber: das ist Freiheit. Und diese Freiheit, einmal gewonnen,

trägt einen Keim in sich: daß nämlich unsere Freiheit, z477 Schicksal

ja zu sagen, sich weitgehend in ein Freisein vow Schicksal verwandeln

kann. Das aber ist gleichbedeutend damit, daß in dieser Akzeptierung

und in diesem Freiwerden oder Überwinden des Schicksals das potentielle Element der Selbstgestaltung nicht etwa ausgeschlossen, sondern unterstrichen wird, und zwar im Sinne äußerster Verantwortung.

Selbstgestaltung aber und Verantwortung verweisen darauf, daß alle Wandlung der Wirklichkeit von uns als Einzelnen geleistet wer-

228

Strukturwandel europäischen Geistes

den muß. Wir, ein jeder von uns, bestimmen das Antlitz unserer Epoche mit. Letztlich ist das Gesicht der Epoche nichts als unser aller eigenstes Gesicht. Was der Physiker und die verschiedenen Dichter in den zitierten Sätzen umreißen, ist nichts Unmögliches. Daß sie es umreißen, ist ein Hinweis darauf, daß sie vorgreifend eine Realität vorausdenken, die

sich heute herauszugestalten beginnt: das neue, integrale BewuBtsein.

Die zitierten Sätze mögen zuerst, bei einem ersten Lesen, bestürzend,

ja befremdlich und alltagsfern klingen, weil sie eine neue Realisationsweise in Betracht ziehen, die uns ungewohnt ist und an deren Möglichkeit wir bisher noch gar nicht gedacht haben. Aber jeder,

der sein Schicksal akzeptiert und damit, falls es echte Akzeptation ist und nicht etwa Resignation, auch verändert und umgestaltet, bezieht mit dieser Akzeptierung die Zukunft in seine Gegenwart ein, wäh-

rend derjenige, der seine Vergangenheit als sein bisheriges Schick-

sal verneint, damit auch seine Zukunft verneint. Wer also sein bis-

heriges Schicksal akzeptiert, akzeptiert damit nicht nur seine Vergangenheit, sondern auch seine Zukunft; ja, nur ein solcher Mensch hat überhaupt Zukunft und kann reifen. Er sagt zu den potentiellen Kräften in sich selber ja, die durch sein Geöffnetsein gegenüber dem Schicksal wirksam werden kônnen: Damit aber wird die Zukunft Mitgestalterin seiner Gegenwart. Und in seltenen Momenten kann er vielleicht durch diese intensivierte Gegenwart hindurch das Ganze aufscheinen sehen. Denn auch dies: des vorgegebenen Ganzen ansichtig zu werden, ist môglich, weil jeder, der sein Schicksal und damit auch seine Zukunft akzeptiert und dadurch überwindet, durch diesen Vollzug Distanz zum eigenen Ich gewinnt; er stellt sich selber über sein bloBes Ich und stellt sich in den umfassenden Zusammenhang hinein; er wächst über sich selbst hinaus in jenes Freisein vom Ich, das zugleich Freiheit von Todes-Angst und Zukunfts-Ungewißheit, die stets zeitgebunden sind, in sich schlieBt. In ihm vollzieht sich eine Steigerung des Bewußtseins und nicht bloß eine quantitative Bewußtseins-Erweiterung, die lediglich zu einer Ich-Aufblähung führt, aus der heraus Ichhaftes sichtbar, nie aber das Ganze wahrnehmbar wird.

Sowohl die Dualismus-Überwindung, die sich heute anbahnt und

auf die hier des öftern aufmerksam gemacht wurde, als auch die grund-

legende neue Betrachtungsweise der Zeit, wie sie nun aus den er-

wähnten Sätzen zeitgenössischer Dichter ersichtlich wird — beide: die

Dualismus-Überwindung und die Zeit-Überwindung dürften den

Strukturwandel europäischen Geistes

229

sich heute vollziehenden Strukturwandel des europäischen Geistes evident machen. Daß er sich vollzieht, merkt heute vor allem die Ju-

gend; daß sie ihn noch nicht formulieren kann, sollte man ihr nicht zum Vorwurf machen. Daß wir ihm zum Durchbruch verhelfen, wire

unsere Aufgabe. Gelingt es uns, so werden wir die nächsten fünfzig Jahre überleben. Tolerant, ohne Uberheblichkeit, nüchtern, getragen von dieser geistigen Kraft und mit dem Mut zur Gestaltung der neuen

Wirklichkeit kann Europa -- und wahrscheinlich nicht nur Europa — jenes große Ziel erreichen, das wir alle bereits in uns tragen. Aus dem neuen BewuBtsein heraus, das zu gestalten, was Wunsch der Jahrhunderte war und ist: Friede und Freiheit fir das Menschengeschlecht.

11. DIE

MOGLICHKEITEN EUROPAS UND DIE TECHNIK

Es soll hier nicht von den politischen oder wirtschaftlichen Möglichkeiten Europas die Rede sein, sondern von den geistigen Möglichkeiten unseres Kulturkreises. Denn diese geistigen Méglichkeiten sind es, die letztlich auch die politischen, wirtschaftlichen und soziologischen bestimmen. Heute, da noch immer eine gewisse Unruhe und Verängstigung über das Schicksal Europas weiteste Kreise beherrschen,

ist es dringlicher denn je, daß wir uns die Frage vorlegen, ob diese Unruhe und Angst berechtigt sind oder nicht. Sie scheinen berechtigt

zu sein, wenn wir nur das Geschehen ins Auge fassen, das man als das

vordergründige bezeichnen kann. Zu diesem vordergründigen Geschehen gehôren die Auswirkungen politischer Machtkampfe, die soziale Beunruhigung, die wirtschaftliche Bliite und Scheinbliite. Die allgemeine Meinung geht nun meistens dahin, daf man glaubt, es miisse dort, wo eine Krise herrscht, alles krank sein. Aber gerade die Krise kann auch ein Gesundungsprozeß sein. Und jede Krise wird dann als Zeichen der Gesundung gewertet werden diirfen, wenn es offensichtlich ist, daß zutiefst positive und auf bauende Kräfte in denen wirksam sind, die von einer Krise befallen wurden. Diese Kräfte sind

heute in Europa vorhanden. Und wer näher hinsieht, dem sind sie

sogar schon seit langem sichtbar. Man möge nicht glauben, das wäre einfach eine optimistische Feststellung. Mit Optimismus hat sie nicht das geringste zu tun. Wohl aber mit Tatsachen. Eine grundlegende Tatsache besteht zudem darin, daß stets dort, wo im Sichtbaren Un-

ordnung herrscht, sich im Noch-nicht-Sichtbaren Ordnung vorberei-

tet. Dies trifft auch für unser heutiges Europa zu. Welches sind nun diese Tatsachen, die es uns erlauben, von Mög-

lichkeiten zu sprechen, die für Europa Anlaß sein könnten, ohne Unruhe und Angst dem nächsten Tage und den kommenden Jahren entgegenzusehen ?

Es gibt eine Tatsache, die der Europäer unserer Tage noch nicht

realisiert hat, die aber von durchaus entscheidender Bedeutung ist:

In den letzten fünfzig Jahren vollzog sich in Europa die Entdeckung und damit die Bewußtwerdung einer neuen Wirklichkeit. Es handelt sich dabei um neue Konzepte, welche andere, frühere, weit hinter sich lassen. Sie sind zugleich Ausdruck einer schöpferischen Kraft, die sich

232

Die Môglichkeiten Europas und die Technik

in dieser Stärke und in der heutigen Zeit vornehmlich in Europa findet. Sie sind darüber hinaus der Garant, daB Europa nicht Gefahr läuft, sei es politisch, sei es machtmäßig, sei es kulturell, zugrunde zu

gehen. Sie sind Gewähr dafür, daß dieser Erdteilatlantischer Reichweite in den nächsten Jahrzehnten eine ausschlaggebende Rolle spielen wird. Das ist eine These. Um ihre Stichhaltigkeit ersichtlich zu machen, müssen wir zuerst zwei Fragen abklären: 1. Welcher Art war, geistesgeschichtlich gesehen, die Struktur der europäischen Denkart? 2. Welcher Art sind die heute vorherrschenden Lehren, die das Geschehen

unserer Weltstunde zu bestimmen scheinen? Wenn uns die Beantwortung dieser Fragen glückt, so kônnen wir auf Grund der neuen Tatsachen jene neue Wirklichkeit skizzieren, die, über pragmatische, materialistische oder existentialistische Lehren weit hinausreichend, bereits heute wirksam ist.

Auf die erste Frage haben wir die Antwort bereits in den vorangegangenen Hinweisen gegeben. Seit der groBen weltgeschichtlichen (ja weltgeschichtliches Denken konstituierenden) und bewußtseinsmäßigen Zäsur um 500 v.Chr. wurde die mentale Bewußtseins-Struktur herrschend;

sie brachte uns das Ich, die Anthropozentrik,

das

Denken als Werkzeug, mit dessen Hilfe wir uns die Welt vor-stellten und zum Gegen-Stand machten. Auch auf die zweite Frage ist bereits geantwortet worden. Vordergründig gesehen, scheinen die Endlehren dem Antlitz unserer Epoche

das Gepräge (oder vielleicht richtiger: die Verpragung) zu geben. AuBer dem In-Rechnung-Stellen von materiellen «Werten», auBer der Lehre von Erfolg und Nutzen (Pragmatismus), auBer der nackten Sorge um die Existenz gibt es nach der Leugnung Gottes nichts mehr, das des Denkens wert sein soll. Das scheint ein Untergang, besonders dann, wenn wir berücksichtigen, daß -- zumindest vordergründig das Denken Amerikas, RuBlands und Europas von diesen negativen Endlehren bestimmt wird. Denn in Amerika, wo der entpersönlichte

Manager herrscht, herrscht der Pragmatismus; in Rußland, wo der Kommissar herrscht, herrscht ein Materialismus rationalster und zu-

rückgebliebenster Art. Und in Europa herrscht zur Zeit noch der Existentialismus, der den Menschen

Existenz degradiert.

zu einer bloßen Funktion der

Wir sehen also, daß eine einst effiziente, also wirksame und auf-

bauende Bewußtseinshaltung, die wir als die mentale bezeichnet haben, da ihr Schwergewicht auf dem mentalen, logischen Denken (und nicht auf dem assoziativen, mythischen Bilderdenken) beruht, durch

Die Möglichkeiten Europas und die Technik

233

eine Art Ubersteigerung (Hypertrophic) heute genau die gegensätz-

lichen Resultate bewirkt, die sie einst bewirkte. Mit anderen Worten:

Die mentale Bewußtseinshaltung ist nicht mehr effizient, sondern

defizient, das heißt negativ wirksam. (Und es ist eine defizient mentale Haltung, fiir die wir hier stets das Wort «rational» gebrauchen, dabei daran denkend, daB in ihm das teilende Moment [Ratio, Rationierung

usw.] vorherrscht.) Was durch das mentale BewuBtsein leistbar war,

das ist geleistet worden. Was dadurch an neuartiger Strukturierung unserer Wirklichkeit ermôglicht wurde, das ist realisiert und von uns unverlierbar assimiliert worden. Somit hat es weitgehend seine bisher

führende Rolle erfüllt, hat neue Realisationen ermôglicht, hat geleistet, was dank seiner zu leisten war. Das weitere Verharren aus-

schlieBlich in ihm, der Glaube, es durch rationale Ubersteigerung

auch weiterhin als positives Mittel zur Bewältigung des Lebens und der Wirklichkeit gebrauchen zu können, erweist sich als falsch. Wie

jede Haltung, die ins Extrem vorst6Bt, verurteilt sie sich durch diese

Extremisierung zum Tode oder führt sich selber rational ad absurdum. Und da jede extreme Haltung oder Situation stets nur die Alternative:

entweder Ausweglosigkeit oder Katastrophe kennt, ist es nicht ver-

wunderlich, daB alle jene, die von den Endlehren unserer heutigen Welt infiziert sind, angstbefangen sind. Sie sind in die Enge getrieben,

abgeschlossen, abgeschnürt. Enge und Angst gehen nicht zufällig wie auch Angoisse und anxieux, wie angusto und Angustia, wie Anger

und angry auf die gleiche indoeuropäische Wurzel angh zurück, die eng, einengen, schniiren (franzôsisch: serrer), Angst bedeutet; Angst

ist der natürliche Zustand

dessen, der sich in einer ausweglosen

Situation befindet und als «Lösung» dann höchstens die Katastrophe erwarten kann. Dies ist der Fall fiir die heutigen rationalen Materialisten, Pragmatiker und Existentialisten, die in ihrer Anbetung der

Materie, des Nutzens und Erfolges und der nackten Existenz erstarr-

ten, so daß außer diesen fragwürdigen Werten für sie nichts mehr Wert hat; die nach der Totsagung Gottes nun auch konsequenterweise (und damit extremerweise) die Totsagung des Menschen vollzogen; die den Menschen oder menschliche Institutionen wie den

Staat -- es genügt, an die heutigen Diktaturen zu denken -- zur Ma-

schine machen und sich selber an den Automatismen begeistern: an

der leeren, sinnlosen Bewegung der Maschinen. Und gerade diese Leetheit, die in ihr manifest wird, da der Maschine jede schôpferische

Komponente fehlt, ist ein Hinweis auf die Defizienz der einst mental schôpferischen Bewußtseins-Struktur.

234

Die Möglichkeiten Europas und die Technik

Diese Formulierung ist extrem. Ist sie berechtigt? Wenden wir uns

kurz der Technik zu. Sie ist zwar fast schon so zu Tode geredet wor-

den, daB sie eigentlich nicht mehr existieren dürfte. Da sie jedoch, die heutige Technik, selber eine tote ist, konnte all das Gerede über sie

ihr bis heute nichts anhaben. Sie ist jedoch, soziologisch gesehen, von

ausschlaggebender Wichtigkeit, und die Art ihrer Handhabung bestimmt die Môglichkeiten Europas weitgehend. Vergessen wir nicht, daß die Technik bis vor etwa 150 Jahren eine

ausgesprochen handwerkliche Technik war. Und sie ist dies durch fast 6000 Jahre hindurch gewesen, seit jenen frühen Zeiten, in denen sie eine andere, die Züchter-Technik, abgelôst hatte, der wir die Grund-

lagen unserer Existenz, Pflanzen und Tiere, die uns ernähren, verdanken. Vor etwa 150 Jahren aber erfolgte mit der Erfindung der Dampfmaschine der Beginn eines neuen technischen Zeitalters. Auf die Züch-

ter-Technik, die von einem Stamm, von einer organischen Einheit,

getätigt wurde, folgte zuerst die Werkzeug- bzw. Handwerks-Technik,

die von dem Einzelnen, vom Individuum, von einer persönlichen Ein-

heit, getätigt wurde. Auf sie folgte die Maschinen-Technik, die weder

von einer organischen noch von einer persönlichen Einheit getätigt

wird, sondern die eine organisierte Einheit derart vergewaltigt, daß diese zur Masse, bestenfalls zum Kollektiv geworden ist.

Diese Feststellung ist niederschmetternd. Ist der Weg der Menschheit ein Weg zum Abgrund? Als Züchter formte der Mensch noch das Lebendige: Tier und Pflanze; als Handwerker formt er nur noch tote Werkzeuge; als Maschinen-Techniker muß er zusehen, wie selbst das tote Werkzeug seiner Hand entgleitet, wie es sich im buchstäblichen Sinne des Wortes emanzipiert, ihm ex manu, das heißt: aus Hand und

Herrschaft gerät und autonom, also selbstherrlich wird. Begab sich der Mensch der handwerklichen Technik bereits der Natürlichkeit des

züchterischen Menschen, so droht der Mensch unserer Tage auch der

mühsam eroberten zweiten Natur, der eigenen Kunstfertigkeit verlustig zu gehen.! Die Entwurzelung und Heimatlosigkeit des heutigen Angestellten und Arbeiters, die Entfernung vom Kunstempfinden und die nachgerade anrüchig gewordene Sachlichkeit des heutigen Büround Fabrikmenschen sind ja nur allzu deutliche Beweise für den Ver-

lust an Natur und Kultur, den er seit sieben Generationen erleidet. Es ist ein alarmierender Verlust an Menschsein, denn der Mensch wird

mehr und mehr entpersönlicht, wird zum Objekt, wird statistisch er1 Vergleiche hierzu Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. IH, S. 411ff.

Die Môglichkeiten Europas und die Technik

235

faBt, wird zur Nummer und zur alphabetisch registrierten Kartothek-

karte. Wenn das so weitergeht, ist er übermorgen eine Null, und das große Nichts, an dem sich schon heute die Existentialisten und die

Totensänger der Kultur berauschen, wird tragische Wirklichkeit. Die

handwerkliche Technik prägte noch das Bild des Menschen, so wie

der handwerkliche Mensch seinerseits das Bild der Technik prägte. In

jener Welt, die 6000 Jahre lang bestand und vor sieben Generationen

unterzugehen begann, herrschte noch ein Gleichgewicht. Heute prägt

die Technik nicht einmal das B/d des Menschen, sondern droht ihn

zu zerstören, weil sie ihn zu ihrem Werkzeug macht. Haben da der Mensch oder die Menschheit noch eine Zukunft? Wird der Mensch von der Dämonie der Technik zerrissen werden? Wird jenes dämonische Prinzip, das dem harmonischen, dem leben-erhaltenden entgegengesetzt ist, siegen? Jenes dámonische Prinzip, das bereits die Griechen ahnten und dessen Wesen es ist, zerteilend, zerreiDend zu

sein? Denn dies besagt das griechische Wort «daimon», das sich aus der

Wurzel

«dai:da»,

die «zerteilen»

bedeutet,

und

dem

Worte

«monos», das «einzig» und «einzeln» bedeutet, zusammensetzt. Es besagt also, daß

eine Einheit «zer-einzelt»,

also zerrissen, zerteilt

wird. Die Existenz und Wirksamkeit dieses Prinzips leugnen zu wol-

len, wäre ein sachlicher Unsinn. Nur jene leugnen es, die, als Preissánger des Nichts auftretend, von diesem Prinzip selber so besessen

sind, daß sie selber es gar nicht mehr sehen und erkennen.

Was aber kónnen wir tun? Ja, hilft noch irgendein Tun? Das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen, ist unmóglich. Was bleibt

dann noch übrig angesichts der Emanzipation der Technik, die selbst-

herrlich wurde und uns zu zerreißen und zu zerstören droht?

Mit dieser Frage kommen wir zu der grundlegenden Frage, die das

Warum und das Wie der heutigen Maschinen-Technik betrifft. Wenn

es uns nämlich gelingt, diese zwei Fragen präzis zu beantworten, besteht die Möglichkeit, daB wir den Weg über den Abgrund hinweg in die Zukunft finden. Um aber präzis antworten zu können, müssen wir noch präziser fragen, als es soeben geschehen ist. Dann aber lauten die

beiden Fragen: Was ist die Maschine? und: Warum kam es zu einer Maschinen-Technik ?

Was ist die Maschine? Die Antwort lautet: Die Maschine ist eine

physische Projektion. Unter physisch wollen wir nicht nur das rein Kôrperliche, sondern ganz allgemein das Organische im weitesten Sinne des Wortes verstehen. Was aber ist eine Projektion? Sie ist ein

Vorgang der EntäuBerung. Sie ist die Übertragung von Gegebenhei-

236

Die Möglichkeiten Europas und die Technik

ten, die in uns sind, ins Aufen. So spricht man in der Psychologie heute davon, daß der Mensch stets dazu neigt, ja gezwungen ist, gewisse latente, also schlummernde Energien oder Anlagen, deren Vor-

handensein ihm nicht bewußt sind, auf die Welt oder die Menschen

zu übertragen, zu projizieren. Ein einfaches Beispiel: Der MiBtrauische

glaubt, er diirfe der Welt nicht trauen, dürfe ihrer nicht sicher sein;

aber dieses Mißtrauen ist nur die Projektion seines eigenen Mißtrauens,

jenes, das er unbewußt gegen sich selber hegt, weil er seiner selbst nicht sicher ist. Solange er diesen Sachverhalt nicht einsieht, wird seine

Welt eine falsche, womôglich eine kranke sein. Sieht er es aber ein, das heißt, nimmt er die unbewuBte Projektion bewußt zurück, so stellt sich ein gesundes Gleichgewicht zwischen ihm und der Welt her. Wir wissen heute, daB wir nur noch unter größtem Vorbehalt jene Trennung von Psyche, der Seele, und Soma oder Physis, dem Körper,

aufrechterhalten dürfen, die noch für einen Darwin und Häckel gang und gäbe war. Deshalb ist es statthaft, daß wir das für psychische Vorgänge festgestellte Phanomen der Projektion auch für physische Vor-

gange in Betracht ziehen. So gesehen diirfen wir also auch von physi-

scher Projektion sprechen. Inwiefern aber ist die Maschine eine physische Projektion? Ein kurzes Beispiel mag das deutlich machen. Auf

Grund der neuesten parapsychologischen Forschungen wissen wit

heute wieder, daß naturnahe Menschen über die Fähigkeiten des Fern-

hôrens und Fernsehens verfügen. Das Fernhôren nennt man auch Gedankenlesen, das Fernsehen Hellsichtigkeit. Diese Fahigkeiten werden

heute noch von sogenannten primitiven Stämmen nicht nur in Afrika und in Asien, sondern auch in Nordeuropa zur Benachrichtigung über Hunderte, ja Tausende von Kilometern benutzt. Der Mensch ist von

sich aus, organisch und physisch, in der Lage, Zeit und Raum zu über-

winden. Das ist von Forschern internationalen Rufes wie Bozzano, Cazzamalli, Tischner, Rhine, Bender und anderen wissenschaftlich

einwandfrei nachgewiesen worden.? Der primitive, besser: der natur-

nahe Mensch erreicht das Fernsehen und Fernhôren, weil er es ver-

mag, selber noch Instrument fiir diese Fahigkeiten zu sein: sein Kôr-

per, seine Organe,

seine Physis sind das Instrument, das er durch

nattirliche Lebensweise pflegt. Was aber ist, so gesehen, Radio und

Television? Sie sind die Projektion der eigenen kôrperlichen Instrumentenhaftigkeit in das im Außen befindliche Instrument: in die Ma2 Siehe dazu deren

Werke,

besonders

scheinungen bei Naturvölkern, Sammlung Aurum Verlag, Freiburg, 1975. D. Hrsg.)

Ernesto

Bozzano,

Ubersinnliche

Dalp; Francke, Bern,

Er-

1948. (Ders.

Die Môglichkeiten Europas und die Technik

237

schine. Welche Maschine auch immer wir betrachten, stets wird es

sich herausstellen, daB sie nichts anderes ist als eine Projektion physischer, ja physiologisch-menschlicher Vorgänge der allerverschieden-

sten Art. Solange wir aber die Tatsache einer Projektion nicht realisie-

ren, sind wir das Opfer dieser Projektion. Dies ist bei der physischen

Projektion deshalb besonders ausgeprägt, weil die uns eingeborenen

Fahigkeiten, sobald sie in die Maschine entäuBert werden, auf eine besonders virulente Art autonom werden, da die Maschine nur tote Bewegung, Motorik, erzeugt, weil sie Fahigkeiten entwertet, die zuvor

im Kôrper des Menschen unter seiner Kontrolle standen, während sie

in der Maschine Gefahr laufen, ins Massenhafte gesteigert, also unkontrollierbar zu werden. Nur wenn es uns gelingt, uns der Tatsache

der physischen Projektion bewußt zu werden, werden wir auf eine neue Art Meister der Technik werden. Dabei braucht die Rücknahme der physischen Projektion keinesfalls zu einem Verlust der Maschine und damit der sachlichen Außenwelt zu führen. Die Rücknahme einer psychischen Projektion führt ja auch nicht zum Verlust des Mitmenschen, sondern im Gegenteil: sie führt zur Klärung und Meisterung des Lebens und zur Gewinnung der Umwelt. Wenn sich alle jene, die heute für die Maschinen-Technik verantwortlich sind, davon Rechen-

schaft ablegen wiirden, welche fundamentale Bewandtnis es mit der Maschine auf sich hat und welcher unbewuBten Art die Beziehungen sind, der die Maschine ihr Dasein schuldet, dann kônnte

sich die

heutige Technik in das verwandeln, wozu sich schon zweimal die Technik verwandelt hat: zum Wohltäter der Menschheit, der sie das

eine Mal die natiirliche Nahrung verdankte, das zweite Mal die kulturellen Annehmlichkeiten und Errungenschaften. Auf diesem Wege,

das heißt, wenn wir einsehen, inwiefern die Maschine eine physische

Projektion ist, die wir zuriicknehmen miissen, ware eine Uberwindung der Technik möglich. Sie überwinden heißt nicht mehr ihr Sklave, ihr Objekt sein. Hinzu kommt, daB alle Technik aus Not und Selbsterhaltungswillen geboren wurde. Auch unsere Maschinen-Technik. Wer deshalb einseitig die Maschine als einen Notstand bezeichnet, begeht eine unverzeihliche Projektion. Er tibertragt seine eigene Not auf die Maschine, statt sich, in seiner Not, ihrer zu bedienen. Die Ma-

schinenstürmer sind genauso zu verurteilen wie die Maschinenanbeter.

Die Maschinenstiirmer handeln gegen das allgemeine Gesetz, weil sie das unmögliche «Zurück» predigen. Die Maschinenanbeter handeln gegen das allgemeine Gesetz, weil sie nur den «modernen Menschen» gelten lassen wollen, der die Traditionen ablegte. Diesen modernen

238

Die Möglichkeiten Europas und die Technik

Menschen gibt es überhaupt nicht; denn wo es ihn gibt, ist er ein Monstrum und somit nicht ein Mensch;

bestenfalls ist er ein verlore-

ner, von allen lebendigen Bindungen und Werten abgeschnittener Sklave, der vielleicht mit Hunderten von Maschinen technikgerecht umzugehen weiß, sie aber nicht sinnvoll in seinen LebensprozeB einzuordnen versteht. Sein Modernitätsrausch, die einseitige Betonung, daß nur das Moderne Gültigkeit habe, ist jene Lüge, die alle Werte vernichtet, welche vom Ursprung her das innerste Wesen des Men-

schen ausmachen. Diese Werte, nenne man sie nun ethische, sittliche,

religiôse, humane oder gôttliche, sind und bleiben die ausschlag-

gebenden. Wer sie verneint, begibt sich seines Menschseins. Die fadenscheinige Seele des Maschinenanbeters verurteilt ihn und seine Ma-

schine zum Tode, weil er der echten Werte verlustig ging, ohne die

neuen Gegebenheiten mit ihnen erfüllen zu können. Von dort, wo die

Television eingeführt worden ist, erreichen uns Klagen über die zerstörerische Wirkung dieser modernsten Erfindung, die uns die letzte Hoffnung nehmen könnte, gelänge es uns nicht, doch noch die Maschinen-Technik von uns abhängig zu machen. Es ist stets die fundamentale Einstellung, die für die Wirksamkeit der Dinge auf uns sowie für unsere Wirksamkeit auf die Dinge entscheidend ist. Mit diesen Ausführungen sind wir bereits in den Bereich der zweiten Frage gelangt. Diese lautet: Warum kam es zu der Maschinen-Technik ? Diese Frage muß zumindest im Streiflicht beantwortet werden, da siein den uns hier wesentlichen Punkten über die Thematik der Technik hinausgeht und eine Frage nach dem Warum unserer heutigen Situationist.

Auch auf diesen Seiten haben wir immer wieder darauf hingewie-

sen, daß das Kernproblem unserer Übergangs-Epoche ein ganz bestimmtes sei, durch das alle AuBerungsformen unserer Zivilisation ge-

prägt werden. Dieses Kernproblem, das wir noch nicht zu lösen ver-

mochten, das aber einer Lösung entgegenreift, ist der Einbruch der Zeit in unser Bewußtsein. Ex kündigte sich in der dynamischen Mathematik

eines Newton an; er wurde in der Erfindung der Dampfmaschine sichtbar, welche

die technische

Motorisierung

einleitete; er nahm

sozial in der Französischen Revolution explosive Formen an, die das Heraufkommen der «Linken» zur Folge hatte, jener Linken nämlich,

deren Kraft und Intensität es während der letzten Generation gelang, die sichtbarsten Zeugen des individualistischen Zeitalters der Hand-

werks-Technik, die Könige, zu stürzen; dieser Einbruch der Zeit wurde überall sichtbar, am sichtbarsten, als Einstein die Zeit als vierte

Dimension in die Physik einführte, der wir heute unter anderem die

Die Möglichkeiten Europas und die Technik

239

Entdeckung jener Intensitäten verdanken, die in den Atomkernen verborgen sind. Die Maschinen-Technik ist nur eine der vielen, ja unzähligen Manifestationen des großen Umlagerungsprozesses, den unser Bewußtsein heute zu meistern hat und den wir erst allmählich zu meistern lernen. Die Frage: Warum kam es zur Maschinen-Tech-

nik? läßt sich andeutungsweise dahin beantworten: weil sich die Technik genauso wenig wie andere Formen der menschlichen Gestal-

tungen dem großen Umlagerungsprozeß entziehen konnte, der alle bisherigen Lebensformen und damit unsere Welt so lange bedrohen wird, als wir nicht realisieren, weshalb er geschieht. Doch auch hin-

sichtlich dieser Frage scheint sich der gegenwärtig verhängte Himmel zu lichten. Entscheidendes in dieser Hinsicht wird dann getan sein, wenn wir der Maschinen-Technik ihre autonom gewordene Bewe-

gung und blinde Intensität dadurch nehmen, daß wir ihr Wesen realisieren. Und dazu gehört unsere Einsicht, daß nicht gemeisterte Zeit, das will sagen: nicht gemeisterte Intensität, und sei diese auch nur motorische Bewegung einer Maschine, uns entmenschlichen muß; daß dagegen die Realisierung dessen, was die Maschine tatsächlich ist, uns in jene Freiheit führt, zu welcher uns der heute stattfindende Umlagerungsprozeß vorbereiten soll. Jahrzehnte wie die unsrigen sind nicht häufig in der von uns überblickbaren Menschheitsgeschichte.

Unser ist das Glück oder das Unglück, in sie hineingeboren zu sein. Das ist kein Zufall. Es ist eine bitterschwere Aufgabe und Verantwortung. Achten wir darauf, daß wir ihr gewachsen sind. Dieser Aufgabe gewachsen sein, das heißt in erster Linie realisieren, was sich vorbereitet. Wir kommen anschließend sogleich darauf zu

sprechen. Halten wir vorher fest, was aus dem bisher Gesagten ersichtlich werden konnte: die Struktur der europäischen Denkart, die

raumbetont war und die jene Lehren und jene Arrangements der Um-

welt wie die Technik, die vordergründig unsere Weltsekunde zu beherrschen scheinen, zur Folge hatte. Wo wir auch hinblicken, finden

wir den gleichen Tatbestand: Was einst aufbauende handwerkliche

Technik war, ist heute zu einer vorerst negativen, maschinellen Tech-

nik geworden. Was einst aufbauende Philosophie war, ist heute negative Philosophie geworden. Was einst aufbauende Wissenschaft war, die unsere Kenntnisse der Wirklichkeit erweiterte, festigte, objektivierte, ist weitgehend zu bloßer materieller Nutzanwendung degene-

riert. Was einst eine selbstbewußte und gesicherte individualistische Haltung war, ist durch Mechanisierung, Technisierung, ist durch Funktionäre (wie den Managerund Kommissar), durch die sogenannte

240

Die Möglichkeiten Europas und die Technik

Vermassung und durch Zerschlagung des Handwerks zu einer leeren kollektivistischen Haltlosigkeit hinabgesunken. Die einstige mentale Wachheit lebendigen logischen Denkens hat sich zu rationaler Verfinsterung, zu toter mechanischer Kalkulation verderbt. Die vordergründige Situation der heutigen Welt ist das getreue Abbild dieser defizienten BewuBtseinshaltung, die zur Meisterung unserer Wirklichkeit ganz offensichtlich nicht mehr ausreicht.

Ist es unter diesen Umständen berechtigt, von einer neuen Struktur unseres BewuBtseins und damit unserer Wirklichkeit zu sprechen, die

heute im Entstehen begriffen sein soll? Es ist berechtigt. Wir haben nicht ohne Absicht die geschilderte Situation als eine vordergriindige bezeichnet. Es gibt aber ein Gesetz, welches besagt, daB Zeiten der Bedrohung stets auch Keime der Entdrohung in sich tragen. Das bedeutet für unsere Epoche, daß in dem gleichen Maße, wie die rationalistische Haltung sich entleert (unter der, wie nochmals betont sei, hier lediglich die defizient mentale verstanden wird, die man auch als super-intellektuelle bezeichnen kônnte), sich eine neue Haltung vorbereitet und allmählich sichtbar wird, die wir als arationale bezeichnet

haben (die aber mit der mental-rationalen sowenig verwechselt werden darf wie mit der bloß irrationalen, also der mythischen Haltung).

Diese arationale Haltung, besser: diese arationale Bewußtseinsstruxtur ist die neue Struktur, die heute zum Durchbruch gelangt. Sie hat ihre Wurzeln in Konzepten, welche von der Grundlagenforschung der Wissenschaften erarbeitet worden sind und die auch in gewissen neuen Gestaltungen der Kunst zum Ausdruck kommen. Hier nochmals auf dieses weite Gebiet näher einzugehen, ist nicht

nôtig. Noch ist es nôtig, die weitverzweigte Spezialliteratur der einzelnen Wissenschaften, sowohl der angewandten,

der theoretischen

als auch der geisteswissenschaftlichen Disziplinen, hier aufzuführen. Wir kônnen jedoch bei gewissenhafter Prüfung und bei vorsichtig-

ster Interpretation des gesamten heute vorliegenden Materials, das

vornehmlich in den letzten Jahrzehnten erarbeitet worden ist, einige ganz konkrete Ergebnisse anfiihren. Diese leiten ohne jeden Zweifel das ein, was wir als Neustrukturierung unserer Wirklichkeit bezeich-

nen können. Denn das, was die Hauptlehren der mental-rationalen Endzeit als Grundlage erachten: Kausalität und Dualismus sind durch die neuen Erkenntnisse als nur bedingt richtig und gültig nachgewiesen worden. Damit sind aber die Fundamente des Materialismus,

des Pragmatismus und des Existentialismus erschüttert. Damit ist ihre

Gültigkeit nicht nur in Frage gestellt, sondern teilweise ad absurdum

Die Möglichkeiten Europas und die Technik

241

geführt. Und es war, was wir keinesfalls vergessen wollen, durchwegs

in Europa, wo diese Konzepte erarbeitet wurden, zur gleichen Zeit,

zwischen 1900 und 1950, da der andere Teil Europas (oder der europäischen «Mentalität») durch die Auslösung der beiden Weltkriege die Selbstzerstörung und Eigenkatastrophe bewirkte. Aber diese betrifft nur den Teil der Europäer, der sich in der rationalen Sackgasse der aufgezählten Endlehren festgefahren hat. Er betrifft nicht den

andern Teil der Europäer, der über sich selber und über diese rationale Endsituation hinausgewachsen ist. Die große Labilität und der

auBerordentliche

Spannungszustand,

in dem

sich Europa

seit der

Jahrhundertwende befindet, hat hinsichtlich eines Erdteiles genau die gleiche Wirkung gehabt, die Labilität und Spannung beim Individuum auslösen können: daß die davon Befallenen schöpferischer Lei-

stungen fähig werden, daß sie das scheinbare Chaos durch angespannte Leistung strukturieren und überwinden. In diesem Sinne haben die neuen Konzepte der Grundlagenfor-

schung die Sackgassen-Konzepte der Endlehren überwunden. Der Geltungsbereich des Kausalitätsprinzips, des Grunddogmas der ma-

terialistischen Lehren, ist durch den Indeterminismus weitgehend in

Frage gestellt oder doch zumindest eingeengt worden.

Der rein rationale Gegensatz, also der Dualismus, beispielsweise

von Körper und Seele, wie ihn Descartes postulierte, wie ihn der dialektische Materialismus auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer übertrug,

wie ihn die Psychologie des 19. Jahrhunderts auf psychische und phy-

sische Realitäten anwandte, wie ihn die Biologie durch Teilung des

Stoffes in organischen und anorganischen dogmatisierte — dieser Dua-

lismus ist heute überwunden. Die Psychosomatik erkennt den Dualis-

mus von Psyche und Soma nicht mehr an, und infolge der medizinischen Begründung dieses Tatbestandes und seiner Anwendung konnte sie neuartige medizinische Erfolge erzielen.? Die Physik hob die Unversöhnlichkeit des Gegensatzpaares Materie: Energie auf und weiß heute, daß diese keine Gegensätze,

sondern verschiedene

Erschei-

nungsformen des Gleichen sind, wobei sie der Energie den Vorzug

3 Bahnbrechend war hier in den letzten Jahren Arthur Jores, da er das neue Konzept der Körper-Seele-Einheit als Ausgangsbasis nahm, um als Arzt den

ganzen Menschen zu berücksichtigen, sich also nicht mehr nur darauf beschränkte,

dem bloßen Ineinanderspiel von Psyche und Soma Beachtung zu schenken; siehe

Arthur Jores, Der Mensch

und seine Krankheit;

Klett, Stuttgart,

1956; Vom

kranken Menschen; Thieme, Stuttgart, 1960; sowie Die Medizin in der Krise unserer Zeit; Huber, Bern, 1961; sowie Der Kranke mit psychovegetativen Störungen; Vandenhoek und Ruprecht, Göttingen, 1973.

242

Die Môglichkeiten Europas und die Technik

gibt. Die Biologie, vornehmlich die Quantenbiologie, aber auch die Botanik haben infolge der neuen Funde das alte Postulat des Dualis-

mus Organisch: Unorganisch fallenlassen müssen. Und die Nachweise der Anthropologie, soweit sie medizinisch und psychologisch arbeitet,

haben deutlich gemacht, daß der einst postulierte Gegensatz Mann: Frau kein hundertprozentiger ist, sondern daß jeder Mensch zumindest charakterlich und psychisch an männlichen und weiblichen Komponenten teilhat. Damit sind die Grundlagen der Endlehren illusorisch geworden.

Wir beschranken uns auch hier auf die Darstellung dieser beiden Uber-

windungen, der der Kausalität und der des Dualismus. Beide sind Konzepte, deren Geltung durch die neue Forschung vermindert worden ist. Was jedoch noch erwähnt werden muB, ist die Tatsache, daB die neugefundenen Konzepte, die unserer Wirklichkeit eine gänzlich neue Strukturierung verleihen, zu einer durchaus neuartigen Strukturierung unseres Bewußtseins und unserer Ausdrucksweise zu führen im Begriffe stehen. Wir haben sie mit dem Ausdruck «Arationalität»

umschrieben, der sowohl eine Überwindung des Irrationalen wie

des Rationalen ersichtlich macht. Diese Arationalität zeichnet sich

vor allem dadurch

aus, daß sie einen Faktor oder ein Element in

Betracht zu ziehen wagt, das durch die Endlehren vollständig vernachlässigt und übersehen worden ist. Dieser Faktor ist die Zeit. Er ist nicht, um es nochmals zu sagen, die Uhrenzeit, die eine materiali-

sierte, gemessene, geräumlichte Zeit ist. Dieser bloße Zeit-Begriff ist

heute durch die neuen Konzepte der Physik, der Psychologie, ja selbst der Biologie überwunden. Der Gegensatz Raum: Zeit besteht nicht mehr. Die der Zeit (als einem Urphänomen)

innewohnende

Intensität sowie ihre mannigfaltigen Erscheinungsformen werden heute allmählich erkannt und anerkannt. Damit ist die Zeit-Angst

unserer Epoche überwunden. Jene Angst vor der Zeit, aus der heraus unsere Epoche in ihrem äußersten Schrecken hoffte, die ihr entrinnende Zeit materialisieren (und somitfesthalten) zu können. Denn diese unsere Epoche, besser: ihre rationalen Vertreter sind am Ende ihrer Zeit. Während der Asiate weitgehend noch keine Zeit hat, da der Zeit-Begriff für ihn illusorisch ist, hat der einseitig rationalistische Europäer (aber

nur dieser) keine Zeit mehr. Das ist durchaus symptomatisch. Er hat die Zeit ans Geld und an die Materie verloren. Doch Zeit ist auch Leben. Wir dürfen sagen, daß ganz anders, auf eine lebendige und auf eine

geistige Weise,

der sich heute

konstituierende

Träger

der neuen

Bewußtseins-Struktur im Abendlande seinem sterbenden Vertreter

Die Möglichkeiten Europas und die Technik

243

gegenüber wieder Zeit hat, Zeit im weitesten, lebendigsten und zugleich geistigsten Sinne des Wortes. Wer aber Zeit hat, hat Leben.

So gesehen, hat das Abendland durch die Uberwindung (die sich

vornehmlich

durch

eine Einschränkung

auszeichnet) der grundlegenden Konzepte

des Gültigkeitsbereiches

(Kausalität und Dualis-

mus) sowie durch die Überwindung der Zeit-Angst des rationalen und materiewütigen Menschen jene Neustrukturierung des Bewußt-

seins eingeleitet, die Gewähr

für seinen Bestand ist. Denn

jede

Überwindung bedeutet Stärkung des Überwindenden und damit

Schwächung des Überwundenen. Deshalb ist es unangebracht, vorausgesetzt, wir realisieren die neue Bewußtseinsstruktur, an dem Bestehen Europas zu zweifeln oder sich seinetwegen zu ängstigen. Die Endlehren waren so lange eine Gefahr, als wir sie geistig nicht überwinden konnten, Heute ist die Möglichkeit erarbeitet und gegeben, daß wir sie zu überwinden vermögen. Diese neue Kraft des Bewußtseins wird sich der bloßen Macht der Endlehren endgültig als überlegen erweisen. Das ist die neue Tatsache, deren Realisierung eine Stärkung Europas und des europäischen Gedankens bedeutet. Es

gibt also

jene Tatsachen,

von

denen

eingangs

gesprochen

wurde und die es uns erlauben, nun von Möglichkeiten zu sprechen, die für Europa Anlaß sein dürfen, ohne Unruhe und Angst dem nächsten Tage entgegenzusehen. Und nochmals sei betont, daß es vornehmlich Europa gewesen ist, welches in den letzten Jahrzehnten die entscheidenden neuen Einsichten für die Welt formuliert hat. Ob in der Physik, der Biologie

oder der Psychologie, ob in den Geschichts- und Sozialwissenschaf-

ten, ob in den verschiedenen Künsten — auf allen Gebieten sind es

Europäer, denen die Entwicklung entscheidend neuer Tatsachen, Blickpunkte und Einsichten gelungen ist.

Wir sind nicht mehr, um nur eines der wichtigeren Resultate der

neuen in Europa erarbeiteten Denkungsart herauszugreifen, dem einseitigen Klischeedenken der Schwarz-Weiß-Malerei verfallen.

Dieses Klischeedenken sieht nach wie vor überall lediglich einander

bekämpfende Parteien. Wir dagegen nähern uns einer strukturierenden Betrachtungsart, welche die Welt nicht mehr zerteilt (rational betrachtet), weil sie um das Größere, das Ganze weiß. Freilich, wirstehen

noch mitten in dieser Umgestaltung; aber die Kräfte, durch welche

diese Umgestaltung ausgelöst wurde, brachten jene neuen Werte zu-

tage, die unsere gesamte Wirklichkeit neu zu strukturieren beginnen. Während das alles in Europa geschah und noch immer geschieht,

244

Die Möglichkeiten Europas und die Technik

daB nämlich Einsichten gewonnen wurden, die welt- und wirklich-

keitsverandernd sind -- was geschah während der gleichen Zeit sonst

in der Welt? In einem gewissen Sinne ist sie -- wobei wir aber sehr

zukunftsträchtige Neu-Ansätze in Indien, Japan und China keinesfalls übersehen dürfen — bei den Ansichten des neunzehnten Jahrhunderts

und bei dessen Klischeedenken stehengeblieben. Rußland stützt sich noch heutigentags auf den Materialismus, der sich auf Engels und Marx zurückführt. Amerika huldigt noch heute in überwiegendem Maße einem positivistischen Pragmatismus, das heißt der veralteten, materialistisch betonten Erfolgslehre. Nur Europa hat diese beiden

Positionen, den Materialismus und den Pragmatismus, hinter sich gelassen und geistiges Neuland von solcher Weite und Offenheit entdeckt, daß es angesichts dieser neuen Landschaft ohne Horizont

fast ein Schwindelgefühl überkam. Es ist jenes Schwindelgefühl, das

den Fieberkranken im Höhepunkt der Krise befällt. Aber trotzdem hat er in ihr die neue Landschaft gesehen und wird sie deshalb gestalten können. Die geistigen Kräfte, von denen so mancher glaubt, sie spielten keine Rolle, diese geistigen Kräfte,

führten Tatsachen sprechen, denen wir vertrauen dürfen.

die aus den ange-

sie sind die Möglichkeiten

Europas,

Aber wir dürfen ihnen nur dann zu Recht vertrauen, wenn wir

selber bereit sind, uns die neuen Einsichten zu eigen zu machen, die uns die bedeutendsten Männer unserer Krisenzeit erschlossen

haben. Aus diesen Einsichten kann uns, wenn es uns gelingt, sie auf

richtige Weise zu realisieren, jene zusätzliche innere, geistige Kraft

zuwachsen, die lebensentscheidend ist. Sie ist deshalb lebensentschei-

dend, weil diese neue geistige Kraft uns Sicherheit, Haltung und Klarheit in einer Welt geben kann, die an Unsicherheit, Haltlosigkeit und Verfinsterung leidet. Die Möglichkeiten Europas liegen also in uns selbst. Sie liegen in unserer Bereitschaft, uns auf die Kräfte zu besinnen, die uns bereits erschlossen worden sind. Denn wir dürfen

nicht vergessen, worauf bereits hingewiesen wurde, daß das Gesicht der Zeit und der Welt wir selber sind. Solange wir uns dem Fieber der Krise hingeben, solange wird das Fieber auf unserem Gesicht liegen. Sobald wir uns zusammenraffen und, gestützt auf die in Europa vorhandenen Kräfte, das Fieber abschütteln, wird unsere

Welt fieberfrei. Und das heißt, sie wird krisenfrei. Diese Möglichkeit besteht heute. Die notwendigen Kräfte sind vorhanden. Sie gilt es wahrzunehmen und zu beherzigen. Denn sie sind die Gewähr für die gesunden Möglichkeiten Europas.

12. MENSCH IM

ODER

MODERNEN

APPARAT STAAT

Heute herrscht weithin im Abendlande eine gewisse VerteidigungsStimmung, die als solche zwar zu begriiBen ist, die aber doch einem Gefühl innerlicher und äuBerlicher Bedrohtheit entspringt. Diesem Gefühl sollte auf eine Weise begegnet werden, die uns in den Stand setzen kônnte, die Verteidigungs-Situation zu überwinden. Nicht eine bloBe Verteidigung, die immer zum Angriff oder zum Angegriffenwerden herausfordert, ist heute nötig, sondern Bewußtheit und Standhaftigkeit. Dabei sei aber gleich darauf verwiesen, daB Standhaftigkeit nicht mit Starrheit verwechselt werden darf. Im Gegen-

teil: Standhaftigkeit ist gestaltendes Bewahren, ist ein unablässiges, immer von neuem notwendiges Wahrmachen einer Haltung, die wir als menschenwiirdig erkannt und durch mehr als zweitausendjährige Arbeit erworben haben.

Wenn wir von einer Haltung sprechen, die menschenwiirdig sei, so führt uns dies mitten in unser Thema hinein. Denn ist im moder-

nen Staat der Mensch noch wenschenwürdig, oder ist er zum Apparat eines Apparates, ist er zur bloBen Funktion eines Neutrums, nämlich des Staates, entwiirdigt worden? Wir wissen alle, daB diese Gefahr

besteht. Dann ist danach zu fragen, wie sie entstand. Wenn es ge-

lingt, diese Frage zu beantworten, diirfte die Gewahr gegeben sein,

daß wir eine andere, eine uns alle bedrängende Frage desgleichen beantworten können: die Frage danach, wie wir diese Gefahr zu überwinden vermôchten. Dabei wollen wir uns nicht mit einer nur nationalökonomischen Antwort begnügen, etwa der Art, daß der moderne

Staat eine Folge der Manufakturwirtschaft

diese die Feudalwirtschaft abgelôst hatte. Versuchen

wir, das

Zustandekommen

sei, nachdem

des modernen

Staates

in

einen grôBeren, umfassenderen Zusammenhang zu stellen. Welches erregende Schauspiel bietet sich uns da? Um es ganz zu erfassen, müssen wir in die Vergangenheit zurückblicken; bis hinunter zu den mutterrechtlichen Kulturen, jenen also, die beispielsweise im Zweistrom-

land im 5. und 6. Jahrtausend v.Chr. in Blüte standen. Damals herrschte die Frau; es war die Zeit der sogenannten Hackbaukultur, da die Ernahrung des Stammes, der Sippe von der Feldarbeit der

Frau abhing; es war die Zeit, die noch bis in die Antike hinein in

246

Mensch oder Apparat im modernen Staat

den Kulten der «GroBen Mutter» -- beispielsweise im Demeterkult oder in dem der Eleusinischen Mysterien -- nachklang. Bachofen

hat uns diese matriarchale Welt erschlossen. Aber dann, etwa im dritten Jahrtausend v.Chr., geschieht in Sumer etwas, wodurch die

soziale Form von Grund auf revolutioniert wurde: Der Mann erfindet den von Tieren gezogenen Pflug, und damit geht die Sorge für die Ernahrung an ihn über. Es ist, selbst symbolisch gesehen, aufschluBreich, was hier geschieht, wenn man an die Form des primitiven Pfluges, der ein kräftiger Baumstamm war, denkt, und der

den Schoß der Mutter Erde aufreißt. Mit einem Schlag verschwindet die Vormachtstellung der Frau; die chthonischen Kulte beginnen zu erlöschen oder degenerieren. Die Frau, die Göttin gewesen war, wird zur Sklavin. Der Mann steigt zum Beherrschenden auf. Das Matriarchat wird durch das Patriarchat abgelöst. Nicht genug damit. Nach etwa 2500 Jahren verdichtete sich in Griechenland dieser Pro-

zeß der Patriarchalisierung, aus einem gewissermaßen noch unbe-

wußten Geschehen heraustretend, in eine bewußte, gedachte, verantwortete Form. Man denke an Sparta, vor allem an Athen, an die

Grundform der Demokratie: die Polis. Bezeichnenderweise geschieht dieser Ruck ins bewußt gestaltete Patriarchat in dem Moment, da der

Mensch — und dies ist für uns die große griechische Leistung — sich

als bewußt denkendes Ich zu entdecken begann. Hier bricht erstmals das Ichbewußtsein in der Menschheit durch und löst das unformulierte, gleichsam noch im Schlafe befindliche Wirbewußtsein ab, das noch immer Sippe- oder Clan-gebunden war. Erstmals steht in jenen griechischen Tagen der Mensch, und zwar ist es der Mann, Himmel und Erde bewußt gegenüber. Seitdem ist es der Mann, der wissend

die Welt regiert. Und zugleich stellt sich der Mensch — auch dies erstmals in der Menschheitsgeschichte -- gegen das Schicksal, das ja selbst heute noch in Asien als unausweichlich empfunden wird. Bei Hesiod findet sich jener revolutionierende Satz, der das Wesen Europas vom Wesen Asiens abgrenzt und es überhöht: «Moira aber, die Göttin des Schicksals, ist uns Herrin und Dienerin zugleich.» Die blinde, den Men-

schen verknechtende und zwingende Gewalt des Schicksals, die im Satrapentum zum Ausdruck kam, ist gebrochen. Nicht das erduldete Schicksal herrscht über Leben und Tod - wie heute noch in Ruß-

land —, sondern das vom Menschen frei mitgestaltete. Der taghelle Verstand - es ist die Zeit, da zum erstenmal philosophische Systeme

entstehen — hat das geheimnisvolle, nächtige Dunkel der Mutterwelt abgelöst. Orest tötet endgültig, soziologisch gesehen, die Mutter,

Mensch oder Apparat im modernen Staat

247

die Königin, das Inbild der Unentrinnbarkeit von den schicksalsbefangenen Mächten. Damit lôst sich der Mensch aus dem mythischen Kreise, aus der Hineingebundenheit in das ausschlieBlich natürliche Geschehen. Der

«Rad

abendländische

des Schicksals»,

Mensch,

der

jenes groBe

damals

Symbol

erstand,

Asiens,

zerbrach

das

das wie kein

anderes die Unentrinnbarkeit vor dem Schicksal anschaulich macht. Dieser abendländische Mensch, der logisch und zielgerichtet denkt und nicht mehr ein Gefangener des kreisenden, unerbittlichen Schicksalsrades ist, nimmt die Welt nicht mehr bloB hin, sondern

geht, mittels der in Griechenland entstehenden Philosophie und

Wissenschaft, auf ihre Eroberung aus. Ubrigens diirfte in diesem

Zerbrechen des Schicksalsrades durch den Europäer der bewußtseinsmäßige Schlüssel dafür liegen, daß der Europäer nicht mehr an

die Reinkarnation, die Lehre von der Wiedergeburt, glaubt: Wer den

Kreis zersprengt, verzichtet auf Wiederkehr; dem gradlinigen Den-

ken entspringt eine andere, ihm gemäße Vorstellung von Weg und

Ziel als dem im Kreis befangenen Denken des östlichen Menschen. Seit jenen griechischen Tagen sind nun nochmals 2500 Jahre ver-

flossen, in denen ausschließlich der Mann herrschte. Aber dann, mit

der Französischen Revolution, geschah etwas, das in seinen Folgen

nur mit dem in Parallele gesetzt werden kann, was vor 5000 Jahren in Sumer geschah. Damals wurde das Matriarchat zerstört; an seine Stelle trat allmählich das bewußt ausgeübte Patriarchat. Seit der Französischen Revolution erleben wir, daß das Patriarchat gestürzt wird: der Nachfolger des Roi-Soleil wurde enthauptet, die von ihm abhängige patriarchalische Feudalkultur verschwand, so wie vor 5000 Jahren

die matriarchalische Hackbaukultur verschwunden war. Seit jener Enthauptung des Repräsentanten der patriarchalen Kultur sind noch viele Könige gestürzt worden. 1807 schreibt Hegel in seiner «Phänomenologie des Geistes» den später von Heine und dann von

Nietzsche

übernommenen

Satz:

«Gott

ist tot.»

Die

patriarchale

Staatsform ist eigentlich erloschen. Was trat an ihre Stelle? Ein noch heute berrschendes Vakuum. Und jedes Vakuum zeichnet sich zerstörend durch seinen Sog aus. Es begann die Übergangszeit der Leere, des Nichts. So gesehen, sind weder die philosophischen Systeme nihilistischer Art unserer Tage eine Zufälligkeit noch der nihilistische

Rausch noch die Selbstzerstörung unserer Kultur noch die Rückfälle in frühere, überwundene Staatsformen. Die Diktaturen unseres Jahrhunderts, durch welche der Einzelne wieder in die dumpfe Unbewußt-

248

Mensch oder Apparat im modernen Staat

heit der blinden Masse,

in die Schicksals-Unfreiheit

des Kadaver-

gehorsames zurückgestoßen wurde, sie tragen das Gepräge des asiatischen Satrapentums, aus dem sich bereits, giiltig fiir uns Abend-

lander, der griechische Mensch befreit hatte. Auch dieser Riickfall wurde durch den Sog jenes Vakuums ausgelöst, der nach der Französischen Revolution zu wirken begann. Wieso aber begann er zu wirken? Weil stets in der Zeitspanne, da etwas zusammenstürzt, das notwendige Neue noch nicht Form annehmen kann. Das hindert nicht, daß sich in solchen Zeiten das Neue nicht schon vorbereite. Aber es braucht Generationen, bis sich der Mensch von den vitalen,

psychischen und geistigen Erschütterungen und Verwirrungen erholt,

welche

jede

ernsthafte

Wachstumskrise,

jede

tiefgreifende

Lebens-Umstellung mit sich bringen. Da hier auf eine entscheidende, ja vorherrschende Weise das Bewußtsein tangiert ist, so ist es nur selbstverständlich, daß dieser weltverändernde Prozeß qualvolle Formen annimmt. Es scheint, es gäbe keinen Ausweg mehr; es scheint, die Leere starre uns an; es scheint, alles werde sinnlos; bestenfalls

oder - besser: schlimmstenfalls fällt man in frühere Lebensformen

zurück, die aber überlebt sind, tot, so wie es die Diktaturen waren und noch sind, und die deshalb auch nur den Tod und Totes und

Tötendes hervorbringen können. Der moderne Staat, der in den verschiedensten Varianten und Versuchen heute besteht, ist eine Über-

gangs-Erscheinung, deren Ende sich aber -- falls nicht ein Wahnsinniger auf den Auslöser für die Wasserstoff bombe drückt — absehen läßt. Das könnte peinlicherweise wie eine Verheißung klingen. Es

ist keine. Es ist eine sehr folgerichtige Überlegung, wenn wir akzep-

tieren, daß innerhalb des Menschheitsgeschehens bewußtseins-verändernde und somit wirklichkeits-verändernde Fundamental- Ereignisse eingetreten sind. Und sie sind eingetreten. Der Übergang aus dem Matriarchat ins Patriarchat wurde vollzogen. Mehr noch: Im Moment, da das Schicksal auch zur Dienerin des Menschen wurde, da das Ichbewußtsein

in Griechenland zu erwachen begann, wurde dieser Übergang bewußt

vollzogen. Und die Welt war seitdem für den Menschen grundlegend verändert. Was aber vollzieht sich heute? Was denn kann oder könnte

an die Stelle des zerstörten Patriarchats treten? Wer hatte denn bis-

her geherrscht? Zuerst die Frau, dann der Mann — wo aber blieb der Mensch? Jetzt scheint weder Frau noch Mann, sondern die sogenannte

Masse zu herrschen, schlimmer noch: die Vermassung, also das nega-

tive Zerrbild der Menschheit, der bedrohte Mensch, der sich aber

gerade infolge der Bedrohung seiner selbst bewußt werden könnte!

Mensch oder Apparat im modernen Staat

249

Sollte es nicht môglicherweise der Mensch in Mann und Frau sein, der nun zur sogenannten «Herrschaft» gelangen soll? Nicht nur die

lebengebärende,

aber auch verschlingende

Mutter;

nicht nur der

lebenzeugende, aber auch tôtende Vater? Nicht bloB das Wir der miitterlichen Welt, nicht bloB das Ich der väterlichen Welt? Wohl aber der Mensch, der das Ich überwand, so wie damals in Griechenland der Mann bewußt das clanhafte, kollektive Wir durch die Ich-

findung überwunden hat. Wir sagen nicht, daß es so geschehen wird,

aber wir halten dafür, daB eine solche Auskristallisierung bereits im Gange sei. Denn wo bliebe sonst der Mensch? Eine gegenteilige Ansicht, daB nämlich das bisherige Patriarchat

durch ein neuerliches Matriarchat abgelést werden wird, vertreten

im Abendlande gewisse Kreise, wie zum Beispiel die Anhänger einer der bekanntesten tiefenpsychologischen Richtungen. Das nimmt um

so weniger wunder, als die Grundstruktur der «Analytischen Psy-

chologie» C. G. Jungs stark mutterbetont ist und mehr dem weib-

lichen Pol des Weltganzen zuneigt, wahrend, im Gegensatz dazu, die

Grundhaltung der psychoanalytischen Lehren S. Freuds durch das

Urbild des alttestamentarischen, strengen und strafenden Vatergottes

geprägt ist. Ob freilich die Matriarchats-Erwartung jener Kreise durch

die von Psychologen und Soziologen festgestellte matriarchale Tendenz in den Vereinigten Staaten von Amerika gerechtfertigt ist, entzieht sich unserer Beurteilung. Anders verhält es sich mit einer Asien betreffenden Vermutung, die Emil Abegg in einem Aufsatz über «Indische Kunst»! äußert: «Von besonderer kulturgeschicht-

licher Bedeutung ist schließlich das Relief an einem Pfeiler von Shrirangam: eine Frau sitzt rittlings auf den Schultern eines Mannes, der ihr als «Reittier» dient — ein unmißverständlicher Hinweis auf die Versklavung des Mannes, die nach brahmanischen Prophezeiungen für die Endzeit zu erwarten ist, in deren Morgendämmerung wir jetzt eingetreten sind.» — Möglicherweise entspringt diese Prophezeiung für das Kali-Yuga, die «Endzeit» beziehungsweise das «Eiserne Zeitalter», in dem wir jetzt leben, einer unterschwelligen

Sorge des patriarchalen Brahmanentums, daß die noch immer im indi-

schen Volke stark ausgeprägte matriarchale Komponente,

die zum

Beispiel im Kali-Kult (dem der verschlingenden Urmutter), in der

Heiligung der Kuh, in der Mutterverehrung großer Gurus (wie bei 1 Siehe Emil Abegg, «Indische 22. 11. 1960, Blatt 8, Nr. 4089.

Kunst»;

in: Neue

Zürcher

Zeitung vom

250

Mensch oder Apparat im modernen Staat

Sri Ramakrishna, Bhagavan Sri Ramana Maharshi und Sri Aurobindo) sichtbar wird, rückfällig virulent werden kônne. Doch diese

Deutung wäre, da sie vornehmlich psychologisch und somit allein wahrscheinlich nicht ausreichend ist, einer besonderen Untersuchung

wert. Die Frage, wo denn bisher der Mensch blieb, führt zur zweiten Frage, die uns unser Thema stellt: Was ist der Apparat? Der Mensch als Apparat ist nichts anderes als der Hinweis darauf, daß der echte Mensch (wie es Hufeland einmal ausgedrückt hat) geboren werden

soll. Alles Entscheidende muß den Weg durch seinen Gegenpol, durch seine In-Frage-Stellung, womöglich sogar durch seine Verneinung

gehen. Der Apparat ist die Verneinung des Menschen. Listigerweise fabrizierte sich der Mensch mit dem modernen Staat den Apparat, dessen Räderwerk ihn selber zum Apparat zu machen droht und ihn mancherorts immer noch dazu macht. So wies Theodor Heuss in der

Festschrift für A. Rüstow auf die Einbuße an menschlicher Lebenskraft zufolge der, wie er es nennt,

Wo und wie aber der Verantwortung zichtet, wo er seine auch der Macht des

«Paragraphenapparaturen» hin.?

wird der Mensch zum Apparat? Dort, wo er sich begibt, das heißt dort, wo er auf sein Ich verpersönliche Kraft der Macht des Anonymen, also Ichlosen, unterstellt, dort, wo er gezwungen wird

oder sich dazu zwingen läßt, sich selber aufzugeben, wo er seinSchick-

sal verspielt und damit seine Freiheit. Seit der Renaissance bereitete

sich dieser Prozeß im Abendlande vor.

Die Machtanmaßung und die negative Übertreibung des Staats-

gedankens beginnen in diesem Sinne mit dem «Principe» des Machiavelli: «Alles dem Staat» ist die Losung; das aber heißt: nichts dem Menschen, nichts für Gott. Später folgen in der mit Machiavelli beginnenden Reihe Marx und Engels; es folgt zu Anfang unseres Jahrhunderts der Franzose Georges Sorel mit seinen «Réflexions sur la Violence»;

es folgt der Italiener Wilfredo

Quinton mit seinen

Pareto; es folgen Rene

«Maximes sur la Guerre» und Mussolini mit sei-

ner brutalen «Dottrina del Fascismo», die er für die «Enciclopedia Italiana» schrieb, und schließlich Ernst Jünger mit seinem < Arbei-

ter», wo der Arbeiter zum diabolisch-konsequenten Selbstzweck ge-

macht wird: das aber ist gleichbedeutend mit der Auslöschung des Menschen.

Die Zerstörer selber machen uns darauf aufmerksam, von welcher 2 Siehe Theodor Heuss in: Wirtschaft und Kultursystem;

Zürich, 1955; S.9-11.

Mensch oder Apparat im modernen Staat

251

Seite her ihnen, den Zerstôrern, Gefahr droht: nicht von der Frau, nicht vom Mann, sondern vom Menschen. Und dieser Mensch wird

und kann sich nur, wenn er bedroht, also vom Schicksal herausgefor-

dert ist, wehren und dadurch sich selber formen und damit zu sich

selber erwachen. Ist dieser Sachverhalt etwa kein Hinweis? Könnte er deutlicher sein? Der Mensch zur Attrappe degradiert: das ist der «linientreue Genosse» oder jener, der sich des Verrates selbst bezich-

tigen kann, da er sich selber ja gar nicht mehr trifft, weil sein Ich bereits seit langem ausgelöscht ist. Diese Scheinwelt der Attrappe zeichnete visionär als einer der ersten Franz Kafka in seiner Novelle «Die

Straf kolonie»; Aldous Huxley folgte mit seinem Roman «Brave New

World», Arthur Koestler mit seinem «Darkness at Noon» (Sonnen-

finsternis), George Orwell mit seinem «1984», Eugen Kogon mit seinem

«SS-Staat»,

Hermann

Kasack

mit seinem

Roman

«Die

Stadt

hinter dem Strom». In all diesen Werken werden die Theorien der vorhin genannten Zerstôrer bis in die letzte Konsequenz und damit ad absurdum geführt. Der Mensch aber als Trager des geistigen Prinzips auf der Erde ist unzerstôrbar.

Und damit sind wir bei der dritten Frage unseres Themas angelangt: Was ist der Mensch? Es ergab sich soeben eine der vielen möglichen Definitionen: der Mensch ist auf der Erde der bewußte Trager des

geistigen Prinzips. Christlich ausgedrückt — und es sei nicht vergessen, daß das Christliche unleugbar, ob man es nun wahrhaben will oder

nicht, eine, wenn nicht de Grundkomponente des Abendlandischen

ist — christlich ausgedrückt heißt es: der Mensch ist ein Geschöpf

Gottes. Aber lassen wir das Religiöse beiseite, weil es den

«Glauben»

voraussetzt, den nicht jedermann zu leisten vermag. Betrachten wir

einen überblickbaren Teil des Weges, den der Mensch bisher gegan-

gen ist. Da schen wir, daß er aus einer Frühform des Bewußtseins zu

der schlafhaften Bewußtseinsform des Wir, des Clan, der Sippe ge-

langte, zu einer Bewußtseinsform, deren soziologische Struktur ma-

triarchalisch war; wir sahen, daß er sich dann von diesem Wir-Bewußtsein distanzierte, aus ihm herausmutierte, daß er damit zum Ichbewußtsein erwachte, zu einer Bewußtseinsform, deren soziologische Struktur patriarchalisch war. Welche Qualen, Schmerzen, Revolutio-

nen, Welt- und Wirklichkeits-Zusammenbriiche das jeweils bedeutet hat, das sollten gerade wir Heutigen am besten ermessen können, da

sich neuerdings wieder eine entscheidende Bewußtseins-Umgestaltung vollzieht, die aus der Ich-Struktur hinausstrebt in eine ichfreie Struk-

tur; die aber — und das muß aufs dringlichste betont werden — nicht

252

Mensch oder Apparat im modernen Staat

etwa zurückstrebt in die ichlose Wir-Struktur der Frühzeit oder in die negative, defiziente Wir-Struktur des modernen Kollektivismus. Wird uns dieser bewußtseinsmäßige Durchbruch gelingen? In Sumer und in Griechenland wurde jeweils ein derartiger Durchbruch vollzogen. Warum? Weil er vollzogen werden mußte; weil Leben und Geist Wandlung voraussetzen, da Erstarren nicht Leben, sondern Tod mit sich bringt. Warum sollte es uns also nicht gelingen? Es scheint

unsere Aufgabe zu sein. Sie ist mit einem Satze umschreibbar: Leistung einer neuen Bewußtwerdung, die aus dem Ich zur Freiheit vom Ich und damit in die Freiheit zum Menschen führt. Vergessen wir nicht, daB die Kraft des Geistigen (und nicht etwa die des Intellekts!) noch stets der Macht des Materiellen überlegen war. Die Macht -- die stets

nur usurpierte Kraft ist — kann höchstens töten. Aber noch immer

bisher hat die neu errungene Bewußtseinshaltung die ihr vorauf-

gegangene überwunden. Da ist die Handvoll ichbewuBter Griechen, die das asiatische Riesenheer der Perser unter Xerxes, dem Satrapen, besiegte: das war der Sieg des IchbewuBtseins tiber die ichlose, noch schicksals-versklavte BewuBtseinsform. Denn noch immer haben bisher die Träger der stärkeren Bewußtseinsstrukturen den Sieg davongetragen. Was ist damit gemeint? Obwohl diese Frage etwas von der

Linie dieser Gedankengänge wegzuführen scheint, sei kurz auf sie

eingegangen, indem wir eine kleine Abschweifung machen, die aber

auf unsere heutige Situation, vor allem aber auf unser mögliches Verhalten, Licht werfen kann.

Wenden wir uns nochmals jenem Xerxes zu, den die Griechen be-

siegten. Er war es, der vorher befohlen hatte, den Hellespont aus-

zupeitschen, weil sein hoher Seegang das Perserheer daran hinderte,

nach Griechenland überzusetzen: Die defizient magische Haltung des

Perserkönigs, welche aus diesem Befehl spricht, sie war es, die der

mentalen, ichbewußten der Griechen nicht gewachsen war.

Es gibt noch andere derartige Beispiele von dem Aufeinanderpral-

len zweier Bewußtseinsstrukturen, bei dem die stärkere die Oberhand

gewann. Hier seien nur noch zwei erwähnt, da darüber an anderem Ort ausführlich berichtet worden ist.

Da ist der Sieg der Handvoll ichbewußter Spanier über die noch im

magisch-mythischen Bannkreis befangenen Azteken Mittelamerikas.

Eine Beschreibung dieses Ereignisses findet sich in der aztekischen

Geschichts-Chronik des Fray Bernardino de Sahagún, die, acht Jahre nach der Eroberung Mexikos durch Fernan Cortes, auf Grund von

Berichten der Azteken, niedergeschrieben wurde. Der Beginn des

Mensch oder Apparat im modernen Staat

13. Kapitels dieser Chronik, das die Eroberung

durch die Spanier schildert, lautet folgendermaBen:

253

der Stadt Mexiko

Das dreizehnte Kapitel; darin wird erzählt wie Montecuhçoma,

der mexikanische König,

andere Zauberer schickt,

daß sie die Spanier zu behexen suchen sollten, und was ihnen auf dem Wege geschah. Und die zweite Schar von Boten und die Wahrsager und Zauberer

und die Räucherpriester, gingen ebenfalls sie zu empfangen (ihnen entgegen). Aber sie taugten nichts mehr,

sie konnten die Leute (nämlich die Spanier) nicht mehr bezaubern,

sie konnten ihren Zweck bei ihnen nicht mehr erreichen,

sie gelangten (sogar) nicht mehr hin.

Es gibt kaum einen zweiten Text, in dem auf so kurzem Raum und mit so wenigen, sich eindringlich wiederholenden Worten das Zu-

sammenbrechen einer ganzen Welt, einer ganzen bis dahin giiltigen

und wirksamen menschlichen Haltung beschrieben wird: die magisch-

mythische Haltung der Mexikaner und die ihr entspringende Kraft

wirkten «bei ihnen (den Spaniern) nicht mehr»

; diese Haltung zer-

brach in dem Augenblick, da sie auf die mentale, ichhafte traf. Denn

der echte magische Zauber, fiir die Mexikaner ein tragendes BewuBtseinselement kollektiver Art, wirkt nur auf die clanmäßig Gleichgestimmten; an nicht clanmäßig Gebundenen und Gleichgestimmten prallt er ab. Nicht der Besitz überlegener Waffen, nicht in erster

Linie dieser Besitz, sondern der eines IchbewuBtseins machte den da-

maligen Spanier den Mexikanern überlegen, und zwar derart überlegen, daß sich die Mexikaner fast kampflos ergaben. Hatten sie aus der ichlosen Haltung heraustreten können,

Spanier zweifelhaft gewesen.?

so wäre der Sieg der

Das andere Beispiel: der Sieg einer Handvoll Eidgenossen im Jahre

1315 über das wohlausgerüstete österreichische Heer unter Leopold

3 Mit diesen Ausführungen ist keinesfalls eine Verteidigung oder eine verschweigende Beschönigung der spanischen Grausamkeit beabsichtigt. Auf erschreckendste Weise wird in jenem Verhalten der Spanier der negative Aspekt des zweckgerichteten Individualismus sichtbar, der als wachsender Schatten die Gedankenklarheit des vorwiegend mental-rationalen Menschen begleitet hat und zur heute bitter sich rächenden Schmach des Europäers geworden ist.

254

Mensch oder Apparat im modernen Staat

bei Morgarten: auch das war ein Sieg der ichbewuBteren, einzelnen Kämpfer über die gewissermaßen noch clanmäßig, in geschlossenen Heerhaufen Angreifenden.

Was an diesen Vorgängen vor allem interessiert, ist nicht so sehr

die historische Situation des Zusammenpralls verschieden mächtiger

Volker oder Kulturen, sondern die Uberwindung des magischen Clanbewußtseins, des Wirbewußtseins, durch das mentale Ichbewußtsein. Heute nun steht dieses rationale Ichbewußtsein und seine Träger, deren stärkste Waffe die technische Atomspaltung ist, vor einer ähnlichen katastrophalen Situation des Versagens; und deshalb könnte es durch ein neues Bewußtsein,

durch eine neue BewuBtseinsstruktur über-

wunden werden. Immer waren es diejenigen, die in der bewußtseinsschwächeren Struktur lebten: die Perser, die Azteken, die damaligen Osterreicher, welche von jenen überwunden wurden, die wie die Griechen, die Spanier, die Eidgenossen ein durch die Ichwerdung erstarktes BewuBtsein besaßen. Warum diese Beispiele angeführt wurden? Weil wir Europder beginnen, eine neue Bewußtseinsstruktur herauszubilden, die zum Beispiel der russischen überlegen ist, welche ihrerseits noch clangebunden, teils ausgesprochen patriarchalisch und, weil rational betont, ich-verhärtet

ist. Wer sich allerdings auf materielle Waffen stiitzt, wird dieser starkeren Waffe, als welche sich jeweils die stärkere BewuBtseinsstruktur darstellt, keinen Wert beimessen. Wie sollte er es auch kônnen,

da ja schon sein Glaube an die materielle Uberlegenheit zeigt, daB er selber noch zutiefst in der machtbesessenen, ich-verhärteten BewuBt-

seinsstruktur verfangen ist und somit die Kraft, welche das neue BewuBtsein vermittelt, bestenfalls mit Idealismus verwechseln muß. Doch kommen wir zum Ausgangspunkt zurück. Es war die Rede

von unserer Aufgabe: daß wir eine neue Bewußtwerdung zu leisten hätten, die diesmal aus dem Ich, das die Griechen für uns errungen haben, zu einer Freiheit vom Ich und damit zur Freiheit zum Men-

schen führen sollte.*

* Die hier kurz skizzierten Bewußtseins-Strukturen, die der magisch-mythischen Ichlosigkeit und Wirhaftigkeit, die der mental-rationalen Ichhaftigkeit und die der neuen Ichfreiheit sind keinesfalls als eine Drei-Phasen-Lehre zu betrachten, wie sie, auf der Trinitätsidee basierend, religiös beispielsweise in der Lehre von den drei Reichen des Joachim von Fiore, säkularisiert beispielsweise in der Drei-Stadien-Theorie von A. Comte Gestalt angenommen haben. Der erforderlichen Kürze halber konnten wir hier nur auf die erwähnten drei Bewußtseins-

Mensch oder Apparat im modernen Staat

255

Aber, so wird man fragen: wie sollen wir, jeder von uns, diesen

großen menschheitlichen Prozeß in unserem jeweiligen kleinen, pri-

vaten und persönlichen Leben vollziehen?

Das Einzelleben untersteht im kleinen ähnlichen Vollzugsgesetzen

wie das menschheitliche. Auch der Weg des einzelnen Menschen ist ein Weg der zunehmenden Bewußtwerdung. Er führt aus der Ichlosigkeit

über die Ichhaftigkeit zur Ichfreiheit. Wer diesen Weg verfehlt, der hat, wenigstens heute und als Europäer, sein Leben verfehlt. Ein jeder von uns muß zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr die Loslösung aus dem Clan, der Familie vollziehen und sich auf die Suche nach

seinem Ich begeben. Tut er es nicht, bleibt er infantil, bleibt ein Knabe. Ein jeder von uns muß zwischen dem 28. und 35. Lebensjahr sein Ich finden; tut er es nicht, bleibt er ein ewiger Jüngling. Ein jeder von uns muß zwischen dem 42. und 49. Jahr Distanz zu seinem

Ich gewinnen, muß das realisieren, was man als Ichfreiheit bezeichnen kann; tut er es nicht, bleibt er bloß ein Mann und wird niemals ein Mensch, der auch, als Mann, das Weibliche begreift. Es wäre je-

doch ein Mißverständnis zu glauben, damit solle gewissermaßen ein Lebensfahrplan entworfen sein. Es braucht nicht immer genau das

21., 35., 49. Jahr zu sein. Es sei damit nur allgemein auf den uralt

bekannten Siebener-Rhythmus verwiesen, um den schon Solon und

damit Platon gewußt haben und den die moderne Medizin wiederentdeckt hat, da sich ja alle Zellen unseres Körpers je nach sieben Jahren vollständig neu bilden. Doch wir sprachen vom Ich und der Ichfreiheit. Wie viele von uns aber fanden denn wirklich ihr Ich? Die meisten glauben es zu besitzen, weil sie es ins Du projizierten; das ist ein Scheinbesitz und dazu noch eine Vergewaltigung des Du; andere verwechseln die stets bezie-

hungslose Egozentrik mit Ichhaftigkeit. Egozentrik aber ist nur der

Ausdruck eines nie aus dem Wir zum Du erwachten Infantil-Ego; unter Ichhaftigkeit dagegen sollte man die primäre Ichbehauptung und Ichstärkung verstehen; sie schließt stets echte mitmenschliche

strukturen eingehen, deren es aber nachweisbar fünf gibt (siehe Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart). Außerdem ist ihr In-Erscheinung-Treten nicht etwa als bloße Aufeinanderfolge oder als Fortschritt oder historisierend als Ablauf aufzufassen, sondern als über und durch die Zeiten und Kulturen ausgeteiltes Sichtbarwerden anlagemäßig vorgegebener Bewußtseinsformen, welche sich entfaltend, teils mindernd, teils bereichernd, die jeweilige Wirklichkeitserfassung des Menschen bestimmen, siehe dazu Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Bd. III, S. 512 ff.

256

Mensch oder Apparat im modernen Staat

Beziehung ein und kann am Maß der vom Individuum aufgebrachten Rücksicht gemessen werden. So gesehen, führt die Ichfindung zur Ichhaftigkeit, und nur diese kann, sofern sie nicht in der Egozentrik

steckenbleibt, zur Dufindung führen. Da in der echten Ich-Du-Bezie-

hung das menschliche Gegenübersein sich in ein Miteinander ver-

wandelt, kann von hier aus der Abbau der Ichhaftigkeit erfolgen, jene Ichüberwindung, die nicht etwa den Ichverlust nach sich zieht, sondern in die Ichfreiheit führt. Doch wie viele von uns überwanden ihr Ich? Es gibt also Arbeit genug. Hôchst unangenehme, schmerzhafte

Arbeit an uns selber. Sie ist Voraussetzung fiir den entscheidenden Vollzug. Die Menschheit - das sind auch wir. Und wir, jeder Einzelne von uns muß leisten, was in den BewuBtwerdungs-Möglichkeiten der Menschheit liegt und vorgegeben ist. Das ist einer der möglichen Wege, der uns aus dem heutigen Vakuum, aus der Attrappenexistenz im modernen Staat herausführen und somit

das Menschliche schlechthin retten könnte. Damit wäre ein weiteres gegeben: daß nämlich das ausklingende Patriarchat in unseren Tagen nicht in ein Matriarchat zurückschlüge,

daß sich das patriarchale Bewußtsein nicht wieder in ein matriarchales zurückbildete, sondern ins integrale mutierte. Dieses integrale Bewußtsein eignet dem Menschen, der Herr über alle ihn konstituie-

renden Bewußtseins-Strukturen ist und auf die Vorherrschaft, sei es der Frau, sei es des Mannes, verzichten kann, da dann nicht mehr die Frau oder der Mann herrschen, sondern der Mensch als solcher, der

Mensch in Mann und Frau. So wie das Matriarchat vom Patriarchat

abgelöst worden ist, so bahnt sich heute der Übergang

aus dem

Patriarchat in das /ntegrat an. Wird dieses Integrat Wirklichkeit, dann wäre dies zugleich die Befreiung aus dem heutigen Vakuum,

wäre die Überwindung der uns drohenden Attrappenexistenz: der Staat würde menschlich und menschenwürdig, jener Staat, der, wie

wir gesehen haben, heute fast überall zum entmenschlichenden Appa-

rat zu erstarren beginnt. Wie dieser Staat zustande gekommen ist, haben wir gesehen. Damit

ist die eingangs gestellte erste Hauptfrage beantwortet. Aber auch

auf die zweite Hauptfrage: Wie können wir die Gefahr der Attrappe

und des modernen Staates überwinden? wurde, wenn nicht eine Ant-

wort, so doch ein Hinweis auf eine mögliche Lösung gegeben. Wie

weit er als evident und verbindlich erscheinen mag, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß diese Antwort eine unbequeme Antwort ist. Aber vergessen wir es nicht: Alles, was uns geschieht, sei es uns als Ein-

Mensch oder Apparat im modernen Staat

257

zelnen oder als Menschheit, ist nichts anderes als eine Begegnung mit

uns selber, mit Ereignissen, die uns entsprechen. Was immer uns

geschieht, ist nur die Sichtbarwerdung unserer selbst im AuBen. Wenn es sich dabei um gute Ereignisse handelt, sind wir gern bereit, diesen Satz zu akzeptieren. Wenn es sich dagegen um unangenehme, schmerzhafte, womöglich um blamable Ereignisse handelt, wollen wir diesen

Satz durchaus

nicht wahrhaben,

weil wir uns

selber nicht

wahrzuhaben vermochten, denn anders wären uns derartige Ereig-

nisse gar nicht widerfahren. Andererseits: Was immer wir tun, wird

in dem Maße wirksam sein, in dem es der jeweils geforderten BewuBtseinsreife entspricht. Jeder handelt richtig, wenn er seinem jeweiligen Lebensalter gemäB lebt und handelt. Ein altes chinesisches Wort bringt das — und noch einiges mehr — zum Ausdruck. Es lautet: Wenn ein rechter Mann sich verkehrter Mittel bedient, so wirken die verkehrten Mittel recht;

wenn ein verkehrter Mann die rechten Mittel gebraucht, so wirkt das rechte Mittel verkehrt.5

Wer aber ist solch ein «rechter Mann»? Es gab sie auch in Europa. Und sie gibt es heute noch. Sie wirken. Ein jeder still an seinem Platz. Und gerade diese Stille ist kräftiger als groBes Geschrei. Zu

jenen aber, die es einmal in Europa gab, gehórt Montesquieu. Eine seiner Maximen, die er vor ungefáhr 220 Jahren in seinen «Cahiers»

notierte, nimmt eine Einstellung voraus, die hier zu skizzieren versucht wurde und von der wir meinen, wir sollten ihr mit Standhaftigkeit und BewuBtheit zum Durchbruch verhelfen. Diese Maxime lautet: «Si je savois quelque chose qui me fût utile, et qui fût préjudiciable

à ma famille, je la rejetterois de mon esprit. Si je savois quelque

chose utile à ma famille, et qui ne le fût pas à ma patrie, et qui fût

préjudiciable à l'Europe, ou bien qui fût utile à l'Europe et préjudiciable au Genre humain, je la regarderois comme un crime. (Wenn ich etwas wüDte, das mir dienlich wäre und meiner Familie abträg-

lich, so würde ich es aus meinem Geiste verbannen. Wenn ich etwas wüDte, das meiner Familie und nicht meinem Vaterlande dienlich wäre, so würde ich suchen, es zu vergessen. Wenn ich etwas wüßte, 5 Siche Das Geheimnis der goldenen Blüte, übersetzt von Richard Wilhelm, mit einem europäischen Kommentar von C. G. Jung; Rascher Verlag, Zürich, 1929, 4. Aufl. 1958.

258

Mensch oder Apparat im modernen Staat

das meinem Vaterlande dienlich und das Europa abträglich ware, oder das Europa dienlich und dem Menschengeschlecht abträglich

wire, so würde ich es als ein Verbrechen betrachten.9)» Dieses Verbrechen geschieht heute noch allenthalben. Aber es ist

uns zumindest gegeben, ihm nicht Vorschub zu leisten. Versuchen wir, der Forderung, welche die augenblickliche Weltstunde an uns stellt, gerecht zu werden. Bisher hat die Menschheit nicht versagt. Warum sollte sie in unseren Tagen versagen, wenn wir bereit sind zu tun, was von uns auf eine sehr deutliche und eindringliche Weise gefordert wird? Daß für uns die Gefahr besteht, Apparat zu werden, wissen wir; aber wir wissen auch, wie wir sie bestehen können. Jede

Gefahr oder Bedrohung ist eine ermutigende Aufforderung, dank

ihrer sich zu bewähren, an ihr zu wachsen und sie zu überwinden. 6 Siehe Montesquieu, Cahiers 1716-1755. Grasset, Paris, 1941; S. 9/10.

13. AUFLOSUNG ODER UBERWINDUNG DER PERSONLICHKEIT

(zu Alfred Webers

«Kommt

«Gegenwartsfrage: Kommt der Vierte Mensch?»)

der Vierte Mensch?»

Nein;

denn er ist schon da. Mehr

noch als das: er war immer da. Freilich, er trug dem jeweiligen Zeitalter entsprechend immer andere Ziige. Im Grunde aber ist er nur der Repräsentant der negativen, unmenschlichen und lebensfeindlichen Aspekte der Menschheit. Diese destruktiven Mächte werden stets in den großen Krisenzeiten der Menschheit besonders akut. Wie sollte es also heute anders sein? Den «Vierten Menschen» stellt Alfred Weber als amoralisch, glau-

benslos, intellektualisiert, technisiert, unpersönlich, vermaßt und ver-

antwortungslos dar, nicht mehr ein Mensch, sondern ein Unmensch,

ein Gespenst, ein Phantom. Dieser Mensch Nummer vier ist aber, wir betonen es nochmals, keine Zukunftsvision, wie Alfred Weber glaubt,

sondern nackte Tatsache unserer Tage.! Und gerade diese Tatsache,

daB er schon da ist, daB er unter uns lebt und herumgeht, EinfluB auf uns zu gewinnen versucht und um der Macht willen die Zukunft

der Menschheit gefáhrdet, gerade diese Tatsache ist für uns ein — Glück! Es ist deshalb ein Glück, weil offensichtliche Gefahren sich

stets leichter vermeiden lassen als verborgene. Der Mensch Nummer viet ist eine akute Gefahr und somit eine Warnung. Seine Existenz — und er ist nichts als hóchst diesseitige Existenz, mit der er sich, sei et Philosoph, sei er Kaufmann, sei er Verwalter, bescháftigt — diese

seine Existenz ist eine Herausforderung an uns. Nicht etwa, um ihn zu bekämpfen. Wohl aber, um ihn zu überwinden. Und dazu kann ein jeder beitragen, gleich welchen Volkes, Standes, Berufes oder und

1 Alfred Weber unterscheidet im Gegensatz zu uns (siehe Gebser, Ursprung Gegenwart,

Bd. II) die groBen

Menschheitsepochen

nicht als archaische,

magische, mythische, mentale und (als heute in Bildung begriffene) integrale, sondern verweist seinen « Ersten Menschen» in eine (noch durchaus darwinistisch gesehene) zoologische Frühstufe, den «Zweiten» in eine magisch-mythische Frühgeschichte (ohne zwischen magischem und mythischem BewuBtsein zu unterscheiden!), den «Dritten Menschen»

in unsere abendländische Epoche, den «Vier-

ten» in die zukünftige. - Angemerkt sei, daB das 8. Kapitel: «Zur Gegenwartsfrage. Kommt der Vierte Mensch?» in der ersten Auflage seines Werkes (Leiden,

1935) noch nicht, sondern erst in der zweiten Auflage (München, 1950) enthalten ist.

260

Auflösung oder Überwindung der Persönlichkeit

welcher Konfession er ist. Ja, er muB sogar dazu beitragen, will er für seine Kinder Friede, Freiheit und Weiterbestand gewährleistet wissen.

Um einen der möglichen Wege zu dieser Überwindung aufzeigen

zu können, steht dieser Hinweis unter dem Titel «Auflösung oder

Überwindung der Persönlichkeit». Es ist dies kein Kampftitel, denn

er stellt keine Alternative, kein Entweder-Oder zwischen zwei Möglichkeiten dar, die sich gegenseitig ausschließen. Er ware ein Kampftitel und würde den Menschen Nummer vier zu unserem Gegner

machen, wenn er lauten würde: «Auflösung oder Erhaltung der Persönlichkeit». Stellten wir die Frage so, dann begäben wir uns hinunter auf das Niveau des Menschen Nummer vier und stärkten ihn,

indem wir mit ihm kämpften. Und selbst besiegten wir ihn, so wären

wir zwar, wie das noch jedem Sieger geschah, physisch die Sieger,

psychisch aber Besiegte, die durch das Handgemeinwerden mit dem Gegner selber infiziert wurden. Deshalb also nicht der Alternativtitel: «Auflösung oder Erhaltung der Persönlichkeit», sondern, wenn schon Kampf sein muß, so dann dort, wo er am nötigsten ist, näm-

lich in uns selbst. Deshalb der Titel: «Auflösung oder Überwindung der Persönlichkeit».

Damit stellt sich uns eine doppelte Aufgabe. Erstens müssen wir

deutlich machen, daß der Mensch Nummer

vier keine latente, also

keine zukünftige Gefahr ist, sondern eine akute, also eine bereits heute real bestehende Gefahr. Gelingt uns dies, so wird uns ein kurzer Überblick darüber, wie es zu dieser heutigen Gefahr gekommen ist, die Lösung der zweiten Aufgabe erleichtern. Diese zweite Aufgabe

aber besteht darin, daß wir eine der Möglichkeiten aufzeigen, wie wir,

und zwar jeder Einzelne von uns, dazu beitragen können, diese Gefahr zu überwinden.

Sehen wir ganz davon ab, daß Alfred Webers Konzept des Vierten

Menschen nicht nur verwirrend, sondern auch pessimistisch ist. Sehen

wir auch davon ab, daß die Gefahren, die Weber aufzeigt und als

deren Träger er den Zukunftsmenschen Nummer vier namhaft macht,

bereits von anderer Seite aufgezeigt worden sind. Gabriel Marcel in

Frankreich,

Bertrand

Russell in England,

Romano -Guardini

in

Deutschland gehören, um nur einige Namen zu nennen, zu diesen

Warnern. Dagegen dürfen wir nicht übersehen, daß das Webersche

Konzept im höchsten Maße bedenklich, ja gefährlich ist. Das nume-

rierende Denken Webers übersieht die lebendige Entfaltung und projiziert außerdem als Bedrohung in die Zukunft, was bereits Realität

Auflösung oder Überwindung der Persönlichkeit

261

ist. Dies kônnte uns gefährlich werden, indem wir die Notwendig-

keit verkennen, heute zu handeln, da ja die Gefahr nur eine zukünftige

sein soll. Doch darüber besteht kein Zweifel, daß dieser Mensch Nummer vier heute schon existiert, wirkt und daran ist, immer stär-

keren Einfluß zu gewinnen. Der «Manager», der wirtschaftspolitische Funktionär, ist bereits da. Im Osten hat er sein Gegenbild im

«Kommissar», dem parteipolitischen Funktionär. Diese beiden unper-

sônlichen Menschentypen stützen sich in Amerika auf den Pragmatis-

mus, das heißt auf die Lehre von Erfolg und Nutzen; in Rußland auf

einen rückständigen Materialismus rationalster Art. In beiden Welten

wurde die unmenschliche Maschine zum Gott erhoben, die, wie jeder

Glaube an Gott, ein glückseliges Leben gewährleisten soll. Dagegen stiitzt sich ein Teil unseres Europas weder auf die Erfolgslehre, den

Pragmatismus, noch auf den radikalen Materialismus, die beide ver-

kiimmerte Ableger des einstigen Humanismus

sind. Dafür leisten

sich aber viele den gefahrlichen Luxus, sich auf den Existentialismus zu stiitzen, der desgleichen ein Schrumpfableger des Humanismus

ist. Viele sind ihm verfallen, weil sie Angst vor der Weiterexistenz

haben, weil sie glauben, nichts mehr zu haben als diese nackte, kläg-

liche Existenz. Doch, ob Pragmatiker, Materialist oder Existentialist, sie alle sind Ausdruck jenes Vierten Menschen, der gar kein Vierter Mensch ist, sondern der Prototyp des erschépften und verarmten

Vertreters einer zu Ende gehenden Menschheitsepoche. Er ist das, was wit als den defizient mentalen Menschen bezeichnet haben. Denn die zu Ende gehende Menschheitsepoche, die gegen 500 v.Chr. Geburt begann, war mental. Dieses mentale Vermögen ist heute de-

fizient geworden, das heiBt, es ist negativ wirksam, weil es allein zur

Meisterung unserer Wirklichkeit nicht mehr ausreicht. Der defizient mentale Mensch ist ein Kranker, Erschöpfter, also Defizienter, ja ein Sterbender,

der die Krise nicht tiberstehen kann und

deshalb alle

anderen mit sich in den Abgrund zu zerren droht. Denn dies ist das Entscheidende: eine Krise setzt dort ein, wo der Mensch den Forde-

rungen des Lebens und des Geistes nicht mehr gewachsen ist. Dies ist keinesfalls biologisch auszulegen, denn es handelt sich hier um

einen geistigen und bewußtseinsmäßigen Erschôpfungszustand, der

sich natürlicherweise auch biologisch auswirkt, der aber nicht biologisch bedingt ist. Wir erkennen die Auswirkung dieses Erschöpfungszustandes an dem Verlust an Lebenskraft, der zum Wesen von

Krankheit und Krise gehört. Und wir erkennen ferner diesen Verlust selbst an allen jenen Eigenschaften, die nicht nur Alfred Weber,

262

Auflösung oder Überwindung der Persönlichkeit

sondern viele andere auch, dieser Art Mensch zusprechen: unmensch-

lich und desintegriert, also zerfallend, verantwortungslos und vermaBt, also ichlos, eine Kiimmerform des «homo

sapiens», aus dem

sich das Leben und der Geist zurückziehen, da es ihm nicht gelingt, eine neue Form zu finden. Jede Krise aber ist wie jede Krankheit nur eine Herausforderung, daB wir sie überwinden und an ihr wachsen;

andernfalls werden wir zugrunde gehen, im besten der Fälle bloß

weitervegetieren, vermaBt, vertechnisiert, mechanisiert, sinnlos und leer geworden, leer wie wir selber, wie alles, was wir tun.

Derart groBe Krisen wie die unsrige, die jeweils auch das hervor-

gebracht haben, was Alfred Weber als den Vierten Menschen bezeichnet, haben sich bereits einige Male seit dem Bestehen der Menschheit abgespielt. Diese Tatsache scheint Weber tibersehen zu haben.

Sie aber ist Gewähr

dafür,

daß

der Vierte

Mensch

nicht

unbedingt der letzte Mensch sein muß, sondern nur das defiziente,

das ungenügend gewordene überwunden werden kann. Aufgabe. Daß wir sie zu werden, wenn wir einen werfen.

Endprodukt des mentalen Zeitalters, das Diese Uberwindung zu leisten ist unsere erfüllen vermöchten, kann uns bewußt Blick auf die früheren großen Krisen

Die erste große Krise spielte sich ab bei der Menschwerdung des

Menschen, bei seinem «Fall» aus dem Archaischen, dem Ursprung, in die magische Welt der Frühkulturen. Eine weitere folgte, als der magische Mensch sich aus der Gruppe herauslöste. Jene, die diese Herauslösung

vollzogen,

fanden

die neue

Form

des Menschseins,

die mythische. Sie überwanden den magischen Menschen, der dann noch defizient weitervegetierte, als das echte magische Vermögen allein zur Meisterung des Lebens und der Wirklichkeit nicht mehr ausreichte. Der Vierte Mensch der Endzeit des Magischen war nicht der mythische, sondern der defizient magische Mensch. Es war jener, der nicht mehr bannte, sondern zu zaubern begann, der damit an Stelle der Kraft die Macht setzte, so lange, bis er zur Ohnmacht verurteilt wurde oder sich selber dazu verurteilte, da die einst wirk-

samen qualitativen Formen der Magie erstarrten und zu leeren, mechanischen und quantitativen Schablonen wurden. Die tibetanischen Gebetsmühlen sind für den Vierten Menschen der magischen Zeit ein gutes Beispiel, jene Behälter, die, auf einem Stabe montiert,

Tausende

von Beschwörungsformeln

auf einer engbeschriebenen

Rolle enthalten und von denen der Tibetaner, sie in rotierende Bewegung setzend, glaubt, er vertausendfache damit die Beschwörung.

Auflösung oder Überwindung der Persönlichkeit

263

Diese defizient magische Praxis ist das Ende der magischen Epoche

gewesen, eine Auflösung in das Massenhafte und Mechanische, da

Leben und Geist aus der echten Haltung sich zuriickgezogen hatten. Dies geschah in jener Krise, die dann den mythischen Menschen hervorbrachte. Aber auch dieser ging eines Jahrhunderts zu Ende.

Wir wissen heute, daB der echte Mythos ein geschwiegener Mythos

war. Dann kam, mit der Krise, die im ersten Jahrtausend vor Christi Geburt den mentalen Menschen hervorbrachte, ein Vermassen und

blindes Wuchern des erzählten Mythos, eine Art psychisches Chaos.

Auch die Unzahl mythischer Ungeheuer und Dämonen indischer und anderer fernöstlicher Tempel sind ein Beispiel für den Substanz-, Intensitäts- und Qualitätsverlust des mythischen Menschen, der der Entleerung, der Schablone, der Quantifizierung anheimfällt. Und die Aufsplitterung der Mythen in der Spätzeit Griechenlands ist ein weiteres Beispiel für das Versagen des Vierten Menschen der mythischen Zeit, der auch ein «Vierter Mensch» war, nämlich ein mythisch de-

fizienter Mensch,

weil er die Krise um

joo v.Chr. nicht bestand.

Und was geschieht heute? Heute ist der mentale, der logisch denkende Mensch in Frage gestellt. Er steht in einer Krise auf Leben und Tod. Die Möglichkeiten des Mentalen sind weitgehend ausgeschöpft, so wie einst die Möglichkeiten des Mythischen und vorher jene des

Magischen ausgeschöpft waren. Das Mentale reicht in seiner Defi-

zienzform, dem Rationalen, nicht mehr aus, sowenig wie die männliche Freude am Herrschen dann noch ausreicht, wenn das Alter des

Mannes

erfüllt ist und er seiner menschlichen Reife entgegengehen

sollte. Das Mentale ist ausgeschöpft, sein Träger erschöpft. Der Rationalist, der Mensch also, der nur noch in Quantitäten, Nutzen, Materie oder in nackter Existenzsorge und Macht denkt, er ist der «Vierte Mensch»

mensch

der mentalen

Bewußtseinsstruktur,

ist als rationaler Un-

vermaßter und technisierter Art der erschöpfte,

defizient

mentale Mensch unserer Tage. Sein Denken ist kein lebendiges mehr, sondern ein totes, mechanisches. Die

«Computers», die

«Maschinen-

gehirne», jene Roboter-Rechenmaschinen, auf die der Pragmatiker

Norbert Wiener in Amerika den Zukunftsmenschen aufzementiert,

sie sind ein Beispiel für die Mechanisierung eines einst lebendigen

mentalen Vermögens und zugleich ein Beispiel für dessen Vermas-

sung und Quantifizierung. Damit hat der mentale Mensch, der gute

2000 Jahre hindurch herrschte, sein eigenes Todesurteil unterschrie-

ben, das sich an ihm vollziehen wird. Aber nur an ihm. Nicht an jenen, die, die Krise überwindend, an ihr wachsen und eine nochmals

264

Auflösung oder Überwindung der Persönlichkeit

neue Form

finden, um

sowohl das Leben als auch das Menschsein

würdig zu bestehen, das durch die Menschwerdung Gottes einen unvergänglichen und unverderblichen Adel erhalten hat. Der Vierte Mensch ist gar kein «Vierter Mensch»,

defizienter

Mensch,

der in jeder

bisherigen

Krise

sondern ein

in Erscheinung

trat und bisher in jeder Krise überwunden wurde. Warum sollte er heute nicht überwunden werden? Dies um so mehr, als heute die Menschheit weiß, daß derjenige, der um ihretwillen zum Menschen

wurde, nicht nur die Höllenfahrt erlebte, die heute die Menschheit

vollzieht, sondern daß er um ihretwillen auch auferstand und lebt.

Aber es ist ein Widersinn, zu glauben, wir kämen auf eine bequeme

Weise aus dieser Krise heraus. Etwa dadurch, daß wir erschöpfte und verbrauchte Formen der menschlichen Wirklichkeit wiederbelebten. Reformen wie ein Neohumanismus oder dergleichen sind wahrscheinlich gänzlich zwecklos. Und genauso zwecklos wäre eine Anstrengung,

den Individualismus oder den Persönlichkeitskult wiederzubeleben,

der das Kennzeichen des mentalen Menschen war. Dieser mentale Mensch ist erschöpft und damit auch seine hervorstechendste Form,

eben

der Individualismus,

der sich im

Kollektivismus

aufzulösen

beginnt. Die Grundlage dessen, was die Persönlichkeitsbildung überhaupt erst möglich machte, das Handwerk, ist zertrümmert. Damit auch das, was wir gewohnt

waren, als Kultur zu bezeichnen. Die

großen Repräsentanten des mentalen Zeitalters, die Könige, die gro-

Ben Persönlichkeiten, sind fast alle gestürzt. An ihre Stelle traten

Funktionäre des Staates: Präsidenten, Diktatoren, Usurpatoren. Fast

jeder Staat hat heute eine geradezu heillose Angst vor jedem, der auch nur entfernt nach einer Persönlichkeit aussieht. Und fast jeder Staat ist heute — wenn auch manchmal widerstrebend — gezwungen, alles zu tun, um den letzten Rest des individuellen Handwerks

zu-

gunsten der kollektivierten Industrie zu zerstören, so wie fast jeder Staat für die geistig frei schaffenden Arbeiter fast nichts mehr tut — man sehe sich in den heutigen Budgets die Posten an, die für kultu-

relle Zwecke aufgewendet werden. Menschen, die sich für geistige

Probleme interessieren, sind für unseren Zeitgenossen, den Vierten, nein, den defizienten Menschen ziemlich unwichtig. Die Krise, in der wir uns befinden, zwingt uns, ob wir wollen oder nicht, zu einer

immensen Anstrengung. Denn nur, wenn wir eine neue Form, eine neue Strukturierung unserer Wirklichkeit erreichen, entgehen wir dem Untergang des mentalen Menschen, überwinden wir den defi-

zienten, den rationalen Menschen und sichern denen, die nach uns

Auflösung oder Überwindung der Persönlichkeit

265

kommen, eine im tiefsten Sinne des Wortes christliche und damit lebenswerte Welt. Was also ist zu tun, nachdem es offensichtlich

geworden ist, daß das mentale Zeitalter der individuellen Persönlichkeit zu Ende geht, so daß wir mit Guardini von einem «Ende der Neuzeit» sprechen müssen? Sollen wir zum Mitarbeiter des defizien-

ten Menschen werden und die Persönlichkeit weiter auflösen, indem

wir sie, wie er es tut, immer stärker in die Vermassung treiben? Eine Antwort erübrigt sich. Sollen wir uns dem defizienten Menschen zum Kampf stellen, um gegen ihn den Individualismus und den Persönlichkeitskult zu verteidigen, um zu versuchen, diese zu erhalten? Eine Antwort erübrigt sich auch hier, da es deutlich geworden ist, daß die nichts als individuelle Haltung des mentalen Menschen erschöpft ist und zur Gestaltung und Meisterung der Wirklichkeit nicht mehr ausreicht. Wie aber, wenn es uns, jedem Einzelnen von uns, gelänge, sowohl den Persönlichkeitskult als den Persönlichkeitsverlust zu überwinden? Gewiß, das bedeutet Kampf und damit Verzicht, aber es ist der notwendige Kampf mit uns selber und nicht mit einem sterbenden Gegner, der uns höchstens in seinen

eigenen Untergang hineinziehen würde. Versuchen wir es deshalb,

weder zchhaft, also individualistisch «à outrance», zu leben, was sich der mentale Mensch zu seiner Zeit leisten konnte und mußte, um

überhaupt zu einem bewußten Ich zu kommen; versuchen wir aber

auch nicht, uns der Kollektivierung und Vermassung des defizient mentalen Menschen anzupassen, indem wir vermassend wieder zchlos

werden; damit würden wir nicht nur eine zweitausendjährige Entfaltung des Menschen illusorisch machen, sondern seinem Untergange

Vorschub leisten. Versuchen wir es, ichfrei zu werden, versuchen wir

bei allem, was wir denken, sagen und tun, die Überwindung der Persönlichkeit zu leisten. In dem Moment nämlich wäre auch die defiziente Form

des Persönlichkeitskultes,

der Massenmensch

mit

seiner Hörigkeit gegenüber den Pseudopersônlichkeiten, den Funk-

tionären,

überwunden.

Und

zudem

wäre

ein

weiterer

Grad

an

menschlicher Freiheit, die ja die Grundlage der Demokratie ist, ge-

wonnen. Das scheint eine ziemliche Zumutung zu sein und ist eine Zumutung an jeden von uns. Aber sie ist weniger groß und schwer, als es scheinen mag. Wer ja zu ihr sagt, sagt zugleich auch ja zu den Kräften, die die neue Form des Menschseins vorbereiten. Und diese Kräfte werden auch ihn stützen. Daß diese Kräfte heute am Werke sind,

und nicht nur die Macht -- und damit auch die Ohnmacht - des defi-

266

Auflösung oder Überwindung der Persönlichkeit

zienten Menschen,

ist eine Tatsache, auf die hier des Öfteren hin-

gewiesen worden ist. Während Amerika im Pragmatismus, Rußland im Materialismus, der defiziente Europäer im Existentialismus als der «ultima ratio» steckengeblieben sind, hat sich in unserem Europa,

in unserem christlichen Abendlande, eine entscheidende Umgestaltung der Denkart vollzogen, von der wir sagen dürfen, daß sie eine Neustrukturierung der Wirklichkeit einleitet. Wenn wir diesen Kräf-

ten, die hinter den neuen Realisationen stehen, die in fast allen Wissenschaften und anderen Gebieten unseres Lebens auf ein geistiges

Wahrnehmen des Ganzen hinweisen, verantwortungsvoll zur Wirkung verhelfen, dann werden wir auch die diesmalige Krise überstehen, und der Vierte Mensch, jenes Gespenst des defizienten Menschen, wird zu dem werden, was er eigentlich ist: zu einem hilflosen Phantom. Noch

ist er freilich eine Gefahr.

Es ist an uns, sie zu über-

winden, Die Möglichkeiten dafür, die Kräfte dafür sind vorhanden. Es liegt an uns, ob es gelingt.

14. DIE

WELT

OHNE

GEGENÜBER

Es gibt eine Erfahrung, von der uns berichtet wird, daB keiner, der

sie erlitt, nicht gewandelt aus ihr hervorgegangen wire. Es ist jene,

die man als «voir le tableau» bezeichnet. Sie stellt sich manchmal dort ein, wo bei einem Unglücksfall oder in einer sehr schweren

Krankheit ein Mensch fast schon im Tode

steht, wo er sich haar-

scharf an der Grenze befindet oder sie möglicherweise fast schon

überschritten hat. In solchen Sekunden, so wird verläßlich berichtet,

überblickten diese Menschen ihr ganzes gelebtes Leben mit längst vergessenen Einzelheiten, ja mit Details aus der allerfrühesten Kindheit,

derer sie sich zuvor nie hatten erinnern können: Sie sahen sekun-

denkurz ihr Leben in einem vom Zeitablauf befreiten «tableau», im

Bilde, so, als sähen sie bereits aus anderen Bereichen auf das gelebte

Erdenleben zurück. Wir wissen, daß sich dieses Erlebnis in unmittel-

barer Todesnähe ereignen kann. In den letzten Jahrzehnten hat die Menschheit, besonders ihr europäischer Teil, infolge ethnologischer, archäologischer und tiefenpsychologischer Funde ein gleichsam bildhaftes Wissen über ihre Früh-

oder

Kindheitsgeschichte

gewonnen,

einen

integrierbaren

Überblick, von dem beispielsweise Goethe noch nichts ahnte. Seine Forderung,

es müsse der Mensch, um

Mensch

überblickbaren dreitausend Jahre Geschichte

zu sein, die damals

überschauen,

ist be-

kannt. Die Tatsache, daß wir heute menschheitlich-geschichtlich ziemlich klar den bisherigen Lebensablauf der Menschheit übersehen können — was jedenfalls für unsere Form des Bewußtseins erstmalig ist —, legt die Vermutung nahe, daß dieses Vermögen das Ergebnis einer Erfahrung ist, die im übertragenen Sinne jener gleicht, durch welche das individuelle «voir le tableau» ausgelöst wird. Mit anderen Worten:

Die Menschheit

befindet sich heute haarscharf an jener

Grenze zwischen Leben und Tod. Übersteht sie die todesnahe Situa-

tion, wird sie aus dem gesehenen «tableau» genau die Kräfte gewinnen, die den Einzelnen aus dieser Erfahrung erwuchsen: daß das bisher gelebte Leben als Ganzes integrierbar ist und daß diese Erfahrung, ihr Zäsurcharakter dem, der sie ertrug und sich damit bewährte,

ein neues Wissen, ein neues Verständnis der Welt vermittelt.

Der soeben vorgebrachte Vergleich, der sich jedem aufdrängen

268

Die Welt ohne Gegenüber

kann, der es vermag, über seine eigene Geschichtlichkeit, also über

seine eigene Biographie hinauszudenken, mag er nun verbindlich sein oder nur verbindlich scheinen: wir dürfen ihn, in wahrer Kenntnis

der heutigen Weltsituation, als Bild betrachten, durch das hindurch ein sonst unsichtbares Geschehen transparent wird. Dieses Geschehen dürfte unter anderem jenen Vorgang spiegeln, der sich darin zu erkennen gibt, daB sich seit einiger Zeit in unserem BewuBtsein eine Umstrukturierung vollzieht. Worin drückt sie sich aus? Darin, daB sich unsere bisherige Weltvorstellung in eine neue Weltsicht zu verwandeln begann. Diese neue Weltsicht -- das muB immer von neuem festgestellt werden -- ist heute noch kein gesichertes, abgeschlossenes Resultat.

Aber sie ist eine Antwort; ist unsere Antwort und die unserer Epoche auf Gegebenheiten, die auf uns warteten oder auf uns zukamen. Sie sind die unsere Not wendende Antwort auf den Weltgedanken, der

sich in uns, da das Rationale erschöpft ist, Ausdrucksmöglichkeiten

zu schaffen sucht. Sie ist ein Hinweis darauf, daB, weil das Rationale

allein nur noch Leerlauf produziert, wir eine neue Form des Bewußtseins auszubilden begannen, die diesem Weltgedanken zu antworten vermag. Denn immer schafft die größere Kraft sich selber im Men-

schen Fähigkeiten, um sich durch ihn manifestieren zu können. Zuerst

war der Ton, das Wort, dann erst der sagende Mund; zuerst war das Licht, dann das Auge; zuerst der Gedanke, dann das Denken. Wir vollziehen stets nur nach, was im Ganzen bereits vorgegeben ist. Es ist sicherlich nicht Vermessenheit, wenn wir annehmen, daß die

Notwendigkeit dieser neuen Weltsicht nicht bloß eine Erfindung des Menschen sei. Umwälzende Bewußtseins-Veränderungen, wie die von uns geforderte, in deren Bewährung wir stehen, haben ihren Ursprung

im

danke,

den

Ursprung

selbst.

Sie sind ein Weltgedanke,

sind ein

Gedanke des Weltganzen, sind ein uns von Gott aufgegebener Gewir

zu

realisieren,

den

wir

nachzuvollziehen

haben.

Der jeweilig notwendige Nachvollzug erschließt uns Möglichkeiten, die uns deshalb als neu erscheinen, weil ihre bewußtseinsmäßige Realisation für uns erstmalig ist. Das Adjektiv «neu» in den Ausdrücken

«neues

Bewußtsein»,

«neue

Weltsicht»,

die

auf

diesen

Seiten so oft gebraucht worden sind, ist ja keinesfalls als Anmaßung, sondern im Sinne von «neuartig» aufzufassen. Mit unausweichbarer Gültigkeit und Notwendigkeit stellt sich dieses Wort «neu» dann ein,

wenn sich eine Zeitenwende anbahnt oder vollzieht. Daran, daß sich

heute eine tiefgreifende, die ganze Menschheit erfassende Zeiten-

Die Welt ohne Gegeniiber

269

wende abspielt, daran dürften nur die Fortschrittsgläubigen zweifeln, die meinen, es kônne so weitergehen, wie es bisher ging. Wir

stehen heute vor der unausweichlichen Entscheidung, eine Intensi-

vierung des Bewußtseins zu leisten oder nicht. Leisten wir sie nicht, so wird die heutige Menschheit infolge des MiBbrauchs und Leerlaufs rationaler Fahigkeiten zugrunde gehen. Ratio ist bloBes Wis-

sen, und Wissen ist — seit Bacon — Macht. Macht aber macht nur, sie

erschafit nie etwas. Wenn wir dagegen die erschaffende Kraft aufbringen, die notwendige und vom Weltgedanken von uns geforderte Bewußtwerdung zu leisten, die sich in der «neuen Weltsicht» ankündigt, so wird die heutige Menschheit verwandelt weiterbestehen; anderenfalls wird es eine andere nach uns kommende Menschheit sein,

die fiir unsere Erde auf den Anspruch des Weltgedankens antwortet

und ihm gerecht wird. Heute, da -- durchaus im Sinne Platons gespro-

chen - ein Weltenmonat zu Ende geht und von einem neuen abgelöst wird, miissen wir den Mut und die Kraft zu der neuen Konstellation

haben. Schon einmal, zu Beginn unserer Zeitenwende, brachte einer

den Mut auf, dieses Wort «neu» in dem Sinne zu gebrauchen, wie er hier verwendet wird. Es war Dante, der in seiner «Vita Nova» das

«Neue Leben» konzipierte. Er spricht dort von der «Intelligenza nuova», dem «neuen Verständnis» beziehungsweise dem «neuen Wis-

sen», das ihm unter Tränen, also unter Schmerzen, die Liebe schenkte

- jene «Liebe, die Sonn’ und Sterne bewegt», jener «amor che move il sole e l’altre stelle» -- jene Liebe, die fiir ihn und dank seiner für uns zum «neuen Wissen» um einen bis dahin nie erblickten Wesensinhalt des Weltgedankens wurde. Immer von neuem müssen wir fragen, worin die «neue Weltsicht» besteht, wie sich das ihr zugrunde liegende «neue Bewußtsein» äußert. Die tiefgreifende Umgestaltung, der unsere Wirklichkeit infolge der sich in uns vollziehenden Umstrukturierung des BewuBtseins seit einigen Jahrzehnten unterworfen ist, wird heute allenthalben, selbst auf vielen Gebieten der Natur- und Geisteswissenschaften sichtbar. Ohne jetzt den phanomenologischen Nachweis dafür erbringen zu wollen, inwiefern auf den verschiedenen Gebieten unseres Denkens,

Forschens und Gestaltens sich, verglichen mit der Denk- und Gestal-

tungsweise

der letzten Generationen,

korrespondierende

Ansätze

einer neuen Wirklichkeits-Erfassung zeigen, sei lediglich das Resultat

der diesbeziiglichen Untersuchungen erwähnt. Da dürfen wir uns auf Grund eingehender und zugleich weitläufiger Forschungen in den

verschiedensten

Denk-

und

Ausdrucksbereichen

unserer

Epoche

270

Die Welt ohne Gegenüber

sagen, daB bei striktester Berücksichtigung der jedem Wissensgebiet eignenden Terminologie und Interpretationsweise sich ein sehr kon-

kreter Sachverhalt ergibt. Er läßt sich etwa dahin formulieren, daß an Stelle der bisher materialistisch-final betonten Betrachtungsweise heute eine geistig-integrale zu treten beginnt. Diese neue Betrachtungsweise, diese «neue Weltsicht» ist vor allem an drei Phänomenen

ablesbar. Sie grenzen das zum Durchbruch drängende geistigere Klima der «neuen Weltsicht» gegen die ihr vorangegangene, mehr rational betont gewesene Weltvorstellung nicht etwa, wie es auf den ersten Blick hin scheinen könnte, durch antithetische Kontrastwir-

kung ab, sondern wohl doch dadurch, daß die Anliegen und Ein-

schätzungen der «neuen Weltsicht», verglichen mit jenen des alten Weltbildes und verglichen auch mit dessen zeitgenössischen Residuen, eine gewisse Wertsteigerung erfahren haben. Denn 1. die früher vor-

nehmlich quantifizierende Betrachtungsweise wurde von einer qualitativ wertenden abgelöst; 2. die einstige Klassifizierung der Welt in Systeme brach weitgehend in sich zusammen; heute denken und leben wir in einer Welt der Strukturen,? wobei der Unterschied zwischen System und Struktur darin zum Ausdruck kommt, daß 3. die

vorwiegend statische Auffassung, die stets dem Systematischen zuneigt, von einer mehr funktionellen und damit strukturierenden abgelöst wurde.

Diese drei neuartigen und einander bedingenden Betrachtungs-

weisen,

die den Akzent

auf das Qualitative, auf die Struktur und

das Funktionelle legen, ermöglichten eine neue Einsicht in das Wesen der Dinge und brachten zwei entscheidende Korrekturen der bis-

herigen Wirklichkeits-Erfassung mit sich: 1. die Überwindung des dualistischen Prinzips, das will besagen das Gegenstandslos-Werden des Gegensatzes,?

dabei müssen

wir, um

Mißverständnisse

auszu-

1 In einem seiner Briefe aus dem letzten Jahrzehnt schreibt beispielsweise Reinhold Schneider: «Es ist die Zeit gekommen, sich von allen geschlossenen Systemen abzuwenden» (siehe: Reinhold Schneider/Leopold Ziegler, Brief-

wechsel, Kösel, München, 1960).

2 Man darf es vielleicht als Symptom werten, daß seit etwa fünfzehn Jahren in der abendländischen Welt immer mehr von Wirtschaftsstruksuren gesprochen wird, während hinsichtlich Sowjet-Rußlands der alte Begriff «Wirtschaftssystem» rechtens weiterhin in Gebrauch geblieben ist.

3 Wolfgang Pauli schloß eine seiner letzten Reden mit dem Hinweis auf das Bedürfnis nach einer «Überwindung der Gegensätze» (siehe: Wolfgang Pauli, «Wissenschaft und abendländisches Denken»; in: Europa — Erbe und Aufgabe, Steiner, Wiesbaden, 1956, S. 79; neuerdings auch in Wolfgang Pauli, Aufsätze

Die Welt ohne Gegenüber

271

schlieBen, scharf unterscheiden zwischen Gegensatz — dem Cartesiani-

schen Dualismus4 — und Polarität. Polaritat ist die lebendige Konstel-

lation des Sich-Ergänzenden, des Einander-Bedingenden: Tag und Nacht, männliches und weibliches Prinzip sind Polaritäten, die man

nicht ungestraft als sich gegenseitig bekämpfende und sich ausschlieBende Gegensätze,

die nur unsere Ratio als solche gegeneinander

setzte, werten darf; 2. (wie wir gesehen haben) die Überwindung des

bloßen Zeitbegriffes oder die der bloßen Uhrenzeit, und dies nicht etwa im Sinne eines Rückfalls in die prärationale Zeitlosigkeit oder in die irrationale Zeit-Aufhebung, sondern im Sinne des «Achronons», der Zeitfreiheit, das heißt im Sinne eines Weltverständnisses, welches sich

der verschiedenen Zeitformen, seien diese nun Zeitlosigkeit, Naturzeit oder gemessene Uhrenzeit, bewußt ist, wobei unser Verfügen-

können über sie uns von ihnen befreit und uns in die Zeitfreiheit,

in die bewußt realisierte und immer gegenwärtige Ursprungsnáhe stellt. In diesen fünf Charakteristika der neuen Weltsicht wird zugleich die neuartige Bewußtseins-Struktur unserer Epoche sichtbar, da ja stets unsere jeweilige Wirklichkeits-Erfassung von Art und Grad unseres Bewußtseins abhängig ist. Diese Charakteristika finden sich heute überall. Ihre Konsequenz ist, daß wir heute hinsichtlich unserer Welt als von einer «Welt ohne Gegenüber» sprechen können. Die Formulierung «Die Welt ohne Gegenüber» kann je nach Einstellung, ja nach Gemütslage des Einzelnen eine verschiedene Erwartung wecken, je nachdem, ob man das «ohne» zum vornherein als negative Abstempelung eines Sachverhalts auffaßt oder aber als Ausdruck einer befreienden Entledigung von etwas. Hier ist der befreiende Aspekt gemeint. Diese merkwürdige, vorerst uns alle wohl doch beunruhigende «Welt ohne Gegenüber» sei an den neuen Ausdrucksformen der Künste, vornehmlich der Malerei, nicht nur ersicht-

lich oder verständlich gemacht, sondern der mögliche Reichtum dieser für unser Bewußtsein so überaus neuartigen Welt sei in die Wahrnehmbarkeit gehoben. und Vorträge über Physik und Erkenntnistheorie; Vieweg, Braunschweig, 1961;

S. 112). 4 Seine Hinfälligkeit, zumindest für die moderne Wissenschaft, unterstreicht

Werner Heisenberg in Das Naturbild der heutigen Physik, Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, Nr. 8, 1955, 5. 21; siehe dort auch (5. 18) den Hinweis, «daß die landläufigen Einteilungen der Welt in Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt, Körper und Seele nicht mehr passen wollen...».

272

Die Welt ohne Gegenüber

Damit keine Verwirrung entstehe, muß darauf hingewiesen wert-

den, daß hier nicht im kunsthistorischen Sinne über die Malerei ge-

handelt werden soll: es geht hier nicht um Deutung oder Interpreta-

tion, sondern um etwas ganz anderes: um eine kulturphänomenologische Betrachtung, die sich bemüht, gewisse Charakteristika der heutigen Malerei sichtbar zu machen, deren Auswahl nicht willkürlich erfolgt oder von den Prädilektionen des Betrachtenden abhängig ist, sondern ihre Berechtigung darin findet, daß es sich um Charakteristika handelt, die mit den neuartigen anderer Disziplinen und anderer Ausdrucksbereiche übereinstimmen. Denn es sind die gleichen Präokkupationen, die sowohl in den Wissenschaften als auch in den Künsten zum Ausdruck kommen. In der Malerei natürlich in bildhafter Weise. Deshalb läßt sich an ihr auch am leichtesten das ungewöhnliche Ausmaß der Veränderung und Neuartigkeit ablesen, das besonders dann

offensichtlich, ja in einem fast erschreckenden Maße deutlich wird, wenn wir die heutige Malerei mit der ihr voraufgegangenen vergleichen. Das ist insofern nicht kunsthistorisch aufzufassen, sondern phänomenologisch, als die drei großen, in sich geschlossenen Aus-

drucksformen der europäischen Malerei jeweils auch eine Aussage, ein Sichtbarwerden der jeweiligen Grundeinstellung zur Welt sind.

Dieser Sachverhalt sei kurz skizziert, zumal es sich dabei um be-

achtenswerte Tatsachen handelt, die uns das Verständnis für das, was

sich heute nicht nur in der Malerei abspielt, ermöglichen. Bis zu Giotto war die Malerei unperspektivisch: sie kannte keinen Raum, das Symbolhafte herrschte vor, und die Welt war eingebettet in den Goldgrund: der Mensch jener Zeit war noch in die Welt einbeschlossen, er war in der Welt.

Mit Giotto einsetzend und dann seit Leonardo da Vinci war das Hauptcharakteristikum der Malerei durch alle Stile hindurch, daß sie perspektivisch war: Sie stellte den Raum dar, sie war dadurch gegenständlich: Der Mensch jener Jahrhunderte stand als Ich der objektiven Welt gegenüber. Bei den Romantikern einsetzend, dann stark sichtbar werdend bei

Cezanne und endgültig seit dem ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ändert sich nochmals grundlegend das Bild: Die Malerei befreit sich von der räumlichen Gebundenheit, befreit sich von der Perspektive, sie wird aperspektivisch; die Welt ist nicht mehr ein Gegenüber. Diese Haltung kommt bereits in den siebziger Jahren des vergan-

genen Jahrhunderts zum Durchbruch, als Cézanne schreibt: «Je me sens coloré par toutes les nuances de l'Infini. Je ne fais plus qu'un

Die Welt ohne Gegenüber

273

avec mon tableau. (Ich fühle mich von allen Nuancen der Unendlich-

keit gefärbt. Ich bin nur mehr eins mit meinem Bild.)» Die Uber-

windung von Objekt und Subjekt, die aus diesen Sätzen spricht und

die keinesfalls als psychologisch interpretierbare Identifikation oder als mystischer Rausch aufgefaßt werden darf, unterstreicht Paul Westheim auch hinsichtlich Paul Klees, wenn er von ihm sagt: «Der tragische Konflikt: äußeres Bild und dargestelltes Bild, Sein und Sinn ist durch Paul Klee überwunden worden. Oder besser: er existiert nicht mehr.»5

Wie aber gelang diese Überwindung? Durch die Auflösung, ja die

Zerstörung des vorherrschenden raumhaften Elements in der Malerei infolge der Hereinnahme der Zeit in das Bild. Es würde zu weit führen, wollten wir jetzt darauf näher eingehen. Es genügt, daß wir an die Pointillisten und an die

«Fauves» denken, an die Futuristen, Ex-

pressionisten, Kubisten und Surrealisten: allen gemeinsam ist die

Dynamisierung der Bildinhalte -- und auch das Dynamische ist ein

Zeitaspekt und kein Raumattribut -, allen gemeinsam ist die Spren-

gung des Raumgefüges. Die erste Jahrhunderthälfte war in der Male-

rei die Epoche der schöpferischen Zerstörer. Die zeitgeladene, dyna-

mische, funktionelle Malerei löste die darstellende, fixierende ab. Picasso bestätigt das nicht nur in seinem Werk, sondern auch mit seinem Ausspruch: «No la fachada de las cosas, sino su estructura

secreta. (Nicht die Fassade der Dinge, sondern ihre geheime Struktur.)» Die Malerei unserer Zeit ist dadurch gekennzeichnet, daß sie sich

von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer stärker von der gegenständlichen

Welt oder Darstellung dieser Welt löst, daß sie, wie man so sagt, abstrakt wird. Dies freilich ist ein sehr schiefer Ausdruck. Richtiger ist es wohl, von einer ungegenständlichen oder gegenstandslosen Kunst zu sprechen. Wie weit es freilich berechtigt ist, hinsichtlich mancher modischer

Exzesse, die sich selber als Kunstwerke plakatieren, von Kunst zu

sprechen, ist eine andere Frage. Kunst, das war bislang — und ist es in den wie immer seltenen guten Werken unserer Zeit noch heute -, Kunst ist, das Unsichtbare sichtbar, das Unhörbare hörbar, das Un-

sagbare sagbar machen. Im Kunstwerk wurde etwas eingefangen und

ausgedrückt, was ein Mehr war, ein Mehr, als wir es sind, ein Mehr,

das über uns hinausweist. Bei vielen sogenannten Kunstprodukten

5 Diese und die folgenden Beispiele und Zitate stützen sich auf Jean Gebser,

Ursprung und Gegenwart, Bd. HI, 5. 635 fl.

274

Die Welt ohne Gegenüber

unserer Zeit hat man freilich das unbehagliche Gefühl, daß sie ein

Weniger ausdriicken, als der Mensch eigentlich ist, ein Weniger, das nicht etwa über uns hinausweist, sondern unter uns hinunterweist.

Doch dies ist die unvermeidliche Schattenseite unserer Umbruchszeit: denn demjenigen, dem plôtzlich nichts mehr entgegensteht, das ihm

Halt gäbe, und der nicht weiß, daß dies nicht nur Verlust, sondern

auch Gewinn bedeuten kann, der sieht sich dem Nichts «gegenüber»,

sieht sich «im» Nichts, in der Leere, und seine Aussagen werden

nichtig und leer. spricht, ist Angst; steigert. Und nur uns daran, daß die

Was aus ihm und seinen sogenannten Werken Angst, die sich zur Wollust am Untergang überdie unausgeweinte Intensität dieser Angst erinnert Angst die Nacht- oder Schattenseite der Sehnsucht

ist. Es ist symptomatisch genug, daß, wer heute das Wort Sehnsucht gebraucht, sich in den Augen vieler lächerlich macht. Der Sehnsucht,

die immer über uns hinausweist, hat man sich heute zu schämen, sie

wurde unnötig, weil es, wie viele glauben, nichts mehr gibt, auf das hin man, beziehungslos geworden, seine Sehnsucht verschwenden könnte; wohl aber gibt es für diese das gegenstandslose Nichts, vor

dem man unverzagt und mutig Angst haben darf, welche man jedoch nie eingestehen würde. Immerhin: Wer da durchkommt, wer da durchstößt, der kommt unter Umständen sehr weit über sich selber

hinaus: Er läßt Angst und Sehnsucht hinter sich zurück, welche wie

Furcht und Hoffen die Welt zielmäßig fixieren, begrenzen und in die

Unfreiheit zerren; er gewinnt die offene, die gegenüberlose Welt. Da die Werke der Künstler als stellvertretend für die Problematik ihrer Epoche angesehen werden dürfen und zudem gerade die Maler unter ihnen dieser Problematik bildmäßig betrachtbaren Ausdruck

verleihen, sei ihr experimentierendes Versagen, die neue Wirklichkeit zu gestalten, noch etwas eingehender gewürdigt. Die meisten, vornehmlich tachistischen und nachtachistischen Ma-

ler, die hier gemeint sind, zeigen uns nur die Verfassung desjenigen

Menschen, der es sich nicht zutrauen sollte, eine Welt ohne Gegenüber wahrnehmbar machen zu wollen. Denn diese Maler haben nicht genügend Halt in sich selber, als daß sie auf den fiktiven Halt des Gegenüber verzichten könnten, ohne in die Leere und ins Nichts zu stürzen. Der Verzicht auf das Gegenüber setzt nämlich auch das Er-

tragen der «Ichfreiheit» voraus (von der hier schon des öfteren‘ ge6 Seitdem ist dieses Konzept der «Ichfreiheit» auch von Kunsthistorikern und

Soziologen wie Will Grohmann und Arnold Gehlen (siehe dessen Zeit-Bilder, Athenäum, Frankfurt a.M., 1960, S. 208) übernommen worden.

Die Welt ohne Gegenüber

275

handelt wurde). Wer jedoch dem Fortfall des objektiven Gegenüber nicht gewachsen ist, weil seine Ichschwäche ihn an sein eigenes Ich

fesselt, oder wem die Aufgabe des Gegenüber zum Verlust wird, so

daß er sich damit zugleich dem Ichverlust aussetzt, kann sich heute weder als Mensch noch als Künstler bewähren. Dies wird noch aus einem anderen Zusammenhange deutlich, denn die Ichfreiheit ist aufs engste mit der Zeitfreiheit gekoppelt. Beide sind geleistete Uberwindungen. Wer das Ich überwand, überwand damit zugleich die bloBe Ablaufszeit, da das Ich zeitgebunden ist und stets nur in augenblicksverhafteten, also in kurzfristig fixierten Komplexen auf eine peinlich vordergründige Weise eine Scheinwirklichkeit darstellt. Wo sich also Erstarrung im Ich zeigt oder aber Ichverlust, statt daB durch die Uberwindung des Ich die Ichfreiheit geleistet worden wire, da begeg-

nen wir Künstlern der angedeuteten Art. Ihre Bilder spiegeln zer-

schlissene Seelenzustände, Auflôsungen, Zerberstungen. Was uns an ihnen ergreifen kann, ist ihr ungewolltes Eingeständnis, vorerst gescheitert, noch leer und verloren zu sein. Doch vergessen wir nicht,

daß es zu jeder Zeit stets mehr Sucher als Finder gab. Und vergessen wir auch nicht, welch inneren Aufwandes es selbst für die Darstellung

und Freisetzung solcher Seelenzustände bedarf; und daß hier etwas Erschreckendes sichtbar gemacht wird, das sehr wohl Anstoß zu Be-

sinnung und Heilung sein kann, weil, was zu bewältigen not tut, nur

dann bewältigt werden kann, wenn es zuerst einmal aus uns herausgestellt wurde, so daß es uns bewußt werden kann. Manche der hier gemeinten Bilder preisen den eigenen, persönlichen Bankrott als abendländischen Bankrott unter der Etikette

«moderne Schöpfung»

an, da ihre Hersteller sich selber aufgaben, anstatt die ihnen gestellten Aufgaben zu lösen. Da ist oft nicht Kunst unserer Zeit, sondern sichtbar gewordene Krankheit unserer Zeit. Aber ist es denn auf anderen

Gebieten unserer Lebensordnung etwa anders als in der Kunst? Es soll hier durchaus nicht abfällig gewertet werden. Die Frage, die

Novalis stellte, besteht sehr zu Recht: «Fängt das Beste nicht immer mit Krankheit an?» Es handelt sich bei alledem um Begleiterscheinungen, die in einer Epoche wie der unseren, welche derart hohe Ansprüche an jeden einzelnen stellt, unvermeidlich sind. Sie machen lediglich die Heftigkeit und wachsende Zuspitzung der Problematik unserer Epoche deutlich. Auch in der Kunst unserer Tage, auch wenn

man bewußt nichts von dem tiefsten Anliegen unserer Epoche weiß,

und angesichts künstlerischer Äußerungen, die einem unverständlich

sind, entsetzt ist, gibt es selbst noch für die Bewertung uns unver-

276

Die Welt ohne Gegenüber

standlicher künstlerischer Äußerungen ein Kriterium, das ziemlich

unfehlbar ist. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß angesichts derartiger, zuerst einmal unverständlicher Kunstwerke, gleichgültig, ob es sich dabei um Bilder, Lyrik, Architektur oder Musik handelt, das

Ja oder Nein auf eine einzige Frage genügt, um zu wissen, ob es sich

um

Kunst

oder um

ihr Gegenteil, um

Zerstörung, handelt. Diese

Frage lautet ganz einfach, nämlich: «Ist der Mensch, der das malte, schrieb, baute oder komponierte — ist dieser Mensch liebesfähig?»

Wenn darauf mit einem Ja geantwortet werden kann, dann ist die

Aussage in der Ordnung, ist eingeordnet in die tragenden Gründe der Welt. Wenn mit einem Nein geantwortet werden muß, dann mangelt -- möglicherweise aber auch nur dem Betrachter — jener Duktus

menschlicher und kreatürlicher Einfalt, welcher die Verlorenheit, die

Liebesunfähigkeit, die unmenschliche Kälte, die bloße Ichbezogen-

heit und das Abgespaltensein von den tragenden und erhaltenden Kräften verrät. Dann ist nicht das Mehr da, sondern nur das Weniger.

Dann wird an Stelle der Strukturen nur das Chaos sichtbar. Aber vielleicht ist Chaos die Urform der Krankheit -- und das verändert das Bild.

Diese Vorbehalte hinsichtlich vieler Äußerungen dessen, was sich

heute Kunst nennt, mußten gemacht werden. Dabei wurden sie nicht

in dem Sinne vorgebracht, daß sie einer Aufforderung zur Bekämpfung dieser sogenannten Kunst gleichkämen. Man soll nie gegen etwas

kämpfen, man sollte stets nur fär etwas kämpfen, für etwas einstehen.

Schließlich ist es noch nötig, sich darüber klarzuwerden, daß jene Malprodukte tachistischer Provenienz gerade unserer Tage wieder einmal ein Vorzeichen sein könnten. Denn auch das Negative muß gesagt werden. Erinnern wir uns an den explosiven Expressionismus: einige Jahre darauf folgte der Weltkrieg und die Revolution; dann kam der Surrealismus der zwanziger Jahre mit seinen Darstellungen der zerstückelten Körper und Gegenstände; einige Jahre darauf folgten die Greuel der Konzentrationslager und die Luftbombardements der Städte. Wenn man heute gewisse, sogenannte tachistische Bilder sieht, kann man sich fragen, ob sie mit ihrer totalen und unsinnigen Zertrümmertheit, mit ihrer besessenen Chaotik, ihrer amorphen Zerstaubung nicht ein Vorzeichen des Zustandes sind, in dem sich die Erde nach dem Abwurf der Atombombe befinden könnte, Immer nahm die Kunst voraus. Aber nicht nur die negativen Dinge. Dafür vermittelt uns Cézanne zwei Beispiele. Aus dem Jahre 1870 datiert eines seiner Bilder, dem verschiedene Namen gegeben worden

Die Welt ohne Gegenüber

277

sind: «Pastorale», «Idylle», «Don Quichotte sur les rives de Bar-

barie». Doch darauf kommt es nicht an, wohl aber auf den Nachweis, den Liliane Guerry,’? Kunsthistorikerin an der Sorbonne, erbracht

hat: diesem Bilde liegt nämlich wie vielen anderen des gleichen Meisters ein Gesichtsfeld zugrunde, das sphärisch ist; die Komposition des Bildes ist aus der «Krümmung» hervorgegangen; Cézannes Welt ist kugelförmig, sein Raum ist, im Gegensatz zum Raum der Renaissance und ihrer Nachfolger, ein «Kontinuum», ein «Raum», der aus der Kurve erwächst und nicht aus der Geraden, wie man

seit den

Theoretikern der Renaissance glaubte. Cézanne nahm spontan gestaltend voraus, was fiinfunddreiBig Jahre später durch die Relativitätstheorie Einsteins wissenschaftlich nachgeholt und bewiesen wurde: daß der Raum gekrümmt ist, daß er ein Raum-Zeit-Kontinuum ist. Andererseits verweist uns das vorhin von Cézanne zitierte Wort auf

jene Uberwindung der Objekt-Subjekt-Spaltung, also auf die Dualismus-Uberwindung, die seitens der Physik erst vor etwa zehn Jahren

durch Heisenberg, March, C.F. von Weizsäcker — um nur einige Namen zu nennen — auf Grund kernphysikalischer Beobachtungen endgiltig formuliert werden muBte.

Diese Tatsache, daß ein Künstler um Jahrzehnte voraus zwei der

wichtigsten Charakteristika der neuen Sicht zum Ausdruck brachte,

macht uns auf einen heute sehr verbreiteten rationalen Irrtum auf-

merksam. Vorbereitet durch Aristoteles und durch die ganze Philosophiegeschichte hindurch verfolgbar, war es üblich geworden, daß unseren philosophischen Interpretationen der Welt die Erkenntnisse

der Naturwissenschaften als Ausgangspunkt und Grundlage zu die-

nen hätten. Es ist jedoch irrig zu sagen, es sei die Kernphysik, die unser Weltbild verändert habe. Unsere eigene Grundeinstellung änderte sich und ermöglichte unter anderem auch die neuen Erkenntnisse der Physik, die spontan im Kunstwerk vorausgenommen worden waren. Die Wissenschaft vermag lediglich erkenntnismäßig etwas

zu bestätigen, was

als Grundtendenz

sich bereits vielerorts vor

dem physikalischen Nachweis zu manifestieren begann. Dieser Um-

stand dürfte all jenen zu denken geben, die meinen, man müsse immer

vom Beweisbaren ausgehen. Überspitzt formuliert kann man im Gegensatz zur landläufigen Meinung sagen: zuerst muß man finden, dann kann man suchen. Der gesuchte Beweis ist nur ein Nachtrag

zum zuvor Gefundenen. 7 Siehe Liliane Paris, 1950.

Guerry,

Cézanne

et l’Expression

de l’Espace,

Flammarion,

278

Die Welt ohne Gegenüber

In den beiden Beispielen, die uns die Kunst Cézannes gibt, leuchten

als gelöst die beiden entscheidenden Korrekturen unserer Wirklich-

keits-Erfassung auf, die der neuen Weltsicht auch in den Wissenschaf-

ten zum Durchbruch verhalfen: die Überwindung des Dualismus und die des starren Zeitbegriffes. Der nachgewiesene «gekrümmte» Raum

ist ja kein Gegenüber mehr, sondern ein Raum-Zeit-Kontinuum, dessen Struktur durchschaubar wurde. Besonders seit Cézanne, der den ersten gültigen Durchbruch vollzog, einen Durchbruch, der auch in seinem Verzicht auf die Perspektive sichtbar wird, müht sich die Malerei, ob sie es nun weiß oder nicht,

das Problem der notwendigen Aufhebung des Gegenständlichen zu lösen. Alle die vielen verschiedenen, schnell aufeinanderfolgenden Stile vom Impressionismus bis zum heutigen Tachismus — der übrigens in seinen wenigen geglückten Realisationen ungegenständliche Strukturen sichtbar macht -- haben zwei Charakteristika gemeinsam: 1. daß sie nicht mehr perspektivisch fixiert, also nicht mehr raum-

gebunden sind, sondern funktionell oder strukturell, also das Zeit-

element zu integrieren trachten; 2. daß sie sich damit immer weiter vom Gegenständlichen entfernen, abstrakt, ungegenständlich, gegen-

standslos werden. Das ist selbst dort der Fall, wo diese Ungegenständlichkeit nicht in der sogenannten «abstrakten» Form sichtbar

wird, sondern die Bilder reminiszenzartig der Dingwelt scheinbar

noch verhaftet bleiben. Nicht alle moderne Malerei ist eindeutig gegenstandslos, aber sie hat doch zumindest eine weitgehende Abwendung davon vollzogen, was man als das bloße Abbilden der Natur bezeichnen kann, welche Aufgabe heute die Farbphotographie über-

nommen hat. Die Maxime von Georges Braque: «Ich male nicht ab,

ich male», ist nicht nur für ihn, sondern für die Malerei unserer Zeit

gültig. Die einen wenden sich lediglich vom Abbilden, vom Abmalen

ab, die anderen gehen noch einen entscheidenden Schritt weiter. Damit versuchen sie das vorerst paradox und unmöglich Erscheinende:

eine Welt ohne Gegenüber nicht etwa darzustellen, sondern sichtbar

zu machen. Das scheint ein unlösbares Vorhaben zu sein. Aber es ist

unlösbar nur für jene, deren Sehweise noch der ehemaligen perspektivischen Raumwelt verhaftet ist. Vor allem also für jene, die dem Materialismus zuneigen, die an den fragwürdig gewordenen Handgreiflichkeiten der Materie und des Materiellen als den sogenannten konkreten Greifbarkeiten hängen. Derer, die diese Grundeinstellung zur

Wirklichkeit haben, sind heute Legionen. Dies um so mehr, als das, was sich realisieren will, ihnen gerade das nicht gibt, dessen sie am

Die Welt ohne Gegenüber

279

meisten bedürfen: Halt und Sicherheit. Leider vergessen sie aber, daß

der Halt und die Sicherheit des Materiellen erfahrungsgemäß die un-

verläßlichsten Gewährnisse

sind. Was

aber bleibt denn, wenn

das

gegenständliche Gegentiber hinfällig wird? Zuerst bleibt nichts. Aus diesem Tatbestand erklart sich der Nihilismus, die Glorifizierung des

Nichts und der Leere, von der vorhin gesprochen wurde. Noch vor

einigen Jahrzehnten war fiir uns die Materie, die materielle Welt, die gleichsam wnübersteigbare Mauer des Seins, die uns entgegenstand, die

ein grenze-setzendes Gegenüber war. Diese Mauer ist inzwischen niedergerissen worden. Die Malerei bewerkstelligte dies durch Raumauflösung, durch Entmaterialisierung, durch ihre Bemühung um das Gegenstandslose. Die Kernphysik ihrerseits lehrte uns, daß das, was die vordergründige Dichte der Materie ausmacht, aus jenen Atomen besteht, deren Materialität sich im Ungreifbar-Unsichtbar-Unanschau-

lichen verliert. Auf anderen Wegen als der Osten erkannten wir, daß die sogenannte reale, greifbare Welt «Maya» ist, eine Scheinwelt, eine scheinbare Welt. Nur eines ist bei uns — grosso modo gesehen - anders

als im Osten: daß wir uns nicht von dieser Scheinwelt, sie als illusorisch erklärend, abwenden, uns zurückziehen, Leben und Welt ver-

neinen, sondern den ungeheuerlichen Versuch wagen, diesem Transparentwerden der Wirklichkeit mit einem neu gewonnenen Bewußtsein standzuhalten. Und damit ist das wohl Wesentliche ausgesprochen: Die Welt ohne Gegenüber ist nicht die Welt des Nichts, der Leere, der Inhaltslosigkeit, der Haltlosigkeit, der Beziehungslosigkeit. Die Welt ohne Gegenüber ist eine Welt der Durchsichtigkeit, die un-

verstellt und unbegrenzt dem geistigen Auge das Ganze in seiner Transparenz, in seiner Diaphanität wahrnehmbar macht. Sie ist eine Welt der unverstellten Fülle. Übrigens bahnt sich auch im Fernen Osten ein Durchbruch in diesem Sinne an - im Zen-Buddhismus, vor

allem aber im neuen Hinduismus, wie ihn Sri Aurobindo lehrt. Jeden-

falls hat es den Anschein, daß sich die hier an der europäischen Malerei abgelesene Umstrukturierung des Bewußtseins nicht nur in Europa zu vollziehen beginnt: ein Hinweis auf den, menschheitlich gesehen, fundamentalen Charakter dieses Ereignisses. Dies um so mehr,

als nachgewiesen worden ist, daß derart wirklichkeitsverändernde

Vorgänge auch in den vergangenen Jahrtausenden niemals auf einen Erdteil beschränkt waren, sondern immer gleichzeitig in den ver-

schiedensten Kulturen zum Durchbruch kamen. Kehren wir jedoch

nochmals zur Malerei unserer Zeit zurück. Die Transparenz durch-

strahlt die besten ihrer Werke. Man findet sie dort allenthalben, so-

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Die Welt ohne Gegenüber

bald man sich von ihrem gar nicht erwarteten Vorhandensein auch nur einmal Rechenschaft abgelegt hat. Eine Form der Verklärung witd Wirklichkeit, von deren Môglichkeit wir alle durch das Neue

Testament einiges wissen sollten. Blasphemisch kommt -- so wir es christlich werten — die Sehnsucht nach ihr in einem Bekenntnissatz von Jawlensky zum Ausdruck: «Die Kunst ist sichtbarer Gott.» Das

dürfte eine unzulässige, ja verwerfliche Hypostasierung der Kunst ins Religiöse sein. Es genügt durchaus, daß das vom Menschen geschaffene Kunstwerk jenes Mehr, jenen Abglanz des Ganzen evoziert und damit auf seine Weise das Unsichtbare sichtbar werden läßt, jenes Unanschauliche, das in der Transparenz wahrnehmbar wird. Seit drei Generationen bemühen sich Maler und andere Kiinstler,

Wissenschaftler und Denker um die Realisierung der neuen Sicht. Und mit jedem Jahrzehnt kommen sie ihrer Verwirklichung näher. Die letzte Konsequenz dieser Sicht: die Diaphanitat, die Durchsichtigkeit scheint freilich nur schwer realisierbar zu sein. Sie erscheint uns

nur allzu leicht als eine Uberforderung. Desungeachtet ist diese For-

derung bereits von verschiedenen Malern erhoben worden. So sprach Franz Marc davon, daB anstelle der Weltanschauung die Weltdurchschauung, anstelle der Naturbetrachtung die Naturdurchleuchtung treten müsse. Picasso forderte von sich, daß es auf die « geheime Struktur der Dinge» ankäme. Paul Klee bekannte: «Ich beginne immer mehr hinter oder, besser gesagt, durch die Dinge zu sehen.» Der gleiche Anspruch wohnt, mathematisch gelöst, den Aussagen der Kernphysiker inne. Das alles könnte uns unrealistisch erscheinen. Im

Sinne dessen, was man bisher als Realität ansah, ist dies durchaus der

Fall. So gesehen ist dieser Anspruch oder diese Forderung unreali-

stisch. Nun aber, da sich diese Realität in die Unanschaulichkeit zurückzieht, handelt es sich um eine neue Realität, die natürlicherweise

nicht vorstellbar ist, die wir, da sie als Gegenüber hinfällig wurde, nicht mehr vor uns hinstellen können. Das gelingt nicht einmal den

Physikern. Aber es gelang ihnen, mittels unanschaulicher Formeln, in

den Bereich des Unanschaulichen hinüberzudenken. Übrigens bewiesen sie, was Nietzsche den einsamen Mut hatte, auszusprechen:

«Die Materie ist ein Irrtum.» Er hatte, ohne Beweise zu haben, schon

im voraus umgedacht. Wir haben nun sogar Beweise. Auch wir werden das Umdenken lernen müssen. Diese Forderung erhob Einstein beschwörend vor seinem Tode. Es ist, wenn wir nun wieder auf die Malerei zurückkommen, gewiß

symptomatisch, daß man in Rußland noch nicht begonnen hat, um-

Die Welt ohne Gegenüber

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zudenken, denn die von der Partei zugelassene und befohlene Art des Malens hält noch krampfhaft am Abbilden des Gegenständlichen fest. In dem Versuch der Malerei, die «Welt ohne Gegenüber» zu gestalten, spiegelt sich das Hauptanliegen unserer Epoche: die neue Weltsicht ins BewuBtsein zu heben. Für die Malerei, für die Künste

schlechthin, aber auch für uns, denen das groBe uns aufgegebene Um-

denken und Bewußtwerden viele Schmerzen, viel Unruhe und viele

Sorgen bereitet, gilt noch heute jenes Wort Dantes, aus dem eingangs

zitiert wurde. Es entspricht auch unserer Situation; es steht als erste

Strophe des letzten Sonetts auf der letzten Seite der «Vita Nova» und lautet: Oltre la spera, che più larga gira,

passa il sospiro ch’esce del mio core: Intelligenza nuova, che 1 Amore

piangendo mette in lui, pur su lo tira. (Zur fernsten Sphäre, die viel weiter kreist, steigt aus dem Herzen auf mein Sehnen: Es ist das neue Wissen, das mit Tränen

die Liebe in uns legt, das uns nach oben reißt.)

15. FORDERUNGEN

UNSERER

ZEIT

Nicht wir haben etwas zu fordern, sondern von uns wird etwas ge-

fordert. Diese Einstellung kann unbequem erscheinen. Argerlicher-

weise ist sie es fiir alle, die anthropozentrisch denken, also den Menschen schlechthin in den Mittelpunkt ihres Interesses stellen. Besonders unbequem aber ist sie für jene, die es nicht bemerken wollen oder es nicht zu bemerken vermögen, daß es lediglich ihre uneingesehenen Ressentiments sind, die ihnen die illusorische Berechtigung vortäuschen, irgend etwas von ihren Mitmenschen fordern zu dürfen. Nur das Ubergeordnete darf Forderungen stellen: Eltern an ihre Kin-

der, Lehrer an die Schüler, die Ehe an die Partner, ein Amt an den,

der es ausübt, die bessere Einsicht des Einzelnen an sich selbst, das

Gôttliche an den Menschen. Ist in diesem Sinne «unsere Zeit», also unsere Epoche, in die wir, wie manche meinen, einfach zufällig hinein-

geboren wurden, eine den Menschen überragende Instanz? Sie ware

es nicht, beschränkten wir hier das «unser» auf den persônlichen Be-

reich. Unsere Zeit ist wie alle und jede Zeit jene flieBende Kraft, die der Selbstdarstellung dessen zu dienen scheint, was die einen das Göttliche, was andere als das

«Unsichtbare Licht» bezeichnen. Daß

zwischen der Zeit und dem Licht eine innige Beziehung herrscht, kommt in der Abhängigkeit der Zeit vom Lichte zum Ausdruck. Die Physik hat der Metaphysik und der Philosophie dafür einen vielleicht

ungewollten Hinweis gegeben. Er besteht in der Tatsache, daß für

die Physik die Lichtgeschwindigkeit eine der wenigen Weltkonstanten ist, die es überhaupt gibt. Licht wird in der Bewegung, also in einem zeitlichen Vorgang, sichtbar; aber es entstammt Vorgängen, die sich in der Unsichtbarkeit des subatomaren Geschehens ereignen.

Es ist also «Unsichtbares Licht», daraus Licht, Zeit und lebendige Gestalt hervorzugehen scheinen. Im Vorübergehen sei angemerkt,

daß es im christlichen Bereich noch heute der Lebensinhalt des ge-

heimen Ordens vom Berge Athos ist, des « Unsichtbaren Lichtes» ansichtig zu werden. Und in diesem Zusammenhange darf vielleicht auch

daran erinnert werden, daß Paulus in seinem Timotheusbrief (6, 16)

davon spricht, daß Gott «in einem unzugänglichen Lichte» wohne. Wenn aber Licht und Zeit tatsächlich so innig aufeinander bezogen

sein sollten, wie es die soeben vorgebrachte Überlegung über die Ab-

284

Forderungen unserer Zeit

hängigkeit der Zeit vom Licht nahelegt, dann freilich verbirgt sich in dem Ausdruck «unsere Zeit» ein Schimmer, ein Abglanz des groBen Geheimnisses. Dies um so mehr, wenn wir auch die Beobachtung und den Hinweis Adolf Portmanns beriicksichtigen: «daB sich das Leben in der belichteten Zone entfaltet, dort seine größte Formenfülle entwickelt hat, und daß die lichtlosen Räume immer sekundäre Zonen

des Lebendigen sind».! Da das Lebendige für die eigene Darstellung an den Lichtbereich gebunden ist, sich aber nur im Zeitlichen und dank dem zeitigenden Charakter des Lichtes darzustellen vermag,

scheint in diesem ZusammenflieBen von Licht, Zeit und Selbstdar-

stellung des Lebendigen ein geheimnisvoller Beziehungsreichtum aufzuleuchten.

Die Beantwortung der Frage: Kann die Zeit fordern? riickt somit

in den Bereich der Wahrscheinlichkeit. Wenn wir die Zeit und die sich in ihr entfaltenden Gestaltungen des Lebendigen in einen so engen Kontakt mit dem Phänomen des Lichtes bringen, so ist das Leben selbst so wie jede und damit auch unsere Zeit eine Selbstdarstellung im Licht und aus dem Licht. Doch wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Nicht nur die physisch greifbaren und sicht-

baren Erscheinungen sind Gestaltungen, die sich dank des Lichtes vollziehen. Auch geistige Ereignisse, Funde und ihre Formulierungen sind Gestaltungen und Selbstdarstellungen. Sie sind genausowenig zufällig wie die jeweils die Erde bewohnenden des biologischen Bereiches. Auch die geistigen Gestaltungen sind Geschöpfe des unsichtbaren Lichtes, das im Lichte offensichtlich und schöpferisch wird, um im Medium der Zeit die Selbstdarstellung zu ermöglichen. So gesehen ist auch unsere Zeit, also vor allem die in ihr zum Ausdruck drängen-

den neuartigen Inhalte, eine Antwort auf den Weltgedanken. Viel-

leicht dürfen wir das Licht als die Sichtbarwerdung dieses wirkenden

Weltgedankens betrachten, der ein Gedanke des Weltganzen ist. Der Gedanke aber ist vor dem Denken da. Denn immer ist es das Größere,

Übergeordnete, das in uns Ausdrucksmöglichkeiten sucht: das Licht hat das Auge geschaffen, der Gedanke das Denken. Das aber besagt nichts anderes, als daß wir die Aufgabe hätten, diesen Weltgedanken

nachzudenken. So gesehen enthöben wir dies sich uns aufdrängende Konzept möglichen Fehlinterpretationen: Wir vermeiden, daß es als ein Rückgriff auf die scholastische Schöpfungs-Theodizee oder als Rückgriff auf den absoluten Weltgeist Hegels

klassifiziert werden

1 Siehe Adolf Portmann, «Wandlungen unseres Bildes vom Lebendigen» Wege zur neuen Wirklichkeit, Hallwag Verlag, Bern, 1960, S. 74).

(in:

Forderungen unserer Zeit

285

kann. Wir vermeiden darüber hinaus noch etwas Wichtigeres: daB wir uns weder in den spekulativen Angelhaken der häretischen, also ketzerischen Seins-Interpretationen verfangen noch in der Sackgasse der materialisierenden Diesseitigkeit steckenbleiben, zu welchem

Steckenbleiben das existentialistische Kurzschlußdenken führt. Wir

durchbrechen die gleichsam geistige Schallmauer, die uns von dem

trennte, was man bisher dualistisch als die jenseitige Welt bezeichnet

hat. Das Ganze und unsere Teilhabe an ihm wird sichtbar, die nicht

nur ein Teilnehmen, sondern auch ein Teilgeben ist. Während die Natur auf die Forderungen dieser in der Zeit sich erfüllenden Teilhabe gewissermaßen unbewußt antwortet, ist es an uns, dank der

Helligkeit unseres Bewußtseins bewußt zu antworten. Welche Forderungen stellt jedoch unsere Zeit an uns? Es handelt sich vor allem um

eine grundlegende, aus der weitere resultieren. Es ist jene Forderung

umzudenken, die Albert Einstein erhob. Wie aber soll und kann das

geschehen? Inwiefern besteht eine Möglichkeit dafür, nachdem es immerhin offensichtlich geworden ist, daß das Umdenken eine Notwendigkeit ist, damit es uns gelingt, der neuen Wirklichkeit gewachsen zu sein?

Daß dieses Umdenken möglich ist und bereits vollzogen wird, zeichnet sich heute allenthalben ab. Wir beschränken uns hier auf die

Kernphysik, die Biologie, die Geschichtswissenschaft, das Staatsrecht und auf einige Aussagen von Künstlern unserer Zeit. Wir ergänzen

damit, was wir auf den vorausgegangenen Seiten dargelegt haben. Von

neuem

wird sichtbar werden,

daß in allen Bereichen unserer

Wirklichkeit ein Hauptanliegen zum Durchbruch drängt und daß eine übereinstimmende Grundstruktur und Grundhaltung sichtbar gemacht werden kann. Dann wird beispielhaft deutlich werden, welcher

Art unsere Aufgabe ist und wie wir die an uns gestellten Forderungen zu erfüllen vermöchten. Dabei sei nicht vergessen, daß eine Aufgabe

solch geistiger Art stets eine Steigerung und Sicherung für das Leben jedes Einzelnen bedeutet. Was nun die Forderungen anbetrifft, so ist an die drei grundlegenden Veränderungen zu erinnern, welche die Grundkonzepte der neuen Wirklichkeit gegenüber denen der alten Wirklichkeit, der unserer Väter, auszeichnen sowie an die beiden daraus resultierenden Korrek-

turen der bisherigen Wirklichkeits-Erfassung.?

2 Die drei grundlegenden Veränderungen sind: qualitative statt quantitative Betrachtungsweise, Strukturierung statt Systematisierung, Vorrang des Funktionellen vor dem Statischen.

286

Forderungen unserer Zeit

Diese beiden Korrekturen kommen, wie wir gesehen haben, beispielsweise in der Malerei seit Cézanne derart spontan zum Durchbruch, daB sie damit später erfolgende Erkenntnisse der Naturwissenschaften vorausnahm.

Die Welt der Renaissance, die eine Welt des

Gegenüber gewesen war, in der dem Subjekt ein Objekt gegenüberstand, verwandelte sich seit Cézanne in eine Welt ohne Gegenüber. Es handelt sich hier um durchaus neuartige Betrachtungsweisen, die sich heute durchzusetzen beginnen. Sie sind ein Anruf an unser BewuBtsein, daB auch wir die Umstellung oder das Umdenken, wie es Einstein nannte, vollzôgen. Jeder Anruf ist Aufforderung. In un-

serem Falle sprechen aus ihm die Forderungen, die unsere Zeit an unser BewuBtsein stellt. Die Künstler und Wissenschaftler, die hier erwahnt werden, haben begonnen, diesen Forderungen zu entspre-

chen. Voraussetzung dafür ist eine Bewußtseinssteigerung, die das

bloß rationale Denken hinter sich zu lassen vermag. Infolge ihrer wird die Wirklichkeitserfassung des Einzelnen befähigt, außer einer nur irrationalen Schau und auBer einem nichts als rationalen und somit analytisch teilenden Zweckdenken zu huldigen, sich im arationalen Wahrnehmen einzuüben. Das will besagen, daB sich ein Umdenken

des Denkens vollzieht, welches nicht mehr ausschlieBlich final gerich-

tet ist, also auf einen Zweck oder auf ein Ende hindenkt. Es bildet sich eine neue

«Denkform»

heraus, die wir als

«Gewahr-Werden», als

«Wahren» bezeichnet haben. Dieses Wahren vermag das bloße Gegenüber, das zugleich Ziel und Verstelltheit ist, zu durchbrechen. Damit gewinnt es die Offenheit, eine Offenheit, welche die Fülle unserer Teilhabe am unausschöpfbaren Ganzen offensichtlich macht. Es ist unbestreitbar, daß es sich hier für das herkömmliche Denken

und Begreifen um schwer faBbare, ja schwerverständliche Sachverhalte handelt. Das liegt in der Natur der Sache. Das Beglückende aber ist, daß wir gerade auch zu dem grundlegenden Sachverhalt, daß eine neue Denkform, eine neue Form der Wirklichkeitserfassung sich herauszubilden beginne, einige weitere, äußerst prägnante Beispiele anführen können.

So hat Adolf Portmann die Unzulänglichkeit des rational-analyti-

schen Denkens,

die Begrenztheit

des finalen Zweckdenkens

dar-

gestellt, durch welches, im Verhältnis zum Ganzen, nur Bruchstücke der lebendigen Vorgänge erklärt werden können, aber niemals das Ganze in die Wahrnehmbarkeit rückt. Er sagt, daß «die heute angebotenen Theorien der Evolution nur ungenügend und partiell unbedeutende Ausschnitte eines im Ganzen völlig verborgenen Ge-

Forderungen unserer Zeit

287

schehens erhellen».? Dagegen gelangt bei der Betrachtungsweise Portmanns die ganze «Gestalt» in den Wahrnehmungsbereich; dem

analytischen Vorgehen wird sein bisheriger AusschlieBlichkeits-An-

spruch auf begründete Weise in Abrede gestellt; es hat nur partiell, als wohl angewandtes Zweckdenken seinen Wert fiir Wissenschaft und Lebensmeisterung ; schließlich werden Folgerungen für viele Erscheinungen als von nur sekundärer Wertigkeit entlarvt, da das, was

er die «adressierte Erscheinung» nennt, beispielsweise Tarnungsfarben und Artsignale der Tiere, Sonderfalle innerhalb eines viel Allgemeineren sind. Dieses Allgemeinere ist das gewissermaßen Zweck-

lose, das «unadressierte Erscheinen». Die «unadressierte Selbstdar-

stellung», diese beglückende Formulierung Portmanns, bringt die

hier nachzuzeichnende neue Haltung auf eine geradezu atemraubende

Weise zum Ausdruck. Unadressiertes Erscheinen oder Selbstdarstellen wendet sich an kein Gegenüber. Es ist ein Geschehen und Verhalten in einer «Welt ohne Gegenüber». Um diese «Welt ohne Gegenüber» bemüht sich also nicht nur die Malerei seit Cézanne. Es ist kein Zufall, daß dieser Wahrnehmungsweise das Konzept entspringt, welches Portmann

mit dem Nachweis

der sogenannten «Offenstrukturen»

herausgearbeitet hat. Mit diesem Worte umschreibt er die Tatsache, daß die primären Formen der lebendigen Natur nicht zweckgerichtet sind, daß sie also unadressierte Selbstdarstellungen des Lebendigen sind, die sich an kein Gegenüber richten. Ein weiteres Beispiel findet sich in Ausführungen Jean-R. von Salis’. Sie betreffen die bisherige und die sich heute durchsetzende Art der Geschichtsbetrachtung. Solange das Denken nur zielgerichtet war, sah man Geschichte im Bilde des kontinuierlich fließenden Stromes

und projizierte in das Geschehen das Evolutionsprinzip. Heute sieht man Geschichte nicht mehr nur als Ablauf, sieht Geschehenes nicht

nur als Geschehenes, bezieht das noch Ungeschehene und damit auch die ganze Offenheit der Zukunft mit in die Betrachtung ein, verzichtet auf zweckdienliche Erklärungen zugunsten aller möglichen mitbewirkenden und mitbewirkten Faktoren: die Art, wie wir heute

Geschichte

wahrzunehmen

beginnen,

entspricht nicht mehr dem

3 Siehe Adolf Portmann, «Unterwegs zu einem neuen Bild vom Organischen»

(in: Die Welt in neuer Sicht, Ο. W. Barth Verlag, München,

Bd. I, 5. 24-46)

bzw. seinen Beitrag «Wandlungen unseres Bildes vom Lebendigen» (in: Wege zur neuen Wirklichkeit, Verlag Hallwag, Bern, 1960, S. 68); siehe zu diesem ganzen Fragenkomplex besonders auch Adolf Portmann, Neue Wege der Biologie; Sammlung Piper, München, 1960.

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Forderungen unserer Zeit

Bilde des Stromes, sondern dem des Netzes. Das Netz aber ist Aus-

druck der Vielfalt wirkender Beziehungen, in denen sich das Ganze

mit all seinen Môglichkeiten und seiner Offenheit spiegelt. Zudem ist es ein Bild für eine Struktur, die mit der bisherigen starren Gradlinigkeit und Gerichtetheit der Systematik nur noch wenig zu tun hat.

Ks ist desgleichen kein Zufall, daB aus dieser Wahrnehmungsart heraus von Salis die derart bewirkte Entgrenzung als einen Schritt ins Offene darstellt.4 Eine ähnliche Einstellung findet sich bei einem anderen Historiker, bei Herbert Lüthy.5 Er spricht von den «historischen Gesetzmäßig-

keiten..., (die) die vorgegebenen Bedingungen des Handelns (sind),

das dennoch in seiner Bedingtheit nicht restlos determiniert ist» — das

also offen ist. Auch er distanziert sich von der bisherigen Auffassung,

Geschichte als Ablauf zu werten, welche noch das sah, was fiir sie

«historisch gewordener, doch stabiler und zur Dauer bestimmter Rahmen war», wahrend heute eine Geschichtsbetrachtung zum Durchbruch kommt, fiir welche Geschichte «zum Prozeß geworden ist, in dem sich vor unseren Augen alle politischen, sozialen und sogar physischen Bedingungen unserer Existenz unaufhaltsam verändern. «Und mit diesem neuen BewuBtsein», so fahrt Lüthy fort,

«hat auch

die neue Dimension unserer Erfahrung unsere Fragestellung ver-

andert... In groBen, noch kaum verbundenen Fragmenten vollzieht

sich überall die Grundlegung einer neuen Menschheitsgeschichte, die fiir uns an die Stelle des alten linearen Ablaufs ... zu treten beginnt.» Geschichte umfaßt fiir ihn «das ganze lebendige Gewebe der menschlichen Ordnungen» und betrifft «die Gegenwart in all ihren Erinne-

rungen, Institutionen, Strukturen und Mentalitäten». Also auch hier

der Verzicht auf zielgerichtete Rückblendung oder zweckhafte Projektion in die Zukunft. So gesehen wird Geschichte aus einer adressierten Erscheinung zu einer unadressierten Selbstdarstellung der Menschheit.

Beschränken wir uns vorerst auf diese Beispiele. Halten wir jedoch fest, daß Vertreter zweier verschiedener Disziplinen, der Biologie und der Geschichtswissenschaft, unabhängig voneinander und fast gleichzeitig den Verzicht auf die ausschließliche Gültigkeit des Ziel- und Zweckdenkens ausgesprochen haben. Und daß sie versuchen, der Er4 Siehe J.-R. v. Salis,

«Geschichte als Form und Kraft» (in: Die Welt in neuer

Sicht, O. W. Barth, München-Planegg, 1957, Bd. I, 5. 66-87).

5 Siehe Herbert Lüthy, «Geschichte als Funktion unserer Gegenwart» (in:

Wege zur neuen Wirklichkeit, Hallwag, Bern, 1960, S. 79, 83 f., 87 und 97).

Forderungen unserer Zeit

289

scheinungen durch eine neuartige Betrachtungsweise gewahr zu werden, welche durch einen Akt der Gegenwärtigung den bisher überbetonten Ablaufcharakter der Zeit überhôht. Denn das «Erscheinen im Licht», von dem Portmann spricht, ist immerwährende Gegen-

wart, die nicht einmal an eine Zukunft adressiert ist. Für Lüthy ist Geschichte « Funktion unserer Gegenwart», wahrend ein anderer Historiker, Friedrich Heer, dies noch entschlossener formuliert: «Geschichte ist Gegenwart.»® Alle drei Aussagen weisen übrigens auch

auf jenes Transparentwerden der Welt hin, auf jene Durchsichtigkeit,

die, wie wir früher ausgefiihrt haben, eines der Hauptcharakteristika der neuen Wirklichkeit ist.

Nicht nur die vorhin erwähnten beiden Konsequenzen der neuen Grundkonzepte: Uberwindung des dualistischen Gegensatzes und

Gegeniibers sowie die Uberwindung der bloBen Ablaufzeit werden durch die neue Wahrnehmungsweise manifest, die soeben betrachtet

worden ist. Das Entscheidende ist, daß die Form des Denkens selbst

sich verändert, daß tatsächlich eine Umstellung, ein Umdenken eingesetzt hat. Eine kleine Umbetonung des Wortes Umdenken kann ein Hinweis darauf sein. Dank dem Umdenken wird nicht mehr nur auf etwas hingedacht, sondern wir beginnen das Ganze zu umdenken, um die Erscheinung herumzudenken, um sie nicht ausschnitthaft, sondern als Ganzes, wenn schon nicht sehen, so doch wahrnehmen

zu können. Doch diese Umbetonung ist nur der glücklicherweise

auch vorhandene heitere Aspekt dieses Geschehens, das von außer-

ordentlicher Bedeutsamkeit ist, das Bedeutungsschwere hat. Ein ein-

facher, äußerst einleuchtender Tatbestand stützt diese Behauptung:

Seit gut 2000 Jahren, seit den Anfängen der Philosophie in Griechenland, haben wir vornehmlich final (linear) gedacht und uns damit eine großartige neue Wirklichkeit erobert. Wir haben uns damals von der alten, mythischen Denkform weitgehend befreit und uns gänzlich neue Formen der Wirklichkeits-Erfassung erschlossen. Ohne dieses zielende, auf ein Gegenüber gerichtete Denken — der platonische Dialog ist seine Urform -- gäbe es weder Philosophie und Wissenschaft noch Technik und Industrie noch Politik und Wirtschaft im heutigen Sinne, die ja alle dem einen Zweck dienen: den Machtbereich des Menschen zu erweitern. Sie alle waren, sind und bleiben auch ferner-

hin weitgehend von dieser Denkform abhängig. Jene große Bewußt-

seinsmutation, die sich damals, für uns am sichtbarsten in Griechen6 Siehe Friedrich Heer, Die dritte Kraft, Fischer, Frankfurt a.M., 1959.

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Forderungen unserer Zeit

land, vollzog — denn sie war globaler Natur? — weckte durch das, was

wir den Weltgedanken genannt haben, in jener Zeit das damalige neue Denken, aus dem eine gänzlich neue Wirklichkeit hervorging. Ein ähnliches Ereignis vollzieht sich heute. Damals mutierte das Denken aus dem mythischen, kreisenden, irrationalen Denken ins gradlinig zielende,

rationale.

Heute

mutiert

dieses

rationale Denken

in das

arationale, das will besagen: in ein Denken, das sich von der ausschließlichen Gültigkeit des bloß rationalen befreit, so wie sich seinerzeit das rationale von der ausschlieBlichen Giiltigkeit des irrationalen losgesagt hat. Dabei darf als äußerst wichtiger Sachverhalt nicht aus den Augen verloren werden, daB die Gewinnung einer neuen Denkform niemals zur Abwertung oder Ausmerzung der vorangegangenen geführt hat. Das Rationale hat in uns das Irrationale nicht beseitigt, hôchstens eingeschränkt. Das Arationale wird seinerseits weder das

Rationale noch das Irrationale beseitigen noch deren Gültigkeit noch deren Wert, welche sie in ihrem je eigenen Bereiche haben. Nur ein arationales Denken, besser: ein arationales Gewahrwerden

oder Wahren ist fahig, die Fülle der Beziige und Strukturen des Ganzen wahrzunehmen. Wenn es deutlich geworden ist, daß die Realisationsweisen des Biologen und des Historikers neben der rationalen

Arbeitsweise auch diesen arationalen Ansatz enthalten, dann diirfte es

einwandfrei klargeworden sein, daB sich hier und heute etwas ereignet, das tatsachlich von auBerordentlicher Bedeutung ist: eine Umstellung des BewuBtseins, das ein Umdenken vollzieht, also eine Be-

wußtseins-Mutation, die eine Stezgerung des Bewußtseins darstellt und

die in dem gleichen MaBe eine neue Wirklichkeit herauffiihrt wie jene griechische BewuBtseinsmutation, die der Erde Philosophie und Wissenschaft und deren Produkte: Technik, Industrie, Weltpolitik und Weltwirtschaft schenkte. Daß in unserer Zeit etwas Entscheidendes geschieht, das spüren nachgerade viele. Sogar nüchterne Manner der Wirtschaft sprechen

heute davon, daß wir uns in einer < Zeitenwende» befánden, wie es 7 Diese globale Natur zeigt sich auch in der Tatsache des fast gleichzeitigen, oder doch ineinandergreifenden In-Erscheinung-Tretens der philosophischen Dialogform in Indien, China und Griechenland. Der Dialog setzt das Gegenüber eines Partners voraus, an welches das denkende Ich sich wenden kann. Sowohl

die Lehre Buddhas, als auch die des Dschuang Dsi sind weitgehend in der Dialogform gehalten, die sich allerdings von derjenigen Platons insofern unterscheiden, als bei Platon der mentale Duktus bereits wesentlich ausgepragter ist als bei Buddha oder Dschuang Dsi (bzw. Tschuang Tse).

Forderungen unserer Zeit

201

(1959) der deutsche Minister für Wirtschaft, Prof. Ludwig Erhard, in

Zürich getan hat. Freilich, worin diese Zeitenwende besteht, darüber herrscht eitel Rätselraten. Oder man versucht sie mit ihren bereits sichtbar werdenden, vorerst mehr negativ wirkenden Folgen zu umschreiben, statt das grundlegende geistige Geschehen, durch welches

die Zeitenwende hervorgebracht wird, zu erkennen: die Mutation des Bewußtseins ins Arationale. Statt dessen spricht man von einer zwei-

ten oder dritten technischen Revolution oder vom Massen- oder vom Atomzeitalter. Man sieht also vor allem nur die negativen Aspekte

der Rationalität, die sich selber überkurbelt, die nichts Neues mehr hervorbringt, sondern Neues auf ungemäße, nämlich auf alte Art ver-

wertet. Übrigens wird diese Auffassung, daß die

Forderungen unserer Zeit

den Vollzug der Bewußtseinsmutation betreffen, zusätzlich durch zwei

miteinander korrespondierende Ereignisse gestützt. Es war Aristarchos von Samos (320 bis 250 v.Chr.), der in den für uns so entschei-

denden bildete. die Erde Ansicht

Jahren Griechenlands die Lehre von der Heliozentrik ausDiese Lehre besagt, daß die Sonne im Mittelpunkt stehe und um sie kreise. Sie mußte, nachdem die gegenteilige altjüdische durch das Christentum erneut geltend geworden war, durch

Kopernikus (1473 bis 1543 n.Chr.) mühsam wieder entdeckt werden,

und zwar auf Grund antiker Quellen, die er, wie er selbst angab, be-

nutzte. Dieser gedachte, heliozentrische Kosmos war ein in sich geschlossenes System, eine Welt in Gottes Hand, auf irgendeine Weise begrenzt. Aber jede Grenze ist auch Ziel, ein unüberschreitbares Gegenüber, auf das sich das Denken richten, an dem es sich orientieren kann. Die Heliozentrik entsprach der rationalen Denkform. Welches ist nun, betrachten wir unsere Zeit, das mit der Entdeckung des Arist-

atchos von Samos korrespondierende Ereignis? Es ist ein Nachweis, der das heliozentrische Weltbild zerbrach. Diesen Nachweis erbrachte Knut

Lundmark

1918, indem

er ersichtlich machte, daß es außer-

galaktische, das will sagen: außerhalb unserer Milchstraße befindliche Sternenwelten gibt, und daß somit unsere Sonne durchaus nicht das Zentrum des Kosmos ist. Die der Ratio entsprechende Vermutung,

daß das Universum begrenzt sei, die bereits Albert Einstein mit der

Theorie des zwar endlichen, aber unbegrenzten Weltraumes in Frage gestellt hatte, erwies sich als hinfällig: das Universum ist offen und

verliert sich makrokosmisch in Unsichtbarkeiten, so wie sich seine

Bausteine, die subatomaren Elementarteilchen, mikrokosmisch gesehen, desgleichen im Unsichtbaren, Unbegrenzbaren verlieren. Der

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Forderungen unserer Zeit

Nachweis der außergalaktischen Sternenwelten ist von so einschneidender Bedeutung fiir unser Weltgefühl, daB er nur mit der einstigen Entdeckung der Heliozentrik verglichen werden kann. Diese entsprang dem Vermögen des damals neu gewonnenen mental-rationalen Bewußtseins. Lundmarks Nachweis dürfte der heute durchbrechenden arationalen Fähigkeit entspringen. Wir sehen, denken oder gewahren immer nur, was uns jeweils gemäß ist und dem wir gewachsen sind. Erst als die bewußtseinsmäßige Voraussetzung dafür gegeben war, einen Kosmos, der durch den Wegfall der Begrenzung kein Gegenüber mehr

bot, wahrnehmen zu können, erst dann wurde er wahrgenommen. Lundmarks Nachweis entgrenzt unser einst geschlossenes Weltbild, er öffnet es, und dies zudem in zunehmendem Maße, denn auf Grund

von Beobachtungen der letzten Jahre verlieren sich die für uns sichtbaren Welten der Spiralnebel im Grenzenlosen.

Wuchsen für uns die Entfernungen, die uns die neue Astrophysik

erschloß, ins Unvorstellbare, so zerrannen andererseits die Maße der

kleinsten Bausteine, der Atome, desgleichen ins Unvorstellbare. Das

ist eine so bekannte Tatsache, daß hier nur an sie erinnert zu werden braucht. Diese Tatsache, daß die Elementarteilchen nicht mehr be-

greifbar sind, ist das Symptomatische. Wir können sie uns nicht mehr

vorstellen, können sie nicht mehr vor uns hinstellen. Und trotzdem

arbeiten die Kernphysiker mit ihnen; sie befreiten die in ihnen schlum-

mernden, desgleichen nicht vorstellbaren, verborgenen Kräfte, ersannen Verfahrensweisen, mittels derer sie diese unvorstellbaren, unsicht-

baren Kleinstheiten eigentlich nicht mehr denken, wohl aber wahrzunehmen vermögen. Selbst ein Kernphysiker, Paul Huber, spricht heute von der Notwendigkeit einer Bewußtseinssteigerung.® ZurMeisterung der neuen Verhältnisse ist sie unentbehrlich. Und der gleiche Kernphysiker spricht von den notwendig gewordenen Strukturveränderungen, da «die heutige Wirklichkeit eine wesentlich andere als die bisherige ist». Dies alles ist offensichtlich, und es ist erfreulich,

wenn dieser Physiker den ist es aber, daß die heute solche materieller Werte, Auch hier werden somit

Mut hat zu sagen: «Ebenso offensichtlich begonnene Auseinandersetzung nicht eine sondern geistiger Natur ist.» die gleichen Grundkomponenten der neuen

Wirklichkeit deutlich, denen wir bereits in der Biologie, der Ge-

schichtswissenschaft, ja selbst in der Malerei begegnet sind, wobei das 8 Siehe Paul Huber, « Kernphysik und Gegenwartsprobleme», in; Schweizer Rundschau, Neue Folge; Zürich, Jg. 1959; Heft 4/5, S. 193-201.

Forderungen unserer Zeit

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Unsichtbarwerden des Gegeniibers, sein Fortfall, eine BewuBtseins-

steigerung fordert und die Einsicht in die immateriell werdende Welt dem Primat des Geistigen ruft, das in den qualitativ betonten Einstellungen sichtbar wird. Und selbst in der Betrachtungsweise des Rechtes bahnt sich heute eine Umstellung an, die um so beachtenswerter ist, als das Recht notgedrungen und natiirlicherweise wohl die konservativste aller Disziplinen ist. So hat W.F. Biirgi verschiedentlich auf das sich heute verändernde Recht hingewiesen, das durch die neuartige Konstellation unserer Wirklichkeit gezwungen wird, den Schutz des Statischen zugunsten des neuartigen Schutzes des Funktionellen aufzugeben. Es schiitzt heute nicht mehr in der dem alten statischen Weltbild gemäßen Weise das Unbewegliche: Besitz und Eigentum, sondern in zunehmender und erstmaliger Art die Funktion: die Arbeit.? Hans Marti hat seinerseits die neuartige Einstellung zum Recht durch sein Anliegen betont, daß es von dem «Bild der ganzen Welt» auszugehen habe.10 Übrigens ist auch seitens der Kernphysik das gleiche Ansinnen

vorgebracht worden. C.F, von Weizsäcker schreibt, daß es darauf ankäme, «der Welt nicht nur in Näherungen und nicht nur in Ausschnitten, sondern in ihrem ganzen komplexen Charakter gerecht zu werden».!! Es ist das gleiche Anliegen, das sich auch bei Adolf Portmann findet: «daß unser Entwurf mit höchstem Bewußtsein das unerklärte Ganze

hineinnimmt»,

daß «das unbekannte

Macht seines Geheimnisses vor den Geist (zu) bringen»

Ganze in der

sei.12 Parallel

zu dem Konzepte Adolf Portmanns läuft eine Äußerung von Hans

Marti. Mit ihr unterstreicht er auch für das Recht die Möglichkeit einer «Welt ohne Gegenüber». Er führt aus, daß wir, solange wir uns nicht aus der einseitigen und teilhaften Zweckinterpretation zu lösen vermögen, einen Rechtssatz «nur als Objekt rationaler Betrachtung behandeln, als ein Gegenüber zum betrachtenden Ich».13 Und er verweist zudem darauf, daß in der Auslegung eines Rechtssatzes «etwas 9 Siehe W. F. Bürgi, «Das Recht in der veränderten Welt» (in: Die Welt in neuer Sicht; O. W. Barth Verlag, München-Planegg, 1957, Bd. I, S. 88-107). 10 Siehe Hans Marti, «Recht in neuer Sicht» (in: Wege zur neuen Wirklichkeit; Hallwag, Bern, 1960, S. 112). 11 Siehe C.F. von Weizsäcker, Einstein und die Wissenschaft unseres Jahrhunderts, Musterschmid-Verlag, Göttingen, 1960, S. 28. 12 Adolf Portmann, «Wandlungen unseres Bildes vom Lebendigen», a.a.O.,

S. 68 und 72.

13 Siehe Hans Marti, Recht in neuer Sicht, a.a. O., S. 109.

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Forderungen unserer Zeit

mitspielt, das auBerhalb der nur rechtlich-politischen und überhaupt auBerhalb jeder zweckgerichteten Betrachtung liegt». Die neue Haltung, die aus den Konzepten und Wahrnehmungs-

weisen dieser Wissenschaftler, die selbst aus den Funden der neuen

Kernphysik spricht, ist nun keineswegs dadurch klassifizierbar, daß man sagt, sie gehe aus der Einschränkung des Zweckbereiches hervor und sei lediglich eine Abkehr von Materialismus, Positivismus

und Pragmatismus zugunsten einer Hinwendung zum Religiösen, zum

Irrationalen und Numinosen. Sie ist auch das, aber sie ist auch mehr

als das. Aus dieser Haltung spricht die souveräne Anerkennung, daß

in allen Erscheinungen stets neben rational interpretierbaren Elemen-

ten auch psychisch-irrationale, ja selbst magisch-vitale, also prärationale, enthalten sind. Erst diese Anerkennung ermöglichte die Auf-

findung des auch zweckfreien Charakters der Erscheinungen. Sie ist

eine der Handhaben, die sowohl zur Überwindung des rational ge-

setzten Dualismus, der Gegensätzlichung der Welt, als auch zur Über-

windung der zweckgerichteten Ablaufzeit führen. Die Anerkennung dieser Zusammenhänge, diese Einsicht stellt uns in einen neuartigen

Bereich, in eine neue Wirklichkeit: in ihr werden erstmals das Prä-

rationale, das Irrationale und das Mental-Rationale bewußt als Ganzes verfügbar. Damit aber ist diese neue Wirklichkeit integraler Art und hat arationalen Charakter. Erst dort, wo der auch zweckfreie Aspekt

der Erscheinungen aufleuchtet und bewußt wird, gibt es kein Gegen-

über, keine Adresse, keine mentale Gerichtetheit mehr — wohl aber die

Teilhabe, das Miteinander statt des Gegeneinander, und unsere Welt öffnet sich dem geistigen Bereich, der dank der arationalen Haltung

wahrnehmbar wird. Diese arationale Haltung ist, wie das Wort besagt, frei vom Rationalen, weil sie frei über das Rationale und dessen Vorformen zu verfügen vermag. Diese Haltung bedeutet für unser Bewußtsein eine Anreicherung, ja eine Steigerung. In ihr wird die sich heute vollziehende Bewußtseinsmutation effektiv. Gegen diese Auffassung können Einwände erhoben werden. Sie lassen sich kurz folgendermaßen formulieren: Muß es unbedingt sein, die bisher aufgezeigten Ansätze als etwas derart Neuartiges zu werten,

daß ihr Einbau in das bisherige Denkschema nicht möglich wäre? Dieser Einwand wird zudem durch die Tatsache ermutigt, daß die neue Wirklichkeit erst im Begriff steht, sich ihre neue, ihr eigene Sprache zu schaffen und sich demzufolge weitgehend noch der Begriffe und Schemata der alten Denkweise, die ihr nicht mehr entspre-

chen, bedienen muß. Diese Ansicht vertritt auch Adolf Portmann,

Forderungen unserer Zeit

295

wenn er ausführt, daB «die wissenschaftliche Sprache ... noch nicht so

weit wie das Forschen ist».14 Und Werner Heisenberg bestitigt dies, wenn er ausführt, daß unsere Sprache mit der wissenschaftlichen Ent-

wicklung nicht mehr mitkomme, denn wir hätten zwar die Welt der Atome zu einem erheblichen Teil verstanden, aber wir kônnten nicht

dariiber reden.15 Ahnliches gilt für die heutigen philosophischen Be-

mühungen. Auch hier stoßen wir auf die gleichen Schwierigkeiten des sprachlichen Ausdrucks. Wir kônnen vorerst nur versuchen, uns an die Wôrter und Benennungen heranzutasten, die den neuen Inhalten

gemäß sich weder im Bildhaften noch im Begrifflichen erschöpfen dürfen. Was sich heute ereignet, das ist die Geburt des neuen BewuBt-

seins; die Taufe, und damit die verbindliche Namensgebung, findet immer erst später statt; bis dahin streiten sich möglicherweise die Eltern über den gemäßen Namen.

Mögliche Einwände gegen die Auffassung, daß sich heute eine Be-

wuBtseinsmutation vollziehe, werden des weiteren durch die Tatsache

ermutigt, daß es, solange die mentale Denkweise vorherrschend war - also immerhin gut zwei Jahrtausende lang -, stets möglich gewesen

ist, neue Funde in die Systematik dieses Denkens einzubauen — oder

aber sie einfach auszuklammern. Hinzu kommt die Tatsache, daß keine

Generation ernsthaft den hochmütig erscheinenden Anspruch zu etheben wagt, sie wäre Bannertrágerin einer sogenannten neuen Zeit und

auserkoren,

eine Zeitenwende

zu bestehen.

Das

scheint An-

maBung. Man ist lieber bescheiden, sofern es nicht ganz einfach Bequemlichkeit ist. Zudem kann man auch die Ausdrucksweise unserer Epoche als dem Pendelgesetz unterstellt betrachten. Jenes Pendelgesetz besteht darin, daB man die Aufeinanderfolge der Ausdrucksweisen der verschiedenen Epochen als jeweilige Gegenbewegung zu der vorangegangenen Epoche auffaßt. Diese Wertung stützt sich auf das bereits erwähnte Phänomen, daß auf die strenge Renaissance das

Pendel in den üppigen Barock ausschlug, daß auf diesen die strenge Aufklärung folgte, auf diese die gefühlsbetonte romantische Epoche, auf diese die naturalistische und so fort.

14 Siehe Adolf Portmann, «Die Wandlungen im biologischen Denken» (in: Die neue Weltschau, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1952, S. 78). 15 Siehe Werner Heisenberg, «Sprache und Wirklichkeit in der modernen Physik» (in: Wort und Wirklichkeit, Vortragsreihe München 1960; R. Oldenbourg, München,

1960, S. 48/49);

Ausführliches dazu siehe in Werner Heisen-

berg, Physik und Philosophie; S. Hirzel, Stuttgart, 1959; Kap. X, S. 160-180, auch als Ullstein Buch Nr. 249 erschienen; siehe dort dgl. Kap. X.

296

Forderungen unserer Zeit

Begegnen wir diesen Einwänden durch Feststellungen. Es ist gewiB nicht leicht, den Mut und die Demut aufzubringen,

den Forderungen unserer Zeit entsprechen zu wollen, die sie, wie viel-

leicht ersichtlich geworden ist, an uns stellt. Weichen wir diesen Forderungen dadurch aus, daB wir die für uns neuen, intensitäts-geladenen Inhalte des Weltgedankens in das bisherige Begriffs- und Denkschema pressen, so begehen wir den Fehler, unsere Zeit und ihre Qua-

litat falsch zu interpretieren, denn die neue Denk- und Realisationsweise beginnt allenthalben aufzuleuchten. Wenn wir das leugnen, so deformieren wir die Inhalte der neuen Wirklichkeit, bedienen uns

ihrer auf irrige Weise mit dem Mißerfolg, daß nicht wir aus den alten Schemata hinaustreten, sondern daB die neuen Inhalte diese Schemata

und uns, die wir ihre Verfechter bleiben, zerbrechen. Ein Beispiel dafür: Der Einblick in die geheimnisvolle Wunderwelt der Atomkerne

blieb durch die nicht gemäße innere Haltung, durch die diesem Ge-

wahrwerden nicht entsprechende Steigerung des BewuBtseins unverarbeitet. So konnte es geschehen, daß er rational, zweckdienlich, machtbesessen ausgewertet wurde. Das Resultat kennen wir alle: die

Bombe, deren zwei neuerdings genügen sollen, die Erde zu zerstören. Es wäre töricht und widerspräche jeder vernünftigen Einschätzung menschlicher Fähigkeiten, annehmen zu wollen, daß sich das von unserer Zeit geforderte Umdenken sogleich in einer erfolgreichen moralischen Besinnung äußern könne. Zweitausendjährige Machtgier

und Zweckdenken, deren Last jeder von uns trägt, lassen sich nicht

einfach in Friedenswillen und Brüderlichkeit verwandeln. Wohl aber können wir, entsprechen wir den Forderungen unserer Zeit, eine Bewußtseinsstärke gewinnen, für welche das Zweckdenken deshalb hinfällig wird, weil sich uns Wirklichkeitsbereiche erschließen, die neuartige Aussichten für unser Leben bergen. Dieses grundlegende Um-

denken, ist es vollzogen, stellt uns in einen Bereich, dessen Stärke

und Kraft dem bisherigen der Macht überlegen ist. Diese neue innere und bewußt geübte Haltung, die Absichten nicht kennt, weil sie die offene Fülle des Ganzen wahrzunehmen befähigt ist, ist aus ihrer Substanz heraus ein Bollwerk gegen das dann zur Erfolglosigkeit verurteilte Machtstreben. Diese neue Haltung schafft dann von sich aus

die neuen Werte, auf die es ankommt. Wie schnell oder wie langsam sich das vollziehen wird, das ist schwer abzusehen. Aber es gibt auch allgemeine Indizien, welche auf die noch nicht ganz realisierte Bewußtseinsumstellung hinweisen und vermuten lassen, daß dieser Umstellungsprozeß begonnen habe. Beide Indizien betreffen die Ideo-

Forderungen unserer Zeit

297

logie als solche. Das erste bezieht sich auf unsere westliche, das andere auf die sowjetische Welt.

Immer wieder ertönt aus der Angst vor dem Osten der Ruf (und es darf diese Feststellung wohl in diesem abschließenden Hinweis wiederholt werden, zumal sie zu einer zusätzlichen Einsicht führt), man solle nun endlich etwas finden, und zwar eine Idee oder Ideologie, die man der marxistisch-leninistischen entgegensetzen kônne. Die Tatsache, daß bisher keine derartige, sogenannt ziindende Ideologie ge-

funden worden ist, dürfen wir, wie bereits erwähnt, als ein positives

Zeichen bewerten. Der rationalistische und zweckbetonte Charakter,

der jeder Ideologie eignet, entspricht nicht mehr unserer Denkweise.

Jede Ideologie ist zielgerichtet, jagt einem Ziele nach; aber jedes Ziel ist ein Gegenüber. Wir jedoch beginnen in einer Welt ohne Gegenüber zu leben. Der Ideologieverdacht des abendländischen Menschen

entspringt also nicht nur dem Skeptizismus. Ihm liegt die begonnene,

aber noch nicht realisierte Strukturveränderung seiner Realisations-

weise, seines Bewußtseins und damit seiner Wirklichkeit zugrunde. Besteht das erwähnte Indiz also bei uns im sogenannten Zdeologieverdacht, so ist es im Sowjetbereich Ideologiesorge. Dabei wollen wir

nicht vergessen, daß der Marxismus-Leninismus

das Endprodukt

unseres rationalen Zweckdenkens ist. Im «Kommunist»,16 dem ideologischen Organ des Kremls, finden sich folgende Sätze: «Um die Natur der Kräfte im Atomkern ist ein erbitterter Kampf des Materialismus gegen den Idealismus entstanden.

Leider haben sich viele unserer großen Physiker aus diesem Kampf zurückgezogen und ziehen es vor, sich in Schweigen zu hüllen. Einige

(unserer) Wissenschaftler behaupten sogar, es sei an der Zeit, daß wir

uns eine Koexistenz der beiden Ideologien leisten könnten. Dies aber ist die ideologische Abrüstung der sowjetischen Wissenschaft.» -Chruschtschew selbst soll vor drei Jahren in klarer Erkenntnis der bedrohlichen Lage ein Gremium führender Physiker und Partei-

ideologen einberufen haben, damit es eine neue Philosophie erarbeite, wenn es sich infolge der Einsichten der Kernphysik bestätigen sollte, daß die Materie nicht die letzte und unverbrüchliche Instanz darstellt,

mithin

also die materialistisch

Lehre falsch ist.

fundierte

marxistisch-leninistische

Wir wissen, daß sie falsch ist. Aber wir sind uns bewußt, wodurch

sie überwindbar wäre: durch die Umstellung, das Umdenken, durch 16 Siehe dort die Januar-Nummer 1958.

298

Forderungen unserer Zeit

die BewuBtseinssteigerung. Wir verfügen heute über ein besseres «Kapital» als das von Marx. An Beispielen dafür mangelt es, wie wir

gesehen haben, nicht. Wenn sie uns tiberraschen, so zeigt dies nur,

daB wir bereits besitzen, was wir noch suchen. Es ist kein intellek-

tuelles, rationales Vermôgen, es ist eine geistige Kraft, die allen An-

schligen des Rationalen, also auch dem Marxismus, überlegen ist, sofern wir uns davon Rechenschaft ablegen, wie das hier versucht wurde. Das aber heißt, daß wir uns ihrer bewußt werden müssen.

Schon geschehen Dinge in diesem Sinne. Je heimischer wir in der

neuen Haltung werden, desto gewisser werden sich, nachdem Moral

und Ethos durch das Zweckdenken weitgehend zerstôrt worden sind,

die neuen Wertungen von selbst ergeben. Was wir uns hier zugemutet haben, war ein Gang an die Grenzen des Vorstellbaren. Was dahinter liegt, aber auch zuallernächst und

in uns, und in unser Bewußtsein,

es steigernd, einbricht, das sind

Wahrnehmbarkeiten, die sich der Vorstellung entziehen. Hier liegt die große Schwierigkeit. Sie zu meistern und einen bewußtseinsmäßigen Aufbruch mit all seinen kraftspendenden Konsequenzen zu leisten, so wie ihn seinerzeit die Griechen für uns geleistet haben: das sind die Forderungen unserer Zeit. Wege dafür wurden gewiesen. Es sind Wege zur neuen Wirklichkeit. Jeder, der sich vor dem Abgleiten ins Irrationale und vor dem Steckenbleiben im Rationalen bewahrt,

vermag sie zu gehen und damit den Forderungen zu entsprechen, die

letztlich das Licht, das unsichtbare, jeweils zu seiner Zeit an alle hie-

sige Erscheinung stellt. Es war noch immer so, daß die an uns gestell-

ten Forderungen erfüllbar waren, wenn es sich wie hier um notwen-

dige Forderungen handelt. Wir stehen in der Bewährung. Und was das Schicksal von uns fordert, entspricht stets der aufbringbaren Kraft.

NAMENREGISTER Die hochgestellten Ziffern beziehen sich auf die Anmerkungen.

Aaldo, Gebrüder 139 Abegg, Emil 249 Albert-Lasard, Lou

Cavalcanti, Guido 92 Cazzamalli, Fernando 236

226

Cézanne,

Albertus Magnus 151 Alder, Dankmar 139 Alkmaion 159 Anaxagoras

75

Anaximander 71 Thomas von Aquin 151 Arcipreste de Hita 10, 12f., 45, 65 Aristarchos von Samos

Cicero

159, 291

58, 246

Bacon, Francis

Bender, Hans Bense, Max

Berceo

92

236

209

Bergson, Henri

278

Georges

Breadstedt

Brod, Max

117, 138,

Buber, Martin

26f., 65, 2544

Copernikus 157, 159 Le Corbusier 139, 143 Cotés, Fernan

Cox, C.G.

252

94

Creuzer, Friedrich

141,

117, 173

Buddha 2907 Budge 48 Bürgi, W. F. 293 Burckardt, Jacob 122f. Busoni 135

Deussen, Paul Dietrich 70 Dilthey 125

19, 51, 60, 86

50

24, 170, 219, 241

173,

108, 165

16, 2907

Duns Scotus

116, 172, 223

74, 123

Comte, Auguste

Dschuang Dsi

208, 215

Briickner, Ferdinand

140

28

Dostojewski, F. M.

48

Brogli, Louis de

137,

75, 84, 86, 123

Descartes, René

116, 128, 172, 187

Bertalanffy, L. von 198 Bie, O. 85 Bitter, Wilhelm 4911 Boehme, Jacob 69 Bohr, Niels 223 Bôttiger 6ο Bozzano, Ernesto 236 Braque,

134f.,

Dante 85, 91, 159, 269, 281 Darwin, Charles 236 Dawson, Christoffer 123 Dempf, A. 123

269

.

116,

Codrington, R. H.

Aristoteles 87f., 91, 123, 151, 159, 216, 277 Augustin 75, 156 Aurobindo, Sri 250, 279

Bachofen, J.J.

Paul

172, 186, 272, 276f., 278, 286 Chamberlain, H. St. 169 Charles d’Orléans 92 Christus 23, 189, 217f. Chruschtschew 150

151

Eddington, A. St.

167, 225f.

Einstein, A. 129, 135, 143, 182, 214, 223, 225, 238, 285f., 291

Fisler, Robert

Elliot, T. S.

93

84, 89ff., 96, 226f.

Engels, Friedrich 184, 244, 250 Erasmus von Rotterdam 123 Erhard, Ludwig 291i Ermann

48

Euklid 159 van Eyck 151

300

Namenregister

De Falla

Heuss, Theodor 250 Heyer, R.G. 125, 19910

138, 140

Feininger, L. Fichte 95

138

Fiore, Joachim v.

Franz v. Assisi

2544

92, 95

Frazer, J. G. 29, 31, 51 Freud, Sigmund 28, 49, 58, 116, 125, 172, 187, 249 Fries, S. 50 Frobenius, L. 51

Galenus 157 Galilei 109, 125, 158, 166, 179, 224 Garcilaso de la Vega

94 Gehlen, Arnold Gent, Werner

10, 12f., 45, 65,

274°

179

George, Stephan Giotto 151, 272

96

Goethe, J. W. v. 48, 53, 59f., 89, 94, 267

Granet, Marcel

21

Gries, Juan 117, 138, 173 f. Grohmann, Will 2746 Guardini, Romano

Guérin, M. de 57 Guerry, Liliane 129 Guillén, Jorge 226f.

123, 203, 260, 265

Hildebrand, Rudolf 74 Hofmannsthal, Hugo 91, 139, 145 Hölderlin 39f., 47, 92, 94fl., 116, 215 Homer 22, 31f., 51, 69, 85, 87, 92, 217

Huber, Paul

Hufeland, Ch. W.

Huinzinga, J. Husserl

154 Ernst 236 ]. 5. 198, 224 Jane-Ellen 18

Hartlaub, F. G. 214 Hartmann, Nicolai 206 Harvey, William 157 Hastings 86

Heer, Friedrich 289 Hegel, G. F. W. 26f., 77, 184, 203, 219, 247, 284 Heidegger, M. 44, 118 Heine, Heinrich 247 Heisenberg, Werner 213f., 223, 226f.,

2714, 277, 295

Heraklit

20, 47, 54, 578, 68, 70, 91

Herder, J. G. v. 122 Hesiod 85, 87, 246 Hesse, Hermann 51

250

123f.

128

Huxley, Aldous

251

Infeld, Leopold

208, 212

Ionesco

146

Jaspers, Karl 217? Jawlewsky, Alexj 280 Joachim von Fiore 107 Johannes XXI. 151

Jores, Arthur

2413

Kafka, Franz Kant 128

251

Joyce, James 139 Jiinger, Ernst 250 Jung, C.G. 23, 28f., 56, 63, 69, 72, 76f., 88f., 124f., 129, 226, 249, 257°

Kasack, Hermann Kayser, H.

Hadrian Haeckel, Haldane, Harrison,

292

251

40, 51

Kayserling, Graf Hermann v.

Kepler, J. 40, 157 Kerényi, K.

123

88

Kierkegaard 44 Klages, Ludwig

75

Klee, Paul 141, 273, 280 Koestler, Arthur 251

Kogon, Eugen 251 Kopernikus 291 Kuhns, Adalbert

Kung-fu-tse

88

123

Laforgue, Jules

98

Lao-tse 123 Leeuw, G. van der 28, sof. Leibniz, G. W. 40, 77, 90

Leisegang, H. 33, 77 Leonardo da Vinci 272

24, 157, 159, 219,

Namenregister

Leopold I. v. Osterreich Lepsius 48 Lessing, Th. 10 Lévy-Bruhl, L. 23, 29 Liszt, Franz v. 135 Litt, Theodor 122

Nestle 23 Neutra 139, 143

Newton 172, 238 Niedermayer 143 Nietzsche, F. 108, 165, 226, 247, 280

Lorca, Federico, Garcia Lorenzetti, A. u. P.

106

152

139

Nork, F. 51, 92 Novalis 142, 275

Lloyd Wright, Franc 143 Lucillius 154 Lucrez 63 Lundmark, Knut 297. Lüthy, Herbert 288f.

Orest 246 Origines 77, 152

Macchiavelli, Niccolò Maharshi, Sri Ramana

Papst Sabinus 152 Paretro, Wilfredo 250 Parmenides 23, 32, 75

Mallarmé, Stéphane

250 250

94, 96, 98, 226f.

Ortega y Gasset, J. 123 Orwell, George 251 Otto, Rudolf 11, 27, 29f., 38, 41, 86

Marc, Franz 141, 146, 280 Marcel, Gabriel 260 March, Arthur 213, 277 Marett, R. R. 27, 29

Pauli, Wolfgang 270? Pausanias 87, 93

Marti, Hans 293 Marx, Karl 184, 244, 250 Maspero 48 Massignon, Louis 50 Medicus, Fritz 121

Picasso

Maritain, Jaques

123

Menendez-Pelayo Meyer, C. F.

Meyer, Fritz

77

98

Peterich, E. 86 Petrarca 152ff.

Petrus Hispanus (Lusitanus)

151

117, 134, 138, 140f., 175, 187,

273, 280

Pindar 85, 93 Pissaro 94

Planck, Max 116, 135, 172, 187, 223 Platon 21, 40, 50, 83f., 87f., 91, 123,

216, 255, 269, 2907

Plutarch

50

301

69, 88, 91, 123

Michelangelo 64, 158 Mies van der Rohe 139 Milhaud, Darius 138 Mitscherlich, A. 198, 209f. Monakow, C. v. 40, 198 Monet 94

Portmann, Adolf 1726, 198, 206, 2077, 208f., 212, 214, 274, 286f., 289, 293 f.

Montesquieu 57, 257 Moritz, K.-Ph. 86

Preller-Robert 85 Protagoras 218

Proust, Marcel Ptolemäus

157

58, 139

Mondor, H. 98 Montecuhçoma 105

Pythagoras

Quinton, René

250

Mozart

Radhakrishnan

123 f,

39f.

Müller, Max 28 Munter, Bischof

6ο

Musil, Robert 139 Mussolini, B. 250 Naville 48 Neander, À.

Ramakrishna, Sri

Ravel, M.

138

Reitzenstein, R.

Rhine, J.B.

236

Riehl, Alois

125

Rieckert

72

159

125

Riemann, B.

46

250

77

302

Namenregister

Renoir 94 Rilke, R. M. 59, 93, 96ff., 145, 226f. Rochas, F. de 63 Rohdes, Erwin 33 Roscher, W. H. 86

Tritsch, Walther

Rosenzweig, Franz 74 Roulet, C. 94 Rousselle, Erwin 217? Rüstow, Alexander 250 Russel, Bertrand

Thales v. Milet 159 Thimus, À. v. 40 Tischner, Rudolf 236 Toynbee, Arnold 123f., 220 213, 223

Troelsch 123 Tschichold, J. 40 Trübner

74

Tylor, E. B.

260

27, 29

Usener, Hermann

Sahagún, Fray Bernardino de Salis, J. R. de

Sappho

92

Sartre, J. P.

Satie, E.

135

252

103, 124, 220, 287

44, 146, 203

Saunder, O. E.

18

Schaeffner, Georg 94 Schelika, Κ. v. 87 Schmalenbach, Hermann 30, 34 Schmidt, Carl 71 Schmitt, Paul 23 Schneider, Reinhold 2701 Schopenhauer 10 Schrodinger, Erwin

Scotus, Johannes Seneca 75, 154 Sethe 48

Sisley

94

Socrates

71

116, 172, 214, 223

24, 54, 83, 216

Sôderblom, N. 29, 31 Solon 255 Sorel, Georges 250 Spengler, Oswald 123f., 169 Spinoza 95 Spranger, Edward 123 Stendhal 116, 172 Stifter, A. 47 Strabo 154

Strauss, Viktor v. 2172 Stravinsky 138 Suzuki, D. T. 69 Szondi, L. 125

Valéry, Paul

Varro

Vasari

49

23, 77

84, 89f., 96f., 145

150

Verdiajew 123 Vergil 69, 85 Verlaine, Paul 96 Vésale, A. 157, 159 Vico, Giambattista 16, 123 Virchow, Rudolf

Vries, Hugo de Weber, Alfred

Weber, Max

108, 165

117, 173

202, 259f., 262

123

Webern, Anton

138

Weininger, O. 62f. Weizsäcker, C. F. v. 211, 277, 293 Westheim, Paul 273

Whitehead, Alfred North

Wiener, Norbert

263

Winthuis, J. 18 Wundt, Wilhelm

27

82

Wilder, Thornton 91, 117, 140, 173 Wilhelm, Richard 16, 2575 Windischmann 77

Xerxes

252

Ziegler, Leopold

Zimmer, Heinrich

122! 88

Zinzendorf, N. L. Graf

27

SACHREGISTER Die hochgestellten Ziffern beziehen sich auf die Anmerkungen.

Abendland 83, 127 Adjektiv 88 Achtonon 171, 173f. Akausalität 212 Allegorie 52

Bewuftseins-Mutation

132, 134, 136, 193, 204, 290, 294

Bewußtseins-Struktur

Ambivalenz 35, 46, 54f., 57, 63, 67, 71, 76, 94

Ambivalenzcharakter d. Seele A-mension 206 Amulett 40 Angst

6ο

132, 140, 178, 183f., 204, 227,

233, 274 Animatismus 29 Animismus 27, 29 Animus u. Anima 63 Anthropologie 203, 242 Anthropozentrik 218, 232 Antike

24, 92, 151f.

Aperspektive

Arationalität

80, 186, 195 f.

210, 242, 290

Archetyp 76 Architektur 139, 143, 158 Astrophysik 212, 292 Atomphysik 81 Atombombe

Atomspaltung Atomzeitalter

Aura ba

18f., 39

173

183

187

31, 48

Bacchantinnen 83 Barock 187, 295

26, 65, 75, 80,

Beschwörung 17 BewuBtsein 12, 16, 19f., 26, 30, 37f., 4ıf., 89f., 132ff., 194, 205, 248, 268 Bewußtsein, arationales 135 -- integrales 256 — mythisches 133 — mental-rationales 133, 135, 145 — neues 134, 199, 268, 295 — noématisches 79 BewuBtseins-Intensivierung 269

— arationale 240 -- integrale 199

-- mentale 232 — neue 242, 254 Beziehungslosigkeit Bhagavadgità 22

τος

132

Biene 49, 55, 92

Biologie

128, 173, 198, 206, 211, 220,

225, 241, 285, 292

Blut

58

Blutkreislauf

157

Buddhismus

23f., 72, 159

Blutsymbolik Botanik 242

53

Cartesianismus

30

Chaos 71, 73, 138, 143, 276

China

21

Christentum Clan

24, 94f.

17, 144, 251

Dadaismus

117, 173

Damonen 31 Demetet 70 Demeterkult 246

Denken 289

23, 77, 79, 95, 100, 193, 268,

Denken, arationales

— dualistisches

224

— kategoriales

29

— zielfixiertes

222

290

— logisches 224, 240 -- rationales 215 — raumbetontes 174 Denkvermögen Determinismus

75 213

Diaphanität 136, 141, 279f. Dichtung 81ff., 139, 220 Diktaturen 247

304

Sachregister

Dimension, dritte

— vierte

172,

193

180f.,

182,

207f., 213, 238

Dionysien

196,

205,

22

Dios 12 Divinidad

Doktrin, marxistisch-leninistische

139

Drei-Stadien-Theorie

222

26, 65

Dualismus 35, 53f., 116, 136, 145, 172, 193, 213, 219, 222f., 240f., 278, 294 -- cattesianischer 135 Dur:Moll 143 Dionysos 68 Ebenen, aperspektivische — archaische 26, 60

16, 66, 95

— magische

17, 24, 26, 66, 73, 79

- rationale Egozentrik

23f., 27, 66, 75, 79 255

Einigung 12 Einweihungsriten, eleusinische Elementargeister 62 Elementarteilchen 292

22

24,

220, 232f., 241 ff.

9, 65 159,

183,

220f.,

Existentialisten

Expressionismus

Ganze, das

66

11f., 27, 34, 39

15, 43, 102, 134, 136, 167,

183, 208f., 214, 224f., 227, 243, 279,

285f., 289

Ganzheit

94, 188

GanzheitsbewuBtsein

Gedächtnis

21, 87

14

Gedanke 19, 86, 268 Gegenwart 14, 226, 228, 289

Geister 31, 33, 61f., 95 Geisteswissenschaft 269 Geistige, das 38, 41f., 65, 68, 72, 118,

128, 130, 154, 197

Geschichtsbegriff bzw. -auffassung

231fl.,

235

117, 138, 173, 276

Farbensymbolik 117 Feuersymbolik 76 Formzwang 90, 97f. Forschung, parapsychologische

Ganz-Andere, das

17

194, 220, 287

241, 257 Evolutionstheorie 26 Existentialismus 44, 77, 203, 219, 232, 240, 261

Frawaschi 31 Fünf-Ebenen-Theorie

114,

Geistsymbolik 67, 76 Geschichte 9ff., 35, 65, 97, 122, 190,

Entwicklung 15 Erfahrung 69 Erinnerung ıofl., 21, 26, 33, 45, 55, 78, 86, 89 Europa

116, 162, 170, 201, 222, 247 Freiheit 167, 227 Früh-Scholastiker 71

197, 204 — europäischer 217. Geistbegriff 32f., 43, 61f., 67

Energetik, psychische 32, 41, 43 Energie 143 Engel 48, 93 Entobjektivierung 12

Etymologie

105,

Geist 7ff., 27, 31, 61, 74, 76, 95, 192,

— mentale 23, 26 — mythische 23, 26, 68, 78f.

Endlehren

Revolution

Frühzeit, chinesische

12

Dramatik

Franzôsische

— essentieller 14f., 26, 44 -- existentieller 14f., 26, 44 Geschichtswissenschaften 124f.,

285,

186,

192,

292 Gestaltpsychologie 71 Gnostik 77 Goldgrund 153, 155, 157, 272

Gott 12, 31, 116, 227, 268, 280, 283 Gottheit 12

Gôtter

31, 144

Göttliche, das 114, 154, 170, 183 Griechenland 21, 144, 150, 158, 202,

247, 252 Grundlagenforschung

Grundstruktur d. Welt

Guirlandenband 236

Hackbaukultur

19

241 41

245, 247

Sachregister Hades

68, 71

Hammer und Sichel Handwerk 264

Kabbala 77 Kategorien 113

52

Harpyen 48, 93

Katharsis 91 Kausalitat 213, 240, 242

Hinduismus

Kollektivismus

Kausalitatsprinzip 241 Kausalzusammenhang 14 Kernphysik 14, 277, 285, 293f., 297

Heiliger Geist 75f., 77 Helios 23 Heliozentrik 291 279

Historie 9 Hohle 192 Horus 21

Humanismus

iachw

31

Ich, das

12, 22, 24, 37, 45, 92, 102,

151, 157, 159, 218, 228, 232, 246, 92, 217, 218, 246, 248,

Kosmos

Kreta

Kult

Kultur

Ichgewinnung 22 Ichlosigkeit 255

Kunst

19

20, 291f.

23, 127

127, 190, 219, 264

Kulturen, mutterrechtliche 245 Kulturmorphologie 123 Kulturphänomenologie 1268,

255f., 274

39

~ moderne

Ichwerdung 20, 22, 254 Idealismus 254 Idealisten 53

197

Leben 8, 23, 32, 34, 42, 57, 65, 94, 100, 118, 127, 145

Ideologie 221, 227, 297 Ilias arf. Impressionismus 278

Lebensaspekt d. Seele

Lebensseele

Immanenz 158 Indeterminismus 212, 225, 241 Individualismus 218, 264f.

53, 57

33f., 46, 48, 54६, 61, 63f.,

78, 87, 93

Leere

274, 279

Lethe

87

Legende

23

IndividuationsprozeB 72 Initiation 91 Inspiration 97 Instinktentwicklung 16 Integrat 256 IntegrationsprozeB 70 Integrationssymbol 52 Integrierung 12, 71f. Intuition 90, 97f. Irrationale, das 294

Licht 20, 283f. Licht, das unsichtbare 283 Lichtgeschwindigkeit 283 Lichtsymbolik 76

Johannes-Evangelium

Magie

Irrationalität

Ka

3rf.

116f., 172,

Kontinuität τό Körperraum 157

251, 254 Ichbezogenheit 143 Ich-Du-Beziehung 256 Ichfreiheit

264

Kollektivtraum 19 Kollektivwesen 22 Komplementaritätsprinzip 223 Konkretheit 7

261

250f., 254 Ich-Bewußtsein

305

136, 210, 290

22

Logos 23, 74 Luft 47f. Luftsymbolik

47, 54

Macht 29, 31, 34ff., 41, 43, 65, 199, 262, 269 Machtanspruch 24 Machtstreben 296 17, 35, 262

Magische, das Malerei

22

271f., 280, 286, 292

306

Sachregister

Mana 88

28f., 31, 33ff., 38, 4of., 53, 61,

Manas

51

Manichäismus

77

Märchen 20, 23 Marxismus 174, 184, 298 Maschine 105, 162, 235, 261 Materialismus 116, 157, 172, 219, 232, 240, 261, 278, 294

— dialektischer 199, 241 Materialisten 53

Matriarchat

Medizin

Meer

198

116

246, 248, 256

50, 53, 76, 152

muitSix 31 Mundlosigkeit 18 Muse 18, 21, 48, 55, 85, 87, 89, 921. 16

Mutationstheorie

26, 117, 173

Mythos 18ff., 164, 263 NarziB

21, 70, 76

NarziB-Mythologem

87f.,

94,

107,

190, 194, 287

122,

124f.,

271

nefesch 74 Nekyia-Darstellungen

97

226,

21

Participation inconciente — mystique 23f., 29

69

Nichts, das 44, 145, 234, 274, 279

182,

23, 29

Partizipationstheorie 29 Patriarchat 246, 248, 256 Pentagramm 52

Persephone Jof. Persônlichkeitskult 265 Perspektive 24, 56, 80, 107, 137, 151, 157ff., 214, 278 — dreidimensionale 186 Phallussymbolik 53 Philosophem 24 24,

Physik

54,

122f.,

217,

225,

32

124f., 128f., 173, 210, 220, 225,

241, 277, 283

71

pneuma hagion 75 Polaritat 135, 193, 271 Politik 289 Positivismus 26, 203, 294 Praeanimismus

197, 203, 223, 269, 277

Naturzeit

41, 43, 61, 65, 67, 88, 94, 294

Nymphe

Pistis Sophia Pneuma 33

Nationalismus 188 Natur 17, 20, 22f., 24, 76, 88, 99, 104,

Naturwissenschaften

11ff., 27, 31, 35, 38f.,

- abendländische — antike 88, 289

70

Naturalismus 116, 172 Natursymbolik 21, 75

Numen 10 Numinose, das

239, 283

20, 22, 24, 55, 71 23, 46,

37, 41, 45, 65,

Nous 33, 75

Philosophie

Myste 22, 70 Mysterien 22, 71, 91, 98

Mythen 193 Mythologem

32, 75

Ohnmacht 34 Orphische Hymnen 86 Orphische Mysterien 22, 70

23, 47, 56, 154

Mutation

15, 203, 219, 227, 279

Noéma bzw. Einsicht 68{., 81

Odyssee

Meerfahrtmythologem 2of., 70 Melas 87 Menschheit 15f., 256, 267 Metaphysik 26, 283 Metrik 138f. Mnemosyne 13, 21, 55, 85f., 87, 89

Mond

Noein

Odysseus

Materie 20, 116, 141, 143 Mathematik 125

- dynamische

Nihilismus

Praligion

215

Pragmatismus

27

174, 219, 232, 240, 244,

261, 294 Prinzip, dualistisches 270 -- das geistige 8f., 13, 40f., 43, 45f.,

754... 79, 90, 97fl., 132, 154, 251

Produkte, vierdimensionale

183

Sachregister Projektion, 235 ff. Psyche

seelische

29, 39, 41, 88,

28, 32, 46, 57, 68

Psychologie 7, 28f., 36f., 69, 128, 220, 225, 235 — analytische 124, 249 Psychologisierung 72 Psychosomatik

198, 221, 223, 241

Pyramidentexte 31, 47f. Pythagoräer 23 Quantenbiologie Quantentheorie

34

Romantik 116, 187 Romantiker 98

ruach 74, 77

Sage 23 Sakrament 23 Schicksal 167, 227f., 246 Schlaf 23 Schutzengel 61 Seele

221, 242

7fl., 19ff., 27, 30f., 52, 75, 86,

89, 91, 99, 108, 112, 152, 154, 165,

116, 172, 220, 223

168 Seelenbegriff 32f., 61, 67 Seelenlehre, aristotelische 32

Quantifizierung 263 Quellennymphen 86 Radio

Rituale

Seelenvogel

211, 236

55

Ratio 23f., 25, 42, 47, 52, 75f., 77,

Seelenwanderung

33, 49

Rationale, das 210, 290, 294 Rationalität 291

Selbstdarstellung,

unadressierte

136, 269, 271

Raum 106f., 151, 153, 157f., 163, 169, 186, 192, 272 Raum, dreidimensionaler 185 f. Raum, heliozentrischer 157 Raumbewuftsein 151 Raumerfahrung

155

Raumdenken 175 Raumdimension 206

Raumwelt 170, 179 -- dreidimensionale 191 Raum und Zeit 24, 165, 167, 182, 205,

212 Raum-Zeit-Freiheit 2116.

- -Kontinuum — -losigkeit

111,

167f.,

175,

Recht 36, 293 Reformen 177, 194, 264 Regenzauber 34

Reinkarnation 247 Relativitätstheorie 116, 122, 172, 182

127, 198

Religion 23, 56, 104, 215 Renaissance 108f., 114, 149ff., 186, 201, 222, 250, 286, 295

Rezeptivität

81, 97

7f., 23, 25

sensus numinis Sexualität 171 Sirene 48, 55

Skeptizismus Sonne

76

27

165f.,

287f.

219, 297

Sonnenmythologem

2of., 70, 75

Sonnensymbolik 76, 78 Soziologie 123, 225

Spenglerismus 16 Spiegelaspekte 80 Spiritualisierung 72 Sprache 81, 145 Staatsrecht 285

Stalinismus 184 Sterben 22, 34, 47f., 100 — mythisches

24, 111f.

Raum-Zeit-Welt, vierdimensionale 206

religio

Sein

Sutrealismus 99, 117, 138, Symbol 20, 52, 67f., 71

137, 187, 2774.

19, 111, 167, 212

- -Überwindung

307

173,

159

Symbolik 9, 55, 47, 76, 81 Syneidesis 198 Systase 207 System II3, 270 System, kategoriales

Tabu

29

Tachismus

Tai-Ki

Technik

68

29

138, 141f., 276, 278 158, 234, 289

— handwerkliche

234f., 238

276

308

Sachregister

Technisierung 104 Television 236, 238 Theologie 26, 203 Tibet

24

Tibetische Mystik Tiefenpsychologie 197, 226

Tod

58 37, 117, 124f., 173,

63, 78; 93

64 33f., 46, 48, 51, 54६, 61,

Todessymbol 6ο Totem und Tabu Totengeister 61 Transparenz

Transzendenz

17

279

158

222

268f., 296

τοοί.

115,

128,

171,

179

— dreidimensionale 179, 182 Weltwahrnehmung 134 Wiedergeburt 22 Witklichkeit, neue 285 184

Wirklichkeitserfassung 135 Wirkungsquantum 112 Wissenschaft 23, 217, 277, 289

178, 184

Zauber 17 Zeit 107f., 111f., 127f., 137, 152, 157,

Unsterblichkeit 33, 49 Urerfahrung 91 Urerlebnis 27, 38 Urphänomene 20 Ursprung 238, 268

164, 167£., 170ff., 174, 177, 179f.,

205, 209, 225, 227, 238, 242, 283f.

Zeitalter 187 Zeit-Angst 242f. Zeitdimension 206

19, 49, 159

228

Vermassung 132, 240, Verstand 24, 114, 246

293

— vietdimensionale

56, 98f., 112, 151

Vier-Ebenen-Struktur Vitalismus 173 Vitalität 198 Vitalkräfte 34

Welt 20, 41, 73, 81, 87, 99, 108, 113, 133, 136, 138, 151, 157ff., 218, 272 - integrale 197 - zweidimensionale 185, 193 Weltanschauung 177, 191 Weltbild 102, 163, 170, 177, 191 — der Antike 157 - taumbetontes 113

Weltsicht

— kollektives 89f. Univalenz 76, 78f. Universum 126, 291

Vergangenheit

116, 172, 214, 223

— neue 102ff, 110, 113, 166, 177ff., 198, 205, 268, 270 Welt-Syneidesis 40, 42, 100 Weltvorstellung 110, 191, 268, 270

Umdenken 285f., 289, 296f. Unbestimmtheitsrelation 223

Vasenmalerei

69

186

Wassersymbolik 21, 47, 53, 55, 57, 59

Wellenmechanik

Weltkonstituante

Uhrenzeit 114, 118, 168, 174, 179, 183, 206, 209, 271

Unsicherheit

Wassermann-Zeitalter

Weltgedanke

Traumlosigkeit 17 tremendum 27, 29 Trieb 16, 49 Triebkomponente 28 Troja 22

Überdeterminierung

Wasseraspekt der Seele

— statisches

19, 21, 33, 46, 58, 77, 128

Unbewußte, das

159

Wasser 20f., 23, 474., 51, 53, 55, 57%., 70, 87, 92, 94f.

12ff., 52, 58, 94, 127, 145

Todesmana Todesseele

Traum

Wandmalerei, pompejanische

247,

75, 78

Wahrnehmen, arationales

286

263,

265

Zeitfreiheit

136, 140, 211f., 271, 275

Zeit-Intensität 114f., 171 Zeitkondensierung 173 Zen-Buddhismus 69

Zorn 22 Zukunft 102, 226f., 228, 289

Zweckdenken 2969. Zweistromland 24 Zweiwertigkeit 68

BIBLIOGRAPHISCHE

HINWEISE

Zur Geschichte der Vorstellungen von Seele und Geist Vorlesungen am Institut für angewandte Psychologie, Zürich, vom 7. Mai bis 16. Juli 1947. Die neue Weltsicht Vorlesungen ebenda, November 1953. Kulturphilosophie als Methode und Wagnis

Beitrag

in «Zeitwende | Die

S. 813-820.

Die Probleme in der Kunst Vortrag, gehalten bei der

neue

Furche»,

27. Jg., Heft 12, Hamburg

Goethe-Gesellschaft

Wiesbaden,

20. Februar

1956.

1960,

publiziert im Sammelband «Die Struktur der europäischen Wirklichkeit», Kohlhammer, Stuttgart 1960. Die Renaissance als europäisches Bildungserlebnis Vortrag, gehalten vor der Europa-Union, Bremen, 6. Dezember 1956.

Die Verwandlung unserer Wirklichkeit Überarbeitete Fassung eines Vortrages, der unter dem Titel: «Der Wandel unseres Weltbildes» am 19.2.1951 in der «Casino-Gesellschaft Burgdorf» gehalten und in Eckart, 23.Jg., Nr. Juli-September 1954, Eckart-Verlag, Witten-Berlin, S. 265-275, publiziert wurde. Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Weltsicht Überarbeitete Fassung des Eröffnungsvortrages zum Vortragszyklus «Die neue Weltschau; Internationale Aussprache über den Anbruch eines neuen aperspektivischen Zeitalters, veranstaltet von der Handelshochschule St. Gallen», gehalten am 7.11.1950 in St. Gallen, publiziert in Die neue Weltschau, Deutsche VerlagsAnstalt, Stuttgart, 1952; Bd. I, 5. 9-31.

Natiirliche und geschichtliche Grundlagen einer neuen Weltsicht Vortrag, gehalten am 22.8.1950 gelegentlich der «Sechsten Internationalen Hochschulwochen» des «Europäischen Forum Alpbach» unter dem Titel: «Die aperspektivische Welt, natürliche und geschichtliche Grundlagen einer neuen Weltsicht». Die vierte Dimension als Zeichen der neuen Weltsicht Erweiterte Fassung des Schlußvortrages im Vortragszyklus «Die neue Weltschau; Internationale Aussprache über den Anbruch eines neuen aperspektivischen Zeitalters, veranstaltet von der Handelshochschule St. Gallen», gehalten am 12.6.1951

in St. Gallen, publiziert in Die neue Weltschau, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1952; Bd. I, S. 250-271.

310

Bibliographische Hinweise

Strukturwandel europäischen Geistes Erweiterte Fassung des am 30.4.1954 an der «Jahresversammlung 1954» des «Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft» in Wiesbaden gehaltenen Vortrages, der in der Schriftenreihe Forschung und Wirtschaft (Heft III, 1954) des «Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft», Essen-Bredeney, publiziert wurde. Die Möglichkeiten Europas und die Technik Überarbeitete Fassung des am 7.2.1951 im «Studio Bern» des «Schweizerischen Landessenders Beromünster» gehaltenen Vortrages. Mensch oder Apparat im modernen Staat Vortrag, gehalten am 14.2.1956 an der «Technischen Universität» Berlin und vot der Berliner «Kant-Gesellschaft»; stark gekürzt publiziert in Deutsche Rundschau, 82. jg., Heft 5, Baden-Baden, Mai 1956; S. 500-508.

Auflösung oder Überwindung der Persönlichkeit Vortrag, gehalten am 17.2.1952 im Sendezyklus

«Kommt der Vierte Mensch?»

des «Schweizerischen Landessenders Beromünster (Studio Bern)», publiziert in Kommt der Vierte Mensch?, Europa Verlag, Zürich, 1952; S. 47-57. Die Welt ohne Gegenüber Überarbeitete und erweiterte Fassung des am 5.6.1958 gehaltenen Eröffnungsvortrages der Vortragsreihe «Die Welt in neuer Sicht», veranstaltet von den «Freunden

der Residenz»,

München,

und

dem

«Schweizerverein

München»

publiziert in Die Welt in neuer Sicht, O. W. Barth Verlag, München-Planegg, 1959; Bd. II, S. 5-20.

;

Forderungen unserer Zeit Überarbeitete und erweiterte Fassung des am 24.6. 1959 in Basel und am 25.6. 1960

in Bern gehaltenen Vortrages in den Vortragsreihen «Wege zur neuen Wirklichkeit», veranstaltet von der «Radikal-demokratischen Partei Basel» und von der

«Neuen Helvetischen Gesellschaft, Ortsgruppe Bern» ; die Berner Fassung wurde publiziert in: Wege zur neuen Wirklichkeit, Verlag Hallwag, Bern, 1960; S. 141-166.

Kapitel 6-15 erschienen unter dem Titel «In der Bewährung» im Francke Verlag, Bern und Stuttgart, 1962 bzw. 21969.